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German Pages 143 Year 2009
Geschichte kompakt Herausgegeben von Kai Brodersen, Martin Kintzinger, Uwe Puschner, Volker Reinhardt Herausgeber für den Bereich Neuzeit: Uwe Puschner Berater für den Bereich Frühe Neuzeit: Walter Demel, Merith Niehuss, Hagen Schulze
Hans-Werner Niemann
Europäische Wirtschaftsgeschichte Vom Mittelalter bis heute
Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. i 2009 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Redaktion: Christina Kruschwitz, Berlin Einbandgestaltung: schreiberVIS, Seeheim Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-21802-8
Inhaltsverzeichnis Geschichte kompakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Die europäische Wirtschaft im Mittelalter . . . . . . . . . 1. Der wirtschaftliche Niedergang im frühen Mittelalter . . Die Auflösung des Imperium Romanum . . . . . . . . . Fernhandel im frühen Mittelalter . . . . . . . . . . . . . Landwirtschaft im frühen Mittelalter . . . . . . . . . . . 2. Der hochmittelalterliche Aufschwung (11. – 13. Jh.) . . . Die „Agrarrevolution“ des 11. Jahrhunderts . . . . . . . Die demographische Expansion und die Ausbreitung der Städte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Flandern und Oberitalien als gewerblich-kommerzielle Zentren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die „kommerzielle Revolution“ . . . . . . . . . . . . . Gewerblich-technische Fortschritte . . . . . . . . . . . Faktoren des europäischen Aufstiegs und sein Ende in der „Krise des Spätmittelalters“ . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Schlüsselrolle Venedigs in der europäischen Wirtschaft des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . Etappen des Aufstiegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen der venezianischen Macht . . . . . . . . . 4. Die Deutsche Hanse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Aufstieg der Hanse . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursachen des Niedergangs . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Die europäische Wirtschaft in der Frühen Neuzeit . . . . . . . 1. Die koloniale Expansion Europas . . . . . . . . . . . . . . Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Portugal als kolonialer Pionier . . . . . . . . . . . . . . . . Die spanische Kolonisation . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Folgen der kolonialen Expansion . . . . . . . . . . . . 2. Der Aufstieg der Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . Der europäische Handel der Niederlande . . . . . . . . . . Der niederländische Überseehandel . . . . . . . . . . . . . Der Amsterdamer Kapitalmarkt . . . . . . . . . . . . . . . Der wirtschaftliche Niedergang . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Entwicklung der europäischen Landwirtschaft . . . . . Demographische und klimatische Grundlagen . . . . . . . Betriebsweise, Besitzrechte und Erträge . . . . . . . . . . . Die „Agrarrevolution“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die gewerbliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . Rahmenbedingungen, Möglichkeiten und Grenzen gewerblicher Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Textilgewerbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bergbau und Metallgewerbe . . . . . . . . . . . . . . . . . Räumliche Verlagerungen des Gewerbes: Auf- und Absteiger Gewerbliche Organisationsformen . . . . . . . . . . . . . Merkantilismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Handel und kommerzielle Organisation . . . . . . . . . . . Die Strukturen des neuen Welthandelssystems . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis Von Antwerpen nach Amsterdam . . Die oberdeutschen Handelshäuser . . Handelsgesellschaften und Monopole Handelsgüter . . . . . . . . . . . . .
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III. Die europäische Wirtschaft im Zeitalter der Industriellen Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Aufstieg Englands und die Industrielle Revolution . . . . Begriff, Verlauf und Wesen der Industriellen Revolution . . . Warum England? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bedeutung des Außenhandels und der Kolonien . . . . . Die Baumwollindustrie als Leitsektor . . . . . . . . . . . . Kohle und Eisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Industrielle Revolution auf dem europäischen Kontinent Pfade der kontinentaleuropäischen Industrialisierung . . . . Belgien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Russland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wohlstands- und Entwicklungsunterschiede (Disparitäten) . 3. Europa und die Weltwirtschaft im 19. Jahrhundert . . . . . . Verflechtungstendenzen der europäischen Wirtschaft . . . . Welthandel, internationale Arbeitsteilung, Zahlungsverflechtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die wirtschaftliche Bedeutung der Kolonien . . . . . . . . .
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IV. Die europäische Wirtschaft im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . 1. Die europäische Wirtschaft zwischen den Weltkriegen . . . . Die wirtschaftlichen Folgen des Ersten Weltkrieges . . . . . . Ursachen und Verlauf der Weltwirtschaftskrise . . . . . . . . Das Versagen der Politik und das Ausbleiben internationaler Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die NS-Wirtschaftspolitik im Zeichen von Aufrüstung und Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die europäische Wirtschaft im „Goldenen Zeitalter“ . . . . . Das weltwirtschaftliche Modernisierungsprogramm der USA . Marshallplan, OEEC und EZU . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Montanunion (EGKS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Boom der 50er und 60er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) . . . . . . . 3. Die Jahrzehnte der Neuorientierung: Verlangsamtes Wachstum, Globalisierung, Krise des Sozialstaates, Währungsunion . . . . . . . . . . . . Wirtschaftliche Kennziffern der Jahre 1974 – 1990 . . . . . . . Die Desintegration des internationalen Währungssystems und die Einrichtung des EWS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neoliberalismus und Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . Der Weg zur Währungsunion (Vertrag von Maastricht) . . . . Erosion und Zusammenbruch des Ostblocks . . . . . . . . . .
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V. Rück- und Ausblick: Europa um die Jahrtausendwende . . . . . . . Statistischer Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Auswahlbibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sach- und Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Geschichte kompakt In der Geschichte, wie auch sonst, dürfen Ursachen nicht postuliert werden, man muss sie suchen. (Marc Bloch) Das Interesse an Geschichte wächst in der Gesellschaft unserer Zeit. Historische Themen in Literatur, Ausstellungen und Filmen finden breiten Zuspruch. Immer mehr junge Menschen entschließen sich zu einem Studium der Geschichte, und auch für Erfahrene bietet die Begegnung mit der Geschichte stets vielfältige, neue Anreize. Die Fülle dessen, was wir über die Vergangenheit wissen, wächst allerdings ebenfalls: Neue Entdeckungen kommen hinzu, veränderte Fragestellungen führen zu neuen Interpretationen bereits bekannter Sachverhalte. Geschichte wird heute nicht mehr nur als Ereignisfolge verstanden, Herrschaft und Politik stehen nicht mehr allein im Mittelpunkt, und die Konzentration auf eine Nationalgeschichte ist zugunsten offenerer, vergleichender Perspektiven überwunden. Interessierte, Lehrende und Lernende fragen deshalb nach verlässlicher Information, die komplexe und komplizierte Inhalte konzentriert, übersichtlich konzipiert und gut lesbar darstellt. Die Bände der Reihe „Geschichte kompakt“ bieten solche Information. Sie stellen Ereignisse und Zusammenhänge der historischen Epochen der Antike, des Mittelalters, der Neuzeit und der Globalgeschichte verständlich und auf dem Kenntnisstand der heutigen Forschung vor. Hauptthemen des universitären Studiums wie der schulischen Oberstufen und zentrale Themenfelder der Wissenschaft zur deutschen, europäischen und globalen Geschichte werden in Einzelbänden erschlossen. Beigefügte Erläuterungen, Register sowie Literatur- und Quellenangaben zum Weiterlesen ergänzen den Text. Die Lektüre eines Bandes erlaubt, sich mit dem behandelten Gegenstand umfassend vertraut zu machen. „Geschichte kompakt“ ist daher ebenso für eine erste Begegnung mit dem Thema wie für eine Prüfungsvorbereitung geeignet, als Arbeitsgrundlage für Lehrende und Studierende ebenso wie als anregende Lektüre für historisch Interessierte. Die Autorinnen und Autoren sind in Forschung und Lehre erfahrene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Jeder Band ist, trotz der allen gemeinsamen Absicht, ein abgeschlossenes, eigenständiges Werk. Die Reihe „Geschichte kompakt“ soll durch ihre Einzelbände insgesamt den heutigen Wissenstand zur deutschen und europäischen Geschichte repräsentieren. Sie ist in der thematischen Akzentuierung wie in der Anzahl der Bände nicht festgelegt und wird künftig um weitere Themen der aktuellen historischen Arbeit erweitert werden. Kai Brodersen Martin Kintzinger Uwe Puschner Volker Reinhardt
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Einleitung Wer die Grundlinien der wirtschaftlichen Entwicklung Europas nachzeichnen und erklären will, erzählt zunächst einmal (wie jeder Historiker) eine Geschichte. Geschichten lassen sich auf unterschiedliche Arten erzählen. Der Autor sollte daher offenlegen, wie er seine Geschichte zu erzählen gedenkt, welches Modell ihr zugrunde liegt, kurz: unter welchen Voraussetzungen sie gültig ist. Er sollte – auch im Rahmen dieses knappen Überblicks – auf kontroverse Interpretationen und konkurrierende Deutungsangebote hinweisen. Nur dann ist der Leser in der Lage, den Erzählgang kritisch zu begleiten, ihn teilweise oder gegebenenfalls auch ganz zu verwerfen. Kommen wir zunächst zu dem, was unstrittig ist: Um das Jahr 1000 war Europa wirtschaftlich und kulturell gegenüber anderen Kulturräumen und Regionen der Welt wie China oder dem islamischen Bereich weit zurückgeblieben. 900 Jahre später beherrschte es wirtschaftlich und politisch große Teile der Welt, war Europa das Zentrum der Weltwirtschaft. Um die Wende vom ersten zum zweiten Jahrtausend lag das westeuropäische Durchschnittseinkommen nach den Berechnungen Maddisons deutlich unter demjenigen der anderen Hochkulturen. 1820 lag das westeuropäische Einkommen doppelt so hoch wie das chinesische, 1973 um das Vierzehnfache darüber. In Europa, genauer gesagt in Großbritannien, gelang mit der sog. Industriellen Revolution seit den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts zuerst der Durchbruch zu einer neuen Wirtschaftsweise, die etwa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts einer stark angewachsenen Bevölkerung erstmals ein Leben ohne Hunger ermöglichte. Von hier aus breitete sich der industrielle Kapitalismus zunächst über Europa und dann über die Welt aus. Der Prozess hält im Zeichen der Globalisierung bis heute an. Vielfältige Faktoren hat man herangezogen, um den jahrhundertelangen Prozess wirtschaftlichen Aufstiegs (das sog. Wunder Europa) verständlich zu machen. Die naturräumlichen Charakteristika, aber auch das Klima wurden dabei ebenso bemüht wie Besonderheiten der europäischen politischen und gesellschaftlichen Struktur, die Herausbildung wachstumsfördernder Institutionen und Mentalitäten oder auch schlicht die Ausbeutung peripherer Räume durch politische und militärische Machtausübung. Einigkeit über die jeweilige Bedeutung dieser Faktoren besteht keineswegs. Die Uneinigkeit beginnt schon bei der Frage, wann denn die great divergence stattfand, mit anderen Worten: ab wann Europa begann, in seiner wirtschaftlichen Entwicklung andere Großregionen der Welt, etwa China, zu überholen. Die meisten Autoren setzen die entscheidende Zäsur bereits in das Spätmittelalter. Andere Autoren sehen China, aber auch Bengalen noch Ende des 18. Jahrhunderts als die reichsten Regionen der Erde an. Erst danach seien diese Länder durch das Vordringen der Europäer und den Ruin ihrer Wirtschaft zurückgefallen. Für den unbefangenen Leser, der an akkurate Statistiken und ausgefeilte volkswirtschaftliche Gesamtrechungen gewöhnt ist, sind derartig grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten nur
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Einleitung
Ausbruch aus der malthusianischen Falle
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schwer verständlich. Zu bedenken ist aber, dass sich der größte Teil des langsamen Aufstiegs der Europäer im vorstatistischen Zeitalter vollzieht. Das öffnet unterschiedlichen, gelegentlich ideologischen Interpretationen Tür und Tor. Keineswegs soll es in diesem Buch darum gehen, eine legitimatorische oder identitätsbildende „Vorgeschichte“ der Europäischen Union aus wirtschaftshistorischer Perspektive zu schreiben. Das Thema ist bei allem denkbaren Stolz auf die wissenschaftlichen und technischen Leistungen Europas dafür auch wenig geeignet: Der Aufstieg Europas verlief nicht linear, er erfuhr immer wieder Rückschläge und hatte auch seine dunklen Seiten, die nicht verschwiegen werden dürfen (man denke nur an die auch wirtschaftlich bedeutsamen Kreuzzüge, den Sklavenhandel der Frühen Neuzeit oder den neuzeitlichen Kolonialismus und Imperialismus). Dies vorausgeschickt, ist vor allem zu definieren, was hier unter „Europa“ verstanden werden soll. Die Grenzen Europas sind (wie schon der Blick auf die gegenwärtige Diskussion um die Grenzen der EU zeigt), keineswegs eindeutig zu bestimmen. Die Frage, welche Regionen dazugehören, welche nicht, ist zudem in verschiedenen historischen Zeiträumen unterschiedlich zu beantworten. Im Rahmen dieser Überblicksdarstellung auf knappstem Raum kann ohnehin keine flächendeckende Vollständigkeit angestrebt werden (dafür sind mehrbändige Handbücher zuständig). Da der wirtschaftliche Aufstieg Europas und seine Bedingungsfaktoren im Mittelpunkt stehen sollen, gilt es den Blick auf die im Zeitverlauf wechselnden innovativen Zentren der europäischen Wirtschaft zu richten und nach den dort jeweils herrschenden Bedingungen zu fragen. Die semiperipheren oder peripheren Regionen Europas geraten dabei in erster Linie unter der Fragestellung in den Blick, wie sie sich dem jeweiligen Zentrum zuordnen und wie sie integriert sind in die sich ausdehnenden Märkte. Kurz: der geographische Fokus der Darstellung wechselt im Zeitverlauf. So stehen z.B. Venedig und die Hanse bei der Betrachtung der hoch- und spätmittelalterlichen Wirtschaft (Kap. I.3.–4.) im Vordergrund, Portugal, Spanien und die Niederlande im Zeitalter der Kolonialexpansion (Kap. II.1.–2.) und England als Mutterland der Industriellen Revolution in Kap. III.1. Während die Industrialisierung des europäischen Kontinents (Kap. III.2.) im nationalwirtschaftlichen Rahmen behandelt wird, um die unterschiedlichen Industrialisierungspfade zu verdeutlichen, sind die das 20. Jahrhundert behandelnden Kap. IV. und V. stärker aus einer gesamteuropäischen Perspektive geschrieben. Dies ist nicht nur pragmatisch aus Platzgründen geboten, sondern auch Ausdruck des Zusammenwachsens der europäischen Wirtschaft. Der Aufstieg Europas begann nicht erst mit der Industriellen Revolution. Über Jahrhunderte wuchsen im Schoße der traditionellen Agrargesellschaft die vielfältigen materiellen und immateriellen Voraussetzungen heran, die Europa seit dem 18. Jahrhundert den Ausbruch aus der malthusianischen Falle ermöglichten. So beruhte die Industrielle Revolution in Großbritannien auf der Grundlage eines seit längerem in Gang gekommenen vorindustriellen Wachstums. Den vielfältigen Neuerungen im agrarischen, gewerblichen und kommerziellen Bereich während der Frühen Neuzeit (16.–18. Jh.) wird daher in den Kap. II.3.–5. besondere Aufmerksamkeit zuteil.
Einleitung Malthusianische Falle Der Begriff der malthusianischen Falle bezieht sich auf die Bevölkerungstheorie des englischen Sozialforschers Robert Malthus (1766–1834). In seiner Schrift „An Essay on the Principle of Population“ (1798) führte er das Elend seiner Zeit auf das starke Anwachsen der englischen Bevölkerung zurück und stellte damit als Erster einen Bezug zwischen Demographie und Ökonomie her. Während die Bevölkerung in geometrischer Progression (1,2,4,8,16 …) anwachse, nehme die Nahrungsmittelmenge infolge des abnehmenden Bodenertrags nur in arithmetischer Reihe (1,2,3,4,5 …) zu. In unregelmäßiger Folge komme es daher immer wieder zu existenzbedrohenden Krisen, Hungersnöten, Seuchen oder ähnlichen Katastrophen (positive checks). Die malthusianische Bevölkerungstheorie ist statisch und sieht eine dynamische Steigerung der ökonomischen Produktivität, wie sie im 19. Jahrhundert mit der Anwendung der modernen Technik und der künstlichen Düngung erfolgte, nicht vor. Sie hat insoweit nur Gültigkeit für eine statische Agrargesellschaft ohne nennenswerte Produktivitätsfortschritte.
Unter Entwicklung wird hier ein langfristiger und komplexer Prozess wirtschaftlichen und sozialen Wandels verstanden. Er findet seinen Ausdruck in einer zunehmenden Ökonomisierung der Ressourcenverwendung, etwa durch fortschreitende Arbeitsteilung, Überwindung von Handelshemmnissen, zunehmende Marktausdehnung und -integration. Sein Ergebnis besteht in der Regel in wirtschaftlichem Wachstum, das durch den vermehrten Input der Produktionsfaktoren Boden, Arbeit und Kapital und die Produktivitätssteigerung dieser Faktoren zustande kommt. Nach der Neuen Wachstumstheorie kommt dabei der Innovationstätigkeit und den Investitionen sowie dem technischen Fortschritt eine besondere Bedeutung zu. Für den produktiven Einsatz der materiellen Kapitalgüter sind die immateriellen Güter wie Wissen, Ideen, Risikobereitschaft und die Institutionen im weitesten Sinne von großem Belang. Institutionen Institutionen sind die formalen oder informellen Begrenzungen und Spielregeln, die das politische, wirtschaftliche und soziale Handeln der Menschen regulieren. Zu den formalen Institutionen zählen Verfassungen, Gesetze und Eigentumsrechte, zu den informellen gehören Sitten, Tabus, Sanktionen, kulturelle Traditionen, Wertorientierungen und Weltbilder.
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Bedeutung der Institutionen
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Den formalen wie informellen Institutionen ist daher bei der Analyse des wirtschaftlichen Aufstiegs Europas ebenso Beachtung zu schenken wie etwa der Ausdehnung der materiellen Inputs durch Vermehrung des bewirtschafteten Landes oder der demographisch bedingten Vergrößerung des Arbeitskräftepotentials.
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I. Die europäische Wirtschaft im Mittelalter 1. Der wirtschaftliche Niedergang im frühen Mittelalter
Niedergang des Römischen Reiches
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Die Auflösung des Imperium Romanum Das Imperium Romanum beherrschte auf dem Höhepunkt seiner Macht im 1. und 2. nachchristlichen Jahrhundert ein Gebiet von der schottischen Grenze bis nach Ägypten. Da im gesamten Römischen Reich die gleichen Gesetze und die Pax Romana galten und der Urbanisierungsgrad mit 5 % der Bevölkerung relativ hoch war, wurden Handel und Gewerbe begünstigt. Aus Alexandria und Karthago gelangten Schiffsladungen mit Getreide nach Italien. Auf dem Landwege über Antiochia oder dem Seewege durch das Rote Meer kamen Seide und Gewürze in den Mittelmeerraum. Als römische Bürger hatten Griechen, Syrer und Juden im 1. Jahrhundert gelernt, die Monsunwinde für einen direkten Handel mit dem westlichen Indien zu nutzen. Die Höhe der materiellen Kultur der großen Römerstädte mit ihren Aquädukten, Amphitheatern, Bädern, Tempeln und Bibliotheken ist allgemein bekannt. Das Römische Reich beruhte letztlich auf militärischer Kontrolle, Plünderung und Versklavung. Entscheidend für seine Existenz war die Fähigkeit, Steuern und Tribute einzutreiben. In zunehmendem Maße war die römische Militärmaschine auf Soldaten der „Barbaren“ angewiesen. Bald aber konnte die westliche Reichshälfte die Gelder für die germanischen Bundesgenossen nicht mehr eintreiben, da sich die großen Grundbesitzer der Steuerzahlung verweigerten. Der wirtschaftliche Schwerpunkt des Römischen Reiches lag schon seit dem 4. Jahrhundert in der östlichen Reichshälfte. Byzanz beherrschte den Karawanenhandel mit dem Osten und verfügte über die einträglichen Bergwerke Makedoniens. Steuerdruck und Kriegsnöte ruinierten das gewerbliche Bürgertum in den Städten. Mit dem Verfall der kaiserlichen Macht im 5. Jahrhundert wurde es üblich, dass die großen Grundherren ihre Klienten und Sklaven eigenmächtig bewaffneten, um so ihre Güter zu beschützen, aber auch höchst eigennützige Ziele ohne Rücksicht auf den Staat zu verfolgen. Immer mehr Bauern wählten den Weg in die Unfreiheit, indem sie sich den großen Herren unterstellten. Daraus ging die mittelalterliche Hörigkeit hervor. Im 5. Jahrhundert löste sich der westliche Teil des Römischen Reiches auf. Gallien, Spanien, Nordafrika und der größte Teil Italiens wurden eine Beute der Germanenstämme. Zwar gelang dem oströmischen Kaiser Justinian (527–565) noch einmal für kurze Zeit die Rückeroberung von Italien, Spanien und Nordafrika, doch die arabische Expansion in Ägypten, Nordafrika, Spanien, Sizilien, Syrien und Palästina zwischen 640 und 800 setzte diesem Intermezzo ein Ende. Lediglich das byzantinische Ostreich konnte den zivilisatorischen Standard des einstigen römischen Weltreiches bewahren. Im Westteil löste sich die Zentralgewalt auf, und an ihre Stelle trat eine Vielzahl instabiler politischer Einheiten. In dieser Welt spielten Klöster und Herrensitze die Hauptrolle,
Der wirtschaftliche Niedergang im frühen Mittelalter
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die nur für ihren eigenen Bedarf Güter produzierten. Der Adel gewann seit dem 7. Jahrhundert im Merowingerreich gegenüber dem Königtum an Macht, und das Reich zerfiel mehr und mehr in Adelsherrschaften, die oft einen beträchtlichen Umfang erreichten. Binnenverkehr und Geldwesen erlebten einen Niedergang. Viele alte Römerstädte verfielen. Besonders schwer von der Völkerwanderung betroffen waren die römischen Städte an Rhein und Donau, während die Städte in Gallien und im Mittelmeergebiet weniger unter Krieg und Eroberung litten. Überall aber setzten sich die seit dem 3. Jahrhundert erkennbare Schrumpfung der Städte und der Verfall ihrer Wirtschaft und Steuerkraft aus merowingischer Zeit (6. und 7. Jh.) fort. In den Gebieten zusammenhängender germanischer Siedlung kam es zu einem Verschwinden des römischen Städtewesens, in Gebieten mit vorwiegend romanischer Bevölkerung überlebten sie als Festungen oder Bischofssitze, verloren aber auch hier ihre Eigenschaft als Selbstverwaltungskörperschaften. Fernhandel im frühen Mittelalter Auch nach der Auflösung des weströmischen Reiches kam der Fernhandel nicht vollständig zum Erliegen. Die reichen Kunden wie Könige, hohe Adlige und Klöster beauftragten sog. Palast- oder Abteikaufleute mit der Heranschaffung der begehrten orientalischen Luxusgüter wie Seidenwaren und Spezereien (Gewürze, Gewürzwaren). Unter den Händlern und Kaufleuten spielten im 6. Jahrhundert zunächst die „Syrer“ (eine Bezeichnung, die möglicherweise auch andere christliche Völker des Nahen Ostens wie Armenier und Kopten umfasste) sowie Juden die beherrschende Rolle. Sie waren es, die die begehrten Erzeugnisse Indiens und Chinas über die Levante nach Europa brachten. Der arabische Vorstoß ins Mittelmeer und der jahrhundertelange Streit zwischen Byzanz und dem Islam seit dem 7. Jahrhundert beeinträchtigten den Ost-West-Handel schwer. Da Byzanz die syrische und ägyptische Küste blockierte, konnten die begehrten Produkte des Orients wie Gewürze, Heilpflanzen, Farbstoffe, Edelsteine und Seide nur noch über die Hauptstadt des oströmischen Reiches ins Abendland gelangen. Für ihren Vertrieb nach Europa spielten die als Kommissionäre oder Staatsmonopolisten tätigen Juden eine zentrale Rolle, da sie über gute Marktkenntnisse und Verbindungen verfügten. Seit dem Ausgang des 7. Jahrhunderts lösten sie die Syrer als führende Fernhändler ab und konnten ihre Stellung in den Städten Galliens und des Rheinlandes bis ins 11. Jahrhundert behaupten. Eine neue Lage im Fernosthandel ergab sich im 8. Jahrhundert, als die Chasaren, ein Volk umstrittener Herkunft, nördlich des Kaspischen Meeres zwischen unterer Wolga und Don ihr Reich gründeten, das den Landweg nach Indien und China öffnete. Von Cherson, dem bedeutendsten Hafen an der nördlichen Küste des Schwarzen Meeres, gelangten die orientalischen Luxusprodukte nach Byzanz und in die Provinzen des oströmischen Reiches. Von diesem Warenstrom profitierten auch die politisch zu Byzanz gehörigen Städte an der Süd- und Ostküste Italiens, die sich so in dieser schwierigen Zeit ein gewisses Maß an kommerzieller Bedeutung bewahren konnten. Die Kaufleute von Ravenna bspw. versorgten den langobardischen Königs-
Fernhandel kommt nicht vollständig zum Erliegen
Aufstieg der italienischen Städte kündigt sich an
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Die europäische Wirtschaft im Mittelalter
I.
autarke Höfewirtschaft und Tauschhandel im Westen
friesische Wanderkaufleute
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hof in Pavia mit Salz und Orientwaren, und seit dem 9. Jahrhundert machte sich bereits die zukünftige Herrscherin der Weltwirtschaft, der damals neu gegründete Handelsplatz Venedig, bemerkbar. Venedig baute seine erste Flotte und begann mit der Erschließung der Märkte des Binnenlandes. Mit dem Bau eigener Flotten durchbrachen Venedig, Bari, Amalfi, Neapel und andere italienische Städte das Monopol der byzantinischen Handelsschifffahrt. Trotz des kaiserlichen Verbotes unterhielten sie Handelsbeziehungen zu den Arabern in Ägypten und Nordafrika. Kaum Bedeutung besaß der Außenhandel dagegen im fränkischen Reich – der Westen hatte im Austausch mit dem Osten wenig zu bieten. Die wichtigste Rolle spielten Sklaven. Dabei handelte es sich z.B. um Leute, die bei den Auseinandersetzungen zwischen Angelsachsen und Kelten in England gefangen genommen worden waren, oder um Slawen, auf die zuweilen regelrecht Jagd gemacht wurde. Für die byzantinischen Städte in Italien (darunter Venedig) spielte der Handel mit Sklaven aus Dalmatien eine wichtige Rolle. Da der Westen unfähig war, Güter herzustellen, die im Osten absetzbar waren, aber selbst orientalische Luxuswaren einführte, besaß er im 7. Jahrhundert kein Gold mehr und musste sein Münzwesen auf das Silber aus zentralfranzösischen und deutschen Minen umstellen. Lediglich Byzanz und die Araber konnten in den nächsten vier Jahrhunderten bei der Goldwährung bleiben – ein deutliches Zeichen ihrer wirtschaftlichen Überlegenheit über die agrarische Produktions- und Lebensweise des Abendlandes. Der Westen hingegen ging allmählich zu einer autarken Höfewirtschaft und zum Tauschhandel über. Während der Handel mit dem Mittelmeerraum unter der Ausbreitung des Islams litt, fand seit dem 7. Jahrhundert eine für die Zukunft entscheidende Neuorientierung der europäischen Handelswege statt. Dabei zeichnete sich bereits die zukünftige Hauptachse der europäischen Wirtschaft ab. So ist seit dieser Zeit archäologisch ein lebhafterer Handelsverkehr von Italien über das Rheintal zur Nordsee und weiter nach England und Skandinavien nachgewiesen. Insbesondere der Nordosten des Frankenreiches, das Gebiet um Rhein, Maas und Schelde, wurde zu einem neuen wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum. Fränkische Gläser und Wollstoffe wurden in herrschaftlichen Gräbern Schwedens aus der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts gefunden und belegen die wirtschaftliche Ausstrahlungskraft dieser Region, die über den Rhein bzw. die Rhone zugleich auch mit dem Mittelmeer verbunden war. Zurückzuführen war diese Entwicklung auf die Absperrung der alten ostmitteleuropäischen Handelswege durch die Slawen und das Reich der Awaren in Ungarn sowie auf die Wiederöffnung der Alpenpässe durch das konsolidierte Langobardenreich in Italien. Vor allem in den Niederlanden verbreitete sich in karolingischer Zeit das germanische Wanderkaufmannstum. Diese Kaufleute, zunächst Angelsachsen, dann seit dem 7. Jahrhundert auch die Friesen, zogen umher und trafen sich zu bestimmten Terminen auf auswärtigen Märkten, um ihre Waren zu tauschen. In einer feudalen Welt stellten sie ein dynamisches freies Element dar. Ihre Niederlassungen wie Dorestad, Utrecht, Maastricht, Namur, Valenciennes, Tournai, Gent, Antwerpen, Brügge usw. werden seit dem 9. Jahrhundert urkundlich erwähnt. Viele Städte an Rhein, Maas und Schelde hat-
Der wirtschaftliche Niedergang im frühen Mittelalter
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ten Friesenviertel, die von der Bedeutung dieses Handels zeugten. Seit dem 7. Jahrhundert erschloss sich der friesische Handel Skandinavien. Der alte Handelsweg verlief von der Rheinmündung über den an der Schlei in Schleswig-Holstein gelegenen Knotenpunkt Haithabu zum schwedischen Mälarsee. Die friesischen Kaufleute handelten mit Tuch, das von so guter Qualität war, dass Karl der Große und seine Höflinge es für ihre Bekleidung verwendeten und der Kaiser eine Partie dieses kostbaren Gewebes an den berühmten Kalifen Harun-al-Raschid verschenkte. Friesisches Tuch, wahrscheinlich in Flandern hergestellt, fand seinen Absatz bis ins Elsass und nach Skandinavien. Die Wikingereinfälle des 9. und 10. Jahrhunderts brachten Erschütterungen mit sich, die Westeuropa zivilisatorisch auf den Stand der vorrömischen Zeit zurückwarfen. Die Normannen ersetzten das nordeuropäische Handels- und Verkehrssystem der Friesen durch ein skandinavisches. Die Hauptlinien dieses Handelssystems umgingen das fränkische Reich. Die wichtigsten Verbindungen liefen nunmehr an den russischen Strömen entlang zum Vorderen Orient. Landwirtschaft im frühen Mittelalter Mit der Auflösung des westlichen Teils des Imperium Romanum hatte sich der wirtschaftliche Schwerpunkt in die sich selbst versorgende Landwirtschaft verschoben. Die mittelalterliche Wirtschaft und Gesellschaft bauten auf der Landwirtschaft und dem Besitz an Grund und Boden auf. Die Landwirtschaft war die Grundlage des (relativen) Reichtums, der Macht und der sozialen Stellung der maßgebenden Aristokratie. Im nordöstlichen Teil des Frankenreiches und seinen Nachbarländern entwickelte sich im 7. und 8. Jahrhundert die Grundherrschaft zur dominierenden Wirtschaftsform. Grundherrschaft Bei der Grundherrschaft ließ der Herr nur einen kleinen Teil seines Landes, das sog. Salland, durch seine Haushaltssklaven selbst bearbeiten. Der Hauptteil wurde von seinen in eigenen Hütten wohnenden Hörigen bearbeitet, die für die Landnutzung Abgaben an ihren Herrn zu leisten hatten. Das Betriebssystem der Grundherrschaft setzte eine planmäßige Kooperation der beteiligten Menschen voraus. Bedingung dafür war ein mäßig feuchtes Klima, das eine ganzjährige Viehhaltung im Freien ermöglichte, und ein Boden, der sich zum Getreideanbau eignete. Notwendig war ferner das Vorhandensein von Wald oder Ödland als Viehweide, da der Boden nur durch tierische Exkremente oder Düngung mit Plaggen (einem mit der Hacke aus der obersten Schicht der Heide- und Moorböden abgehauenen Stück) fruchtbar erhalten werden konnte.
Ausbreitung der Grundherrschaft
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Dieses System des Feudalismus ließ der dörflichen Selbstverwaltung beträchtlichen Raum. Die Gemeinde regelte die Organisation der Produktion (Flurzwang) oder die Nutzung der Allmende, d.h. des gemeinsam genutzten Teils der Flur. Die militärtechnische Entwicklung kam der Ausbreitung der Grundherrschaft entgegen. Die Eroberungen der Araber in Europa beruhten u.a. auf der Verwendung des Steigbügels in ihrer schnellen Kavallerie. Seit der Karo-
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Die europäische Wirtschaft im Mittelalter
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geringe Produktivität der frühmittelalterlichen Landwirtschaft
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lingerzeit wurde der Steigbügel im Westen übernommen, allgemein aber erst im 12. Jahrhundert verbreitet. Der Steigbügel garantierte den festen Halt des Reiters und ermöglichte es diesem, eine lange Lanze mit großer Stoßkraft zu führen. Dagegen schützte man sich mit schweren eisernen Rüstungen. In den sich über 30 Jahre erstreckenden Eroberungskriegen Karls des Großen erfuhr das fränkische Heerwesen eine grundlegende Umgestaltung: An die Stelle des aus den freien und wehrfähigen Männern des Volkes bestehenden Heeres traten die Reitertruppen mit Land belehnter und schwer bewaffneter Grundbesitzer, deren Stellung in der Gesellschaft damit immer bedeutsamer wurde. Um den drückenden Kriegs- und Gerichtspflichten zu entkommen, suchten sich viele ehemals Freie einen Beschützer. Gegen entsprechende Dienste und Abgaben sowie Einräumung eines Obereigentums am Grundbesitz des Bauern übernahm der Grundherr diese Pflichten seiner Hintersassen. Die Ausübung der Herrenrechte geschah in Form der Grundherrschaft. Der Herr schlichtete die Streitigkeiten seiner Hintersassen untereinander, vertrat ihre Forderungen nach außen und schützte sie gegen solche von außen. Daraus entwickelte sich die Gerichtsbarkeit des Grundherrn über seine Hörigen. Im militärisch unruhigen 9. Jahrhundert machte die Ausbreitung der Grundherrschaft große Fortschritte. Mit Ausnahme einiger Gebiete an der Nordseeküste, in den Alpen und vereinzelt in Niedersachsen und Westfalen verloren die Bauern ihre alte Freiheit und wurden einem weltlichen oder kirchlichen Grundherrn hörig. Die Grundherrschaft sicherte den nordöstlichen Gebieten des Frankenreichs einen größeren agrarischen Ertrag und war damit auch die Grundlage für das dort entstehende rasche Bevölkerungswachstum, das dasjenige der übrigen Länder der damaligen Welt übertraf. Im Bereich der Grundherrschaft lebten vom 8. Jahrhundert an wahrscheinlich mehr Menschen als im ganzen übrigen Europa. Unter den Karolingern bildeten diese Regionen das wirtschaftliche und politische Herz Europas. Nicht überall in Europa verbreitete sich allerdings die Grundherrschaft. In Skandinavien hielten sich die Genossenschaften freien Bauerntums. In den slawischen Gebieten Osteuropas standen die geringe Dichte der Bevölkerung und die nomadische Herkunft der awarischen oder ungarischen Herrenschicht dieser Betriebsweise entgegen. In den Mittelmeerländern war wegen der ungünstigen Verteilung von sommerlicher Dürre und Regenzeit, die die Errichtung von Terrassen oder Wasserhaltungsanlagen bedingte, der bäuerliche Betrieb mit Hakenpflug und Esel sowie freiem römischen Eigentumsrecht die am besten geeignete Betriebsform. In der Viehzucht lagen Sommer- und Winterweide oft weit auseinander und hatten großräumige Viehtrecks (Transhumanz) zur Folge. Die Produktivität der frühmittelalterlichen Landwirtschaft litt nicht nur unter dem Fehlen geeigneter Bearbeitungsgeräte, sondern ebenso unter dem Mangel an Dünger. So behalf man sich damit, dass man von den Bauern Abgaben in Form von Mist erhob oder sie verpflichtete, ihr Vieh eine bestimmte Anzahl von Tagen auf die Ländereien des Grundherrn zu treiben. Als Dünger dienten neben tierischen Exkrementen verbranntes Gras, Stroh oder Asche von verbranntem Strauchwerk, Kalk, Mergel und Torf. Unter
Der wirtschaftliche Niedergang im frühen Mittelalter
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diesen Voraussetzungen erreichten die Erträge der Getreidearten in der Karolingerzeit nicht einmal das Doppelte der Aussaat. Bei den Slawen und Germanen waren im frühen Mittelalter vor allem die Feldgraswirtschaft und die uralte Einfeldwirtschaft verbreitet, die nur minimale Erträge brachten. Bei der Einfeldwirtschaft wurde durch Rodung Ackerland gewonnen, das man dann ein Jahr oder länger bebaute, solange es Erträge gab und dann brachliegen ließ, um andere Ländereien unter den Pflug zu nehmen, bis sich der Zyklus nach einigen Jahren wiederholte. Der beste Boden in der Nähe der Siedlungen wurde durchgehend bearbeitet. In den östlichen Niederlanden und in Nordwestdeutschland baute man darauf jahrein jahraus Roggen an. Allmählich begann sich die Dreifelderwirtschaft durchzusetzen (der älteste urkundliche Nachweis fällt bereits in das Jahr 763). Dabei wurde abwechselnd 1/3 des Bodens mit Wintersaat und 1/3 mit Sommersaat bebaut, während 1/3 brachlag, um sich zu erholen. Die adligen und klösterlichen Grundherrschaften organisierten im 8. und 9. Jahrhundert ausgedehnte Rodungsarbeiten in Waldgebieten, die sie aus Reichsgut oder der Allmende erhalten hatten. Es kam zu zahlreichen neuen Siedlungen, einer Ausweitung der Anbaufläche und in letzter Konsequenz zu einer starken Zunahme der Bevölkerung. Die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion, die Schaffung eines auf dem Markte handelbaren Mehrproduktes, war die unabdingbare Voraussetzung für die Ausweitung des handwerklich-gewerblichen Produktionsbereiches und für zunehmende wirtschaftliche Arbeitsteilung mit den damit verbundenen gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsgewinnen. Im frühen Mittelalter aber war der Ertrag des Bodens noch so gering, dass die Menschen in der Karolingerzeit bei jeder Missernte von einer Hungersnot, nicht selten sogar vom Tod bedroht waren. Immer wieder ist in den karolingischen Annalen von Hungersnöten und Epidemien die Rede, denen die schlecht ernährten Menschen in Massen zum Opfer fielen. Auf Landgütern der Karolinger in Nordfrankreich betrugen die durchschnittlichen Erträge im Jahre 810 bei Weizen das 2,7-Fache der Aussaat, bei Roggen das 2,6-Fache und bei Gerste das 2,8-Fache. Dabei ist zu bedenken, dass der Bauer zur neuerlichen Aussaat jedes Jahr die gleiche Menge Saatgut zurückhalten musste, die er im vorangegangenen Jahr eingesetzt hatte. Die Ertragszahlen müssen also noch um eine Einheit vermindert werden (d.h. sie betrugen beim Roggen lediglich das 1,6-Fache der Aussaat!). Von dieser geringen Erntemenge musste nicht nur die Familie des Bauern ernährt, sondern noch Zins, Pacht und der Zehnte an den Grundherrn entrichtet werden. Bei der Dreifelderwirtschaft standen jedes Jahr lediglich 2/3 der Fläche zum Anbau zur Verfügung, und von den darauf erwirtschafteten Überschüssen musste auch noch die nichtlandwirtschaftliche Bevölkerung ernährt werden. Die Steigerung der Agrarproduktion war unter diesen Bedingungen der Schlüssel für gesellschaftliche Spezialisierung und das Ingangsetzen von wirtschaftlichem Wachstum. Die geringen Erträge des Bodens waren vor allem auf die mangelnde Düngung und das unzureichende Bearbeitungswerkzeug zurückzuführen. Vielfach wurde noch der antike Hakenpflug (aratrum), im Wesentlichen ein von zwei Ochsen gezogener Stock, verwendet. Dieser konnte zwar von je-
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Die europäische Wirtschaft im Mittelalter
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dem Bauern leicht selbst hergestellt werden, war aber eigentlich nur für die lockeren Böden des Mittelmeergebietes geeignet. Der Boden musste deshalb alle paar Jahre noch zusätzlich mit der Schaufel bearbeitet werden. Der eigentliche Pflug dagegen, der schwere sächsische Räderpflug, war auch für die schweren Böden des nordwestlichen Europa geeignet. Er hatte ein Messer (das sog. Sech), das die Grasnarbe aufriss, und ein Streichbrett, das die Erde wendete und gleichzeitig zerkrümelte. Der Räderpflug scheint von den eindringenden Germanen in die römische Welt gelangt zu sein. Spätestens im 8. oder 9. Jahrhundert drang er auch in Mittel- und Osteuropa vor. Ob in der Karolingerzeit auch in West- und Mitteleuropa schon echte Pflüge in Gebrauch waren, ist in der Wissenschaft umstritten. Eiserne Pflüge waren aber zunächst schon deshalb nicht die Regel, weil die Kultur der Karolinger vor allem auf der Verwendung und Bearbeitung des Holzes beruhte.
2. Der hochmittelalterliche Aufschwung (11.–13. Jh.)
technische Innovationen in der „Agrarrevolution“ des 11. Jh.
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Die „Agrarrevolution“ des 11. Jahrhunderts Auch im 11. Jahrhundert lebten die Menschen im Abendland noch ständig am Rande der Hungersnot. Insbesondere die Jahre 1005/1006, 1043–45 und 1090–95 waren ausgesprochene Notjahre. Die ständige Unterernährung der Menschen begünstigte Krankheiten wie Tuberkulose, Haut- und Mangelkrankheiten und eine hohe Kindersterblichkeit. Der Hunger trieb die Menschen nicht selten zum Verzehr von Aas oder gar von Menschenfleisch. Gleichzeitig aber begannen wichtige technische Neuerungen in der Landwirtschaft die Gefahr allgemeiner Hungersnöte langfristig zu bannen. Man hat sogar von einer „Agrarrevolution“ des 11. Jahrhunderts gesprochen. Die wichtigsten Neuerungen waren die größere Verbreitung des eisernen Räderpfluges, die von Pferden gezogene Egge und die neue Anschirrmethode des Kummets. Dennoch darf man sich die damit verbundene Steigerung der Erträge nicht zu groß vorstellen. Immerhin dürfte sich der Durchschnittsertrag für Weizen bis 1300 im Vergleich zum 9. Jahrhundert auf etwa das Dreifache der Aussaat verdoppelt haben. Die steigende Verwendung des Pferdes förderte den Anbau des auch als Pferdefutter dienenden Hafers. Der Hafer und die Gerste, beides Frühjahrssaaten, traten neben die Herbstsaaten wie Weizen und Roggen. Der dadurch eingetretene Fruchtwechsel steigerte die Erträge zusätzlich. Die Qualität der Nahrungsmittel verbesserte sich ferner durch den Anbau von Hülsenfrüchten, die viele wertvolle Proteine enthalten. Um den schweren Räderpflug optimal einzusetzen, war die Einführung eines neuen Anspannsystems für Pferde und Ochsen notwendig. In der Antike waren die Tiere durch ein auf dem Nacken liegendes Joch an den Wagen geschirrt worden. Seit dem 10. Jahrhundert verbreitete sich dann eine neue Methode: das wahrscheinlich aus Zentralasien stammende Kummet.
Der hochmittelalterliche Aufschwung (11.–13. Jh.) Kummet Das Kummet war ein steifer Ring, der den Druck auf Schultern und Brustkorb des Tieres verteilte und seine Zugkraft voll zur Entfaltung brachte. Die Leistungsfähigkeit des Pferdes steigerte sich so auf das Vier- bis Fünffache. Mit dem neuen Anspannsystem eignete es sich jetzt auch zur Feldarbeit. Der Ochse wurde zwar nicht verdrängt, aber auf vielen Feldern durch das um 50 % leistungsfähigere Pferd ersetzt.
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Auch das seit dem 9./10. Jahrhundert im Abendland verbreitete, mit Nägeln beschlagene Hufeisen trug zur verbesserten Ausnutzung der tierischen Arbeitskraft bei. Die landwirtschaftliche Arbeit wurde alles in allem wesentlich beschleunigt. Die Verbesserung der landwirtschaftlichen Technik verminderte den Bedarf an Unfreien, die auf den Herrenhöfen ganzjährig für die Arbeit notwendig waren. Für die Grundherren konnte es sich daher lohnen, ehemals Unfreien ein Stück Land und eine eigene Wirtschaft gegen Leistung von Abgaben und Frondiensten zu überlassen. Die agrartechnischen Fortschritte verbesserten also tendenziell die Situation der Bauern, zumal die Grundherren bald dazu übergingen, die Frondienste in Geldabgaben umzuwandeln. Die „Agrarrevolution“ bestand aber nicht nur in einer Verbesserung der Landwirtschaftstechnik und der Anbaumethoden, sondern vor allem auch in einer ständigen Ausdehnung der bebauten Flächen durch Rodung und Kolonisation. Das 11. und 12. Jahrhundert waren eine Zeit der Rodungen und Urbarmachung von Sümpfen, Gehölzen und Heidegebieten. Mit Hilfe der neuen technischen Mittel konnte der Anbau auch auf die weniger fruchtbaren Gebiete ausgedehnt werden. In England, Frankreich und Deutschland ging der Prozess der Rodung und des Landesausbaus auch im 13. und 14. Jahrhundert noch weiter. Die Grund- und Gerichtsherren übernahmen dabei die Organisation und den Schutz und setzen die Zahl der Hofstellen und ihre Größe fest. Der Grundherr stellte das erste Saatgut, die Geräte und das Vieh zur Verfügung. Nach einer abgabefreien Phase hatten die Bauern später Abgaben und Dienste, z.B. eine bestimmte Zahl von Arbeitstagen auf den Ländereien des Grundherrn, zu tragen. Das 13. Jahrhundert war die Zeit eines agrarischen Aufschwungs. In England, Frankreich, Dänemark und Deutschland kam es vor allem in Gebieten mit starker Rodung und Neusiedlung zu Getreideüberschüssen. Die Viehzucht wurde ausgeweitet. Vor allem in England, aber auch in Spanien, Italien und Nordafrika nahm die Schafhaltung zu und hatte eine größere Wollproduktion zur Folge. Die demographische Expansion und die Ausbreitung der Städte Die Fortschritte der Landwirtschaft führten zu einem starken Anwachsen der europäischen Bevölkerung. Im 11. Jahrhundert überstieg die landwirtschaftliche Produktion erstmals den Verbrauch. Damit konnte eine größere Zahl von Menschen ernährt und ein größerer Teil von ihnen aus der unmittelbaren Nahrungserzeugung herausgenommen werden. Um 1050 gab es in Europa ca. 46 Mill. Menschen, 1150 ca. 50 Mill. und 1200 bereits 61 Mill. Die gestiegene Produktivität der Landwirtschaft ermöglichte eine weitere gesellschaftliche Arbeitsteilung und Spezialisierung. In den sich nun immer stärker ausbreitenden Städten entstanden Verbrauchszentren,
„Agrarrevolution“ ermöglicht demographische Expansion und zunehmende gesellschaftliche Arbeitsteilung
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Die europäische Wirtschaft im Mittelalter
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Bedeutung der europäischen Stadt
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die zugleich Mittelpunkte des handwerklichen Aufschwungs wurden. Die Fixierung der bäuerlichen Abgaben eröffnete die Chance und schuf die materiellen Anreize, den Ertragsanteil der Bauern an der Agrarproduktion zu steigern. Die Möglichkeit, die Städte zu beliefern, bewirkte eine Umstellung der Agrarwirtschaft auf die Marktproduktion. Die Entstehung oder Neubelebung unzähliger Städte in Europa ist für die wirtschaftliche Entwicklung Europas von entscheidender Bedeutung geworden. Die große Zahl gleichmäßig über den Raum verteilter kleiner Städte ist eine europäische Besonderheit. Die Städte stellten „Regierungen von Kaufleuten für Kaufleute“ (D. Landes) dar, während die Stadt im Islam keine autonome rechtliche Körperschaft war. In der europäischen Stadt förderten eindeutig definierte Eigentumsrechte die kommerzielle Tätigkeit. Hier entwickelte sich die neue Gesellschaftsschicht der Bürger mit ihren eigenen Normen und Wertvorstellungen. In einer Urkunde aus dem Jahre 1120 verkündete Herzog Konrad von Zähringen die Gründung der Stadt Freiburg Zitiert nach: Arno Borst: Lebensformen im Mittelalter. Frankfurt/Berlin 1973, S. 396ff. Aller Nachwelt und Mitwelt sei kundgemacht, daß ich, Konrad, an dem Platz, der mir als Eigengut gehört, nämlich Friburg, einen Marktort gegründet habe. (…) Nachdem angesehene Geschäftsleute von überall her zusammengerufen worden waren, habe ich angeordnet, diesen Marktort durch eine Art Schwurverband anzufangen und auszubauen. Daher habe ich jedem Geschäftsmann für den Hausbau zu Eigengut in dem angelegten Marktort eine Hofstätte zugeteilt (…). Ich verspreche also allen, die meinen Marktort aufsuchen, im Bereich meiner Macht und Herrschaft Frieden und sichere Reise. (…) Wenn einer von meinen Bürgern stirbt, darf seine Frau mit ihren Kindern alles besitzen, (…) was ihr Mann hinterließ (…). Allen Geschäftsleuten erlasse ich den Marktzoll. – Ich werde meinen Bürgern niemals ohne Wahl einen anderen Vogt und einen anderen Priester vorsetzen, sondern wen immer sie dazu wählen, werden sie von mir bestätigt bekommen. Wenn zwischen meinen Bürgern Rechtshandel und Streit entsteht, wird der nicht nach meinem Ermessen oder dem ihres Leiters behandelt, sondern der Fall wird nach dem anerkannten Gewohnheitsrecht aller Geschäftsleute, vor allem der Kölner, entschieden. – Wenn der Mangel am Notwendigsten dazu zwingt, darf er seinen Besitz verkaufen, an wen er will.
Allein in Deutschland entstanden im Hochmittelalter über 3.000 Städte. Das meist königliche Marktprivileg verlieh ihnen die Befugnis, eigenes Recht zu setzen und entsprechende Gerichte zu etablieren. Die Geschworenen oder Konsuln der Städte waren die reichsten Kaufleute, die sich im 12. Jahrhundert standesrechtlich als Patriziat abschlossen. Die Städte zogen die Handwerkstätigkeit an sich und sicherten sich ein Monopol auf die Herstellung und den Verkauf gewerblicher Erzeugnisse. Auf dem Lande gab es lediglich die sog. Grundhandwerke zur Deckung des landwirtschaftlichen Bedarfs. Vor allem in den großen Städtelandschaften Flandern, Brabant, Nord- und Mittelitalien schlug sich die Spezialisierung des Handwerks in
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Der hochmittelalterliche Aufschwung (11.–13. Jh.)
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den städtischen Zünften nieder. Die Werkstätten, die Märkte und das in Produktion und Handel akkumulierte Geld waren die Basis der städtischen Macht. Zünfte Die sich in den europäischen Städten seit dem Hochmittelalter bildenden Zünfte waren ständische Körperschaften von Handwerkern eines bestimmten Handwerksberufs zur Wahrung gemeinsamer Interessen. Von der Obrigkeit wurden sie mit einem Monopolrecht ausgestattet, d.h. alle Handwerker in der Stadt mussten Mitglied einer Zunft sein („Zunftzwang“). Ihre wirtschaftliche Funktion bestand in der Regulierung der Produktions- und Absatzbedingungen (Ausbildungsregeln, Höchstzahl von Gesellen und Lehrlingen eines Betriebes, Arbeitszeiten, Produktqualitäten und Preise, Maßnahmen gegen unlauteren Wettbewerb usw.). Darüber hinaus nahmen die Zünfte auch religiöse, soziale, kulturelle und militärische Aufgaben wahr. Im Spätmittelalter erreichten die Zünfte im Wege von „Zunftrevolutionen“ vielfach die Teilhabe am Stadtregiment, d.h. die Aufnahme ihrer Meister in den Rat. Seit dem 15. Jahrhundert schlossen sich die Zünfte durch Verschärfung der Aufnahmebedingungen zunehmend ab. Insbesondere die Benachteiligung von Gesellen bei der Neubesetzung von Meisterstellen rief große Unzufriedenheit hervor.
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In Osteuropa fehlten wegen der geringen Bevölkerungsdichte die kleinen Städte und Märkte und folglich ein kommerzielles Bürgertum. Das ProKopf-Einkommen blieb daher schon gegen Ende des Mittelalters deutlich hinter dem Westeuropas zurück. Flandern und Oberitalien als gewerblich-kommerzielle Zentren Flandern und Oberitalien entwickelten sich zu den Zentren der hochmittelalterlichen Wirtschaft. Bereits Ende des 13. Jahrhunderts bildeten diese Regionen regelrechte Städtelandschaften, in denen mehr als die Hälfte der Bewohner in Städten lebten. Der Weltmarkt Brügge und die Tuchmacherstadt Gent im Norden waren nach damaligen Maßstäben Weltstädte. Die Einwohnerzahl von Florenz stieg im 13. Jahrhundert von 10.000 auf 80.000 an. Den Anstoß zum Aufstieg des nordwesteuropäischen Wirtschaftsraums hatten die Karolinger mit der Errichtung einer Pfalz in Aachen gegeben. Die Verwüstungen der Normannen zwischen 820 und 891 unterbrachen diese Entwicklung. Doch mit der Wiederherstellung friedlicher Verhältnisse begann der Aufstieg der Niederlande erneut. Die Niederländer knüpften Beziehungen zu den Gebieten jenseits des Rheins und den Nordseeländern und erbauten Burgen und Städte, in denen sich Händler niederließen. Mitte des 11. Jahrhunderts siedelten die Weber vom flachen Land in die Städte über. Die Bevölkerung wuchs, und in dem ganzen Gebiet von der Zuidersee im Norden bis zu den Ufern der Seine und Marne im Süden siedelte sich das städtische Textilgewerbe an. Diese Entwicklung gipfelte in dem glanzvollen Aufstieg Brügges, das regelmäßig von ausländischen Kaufleuten aufgesucht wurde. Brügge dehnte seine Handelsbeziehungen bis nach England und Schottland aus. Von dort bezog es die qualitätsvolle Wolle für seine eigenen Werkstätten wie für den Weiterverkauf in die anderen Tuchstädte Flanderns.
Flandern und Oberitalien als Pole der mittelalterlichen europäischen Weltwirtschaft
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Die europäische Wirtschaft im Mittelalter
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Brügges Beziehungen zur englischen Krone, die damals noch Besitzungen in Frankreich hatte, erwiesen sich von großem Vorteil: sie ermöglichten der Stadt den Bezug von Weizen aus der Normandie und Wein aus Bordeaux. Entscheidend wurde, dass die deutsche Hanse Brügge zu ihrem Hauptkontor wählte und damit den Wohlstand der Stadt festigte. Als 1277 erstmals genuesische Schiffe in Brügge landeten, war eine Seeverbindung zwischen der Nordsee und dem Mittelmeer hergestellt. Reiche italienische Kaufleute ließen sich in der Stadt nieder und tauschten die kostbaren Produkte des Orients wie Pfeffer und Spezereien aus der Levante gegen die flandrischen Gewerbeerzeugnisse ein. Brügge wurde zum Mittelpunkt eines weitgespannten Handelsnetzes, das den Mittelmeerraum, Portugal, Frankreich, England, das deutsche Rheinland und die Hansestädte umfasste. Bis 1500 stieg seine Einwohnerzahl auf 100.000 an – für damalige Verhältnisse eine Weltstadt. Da das Textilgewerbe auch die anderen Städte Flanderns erfasste, entstand dort ein im damaligen Europa einzigartiges Gewerbegebiet. Der Aufstieg der flandrischen Städte im 11. Jahrhundert fällt zusammen mit dem Aufblühen der Tuchindustrie. Die Übervölkerung Flanderns stellte zahlreiche gewerbliche Arbeitskräfte bereit, was der Tuchherstellung zugutekam. Der komplizierte Herstellungsprozess des Tuches, der unter Umständen in 30 Teilarbeitsgänge zerfiel, rief nach einem kaufmännischen Unternehmer, der den gesamten Herstellungsprozess koordinierte. Schon im 13. Jahrhundert importierten diese kapitalistischen Unternehmer das Rohmaterial und ließen es dann von verschiedenen Handwerkern bearbeiten. Im Spätmittelalter kam es zwischen den in Zünften organisierten Handwerkern und den Arbeitgebern zu heftigen Konflikten um Lohnhöhe und politische Mitsprache. In den Städten Flanderns, in Ypern, Gent, Douai, Valenciennes und anderen, wurden aus englischer Wolle (England exportierte jährlich mehr als 5 Mill. kg) feinste Tuche gefertigt, die von der Hanse nach Russland und von Kölner und Regensburger Kaufleuten nach Ungarn gebracht wurden. Niederländische Händler exportierten sie darüber hinaus nach Südfrankreich, Spanien und Italien. Italien war bis ins 13. Jahrhundert ein dankbares Absatzgebiet für die flandrischen Tuche, da die italienischen Städte zunächst nur billige Tuche aus einheimischer Wolle herstellten, ehe sie sich auf der Basis von Importwolle aus Nordafrika, Spanien und England selbst der Herstellung von Spitzenqualitäten widmeten. Um 1300 hatte das flandrische Tuchgewerbe seinen Höhepunkt überschritten. Politische Verwicklungen mit England und Frankreich, vor allem aber die hohen flandrischen Löhne, führten zu einem Niedergang. Englands aufsteigendes Tuchgewerbe konnte billiger produzieren. Dort hatte sich seit dem Ende des 12. Jahrhunderts die Anwendung der Wasserkraft für das Walken durchgesetzt. Da Flandern nicht über die nötige hydraulische Energie verfügte, verlegte man dort die Wollindustrie seit dem Beginn des 14. Jahrhunderts auf das platte Land, um den Reglementierungen der Zünfte zu entkommen. Auch Oberitalien war ein großes Tuchmacherzentrum. Die Tuche wurden von Kaufleuten in Florenz, Siena, Lucca und Genua verarbeitet, d.h. gewalkt, gefärbt und geschoren, ehe sie in Nordafrika gegen Häute, Wolle
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Der hochmittelalterliche Aufschwung (11.–13. Jh.)
