Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich: Perspektiven auf künstlerische Innovation und Kulturpolitik 9783839446324

New actors are currently transforming music theater: a study on contemporary German and French music theater and its cur

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German Pages 282 Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Geleitwort
Einleitung
Historie und Kulturpolitik von Musktheater
1. Musiktheater in Deutschland und Frankreich: von 1945 bis heute
2. Rahmenbedingungen von Musiktheater
Musiktheater in Deutschland und Frankreich. Innovative zeitgenössische Modelle
3. Kriterien für die praktische Untersuchung
4. Fallbeispiele
5. Auswertung der Untersuchung
Europera. Die Reform des Musiktheaters
Einleitung
6. Zur Struktur eines zukünftigen Musiktheaters
7. Zur Kunst eines zukünftigen Musiktheaters
8. Zur Kulturpolitik eines zukünftigen Musiktheaters
9. Schlussbemerkungen
10. Literatur
11. Personenverzeichnis
12. Abkürzungsverzeichnis
Danksagung
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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich: Perspektiven auf künstlerische Innovation und Kulturpolitik
 9783839446324

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Dorothea Lübbe Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

Theater  | Band 119

Dorothea Lübbe ist Kulturwissenschaftlerin und Regisseurin. Nach dem Studium der Kulturwissenschaften und ästhetischen Praxis an der Universität Hildesheim und Médiation Culturelle de l’Art an der Aix-Marseille-Université, erlangte sie den deutsch-französischen Doktorgrad. Darüber hinaus arbeitet sie als freischaffende Regisseurin. Lehraufträge führten sie u.a. an die Universität Hildesheim, an die Hochschule für Musik Hanns-Eisler und die Université Libanaise Beyrouth. Außerdem ist sie Stipendiatin als post-doc fellow an der Graduate School for Performance and Sustainability am World Center for Music, Hildesheim.

Dorothea Lübbe

Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich Perspektiven auf künstlerische Innovation und Kulturpolitik

Das Forschungsprojekt wurde gefördert durch das Deutsch-Französische Promotionskolleg an der Universität Hildesheim und die Université Aix-Marseille.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Musiktheaterproduktion ›LULU/NANA‹, 2014, Photo: Iono Laibarös. Satz: Justine Buri, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4632-0 PDF-ISBN 978-3-8394-4632-4 https://doi.org/10.14361/9783839446324 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Geleitwort »Zur kulturpolitischen Reform der Oper in der Theaterlandschaft« von Wolfgang Schneider | 9

Einleitung | 13

H istorie und K ulturpolitik von M usk theater 1. Musiktheater in Deutschland und Frankreich: von 1945 bis heute | 27 1.1 Zur Einführung des Begriffs: Oper oder Musiktheater? | 28 1.2 Historie der ästhetischen Entwicklungen | 35 2. Rahmenbedingungen von Musiktheater | 63 2.1 Kulturpolitik | 63 2.2 Die Institution Musiktheater | 68 2.3 Musiktheater und der Reformbedarf | 83

M usik theater in D eutschl and und F rankreich . I nnovative zeitgenössische M odelle 3. Kriterien für die praktische Untersuchung | 87 3.1 Zeitgenossenschaft | 87 3.2 Innovationsprozesse | 92 4. Fallbeispiele | 99 4.1 Oper Halle: Heterotopia – die Raumbühne | 101

4.2 Nouveau Théâtre de Montreuil: das Festival »Mesure au Mesure« | 131 4.3 Oper Wuppertal: »Sound of the City« | 144 4.4 Opéra Bastille: »Un opéra moderne et populaire« | 158 4.5 Das Musiktheaterkollektiv Hauen und Stechen | 173 4.6 Das Opera Lab Berlin | 189 4.7 Die Musiktheaterkompanie La Cage | 200

5. Auswertung der Untersuchung  | 211 5.1 Musiktheater als Institution | 213 5.2 Musiktheater als Innovation | 216

E uropera . D ie R eform des M usik theaters 6. Zur Struktur eines zukünftigen Musiktheaters  | 223 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7

Freie Strukturen | 223 Staatliche Strukturen | 225 Standort | 227 Digitale Technologien und Internet | 228 Austausch/Diskurspflege | 228 Lobbyarbeit | 230 Fazit zur Struktur des zukunftsfähigen Musiktheaters | 231

7. Zur Kunst eines zukünftigen Musiktheaters  | 233 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5

Künstlerische Qualität | 233 Inhalte | 234 Uraufführngen | 235 Leitbild oder öffentliche Haltung | 237 Fazit zur Kunst des zukunftsfähigen Musiktheaters | 238

8. Zur Kulturpolitik eines zukünftigen Musiktheaters  | 239 8.1 Personelle Struktur | 239 8.2 Kulturpolitischer Auftrag | 240 8.3 Anerkennung der künstlerischen Leistungen – auch in der Freien Szene | 242 8.4 Häuser öffnen | 243 8.5 Neue Häuser für Kooperationen | 243

8.6 Tarife | 244 8.7 Dezentralisierung | 246 8.8 Publikum | 246 8.9 Fördermittel Europa | 248 8.10 Fazit der Kulturpolitik eines zukünftigen Musiktheaters | 249

9. Schlussbemerkungen  | 251 10. Literatur  | 255 11. Personenverzeichnis  | 271 12. Abkürzungsverzeichnis  | 275 Danksagung  | 279

Geleitwort »Zur kulturpolitischen Reform der Oper in der Theaterlandschaft« von Wolfgang Schneider

Die Oper ist eine Institution. Seit Jahrhunderten, gefeiert als Gesamtkunstwerk, kritisiert als museale Einrichtung. Tatsache ist, dass ein Großteil der öffentlichen Förderung der Darstellenden Künste in Deutschland und Frankreich ein System von Opernhäusern möglich macht. Und nun will die Deutsche UNESCO-Kommission die Deutsche Theater- und Orchesterlandschaft als immaterielles Kulturerbe nominieren. Trotzdem wird allenthalben ein kulturpolitischer und institutioneller Reformbedarf angemahnt, gerade auch weil sich alternative Produktionsmodelle entwickelt haben und auch diese kommunal und staatlich subventioniert werden. In der Kulturpolitik wird immer mal wieder von der Krise des Theaters gesprochen, gemeint sind zumeist die Finanzierung der Apparate, die Personalkosten von Ensembles, Orchester und Verwaltung, die Ausgaben für die Immobilien der Theaterkunst, vor allem die Verhältnisse von Zuwendungen, Publikumsvielfalt und prekären Arbeitsbedingungen an der Oper. »…wo und unter welchen Bedingungen entstehen neue Formen von Musiktheater?«, fragt deshalb zu Recht Dorothea Lübbe in ihrer Dissertation. Ihr geht es – wie die Verwendung des Terminus Musiktheater suggeriert – um ein breites Verständnis von Oper, ihr geht es um Innovation und Zeitgenossenschaft, um die Modelle der Praxen, um die kulturpolitischen Rahmenbedingungen des Produzierens und Distribution. Anhand von Fallbeispielen aus den deutschen und französischen Theaterlandschaften, anhand von Prozessen der künstlerischen Konzeptionen und Praxen in institutionalisierter und freier Trägerschaft, will sie das »Verhältnis zu zeitgenössischer Ästhetik und kulturpolitischen Freiräumen gestalten«.

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

Frankreich hat ein zentralistisches System von Kulturpolitik, Deutschland ein föderales, das ist ein grundlegender Unterschied in der Betrachtung der Opernlandschaften; allerdings fallen durchaus Gemeinsamkeiten im Verhältnis von institutionalisierten und freien Formen auf. In beiden Ländern sind ganz ähnliche Diskurse identifizierbar: Die Frage nach der Relevanz von Musiktheater und die damit verbundene Auseinandersetzung mit Zeitgenossenschaft und Innovation. Zeitgenossenschaft definiert die Autorin nach Giorgio Agamben, der sich vor zehn Jahren mit einer politisch philosophischen Abhandlung auf Friedrich Nietzsche und mit dem besonderen Verhältnis der Zeitgenossen auf Gegenwart bezog. Die Theorie der Definition von Innovation basiert auf den Texten des Ökonomen Joseph Alois Schumpeter aus dem Jahr 1927, wo als Charakteristika folgende Merkmale festgehalten werden: Neuartigkeit, Unsicherheit/ Risiko, Interdisziplinarität, Konfliktpotential. Auf dieser Basis werden die Fallbeispiele schematisch vergleichbar: Die Oper Halle, das Nouveau Théâtre de Montreuil, die Oper Wuppertal und die Opéra Bastille in Paris als klassische Institutionen des Musiktheaterbetriebs sowie das Musiktheaterkollektiv Hauen und Stechen Berlin, das Opera Lab Berlin und die Musiktheaterkompagnie La Cage in Paris und Berlin als frei produzierende Musiktheatergruppen. »Alle Beispiele vereint eins: der Drang nach Neuem«, schreibt Dorothea Lübbe, alle verbinde das Bestreben, in den Spielplänen und Projekten das Musiktheater weiter zu entwickeln. Die Untersuchungen der strukturellen Kontexte beziehen selbstverständlich die künstlerischen Konzeptionen mit ein und gewähren Einblick in wichtige Neuerungen: Die projektbezogenen neuen künstlerischen Arbeitstechniken, die vielfältigen Neuschöpfungen des Genres und die besondere Rolle von Austauschformaten wie Gespräche, Konferenzen und Angebote für Bürger. In Anlehnung an John Cages Auftragswerk »Europera« von 1987, in der er Fragmente von mehr als 100 Opern der europäischen Musiktheatertradition verarbeitet hat, befragt die vorliegende Arbeit kritisch die Praxis und entwickelt aus ihrer Analyse einen Reformbedarf, nämlich die »Notwendigkeit von Starthilfe für die Gründung freier Strukturen«, das Ausprobieren kollektiver Führungsmodelle, der Nutzen von Potentialen in den digitalen Medien und im Internet sowie der Verstärkung des Austauschs der Akteure. Die Zukunftsfähigkeit sei zudem abhängig von der künstlerischen Qualität des Musiktheaters, von Neuarrangements des Materials und der

Geleitwor t

Begleitung von Uraufführungen durch vermittelnde Maßnahmen. »Anhand der Beispiele wird deutlich, dass ein Gelingen von künstlerischen Konzeptionen nur in Kenntnisnahme und Wechselwirkung der Musiktheaterschaffenden mit den zuständigen kulturpolitischen Akteuren und den so genannten »Dritten«, in diesem Fall der Presse und den Verbänden, gelingen kann.« Dorothea Lübbe plädiert für eine Förderung zeitgenössischer Formen, die in einem Kulturauftrag für Opernhäuser festgehalten werden sollte, für eine Gastspielförderung und die Förderung von Vermittlungsformaten sowie die Kooperation mit Bildungseinrichtungen, um dem Anspruch genüge zu leisten, »einen Gesellschaftsquerschnitt im Publikum zu finden«. Die Liste von Handlungsbedarfen umfasst acht Vorschläge für die Kulturpolitik, gespeist von den Erkenntnissen, dass die freie Szene das Laboratorium des zeitgenössischen Musiktheaters sei, dass neue Gestaltungsmöglichkeiten die Organisationsstrukturen verändern müssen und dass Interdisziplinarität einen erheblichen künstlerischen Mehrwert schaffe. Ihre Conclusio: »Musiktheater ist Raum eines kollektiven Gedächtnisses und braucht zeitgenössische Gedanken, um den Fragen dieser Zeit gerecht zu werden«. Sie kennt sich aus, sie weiß, wovon sie schreibt, sie betrachtet von außen, was sie im Innern erfahren konnte; Dorothea Lübbe ist Opernexpertin, in Theorie und Praxis. Sie nutzt die einschlägige Literatur, sie erläutert klug ihre Fragestellungen, sie hat mit Verstand ausgewählt, welche Fallbeispiele ihr bei ihrer Feldforschung hilfreich sein sollten, anhand von Entwicklungen aus den Theaterlandschaften Erkenntnisse zu generieren, die den Weg weisen können, um Zeitgenossenschaft und Innovation im Musiktheater künstlerisch voranzubringen. Ihr geht es vor allem darum, die dazu benötigten kulturpolitischen Rahmenbedingungen einzuschätzen – und die weiß sie zu begründen und zu formulieren; ihre Dissertation trägt nun umfassend zur Vermessung des Gegenstandes, strukturell und theoretisch, bei. Sie setzt Akzente, skizziert auch so etwas wie einen Kulturauftrag von Oper, weil diese mit öffentlichen Mitteln möglich gemacht wird und Gesellschaft als Teilnehmende und Teilhabende im Blick haben sollte. Es geht ihr um die Laboratorien einer multidisziplinären Kunstform, die Musiktheater neu denkt, anders ausprobiert und doch nachhaltig implementiert. Austausch und Mobilität innerhalb Europas sind ihr dabei besonders wichtig.

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

Dorothea Lübbe gibt Anregungen, durch ihre wissenschaftliche Expertise lässt sie uns teilhaben am Veränderungsprozess bei gleichzeitiger Stagnation kulturpolitischer Strukturen. Geht es zukünftig weiterhin um ein weitermachen wie bisher, geht es um die Förderung von Parallelwelten des institutionalisierten und freien Musiktheaters, geht es nur um Aufwüchse in den öffentlichen Budgets oder endlich auch um einen Umbau – auch im Sinne Heiner Goebbels, der mit seinem Vorschlag zitiert wird, pro Bundesland eine Oper zu schließen, um ein Musiktheater-Produktionshaus zu eröffnen? Die Dissertation von Dorothea Lübbe leistet beste Zuarbeit für all die Fragen an die Kulturpolitik. Professor Dr. Wolfgang Schneider ist Direktor des Instituts für Kulturpolitik an der Universität Hildesheim und Vorsitzender des dortselbst und an der Universite Aix/Marseille angesiedelten Deutsch-französischen Promotionskollegs

Einleitung

Vielerorts in Europa lassen sich die Entwicklungen vielfältiger neuer musikalischer Bühnenformen und theatraler Musikformen beobachten: das zeitgenössische Musiktheater. Eine Entwicklung, die in starkem Widerspruch zu der Kritik an tradierten Produktionsbedingungen und -verhältnissen von öffentlichen Musiktheaterbetrieben steht. Diese Kritik lässt verlauten, dass die Institution Oper zur musealen Einrichtung transformiert sei und die Daseinsberechtigung der Institution und der Kunstform Oper zur Disposition stellt. Aller Kritik zum Trotz hat die Oper sich bis in die Gegenwart in einer Opulenz erhalten und zeigt das in einer Vielzahl an repräsentativen Opernhäusern. Dennoch gehört sie trotz der Masse an repräsentativen Bauten in den Zentren der Städte längst nicht mehr zu der ersten Anlaufstelle für die Mehrheit der kulturell interessierten Bevölkerung. Doch wie steht es um die neuen Entwicklungen im Musiktheater? Wo und unter welchen Bedingungen entstehen neue Formen von Musiktheater? Ausgelöst durch die Diskussion über die Krise der Oper findet vermehrt der Begriff der Innovation seinen Eingang in die Musiktheaterlandschaft in Verbindung mit speziellen künstlerischen Formaten und strukturellen Arbeitsweisen und ist zu einem zentralen Schlüsselbegriff geworden, wenn es um den Versuch des Auf brechens bestehender Konventionen geht. Dies wird im Laufe diese Abhandlung noch eingehender erläutert werden und ist wesentliches Untersuchungskriterium der vorliegenden Forschungsarbeit. Der erste Teil dieser Arbeit ist der Versuch einer Bestandsaufnahme der wissenschaftlichen Betrachtungen des Musiktheaters in Deutschland und Frankreich. Begonnen mit der historischen Auseinandersetzung der Begrifflichkeit von Musiktheater in Deutschland und Frankreich, wird die Entwicklung seit dem Ende des 2. Weltkrieges bis zur Gegenwart in großen Schritten dargestellt. Weiterhin werden die relevanten kulturpoliti-

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schen Rahmenbedingungen in dem Forschungsterritorium Deutschland und Frankreich beschrieben. Ein besonderes Augenmerk hierfür haben die betrieblichen Strukturen, damit für die spätere Analyse der Fallbeispiele die Basis für verschiedene strukturelle Modelle und künstlerische Konzeptionen nachvollzogen werden kann. Es beginnt mit der Diskussion über den Gattungsbegriff, der die Entwicklungen neuer musikalischer Bühnenformen in einem Begriff zu vereinen sucht. Hierzu nehmen in Deutschland viele Experten Stellung zur Unmöglichkeit einer einheitlichen Nominierung. Die Gattungsfrage beginnt bei der komplexen Diskussion zwischen den Begriffen Oper und Musiktheater und geht über in die Schwierigkeit länderübergreifend eine Einigung zu finden. Wenngleich in den 1980er und 1990er Jahren in Frankreich der Begriff des »théâtre musical« ebenso wie im deutschen Sprachgebrauch der Abgrenzung von der traditionellen Oper diente, ist der Diskurs heute über diese Festlegung hinausgewachsen. So wird durch die Verwendung der Bezeichnung »les nouvelles formes« sprachlich eine bewusste Abgrenzung von bisherigen Gattungsbegriffen versucht und die gattungsspezifische Zuordnung vermieden. Das wiederum ähnelt der Unsicherheit, die auch in Deutschland bei der Benutzung des Begriffes Musiktheater herrscht. Untersuchungswürdig ist hier die Schwierigkeiten des diskursiven Umgangs mit neuen Formen und inwieweit es Parallelen zwischen beiden Ländern gibt. Im Rahmen der in Kapitel 1 erläuterten historischen Entwicklung des Musiktheaters wird deutlich welch vielfältigen Bemühungen zur Erneuerung des Genres Musiktheater in den letzten Jahren unternommen worden: vom Auf brechen ihrer Betriebsstrukturen bis zum Übertreten der Genregrenzen. Anschaulich verdeutlicht dies die Studie von Rainer Simon1 mittels einer Analyse zu Produktionsprozessen verschiedener Musiktheaterformate und pointiert die Diskrepanz zwischen freien Musiktheaterproduktionen und tradierten Theaterbetrieben. Dies wird Anlass, um den künstlerischen Prozess in seiner Gesamtheit von der künstlerischen Konzeption bis zur realisierten Praxis im Musiktheater zu untersuchen. Die Forschungsarbeit ist den Versuchen nach Neuerungen gewidmet. Das Interesse liegt auf dem lösungsorientierten Erörtern von Reformbedürfnissen und Neuerungen durch Beispiele der 1 | Simon, Rainer: »Labor oder Fließband? Produktionsbedingungen freier Musiktheaterprojekte an Opernhäusern«, Theater der Zeit Verlag, Berlin 2013.