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und Goldstaub, in der Levante gegen Gewürze, Seide, Baumwolle und Farbwaren getauscht wurden. Lucca und Venedig widmeten sich der Seidenherstellung. Im frühen Mittelalter war die Seidenherstellung als kaiserliches Monopol nur in Byzanz betrieben worden. Der Islam brachte die Seidenraupe und die Seidenherstellung nach Spanien und Sizilien. Von Sizilien aus verbreitete sich das Gewerbe in Italien. Seit dem 12. Jahrhundert konzentrierte sich der Handel zwischen Flandern und dem Mittelmeerraum auf die vier kleinen, unter dem Schutz der Grafen der Champagne stehenden Messestädte Troyes, Provins, Lagny und Bar-sur-Aube in der Champagne, in denen alljährlich sechs Messen stattfanden. Hier wurden die Waren des Okzidents (z.B. Tuche aus dem Artois oder aus Flandern) gegen die des Orients (Seiden, Spezereien, Farbstoffe) ausgetauscht. Letztere wurden vor allem von den seit 1170 in der Champagne erscheinenden italienischen Kaufleuten eingeführt. Mit dem Aufschwung der Messen der Champagne zeichnete sich ein von den Niederlanden bis zum Mittelmeer reichender zusammenhängender Wirtschaftsraum ab. Seine beiden Pole bildeten die Niederlande und Norditalien. Dabei überwog im Norden die Gewerbetätigkeit, im Süden der Handel, der sich in dem Maße ausweitete, wie die italienischen Städte die Seewege des Mittelmeers und die Handelsstraßen des Orients zurückeroberten. Die „kommerzielle Revolution“ Der Handel im Raum von Palästina bis England erreichte im Hochmittelalter eine Stetigkeit und ein Volumen, das eine Ausweitung des Geldverkehrs bis hin zum bargeldlosen Zahlungsverkehr und zum Kreditgeschäft notwendig machte. In diesem Kreditgeschäft spielten Bankiers aus der Toscana und der Lombardei die entscheidende Rolle. Die Ausdehnung des Handels führte dazu, dass anstelle der bis dahin ausreichenden Pfennigstücke nunmehr Silberbarren im Gewicht einer Mark (= 233 g) in Gebrauch kamen. Als erste Stadt ließ Venedig eine große Silbermünze im Werte von 24 Pfennig prägen. Seit etwa 1250 gab es in Florenz und Genua mit dem Gulden (fl.) sogar neue Goldmünzen. Der von der Deutschen Hanse getragene Ost-West-Handel im Raum von England über Flandern und Norddeutschland in die Ostseegebiete trat im 13. Jahrhundert gleichgewichtig neben den alten Nord-Süd-Verkehr zwischen Italien, Frankreich, Deutschland und Flandern. Im Ost-West-Handel gingen Holz, Pelze, Wachs und Honig in westlicher und Salz, Wein, Tuche und Hering in östlicher Richtung. Es handelte sich hier also noch weitgehend um Massengüter, während im Nord-Süd-Handel auch Luxuswaren und Qualitätsprodukte eine Rolle spielten. Der allgemeine Handelsaufschwung des 13. Jahrhunderts führte zu einer Verfeinerung der kaufmännischen Methoden, die man als „kommerzielle Revolution“ bezeichnet hat. Die Kaufleute reisten nicht mehr ständig von einem Jahrmarkt zum anderen, sondern ließen sich an einem Orte nieder und überwachten von dort mittels Buchführung und schriftlicher Korrespondenz die Geschäfte. Große Handelsfirmen unterhielten in bedeutenden Marktorten feste Vertreter (Faktoren), wie dies einige italienische Firmen in England und den Niederlanden in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts
die „kommerzielle Revolution“ weitet die kaufmännischen Aktionsräume aus
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praktizierten. Es entwickelte sich der Kommissionshandel, bei dem zwei Kaufleute gegenseitig an ihrem Orte die Interessen des anderen wahrnahmen. Zukunftsweisende institutionelle Neuerungen wie die commenda weiteten die kommerziellen Aktionsräume erheblich aus und minderten zugleich die damit verbundenen Risiken. Mentalität, Weltbild und Arbeitsethos der führenden oberitalienischen Kaufleute waren bereits eindeutig kapitalistisch geprägt.
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vermehrte Nutzung von Wind- und Wasserkraft
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Commenda In Italien und im gesamten Mittelmeergebiet verbreitete sich seit dem 12. Jahrhundert die Gesellschaftsform der commenda. Dabei finanzierten mehrere Geldgeber eine Schiffsreise oder lieferten dafür die Ladung und trugen das finanzielle Risiko. Eine besonders fortschrittliche Organisationsform entwickelte sich in Siena, Lucca und Florenz seit der Mitte des 13. Jahrhunderts: die compagnia. Bei dieser Vorform der heutigen Handelsgesellschaft brachten mehrere, häufig miteinander verwandte Personen für eine Dauer von mehreren Jahren Kapital ein, das oftmals mit Fremdkapital Dritter gegen Zinsen ergänzt wurde.
Gewerblich-technische Fortschritte Auch in der gewerblichen Produktion wurden seit dem 10./11. Jahrhundert wichtige Verbesserungen erreicht. Technischer Fortschritt vollzog sich dabei vor allem in jenen Bereichen, die bereits für internationale Märkte arbeiteten. Im 13. Jahrhundert wurden das Spinnrad und der pedalgetriebene horizontale Webstuhl entwickelt. Zum Walken der Stoffe setzte man Wassermühlen ein. In Walkmühlen wurde das Gewebe mechanisch geschlagen. Zuvor hatte das Walken eines kleinen Stückes Tuch die äußerst anstrengende Arbeit von drei bis zur Erschöpfung arbeitenden Männern erfordert. Walkmühlen gab es in Norditalien und Frankreich schon gegen Ende des 11. Jahrhunderts, in England und Deutschland etwas später. Die Walkmühlen siedelten sich vielfach in noch unerschlossenen ländlichen Gegenden an. Damit wurde das eifersüchtig gehütete Zunftprivileg der Städte umgangen. Neben Walkmühlen gab es Getreide-, Öl-, Schleif-, Papier-, Säge- und Hammermühlen. Ende des 11. Jahrhunderts existierten in England 5.000 Wassermühlen. Vor allem die Klöster, insbesondere die Zisterzienserklöster, förderten die Verbreitung der Wasserkraft. Die Verwendung der Wasserkraft verlagerte die gewerblichen Standorte an die Wasserläufe in den Tälern. Die Herstellung gewerblicher Erzeugnisse, die bis dahin fast ausschließlich in handwerklichem Rahmen erfolgt war, wurde am Ort der Mühle zentralisiert, und es entstanden räumliche Zusammenballungen von Gewerbebetrieben. Dies förderte die Konkurrenz und belebte den Erfindergeist. Die Wasserkraft als neue Art der Energiegewinnung fand im Hochmittelalter also eine immer breitere Verwendung. E.M. Carus-Wilson hat im Hinblick auf die zunehmende Verwendung von Pferden und Mühlen im 11., 12. und 13. Jahrhundert gar von einer „ersten industriellen Revolution“ gesprochen. In der Mechanisierung des Walkvorgangs sieht sie ein ebenso entscheidendes Ereignis wie in der Mechanisierung der Spinnerei und Weberei im 18. Jahrhundert. Allerdings führten diese technologischen Innovationen im Hochmittelalter noch keineswegs zu einem sich selbst tragenden, dauerhaften Wirtschaftswachstum.
Der hochmittelalterliche Aufschwung (11.–13. Jh.)
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Seit der Jahrtausendwende machten sich die Europäer auch die Kraft des Windes zunutze. Die Araber hatten Windmühlen schon lange vorher gekannt. Arabische Geographen, die Persien im 10. Jahrhundert bereisten, berichteten zum ersten Mal von solchen Windmühlen, die allerdings eine vertikale Welle hatten. Die Windmühle mit horizontaler Welle war eine eigenständige Erfindung des Westens. Gegen Ende des 12. Jahrhunderts waren Windmühlen in England, den Niederlanden und Nordfrankreich sehr verbreitet. Die Windmühle wurde im Mittelalter nicht nur gebraucht, um Korn zu mahlen, sondern auch um Pumpen für Entwässerungszwecke anzutreiben. In Holland blieb die Windmühle bis zum Siegeszug der Dampfmaschine die entscheidende Antriebsmaschine. Der europäische Wohlstand führte auch zu einem Aufschwung der Metallurgie. Mit der wachsenden und wohlhabenderen Bevölkerung vergrößerte sich in der nachkarolingischen Zeit die Nachfrage nach Eisen. Kupfer spielte ebenfalls eine wichtige Rolle. Neben den schon im Altertum bekannten Minen erschloss man neue Gruben in den Vogesen, in den Ostalpen, in Böhmen, in den Karpaten und in Siebenbürgen, in Sachsen (Rammelsberg bei Goslar, Mansfeld) und in Schweden. In der Maasgegend (Lüttich, Maastricht, Aachen, Dinant) entstand im Spätmittelalter ein Zentrum der Kupferindustrie. Kupfer (aus dem Harz) und Zinn (aus England) mussten über große Entfernungen herangeschafft werden. Vor allem der steigende Bedarf an Münzmetall führte dazu, dass die lange verlassenen illyrischen Goldminen wieder ausgebeutet und neue in Tirol, Schlesien und Böhmen erschlossen wurden. Die reichsten Silbervorkommen wurden seit dem 10. Jahrhundert in Tirol, in Kärnten und im Harz ausgebeutet. Aus Newcastle und dem Lütticher Land liegen schon für das Ende des 12. Jahrhunderts, für das Ruhrgebiet und den Hennegau für das 13. Jahrhundert Nachrichten über Kohlegewinnung vor. Schmiede, Töpfer und Brauer in Holland und Seeland, wohin Kohle aus England schnell gebracht werden konnte, arbeiteten im Spätmittelalter bereits mit diesem neuen Energieträger. Faktoren des europäischen Aufstiegs und sein Ende in der „Krise des Spätmittelalters“ Im 11.–13. Jahrhundert hatte Europa seinen frühmittelalterlichen Tiefpunkt überwunden. Eine stark anwachsende Bevölkerung hatte eine deutlich höhere materielle Stufe erreicht. Die Gründe dafür sind im Einzelnen nicht umstritten, können aber unterschiedlich gewichtet werden: Während Lynn White oder Georges Duby den Aufstieg Europas in erster Linie dem Fortschritt in der Landwirtschaft zuschreiben, heben andere Autoren die Fortschritte auf dem Handelssektor hervor. In Wirklichkeit kommen viele Faktoren zusammen: die Verbesserung der Landwirtschaftstechniken, die Bevölkerungszunahme, der handwerkliche Aufschwung in den Städten, das Wiederaufleben des Handels usw. führten in Europa zur Entstehung eines Städtenetzes. Die Verbindungen von Stadt zu Stadt, die zahlreicher werdenden kaufmännischen Aktivitäten ließen allmählich eine europäische Marktwirtschaft entstehen. Die Notwendigkeit, die stark angewachsene Bevölkerung in den niederländischen und italieni-
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Die europäische Wirtschaft im Mittelalter
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die „Krise des Spätmittelalters“
schen Städten mit Nahrungsmitteln aus anderen Teilen Europas zu versorgen, belebte zusätzlich den Handel und förderte die „internationale“ und regionale Arbeitsteilung. Besonders wichtig für die „kommerzielle Revolution“ wurden die von den italienischen Städten schon sehr früh geschaffenen Verbindungen zu Byzanz und zum islamischen Bereich. Die italienischen Städte gewannen damit Anschluss an die florierende Geldwirtschaft des Orients und verbreiteten sie ihrerseits in Europa. Ende des 14. Jahrhunderts hatte sich eine erste Weltwirtschaft entwickelt, in der die Städte Brügge, London, Lissabon, Damaskus, Asow und Venedig eine besondere Rolle spielten. Zunehmende Übervölkerung und Bewirtschaftung von Grenzböden in Verbindung mit einer Klimaverschlechterung brachten im 14. Jahrhundert einen Umschwung der wirtschaftlichen Verhältnisse: 1/3 der in ihrer Widerstandskraft geschwächten europäischen Bevölkerung fiel 1348–1350 dem Schwarzen Tod zum Opfer. Der durch die Pestzüge und Kriege verursachte Bevölkerungsrückgang führte zu einer Krise der Landwirtschaft und zur Aufgabe vieler kleinerer Siedlungen. Das Absinken der Bevölkerungszahl hatte zunächst einen Preisverfall bei den landwirtschaftlichen Produkten zur Folge, insbesondere beim Getreide. Als in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die Bevölkerungszahl wieder zunahm, stiegen auch die landwirtschaftlichen Preise wieder. Dennoch blieben die Lebensverhältnisse der Bauern im Allgemeinen äußerst dürftig.
3. Die Schlüsselrolle Venedigs in der europäischen Wirtschaft des Mittelalters
Etappen des venezianischen Aufstiegs
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Etappen des Aufstiegs Nachdem der europäische Handel durch die Ausbreitung des Islams im 7. Jahrhundert einen schweren Rückschlag erlitten hatte, begann er sich vom 8. und 9. Jahrhundert an wieder zu erholen. Eine besondere Rolle spielte hier zunächst das kleine Amalfi an der italienischen Adriaküste, das durch seine beengte Lage und seinen kargen Boden förmlich zu Seefahrt und Handel gezwungen war. Händler aus den italienischen Städten besuchten das reiche Byzanz und die Städte des Islams. Durch Lieferung von Holz, Weizen, Leinen, Salz und Sklaven beschafften sie sich ägyptische und syrische Goldmünzen, mit denen sie byzantinische Seidenwaren einkaufen konnten, die sie dann im Dreieckshandel im Westen absetzten. Kaufleute aus Venedig, Genua, Ragusa und Pisa errichteten seit dem späten Frühmittelalter Niederlassungen in den islamischen Küstenstädten am Mittelmeer sowie am Schwarzen Meer. Venedigs Wohlstand beruhte anfänglich vor allem auf der Salzgewinnung in der Lagune. In Byzanz genoss die Stadt eine privilegierte Stellung, seitdem die anderen Städte an der italienischen Ostküste unter fränkische Herrschaft geraten waren. Das reiche Hinterland der Poebene und die Nähe der
Die Schlüsselrolle Venedigs Alpenpässe zu Deutschland eröffneten Venedig beste Handelsperspektiven. Über die Donau und den Rhein bestand die Möglichkeit, sich den gesamten Warenverkehr des Westens zu erschließen. Seit dem 12. Jahrhundert belebte sich der Handel zwischen dem Maghreb (Marokko, Tunesien, Algerien) und den italienischen Hafenplätzen. Die christlichen Kaufleute richteten befestigte Warenlager im nordafrikanischen Küstenbereich ein und hielten von hier aus Kontakt mit den Plätzen des Oasengürtels und den Transsahara-Linien. Auf diesem Wege erhielten sie Zugang zu dem afrikanischen Gold, das Genua, Florenz und Venedig den Übergang zur Prägung von Goldmünzen ermöglichte. Seit dem 11. Jahrhundert entwickelte sich Venedig mehr und mehr zum Zentralort der europäischen Wirtschaft und hatte im 15. Jahrhundert den Status des kommerziellen Zentrums der damaligen Weltwirtschaft erreicht. Seine formale Zugehörigkeit zum oströmischen Reich und die vielfältigen Dienste (auch militärischer Art), die es der Hauptstadt des oströmischen Reiches leistete, eröffneten ihm den Zugang zum lukrativen byzantinischen Markt. Byzanz war der Dreh- und Angelpunkt des Handels zwischen Europa und Asien – eine Weltstadt mit blühenden Märkten und Basaren. Es hatte den gesamten Handel durch die Ägäis und das Schwarze Meer einem Zehnten unterworfen, den die kaiserliche Verwaltung kassierte. In der Stadt gab es schon im Jahre 1180 eine italienische Kolonie mit 60.000 Menschen. Entscheidend für den Aufstieg Venedigs wurden die Kreuzzüge. Die italienischen Städte, allen voran Venedig, besorgten auf ihren Frachtschiffen den Transport der Kreuzfahrer. Ein nicht geringer Teil des aufgeopferten Vermögens der europäischen Kreuzfahrer landete so in den Kassen dieser Städte. Waffen und Ausrüstungen, Transportmittel und Proviant mussten bereitgestellt werden. Dies belebte das Gewerbe und das Städtewesen. Die Finanzierung der Kreuzzüge führte zu einer engen Kooperation von päpstlicher Kurie und oberitalienischen Bankiers. Der Kirche fielen durch die Kreuzzüge enorme Vermögenswerte zu: Da die Kreuzfahrer ihre Kosten selbst aufbringen mussten, verpfändeten sie häufig ihren Besitz an die Kirche oder beliehen ihre Immobilien. Starb der Kreuzfahrer unterwegs, wurde sein Vermögen der Kirche übertragen. Später übernahm die Kirche die Finanzierung der Kreuzzüge und schrieb päpstliche Kreuzzugssteuern aus. Diese wurden häufig bei Klöstern, Kirchen oder oberitalienischen Bankhäusern deponiert. Die Kreuzzüge öffneten den italienischen Städten den Weg in den Nahen Osten. Die durch die Zurückdrängung der Mauren (spanische „Reconquista“) und die Kreuzzüge (Ende des 11. bis Ende des 13. Jh.s) hervorgerufene Schwächung der arabischen Besitzungen in Spanien und Nordafrika nutzten sie geschickt, um auf dem Verhandlungswege Konzessionen zu erhalten. Als Ergebnis der Kreuzzüge entstanden Kreuzfahrerstaaten im Heiligen Land, die direkte Handelsbeziehungen mit den Arabern und mit Persien, Indien und China aufnahmen. Auf diesen Wegen gelangten die begehrten Güter des Orients wie Seide, Pfeffer und Spezereien nach Europa. Für die Unterstützung des Königreichs der Kreuzfahrer in Jerusalem und als Sicherheit
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Bedeutung der Kreuzzüge
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für seine Investitionen erhielt Venedig entscheidende Vergünstigungen. So genossen die Venezianer im gesamten Königreich Zollfreiheit. Es galten venezianisches Maß und Gewicht. Venedig gelang es, den 4. Kreuzzug (1199–1204) gegen das christliche (!) Byzanz zu lenken. Byzanz versprach die größten Eroberungen und damit die höchste Rendite für Venedigs Kredite und Investitionen. Die Plünderung der Stadt im Jahre 1204 bildete eine entscheidende Zäsur im Aufstieg Venedigs: Venedig sicherte sich 3/4 der Beute und den Großteil des byzantinischen Reiches. Die byzantinischen Luxusgüter wie Waffen, Seide, Emaillen, Elfenbeinschnitzereien sowie Baumwoll- und Leinentextilien gelangten nunmehr auf direktem Wege in den Handel der Venezianer. Anstelle von Byzanz beherrschte jetzt Venedig den Asienhandel. Es erhielt Zugang zum Schwarzen Meer und stellte damit den Kontakt zu den transasiatischen Handelswegen her. Die Venezianer eroberten eine ganze Kette von Handelsstützpunkten, die von der thrakischen Küste über das griechische Festland, den Peloponnes, die Ionischen Inseln, Kreta und Zypern bis nach Palästina reichte. Doch letztlich profitierten alle italienischen Staaten von den Kreuzzügen und dem Zusammenbruch von Byzanz. Mit der Eroberung der Insel Zypern stand allen christlichen Kaufleuten, die mit der Levante Handel trieben, ein Stützpunkt zur Verfügung, der ihnen Schutz und Sicherheit bot. Darüber hinaus profitierten die italienischen Städte von dem Mongoleneinfall nach 1240. Der riesige Herrschaftsbereich der Mongolen, der sich von Polen bis zum Ostchinesischen Meer und vom Himalaja bis nach Sibirien erstreckte, eröffnete dem Handel eine Landverbindung nach Indien und China. Die venezianischen Kaufleute Niccolo, Matteo und Marco Polo knüpften 1271 mit ihrer Reise über Bagdad und den Iran bis nach Peking die Verbindung mit dem Fernen Osten. Venedigs Position in der Weltwirtschaft des Spätmittelalters war so dominant, dass es an Reichtum bei weitem Territorialstaaten wie Frankreich übertraf. Aus dem Fernhandel zog die Dogenstadt enorme Gewinne, die letztlich nur einer sehr kleinen Gruppe von Kaufleuten zufielen. Venedig spielte nicht nur die Pionierrolle im internationalen Fernhandel, der für den Aufstieg Europas von großer Bedeutung war, sondern es leistete auch einen erheblichen Beitrag für die intellektuelle und wissenschaftliche Entwicklung Europas. Seine Glasindustrie produzierte in großem Stil Brillen, eine wichtige Innovation, die die Lebensarbeitszeit von Wissenschaftlern und Gelehrten verlängerte. Außerdem war die Stadt führend auf dem Felde des Buchdrucks. In Venedig gab es Bibliotheken mit bedeutenden Manuskripten, und mit der Verbreitung griechischer Texte leistete die Stadt einen großen Beitrag zum geistigen Aufschwung der Renaissance. Einer der großen Gelehrten der Renaissance, Galileo Galilei, lehrte an der Universität von Padua, gelegen auf dem venezianischen Festland, der Terra ferma.
Venedig als Vormacht der Weltwirtschaft
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Grundlagen der venezianischen Macht Fünfhundert Jahre lang, von ca. 1000 bis ca. 1500, dominierte Venedig den europäischen Handel im Raum zwischen Flandern, Deutschland, Frankreich, dem Balkan und dem Mittelmeerraum. Von Venedig aus lief die
Die Schlüsselrolle Venedigs
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Hauptachse des Welthandels über Brügge nach London. An das wirtschaftliche Kerngebiet Venedigs in Oberitalien schloss sich nördlich der Alpen eine ganze Kette von Handelsstädten mit Augsburg, Wien, Nürnberg, Regensburg, Ulm, Basel, Straßburg, Köln, Hamburg und sogar Lübeck an, deren Waren für Venedigs Handel von zentraler Bedeutung waren. Aus Deutschland gelangten Eisen und Kleineisenwaren sowie Barchente (ein Mischgewebe aus Leinen und Baumwolle), nach 1450 auch immer mehr Silber nach Venedig. In den Hafenstädten am Nordufer des Schwarzen Meeres nahm Venedig die auf den Karawanenstraßen dorthin gelangten Produkte Chinas auf und vermittelte über Syrien oder Alexandria indische und andere asiatische Luxusprodukte nach Europa. Diese Handelsverbindungen ermöglichten auch den Technologietransfer aus Asien, Ägypten und Byzanz. Beispiele sind die Einführung des Seiden- und Baumwollgewerbes, der Glasbläserei und des Reisanbaus in Italien oder des Zuckerrohranbaus und der Zuckerverarbeitung in den venezianischen Kolonien Kreta und Zypern. Die Venezianer verfolgten eine rigorose Monopolisierungsstrategie. So wurden z.B. die deutschen Kaufleute, deren Waren für Venedigs Handel von zentraler Bedeutung waren, vom einträglichen Fernhandel ausgeschlossen und befanden sich in einer ausgeprägten Abhängigkeit: unter der Kontrolle der von der Signoria, dem oligarchischen Regierungsrat der Stadt, eingesetzten Aufseher wurden sie seit 1228 im Fondaco dei Tedeschi, einer Art Kaufhof nahe der Rialtobrücke, konzentriert. Dort mussten sie ihre Waren deponieren, ihre Verkäufe abwickeln und den Erlös in venezianische Waren umsetzen. Die Monopolierungsstrategie der Venezianer zeigte sich auch auf anderen Gebieten: so musste der gesamte Handelsverkehr mit der Terra ferma, dem Hinterland Venedigs, sowie der Export der venezianischen Levanteinseln und der Städte an der Adria über Venedig abgewickelt werden. Dies galt selbst dann, wenn die Ausfuhrwaren für England oder Sizilien bestimmt waren. Die maritime Vorherrschaft der Venezianer, die Grundlage für ihr Handelsimperium, beruhte auf den hochmodernen Schiffbautechniken des Arsenals, der staatlichen Werft in Venedig, auf der Nutzung des Kompasses und anderer nautischer Innovationen, nicht zuletzt aber auch auf zahlreichen institutionellen Innovationen im Bereich des Bankwesens, der Buchführung und des internationalen Kreditwesens sowie einem gesunden staatlichen Finanzsystem. Der dichte Handelsverkehr und eine kommerzialisierte Landwirtschaft bildeten die breite steuerliche Basis, auf der Venedig seine militärische Macht entfalten konnte. Dies geschah im Rahmen eines kapitalistischen Militärunternehmertums und Söldnerwesens, das eine weit größere Schlagkraft hatte als die Feudalheere. Der Handel Venedigs litt unter der Eroberung Konstantinopels durch die Türken im Jahre 1453, da diese praktisch den Handel über das Schwarze Meer unterbanden. Venedig sank aber keineswegs zur Bedeutungslosigkeit herab, zumal die Türken nach der Besetzung von Syrien und Ägypten 1516/17 keineswegs diese traditionellen Pforten des Levantehandels absperrten, da sie selbst vom Transithandel profitierten.
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4. Die Deutsche Hanse Der Aufstieg der Hanse Bereits seit Beginn des 11. Jahrhunderts entfalteten deutsche Kaufleute in Nordosteuropa beträchtliche kommerzielle Aktivitäten. Kölner und westfälische Kaufleute trieben Handel mit England. 1157 erhielten die Kölner Kaufleute für ihre Waren und ihren Kaufhof in London den besonderen Schutz des englischen Königs. Den Ost-West-Handel auf der Ostsee beherrschten damals die Friesen, Flamen, Russen und Gotländer. Die Hanse bildete sich seit der Mitte des 12. Jahrhunderts, als die deutschen Kaufleute unter der Führung der westfälischen Stadt Soest die wirtschaftliche Herrschaft über die Ostsee gewonnen hatten. Einen Wendepunkt markierte die Gründung der Stadt Lübeck (1158), die mit dem Ziel erfolgte, den Osthandel zu forcieren. Nur wenig später bildete sich auf der Insel Gotland, dem Zentrum des Warenaustausches im Ostseeraum, eine Genossenschaft der Gotland besuchenden Deutschen, die zur Keimzelle der Hanse wurde. Gemeinsam mit den Gotländern benutzten die Hansen in Nowgorod am Ilmensee deren St. Olavshof, ehe sie um 1200 eine eigene Niederlassung, den St. Petershof, erwarben. Seit Ende des 13. Jahrhunderts hatte Lübeck unbestritten die Führung in der Hanse inne.
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Hanse Die Hanse war eine bevorrechtete Genossenschaft deutscher Kaufleute im Ausland, keineswegs ein fester Städtebund. Sie unterhielt gemeinsam genutzte Kontore, die mit Privilegien wie Steuerbefreiungen oder eigener Gerichtsbarkeit ausgestattet waren, wie den St. Petershof in Nowgorod, die deutsche Brücke in Bergen oder den Stalhof in London. Die Hanse hatte niemals eine gemeinsame Flotte, gemeinsame Beamte oder eine gemeinsame Finanzordnung. Ebenso wenig war die Hanse „national“: zwar wurden nur „deutsche“ Städte aufgenommen, jedoch bedeutete dies lediglich, dass es sich dabei um Städte handelte, in denen deutsches Recht galt und eine große Gruppe aus Deutschland stammender Kaufleute lebte. So waren auch Stockholm, Krakau, Reval Hansestädte.
Bedeutung der Ostkolonisation
Von entscheidender Bedeutung für den Aufstieg der Hanse wurden die gewaltige Expansionsbewegung der Ostkolonisation, die zur Gründung zahlreicher Siedlungen und Märkte in Osteuropa führte, und das Vordringen rheinischer und westfälischer Kaufleute in den Ostseeraum. Entlang der Ostseeküste entstand eine Reihe deutscher Städte wie Rostock, Stralsund, Danzig, Königsberg, Dorpat, Reval und Riga, die zu wichtigen Stützpunkten für den Ost-West-Handel wurden. Besonders bedeutend als Handelsplatz für die Hansen war die Südwestspitze Schwedens. Die Halbinsel Skanör in Schonen war das Zentrum des europäischen Heringsfangs. Hansische Kaufleute sicherten sich hier zahlreiche Privilegien. Im flämischen Bereich, in dem sich mit der Weltstadt Brügge das nördliche Zentrum des mittelalterlichen Welthandels befand, traten die Hansen erst Anfang des 13. Jahrhunderts mit ihren großen und besonders seetüchtigen Koggen in Erscheinung. 1252/53 gelang es ihnen, dort Privilegien zu er-
Die Deutsche Hanse werben, indem sie einen Konflikt zwischen König Wilhelm von Holland und der Gräfin Margarete von Flandern ausnutzten. Die hansischen Kaufleute sprangen in die Bresche, als den Flamen Ende des 13. Jahrhunderts der Handel mit englischer Wolle verboten war. Um 1300 hatten sich die Hansen die führende Rolle im Norden Europas gesichert. In Brügge fanden sie Anschluss an die damals noch auf das Mittelmeer ausgerichtete europäische Weltwirtschaft, die ihre Zentren in Venedig und Genua sowie Byzanz hatte. Brügge wurde zur Drehscheibe des internationalen Warenverkehrs. Durch Vermittlung der Hanse entwickelte sich die Stadt zum Hauptstapelplatz für die Waren des Ostens. Flämische Textilien wurden von hier aus in umgekehrter Richtung in den Osten verschifft, Italiener und andere Kaufleute aus Südeuropa fanden sich ein, um die hansischen Waren zu erwerben. Die Handelsaktivitäten der Hanse spielten sich im Wesentlichen entlang der Linie Nowgorod – Reval – Lübeck – Hamburg – London – Brügge ab. Der hansische Fernhandel beruhte auf der Vermittlung von Rohstoffen und Nahrungsmitteln aus den Ostseeländern in westlicher Richtung und niederländischer und englischer Fertigwaren in der östlichen. Dabei übertraf der Transport von Waren aus dem Osten denjenigen in umgekehrter Richtung wertmäßig bei weitem. Im Handel in östlicher Richtung nahm das Tuch die erste Stelle ein. Durch das Aufkommen der besseren und billigeren holländischen, brabantischen und englischen Textilien verlor die Hanse allerdings seit der Mitte des 15. Jahrhunderts Marktanteile. Einen besonderen Stellenwert für den hansischen Handel hatte das Lüneburger Salz, da in den östlichen Ländern Salz vollständig fehlte. In westlicher Richtung wurden Getreidelieferungen immer wichtiger, die Nachfrage stieg mit der Bevölkerungsentwicklung in Westeuropa sprunghaft an. Preußische und polnische Gutsherren begannen mit der systematischen Getreideproduktion. Diese Gebiete entwickelten sich zu den Kornkammern Europas. Zur Grundlage des Erfolgs der deutschen Hanse wurden bestimmte kostensenkende Institutionen und Werthaltungen, die die erheblichen Risiken des Handels im Nord- und Ostseegebiet minderten. Die von der Hanse gehandelten Güter waren zumeist billige, aber sperrige und schwere Waren, deren Transport beträchtliche Kosten bei nur geringem Gewinn verursachte. Gewinnmargen von im Höchstfall um die 5 % erforderten ein engkalkulierendes, sparsames und vorausschauendes Verhalten des Kaufmanns. Solidarität untereinander, gemeinsame Gewohnheiten und ein ausgeprägter Gruppenstolz waren in dieser Umgebung, in der die Spielräume enger waren als im vergleichsweise reichen Mittelmeergebiet, ohne Frage förderliche Haltungen. Mit teilweise rigorosen Methoden hielten die hanseatischen Kaufleute den von ihnen abhängigen Norden unter ihrer Kontrolle: Als das landwirtschaftlich wenig entwickelte Norwegen versuchte, die Privilegien der Hanse zu beschneiden, verhinderte die Hanse dies 1284/85 durch die Verhängung einer Getreideblockade, die das Land von den Getreidezufuhren aus Pommern oder Brandenburg abschnitt. Von den Norwegern bezogen die hanseatischen Kaufleute Pökelfleisch, eingesalzenen oder getrockneten
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Strukturen und Methoden des hansischen Handels
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Kabeljau von den Lofoten, Holz, Fette, Teer und Pelze. 1388 kam es zu Differenzen mit Brügge. Die Hanse brachte die reiche Stadt und die Regierung der Niederlande durch eine wirksame Blockade zur Kapitulation. Ähnlich rigoros war ihr Vorgehen gegen die Stadt Braunschweig, als dort 1374 die Zünfte den Rat der Stadt und damit die Vorherrschaft des Kaufmannspatriziats beseitigt hatten:
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„Verhansung“ von Braunschweig Hanserezesse II, S. 226, Nr. 92. Übersetzt nach Bühler, S. 320f. (…) die Städte der deutschen Hanse (haben) mit Einwilligung der anderen Städte, die zu ihrem Rechte gehören, einträchtig beschlossen, daß sie die Braunschweiger aus der Hanse und den Rechten und Freiheiten des Kaufmanns stoßen wollen, also daß kein Kaufmann in England, Flandern, Dänemark, Norwegen Nowgorod oder sonst irgendeiner Stadt, die im Recht des Kaufmanns steht, Gemeinschaft oder irgendwelche Handel mit den Braunschweigern haben soll (…). Auch soll man niemandem gestatten, ihnen Waren zu bringen oder fortzuführen, wenn man es hindern kann. Ferner sollen weder die Braunschweiger noch ihre Waren in irgendeiner Stadt, die im Rechte des Kaufmanns steht, Geleit oder Sicherheit haben.
Eine ernste Bedrohung für den hansischen Städtebund stellte die dänische Expansionspolitik Waldemar Atterdags (1340–1375) dar. Sie gefährdete die Landverbindung zwischen Lüneburg und Hamburg. Dies war umso bedrohlicher, als Dänemark den Öresund beherrschte. Als Waldemar 1360 auch Besitz von Schonen ergriff und die hansischen Privilegien auf den dortigen Heringsmessen beschnitt, kam es zu einem militärischen Konflikt. Die vereinigten Flotten der Kölner Konföderation, die nicht nur hansische Städte, sondern auch solche aus den nördlichen Niederlanden und Schweden umfasste, eroberten 1368 Kopenhagen und befestigte Plätze am Sund und Schonen. Waldemar musste sich im Stralsunder Frieden (1370) geschlagen geben.
wachsende Konkurrenz der Territorialstaaten
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Ursachen des Niedergangs Der im 15. Jahrhundert beginnende Niedergang der Hanse hatte mehrere Gründe, ein besonders bedeutsamer aber war ohne Frage der Aufstieg der Territorialstaaten Dänemark, England, Niederlande, Polen (das 1466 den Deutschen Orden besiegte) und Moskowien unter Ivan III. (1462–1505). Ausländische Landesherren gingen zunehmend dazu über, ihre eigenen Kaufleute zu fördern oder den Konkurrenten der hansischen Kaufleute ebenfalls Privilegien zu gewähren. Über die wachsenden Schwierigkeiten der Hanse in diesem gewandelten politischen Umfeld konnten auch erfolgreiche Kriege gegen Dänemark (1425–1435) und vor allem gegen England (1469–1474) nicht hinwegtäuschen. Die Hanse konnte ihre Position in England halten, keinesfalls aber die holländische Konkurrenz ausschalten. Die Ausbreitung der moskowitischen Macht unter Ivan III. versetzte der Hanse den schwersten Schlag: der Zar vernichtete die Stadtrepublik Nowgorod und schloss den St. Petershof (1494). Mit der Eroberung Narvas durch
Die Deutsche Hanse Schweden im Jahre 1581 verlor die Hanse ihren russischen Markt. Die englische Königin Elisabeth I. (1558–1603) schloss den Stalhof, die hansische Niederlassung in London. Holländern, Engländern und süddeutschen Kaufleuten aus Nürnberg gelang es zunehmend, in hansische Domänen einzubrechen. Die Holländer übernahmen immer mehr den Handel zwischen Skandinavien und Westeuropa. Da die Hanse ihre Konkurrenten systematisch aus dem Fischfang ausschloss, zwang sie die Holländer, ihren eigenen Fischfang in der Nordsee zu entwickeln. Dank besseren Fanggerätes und des Baus großer seetüchtiger Fangschiffe etablierte sich der billigere holländische Nordseehering bald neben dem Hering aus Schonen. Im Laufe des 16. Jahrhunderts verringerten sich zudem die Heringsschwärme vor Skanör und blieben gegen Ende des Jahrhunderts ganz aus. An den Küsten Norwegens, Islands und Englands wurden neue Fischfanggründe erschlossen. Gravierende Auswirkungen für den hanseatischen Handel hatte auch der Bedeutungsverlust des Fisches als Fastenspeise nach der Reformation. Ein weiterer Ursachenkomplex für den Niedergang der Hanse ist in dem veränderten wirtschaftlichen Umfeld nach der Großen Pest von 1348/49 zu sehen. Die Nachfrage des Westens nach den Produkten des Ostseeraumes ging trotz verminderter Bevölkerungszahl zwar nicht zurück, ja der Ausbau der Flotten der am Atlantik gelegenen Staaten erhöhte sogar die Bedeutung der Holzzufuhr, doch entwickelten sich nach 1370 die relativen Güterpreise zum Nachteil der Hanse. Die Preise für Getreide und Pelze fielen, während Gewerbeprodukte anzogen. Die gewerbliche Wirtschaft der Hanse aber war im Vergleich zu den emporstrebenden westlichen Regionen unterentwickelt. Auch die kommerziellen Techniken der hansischen Kaufleute konnten einem Vergleich mit den Gepflogenheiten italienischer Kaufleute nicht standhalten. Die hansische Wirtschaft schwankte zwischen Tauschhandel und Geldwesen, wobei das Silbergeld lange das einzige Zahlungsmittel blieb, und nutzte kaum die Möglichkeiten des Kredits.
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relative Güterpreise und unterentwickelte kommerzielle Techniken benachteiligen hansischen Handel
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II. Die europäische Wirtschaft in der Frühen Neuzeit 1. Die koloniale Expansion Europas
technologische Überlegenheit des Westens
Voraussetzungen Noch um 1300 standen die Europäer wirtschaftlich und kulturell in etwa auf der gleichen Stufe wie die arabischen und orientalischen Länder. Seit etwa 1550 hatten sie, nicht zuletzt durch eine überlegene Technik, einen deutlichen Vorsprung. Bereits um 1500 befand sich Westeuropa im Gegensatz zu Ostasien wirtschaftlich und technologisch auf einem Kapital-intensiven Entwicklungspfad, wobei die wichtigsten Innovationen im Bereich des Bergbaus, der Metallverarbeitung und der Kriegstechnik stattfanden. Mit besseren Schiffen und vor allem Kanonen ausgerüstet, begannen die Europäer ihre Ausbreitung über die Welt. Die Entdeckung der überseeischen Seewege brachte die Anfänge eines Welthandels und eines Weltverkehrs. Voraussetzung für die Entdeckungsfahrten waren technische Innovationen im Schiffbau und in der Entwicklung von Navigationsinstrumenten, die bereits im Spätmittelalter begonnen hatten. Drei, vier oder fünfmastige Schiffe in Kombination mit quadratischen oder sog. lateinischen Segeln waren in der Lage, gegen den Wind zu segeln. Sie ersetzten zunehmend die Rudergaleeren des mittelalterlichen Handelsverkehrs. Einen wesentlichen Fortschritt in der Navigation stellte der wahrscheinlich von den Chinesen über die Vermittlung der Araber übernommene magnetische Kompass dar. Von besonderer Bedeutung war auch die Entwicklung der Kartographie. Die technische Führerschaft im Schiffbau ging von den sich konservativ verhaltenden Italienern auf die Flamen, Holländer und Portugiesen über. Da die Europäer den asiatischen Völkern technisch, organisatorisch und militärisch überlegen waren, gelang es ihnen mit einer geringen Zahl von Seeleuten und Soldaten sowie Siedlern, strategisch wichtige Plätze zu erobern und zu halten. Portugiesen, Holländer und Engländer verschafften sich Handelsrechte und Territorien um ihre Stützpunkte herum, indem sie Gegensätze zwischen den örtlichen Machthabern ausnutzten. Auf diese Weise entstand ein System von Handelswegen mit Stapel- und Umschlagplätzen und Faktoreien für den Warentransport. Portugal spielte die Pionierrolle bei der Besiedlung und kommerziellen Nutzung der Inseln im Atlantik sowie bei der Erkundung und Eröffnung neuer Handelsrouten um Afrika herum, in den Indischen Ozean, nach China und Japan. Schon im Mittelalter hatten sich Portugiesen und Spanier einen Ruf als Schiffbauer und Seeleute erworben. Die Pflege der angewandten nautischen Wissenschaften wie Geographie, Kartographie und Physik stand bei ihnen hoch im Kurs. Beide Länder wickelten ihren Außenhandel überwiegend auf dem Seewege ab und benötigten eine leistungsfähige Flotte zum Schutz ihrer Küsten gegen die Mauren. Portugal als kolonialer Pionier Portugal wurde zur Vorhut der überseeischen Expansion europäischer Mächte, weil ihm vor allem zwei Umstände besonders zugutekamen: die
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Die koloniale Expansion Europas frühe Beendigung der muslimischen Herrschaft und die außerordentlich aktive Rolle, die genuesisches Kapital in Portugal spielte. Die muslimische Herrschaft über Portugal war bereits um 1250 beendet – 250 Jahre vor der spanischen Reconquista. Nach der Eroberung des südlich der Straße von Gibraltar gelegenen Handels und Piratenzentrums Ceuta im Jahre 1415 begann Portugal ehrgeizige Erkundungsfahrten entlang der westafrikanischen Küste. Portugal war auf die Zufuhr von Lebensmitteln wie Getreide, Zucker und Eiweiß angewiesen. Aus dem Ostseeraum bezog es Weizen, aus England Textilien und Getreide, aus Holland und Italien Textilien und Waffen, aus Flandern Luxusartikel. Schon früh spielten bei diesem Handelsaustausch die Genuesen eine besondere Rolle. Lissabon und ganz Portugal befanden sich nahezu in der Hand ausländischer Kaufleute. Italienische Kaufleute gewährten portugiesischen Monarchen Kredite. In der großen Ausländerkolonie der portugiesischen Hauptstadt waren neben den Genuesen auch Oberdeutsche vertreten. Die Genuesen konnten als Kaufleute, Bankiers und Admiräle ihr Handelsgebiet unter portugiesischer Flagge ausdehnen, und der portugiesischen Krone kamen die Netzwerke und kommerziellen Erfahrungen der Italiener zugute. Die Eroberung Afrikas und der Atlantikinseln war zu einem nicht geringen Teil der aktiven Beteiligung von Genuesen und Florentinern zu verdanken. Die Kolonisation der Kanaren, Madeiras und der Azoren geschah wesentlich unter italienischer Führung. Die Genuesen galten als erfahrene Schiffbauer, Händler und Kolonialunternehmer. Im östlichen Mittelmeerraum hatten sie auf einigen Inseln und Küstenstreifen kleine Kolonialreiche gegründet und dort auch den Zuckerrohranbau kennengelernt. Genuesen bürgerten ihn auf Sizilien und in Südspanien ein. Der Zuckerrohranbau machte Madeira zur ersten einträglichen kolonialen Niederlassung der Portugiesen im Atlantik. Der Genuese Cristoforo Colombo (1451–1506) wirkte in Lissabon seit 1473 als Vertreter genuesischer Bank und Handelshäuser und unternahm von der portugiesischen Hauptstadt aus Reisen nach Westafrika und in den Nordatlantik (England, Island). Der portugiesische König Johann II. (1481–1495) lehnte allerdings den Plan von Kolumbus, in westlicher Richtung zu den Azoren zu segeln und irgendwann Indien zu erreichen, ab, da er seine Prioritäten in der Erkundung der afrikanischen Westküste sah. Von besonderer Bedeutung waren auch die Kenntnisse und Verbindungen jüdischer Kaufleute und Wissenschaftler, die aus Spanien vertrieben wurden und in Portugal Zuflucht fanden. Sie mussten allerdings zum Christentum konvertieren. Beim Ausbau der kommerziellen Verbindungen Portugals mit Afrika und Brasilien sowie als Vermittler im Handel mit der muslimischen Welt spielten sie eine Schlüsselrolle. Schon im 14. Jahrhundert wagten sich die Portugiesen in den Atlantik hinaus. Der Einbruch der Osmanen in die Levante und die damit verbundenen Komplikationen für den Transithandel boten einen Anreiz, alternative Routen nach Asien zu erkunden, zumal allerlei Gerüchte über die sagenhaften Reichtümer Indiens kursierten. Für Portugiesen wie für Spanier hatte die lange Reconquista gegen die Mauren die gesellschaftlichen Orientierungen
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italienisches Kapital spielt zentrale Rolle in der Expansion Portugals
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Die europäische Wirtschaft in der Frühen Neuzeit
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Portugiesen streben Monopolisierung des europäischasiatischen Gewürzhandels an
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geprägt: Kreuzfahrergeist und militärischer Eroberungsgeist mischten sich mit Abenteuerlust und Goldgier. Die allgemeine Goldknappheit rückte das afrikanische Gold aus dem westlichen Sudan in den Mittelpunkt des Interesses. Entscheidend für die Entdeckungsfahrten wurden die Visionen Heinrich des Seefahrers (1394–1460). Er war der jüngere Sohn des Königs von Portugal und widmete sich zeitlebens auf zahllosen Expeditionen persönlich und in sehr systematischer Weise der Erkundung der afrikanischen Westküste. Seine Pläne setzte er mit Hilfe der italienischen Admiräle um. Ihm ging es letztlich darum, das Goldland (den Sudan) und den Weg in den Indischen Ozean zu finden. Auf seinen eigenen Fahrten kam er jedoch niemals weiter als bis Kap Verde. König Johann II., der 1481 den Thron bestieg, setzte die Entdeckungsreisen mit erhöhtem Tempo fort. Seine Seeleute gelangten innerhalb weniger Jahre fast bis an die Spitze Südafrikas. Bartholomäus Diaz (ca. 1450–1500) segelte die afrikanische Westküste hinunter und umrundete das Kap der Guten Hoffnung im Jahre 1488. Im Auftrage Johanns II. segelte gleichzeitig Pedro de Covilh¼o(1450–1530) durch das Mittelmeer in das Rote Meer, um die Küstenverbindungen vom Roten Meer nach Ostafrika und nach Vorderindien (Malabarküste) zu erforschen. Beide Fahrten legten die Grundlage für die große Reise von Vasco da Gama (ca. 1469–1524). Sie führte ihn 1497 bis 1499 um Afrika herum nach Kalkutta. Die Portugiesen betrieben anders als die Spanier keine Flächen-, sondern eine Stützpunktkolonisation. Dies war nicht nur ökonomischer, sondern wahrscheinlich auch auf die geringe Bevölkerungszahl Portugals zurückzuführen. Rings um Afrika wurde eine Reihe befestigter Stützpunkten zur Versorgung der Schiffe und als Handelsplätze angelegt. 1510 eroberte der zweite Generalgouverneur, Afonso d’Albuquerque (1453–1515), die westindische Hafenstadt Goa und baute sie zur Festung aus. Ein Jahr später folgte die Eroberung von Malakka. Damit war eine strategische Verbindung zwischen dem Golf von Bengalen und dem Südchinesischen Meer geschaffen. 1513 gelangte ein portugiesisches Schiff nach Kanton in Südchina. Das Ziel der Portugiesen war die Monopolisierung des europäisch-asiatischen Gewürzhandels, der unter Umständen Gewinne im dreistelligen Prozentbereich einbringen konnte. Innerhalb von 12 Jahren verdrängten die Portugiesen die Araber aus dem Indischen Ozean. Sie entrissen ihnen einige Häfen wie z.B. 1515 Hormus am Eingang des Persischen Golfs. Entscheidend war immer wieder ihre bessere Schiffsartillerie. Überall in dem großen Bogen von Mosambik über den Persischen Golf bis zu den sagenumwobenen Gewürzinseln oder Molukken gründeten sie ihre Handelsniederlassungen und schalteten sich in die vorhandenen Handelsstrukturen ein. 1517 ließen sich die Portugiesen erstmals auf Ceylon nieder. Die Eroberung von Malakka öffnete ihnen das Tor zu den Gewürzinseln der Molukken. Mit dem Sultan von Ternate schlossen sie einen Vertrag, der ihnen die Niederlassung und die Aufnahme des Handels mit Gewürznelken und Muskatnüssen nach Europa gestattete. Der innerasiatische Handel bildete jedoch den größten Teil der portugiesischen Aktivitäten. Mehr als 2/3 der von den portugiesischen Kronfaktoren eingekauften Gewürznelken wurden in Asien abgesetzt. Um den Gewürzhandel unter ihre Kontrolle zu bringen, führten die Portugiesen einen ständigen Handelskrieg
Die koloniale Expansion Europas
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zur See, indem sie arabische Gewürzschiffe plünderten oder von ihnen hohe Abgaben erpressten. Die Durchsetzung der Portugiesen im asiatischen Handel beruhte aber nicht nur auf ihrer überlegenen Bewaffnung und der Anwendung von Gewalt. Ermöglicht wurde sie nicht zuletzt durch die politische Instabilität in den asiatischen Großreichen China, Indien und Japan. Miteinander rivalisierende Potentaten machten es den Portugiesen leicht, sich ein asiatisches Handelsimperium aufzubauen. Um 1550 hatten die Portugiesen bereits Handels und diplomatische Beziehungen mit Japan etabliert. Nagasaki wurde später das Zentrum des Japangeschäfts. Die Portugiesen monopolisierten den lukrativen Handel zwischen China und Japan, der den Chinesen verboten war. Gegen Zahlung einer Grundrente gelang es ihnen 1557, auf der Halbinsel Macao einen offiziellen Handelsstützpunkt in China zu erhalten. Für die japanischen Territorialfürsten und ihre Lehnsträger (Samurai) brachten die Portugiesen die kostbare chinesische Seide ins Land, die sie gegen Silber eintauschten. 1637 wurden die Portugiesen allerdings aus Japan vertrieben und der Handel nach Macao verboten. Die portugiesischen Kaufleute waren keine Privatunternehmer, sondern Agenten des Staates. In Lissabon organisierte und kontrollierte die Casa da India e da Guine das Afrika- und Asiengeschäft, das als Kronmonopol betrieben wurde. Die Portugiesen brachten Pfeffer, andere Gewürze, Seide, Porzellan, Salpeter, Indigo, Harthölzer und Stoffe nach Europa. Die begehrten orientalischen Schätze konnten sie zudem in Mombasa und Sofala gegen Gold eintauschen. Aus Europa ging meistens sog. Nürnberger Tand nach Asien. Das Asiengeschäft brachte Portugal erheblichen finanziellen Gewinn. Im 16. Jahrhundert belief sich dieser auf bis zu 65 % der Gesamteinnahmen. Die portugiesische Krone profitierte darüber hinaus durch die Vergabe von Monopolen auf asiatische Produkte an Pächter. Die Portugiesen betrieben auch den Sklavenhandel, den es in Afrika allerdings bereits vor der Ankunft der Europäer gab. Im 16. Jahrhundert begann der transatlantische Dreieckshandel. Portugiesische Schiffe luden Sklaven in Santiago oder San Tomé, brachten sie auf die Antillen und kehrten von dort mit Silber, Häuten usw. nach Europa zurück. Im Jahre 1500 hatte der Portugiese Cabral zufällig Brasilien entdeckt, als er auf einer Fahrt nach Indien zu weit nach Westen gesegelt war. Portugiesische Jesuiten gründeten 1532 in Brasilien S¼oVicente. Auf ihren dortigen gerodeten Plantagen bauten die Jesuiten Zuckerrohr an. Im späteren 16. Jahrhundert wurde der Zuckerrohranbau von europäischen Pflanzern und Latifundienbesitzern mit Hilfe afrikanischer Sklaven in immer größerem Maßstab betrieben. Die Portugiesen entwickelten damit den Prototyp der mit Sklavenarbeit betriebenen Plantagenwirtschaft, wie er sich dann auch in anderen südamerikanischen Ländern und der Karibik verbreitete. Lissabon wurde zum entscheidenden Handelsort im Gewürzhandel. Aber die Erträge aus dem interkontinentalen Handel mit Asien hatten keine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung Portugals zur Folge, da sie in den Luxuskonsum der Oberschicht oder in Abtragung der Auslandsschulden flossen. Zur Vermarktung ihrer Handelswaren waren die Portugiesen auf die Hilfe fremden Kapitals angewiesen. Das zeigte sich schon bei der bahnbre-
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Die europäische Wirtschaft in der Frühen Neuzeit
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chenden Reise Vasco da Gamas, die erst unter Beihilfe von italienischen und oberdeutschen Kaufleuten zu einem großen geschäftlichen Erfolg wurde. 1501 legte am Scheldekai in Antwerpen ein portugiesisches Schiff mit Pfeffer und Muskatnüssen an. Für Antwerpen markierte dieses Ereignis den Beginn eines steilen Aufstiegs zur „Welthauptstadt von fremden Gnaden“ (F. Braudel). Im 15. Jahrhundert war Venedig das Pfefferzentrum der Welt, im 16. Jahrhundert wurde es Antwerpen. In Antwerpen trafen der portugiesische Pfeffer und das Silber Mitteleuropas aufeinander. Herren über das mitteleuropäische Silber waren die oberdeutschen Handelshäuser der Fugger, Welser und Hoechstetter. Im 17. Jahrhundert nahmen Holländer und Engländer den Portugiesen fast alle Besitzungen weg. Ihnen verblieben nur wenige Niederlassungen in Ostasien wie Goa und Timor. Dagegen behielten sie Mozambique und Brasilien. Dort bauten sie Zucker und Kaffee auf der Grundlage von Sklavenarbeit an.
Vertrag von Tordesillas teilt die Welt zwischen Spaniern und Portugiesen auf
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Die spanische Kolonisation Spanien schien bei der Entdeckung und Durchdringung der überseeischen Welt zunächst ins Hintertreffen zu geraten, da die Reconquista in Spanien wesentlich länger dauerte als im benachbarten Portugal. Kolumbus, der spätere Entdecker der Neuen Welt, war seit etwa 1470 als Angestellter eines genuesischen Bank- und Handelshauses in Lissabon tätig. Mehrfach befuhr er von hier aus in geschäftlichen Angelegenheiten den Atlantik bis mindestens Madeira. Beim portugiesischen König mit seinem Vorschlag einer Westfahrt nach Indien abgeblitzt, wandte er sich an den Hof von Kastilien. Die spanischen Monarchen waren allerdings gerade damit beschäftigt, die Mauren aus Granada zu vertreiben. Erst nach jahrelangen Bemühungen erreichte Kolumbus 1492 sein Ziel. Die Könige waren nunmehr bereit, auf seinen Plan einzugehen. Dafür gab es mehrere Gründe: zum einen hatten sie nach dem Maurenkrieg ein großes Geldbedürfnis (Kolumbus versprach, Gold zu finden), zweitens musste es im kastilischen Interesse liegen, noch vor den Portugiesen Indien zu erreichen, und schließlich sah Kastilien die Missionierung der überseeischen Völker als seine Aufgabe an. Unmittelbar nach der Rückkehr des Kolumbus von seiner ersten Expedition wandten sich Ferdinand und Isabella an den Papst mit dem Ersuchen, eine Demarkationslinie zu ziehen und damit den Spaniern die neuentdeckten Territorien zu sichern. Die Welt wurde in zwei Hälften eingeteilt, und die Demarkationslinie zwischen der östlichen portugiesischen und der westlichen spanischen Hemisphäre verlief vom Nordpol zum Südpol etwa 330 nautische Meilen westlich der Azoren und der Kap-Verde-Inseln. Im Vertrag von Tordesillas (1495) setzte der portugiesische König eine wichtige Revision der Demarkationslinie durch, die nunmehr 210 nautische Meilen weiter nach Westen verlegt wurde. Diese neue Linie beließ den größten Teil Südamerikas, das heutige Brasilien, innerhalb der portugiesischen Hälfte. Anders als die Portugiesen zogen die Spanier als Eroberer in die Neue Welt und eigneten sich dort Territorien an, die Europa an Größe mehrfach übertrafen. Von ihren mittelamerikanischen Stützpunkten aus durchdrangen sie den neuen Kontinent in allen Richtungen. Spanische Konquistadoren un-
Die koloniale Expansion Europas terwarfen mit nur geringem militärischem Gefolge dank ihrer waffentechnischen Überlegenheit und ihrer rücksichtslosen Härte die auf hoher Kulturstufe stehenden Großreiche der Azteken (Hernán Cortés, 1519–1521) bzw. der Inka (Francisco Pizarro, 1530–1533). Bis 1550 hatten Spanier nicht nur Mittelamerika, Mexiko und Peru, sondern auch Paraguay und das heutige Bolivien erobert. Sie eroberten auch weite Teile Nordamerikas: Hernández de Soto entdeckte von Florida aus die Appalachen sowie das östliche Mississippigebiet und stieß in westlicher Richtung bis Kansas vor. Nachdem er zuvor in Lissabon kein Gehör gefunden hatte, überzeugte der Portugiese Ferdinand Magellan (Fernando de Magellanes, 1480–1521), ein erfahrener Afrika- und Ostindienfahrer, den spanischen König, ihm eine Expedition von fünf Schiffen zu den Gewürzinseln durch die Südsee auszurüsten. Er rechnete damit, Asien innerhalb einer kurzen Schiffsreise von wenigen Tagen jenseits von Panama vorzufinden. In spanischen Diensten segelte Magellan durch den Südatlantik, entdeckte die nach ihm benannte Durchfahrt zwischen der Südspitze Amerikas und Feuerland, durchquerte den Pazifik und erreichte tatsächlich Südostasien, wo er auf den Philippinen den gewaltsamen Tod durch Eingeborene fand. Lediglich ein Schiff und ein Bruchteil der ursprünglichen Besatzung erreichte 1522 wieder den Ausgangshafen. Mit dieser Fahrt war die Kugelgestalt der Erde bewiesen. Mit Ausnahme vor allem des Sklavenhandels überließ die spanische Monarchie die Ausbeutung der überseeischen Kolonien der privaten Betätigung und betrachtete den Handel mit ihnen vor allem unter fiskalischen Gesichtspunkten. Der Staat beschränkte sich darauf, die Handelswege verbindlich vorzuschreiben, verbot den Kolonien jedweden Außenhandel außer mit dem Mutterland und erhob von den importierten Waren eine Abgabe von 20 %. Spanien schien in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine goldene Zukunft bevorzustehen: das Land hatte sich in Übersee ein riesiges Territorium erobert. Die Gold- und Silberimporte aus Amerika machten die Habsburger zu den mächtigsten Herrschern Europas. Ende des 16. Jahrhunderts besaßen die Spanier die Kontrolle über die komplette westliche Hemisphäre von Florida und Südkalifornien im Norden bis nach Chile und Río de la Plata im Süden (lediglich das portugiesische Brasilien bildete hier eine Ausnahme). Seit den 1530er Jahren flossen große Mengen an Gold und Silber nach Spanien. Das riesige Reich Karls V. umfasste mit den Niederlanden die modernste Landwirtschaft Europas und einige der fortschrittlichsten Gewerbezweige. Die habsburgischen Länder in Mitteleuropa hatten große Lagerstätten von Eisen, Blei, Kupfer, Zinn und Silber. Die spanische Landwirtschaft erzielte zwar nur mäßige Erträge, stellte aber doch mit der Merinowolle ein wichtiges Exportprodukt bereit. Und dennoch: nach der Mitte des 16. Jahrhunderts begann der wirtschaftliche Niedergang Spaniens, der sich in einem sinkenden Lebensstandard sowie der Zunahme von Hungersnöten und Pestepidemien niederschlug. Im 17. Jahrhundert erlebte Spanien sogar eine weitgehende Entvölkerung. Der wesentliche Grund für diese desolate Entwicklung lag in dem ausufernden weltpolitischen Ehrgeiz der spanischen Monarchen. Kaiser Karl V. (1519–1556) betrachtete es als seine Aufgabe, das gesamte christliche Europa wiederzuvereinigen. Er kämpfte gegen die Türken im Mittelmeer und
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Spanien kontrolliert die westliche Hemisphäre
wirtschaftlicher Niedergang trotz Edelmetallzufluss
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in Ungarn, gegen die aufständischen evangelischen Fürsten in Deutschland und gegen die französischen Könige wegen ihrer territorialen Ambitionen in Italien und den Niederlanden. Die Finanzierung dieser Kriege erfolgte unter Karl V. und Philipp II. (1556–1598) vor allem durch ein Anziehen der Steuerschraube. Die Steuerlast traf in erster Linie die Handwerker, Händler und Bauern, während die großen Landbesitzer, die Granden, Hidalgos und Caballeros, von jeder Form von Besteuerung ausgenommen waren. Mehr und mehr waren die spanischen Monarchen darauf angewiesen, sich bei spanischen und flämischen, aber auch deutschen und italienischen Bankiers Geld zu leihen. Diese ließen sich häufig als Sicherheiten für ihre Kredite einen vertraglich zugesicherten Anteil der nächsten Steuereinnahmen oder einen Anteil an dem demnächst eingehenden amerikanischen Silber abtreten. Bald war der größte Teil der jährlichen Steuereinnahmen verpfändet, und 1552 war die spanische Regierung gezwungen, alle Zinszahlungen einstellen. Nur fünf Jahre später war die Regierung praktisch bankrott und musste die Rückzahlung eines Großteils ihrer Schulden verweigern. Es gelang ihr lediglich, kurzfristige Schulden in langfristige Zahlungsverpflichtungen umzuwandeln oder die Zinssätze zu reduzieren. Danach begann der Verschuldungskreislauf erneut, so dass die spanische Regierung im Zeitraum von 1557 bis 1680 achtmal öffentlich ihren Bankrott erklären musste. Bereits 1501, zwei Jahre vor Gründung der Casa de la Contratación in Sevilla, die mit dem Handelsmonopol für die überseeischen Kolonien beliehen wurde, schloss man alle Ausländer von der Niederlassung in den Kolonien oder dem Handel mit ihnen aus. Aber die restriktive Handelspolitik erwies sich als undurchführbar. 1524 musste die Krone ausländischen Kaufleuten den Handel mit Amerika erlauben. Als sich dieser in der Folgezeit für italienische und auch deutsche Kaufleute zu einer wahren Goldgrube entwickelte, stellte die Regierung 1538 das Monopol von Kastilien wieder her. Diese Handelspolitik der Monopole und Verbote förderte letztlich nur den Schmuggel. Auch die Politik, den amerikanischen Markt für die eigenen Gewerbeprodukte zu reservieren und in den Kolonien keine wirkliche gewerbliche Entwicklung zuzulassen, kam letztlich nur dem Gewerbe der europäischen Rivalen Spaniens zugute. Die Folgen der kolonialen Expansion Im Jahre 1594 entfielen 95 % des Wertes aller legalen Exporte aus den spanischen Kolonien auf Gold und Silber. Anfänglich hatte die spanische Regierung versucht, den Export von Edelmetall zu verbieten. Dies erwies sich jedoch sehr bald als illusorisch, zumal die Regierung selbst darauf angewiesen war, große Mengen von Silber nach Italien, Deutschland und in die Niederlande zu exportieren, um damit ihre Schulden zu finanzieren, die die unendlichen Kriege des frühen 16. Jahrhunderts bewirkt hatten. Die offenkundigste Auswirkung des Zustroms von Edelmetall aus der Neuen Welt war eine nachhaltige, wenn auch unregelmäßig verlaufende Erhöhung des Preisniveaus im 16. Jahrhundert, die vor allem die unteren Bevölkerungsschichten traf. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts waren die Preise im Allgemeinen drei bis viermal so hoch wie zu Beginn. Der Preisanstieg betraf ganz Europa, von Spanien bis Russland.