Einleitung

aktuellen Musiktheaterpraxis in Deutschland und Frankreich. Hierzu werden als Kriterien die wissenschaftlich belegten Theorien »Innovation« und »Zeitgenossenschaft« gewählt, anhand derer eine Auswahl an Fallbeispielen und deren Verhältnis zu zeitgenössischer Ästhetik und kulturpolitischen Freiräumen befragt wird. In Kapitel 3 dieser Arbeit wird der Begriff der »Innovation« transferiert und für die darstellende Kunstform Musiktheater neu definiert. Anhand der Charakteristika der beiden Kriterien »Innovation« und »Zeitgenossenschaft« werden die ausgewählten Fallbeispiele im Hinblick auf die relevanten kulturpolitischen, soziologischen und ästhetischen Parameter untersucht. Als Untersuchungsterrain dient die Musiktheaterlandschaft in Deutschland und Frankreich. Zwei Länder, die historisch betrachtet bedeutend für Europa sind, auch im Hinblick auf die Musiktheaterlandschaft. Seit ihrer Entstehung in Italien hat die Oper eine schnelle Verbreitung in vielen Teilen Europas gefunden, sich fest als Teil der Kulturlandschaft etabliert und ist bis heute eines der Aushängeschilder der europäischen Kultur geblieben. (Kapitel 1.1, 1.3) Das deutsch-französische Untersuchungsterrain fordert die Forschung heraus, da beide Nationen mit ihrer jeweiligen Kulturpolitik gänzlich unterschiedliche Grundlagen geschaffen haben und somit die Entwicklung der Kunstform von sich nicht nahestehenden kulturpolitischen Perspektiven betrachtet werden muss. Dennoch soll das Augenmerk in dieser Forschungsarbeit über den reinen Vergleich der jeweiligen kulturpolitischen Systeme hinausgehen: Es gab bisher keine repräsentative Überschneidungen der Feuilletons, nahezu keinen Austausch der Musiktheaterschaffenden, keinen gemeinsam geführten wissenschaftlichen Diskurs und keine Einigkeit der Gattungsbestimmung. Dies gelang durch die Eingrenzung der Fallbeispiele mit Zuhilfenahme der Kriterien Innovation und Zeitgenossenschaft, angewandt sowohl auf die inhaltlich-ästhetische Programmatik als auch auf den Spielbetrieb. Hier liegt ein wesentlicher Erkenntnisgewinn auf der Spielzeit 2016/2017, wie die Analyse der Fallbeispiele ergebnisreich in Kapitel 4 und Kapitel 5 zeigt. Beispielsweise das Nouveau Théâtre de Montreuil verzeichnet gegenwärtig eine Entwicklung, die der Gründungsgeschichte der Neuköllner Oper Berlin, mit einer ausgewogenen Mischung aus Diskussionsformaten als auch Raum für künstlerische Experimente ähnlich sein könnte. Daraus ergibt sich die weiterführende Diskussion, ob es die Institution selbst oder ob es die Kulturpolitik ist, die künstlerische Innovationen fördert oder sie in ihrem Keim erstickt.

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Die Fragestellung dieser Arbeit ist weitläufig auf die seit den 1920er Jahren immer wieder aufkommende Diskussion um die Relevanz, Legitimation und Stagnation der Kunstform Musiktheater zurückzuführen. »Europäisches Musiktheater ist nach wie vor überwiegend die Domäne der Musikwissenschaft, die ihrerseits – geschichtlich gesehen – ihre wichtigsten Fragen und Methoden aus der Beschäftigung mit der reinen, der ›absoluten‹ Musik gewonnen und entwickelt hatte, ehe sie sich mit programmatischer Energie jenseits musikhistorischer Fragen auch mit den theatergeschichtlichen Bedingungen des Musiktheaters befasst hat. Trotz verstärkter Bemühungen in theaterspezifischen Fragen und einer Vielzahl von Forschungsergebnissen, die in den letzten Jahren erbracht worden sind, hat das Gesamtbild der Beziehungen zwischen den beteiligten Disziplinen nur wenige neue Züge aufzuweisen. Einer der Gründe dafür ist wohl, dass es an übergreifenden Diskussionen zu methodologischen Fragen fehlt. […] denn mit dem zweiten, theatergeschichtlich orientierten Blick wird deutlich, daß man den geschichtlichen Theaterverhältnissen eher wenig gerecht wird, wenn man von den alten Sparten Schauspiel oder Sprechtheater, Musik-, Tanz- und Figurentheater als ›reinen‹ Genres ausgeht, um dann die häufig als ästhetisch minderwertig eingeschätzten Misch- oder Übergangsspuren aufzuspüren und zuzuordnen. Diese verdienen theaterwissenschaftlich gleiche Aufmerksamkeit.«2 Im zweiten Teil der Forschungsarbeit geht es um die konkrete Feldforschung anhand ausgewählter Fallbeispiele in Deutschland und Frankreich. Die Untersuchung der jeweiligen Fallbeispiele konzentriert sich auf die Betrachtung der Leitungsstruktur, der künstlerischen Vision, den faktischen Konditionen zur Umsetzung sowie der künstlerischen Motivation und dem Standort. Welche Parameter spielen eine entscheidende Rolle, die die Innovationen in ihrer Entstehung begünstigen, hervorbringen oder verhindern. Ist es das Überschreiten des Genres, ist es die Konsequenz der Spielplangestaltung oder ist es der Umgang mit dem Spielbetrieb selbst? Lässt sich anhand der jeweils untersuchten künstlerischen Beispiele benennen, wie im Detail die künstlerische Novation aussieht und worin sie liegt? Wo und wie werden diese Innovationen in die Spiel-

2 | Bayerdörfer, Hans Peter (Hg.): »Musiktheater als Herausforderung. Interdisziplinäre Facetten von Theater- und Musikwissenschaft«, in: Theatron, Bd. 29, De Gruyter Verlag, Berlin & Tübingen, 1999, S. 7ff.

Einleitung

pläne integriert und für das Publikum sichtbar? Wie wird das Publikum hierzu angesprochen? Im dritten Teil werden die Untersuchungsergebnisse diskutiert. Es wird beleuchtet, inwieweit es sich um einmalige Versuche handelt, was nachhaltig bestehen bleibt und wie sich die Innovationen auf die nachhaltige Prägung der künstlerischen Praxis oder der betrieblichen Strukturen/Kulturpolitik auswirken und welche Potenziale in dem Prozess der einzelnen Fallbeispiele liegen. Für diese Arbeit wurden Beiträge aus den relevanten Fachmagazinen, wie Die Deutsche Bühne und Theater der Zeit, sowie der fachspezifischen Sekundärliteratur zu Rate gezogen, allen voran Thomas Schmidt mit seiner 2017 erschienenen Publikation »Theater, Krise und Reform. Eine Kritik des deutschen Theatersystems« sowie die von Manfred Brauneck herausgegebene Publikation »Das Freie Theater der Gegenwart in Europa« und Publikationen zum Theatersystem in Deutschland und Frankreich u.a. von Wilfried Floeck »Zeitgenössisches Theater in Deutschland und Frankreich« und Colette Godard »Theaterwege: von Frankreich nach Deutschland«. Ergänzend wurden Gespräche mit den jeweiligen Verantwortlichen aus nahezu allen angeführten Fallbeispielen geführt.

E inführung in das Themenfeld des zeitgenössischen M usik the aters »Das Theater darf nicht danach beurteilt werden, ob es die Gewohnheiten seines Publikums befriedigt, sondern danach, ob es sie zu ändern vermag.« 3

Die Diskussionen um den Reformbedarf bleiben Großteils auf die Krise der Musiktheaterschaffenden oder dem Subventionierungsmodell der öffentlichen Musiktheaterbetriebe beschränkt. Interessanterweise führt die Festlegung des Territoriums auf Deutschland und Frankreich dazu, dass die Hypothese einer Krise des Musiktheaters anders betrachtet werden kann. Frankreich hat bei einer größeren Grundfläche der Französischen

3 | Brecht, Bertolt: Quelle: www.buehnenverein.de/de/netzwerke-und-projekte/ theaterzitate.html (07.02.2013).

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Republik von 633.187 Kilometer24 bei 66.991.000 Einwohnern5 nur knapp 30 öffentliche Opernhäuser, wohingegen die Bundesrepublik Deutschland bei einer Grundfläche von 357.385,71 Kilometer26 mit 82.175.684 Einwohnern 130 öffentliche Theater mit Musiktheatersparten zählt 7. Deutschland hat damit die höchste Dichte an Opernhäusern weltweit. Die Verwendung des Begriffes »Krise« meint hier keineswegs eine Unterrepräsentation im Angebot von Musiktheaterproduktionen, sondern die Krise der Fortschreibung von Musiktheater in Struktur und künstlerischer Praxis. Betrachtet man die Verbindung zwischen Deutschland und Frankreich auf politischer Ebene seit dem Ende des 2. Weltkrieges, so ist festzustellen, dass das Verhältnis zunehmend intensiver geworden ist. Wohingegen die kulturwissenschaftliche Forschung sowie die Feuilletons im Bereich des Musiktheaters kaum ein Verhältnis aufweisen. Dies ist erstaunlich im Hinblick auf ein Europa, das vermehrt seit 2009 sowohl politisch als auch wirtschaftlich zur Disposition steht und das Interesse an einer gemeinsamen europäischen Kulturpolitik stetig relevanter wird. Es liegen bisher nur vereinzelte Studien zu kulturpolitischen und gattungsästhetischen Entwicklungen im Musiktheater vor und es existieren noch keine weitergehenden Forschungsunternehmungen auf europäischer Ebene oder deutsch-französische Gegenüberstellungen zum Verhältnis von Ästhetik und kulturpolitischen Freiräumen von Musiktheater. In Deutschland gibt es eine überschaubare Anzahl an Publikationen, die einen Stand der Situation des zeitgenössischen Musiktheaters darstellen. Hierzu gehören zweifelsohne die 2016 erschienene Schriftensammlung »Das freie Theater im Europa der Gegenwart« 8 mit den relevanten Kapiteln über die »Spielarten Freien Musiktheaters in Europa« von Matthias Rebstock und »Auf dem Weg zu einer Theaterlandschaft« von Wolfgang Schneider. Die 4 | Angaben der Europäischen Union, Quelle: https://europa.eu/european-union/ about-eu/countries/member-countries/france_de (gesehen: 17.07.2017). 5 | Bilan demographique 2016, Quelle: https://www.insee.fr/fr/statistiques/255 4860 (gesehen: 17.07.2017). 6 | Statistische Ämter des Bundes und der Länder, 26.01.2017, Quelle: www.sta tistik-portal.de/Statistik-Portal/de_jb01_jahrtab1.asp, (gesehen: 17.07.2017). 7 | Vgl. ebd. 8 | Brauneck, Manfred (Hg.): »Das freie Theater im Europa der Gegenwart«, transcript Verlag, Bielefeld, 2016.

Einleitung

französische Wissenschaftlerin Nicole Coline9 unterstreicht die Notwendigkeit einer tiefergehenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung in diesem Feld, da bisher die »überschaubare Zahl an wissenschaftlichen Monographien« vornehmlich aus der »französischen Germanistik und der deutschen Romanistik« stammt und belegt, dass nur in den seltensten Fällen sich die études théâtrales mit dem deutschem Theater oder der deutschen Theaterwissenschaft befasst. Die Analyse der strukturellen, künstlerischen und kulturpolitischen Parameter untersucht das Potenzial des zeitgenössischen Musiktheaters anhand der Fallbeispiele im Terrain und dient dazu Empfehlungen für eine Reform auszusprechen. Hierbei dienen die Fallbeispiele der exemplarischen Betrachtung von Akteuren, die ästhetische Innovation für sich proklamieren. Unter welchen kulturpolitischen Bedingungen kommt es zur Entstehung von neuen Formen von Musiktheater? Findet diese an den öffentlichen Musiktheaterbetrieben statt? Welche Bedingungen müssen grundsätzlich und langfristig für eine Institution geschaffen werden, um Spielräume für neue künstlerische Wege zu etablieren? Gibt es einen Handlungsbedarf zur Reformierung der kulturpolitischen Rahmenbedingungen? Waren kulturpolitische Rahmenbedingungen Anlass für die Entwicklung neuer künstlerischer Formate? Welche Rolle spielt Interdisziplinarität für die Entstehung zeitgenössischer Musiktheaterkonzeptionen? Es liegt die Annahme zugrunde, dass strukturelle Defizite vorliegen, die dafür verantwortlich sind, dass künstlerische Neuerungen im Musiktheater nur schwer hervorzubringen sind. Beobachter der Szene bestätigen: in weiten Teilen stagniert die Entwicklung des Musiktheaters an öffentlichen Theaterbetrieben, hingegen blühen die vielfältigen neuen Formen in der Freien Szene auf. Konkret werden hierzu Beispiele aus der freien Musiktheaterlandschaft als auch den öffentlichen Musiktheaterbetrieben betrachtet, die sich auszeichnen, weil sie Neuerungen hervorrufen und den Begriff der Zeitgenossenschaft von Musiktheater in ihren Arbeiten zentriert behandeln. Damit wird Antwort auf die Frage gesucht, ob künstlerische Novationen von strukturellen Bedingungen abhängig sind. Das beinhaltet die Diskussion folgender Aspekte: 9 | Coline, Nicole: »Zwischen Kritik und Analyse: Deutsch-französischer Wissenstransfer im Theaterfeld der Gegenwart«, Quelle: http://periodicals.narr.de/index. php/Lendemains/article/viewFile/390/371. (20.07.2017).

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• die Bestandsaufnahme der Musiktheaterlandschaft im französischund deutschsprachigen Raum, • die Benennung der Produktionsbedingungen und der Motivationen von künstlerischen Konzeptionen, • die Untersuchung der kulturpolitischen Rahmenbedingungen auf ihre Potenziale, • die Formulierung einer Empfehlung für Praxis und Theorie von Musiktheater anhand der ermittelten Ergebnisse aus der Feldforschung, die der Gattung Musiktheater zu einer zukunftsfähigen und strukturellen Flexibilität verhilft. Die Wahl der Beispiele aus der aktuellen Praxis deckt den Bereich der Institutionen (z.B. Oper Halle oder Nouveau Théâtre de Montreuil, Paris) und der Kollektivstrukturen (Hauen und Stechen, La Cage) ab. Die hier vorliegende Arbeit ist als empirische Feldforschung angelegt. Hierbei meint »Empirik« auf der Erhebung von Information beruhend. »Forschung ist ein kollektives Unternehmen von Menschen, die Wissen über die uns umgebende Welt und über uns selbst erarbeiten.«10

In systematischer Vorgehensweise wird die erkenntnisleitende Fragestellung auf dem geografisch festgelegten Terrain Deutschland und Frankreich untersucht. Erst wird der betreffende Untersuchungsgegenstand – das zeitgenössische Musiktheater – benannt, eingegrenzt und in seiner historischen Entwicklung seit 1945 eingeordnet. Hierbei findet die Begrifflichkeit der »Zeitgenossenschaft« in seiner theoretischen Abhandlung bei Giorgio Agamben eine wichtige Bedeutung11. Ebenso wird eine weitere Eingrenzung des Untersuchungsterrains durch die Einführung des theoretischen Begriffs der »Innovation«, ausgehend von Joseph Alois Schumpeters in der Verwendung als

10 | Gläser, Jochen/Laudel, Grit: »Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalyse als Instrumente rekonstruierender Untersuchung«, 4.Aufl, VS-Verlag, Wiesbaden, 2010, S. 23. 11 | Vgl. Agamben, Giorgio: »Was ist Zeitgenossenschaft?«, e. in: »Nacktheiten«, Verlag nottetempo, Rom, 2009, S. 21ff.

Einleitung

»the doing of new things or the doing of things that are already done in a new way«12,

vorgenommen und für diese Arbeit im erweiterten Begriff »künstlerische Innovation«13 angewandt, wie in Kapitel 3 dieser Arbeit noch eingehender dargestellt wird. Die Frage der Innovation ist in Betrachtung der künstlerischen Neuerungen und Entwicklungen von Formaten hochkomplex. Der Wirtschaftsexperte Oswald Metzger fasst Schumpeter zusammen: »Nur durch Innovationen, die aber gleichzeitig Bestehendes zerstören, könnten sich Unternehmen neu im Markt durchsetzen oder im marktwirtschaftlichen Wettbewerb auf Dauer bestehen.«14

Die weiterführende Untersuchung fokussiert sich auf die ausgewählten Fallbeispiele. Die Auswahl der Fallbeispiele ist bemüht, die deutsche und die französische Musiktheaterlandschaft im Feld, sofern das möglich ist, gleichwertig zu behandeln. Zur Erhebung der Daten ist neben der teilnehmenden Beobachtung die Zuhilfenahme von Expertenmeinungen in Form des qualitativen Experteninterviews gewählt worden. »Bei dem Wort ›Experte‹ denken wir zuerst an Menschen die über besonderes Wissen verfügen, das sie auf Anfrage weitergeben oder für die Lösung besonderer Probleme einsetzen.«15

In diesem Fall sind die Experten die Akteure des Feldes, Intendanten, Regisseure oder Komponisten und dienten der Datenerhebung, um besondere Informationen aufgrund der Position der Befragten zu gewinnen. 12 | Schumpeter, Joseph Alois, in: Freudenberger, H.; Mensch, G.: »Von der Provinzstadt zur Industrieregion (Brünn-Studie)«, Band 13 der Studien zum Wandel von Gesellschaft und Bildung im Neunzehnten Jahrhundert, Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1975, S. 14. 13 | Vgl. ebd. 14 | Metzger, Oswald: »Schöpferische Zerstörung durch Innovation«, Quelle: www. insm-oekonomenblog.de/11666-schoepferische-zerstoerung-durch-innovation/ (23.07.2017). 15 | Gläsner; Laudel (2010), S. 11.

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

Demnach stellt der Befragte in der spezifischen Rolle als Interviewpartner eine Quelle von Spezialwissen dar, die Auskunft über den zu erforschenden Sachverhalt geben kann.16 »Qualitative Interviews können unter anderem geführt werden: als Experteninterviews, in denen die Befragten als Spezialisten für bestimmte Konstellationen befragt werden…; oder als Interviews, in denen es um die Erfassung von Deutungen, Sichtweisen und Einstellungen der Befragten selbst geht.«17

Der Mehrwert dieser Experteninterviews wird in dieser Arbeit darin erachtet, dass die jeweiligen Befragten, sprich die Experten, über das Wissen als Zeugen der Abläufe, der Zustände und Problematiken befragt werden können. In allen hier vorliegenden Fällen verfügen die befragten Experten über eine exklusive Position im Untersuchungskontext, beispielsweise als Verantwortliche für Spielpläne oder als Initiatoren für Kollektivgründungen, die es ermöglicht, tiefer in die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema zu gelangen. Der Zeitpunkt der Experteninterviews war in allen Fällen rekonstruierend: d.h., dass der Gegenstand des Interviews (Berufung des Intendanten, Gründung des Kollektives, Auswahl der Künstler, Konzeption der Stücke, o.ä.) rekonstruiertend besprochen wurde.18 Es hat sich nicht zu jedem Fallbeispiel realisieren lassen, einen Experten zu sprechen. Daher ist die Datenerhebung mittels der Experten neben der Diskursanalyse ein ergänzendes Element. Die Interviews basierten auf einem Leitfaden. Der erste Teil der Fragen war ausgerichtet auf die Erlangung der aktuellen Position, der Ausbildung und der eigenen Sicht auf das zeitgenössische Musiktheater. Im weiteren Verlauf wurde die aktuelle künstlerische Praxis thematisiert, die im eigenen Wirken Anwendung findet, und schließlich die Themen von künstlerischer Vision, Innovation und praxisbezogener Wirklichkeit aufgrund der reellen Arbeitssituation befragt. Dies entspricht der Methodik der Oral History. Diese Methode, die ihren Ursprung in England hat und davon ausgeht, dass

16 | Vgl. Gläsner; Laudel (2010), S. 13. 17 | Hopf, (1993): 15. 18 | Gläsner; Laudel (2010), S. 13.

Einleitung

»das gesprochene Wort mehr sei als das geschriebene oder gedruckte Wort der historischen Dokumente, dass die Vergangenheit hier sehr viel unmittelbarer und lebendiger widergespiegelt würde, dass die interviewten Personen mehr, Genaueres und Feines zu berichten hätten als jemals auf dem Papier festgehalten worden sei.«19

Die Interviews sind nicht Teil dieser Publikation, liegen dem Forschungskomitee aber vor.

19 | Niethammer, Lutz (Hg.): »Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der ›Oral History«, Syndikat Autoren & Verlagsgesellschaft, Frankfurt a.M., 1980, S. 9ff.

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Historie und Kulturpolitik von Musiktheater

1. Musiktheater in Deutschland und Frankreich: von 1945 bis heute »Oper ist, wenn im Stehen gesungen wird – Musiktheater ist, wenn man dabei läuft.«1

Wenn unter Nichtbesuchern der Institution Oper das Gespräch auf die Oper kommt, gibt es schnell abwehrende Haltungen. Hemmnisse und Vorurteile haften dieser Kunstform an und prägen ihren Ruf. Doch fragt man diese Personen nach den Gründen ihrer Äußerung, so stellt sich diese meist als unbedacht heraus. Bei der präzisierenden Gegenfrage, was an Musiktheater Missfallen auslöst, gehen aus Unwissenheit über die Kunstform die Erklärungen aus. Woran haftet nun die Kritik der Oper? Ähnlich, wie in den 1920er Jahren, findet sich bis heute die Institution Oper und das Musiktheater mit vielstimmigen Kritiken konfrontiert. Die Kritik reduziert sich hierbei vorrangig auf die aus wirtschaftlicher Sicht nicht vorhandene Rentabilität der stark subventionierten Betriebe sowie auf die Stagnation des Spielplans auf ein standardisiertes Repertoire, das einer Musealisierung der Kunstform nahe zu kommen scheint.2 Auffällig ist, die Begrifflichkeit von Musiktheater von alteingesessenen Vorurteilen gepflegt wird und sich der Kanon der Kritik unermüdlich zu wiederholen scheint. Begonnen wird im folgenden Kapitel mit der Betrachtung der Begrifflichkeit von Musiktheater in Deutschland und Frankreich. Darauf aufbauend wird in einem zweiten Schwerpunkt die Entwicklung der relevanten Meilensteine in der Historie des Musiktheaters in Deutschland und Frankreich dargestellt und eine aktuelle Momentaufnahme der Musiktheaterlandschaft skizziert. Aus dieser wird für die Fortführung der 1 | Vgl. Seiffert, Helmut (1996), S. 102. 2 | Vgl. Lübbe, Dorothea (2013), S. 6.

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

Untersuchung die Problematik der Situation benannt und mit dem Ausblick auf den Bedarf der Zeitgenossenschaft im Musiktheater beschlossen.

1.1 Z ur E inführung des B egriffs : O per oder M usik the ater ? Im gegenwärtigen Sprachgebrauch gibt es keinen Konsens über den Gebrauch der Begriffe »Oper«3, »Musiktheater«, »l’opéra« oder »théâtre musical«. »Die Begriffe werden häufig synonym verwendet« 4,

ohne dass die genauen Definitionen der Begriffe klar sind. Die Fachliteratur bietet verschiedene Definitionen und führt wiederum neue Begrifflichkeiten ein. Zudem verwenden die Institutionen selbst in ihren Programmankündigungen die vielfältigsten Begriffe, die dem Adressaten, dem potenziellen Zuschauer, nur schwerlich Auskunft über Unterschiede der verschiedenen Formen geben. Institutionell bezeichnet ist »Oper« der architektonische Gebäudekomplex, der in den Zentren der Städte zu finden ist, ein – meist – öffentlicher Theaterbetrieb, in dem die Bühnenformen der Musiktheatersparte (Oper, Operette, Ballett, Musical, Konzert) präsentiert werden. Dieses institutionelle Beispiel ist exemplarisch für die Opernhäuser in Frankreich und Deutschland. Darüber hinaus gibt es in Deutschland die sogenannten Mehrspartenhäuser, in denen neben der Sparte Schauspiel, Junges Schauspiel und Puppenspiel das Musiktheater eine eigene Sparte darstellt. Hier dient der Sammelbegriff »Musiktheater« dazu, die Oper, die Operette, das Ballett, das Musical und das zeitgenössisches Musiktheater zu vereinen. Die deutsche Wissenschaftlerin Ursula Benzing deutet den tradierten Begriff der Oper als Formulierung für eine Handlung, die vorrangig sin3 | Oper, lat. opus bezeichnet das Werk. 4 | Benzing, Ursula: »Oper ohne Worte? Versuch einer Bestimmung von Standort und Selbstverständnis des heutigen Musiktheaters«, eurogioverlag, 2011, Kassel, S. 3.

1. Musiktheater in Deutschland und Frankreich: von 1945 bis heute

gend gespielt wird. Hierbei steht die enge formelle Verschränkung von Musik und Text im Fokus, wie im klassischen Opernrepertoire durch das Kompositionsprinzip von Arie und Rezitativ gezeigt wird. Mit der szenischen Darstellung dieses Musik-Text-Konstrukts wird die Oper erst zu einem Bühnenwerk, das die Wahrnehmung für den Rezipienten komplettiert. Die immer wieder den Urtext neu befragenden Inszenierungen verändern nur die Lesart, nicht aber den musikalischen Charakter des Werkes. Neue musikwissenschaftliche und theaterwissenschaftliche Kenntnisse haben die Struktur in ihrer 400 Jahre alten Entwicklungsgeschichte stark beeinflusst.5 Hervorzuheben ist das 20.  Jahrhundert, in dem die Entwicklung der Oper eine neue ästhetische Vielfalt erleben konnte. Zum einen wurde ab dem 20. Jahrhundert, ausgehend von einem neuen gesetzten Repräsentationsbedürfnis des Bürgertums, dem Bedürfnis nach einem Standardrepertoire nachgegeben, das sich bis in die Gegenwart etablierte. Zum anderen steht die Entwicklung im 20.  Jahrhundert für die Epoche, in der die stärksten musikalischen Brüche vollzogen worden: ausgehend vom Komponisten Richard Wagner6, über Leoš Janáček 7, Arnold Schönberg8, Alban Berg9, Kurt Weill10 bis hin zu Karlheinz Stockhausen11, Pierre Boulez12 und Bernd Alois Zimmermann13. Im deutschen Sprachgebrauch wird »Musiktheater« auch für eine ästhetische Form bzw. einen Inszenierungsstil verwendet. Unter diesem Begriff versuchen die Musiktheaterschaffenden sich von der sogenannten tradierten Opernpraxis und der gesetzten kompositorischen Form abzugrenzen. Bei dieser Benutzung handelt es sich

5 | Vgl. Benzing, Ursula (2011), S. 3. 6 | Richard Wagner, dt. Komponist (1813-1883). 7 | Leoš Janáček, tsch. Komponist (1854-1928). 8 | Arnold Schönberg, dt. Komponist und Musiktheoretiker (1874-1951). 9 | Alban Berg, österr. Komponist (1885-1935). 10 | Kurt Weill, amer. Komponist (1900-1950). 11 | Karlheinz Stockhausen, dt. Komponist (1928-2007). 12 | Pierre Boulez, frz. Komponist und Dirigent (1925-2016). 13 | Bernd Alois Zimmermann, dt. Komponist (1918-1970).

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

»um den Versuch der letzten 100 Jahre, durch Inszenierung und Bühnenbild zu einer aktuellen Deutung der Stücke zu kommen«.14

Diese Begriffsverwendung beinhaltet auch alle weiterentwickelten und neugeschaffenen Formen des 20. und 21.  Jahrhunderts, wie z.B. »Szenische Aktion«, »Szenisches Drama«, »Musikdrama«, »Experimentelles Musiktheater«, »Neues Musiktheater«, »Neue Oper«, »Happening«, »szenische Installation«, u.v.m.15. In Frankreich hingegen ist die Verwendung des Begriffes »théâtre musical« noch weitaus weniger verbreitet, wie der folgende Gattungsdiskurs zeigen soll.

1.1.1 Gattungsdiskurs in Deutschland Im deutschsprachigen Raum nehmen viele Fachleute Stellung und verweisen auf die Problematik um den Begriff des Musiktheaters. Der deutsche Musikwissenschaftler Matthias Rebstock zeigt den Widerspruch in der Verwendung des Begriffes »Musiktheater« auf, als einen »Ersatz für den Terminus Oper, der als Theater ernst genommen werden will« und dem »Sammelbegriff für verschiedenste Aufführungsformen, die in besonderem Maße durch die Inszenierung von oder mit Musik bestimmt sind«.16

Der österreichische Kollege Otto Kolleritsch behauptet, dass die Klassifizierung von Oper und Musiktheater unerheblich ist und nur von einer »verkürzten Betrachtungsweise« auf die künstlerischen Formate zeuge und vereinfacht die Diskussion:

14 | Eckert, Nora »Von der Oper zum Musiktheater«, Henschel-Verlag, Berlin,1995, S. 9. 15 | Vgl. Konold, Wulf: »Musiktheater, Inszenierungen«, in: Finscher, Ludwig: »Die Musik in Geschichte und Gegenwart« Bärenreiter-Verlag, Kassel & J.-B.-MetzlerVerlags, Stuttgart, 1997, Spalte 1703f. 16 | Vgl. Rebstock, Matthias »Spielräume schaffen!«, in: Schneider, Wolfgang (Hg.): »Theater entwickeln und planen«, transcript Verlag, Bielefeld, 2016, S. 299ff.

1. Musiktheater in Deutschland und Frankreich: von 1945 bis heute

»Oper war immer auch Musiktheater. Darum kann sie, kann Oper es bleiben.«17

Klaus W. Hempfer, deutscher Philologe und Experte für Gattungstheorie, diagnostiziert, »der desolate Zustand der Gattungstheorie ist nicht zuletzt auf diese Tatsache [dass keine explizite Vereinbarung über den Sinn eines bestimmten Terminus bestehe] zurückzuführen, eine Einsicht, die in den letzten Jahren zunehmend bewusst zu werden beginnt: ›es genügt, drei oder vier einschlägige Arbeiten einzusehen, um festzustellen, dass unter dieser Bezeichnung (sc. Gattung) Gruppen gebildet werden, die einander oder gar nicht berühren.‹«.18

Die Problematik benennend stellt der Wissenschaftler Wolfgang Ruf fest, dass »der Musikwissenschaft sowohl ein Begriff fehlt, der die geschichtlichen Erscheinungen der musikgebundenen Bühnenkunst zusammenfasst, als auch ein geeignetes Klassifikationsprinzip, das jeder dieser Erscheinungen ihren Ort zuweist. Der Grund für das Manko wie auch für das Bedürfnis, es zu überwinden, ist in der Vielfalt der gegenwärtigen Produktionen zu suchen. Sie ist im 20. Jahrhundert zu divers geworden, um in den traditionellen Gattungsbegriffen aufzugehen.«19

Den Abschluss stellt der Kollege Carl Dahlhaus mit den Worten dar: »Was bleibt, ist sprachliche Konfusion und sonst nichts.« 20 17 | Vgl. Kolleritsch, Otto »Die Oper – Das Exempel der Kunst, in: Benzing, Ursula, »Oper ohne Worte? Versuch einer Bestimmung von Standort und Selbstverständnis des heutigen Musiktheaters«, eurogioverlag 2011, Kassel, S. 167. 18 | Kempfer, Klaus W.: »Probleme der Terminologie. Wissenschaftssprache, Objektebene und Beschreibungsebene« in: Mauser, Siegfried (Hg.): »Handbuch der musikalischen Gattungen«, Bd.15, Laaber-Verlag, Regensburg, 2005, S. 5. 19 | Ruf, Wolfgang »Musiktheater, II. Kompositionen«, in: Finscher, Ludwig: »Die Musik in Geschichte und Gegenwart« Bärenreiter-Verlag, Kassel & J.-B.-MetzlerVerlags, Stuttgart, 1997, Spalte 1692. 20 | Dahlhaus, Carl »Vom Musikdrama zur Literaturoper« in: Benzing, Ursula: »Oper ohne Worte? Versuch einer Bestimmung von Standort und Selbstverständnis des heutigen Musiktheaters«, eurogioverlag, Kassel, 2011, S. 165.

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

1.1.2 Gattungsdiskurs in Frankreich Vergleicht man die Einträge in verschiedenen französischsprachigen Enzyklopädien, so fällt auf, dass sich in den meisten Fällen kein bzw. nur vage Einträge zu »théátre musical« finden lassen. Die europäische Opernplattform opera-europa legt das historische Verständnis vom Gesamtkunstwerk nahe: »L’opéra est un art total qui réunit musique, chant, théâtre, arts plastiques et parfois danse. Dans chaque œuvre, toutes les composantes de l’opéra combinent leur expressivité et leur beauté. Cette alchimie complexe fait de chaque représentation un spectacle extraordinaire, monopolisant la vue, l’ouïe, l’imagination et la sensibilité du public, où toutes les passions humaines sont en jeu.« 21

Im basierten Nachschlagewerk Grand Larousse beispielsweise ist lediglich die Eingrenzung, dass es sich bei der künstlerischen Gattung um die Verschmelzung von musikalischen, literarischen und gestischen Elementen handelt: »Théâtre musical, genre artistique qui mêle des éléments musicaux, littéraires et gestuels.« 22

Dahingehend sind die Einträge, die sich unter dem Begriff »l’Opéra« finden lassen, weitaus ausführlicher. Hierbei gibt es ebenso wie im Deutschen zwei Unterteilungen. Die eine betrifft die Institution als Opernhaus und die andere die Bühnenform. Auch hier ist eine Veränderung zu verzeichnen. Während 1886 die Oper in ausgeschmückter Form eine Definition bei Charles Nuitter23 bekam und vor allem den Gesang, das Dekor und die phantastischen Geschichten berührt: »Les représentations théâtrales dont l’histoire est l’objet de nos recherches, constituent assurément une des formes les plus compliqués de l’art dramatique. Faire chanter des acteurs au lieu de les faire parler; accompagner d’une sympho21 | Vereinigung Opera-europa: »Qu’est-ce qu’est l’opéra?«, Quelle: www.operaeuropa.org/fr/ressources-opera/qu-est-ce-que-l-opera (17.08.2017). 22 | Grand Larousse universel, tome 14, p10182 ©librairie Larousse 1989. 23 | Charles Nuitter, frz. Librettist (1828-1899).

1. Musiktheater in Deutschland und Frankreich: von 1945 bis heute

nie leur voix ou leur silence; régler leurs pas, leurs gestes sur la mesure des instruments; mêler à l’action les divinités de la fable ou les fées […] n’est-ce pas accumuler comme à plaisir toutes les invraisemblances, mais aussi toutes les difficultés? C’est ce qu’on a appelé par excellence: l’Opéra!« 24,

so ist in einem Zitat von Stendhal25 der Begriff Oper der Ausdruck der Leidenschaften, »l’expression des passions«.26 Schließlich findet bei dem Wissenschaftler Jean-Marc Warszawski 2005 der Begriff théâtre musical eine Konkretisierung. Hier wird Bezug auf eine Repertoireöffnung genommen. Reformer wie Bertolt Brecht finden eine klare Benennung und es erfolgt die Aufweichung des Gattungsbegriffes, wenngleich nur auf die kompositorische Form beschränkt: »L’opéra est un drame théâtral mis en musique et chanté. Il peut se décliner, selon les époques en plusieurs genres: opéra seria, grand opéra, opéra bouffa, opéra comica, opéra-comique, opéra-ballet, Singspiel etc. Le XXe siècle est marqué par de très riches recherches esthétiques de forme, d’expression. Particulièrement sous la forme de théâtre musical. En France ›Pelléas et Mélisande‹ de Debussy marque en 1902 un tournant certain. En 1921, ›Wozzeck‹ de Berg est une de plus belles réussite de technique sérielle. Schönberg met à l’honneur le chanté-parlé d’un grand effet expressif, aussi comme Hindemith, Prokofiev, Bartók, Stravinski, Britten, Malipiero, Petrassi, Dallapiccola, Luigi Nono. Les expériences démesurées et de scènes simultanées avec Zimmermann (›Les Soldates‹), la satire sociale avec ›L’opéra de quat‹ sous de Brecht et Kurt Weill, opéra culte du XXe siècle ouvrant la voie au happening ou au théâtre musical d’un Aperghis ou d’un Donatoni.« 27 

Über den Stellenwert des Musiktheaterregisseurs existiert eine klare Unterscheidung zwischen Deutschland und Frankreich. In Frankreich gilt diesem weitaus weniger Anerkennung als in Deutschland. Einer der hierfür vermuteten Gründe ist die Tatsache, dass Frankreich keine Aus24 | Nuitter, Charles: »Les origines de l’opéra français«, librairie plon, 1886, Quelle: clanfaw.free.fr/1005260046.pdf, S. 13+14. 25 | Stendhal, frz. Schriftsteller und Politiker (1783-1842). 26 | Vgl. Lista, Giovanni »Le renouveau de l’opéra«, in: »La scène moderne«, Actes Sudes, Éditions Carrée, Paris, 1997, S. 101. 27 | Warszawski, Jean-Marc, »L’Opéra«, Quelle: www.encyclopedie.fr (12.07.2018).