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Die koloniale Expansion Europas Portugal und Spanien konnten ihre Pionierrolle auf dem Gebiet der kolonialen Expansion zwar nicht in eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung überleiten und befanden sich um die Mitte des 17. Jahrhunderts wirtschaftlich, politisch und militärisch im Niedergang. Dennoch waren mit der von ihnen eingeleiteten kolonialen Expansion für Europa nachhaltige Wirkungen verbunden. Dazu gehörte nicht zuletzt eine unerhörte Ausdehnung der geographischen Horizonte – das Weltbild der Europäer veränderte sich grundlegend. Zwischen Europa und Asien wurden Schiffsverbindungen hergestellt, und gleichzeitig begann die Besiedlung der westlichen Hemisphäre durch die Europäer. Infolge der Entdeckungsreisen kam es zu einer Verlagerung der wichtigsten Handelsrouten. Die Entdeckungsfahrten der Portugiesen zerstörten das Gewürzmonopol Venedigs, außerdem verlagerten sich die wirtschaftlichen Aktivitätsräume innerhalb Europas an den Atlantik, insbesondere in den Nordwesten. Die politische Uneinigkeit der Völker Indiens und die Schwäche der Indianerreiche in Amerika öffneten den Europäern den Weg zur Weltherrschaft. Die europäischen Staaten trugen ihre Konflikte in die koloniale Welt und versuchten sich in Mittelamerika und Südostasien gegenseitig aus ihren Besitzungen zu drängen. Afrika wurde mit Ausnahme des Kaplandes, wo Holländer siedelten, nicht kolonisiert. Der Historiker Urs Bitterli urteilt über die Begegnung zwischen Europa und den überseeischen Kulturen Urs Bitterli: Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“. München 1976, S. 84ff.
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Europa auf dem Weg zur Weltherrschaft
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Das Bewußtsein der militärischen und technischen Überlegenheit ersetzte bald die anfängliche Verhaltensunsicherheit der Europäer durch eine Attitüde rücksichtsloser Selbstgefälligkeit. (…) Der hemmungslose Drang der ersten ÜberseeEuropäer, möglichst rasch reich zu werden, verunmöglichte in allen Teilen der Welt ein geduldiges Eingehen auf Wesen und Eigenart des Partners. (…) Man betrog das naive Vertrauen des Eingeborenen mit leeren Versprechungen, Wortbruch und billigen Roßtäuschertricks und schrieb sich wohl noch das Verdienst höheren kaufmännischen Geschicks zu. (…) Durch den unaufhörlich wiederholten Hinweis auf die minderwertige Natur des „Wilden“ glaubte man, eigene Unredlichkeit rechtfertigen zu können (…).
Im Gegensatz zu Ostasien erfuhr Amerika ethnisch, politisch und kulturell einen tiefen Einschnitt und wurde europäisiert. Es setzte alsbald ein ununterbrochener Zustrom europäischer Einwanderer ein. Vor allem seit dem 17. Jahrhundert entstanden ausgesprochene Siedlungskolonien der Engländer an der nordamerikanischen Ostküste und der Franzosen in Kanada. Mit der Verfügung über seine kolonialen Einflussgebiete in der Neuen Welt und in Asien erhielt Europa Zugriff auf erhebliche landwirtschaftliche Ressourcen. So wurden im Laufe des 18. Jahrhunderts in Nordamerika, in Indien, in Birma und an der Nordküste Australiens riesige Mengen Holz für den Schiffbau geschlagen, und bereits im 18. Jahrhundert exportierte Europa einen Teil seines Bevölkerungsüberschusses nach Amerika. Europa konnte Nahrungsmittel wie Zucker aus der Karibik oder Fisch aus dem Atlantischen Ozean importieren. Nordwesteuropa war nicht zuletzt deshalb
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Die europäische Wirtschaft in der Frühen Neuzeit
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in der Lage, eine städtische Bevölkerung zu ernähren, die viel schneller wuchs als in China, Indien oder dem Mittleren Osten.
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Der uruguayanische Journalist Eduardo Galeano beschreibt die Rolle des Zuckers bei der Ausbeutung Lateinamerikas und zieht dabei zugleich eine Verbindungslinie zur späteren Industrialisierung Europas Eduardo Galeano: Die offenen Adern Lateinamerikas. Die Geschichte eines Kontinents von der Entdeckung bis zur Gegenwart. Wuppertal 1979, S. 72ff. Aber bei seiner zweiten Reise brachte Kolumbus die ersten Zuckerrohrwurzeln von den Kanarischen Inseln mit und pflanzte sie auf dem Boden, den heute die Dominikanische Republik einnimmt. (…) Der Zucker (…) war in Europa ein so begehrter Artikel, daß er zuweilen sogar im Brautschatz von Königinnen als Teil der Mitgift angeführt wurde. Er wurde in den Apotheken verkauft; man wog ihn grammweise. Fast drei Jahrhunderte hindurch von der Entdeckung Amerikas an gab es für den europäischen Handel kein Agrarprodukt, das wichtiger gewesen wäre als der in diesen Ländern angebaute Zucker (…) Legionen von Sklaven kamen aus Afrika, um König Zucker die reichliche und kostenlose Arbeitskraft zu verschaffen, die er verlangte. (…) Die Ländereien wurden von dieser selbstsüchtigen Pflanze verwüstet, (…) indem sie die Wälder verheerte, die naturgegebene Fruchtbarkeit verschwenderisch mißbrauchte und die auf dem Boden angehäufte Humuserde auslaugte. Gleichzeitig trieb er in entscheidendem Maß auf direktem oder indirektem Wege die industrielle Entwicklung Hollands, Frankreichs, Englands und der Vereinigten Staaten voran.
2. Der Aufstieg der Niederlande die Niederlande als erste moderne Volkswirtschaft
Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien
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Der europäische Handel der Niederlande Die Niederlande stellten im Zeitraum von 1400 bis 1700 die modernste Volkswirtschaft in Europa dar. Ihr Aufstieg bildete den entscheidenden Vorgang in der kommerziellen Szene Europas im 16. und 17. Jahrhundert. Um 1600 überstieg das holländische Pro-Kopf-Einkommen das westeuropäische um die Hälfte und lag auch bereits deutlich über demjenigen Italiens. Bis Ende des 15. Jahrhunderts waren die Niederlande, die damals noch das Gebiet der heutigen Niederlande und des heutigen Belgien umfassten, Bestandteil von Burgund. Ende des 15. Jahrhunderts fielen Burgund und mit ihm die Niederlande an die Habsburger, die auch über Spanien herrschten. Die Niederlande konnten damit einerseits von den kommerziellen Möglichkeiten profitieren, die ihnen das spanische Reich bot, andererseits aber brachte ihnen die spanische Herrschaft einen extremen Steuerdruck sowie politische und religiöse Unterdrückung. 1568 revoltierten die nördlichen Niederlande gegen die spanische Herrschaft. Die sieben nördlichen Provinzen (im Folgenden auch Generalstaaten oder kurz Holland genannt) erklärten als Vereinigte Niederlande oder Niederländische Republik ihre Unabhängigkeit und führten gegen Spanien einen jahrzehntelangen Unabhängig-
Der Aufstieg der Niederlande keitskrieg. Der sich am Ende behauptende moderne Nationalstaat der Holländer zeichnete sich durch religiöse Toleranz, ein weltliches Erziehungswesen und Institutionen aus, die die Eigentumsrechte garantierten und kommerzielle Aktivitäten förderten. In den südlichen Provinzen (dem heutigen Belgien) konnten die Spanier den Aufstand niederschlagen. Der größte Teil der kaufmännischen und unternehmerischen Elite Flanderns und Brabants sowie viele Handwerker mit Spezialkenntnissen flohen nach der Belagerung Antwerpens durch die Spanier in die nördlichen Niederlande. Die Republik der Niederlande blockierte mit ihrer Flotte für mehr als 200 Jahre die Scheldemündung und fügte damit dem Handel der spanischen Niederlande schweren Schaden zu. Begünstigt durch das kommerzielle Know-how der zahlreichen Flüchtlinge aus Antwerpen, wurde Amsterdam zum Handels- und Finanzzentrum Europas im 17. Jahrhundert. Am Anfang des Aufstiegs der Niederlande stand die allmähliche Durchbrechung der hanseatischen Vorherrschaft im Heringshandel der Nordsee. Mit getrocknetem und gesalzenem Hering belieferten die Holländer zunächst die Gebiete um die Nordsee herum, im 16. Jahrhundert dann auch Südeuropa und den Ostseeraum. Aus Portugal und der Bucht von Biscaya brachten sie als Rückfracht Salz zur Konservierung ihrer Fische oder französische Weine mit, die sie im nördlichen Europa verteilten. Die größte Bedeutung für die Holländer aber hatte der Ostseehandel mit Getreide oder Holz, Flachs und Hanf, die für den Schiffbau wichtig waren. Die Holländer nannten den Ostseehandel daher auch ihren „Mutterhandel“. Als es in Italien und Portugal immer wieder zu Hungersnöten kam, richteten die genuesischen und portugiesischen Kaufleute in Antwerpen ihre Getreidebestellungen an Amsterdam. Die Lieferungen baltischen Getreides sollten entscheidend für den Erfolg der Niederländer werden: um 1550 befand sich der Seeverkehr zwischen dem Norden Europas und den portugiesischen und spanischen Häfen weitgehend in flämischer Hand. 1544 erwirkte Karl V. vom dänischen König die freie Durchfahrt flämischer Schiffe durch den Sund, und die Niederländer machten der Hanse im Ostseehandel zunehmend Konkurrenz. Im 16. und 17. Jahrhundert beherrschten die Holländer den allergrößten Teil des Handels zwischen Nordeuropa und Frankreich, Portugal, Spanien und den Mittelmeerländern. Die Engländer begehrten sehr früh gegen die holländische Dominanz in Schifffahrt und Handel auf. 1651 erließ Cromwell die Navigationsakte. Diese verbot jedem ausländischen Schiff, andere Waren als solche aus der eigenen nationalen Produktion nach England zu importieren. Die Navigationsakte führte zum ersten englisch-holländischen Seekrieg (1652–1654), den die Holländer verloren, was sie zur Anerkennung der Navigationsakte zwang. Nach dem zweiten Seekrieg 1664–1667 verloren die Holländer Neu Amsterdam (New York) und Delaware an die Engländer. Im Frieden von Breda (1667) wurde die Navigationsakte allerdings abgemildert. Nun sollten auch über den Rhein verfrachtete oder in Leipzig oder Frankfurt aufgekaufte und in Amsterdam eingelagerte Güter einschließlich deutscher Leinenstoffe als holländisch gelten, wenn sie nur in Haarlem gebleicht worden waren. So lieferten die holländischen Schiffe mindestens bis 1700, vielleicht sogar bis 1730 Pelze, Leder, Pech, Holz und Bernstein aus Russland
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Etappen des niederländischen Aufstiegs
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Die europäische Wirtschaft in der Frühen Neuzeit
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und dem Ostseeraum sowie feine deutsche, in Holland gebleichte Leinenstoffe nach England. In London kauften die Holländer Kolonialwaren auf den Versteigerungen der East India Company. Das enorme Volumen des Ostseehandels, der durch Massenfracht gekennzeichnet war, bildete einen wichtigen Ansporn für den niederländischen Schiffbau. Der innovative Schiffbau war das Rückgrat des holländischen Handels. Die Fleute, ein in hochentwickelter Arbeitsteilung und Serienfertigung gebautes Schiff, das viermal so lang wie breit war, konnte wegen ihres geringen Tiefgangs und einer besonderen Takelung den Wind besonders effektiv ausnutzen. Gebaut wurde es auf den Werften nördlich Amsterdams, die zahlreichen Arbeitern Lohn und Brot gaben.
Vereinigte Ostindien Companie (VOC)
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Der niederländische Überseehandel Auch am Überseehandel waren die Niederländer schon früh beteiligt: holländische und flämische Kaufleute brachten 1501 die erste Ladung portugiesischer Gewürze auf den Antwerpener Markt. Portugiesen und Spanier überließen es den anderen europäischen Handelsnationen, ihre überseeischen Waren in Europa zu verteilen. Von dieser Position aus schalteten sich die Niederländer erfolgreich in die Finanzierung des spanischen Amerikahandels ein, der bis 1568 von den genuesischen Bankiers vorfinanziert worden war. Als sich die Genuesen aus diesem Geschäft zurückzogen und stattdessen in Darlehen für den Kaiser investierten, traten die Niederländer ihre Nachfolge an. Zwar waren sie noch nicht kapitalkräftig genug, um Geld für den Amerikahandel vorzuschießen, aber sie konnten Waren liefern, deren Wert ihnen erst nach Rückkehr der Amerikaflotten erstattet wurde. Damit hatte der europäische Norden das Tor zur Teilhabe am spanischen Westindienhandel aufgestoßen. Als der Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien den niederländischen Handel beeinträchtigte, reagierten die Holländer darauf, indem sie die Handelsbeziehungen mit Portugal über Lissabon intensivierten. Doch 1580 fiel Portugal an die spanische Krone, und die Spanier sperrten 1592 den Hafen von Lissabon für holländische Schiffe. Um nicht völlig vom Asienhandel abgeschnitten zu werden, beschlossen die Holländer daraufhin, Schiffe zu bauen, die für die lange Reise um Afrika in den Indischen Ozean geeignet waren. In weniger als zehn Jahren brachten sie es fertig, über 50 Schiffe zwischen Holland und den ostindischen Inseln verkehren zu lassen. Seit ihrer Unabhängigkeitserklärung trugen die Holländer den Krieg auf die Weltmeere hinaus und führten ihn vor allem gegen die portugiesischen Besitzungen. Auch während des zwölfjährigen Waffenstillstandes (1609–1621) wurde dieser Krieg fortgeführt. Die Holländer begannen, das Handelsmonopol der Spanier und Portugiesen in Afrika, Asien, Nord- und Südamerika zu brechen. Ihre erste Asienexpedition unternahmen die Niederländer 1595. In den folgenden sechs Jahren schickten acht niederländische Gesellschaften insgesamt 65 Schiffe zu den Gewürzinseln. Diese Vorkompanien wurden 1602 zur Vereinigten Ostindien Companie (VOC) zusammengelegt. Schon in den Anfangsjahren brachte der Handel mit Ostindien erhebliche Dividenden ein (1605: 15 %, 1610: 50 %).
Der Aufstieg der Niederlande Vereinigte Ostindien Companie Die unter dem Druck der Regierung der Generalstaaten erfolgte Gründung der VOC stellt eine wegweisende institutionelle Innovation auf dem Gebiet der Handelsorganisation und der Unternehmensfinanzierung dar: sie markiert die Geburtsstunde der modernen Aktiengesellschaft. Erst die Aktiengesellschaft stellte für die weit ausgreifenden internationalen und riskanten Handelsaktivitäten, die die Kapitalkraft Einzelner überstiegen und erst nach längerer Zeit eine Rendite erwarten ließen, das notwendige Kapital zur Verfügung. Besonders wichtig war in diesem Zusammenhang, dass die Aktien den Teilhabern gesicherte Eigentumsrechte in Form veränderlicher Dividenden verliehen.
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Die Generalstaaten privilegierten die Ostindiengesellschaft mit dem Handelsmonopol für den Indischen Ozean sowie für den Pazifischen Ozean zwischen dem Kap der Guten Hoffnung und der Magellanstraße und bevollmächtigten sie zur Wahrnehmung staatlicher Hoheitsrechte. Seit 1602 schloss die Kompanie zahlreiche Verträge mit einheimischen indonesischen Fürsten. Stets ging es dabei um das Alleinvertriebsrecht für bestimmte Produkte. Den Vertragspartnern wurde untersagt, mit anderen europäischen Staaten Bündnisse einzugehen oder Handel zu treiben. Stück für Stück nahmen die Holländer den Portugiesen ihre Stützpunkte weg. Seit etwa 1630 dominierte die VOC den asiatischen Handel in dem großen Bogen von der arabischen Halbinsel bis nach Indonesien. Zentrum dieses Handelsimperiums war Batavia (Djakarta) auf Java. Um sich des einträglichen Zimthandels in Ceylon zu bemächtigen, griff die Kompanie auch schon einmal zum Mittel der Landeroberung. Da Europa nicht genügend Exportgüter anzubieten hatte, die für Käufer in Asien interessant gewesen wären, finanzierten die Holländer die Rückfahrten und die für Europa bestimmten Güter mit den Erträgen ihres innerasiatischen Handels. Dieser wurde in allen Formen innerhalb und außerhalb der Legalität betrieben. Die Holländer verfrachteten in Ostasien chinesische und persische Seide, Kaffee aus Mokka, Farb- und Edelhölzer, Gewürze und Drogen. Eine besondere Rolle als Schmuggelgut spielte das Bihar-Opium, das in Batavia eingeführt wurde. Von 1641 bis 1859 waren die Holländer die einzigen Europäer, denen der Handel mit Japan gestattet war. Am Ende des Waffenstillstands mit Spanien im Jahre 1621 verstärkten die Niederländer ihre Handelsambitionen in der Karibik und gründeten die Westindische Companie (WIC) als westliches Pendant zur VOC. Diese erhielt das Monopol für Handel und Schifffahrt in Atlantik und Pazifik, von der südamerikanischen Küste bis nach Neuguinea. Die WIC beanspruchte für sich das Recht, alles Land an der afrikanischen West und der amerikanischen Ostküste in Besitz zu nehmen. Ihr Auftrag umfasste auch die Lieferung afrikanischer Sklaven an die brasilianischen Zuckerrohrplantagen. Die gegen Spanien gerichtete Handelspolitik der Generalstaaten schloss die Piraterie ein. Ein besonders markantes Beispiel für die Verquickung von Piraterie und Handel bildet dasjenige des Admirals Piet Heyn, der 1628 eine vollbeladene spanische Silberflotte vor der Nordküste Kubas überfiel und mit der Beute von über 11 Mill. Gulden das finanzielle Überleben der instabilen Westindischen Kompanie sicherte. Holländische Freibeuter knüpften Handelsbeziehungen mit dem portugiesischen Brasilien und den spanischen Kolonien in Amerika, um sich dort neue Märkte zu erschließen.
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Im Gegensatz zu den Spaniern vermieden die Niederländer wann immer möglich kostenintensive territoriale Erwerbungen und verzichteten auch auf Missionierung und möglichst auf den Einsatz von Waffengewalt. Sie schlossen stattdessen Schutzverträge mit einheimischen Fürsten ab. Die Holländer verfolgten eine rigide Monopolisierungsstrategie. So durften Nelkenbäume nur auf der Insel Amboina gepflanzt werden, während sie auf allen anderen Inseln vernichtet wurden. Im europäischen Gewürzhandel wurden die Preise vorher festgelegt, und wenn sie nicht erzielt wurden, vernichtete die VOC einen Teil der eingeführten Gewürzladung.
Amsterdam als Handels- und Kreditzentrum
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Der Amsterdamer Kapitalmarkt In der Nachfolge der Genuesen entwickelte sich Amsterdam im 17. Jahrhundert zum führenden Handels- und Kreditimperium. In Amsterdam wurden riesige Mengen von Gütern aus aller Welt gelagert, deren Weiterverteilung erst nach erheblicher Zeit erfolgte, so dass ein gewaltiger Bedarf an verfügbaren Kapitalien entstand. Nach dem Vorbild der 1584/85 in Venedig gegründeten Banco della Piazzo di Rialto wurde 1609 die Amsterdamer Wisselbank eröffnet, die mit fiktivem Buch-, Bank- und Giralgeld arbeitete. Hier wurden täglich mehrere Mill. Gulden bargeldlos bewegt. Eine besondere Rolle spielten in Amsterdam der Kommissionshandel in Waren für fremde Rechnung und die Kreditgewährung im Rahmen des Handels mit den zahlreichen Wechseln. Wechsel Der seit dem 14. Jahrhundert bekannte Wechsel ist ein schriftliches Zahlungsversprechen, in dem sich jemand zur Zahlung einer bestimmten Summe zu einem bestimmten Datum verpflichtet. Mit Hilfe des Indossaments, eines Vermerks auf der Rückseite des Wechsels, konnte die Forderung auf einen Dritten übertragen werden und der Wechsel damit als Zahlungsmittel zirkulieren. Seit dem 17. Jahrhundert wurde der Wechsel zu der vorherrschenden Methode der Handelsfinanzierung. Er stellte ein außerordentlich flexibles Instrument zur Schaffung von Kredit und zur Ermöglichung eines internationalen Zahlungsverkehrs zwischen verschiedenen Währungen dar.
Rückgrat des Kreditgeschäftes war die im 17. und 18. Jahrhundert fast ständig aktive Zahlungsbilanz der Niederlande. Gestärkt durch den Edelmetallvorrat der Wisselbank wurde Amsterdam zum Zentrum des internationalen Wechselhandels. Die Amsterdamer Handelshäuser waren weltweit bekannte Firmen, deren Kreditwürdigkeit vor dem Hintergrund des Amsterdamer Kapitalmarktes außerhalb jeden Zweifels stand. Das normalerweise mit dem Akzeptieren eines Wechsels oder dem Diskontieren eines derartigen Papieres verbundene Verlustrisiko war deshalb im Amsterdamer Fall außerordentlich gering. Die Gläubiger konnten sich jederzeit Bezahlung verschaffen, indem sie auf Amsterdam Wechsel zogen. Durch ihre Investitionen sorgten die Holländer im 17. Jahrhundert für die Integration Schwedens in die Weltwirtschaft. Holländische Kapitalisten wie die Trip, die Cronström, die Blommaert, Cabeljau, Wewester, Usselinck und Spierinck engagierten sich in Handel, Bergbau und Gewerbe Schwedens. Sie gründeten dort Ableger ihrer Unternehmen und nahmen teilweise die schwedische Staatsangehörigkeit an, um damit völlige Handelsfreiheit zu
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Die Entwicklung der europäischen Landwirtschaft
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erlangen. Sie konzentrierten sich auf Wirtschaftsbereiche, die für den Ausbau der Handelsflotten, der Kriegsmarine und der Waffenarsenale der aufsteigenden Nationalstaaten von besonderem Interesse waren, wie den Bergbau (Gold, Silber, Blei, Kupfer, Eisen) oder die Produktion von Rohstoffen für den Schiffbau (Schiffsholz, Teer, Pech, Harz usw.). Der wirtschaftliche Niedergang Im 18. Jahrhundert erlebten die Niederlande einen wirtschaftlichen Niedergang. Das holländische Pro-Kopf-Einkommen verminderte sich im Zeitraum von 1700 bis 1820 um ein Sechstel, während sich dasjenige Großbritanniens um 50 % und dasjenige Frankreichs um 25 % erhöhte. Dennoch waren die Niederlande um 1800 immer noch das reichste Land Europas, was ihren großen Vorsprung im 16. und 17. Jahrhundert noch zusätzlich unterstreicht. Der Niedergang im 18. Jahrhundert war auf vielerlei Gründe zurückzuführen. Der vielleicht wichtigste ist in den Erfolgen der Konkurrenz zu sehen: die englischen und französischen Rivalen verstanden es, die Niederländer mit exakt den gleichen Methoden aus den internationalen Märkten zu verdrängen, die sie selbst angewandt hatten. Zudem versäumten es die Holländer, sich rechtzeitig auf die nach 1700 erkennbar werdende Veränderung der europäischen Nachfrage auf indische Textilen und chinesischen Tee anstelle der Gewürze umzustellen. Darüber hinaus litt die VOC unter massivem Schmuggel, um sich greifender Korruption und wachsenden Verwaltungskosten. Angesichts rückläufiger Gewinnausschüttungen zogen es viele holländische Aktionäre vor, ihr Kapital im aufstrebenden England anzulegen. Im 18. Jahrhundert betätigte sich die reiche Oberschicht immer weniger im Handel und legte ihr Kapital stattdessen in Renten oder Kreditgeschäften an. Es entstand eine reiche Rentiersgesellschaft. Eine extrem niedrige Einkommenssteuer von 1 % und das Fehlen der Erbschaftsteuer in direkter Linie führten dazu, dass die gesamte Steuerlast über indirekte Steuern auf die Armen abgewälzt wurde. Und die Steuerlast war gewaltig, da die Kriege, die Landgewinnung und der ständige Kampf gegen das Meer Unsummen verschlangen. Die hohen Steuern waren der entscheidende Grund dafür, dass die holländische Produktion bei unverändert hohen Löhnen und Gehältern zurückging. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts ging die Regierung der Kolonien von der Ostindienkompanie auf die Generalstaaten über. In den napoleonischen Kriegen verloren die Holländer Ceylon und das Kapland und mussten beide 1815 an England abtreten.
Faktoren des Niedergangs
3. Die Entwicklung der europäischen Landwirtschaft Demographische und klimatische Grundlagen Der Handel war zwar der expansivste Sektor der frühneuzeitlichen Wirtschaft, aber bei aller kommerziellen Dynamik dieser Jahrhunderte muss be-
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Die europäische Wirtschaft in der Frühen Neuzeit
II.
demographische Entwicklung in den europäischen Ländern
Klimabedingungen: vom „pleasant century“ zur „kleinen Eiszeit“
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tont werden, dass die Grundlage der europäischen Wirtschaft und Gesellschaft nach wie vor eine agrarische war. In der Frühen Neuzeit war der Anteil der im primären Sektor von Landwirtschaft, Fischerei und Forstwirtschaft Beschäftigten außerordentlich hoch und lag im Durchschnitt bei etwa 80 %. Die regionalen Unterschiede waren allerdings erheblich. In den ökonomisch weit entwickelten Niederlanden waren nur 2/3 der Bevölkerung, im nördlichen und östlichen Europa dagegen zwischen 90 % und 95 % im agrarischen Bereich beschäftigt. Das Schicksal der Menschen hing mithin noch immer ganz überwiegend von den Erträgen der Landwirtschaft und der Entwicklung der Bevölkerungszahlen ab oder, anders gesagt, vom Nahrungsspielraum. Nach der Großen Pest von 1348/49 war die Bevölkerungszahl Europas bis Mitte des 15. Jahrhunderts stark zurückgegangen. Erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts begann sie wieder zu wachsen. Im Jahre 1500 betrug sie 81 Mill., 100 Jahre später bereits 105 Mill. und im Jahre 1700 115 Mill. Einwohner. Etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, in einigen Ländern auch schon früher, begann die europäische Bevölkerung schneller zu wachsen als jemals zuvor. Innerhalb von 50 Jahren verdoppelte sich dabei die Wachstumsrate, und die europäische Bevölkerung stieg bis 1800 auf 180–190 Mill. an. Von zentraler Bedeutung erwies es sich dabei, dass Europa aus Amerika den Mais und die Kartoffel übernehmen konnte, die hohe Erträge lieferten. Die nicht zuletzt dadurch erhöhte Produktivität der Landwirtschaft steigerte die Nachfrage auch nach gewerblichen Gütern, die zu den wichtigsten Trägern der Industriellen Revolution wurden: Textilien und Eisen. In den einzelnen Ländern verlief die demographische Entwicklung ganz unterschiedlich. Deutschland und Frankreich waren um 1600 die bevölkerungsreichsten Länder Europas. Frankreich hielt sich bis um 1750 auf diesem Niveau, während in Deutschland, bedingt durch den Dreißigjährigen Krieg, ein katastrophaler Einbruch erfolgte, so dass die deutschen Bevölkerungszahlen erst wieder nach 1750 den Stand von 1600 erreichten. Italien, der seit dem Mittelalter führende Wirtschaftsraum, erlebte im 17. Jahrhundert ebenfalls einen demographischen Niedergang. Auch Spanien befand sich wirtschaftlich und demographisch im 17. Jahrhundert im Abstieg. Die wirtschaftlich dynamischste Region Europas im 17. Jahrhundert, die Vereinigten Niederlande, hatte dagegen im 17. Jahrhundert einen kontinuierlichen demographischen Aufstieg zu verzeichnen. Neben der demographischen Entwicklung spielte in einer agrarischen Gesellschaft wie der frühneuzeitlichen auch das Klima eine Rolle. Seit Mitte des 15. Jahrhunderts herrschte in Europa eine für die Landwirtschaft günstige warme Wetterlage vor. Man hat das 16. Jahrhundert daher auch als das „pleasant century“ bezeichnet. Das 17. Jahrhundert hingegen war eine ausgesprochene Kältezeit, man spricht sogar von einer „kleinen Eiszeit“. Besonders hart waren die Winter von 1683/84, 1684/85, 1694/95 und 1708/ 1709 – die insgesamt strengsten Winter der vorindustriellen Zeit. Die Auswirkungen dieser Klimabedingungen auf die Landwirtschaft liegen auf der Hand: lange schneereiche Winter hatten eine Futterknappheit und damit einen Rückgang der Viehbestände zur Folge. Weniger Vieh bedeutete zugleich weniger Dünger und sinkende landwirtschaftliche Erträge.
Die Entwicklung der europäischen Landwirtschaft
II.
Ebenso nachteilig waren zu nasse Sommer. Die damit verbundene Auswaschung von Nährstoffen führte ebenfalls zu sinkenden Flächenerträgen. Für eine agrarische Gesellschaft am Rande des Existenzminimums bedeutete jede Klimaverschlechterung eine existentielle Notsituation. Aufgrund der rückläufigen Ernteerträge stieg im Winter 1699 der Roggenpreis auf das Dreifache des Preises drei Jahre zuvor. Was dies für die Mehrheit der Bevölkerung bedeutete, lässt sich leicht ausmalen. Infolge des Klimawandels im 17. Jahrhundert kam es wahrscheinlich auch zu einer Abkühlung des Meerwassers gegen Ende des Jahrhunderts. Der Kabeljau verließ seit etwa 1615 die Gewässer um die Shetlandinseln und die gesamte norwegische Küste. Man kann sogar vermuten, dass das Ausweichen der Kabeljaubestände in wärmere Gewässer direkt mit dem nachfolgenden wirtschaftlichen Aufstieg Englands und Hollands zusammenhing, für die der Fischfang zu Beginn ihres wirtschaftlichen Aufstiegs eine zentrale Bedeutung hatte. Betriebsweise, Besitzrechte und Erträge Die Betriebsweise der frühneuzeitlichen europäischen Landwirtschaft war noch nicht kapitalintensiv. Vieh, insbesondere Zugtiere, (überwiegend hölzerne) Pflüge, Sicheln und Dreschflegel stellten die wichtigsten Kapitalinputs dar. Der bei weitem wichtigste Produktionsfaktor war die menschliche Arbeitskraft. Das System der Grundherrschaft mit seinem Abgabesystem in Form von Naturalien oder Geldrenten bot kaum Anreize zur Hebung der Produktivität. An der vorherrschenden Bewirtschaftungsform der Dreifelderwirtschaft und an den landwirtschaftlichen Erträgen änderte sich daher gegenüber dem Mittelalter nichts Wesentliches. Im 16. Jahrhundert lag die landwirtschaftliche Produktivität angesichts des Ausbleibens grundlegender technischer Neuerungen wahrscheinlich sogar unter derjenigen im 13. Jahrhundert, da der starke Bevölkerungsanstieg dazu führte, dass immer mehr Grenzböden in Bearbeitung genommen wurden. Es wurden mehr und mehr ertragsarme Heide- und Moorflächen bearbeitet und ehemalige Weideflächen in Ackerland umgewandelt. Der durchschnittliche Flächenertrag dürfte daher gesunken sein. Die Ausdehnung des Ackerlandes auf Kosten der Weideflächen bewirkte einen Rückgang der Viehhaltung und damit der Düngung, was wiederum sinkende Flächenerträge und eine schlechtere Versorgung der Bevölkerung mit hochwertigen Proteinen zur Folge hatte. Im 16. Jahrhundert betrug das durchschnittliche Ernte-Aussaat-Verhältnis kaum mehr als 4 oder 5:1. In Osteuropa konnte es sogar bei nur 2 oder 3:1 liegen. Dies war extrem niedrig, wenn man bedenkt, dass man von der Ernte noch eine Einheit abziehen muss, die der Bauer als Saatgut im folgenden Jahr brauchte. Im 17. Jahrhundert, einer ausgesprochenen Kälteperiode, nahm die landwirtschaftliche Produktivität wahrscheinlich sogar noch weiter ab. Selbst in England und Holland, den beiden Ländern mit der fortgeschrittensten Landwirtschaft, hatten die zunehmende Bearbeitung von Grenzböden und die Klimaverschlechterung im Zeitraum von 1600 bis 1649 einen Rückgang der Ernteerträge um 13 bis 44 % verglichen mit der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zur Folge.
Grundherrschaft entfaltet nur geringe Produktivitätsanreize
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Die europäische Wirtschaft in der Frühen Neuzeit
II.
osteuropäische Gutsherrschaft
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Für die landwirtschaftlichen Produzenten waren die Jahre zwischen 1450 und 1620 trotz niedriger Ernteerträge konjunkturell durchaus eine positive Zeit. Da die Bevölkerung stark expandierte, wuchs die Nachfrage nach landwirtschaftlichen Produkten. Die Kostensituation der Agrarproduzenten gestaltete sich günstig, da die von ihnen zu zahlenden Löhne weniger stark stiegen als die für ihre Produkte erzielten Preise. Um die Mitte des 17. Jahrhunderts hatte sich allerdings eine veränderte Situation ergeben: wegen der großen Bevölkerungsverluste in weiten Teilen Europas übertraf das Angebot an landwirtschaftlichen Produkten nunmehr die verminderte Nachfrage. Preisverfall und weitgehende Verarmung der landwirtschaftlichen Bevölkerung waren die Folge. Sehr unterschiedlich waren die landwirtschaftlichen Besitzrechte innerhalb Europas. In den westlichen Ländern gab es, sehr vereinfacht gesagt, zwei Typen: In England, Teilen Deutschlands und Nordfrankreichs waren im Rahmen der Grundherrschaft verschiedene langfristige Pachtsysteme vorherrschend. Dabei konnten die Bauern in einzelnen Fällen sogar ihren Besitz vererben und hatten feststehende Abgaben in Form von Naturalien oder meistens Bargeld zu leisten. Vieh, Ausrüstung und Saatgut gehörten ihnen selbst, und sie konnten selbständige betriebswirtschaftliche Entscheidungen treffen. Der zweite Grundtypus war das, was in Frankreich métayage genannt wurde. Dabei handelte es sich um das südlich der Loire verbreitete System, bei dem der Grundbesitzer den gesamten Kapitalstock, d.h. die gesamte Ausrüstung und das gesamte Vieh oder zumindest einen Teil davon stellte, die Risiken der Produktion und die Entscheidung über die Modalitäten der Produktion mit den Bauern teilte und dafür einen Teil der Ernte, normalerweise die Hälfte, in Anspruch nahm. Dagegen herrschte in Europa östlich der Elbe und nördlich der Donau einschließlich des heutigen europäischen Russland Gutsherrschaft bis hin zur Leibeigenschaft. Kennzeichen der Gutsherrschaft war der Eigenbetrieb des Gutsherrn und die an den Gutsbezirk gebundene ausschließliche Verfügungsgewalt über die dort lebenden Menschen. Diese schloss die niedere Gerichtsbarkeit und Polizeihoheit ein. Im östlichen Deutschland und in Osteuropa entwickelte sich der gutsbesitzende Adel auf der Grundlage der wirtschaftlichen Unterdrückung und rechtlichen Entmündigung der Bauern zu einer exklusiven Herrenschicht, die ihre privilegierte Sonderstellung bis ins 19. Jahrhundert, teilweise bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts behaupten konnte. In den Jahrhunderten nach der Landnahme im Hochmittelalter hatten die Gutsherren die Gerichts- und Polizeigewalt instrumentalisiert, um sich die Bauern wirtschaftlich und rechtlich zu unterwerfen. Im Laufe der frühneuzeitlichen Jahrhunderte verschärfte sich deren Abhängigkeit sogar noch weiter. Die lukrativen Gewinnaussichten für den Getreideexport in die aufblühenden westeuropäischen Gewerberegionen in den Niederlanden und Flandern veranlassten die Grundherren, die Arbeitsleistung ihrer Bauern mit allen legalen und illegalen Mitteln immer mehr zu steigern. Dies gipfelte in einer rigorosen Ausbeutung der Arbeitskraft der Bauern im Interesse der Eigenwirtschaft des Gutsherrn. Zentral war in diesem Zusammenhang die ständige Steigerung der Frondienste. Die Bauern in Mecklenburg muss-
Die Entwicklung der europäischen Landwirtschaft
II.
ten um 1500 dreieinhalb Tage im Jahr für den Gutsherrn arbeiten, 1550 bereits 52 Tage und 1600 160 Tage oder drei Tage pro Woche. In einzelnen Regionen Polens waren es 1580 sechs Tage in der Woche oder 300 Tage im Jahr. Die Herabdrückung einer immer größeren Zahl von Bauern in die Leibeigenschaft und die ständige Ausdehnung ihrer Arbeitspflichten unter Zwang ermöglichten der östlichen Gutsherrschaft trotz primitiver Anbaumethoden eine erhebliche Steigerung ihrer Produktion für den westeuropäischen Markt. Aus Polen wurden zu Beginn des 17. Jahrhunderts jährlich 70.000 t Roggen über Danzig in westlicher Richtung exportiert. Diese Menge war fast zehnmal so groß wie noch am Ende des 15. Jahrhunderts. Sehr differenziert war das Bild in Italien. So gab es bspw. im Piemont kleine fortschrittliche Farmen unabhängiger Bauern, im Süden und auf Sizilien aber auch ärmlichste abhängige Landarbeiter auf großen Gütern. Auch wenn die italienische Landwirtschaft hinsichtlich ihrer Produkte außerordentlich differenziert war, genügte ihr Ertrag doch nicht, um im 16. und 17. Jahrhundert mit der Bevölkerungsentwicklung Schritt zu halten. Weitaus negativer waren die Verhältnisse in Spanien. Durch das ganze 16. Jahrhundert hindurch lief ein Prozess der Bodenkonzentration ab, da die Kirche und die Aristokratie das Land zu großen Gütern zusammenfassten. Die spanischen Grundbesitzer wohnten nicht auf ihren Gütern, sondern ließen diese von Gutsverwaltern verwalten. Sie vergaben das Land in kleinen Parzellen in kurzen Pachtverhältnissen an Pächter, die weder die Motivation noch das Kapital hatten, das technisch hochstehende Bewässerungssystem der maurischen Landwirtschaft aufrechtzuerhalten. Nachteilig für die Entwicklung der spanischen Landwirtschaft war auch die Verbreitung der Transhumanz, d.h. die ständige Hin und Herwanderung großer Schafherden zwischen ihren Sommerweiden in den nördlichen Gebirgsregionen und den südlichen Winterweideplätzen. Die Besitzer der riesigen Schafherden stellten eine überaus einflussreiche Lobby am königlichen Hof dar. Sie waren in einer gildeähnlichen Handelsorganisation organisiert, die den Namen Mesta trug. Deren politisch-ökonomischer Einfluss beruhte darauf, dass der in den Niederlanden und anderen europäischen Zentren des Textilgewerbes außerordentlich hohe Bedarf an qualitativ hochwertiger spanischer Merinowolle den Wollexport zum weitaus wichtigsten spanischen Exportfaktor machte. Die wegen ihrer maßlosen imperialen Pläne stets um Steuereinnahmen und Geld verlegenen spanischen Monarchen gewährten der Mesta immer weiter gehende Privilegien, darunter das Recht, ihre Herden auf allen Gemeindeländereien frei zu weiden – für jede Form geregelten Landbaus ein Desaster. Spanien wurde in immer stärkerem Maße von Getreideimporten abhängig. Auf das Ganze gesehen standen die schwachen landwirtschaftlichen Erträge der frühneuzeitlichen Landwirtschaft, insbesondere der ständige Engpass bei der Getreideversorgung, jeder nachhaltigen Verbesserung der materiellen Lebenssituation entgegen. Die Abhängigkeit der meisten Bauern in Gestalt der Grundherrschaft oder der Gutsuntertänigkeit bot wenig Anreiz zu landwirtschaftlichen Innovationen. Es kam einer Revolution gleich, als die großen überregionalen Hungersnöte im 18. Jahrhundert (zeitgleich mit der Pest) allmählich ausblieben.
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Die europäische Wirtschaft in der Frühen Neuzeit
II.
Flandern und Brabant als Ausgangspunkt der neuzeitlichen „Agrarrevolution“
die moderne niederländische Landwirtschaft ist marktorientiert
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Die „Agrarrevolution“ Erst das 18. Jahrhundert sah in einigen Gegenden Europas die sog. Agrarrevolution. Bairoch setzt die Agrarrevolution in Flandern und Brabant bereits im 17. Jahrhundert an, in England um 1700, in Frankreich im Zeitraum 1750–1760, in Deutschland und Dänemark gegen Ende des 18. Jahrhunderts, in Österreich, Italien und Schweden um 1820–1830 und in Russland und Spanien gar erst im Zeitraum 1860–1870. Die sich über längere Zeiträume erstreckende Fortentwicklung der Produktions und Anbautechniken nahm ihren Ausgangspunkt in den dicht besiedelten und gewerblich fortgeschrittenen Gebieten Flandern und Brabant. Diese Regionen wurden zu einem wahren Mekka für landwirtschaftliche Experten aus England, Schottland, Deutschland, Frankreich, Italien und sogar den Vereinigten Staaten. Die wichtigsten Innovationen im Prozess der Agrarmodernisierung waren: 1. Die Abschaffung der in der Zwei- oder Dreifelderwirtschaft üblichen Brache. Dies bewirkte einen erheblichen Anstieg der Nutzfläche. 2. Die Einführung einer ausgefeilten Fruchtwechselwirtschaft, welche die Erschöpfung des nunmehr kontinuierlich bestellten Bodens durch einen regelmäßigen Wechsel von Getreide- und Futterpflanzen (z.B. Klee) bzw. Hackfrüchten (Rüben, Kartoffeln) verhinderte. 3. Die Vergrößerung der Viehhaltung durch den Anbau von Futterpflanzen auf der früheren Brache und eine verbesserte Düngung. 4. Der vermehrte Anbau neuer Nahrungs und Futterpflanzen wie Rüben, Klee, Raps, Hopfen, Buchweizen, Mais und Kohl und (insbesondere für Mitteleuropa kennzeichnend) der gesteigerte Anbau von Kartoffeln. 5. Die Verbesserung des Pfluges und dessen vermehrte Anwendung in Gebieten, wo vorher noch die Hacke eingesetzt worden war. 6. Der Ersatz des Holzes durch stabilere Eisenteile bei vielen landwirtschaftlichen Geräten, der durch die Verbilligung des Eisens möglich wurde. 7. Die systematische Auswahl des Saatgutes und der Zuchttiere. Die produktivste Landwirtschaft im 15., 16. und 17. Jahrhundert in Europa hatten die Niederlande. Vom 16. bis zum 18. Jahrhundert verdoppelten sich die durchschnittlichen Hektarerträge der niederländischen Landwirtschaft. Das Ernte-Aussaat-Verhältnis lag hier bei 10:1 oder darüber. Die agrarischen Innovationen der Niederländer, von denen die Briten vieles übernahmen, schufen die Voraussetzung für die „Agrarrevolution“ des 18. Jahrhunderts, die ihrerseits eine wichtige Vorbedingung für die Industrielle Revolution bildete. Sehr förderlich war der hohe Urbanisierungsgrad der Niederlande. Die große Zahl bevölkerungsreicher Städte mit ihrem hohen Anteil an Textilarbeitern, die sich über den Markt mit Lebensmitteln versorgen mussten, bot einen Anreiz zur Intensivierung und Spezialisierung der niederländischen Landwirtschaft. Erleichtert wurde dies durch die seit dem Mittelalter bestehende große Freiheit niederländischer Bauern. Bereits in der Frühen Neuzeit exportierten die Holländer Käse nach Spanien oder Italien. Bei ihren betriebswirtschaftlichen Entscheidungen orientierten sich die holländischen Bauern weitgehend an den Gegebenheiten des Marktes. Das konnte bedeuten, gegebenenfalls die gesamte eigene
Die Entwicklung der europäischen Landwirtschaft hochwertige Weizenerzeugung auf dem Markt zu verkaufen, um dann im Gegenzug den preisgünstigen Roggen zum eigenen Verzehr aus dem Ostseeraum zu importieren. Die holländischen Farmer spezialisierten sich insbesondere auf relativ hochpreisige Produkte wie Vieh und Molkereierzeugnisse. Die große Bedeutung der Viehzucht hatte den vermehrten Anbau von Futterpflanzen zur Folge, und der dabei vermehrt anfallende Dünger begünstigte wiederum den intensiven Anbau. Ermöglicht wurde die marktorientierte Spezialisierung der niederländischen Landwirtschaft nicht zuletzt durch die Effizienz des Schiffbaus und die Leistungsfähigkeit des niederländischen Handelssystems. Über eine leistungsfähige Landwirtschaft verfügten auch die Engländer. Die Revolte Heinrichs VIII. (1509–1547) gegen Rom hatte ebenso wie die Auflösung der englischen Klöster, von der neben dem Monarchen selbst vor allem die englische Gentry, der Landadel, profitierte, viel Vermögen in Bewegung gesetzt, den Grundstücksmarkt belebt und damit die Kapitalisierung und Marktorientierung der englischen Landwirtschaft begünstigt, die eine wesentliche Voraussetzung für die in der Industrialisierung gipfelnde gewerbliche Entwicklung des Landes bildete. Die kleine Schicht meist adeliger Grundbesitzer, in deren Händen sich das Land konzentrierte, verpachtete dieses langfristig und in großen Produktionseinheiten an wohlhabende Pächterbauern, die englischen Farmer, die ihre Höfe von lohnabhängigen Landarbeitern bewirtschaften ließen. In manchen Gegenden Englands, vor allem in East Anglia, kam es schon in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zur Erprobung und Einführung neuer Methoden wie Drainierungen, verbesserter Bodendüngung und der Kombination von Ackerbau und Viehzucht. Der Futterrübenanbau ermöglichte es den Landwirten, ihr Vieh nicht vor dem Winter zu schlachten, sondern es den Winter über im Stall zu füttern. Die Stallhaltung lieferte mehr Dünger für den Ackerbau und vergrößerte zugleich den Fleischertrag. Einige Großgrundbesitzer in der ostenglischen Grafschaft Norfolk betätigten sich, angeregt durch holländische Vorbilder, erfolgreich als Agrarreformer. Sie entwässerten das salzhaltige Marschenland entlang der Küste und gewannen so Weideland. Die Familie Townshend führte auf ihren Ländereien die Fruchtwechselwirtschaft ein und baute Futterrüben an. Fruchtwechselwirtschaft Ziel der Fruchtwechselwirtschaft ist es, durch den im Wechsel erfolgenden Anbau von Getreide- und Futterpflanzen (vor allem Klee) bzw. Hackfrüchten (Rüben, Kartoffeln), die dem Boden unterschiedliche Nährstoffe entziehen bzw. diesem wieder Nährstoffe zuführen, eine Regeneration des Bodens ohne Brache zu ermöglichen. Die Abschaffung des Brachfeldes bedeutete eine erhebliche Produktionssteigerung. Zugleich ermöglichte der vermehrte Anbau von Futterpflanzen eine Ausdehnung des Viehbestandes. Diese führte in Verbindung mit der Stallfütterung des Viehs im Winter zu vermehrtem Düngeranfall.
II.
kapitalisierte und marktorientierte englische Landwirtschaft
E
Der Anbau neuer Futtermittel, die gezielten Getreide- und Viehzüchtungen, die überregionale Vermarktung und längere Pachtverträge, die den Pächtern Anreize zu größeren Investitionen boten, hoben die Landwirtschaft Norfolks auf ein Niveau, das mit dem holländischen vergleichbar war. Anderswo,
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Die europäische Wirtschaft in der Frühen Neuzeit
II. Einhegungen (enclosures) als Voraussetzung der englischen „Agrarrevolution“
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z.B. auf den schweren Lehmböden der Midlands, waren die Verhältnisse allerdings weit weniger positiv. In der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts trieb der starke Bevölkerungsanstieg die landwirtschaftlichen Preise und Gewinne in die Höhe. Dadurch wurden landwirtschaftliche Innovationen angeregt. Nunmehr gewann der bereits im 17. Jahrhundert einsetzende Prozess der Einhegungen an Tempo. Einhegungen (enclosures) Bei den enclosures handelte es sich um die Einfriedung des bisher offenen Landes (open fields) durch Hecken oder Gräben und Erdwälle. Die Motivation lag in der lukrativen Wollkonjunktur, das Ziel bestand mithin in der Einrichtung großer Schaffarmen. Dabei kam es nicht nur zu einer Einhegung bisher nicht bebauten Landes, sondern der Prozess ergriff auch die Gemeinheiten (commons, Allmende), auf denen die Inhaber der kleinen Bauernstellen bisher ihr Vieh weiden durften, oder das Pachtland der kleinen Pächter, häufig sogar ganze Dörfer. Die Eigentumsrechte an diesen Gemeinheitsflächen wurden zugunsten der großen Grundbesitzer geklärt. Im Kern bedeuteten die enclosures die endgültige Abkehr vom alten Lehnssystem und die Durchsetzung eines kapitalistischen Pachtsystems.
Die enclosures wurden damit zu einer wesentlichen Voraussetzung für die „Agrarrevolution“, die sich im 18. Jahrhundert, ausgehend von East Anglia, vollzog. Die von mehreren Landwirten bebaute offene Dorfflur und die Allmende verschwanden. Die Einhegungen und die Urbarmachung bisherigen Ödlandes, die Anlage von Gräben, Hecken und Zäunen verursachten erhebliche Kosten für Geräte, Gebäude und Arbeitskräfte, die die kleinen Landwirte nicht aufbringen konnten. Kleinere Bauern und Häusler (Kleinpächter, die nur wenig Land besaßen) verloren durch die Einhegungen zudem ihre alten gewohnheitsrechtlichen Nutzungsrechte am Gemeindebesitz wie z.B. Weiderechte auf der Allmende. Sie zahlten den sozialen Preis für den Modernisierungsschub der englischen Landwirtschaft, indem sie oft zu Landarbeitern auf den Ländereien der Großgrundbesitzer wurden. Karl Marx prägte im Zusammenhang mit den sozialen Folgen der Einhegungen den Begriff von der „industriellen Reservearmee“ und verband damit die Vorstellung einer massenhaften Landflucht der durch die Einhegungen proletarisierten und zur Abwanderung in die Städte gezwungenen Kleinlandwirte und ländlichen Unterschichten, die dann in der Stadt zum Industrieproletariat wurden. Nach neueren Erkenntnissen lässt sich ein derartiger Zusammenhang nicht herstellen: die Vergrößerung des industriellen Arbeitskräftepotentials in den Städten war das Ergebnis des allgemeinen Bevölkerungswachstums. Eine massenhafte Landflucht im Gefolge der Einhegungen fand gar nicht statt, und die Zahl der in der Landwirtschaft Beschäftigten nahm im 18. Jahrhunderts in England und Wales sogar um 8,5 % zu. Unbestreitbar sind die ökonomischen Erfolge der neuen kapitalistischen Wirtschaftsweise. Die landwirtschaftliche Produktion in England stieg im 18. Jahrhundert um 61 %. Um 1800 erzeugte eine landwirtschaftliche Arbeitskraft 50 % mehr als hundert Jahre zuvor. Die Erzeugung von Getreide wuchs zwischen 1770 und 1820 um 59 %, die Fleischproduktion um 35 %. Die starke Bevölkerungszunahme, die zeitlich bereits vor dem Durchbruch der Industriellen Revolution stattfand, führte in England nicht zu Versor-
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Die gewerbliche Entwicklung
II.
gungsengpässen. Im Gegenteil war die Landwirtschaft in der Lage, erhebliche Überschüsse für den Export bereitzustellen. Die vermehrte Verwendung von Eisen bei Pflügen und Gerätschaften ließ die Landwirtschaft zudem zu einem wichtigen Kunden für die Eisenindustrie werden. So machte im Jahr 1760 allein der Bedarf für den Hufbeschlag der Pferde 15 % der gesamten Eisennachfrage aus.
4. Die gewerbliche Entwicklung Rahmenbedingungen, Möglichkeiten und Grenzen gewerblicher Entwicklung Langfristig von entscheidender Bedeutung für den wirtschaftlichen Aufstieg Europas war die wissenschaftliche Revolution, die sich in Europa von der Mitte des 15. bis Ende des 17. Jahrhunderts vollzog. Zwar fand eine direkte Beeinflussung der Technik durch die Wissenschaft erst im 19. Jahrhundert statt, aber die frühneuzeitliche Verwissenschaftlichung des Weltbildes ebnete den Weg zu jener technischen Revolution, die den Kern des Industrialisierungsprozesses im 18. und 19. Jahrhundert darstellte. Francis Bacon (1561–1616) forderte, die Wissenschaft habe der Praxis zu dienen: „Das wahre und gesetzmäßige Ziel der Wissenschaft ist es, das menschliche Leben durch neue Entdeckungen und Kräfte zu bereichern.“ Bacon ging bereits den Schritt von der Beobachtung zum Experiment. Zum Zentrum der technischen Entwicklung in der Renaissance wurde Italien. Hier waren nach dem Zusammenbruch der Stauferherrschaft im 13. Jahrhundert viele kleine Territorien, vor allem Stadtstaaten, entstanden, die von besitzenden Adels oder Kaufmannsfamilien regiert wurden. Diese oberitalienischen Stadtstaaten wurden reich durch den Handel. Die reichgewordenen Fürsten und führenden Familien der miteinander rivalisierenden oberitalienischen Städte wollten ihre wirtschaftliche und politische Macht nach außen hin zeigen. Sie ließen deshalb repräsentative Bauten wie Paläste, Kirchen und Brücken errichten und erteilten Aufträge an Maler und Bildhauer. Sie versuchten, Gelehrte und Techniker an sich und ihre Städte zu binden. Die ständigen kriegerischen Auseinandersetzungen dieser Stadtstaaten und der Wunsch nach Repräsentation führten dazu, dass innerhalb der Technik vor allem die Waffentechnik, der Wasser und Festungsbau, die Architektur und die Metallgießerei starke Anreize zur Weiterentwicklung erfuhren. Das sich in der Renaissance verbreitende Patentwesen regte die technische Entwicklung an. Ein venezianisches Gesetz von 1474 sah den Schutz der Interessen jener wie es hieß scharfsinnigen Köpfe vor, „die es verstehen, mancherlei sinnvolle und kunstreiche Gegenstände auszudenken und zu erfinden“. Das Patent sicherte dem Erfinder die ausschließlichen materiellen Vorteile seiner Erfindung, um ihn für seine Aufwendungen zu entschädigen. Bereits seit den frühneuzeitlichen italienischen Stadtstaaten konnte Europa eine Folge von wirtschaftlichen und technischen Innovationen aufrechterhalten. Der Aufstieg des modernen Staates mit seinem Gewaltmono-
Renaissance und wissenschaftliche Revolution
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Die europäische Wirtschaft in der Frühen Neuzeit
II.