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

bildung in »Musiktheaterregie« aufzuweisen hat. Gerade die zeitgenössische Regie ist in Frankreich Auslöser heftiger Debatten, wie die Publikation »La malscène« von Philippe Beaussant 28 belegt. Hier scheint ein starkes Unterscheidungsmerkmal zwischen deutscher und französischer Auffassung von Musiktheaterpraxis zu liegen, was sich aber aktuell abzubauen scheint.29 So hat sich beispielsweise 2014 in Paris die erste offizielle Diskussionsrunde, die 1ères Assises du théâtre musical im Théâtre des Bouffes du Nord30, getroffen, besetzt durch viele renommierte Komponisten, wie u.a. Georges Aperghis31, sowie auch Intendanten und Musiktheaterschaffenden Frankreichs. Ihr gemeinsames Ziel war die Klärung der Frage, ob es sich bei dem théâtre musical um eine eigene Kunstgattung handelt und welche Rolle die Regie dabei trägt.32 Parallel hierzu richtet das Nouveau Théâtre de Montreuil, Paris, unter der Direktion von Mathieu Bauer seit 2014 jährlich eine Konferenz Rencontre International de Théâtre Musical (kurz: RITM) aus, die sich mit eben dieser Frage kontinuierlich beschäftigt und Künstler und Intendanten aus ganz Europa hierzu einlädt.

1.1.3 Suche nach einem europäischen Begriff Matthias Rebstock benennt es in seiner Bestandsanalyse des Freien Musiktheaters in Europa schließlich so: »Es ist wichtig zu sehen, dass dieser Begriff von Musiktheater keine reine Gattungsbestimmung ist, sondern (zumindest im Kontext des deutsch-französischen Staats- und Stadttheatersystems) eine programmatische Note hat: Musiktheater

28 | Philippe Beaussant, frz. Romancier und Musikwissenschaftler (1930-2016). 29 | Vgl. Bermbach, Udo (Hg.): »Der Ring des Nibelungen, Part 2«, Königshausen&Neumann, Heft 2, Würzburg, 2006, S. 9. 30 | Théâtre des Bouffes du Nord, alteingesessener Theaterkomplex, der 1974 unter der Leitung von Peter Brook und Micheline Rizane als Centre International de Créations Théâtrales eröffnet wurde und die frz. Theaterentwicklung maßgeblich beeinflusste. 31 | Georges Aperghis, gr. Komponist und Gründer von ATEM (*1945). 32 | Vgl. die Liste der beteiligten Redner, Quelle: www.irma.asso.fr/1eres-Assisesdu-theatre-musical (07.07.2017).

1. Musiktheater in Deutschland und Frankreich: von 1945 bis heute

beansprucht progressiver, flexibler, heutiger zu sein als die als schwerfällig und ästhetisch rückständig geltende Oper.«

Sowohl in Deutschland als auch in Frankreich wird bei der Betrachtung des Gattungsbegriffes des Musiktheaters deutlich, dass die Unsicherheit der Benennung in beiden Ländern vorliegt, jedoch auf sehr unterschiedliche Art und Weise. In Frankreich befindet sich der Diskurs um das »théâtre musical« noch in den Anfängen und hat sich noch nicht in der Breite durchgesetzt. Dahingegen hat sich der Begriff des Musiktheaters in Deutschland bereits durchgesetzt, ist jedoch in seiner Verwendung noch immer nicht eindeutig. Für diese Arbeit legt die Verfasserin folgende Verwendung der Termini fest: Wenn in dieser Arbeit die Institution benannt werden soll, wird der Begriff »Oper« verwendet. Das betrifft die Opernhäuser und schließt in der Betrachtung auch die strukturellen Mehrspartenhäuser mit eigener Musiktheatersparte mit ein. Die Benennung der künstlerischen Form und ihrer vielfältigen Weiterentwicklungen wird wiederum im Folgenden mit der Verwendung des Begriffs »Musiktheater« benannt und deckt ebenso die zeitgenössischen Formen, die in dieser Arbeit untersucht werden sollen, für beide Länder und Sprachen ab.

1.2 H istorie der ästhe tischen E nt wicklungen Im folgenden Kapitel werden historisch relevante Meilensteine in der ästhetischen Entwicklung von Musiktheater in Deutschland und Frankreich skizziert. Hierbei ist als Pionier der Kunstform Claudio Monteverdis33 Werk »L’incoronazione de Poppea« als die erste für ein öffentliches Haus geschriebene Oper, 1642, zu betrachten. Ihr Inhalt ist die individuelle Freiheit. Dieser Themenkomplex wurde weiterführend auf die gesamte Opernbewegung von den Anfängen bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts von einem Forschungsprojekt der European Science Foundation belegt und

33 | Claudio Monteverdi, ital. Komponist (1567-1643).

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festgestellt, dass Oper als Kunstform für die Gesellschaft in diesem Zeitraum eine zentrale Rolle für die europäische Identität spielte: »Sie transportierte Ansichten und Ideen und spiegelte eine ethisch-moralische Weltanschauung, die sich durch die Reisen von Künstlern und Förderern in ganz Europa verbreitete. Die Oper war der Faden, aus dem ein europäisches Netzwerk gesponnen wurde […].« 34

1.2.1 Musiktheater bis 1945 1.2.1.1 Musiktheater in Deutschland bis 1945 Die deutsche Opernlandschaft hat ihren Ausgangspunkt in der höfischen Kultur der Feudalgesellschaft zu Beginn des 17. Jahrhunderts. 1687 wird das erste deutsche Opernhaus in Hamburg eröffnet. Infolgedessen entwickelt sich ein flächendeckendes Netz von Theatern deutschlandweit. Durch die Theaterbauverordnung von 1889 begünstigt, war diese Entwicklung verbunden mit dem Entstehen von repräsentativen Gebäudekomplexen, die weitestgehend bis heute als Spielstätten der öffentlichen Opernlandschaft dienen. Das Verlangen nach Innovation ist im Laufe der Operngeschichte aus verschiedenen ästhetischen und politischen Lagern laut geworden. Anfang des 20. Jahrhunderts kam es zur Einführung des Begriffes »Musiktheater«, der darauf abzielte Erneuerungsversuche der musiktheatralen Kunstform im Gegensatz zur Oper kenntlich zu machen. Dies »gehörte zum Grundcharakter der Künste« in dieser Zeit, um »die etablierten terminologischen Grenzen, Gattungen und Genres zu unterlaufen«.35 Der Terminus »Oper« diente bis zum 20. Jahrhundert als Gattungsbezeichnung für die künstlerische Form von Theater, die ihren Ursprung um 1600 hat, und Musik, Sprache, Geste und bildende Kunst in einer Bühnenform vereint.

34 | Vgl. Hentschel, Ingrid: »Laboratorien der Gegenwart«, in: Schneider, Wolfgang (Hg.): »Theater entwickeln und planen«, transcript Verlag, Bielefeld, 2013, S. 108f. 35 | Rebstock, Matthias: »Spielarten Freien Musiktheaters in Europa«, in: Brauneck, Manfred; ITI Zentrum Deutschland (Hg.).: »Das Freie Theater im Europa der Gegenwart«, transcript Verlag Bielefeld, 2016, S. 564.

1. Musiktheater in Deutschland und Frankreich: von 1945 bis heute

Mit Richard Wagners36 Vision vom »Gesamtkunstwerk« wurde über die bis dahin vorhandene Opernpraxis hinaus zu einer Vereinigung aller Künste als gemeinschaftliche Leistung aufgerufen, die sich von der bloßen Repräsentation des Schönen durch die Musik abwendet und das Bisherige als Irrtum benennt: »der Irrtum in dem Kunstgenre Oper bestand darin, daß ein Mittel des Ausdruckes (die Musik) zum Zwecke, der Zweck des Ausdruckes (das Drama) aber zum Mittel gemacht war« 37.

Musiktheater ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Begriff der intellektuellen Auseinandersetzung geworden, deren Anspruch es war neue ästhetische Ideen zu verfolgen. Hier ist das Streben des österreichischen Komponisten Gustav Mahler38 für eine Erneuerung der Aufführungspraxis in der Oper zu nennen: »Was ihr Theaterleute eure Tradition nennt, das ist eure Bequemlichkeit und Schlamperei.«,

wird Mahler zitiert, dessen Bemühungen vor allem darauf abzielten, einen neuen qualitativen Anspruch in der Oper durchzusetzen. Dies zeigte sich unmittelbar in den Reformbemühungen von Hans Gregor39, der erstmalig 1905 den Versuch unternahm, an der Komischen Oper Berlin einen Opernbetrieb ohne öffentliche Subventionen, sondern lediglich durch die Rechtsform einer privaten Aktiengesellschaft zu führen. Diese Unternehmung scheiterte.40 Dennoch war der inhaltliche Anspruch zentral. Hans Gregor setzte mit seinem inhaltlichen Schwerpunkt auf das zeitgenössische Repertoire, auf einen Regiestil und eine Dramaturgie, die »darstellerische Glaubwürdigkeit« gewährleisten sollten. Ebenso

36 | Richard Wagner, dt. Komponist (1813-1883). 37 | Wagner, Richard: »Oper und Drama«, tredition GmbH Hamburg, 1852, S. 16. 38 | Gustav Mahler, österr. Komponist (1860-1911). 39 | Hans Gregor, dt. Theaterintendant u.a. an der Komischen Oper Berlin (18661945). 40 | Vgl. Konold (1997), Spalte 1647f.

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versuchte Walter Gropius41 in diesen Jahren die »Guckkastenbühne« in ein Totaltheater zu überführen, um das »Theater künstlerisch-geistig und soziologisch eng mit seiner Zeit zu verbinden«42 . Die Diskurse zum Musiktheater in den 1920er Jahren befragten in vielerlei Hinsicht den Regiestil und die Werke, was auch mit der Einführung des Prinzips der »Zeitoper«43 belegt wird. Unverzichtbar ist an dieser Stelle Bertolt Brecht, der gemeinsam mit dem Komponisten Kurt Weill die Neuerung der Oper mit dem Werk »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« sucht. Brecht verweist dort auf die Kritiker seiner Zeit mit ihrer Meinung, dass »Oper inhaltlich aktualisiert werden und der Form nach technifiziert«, nicht aber ihr »kulinarischer Geist« verloren gehen darf.44 Dem widerspricht Brecht und verweist darauf, dass Neuerungen nicht geschaffen werden können, wenn die grundsätzliche Diskussion der Oper nicht geführt wird. Und so stellt Brecht weiter zur Situation der Oper seiner Zeit fest: »Die alte Oper gibt es nicht nur deshalb noch, weil sie alt ist, sondern hauptsächlich deshalb, weil der Zustand, dem sie dient, noch immer der alte ist. Er ist es nicht ganz. Und darin liegen die Aussichten der neuen Oper. Heute ist schon die Frage zu stellen, ob nicht die Oper bereits in ihrem Zustand ist, in dem weitere Neuerungen nicht mehr zur Erneuerung dieser Gattung, sondern schon zu ihrer Zerstörung führen.« 45

Dadurch wird aufgezeigt, wie vielfältig und ambitioniert die Bestrebungen der Musiktheaterschaffenden den Diskurs zur Neuerung von Musik41 | Walter Gropius, dt. Architekt und Gründer der Bauhaus-Bewegung (18831969). 42 | Vgl. Konold (1997), Spalte 1677f. 43 | Cook, Susan C.: »critics hailed the Zeitoper as an attempt to mirror or depict the age, to infuse opera with the tempo of modern culture, and to bring to the fore aspects of everyday life, all of which came abouth through the conscious effort by composers to find inspiration from the time in order to create a new relationship with their audience.«, in: Cook, Susan C.: »Opera for a New Republic. The Zeitopern of Krenek, Weill and Hindemith«, University of Rochester Print, Rochester, 2010, S. 4. 44 | Vgl. Brecht, Bertolt: »Anmerkungen zur Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny«, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1963, S. 83. 45 | Vgl. ebd. S. 95.

1. Musiktheater in Deutschland und Frankreich: von 1945 bis heute

theater geführt und hierbei eine politische Abgrenzungstaktik eingeführt haben, um sich als Erneuerer des Musiktheaters zu positionieren. Vielfältige Kompositions- und Inszenierungsstile entwickelten sich vor allem in den künstlerischen Metropolen der 1920er Jahre, wie beispielsweise in Paris und Berlin. Diese Entwicklung nahm mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland und dem Ausbruch des 2. Weltkrieges ein jähes Ende und in Deutschland und den deutschen Besatzungsgebieten blühte die Renaissance der tradierten Oper unter dem propagandistischen Nutzungsgedanken der Nationalsozialisten von klassischer Musik wieder auf.

1.2.1.2 Musiktheater in Frankreich bis 1945 La vie lyrique, wie das Operngeschehen in Frankreich genannt wird, war bis zum 20. Jahrhundert maßgeblich durch die Form der grand-opéra und der opéra-comique geprägt. Die zentrale Nationaloper in Paris, die 1669 gegründet wurde und unter dem Namen Opéra de Paris bekannt war, erlangte neben dem Châtelet und der Opéra-Comique weltweite Berühmtheit. Die Eröffnung der Spielstätte im Palais Garnier 1875 war ein zentrales Ereignis in Europa und vereinte über 2.000 wichtige Handlungsträger aus Kultur und Politik. Die für die Zeit außergewöhnliche Architektur wurde in den kommenden 30 Jahren zum Vorbild für den Bau vieler Opernhäuser, wie z.B. der 1901 eröffneten Philharmonie in Warschau. Inhaltlich wurde der Spielplan der sogenannten Nationaloper dennoch hauptsächlich durch den konventionellen Inszenierungsstil geprägt. Damit wurde das Bedürfnis nach dem standardisierten Opernrepertoire berücksichtigt, das vor allem viele etablierte Werke von Vertretern der in Paris entwickelten grand-opéra, wie beispielsweise Giacomo Meyerbeer46, aufführte und maßgebliche Entwicklungen im Ballett hervorbrachte. Die grand-opéra setzte sich international durch und löste die vornehmlich dem Adel gewidmete opéra-comique ab. Noch heute beherbergt der Palais Garnier, der von Napoléon III47 in Auftrag gegeben wurde, die Opéra Garnier und ist neben der Opéra Bastille bedeutende Spielstätte für Ballett, Oper und Konzerte in der Hauptstadt Frankreichs. 46 | Giacomo Meyerbeer, frz. Komponist dt.-jüdischer Herkunft (1791-1864). 47 | Napoleon III, Neffe von Napoleon Bonaparte und später Kaiser von Frankreich (1808-1873).

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Durch den französischen Komponisten und Musikdramatiker Jules Massenet48 erlangten französische Opernwerke zu Beginn des 20. Jahrhunderts international Anerkennung. Er war ausschlaggebend dafür, dass durch einen regen europäischen Austausch der Opernhäuser untereinander das Programm auf den Spielplänen zunehmend internationaler gestaltet wurde und Werke dieser Zeit in den europäischen Ländern gegenseitig vertreten waren. Parallel hierzu kam es zu Neuerungen: die Opernwerke wurden nun auch abseits der Hauptstadt aufgeführt. Noch vor der Einführung der kulturpolitischen Maßnahme der Dezentralisierung begann die landesweite Entwicklung der Opernszene abseits der Hauptstadt. So wurde beispielsweise der erste »Ring des Nibelungen« von Richard Wagner 1904 an der Opéra de Lyon gezeigt.49 Kompositorisch brachten diese Jahre eine Vielzahl an Neukompositionen hervor, die sowohl für die Erweiterung der Klangvielfalt als auch für die Bestrebungen der Formerneuerung stehen. Hierbei zählt die Uraufführung des Balletts »Sacre du Printemps« von Igor Strawinsky50 1913 im Théâtre des ChampsÉlysées in Paris bis heute zu einem der größten Skandale der Musikgeschichte, bei der die Tumulte der Zuschauer in ihrer Lautstärke die Musik übertroffen haben sollen. Es steht als Schlüsselwerk für den Beginn einer neuen Ära: die Dissonanz hält Einzug, die Fremdheit hat Konzept und eine narrative Handlung findet nicht statt. Nach dem Ende des 1. Weltkrieges verändern in Frankreich les années folles (die verrückten Jahre) das kulturelle Leben bis zur Weltwirtschaftskrise 1929. Die Avantgarde versammelte sich in Paris. Neben Künstlern, wie dem amerikanischen Schriftsteller Ernest Hemingway und dem Surrealisten Joàn Miro, zog es auch den Jazz nach Paris und hielt Einzug in die Cabarets. Die Operette erlebte ihre Hochphase. Das gesamte künstlerische Schaffen war gezeichnet von Schnelligkeit, Veränderungen und dem permanenten Streben nach neuen Grenzerfahrungen. Mit der Besetzung Paris durch die Nationalsozialisten 1940 wurde – ebenso wie in Deutschland – die Entwicklung jäh unterbrochen. Auf den Spielplänen ließen sich während der Besatzungszeit, den deutschen Spielplänen ähnelnd, vorwie48 | Jules Massenet, frz. Komponist (1842-1912). 49 | Vgl. Lacombe, Hervé: »L’Opéra en France de la fin du XIXe siècle aux années 1960«, 2015, Quelle: www.franceoperas.fr/Default/dossiers-et-etudes.aspx (17. 08.2017). 50 | Igor Strawinsky, russ. Komponist (1882-1971).

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gend deutsche Komponisten finden, wie beispielsweise Richard Wagner und Richard Strauss.