Barrieren des gewerblichen Fortschritts
Innovationen im Textilgewerbe
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pol begünstigte den ökonomischen Fortschritt. Dadurch erhöhte sich die öffentliche Nachfrage nach technisch anspruchsvollen Gütern wie Kriegsschiffen oder Feuerwaffen. Der Aufbau staatlicher Strukturen bewirkte eine beträchtliche Marktausweitung. Andererseits wurde die Größe des Marktes von der Entwicklung der Bevölkerungszahl und des Pro-Kopf-Einkommens begrenzt. Im 16. Jahrhundert gab es zwar eine starke Bevölkerungszunahme, aber angesichts der nach wie vor geringen Produktivität der Landwirtschaft stiegen die Lebensmittelpreise stärker als die Löhne, so dass die Kaufkraft der Bevölkerung für gewerbliche Güter und die Pro-Kopf-Einkommen bis gegen 1650 eher gesunken sein dürften. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts stiegen die Löhne zwar tendenziell an, doch wurden die positiven Auswirkungen auf den Markt nunmehr durch zurückgegangene Bevölkerungszahlen kompensiert. Die weitverbreitete Armut der europäischen Bevölkerung setzte der gewerblichen Entwicklung enge Grenzen. Ein Großteil der Bevölkerung, mehr als die Hälfte, lebte noch Ende des 17. Jahrhunderts selbst in normalen Zeiten nahe am Existenzminimum. Vauban, der bekannte Festungsbaumeister und Minister Ludwigs XIV., nahm sogar an, dass Frankreich damals zu 60 % aus Bevölkerungsgruppen in äußerster Armut bestand, ja sogar im relativ wohlhabenden Holland soll es auf dem Höhepunkt der kommerziellen Entwicklung von Bettlern und Landstreichern nur so gewimmelt haben. Kontraktiv wirkte auch das Vordringen der Türken im 15. und 16. Jahrhundert, das die europäischen Absatzwege in Südosteuropa und im östlichen Mittelmeerraum verschloss. Auf der anderen Seite eröffneten sich mit der Erschließung der überseeischen Gebiete neue große Absatzmärkte. Dennoch lag das Schwergewicht des Marktes für die Europäer nach wie vor in Europa selbst. Enge Grenzen der Produktivitätssteigerung waren dem europäischen Gewerbe von der Seite der Ressourcen und des energetischen Systems gesetzt: Die ressourcenintensiven Produktionsmethoden im Bereich von Bergbau und Metallbearbeitung brachten eine enorme Steigerung des Holzverbrauchs mit sich. Allein die Silberbergwerke in Freiburg verbrauchten jährlich mehr als 60.000 m3 Holz. Der stark anwachsende Holzverbrauch führte zu einer entsprechenden Steigerung der Holzpreise. Schon frühzeitig suchte man daher nach Möglichkeiten, Holz und Holzkohle durch Steinkohle zu ersetzen. In England wurde bereits seit Ende des 16. Jahrhunderts Steinkohle zur Eisengewinnung verwendet. Das Textilgewerbe Grundsätzlich waren auch in der Frühen Neuzeit die für den lebensnotwendigen Grundbedarf wie Kleidung und Wohnung produzierenden Gewerbe am bedeutsamsten. Textilproduktion wurde fast überall betrieben, wenngleich es auch Gewerbekonzentrationen mit Zehntausenden von Beschäftigten in den Niederlanden und Oberitalien gab. Für das Textilgewerbe wurde das neue Phänomen der Mode wichtig, die seit dem 16. Jahrhundert auch breitere Schichten unterhalb der schmalen Oberschicht ergriff. Die Mode stellte einen markterweiternden Faktor dar, der im Textilgewerbe zu neuen Entwicklungen führte. Die Zeit der
Die gewerbliche Entwicklung schweren Tuche war vorüber, und das Textilgewerbe stellte sich auf die leichteren Mischgewebe der sog. new draperies (nouvelles draperies) um. In den 1550er Jahren waren Lille und Hondschoote Zentren der new draperies. Flandrische Emigranten verbreiteten sie dann im 16. Jahrhundert über verschiedene Teile Europas, nach Lüttich und Amiens, in das niederländische Leiden, nach Württemberg und Eastanglia. In der Textilerzeugung gab es im 17. und 18. Jahrhundert einige technische Innovationen, die die allgemeine Mechanisierung der Textilindustrie in der Industriellen Revolution in Teilbereichen bereits vorwegnahmen. Schon am Ende des 13. Jahrhunderts war in Oberitalien die sog. Seidenzwirnmühle entwickelt worden, die sich in den folgenden Jahrhunderten über Europa ausbreitete, ohne dass sich an ihrer Technik bis ins 18. Jahrhundert etwas Grundlegendes änderte. Die Seidenzwirnmühle war die erste voll mechanisierte, von einem Wasserrad angetriebene Maschine im Textilgewerbe. 240 Spindeln wurden von einem einzigen Wasserrad in Bewegung gesetzt. Gegenüber dem Zwirnen von Hand wies die Seidenzwirnmühle eine um das 25- bis 30-Fache höhere Produktivität auf. Im Textilgewerbe breitete sich immer stärker das ländliche Heimgewerbe aus, das im Verlagssystems organisiert war. Es kam zu einer „Vergewerblichung“ des platten Landes, die häufig mit dem Begriff „Protoindustrialisierung“ bezeichnet wird. Den entscheidenden Hintergrund für diesen Vorgang bildeten im Wesentlichen zwei Faktoren: die Erschließung der neuen überseeischen Märkte sowie der im 17. Jahrhundert nur vorübergehend unterbrochene Anstieg der europäischen Bevölkerung seit dem 16. Jahrhundert. Immer größere Teile der wachsenden Bevölkerung konnten keine auskömmlichen Stellen in der Landwirtschaft mehr erhalten. Es gab also eine steigende Nachfrage nach gewerblicher Nebentätigkeit bei diesen sog. unterbäuerlichen Gruppen, deren Ackerfläche nicht zum Lebensunterhalt ausreichte. Zum anderen eröffneten sich in den überseeischen Gebieten neue Absatzmärkte für diese Gewerbeproduktion. Ein gutes Beispiel ist hier die westfälische und osnabrückische Leinenproduktion, bei der in Heimarbeit Leinen gewebt wurde, das zu einem großen Teil über Amsterdam seinen Weg in die Karibik fand und dort auf den Plantagen zur Einkleidung der Sklaven diente. Im Bereich des ländlichen Heimgewerbes setzte sich die Organisationsform des Verlagssystems durch: Dort, wo die heimgewerblich tätigen Produzenten ihre Rohstoffe über große Entfernungen beziehen oder ihre Produkte auf weitentfernten Märkten absetzen mussten, waren sie auf die Marktkenntnis von Kaufleuten (Verlegern) angewiesen. In der süddeutschen Barchentherstellung vergrößerte sich der Einfluss der Verleger dadurch, dass der neue Rohstoff, die Baumwolle, zentral aus Venedig bezogen werden musste. Nur der Kaufmann konnte dies tun. Er verteilte den Rohstoff an die ländlichen Weber, ließ ihn von ihnen verarbeiten und übernahm den Absatz. Die Technik der Textilverarbeitung blieb dabei traditionell. Die Verleger bestimmten als Aufkäufer der heimgewerblich hergestellten Waren die den Produzenten gezahlten Preise, vermittelten gegebenenfalls auch Vorschüsse und gewannen so zunehmend Einfluss auf die Produktion. Mit ihrer Marktübersicht entschieden sie über die räumliche und organisatorische Differenzierung der Produktion: sie ließen die einfachen Arbeiten
II.
ländliche heimgewerbliche Textilproduktion (Protoindustrialisierung): eine kapitalistisch organisierte, marktorientierte und standardisierte Massenproduktion
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Die europäische Wirtschaft in der Frühen Neuzeit
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von billigen Arbeitskräften auf dem Lande durchführen, während spezialisierte Produktionsprozesse in der Stadt verrichtet wurden. Bei ihren Entscheidungen machten sich die verlegenden Kaufleute das europäische Lohngefälle zunutze, dass durch die unterschiedliche Preisentwicklung nach dem Einströmen der amerikanischen Edelmetalle entstanden war. Vereinfacht gesagt waren in Europa Preise und Löhne umso niedriger, je weiter man nach Osten kam. Dadurch wurden Niedriglohngebiete wie z.B. der deutsche Nordwesten oder Schlesien zu attraktiven Produktionsstandorten für das Heimgewerbe. Es handelte sich also um eine marktorientierte, standardisierte und nach kapitalistischen Gesichtspunkten organisierte Produktion, die allerdings im Unterschied zur industriellen Fabrik überwiegend dezentral und mit traditioneller Technologie (z.B. dem Handwebstuhl) arbeitete.
kapitalintensive technische Innovationen im Bergbau
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Bergbau und Metallgewerbe Die neue Kriegstechnik und die damit verbundenen großen Söldnerheere mit ihren Waffen und Uniformen trieben die wirtschaftliche Entwicklung im Bereich des Bergbaus und der Metallverarbeitung voran. Ausgesprochene Zentren der Waffenindustrie waren das Bistum Lüttich, die italienische Provinz Brescia, Augsburg, Nürnberg, das thüringische Suhl sowie Solingen und Essen. Die englische Geschützherstellung erlitt im 17. Jahrhundert einen deutlichen Rückgang, während Schweden zum führenden Zentrum der Waffenproduktion aufstieg. Dabei spielten niederländische Gewehrproduzenten und Waffenhändler eine entscheidende Rolle. Sie investierten zu Beginn des 17. Jahrhunderts in Schweden und führten verbesserte Gussverfahren ein, wobei sie sich auf die großen Eisen- und Holzvorräte Schwedens stützen konnten. Demgegenüber blieb die zivile Nachfrage nach Eisenwaren begrenzt, da die damals im Gewerbe verwendeten Maschinen, aber auch Schiffe, Wagen und landwirtschaftliche Geräte ganz überwiegend aus Holz hergestellt waren. Die neuen Techniken im Bergbau und in der Metallverarbeitung waren sehr aufwendig. Seit dem Ende des 15. Jahrhunderts baute man Stollen und Schächte. Man benutzte von Wasserkraft angetriebene Aufzüge und Winden, um das Erz und das Grubenwasser an die Oberfläche zu bringen. Neben Haspelwinden und Treträdern, die bereits in der Antike bekannt gewesen waren, verwendete man zunehmend das neue Kehrrad als Fördermittel. Beim Kehrrad konnte die Laufrichtung geändert werden, indem man das Wasser abwechselnd mittels einer verstellbaren Rinne auf die eine oder andere Seite des Rades aufschlagen ließ. In Schwaz in Tirol wurde 1556 ein solches riesiges Kehrrad in Betrieb genommen und allgemein als Weltwunder bestaunt. Seit etwa 1550 setzte man im Joachimstaler Revier und in Tirol die ersten Saugpumpen zur Wasserhaltung ein, die mit Wasserkraft betrieben wurden. Diese Pumpen ermöglichten es, die Schächte bis zu einer Tiefe von 400 m voranzutreiben. Zur Beförderung des Erzes benutzte man bereits auf Schienen gezogene oder geschobene Stollenkarren, die zu den Ahnherren der Eisenbahnen wurden. Die alten Erzmühlen wurden im 15. und 16. Jahrhundert durch die neuen Pochwerke verdrängt. Vorher hatten die Pocher das Erz mit großen Fäusteln auf einem Pochstein zerkleinert.
Die gewerbliche Entwicklung
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Im Laufe des 16. Jahrhunderts ging man bei der Gewinnung von Kupfer und Eisen immer mehr zum Hochofenbetrieb über. Damit konnten wesentlich größere Mengen an Roheisen gewonnen werden als früher. Hatte es in England und Wales zu Beginn des 16. Jahrhunderts ganze drei Hochöfen gegeben, so waren es 1655 schon etwa 100 bis 150. In England verwendete man in den neuen Hochöfen zunehmend Steinkohle statt Holzkohle. Befriedigend gelöst wurde das Verhüttungsverfahren mit Kohle dann allerdings erst im 18. Jahrhundert in der Industriellen Revolution. Eine sehr wichtige technische Innovation, die wesentlich zur Verfünffachung der Silberproduktion innerhalb eines Jahrhunderts beitrug, war das Saigerverfahren. Saigerverfahren Das Saigerverfahren beruhte darauf, dass das Kupfer und das darin enthaltene Silber unterschiedliche Schmelzpunkte haben. Zunächst verschmolz man die kupfer- und silberhaltigen Erze mit Blei. Beim Abkühlen der Schmelze kristallisierte das Kupfer aus, während sich die noch flüssige Silber-Blei-Legierung in den Poren sammelte. Durch selektives Schmelzen ließ sich das silberhaltige Blei trennen. Im anschließenden Treibprozess wurde die oxydierende Bleiglätte so lange abgeschöpft, bis fast reines Silber übrig blieb. Da man in den Saigerhütten sehr viel Holz und Blei brauchte, standen sie häufig weit entfernt von den Kupferlagern.
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Das Saigerverfahren steigerte die Erzausbeute sprunghaft. Jetzt konnten auch Kupfererze abgebaut werden, deren Abbau zuvor nicht lohnend gewesen war, weil sie zu wenig Silber enthielten. In großem Maßstab dürfte das Saigerverfahren zuerst in Nürnberg zwischen 1450 und 1460 eingeführt worden sein. Der Silberbergbau war in den Jahren 1545 bis 1560 auf dem Höhepunkt angelangt, als in Deutschland, Österreich, Böhmen und Ungarn jährlich durchschnittlich 500 t erzeugt wurden. Je teurer die technologischen Aufwendungen für den Bergbau wurden, umso unumgänglicher wurden kapitalintensive größere Zusammenschlüsse. Der Bergbau und die Verhüttung waren zunächst häufig im Nebengewerbe von Bauern betrieben worden, die sich zu Genossenschaften zusammengeschlossen hatten. Zur Errichtung eines derartigen Montankomplexes aber waren Kapitalien erforderlich, die nebenberufliche Genossen nicht aufbringen konnten. An ihre Stelle trat der Verleger, meist ein Eisenhändler aus einer größeren Stadt wie Nürnberg, Amberg, Steyer, Köln, Lüttich, Stockholm, der entsprechende Kredite zur Verfügung stellen konnte. Häufig lag die Weiterverarbeitung allerdings nach wie vor bei einem zunftmäßig organisierten Betrieb auf handwerklicher Basis, wurde also getragen von kleinen Meistern, die Lehrlinge und Gesellen beschäftigten. Ein gutes Beispiel für die Ausbreitung des Verlagswesens auch im Metallgewerbe bildet das metallverarbeitende Gewerbe in der Normandie. Dort verarbeiteten lange Zeit unabhängige ländliche Handwerker minderwertiges Eisen zu Näh- und Stecknadeln, Messern und Schlössern für den lokalen Bedarf. Im 17. Jahrhundert erweiterte sich dann der Markt für Metallprodukte in Frankreich, Spanien und der Neuen Welt, und das Eisen musste infolgedessen von weit her aus Burgund, dem Rheinland oder Schweden bezogen werden. Die neue Marktsituation machte die bis dahin unabhängigen
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kleinen Meister in der Rohstoffbeschaffung und Vermarktung von den reichen Kaufleuten abhängig. Besonderen Profit aus dem Bergbau zogen Augsburger Handelshäuser wie diejenigen der Fugger, Welser, Paumgärtner und Hoechstetter. Durch den Verkauf von Münz- und Letternmetall für den Buchdruck, von Metall für Waffen und Gebrauchsgüterherstellung, für Bau und Kunstgewerbe erzielten sie so hohe Gewinne, dass sie Landes- und Kirchenfürsten, Königen und Feldherren große Kredite geben und so zu politischem Einfluss gelangten. Räumliche Verlagerungen des Gewerbes: Auf- und Absteiger Im europäischen Gewerbe der Frühen Neuzeit gab es Auf- und Absteiger, wodurch es in der Folge zu erheblichen räumlichen Verlagerungen der Gewerbeproduktion kam. Um 1500 bildete der schmale Streifen von Flandern bis in die Toskana das Rückgrat des europäischen Gewerbes. 200 Jahre später hatte sich die Situation verändert: Schweden hatte sich zu einem der führenden Eisenproduzenten entwickelt, außerdem hatte auch Frankreich an gewerblicher Bedeutung zugenommen. Französische Seidenerzeugnisse waren in Europa führend, und auch bei Glaswaren, Papiererzeugnissen und Büchern hatte das französische Gewerbe beachtliche Fortschritte gemacht. Französisches Leinen hatte sich auf dem spanisch-amerikanischen Markt weitgehend gegenüber dem flandrischen durchgesetzt. Noch beachtlicher war der Aufstieg des niederländischen und des englischen Gewerbes. Am Beginn der Aufwärtsentwicklung des holländischen Gewerbes im Spätmittelalter standen der Schiffbau, der Fischfang und die Fischverarbeitung. Der Schiffbau war der eigentliche Motor des holländischen Gewerbes und Garant des holländischen Wohlstandes. Zwischen 1500 und 1700 verzehnfachte sich die Tonnage holländischer Schiffe, damals war die holländische Handelsflotte dreimal so groß wie die englische. Der Schiffbau regte zahlreiche andere Gewerbe wie die Tuchmacherei (Segel), die Metallindustrie (Ankergießerei) und den Holzhandel an. Auf dem Höhepunkt des holländischen Gewerbes um die Mitte des 17. Jahrhunderts produzierte die Stadt Leiden jährlich 100.000 Stück Tuche. Sie stellte damit das größte europäische Wollwarenzentrum dar. Haarlem hatte eine ähnliche Bedeutung für die Leinenerzeugung. Dort wurden Leinenhalbfertigwaren aus Deutschland, den spanischen Niederlanden und Nordfrankreich gebleicht. Die Holländer profitierten von ihren weltweiten Handelsverbindungen, die zum Entstehen einer Reihe von verarbeitenden Industrien wie Zuckerraffinerie, Branntweinerzeugung, Seidenweberei oder der Herstellung von Präzisionsinstrumenten und Landkarten führten. In England standen die Wollproduktion und das Tuchgewerbe am Beginn des gewerblichen Aufstiegs. Lange Zeit hatte England einen ausgedehnten Export nicht-appretierten Tuches auf den Kontinent betrieben, das dort weiterverarbeitet und verfeinert wurde. Das Land befand sich damit auf dem Stande eines Produzenten von Halbfertigwaren, der mangels entsprechender gewerblicher Kenntnisse einen großen Teil der Wertschöpfung dem Ausland (vor allem Flandern und Italien) überlassen musste. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts stieg die englische Tuchausfuhr von jährlich 50.000 auf 150.000 Stück Tuch an. Wollwaren blieben domi-
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Die gewerbliche Entwicklung nierend in der englischen Gewerbeproduktion. Allerdings wurden diese um 1700 überwiegend nicht mehr im Ausland gefärbt und appretiert, sondern durchliefen den ganzen Fertigungsprozess im Inland. Vor allem stellten sich die Engländer jetzt auch auf die von breiteren Verbraucherschichten nachgefragten modischen neuen Kammgarnqualitäten um. Für den Aufstieg des englischen Gewerbes spielten Kohle und Eisen eine entscheidende Rolle. Die englische Kohleproduktion stieg im 16. und 17. Jahrhundert von 200.000 t auf 3.000.000 t jährlich an. Damit wurde nicht nur der durch die Holzverknappung drohende Energieengpass der englischen Wirtschaft behoben, sondern es entstanden darüber hinaus erhebliche Kopplungseffekte für andere Bereiche des englischen Gewerbes wie den Eisenbergbau und die Eisenverhüttung. Beim Regierungsantritt von Charles I. (1625) gab es bereits 100 Gebläsehochöfen in England, die jährlich 25.000 t Roheisen produzierten. Das Beispiel der Holländer und Engländer macht deutlich, dass die sog. Krise des 17. Jahrhunderts nicht für alle europäischen Länder in gleicher Weise galt. Entscheidend wurde das neue Muster der internationalen Arbeitsteilung, das die Kaufleute aus den nordwesteuropäischen Handelszentren im 16. und 17. Jahrhundert durchsetzten. Der Kern der im 16. Jahrhundert entstandenen „European World-Economy“ (I. Wallerstein) lag in den nordwesteuropäischen Staaten. Um sie herum gruppierten sich in Semiperipherien und Peripherien unterschiedlich abhängige Wirtschaftszonen. Dabei kam den an der Peripherie gelegenen Zonen (Westindien, Süd- und Osteuropa) die Rolle von Rohstoffproduzenten zu. Alte Gewerbezentren wie Flandern, Norditalien und Deutschland erlitten schwere Verluste durch den Aufstieg der französischen, holländischen und englischen Konkurrenz. Hondschoote, Lille, Florenz und Venedig, die alten Zentren der Textilindustrie, bekamen ab dem späten 16. Jahrhundert den Konkurrenzdruck zu spüren. Im 17. Jahrhundert wurden sie weitgehend von der englischen und holländischen Textilindustrie an den Rand gedrängt und befanden sich in einem lange andauernden Prozess des wirtschaftlichen Niedergangs. Selbst die Seidenproduktion in Mailand und Venedig verlor gegenüber derjenigen in Lyon und Tours an Boden. Auch die italienischen Werften waren der holländischen Konkurrenz immer weniger gewachsen. Die einstmals berühmten Geschützgießereien in Süddeutschland, der Lombardei und Flandern wurden Opfer der überlegenen Konkurrenz der Engländer und Schweden. Spanien erlebte nach 1550 einen Prozess weitgehender Entindustrialisierung. Es wurde nicht nur auf den überseeischen, sondern auch auf den Binnenmärkten vom ausländischen Gewerbe an den Rand gedrängt und entwickelte sich immer mehr zu einer bloßen Durchgangsstation für europäische Gewerbeprodukte aus Frankreich, den Niederlanden, Deutschland, Böhmen usw. So lebte z.B. die wichtige Leinenproduktion der Normandie weitgehend vom überseeischen Markt. Das in der Normandie hergestellte Leinen ging als Segeltuch oder Wäschestoff in die Kolonien. Noch bedeutender waren Leinenproduktion und -export in Flandern. Auch der Aufschwung der niederländischen Leinenerzeugung während des 16. Jahrhunderts beruhte zum großen Teil auf den überseeischen Märkten. Der Ameri-
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Nordwesteuropa als Zentrum der „European world economy“
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kahandel lag weitgehend in den Händen ausländischer Kaufleute aus Nordwesteuropa. Die Hälfte des in Sevilla ankommenden Silbers wurde zur Bezahlung von Rückfrachten in die Neue Welt verwendet. Das spanische Gewerbe konnte diesen Bedarf nach 1550 nicht mehr allein decken, und so kam das Silber zunehmend der ausländischen Gewerbeproduktion zugute. Die Spanier mussten holländische Schiffe, englische Metallwaren und Kammgarne sowie italienische und französische Seidenstoffe gegen Rohwolle, Olivenöl und Eisen eintauschen, entwickelten sich also zu einem Rohstofflieferanten zurück. Ähnliche Entwicklungen vollzogen sich in Polen, das überwiegend Getreide, Holz, Flachs und Schiffseinrichtungen in die westlichen Regionen Europas lieferte und selbst holländische und englische Gewerbeerzeugnisse importierte. Ihren Niederschlag fanden die Verlagerungen der gewerblichen Schwerpunkte auch in den Zahlen zur Bevölkerungsdichte und zum Verstädterungsgrad. Bereits im Spätmittelalter hatte sich in Europa eine dichtbesiedelte Kernzone abgezeichnet, die von der Nordsee bis nach Sizilien reichte. Die wirtschaftliche, politische und demographische Krise in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, unter der vor allen Dingen Norditalien, Süddeutschland und Spanien zu leiden hatten, führte zu einer leichten Verlagerung dieser Kernzone nach Westen. Sie verlief nun von Südengland über die Niederlande (durchschnittliche Einwohnerdichte: 50 Einwohner je km2), Frankreich (34 Einwohner), das Rheinland (30–35 Einwohner) nach Italien (44 Einwohner je km2). Der längst begonnene Aufstieg Englands zeigt sich daran, dass um 1700 bereits ganz England dieser Kernzone der Bevölkerung angehörte. Um 1500 lebten 8,6 % der europäischen Bevölkerung in der Stadt, 1600 9,9 %, 1650 10,6 %, 1750 11 % und 1800 12,1 %. Wir haben es also mit einem relativ kontinuierlichen Prozess der Urbanisierung zu tun, der sich über drei Jahrhunderte erstreckte. In der obenskizzierten demographischen Kernzone Europas zwischen Nordsee, Atlantik und Mittelmeer kam es bis in das 17. Jahrhundert zu einem erheblichen Aufschwung der großen Städte.
kapitalistische Großbetriebe
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Gewerbliche Organisationsformen In den neuen großen, nach kapitalistischen Prinzipien geführten Großbetrieben des Bergbau- und Hüttenwesens tritt uns der neue kapitalistische Unternehmertyp entgegen. Der großgewerbliche Unternehmer kam meistens aus dem Fernhandel. Er besaß die Kenntnis der Rohstoff- und Absatzmärkte und Kapital, das er großräumig investierte. Nürnberger Großkaufleute bauten z.B. die Textilindustrie in Sachsen und Schlesien auf. In den montanindustriellen Großbetrieben gab es eine ausgeprägte Arbeitsteilung, ein starkes Lohngefälle und eine ausgebildete Leistungskontrolle. Eine neue Arbeiterschicht entstand, die nur von ihrem Wochenlohn lebte und deren Existenz ungesichert war. In den Bergwerksbezirken Sachsen, Böhmen, Ungarn, Tirol gab es bereits im 16. Jahrhundert bedeutende Arbeitermassierungen. Allein in Tirol waren 50.000 Personen im Bergbau beschäftigt. Neben den gelernten Knappen stand jetzt die neue Schicht der ungelernten Hilfsarbeiter. Die Arbeiterschaft in den Großbetrieben des Montanwesens wies alle wesentlichen Kennzeichen der modernen Arbeiterschaft auf: eine Scheidung in gelernte und ungelernte Arbeiter, Streiks we-
Die gewerbliche Entwicklung gen Lohn und Arbeitszeit, Wechsel des Arbeitsplatzes bei Konjunkturschwankungen und Wohnungsprobleme. Die entscheidende Organisationsform des Gewerbes in der Frühen Neuzeit blieb ungeachtet aller technologischen Errungenschaften und in die Zukunft weisenden neuen Kapitalgesellschaften nach wie vor aber das in Zünften organisierte Handwerk, in dem ein Meister mit seiner Familie, in der Regel ein bis drei Gesellen und ein oder mehreren Lehrlingen die Produktion trugen. Mit Ausnahme der zum Osmanischen Reich gehörenden Gebiete sowie Portugals, einiger italienischer Staaten und Russlands wurde das Handwerk überall in Europa von den Zünften beherrscht. In England erfuhren die Zünfte seit dem Zeitalter Karls II. jedoch einen Machtverlust. Darin hat man einen der entscheidenden Gründe für den Durchbruch der Industriellen Revolution in England gesehen. In Frankreich dagegen hielt der Finanzminister Ludwigs XIV., Colbert, das System der dort métiers genannten Zünfte aus fiskalischen Gründen aufrecht, und auch in Spanien wurde es aus dem gleichen Grunde beibehalten. Unter dem Druck der sich seit Ende des 16. Jahrhunderts abzeichnenden ökonomischen Krise schlossen sich die Zünfte weitgehend ab. Es kam zu einer teilweise extremen Zersplitterung und Spezialisierung, und der Kampf der Zunftmeister gegen jede nicht-zünftige Konkurrenz (Manufakturen, Freimeister, sog. Bönhasen, Stümper und Pfuscher) um die Erhaltung der „gerechten Nahrung“ gewann an Schärfe. Nahrungsprinzip Das alte Handwerk orientierte sich an der Vorstellung, dass die handwerkliche Tätigkeit einen auskömmlichen Lebensunterhalt der Meisterfamilie gewährleisten müsse. Der Erhaltung der „Nahrung“ diente der Kampf gegen unzünftlerische Außenseiter. Innerhalb der Zünfte wurde unliebsame Konkurrenz durch die Wanderpflicht der Gesellen, die Anfertigung eines teuren Meisterstücks, die Erhöhung der Aufnahmegebühren usw. ausgeschaltet. Derartige Maßnahmen erschwerten den Aufstieg der Gesellen zur Meisterschaft oder schoben ihn zumindest zeitlich hinaus. Bekämpft wurden auch Kollegen, die sich mit Hilfe technischer Innovationen einen Wettbewerbsvorteil verschaffen wollten. Im Kern ging es also bei dem Kampf um die „Nahrung“ um die Aufrechterhaltung des Besitzstandes der Meister.
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Handwerk nach wie vor zahlenmäßig dominierend Zünfte zwischen „Nahrungsprinzip“ und Gewerbefreiheit
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Da die Verhärtung der zünftlerischen Strukturen der Gesamtwirtschaft schadete, unterwarf der absolutistische Staat die Zünfte einer stärkeren Kontrolle und förderte mit den Manufakturen und dem Landhandwerk die Ausbreitung zunftfreier Berufe. Vielfach privilegierten die Fürsten sog. Freimeister, die außerhalb der Zünfte standen. In Frankreich verfügte Turgot, Minister unter Ludwig XVI., im Jahre 1774 die Aufhebung der Zünfte und die Gewerbefreiheit. Seine Ziele waren eine Senkung der Lebensmittelpreise und eine Öffnung des Arbeitsmarktes. Darüber hinaus wollte er zugleich auch das natürliche Recht auf Arbeit und auf Freiheit in der Wahl des Arbeitsplatzes durchsetzen und jedem Menschen die Entwicklung seiner persönlichen Fähigkeiten ermöglichen. Während der Französischen Revolution erklärte die Verfassunggebende Nationalversammlung am 2.3.1791 die Aufhebung aller Zünfte und schlug damit eine Bresche in das europäische Zunftwesen. Mit der napoleonischen
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Bedeutung der Manufakturen
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Eroberungspolitik erhielt die liberale französische Gewerbegesetzgebung im gesamten linksrheinischen Gebiet sowie dem Königreich Westphalen, dem Großherzogtum Berg und den hanseatischen Departements Gültigkeit. Kennzeichnend für den modernen absolutistischen Staat ist die Errichtung von Manufakturen, die Ende des 16. Jahrhunderts begann und sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zunehmend verbreitete, namentlich in Frankreich unter Colbert. Preußen, Österreich, Sachsen und Bayern behielten bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts die staatliche Lenkung der Industrie bei und gründeten zahlreiche Manufakturen, z.B. in der Porzellan- oder Wollfabrikation. Manufakturen Manufakturen waren zunftfreie, arbeitsteilige Betriebe mit in der Regel 10 oder mehr Beschäftigten. Die Handarbeit wurde durch einfache oder auch schon fortgeschrittene, von Wasserrädern oder Tieren angetriebene Maschinen unterstützt. Man unterscheidet zentralisierte und dezentralisierte Manufakturen. Die Werkund Rohstoffe gehörten ebenso wie die größeren Werkzeuge nicht mehr den Arbeitern, die dem Manufaktur-Unternehmer ihre Arbeitskraft gegen Lohn zur Verfügung stellten. Arbeitsteilung und Massenfabrikation führten zu einer kapitalistischen Durchdringung des gesamten Produktionsprozesses. Da der Arbeitsprozess in einfache Teilvorgänge zerlegt war, konnte in den Manufakturen auf vollausgebildete Handwerker verzichtet werden. Stattdessen griff man auf kurzfristig angelernte Arbeitskräfte, vor allem auf Frauen, Kinder und Waisen zurück, die sehr schlecht bezahlt und teilweise menschenunwürdig behandelt wurden. Nur durch niedrige Löhne war das eigene Gewerbe international konkurrenzfähig und konnte das gewünschte Geld ins Land bringen.
Häufig wurden Konzessionen an ausländische Unternehmer vergeben, die das entsprechende Know-how und nicht selten auch ihre eigenen Arbeiter mitbrachten.
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Ludwig XIV. erteilte 1685 dem Holländer van Robais folgende Konzession: Zit. nach: Politische Weltkunde I. Teil 3. Stuttgart 1972, S. 51f. Wir gestatten (…) dem genannten van Robais, sich in der Stadt Abbéville mit fünfzig holländischen Arbeitern niederzulassen und dort eine Manufaktur für feine Tuche einzurichten (…) und zu diesem Zweck dreißig Webstühle dort aufzustellen. Wir wollen, daß er und seine bei der Manufaktur tätigen ausländischen Gesellschafter und Arbeiter als wahre Franzosen eingestuft und angesehen werden. Sie werden auch während der Laufzeit dieser Konzession von allen übrigen Abgaben, Steuern, Soldateneinquartierungen, städtischen Diensten, Frondiensten und sonstigen öffentlichen Lasten befreit sein. Und damit sie in der gleichen Religionsfreiheit leben können, in der sie aufgewachsen sind, gestatten wir dem Unternehmer und seinen Gesellschaftern und Arbeitern, sich weiterhin zur angeblich reformierten Religion zu bekennen. Wir ordnen an, daß dem Unternehmer die Summe von 12.000 Livres bar bezahlt und ausgehändigt werde. Und damit der Antragsteller in voller Freiheit den Gewinn seiner Arbeit genießen kann, haben wir allen Arbeitern und anderen Personen verboten, während der Zeit von zwanzig Jahren diese Tuchsorte nachzuahmen.
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Die gewerbliche Entwicklung Neben dem zünftigen Gewerbe und den Manufakturen muss hier auf eine dritte Organisationsform des Gewerbes hingewiesen werden, die seit dem 16. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung gewann: die gewerbliche Produktion auf dem flachen Lande, die für überregionale und internationale Märkte produzierte. Die Verlagerung der gewerblichen Produktion auf das Land (die sog. Proto-Industrialisierung) im Rahmen des Verlagssystems brachte erhebliche Vorteile mit sich: auf dem Lande wurde die Produktion niedriger versteuert, war von einschränkenden Zunftbestimmungen frei und profitierte vor allem von den niedrigeren Löhnen, die teilweise um die Hälfte unter denen in der Stadt lagen. Mit der Verlagerung des Gewerbes auf das Land kam es zu einer „Externalisierung der Arbeitskosten“ (W.J. Kriedte): Auf dem Lande waren die zahlreichen unterbäuerlichen Produzenten, deren kleiner Landbesitz nicht zu ihrer Ernährung ausreichte, auf heimgewerblichen Nebenverdienst angewiesen und den Verlegern weitgehend schutzlos ausgeliefert, so dass diese niedrige, nicht existenzsichernde Löhne zahlen konnten. Der Verleger lieferte das Rohmaterial, setzte Löhne, Preise und Fertigungstermine fest und holte lediglich das fertige Produkt ab, um es auf eigene Rechnung zu verkaufen. Das Risiko von Konjunkturschwankungen und Absatzstockungen war voll und ganz auf die heimgewerblich produzierenden „Verlegten“ abgewälzt. Häufig gehörte dem Verleger auch der Webstuhl, oder die Produzentenfamilien hatten sich bei ihm für den Kauf eines Webstuhls verschulden müssen, was ihre ökonomische Abhängigkeit noch erhöhte. Externalisierung, externer Effekt Ein externer Effekt liegt vor, wenn jemand aus der Produktion oder dem Konsum eines Gutes Nutzen zieht, ohne dass er dafür bezahlen muss (z.B. für Umweltbelastungen durch die Produktion). Externalisierung bedeutet in diesem Zusammenhang die Abwälzung von Kosten, die bei der Produktion stehen, auf Dritte oder die Allgemeinheit.
Merkantilismus Ehe sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts liberale Ideen artikulierten, stand die Wirtschaftspolitik vieler europäischer National- und Territorialstaaten seit der Zeit Ludwigs XIV. (1661–1715) im Zeichen einer merkantilistischen Politik, wie sie in Frankreich von Colbert praktiziert wurde. Der Merkantilismus versprach eine staatliche Machtsteigerung durch wirtschaftliche Expansion und entsprach damit den Interessen des sich seit dem 16. Jahrhundert herausbildenden frühmodernen Staates. Jean Baptiste Colbert legte in einer Denkschrift am 3. August 1664 dem Conseil de Commerce Ludwigs XIV. folgende Überlegungen vor: Zitiert nach: Geschichte in Quellen. Bearb. v. F. Dickmann. Bd. 3. München 1966, S. 448f.
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gewerbliche Produktion auf dem flachen Lande (Protoindustrialisierung)
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Merkantilismus und absolutistischer Staat
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Ich glaube, man wird ohne weiteres in dem Grundsatz einig sein, daß es einzig und allein der Reichtum an Geld ist, der die Unterschiede an Größe und Macht zwischen den Staaten begründet. Was dies betrifft, so ist es sicher, daß jährlich aus dem Königreich einheimische Erzeugnisse (Wein, Branntwein, Weinessig, Eisen, Obst, Papier, Leinwand, Eisenwaren, Seide, Kurzwaren) für den Verbrauch im
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Ausland im Wert von 12 bis 18 Millionen Livres hinausgehen. Das sind die Goldminen unseres Königreiches, um deren Erhaltung wir uns sorgfältig bemühen müssen. (…) Je mehr wir die Handelsgewinne, die die Holländer den Untertanen des Königs abnehmen, und den Konsum der von ihnen eingeführten Waren verringern können, desto mehr vergrößern wir die Menge des hereinströmenden Bargeldes und vermehren wir die Macht, Größe und Wohlhabenheit des Staates.
Der Merkantilismus ging von der Annahme aus, der Reichtum eines Landes hänge von seinen Geld- und Edelmetallvorräten ab. Länder, die keine eigene Gold- oder Silberförderung hatten, oder deren Kolonien wie die französischen, englischen oder holländischen nur wenig Gold oder Silber lieferten, waren bestrebt, das begehrte Edelmetall durch Handelsüberschüsse zu erwirtschaften. Durch Importbeschränkungen und Ausfuhrförderung sollte eine aktive Handelsbilanz erreicht werden. Die Senkung der Importe und die Steigerung der Exporte bildeten deshalb zentrale Ziele merkantilistischer Wirtschaftspolitik. Instrumentarien zu diesem Ziel waren u.a.: die Verarbeitung aller Rohstoffe im eigenen Lande, Exportverbote für Maschinen, Abwanderungsverbote für Fachkräfte, Anwerbung ausländischer Spezialisten, Bevorzugung der exportintensiven Luxusindustrie, Monopolvergabe, Subventionen, Steuerfreiheit und Schutz der inländischen Produzenten durch hohe Importzölle oder Einfuhrverbote, Beschränkung der Einfuhr auf unverzichtbare Rohstoffe, Erwerb von Kolonien als Rohstofflieferanten und Absatzgebiete, Aufbau einer eigenen Handelsflotte, Förderung der Konkurrenzfähigkeit des eigenen Gewerbes durch Ausbau der Infrastruktur, Beseitigung der Binnenzölle und niedrige Arbeitslöhne. Die Abschaffung zahlreicher Binnenzölle und die Aufweichung zünftlerischer Beschränkungen senkten die Transaktionskosten.
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Transaktionskosten Transaktionskosten sind Kosten, die bei der Nutzung des Marktes anfallen oder auch Anbahnungs-, Kontroll- und Informationskosten, die bei der Leistungserstellung entstehen.
Der Merkantilismus ging von der Unveränderlichkeit des Handels- und Geldvolumens aus. Demnach war der Handel, der die Form eines ständigen Wirtschaftskrieges annahm, ein Nullsummenspiel: ein Land konnte nur auf Kosten eines anderen profitieren. Um einen Handelsbilanzüberschuss zu erzielen, hielt man ausländische Manufakturwaren durch hohe Schutzzölle vom eigenen Markt fern und ließ dem eigenen Gewerbe Subventionen, Monopolrechte, Steuerfreiheit usw. zukommen. Ausländische Facharbeiter wurden von vielen europäischen Staaten ins Land geholt, um den technischen Standard des Gewerbes zu heben. Im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation wurden die Zünfte 1731 durch einen sog. Reichsschluss der Aufsicht des jeweiligen Landesherrn unterstellt. Vor allem Friedrich Wilhelm I. in Preußen verwirklichte diese Bestimmungen. Um eine echte Wettbewerbssituation zu schaffen, privilegierte er tüchtige Fremde zu sog. Freimeistern, die außerhalb der Zünfte standen.
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Handel und kommerzielle Organisation
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Die Fürsten griffen auch sonst reglementierend in die Gewerbe ein und betätigten sich teilweise sogar selbst als Unternehmer. Insbesondere die stärker gewinnorientierten evangelischen Fürsten entfalteten im 16. und 17. Jahrhundert oftmals ausgeprägte wirtschaftliche Aktivitäten. Gute Beispiele sind der schwedische König Gustav Wasa, Kurfürst August von Sachsen oder auch der im Montanbereich besonders engagierte Herzog Julius von Braunschweig-Wolffenbüttel. Theoretiker des Merkantilismus betonten die Bedeutung der Kolonien als Garanten von Wohlstand und nationaler Macht. Wenn sie vielleicht auch keine Edelmetalle lieferten, so doch möglicherweise Güter, die im Lande selbst nicht hergestellt und, manchmal nach Weiterverarbeitung im eigenen Land, ins Ausland weiterverkauft (re-exportiert) werden konnten. Zucker und Rum aus Westindien oder Tabak aus Virginia hatten z.B. für den englischen Re-Export eine erhebliche Bedeutung. Die merkantilistische Politik war im Allgemeinen nur von mäßigem Erfolg: Frankreich, das bevölkerungsreichste und mächtigste Land Europas, war am Ende der Regierungszeit Ludwigs XIV. nahezu bankrott. Auf der anderen Seite standen die erfolgreichen Niederländer, deren Abhängigkeit vom Außenhandel sie zu einem Hort des Freihandels werden ließ. Statt sich einer protektionistischen Handelspolitik zu befleißigen, begrüßten die Niederländer Kaufleute aller Nationen in ihren Städten.
5. Handel und kommerzielle Organisation Die Strukturen des neuen Welthandelssystems Der Handel war der expansivste Sektor der frühneuzeitlichen europäischen Wirtschaft. Im Gefolge der Entdeckungsreisen und der kommerziellen Durchdringung der Welt nahm das Volumen des internationalen Fernhandels um ein Vielfaches schneller zu als die europäische Bevölkerung. Für das 16. Jahrhundert bringt man diesen Sachverhalt gern mit dem Begriff der „kommerziellen Revolution“ zum Ausdruck. Die Zunahme der kommerziellen Aktivitäten betraf sowohl den Außenals auch den Binnenhandel. Einen besonderen Aufschwung nahm der zunächst von den Portugiesen, danach von den Holländern und Engländern dominierte Kolonialhandel. Der spektakuläre Überseehandel darf aber nicht den Blick dafür verstellen, dass der Handel innerhalb Europas seinem Volumen nach viel bedeutsamer war. Der Seeverkehr innerhalb Europas übertraf den überseeischen Verkehr um ein Mehrfaches. Allein schon zwischen Nord- und Ostsee fuhren weitaus mehr Schiffe als nach Amerika und Asien. Die Auswirkungen betrafen Handel und Gewerbe gleichermaßen. Der erhöhte Bedarf an hochseetüchtigen Schiffen führte zu einer Verdichtung der Handelsbeziehungen der Holländer und Engländer mit Osteuropa. Die Holz-, Hanf- und Pechlieferungen für den Schiffbau machten Russland zu einem wichtigen Handelspartner. Während die am Atlantik gelegenen westeuropäischen Mächte ihre Kolonien durchdrangen, eroberte sich Russland mit Sibirien ebenfalls ein riesi-
Verlagerung des wirtschaftlichen Schwerpunktes an den Atlantik
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Die europäische Wirtschaft in der Frühen Neuzeit
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die Strukturen des künftigen europäischen Welthandelssystems entstehen
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ges Territorium. Allerdings öffnete sich in der Frühen Neuzeit die Schere zwischen Ost- und Westeuropa weiter. Das Pro-Kopf-Einkommen Osteuropas ereichte 1700 nur noch 55 % des westeuropäischen, obwohl die osteuropäischen Staaten wie Polen und Russland seit Ende des 15. Jahrhunderts die Getreideversorgung Westeuropas übernommen hatten und durch die Hanse sowie die holländischen Kaufleute in das westeuropäische Wirtschaftssystem integriert worden waren. Der Exportboom hatte aber keine gewerbliche Entwicklung zur Folge, da die Gewinne beim Adel verblieben. Die westeuropäische Getreidenachfrage endete zudem gegen Ende des 17. Jahrhunderts. Russland wurde erst Ende des 17. Jahrhunderts durch englische Kaufleute für den europäischen Handel erschlossen, und die große Mehrheit der Arbeitskräfte blieb leibeigen. Auch die gewerbliche Produktion beruhte auf dieser Basis. Mit den Entdeckungsreisen und dem Aufstieg der Kolonialmächte am Atlantik trat eine Verlagerung der Verkehrs- und Handelswege nach Westen ein. Der Mittelmeerraum büßte seine alte Vormachtstellung im Welthandel ein, denn dieser verlagerte sich in den nordwesteuropäisch-atlantischen Raum und die Anrainerstaaten der Nordsee. Doch war der wirtschaftliche Niedergang Italiens im 16. und 17. Jahrhundert vor allem ein relativer, weniger ein absoluter. Venedig, die ehemalige ökonomische Vormacht Europas, konnte auch weiterhin ihren westeuropäischen Konkurrenten Portugal und Spanien erfolgreich Konkurrenz machen. Die Stadt vermittelte nach wie vor einen Teil des Orienthandels. Neben dem begehrten Pfeffer gelangten auch die anderen Produkte des Orients wie Teppiche, Zimt, Muskat, Seide, Perlen usw. nach wie vor über die innerasiatischen Landrouten ins Mittelmeergebiet. Auf der anderen Seite der italienischen Halbinsel konnte Genua seine kommerzielle Bedeutung sogar noch ausbauen: als Antwerpen im Gefolge des niederländischen Freiheitskampfes an Bedeutung einbüßte, wurde Genua zum wichtigsten Finanz- und Bankenzentrum Europas. Mit dem spanischen Staatsbankrott von 1557 begann „Genuas unauffällige Herrschaft über Europa“ (F. Braudel). Einer kleinen Gruppe von genuesischen Bankiers gelang es bis zum erneuten spanischen Staatsbankrott von 1627, den gesamten europäischen Zahlungs- und Verrechnungsverkehr in ihre Hand zu bringen und den Kapitalmarkt zu beherrschen. Im 16. Jahrhundert entstanden die grundlegenden Strukturen des zukünftigen, europäisch beherrschten Welthandelssystems. Dabei war die europäische Handelsbilanz mit Asien passiv. Die Europäer hatten nur wenig Produkte anzubieten, um gegen sie die Gewürze und andere begehrte Waren einzutauschen. Ein nicht geringer Teil des europäischen Handels war deswegen schlichtweg Raub und Plünderung. Begehrt bei den asiatischen Handelspartnern waren allenfalls Feuerwaffen und Munition, vor allem aber Gold und Silber, das den Europäern deshalb dazu dienen musste, das ständige Defizit im Handel mit Ostasien auszugleichen. Faktisch landete also ein großer Teil des von den Spaniern importierten Silbers in Ostasien. Die negative Handelsbilanz Europas mit Asien wurde erst nach der Eroberung Indiens durch England ausgeglichen. Der Handel der Portugiesen mit dem Fernen Osten war vom Staat organisiert und kontrolliert. Alle Gewürze mussten über die Casa da India in Lissa-
Handel und kommerzielle Organisation
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bon verkauft werden. Für die Regierung war der Gewürzhandel sehr lukrativ, er leistete aber keinen nachhaltigen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung des Landes. Der spanische Kolonialhandel war ebenfalls als Monopol der Krone organisiert, das durch die Casa de la Contratación (gegr. 1503) in Sevilla wahrgenommen wurde. Die Krone beanspruchte den fünften Teil von allen Edelmetallimporten. Zusammen mit den Steuern belief sich der Anteil der Krone auf 40 % des Gesamtwertes. Etwa die Hälfte des Wertes aller Edelmetallimporte nach Spanien wurde benötigt, um die Güter für die Rückfrachten einzukaufen. Spanien erzielte im Amerikahandel durch die Lieferung von Leinwand, Tuchen, Öl oder Wein einen hohen Außenhandelsüberschuss, doch kam dieser Warenhandel zunehmend anderen europäischen Ländern wie Frankreich oder den Niederlanden zugute, weil das spanische Gewerbe die Nachfrage nicht decken konnte. Es entstand ein asymmetrischer Weltmarkt, da die wirtschaftlichen Kernländer Europas im Nordwesten die gewerbliche Produktion nahezu ausschließlich für sich behaupteten und die peripheren europäischen oder überseeischen Regionen zu bloßen Rohstofflieferanten oder Konsumenten degradierten. Von Antwerpen nach Amsterdam Die in Lissabon bzw. Cádiz und Sevilla angelandeten Überseewaren wurden von dort nach Antwerpen verschifft. Antwerpen und die südlichen Niederlande profitierten bis zum niederländischen Unabhängigkeitskrieg von ihrer Zugehörigkeit zu Spanien. Antwerpen befand sich zudem in einer geographischen Mittellage im Schnittpunkt der europäischen Handels- und Warenströme. Die niederländisch-rheinländische Gewerbezone war auf den Import von Getreideüberschüssen aus den Ländern östlich der Elbe zur Ernährung ihrer dichten, schon weitgehend urbanisierten Bevölkerung angewiesen. Auch Spanien, Portugal und Italien sowie (je nach Ernteausfall) England benötigten diese Getreidezufuhren. Umgekehrt konnten die Ostseeländer und Osteuropa ihren Bedarf an gewerblichen Fertigwaren nicht selbst decken und importierten sie daher aus West- und Mitteleuropa. Daneben bezogen sie Luxus- und Kolonialwaren sowie Wein. Einen weiteren wichtigen Warenstrom bildete die von Spanien und England gelieferte Wolle, die in den Textilregionen zwischen Holland und Italien und zwischen Frankreich und Schlesien weiterverarbeitet wurde. Spanien musste Tuche und Metallwaren aus Frankreich, Holland und Mitteldeutschland beziehen. Waren im Mittelalter noch periodische Messen wie diejenigen in der Champagne üblich gewesen, so wurde mit der Ausbreitung der marktorientierten Gewerbeproduktion und der Ausdehnung des internationalen Handels Antwerpen nun für einige Jahrzehnte zum Zentrum des Welthandels und des innereuropäischen Warenaustausches. Hier gaben sich Kaufleute aus ganz Europa ein Stelldichein, gründeten ihre ständigen Niederlassungen und wickelten ihren internationalen Zahlungsverkehr ab, aus dem sich das Kreditgeschäft entwickelte. In Antwerpen wurden die Geschäfte mittels Wechseln oder Bankanweisungen auf Kreditbasis getätigt. Die Banken waren Privatunternehmen, an denen sich die großen Handelshäuser beteiligten. 1530 eröffnete Antwer-
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pen eine Börse „Für die Kaufleute aller Länder und Zungen“, wie es in der Aufschrift auf dem Börsengebäude hieß. Die Antwerpener Börse wurde zum zentralen Kapitalmarkt des Habsburgerreiches. Nicht nur die Kaufleute, sondern auch Könige und Fürsten nahmen ihre Dienste in Anspruch. Gleichzeitig entwickelte sich das Versicherungswesen, das die Risiken kaufmännischer Unternehmungen reduzierte. So gab es z.B. die Möglichkeit, Schiffsversicherungen gegen Piraten und Unwetter abzuschließen. Seit dem späten 16. Jahrhundert wurde die kommerzielle Szene Europas immer stärker von den Holländern geprägt. Das Amsterdamer Handelskapital beherrschte seit jener Zeit den Ostseeraum, die Kornkammer Europas, und seit dem 17. Jahrhundert dominierten die Niederländer auch den Handel an der Atlantikküste, bei dem in südlicher Richtung der Getreidehandel und in nördlicher Richtung der Salzhandel die bedeutendste Rolle spielten. Amsterdam war im 17. Jahrhundert das Handels- und Kreditzentrum der Weltwirtschaft. Infolge von drei englisch-holländischen Seekriegen wurden die Holländer bis gegen 1700 von England aus ihrer Führungsposition verdrängt. Dennoch behielten sie weiterhin eine starke Stellung, vor allem im Indienhandel.
der Aufstieg der Fugger
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Die oberdeutschen Handelshäuser Die italienischen Kaufleute konnten ihre Führungsposition noch bis in die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts behaupten, danach dominierten neue Handelsdynastien aus Nürnberg und Augsburg. Diese konnten ihre niederländischen, südfranzösischen und italienischen Geschäftsverbindungen nutzen, um sich auf den neuen überseeischen Märkten wichtige Positionen zu sichern. Die Oberdeutschen drangen zunächst von Lissabon in das portugiesische Überseegeschäft ein. Dabei spielten die Nürnberger Kaufleute anfangs die zentrale Rolle. Bis der portugiesische König Manuel (1495–1525) sich die Ostindienroute als königliches Monopol vorbehielt, beteiligten sich oberdeutsche Handelshäuser wiederholt an den portugiesischen Ostindienexpeditionen. Danach wandte sich ihr Interesse stärker der Neuen Welt, insbesondere Brasilien, zu. Das bekannteste oberdeutsche Handelshaus waren die Augsburger Fugger. Der erste namentlich bekannte Fugger war ein einfacher Weber. Seine Nachkommen vollzogen dann den Schritt zu Verlegern im Wollgewerbe und in den Großhandel mit Seide und Gewürzen mit eigenem Warenlager in Venedig. Jakob Fugger II. („der Reiche“, 1459–1525) hatte Niederlassungen in Ungarn, Polen, Italien, Spanien, Lissabon, London und Antwerpen. Die Fugger kontrollierten faktisch von Lissabon bzw. Antwerpen aus die Verteilung der Gewürze in ganz Mitteleuropa. Sie tauschten die Gewürze gegen Silber ein, mit dem sie die Gewürze in Asien bezahlten. Die Fugger stiegen in großen Stil ins Bankgeschäft ein, indem sie verzinsliche Geldeinlagen annahmen, mit Wechseln handelten und die Monarchen Spaniens und Portugals finanzierten (deren mehrfache Staatsbankrotte schließlich erheblich zum Niedergang der Fugger beitrugen). Als Sicherheit für ihre Kredite erlangten die Fugger die Kontrolle über den Tiroler Silberund Kupferbergbau und den Kupferbergbau von Ungarn.
Handel und kommerzielle Organisation
In einem Brief an Kaiser Karl V. erinnerte Jakob Fugger den Kaiser 1524 an seine Verbindlichkeiten Zit. nach: Eugen Ortner: Glück und Macht der Fugger. Bergisch Gladbach 1979, S. 277ff.
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Allerdurchlauchtigster, großmächtigster römischer Kaiser, allergnädigster Herr! (…) Es ist allgemein bekannt und liegt offen zutage, daß Ew. Majestät die römische Krone ohne mich nicht erlangt hätten (…) Inzwischen sind Ew. kais. Majestät mir die Summe, die Ew. kais. Majestät mit mir auf dem Wormser Reichstag verrechnet haben, schuldig geblieben (…) Ich selbst muß von diesem, damals anderweitig aufgebrachten Gelde Zinsen zahlen, … doch habe ich bisher nichts erhalten. Als Grund geben sie an, sie hätten keinerlei Einkünfte aus ihren Landen. Demnach ist meine untertänige Bitte an Ew. kais. Majestät, Sie möge meine untertänigen Dienste, die Ew. kais. Majestät zu hohem Nutzen gediehen sind, gnädig bedenken und (…) veranlassen, daß mir meine ausstehende Summe Geld samt den Zinsen ohne längeren Verzug entrichtet und bezahlt wird.
Im Wettlauf mit den Portugiesen um die Auffindung der Molukken, d.h. der Inselgruppen von Amboina bis Neuguinea, hob die spanische Krone 1522 das bis dahin bestehende Verbot für Nichtspanier auf und forderte die deutschen Kaufleute auf, sich an der Beschaffung der Fracht und der Ausrüstung der Schiffe zu beteiligen. Jakob Fugger investierte daraufhin 10.000 Dukaten, die Welser 2.000. Nachdem Karl V. 1529 zugunsten Portugals auf die Molukken verzichtet hatte, richtete sich das Interesse der deutschen Kaufleute stärker auf den karibischen Raum. Bereits 1525 hatten die Augsburger Welser ein Privileg erhalten, mit den überseeischen spanischen Besitzungen Handel zu treiben. Sie gründeten eine Faktorei in Santo Domingo und betrieben von dort aus ihr VenezuelaProjekt. Bis 1554 übten sie dort sogar als Gouverneure Souveränitätsrechte aus. Die Fugger erlangten 1531 das Recht, das ganze Gebiet zwischen der Magellanstraße und Chincha im heutigen Peru bis 200 Meilen landeinwärts und alle spanischen Inseln in diesem Gebiet zu besetzen. Allerdings unterblieb dann die Ratifikation des Vertrages durch den Kaiser. Handelsgesellschaften und Monopole Die ständige Ausweitung und Differenzierung des Marktes stellte erhöhte Anforderungen an die Kapitalkraft des Kaufmanns. Bei großen Projekten schloss man sich daher zu Handelsgesellschaften zusammen, deren Formen sehr unterschiedlich sein konnten (mit oder ohne zeitliche Befristung, Beschränkung auf eine einzelne Unternehmung usw.). In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bildeten englische und holländische Außenhandelsgesellschaften ein gemeinsames Kapital und erhöhten die Zahl der Teilhaber (Aktionäre). Zu nennen sind hier auf englischer Seite die Moskaukompanie (1555), die Levante-Kompanie (1581), die Ostindische Kompanie (1600) und die Afrika-Kompanie (1618), auf niederländischer Seite die Ostindische und die Westindische Kompanie (1602,
Vorformen der Aktiengesellschaft
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Die europäische Wirtschaft in der Frühen Neuzeit
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1621). Die Handelsgesellschaften und die Bergwerksgesellschaften („Saigerhandelsgesellschaften“) stellten Vorformen der Aktiengesellschaft dar. Die sich im 16. Jahrhundert ausbreitende Geldwirtschaft hatte ihren Ursprung in Italien und fand von dort Eingang in Mittel- und Westeuropa. Die mit der kapitalistischen Mentalität verbundenen Phänomene wie die Kreditaufnahme gegen Zins und die Absprachen zur Gewinnsteigerung in Form von Kartellen und Monopolen trafen auf Widerstand im zünftigen Handwerk, niederen Adel oder auch bei Martin Luther, der Zins und Gewinn ganz im Sinne der mittelalterlich-reformatorischen Wirtschaftslehre als unmoralisch verurteilte. Der öffentliche Streit um die Monopole gelangte bis vor den Reichstag. Der Augsburger Jurist Konrad Peutinger (1465–1547) fertigte als Anwalt der Fugger ein berühmtes Gutachten an, in dem er die Eigengesetzlichkeiten des Wirtschaftslebens herausstrich und die Ansicht vertrat, dass die großbetriebliche Organisationsform einen verbilligten Mengenpreis zum allgemeinen Nutzen des Verbrauchers bewirke. Der Fernhandel kam seiner Meinung nach der Allgemeinheit zunutze, und die Unternehmerfreiheit erkannte Peutinger als Grundvoraussetzung einer gedeihenden Wirtschaft. Das Gutachten stellt ein bemerkenswertes frühliberales Grundsatzbekenntnis dar.
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Im Auftrag Jakob Fuggers für Kaiser Karl V. verfasstes Gutachten des Augsburger Humanisten Konrad Peutinger, mit dem einschränkende Gesetze des Reichstages gegen das Gewinnstreben der frühkapitalistischen Kaufleute verhindert werden sollten Zit. nach: Ernst W. Zeeden: Europa vom Ausgang des Mittelalters bis zum Westfälischen Frieden. Stuttgart 1981, S. 172f. Der erste öffentliche Ratschlag (Anm.: Von Gegnern einer freien Wirtschaft wie den Reformatoren Calvin, Zwingli, Luther und Melanchton) ist es ja, daß es weder einer Gesellschaft noch irgendeinem einzelnen Kaufmann erlaubt sein soll, mehr als (…) höchstens 50.000 Gulden Geschäftskapital zu haben, (…) und außerhalb seines Wohnsitzes mehr als drei Filialen zu besitzen, daß jeder einzelne Kaufmann zu jährlicher Rechenschaft gezwungen sein und daß es ihm nicht erlaubt sein soll, Kapital mit Zinsen (…) oder auf andere Weise zu vermehren usw. Es muß gewissenhaft vermerkt werden (…), daß, wenn nur in dieser einen, sehr strengen Art mit dem Kapital umgegangen werden darf, nicht nur die großen deutschen Handelsgesellschaften mit ihren Handelsgeschäften aus allen ausländischen Ländern und Provinzen vertrieben werden, sondern auch Reichtümer und Annehmlichkeiten, die etwa unserem deutschen Land und vielen Leuten hohen und niederen Stands zugefallen sind, verlorengehen würden.
Dennoch sprach der Reichsabschied von 1530 ein grundsätzliches Monopolverbot aus, das spekulative Aufkäufe und Ausschließlichkeitsverträge einschloss. Nach diesem Grundsatz verfuhr die Wirtschaftspolitik des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation bis zu dessen Ende im Jahre 1806 – allerdings mit einer bezeichnenden Ausnahme: auf die Augsburger Fugger und Welser, die für die Finanzen Karls V. unverzichtbar waren, fand der Beschluss keine Anwendung. Die Akten des Monopolprozesses verschwanden schließlich auf mysteriöse Weise in Spanien.
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Handel und kommerzielle Organisation Handelsgüter Während die Institutionen im Bereich von Finanzen und Gewerbe in vielem an spätmittelalterliche Vorformen anknüpfen und diese weiterentwickeln konnten, erfuhren die Handelsgüter in der Frühen Neuzeit einen grundlegenden Wandel. Waren im Hochmittelalter die Güter des Fernhandels in allererster Linie Luxusgüter für die Oberschichten gewesen, so führten der Bevölkerungsanstieg des 16. Jahrhunderts und die damit einhergehende Konzentration immer größer Teile der Bevölkerung in den Städten dazu, dass zur Versorgung dieser Bevölkerung nunmehr auch ganz gewöhnliche Artikel über größere Entfernungen gehandelt werden mussten, etwa Massenartikel wie Getreide, Holz, Fisch, Wein, Salz, Metalle, textile Rohstoffe und Tuche. Selbst Fleisch wurde in lebendiger Form über große Distanzen gehandelt: Dänische, ungarische und schottische Produzenten spezialisierten sich auf ihren großen offenen Weideflächen auf die Aufzucht riesiger Ochsenherden, die in alljährlichen Ochsenzügen in die städtischen Verbrauchszentren Norddeutschlands und der Niederlande, aber auch nach Süddeutschland und Norditalien getrieben wurden. Auch die im interkontinentalen Verkehr gehandelten Güter veränderten sich: Gewürze und Edelmetalle wurden allmählich von anderen Waren abgelöst, die im 17. und 18. Jahrhundert schließlich die traditionellen Edelmetallexporte nach Europa in den Schatten stellten. Dazu gehörten exotische Farbstoffe wie Indigo, dessen Verwendung europäische Textilwaren bunter und absatzfähiger machte, Kaffee aus Afrika, Kakao aus Amerika, Tee aus Asien, Kolonialwaren, die nun zu massenhaft verbreiteten europäischen Konsumartikeln wurden. Auch Baumwolle und Zucker, obwohl sie seit langem in Europa bekannt und ursprünglich aus dem arabischen und dem mediterranen Raum nach Amerika verpflanzt worden waren, wurden nun in größerem Maße produziert und gehandelt. Die vermehrte Produktion von Zucker auf den überseeischen Plantagen hatte dessen Verbreitung als Nahrungsmittel in allen Gesellschaftsschichten zur Folge. Die ursprünglich aus Indien gekommene Baumwolle führte auf dem Umwege über Amerika zur Entstehung einer Industrie, die zur Pionierindustrie der Industriellen Revolution werden sollte. Ihre Bedeutung behielten der Kupferhandel und der europäische Textilhandel. Beispielsweise wurde grobes schlesisches Leinen von der armen Landbevölkerung in Spanien und anderswo gekauft, diente aber auch in Übersee zur Einkleidung der Sklaven auf den Plantagen. Den leichteren Tuchen der new draperies erwuchs im 18. Jahrhundert eine starke Konkurrenz durch die billigen indischen Baumwollstoffe. Sie wurden teilweise als Halbfertigprodukte eingeführt und in Europa nach europäischem Geschmack appretiert und bedruckt. Die Zentren dieses Handels waren Amsterdam und London. Ein besonderes Handelsgut stellten afrikanische Sklaven dar. Nach dem Vertrag von Tordesillas (1494) war den Spaniern der direkte Zugang nach Afrika, das zur portugiesischen Interessensphäre gehörte, verwehrt. Karl I. schloss daher 1517 einen Vertrag mit flämischen Schiffern, der ihnen das Exklusivrecht verlieh, jährlich 4.000 Sklaven aus Afrika nach SpanischAmerika zu bringen. Damit begann die Geschichte der Asientos, der Monopolverträge für die Belieferung Spanisch-Amerikas mit Sklaven. Faktisch
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von Luxusgütern zu Massenartikeln
Sklavenhandel
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hatten die Niederländer von 1640 bis 1695 nach der weitgehenden Ausschaltung der Portugiesen aus dem Afrika-Handel den Asiento inne. Engländer und Franzosen waren allerdings ernstzunehmende Konkurrenten. Gravierende Auswirkungen auf den Sklavenhandel hatten die politischen Umschwünge im Gefolge des Spanischen Erbfolgekrieges (1701–1714): als 1701 der Enkel Ludwigs XIV. auf den spanischen Thron gelangte, entzog dieser der portugiesischen Guinea-Kompanie den Asiento und übertrug ihn auf die französische. Nach dem Sieg im Spanischen Erbfolgekrieg ging er gemäß dem Vertrag von Utrecht (1713) auf die englische South Sea Company über, die auf 30 Jahre das ausschließliche Recht erhielt, jährlich 4.800 Negersklaven nach Spanisch-Amerika zu liefern. Da diese Quote für den Bedarf der spanischen Siedler aber nicht ausreichte, durften die Engländer 25 Jahre lang eine erhöhte Zahl von Sklaven einführen, für die sie an den spanischen König nur eine reduzierte Abgabe entrichten mussten. Im 18. Jahrhundert wurde der Sklavenhandel von Engländern, Holländern und Franzosen mit afrikanischen Häuptlingen und Händlern an der Goldküste im Austausch gegen Glasperlen, Gewehre und billige Textilien betrieben.
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III. Die europäische Wirtschaft im Zeitalter der Industriellen Revolution 1. Der Aufstieg Englands und die Industrielle Revolution Begriff, Verlauf und Wesen der Industriellen Revolution Wie überall in Europa, so kam es auch in England in der Mitte des 18. Jahrhunderts zu einem historisch bis dahin unbekannten Bevölkerungswachstum. Hier war das demographische Wachstum (man spricht in diesem Zusammenhang von einer demographischen Revolution) sogar besonders ausgeprägt: allein zwischen 1740 und 1840 stieg die Bevölkerung in England und Wales von 5 auf 6 Millionen. Sehr stark war das Wachstum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in dem die englische Bevölkerung um 40 % anstieg. Die Ursache für das um 1740 einsetzende starke Wachstum lag zum größten Teil in der steigenden Geburtenrate begründet. Die Besserung der Einkommens- und Ernährungslage durch das vorindustrielle Wachstum und den Anstieg der Agrarproduktion führten zu vorgezogenen Heiraten, größerer Kinderzahl und besseren Überlebenschancen für Säuglinge. Damit einher ging der allgemeine Rückgang der Sterblichkeitsrate (insbesondere durch die Abnahme der Kindersterblichkeit), für die neben der Verbesserung der Ernährung auch der Rückgang von Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Typhus oder Pocken verantwortlich war. Allerdings betrug die Lebenserwartung um 1740 nur 34,6 Jahre. Sie stieg danach auf ca. 40 Jahre zu Beginn des 19. Jahrhunderts an. Aus einer Reihe von Gründen, die nachfolgend zu erläutern sind, führte dieses starke Bevölkerungswachstum in England nicht zu einer existentiellen Krise von Wirtschaft und Gesellschaft. Im Gegenteil: in England gelang zwischen 1740 und 1840 zuerst der dauerhafte Ausbruch aus der malthusianischen Wirtschaft und Gesellschaft. In diesem Zeitraum verdreifachte sich die englische Bevölkerung, während sich die wirtschaftliche Gesamtleistung vervierfachte. Erstmals in der Geschichte erwies sich der Produktionszuwachs als dauerhaft und unumkehrbar. Industrielle Revolution Mit dem Begriff Industrielle Revolution bezeichnet man den komplexen Prozess der Umgestaltung der vorindustriellen Wirtschaft, die von geringer Produktivität und tendenzieller Stagnation gekennzeichnet war, in eine Industriewirtschaft mit steigender Produktion, relativ hohem Lebensstandard und anhaltendem Wachstum. Dieser Transformationsprozess brachte grundlegende Veränderungen der wirtschaftlichen Organisationsformen, der Technologie und der Wirtschaftsstruktur mit sich.
Die traditionelle Sichtweise des Verlaufs der Industriellen Revolution folgte weitgehend den Zahlen von Phyllis Deane und W.A. Cole, die um 1780 eine deutliche Zäsur mit einem Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Wachstumsrate von weniger als 1 % auf über 2 % nahelegten. Nik Crafts interpretiert die Industrielle Revolution dagegen als Fortsetzung und Gipfelpunkt
die „demographische Revolution“
Ausbruch aus der „malthusianischen Falle“
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Interpretationen des Verlaufs der Industriellen Revolution
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Die europäische Wirtschaft im Zeitalter der Industriellen Revolution
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Kennzeichen der Industriellen Revolution
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einer jahrhundertelangen Entwicklung mäßigen Wachstums, das zwar um 1780 eine Beschleunigung erfuhr, aber mit 0,35 % pro Kopf der Bevölkerung im Zeitraum 1780–1801 nur 1/3 der älteren Schätzungen von Deane und Cole betrug. Bereits in den Jahrzehnten von 1700–1760 hat es nach Crafts ein Pro-Kopf-Wachstum von 0,31 % gegeben. Diese Zahlen stellen den dramatischen Charakter der Industriellen Revolution in Frage, wenngleich auch sie eine deutliche Beschleunigung des Wachstums um die Jahrhundertwende belegen. Immer mehr erscheint die Industrielle Revolution als ein Prozess von längerer Dauer, als Strukturwandel einer Wirtschaft, die auf der Grundlage der vorindustriellen Gewerbe seit längerem im Wachsen begriffen war. Nur allmählich (und je nach Branche unterschiedlich) schob sich die industrielle Produktionsweise neben die vorindustrielle und überlagerte diese. Dieser Prozess dauerte Jahrzehnte. Für viele landwirtschaftliche und handwerkliche Existenzen war ein radikaler Bruch ihrer Lebensverhältnisse gar nicht erkennbar. Noch 1861 waren z.B. 70 % aller Beschäftigten in Großbritannien in beruflichen Bereichen tätig, die vom technischen Wandel kaum erfasst worden waren. Worin bestand die Industrielle Revolution? Die Produktion verlagerte sich aus der sich selbst versorgenden Familienwirtschaft in die kapitalistische Unternehmung, in der spezialisierte Arbeitskräfte auf kapitalintensiven, d.h. technisierten Arbeitsplätzen für den nationalen oder internationalen Markt produzierten. Die technologische Entwicklung war gekennzeichnet durch die Verwendung von Maschinen, die durch nichttierische Energie angetrieben wurden, und durch den Einsatz neuer Rohstoffe (Kohle statt Holzkohle, Baumwolle statt Flachs, Eisen statt Holz). Die Veränderungen der Wirtschaftsstruktur bestanden in der Verlagerung der Produktionsfaktoren (Kapital und Arbeit) vom primären zum sekundären oder tertiären Sektor, in der zunehmenden Bedeutung der Investitionsgüter gegenüber den Konsumgütern und der Massenproduktion gegenüber dem Luxusgewerbe sowie in der Verlagerung der Produktionsstätten vom Lande in die Stadt. Sektor, Sektoren Die wirtschaftlichen Aktivitäten einer Gesellschaft lassen sich einteilen in den primären Sektor (Land- und Forstwirtschaft, Bergbau), den sekundären (Gewerbe, Industrie) und den tertiären Sektor (Dienstleistungen). Die Industrialisierung lässt sich in diesem Modell begreifen als ein überproportionales Anwachsen des sekundären gegenüber den anderen Sektoren der Volkswirtschaft.
In ihrem Kern könnte man den Prozess der Industrialisierung als einen Vorgang charakterisieren, in dessen Verlauf die volkswirtschaftliche Kapitalbildung stark ansteigt, d.h. ein immer größerer Teil des Sozialproduktes für Produktionsanlagen statt für Konsum aufgewendet wird. Um 1760 betrug die Investitionsquote in Großbritannien bereits 6 %. Bis in die 1820er Jahre stieg sie nur langsam an, um in den folgenden Jahrzehnten unter dem Einfluss des Eisenbahnbooms stark anzuwachsen. In den 1840er Jahren sparte Großbritannien 12 % und mehr seines Sozialproduktes und überschritt damit nach diesem Kriterium endgültig die Grenze zu einem entwickelten Industrieland.
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Der Aufstieg Englands und die Industrielle Revolution Investitionsquote Die Investitionsquote bezeichnet jenen Anteil der jährlichen Wirtschaftsleistung einer Volkswirtschaft (Bruttosozialprodukt, Volkseinkommen), der von öffentlichen und privaten Händen für die Erneuerung und den Ausbau des Anlagevermögens aufgewendet wird. Sie ist ein Gradmesser für wirtschaftliche Dynamik.
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Die Industrielle Revolution veränderte Wirtschaft und Gesellschaft nachhaltig. Mit dem Industriebürgertum und der industriellen Arbeiterschaft, die sich vor allem in den explosionsartig anwachsenden Städten zusammenballte, traten neue gesellschaftliche Gruppen auf den Plan. Die Armut, die schon in der vorindustriellen Gesellschaft vorhanden gewesen war, blieb auch unter den neuen Wachstumsbedingungen bestehen, ja wuchs sogar in neue Dimensionen hinein. Es dauerte noch weit bis in die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein, bis auch die Arbeiterschaft allmählich an dem angewachsenen gesellschaftlichen Wohlstand beteiligt wurde. Warum England? Wer die Industrielle Revolution verstehen will, wird fragen müssen, welche besonderen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und institutionellen Umstände und Vorzüge England befähigten, zu vermehrter Kapitalbildung zu gelangen und diese in eine grundlegende Umgestaltung von Produktion und Technologie zu überführen. Vermehrte Kapitalbildung ist natürlich in bereits relativ wohlhabenden Ländern leichter als anderswo. Bereits gegen Ende des 15. Jahrhunderts war England von der Rohwollproduktion zur Tuchherstellung übergegangen und damit zum Produzenten von Fertigwaren geworden. Der englische Handel weitete sich aus, und mit neuem Selbstbewusstsein versuchte das Land, sich aus seinen ökonomischen Abhängigkeiten zu befreien. Insbesondere die Deutsche Hanse und die Italiener hatten in hohem Maße von der zunehmenden Verschiffung englischer Tuche nach Antwerpen profitiert. Die Hanse genoss alte steuerliche Privilegien bei der Ein- und Ausfuhr von Tuchen, die sie in den Stand setzten, erfolgreich mit den Engländern zu konkurrieren. In der Überzeugung, dass italienische und Antwerpener Kaufleute in gemeinsamer Absprache den Kurs des Pfundes Sterling drückten, um auf diese Weise billiger an die Arbeit der englischen Weber zu gelangen, ergriff England eine ganze Reihe von Maßnahmen zum Schutze des eigenen Gewerbes und Handels. Die italienischen Kaufleute und Bankiers wurden ausgewiesen, die Privilegien der Hanse 1556 gekündigt, der Stalhof 1595 geschlossen. Gegen die Finanzmacht Antwerpens wurde 1566–1568 der spätere Royal Exchange gegründet. Auf gewerblichem Gebiet gab es bereits im 16. und 17. Jahrhundert zahlreiche zukunftsweisende Entwicklungen. So haben J.U. Nef und einige andere Autoren die Ursprünge der Industriellen Revolution bis in das 16. Jahrhundert verfolgt. Nef sieht eine entscheidende Beschleunigung des Industrialisierungsprozesses bereits für den Zeitraum zwischen 1540 und 1640. Ohne Frage kam es in der Zeit von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum englischen Bürgerkrieg zu einem beachtlichen gewerblichen Aufschwung, insbesondere im Kohlebergbau. Die englische Kohleproduktion stieg im 16. und 17. Jahrhundert von 200.000 t auf 3.000.000 t jährlich an und behob
günstige Voraussetzungen in Großbritannien
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Die europäische Wirtschaft im Zeitalter der Industriellen Revolution
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damit den angesichts der Holzverknappung drohenden Energieengpass der englischen Wirtschaft. Kopplungseffekte führten zu einer Belebung des Eisenbergbaus und der Eisenverhüttung. 1625 gab es bereits 100 Gebläsehochöfen in England, die jährlich 25.000 t Roheisen produzierten. Es kann kein Zweifel bestehen, dass England bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts, also Jahrzehnte vor der Industriellen Revolution, auf vielen Gebieten technologisch einen Spitzenplatz einnahm. Jedoch erfasste diese Entwicklung nur einen relativ kleinen Teil des Gewerbes und war noch nicht von großen technologischen Durchbrüchen begleitet. Vor allem aber war sie im Vergleich zu der späteren Entwicklung in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts noch nicht von einer Ausdehnung der landwirtschaftlichen Produktion sowie des nationalen und internationalen Güteraustausches flankiert. Dennoch haben Autoren wie David Landes oder Phyllis Deane völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass England am Vorabend der Industriellen Revolution bereits ein vergleichsweise beachtliches materielles Niveau erreicht hatte, das deutlich über dem Existenzminimum lag. Im Mittelalter noch ein Land mit einem unterdurchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen, lag England bereits um 1600 nach Holland und Italien an dritter Stelle. Nach Deane hat das Pro-Kopf-Einkommen Englands bereits Ende des 16. Jahrhunderts auf der Höhe zahlreicher Entwicklungsländer im Jahre 1965 gelegen. Um 1700 erwirtschaftete England ein doppelt so hohes Bruttoinlandsprodukt wie Holland, 1820 übertraf es Holland um das Siebenfache. Im gesamten Zeitraum von 1680 bis 1820 hatte England das größte Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens aller europäischen Länder zu verzeichnen. Auch die von der OECD veröffentlichte Studie Maddisons geht davon aus, dass Westeuropa als Ergebnis einer damals bereits mehr als 200 Jahre anhaltenden Kapitalakkumulation schon im späten 18. Jahrhundert relativ reich war (besonders gilt dies für Großbritannien). Zudem verfügte England über einige grundlegende sozialstrukturelle Besonderheiten und institutionelle Vorzüge, die der Ausbreitung gewerblicher und kommerzieller Aktivitäten förderlich waren. In diesem Zusammenhang muss zunächst an die kapitalkräftige englische Landwirtschaft erinnert werden. Die Produktivitätssteigerungen der Landwirtschaft setzten Arbeitskräfte für die Industrie frei und leisteten einen wichtigen Beitrag zur Kapitalbildung. In erster Linie dem Produktionszuwachs im landwirtschaftlichen Sektor war es zu verdanken, dass das Sozialprodukt mit dem rapiden Bevölkerungswachstum mithalten konnte. Nicht wenige der großen Grundbesitzer waren zudem daran interessiert, dass die Kohlen- und Eisenbergwerke auf ihren Ländereien mit Dampfpumpen wirksam entwässert und durch den Ausbau des Kanalsystems mit den städtischen Absatzmärkten verbunden wurden. Landwirtschaftliche Kapitalbildung kam auf diese Weise der industriellen Entwicklung zugute. Auf politisch-administrativem Gebiet zeichnete sich England durch eine Reihe wirtschaftsfördernder institutioneller Besonderheiten aus: Die Regierungen des 17. Jahrhunderts bauten eine gut funktionierende, berechenbare Verwaltung und ein objektives Rechtswesen auf. Die Eigentumsrechte waren gesichert. Die Praxis der Steuerpachten und des Ämterkaufs wurden Ende des 17. Jahrhunderts beendet, Ministerien für den Außenhandel, die
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Der Aufstieg Englands und die Industrielle Revolution
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Marine und die Finanzen eingerichtet. Das Parlament setzte sich aus aristokratischen, kapitalistisch denkenden Grundbesitzern und bürgerlichen Kaufleuten zusammen. Die Widerstände gegen eine kapitalistische Expansion waren in England bereits Ende des 17. Jahrhunderts gebrochen. Der französische Philosoph Voltaire lobte insbesondere die Vorzüge des englischen Steuer- und Regierungssystems gegenüber dem französischen (9. Brief aus seinen Lettres philosophiques). Zit. nach: Quellen zur Geschichte der Neueren Zeit. Hrsg. von G. Guggenbühl/H.C. Huber. Zürich 1976, S. 297.
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Ein Mann ist hier keineswegs von der Errichtung gewisser Steuern befreit, weil er ein Edelmann oder Priester ist; alle Auflagen werden vom Unterhause geregelt (…). Wenn der Vorschlag von den Lords bestätigt und vom König gutgeheißen worden ist, dann zahlt eben jedermann, und zwar nicht nach einem Range, was albern ist, sondern gemäß seinen Einkünften. Hier gibt es weder ein Taille noch sonst eine willkürliche Kopfsteuer, sondern eine dem wirklichen Wert des Grundeigentums entsprechend Abgabe. (…) Die Grundsteuer bleibt sich immer gleich, obwohl der Bodenertrag gestiegen ist; so fühlte sich niemand bedrückt (…). Der Bauer sieht seine Füße nicht von Holzschuhen zerschunden. Er ißt Weißbrot, ist gut gekleidet; er scheut sich weder seinen Viehstand zu vermehren, noch auch sein Dach mit Ziegeln einzudecken, da er keine Angst haben muß, deswegen im folgenden Jahr mehr Steuern zahlen zu müssen.
Unter den Besonderheiten der englischen Wirtschaft und Gesellschaft ist nicht zuletzt auch die Schwäche der Zünfte zu nennen. Die englischen Zünfte lösten sich früher auf als auf dem Kontinent. Vor allem aber wanderten zahlreiche hochqualifizierte Handwerker und Berg- und Hüttenleute nach England ein, weil sie in ihrer Heimat wirtschaftliche und religiöse Schwierigkeiten hatten. Allein nach 1685, als Ludwig XIV. das Toleranzedikt gegenüber den Hugenotten aufhob, kamen Tausende von Hugenotten nach England. Sie waren besonders vertraut mit fortschrittlichen gewerblichen Techniken der französischen Luxusgüterindustrie und fanden deshalb willkommene Aufnahme. In England entwickelte sich unter diesen günstigen Verhältnissen schon früh ein sachkundiger Facharbeiterstamm. Die Bedeutung des Außenhandels und der Kolonien Nicht zuletzt trug der Aufbau einer weltweiten Handelshegemonie zu dem britischen Aufstieg bei, wenngleich die Bedeutung dieses Faktors im Einzelnen sehr umstritten ist, wovon noch zu reden sein wird. Unter Cromwell erfolgte 1651 die Verabschiedung der Navigationsakte, die den holländischen Zwischenhandel ausschalten sollte. Sie bestimmte, dass Güter aus Europa nur auf englischen Schiffen oder auf Schiffen des Erzeugerlandes nach England importiert werden dürften. Frisch- und Salzfische durften nur eingeführt werden, wenn sie von englischen Schiffen gefangen bzw. konserviert worden waren, und ihre Verarbeitung musste durch Engländer geschehen. Ziel der bis 1849 geltenden Navigationsakte war die Ausschaltung der ausländischen Konkurrenz und die feste Anbindung der überseeischen Gebiete an die Wirtschaft des Mutterlandes. Sie bildete den Kern der besonderen englischen Spielart des Merkantilismus, der sich auf die Schaffung geeigne-
Aufstieg Englands zur führenden Seeund Handelsmacht
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Die europäische Wirtschaft im Zeitalter der Industriellen Revolution
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ter Rahmenbedingungen für die Wirtschaft und die Sicherung des Handels beschränkte und nicht direkt in das Gewerbe eingriff. Die Navigationsakte und sechs Jahrzehnte militärischer Konflikte mit den Holländern und Spaniern versetzten die Briten in die Lage, Wettbewerber erfolgreich aus internationalen Märkten zu verdrängen. Nach dem zweiten Seekrieg 1664–1667 verloren die Holländer Neu Amsterdam (New York) und Delaware an die Engländer. Der See- und Kolonialkrieg mit Spanien (1655–1658) brachte den Engländern die lukrative Zuckerinsel Jamaika ein. In der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts überflügelte die englische Flotte die holländische. Mit dem Frieden von Utrecht (1713) stieg England zur weltbeherrschenden Handelsmacht auf. Im Asiento von 1713 nach dem Spanischen Erbfolgekrieg konnte England die Öffnung des spanisch-amerikanischen Marktes erreichen, den es allen übrigen europäischen Ländern verschloss. Es gelang den Briten, die führende Rolle im Sklavenhandel zwischen Afrika und der Karibik zu erlangen und in Übersee ein Imperium zu erwerben, das um 1820 bereits 100 Mill. Menschen umfasste. Die britische East India Company begnügte sich notgedrungen zunächst mit Vorderindien, da ihr die Holländer den indonesischen Raum versperrten. Bis gegen 1750 verfügte sie nur über wenige Niederlassungen in Bombay, Madras und Kalkutta. Seit 1740 herrschte in Indien zwischen Franzosen und Engländern ein Kleinkrieg. Robert Clive gelang die Eroberung des Südostens der indischen Halbinsel. Er eroberte 1757 Kalkutta. Seitdem herrschte England über Bengalen, obwohl formell der Großmogul als Oberherr anerkannt wurde. Der Siebenjährige Krieg (1756–1763) war für die Briten in erster Linie ein weltweiter Kampf um Ressourcen und Märkte. Der Friede von Paris, der das Ende des auf der weltweiten Bühne ausgetragenen französisch-englischen Konfliktes markierte, bedeutete einen weltpolitischen Sieg für die Engländer. Die Franzosen mussten Neuschottland, Kanada und Louisiana östlich des Mississippi abtreten und behielten lediglich einige Westindische Inseln und die Fischereistützpunkte St. Pierre und Miquelon. Das erste französische Kolonialreich war fast vollständig zerschlagen. Die direkte Herrschaft der britischen East India Company (1757–1837) ließ einen großen Teil des Vermögens der indischen Herrscher in die Taschen der Bediensteten der Company fließen und verminderte das indische Pro-Kopf-Einkommen. Welche Rolle die aus Indien gezogenen erheblichen Gewinne der Briten für die Industrielle Revolution spielten, ist allerdings sehr umstritten. Ohne Frage aber hatten die indischen Textilien eine große Bedeutung für die Etablierung und Aufrechterhaltung des auf Sklavenarbeit beruhenden Plantagensystems in der Karibik: im 18. Jahrhundert machten sie wertmäßig in etwa 1/3 der Waren aus, die englische Händler in Afrika gegen Sklaven eintauschten. Der nach 1713 immer deutlicher werdende Aufstieg Englands zur führenden Welthandelsmacht beendete auch die Vorherrschaft des Amsterdamer Bankplatzes. Zu einem wesentlichen Eckpfeiler des britischen Aufstiegs entwickelte sich das 1560/61 durch Königin Elisabeth I. stabilisierte Pfund, das bis 1920 bzw. 1931 den gleichen Wert behielt! Diese beispiellose Währungsstabilität sicherte dem Land Kredit, indem es den Darlehnsgebern der Krone Sicherheit bot. Die 1694 auf Aktienbasis gegründete Bank of England
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Der Aufstieg Englands und die Industrielle Revolution
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gab erstmals Banknoten aus, die nicht mehr vollständig durch Edelmetallreserven gedeckt sein mussten. Anfang des 18. Jahrhunderts standen einer umlaufenden Papiergeldmenge von 15 Mill. Pfund nur Edelmetallreserven von 12 Mill. gegenüber. Damit gelang eine erhebliche Geldschöpfung. Die englische Industrie profitierte erheblich von dem Aufstieg des Finanzplatzes London. Sie konnte von den Banken zu günstigen Bedingungen dauerhaft Kapital erhalten. Einige Autoren wie E. Jones und K. Pomeranz betonen in ihrer Sicht der Industriellen Revolution sehr stark die Möglichkeiten Englands, als führende See- und Handelsmacht auf weltwirtschaftliche Peripherien in den Kolonien und deren Ressourcen zurückzugreifen. In dieser Sicht versetzte die neue wirtschaftliche Peripherie in der Neuen Welt (Nordamerika, Karibik) England in die Lage, eine immer größere Menge gewerblicher Güter gegen Primärgüter aus der Neuen Welt einzutauschen. Die auf den englischen Plantagen in der Karibik eingesetzten Sklaven wurden in Afrika vor allem im Tausch gegen Textilien erworben. Die karibischen Zuckerplantagen verwendeten 50 % der Erlöse aus ihrem Zuckerexport zum Erwerb von gewerblichen Produkten. Das Getreide und das Holz, das die Karibik benötigte, kamen aus dem britischen Nordamerika, das mit den Erlösen seinerseits europäische Gewerbeprodukte kaufen konnte. Da Großbritannien somit keine Nahrungsmittel in seine karibischen Kolonien liefern musste, konnte es sich ganz auf die kapitalintensive gewerbliche Produktion verlegen. Ohne Frage erfuhren die internationalen Märkte um die Mitte des 18. Jahrhunderts eine erhebliche Ausdehnung. Der Anstieg des Exportgewerbes erreichte im Zeitraum 1740–1770 erhebliche Ausmaße und erfasste zahlreiche gewerbliche Bereiche. In den frühen 1770er Jahren betrug der englische Export von Fertiggütern das Achtfache seines Niveaus zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Eine entscheidende Bedeutung hatte in diesem Zusammenhang, dass es den Engländern gelang, die kommerziell lange Zeit führenden Holländer vom nordamerikanischen Markt auszuschließen. Amerika (einschließlich Westindien) wurde zum wichtigsten Markt für Eisen- und Messingprodukte, Wolltuch und später auch Baumwollwaren. Ende des 18. Jahrhunderts gingen rund 32 % der Exporte nach Nordamerika und 38 % nach Westindien. Die beeindruckenden Steigerungsraten des Außenhandels, der von 1740 bis 1770 um durchschnittlich 1,7 % jährlich und von 1770 bis 1800 um 2,6 % wuchs, sollten allerdings nicht dazu verleiten, die Bedeutung des Außenhandels und der Kolonien zu überschätzen. Der Anteil der Exporte an der industriellen Produktion im Jahr 1800 betrug 34,5 %. 2/3 der Industrieproduktion wurden also auf dem Binnenmarkt abgesetzt. Bezogen auf das gesamte Sozialprodukt machten die Exporte sogar nur 15 % aus. Neuere Forschungsergebnisse sehen daher vor allem in der Ausweitung des Binnenmarktes die Triebkraft der Industriellen Revolution. Danach führten eine stark wachsende Bevölkerung, eine produktive Landwirtschaft und das Anwachsen des Durchschnittseinkommens von 9 Pfund Ende des 17. auf 12 bis 13 Pfund Ende des 18. Jahrhunderts zu vermehrter Nachfrage nach gewerblichen Gütern. Mit anderen Worten: dem industriellen Wachstum ging ein vorindustrielles voraus, das wesentlich auf der Binnennachfrage beruhte. Das Wachstum des Binnenmarktes erforderte vermehrte Importe von Rohbaumwolle aus Nordamerika, Zucker aus der Karibik, Getreide und
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Die europäische Wirtschaft im Zeitalter der Industriellen Revolution
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Holz aus dem Ostseeraum. Die Ausdehnung des Binnenmarktes und die Bedeutungszunahme des Außenhandels waren eng miteinander verknüpft. In diesem Zusammenhang bildete Englands Dominanz als Handels- und Seemacht, die politisch-militärisch flankiert wurde, ohne Frage einen Faktor, der die Industrielle Revolution stark begünstigte.
die Baumwollindustrie als Leitsektor der englischen Industrialisierung
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Die Baumwollindustrie als Leitsektor Die Wiege der Industriellen Revolution stand im südlichen Teil der Grafschaft Lancashire, wo seit dem 16. Jahrhundert eine eng mit der Landwirtschaft verbundene und in deren saisonalen Arbeitsrhythmus eingefügte heimgewerbliche Baumwollproduktion existierte. In Lancashire gab es schon in der Mitte des 18. Jahrhunderts eine beachtliche Steigerung der Baumwollproduktion; zwischen 1740 und 1770 wuchs sie um jährlich 2,8 %. Die Produktion erfolgte überwiegend in Heimarbeit. Die stark ansteigende Nachfrage auf den Binnen- und Außenmärkten konnte mit den herkömmlichen Produktionsmethoden bald nicht mehr befriedigt werden. Sie erforderte den Übergang zur Massenproduktion auf neuer technologischer Grundlage. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts trug der Produktionszuwachs jährlich 8,5 %, und es erfolgte der Übergang von der ländlichen Hausindustrie zum Fabriksystem. Die Baumwollindustrie entwickelte sich zum Leitsektor der englischen Industrialisierung. Leitsektor Die einzelnen Branchen und Wirtschaftszweige nahmen in der Industrialisierung eine sehr unterschiedliche Entwicklung, d.h. der Wachstumsprozess verlief ungleichmäßig. Walt W. Rostow hat daraus seine Theorie der „Führungssektoren“ entwickelt. Führungssektoren sind solche, die aufgrund ihrer expansiven Dynamik die gesamtwirtschaftliche Entwicklung vorantreiben. Dies geschieht durch die Kopplungseffekte mit den vor- und nachgelagerten Branchen. So benötigte die Baumwollindustrie Maschinen, so dass die Eisenindustrie und der Maschinenbau von der starken Expansion der Baumwollindustrie profitierten. Die damit verbundene Einkommenssteigerung vergrößerte wiederum die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und kam damit allen Sektoren der Volkswirtschaft zugute.
Zwischen 1780 und 1790 wuchs die Produktion der Baumwollindustrie durchschnittlich jährlich mit 12,76 % an. Das industrielle Wachstum von etwa 6–7 % nach 1815 war zu einem erheblichen Teil auf die Expansion des Baumwollsektors zurückzuführen. Wert der Baumwollverarbeitung in England von 1750 bis 1899 (in 1.000 Pfund, jährlicher Durchschnitt) 1750–1759
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2.820
1770–1779
4.797
1790–1799
28.645
1810–1819
96.339
1830–1839
302.000
1850–1859
759.000
1870–1879
1.244.000
1890–1899
1.556.000
Der Aufstieg Englands und die Industrielle Revolution Die Baumwollindustrie konnte sich entfalten, weil sie die brachliegenden oder unproduktiv genutzten Ressourcen des Landes einer produktiveren Verwendung zuführte. Wegen der vorausgegangenen Veränderungen der Agrarverfassung im Zuge der enclosures und aufgrund der allgemeinen Bevölkerungsvermehrung standen billige Arbeitskräfte in reichlicher Zahl zur Verfügung, insbesondere erlaubte die Baumwollindustrie die Nutzung der Arbeitskraft von Frauen und Kindern bei anfänglich nur geringen Anforderungen an das Vorhandensein von Kapital. Eine wichtige Rolle beim Ausbau der Baumwollfabrikation spielte die Importsubstitution, d.h. der Ersatz importierter Baumwollgewebe durch einheimische Produkte. Reine Baumwollgewebe aus importierten Baumwollgarnen konnte man im vorindustriellen Europa nicht in der Qualität der indischen Baumwollstoffe herstellen, da die heimischen Weber nicht die notwendigen Fertigkeiten hatten. Um das heimische Textilgewerbe zu schützen, hatte England bereits 1700 ein Einfuhrverbot für reine Baumwollgewebe verhängt, das jedoch offensichtlich nur geringe Wirkung zeigte. Die Konkurrenzsituation für das eigene Gewerbe und die negative Handelsbilanz mit Asien, die zu einem ständigen Edelmetallabfluss führte, übten einen Druck in Richtung auf eine Substitution der indischen Baumwollwaren durch den Übergang zur eigenen Produktion und Weiterverarbeitung aus. Mit der Anwendung der neuen Technologie vor allem im Bereich des Spinnens vollzog sich der Übergang vom Heimgewerbe zur Fabrikproduktion. Gewinnorientierte kapitalistische Unternehmer kontrollierten dort die Produktion und setzten einen anhaltenden Prozess technischer Innovation in Gang, der von einzelnen Handwerkern in dieser Breite nicht hätte vorangetrieben werden können. Dennoch konnten sich (vor allem in der Weberei) noch jahrzehntelang Formen hergebrachter heimgewerblicher Textilproduktion neben der maschinellen Fabrikproduktion halten. Da die Binnen- und Außenmärkte schneller wuchsen als das Arbeitskräfteangebot, wurden insbesondere arbeitssparende Erfindungen angeregt. Durchschlagende technische Innovationen gab es in den Jahrzehnten von 1740 bis 1770 allerdings noch nicht. John Kays fliegendes Weberschiff wurde in den Jahren 1750–1770 auf breiter Ebene übernommen, und Pauls Streichmaschine kam ebenfalls nach 1760 allgemein in Gebrauch, aber die Baumwollindustrie stellte damals weniger als ein halbes Prozent des Inlandsproduktes her. Technische Innovationen Der Uhrmacher John Kay machte mit der Erfindung des fliegenden Schiffchens den ersten Schritt zum mechanischen Webstuhl. Beim herkömmlichen Handwebstuhl hatte der Weber das sog. Schiffchen mit dem daran befestigten Schussfaden mit einer Hand von einer Seite des Webstuhls zur anderen durch die Kettfäden treiben müssen. Deshalb konnten nur armbreite Tuche gewebt werden. Kays Mechanismus ermöglichte es, das Schiffchen auf einen kurzen Schlag mit der Hand hin von der einen auf die andere Seite schleudern zu lassen und es automatisch bei der gewünschten Tuchbreite anhalten zu lassen. Das bedeutete eine beträchtliche Beschleunigung des Webvorgangs. Die spinning jenny von James Hargreaves ermöglichte selbst in ihrer frühen Form als manuell bediente Maschine, die noch innerhalb des traditionellen heimge-
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technische Innovationen in der Textilindustrie
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Die europäische Wirtschaft im Zeitalter der Industriellen Revolution
III.
werblichen Produktionssystems verwendet werden konnte, einen um ein Vielfaches vermehrten Garnausstoß. Ende des Jahrhunderts gab es dann in den großen Fabriken dampfgetriebene Jennys mit mehr als 100 Spindeln. Mit Richard Arkwrights Wasserspinnmaschine (water frame) erfolgte der Übergang zum mechanischen Antrieb mittels Wasserkraft und zur Fabrikproduktion. Erstmals konnte damit ein Baumwollfaden hergestellt werden, der fest genug war, um als Kettfaden zu dienen. Damit war es möglich geworden, ganz auf Leinen zu verzichten und reines Baumwolltuch für Massenmärkte herzustellen. Samuel Cromptons mule produzierte ein weiches und feines Baumwollgewebe, das mit Seide und Leinen konkurrieren konnte.
Das Tempo des technischen Fortschritts, ablesbar an der Zahl der Patente, beschleunigte sich seit den 1760er Jahren rapide. Die Erfindungen in der Baumwollindustrie reagierten auf bestehende technische Engpässe. So gab es bei der Garnerzeugung einen Engpass, weil es an erfahrenen Spinnern fehlte und Kays fliegendes Weberschiffchen sowie Pauls Streichmaschine den Webvorgang stark beschleunigt hatten. Die spinning jenny von Hargreaves überwand diesen Engpass, und Arkwrights Wasserspinnmaschine (water frame) ermöglichte es, ungelernte Arbeitskräfte (vor allem Kinder und Jugendliche) zu beschäftigen. Die Mule-Maschine Cromptons begünstigte den Einsatz weiblicher Arbeitskraft, der für den Industrialisierungsprozess eine zentrale Rolle zukam. In den 1770er Jahren wurde Cartwrights mechanischer Webstuhl patentiert. Die Mechanisierung des Webprozesses auf breiter Front erfolgte jedoch erst in den 1820er Jahren. Die Erfindung der Baumwollentkernungsmaschine um 1800 in den Südstaaten der USA ermöglichte schließlich eine enorme Ausdehnung der Rohbaumwollproduktion. Die ersten mechanischen Spinnereien waren auf Wasserkraft angewiesen und wurden daher in ländlicher Umgebung errichtet. Die 1785 erstmals zu Spinnzwecken verwendete Watt’sche Dampfmaschine befreite die Textilfabriken von den jahreszeitlichen Schwankungen des Wasserstandes und führte zu ihrer Ansiedlung in Städten in der Nähe von Häfen oder großen Märkten. Die zahlreichen technischen Innovationen im Baumwollgewerbe bewirkten ein starkes Absinken der Produktionskosten, das weitere Nachfrage erzeugte. Die Preise für Baumwollstoffe sanken von 1780 bis 1812/15 auf nur noch 1/3. Ende des 18. Jahrhunderts hatte sich der Beitrag der Baumwollindustrie zum englischen Volkseinkommen mehr als verzehnfacht. In der Anfangsphase der Industriellen Revolution erforderte die Gründung eines Industrieunternehmens noch relativ wenig Kapital. So genügten Robert Owen im Jahre 1789 100 Pfund, die er sich von seinem Bruder lieh, um damit eine Partnerschaft mit einem Mechaniker einzugehen, der Webstühle produzierte. Der weitaus größte Teil der britischen Investitionen konnte noch bis ins späte 19. Jahrhundert hinein durch Re-Investition betrieblicher Gewinne, d.h. durch Selbstfinanzierung, getätigt werden.
Kohle und Eisen als Grundstoffe der Industrialisierung
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Kohle und Eisen Neben der Baumwolle wurden Kohle und Eisen, beide in reichlichem Maße und hoher Qualität vorhanden, zu den Grundstoffen der englischen Industrialisierung. Die steigende Verwendung der Kohle anstelle von Holzkohle
Die Industrielle Revolution auf dem europäischen Kontinent
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trug dazu bei, eine Reihe von technischen Innovationen in Gang zu setzen. Die Bergwerke erforderten mit zunehmender Tiefe Pumpen, deren Herstellung wiederum den Eisenguss förderte und das Verständnis des Vakuums vertiefte, das für die Entwicklung von Dampfmaschinen notwendig war. Von besonderer Bedeutung für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung war die Eisenindustrie. Eisen bildete den Grundstoff für Maschinen, Brücken, Eisenbahnen sowie für landwirtschaftliche Geräte und Gebrauchsgegenstände der unterschiedlichsten Art. Die Eisenindustrie konnte ihre Produktion im Zeitraum 1788–1806 vervierfachen. Abraham Darby hatte schon im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts Eisen mit Kohle geschmolzen, doch basierte die englische Eisenindustrie noch in den 1770er Jahren ganz überwiegend auf der Verwendung von Holzkohle. Erst mit Hilfe der Dampfmaschine und von ihr angetriebener Gebläse konnte bei der Verwendung von Koks die erforderliche Schmelztemperaturen erzeugt werden. Henry Corts Puddelofen und die Erfindung des Walzens mit Dampfkraft ermöglichten die Verwendung von Kohle bei der Herstellung von Stabeisen und machten England nunmehr von Stabeisenimporten unabhängig. Das Puddeleisen war zwar qualitativ geringwertiger, aber wesentlich billiger, und für die meisten Anforderungen in Gewerbe und Haushalt reichte es aus. Puddelverfahren, Puddelofen Der 1784 patentierte Puddelprozess löste die Probleme, die bei der Umwandlung von Roheisen in Stahl mit Hilfe von Kohle oder Koks entstanden. Bei der dafür notwendigen Reduktion des Kohlenstoffgehalts im Eisen, die man traditionell durch „Herdfrischerei“ mit Holzkohle vorgenommen hatte, entstanden bei der Verwendung von Koks Verunreinigungen durch den Schwefelgehalt der Kohle. Man musste also das umzuwandelnde Roheisen und den Brennstoff voneinander trennen. Cort benutzte dafür einen einfachen Flammofen. Der Verbrennungsherd für die Kohle und der Arbeitsherd für das Roheisen lagen nebeneinander und waren durch eine niedrige Trennwand (die Feuerbrücke) voneinander getrennt. Ähnlich wie beim alten Frischverfahren mit Holzkohle wurde die nach dem Einschmelzen des Roheisens entstandene teigige Masse mit langen eisernen Stangen durchgerührt (engl. to puddle = durchrühren), wobei der Kohlenstoff und andere Unreinheiten verbrannt wurden. Das Puddeln, die wichtigste Methode zur Stahlerzeugung bis in die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, blieb nach wie vor körperlich schwere Handarbeit.
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2. Die Industrielle Revolution auf dem europäischen Kontinent Pfade der kontinentaleuropäischen Industrialisierung Im Laufe des 19. Jahrhunderts ergriff der Prozess des industriewirtschaftlichen Wachstums immer mehr kontinentaleuropäische Länder, die gezwungen waren, dem englischen Beispiel zu folgen. Sie beschritten diesen Weg jedoch nicht im Sinne einer simplen Übernahme des englischen „Modells“, sondern variierten dieses entsprechend ihrer jeweiligen Ausgangsbedingungen und Ressourcenausstattung. Man kombinierte Altes mit Neuem, indem
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Die europäische Wirtschaft im Zeitalter der Industriellen Revolution
III. unterschiedliche Pfade der Industrialisierung auf dem Kontinent
Regionen (und nicht Nationalstaaten) als Motoren der Industrialisierung
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Frühindustrialisierer, Spätindustrialisierer, Nichtindustrialisierer
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man billiges Roheisen aus England importierte, um daraus auf herkömmliche Weise Stabeisen herzustellen, oder schmolz Erz unter Verwendung von Holzkohle in modernen englischen Puddelöfen. Der Staat unterstützte diese graduellen Modernisierungsstrategien durch eine entsprechende Zollgestaltung, indem z.B. Preußen den Import von Stabeisen mit einem Zoll belegte, den Import des Roheisens für die Weiterverarbeitung im Lande aber zollfrei beließ. Der Aufholprozess der kontinentalen Eisenindustrie verlief im Ganzen zögerlich und erreichte erst mit dem Eisenbahnbau und den damit neu erschlossenen Ressourcen Kohle und Eisenerz seit den 1830/1840er Jahren allmählich eine neue Stufe. Infolge des technischen Fortschritts erhöhte sich das durchschnittliche Wachstum auf dem Kontinent erheblich. Während es sich in Westeuropa vor der Industriellen Revolution um 0,1 % bewegte, betrug es zwischen 1820 und 1870 rund 1 %. Die Übertragung des industriewirtschaftlichen Wachstumsprozesses auf den Kontinent erfolgte u.a. über Kapitaltransfers, den Import englischer Technologien, Unternehmer und Facharbeiter oder die Importsubstitution englischer Waren, d.h. den Ersatz importierter Güter durch selbst hergestellte. In Belgien konnte sich auf der Basis von Kohle und Eisen schon früh eine Industrie ausbilden, die dem englischen Vorbild stark ähnelte. In den anderen Ländern Europas waren dagegen um 1850 erst bestimmte Städte oder Regionen industrialisiert, wie die Bergbaulandschaften im nordfranzösischflandrischen Raum mit Lüttich als Zentrum, die Textilgebiete um Verviers, Aachen und Monschau, das Siegerland, Wuppertal, das Oberrheingebiet mit Basel und Mühlhausen, Berlin mit seiner Textil- und Maschinenbauindustrie, Chemnitz im Königreich Sachsen, Böhmen und Mähren, Wien, Piemont und die Lombardei, Paris und Lyon. Außerhalb dieser industriellen Regionen bestimmten nach wie vor die Landwirtschaft und das Kleingewerbe die Wirtschaftsstruktur. Regionen Sidney Pollard („Region und Industrialisierung“, S. 110) sieht in den europäischen Regionen (und nicht in den Staaten) die Motoren des Industrialisierungsprozesses. Die Industrialisierung vollzog sich demnach in kleineren Regionen, die in einen europäischen, die Grenzen der Nationalstaaten häufig überschreitenden (Wettbewerbs)-Kontext eingebunden waren.
Die entscheidenden Faktoren für die Herausbildung der europäischen Industriezentren waren Rohstoffvorkommen, das Vorhandensein alter Gewerbetraditionen, Verkehrsverbindungen oder unternehmerische Initiative. Häufig entwickelten sich alte heimgewerbliche Textillandschaften zu Mittelpunkten der modernen Baumwollindustrie. In der Nachbarschaft entstand dann vielfach ein Zentrum des Maschinenbaus. Ein gutes Beispiel dafür ist Sachsen, das am frühesten und stärksten industrialisierte Land in Deutschland mit Chemnitz als einem Mittelpunkt der Textil- und Maschinenbauindustrie. Betrachtet man Zeitpunkt und Ausmaß des Industrialisierungsprozesses in Europa im 19. Jahrhundert, so lassen sich drei Gruppen unterscheiden: die Frühindustrialisierer, die Spätindustrialisierer und die noch gar nicht mit der Industrialisierung beginnenden Länder. Dementsprechend gab es in Europa noch am Vorabend des ersten Weltkrieges erhebliche regionale Wohlfahrts-
Die Industrielle Revolution auf dem europäischen Kontinent
III.
unterschiede. Im Jahre 1813 waren die Niederlande und Großbritannien die Länder mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen. 1850 stand das industrialisierte Großbritannien an der Spitze, die Niederlande waren zurückgefallen, und der Frühindustrialisierer Belgien hatte stärker aufgeholt. Durchschnittliche Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts 1870–1913 A. Maddison: Growth and Slowdown in Advanced Capitalist Economies. Techniques of Quantitative Assessment. In: Journal of Economic Literature 25 (1987), S. 650 Deutschland
2,8
England
1,9
Frankreich
1,7
Niederlande
2,1
USA
4,2
Alexander Gerschenkron hat in den 1960er Jahren den anregenden, wenn auch nicht unumstrittenen Versuch unternommen, die beträchtliche Variationsbreite der europäischen Industrialisierungsverläufe mit seiner Theorie der relativen Rückständigkeit zu erklären. Theorie der relativen Rückständigkeit (Gerschenkron) Nach der Theorie Gerschenkrons stellte die Industrialisierung Europas einen einheitlichen Prozess dar, der jedoch entsprechend dem Grad der relativen Rückständigkeit eines Landes in ganz unterschiedlichen Formen verlaufen ist. Je rückständiger ein Land ist, – desto rascher muss der Industrialisierungsprozess verlaufen, – desto bedeutender ist der Produktionsgütersektor, – desto größer sind die Produktionseinheiten, – desto stärker wird der Konsum zugunsten der Ersparnisbildung eingeschränkt, – desto bedeutungsloser sind die Wachstumsbeiträge des landwirtschaftlichen Sektors, – desto wichtiger sind besondere wachstumsfördernde Institutionen, – desto wichtiger sind Ideologien zur Rechtfertigung des Industrialisierungsprozesses. Gerschenkron geht davon aus, dass, gemessen am englischen Vorbild, kein anderes europäisches Land optimale Vorbedingungen für eine Industrialisierung aufzuweisen gehabt habe. Die nachfolgenden, relativ rückständigen Staaten seien jedoch in der Lage gewesen, Substitute für fehlende Voraussetzungen zu entwickeln. Solche Substitute waren in dieser Sicht das herausragende technische Bildungswesen in Deutschland (das den erfindungsreichen frühindustriellen englischen Unternehmer substituierte), das deutsche Bankensystem (das die Schwierigkeiten der Eigenkapitalbildung der Unternehmer behob) oder das russische Beispiel der Kapitalbildung über den Staatshaushalt.
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Belgien In den meisten europäischen Staaten blieb die Landwirtschaft auch im 19. Jahrhundert, teilweise sogar bis ins 20. Jahrhundert, der bedeutendste volkswirtschaftliche Sektor. Das einzige Land, das man um 1850 zur Gänze als Industriestaat bezeichnen könnte, war Belgien. Der Staat wies eine Reihe von Vorbedingungen auf, die ihn zu seiner industriellen Pionierrolle auf
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Die europäische Wirtschaft im Zeitalter der Industriellen Revolution
III.
dem europäischen Kontinent prädestinierten: (1) Die Rohstoffausstattung mit den leicht zugänglichen Kohlelagern und den Eisenerzlagern in unmittelbarer Nähe der Kohlegruben ähnelte sehr derjenigen Großbritanniens; (2) Das Land verfügte über eine relativ leistungsfähige Landwirtschaft. Die agrarischen Besitzstrukturen und Produktivitätsfortschritte ermöglichten die Abwanderung ländlicher Arbeitskräfte in die industrielle Arbeit. Der Grundbesitz war, zusätzlich gefördert durch die Säkularisation der Kirchengüter und die Privatisierung der kommunalen Allmenden zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in den Händen weniger Grundbesitzer konzentriert und wurde durch Pächter mittels Lohnarbeit bearbeitet. Der Rest wurde durch stark parzellierte Kleinbauernbetriebe bewirtschaftet, bei denen eine Nebenbeschäftigung im Textilgewerbe verbreitet war; (3) Die Gewerbeproduktion war von Zunftschranken weitgehend ungehindert. Die Zunftverfassung war in Belgien schon vor 1792 in Auflösung begriffen und wurde mit den napoleonischen Reformen gänzlich abgeschafft; (4) Belgien hatte eine jahrhundertealte gewerbliche Tradition, insbesondere im Textilbereich, wodurch entsprechend qualifizierte Unternehmer und Arbeitskräfte vorhanden waren; (5) Seine zeitweilige Zugehörigkeit zu Frankreich (1795–1814) eröffnete Belgien eine bevorzugte Position auf dem französischen Markt. Gerade in dieser Zeit machte der Industrialisierungsprozess große Fortschritte. Die französische Nachfrage nach Kriegsgütern belebte das belgische Textil- und Eisengewerbe, während die Kontinentalsperre die englische Konkurrenz fernhielt. Belgien profitierte in seiner Entwicklung erheblich von ausländischem Technologieimport, von ausländischem Unternehmertum und Kapital. So entwickelte z.B. die aus Savoyen stammende Familie Biolley Ende des 18. Jahrhunderts die bedeutendste Niederlassung der Wollindustrie in Verviers. Unter den daraufhin zuziehenden Migranten befand sich auch William Cockerill, ein Mechaniker aus der Wollindustrie von Leeds. In Verviers errichtete Cockerill 1799 eine Werkstatt zur Konstruktion von Spinnmaschinen. Die erste Dampfmaschine auf dem europäischen Kontinent hatte bereits 1720 der Ire O’Kelly nahe Lüttich in einem Bergwerk errichtet. Um 1790 gab es in Belgien bereits ca. 60 Dampfmaschinen. Die größte Zahl der Dampfmaschinen wurde im Bergbau eingesetzt, und es war auch der Bergbau, der französische Unternehmer und französisches Kapital in erster Linie anzog. 1788 exportierten die damals noch habsburgischen Niederlande bereits 58.000 t Kohle nach Frankreich. Die anfänglich ohne mechanische Antriebskraft arbeitende belgische Baumwollindustrie entstand in und um Gent. Die spinning jenny fand bereits 1780 im belgischen Baumwollgewerbe Eingang, und schon 1798 erfolgte der Übergang zur Fabrikindustrie. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gelang es dem Unternehmer Liewens Bauwens unter Inkaufnahme eines großen persönlichen Risikos, während der Koalitionskriege eine der modernen englischen Mule-Spinnmaschinen Crompton’scher Bauart, eine Dampfmaschine, ja sogar einige gutausgebildete englische Arbeiter zur Bedienung dieser Maschinen herauszuschmuggeln. Unter dem Schutz der napoleonischen Kontinentalsperre (1806) erlebte die von Bauwens aufgebaute belgische Textilindustrie einen Aufschwung und beschäftigte 1810 bereits
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Die Industrielle Revolution auf dem europäischen Kontinent
III.
10.000 Arbeiter, in der Mehrheit Frauen und Kinder. Erst in den 1830er Jahren wurden von Dampfmaschinen angetriebene mechanische Webstühle eingeführt. In Belgien hatte es im Tal der Sambre und der Maas sowie in den Ardennen seit langem ein auf Holzkohle- und Wasserkraftbasis arbeitendes traditionelles Eisengewerbe gegeben. Schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts wanderte dieses Eisengewerbe aus seinen traditionellen Regionen ab und siedelte sich auf den Steinkohlefeldern um Lüttich und Charleroi an. Zunächst blieb die Technologie wegen der kriegsbedingten Abschottung von der englischen Konkurrenz und der erheblichen Nachfrage des französischen Marktes noch traditionell. Erst 1821 wurde das Puddelverfahren in der Nähe von Charleroi in den dortigen Eisenwerken eingeführt. Drei Jahre später folgte dort der erste Kokshochofen auf dem Kontinent, der wirtschaftlich erfolgreich war. In Lüttich begann Cockerill um 1815 mit der Herstellung von Dampflokomotiven und Textilmaschinen. Er beschäftigte eine große Zahl englischer Facharbeiter, von denen sich einige später selbständig machten oder für andere belgische Firmen arbeiteten. Die Firma Cockerill entwickelte sich zu einem vertikal integrierten metallurgischen Komplex und zum größten Industrieunternehmen auf dem europäischen Kontinent. Vertikale Konzentration Ein vertikal konzentriertes oder integriertes Unternehmen vereinigt alle Produktionsstufen vom Rohstoff bis zum Endprodukt.