1.2.2 Die Stunde Null: das Musiktheater nach 1945 Mit dem Ende des 2.  Weltkrieges befand sich Europa in einer endzeitlichen Stimmung: das kulturelle Leben, eingeschlossen der Theaterbetriebe, war in den letzten Kriegszügen schließlich völlig zum Erliegen gekommen. Ein negativ behafteter Ausgang für einen Neuanfang, wie der deutsche Komponist Karlheinz Stockhausen dennoch mit Optimismus konstatierte und zur »Stunde Null« ernannte, in der alles möglich sein würde: »dass die ›Städte ausradiert sind‹, und man von Grund auf neu anfangen kann, ohne Rücksicht auf Ruinen und ›geschmackloser‹ Überreste. 51

1.2.2.1 Musiktheater in Deutschland nach 1945 In Deutschland wurde innerhalb kürzester Zeit das Reformbemühen um die Gattung Oper aus den 1920er Jahren wieder aufgegriffen. Dies spiegelte sich anfänglich noch eher zurückhaltend durch neue Komponisten auf den Spielplänen der Theater wieder, als durch die Inszenierungsstile. Während an vielen Opernhäuser noch keine nennenswerten Entwicklungen hervorgebracht wurden, entstand 1947 mit der Neugründung der Komischen Oper Berlin unter der Leitung von Walter Felsenstein52 ein Meilenstein für die kommenden Generationen Musiktheaterschaffender: das realistische Musiktheater als neue Haltung der Regisseure den Werken gegenüber. »Musiktheater ist, wenn eine musische Handlung mit singenden Menschen zur theatralischen Realität und vorbehaltlosen Glaubhaftigkeit wird. D.h., dass dramatische Geschehen muß sich auf einer emotionalen Ebene vollziehen, wo Musik das einzige Ausdrucksmittel ist.« 53 51 | Vgl. Zehelein, Klaus: »Intolleranza 1960«,in: CD-Booklet zu »Nono. Intolleranza. 1960«, Staatsoper Stuttgart, Stuttgart, 1993, S. 52. 52 | Walter Felsenstein, österreichischer Regisseur und Intendant (1901-1975). 53 | Felsenstein, W./Herz, J.: »Musiktheater. Beiträge zur Methodik und zur Inszenierungskonzeption«, Stompor, St.(Hg.), Reclam, Leipzig, 1967, S. 32.

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Felsenstein forderte ein gleichberechtigtes Zusammenwirken der verschiedenen Elemente (Musik, Text, Szene, Darsteller) innerhalb einer Opernaufführung, um »mit den vertrauten Konventionen der Sängeroper zu brechen« und sich vom »kostümierten Konzert«54 abzugrenzen. Damit avancierte das realistische Musiktheater zu einem »Schlüsselbegriff der Gattungsgeschichte des 20. Jahrhunderts«55. Felsenstein zitiert Konstantin S. Stanislawski56: »Die Zeit des Darstellers ist gekommen. Er ist der wichtigste Mann im Theater, ihn will das Publikum sehen, seinetwegen geht es ins Theater. In der Oper brauchen wir nicht nur gute Sänger, sondern auch gute Darsteller. Schauspielkunst und gesanglich-musikalisches Können müssen einander entsprechen.« 57

Entscheidend war hierbei schon der Widerspruch im Terminus, da insbesondere der Operngesang neben den anderen betroffenen künstlerischen Elementen einen Dissens zum »Realismus« darstellt. Genau damit spielte das realistische Musiktheater und forderte die immer neue Einbettung der Stücke in ein konzeptuelles Umfeld, das die Geschehnisse glaubwürdig macht.58 In den Entwicklungen, die sich an den Opernhäuser in der Zeit ab 1945 vollzogen, rückte wieder der künstlerische Inhalt ins Zentrum: »Das heutige Musiktheater ist geprägt durch den Versuch, sinnliche Erfahrung und Intellekt zusammenzuführen, zeichnet sich aus durch die bewusste Offenlegung von Brüchen und Widersprüchen, zielt auf die Initiation von Denkprozessen, versteht das Theaterspiel als tätige Reflexion des Menschen über sich selbst.« 59

Das realistische Musiktheater öffnete den Diskurs und trug Anteil daran, dass neue ästhetische Strömungen sich im Inszenierungsstil entwickel54 | Vgl. Hintze, W./Risi, C./Sollich, R (Hg.): »Realistisches Musiktheater«, Theater der Zeit Verlag, Berlin, 2008, S. 12. 55 | Vgl. ebd. S. 12. 56 | Konstantin S. Stanislawski, russischer Theaterreformer und Regisseur (18631938). 57 | Roselt, Jens: »Eros und Intellekt«, in: Hintze, W./Risi, C./Sollich, R. (Hg.): »Realistisches Musiktheater«, Theater der Zeit Verlag, Berlin, 2008, S. 20. 58 | Homoki, Andreas: »Zur Eröffnung«, in: Hintze/Risi/Sollich (Hg.) (2008), S. 17. 59 | Vgl. Konold (1997), Spalte 1687.

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ten, teils aus der Bestätigung dessen, teils aus der Abgrenzung zum realistischen Musiktheater motiviert. Es bediente das Bedürfnis nach Neuerung und Abgrenzung durch Experimentieren. Musiktheater wurde zum Überbegriff für eine Vielfalt an kompositorischen Stilen: von der Literaturoper über das politisch engagierte Musiktheater bis hin zu den »avantgardistischen musiktheatralen Spielarten« (»Visuelle Musik«, »Szenische Musik«, »Musikalisches Theater«, u.v.m.).60

1.2.2.2 Musiktheater in Frankreich nach 1945 Die Nachkriegszeit in Frankreich war gezeichnet von einer starken Präsenz des Sprechtheaters. Neben den Theatermachern war es auch das Fachmagazin Théâtre Populaire unter der Leitung von Roland Barthes61 und Bernard Dort62 1953-1964, die den Diskurs prägten. Dieser Diskurs entsprang einer intellektuellen Bewegung. Anreiz für diese Gruppe war neben der inhaltlichen Diskussion zu Theater auch die radikale Abgrenzung von der »unzerstörbaren Comédie-Française« als »Hüterin der französischen Theatertradition« und von den weit verbreiteten Boulevardtheatern sowohl in der Hauptstadt als auch in der Provinz, die jeweils noch für das im 19. Jahrhundert verankerte Bürgertum standen.63 Hiervon war auch die Oper in Frankreich nicht weit entfernt. Den Statistiken über die Uraufführungen zwischen 1945 bis 1949 kann man entnehmen, dass es in Paris einzig die Oper »Peter Grimes« von Benjamin Britten64, die 1945 uraufgeführt wurde, als zeitgenössisches Werk auf die Spielpläne schaffte. Die Institution Oper gelangte in Frankreich somit in eine Misere. Der französische Wissenschaftler Hervé Lacombe fasst die fatale Situation unter dem Titel »les derniers feux d’un monde« zusammen und benennt die künstlerische Qualität an der Opéra in Paris wie folgt: »L’Opéra de Paris s’enferme dans le passé, avec des mises en scène désuètes, un manque criant de créations, la perte (réelle ou fantasmée) d’Artistes d’envergure capables de ranimer durablement la flamme du ›chant français‹, un esprit de 60 | Vgl. Konold (1997), Spalte 1703f. 61 | Roland Barthes, frz. Philosoph und Schriftsteller (1915-1980). 62 | Bernard Dort, frz. Theaterwissenschaftler (1929-1994). 63 | Vgl. Godard, Colette: »1950-1995: Brecht, Die Schaubühne, Müller«, in: Godard, Colette (Hg.): »Theaterwege«, Alexander Verlag, Berlin, 1996, S. 10. 64 | Benjamin Britten, bt. Komponist (1913-1976).

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routine qui touche le personnel, et la reprise mécanique de partitions faisant du patrimoine lyrique une vieille chose peu attractive.« 65

Dafür lieferte er Fakten, in dem er auf die 2000. Vorstellung des »Faust« von Charles Gounod66 an der Opéra de Paris im Jahre 1944 verwies, die nur ein signifikanter Beweis für die Überalterung des künstlerischen Angebotes ist. Antoine Goléa67 benennt noch konkreter den Mangel an Schöpfungs- oder Erfindungsgeist, »le Ronron et le rabâchage s’y installent le plus souvent à la place de l’esprit de création, du goût de l’invention« 68 .

Die Fakten belegen, dass sich die Macher selbst durch die stattfindende künstlerische Praxis die Relevanz genommen haben am Puls der Zeit zu sein.

1.2.3 Die Oper schafft sich ab – die 1960er Jahre bis 2000 In den 1960er Jahren wurde die Institution Oper mit der unmittelbaren Frage konfrontiert, wie ihre Zukunft aussehen könnte. Nachdem die Entwicklungen in Deutschland durch die Einführung des realistischen Musiktheaters anfänglich für eine Auffrischung des Genres Oper sorgten, hatte die Oper – der Situation in Frankreich ähnelnd – bald auch wieder mit struktureller und künstlerischer Stagnation zu kämpfen. Seit den 1950er Jahren zeigte lediglich das Regietheater eine Weiterentwicklung. Die Zahl der Werke, die nach 1945 uraufgeführt und in den Spielplänen aufgenommen wurden, war nach wie vor gering.

65 | Lacombe, Hervé: »L’opéra en France de la fin du XIXe siècle aux années 1960: les derniers feux d’un monde«, 2015, Quelle: www.franceoperas.fr/Default/dos siers-et-etudes.aspx (28.07.2017). 66 | Charles Gounod, frz. Komponist (1818-1893). 67 | Antoine Goléa, frz. Musikwissenschaftler (1906-1980). 68 | Lacombe, Hervé: »L’opéra en France de la fin du XIXe siècle aux années 1960: les derniers feux d’un monde«, www.franceoperas.fr/Default/dossiers-et-etudes. aspx (28.07.2017).

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Die Kritikerstimmen wurden laut und kritisierten die starren Abläufe und stagnierenden Spielpläne der Oper. 1967 gab der französische Komponist und Dirigent Pierre Boulez69 in einem Interview mit dem deutschen Wochenmagazin Spiegel Auskunft über die Regieleistung des Musiktheaters, die von Boulez auf den Betrieb zurückgeführt wurde: »Man muß allerdings einräumen, daß bei dem augenblicklichen Opernbetrieb es ja auch ausgeschlossen ist, daß irgendjemand mal eine abenteuerliche Regieleistung vollbringt. Ich habe den Eindruck, daß den Opernintendanten ein spießiger Regisseur schon zu abenteuerlich ist.«

Die hier geäußerte Kritik galt dem betrieblichen Apparat und richtete sich an die leitenden Intendanten und Kulturpolitiker. Boulez, der sich selbst als Systemkritiker positionierte, jedoch gleichzeitig im Opernbetrieb gut etabliert war, sagte, dass es keine moderne Oper gäbe und die vielerorts neuen Säle und Theaterfassaden über den veralteten Betrieb im Inneren hinwegtäuschten. Boulez selbst vertrat als Komponist den »Serialismus« und führte als Praktiker weniger zu Neuerungen der Musiktheaterkomposition. Hingegen waren seine theoretischen Ansätze, wie die Vision der flexiblen Bühne »Salle Modulable«, wichtige Denkanstöße, die sich in Planungen wichtiger Konzerthäuser später wiederfanden, wie in der Konzeption der Opéra Bastille sowie in den Planungen des Salle Modulable in Luzern 70. Teil seiner Motivation veranschaulicht Boulez in einem Interview 1967, in dem er provoziert:

»In einem Theater, in dem vorwiegend Repertoire gespielt wird, da kann man doch nur mit größten Schwierigkeiten moderne Opern bringen – das ist unglaubwürdig. Die teuerste Lösung wäre, die Opernhäuser in die Luft zu sprengen. Aber glauben Sie nicht auch, daß dies die eleganteste wäre?« 71

69 | Pierre Boulez, frz. Komponist und Dirigent (1925-2016). 70 | Anmerk. der Verfasserin: Das Bauvorhaben des Salle Modulable in Luzern wurde nach fortgeschrittenen Planungen letztlich durch die Mehrheit von Gegenstimmen im Luzerner Kantonsrat 2016 eingestellt. 71 | Boulez, Pierre: »Sprengt die Opernhäuser in die Luft«, Interview im Spiegel, Heft 40/1967, Spiegel-Verlag Rudolf Augstein, Berlin, 1967, Quelle: www.spiegel. de/spiegel/print/d-46353389.html (28.07.2017).

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Jean Vilar 72 geht ähnlich kritisch mit der Struktur des Theaters um und schlug 1965 dem Kulturminister André Malraux die Gründung eines »théâtre lyrique populaire« vor.73 Drei Jahre später wurde Vilar gemeinsam mit Pierre Boulez und Maurice Béjart 74 gebeten, einen umfassenden Bericht zu der Idee eines Opernneubaus zu erstellen. 1977 wurde basierend auf dem Bericht von Generalfinanzinspektor François Bloch-Lainé beschlossen, dass die Ausgangssituation keine andere Lösung zuließe, als eine neue Opernbühne zu bauen, was 1979 dann mit dem Neubau der Opéra Bastille beschlossen werden sollte: »L’art lyrique trouve au Palais Garnier toutes les conditions pour cumuler la démocratisation minimale et la dépense maximale, le plus faible nombre de spectateurs et le plus grand faste de spectacles, les charges d’exploitation les plus lourdes avec le pourcentage de recettes le plus faible, malgré le prix de places le plus élevé… La Mission est convaincue que la solution réside dans la construction à Paris, si possible au cœur de la ville, d’un grand Opéra de 3000 places.« 75

In der Mitte der 1970er Jahre bildeten sich in vielen Städten Frankreichs die sogenannten ateliers de théâtre musical. Das wichtigste Atelier dieser Art war das 1976 von Georges Aperghis gegründete Atelier de Théâtre et Musique (ATEM) in Bagnolet. Diese hatte zum Ziel, neue künstlerische Ausdrucksformen vom Alltag auf reelle Ereignisse zu übertragen und bis hin zum poetischen Ausdruck im Experiment zu verschränken und dabei den Darsteller, ob Musiker, Sänger oder bildender Künstler, auf Augenhöhe darin zu integrieren. Dies war die wesentliche Neuerung des ATEMs ebenso wie die des fragmentarischen Charakters der Stücke, die in ihren künstlerischen Arbeiten entstanden. Die musikalische Sprache hierbei war an die Neue Musik gebunden.

72 | Jean Vilar, frz. Regisseur, Intendant und Gründer vom Festival d’Avignon (1912-1971). 73 | Vgl. Guittard, Jean-Michel: »Opéra Bastille. Un Opéra moderne et populaire?«, Services Universités-Culture, Clermont-Ferrand, 2008, S. 2. 74 | Maurice Béjart, frz. Choreograph (1927-2007). 75 | Bloch-Lainé, François: »Rapport d’enquête sur l’Opéra de Paris«, Opéra National de Paris, Paris, 19.02.1977.

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Theodor W. Adorno76 formulierte es bereits 1970, »dass nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist, weder in ihr noch in ihrem Verhältnis zum Ganzen, nicht einmal ihr Existenzrecht.« 77

Um die eigene Daseinsberechtigung ringend, versuchten sich die Musiktheaterschaffenden in Deutschland aus der Stagnation zu retten. Mit der Einführung des Regietheaters nach den 1968er Jahren erlebte die Oper eine kurze Wiederbelebung, auch in der neuen Legitimierung des eigenen Selbstverständnisses. Stefan Mösch beschreibt dies: »Konzepte, die Stücke gesellschaftstheoretisch (d.h. meist: sozialkritisch) durchleuchten, dabei zunehmend dekonstruktivistischen und poststrukturalistischen Impulsen folgen und schließlich auch in postkonzeptuellen Ansätzen münden (können).«78

und stellte fest, dass das Regietheater von zentraler Bedeutung für die Oper in den 1970er und 1980er Jahren war und für die Wiederbelebung sorgte. Dies ist inzwischen ein historisches Phänomen. Im Verlauf bis 2000 wurde konstatiert, dass die für das Regietheater notwendige Protestkultur, verankert im Bildungsbürgertum und seinem »kanonisierenden Werkverständnis«, nicht mehr existiere. Das hatte zur Folge, dass in Inszenierungen der ästhetische Diskurs unverstanden blieb und somit redundant wurde 79. Die Regisseurin und Wissenschaftlerin Barbara Beyer sah 2009 das Ende des Regietheaters auch in der Tatsache begründet, dass die nachfolgende Generation junger Regisseure keine klar definierten Feindbilder mehr habe, an denen sie sich mittels ihrer Regie abarbeiten können. Stattdessen würden diese jungen Regisseure oftmals auf eindeutige Aussagen in ihren Inszenierungen verzichten.80 Der deutsche 76 | Theodor W. Adorno, dt. Philosoph und Musiktheoretiker (1903-1963). 77 | Adorno, Theodor W., »Ästhetische Theorie«, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M., 1970, S. 9. 78 | Mösch, Stefan: »Geistes Gegenwart?«, in: Mungen, Anno (Hg.): »Mitten im Leben«, Verlag Kömigshausen & Neumann GmbH, Würzburg, 2011, S. 87. 79 | Vgl. Mösch, (2011), S. 102. 80 | Vgl. Beyer, Barbara: »Wahrheit existier nicht mehr. Wie Regisseure von morgen sich und die Welt wahrnehmen«, in: Opernwelt 50, Theaterverlag, Berlin, 2009, S. 36-37.

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Schriftsteller Daniel Kehlmann spitzte die Situation weiter zu, indem er das Regietheater 2009 in der Eröffnungsrede der Salzburger Festspiele als etwas bezeichnete, dass »zur letzten verbliebenen Schrumpfform linker Weltanschauung degeneriert« 81 sei. Stefan Mösch nennt die gesamte Lage des Regietheaters eine »narzisstische Verkapselung«, die Anlass dafür sei, dass das »Repräsentationstheater wieder Konjunktur« habe.82 Dennoch hat aus künstlerischer Sicht die intensive Auseinandersetzung mit dem Regietheater von den 1968er Jahren bis zum Millennium für den Diskurs um die Zukunft des Musiktheaters viel geleistet. So wird der Dienst des Regietheaters beispielsweise von Michael von zur Mühlen83 festgehalten als eine Reaktion auf die mangelnde zeitgenössische Produktion seiner Zeit: »Der schmerzlich fehlende Zeitbezug konnte nur durch das Regietheater gerettet werden.« 84

Ein Vergleich 25 verschiedener Spielpläne von deutschen staatlichen Opernbetrieben der Spielzeit 2010/201185 hat ergeben, dass auf nahezu jedem Spielplan lediglich eine Ur- oder deutsche Erstaufführung vertreten ist. Viele Opernbetriebe sind bemüht, eigene Kompositionsaufträge zu vergeben, sofern es die künstlerischen Etats zulassen. Für die Spielzeit 2010/2011 gab der Deutsche Bühnenverein in der jährlich erscheinenden Werkstatis81 | Kehlmann, Daniel: »Wo heute Lärm ist, war einst Magie.«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH (Hg.): FAZ,. Frankfurt a.M., 27.07.2009. 82 | Vgl. Mösch (2011), S. 102. 83 | Von zur Mühlen, Michael, Regisseur und Mitglied der Intendanz an der Oper Halle (*1979) 84 | Von zur Mühlen, Michael: »Free Oper!«, in: Theater der Zeit, Theaterverlag, Berlin, Mai 2017, S. 27. 85 | Vgl. der Spielpläne: Badisches Staatstheater Karlsruhe, Bayrische Staatsoper München, Deutsche Oper Berlin, Komische Oper Berlin, Landestheater Coburg, Landestheater Niederbayern, Nationaltheater Mannheim, Nationaltheater Weimar, Oper Frankfurt, Oper Köln, Oper Leipzig, Semperoper Dresden, Stadttheater Aachen, Staatstheater Braunschweig, Staatstheater Darmstadt, Staatsoper Hannover, Staatsoper Hamburg, Staatstheater Oldenburg, Staatstheater Mainz, Staatsoper Stuttgart, Staatstheater Wiesbaden, Theater Bremen, Theater Chemnitz, Theater Kiel, Theater Magdeburg.