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Eine bedeutende Rolle in der belgischen Industrialisierung spielte der Staat. Dies gilt nicht nur für die Schaffung günstiger institutioneller Bedingungen während der französischen Zeit. Auch als Teil des niederländischen Staatsverbandes zwischen 1815 und 1830 wurde eine aktive Industriepolitik betrieben. Nach der Unabhängigkeit Belgiens im Jahre 1830 folgte in den mittleren 1830er Jahren ein kräftiger wirtschaftlicher Boom. Eine entscheidende Rolle spielten dabei der Entschluss der belgischen Regierung, ein umfassendes Eisenbahnnetz auf Staatskosten zu bauen, und die Bedeutungszunahme der Aktienbanken. Die bereits 1822 gegründete Société Générale de Belgique konzentrierte sich in den 30er Jahren auf die Industriefinanzierung. Eine bedeutende Rolle spielte auch der Pariser Bankier James de Rothschild, der die Verbindung zum französischen Kapitalmarkt herstellte. Die 1835 auf Aktienbasis gegründete Banque de Belgique rief in weniger als vier Jahren 24 industrielle und finanzielle Unternehmungen mit einem kombinierten Kapital von 54 Mill. Francs ins Leben. Mehr als 9/10 ihres Kapitals waren französischer Herkunft. In den 1830er Jahren wurde ein Wachstumsprozess in Gang gesetzt, der bis in die 50er und 60er Jahre Zuwachsraten von bis zu 5 % pro Jahr erzielte. Frankreich Auch Frankreich muss mit Belgien zu den Frühstartern der Industriellen Revolution gerechnet werden. Das industrielle Wachstum begann in Frankreich schon sehr früh im 18. Jahrhundert, wurde in seinem weiteren Verlauf allerdings durch die besonderen politischen Umstände und einige sozialstrukturelle Besonderheiten gebremst: Während Großbritannien in den letz-
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ten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts die Industrielle Revolution durchmachte, durchlebte Frankreich eine politische Revolution und über 25 Jahre eine Zeit politischer Umstürze, Unruhen und Kriege. Zwar bedeuteten die kriegerischen Auseinandersetzungen einen gewaltigen Nachfrageimpuls, doch dieser kam in erster Linie den traditionellen Branchen zugute. Während es in der Baumwollindustrie durchaus zur Verwendung einiger moderner Spinnmaschinen und Dampfmaschinen kam, stagnierten die Eisen und die chemische Industrie in technologischer Hinsicht. Großbritannien konnte den Großteil der Kriegführung seinen kontinentalen Verbündeten überlassen, verfügte vor allem über die Kontrolle der Weltmeere und konnte Frankreich weitgehend von den überseeischen Märkten abschneiden. Frankreich wies einige kennzeichnende Besonderheiten auf, die den Verlauf des Industrialisierungsprozesses bestimmten: (1) Die französische Gesellschaft blieb während des ganzen 19. Jahrhunderts ländlich geprägt. Die in der Französischen Revolution verfestigte agrarische Besitzstruktur zeichnete sich durch eine starke Zersplitterung in kleine Bauernwirtschaften aus. Völlig besitzlose Landbewohner, die zur Abwanderung und Aufnahme gewerblicher Arbeit gezwungen gewesen wären, gab es nur in geringer Zahl; (2) Frankreich hatte im 19. Jahrhundert nur ein sehr mäßiges Bevölkerungswachstum zu verzeichnen, da die geringe Ertragskraft der kleinen Bauernwirtschaften eine Beschränkung der Kinderzahl nahelegte; (3) Die zersplitterte französische Landwirtschaft machte nur geringe Produktivitätsfortschritte. Die Folge war, dass sie kaum Arbeitskräfte für den gewerblichen Bereich freisetzte, die hohen Agrarpreise die Budgets der Verbraucher belasteten und die Produzenten in den übrigen volkswirtschaftlichen Sektoren sich mit hohen Lohnkosten konfrontiert sahen; (4) Die Kapitalbildung blieb in Frankreich aus einer Reihe von Gründen hinter anderen Ländern wie England oder Deutschland zurück. Auch hier spielten die geringe Dynamik des agrarischen Sektors und seine mäßigen Produktivitätsfortschritte eine Rolle. Dazu traten institutionelle Hemmnisse wie die bis 1867 restriktiven rechtlichen Bedingungen für die Verbreitung von Aktiengesellschaften. Ein effizientes Banken- und Finanzsystem entfaltete sich nicht. Französische Unternehmer waren daher weitgehend auf ihr Privatvermögen oder die Re-Investition der Gewinne angewiesen; (5) Eine weitere Besonderheit war die spezifische Rohstoffausstattung Frankreichs: anders als Großbritannien, Belgien und Deutschland hatte Frankreich keine hinreichenden Kohlevorräte für eine Industrialisierung nach englischem Muster. Diese waren noch dazu infrastrukturell nur schwer und mit erheblichen Kosten erschließbar. Zwischen 1820 und 1848 wuchs die französische Wirtschaft mit mäßigem Tempo. In dieser Zeit adaptierte die französische Eisenindustrie den Puddelprozess und begann mit dem Übergang zum Koksverfahren. Nun begann auch die Entwicklung des französischen Maschinenbaus. Ein schnelles Wachstum erlebten außerdem die chemische Industrie, die Glaserzeugung, die Porzellanerzeugung und die Papierfabrikation. Der Ausbau des Eisenbahnwesens gab der ökonomischen Entwicklung entscheidenden Auftrieb: In der Eisenindustrie erfolgte nun der endgültige Übergang zum Kohleschmelzverfahren in den 1850er und zum Bessemerund-Martin-Verfahren in den 1860er und 1870er Jahren.
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Die Industrielle Revolution auf dem europäischen Kontinent Bessemer-und-Martin-Verfahren Der englische Ingenieur Henry Bessemer erfand 1855 ein neues Verfahren der Stahlerzeugung durch Verbrennung der Beimengungen des flüssigen Roheisens mittels eingeblasener Luft. Damit wurde die Massenherstellung von Flussstahl in der sog. Bessemerbirne, einem mit feuerfesten Steinen ausgekleideten birnenförmigen Metallgefäß, möglich. Beim Siemens-Martin-Verfahren, das einen qualitativ überlegenen Stahl lieferte, erzeugte ein Regenerativofen, der mit Abfallhitze aus Hochöfen oder Koksöfen gespeist werden konnte, die notwendigen Schmelztemperaturen. Da der Bearbeitungsprozess einer Charge gut 10 Stunden dauerte, konnte die Qualität des erzeugten Stahls besser überwacht und gesteuert werden. Auch war es nunmehr möglich, Alteisen zu verwenden. Die Anwendung der neuen Verfahren zur Massenherstellung von Stahl führte im Zeitraum von 1850 bis 1870 zu einem Fallen der Stahlpreise um 50 %.
Zwischen 1851 und 1881 stieg der französische Volkswohlstand erheblich an, und das Wachstumstempo erreichte mit einem Durchschnitt von 2–4 % pro Jahr seinen Spitzenwert im 19. Jahrhundert. Wegen der erheblichen Preissteigerungen in der Lebenshaltung wuchs das französische Realeinkommen in den Jahren von 1810 bis 1880 allerdings um weniger als 40 %. Da Frankreich Rohstoffe wie Rohbaumwolle und 25 % seines Kohlebedarfs importieren musste, war es in hohem Maße auf die Außenwirtschaft und einen leistungsfähigen Export angewiesen. Zwischen 1820 und 1860 gelang es der französischen Wirtschaft, ihren Anteil an den europäischen Exporten auf 19 % zu steigern. Bis 1880 war Frankreich nach Großbritannien die zweitgrößte Exportnation, wurde dann allerdings 1881 von Deutschland überholt. Die größte Bedeutung für den französischen Export hatten nach wie vor Textilwaren. Für deren Absatz spielten die Kolonien als geschützte Handelsräume sowie weniger wettbewerbsstarke Absatzgebiete wie Skandinavien und Russland eine wichtige Rolle. Von allen europäischen Industrienationen hatte Frankreich das geringste Urbanisierungstempo. Dementsprechend war der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten deutlich größer als in anderen Industrieländern. Die Industrieunternehmen lagen zerstreuter, waren im Durchschnitt kleiner und wiesen einen großen Differenzierungsgrad auf. Die Mehrheit der französischen Arbeitnehmer war in der großen Zahl kleiner und mittlerer, über das ganze Land verstreuter Unternehmen beschäftigt. Die Wasserkraft spielte im französischen Gewerbe eine viel größere Rolle als anderswo. Alles in allem unterschied sich das französische Industrialisierungsmuster ganz wesentlich von demjenigen Großbritanniens oder Belgiens. Trotz der vermeintlichen Rückständigkeit oder Verspätung seiner Wirtschaft erzielte Frankreich im 19. Jahrhundert ein volkswirtschaftliches Gesamtergebnis, das in keiner Weise hinter Großbritannien oder Belgien zurückstand und unter dem Gesichtspunkt einer behutsamen sozialen Entwicklung möglicherweise sogar erfolgreicher war.
III.
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Besonderheiten der französischen Industrialisierung
Deutschland Auch Deutschland gehörte zur Gruppe der Frühindustrialisierer, bildete in dieser Gruppe aber das zeitliche Schlusslicht. 1784 wurde in Ratingen im Rheinland eine vollmechanisierte Baumwollspinnerei eingerichtet, die anfangs nur mit englischen Experten betrieben werden konnte. Das Wollspin-
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Die europäische Wirtschaft im Zeitalter der Industriellen Revolution
III.
vom industriellen „Entwicklungsland“ zur größten Industrienation Europas
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nen wurde 1799 erstmals in Sachsen mechanisiert. Die Eisenindustrie wählte dagegen den Weg einer Teilmodernisierung, mit der die alten Produktionsverfahren optimal genutzt und zu einem späteren Zeitpunkt modernisiert werden konnten. Man kombinierte Altes mit Neuem, indem man alte Holzkohleöfen z.B. mit modernen Winderhitzern ausrüstete, oder aber englisches Roheisen importierte, um es dann im modernen Puddel- und Walzverfahren weiterzuverarbeiten. Trotz punktueller Industrialisierungs- und Modernisierungsansätze in den ersten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war Deutschland de facto ein vergleichsweise armes Entwicklungsland, politisch eine zersplitterte Nation, deren Wirtschaftsbasis die Landwirtschaft darstellte. Zwar gab es einzelne kleine Gewerbekonzentrationen im Rheinland, in Sachsen, in Schlesien und auch in der Stadt Berlin, bei denen es sich jedoch zumeist um handwerkliche oder proto-industrielle, d.h. heimgewerbliche Betriebe handelte. Die infrastrukturellen Verhältnisse von Verkehr und Transport, die zahlreichen politischen Grenzen im Deutschen Bund und das Vorhandensein unterschiedlichster Währungssysteme bildeten erhebliche Hindernisse für die wirtschaftliche Entwicklung. Dennoch gelang in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Aufstieg zur größten Industrienation Europas. Dieser vollzog sich in drei Phasen. Die erste Periode bis 1834 war die Zeit der großen Reformen. In der napoleonischen Zeit war das linke Rheinufer politisch und ökonomisch in das französische Kaiserreich integriert. Hier wurden das französische Rechtssystem und die fortgeschrittenen ökonomischen Institutionen Frankreichs übernommen und nach 1815 auch beibehalten. Unter dem Eindruck seiner katastrophalen militärischen Niederlage übernahm auch Preußen viele Errungenschaften der französischen Rechts und Wirtschaftsinstitutionen. Das Edikt von 1807 war eine entscheidende Voraussetzung für die Kommerzialisierung und Kapitalisierung der Landwirtschaft. Es schaffte die Leibeigenschaft ab und erlaubte dem preußischen Adel eine Betätigung in Handel und Industrie. Indem es jeden Unterschied zwischen adligem und nichtadligem Eigentum aufhob, etablierte das Edikt einen freien Grundstücksmarkt. Das materielle Eigeninteresse der Bauern wurde durch ihre Befreiung von Abgaben und anderen Beschränkungen angeregt.
Das Oktoberedikt (9. Oktober 1807): „Bauernbefreiung“ in Preußen Ernst Rudolf Huber (Hrsg.): Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte. Bd. 1. Stuttgart, 3. Aufl., 1978, S. 41ff. § 1. Jeder Einwohner Unsrer Staaten ist, ohne alle Einschränkung in Beziehung auf den Staat, zum eigentümlichen und Pfandbesitz unbeweglicher Grundstücke aller Art berechtigt; der Edelmann also zum Besitz nicht bloß adelicher, sondern auch unadelicher, bürgerlicher und bäuerlicher Güter aller Art, und der Bürger und Bauer zum Besitz nicht bloß bürgerlicher, bäuerlicher und anderer unadelicher, sondern auch adelicher Grundstücke (…) § 2. Jeder Edelmann ist (…) befugt, bürgerliche Gewerbe zu betreiben; und jeder Bürger oder Bauer ist berechtigt, aus dem Bauer- in den Bürger- und aus dem Bürger- in den Bauernstand zu treten. (…)
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Die Industrielle Revolution auf dem europäischen Kontinent
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§ 11. Mit der Publikation der gegenwärtigen Verordnung hört das bisherige Untertänigkeits-Verhältnis derjenigen Untertanen und ihrer Weiber und Kinder, welche ihre Bauergüter erblich oder eigen, oder erbzinsweise, oder erbpächtlich besitzen, wechselseitig gänzlich auf. § 12. Mit dem Martini-Tage Eintausend Achthundert und Zehn hört alle Guts-Untertänigkeit in Unsern sämtlichen Staaten auf. Nach dem Martini-Tage 1810 gibt es nur noch freie Leute. (…)
Andere Edikte in den Jahren darauf schafften die Zünfte ab und führten die Gewerbefreiheit ein. Es ging den Reformern jedoch keineswegs um eine Art Masterplan zur Initiierung des Industrialisierungsprozesses, sondern darum, für den bevorstehenden politischen Befreiungskrieg gegen Napoleon die wirtschaftlichen Kräfte des Landes freizusetzen und mehr Steueraufkommen zu erzeugen. Auch wenn man den Beitrag der Landwirtschaft zum industriewirtschaftlichen Wachstum nicht überschätzen sollte, so besteht doch kein Zweifel, dass die durch die Reformen geförderte Kapitalbildung der Landwirtschaft einen nennenswerten Beitrag zur Bereitstellung der finanziellen Ressourcen für die Industrialisierung geleistet hat. Die positive Entwicklung der landwirtschaftlichen Einkommen war wichtig, weil die Landwirtschaft bis in die 50er Jahre der wichtigste Kunde der Eisenindustrie blieb und die ländliche Bevölkerung auch in erheblichem Maße die Produkte der Baumwollindustrie nachfragte. Bedeutend für die deutsche Handelsbilanz waren in der ersten Hälfte des Jahrhunderts die Agrarexporte. Sie ermöglichten erst den Import wichtiger Rohund Halbstoffe (Roheisen, Baumwolle) für die Industrialisierung. Nicht zuletzt brachte der landwirtschaftliche Intensivierungsprozess im Gefolge der Agrarreformen zunächst eine starke Ausdehnung des ländlichen Arbeitskräftepotentials mit sich, so dass um die Mitte des Jahrhunderts industrielle Arbeitskräfte leicht und zu niedrigen Löhnen rekrutiert werden konnten. Am Ende der ersten Phase stand mit der Bildung des Deutschen Zollvereins 1834 zweifellos eine der wichtigsten Reformen, die von der preußischen Bürokratie angestoßen wurden. Der Zollverein schaffte in seinem Geltungsbereich, der etwa dem späteren kleindeutschen Kaiserreich von 1871 entsprach, alle inneren Zollgrenzen ab und schuf damit einen gemeinsamen deutschen Binnenmarkt. Er legte einen gemeinsamen Außenzolltarif fest, der faktisch durch Preußen bestimmt wurde. Mit dem Zollverein war eine gemeinsame deutsche Volkswirtschaft möglich geworden, die in der Folge dann durch den Ausbau der Eisenbahnen Realität wurde. Die zweite Phase der wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands stand im Zeichen der bewussten Nachahmung und Übernahme fortgeschrittener Techniken und Verfahren. Dabei spielten ausländische Technologie und ausländisches Kapital eine wichtige Rolle. Der Ausbau des Eisenbahnsystems hatte erhebliche Auswirkungen auf die vorgelagerten Industriebereiche wie den Kohlebergbau, die Eisenerzeugung und den Maschinenbau. In Deutschland, das noch in den 1840er Jahren weniger Kohle als Frankreich oder sogar das kleine Belgien gefördert hatte, ging der industrielle Fortschritt im Bereich der Schwerindustrie in den 1850er und 1860er Jahren unter
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Die europäische Wirtschaft im Zeitalter der Industriellen Revolution
III. Eisenbahn und schwerindustrieller Komplex als Leitsektor
dem Einfluss des Eisenbahnbaus extrem schnell vonstatten. Der Eisenbahnbau stellte den zentralen Teil des sog. schwerindustriellen Komplexes dar, der den Leitsektor der deutschen Industrialisierung bildete.
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Die Eisenbahn als Leitsektor Die Mehrheit der Wirtschaftshistoriker vertritt die These, dass die Eisenbahnen in vielen europäischen Ländern zwischen 1840 und 1880 der volkswirtschaftliche Leitsektor waren. Der Eisenbahnbau verzeichnete nicht nur selbst die größten Wachstumsraten, sondern er löste darüber hinaus über seine Vor- und Rückkoppelungseffekte mit anderen Branchen der Volkswirtschaft erhebliche Wachstumsimpulse aus. Die Eisenbahn setzte einen Wachstumsprozess im Steinkohlenbergbau sowie in der Eisen- und Maschinenbauindustrie in Gang. Sie verbilligte den Gütertransport ganz wesentlich, regte dadurch die Massenproduktion an und ermöglichte deren überregionalen Absatz.
Rapide entwickelte sich unter diesen Verhältnissen der Kohlebergbau, wobei nunmehr das Ruhrgebiet in den Vordergrund trat. In den 1830er Jahren wurden die nördlich der Ruhr gelegenen Kohlelager entdeckt. Der Tiefbau erforderte erheblich größere Mengen an Kapital und Technik. Dabei wurde die Technologie anfangs vor allem von französischen, belgischen und britischen Firmen zur Verfügung gestellt. Die neue Produktionstechnologie im Bergbau führte hier zu Wachstumsraten, die mit ca. 9 % p.a. im Zeitraum 1852–1874 erheblich über dem gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt lagen. Mit der Kohleförderung wuchs zugleich auch die Herstellung von Eisen und Stahl und von Chemikalien, die auf Kohlebasis beruhten. Die Entwicklung des Ruhrgebietes verhalf nun auch dem Koksverfahren in der Eisenindustrie zum Durchbruch, aber noch Mitte der 1850er Jahre übertraf die Zahl der Holzkohleöfen diejenige der Kohlehochöfen um das Fünffache. Die Produktion von Bessemer-Stahl begann 1863, und wenig später wurde der Siemens-Martin-Prozess eingeführt. Das 1881 eingeführte Gilchrist-Thomas-Verfahren machte die Verhüttung des stark schwefelhaltigen lothringischen Erzes und damit die Nutzbarmachung der mit der Annexion von Elsass und Lothringen gewonnenen französischen Gebiete möglich. Daraufhin stieg die deutsche Stahlproduktion rapide an. Zwischen 1870 und 1913 wuchs sie mit einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von mehr als 6 %. In der dritten Phase nach 1871 fügte sich die deutsche Industrie erfolgreich in den Weltmarkt ein. Die sozialen Verhältnisse wandelten sich zum Positiven. Immer mehr Arbeitsplätze konnten geschaffen werden, so dass die Überseeauswanderung, in deren Verlauf seit den 1830er Jahren Millionen Deutsche aus wirtschaftlicher Not ihre Heimat verlassen hatten, schließlich enden konnte. Die Realeinkommen stiegen, während die Arbeitszeiten sanken. Neben den traditionellen Wachstumsindustrien des Kohlebergbaus, der Eisen und Stahlerzeugung wurden in den letzten beiden Jahrzehnten des Jahrhunderts die Chemie- und Elektrizitätsindustrie immer wichtiger. Das industrielle Wachstum entfaltete eine erhebliche Nachfrage nach Industriechemikalien, sog. Schwerchemikalien wie bspw. Alkalien und Schwefelsäure. Zugleich hatte die neue Wissenschaft der Agrikulturchemie bei den Bauern eine Nachfrage nach künstlichen Düngemitteln hervorgerufen. Da die chemische Industrie in Deutschland noch sehr jung und ihr Ka-
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III.
pital nicht in alten Anlagen gebunden war, konnte sie sehr schnell auf die sich wandelnden Märkte reagieren. Dies galt gerade auch für das zukunftsträchtige Feld der organischen Chemikalien. Die organische Chemieindustrie ging als erste Industriebranche dazu über, neben den universitären Forschungsinstituten selbst Forschungs und Entwicklungsabteilungen einzurichten. Diese brachten schließlich eine dichte Folge neuer innovativer Produkte auf den Markt. Die deutsche Chemieindustrie beherrschte auf dieser Grundlage weltweit die Produktion synthetischer Farben und pharmazeutischer Artikel. Noch schneller wuchs die deutsche Elektroindustrie. In ihrem Fall erwies sich der anfängliche technologische Entwicklungsrückstand Deutschlands gegenüber England als Vorteil, da die mit der Elektrizität konkurrierende Gasindustrie hier weit weniger verbreitet war. Die Beleuchtung der stark anwachsenden Großstädte stand daher der Elektrizitätsindustrie offen. Sowohl in der Chemie- als auch der Elektrizitätsindustrie wiesen die marktbeherrschenden deutschen Firmen eine beträchtliche Größe auf. So hatte die Elektrofirma Siemens & Schuckert am Vorabend des Ersten Weltkrieges mehr als 80.000 Angestellte. Erhebliche Unternehmensgrößen gab es in Deutschland auch in der Kohle, Eisen und Stahlindustrie. Dies war von wirtschaftlichem Vorteil wegen der sog. Economies of Scale. Economies of Scale (Skaleneffekte) Der Begriff „economies of scale“ bedeutet, dass sich die kostenaufwendigen technischen Anlagen in diesen Industriezweigen erst ab einer gewissen Größe wirklich rentieren. Es ist ökonomischer, wenn die Kosten für diese Anlagen preislich auf ein möglichst großes Volumen von Produkten umgelegt werden können.
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Auffällig in der deutschen Industrie war die große Zahl von Kartellen. Während gegen den Wettbewerb gerichtete Abmachungen in Großbritannien und den Vereinigten Staaten streng verboten waren, waren sie in Deutschland absolut legal. Die Kartelle entfalteten erst in der Kombination mit der Bismarck’schen Schutzzollpolitik ihre volle Wirkung. Diese erlaubte es den Kartellen, auf dem Binnenmarkt durch Kartellabsprachen hohe Preise aufrechtzuerhalten und gleichzeitig mit Preisen unterhalb der durchschnittlichen Produktionskosten einen Dumpingexport zu betreiben. Dieser Dumpingexport wurde noch durch die staatlich beeinflussten Eisenbahntarife begünstigt, die in Richtung auf die Grenzen des Landes niedrigere Frachtraten verlangten, um den Export zu begünstigen. Die deutschen Exporte nahmen auch infolgedessen rapide zu. Russland Das Zarenreich gehörte zur Gruppe der Spätindustrialisierer. Die Industrialisierung Russlands ging zunächst nur sehr langsam vonstatten. Die Zahl der Industriearbeiter wuchs von 1800 bis 1860 von etwa 100.000 auf mehr als eine halbe Million an. Wichtige Industrien waren die Baumwollindustrie um Moskau und die Zuckerrübenraffinerien in der Ukraine. In St. Petersburg gab es eine Reihe von Baumwollfabriken, metallurgische Werke und Maschinenfabriken. Ein erhebliches Entwicklungshemmnis stellten die Leibeigenschaft und die geringe agrarische Produktivität dar. Der ländlichen Bevölkerung blie-
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Die europäische Wirtschaft im Zeitalter der Industriellen Revolution
III. Leibeigenschaft und geringe agrarische Produktivität als Entwicklungshemmnis
ben nach Zahlung von Steuern und Abgaben kaum Überschüsse, mit denen sie industrielle Fertigwaren hätte kaufen können. Viele der russischen Industriearbeiter waren Leibeigene, die in die entstehenden Industriestädte gingen und mit dem Verdienst ihre Abgaben an die Leibherren bezahlten. Die militärische Niederlage im Krimkrieg (1853–1856) war nicht zuletzt auf fehlende Eisenbahnlinien und die Rückständigkeit der russischen Industrie zurückzuführen. Die Regierung reagierte darauf mit einer Reihe von Reformen wie bspw. der Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahre 1861. Gleichzeitig betrieb sie ein Programm zum Eisenbahnbau mit Hilfe von importiertem Auslandskapital und westlicher Technologie. Deutliche Wirkungen zeitigte diese neue Wirtschaftspolitik aber erst Mitte der 1880er Jahre und in dem sog. großen Spurt in den 1890ern, als sich die Industrieproduktion mit einer jährlichen Wachstumsrate von durchschnittlich mehr als 8 % entwickelte. Triebfeder dieses rasanten Aufholprozesses war das Eisenbahnbauprogramm (1891 begann der Bau der Transsibirischen Eisenbahn), das einen entsprechenden schwerindustriellen Ausbau nach sich zog. Dieser beruhte weitgehend auf ausländischem Kapital und ausländischen Unternehmern. Im Mittelpunkt standen die gewaltigen Kohlelager des sog. Donbas. Nur 500 km westlich der Kohlevorräte in der Nähe von Krivoirog befinden sich riesige Eisenerzlager. Französische Unternehmer überzeugten die zaristische Regierung in den 1880er Jahren von dem Plan, beide Lagerstätten mit einer Eisenbahn zu verbinden und große Hochöfenanlagen zu errichten. Die geringe Produktivität der Landwirtschaft, der Luxuskonsum des Adels und die hohen Militärausgaben führten zu einem bedrohlichen Kapitalmangel. Voraussetzung für den notwendigen Kapitalimport aus dem Ausland war die Stabilisierung der Währung durch die Einführung des Goldrubels 1887. Mit dem geliehenen Kapital baute die Regierung Staatseisenbahnen oder gab Staatsgarantien für private Eisenbahnen aus. Sie war zudem der größte Auftraggeber und vergab Bestellungen für Schienen, Lokomotiven usw. – etwa die Hälfte aller Industrieaufträge wurde von der Regierung erteilt. Auf den Import von Eisen und Stahlerzeugnissen wurde ein hoher Zoll gelegt. Um 1900 befanden sich etwa 60 % des Kapitals aller russischen Aktiengesellschaften in ausländischer Hand. Um die industriellen Importe zu finanzieren, steigerte die zaristische Regierung ungeachtet der großen heimischen Nachfrage den Export von Agrarprodukten trotz sinkender Weltmarktpreise („Hungerexporte“). Trotz seiner deutlichen Fortschritte lag Russland 1900 hinsichtlich seiner industriellen Pro-Kopf-Produktion weit hinter westeuropäischen Ländern zurück. Da das Wachstum der landwirtschaftlichen Produktivität dasjenige der Bevölkerungszahl nur knapp übertraf, stagnierte das russische Pro-KopfEinkommen praktisch. Es betrug nicht mehr als die Hälfte des französischen oder deutschen bzw. nur 1/3 des britischen oder amerikanischen Pro-KopfEinkommens. Wohlstands- und Entwicklungsunterschiede (Disparitäten) Die obengeschilderten stark divergierenden Industrialisierungsverläufe in Europa weisen bereits darauf hin, dass der Industrialisierungsprozess in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Zunahme der wirtschaftlichen Dis-
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paritäten und Wohlstandsunterschiede in Europa mit sich brachte. Die am schnellsten wachsenden Industriewirtschaften waren diejenigen Deutschlands und Schwedens, die ihr Produktionsniveau im Zeitraum 1860–1913 vervier- bzw. versechsfachten, während die langsam wachsenden Volkswirtschaften Griechenlands und Portugals es nicht einmal verdoppeln konnten. Disparitäten Als Disparität bezeichnet man die Unterschiede zwischen verschiedenen Regionen oder Volkswirtschaften hinsichtlich zentraler gesamtwirtschaftlicher Kennziffern wie dem Pro-Kopf-Einkommen, der Verteilung der Beschäftigten auf die volkswirtschaftlichen Sektoren, der Lohnentwicklung, dem Verstädterungsgrad usw. Werden die Disparitäten im Laufe der wirtschaftlichen Entwicklung geringer, liegt Konvergenz vor.
Die Spannbreite der materiellen Lebensverhältnisse in Europa ergibt sich aus den Zahlen, die Bairoch (S. 80) errechnet hat. Für das Jahr 1860 nennt er ein Pro-Kopf-Produkt von 454 Dollar in den frühindustrialisierten Ländern Westeuropas, für die nordischen Länder aber nur 60 % dieses Wertes. Bis 1913 hatte Skandinavien wirtschaftlich aufgeholt und erreichte nunmehr fast 82 % des westeuropäischen Pro-Kopf-Einkommens. Osteuropa dagegen hatte 1913 noch nicht den Stand Westeuropas um 1860 erreicht. Auch der deutsche Wohlstand lag trotz des rapiden Industrialisierungsfortschritts in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts noch immer deutlich unter demjenigen Englands und Frankreichs. Noch schlechter als Osteuropa entwickelten sich die Länder der Mittelmeerregion. In dieser Region hatte das Pro-Kopf-Produkt im Jahre 1860 mit 309 Dollar erheblich höher als im Osten gelegen. Da die durchschnittliche Wachstumsrate der Mittelmeerländer nach 1860 aber nur 1/3 der osteuropäischen betrug, fiel die Mittelmeerregion sowohl gegenüber dem Osten als auch gegenüber Nordeuropa wirtschaftlich zurück. Besonders schlecht schnitten Spanien und Portugal ab. Im Unterschied zu allen anderen Regionen Europas stagnierte die Wirtschaft der iberische Halbinsel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Nimmt man den Beschäftigtenanteil im sekundären, d.h. gewerblich-industriellen Sektor als Maßstab für die Wirtschaftsstruktur eines Landes, so gab es auch um die Jahrhundertwende in Europa nur ganz wenige Industriegesellschaften; sie befanden sich allesamt in West- und Mitteleuropa. Um 1900 wurde der Kern der hochindustrialisierten europäischen Länder von Großbritannien, Belgien, Deutschland und der Schweiz gebildet. Dazu kam noch die Tschechoslowakei auf dem Territorium der Habsburger Monarchie. Vielleicht lag ein Grund für die starke gewerblich-industrielle Prägung dieser Kerngebiete in deren hoher Bevölkerungsdichte, die die notwendigen Transportleistungen verminderte und zu erheblichen Kosteneinsparungen führte. In diesen Regionen gab es zudem eine Jahrhunderte zurückreichende handwerklich-gewerbliche Tradition, und in Westeuropa waren Arbeitskräfte in großer Zahl verfügbar, so dass man hier lange an arbeitsintensiven Methoden festhalten konnte. Zudem hatte die Industrialisierung im englisch-westeuropäischen Raum schon früh eingesetzt, so dass die Industrieprodukte dieser Regionen lange Zeit den Weltmarkt dominierten.
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erhebliche Entwicklungsund Wohlfahrtsunterschiede in Europa
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Erhebliche Unterschiede zwischen den europäischen Volkswirtschaften gab es mit Blick auf die Entwicklung der Produktivität. Die Produktivitätssteigerungen der europäischen Wirtschaft insgesamt betrugen zwischen 1870 und 1913 jährlich etwa 1 bis 2 %. In Schweden waren sie mit 2,3 % am höchsten. Die beiden frühindustrialisierten Länder Großbritannien und Belgien wiesen mit 1,2 % den geringsten Produktivitätsanstieg auf. Bis 1913 waren alle europäischen Volkswirtschaften in ihrer Produktivitätsentwicklung hinter die USA zurückgefallen.
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Arbeitsteilung zwischen den europäischen Volkswirtschaften führt zu Kostenvorteilen
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Produktivität Produktivität ist der Quotient aus dem Produktionsergebnis und der Faktoreinsatzmenge, d.h. dem Input von Kapital (Kapitalproduktivität) oder Arbeit/Arbeitsstunden (Arbeitsproduktivität). Steigerungen der Produktivität sind möglich durch Investitionen, Innovationen, technische Fortschritte oder eine Verbesserung der Infrastruktur und weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung.
Das um 1850 noch klar dominierende Großbritannien konnte bis 1913 nur noch in der Textilindustrie seine Führung halten. In der Eisen- und Stahlproduktion wurde es dagegen um die Jahrhundertwende von den USA und Deutschland überholt. Auch Russland und Österreich-Ungarn holten in der Roheisen- und Stahlproduktion gegenüber England, Frankreich und Belgien auf. Deutschland holte auch im Maschinenbau auf. In den 1850er Jahren dominierten z.B. im Lokomotivenbau noch englische, belgische und amerikanische Lokomotiven. Innerhalb des darauffolgenden Jahrzehnts traten deutsche und österreichische Lokomotiven an ihre Stelle. Deutsche Landmaschinen konnten gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf den osteuropäischen Märkten erfolgreich mit englischen Anbietern konkurrieren. Großbritannien behielt allerdings seine eindeutige Führung im Schiffbau. Nicht mithalten konnten die Briten wegen ihres lediglich rudimentären Systems der technischen Bildung (vor allem im universitären Bereich) und mangelndem Interesse der erfolgsverwöhnten englischen Unternehmer auf dem Felde der zukunftsweisenden Science-based Industries. Zu einer Domäne der deutschen und der schweizerischen Industrie entwickelte sich die Produktion synthetischer Farbstoffe und Arzneimittel. Die deutsche Farbstoffindustrie verfügte praktisch über ein Weltmonopol, und auch die deutsche elektrotechnische Industrie dominierte in Europa und konkurrierte weltweit mit der amerikanischen Elektroindustrie. Science-based Industries Als wissenschaftsbasierte Industrien wurden Branchen bezeichnet, deren Produkte auf der Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse beruhten und die in zunehmendem Maße an Hochschulen oder Universitäten ausgebildete Naturwissenschaftler als Techniker und Ingenieure beschäftigten. Vielfach bauten diese Unternehmen eigene Forschungs- und Entwicklungsabteilungen auf. Beispiele sind insbesondere die Chemie- und Elektroindustrie.
Da die Industrialisierung ein Phänomen war, das sich auf regionaler und nicht auf gesamtnationaler Ebene vollzog, waren die regionalen Wachstums- und Wohlstandsdisparitäten innerhalb der einzelnen Nationen noch viel größer als diejenigen zwischen den Nationalwirtschaften. Demzufolge waren die Wirtschaftstrukturen und Lebensverhältnisse in den einzelnen
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Nationen außerordentlich stark differenziert. Neben ausgesprochenen industriellen Ballungsräumen wie dem Ruhrgebiet standen ländliche und kleinstädtische Regionen, deren Bewohner vom Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozess kaum berührt wurden.
3. Europa und die Weltwirtschaft im 19. Jahrhundert Verflechtungstendenzen der europäischen Wirtschaft Auf den Güter-, Kapital- und Arbeitsmärkten kam es im Zuge des Industrialisierungsprozesses zu deutlichen Tendenzen der Europäisierung. Schon der Austausch des technischen Know-how führte zu einer zunehmenden Verflechtung von Produktion und Handel der europäischen Volkswirtschaften untereinander. Die staatlichen Eisenbahn- und Postverwaltungen waren durch den technischen Fortschritt im Nachrichten- und Verkehrswesen zur internationalen Kooperation gezwungen. In der Chemie- und Elektroindustrie waren Patente in mehreren Ländern oder die Lizenzvergabe an ausländische Firmen weit verbreitet. Bei Vor- und Halbprodukten gab es einen regen internationalen Güteraustausch. So fand englische Kohle ihren Weg nach Italien und wurden englische Baumwollgarne auf dem Kontinent verwebt. Schwedisches Roheisen und deutsches Halbzeug gingen zur Weiterverarbeitung nach England. Es entwickelte sich auf diese Weise eine europäische Arbeitsteilung, die zu erheblichen Kostenvorteilen führte. Auch wenn Europa den Welthandel dominierte, so kam doch dem innereuropäischen Handel die größte Bedeutung zu. 1913 umfasste der gesamte Warenhandel zwischen den sieben industrialisierten Ländern Europas (Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Belgien, Italien, Österreich, Schweiz) nicht weniger als 1/3 des gesamten Welthandels an Industrieprodukten. Großbritannien war der wichtigste Handelspartner Frankreichs und der zweitwichtigste Deutschlands. Deutschlands wichtigster Handelspartner war Frankreich. Frankreich und Großbritannien waren ihrerseits wiederum die wichtigsten Handelspartner Belgiens, der Niederlande und der Schweiz, d.h. gemessen an der außenwirtschaftlichen Verflechtung war die europäische Wirtschaft bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine deutlich zu identifizierende Einheit. Die Kapitalinvestitionen im Ausland bildeten einen weiteren wichtigen Faktor der europäischen Wirtschaftsverflechtung. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Briten auch auf dem europäischen Kontinent die größten Kapitalgeber und trugen auf diese Weise erheblich zur Finanzierung der Industrialisierung des Kontinents bei. Mehr als die Hälfte der britischen Investitionen flossen bis 1850 auf den europäischen Kontinent. Bis 1875 konnten die Briten ihren gesamten Bestand an Auslandsanleihen verfünffachen (sie beliefen sich insgesamt auf etwa eine Milliarde Pfund!). Damals war London noch immer der einzige international bedeutende Geldmarkt und Kapitalgeber. Die zweitgrößten europäischen Auslandsinvestoren waren die Franzosen, deren ausländische Kapitalanlagen 1914 knapp die Hälfte der englischen
Auslandsinvestitionen als wesentlicher Faktor der europäischen Wirtschaftsverflechtung
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betrugen. Die französischen Investitionen gingen vorzugsweise in Eisenbahnen und Staatsanleihen. Vielfach waren sie politisch motiviert, wie insbesondere bei den Russlandanleihen seit Ende der 1880er Jahre. Französisches Kapital finanzierte auch in Italien und Spanien sowie in geringerem Umfang in Südosteuropa den Eisenbahnbau. Die deutschen Auslandsinvestitionen beliefen sich 1914 auf etwa 30 % der britischen und 65 % der französischen. Zielgebiete waren in erster Linie die unmittelbaren Nachbarländer, wobei auf Österreich-Ungarn ca. 1/4 entfiel. Danach folgte Russland. Die deutsche Elektro- und Chemieindustrie und mehrere deutsche Banken hatten finanzielle Engagements in Frankreich, Italien, der Schweiz und Belgien, der Siemens-Konzern auch in England. Darüber hinaus befanden sich die größten Auslandsanteile an den rumänischen Ölfeldern in den Händen deutscher Investoren. Der größte europäische Kreditnehmer zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Russland, das unter der Regierung des Grafen Witte im Rahmen seines Industrialisierungsprogramms umfangreiche Auslandsanleihen der westeuropäischen Nationen aufnahm. An den russischen Staatsschulden von mehr als acht Mrd. Rubel im Jahre 1914 waren ausländische Gläubiger zu 48 % beteiligt. Im unmittelbaren Vorfeld des Ersten Weltkrieges stießen Deutschland und Österreich allerdings den größten Teil ihrer russischen Staatsschulden ab, so dass fortan 80 % in französischer und 14 % in britischer Hand waren. Zahlreiche russische Industriewerke befanden sich im Besitz von Ausländern. Mehr als die Hälfte der südrussischen Kohleförderung und mehr als 3/4 der Roheisenproduktion wurden von den Franzosen kontrolliert. 16 der insgesamt 17 großen Eisen- und Stahlwerke standen unter der Kontrolle von Ausländern. Die Petersburger Textilindustrie wurde von britischem Kapital dominiert, während deutsches Kapital besonders stark in dem 1815 auf dem Wiener Kongress geschaffenen, unter russischer Herrschaft stehenden Königreich Polen (Kongresspolen) engagiert war. Ein weiterer großer Auslandsschuldner war das Osmanische Reich. Seine Verschuldung von 200 Mill. Pfund war so groß, dass es 1876 seine Zahlungen einstellen musste. Die europäischen Gläubiger willigten in eine Herabsetzung der Schuld nur gegen die Unterstellung der gesamten Steuer-, Zollund Eisenbahneinnahmen unter ihr Kontrolle ein. Vor dem Ersten Weltkrieg waren die Franzosen mit 60 % die größten Gläubiger des Osmanischen Reiches, gefolgt von den Deutschen mit 25 % und den Briten mit 14 %. Die finanzielle Hauptlast für Verzinsung und Tilgung der ausländischen Investitionen und Anleihen lag überall auf den Schultern der breiten Bevölkerungsmehrheit. Die einschlägigen Mechanismen, diese Lasten abzuwälzen, bestanden z.B. in hohen Preisen bei Artikeln, die von Regierungsmonopolen kontrolliert wurden, oder in Steuern zum Zwecke der Rückzahlung der ausländischen Anleihen. Französische Investoren in der russischen Eisen und Kohleindustrie bedienten sich Kartellorganisationen, um auf dem Wege über erhöhte Preise hohe Gewinne auf Kosten der Bevölkerung und damit eine hohe Verzinsung ihrer Investitionen zu erreichen. Die finanzielle Last der Auslandsanleihen bedeutete für die osteuropäischen Länder eine ständige Gefahr des Staatsbankrotts. Die wirtschaftliche Verflechtung der europäischen Volkswirtschaften untereinander wurde auch durch multinationale Unternehmen oder inter-
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Europa und die Weltwirtschaft im 19. Jahrhundert
III.
nationale Kartellabsprachen gefördert. Insbesondere von kleineren Ländern wie der Schweiz, den Niederlanden oder Schweden gingen multinationale Konzerne aus. Um die seit den 1880er Jahren wieder zunehmenden protektionistischen Zollschranken zu überwinden, gründeten Unternehmen aus Niedrigzollländern Zweigwerke im Ausland. Banken wie diejenige der Rothschilds oder Großbanken wie die Deutsche Bank oder der Crédit Lyonnais investierten europaweit und finanzierten z.B. den Eisenbahnbau, die Industrialisierung und Elektrifizierung Norditaliens, Österreichs, Ungarns und Russlands zu einem beträchtlichen Teil. Parallel zur Integration der Gütermärkte griffen auch die Kartellierungsbestrebungen der Industrie über die Ländergrenzen hinaus. Die Zahl der Kartelle stieg in den 1890er Jahren sprunghaft an. Bis 1913 gab es in Europa mindestens 100 länderübergreifende Kartelle. Welthandel, internationale Arbeitsteilung, Zahlungsverflechtungen Im 19. Jahrhundert wurde die Weltwirtschaft von Europa dominiert. Dies gilt gleichermaßen für die Produktion wie für den Handel. Auf Großbritannien entfielen 1800 erst 4,3 % der gesamten Industriegüterproduktion in der Welt, 1830 bereits 9,5 % und 1860 19,9 %. Europa insgesamt stellte 1830 1/3 der gesamten Weltindustrieproduktion her, und es konnte seinen Anteil in den folgenden Jahrzehnten ständig steigern: 1860 waren es schon über 50 % und 1900 bereits 62 %. Bedingt durch das schnelle Wachstum der amerikanischen und bald auch der japanischen Industrie verlor Europa in den letzten anderthalb Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg allerdings tendenziell Anteile. Auf die zunehmende Verflechtung der europäischen Wirtschaft wie auch auf ihre Dominanz in der Weltwirtschaft hatte die britische Freihandelspolitik großen Einfluss. 1846 hob Großbritannien die Kornzölle und 1849 die Navigationsakte auf, die seit rund zweihundert Jahren das Rückgrat der merkantilistischen Handelspolitik der Briten gebildet hatte. Bis 1860 hatten die Briten alle Zölle und Handelshemmnisse einseitig aufgehoben. Abkommen mit Frankreich (Cobden-Chevalier-Vertrag von 1860) und anderen Ländern führten zu einer Senkung der Zölle und im Wege von Meistbegünstigungsklauseln zur Entstehung einer europäischen Freihandelszone. Indien und anderen britischen Kolonien wurde der Freihandel oktroyiert. Länder innerhalb des informellen britischen Empire wie die Türkei, China, Persien und Thailand verfügten nur über eine begrenzte handelspolitische Souveränität und mussten den Briten niedrige Zollsätze zugestehen. Die britische Freihandelspolitik trug zur Verbreitung des technischen Fortschritts und zur Verbesserung der internationalen Arbeitsteilung bei. Dabei spielte die britische Bereitschaft, einen großen Teil der benötigten Nahrungsmittel aus dem Ausland zu importieren, eine wichtige Rolle. Vor allem Nordamerika, Lateinamerika und der australasiatische Raum, die über große Rohstoffressourcen verfügten und sich deshalb zu Zielgebieten britischer Kapitalinvestitionen entwickelten, profitierten von der britischen Freihandelspolitik. Mit Blick auf die zunehmende Verflechtung zwischen Westeuropa und den USA kann man von einem Zusammenwachsen des atlantischen Kerns der Weltwirtschaft seit dem 19. Jahrhundert sprechen. Einen erheblichen
Europa dominiert die Weltwirtschaft
Bedeutung der britischen Freihandelspolitik
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Die europäische Wirtschaft im Zeitalter der Industriellen Revolution
III.
Beitrag dazu leistete die interkontinentale Migration. Europäische Einwanderer erschlossen in Nordamerika neue Pioniergrenzen, was zu effizienterer globaler Ressourcennutzung und Arbeitsteilung führte. Sie stellten zudem gute Kunden für europäische Erzeugnisse dar. Das Zusammenwachsen des atlantischen Kerns der Weltwirtschaft in den Vereinigten Staaten und Nordwesteuropa zeigte sich bereits in einer deutlichen Angleichung von Güterpreisen, Reallöhnen und Konjunkturverläufen. Die zunehmende internationale Arbeitsteilung ließ den Welthandel zwischen 1880 und 1913 um 156 % ansteigen. Im 19. Jahrhundert lebte Großbritannien, die „Werkstatt der Welt“, von amerikanischem Getreide, Rindfleisch und anderen Primärprodukten sowie wachsenden Holzimporten. Selbst auf dem Höhepunkt seiner industriellen Entwicklung war Großbritanniens Handelsbilanz mit der Neuen Welt insgesamt negativ. Das übliche Defizit, das im Handel mit den Vereinigten Staaten entstanden war, konnte Großbritannien mit einem Überschuss aus dem Handel mit Lateinamerika abdecken, ebenso wie sein chronisches Defizit im Chinahandel mit dem großen Überschuss im Handel mit Indien. Die südamerikanischen Länder deckten ihr Zahlungsbilanzdefizit gegenüber London aber keineswegs durch den Transport großer Goldmengen ab, sondern nahmen stattdessen Anleihen in Großbritannien auf, die häufig mit der Auflage vergeben wurden, britische Güter und Dienstleistungen zu kaufen. Die auf ihre Anleihen gezahlten Zinsen sicherten Londons Rolle als größter internationaler Kapitalmarkt.
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Zahlungsbilanz, Handelsbilanz, Leistungsbilanz Die Zahlungsbilanz ist die Gegenüberstellung sämtlicher Zahlungen, die zwischen dem In- und Ausland durchgeführt werden. Diese setzen sich zusammen aus: (1) den Einnahmen und Ausgaben aus dem Warenverkehr ( = Handelsbilanz), (2) Zahlungen für Dienstleistungen (z.B. Transport- und Versicherungsleistungen), (3) Geldsendungen verschiedenster Art (z.B. Erbschaften, Überweisungen von Auswanderern), (4) politischen Geldsendungen (z.B. Reparationen), (5) zwischenstaatlichen Kapitalübertragungen. Die Zahlungen nach (1) und (2) werden als Leistungsbilanz zusammengefasst, die nach (3) und (4) werden als unentgeltliche Übertragungen bezeichnet. Formal ist die Zahlungsbilanz durch Gold- und Devisenübertragungen zwar immer ausgeglichen. Von einer passiven Zahlungsbilanz wird aber dennoch gesprochen, wenn das Überwiegen passiver Einzelposten der Zahlungsbilanz durch die Ausfuhr von Gold und Devisen ausgeglichen werden muss. Dies kann auf die Dauer den Außenwert der Währung gefährden und eine Abwertung erfordern. Bei einer aktiven Zahlungsbilanz wird dagegen der Außenwert der Währung (= harte Währung) erhöht, da das Ausland Gold- und Devisen abgibt.
Als in Nordamerika und in Europa zunehmend Industrien entwickelt wurden, die auf dem Weltmarkt als Konkurrenten auftraten, konnte Großbritannien sein erhebliches Handelsdefizit mit Kontinentaleuropa und Nord- sowie Südamerika nur mit seinen Überschüssen im Asienhandel ausgleichen. Dabei spielte Indien eine besondere Rolle. Sein Markt wurde für den Import britischer Industriegüter (von Baumwolltextilien bis hin zu Lokomotiven) geöffnet, und die Erträge aus der indischen Ausfuhr von Opium nach China und von Tee und Indigo nach Kontinentaleuropa glichen einen erheblichen Teil des britischen Handelsdefizits aus.
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Europa und die Weltwirtschaft im 19. Jahrhundert Die Verdichtung des Welthandels seit den 1880er Jahren führte zu einem dichten Netzwerk wechselseitiger internationaler Zahlungsverbindlichkeiten. Voraussetzung für dessen Funktionsfähigkeit war eine stabile Leitwährung wie das Pfund, ergänzt durch die Mechanismen des Goldstandards, der sich bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts fast überall durchsetzte. Goldstandard Der Goldstandard bezeichnet eine gesetzliche Regelung, die den Wert einer Währung in Gold definiert. Für die umlaufenden Banknoten ist die vollständige oder teilweise Deckung durch Gold zwingend vorgeschrieben. Die Banknoten sind jederzeit zum vollen Nennwert in Gold einlösbar. Der Zu- oder Abfluss der Währungsreserve Gold durch Leistungsbilanzüberschüsse bzw. -defizite hat automatisch eine Expansion bzw. Verringerung des Geldumlaufs zur Folge. Im Falle eines Leistungsbilanzdefizits (z.B. durch nachlassende Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft) wird das inländische Preisniveau durch den Abfluss des Deckungsmetalls deflationiert, d.h. abgesenkt (= Geldmengen-Preis-Mechanismus). Dies führt zu einer wieder verbesserten Wettbewerbsfähigkeit. Gleichzeitig führt die Preis- und Einkommensminderung im Inland zu einem Rückgang des Imports, während die Einkommenssteigerung im Ausland zu einer verstärkten Nachfrage führt. Im Ergebnis kommt es zu einem Ausgleich der Leistungsbilanz (= Goldautomatismus). Der Goldautomatismus funktioniert nur bei einem vollständigen Verzicht auf eine autonome Geld-, Kredit- und Vollbeschäftigungspolitik und bei flexiblen Preisen und Löhnen. Da alle Anpassungsprozesse über die Preise und Löhne stattfinden, ist er in modernen Wohlfahrtsstaaten nicht praktikabel und brach deswegen auch in der Weltwirtschaftskrise zu Beginn der 1930er Jahre auseinander.
III. der Goldstandard
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Während sich in Europa seit den 1880er Jahren eine Tendenz zum Protektionismus durchsetzte, blieb Großbritannien der einzige größere Markt für Rohstoffe, Nahrungsmittel und gewerbliche Güter, der nicht von Schutzzöllen abgeschirmt war. Seine zentrale Rolle im internationalen Handelssystem konnte Großbritannien trotz seines erheblichen Defizits in der Handelsbilanz spielen, da dies durch die Überschüsse aus der Kapitalbilanz ausgeglichen wurde. Dennoch hing die maßgebliche Rolle Großbritanniens im Weltwirtschaftssystem letzten Endes von der Wettbewerbsfähigkeit seiner Industrie ab, und diese war seit den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts rückläufig. Das britische Handelsbilanzdefizit, das 1875–1884 durchschnittlich 117 Mill. Pfund pro Jahr betragen hatte, nahm 1904–1913 auf 147 Mill. Pfund zu. Bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges konnte sich Großbritannien dieses Handelsbilanzdefizit leisten, da es über ständig anwachsende Gewinne aus Schifffahrt, Versicherungswesen und Verzinsung seiner internationalen Anleihen verfügen konnte. Während des Krieges beschleunigte sich der wirtschaftliche Niedergang im Verhältnis zu den USA und Japan, und die Briten mussten zudem einigen Kreditnehmerländern ihre Schulden erlassen, um deren Beteiligung am Krieg zu ermöglichen. Alles in allem kam es nach 1870 zu einer erheblichen Ausweitung der internationalen Kapital und Kreditverflechtung. Die Summe aller Auslandskredite stieg von 1,3 Mill. Pfund im Jahre 1870 auf 9,5 Mill. Pfund im Jahre 1914 an. Großbritannien kontrollierte 1914 noch immer 44 % aller internationalen Anleihen, Frankreich 20 %, Deutschland 13 %, die Vereinigten Staaten 8 % und Belgien, die Niederlande und die Schweiz zusammen etwa 12 %.
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Die europäische Wirtschaft im Zeitalter der Industriellen Revolution
III.
Die Kreditnehmer für das gesamte internationale Kreditvolumen befanden sich im Jahre 1914 zu 25 % in Europa, weitere 24 % gingen an Nordamerika, 19 % an Lateinamerika. Auf asiatische Kreditnehmer entfielen 16 %, auf Afrika lediglich 9 %, die fast ausschließlich an Südafrika und Ägypten, also an ein von Weißen besiedeltes Land bzw. an ein für Briten und Franzosen strategisch wichtiges Land gingen. In den letzten Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg wurden die internationalen Kreditverflechtungen nicht nur komplexer, sondern auch konfliktorientierter. Die großen Kreditgeber tätigten ihre Investitionen nämlich überwiegend auf dem Gebiete ihrer politischen Bündnispartner oder in den von ihnen selbst politisch kontrollierten Regionen. Beispiele für diese politische Orientierung der Auslandsinvestitionen sind die französischen Anleihen an Russland oder die deutschen an Österreich-Ungarn. Keines der großen europäischen Industrieländer investierte in den Kolonien anderer Staaten. Die Briten schlossen Frankreich seit den 1880er Jahren weitgehend aus dem Kreditgeschäft mit Ägypten aus. Lateinamerika war kreditpolitisch faktisch in Einflusszonen aufgeteilt: die USA dominierten in Mexiko und Kuba, Großbritannien dagegen in Argentinien. In Marokko, Tunesien und China führten internationale Anleihen zu ernsthaften diplomatischen Auseinandersetzungen zwischen den beteiligten Mächten Frankreich, Großbritannien und Deutschland.
umstrittene ökonomische Bedeutung des Imperialismus und der Kolonien
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Die wirtschaftliche Bedeutung der Kolonien Ein häufig kontrovers beurteiltes Thema ist die wirtschaftliche Bedeutung der Kolonien für die europäischen Industriestaaten. Die europäischen Nationalstaaten teilten nach 1870 die Reste der noch nicht eroberten Welt unter sich auf und kontrollierten um 1900 fast ganz Afrika und Südostasien; darüber hinaus hatten sie auch die Souveränität Chinas beträchtlich eingeschränkt. Großbritannien herrschte über 345 Mill. Nichtbriten in Afrika, Indien und der pazifischen Region. Frankreich sah koloniale Erwerbungen als Ausgleich für die Schmach des Krieges von 1870 gegen Preußen-Deutschland an. Eine jahrhundertealte Kolonialmacht waren die Niederländer mit ihren Interessen in Südostasien. Aber auch Italien und Belgien sowie das Deutsche Reich strebten nach kolonialem Besitz. Kolonien hatten viele Funktionen. Sie waren Ausdruck von politischem Großmachtstatus, ein Prestigeobjekt, militärisch-strategische Basen, Gegenstand des innenpolitischen Kampfes und nicht zuletzt eine Quelle ökonomischer Profite. Der ökonomische Aspekt des Imperialismus wird am deutlichsten im Falle der Briten. England war das europäische Land mit der stärksten Abhängigkeit von Einfuhren oder überseeischen Exportmärkten. Das kontinentale Europa war demgegenüber noch bis in die 1870er Jahre in der Lage, seine Grundnahrungsmittel selbst zu produzieren. Wichtigstes europäisches Importgut war die amerikanische Baumwolle. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts führte die Bedeutungszunahme der Elektro-, Auto- und Zweiradindustrie zu einer wachsenden europäischen Einfuhrabhängigkeit bei industriellen Rohstoffen wie Kautschuk oder Kupfer. Kautschuk und Zinn kamen aus Südostasien, Bolivien, Kupfer und Baumwolle hauptsächlich aus den USA. Australien und Argentinien lieferten Wolle. Wichtigster Rohstofflieferant für Europa in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg aber war keine Kolonie,
Europa und die Weltwirtschaft im 19. Jahrhundert
III.
sondern mit den Vereinigten Staaten ein anderes Industrieland. Auch auf dem Exportsektor waren die Kolonien kaum relevant. Lediglich Indien spielte als Markt für britische Industrieprodukte zwischen 1860 und 1919 eine immer wichtigere Rolle. Es nahm bis zu 14 % aller britischen Exporte auf und war damit neben den Vereinigten Staaten der wichtigste britische Exportmarkt. Indien lieferte Baumwolle für die Fabriken in Lancashire und nahm umgekehrt die englischen Textilien auf. Das noch im 18. Jahrhundert hochstehende und bedeutende indische Textilgewerbe wurde im 19. Jahrhundert ruiniert. Die hohe Besteuerung des Landes durch die Briten verhinderte die Bildung von Ersparnissen und damit Investitionen in gewerbliche Verbesserungen. Indische Landbesitzer waren gezwungen, in großem Maßstab landwirtschaftliche Produkte oder Rohstoffe für den Export zu produzieren. Darüber hinaus ließen die Briten in Indien Opium anbauen, das sie nach China exportierten, um damit ihr Handelsbilanzdefizit abzudecken. Die Investitionen in die indische Infrastruktur dienten allein den britischen Wirtschaftsinteressen, und die entsprechenden Anleihen mussten zudem aus dem indischen Staatshaushalt bedient werden. Eine zweite Region, die wirtschaftlich für die europäischen Industriestaaten Bedeutung hatte, war Südamerika. Zwar gab es hier keine direkte koloniale Herrschaft, sehr wohl aber informelle Interessensphären und Abhängigkeiten. Im Jahre 1824 war die letzte spanische Bastion in Südamerika gefallen. Im Gefolge entwickelten sich die Briten zur herrschenden europäischen Macht innerhalb der südamerikanischen Ökonomie. Die Unabhängigkeitskriege waren von Londoner Bankiers finanziert worden. Nach ihrer Beendigung begannen Aktiengesellschaften in der Londoner City mit der Finanzierung verschiedener wirtschaftlicher Unternehmungen im Bergbau und in der Landwirtschaft. Ein großer Teil der britischen Investitionen in Lateinamerika war in Eisenbahnen gebunden. Aus Argentinien bezogen die Briten Rindfleisch, das in den neuen Kühlschiffen transportiert wurde, aus Brasilien Gummi, Baumwolle, Kaffee und Kakao, aus Chile Nitrate, Kupfer, Wolle und Zinn, aus Mexiko Metalle wie Gold, Silber, Kupfer, Zink und Zinn sowie Petroleum, aus Peru Baumwolle, Zucker und Gummi. Im Gegenzug exportierte Großbritannien Kohle, Transportgüter wie ganze Eisenbahnanlagen, Maschinen, Textilien und andere Industriegüter. Der Handel zwischen Lateinamerika und Europa bestand also im Wesentlichen aus dem Import von Primärprodukten aus Südamerika nach Europa im Gegenzug für Fabrikwaren. Auch die Profite aus den europäischen Investitionen in Lateinamerika kehrten nach Europa zurück. Deutschland betätigte sich ebenfalls in Südamerika, wenngleich in kleinerem Rahmen, und zwar auf dem Felde von Staatsanleihen, im Eisenbahnbau oder der Anlage von Plantagen. Investitionen und Handelsaktivitäten der europäischen Nationen wurden durch entsprechende Migrantenströme ergänzt. Britische und deutsche Kaufleute und Arbeiter lebten in Argentinien, Mexiko und Zentralamerika, in Venezuela, Brasilien und Chile. Vor allem Südeuropäer stellten gegen Ende des 19. Jahrhunderts einen immer größeren Teil der Auswanderer in die Neue Welt. Afrika spielte für die europäischen Industrienationen in wirtschaftlicher Hinsicht eine geringe Rolle. Es bot mit Ausnahme der französischen Siedlung in Algerien und derjenigen der Buren und Briten in Südafrika kaum at-
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Die europäische Wirtschaft im Zeitalter der Industriellen Revolution
III.
traktive Räume für eine europäische Besiedelung. Das Hauptinteresse der Europäer an afrikanischen Kolonien bestand in mineralischen Rohstoffen, insbesondere in Gold und Diamanten in Südafrika. Für die Briten spielte auch China eine nicht unbedeutende Rolle. Die Briten integrierten China in ihr Herrschafts- und Handelssystem in Indien, indem die East India Company indisches Opium nach China exportierte. Die daraus resultierenden Handelsgewinne dienten den Briten zur Finanzierung des britischen Imports von chinesischem Tees und Porzellan. Als die Chinesen um die Mitte des 19. Jahrhunderts den Opiumhandel unterbinden wollten, entbrannte der Opiumkrieg. Der nach der chinesischen Niederlage oktroyierte Handelsvertrag von Nanking (1842) gab China der ökonomischen Durchdringung durch die Europäer preis.
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IV. Die europäische Wirtschaft im 20. Jahrhundert 1. Die europäische Wirtschaft zwischen den Weltkriegen Die wirtschaftlichen Folgen des Ersten Weltkrieges Im Zeitraum 1914–1945 verlief das Wachstumstempo der Weltwirtschaft sehr viel langsamer als 1870–1913. Durchschnittliche Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts 1913–1950 A. Maddison: Growth and Slowdown in Advanced Capitalist Economies. Techniques of Quantitative Assessment. In: Journal of Economic Literature 25 (1987), S. 650 Deutschland
1,3
England
1,3
Frankreich
1,1
USA
2,8
Das verminderte Wachstum war in erster Linie zurückzuführen auf die gravierenden Auswirkungen des Ersten Weltkrieges. Der Krieg zerriss das bis 1914 dichte Netz der internationalen Wirtschaftsbeziehungen. Das betraf in gleicher Weise die Güter- und Kapitalmärkte wie den Arbeitsmarkt. Im Ergebnis bedeutete dies die Zerschlagung der überkommenen weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung und damit faktisch das Ende der europäischen Vorherrschaft innerhalb des internationalen Wirtschaftssystems. Während Europa sich in vier Kriegsjahren zerfleischte und seine Anstrengungen auf die Rüstung konzentrierte, entstanden in den europäischen Kolonien, in Lateinamerika und Asien neue Industrien, die die ausgefallenen europäischen Exporte kompensierten. Damit verschärfte sich für die europäische Montanindustrie und die Textilindustrie der Wettbewerbsdruck durch die neu aufsteigenden Konkurrenzindustrien in den Vereinigten Staaten, Südamerika, Japan, Australien, Indien und Südafrika. Darunter litten insbesondere diejenigen europäischen Regionen, in denen die „alten“ Industriezweige wie die Textilindustrie, der Kohlebergbau, die Eisen und Stahlerzeugung und die Werftindustrie konzentriert waren. Das Marktgefüge hatte sich durch den Weltkrieg grundlegend verändert. Es waren nicht nur neue Konkurrenten entstanden, sondern in Übersee hatten die Vereinigten Staaten und Japan während der Kriegsjahre viele Märkte erobert, die zuvor von den Europäern versorgt worden waren. So waren die USA in Südamerika an die Stelle der bisherigen europäischen Lieferanten getreten, während die Japaner sich den zuvor ebenfalls von den Europäern belieferten Markt in China, Indien und Indochina erschlossen hatten. Die alten Industrienationen des westlichen Europa konnten schon von daher nach dem Kriege nicht mehr die dominierende wirtschaftliche Rolle spielen. Demgegenüber hatten die Vereinigten Staaten in den vier Kriegsjahren ihre Produktion gewaltig steigern können. Der Überschuss ihrer Handelsbilanz war während des Ersten Weltkrieges höher als in den 125 Jahren davor.
Erster Weltkrieg zerreißt das Netz der internationalen Wirtschaftsund Handelsbeziehungen
Aufstieg der USA
99
Die europäische Wirtschaft im 20. Jahrhundert
IV.
Die Hälfte der gesamten Goldbestände der Welt floss in die Vereinigten Staaten, die nicht nur ihre Auslandsschulden tilgen, sondern sogar den Krieg der Ententemächte mit ca. 10 Mrd. Dollar finanzieren konnten. Innerhalb weniger Jahre wurden die USA aus einem Schuldner- zu einem Gläubigerland. Demgegenüber hatten Großbritannien und Frankreich bei Kriegsende ihre Position als führende Finanzmächte verloren. Die europäischen Mächte waren nach dem Krieg hoch verschuldet, ihre Auslandsguthaben und Goldbestände waren dahingeschmolzen. Die Kaufkraft ihrer Währungen war gesunken, was ihren Import verteuerte. Gerade die alte weltwirtschaftliche Führungsmacht, die Briten, litten besonders unter der nach dem Krieg veränderten Situation auf den Märkten. Sie sahen sich in Südostasien der verstärkten Konkurrenz der Japaner gegenüber, die mit ihren niedrigen Löhnen einen erheblichen Kostenvorteil hatten. In den englischen Kolonien hatte zudem die wirtschaftliche Unabhängigkeit während des Krieges erheblich zugenommen. So war die indische Textilindustrie in Bombay geradezu explosiv angewachsen. In den „weißen“ Dominions Australien, Südafrika und Kanada kam es, ähnlich wie in Lateinamerika, nach dem Kriege zu protektionistischen Maßnahmen, um den industriellen Aufbau abzusichern. Die Auflösung der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie zerriss historisch gewachsene Wirtschaftsverbindungen und führte zur Entstehung neuer Zollgrenzen und Währungen. Zudem musste sich die Sowjetunion im Zuge des Aufbaus einer sozialistischen Wirtschaftsordnung weitgehend aus der Weltwirtschaft zurückziehen. Hatte der Anteil Russlands am Welthandel 1913 noch ungefähr 4 % betragen, so sank er in den späten 1920er Jahren auf nur noch 1,5 % und in den 1930ern auf 1 % ab. Lediglich Deutschland hielt Handelsbeziehungen mit der Sowjetunion in nennenswertem Umfang aufrecht. Der Übergang von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft brachte überall erhebliche Schwierigkeiten mit sich. Erst nach deren Überwindung und der Stabilisierung der Währungen setzte Mitte der 1920er Jahre ein wirtschaftlicher Aufschwung („Goldene Zwanziger“) ein, der auch zu einem gesteigerten internationalen Handelsaustausch führte. Der europäische Aufschwung erreichte jedoch nicht das Ausmaß des amerikanischen. In den USA kam es durch eine weitgetriebene Mechanisierung und Rationalisierung zu erheblichen Produktions- und Produktivitätssteigerungen vor allem in der Automobil- und Chemieindustrie. Die neuen Produktionsmethoden fanden auch in Europa, besonders in Deutschland, Eingang, doch setzten die geringe Größe des europäischen Marktes und der Kapitalmangel nach Krieg und Inflation der Wohlstandsentwicklung enge Grenzen. In Deutschland lag das Volkseinkommen selbst im wirtschaftlich günstigsten Jahr der Weimarer Republik, 1928, real nur bei 94 % des Vorkriegsstandes. Während die USA bereits eine Konsumgesellschaft waren, blieben die materiellen Verhältnisse in Europa für große Teile der Bevölkerung nach wie vor von großer Enge geprägt. Unter den fundamental veränderten außen- wie binnenwirtschaftlichen Bedingungen der Nachkriegszeit gab es zudem in Europa ständig eine hohe Arbeitslosigkeit. In Großbritannien lag die Arbeitslosenziffer selbst im Zeitraum 1923–1929 zwischen 10 und 17 %, in Deutschland zwischen 7 und 14 %, in Dänemark und Schweden zwischen 10 und 12 %.
100
Die europäische Wirtschaft zwischen den Weltkriegen Die europäische Landwirtschaft befand sich in den 1920er und 1930er Jahren in einer Dauerkrise. Wichtige landwirtschaftliche Produktionszentren wie Nordfrankreich oder Osteuropa waren während des Krieges ausgefallen, während gleichzeitig in Übersee, vor allem in Nord- und Südamerika, riesige neue Anbauflächen in Betrieb genommen worden waren. Kanada, Australien, Argentinien und die Vereinigten Staaten hatten während des Krieges ihre Anbauflächen für Weizen ausgedehnt. Ähnliches galt für den Zuckerrohranbau auf Kuba, Java und Mauritius. Das Ergebnis war ein starker Preisverfall bei Agrarprodukten, der die europäische Landwirtschaft angesichts der völlig veränderten Marktsituation überall nach Schutzmaßnahmen rufen ließ. Zwischen 1924 und 1929 fielen der Weizenpreis um 2/5 und der Zuckerpreis sogar um 3/5. Die landwirtschaftliche Überproduktion und die zu starke Förderung von Bergbauprodukten in den 1920er Jahren stellten ein gravierendes Problem für die gesamte Weltwirtschaft dar. Weil Bergbauprodukte und Nahrungsmittel 35 % des gesamten Welthandels ausmachten, rief der Preisverfall dieser Produkte in der gesamten Weltwirtschaft depressive Tendenzen hervor. Länder, die in erster Linie Primärerzeugnisse auf dem Weltmarkt anboten, mussten Ende der 1920er Jahre bis zu 30 % mehr verkaufen, um die gleiche Menge an Industriegütern wie vor dem Krieg kaufen zu können. Infolgedessen sanken die Realeinkommen in diesen Ländern, was wiederum den Export der europäischen Industrieländer drosselte. In dieser Hinsicht war die britische Wirtschaft ganz besonders betroffen, da 3/5 ihrer gesamten Exporte in rohstoff- und nahrungsmittelproduzierende Länder gingen. Schwerste Belastungen erfuhr die wirtschaftliche Entwicklung von der währungs- und finanzpolitischen Seite her. Nicht nur die Verlierer des Krieges, sondern auch die Siegermächte wie Großbritannien und Frankreich waren durch Kredite, die ihnen die Kriegführung ermöglicht hatten, stark an die Vereinigten Staaten verschuldet. Für Verlierer wie Gewinner des Krieges erschien unter diesen Umständen eine inflationäre Geldpolitik als attraktiv: der Wechselkurs der eigenen Währung würde sinken und den Export ankurbeln, der eine Rückzahlung der Kriegskredite oder im deutschen Fall der Reparationen ermöglichen würde. Doch der zunächst einsetzende Nachkriegsboom war in West- und Nordeuropa bereits 1920/21 zu Ende, in Deutschland, das sich einer inflationsbedingten Sonderkonjunktur erfreute, 1923. Die Finanzierung des Krieges durch die Notenpresse bedeutete den Zusammenbruch des Goldstandards, der für das Funktionieren der liberalen Weltwirtschaft vor 1914 von zentraler Bedeutung gewesen war. Der Erste Weltkrieg hatte in allen entwickelten Industriestaaten die Entwicklung zum Sozial und Interventionsstaat beschleunigt. Die gewaltigen wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Krieges (Kriegsverluste, Demobilmachung, Rentenund Versorgungsproblematik usw.) verstärkten diesen Trend, und jede Regierung versuchte, diese Probleme für sich zu lösen. Ein internationales Währungssystem, das auf dem Automatismus des Goldstandards beruhte, hätte den politisch unabweisbaren Belangen der Sozialpolitik entgegengestanden, da jeder Rückgang der Goldbestände den dafür zu Verfügung stehenden Finanzrahmen begrenzt hätte. Nach 1918 waren alle am Krieg beteiligten Staaten hoch verschuldet. Lediglich die USA hatten sich zum wichtigsten Gläubigerland und Kapitalex-
IV. Dauerkrise der europäischen Landwirtschaft
Zusammenbruch des Goldstandards, internationale Verschuldung, Inflation
101
Die europäische Wirtschaft im 20. Jahrhundert
IV.
porteur entwickelt. Die europäischen Schuldner waren darauf angewiesen, mit Exporten das Geld zur Rückzahlung ihrer amerikanischen Kredite zu verdienen. Aber die USA erzielten selbst Exportüberschüsse bei Industrieund Agrarprodukten und schotteten ihre Märkte noch dazu durch hohe Zölle ab. Die europäischen Schuldner waren daher auf den beständigen Zustrom amerikanischer Kredite zum Ausgleich ihrer Zahlungsbilanz angewiesen. Diese Zusammenhänge des internationalen Finanzsystems legten den USA die entscheidende Verantwortung für das Funktionieren der Weltwirtschaft auf. Auch wenn es nach der Neuregelung der Reparationszahlungen durch den Dawes-Plan von 1924 in den nachfolgenden Jahren, den sog. „Goldenen Zwanzigern“, zu einem erheblichen Zustrom amerikanischen Kapitals nach Europa kam, so erreichten die internationalen Kapitalströme dennoch nicht mehr das Vorkriegsniveau.
Sonderentwicklung der Sowjetunion
Ursachen der Weltwirtschaftskrise
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Ursachen und Verlauf der Weltwirtschaftskrise Die Weltwirtschaftskrise, die 1929 über die Welt hereinbrach, traf einige der Industrieländer mit einer bisher nicht gekannten Schärfe. Zwischen 1928 und 1932 hörten die Investitionen praktisch auf, und die tiefe Depression dauerte in einigen Ländern bis 1935 oder gar bis 1938. Es kam zu einem extremen Rückgang der Industrieproduktion, und der Welthandel brach um nicht weniger als 2/3 ein. Während die westlichen Industrieländer sich in der tiefsten Krise ihrer Geschichte befanden, nahm die Sowjetunion unter Stalin eine Sonderentwicklung. Der erste Fünfjahresplan (1928) hatte zum Ziel, den industriellen Rückstand der Sowjetunion in kürzester Zeit aufzuholen. Das industrielle Wachstum dürfte in den Jahren 1928–1932 etwa 70 % betragen haben. Rohstoffe und Arbeitskräfte wurden ohne Rücksicht auf die Kosten in bestimmte industrielle Projekte geleitet. Die Methoden zur Kapitalbeschaffung waren rücksichtslos: die Arbeiter wurden gezwungen, Staatsanleihen zu kaufen, das Privatkapital von Handwerk und Kleinindustrie wurde vernichtet, die Landwirtschaft zwangskollektiviert. Das in der kollektivierten Landwirtschaft erzeugte Getreide ging zum überwiegenden Teil in den Export, um damit den Import der notwendigen Maschinen zu finanzieren. Die Leidtragenden waren die Bauern. In den Jahren 1931–33 sind 5–11 Mill. Menschen verhungert. Die Ursachen der Weltwirtschaftskrise waren äußerst komplex. Sie hatten ihre Wurzeln in den schon beschriebenen Verwerfungen des Weltmarktes im Gefolge des Ersten Weltkrieges und in dem neuen internationalen Finanzgefüge, das den Vereinigten Staaten eine Schlüsselrolle für die Weltkonjunktur zuwies. Aber auch hausgemachte Ursachen spielten für die Entstehung der Krise in Europa eine Rolle. So begann bspw. die italienische Wirtschaft als Auswirkung der Überbewertung der Lira schon 1926 zu stagnieren. Auch in Großbritannien war es nach der Wiedereinführung des Goldstandards im Jahre 1924 zu einer Vermehrung der Arbeitslosigkeit gekommen, und die Kürzung der Wohnungsbausubventionen hatte die Investitionen in den Wohnungsbau erheblich gedrosselt. In Deutschland gingen die Investitionen ebenfalls bereits seit 1927 zurück. In den Vereinigten Staaten hatte die lange Hochkonjunktur zum Aufbau von Überkapazitäten und ausgedehnter Aktienspekulation geführt. Ange-
Die europäische Wirtschaft zwischen den Weltkriegen
IV.
sichts eines scheinbar nicht enden wollenden Booms und hoher Unternehmensgewinne beteiligten sich breite Bevölkerungskreise an dieser Spekulation und kauften in Erwartung ständig steigender Kurse häufig Aktien auf Kreditbasis. Die niedrigen Kreditzinsen förderten in der Industrie umfangreiche Investitionen, die nicht immer solide finanziert waren. Als die amerikanische Zentralbank die Zinssätze erhöhte, kam es zu einem Platzen der Spekulationsblase auf dem Aktienmarkt. Nachdem der amerikanische Aktienmarkt sich bereits am 3. Oktober 1929 sehr stark nach unten entwickelt hatte, kam es am Schwarzen Donnerstag, dem 24. Oktober, und am Schwarzen Dienstag, dem 29. Oktober, zu einer Panik, in deren Folge sich der Dow-Jones-Index halbierte. Immer mehr Aktionäre stießen ihre Papiere ab, um den Wertverlust zu begrenzen, und setzten damit eine Spirale des Kursverfalls in Gang. Im Juli 1932 betrug der durchschnittliche Aktienwert nur noch 1/6 des Vorkrisenstandes. Der Sturz der Aktienkurse bedeutete einen enormen Vermögens- und Kaufkraftverlust. Es kam zu einem Run auf die Bargeldbestände der Banken, die die Zahlungen vorübergehend einstellen mussten. Die Illiquidität der Banken und der allgemeine Kaufkraftverlust hatten einen Druck auf die Preise zur Folge, der zu Produktionseinschränkungen und zunehmender Massenarbeitslosigkeit führte. Die amerikanische Finanzkrise hatte katastrophale Konsequenzen für die Weltwirtschaft. Da auf die Vereinigten Staaten über 40 % der gesamten Industrieproduktion und 12 % der gesamten Importe der Welt entfielen, kam ihnen die Schlüsselrolle in der Weltwirtschaft zu. Eine entscheidende Bedeutung hatte dabei die Kreditverflechtung der übrigen Welt mit den USA. Die amerikanischen Gläubiger mussten durch die zusammenbrechenden Aktienkurse erhebliche Liquiditätsverluste hinnehmen, und sie versuchten daher, ihre Auslandskredite möglichst rasch wieder in die Hand zu bekommen. Da diese häufig kurzfristig gekündigt werden konnten, von den Banken in Europa aber zum großen Teil längerfristig weiterverliehen worden waren, gerieten Kreditinstitute in den Schuldnerländern in Illiquidität, und die zunehmende Geldknappheit führte zu Produktionseinschränkungen oder -einstellungen. Die gesamte industrielle Produktion in der Welt sank bis 1932 auf 63 % des Standes von 1929 ab, in Europa auf 71 %, in den USA auf 54 %. Die Beschäftigung in Europa lag 1932 bei 80 % derjenigen von 1929, in den USA nur noch bei 62 %. Die Großhandelspreise in Großbritannien fielen auf 72 %, in Deutschland auf 66 %, in Frankreich auf 53 %. Das Versagen der Politik und das Ausbleiben internationaler Kooperation In der Bekämpfung der Weltwirtschaftskrise versagte jede Form internationaler Kooperation. Stattdessen versuchten die Regierungen, sich durch vielfältige protektionistische Maßnahmen isoliert aus der Krise zu retten. Diese reichten von Devisen- und Handelskontrollen über Währungsmanipulationen, Schutzzölle, Blockbildung und Bilateralisierung der Handelsbeziehungen bis hin zur Aufrüstung. Die Handelsrestriktionen, die in der Weltwirtschaftskrise um sich griffen, trafen die industrialisierten Länder des nordwestlichen Europa mit besonderer Härte, denn diese waren untereinander stets die besten Kunden gewesen.
Versagen der Politik in der Krise
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Die europäische Wirtschaft im 20. Jahrhundert
IV.
Anstelle von ernsthaften Versuchen internationaler Krisenlösung begann ein regelrechtes Wettrennen von Abwertungen und Wechselkursmanipulationen. Im September 1931 sah sich sogar Großbritannien angesichts weiterer Goldabflüsse gezwungen, den Goldstandard zu verlassen. Nach der Aufgabe des Goldstandards fiel das Pfund Sterling in nur 2 Monaten um 30 %. 25 weitere Länder folgten dem britischen Beispiel und verließen ebenfalls den Goldstandard. Länder, die den Goldstandard beibehielten, gerieten dadurch in noch größere Exportschwierigkeiten. Mit der Abwertung ihrer Währungen verfolgten Länder wie Großbritannien, Australien, Argentinien, Brasilien, Kanada, Schweden und Japan das Ziel, sich auf dem Weltmarkt Exportvorteile zu verschaffen und Spielraum für aktive konjunkturpolitische Maßnahmen zum Zwecke der Arbeitsbeschaffung zu erhalten. Diese Ländergruppe erreichte die Talsohle der Depression dann auch schon im Laufe des Jahres 1932, während die Krise in den Ländern des Goldblocks wie den USA und Frankreich länger andauerte. Nach dem Zusammenbruch des Golddevisenstandards 1931/32 kam es zur Bildung verschiedener Währungsblöcke. Dem Sterling-Block gehörten neben den Commonwealth-Ländern Irland, Portugal, die skandinavischen Staaten, Estland und Lettland an. Daneben stand ab 1933 der Goldblock mit Frankreich, Belgien, Italien, der Schweiz, Polen und den Niederlanden. In Mittel- und Südeuropa entstand der Reichsmarkblock unter der wirtschaftlichen Dominanz des nationalsozialistischen Deutschland. Zollpolitisch gaben die USA mit dem berüchtigten Smoot-Hawley-Tarif von 1930 ein schlechtes Beispiel, indem sie die Zölle auf eine ganze Palette amerikanischer Importgüter drastisch erhöhten. Dies hatte entsprechende Vergeltungsmaßnahmen und eine Spirale von Zollerhöhungen zur Folge. Die Weltimporte, die im Januar 1929 noch knapp 3 Mrd. US-Dollar betrugen, reduzierten sich bis Anfang 1933 auf 992 Mill. 1931 hielt es selbst Großbritannien für unabdingbar, den Freihandel zu verlassen und die Zolltarife zu erhöhen. 1932 belegte es alle Importe mit einem zehnprozentigen Einfuhrzoll. Die Weltwirtschaft teilte sich 1932 in mehrere geschlossene Wirtschaftsräume auf. Das 1933 abgeschlossene Ottawa-Abkommen zwischen den Commonwealth-Staaten schuf das sog. Imperial Preference System, das für die Commonwealth-Staaten untereinander Vorzugszölle und Einfuhrerleichterungen, aber verstärkte Restriktionen nach außen vorsah. Darunter litten Länder wie Dänemark und Argentinien, für die der britische Markt eine große Bedeutung hatte. Die Londoner Weltwirtschaftskonferenz vom Sommer 1933 konnte sich weder auf feste Wechselkurse noch auf Zollsenkungen oder andere Formen der Kooperation einigen. Stattdessen litt der Welthandel unter der Ausbreitung zweiseitiger Handelsabkommen, direkter Handelskontrollen, Quoten, Import- und Exportverboten. Bis 1933 hatten die Exporte aller europäischen Länder um mindestens 1/3 abgenommen. Eine gewisse Belebung des Handels erfolgte in den Jahren nach 1934/35. Lediglich die skandinavischen Länder konnten 1938 wieder so viel exportieren wie vor Beginn der Weltwirtschaftskrise. Die britischen und französischen Exporte betrugen 1938 nur 3/5, die deutschen sogar weniger als die Hälfte des Vorkrisenstandes.
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Die europäische Wirtschaft zwischen den Weltkriegen
IV.
Am Ende der 30er Jahre unterlag die Hälfte des Welthandels Zollbeschränkungen. Viele Regierungen betrieben in der Krise eine ausgesprochene Sparpolitik, indem sie die öffentlichen Ausgaben zusammenstrichen, Gehälter und Pensionen von öffentlich Bediensteten beschnitten oder Sozialausgaben reduzierten. Die mit sinkenden Einkommen und der Beschneidung der Geldmenge verbundene Verbesserung der Kostenstruktur sollte die internationale Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Wirtschaft verbessern. Da aber alle großen Industrieländer eine ähnliche Politik betrieben, trat der gewünschte Effekt nicht ein. Eine in ihren politischen Auswirkungen besonders fatale Variante dieser Deflationspolitik wurde in Deutschland unter dem Reichskanzler Heinrich Brüning (1930–1932) betrieben. Mit einer rigorosen Sparpolitik wollte er den Haushalt sanieren, gemäß der damals herrschenden volkswirtschaftlichen Lehre zur Gesundung der Wirtschaft beitragen, zugleich aber auch der Welt beweisen, dass Deutschland nicht länger in der Lage sei, weitere Reparationszahlungen zu leisten. Der Plan, die Wirtschaftskrise zur Streichung der Reparationen und damit letztlich zur Zerschlagung des Versailler Vertrages zu instrumentalisieren, trat nach der katastrophalen Septemberwahl des Jahres 1930, in der die Nationalsozialisten ihre Abgeordnetenzahl von 12 auf 107 gesteigert hatten, immer mehr in den Vordergrund. Nun unternahm Brüning den Versuch, die Deflationsschraube weiter anzuziehen, d.h. letztlich das gesamte Lohn- und Preisniveau herabzuschrauben, um auf diese Weise die deutsche Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Sein Plan war es, die Empfängerländer der Reparationen, die ebenfalls schwer unter der Weltwirtschaftskrise litten, durch einen deutschen Dumpingexport zu schädigen und sie damit letztlich zu bewegen, von sich aus auf die Reparationen zu verzichten. Der Ministerialdirektor im preußischen Finanzministerium Arnold Brecht über die Brüning’sche Deflationspolitik A. Brecht: Mit der Kraft des Geistes. Lebenserinnerungen. 2. Hälfte 1927–1967. Stuttgart 1967, S. 134ff.
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Es erscheint heute – und erschien manchem Beobachter schon damals – äußerst zweifelhaft, ob Brünings Deflationspolitik richtig war. Senkung der deutschen Produktionskosten um 20 v.H. konnte zwar die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Ausfuhr auf dem Weltmarkt erheblich steigern, aber doch nur, wenn dieser Erfolg nicht durch Gegenmaßnahmen anderer Länder vereitelt wurde. In der Tat wich Großbritannien dieser Schädigung seines Handels durch drei Gegenmaßnahmen aus: Pfundabwertung (…), Herabsetzung der Gehälter der öffentlichen Beamten und Angestellten (…) und Einführung von Schutzzöllen im Jahre 1932. Das glich die Vorteile, die Deutschlands Außenhandel von Brünings Verordnungen hatte, für England mehr als aus. (…) So kam Deutschland auf dem Weltmarkt weitgehend um den erhofften Erfolg. Im Innern aber wirkten die schrittweise verstärkten Kürzungen der Löhne, Pensionen, Arbeitslosen- und Wohlfahrtsunterstützungen auf die Empfänger aller dieser Zahlungen unausgesetzt aufreizend, so daß sie eine leichte Beute der antidemokratischen Propaganda von rechts oder links wurden.
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Die europäische Wirtschaft im 20. Jahrhundert
IV.
John Maynard Keynes
E
Den Höhepunkt der Brüning’schen Deflationspolitik stellte die große Notverordnung vom Dezember 1931 dar, deren Ziel es war, Preise, Löhne und Mieten um weitere 10 % zu senken. Die Verordnung sah weitere Steuererhöhungen und staatliche Einsparungen insbesondere auf dem Felde der Sozialversicherungen und der Arbeitslosenunterstützung vor. Tatsächlich setzte sich bei den beteiligten Mächten schließlich die Erkenntnis durch, dass Deutschland nicht gleichzeitig sowohl Reparationen als auch die Rückzahlung der amerikanischen Kredite leisten konnte. Mit dem Hoover-Moratorium des Jahres 1931, das ein einjähriges Moratorium für alle politischen Zahlungen erklärte, waren die Reparationen faktisch vom Tisch, bevor sie auf der Konferenz von Lausanne 1932 endgültig gestrichen wurden. Dieser Erfolg kam aber nicht mehr Brüning, sondern seinem Nachfolger von Papen (Juni–Dezember 1932) zugute, und er kam zu spät, um die demokratische Staatsform noch vor dem Ansturm der Nationalsozialisten zu retten. Über die Bewertung der Brüning’schen Politik ist in der Wirtschaftsgeschichte jahrzehntelang heftig gestritten worden. Dabei ging es vor allem um die Frage, ob es zu ihr realistische Alternativen gegeben hätte. Kein Zweifel besteht allerdings an der krisenverschärfenden Wirkung der Deflationspolitik. Als Brüning im Mai 1932 zurücktreten musste, war die deutsche Industrieproduktion auf die Hälfte des Jahres 1929 gefallen. Gleichzeitig hatte sich die Zahl der Arbeitslosen auf 6 Mill. erhöht, dies entsprach einem Drittel der gesamten Arbeitnehmerschaft. In den Jahren 1932/33 setzte sich international die Tendenz durch, die Massenarbeitslosigkeit durch staatliche Investitionen und öffentliche Auftragsvergabe zu senken. Die Lehre von John Maynard Keynes (1883–1946), dass der Staat im Wege des deficit spending eine Verantwortung für Konjunktur und Wachstum übernehmen müsse, begann die internationale Politik bis in die 1970er Jahre zu bestimmen. Sie war allerdings kaum vereinbar mit einem Währungssystem, das auf dem Goldstandard beruhte, und auch nicht mit einem offenen Außenhandelssystem. Keynesianismus, deficit spending Der englische Ökonom John Maynard Keynes entwickelte das deficit spending. Dieser Begriff bezeichnet die Theorie der Ankurbelung einer in der Depression befindlichen Volkswirtschaft durch öffentliche Ausgaben, d.h. durch antizyklische staatliche Anschubinvestitionen zum Zwecke der Arbeitsbeschaffung. Diese Maßnahmen werden nicht über Steuern, sondern durch Verschuldung des Staates finanziert. Die staatlichen Investitionen lösen Einkommens- und Beschäftigungseffekte aus, durch die wiederum das Steueraufkommen erhöht wird, so dass die staatlichen Kredite wieder getilgt werden können.
Bereits Brünings unmittelbarer Nachfolger Franz von Papen ging daran, begrenzte Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen durchzuführen. Diese hatten bereits in den Schubladen der Regierung Brüning gelegen, waren aber niemals realisiert worden, weil sie der Brüning’schen Gesamtpolitik insbesondere mit Blick auf die Streichung der Reparationen zuwiderliefen. Die NS-Wirtschaftspolitik im Zeichen von Aufrüstung und Krieg Die Wirtschaftspolitik der Nationalsozialisten war gekennzeichnet von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Autarkiepolitik und Aufrüstung. Die zu er-
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Die europäische Wirtschaft zwischen den Weltkriegen heblichen Teilen von den Vorgängerregierungen übernommenen Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung, einschließlich des Autobahnbaus, nahmen bald immer mehr den Charakter von Rüstungsausgaben an. Die durch verdeckte Kreditschöpfung beschafften Finanzmittel wurden vor allem auf die Rüstungs- und Grundstoffindustrie konzentriert, die deshalb starke Zuwächse zu verzeichnen hatte, während die Konsumgüterindustrie sich nicht wesentlich über den Stand von 1929 ausdehnte. Der schnelle Abbau der Arbeitslosigkeit (1932/33 war jeder dritte Erwerbstätige arbeitslos gewesen) stellte einen gewaltigen stabilisierenden Erfolg für das Regime dar. Durch die Vermehrung der Arbeitsplätze und die Erhöhung der Arbeitszeit stieg die Lohnsumme, d.h. das von den Erwerbstätigen erzielte Gesamteinkommen. Der Lohn pro Arbeitsstunde stieg jedoch nicht. Das erhöhte Lohneinkommen wirkte sich in einer vermehrten Nachfrage nach Konsumgütern wie Butter und Fleisch, aber auch Haushaltsgeräten und Möbeln aus. Wegen der Konzentration der Ressourcen auf die Rüstungsindustrie kam es jedoch in der Versorgung der Bevölkerung immer wieder zu Engpässen. Mit Anreizen zum Sparen versuchte das Regime den Nachfrageüberhang zu begrenzen, da eine gesteigerte Produktion von Konsumgütern Kapital, Arbeitskräfte, Rohstoffe und Devisen erfordert hätte, die in der Rüstung dringend benötigt wurden. Die schnellen militärischen Erfolge zu Beginn des Krieges verbesserten dann die Versorgungslage der Bevölkerung auf Kosten der besetzten Gebiete. Die NS-Autarkiepolitik stellte eine besondere Variante des sich in der Weltwirtschaftskrise verbreitenden Protektionismus dar. Indem sich Deutschland im Zeichen der Kriegsvorbereitung weitgehend aus der internationalen Wirtschaft verabschiedete, trug es zur weiteren Desintegration der europäischen Wirtschaft bei. Das nationalsozialistische Deutschland war daran interessiert, seinen Außenhandel möglichst ohne Devisenverbrauch abzuwickeln und entwickelte daher ein System zweiseitiger Handelsabkommen mit den Ländern Südosteuropas zum eigenen Vorteil. Die betreffenden südosteuropäischen Länder waren durch den Verfall der Weltagrarpreise in eine verzweifelte Situation geraten und nicht in der Lage, ihre eigenen Importe von Industriegütern mit Gold oder harten Währungen zu bezahlen, die sie benötigten, um ihre internationalen Schuldverpflichtungen zu erfüllen. Deutschland seinerseits war daran interessiert, Industrieprodukte zu liefern und gegen Rohstoffe und Nahrungsmittel einzuhandeln. 1934 wurde mit Ungarn ein Vertrag geschlossen, der ein bilaterales Verrechnungssystem für Im- und Exporte vorsah. Auf den Namen der Ungarischen Nationalbank wurde bei der Deutschen Reichsbank ein besonderes Konto eingerichtet. Auf dieses Konto zahlten deutsche Importeure den Gegenwert der importierten ungarischen Produkte ein. Deutsche Firmen erhielten dann aus diesem Konto den Gegenwert ihrer Exporte nach Ungarn. Deutsche Industrieexporteure profitierten von diesem Verrechnungssystem, denn sie konnten ihre Produkte zu hohen Preisen unter Umgehung der hohen ungarischen Zollmauern absetzen. Ähnliche Vereinbarungen folgten mit Bulgarien, Jugoslawien und Rumänien. In den Kriegsjahren führte die NS-Hegemonialpolitik dann zu einer gewaltsamen Integration der europäischen Volkswirtschaften durch das natio-
IV.
Autarkiepolitik und Bilateralisierung des Handels tragen zur Desintegration der europäischen Wirtschaft bei
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Die europäische Wirtschaft im 20. Jahrhundert
IV.
nalsozialistische Deutschland. In den besetzten Gebieten griffen deutsche Dienststellen direkt oder indirekt in die Produktion und die Verwendung der Ressourcen ein. Die Methoden reichten von der Eingliederung kriegswichtiger Fabriken in deutsche Konzerne bis hin zur offenen Plünderung. Mit Ausnahme Schwedens, der Schweiz, Portugals, Spaniens und der Türkei entstand eine Großraumwirtschaft, die vollständig auf die Bedürfnisse Deutschlands ausgerichtet war. Ressourcen und Menschen wurden rücksichtslos ausgebeutet und über 7 Mill. Nichtdeutsche zur Arbeit in Deutschland gezwungen.
2. Die europäische Wirtschaft im „Goldenen Zeitalter“
Bretton Woods
GATT
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Das weltwirtschaftliche Modernisierungsprogramm der USA Nach den Zerstörungen des Krieges befand sich die Volkswirtschaft vieler europäischer Länder in einer desolaten Situation. Not und Armut kennzeichneten die Lage, nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Ländern. Es sah so aus, als würde Europa Jahrzehnte brauchen, um diesen Zustand der Hoffnungslosigkeit zu überwinden. Vielleicht war es gerade diese Erkenntnis, die letztendlich dem Gedanken der europäischen Kooperation zum Durchbruch verhalf. Vor allem aber implementierten die siegreichen Alliierten als Erkenntnis aus den Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre und des Weltkrieges nunmehr ein vor allem von den USA betriebenes weltwirtschaftliches Modernisierungsprogramm. Eine umfassende Erneuerung von Wirtschaft, Gesellschaft und internationalen Beziehungen sollte zu einer Institutionalisierung globaler Verflechtungen und zur Entwicklung einer multiliberalen Wirtschaftsordnung führen. Die Grundzüge des rechtlichen und institutionellen Rahmens für die zukünftige freie Weltwirtschaft waren von den Alliierten bereits 1944 auf der Konferenz von Bretton Woods vereinbart worden. Das am 27. Dezember 1945 in Kraft getretene Abkommen von Bretton Woods schuf den internationalen Währungsfonds (International Monetary Fund, IMF). Ziele des Abkommens waren eine verstärkte währungspolitische Kooperation, die Aufrechterhaltung stabiler Wechselkurse, eines multilateralen Zahlungsverkehrs, der vollen Konvertibilität der Währungen und die gegenseitige Unterstützung bei Zahlungsbilanzproblemen. Selbstverständlich stand das Abkommen im wohlverstandenen Interesse der USA: es diente zugleich der Absicherung der politischen und wirtschaftlichen Dominanz der Führungsmacht USA und der Festigung des Dollars als Weltleitwährung. Anders als nach dem Ersten Weltkrieg erließen die USA ihren Verbündeten die Schulden. Im Gegenzug erwarteten sie die Abschaffung der in den 1930er Jahren errichteten Schutzzollsysteme, vor allem der britischen Empirezölle, zugunsten der Schaffung eines freien Welthandels. Das General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) sollte ab dem 1. Januar 1948 ein Fo-
Die europäische Wirtschaft im „Goldenen Zeitalter“
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rum für Verhandlungen über umfassende Zollsenkungen mit dem Ziel eines liberalisierten Welthandels bieten. Dennoch blieben Reichweite und Tiefe der Handels- und Kapitalbeziehungen nach 1945 hinter dem Niveau von 1913 zurück. Vor dem Hintergrund des Ost-West-Konfliktes und der Blockbildung kam es lediglich zu einer „halbierten Globalisierung“ (J. Osterhammel). Von entscheidender Bedeutung für das Verlassen des Vorkriegsprotektionismus und die Hinwendung der westlichen Industriestaaten zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit wurde die gemeinsame politische Bedrohung in der Zeit des sich verschärfenden Ost-West-Konfliktes. In dieser Situation kam dem möglichst schnellen Wiederaufbau des kriegszerstörten Westeuropas eine hohe Priorität im amerikanischen Konzept zur weltweiten Eindämmung des Sozialismus (containment) zu. Voraussetzung dafür war die Entstehung und politisch-institutionelle Absicherung eines integrierten westeuropäischen Wirtschaftsraums. Marshallplan, OEEC und EZU Der schnelle Wiederaufbau Europas lag aber nicht nur im politischen und militärpolitischen Interesse der USA. Er entsprach zugleich auch den ureigensten wirtschaftlichen Interessen der Vereinigten Staaten. Die amerikanische Wirtschaft hatte im Krieg erhebliche Überkapazitäten in der Produktion aufgebaut, für die nun im Rahmen der außenpolitischen Strategie der sog. „offenen Tür“ Absatzmärkte erschlossen werden sollten. Der am 5. Juni 1947 vom amerikanischen Außenminister George C. Marshall (1880–1959) angekündigte Marshallplan sah eine breitangelegte amerikanische Hilfe für den europäischen Wiederaufbau vor. Es musste im Interesse der Amerikaner liegen, diese Mittel möglichst effektiv, d.h. nicht unter der Regie der Nationalstaaten, umzusetzen, weil sie fürchteten, dass dies zu unnötigen nationalstaatlichen Konkurrenzsituationen führen würde. Bundeskanzler Konrad Adenauer über den Marshallplan Konrad Adenauer: Erinnerungen 1945–1953. Stuttgart 1965, S. 114f.
Marshallplan
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Die Industrien fast aller Länder Europas waren zerstört und mußten neu aufgebaut werden. (…) Die allgemeine Umstellung von der Kriegs- auf die Friedenswirtschaft brachte erhebliche Schwierigkeiten mit sich. Die Entwicklung in Europa schien immer weiter abwärts zu gehen. Die Kommunistische Partei fand daher überall gute Möglichkeiten für ihre Werbung. Am 8. Mai 1947 hielt der damalige Unterstaatssekretär im amerikanischen Außenministerium, Dean Acheson, in Cleveland, Mississippi, eine Rede, in der er offen von einem Mißerfolg der Pariser Außenministerkonferenz sprach und betonte, daß die Vereinigten Staaten sich nicht davon abhalten lassen würden, den Wiederaufbau Europas auch ohne eine Einigung der Großen Vier in Angriff zu nehmen. Dean Acheson ging in dieser Rede auch auf Deutschland ein und sagte, daß die Vereinigten Staaten unter den gegebenen Umständen alles nur Mögliche tun müßten, um den Wiederaufbau der großen „Werkstätte“ Europas möglich zu machen. (…) Die amerikanische Wirtschaft brauche den deutschen Absatzmarkt, und die Vereinigten Staaten
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Die europäische Wirtschaft im 20. Jahrhundert
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müßten aus Gründen ihrer Sicherheit gegenüber dem Weltkommunismus und ihrer eigenen Wirtschaft ein Interesse daran haben, daß Europa wieder gesunde. (…)
OEEC
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Die amerikanischen Befürchtungen waren nicht unbegründet: Vor allem in Bezug auf die Behandlung des besiegten Deutschlands gab es im Lager der Alliierten grundsätzliche Differenzen. Frankreich wollte mit Hilfe deutscher Kohle zum führenden Stahlproduzenten in Europa werden und forderte daher höhere deutsche Kohlelieferungen. Diese Forderung stieß auf den Widerstand der Briten, denn diese wollten in der von ihnen und den Amerikanern 1947 aus ihren jeweiligen Besatzungsgebieten gebildeten Bizone ebenfalls die Stahlproduktion steigern, um die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse zu stabilisieren und die eigenen Steuerzahler zu entlasten, die erhebliche Mittel für die britische Zone aufbringen mussten. In Belgien und den Niederlanden belasteten Befürchtungen vor einer französischen Hegemonie die Verhandlungen zwischen Frankreich, Italien und den Beneluxstaaten über eine Zollunion. Die Niederlande wollten zudem Deutschland, das den wichtigsten Markt für ihre Produkte darstellte, von vornherein an einer derartigen Zollunion beteiligen. Angesichts derartiger nationaler Egoismen verlangten die USA die Einrichtung einer supranationalen Lenkungsbehörde zur Verteilung der Finanzmittel und Koordinierung des wirtschaftlichen Wiederaufbaus der europäischen Volkswirtschaften. Zur Verteilung der Hilfsgelder nach dem Marshallplan wurde am 16. April 1948 die Vereinigung für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC) gegründet, die von 16 Regierungen und den Militärgouverneuren der westlichen Besatzungszonen Deutschlands unterzeichnet war. Damit bestand ein institutioneller Rahmen für die wirtschaftliche und politische Integration Europas. Anfänglich hatte der Marshallplan eine Perspektive, die auf Gesamteuropa abzielte. Es ging um einen gesamteuropäischen Wiederaufbau und die Wiederherstellung der durch den Krieg unterbrochenen traditionellen Wirtschaftsbeziehungen zwischen dem industriell entwickelten Westen und dem agrarischen Osten Europas unter einem gemeinsamen Dach. Die zunehmende Ost-West-Spannung und der von der Sowjetunion auf ihre politischen Satelliten in Osteuropa ausgeübte Druck ließen ein derartiges Konzept unter amerikanischer Ägide allerdings sehr bald als illusionär erscheinen, und spätestens mit dem Scheitern der Pariser Außenministerkonferenz im Juli 1946 war klar, dass sich die wirtschaftlichen Integrations- und Wiederaufbaupläne auf das westliche Europa beschränken mussten. Der Marshallplan half den Europäern, den Wiederaufbau und zugleich den Konsum zu finanzieren, der für die soziale und politische Stabilität unabdingbar war. Ein 1949 unter dem Dache der OEEC eingeleitetes Handelsliberalisierungsprogramm sollte Importbeschränkungen und Handelsdiskriminierungen abbauen. Bis 1957 waren die mengenmäßigen Handelsbeschränkungen bereits zu 90 % beseitigt. Der Liberalisierung des Handelsverkehrs entsprach eine ebensolche im monetären Bereich. Die bisherigen bilateralen Verrechnungssysteme, die
Die europäische Wirtschaft im „Goldenen Zeitalter“
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keine größeren Import- oder Exportüberschüsse erlaubten, wurden im Oktober 1948 im Rahmen des Marshallplans durch ein neues elastisches Zahlungsausgleichssystem ersetzt. Dabei gaben Länder mit einem Handelsbilanzüberschuss einen Teil ihrer Marshallplanquote als sog. Ziehungsrechte an Defizitländer weiter, die auf diese Weise in den Besitz zusätzlicher Devisen gelangten. Mit der Gründung der europäischen Zahlungsunion (EZU) am 19. September 1950 wurde ein neues multilaterales Verrechnungssystem eingeführt, das bis zur Herstellung der allgemeinen Konvertierbarkeit der europäischen Währungen im Dezember 1958 Bestand hatte. Die Montanunion (EGKS) Die entscheidende Voraussetzung für eine politische und wirtschaftliche Integration Europas war letztlich die Aufhebung des alten, für die europäische Politik so fatalen deutsch-französischen Gegensatzes. Dies war nicht einfach, denn auch nach 1945 waren die Franzosen noch lange in erster Linie bestrebt, Deutschland als politischen und wirtschaftlichen Hauptkonkurrenten dauerhaft auszuschalten. Die Vereinigten Staaten aber konnten sich ein politisch und wirtschaftlich stabiles Westeuropa nicht ohne ein wirtschaftlich wiedererstarktes Westdeutschland vorstellen. Im Rahmen dieses Konzeptes waren Frankreich und Deutschland auf den Weg der Kooperation und Aussöhnung verwiesen. Von wegweisender Bedeutung für die wirtschaftliche und politische Integration Westeuropas wurde der sog. Schuman-Plan, den der französische Außenminister Robert Schuman (1886–1963) im Mai 1950 lancierte. Er sah die Integration des entscheidenden und politisch besonders sensiblen Sektors der europäischen Wirtschaft vor, indem er die gesamte deutsche und französische Kohle und Stahlproduktion einer gemeinsamen Aufsichtsbehörde unterstellen wollte, wobei anderen europäischen Ländern der Beitritt offenstehen sollte. Erklärung Robert Schumans in Paris (9.5.1950) Zitiert nach H. Teske: Europa zwischen gestern und morgen. Köln 1988, S. 32f.
wegweisende Bedeutung des Schuman-Plans
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Europa läßt sich nicht mit einem Schlag herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung: Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen. Die Vereinigung der europäischen Nationen erfordert, daß der jahrhundertealte Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland ausgelöscht wird. (…) Zu diesem Zweck schlägt die französische Regierung vor, in einem begrenzten, doch entscheidenden Punkt sofort zur Tat zu schreiten. Die französische Regierung schlägt vor, die Gesamtheit der französisch-deutschen Kohle- und Stahlproduktion unter eine gemeinsame Hohe Behörde zu stellen, in einer Organisation, die den anderen europäischen Ländern zum Beitritt offensteht. Die Zusammenlegung der Kohle- und Stahlproduktion wird sofort die Schaffung gemeinsamer Grundlagen für die wirtschaftliche Entwicklung sichern – die erste Etappe der europäischen Föderation.
Die Motive Schumans für sein Projekt waren vielfältig: die Franzosen waren bestrebt, ihrer eigenen Stahlindustrie mit der Verfügung über die Ruhrkohle die unabdingbare wirtschaftliche Basis zu sichern. Zugleich sollte der ge-
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Die europäische Wirtschaft im 20. Jahrhundert
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Montanunion als Keimzelle der EU
das (vermeintliche) Paradies immerwährenden Wachstums: der Boom der 50er und 60er Jahre
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steigerten französischen Stahlproduktion ein erweiterter Absatzmarkt geschaffen werden, und ein kontrollierter Wettbewerb sollte für die französische Industrie einen Modernisierungsschub auslösen. Sicherheitspolitisch ging es beim Schuman-Plan vor allem um die Kontrolle des deutschen Rüstungspotentials. Die deutsche Schwerindustrie stand zwar noch unter der Kontrolle der internationalen Ruhrbehörde, aber es war bereits absehbar, dass die Bundesrepublik früher oder später die volle wirtschaftspolitische Souveränität erhalten würde. Vor diesem Hintergrund ging es also auch um die weitere Gewährleistung eines Mindestmaßes an französischen Kontrollmöglichkeiten. Gleichzeitig aber sollte dem europäischen Integrationsprozess ein weiterer Auftrieb gegeben und ein Beitrag zur deutsch-französischen Annäherung geleistet werden. Am 18. April 1951 wurde der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), auch Montanunion genannt, von Frankreich, Deutschland, Italien, den Niederlanden, Belgien und Luxemburg unterzeichnet. Die Briten hatten sich angesichts der für sie sehr wichtigen außereuropäischen Wirtschaftsbeziehungen und ihrer Ablehnung jeder supranationalen Behörde nicht zu einem Beitritt entschließen können. Die Ziele der Montanunion waren: die geordnete Versorgung des gemeinsamen Montanmarktes zu möglichst günstigen Preisen, die Abschaffung aller wettbewerbsverzerrenden Maßnahmen und Subventionen, die Qualitätsverbesserung der Produktion, die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer einschließlich der Mitbestimmung sowie Freizügigkeit der Montanarbeiter und die Angleichung der Zollsätze gegenüber Drittländern. Die Montanunion entwickelte sich später zu einer auf den Montansektor begrenzten Zollunion. An der Spitze der EGKS stand mit der „Hohen Behörde“ ein supranationales Organ, das ausschließlich der parlamentarischen gemeinsamen Versammlung verantwortlich war. Diese setzte sich aus Abgeordneten zusammen, die von den nationalen Parlamenten entsandt wurden. Die Mitgliedsländer der Montanunion waren in einem Ministerrat vertreten, der den Maßnahmen und Entscheidungen der Hohen Behörde erst mehrheitlich zustimmen musste, bevor sie verbindlich wurden. Streitigkeiten über die Auslegung und Anwendung des Vertrages sollten von einem Gerichtshof geschlichtet werden. Das Institutionengefüge der EGKS wurde später auf die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft übertragen und stellte insoweit formal die Geburtsstunde der Europäischen Union dar. Der Boom der 50er und 60er Jahre Die Periode von 1950 bis 1973 brachte weltweit ein historisch einmaliges Wachstum. Am stärksten war es in Europa und Asien, und Westeuropa sowie Japan holten wirtschaftlich gegenüber den Vereinigten Staaten auf. In den 1950er Jahren erfasste ein Boom die europäische Wirtschaft. Europa trat erst jetzt in das Zeitalter des Massenkonsums ein. Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des europäischen Sozialproduktes lag zwischen 1950 und 1973 bei 5 %. Investitionsquoten und Wachstumsraten waren extrem hoch (nahmen allerdings im Zeitverlauf ab), der Konjunkturzyklus war scheinbar außer Kraft gesetzt, und das Paradies immerwährenden Wohlstands schien vor der Tür zu stehen.
Die europäische Wirtschaft im „Goldenen Zeitalter“
IV.
Durchschnittliche Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts 1950–1973 A. Maddison: Growth and Slowdown in Advanced Capitalist Economies. Techniques of Quantitative Assessment. In: Journal of Economic Literature 25 (1987), S. 650 Deutschland
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England
3,0
Frankreich
5,1
Japan
9,4
USA
3,7
Der Boom erfasste praktisch alle europäischen Länder unabhängig von ihrem Entwicklungsniveau und ihrem Wirtschaftssystem. Bei den Pro-KopfEinkommen kam es in diesen gut zwei Jahrzehnten zu einer erheblichen Konvergenz, da die Länder an der europäischen Peripherie einen Aufholprozess durchmachten. Nach dem Ende des Booms Mitte der 70er Jahre verschärften sich die regionalen Disparitäten in Europa allerdings wieder. Mit jeder nachfolgenden Erweiterung der ursprünglich nur sechs Mitglieder umfassenden Europäischen Gemeinschaft kam es zu einer Zunahme der Unterschiede im Pro-Kopf-Einkommen. Der Boom in den Ländern westlich des Eisernen Vorhangs war vor allem getragen von der Expansion des Außenhandels. In den 50er und 60er Jahren stiegen die Außenhandelsquoten stark an. Die industriell entwickelten Länder benötigten den Export, um ihrer Industrie die notwendigen Absatzmärkte zu sichern, während andere europäische Länder auf einen verstärkten Import von Industriegütern angewiesen waren, um ihre Volkswirtschaften zu modernisieren. Auf den Gütermärkten kam daher der Integrationsprozess bereits voran, bevor die politische Integration wirklich Raum griff. Allerdings erreichte die Verflechtung der westeuropäischen Volkswirtschaften untereinander und mit der übrigen Welt erst Ende der 60er Jahre wieder das Niveau der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, lag dann aber Anfang der 90er Jahre doppelt so hoch. Dabei entfiel ein immer größerer Anteil des Außenhandels auf den Handel zwischen den europäischen Ländern. Der Boom der 50er und 60er Jahre wurde noch immer sehr stark durch die traditionellen Industrien vom Ende des 19. Jahrhunderts (Bergbau, Eisen- und Stahlindustrie, Maschinen- und Anlagenbau, Werften, Textilindustrie) geprägt. Als neue Leitsektoren traten die Automobilindustrie, die Kunststoffverarbeitung sowie die Elektro- und Elektronikindustrie hinzu, und auch der Bereich der Hochtechnologie (Atom-, Flugzeug- und Raumfahrtindustrie) entfaltete zusätzliche Wachstumsimpulse. Im Wesentlichen handelte es sich um ein aufholendes extensives Wachstum, das auf der kommerziellen Anwendung von bekannten Technologien aus den 1920er und 30er Jahren beruhte. In Westeuropa kam in den 50er und 60er Jahren die Massenproduktion zum Durchbruch. Sie setzte eine ständig steigende, standardisierte Nachfrage auf der Basis steigender Masseneinkommen voraus. Die stark steigende Produktivität ermöglichte stark steigende Löhne, die wiederum eine wachsende Nachfrage auslösten, so dass in diesen Jahren trotz erheblicher Produktivitätszuwächse immer mehr Arbeitsplätze entstanden.
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Die europäische Wirtschaft im 20. Jahrhundert
IV.
Dieses in die Breite gehende Wachstum wurde wesentlich gefördert durch ein Arrangement institutioneller Faktoren, das für den europäischen „coordinated capitalism“ (B. Eichengreen) bezeichnend war. Dazu gehörten auf Partnerschaft ausgerichtete Gewerkschaften, umfassende Arbeitgeberorganisationen, wachstumsorientierte Regierungen und ein effektives Bankensystem zur Finanzierung der industriellen Investitionen. Aber auch der amerikanische Sicherheitsschild förderte das westeuropäische Wachstum, da die Militärausgaben niedrig bleiben und mehr private sowie öffentliche Investitionen in die Wirtschaft fließen konnten. Im sog. Goldenen Zeitalter der 50er und 60er Jahre sahen es die Regierungen als ihre Aufgabe an, die wirtschaftliche Entwicklung mit einer keynesianischen Politik der Arbeitsplatz- und Nachfragesicherung zu stabilisieren. Im Einzelnen jedoch wiesen die wirtschaftspolitischen Ordnungen und Konzepte in Westeuropa eine große Bandbreite auf. Die Bundesrepublik setzte im Vertrauen auf die Stärke ihrer Industrie auf den neoliberalen Ansatz und vertraute auf die Selbststeuerungsfähigkeit der Marktwirtschaft. Frankreich dagegen wollte die Modernisierung seiner Wirtschaft mit einem spezifischen Planungskonzept vorantreiben, das dem Staat eine Schlüsselrolle im notwendigen Umstrukturierungsprozess zuwies. Italien, das mit großen regionalen Strukturproblemen zu kämpfen hatte, ging mit seinen großen Staatskonzernen einen ähnlichen Weg. Großbritannien verfolgte mit einer ausgeprägten kurzfristigen Konjunkturpolitik zum Abbau der Unterbeschäftigung noch am ehesten ein keynesianisches Konzept. Sozialdemokratische Regierungen tendierten zu einer antizyklischen, interventionistischen Politik, während konservativ-liberale Regierungen sich an Geldwertstabilität und Haushaltsausgleich orientierten. In der Bundesrepublik erfolgte mit dem sozialdemokratischen Wirtschaftsminister Karl Schiller (1966–1972) die Wende zum keynesianischen Politikmodell. Das Wachstum der 50er und 60er Jahre erfasste auch die Sowjetunion und ihre im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe zusammengeschlossenen osteuropäischen Satellitenstaaten. Mit 3,49 % war dort die durchschnittliche Wachstumsrate des Bruttoinlandsproduktes pro Kopf der Bevölkerung im „Goldenen Zeitalter“ 1950–1973 nur geringfügig niedriger als in Westeuropa mit 4,08 %.
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Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) Der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) wurde am 25. Januar 1949 in Moskau als Gegengewicht zum Marshallplan und zur OEEC gegründet. Gründungsmitglieder waren die Sowjetunion, Polen, Rumänien, Bulgarien, Ungarn und die Tschechoslowakei. Am 22. Februar 1949 trat Albanien bei, im September 1950 die DDR. Später folgten Kuba, die Mongolei und Vietnam. Ziele des RGW waren eine verbesserte Spezialisierung und Arbeitsteilung zwischen den sozialistischen Staaten und eine allmähliche Angleichung der sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen Verhältnisse. Die Zuspitzung des Kalten Krieges zu Beginn der 50er Jahre führte zu einem USEmbargo für den Export von strategischen und High-Tech-Produkten in den Osten, dem sich alle Empfängerländer von Marshallplanhilfen anschließen mussten. Die Sowjetunion forcierte daraufhin den Ausbau der Stahl- und Eisenproduktion in ganz Osteuropa. Es bildete sich eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen den RGW-Staaten und der UdSSR heraus. Die UdSSR importierte Maschinen, technische Anlagen und
Die europäische Wirtschaft im „Goldenen Zeitalter“
IV.
Stahl aus den entwickelteren Ländern des Ostblocks wie der CSSR, Ungarn, Polen und der DDR und lieferte im Gegenzug Öl und Ölprodukte, Kohle, Eisenerz, Eisen- und Nichteisenmetalle und Baumwolle. Als Gegenleistung für deren Zustimmung zur Stationierung sowjetischer Truppen auf ihrem Gebiet lieferte die UdSSR ihren Satellitenstaaten Rohstoffe und Energie zu Preisen unterhalb des Marktniveaus. Der Außenhandel spielte sich hauptsächlich zwischen den einzelnen RGW-Ländern und der Sowjetunion ab. Zwischen den Mitgliedern des RGW war der Außenhandel durch mehrjährige bilaterale Verträge geregelt.