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tik an, dass 497 verschiedene Opernwerke auf deutschen Bühnen (die auf als Oper verzeichneten Bühnen gezeigt wurden) gespielt wurden.86 Das sind 58 Werke mehr als in der Spielzeit 2005/2006.87 Nach wie vor bleibt »Die Zauberflöte« das am meisten gespielte Opernwerk und auch unter den zwanzig meistgespielten Werken finden sich keine Neuerungen. Trotz dieser erstaunlichen Anzahl gespielter Werke ist die Zahl der Ur- und Erstaufführungen in der Oper konstant bei 55 neuen Werken geblieben88. Hier wird der Mangel an zeitgenössischen Werken deutlich. Von einigen Theatertheoretikern wurde vielfach auf die Einführung einer Quote für zeitgenössische Werke hingewiesen. Diese ist im Kulturauftrag der Opéra national de Paris beispielsweise vertraglich vom Staat vorgegeben: »De favoriser la création et la représentation d’œuvres contemporaines«. 89

Die Kritik an der Institution Oper muss ernst genommen werden. »Mag sein, dass diese Versuche Operationen an einem bereits toten Körper sind. Doch vielleicht müssen wir das Musiktheater als Kunstform von seinem Ende her denken, um radikaler darauf schauen zu können?« 90

Die Existenz der Oper wurde seit den 1970er Jahren permanent in Frage gestellt.91 Im Zentrum der Kritik stehen sowohl die Wirtschaftlichkeit der Musiktheaterbetriebe, die finanzielle Abhängigkeit vom Staat und der ästhetische Restaurierungsbedarf der Kunstform als auch die Struk86 | Vgl. Deutscher Bühnenverein: »Werkstatistik 2010/2011«, Mykenae Verlag, Köln, 2012, S. 49. 87 | Vgl. Deutscher Bühnenverein: »Werkstatistik 2005/2006«, Mykenae Verlag, Köln, 2007, S. 27. 88 | Vgl. Deutscher Bühnenverein: »Werkstatistik 2010/2011«, Mykenae Verlag, Köln, 2012, S. 32. 89 | Vgl. Ministère de la Culture et Communication: »missions prinicpales« Quelle: www.culturecommunication.gouv.fr/Thematiques/Musique/Organismes/Creation-Diffusion/L-Opera-national-de-Paris (13.08.2017). 90 | Beyer, Barbara, »Freiheit für die Stimmen«, 09.10.2012, e. in: Die Zeit, Quelle: www.zeit.de/2012/40/Oper-Regisseure (13.08.2017). 91 | Vgl. de la Motte-Haber, Helga (Hg.), »Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert. 1975–2000«, Bd. 4, Laaber-Verlag, Laaber, 2000, S. 105.

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tur aufgrund des standardisierten Repertoires und der Hierarchie. Ein Überblick über die in den Medien veröffentlichten Berichte zur Institution Oper lässt sich eindeutig kategorisieren: Es geht um die Kritik an Inszenierungen, dem mangelnden lokalen Bezug zwischen der Stadt und dem Theater und vermehrt bis in die Jetztzeit auch um die Kritik an den hohen Subventionen für die Oper im Vergleich zu den für in der Freien Szene agierenden Musiktheaterschaffenden. Für die deutsche Theaterlandschaft benennt der Theaterwissenschaftler Henning Fülle: »Die deutsche Theaterlandschaft ist einzigartig auf der Welt. Diese von Kulturpolitikern und Feuilletonisten gern gebrauchte Feststellung meint die Besonderheit des ›deutschen Systems‹: etwa 150 Theaterhäuser mit angestelltem und besoldetem künstlerischen Ensemble und durchgehendem Repertoire-Spielbetrieb in allen Sparten der darstellenden Künste in öffentlicher (kommunaler und staatlicher) Trägerschaft. Doch einzigartig ist auch die Parallelstruktur des ›Freien Theaters‹, die sich seit Ende der Siebzigerjahre herausgebildet und inzwischen so weit etabliert hat, dass ihre Bedeutung und die Notwendigkeit ihrer Finanzierung wohlwollend anerkannt werden.« 92

1.2.4 Aktuelle Tendenzen »Doch grundsätzlich haben es neue, ambitionierte Stücke in Frankreich ebenso schwer sich durchzusetzen wie in den europäischen Nachbarländern. Über Uraufführungen kommen sie meist nicht hinaus, selten werden die Stücke nachgespielt. Erschwerend kommt hinzu, dass die Theater die jeweiligen Inszenierungen einige Wochen lang spielen und die Stücke in einem so kurzen Zeitraum kaum Chancen haben sich durchzusetzen. Ein subventioniertes dichtes Stadttheaternetz wie in Deutschland gibt es in Frankreich nicht. Durch den deutschen Repertoirebetrieb können die Risiken aufgefangen werden, die das Spielen neuer unbekannter Dramen birgt, so dass die Stücke bessere Aussichten haben. Das mag auch ein Grund sein, warum viele französische Autoren ihre Stücke häufig selbst inszenieren und eigene Kompanien gründen.« 93 92 | Fülle, Henning: »Freies Theater – Worüber reden wir eigentlich?«, Quelle: www. festivalimpulse.de (07.07.2017). 93 | Heine, Beate: »Mehr als Kunst. Was macht französisches Theater so anders?«, 26.02.2013, Quelle: www.bpb.de/internationales/europa/frankreich/153270/ theater (28.08.2017).

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Der klassische Opernbetrieb leidet offensichtlich unter dem Problem, dass die langen Planungsvorläufe, die meist drei bis vier Jahre vor der Premiere beginnen, nicht ausreichend Flexibilität zulassen, damit die künstlerischen Formate neu gedacht oder »anders« angegangen werden können. Der Apparat Oper bedeutet lange Vorlaufzeiten, strenge Hierarchieverhältnisse und wenig Raum für die neue Befragung der künstlerischen Form. Weit bevor die eigentliche Probenarbeit beginnen kann, müssen Stücke von der Intendanz ausgewählt, künstlerische Teams benannt, Werkstätten nach Bauproben mit der Anfertigung beauftragt, Solisten besetzt und engagiert und letztlich die Musik einstudiert werden. Das führt in einem etablierten Opernhaus zu einem Vorlauf von mindestens zwei oder mehr Jahren, da sowohl die künstlerischen Teams als auch die Dirigenten und die Solisten frühzeitig angefragt werden müssen. Somit bleibt keine Flexibilität, um auf gesellschaftliche, politische oder ästhetische Strömungen kurzfristig eingehen zu können. Hinzu kommt, dass sich das Verhältnis zwischen dem Rezipienten und der Oper in vielerlei Hinsicht grundsätzlich gewandelt hat.94 Das liegt auch an dem Vormarsch von Technologien zur Reproduzierbarkeit von Musik, die zu »Veränderungen der musikalischen Rezeptionsgewohnheiten« geführt haben: »Musik aus Konserven wurde zu Teppich und Tapete des Alltags.«95 Daneben sind es aber auch die Präsentationsformen von Musik, die sich gewandelt haben. Musik in frontaler Form auf der Bühne dargeboten zu bekommen, ist nicht mehr der Normalfall. Das gilt sowohl für die konzertanten Formen von Musik als auch für die zeitgenössischen Formen des Musiktheaters. So haben sich neue Wahrnehmungen von Räumen in der Komposition seit der Mitte des 20. Jahrhunderts etabliert. Hiervon bleibt die starre Frontalsituation der Oper im gegenwärtigen Spielbetrieb weitestgehend ausgeschlossen. Diese neuen »Raumkompositionen« »drängen aus dem normalen Konzertsaal hinaus.«96 Das erklärt, warum in Frankreich und Deutschland die Entwicklungen im Musiktheater in den letzten Jahrzehnten nahezu ausschließlich abseits der Opernhäuser stattfanden. Diese Entwicklungen sind nicht an bestimmte Orte oder Institutionen gebunden, sondern »vielmehr

94 | Vgl. de la Motte-Haber, (2000), S. 20. 95 | Vgl. ebd. S. 101. 96 | Vgl. de la Motte-Haber, (2000), S. 21.

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zersplittert in Einzelszenen«97. Durch die Nutzung anderer Räume und Strukturen gelang es den neuen Formen des Musiktheaters »räumliche Einengungen, die als lästige Fesseln begriffen wurden, aufzusprengen«.98 Hier ist beispielsweise die Ruhrtriennale als ein erfolgreiches Beispiel zu nennen. In Multifunktionshallen oder an für die Oper ungewöhnlichen Schauplätzen werden seit Jahrzehnten neue Formen von Musiktheater mit neuen Mitteln umgesetzt und erfreuen sich beim Publikum und bei den Kritikern großer Beliebtheit. Genau an diesem Punkt setzt Barbara Beyer an und hinterfragt, »warum performative Prozesse, im Sinne von allem, was zufällig, unerwartet und grundsätzlich nicht planbar ist, in der Oper nach wie vor so selten einen Platz finden«?99

Ein Blick auf die aktuellen Entwicklungen zeigt, dass bereits sowohl Strukturen zur Förderung von neuen Formen bekannt sind als auch einzelne Häuser die Praxis neuer Formen pflegen. Vielerorts haben Opernhäuser damit begonnen, sich durch die Eröffnung kleiner Experimentierbühnen, wie z.B. die Tischlerei der Deutschen Oper Berlin oder der Opera Stabile an der Staatsoper Hamburg, dem Ziel des Experimentierens und auch der Kooperationen mit jungen Musiktheaterschaffenden zu verschreiben. In welcher Konsequenz und Glaubwürdigkeit dies umgesetzt wird, bleibt fraglich, da vielfach diese dort angebotenen Neben-Spielpläne wie das Feigenblatt des Opernhauses erscheinen. Der Spielplan der Tischleierei an der Deutschen Oper sowie der der ehemaligen Werksstatt an der Staatsoper Berlin und neuerdings der Oper Halle bilden hier noch Ausnahmen im deutschlandweiten Vergleich.

1.2.5 Der neue Diskurs »Wenn uns nichts einfällt, sagen wir, dass das Theater in einer Krise sei. Das Theater ist immer in einer Krise. Die Krise ist seine Form und sein Inhalt.«100, 97 | Rebstock, in: Schneider (2013), S. 299ff. 98 | Vgl. de la Motte-Haber (2000), S. 104. 99 | Beyer Barbara, (2012). 100 | Bronnen, Arnoldt, 1926, zitiert in: Matiasek Hellmuth: »Die teure Form der Kunst«. in: Jochum, Manfred/Schmidt-Reiter, Isolde (Hg.): »Teure Kunstform Oper?

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schrieb der österreichische Theaterregisseur Arnolt Bronnen 1923. Ähnlich wie damals herrscht gegenwärtig eine Auf bruchsstimmung mit intensiven Bemühungen die Konventionen abzulegen, Grenzen zu überschreiten und die Hierarchie in Frage zu stellen. Umso erstaunlicher ist anhand der Werkstatistik festzustellen, dass sich trotz der verstärkten Erscheinung von Uraufführungen an Opernhäusern seit den 2000er Jahren ein Repertoire festgesetzt hat, dass sich nicht vergrößert. Detlev Brandenburg, Chefredakteur des Magazins Die Deutsche Bühne hielt 2016 fest: »Der Nachschub an neuen Werken stagniert, das Repertoire ächzt unter den Mühen der Aktualisierung mit den Mitteln der Regie. Wie also soll die Gattung Oper ihre Zeitgenossenschaft beglaubigen?«101

Brandenburg belegt dies anhand der aktuellen Zahlen der Werkstatistik und verweist auf die Zahl der Uraufführungen, die nur 3,36 Prozent im Musiktheater des deutschsprachigen Raumes ausmachen102 und stuft dies als einen »Sonderfall in der Geschichte der Gattung« ein. Dennoch existiert eine kleine Bewegung, die aus dem Inneren neue Impulse setzt. Es sind die neuen Macher im großen Terrain der Musiktheaterschaffenden. Es sind einzelne Akteure, aber auch Zusammenschlüsse in neuen Strukturen, wie z.B. feste Ensembles, Kollektive und Netzwerke. Der Impuls hierzu kam aus den Regieschulen in Deutschland, wo junge Menschen aufeinander trafen, sich austauschten, vernetzten und mit neuen Formen und Strukturen experimentierten. Hier ist insbesondere ein Verweis auf die seit den 2000er existierende junge Musiktheaterszene in Berlin zu bringen: Neuköllner Oper Berlin, Nico and the Navigators, Opera Lab Berlin, Hauen und Stechen, La Cage, Maulwerker, Novoflot, Johannes Müller/Philine Rinnert, Johannes Kreidler (um nur einige zu nennen) die sich vereint finden im seit 2015 bestehenden Verein Zeitgenössisches Musiktheater Berlin. Die Arbeiten dieser Akteure und Kollektive sorgen für ein Sichtbarmachen neuer Ströme, Interessen und Talente. Musiktheater im neuen Jahrtausend. Strategien und Konzepte«, StudienVerlag, Innsbruck, 2006, S. 89. 101 | Brandenburg, Detlev: »Ins Offene«, in: Deutscher Bühnenverein (Hg.): »Die Deutsche Bühne«, Inspiring Network GmbH, Hamburg, 12/2016, S. 49. 102 | Vgl. ebd.

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Es reagierten viele Opernhäuser mit der Gründung und Bereitstellung neuer Studiobühnen und Formate. Das jährlich stattfindende Festival Infektion! an der Staatsoper Berlin, die unregelmäßig stattfindenden Meisterkurse für junge Regisseure an der Komischen Oper Berlin, aber auch die experimentellen Formate, die regelmäßig in der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin stattfinden, und die Reihe Kunstwerk der Zukunft der Oper Halle sind hier nur einige der vielen Plattformen. An weiteren ungewöhnlichen Orten, wie beispielsweise der Galerina Steiner – eine Berliner Galerie mit Unterkellerung, die regelmäßig das Musiktheaterkollektiv Hauen und Stechen mit ihren Produktionen beherbergt – oder den Off-Spielstätten, wie Ballhaus Ost oder die Sophiensaele, entstehen neue Produktionen und Kreationen und ziehen damit vermehrt auch ein jüngeres Publikum an. 2016 äußerte Jan Dvorak in der Deutschen Bühne, Komponist und Mitbegründer des Musiktheaterkollektives KommandoHimmelfahrt: »Ein Gespenst geht um in Deutschland – das Gespenst einer Opernreform.«103

Dazu zählt Dvoràk die vielen Podiumsveranstaltungen, Festivals und Sonderausgaben von Fachmagazinen, die von der Reform sprechen, wohingegen die statistisch belegbare Auslastung zeigt, dass das Opernpublikum immer älter wird. Er stellt weiterhin die These auf, dass die Erhöhung der Quote zeitgenössischer Werke lediglich eine Scheinlösung sei und nicht den wirklichen Umbruch von Spielplänen und Erneuerung des Publikums hervorruft. Das sieht auch Detlev Brandenburg und plädiert für ein neues »Materialarrangement und projektförmiges Arbeiten«, um neue Formen zu schaffen und einen Aktualitätsbezug in den künstlerischen Arbeiten herzustellen.104 Hierin liegt die Übereinkunft mit der Forderung von Heiner Goebbels105 – nämlich mehr Freiraum im Produktionsprozess und veränderte Konditionen –, um neue Formen des zeitgenössischen Musiktheaters überhaupt hervorbringen zu können. Diese Möglichkeit sieht Goebbels nicht gegeben, solange viele »Ungleichzeitigkeiten« das Genre blockieren und somit keinen Freiraum für ein Laboratorium gewährleisten. 103 | Dvoràk, Jan: »Die Relativitätstheorie der Oper«, in: Deutscher Bühnenverein (Hg.): »Die Deutsche Bühne«, Inspiring Network GmbH, Hamburg, 12/2016, S. 53. 104 | Vgl. Brandenburg (2016), S. 51. 105 | Heiner Goebbels, dt. Regisseur und Komponist (*1952).

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Hierfür fordert Goebbels, dass • ästhetisches Neuland nur erforscht werden kann, wenn die vorhandenen institutionellen Strukturen sowohl zeitlich als auch im Prozess flexibler werden. • die Möglichkeit der Entwicklung eine »Stabilität der Instabilität« gewährleistet. • pro Bundesland ein Theaterbetrieb ohne Ensemble- und Repertoireverpflichtung als Experimentierhaus zur Verfügung stellt. • keine vertraglichen Bindungen an Teams, sondern Freiheit in der Wahl der Mitarbeiter besteht. • mehr Flexibilität im Zugriff auf die Finanzen. • Polyphonie der Theatermittel um ein polyphones Zusammenwirken der verschiedenen Mitwirkenden optimal zu nutzen.106 Matthias Rebstock stellte 2013 ebenso Forderungen für das Musiktheater mit dem Ziel einer stärkeren Verschränkung zwischen den öffentlichen Musiktheaterbetrieben und der Szene des freien Musiktheaters sowie inhaltlicher Art, um von der Innovationskraft des Freien Theaters zu profitieren, als auch finanzieller Art, um den unverhältnismäßig höherem Etat der öffentlichen Musiktheaterbetriebe zu nutzen.107 Nur wenige Beispiele aus der Praxis zeigen, wie schwierig, aber zugleich lohnenswert dieser Weg ist, um dauerhaft neue künstlerische Perspektiven und Kreativprozesse zu ermöglichen. Dies ist nicht allein der Tatsache geschuldet, dass die Betriebsstruktur diesen Prozess auf hält. Vielmehr ist hier die Frage zu stellen, wie sich die Entscheidungsträger und Spielplan-Verantwortlichen positionieren? Ist das Hinterfragen dieser Form überhaupt gewollt oder haben sich dahingegen alle Beteiligten in ihrer Komfortzone so gut eingerichtet, dass die Dringlichkeit einer Änderung fehlt? Diese Möglichkeiten stehen auf wackeligen Fundamenten, da von dem jeweiligen Gesamtbudget der Opernhäuser keineswegs ausreichend Gelder für diese Experimentierflächen zur Verfügung gestellt werden. Eine deutliche Ausnahme bilden die in dieser Arbeit untersuch106 | Vgl. Goebbels, Heiner: »Die Utopie der Form«, in: Berberich, Frank (Hg.): »Lettre International«, Lettre International Verlagsgesellschaft, Berlin Herbst 2014, S. 72. 107 | Vgl. Rebstock, in: Schneider (2013), S. 299ff.