Für den ausgeprägten Boom der 50er und 60er Jahre und das seit den 70er Jahren stark verlangsamte Wachstum gibt es die unterschiedlichsten Erklärungen. Nach der Rekonstruktionsthese handelte es sich in einer längerfristigen Betrachtung der wirtschaftlichen Entwicklung bei dem lang andauernden Nachkriegsboom um einen Rekonstruktionsprozess der durch den Krieg unterbrochenen „normalen“ Entwicklung und infolgedessen bei der nachfolgenden Verlangsamung des Wachstums seit den 70ern um eine Rückkehr zur wirtschaftlichen Normalität. Rekonstruktionsthese Die Rekonstruktionsthese geht von einem langfristigen und stetigen Wachstumsverlauf aus. Dieser beruht auf der Zahl der Arbeitskräfte und der Zunahme ihrer Qualifikation. Kriege führen in dieser Sicht durch die Zerstörung von Maschinen und Fabriken zu einer drastischen Reduzierung des Kapitalstocks. Zwischen dem Kapitalstock und dem in den Menschen und ihrer Qualifikation vorhandenen technischen Wissen entsteht ein Missverhältnis, das in der nachfolgenden Phase der Rekonstruktion durch vermehrte Investitionen ausgeglichen wird. In diesem Prozess steigen Produktivität und Wachstum beschleunigt an.
Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) Der Prozess der europäischen Integration gelangte erst mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) durch die Römischen Verträge (1957) auf eine neue Stufe. Frankreich beschritt diesen Weg aus einer Position der Schwäche. Durch die Überbewertung des Francs, steigende Inflationsraten und eine wenig konkurrenzfähige Industriestruktur hatte es in den 1950er Jahren mit einem wachsenden Handelsbilanzdefizit zu kämpfen. Nach dem Übergang zur Fünften Republik im Jahre 1958 ging Frankreich im Rahmen einer großangelegten Wirtschafts- und Finanzreform daran, mit Hilfe einer staatlichen Strukturpolitik die Industrie zu modernisieren und das Wirtschaftssystem zu liberalisieren. Durch den Abbau des hohen Zollschutzes von 20–25 % und eine vorsichtige Öffnung der Grenzen im Rahmen eines gemeinsamen europäischen Marktes sollten der Konkurrenzdruck erhöht und die Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Wirtschaft verbessert werden. Die französische Landwirtschaft hatte darüber hinaus ein besonderes Interesse an Europa, da sie sich über einen gemeinsamen Markt ein sicheres Absatzgebiet für ihre Überschüsse schaffen wollte. Im Gegensatz zu Frankreich beschritt Deutschland den Weg in den gemeinsamen Markt aus einer Position wieder gewonnener Stärke. Für die deutsche Wirtschaft ging es um die Schaffung neuer Exportmärkte. Da die deutsche Exportindustrie aber bereits auf den Weltmarkt hin orientiert war, lag ein gemeinsamer europäischer Markt in Form einer Zollunion, die sich
die Rekonstruktionsthese
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auf dem Weg zur europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG): divergierende Motivations- und Interessenlagen
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Die europäische Wirtschaft im 20. Jahrhundert
IV.
nach außen hin abschloss, nicht im deutschen Interesse. Wirtschaftsminister Ludwig Erhard (1949–1963) trat daher für das Konzept einer Freihandelszone ohne supranationalen Überbau ein. Italien erhoffte sich von der wirtschaftlichen und politischen Integration Europas entscheidende Impulse zur Überwindung seines Entwicklungsrückstandes und niedrigen Lebensstandards. Klassische Niedrigzollländer wie die Niederlande und Belgien, die aufgrund ihrer geringen Marktgröße stärker in den westeuropäischen Markt eingebunden waren als die großen Volkswirtschaften, waren besonders an der Weitertreibung des Integrationsprozesses interessiert. Die Niederlande hatten zudem ihre überseeischen Kolonien verloren und mussten sich schon von daher stärker auf die europäischen Absatzmärkte orientieren. Ein gemeinsamer Markt eröffnete ihnen darüber hinaus die Aussicht auf einen unbehinderten Absatz ihrer landwirtschaftlichen Produktion. Nicht gering zu schätzen ist auch das sicherheitspolitische Interesse der Niederlande und Belgiens, die beide zu den ersten Opfern der militärischen Aggression des nationalsozialistischen Deutschlands gehört hatten und denen eine noch stärkere wirtschaftliche Einbindung Deutschlands daher wünschenswert erschien. Die Verhandlungen über die Gründung der EWG gestalteten sich schwierig, da erhebliche Interessengegensätze ausgeräumt werden mussten. Zwischen den Niedrig- und den Hochzollländern musste ein Kompromiss gefunden werden. Frankreich fürchtete, dass sein hohes Sozialniveau die Wettbewerbsfähigkeit seiner Industrie beeinträchtigen könnte und erwartete einen Ausgleich. Auch verlangte es die Assoziierung seiner Überseegebiete, auf die 24 % der französischen Importe und 31 % der Exporte entfielen. Vor allem aber bestand Frankreich auf einer Integration der europäischen Atomwirtschaft. Dabei ging es nicht nur um die Deckung des europäischen und französischen Energiebedarfs, sondern vor allem auch um die von den USA unabhängige Entwicklung einer eigenen Atomwaffe als Kern einer gemeinsamen europäischen Verteidigungspolitik. Zugleich sollte damit eine Kontrolle über die zivile Nutzung der Atomenergie in der Bundesrepublik nach Aufhebung des Besatzungsstatuts erreicht werden. Mit den Römischen Verträgen vom 15. März 1957 wurde die EWG ins Leben gerufen, die am 1. Januar 1958 in Kraft trat. Außenpolitische Ereignisse spielten bei ihrem Zustandekommen eine ausschlaggebende Rolle. Die Suezkrise 1956 demonstrierte die zunehmende weltpolitische Bedeutungslosigkeit der europäischen Staaten, und im gleichen Jahr erreichte der Ost-West-Konflikt mit dem Ungarnaufstand und der nachfolgenden militärischen Intervention der Sowjetunion eine neue Stufe, die einen engeren wirtschaftlichen und politischen Zusammenschluss Europas als dringend geboten erscheinen ließ. Den Kern des EWG-Vertrages bildete die Errichtung einer Zollunion mit dem Ziel einer stufenweisen Absenkung der Zölle und einer Aufhebung mengenmäßiger Handelsbeschränkungen. Schrittweise sollten ein gemeinsamer Zolltarif und eine gemeinsame Handelspolitik gegenüber Drittländern eingeführt werden. Die Hindernisse für den freien Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr sollten beseitigt werden. Vorgesehen waren weiter eine gemeinschaftliche Agrar-, Verkehrs- und Wettbewerbspolitik; die Konjunktur-, Wirtschafts- und Währungspolitik sollten allerdings
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Die europäische Wirtschaft im „Goldenen Zeitalter“ nur koordiniert werden. Sofern für das Funktionieren des gemeinsamen Marktes erforderlich, war auch geplant, innerstaatliche Rechtsvorschriften wie z.B. im Steuerrecht zu harmonisieren. Bereits zum 1. Juli 1968 waren die Binnenzölle beseitigt und die gemeinsamen Zolltarife gegenüber Drittländern eingeführt. Auch Ausfuhrbeschränkungen und Einfuhrkontingente waren bis zum 31.12.1961 abgeschafft. In Art. 38 des EWG-Vertrages wurde der Gemeinsame Markt für die Landwirtschaft eingeführt, dem ein Kompensationsgeschäft zwischen den französischen Agrar- und den deutschen Industrieinteressen zugrunde lag. Der Agrarmarkt öffnete den deutschen Markt für die französische Agrarproduktion und stellte den Preis für die Verwirklichung der Zollunion bei Industrieprodukten dar. Offizielle Ziele des Gemeinsamen Agrarmarktes waren die Steigerung der Produktivität der Landwirtschaft, die Gewährleistung einer angemessenen Lebenshaltung der landwirtschaftlich Beschäftigten, die Stabilisierung der Märkte, die Sicherstellung der Versorgung und angemessener Preise für die Verbraucher. Der Gemeinsame Agrarmarkt verstieß gegen grundlegende marktwirtschaftliche Ordnungsprinzipien. Seine Kennzeichen waren Überproduktion, Protektionismus gegenüber Drittländern, ein überhöhtes Preisniveau und eine exzessive Belastung des EG-Haushaltes. Die Gewährleistung einheitlicher Agrarpreise und eines freien Handels mit Agrarerzeugnissen wurde durch die Einführung einer Art gemeinsamer Währung, der „Europäischen Rechnungseinheit“ (ECU) ermöglicht, in der alle Preise festgelegt wurden. Solange die rechnerischen Paritäten der einzelnen Währungen ihren tatsächlichen Wertverhältnissen entsprachen, waren die realen Agrarpreise in jeder Währung gleich. Als dann nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems die EWG-Währungen ihre Bindung an den Dollar lösten, kam es zu Auf- und Abwertungen und demzufolge zu einem Preischaos auf dem Gemeinsamen Agrarmarkt. Nun wurden wieder Grenzausgleichsbeträge festgesetzt, um die Agrareinfuhren der aufwertenden Länder zu verteuern und diejenigen der abwertenden zu subventionieren. Das von seiner eigenen wirtschaftlichen Stärke überzeugte, auf die Verbindungen zum Commonwealth setzende und jede Einschränkung seiner wirtschaftspolitischen Souveränität ablehnende Großbritannien trat der EWG nicht bei. Die neutralen Länder Schweden, Österreich und Schweiz stießen sich an der politischen Perspektive der EWG, und die sozialdemokratischen skandinavischen Länder wollten nicht ihre keynesianisch-wohlfahrtsstaatliche Ausrichtung von einer supranationalen Gemeinschaft mit konservativem Ansatz aufweichen lassen. Portugal und Spanien kamen wegen ihrer diktatorischen Systeme nicht für eine Mitgliedschaft in Betracht. Großbritannien, Dänemark, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden und die Schweiz beschlossen am 20. November 1959 die Errichtung der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA), die keinerlei supranationale Institutionen vorsah. Die Pfundkrise der 60er Jahre und die Erfolge der Unabhängigkeitsbewegungen in den ehemaligen britischen Kolonien machten alsbald die wirtschaftliche und politische Schwäche Großbritanniens deutlich. Ein erster, 1961 nach einer Hilfsaktion der kontinentalen Notenbanken zur Behebung
IV.
Probleme des Gemeinsamen Agrarmarktes
Großbritannien bleibt fern
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Die europäische Wirtschaft im 20. Jahrhundert
IV.
der britischen Zahlungsbilanzkrise gestellter Aufnahmeantrag in die EG scheiterte damals am Widerstand des französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle (1959–1969). Ein zweiter Antrag vom Mai 1967 hatte schließlich 1972 nach dem Rücktritt de Gaulles Erfolg. Möglicherweise trug auch die französische Angst vor einer wirtschaftlichen und politischen Dominanz der BRD in der EG dazu bei, die ablehnende französische Haltung aufzugeben. Durch den am 1. Januar 1973 vollzogenen Beitritt Großbritanniens, Irlands und Dänemarks zur EG erweiterte sich Europa zu einem „Europa der Neun“. Die vom europäischen Binnenmarkt erhofften Wohlfahrtseffekte traten allerdings nur begrenzt ein. Sie hatten in den 1960er Jahren lediglich eine Steigerung des Bruttosozialproduktes um ca. 1 % zur Folge. Diesen durch EG und EFTA bewirkten Wohlfahrtsgewinnen wären die Wohlfahrtsverluste durch den gemeinsamen Außenzoll gegenüberzustellen, der z.B. ein hohes Agrarpreisniveau zur Folge hatte. Kaum integriert waren die europäischen Arbeitsmärkte. Dennoch ist die Umkehr der Migrationsströme nach 1949 bemerkenswert. Hatte seit dem 19. Jahrhundert ein wahrer Exodus von Europäern auf der Suche nach Arbeit stattgefunden, so nahmen die westeuropäischen Länder im Zeitraum zwischen 1950 und 1998 nun ihrerseits mehr als 20 Mill. Migranten auf. Auf ihrem Höhepunkt erreichte die Migration 1973 4,1 % aller westeuropäischen Arbeitskräfte. Als Reaktion auf die Wirtschaftskrise und die wachsende Arbeitslosigkeit stellten die Aufnahmeländer die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte wieder ein. Die mit der Migration verbundenen Hoffnungen auf Wohlfahrtseffekte traten nur bedingt ein. Für Länder wie die Türkei, Jugoslawien, Portugal und Spanien bedeutete die Arbeitswanderung zwar eine Senkung der sozialen Lasten, aber keine dauerhafte Lösung für das Problem des Arbeitskräfteüberschusses. Die von den Geldüberweisungen der Arbeitsmigranten in die Heimat erhofften Anschubimpulse für die wirtschaftliche Entwicklung dieser Länder erfüllten sich ebenfalls nicht, da ein großer Teil der Arbeitseinkommen in den Konsum ging. Ausländische Arbeitsmigranten leisteten ohne Frage einen wichtigen Beitrag zum Wirtschaftswachstum der Aufnahmeländer, doch hielten die mit der Ausländerbeschäftigung verbundenen niedrigen Lohnkosten auch Unternehmen am Markt, die sonst nicht konkurrenzfähig gewesen wären, so dass der notwendige Strukturwandel verlangsamt wurde.
3. Die Jahrzehnte der Neuorientierung: Verlangsamtes Wachstum, Globalisierung, Krise des Sozialstaates, Währungsunion Wirtschaftliche Kennziffern der Jahre 1974–1990 Mitte der 1970er Jahre trat die europäische Wirtschaft in eine rezessive Phase ein, die von steigender Arbeitslosigkeit und wachsenden Inflationsra-
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Die Jahrzehnte der Neuorientierung
IV.
ten sowie erheblichen Strukturproblemen gekennzeichnet war. Von 1968 bis 1983 betrug die Inflationsrate in Westeuropa 6,9 %, von 1974 bis 1983 sogar 10 %. Gleichzeitig stieg die Arbeitslosenquote auf 3,4 bzw. 6,2 %. Durchschnittliche Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts 1973–1984 A. Maddison: Growth and Slowdown in Advanced Capitalist Economies. Techniques of Quantitative Assessment. In: Journal of Economic Literature 25 (1987), S. 650 Deutschland
1,7
England
1,1
Frankreich
2,2
Japan
3,8
USA
2,3
Alte Industrien gerieten in die Krise, und neue Branchen wie die Biotechnologie und die Mikroelektronik entwickelten sich zu Leitsektoren. Auf diesen Zukunftsfeldern hinkte Europa der Entwicklung in den USA und Japan hinterher. Der japanische Export nach Europa stieg stark an, und mit Südkorea, Taiwan, Hongkong und Singapur machten die Newly Industrializing Countries (NIC’s) der europäischen Industrie auf der Basis billiger Arbeit und entwickelter Technologie erfolgreich Konkurrenz. Der Anteil Westeuropas an den Weltexporten, der 1973 noch 45 % betrug, sank bis 1985 auf 37 % ab. Dazu kam die drastische Erdölverteuerung im Gefolge der durch die Politik der OPEC hervorgerufenen Ölkrise. Der Ölpreis vervierfachte sich 1974 und verdreifachte sich 1979 noch einmal. Zwischen 1979 und 1982 erlebte die EG mit einer durchschnittlichen Wachstumsrate von 0,6 % fast eine Stagnation. Im gesamten Zeitraum zwischen 1974 und 1990 halbierte sich die durchschnittliche Wachstumsrate gegenüber dem „Goldenen Zeitalter“ auf 2,3 %. Zwischen 1984 und 1990 erlebten die europäischen Volkswirtschaften einen längeren Aufschwung. Dennoch verlor Europa in den 80er Jahren gegenüber den USA, Japan und den NIC’s wirtschaftlich an Boden. Der Anteil Westeuropas am Welthandel und an der gesamten Industrieproduktion der Welt sank weiter. In den High-Tech-Branchen (Computer- und Raumfahrttechnologie, Kommunikationstechnologie, Halbleiter- und Biotechnologie) hatte Europa einen deutlichen Entwicklungsrückstand. Gleichzeitig ging der Strukturwandel weiter. Millionen von Arbeitsplätzen in der Stahlproduktion, auf den Werften oder im Maschinenbau wurden durch verschärften globalen Wettbewerb vernichtet. Die westeuropäischen Inflations- und Arbeitslosenraten lagen über denen in den USA und Japan, und die Beschäftigungsquote in der EG der Zwölf lag nur noch bei 58 % (USA: 69 %; Japan: 74 %). Beschäftigungsquote Die Beschäftigungsquote bezeichnet den Anteil der Beschäftigten an der arbeitsfähigen Bevölkerung. Sie bestimmt neben der Entwicklung der Produktivität das materielle Wohlstandsniveau in entscheidendem Maße. Hohe Arbeitslosigkeit, lange Ausbildungszeiten, geringe Frauenerwerbstätigkeit und eine ungünstige demographische Altersstruktur durch Überalterung senken die Beschäftigungsquote.
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Die europäische Wirtschaft im 20. Jahrhundert
IV.
Härter und nachhaltiger traf die Krise die osteuropäischen Ökonomien. In der Sowjetunion und den osteuropäischen Ländern ihres Herrschaftsbereiches entwickelte sich das BIP pro Kopf der Bevölkerung im Zeitraum 1973–1998 mit negativen Raten von durchschnittlich –1,10 %, während das Wachstum in Westeuropa trotz aller Krisenerscheinungen mit 1,78 % positiv war.
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Abbau des industriellen Beschäftigtenanteils: auf dem Weg in die „postindustrielle Gesellschaft“?
Herausforderungen des europäischen Sozialstaates
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Bruttoinlandsprodukt (BIP) Das Bruttoinlandsprodukt stellt den Geldwert aller in einer Volkswirtschaft jährlich erzeugten Güter und Dienstleistungen abzüglich der Werte der von anderen Unternehmen bezogenen Güter und Dienstleistungen dar. Es gibt damit die wirtschaftliche Leistung einer Volkswirtschaft wieder.
Mit den Automaten, Robotern, der elektronischen Datenverarbeitung und dem Computer Integrated Manufacturing wurden extrem arbeitssparende Produktionsformen eingeführt. Der nun einsetzende Abbau des industriellen Beschäftigungsanteils führte zu einem Rückgang der manuellen Arbeit und eröffnete den Weg in die „postindustrielle“ Gesellschaft. Immer mehr Menschen fanden in den tertiären Bereichen von Gesundheit, Bildung, allgemeiner Verwaltung, Sozialdiensten, Freizeit usw. Beschäftigung. Seit den 70er Jahren wurden im Zusammenhang mit der Computerisierung der industriellen Fertigung und der Finanz-, Versicherungs- und Kommunikationsdienste auch die sog. Unternehmens- oder Produzentendienste ausgebaut. Allerdings kam die Schaffung neuer Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor in Westeuropa im Gegensatz zu den USA und Japan nur relativ langsam voran. In Europa beruhte der notwendige Ausbau des Dienstleistungssektors noch immer vor allem auf der Expansion des Wohlfahrtsstaates. Gemeinsam war fast allen westeuropäischen Ländern der Aufbau eines umfassenden Systems sozialer Sicherheit. Die dafür und für den Ausbau von Bildungswesen und Infrastruktur notwendigen Investitionen führten zu einer drastischen Erhöhung der Steuern und Abgaben. Die Staatsquote stieg enorm an und ereichte in manchen europäischen Ländern in den 1970er Jahren 50 %. Staatsquote Als Staatsquote bezeichnet man den Anteil der öffentlichen Einnahmen oder Ausgaben am Sozialprodukt. Sie ist ein Indikator für den Umfang der Staatstätigkeit.
Der starke Rückgang des Wirtschaftswachstums seit den 1970er Jahren stellte den Sozial- und Interventionsstaat dann vor dramatische Finanzierungsprobleme und führte überall zum Abbau sozialer Leistungen. Die Desintegration des internationalen Währungssystems und die Einrichtung des EWS Erhebliche Belastungen für die europäische Wirtschaft ergaben sich auch aus der Desintegration des internationalen Währungssystems. Nicht zuletzt als Folge des kostspieligen weltpolitischen Engagements der Vereinigten Staaten, aber auch infolge des weltwirtschaftlichen Positionsverlustes der USA gegenüber Westeuropa und Japan, geriet der Dollar in den 60er Jahren zunehmend unter Druck. Die Bundesrepublik war immer weniger bereit, die Inflationspolitik der Vereinigten Staaten hinzunehmen. Die USA
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Die Jahrzehnte der Neuorientierung standen vor der Alternative, ihre Ausgaben zu beschränken oder die Verteidigung des Dollarkurses aufzugeben. 1971 entschied sich die Regierung Nixon für Letzteres und löste den Dollar vom Gold. Bald darauf wurden die Währungsparitäten ganz freigegeben. Dies bedeutete das Ende des Systems von Bretton Woods. Mit seinen festen Wechselkursen, den strengen Regeln für Wechselkursänderungen, dem Beistandssystem für Defizitländer und der Konvertibilität der Währungen hatte es die EG-Staaten zu einer einheitlichen Währungspolitik gezwungen. Dieses System funktionierte allerdings nur, solange die USA bereit waren, den Dollar als Leitwährung stabil zu halten. Durch die Stabilitätspolitik der Bundesrepublik vergrößerte sich deren Leistungsbilanzüberschuss, und 1968 ergriffen einige Mitgliedstaaten der EG einseitige Schutzmaßnahmen, um ihre Zahlungsbilanzen ins Gleichgewicht zu bringen. So baute z.B. Frankreich Devisen- und Handelskontrollen in Form von Exporthilfen und Importquoten auf – Maßnahmen, die dem Geist des EWG-Vertrages und des Gemeinsamen Marktes widersprachen. Die Abwertung des französischen Francs und die Aufwertung der D-Mark im Jahre 1969 brachte das Preisgefüge des Gemeinsamen Agrarmarktes durcheinander. In dieser Situation reifte der Entschluss, die EG zu einer Wirtschafts- und Währungsunion weiterzuentwickeln. Doch der 1970 vorgelegte „Wernerplan“, der die Verwirklichung einer Wirtschafts- und Währungsunion innerhalb von zehn Jahren vorsah, scheiterte in den Währungsturbulenzen Anfang der 70er Jahre. Die durch einen Beschluss des Rates vom 21.3.1972 entstandene europäische „Währungsschlange“ war der Versuch, feste Wechselkurse beizubehalten. Die Währungen der beteiligten Länder sollten mit einer Bandbreite von +/– 1,125 % um einen Leitkurs schwanken, und es wurde ein „Europäischer Fonds für währungspolitische Zusammenarbeit“ geschaffen, der die Zentralbanken bei ihren Interventionen stützen sollte. An diesem sog. Blockfloating waren mittelfristig jedoch lediglich die Bundesrepublik, die Niederlande, Belgien, Luxemburg und Dänemark beteiligt. Großbritannien nahm nur kurze Zeit teil, Italien trat 1973 und Frankreich 1976 aus dem Währungsverbund aus. Länder mit einer schwachen Währung zogen sich schnell zurück, wenn diese unter Druck geriet. Erst nachdem sich in einer Reihe europäischer Länder die Wende vom Keynesianismus zu einer an der Preisstabilität orientierten Politik vollzogen hatte (wie z.B. in Frankreich unter Giscard d’Estaing), wurde mit der am 13. April 1979 erfolgten Einrichtung des Europäischen Währungssystems (EWS) ein neuer Versuch der Koordinierung und Integration der Währungspolitik unternommen. Mit Ausnahme Großbritanniens, das erst 1990 beitrat, nahmen nun alle Länder der EG an dem neuen Währungssystem teil.
IV. das Ende von Bretton Woods
auf dem Weg zur europäischen Wirtschafts- und Währungsunion
Neoliberalismus und Globalisierung Ein wesentlicher Grund für das Ausmaß und die lange Dauer der Arbeitslosigkeit lag in dem wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsel seit den 1970er Jahren. Der Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems mit seinen festen Wechselkursen, die Ölkrise, stark anwachsende Inflationsraten und Ängste vor einer Hyperinflation verschoben die wirtschaftspolitischen Prioritäten. An die Stelle von Vollbeschäftigung und hohem Wirtschaftswachs-
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Die europäische Wirtschaft im 20. Jahrhundert
IV.
Herausforderung der Politik durch die Globalisierung
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tum als obersten Leitzielen der Wirtschaftspolitik trat nunmehr die Bekämpfung der Inflation. Angesichts des offenkundigen Versagens des keynesianischen Paradigmas erlebte der „Neoliberalismus“ eine Renaissance. Privatisierung, Deregulierung, Eigennutz, Selbststeuerung des Marktes usw. lauteten die neuen wirtschaftspolitischen Orientierungspunkte. Zu einem nicht geringen Teil waren sie auch Ausdruck der Hilflosigkeit der Politik angesichts wachsender Internationalisierung und Globalisierung. Globalisierung Unter Globalisierung versteht man vor allem die Verdichtung der weltweiten Marktverflechtung und die Zunahme der transnationalen Faktormobilität (Kapital, Arbeit). Als negative Folgen werden vielfach befürchtet: Niedriglöhne, Steuerschlupflöcher mit der Konsequenz der Unterversorgung mit öffentlichen Gütern, das Absinken gewohnter Sozialstandards, zunehmende Zerstörung der Umwelt (Ökodumping) sowie eine schwindende politische Autonomie.
Die 1980er Jahre waren von einem weitgehenden Politikversagen gegenüber den neuen Herausforderungen gekennzeichnet. Die freie Bewegung des Kapitals minderte die Steuerungsfähigkeit der westeuropäischen Sozialstaaten und setzte deren hohe Löhne und Lohnnebenkosten unter einen immensen Druck. Tatsächlich zeitigte die deflationäre Politik beachtliche Erfolge. Betrug die Inflationsrate in Westeuropa 1973–1983 durchschnittlich 11,2 % pro Jahr, so sank sie 1983–1993 auf 4,5 % und 1993–1998 auf nur noch 2,2 %. Aber auch nach der Herabdrückung der Inflationsraten wurde die Deflationspolitik trotz der hohen Arbeitslosigkeit (1995 gut 10 % in Westeuropa) beibehalten. Sie diente nunmehr vor allem der Herstellung der europäischen Währungsunion. Dem längeren Aufschwung der 1980er Jahre folgte 1991 eine erneute Rezession. Diese hatte mehrere Gründe: Die Währungen im EWS machten gegenüber dem Dollar und dem Yen eine starke Aufwertung durch, unter der der Export litt. Zugleich wurde die Wirtschaftsentwicklung durch konjunkturelle Rückschläge in Großbritannien und einigen skandinavischen Ländern, die Krise in der Sowjetunion und in Osteuropa, den Golfkonflikt und abnehmende Wachstumstendenzen in anderen Regionen der Welt geschwächt. Lediglich die Bundesrepublik machte aufgrund des „Vereinigungsbooms“ eine Sonderentwicklung durch und wurde von der allgemeinen Rezession später erfasst. Dann aber erlitt sie den schwersten konjunkturellen Einbruch ihrer Geschichte. Der Weg zur Währungsunion (Vertrag von Maastricht) Im Sommer 1993 brach das Europäische Währungssystem (EWS) auseinander. Das britische Pfund und die italienische Lira waren bereits 1992 aus dem Wechselkursmechanismus ausgetreten, die spanische, portugiesische und irische Währung waren kräftig abgewertet worden, und die skandinavischen Währungen schwankten frei. Demgegenüber erfuhr die D-Mark bis zum Frühjahr 1993 eine Aufwertung von 20 %. In dieser Situation versprachen sich gerade die Länder mit traditionell hohen Inflationsraten und großen Zahlungsbilanzproblemen langfristige wirtschaftliche Vorteile von einer Währungsunion. Sie waren bereit, weiterhin hohe Arbeitslosigkeitsraten
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Die Jahrzehnte der Neuorientierung hinzunehmen, die Inflationsrate stark zu senken und ihre Haushaltsdefizite zurückzuführen, um die Konvergenzkriterien für einen Beitritt zu erfüllen. Die Erkenntnis nachlassender internationaler Wettbewerbsfähigkeit verlieh dem Integrationsprozess neue Impulse. Durch verstärkte Kooperation bei den Hochtechnologien sollten teure Parallelentwicklungen vermieden werden. Die zum 1. Juli 1987 in Kraft getretene „Einheitliche Europäische Akte“ (EEA), die erste große Ergänzung des EWG-Vertrages von 1957, sollte der politischen und wirtschaftlichen Integration einen neuen Schub verleihen. Im europäischen Rat erleichterte nunmehr das Mehrheitsprinzip den Entscheidungsprozess. In Art. 8a der EEA wurde die Vollendung des Binnenmarktes zum 31.12.1992 angekündigt, und Art. 102a erklärte die Konvergenz zum Ziel der zukünftigen wirtschafts- und währungspolitischen Kooperation. Der Fall der Berliner Mauer Ende 1989 und die deutsche Wiedervereinigung verliehen dem Prozess der wirtschaftlichen und politischen Integration Europas eine neue Qualität. Die wirtschaftliche Dominanz Deutschlands und seine politische Rolle drohten noch stärker zu werden, so dass sich für Frankreich und Großbritannien die Frage stellte, wie das neue Deutschland auch weiterhin fest in das EG-System zu integrieren sei. Angesichts derartiger Befürchtungen war die Bundesrepublik vor dem Hintergrund ihrer Geschichte bemüht, den europäischen Integrationsprozess in konstruktiver Weise voranzubringen und dadurch den Prozess der Vereinigung politisch abzusichern. Frankreich ging es vor allem auch darum, sich mit einer Wirtschafts- und Währungsunion dem dominierenden Einfluss der deutschen Wirtschaftspolitik zu entziehen. Die schwächeren südeuropäischen Länder mussten befürchten, dass die Finanztransfers in Zukunft in stärkerem Maße in die noch viel ärmeren osteuropäischen Reformstaaten gehen würden. Vor diesem Hintergrund hatte eine Wirtschafts- und Währungsunion den doppelten Vorteil, einerseits das wiedervereinigte Deutschland wirtschaftlich und politisch in die europäische Gemeinschaft einzubinden und andererseits die finanziellen Transfers weiterhin auf die Mitgliedsländer der Gemeinschaft zu konzentrieren. Der am 10.12.1991 im belgischen Maastricht vereinbarte MaastrichtVertrag bildete die Grundlage für die Wirtschafts- und Währungsunion. Die 1. Stufe der Währungsunion begann am 1. Juli 1990 mit der Herstellung des freien Kapitalverkehrs zwischen allen damaligen Mitgliedern der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Diese Länder verpflichteten sich zu einer engen Kooperation in der Wirtschafts-, Finanz- und Geldpolitik. Am Beginn der am 1. Januar 1994 anlaufenden 2. Stufe stand die Gründung des Europäischen Währungsinstituts (EWI), dem Vorläufer der von Weisungen der Regierungen unabhängigen Europäischen Zentralbank. Länder, die an der 3. Stufe teilnehmen wollten, mussten bestimmte Konvergenzkriterien erfüllen. Die Inflationsrate durfte nicht mehr als 1,5 % über derjenigen der drei preisstabilsten Länder liegen. Ihr Zinsniveau durfte ein Jahr lang nicht mehr als 2 % höher liegen als in den drei stabilsten Ländern. Auch nach Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion muss sich die Haushaltspolitik der Mitgliedsländer bestimmten Konvergenzkriterien unterwerfen. So darf die Staatsverschuldung nicht 60 % und das Defizit aller öffentlichen Haushalte nicht 3 % des Bruttoinlandsproduktes überschreiten.
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die deutsche Wiedervereinigung und deren Absicherung durch die Wirtschafts- und Währungsunion: der Vertrag von Maastricht
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Die europäische Wirtschaft im 20. Jahrhundert
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Mit dem 1. Januar 1999 begann die 3. Stufe der Währungsunion. Damit wurden die Wechselkurse der Mitglieder der Währungsunion untereinander unwiderruflich festgelegt und der Euro als gesetzliches Zahlungsmittel eingeführt. Die ersten vom Rat der Europäischen Union 1998 aufgenommenen Mitglieder der Wirtschafts- und Währungsunion waren Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Portugal, Österreich und Spanien. Griechenland, das zunächst die Konvergenzkriterien noch nicht erfüllte, wurde 2001 aufgenommen. Slowenien war das erste der nach 2004 der EU beigetretenen Länder, das 2007 den Euro einführen konnte. Malta und Zypern folgten zum 1.1.2008. Dänemark und Großbritannien traten aufgrund der sog. Opting-out-Klausel des MaastrichtVertrages der Währungsunion nicht bei. Schweden verstieß bewusst gegen die Konvergenzkriterien, um den Euro nicht einführen zu müssen.
Ursachen der Erosion des Ostblocks
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Erosion und Zusammenbruch des Ostblocks Der wichtigste Prozess der internationalen Politik seit den 1970er Jahren waren die Erosion und der schließliche Zusammenbruch der UdSSR und des Sowjetblocks. Nach 1973 entwickelte sich die totale Faktorproduktivität in der UdSSR negativ. Dabei nahm die Arbeitsproduktivität dramatisch ab, und auch die Kapitalproduktivität verschlechterte sich stark. Totale Faktorproduktivität Die totale Faktorproduktivität bezeichnet jenen Teil des Wachstums, der nicht durch den vermehrten Input von Kapital und Arbeit erklärt werden kann. Sie ist ein Maß für die gesamtwirtschaftliche Produktivität einer Volkswirtschaft.
Die immensen Militärausgaben von ca. 15 % des BIP während der 70er und 80er Jahre lasteten schwer auf der Wirtschaft. Materialien und Rohstoffe wurden im Produktionsprozess verschwendet, da sie im Rahmen der Zentralverwaltungswirtschaft häufig unter Preis zur Verfügung gestellt wurden.
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Zentralverwaltungswirtschaft In der Zentralverwaltungswirtschaft wurde der Wirtschaftsprozess, d.h. die Produktion und Konsumtion von Gütern, von einer zentralen Instanz geplant. Die zentrale Planungsbehörde, wie z.B. die Staatliche Plankommission der DDR, erstellte auf der Grundlage von Prognosen über die von oben festgesetzten sog. gesellschaftlichen Bedürfnisse einen Plan für meist ein Jahr, der Teil eines Fünfjahresplanes war. Der Plan schrieb den Betrieben genaue Mengen vor, an die sie sich präzise zu halten hatten.
Die materiellen Anreize zur Arbeitsintensivierung waren gering, und Bummelei am Arbeitsplatz war allgegenwärtig. Zudem hatte die UdSSR, bedingt durch Handelsrestriktionen und geringe ausländische Investitionen, kaum Zugang zu westlicher Technologie. Während Grundbedürfnisse wie Nahrung und Wohnung stark subventioniert wurden, war der Zugang zu den noch dazu qualitativ minderwertigen Konsumgütern häufig mit Schlangestehen oder Schmiergeldzahlungen verbunden. Es entwickelte sich ein lebhafter Schwarzmarkt, während die politischen Kader über eigene Läden verfügten.
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Die Jahrzehnte der Neuorientierung
Staatspräsident Michail Gorbatschow in seiner Abschiedsrede vom 25. Dezember 1991 Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Die Sowjetunion 1953–1991 (Informationen zur politischen Bildung, Heft 236/1992, Bonn 1992, S. 38
IV.
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Verehrte Landsleute! Mitbürger! (…) Gott hat uns viel geschenkt: Land, Erdöl, Gas und andere Reichtümer. Und auch viele talentierte und kluge Menschen. Und dabei leben unsere Menschen schlechter als in den anderen entwickelten Ländern. Wir bleiben sogar immer weiter hinter ihnen zurück. Der Grund dafür war schon zu sehen – die Gesellschaft befand sich in der Schlinge eines bürokratischen Kommandosystems. Die Gesellschaft mußte der Ideologie dienen und dabei die furchtbare Last des Wettrüstens tragen. (…) Alle Versuche von halbherzigen Reformen (…) scheiterten nacheinander. Das Land verlor immer mehr an Perspektive. (…) Es mußte alles grundlegend verändert werden. (…) Mir war klar, daß die Einleitung von solchen großen Reformen in einer solchen Gesellschaft wie der unseren eine äußerst schwere und auch in bestimmter Hinsicht eine riskante Sache ist. Und auch heute noch bin ich von der historischen Richtigkeit der demokratischen Reformen überzeugt, die im Frühjahr 1985 eingeleitet wurden.
Boris Jelzin (1991–1999) etablierte die Marktwirtschaft und löste die Sowjetunion auf. Eine in Russland im Januar 1992 eingesetzte Regierung aus jungen Wirtschaftsreformern zerschlug die Strukturen der alten Planwirtschaft, gab die meisten Preise frei, beseitigte die Außenhandelshindernisse, strich die Militärausgaben auf einen Bruchteil zusammen, schuf wichtige Rechtsgrundlagen für eine Privatwirtschaft und begann mit der Privatisierung der Staatsunternehmen. Diese wurden zu extrem niedrigen Preisen verkauft, und vor allem die großen Schlüsselunternehmen im Rohstoffbereich gelangten in die Hände der „Oligarchen“, einer kleinen Gruppe von Finanzleuten. Infolgedessen nahmen im Prozess der Privatisierung und des Übergangs zur Marktwirtschaft die Einkommensunterschiede in Russland extrem zu. Das Investitionsklima in Russland war durch Korruption, Vetternwirtschaft und rechtliche Unsicherheit gekennzeichnet. Für die Masse der russischen Bevölkerung bedeutete der Übergang zur Marktwirtschaft eine Abwärtsspirale des Einkommens. Die Preise für die bisher stark subventionierten Grundbedürfnisse stiegen, zudem nagte eine Hyperinflation an Löhnen und Renten. In Russland und den osteuropäischen Ländern des ehemaligen Ostblocks lag das Pro-Kopf-Einkommen 1998 als Folge des Zusammenbruchs der Sowjetunion sogar um 25 % unter demjenigen von 1973. Die Armut erreichte alarmierende Ausmaße. In den vier westlichen GUS-Staaten Weißrussland, Moldawien, Ukraine und Russland stieg die Armenquote von 2 % 1987/88 auf über die Hälfte der Bevölkerung in den Jahren 1993/95, in den zentralasiatischen Nachfolgestaaten von 15 auf 66 %. Demgegenüber war die Entwicklung in den zentral- und südosteuropäischen Ländern des ehemaligen Sowjetblocks (mit Ausnahme Rumäniens) günstiger. Eine besonders günstige Entwicklung nach der Auflösung des Sowjetblocks nahm Polen, das nach 1990 die höchste Wachstumsrate in Europa nach Irland aufzuweisen hatte. Tschechien, der Slowakei und Ungarn gelang bis zur Jahrtausend-
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Die europäische Wirtschaft im 20. Jahrhundert
IV.
wende im Wesentlichen das Wiedererreichen des materiellen Niveaus von 1990. Die Probleme des Übergangs in Ostmitteleuropa waren gravierend. Der Kapitalstock musste zum großen Teil erneuert werden. Die Arbeitskräfte waren gezwungen, neue Qualifikationen zu erwerben, außerdem musste das gesamte Verwaltungs-, Rechts- und Bankensystem dieser Länder umgebaut werden. Die 1990 der Bundesrepublik beigetretenen „neuen“ Bundesländer erhielten zwar ungehinderten Zugang zu den westlichen Märkten und empfingen Finanztransfers in der gigantischen Größenordnung von ca. 1 Billion US-Dollar, hatten jedoch besondere Probleme, da die alte Ost-Mark der DDR, und damit auch die Löhne, beim Beitritt zur DM-Währung aus politischen Gründen überbewertet wurden. Darunter litt die Transformation der sozialistischen Betriebe zu wettbewerbsfähigen Unternehmen, und die Arbeitslosigkeit nahm alarmierende Ausmaße an. Noch heute liegen Arbeitsproduktivität und Sozialprodukt deutlich unter dem Niveau der „alten“ Bundesländer.
126
V. Rück- und Ausblick: Europa um die Jahrtausendwende Die wirtschaftliche Entwicklung Europas in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts war eine Erfolgsgeschichte. Für die 50er und 60er Jahre gilt dies mit freilich erheblichen Einschränkungen auch für die Länder Osteuropas. Im Westen verdreifachte sich das Bruttosozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung bei einem gleichzeitigen Rückgang der Arbeitszeit um 1/3. Lebensqualität und Lebensdauer nahmen erheblich zu. Allerdings war der Ausbau der wirtschaftlichen Kapazitäten entlang traditioneller technologischer Linien (extensives Wachstum) 1973 an sein Ende angelangt, womit eine Phase technologischer Unsicherheit und schnellen technologischen Wandels begann. In den High-Tech-Branchen (Computerund Raumfahrttechnologie, Kommunikationstechnologie und Halbleiter, Biotechnologie) hatte Europa einen deutlichen Entwicklungsrückstand. Der Strukturwandel ging weiter, und Millionen von Arbeitsplätzen in der Stahlproduktion, auf den Werften oder im Maschinenbau wurden durch verschärften globalen Wettbewerb vernichtet. Besonders ausgeprägt war das nachlassende Wachstum in den osteuropäischen Ländern, wo es 1989 zum Zusammenbruch des Systems der Zentralverwaltungswirtschaft und der kommunistischen Regierungen kam. Seit etwa 30 Jahren liegt das Pro-Kopf-Einkommen in den Ländern der EG bei etwa 2/3 des amerikanischen. Allerdings bedeutet dies nicht, dass die große Mehrheit der US-Amerikaner besser lebt als die Europäer, denn der amerikanische Durchschnittswert wird durch die extrem ungleiche Einkommensverteilung in den USA, d.h. die riesigen Einkommen der an Zahl nicht geringen superrich, verzerrt. Auch genießen Europäer weitaus mehr Urlaub und erheblich bessere Sozialleistungen. Zur europäischen Lebensqualität gehört darüber hinaus auch die niedrigere Kriminalitäts- und Armutsrate. Die Produktivität der europäischen Wirtschaft je Arbeitsstunde liegt bei 95 % der amerikanischen, in einigen Ländern wie Deutschland auch darüber. Der europäische Rückstand im Pro-Kopf-Einkommen ist zum größten Teil zurückzuführen auf die geringere Jahresarbeitszeit der Beschäftigten und die geringere Beschäftigtenquote (u.a. bedingt durch die demographische Überalterung und die geringere Frauenerwerbstätigkeit). Veränderungen in diesen entscheidenden Bereichen – z.B. durch verkürzte Ausbildungszeiten, den Abbau der Arbeitslosigkeit und die Zuwanderung jüngerer Arbeitskräfte könnten die Lücke schließen. Strukturelle Reformen des Sozialsystems, mit denen bereits begonnen wurde (in Deutschland mit den Hartz-IV-Gesetzen), könnten die Anreize, eine Erwerbsarbeit aufzunehmen, erhöhen, auf diese Weise die Besteuerungsgrundlage verbreitern und damit die Steuern und Sozialabgaben senken. Nötig wären ferner eine Steigerung der Ausgaben für Forschung und Entwicklung, eine verbesserte Zusammenarbeit von universitärer Forschung und Wirtschaft und die Bereitstellung von Wagniskapital. Die osteuropäischen Länder weisen noch erhebliches Wachstumspotential auf.
127
Rück- und Ausblick: Europa um die Jahrtausendwende
V.
Seit Mitte der 1990er Jahre wurden im europäischen Euro-Raum – mit Ausnahme des wiedervereinigten Deutschland – genauso schnell neue Arbeitsplätze geschaffen wie in den USA, seit Beginn des 21. Jahrhunderts sogar mehr als in den USA oder Großbritannien. Die europäische Wirtschaft hat auch international ihre Wettbewerbsfähigkeit bei zahlreichen HighTech-Produkten bewahrt, und die europäischen Exporte nahmen nach 2000 schneller zu als die amerikanischen. Europa konnte und kann auch weiterhin den neuen Herausforderungen nur durch eine Anpassung seiner Politik und seiner Institutionen auf die Erfordernisse eines intensiven Wachstums meistern. Die überkommenen Institutionen, die Europas Aufschwung in den 1950er und 1960er Jahren getragen hatten, entwickelten sich unter den neuen Bedingungen immer mehr zu schwerwiegenden Belastungen: Die Industriefinanzierung durch ein hochentwickeltes Bankensystem funktionierte hervorragend beim Aufbau einer modernen Massenproduktion in Großbetrieben im Rahmen bekannter Techniken, stellte aber in einer Periode technologischer Unsicherheit keine optimale Form der Beschaffung von Wagniskapital dar. Das europäische Sozial- und Arbeitssystem mit seinem ausgeprägten Kündigungsschutz, seinen Arbeiterschutzbestimmungen und seiner betrieblichen Mitbestimmung waren für den Aufbau der Massenproduktion in den 50er und 60er Jahren außerordentlich förderlich, indem sie den Arbeitsfrieden sicherten. In einer radikal veränderten Umwelt, in der sich zunehmend kleinere, technologisch innovative Unternehmen zu den Jobmotoren entwickelten, wirkten sie häufig abschreckend. Das europäische Institutionengefüge war zugeschnitten auf ein wirtschaftliches Umfeld, in dem der internationale Wettbewerb begrenzt war, und passte nicht mehr in eine Zeit zunehmender weltwirtschaftlicher Integration, globalen Wettbewerbs (nun auch durch China und die anderen ostasiatischen Aufsteiger) sowie globaler Finanzströme. Die ständige Erweiterung der EU übte in diesem Zusammenhang einen erheblichen Reformdruck aus. Die Osterweiterung ermöglichte es Unternehmern, ihre Firmen in die osteuropäischen Niedriglohnländer zu verlagern. So haben fast alle größeren Automobilhersteller Produktionsanlagen in der Slowakei errichtet, da dort die Lohnkosten nur 1/6 der westeuropäischen betragen. Der starke Zufluss ausländischer Direktinvestitionen nach Osteuropa setzte die westeuropäischen Länder einem erhöhten Wettbewerb um Investitionen und einem wachsenden Druck auf ihre Löhne und Kapitalsteuersätze aus. So stimmten z.B. Siemens-Arbeiter im Sommer 2004 einer Erhöhung ihrer wöchentlichen Arbeitszeit um 5 Stunden ohne jeden Lohnausgleich zu, um eine Verlagerung ihrer Jobs nach Ungarn zu verhindern.
Q
Arbeitnehmer in einem Europa ohne Grenzen E. Hauser: Standort Bundesrepublik und die soziale Frage. In: Frankfurter Rundschau, 2.10.1988 Seit deutsche Arbeitgeber von der Gefährdung des „Industriestandorts Bundesrepublik“ durch angeblich überhöhte Lohn- und Sozialkosten reden und indirekt mit Produktionsverlagerungen in „billigere“ EG-Länder drohen, geht bei den Ge-
128
Rück- und Ausblick: Europa um die Jahrtausendwende
V.
werkschaften die Sorge vor dem „sozialen Dumping“ um. Aber nicht nur in Westdeutschland. In Luxemburg beispielsweise drohte jüngst der zweitgrößte industrielle Arbeitgeber, der Reifenkonzern Goodyear, mit der Schließung einer Drahtfabrik ab 1990, falls „Sonntagsarbeit bei doppeltem Schichtlohn“ von den Gewerkschaften verweigert würde. (…) Die Schaffung neuer industrieller Arbeitsplätze in den armen EG-Randstaaten – von Irland über Portugal, Spanien, Süditalien bis Griechenland – gehörte zu den durchaus beabsichtigten Folgen des „Binnenmarktes ohne Grenzkontrollen“.
Europa hat bei dem erforderlichen Umbau seines Institutionengefüges beträchtliche Erfolge erzielt und wird davon auch nach Überwindung der gegenwärtigen Finanzkrise profitieren. Übertriebener Euroskeptizismus ist insoweit fehl am Platze. Aber negative Faktoren lassen sich ebenso wenig übersehen. Dazu gehört insbesondere die in den nächsten Jahren und Jahrzehnten weiter zunehmende Überalterung der Gesellschaft, die damit einhergehende Abnahme der Erwerbstätigkeit, die höheren Ausgaben für medizinische und pflegerische Zwecke und die infolgedessen möglicherweise weiter steigende Steuerlast. Vor allem aber könnte eine weitere unkoordinierte Zunahme der globalen Finanzströme die Europäer zur Aufgabe wesentlicher Elemente ihres Sozialmodells zwingen, da das Kapital die Standorte mit den niedrigsten Arbeitskosten sowie Steuer- und Soziallasten favorisiert. Dieser Entwicklung kann nur mit einer erfolgreichen Bildungs- und Qualitätsoffensive entgegengewirkt werden, da ein unbeschränkter Wettlauf um niedrige Steuern und Löhne einen sozialen Sprengstoff entfalten würde, dem die europäischen Demokratien nicht standhalten könnten.
129
Rück- und Ausblick: Europa um die Jahrtausendwende
V. Statistischer Anhang
Pro-Kopf-Einkommen in der Welt (Bruttoinlandsprodukt zu Preisen von 1990 je Einwohner in US-Dollar) Jahr
1000
1500
1600
1700
1820
1870
1913
1950
Westeuropa
400
774
894
1.024
1.232
1.974
3.473
4.594
11.534 17.921
– Belgien
875
976
1.144
1.319
2.697
4.220
5.462
12.170 19.442
– Dänemark
738
875
1.039
1.274
2.003
3.912
6.976
13.945 22.123
– Deutschland
676
777
894
1.058
1.821
3.648
3.881
11.966 17.799
– Finnland
453
538
638
781
1.140
2.111
4.523
11.085 18.324
– Frankreich
727
841
986
1.230
1.876
3.485
5.270
13.123 19.558
– Großbrit.
714
974
1.250
1.707
3.191
4.921
6.907
12.022 18.714
1.100
1.100
1.100
1.017
1.499
2.564
3.502
10.643 17.759
– Niederlande
754
1.368
2.110
1.821
2.753
4.049
5.996
13.082 20.224
– Norwegen
640
760
900
1.104
1.432
2.501
5.463
11.246 23.660
– Österreich
707
873
993
1.218
1.863
3.465
3.706
11.235 18.905
– Portugal
632
773
854
963
997
1.214
2.069
7.343 12.929
– Schweden
695
824
977
1.198
1.664
3.096
6.738
13.493 18.685
– Schweiz
742
880
1.044
1.280
2.202
4.266
9.064
18.204 21.367
– Spanien
698
900
900
1.063
1.376
2.255
2.397
8.739 14.227
– Italien
1973
1998
Osteuropa
400
462
516
566
636
871
1.527
2.120
4.985
5.461
Ehemalige UdSSR
400
500
563
611
689
943
1.488
2.834
6.058
3.893
400
400
527
1.257
2.445
5.301
9.561
USA
16.689 27.331
Lateinamerika
400
416
437
529
665
698
1.511
2.554
4.531
5.795
Asien (ohne Japan)
450
572
575
571
575
543
640
635
1.231
2.936
– China
450
600
600
600
600
530
562
439
839
3.117
– Indien
450
560
560
560
533
533
673
619
853
1.746
Afrika
416
400
400
400
418
444
586
852
1.365
1.368
Quelle: Maddison (2001), S. 264
130
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134
Eichengreen, Barry: The Great Slump Revisited. In: Economic History Review XLV (1992) Heft 2, S. 213–239 Ders.: Vom Goldstandard zum Euro: Die Geschichte des internationalen Währungssystems. Berlin 2000 Ders.: The European Economy Since 1945. Coordinated Capitalism and Beyond. Berkeley 2007 Feinstein, Charles H.: The World Economy between the World Wars. Oxford 2008 Feldenkirchen, Wilfried: Die deutsche Wirtschaft im 20. Jahrhundert. München 1998 Glastetter, Werner u.a.: Die wirtschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland. Befunde, Aspekte, Hintergründe. Frankfurt a.M. 1983 Henning, Friedrich-Wilhelm: Das industrialisierte Deutschland 1914 bis 1972. Paderborn 1974 Ders. (Hrsg.): Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands, Bd. 3: Das industrialisierte Deutschland 1914–1992, 9. Aufl., Paderborn 1997 Hobsbawm, Eric: Das Zeitalter der Extreme: Weltgeschichte des 20. Jh. München 1995 James, Harold (Hrsg.): The Interwar Depression in an International Context. München 2002 Ders.: Deutschland in der Weltwirtschaftskrise 1924–1936. Stuttgart 1988 Keynes, John Maynard: The Economic Consequences of the Peace. London 1919 Kindleberger, Charles P.: Die Weltwirtschaftskrise, 1929–1939. München 1973 Matis, Herbert / Stiefel, Dieter: Die Weltwirtschaft, Struktur und Entwicklung im 20. Jahrhundert. Wien 1991 Tipton, Frank B. / Aldrich, Robert: An Economic and Social History of Europe. From 1939 to the Present. Baltimore 1987 Tooze, Adam: Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus. München 2006
Sach- und Personenregister Adenauer, Konrad 109f. Aktiengesellschaft 37, 63ff., 82, 88 Allmende 7, 9, 46 Amsterdam 35f., 38, 49, 61f., 65 Antwerpen 6, 30, 35, 36, 61f., 69 Arbeitslosigkeit 100, 102, 106ff., 118f., 121, 122, 126, 127 Arbeitsmarkt 55, 99 Arbeitsteilung 3, 9, 11, 18, 36, 53, 54, 56, 90, 91, 93f., 99, 114 Arkwright, Richard 76 Auslandsinvestitionen 92 Bauernbefreiung 84 Baumwolle, Baumwollindustrie 15, 20, 21, 49, 65, 68, 74–76, 78, 80, 82, 83, 85, 87, 91, 96, 97 Bauwens, Liewens 81 Bergbau 26, 38, 48, 50ff., 54, 78, 86, 97, 101, 113 Beschäftigungsquote 119 Bessemerverfahren 82f., 86 Bevölkerungszahl 1ff., 8, 9, 11ff., 17f., 33, 40, 41, 42, 46, 48, 49, 65, 67, 70, 82, 88, 120 Bildungswesen 79, 120 Bretton Woods 108, 121 Brügge 6, 13f., 18, 21, 22f. Brüning, Heinrich 125f. Byzanz 4f., 6, 15, 18ff. 23 Champagne-Messen 15, 61 Chemieindustrie 86f., 90, 92, 100 Clive, Robert 72 Cockerill, William 81 Commenda 16 Coordinated capitalism 114 Dampfmaschine 76, 77, 80, 82 Darby, Abraham 77 Dawes-Plan 102 Deflation(spolitik) 95, 105f., 122 Dienstleistungssektor 120 Disparitäten 88ff., 113 Dollar(kurs) 108, 117, 120f., 122 Dreifelderwirtschaft 9, 41 Economies of Scale 87 EFTA 117f. Eigentumsrechte 3, 12, 35 Eisenbahn 50, 68, 78, 81, 82, 85f., 88, 92, 97 Elektrizitätsindustrie 86f., 90, 92 enclosures 46
Erhard, Ludwig 116 Ernteerträge 40ff. Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 115ff. Europäisches Währungssystem (EWS) 121 Fabriksystem 50, 76f. Fernhandel 5ff., 18ff., 23, 54, 64 Fischfang 25, 52 Frauenarbeit 56, 75, 81, 119 Freihandel 59, 93ff., 116f. Friesen 6f., 22 Fruchtwechsel 44f. Fugger 30, 52, 62f., 64 GATT 108f. Gemeinsamer Agrarmarkt 117 Genua 14, 15, 18, 19, 23, 61 Getreide 4, 7, 9, 11, 18, 23, 25, 27, 35, 42f., 45, 46, 54, 60f., 65, 73, 94, 102 Gewürzhandel 28f., 38, 61 Giscard d’Estaing, Valéry 121 Globalisierung 121f. Goldstandard 95, 101f., 104, 106 Gorbatschow, Michail 125 Grundherrschaft 7ff., 41f., 43 Handelsbilanz 58, 60, 75, 85, 94f., 97, 99, 111, 115 Handwerk 12f., 14, 17, 35, 51, 55f., 64, 71, 75, 89, 102 Hanse 14, 15, 22–25, 35, 60, 69 Hargreaves, James 76 Hartz-IV-Gesetze 127 Hoover-Moratorium 106 Hugenotten 71 Industrielle Revolution 2, 44, 67–98 Inflation 100, 101, 115, 118f., 120, 121, 122, 123, 125 Institutionen 1, 3, 23, 35, 65, 79, 84, 112, 117, 128, 129 Investitionsquote 68f., 112 Ivan III. 24 Jelzin, Boris 125 Kapitalbildung 68, 69, 70, 79, 82, 85 Karl V. 31f. Kartelle 64, 87, 92f. Kay, John 75f.
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Sach- und Personenregister Keynes, John M. 106, 114, 117, 121 Kinderarbeit 56, 75, 81 Klima 1, 7, 18, 39ff. Kolonialwaren 36, 61, 65 Kolumbus 27, 30, 34 Kommerzielle Revolution 15f., 18 Kreditgeschäft 15, 21, 25, 27, 32, 38f., 51f., 61f., 62, 64, 72f., 92ff., 103 Kreuzzüge 2, 19f. Kriegskredite 101f. Landwirtschaft 7–11, 12, 17f., 31, 39–47, 48f., 70, 73f., 78f., 82, 84f., 88, 97, 101f., 115ff. Leibeigenschaft 42f., 84f., 87f. Leinen 35, 49, 52f., 65, 76 Leitsektor 74ff., 86, 113, 119 Ludwig XIV. 56, 71 Luther, Martin 64 Maastricht-Vertrag 127ff. malthusianische Falle 2f., 67 Manufakturen 55f., 58 Markt(wirtschaft) 3, 9, 12, 17, 32, 44f., 49f., 51f., 58, 61, 68, 73, 85f., 97, 99, 101f., 115f., 118, 122, 125 Maschinenbau 74, 78, 82, 85f., 90, 119 Mauren 19, 26f., 30 Mesta 43 Migration 94, 118 Montanunion 111f. Navigationsakte 35, 71f., 93 new draperies 49, 65 Ölkrise 119 Opium 37, 94, 97, 98 Osterweiterung 128 Owen, Robert 76 Philipp II. 32 Produktionsfaktoren 3, 68 Produktivität 3, 8f., 11, 40f., 48, 67, 70, 80, 82, 87f., 90, 100, 113, 115, 119, 124, 126f.
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Protektionismus 59, 93, 95, 100, 103, 107, 109, 117 Proto-Industrialisierung 49f., 57, 84 Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) 114f. Rationalisierung 100 Rekonstruktionsthese 115 Reparationen 101, 105f. Rothschild 81 Saigerverfahren 51 Schiffbau 26, 33, 35, 36, 39, 52, 90 Schuman, Robert 111f. Science-based industries 90 Sektoren 68, 74, 82, 89 Silber 6, 21, 29, 30ff., 39, 51, 54, 58, 60, 62, 97 Sklaven(handel) 6, 18, 29, 34, 37, 49, 65f., 73 Sozial- und Interventionsstaat 101, 120 Staatsquote 120 Strukturwandel 68, 118, 119 Technik, technischer Fortschritt 3, 7f., 10f., 16f., 21, 26, 47, 49f., 71, 75f., 78, 85f., 90f., 93 Transaktionskosten 58 Transhumanz 8, 43 Tuchgewerbe 13ff., 52f. Urbanisierung 4, 44, 54, 83, 91 Venedig 6, 15, 18–21, 23, 30, 33, 38, 49, 53, 60 Vereinigte Ostindien Companie 36ff. Verlagssystem 49f., 51, 57 Wachstum 2f., 9, 67f., 70, 73f., 78, 81f., 85, 88, 93, 99, 102, 106, 112f., 114f., 118f. Wasserkraft 16, 50, 76, 83 Wechsel 38, 61f. Windkraft 17 Zentralverwaltungswirtschaft 124 Zollverein 85 Zucker, Zuckerplantagen 21, 27, 29f., 33f., 37, 59, 72f., 101 Zünfte 13f., 24, 55f., 58, 71, 85