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ten und vorgestellten Beispiele der Oper Halle und des Nouveau Theatre de Montreuil. Hier muss eine Tatsache aus der Praxis der Musiktheaterbetriebe angeführt werden: die bestehende Überproduktion und die damit einhergehende Gefahr des künstlerischen Qualitätsverlustes an den Opernhäusern. Thomas Schmidt führt hierfür einen Indikator für die Belastung der Theatermitarbeiter ein, indem er die Anzahl der Mitarbeiter in ein Verhältnis aus Neuproduktionen und der Gesamtsumme an Vorstellungen setzt. Er bilanziert, dass im Jahre 1999 ein Theatermitarbeiter im Durchschnitt 1,35 Vorstellungen pro Spielzeit alleine durchgeführt hat, wohingegen es 2014 bereits 1,95 Veranstaltungen waren.108 Weiterhin warnt er vor einem künstlerischen Qualitätsverlust durch die Überproduktion von Vorstellungen innerhalb einer Spielzeit, damit den Akteuren in allen Abteilungen ausreichend Zeit zur Reflexion, aber auch zur Regeneration zugunsten der nachstehenden künstlerischen Produktion bleibt. Schmidt stellt dies mithilfe des von ihm eingeführten Überproduktionstrichters dar, der die Funktion eines Strudels aufweist und die Gefährdung der künstlerischen Qualität von Theaterproduktionen durch den Auf bau von Druck wie Auslastung und Überproduktion signifikant darstellt:

108 | Vgl. Schmidt (2017), S. 97f.

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Abbildung 1: Überproduktionstrichter

©Thomas Schmidt: Der Überproduktionstrichter109

Eine Redewendung sagt, dass die Zeit nicht wartet. So verhält es sich auch mit dem akuten Reformbedarf im Musiktheater. Auch wenn gegenwärtig die Existenz der Opernbetriebe nicht vor einer Endzeit steht, muss dringender denn je ein kulturpolitisches Instrumentarium gefunden werden, um Oper erhalten zu können. Fakten wie Schmidts Überproduktionstrichter müssen ernst genommen werden und die künstlerische Vielfalt und inhaltliche Qualität im Musiktheater müssen das Zentrum der Diskussion bleiben, damit ein Schaden an der Kunstform Musiktheater ausgeschlossen und Musiktheater in ihrer künstlerischen Praxis nicht »runter gewirtschaftet werden kann«. Der deutsche Komponist Detlev Glanert110 konstatiert für die Diskussion um die Oper der Zukunft:

109 | Vgl. Schmidt (2017), S. 96. 110 | Detlev Glanert, dt. Opernkomponist (*1960).

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»Wenn wir darüber diskutieren würden, wie das Opernhaus der Zukunft zu gestalten sein soll, müssen wir allerdings zunächst feststellen, dass das alte Opernhaus (ganz egal, wie wir darüber denken, ob wir es reformieren oder umbauen wollen) höchst gefährdet ist.«111

1.2.5 E xkurs: Die deutsch-französischen Theaterbeziehungen Für das Forschungsterrain dieser Arbeit ist es von Interesse einen Exkurs vom Musiktheater in das Sprechtheater und dessen deutsch-französische Beziehungen zu lenken. Während sich im Musiktheater nach 1945 die Entwicklungen nahezu nicht wahrnehmbar vollzogen, standen die Jahre ab den 1950er für einen regen Austausch im Sprechtheater zwischen Deutschland und Frankreich. Beginnend mit der Entdeckung Bertolt Brechts in Frankreich112 sind es vor allem französische Theatermacher, die es in den 1950er Jahren nach Berlin zog, um die Arbeiten des deutschen Theaterpioniers Brecht am Berliner Ensemble zu sehen. Hierzu zählten u.a. die französischen Theatermacher Bernard Sobel113, der vier Jahre am Berliner Ensemble blieb, sowie später Patrice Chéreau114, 115 Bertolt Brecht wurde zum meistgespielten deutschen Dramatiker in Frankreich.116 Bevor Jean Vilar 1951 nicht nur das Théâtre National Populaire in Paris übernahm und in »eine ambitionierte staatliche Volksbühne« verwandelte, gründete er bereits 1947 das Festival d’Avignon und legte die Grundsteine für ein bürgernahes Theater in Frankreich und für einen aktiven Austausch der Theaterschaffenden. Den Zugang zum Theater vereinfachte Vilar über Praktiken, die durch die Deutsche Demokratische Republik (DDR) bekannt wurden: günstige Eintrittspreise und mit den Arbeitszeiten der Zuschauer vereinbare Aufführungszeiten. In den 1970er Jahren 111 | Glanert, Detlev: »Die Oper – eine Kunstform für heute?«, in: Drees, Stefan (Hg.): »Neugier ist alles. Der Komponist Detlev Glanert«, Wolke Verlag, Hofheim, 2012, S. 234. 112 | Bertolt Brecht, dt. Dramatiker (1898-1956). 113 | Bernard Sobel, frz. Theaterregisseur (*1935). 114 | Patrice Chéreau, frz. Regisseur (1944-2013). 115 | Vgl. Spinazzi, Francesca: »Theaterwege: aller et retour zwischen Frankreich und Deutschland«, in: Godard, Colette (Hg.) »Theaterwege«, Alexander Verlag, Berlin, 1996, S. 7. 116 | Vgl. Godard (1996), S. 9.

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ist die neue Theaterhauptstadt Berlin ein Anziehungspunkt und lockt durch Peter Stein117 mit seinem Modell der Berliner Schaubühne und Heiner Müller118 mit seinen Arbeiten u.a. am Berliner Ensemble. Das Modell der Schaubühne, damals noch am Halleschen Ufer in Berlin ansässig, diente vielen Theaterhäusern in Frankreich in den 1980er Jahren als Vorbild für die Umstrukturierung der Betriebsstruktur, bei der die Mitarbeiter des technischen Personals sowie das Ensemble in Entscheidungsprozesse miteinbezogen wurden, was als Mitbestimmungstheater bezeichnet wurde. Patrice Chéreau vereinte diese Phänomene, als er die Intendanz am Théâtre des Amandiers in Nanterre übernimmt und führte dort konsequent Heiner Müllers Werke auf. Jean-Pierre Vincent119 griff ebenfalls das »Schaubühnen-Prinzip« auf und band während seiner Intendanz am Théâtre National de Strasbourg ein festes Dramaturgen- und Autorenkollektiv an sich. Das beeinflusste neben der Organisationsstruktur im Kreativprozess der einzelnen Produktionen maßgeblich die Proben bis hin zum Endresultat auf der Bühne.120 In diesen Jahren waren sowohl die Schaubühne als auch das Berliner Ensemble regelmäßig mit Tourneen zu Gast in Frankreich. Mit der Präsidentschaft von François Mitterand 1981 wurde Jack Lang121 zum Ministère de la Culture ernannt. Es folgten eine Erhöhung des Kulturetats und die Einführung von immer mehr neuen Strukturen, die im Zeichen des wirtschaftlichen Aufschwungs standen. Doch genauso wie in Frankreich musste sich die Kultur auch in Deutschland zunehmend gegen die Kritik des Rentabilitätsdenkens verteidigen. Die Vertreter des hier kurz angerissenen deutsch-französischen Austausches waren auf deutscher Seite Peter Stein, Manfred Karge, Matthias Langhoff und Heiner Müller sowie auf französischer Seite Patrice Chéreau, Peter Brook122, Jean Vilar, Bernard Sobel und Stéphane Braunschweig.

117 | Peter Stein, dt. Theater- und Opernregisseur (*1937). 118 | Heiner Müller, dt. Dramatiker (1929–1995). 119 | Jean-Pierre Vincent, frz. Regisseur u. Intendant (*1942). 120 | Vgl. Godard (1996), S. 15f. 121 | Jack Lang, frz. Politiker, Kulturminister 1981-1986 u. 1988-1993 (*1939). 122 | Peter Brook, brit. Theaterregisseur und Intendant (*1925).

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Um diese Regisseure herum entwickelte sich in den Folgejahren ein Starkult und rückte damit das Regietheater in den Vordergrund.123 Der deutsch-französische Austausch im Theater hat einen starken inhaltlichen Mehrwert. Neben dem Austausch der Theaterschaffenden über Formen und Arbeitsweisen erhalten Stücke auch in der Rezeption durch die Kontextualisierung in dem Partnerland eine weitere Ebene. So beschreibt es Matthias Langhoff: »In Deutschland kann es passieren, dass der HOMBURG Schlagseite in Richtung Nationalsozialismus bekommt. Also haben nach dem Krieg Linke wie mein Vater gesagt, das Stück solle nie wieder aufgeführt werden. Und plötzlich gastieren die Franzosen mit dem Stück in Berlin. Ich war zehn oder elf Jahre alt, habe Vilar und Gérard Philipe gesehen, habe gesehen, wie der Prinz die Zuschauer zu Tränen rührte, echte Tränen wurden vergossen. Das war ein nationales Ereignis. Ich erinnere mich an etwas immens Poetisches und Politisches.«124

Die Oper bleibt von diesem praktischen Austausch ausgeschlossen. Natürlich existieren Institutionen, wie das Festival d’Aix-en-Provence, wo immer wieder etablierte und gefeierte Regisseur aus dem deutschsprachigen Raum vertreten sind, wie z.B. Klaus M. Grüber125 und Luc Bondy, Herbert Wernicke126 oder Peter Mussbach127. Dahingegen bleiben jedoch junge Regisseure und deutsche Komponisten von diesem Austausch bei den Leuchttürmen der Klassikszene unberührt. Paris hat in der europäischen Theaterlandschaft die Position als Theaterhauptstadt einbüßen müssen.128 War bis in die 1960er Jahre die Rezeption der französischen Dramatiker (u.a. Samuel Beckett129, Jean-Paul

123 | Vgl. Floeck, Wilfried: »Zeitgenössisches Theater in Deutschland und Frankreich«, A. Francke Verlag, Tübingen, 1989, S. 11. 124 | Vgl. Godard (1996), S. 23. 125 | Klaus M. Grüber, dt. Regisseur (1941-2009). 126 | Herbert Wernicke, dt. Opernregisseur, Bühnen- u. Kostümbildner (19462002). 127 | Peter Mussbach, dt. Regisseur (*1949). 128 | Vgl. Floeck, (1989), S. 11. 129 | Samuel Beckett, ir. Schriftsteller (1906-1989).

1. Musiktheater in Deutschland und Frankreich: von 1945 bis heute

Sartre130, Albert Camus131, Eugène Ionesco132) dominierend, so wandelt sich dies zum jetzigen Zeitpunkt und die deutschsprachigen Dramatiker treten in den Vordergrund (Max Frisch133, Friedrich Dürrenmatt134, Peter Handke135, Thomas Bernhard136, Heiner Müller, Bertolt Brecht).137 Dieser rege Austausch in der Praxis deckt sich keineswegs mit der Zahl an wissenschaftlichen Abhandlungen.

130 | Jean-Paul Sartre, frz. Dramatiker (1905-1980). 131 | Albert Camus, frz. Schriftsteller u. Philosoph (1913-1960). 132 | Eugène Ionesco, dt.-rum. Schriftsteller (1909-1994). 133 | Max Frisch, schw. Schriftsteller (1911-1991). 134 | Friedrich Dürrenmatt, schw. Schriftsteller (1921-1990). 135 | Peter Handke, österr. Schriftsteller (*1942). 136 | Thomas Bernhard, österr. Schriftsteller (1931-1989). 137 | Vgl. Floeck, (1989), S. 11.

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2. Rahmenbedingungen von Musiktheater 2.1 Kulturpolitik »Dass Opernhäuser aus strukturellen Gründen nicht kostendeckend arbeiten können und daher auf Zuwendungen von dritter Stelle angewiesen sind, ist eine inzwischen allgemein anerkannte Tatsache.«1

Diese These wurde erstmals 1966 durch die Wirtschaftswissenschaftler William J. Baumol und William G. Bowen aufgestellt.2 Beispielsweise werden an Opernhäusern mit festem Ensemble im Repertoire-Betrieb drei Viertel des Jahresetats allein für Personalkosten verwendet. Um in einem Opernbetrieb kostendeckend arbeiten zu können, müsste demnach eine Anhebung der Eintrittspreise um das Achtfache erfolgen und ein Opernbesuch würde zu einem absoluten Luxusgut werden. Die Kulturpolitik in Deutschland und Frankreich unterscheidet sich erheblich. Während in Frankreich ein zentralistisches System mit dem bestrebten Einsatz dezentraler kulturpolitischer Instrumente zugunsten eines flächendeckenden Kulturangebots, das in letzter Instanz von Paris aus gesteuert wird, vorherrscht, ist in Deutschland eine föderalistische Kulturpolitik vorzufinden. Dennoch teilen beide Systeme im Bereich der staatlich subventionierten Musiktheater die Kostenübernahme je nach Stand des Theaters auf Stadt, Land und Kommunen auf. Frankreichs Anzahl an öffentlich getragenen Opernhäusern ist im Vergleich zu Deutschland deutlich geringer, hingegen ist die Zahl der Theaterkompagnien außerordentlich groß. Diese verkaufen ihre Produk1 | Opernbetriebe haben zwischen 100 bis über 1.000 Mitarbeiter. 2 | Vgl. Jacobshagen, Arnold: »Musiktheater«, Quelle: www.miz.org/static_de/ themenportale/einfuehrungstexte_pdf/03_KonzerteMusiktheater/jacobshagen. pdf (07.08.2017), S. 17.

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tionen als Gastspiele und betreiben eine unsichere und aufwendige Berufspraxis.

2.1.1 Theaterpolitik in Deutschland Bis 1875 wurden alle Theater in Deutschland als Privattheater geführt. Die jeweilig zuständige Stadt oder Gemeinde stellte das Land oder die Gebäude zur Verfügung und gewährleistete die Anbindung an die Infrastruktur (ggf. Elektrizität, Wärme). Finanziert wurden diese Privattheater fast ausschließlich über das Mäzenatentum und über sogenannte Zweckverbände, die sich ab 1885 bildeten. Erstmalig kam es dann 1895 zur Vergabe öffentlicher Gelder für die Bezuschussung eines Theaterbetriebes.3 Mit dem Ende des 1. Weltkrieges änderte sich das von Grund auf und die meisten Theaterbetriebe gingen in staatliche Trägerschaft über. Aus dieser Zeit stammen die Bezeichnungen in Staats-, Land-, und Stadttheater. Vereinzelt blieben noch Theater bis zum Dritten Reich eigenständig und profitierten nicht von der Möglichkeit einer staatlichen Trägerschaft. Dies gelang u.a. durch Umformung in Aktiengesellschaften, Spielkasinos, Lotteriegesellschaften oder in Verbindung mit angekoppelten Gastronomiebetrieben.4 Mit Kriegsende 1945 wurde in Deutschland die Form des föderalistischen Prinzips eingeführt und hat bis heute ihre Gültigkeit für die staatlich subventionierten Theaterbetriebe behalten. Der aktuelle Etat der Bundesrepublik Deutschland für Kunst und Kultur beträgt seit 2018 1,67 Mrd. Euro und wurde um 460 Mio. Euro erhöht. Im Jahr 2013 entsprachen die Ausgaben für den Aufgabenbereich Theater und Musik 0,12 Prozent des Bruttoinlandsproduktes und 0,59 Prozent des Gesamthaushaltes der Bundesrepublik Deutschland.5 Dies macht allerdings nur einen kleinen Teil der Gesamtausgaben aus. Die gesamten öffentlichen Ausgaben für 3 | Vgl. Maier, Hanns: in Glatt-Behr, Dorothea (Hg.): »Strukturprobleme des Musiktheaters in der Bundesrepublik Deutschland. Schriften zum Musiktheater«, Bd. 1, Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth, 1978, S. 72f. 4 | Vgl. Lübbe (2013), S. 16f. 5 | Vgl. Statistische Ämter des Bundes und der Länder: »Kulturfinanzbericht 2016«, Quelle: https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Bildung ForschungKultur/Kultur/Kulturfinanzbericht1023002169004.pdf?__blob=publi cationFile (17.07.2017).

2. Rahmenbedingungen von Musiktheater

Kultur betrugen 2009 bereits 9,127 Mrd. Euro, wovon 3,236 Mrd. Euro auf den Bereich Theater und Musik fielen. Von den Gesamtaufwendungen, die das Theatersystem aus öffentlichen Geldern erhält, ist das Musiktheater die kostenintensivste Theatersparte.6 Die Opernbetriebe sind die personalintensivsten Einrichtungen unter den Theaterbetrieben und haben schlussfolgernd den höchsten Förderungsbedarf. Daraus resultiert, dass in Deutschland der Jahresetat pro Opernhaus zwischen 7 Mio. Euro bis über 80 Mio. Euro, wie z.B. am Staatstheater Stuttgart, schwankt. Es gibt rund 140 öffentliche Theaterunternehmen, darüber hinaus 221 Privattheater, 77 Festspiele und 130 Orchester.7 Unter den rund 140 öffentlichen Theaterunternehmen befinden sich 80 Opernhäuser bzw. Mehrspartenhäuser mit eigener Musiktheatersparte. Die Absicht der deutschen Kulturförderung ist es, die im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland benannte Freiheit der Kunst zu gewährleisten und gleichzeitig im Rahmen des föderalistischen Prinzips eine Dominanz des Staates zu verhindern. In Deutschland gibt es keinen eindeutig festgelegten Kulturauftrag. Es gilt einzig für alle Bundesländer, dass sie die durch das Grundgesetz bestimmte Freiheit der Kunst zu fördern haben: »(3) Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.« 8

Die Verfassungen der einzelnen Bundesländer sind mit diesem Artikel verankert und haben individuell in ihren eigenen Landesverfassungen den Kulturauftrag genauer definiert. Die Verfassung des Bundeslandes Sachsen-Anhalt, welche für das Fallbeispiel der Oper Halle relevant ist, beinhaltet folgenden Wortlaut zum Schutze der Kultur im Artikel 36:

6 | Vgl. Jacobshagen, Arnold: »Musiktheater«, Quelle: www.miz.org/static_de/ themenportale/einfuehrungstexte_pdf/03_KonzerteMusiktheater/jacobshagen. pdf (07.08.2017), S. 3. 7 | Vgl. Deutscher Bühnenverein (Hg.): »Theaterstatistik 2014/2015: Die wichtigsten Wirtschaftsdaten für Theater, Orchester und Festspiele«, Köln, 2016. 8 | GG, Art 5, am 23.05.1949 in Kraft getreten, Quelle: https://www.bundes tag.de/parlament/aufgaben/rechtsgrundlagen/grundgeset z/gg _01/245122 (07.07.2017).

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»(1) Kunst, Kultur und Sport sind durch das Land und die Kommunen zu schützen und zu fördern. (2) Die heimatbezogenen Einrichtungen und Eigenheiten der einzelnen Regionen innerhalb des Landes sind zu pflegen. (3) Das Land und die Kommunen fördern im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten die kulturelle Betätigung aller Bürger insbesondere dadurch, daß sie öffentlich zugängliche Museen, Büchereien Gedenkstätten, Theater, Sportstätten und weitere Einrichtungen unterhalten.« 9

Um die Unterschiedlichkeit der verschiedenen Kulturaufträge oder Kulturempfehlungen der Bundesländer verbindlicher zu formulieren, wurde im Abschlussbericht der Enquête-Kommission »Kultur in Deutschland« empfohlen, dass das Grundgesetz um die Formulierung »Der Staat schützt und fördert die Kultur.«10 ergänzt wird. Der Kulturföderalismus führt dazu, dass Deutschland ein »lokal verwurzeltes Theater« hat. D.h., die Theaterproduktionen werden überwiegend vor Ort im lokalen Theater gespielt und gehen weniger auf Gastspielreisen. Gastspiele stellen insbesondere für den Musiktheaterbetrieb aufgrund seiner Vielzahl an Mitwirkenden (u.a. der große Orchesterapparat) neben dem Repertoirebetrieb eine Herausforderung dar, die in den seltensten Fällen umgesetzt wird. D.h., dass Produktionen, die an einem Opernhaus inszeniert werden, in den meisten Fällen auch nur dort zu sehen sind. In Frankreich hingegen werden Produktionen bereits während der Konzeption vielfach für verschiedene Bühnen gleichzeitig geplant. Neukreationen entstehen meistens in Koproduktion mit anderen Häusern. Beispielsweise konzipiert ein städtisches Opernhaus, wie die Opéra de Marseille, die Neuproduktionen häufig gemeinsam mit ein bis zwei weite-

9 | Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt, 22.07.1992, Artikel 36, Quelle: www.landesrecht.sachsen-anhalt.de/jportal/;jsessionid=6E02F3B63038E380 9EE2411C673FB3A6.jp27?quelle=jlink&query=Verf+ST&psml=bssahprod.psml& max=true&aiz=true#jlr-VerfSTpArt36 (29.07.2017). 10 | Deutscher Bundestag (Hg.): »Kultur in Deutschland. Schlussbericht zur Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages«. ConBrio, Regensburg 2008, S. 69.

2. Rahmenbedingungen von Musiktheater

ren Opernhäusern. In Frankreich reist das Theater. In Deutschland hingegen muss der Theaterinteressierte reisen.11

2.1.2 Theaterpolitik in Frankreich Nach dem 2.  Weltkrieg rekonstruierte der französische Staat in kurzer Zeit die Wiederinbetriebnahme der Theater, verbunden mit der Einführung grundlegender kulturpolitischer Leitlinien. Von großer Bedeutung war die Einführung der Dezentralisierungspolitik, die auch die Kulturpolitik betraf und durch die Einführung des Ministeriums für kulturelle Angelegenheiten 1959 seine Umsetzung fand. Waren bis in die 1950er Jahre die französischen Theater größtenteils als Privattheater organisiert, wurden parallel zu der Einführung der décentralisation culturelle, die die Umverteilung der administrativen, finanziellen und geographischen Organisationsstrukturen von Paris auf das gesamte Land zum Ziel hatte, nach und nach mehr staatliche Trägerschaften von Theatern eingeführt. Der erste Kulturminister war André Malraux, der die Förderung des Theaters stärkte. Zu diesem Zeitpunkt hatte Frankreich lediglich zwei öffentlich geförderte Nationaltheater und bekam mit der Comédie-Française das Dritte gerade hinzu. Ab 1961 setzt Malraux mit der Gründung der CDN, centre dramatique national, den dezentralen Gedanken um. Das CDN war ein Theatermodell, dass die Verbreitung von Theaterproduktionen abseits der Metropolen und mit neuem Repertoire umsetzen sollte. Heute existieren 35 CDN. Darüber hinaus gibt es heute die scéne nationale (Gastspielorte für die Darstellenden Künste) sowie drei centre dramatique régionaux, 50 Privattheater, neun centre nationaux des arts de la rue (Straßentheater), zwölf pôle pour les arts de cirque (Zirkus) und ein vielfältiges Angebot an Theaterfestivals. In Frankreich gibt es neben den eben aufgeführten Theaterstrukturen 27 Opernhäuser: Lille, Compiègne, Reims, Metz, Strasbourg, Dijon, Lyon, Saint-Etienne, Vichy, Limoges, Bordeaux, Toulouse, Montpellier, Avignon, Marseille, Toulon, Nice, Troyes, Massy, Longjumeau, Paris, Tours, Rouen, Angers, Nantes und Caen. Die Opernbetriebe unterscheiden sich hinsichtlich ihres Status in drei Typen, die die administrative Zugehörigkeit benennen: 1. Der natio11 | Colin, Nicole: »Zwischen Kritik und Analyse: Deutsch-französischer Wissenstransfer im Theaterfeld der Gegenwart«, S. 11, Quelle: http://periodicals.narr.de/ index.php/Lendemains/article/viewFile/390/371 (07.07.2017).

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nale Typ, 2. Der regionale Typ und 3. Der städtische (municipale) Typ. Lediglich bei den Opernhäuser in Paris, der Opéra du Rhin, der Opéra de Lorraine, der Opéra de Lyon und der Opéra de Bordeaux sowie dem Opernhaus in Montpellier handelt es sich um national getragene Opernhäuser. Dennoch findet der Versuch der flächendeckenden Dezentralisierung im gesamten zentralistischen Regierungssystems Frankreich nur eingeschränkt Umsetzung.

2.2 D ie I nstitution M usik the ater In Deutschland bis 1875 und in Frankreich bis in die 1940er Jahre wurden die Theater weitestgehend als Privattheater getragen. Heute wird ein Großteil der Theater als öffentlicher Theaterbetrieb geführt. Das liegt auch an der Tatsache, dass insbesondere das Musiktheater nicht kostendeckend arbeiten kann (siehe die bereits zitierte Studie von William J. Baumol und William G. Bowen). So macht beispielsweise bei der Stiftung Oper Berlin12 die öffentliche Förderung 70 Prozent des Gesamtetats aus, bei der Opéra national de Paris sind es 56,6 Prozent.13 Der Jahresetat eines Opernhauses ergibt sich aus dem Verhältnis von der Anzahl der Opernproduktionen auf dem Spielplan und der Anzahl an gespielten Vorstellungen. Je nach Größe des Hauses und Anzahl der Beschäftigten beträgt das Jahresbudget in Deutschland zwischen 7 Mio. Euro und 80 Mio. Euro14 und in Frankreich sind es bis zu 175 Mio. Euro für die Opéra National de Paris, die sowohl die Bühnen der Opéra Garnier als auch der Opéra Bastille bespielt.15 Die Institution eines Opernhauses ist in Deutschland und Frankreich vornehmlich für die Aufführung und Produktion von

12 | Anmerk. der Verfasserin: Die Stiftung Oper Berlin ist Träger der drei öffentlichen Opernhäuser in Berlin (Staatsoper Berlin, Deutsche Oper Berlin und Komische Oper Berlin). 13 | Vgl. Agid, Philippe/Tarondeau, Jean-Claude: »Le Management des opéras«, Descartes & Cie, Paris, 2011, S. 264. 14 | Vgl. Jacobshagen, Arnold: »Musiktheater«, Quelle: www.miz.org/static_de/ themenportale/einfuehrungstexte_pdf/03_KonzerteMusiktheater/jacobshagen. pdf (07.08.2017), S. 3. 15 | Vgl. Agid, Tarondeau (2011), S. 265.

2. Rahmenbedingungen von Musiktheater

lyrischen, choreographischen und symphonischen Werken gewidmet.16 Die Opernhäuser in Deutschland unterstehen heute der Länderhoheit. In Frankreich gibt es die Einteilung in die national getragenen Opernhäuser sowie in die von den Regionen oder Kommunen getragenen Opernhäuser. Zur Optimierung der Strukturen und zur Ermöglichung der Entscheidungsfreiheit eines Theaterbetriebes ist es wichtig, die Betriebs- und Rechtsformen zu betrachten. Hierin liegen entscheidende Faktoren, die die künstlerische Arbeit und die Produktionsbedingungen mitgestalten und die Handlungsfähigkeit einer Theaterleitung definieren.17

2.2.1 Die Betriebsstruktur Es existieren betriebliche Grundsysteme, die sich in Europa für die Betriebsstruktur der Theaterbetriebe durchgesetzt haben und die den Produktionsprozess mit Blick auf die Anzahl der Vorstellungen und der zeitlichen Disposition der Produktionsbedingungen im Verhältnis zum jeweiligen Vorstellungsbetrieb betrachten18: das Repertoire-System, das Stagione-System, das Semi-Stagione, das Mixed-Stagione-System und das Festival-System.

Das Repertoire-System Das Repertoire-System, das in Deutschland in den meisten öffentlichen Theaterbetrieben gegenwärtig praktiziert wird, zeichnet sich durch ein festes Ensemble und einen bis zu täglich wechselnden Spielplan aus. Der Spielplan setzt sich aus Produktionen der vergangenen Spielzeiten, den sogenannten Wiederaufnahmen, sowie Neuproduktionen zusammen. Die Mehrheit der Produktionen ist am eigenen Haus entstanden und selten finden Gastspiele statt. Das erfordert ein ausreichend großes Ensemble, um mit den Darstellern alle Produktionen abdecken zu können. Die Gesamtzahl der auf den Spielplan vertretenen Produktionen liegt hier bei bis zu 40 Produktionen, wovon bis zu 20 Premieren sind. Der Spielplan gestaltet sich hierbei so, dass ein permanenter Spielbetrieb gewährleistet werden soll. Der Zuschauer kann somit aus einem vielfältigen Angebot nahezu jeden Tag eine andere Vorstellung auswählen und besuchen. Für 16 | Vgl. Agid, Tarondeau, (2011), S. 47. 17 | Vgl. Schmidt (2017), S. 115f. 18 | Vgl. Lübbe (2013), S. 23.

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die technischen Gewerke bedeutet das tägliche Umbauten und eine ebenso aufwendige Disposition. Das Repertoire-System sichert damit eine hohe Dichte an verschiedenen Werken und einen abwechslungsreichen Spielplan. Dafür ist ein hoher Personalaufwand notwendig und macht diese Betriebsform zur aufwendigsten in der Umsetzung.19

Das Stagione-System oder En-Suite-System Das Stagione-System hat seinen Ursprung in Italien.20 Das Stagione-System gewährleistet – im Gegensatz zum Repertoire-System – keinen allabendlichen Vorstellungsbetrieb. Es wird immer nur eine einzelne Produktion gezeigt, die en-suite, also an mehreren Tagen in Folge, gespielt wird. Das Stagione-System erfordert kein festes Sängerensemble. Die Solisten werden für die Produktion engagiert und verlassen das Haus im Anschluss wieder. Dadurch ist eine Wiederaufnahme der Produktion in der nachfolgenden Spielzeit nahezu ausgeschlossen. Nachdem eine Produktion abgespielt ist, kann es im Betrieb auch zu Leerlaufphasen kommen, sollte die nachfolgende Produktion erst später beginnen. Der Fokus dieser Betriebsform liegt auf dem Vorstellungsbetrieb. Das Stagione-System zeichnet sich dadurch aus, dass keine jahrelangen Wiederholungen von Klassiker-Inszenierungen stattfinden, sondern immer neue Arbeiten gezeigt werden. Um dennoch einen größeren Radius zu haben und Kosten zu teilen, werden die hier gezeigten Produktionen häufig koproduziert und in mehreren Häusern über den Zeitraum von ein bis zwei Spielzeiten aufgeführt. Das hat den Nachteil, dass selten Werke außerhalb des Standardrepertoires gespielt werden, da die Auswahlkriterien klar an die Zielgruppen und Auslastungszahlen gekoppelt sind und die Theaterleitungen weitaus weniger risikobereit agieren.21 »Nur das Repertoiresystem mit seinen Wechselmöglichkeiten hat heutzutage überhaupt die Chance, das Risiko einer Uraufführung einzugehen; ein Intendant eines französischen oder italienischen Stagione-Theaters wird nur im äußersten Notfall (anlässlich eines Jubiläums vielleicht) ein Werk des jeweils berühmtesten Landeskomponisten ansetzen, und, wie wir am Beispiel Luigi Nonos sehen, ja 19 | Vgl. ebd. S. 23f. 20 | Vgl. Agid, Tarondeau, (2011), S. 87. 21 | Vgl. Lübbe (2013), S. 24.

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nicht einmal das; in Deutschland dagegen gibt es immerhin an etlichen Theatern das Bestreben, sich durch Uraufführungen profilieren zu wollen.« 22

Das Semi-Stagione oder En-Bloc-System Das Semi-Stagione-System ist die Mischform zwischen den beiden eben dargestellten Systemen. Hier wird ähnlich wie im Stagione-System am Block gearbeitet, jedoch sind die einzelnen Blöcke als kleine Blöcke angeordnet und tauchen in bestimmten Perioden der Spielzeit wieder auf. Hieraus ergibt sich ein Repertoire aus mehreren Produktionen, die damit den Spielplan zusammen vielfältiger als im Stagione-System gestalten. Dieses System ist nicht zwangsläufig an ein hauseigenes Ensemble gebunden, wird aber im deutschsprachigen Raum an Opernhäusern zunehmend gehandhabt. Das Semi-Stagione-System ist mit einem hohen Kostenaufwand verbunden. Die Kosten bleiben jedoch deutlich unter denen des RepertoireBetriebes. Personalkosten können niedriger gehalten werden, da nur ein kleines Kernensemble dauerhaft beschäftigt wird und darüber hinaus sogenannte Gäste eingekauft werden. Prominente Beispiele dieses Systems sind in Deutschland die Bayrische Staatsoper und die Staatsoper Berlin. Hier wurde das Semi-System etabliert, da es die Gewinnung von prominenten Sängern für Produktionen einfacher ermöglicht und diese nur für einen bestimmten Zeitraum vor Ort binden muss.23

Das Mixed Stagione System 24 Das Mixed Stagione System ist eine kombinierte Weiterentwicklung aus dem Semi-Stagione-System und dem Repertoire-System. In diesem ist das Block-Prinzip in das Repertoire-Prinzip integriert. D.h., dass ein weniger umfangreiches Repertoire auf dem Spielplan durch kleine Blöcke durchbrochen wird. Hieraus ergibt sich die Möglichkeit auslastungsstarke Produktionen durchlaufend anzubieten und experimentellere Inszenierungen en bloc zu zeigen. Von technischer Seite ergibt sich daraus ein System, in welchem die Bühnenbilder der jeweiligen en bloc gezeigten Produktionen aufwendiger zu bauen und die Repertoire-Bühnenbilder den regelmäßigen schnellen Umbauten angepasst sind. Es ergibt sich da22 | Glanert (2012), S. 235. 23 | Vgl. Lübbe (2013), S. 24-25. 24 | Vgl. Schmidt (2017), S. 101ff.

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raus eine Unterscheidung zwischen den Produktionen, die aufwändiger sein dürfen und denen, die schnell und leicht im Spielbetreib funktionieren sollen, was nicht zwangsläufig mit einem Qualitätsverlust einhergehen muss. Klarer Vorteil dieses Systems ist, dass – anders als im Semi-Stagione- oder Stagione-System – ein Haus nicht Gefahr läuft, auf eine schlecht laufende Produktion nicht reagieren zu können. Das Mixed Stagione System ist somit eine reduzierte Variante des Repertoire-Betriebes, birgt ein höheres Maß an Flexibilität aber bleibt dennoch ein System, dass eine hohe künstlerische Qualität sicherstellen kann.

Das Festival-System Das Festivalsystem entstand mit einer zeitlich begrenzten Vorstellungszeit als unabhängige Betriebsstruktur gegenüber den Theaterbetrieben bereits im endenden 19. Jahrhundert. Zu den prominentesten Beispielen gehören die Salzburger Festspiele, die 1920 u.a. von Max Reinhardt 25 und Richard Strauss26 initiiert wurden, die Bayreuther Festspiele, 1876 gegründet und seit 1951 im Festspielhaus auf dem Grünen Hügel stattfindend sowie das Festival d’Aix-en-Provence, das 1954 gegründet wurde. Das Festival-System ist in seinem System flexibler als die vorher dargestellten Betriebssysteme und kann einen anderen Experimentierraum bieten. Die ästhetische Arbeit ist an einzelne Projekte gebunden. Insbesondere für die Neue Musik und das experimentelle Musiktheater ist das Festival-System in den vergangenen Jahren eine wichtige Form geworden. Hier sind die Münchener Biennale und die Ruhrtriennale als nur zwei Beispiele aus einer Vielzahl zu nennen.

2.2.2 Die Rechtsform Die Rechtsform beschreibt die Trägerschaft einer Theatereinrichtung und gibt somit das Maß der eigenständigen Handlungsmöglichkeiten von Theaterbetrieben an. Die Rechtsform ist entscheidend für die Haftung, die Kapitalbeschaffung, die Unternehmensleistung sowie die steuerliche Verantwortung der Institution.27 Dieser Freiraum im Handeln und im Entscheiden wurde in den letzten Jahren vermehrt diskutiert, da hiermit 25 | Max Reinhardt, österr. Theaterregisseur und Intendant (1873-1943). 26 | Richard Strauss, dt. Komponist (1864–1949). 27 | Vgl. Lübbe (2013), S. 21.

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die Autonomie und Entscheidungsfreiheit der Theaterleitungen erweitert werden soll. Vielfach kam es in Deutschland zur Umstrukturierung in die Rechtsform der Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) oder zu Eigenbetrieben. Dies führte dazu, dass die Rolle der geschäftsführenden Direktoren oder Intendanten gewachsen ist, ohne dass vielfach die Voraussetzung zur Ausübung dieser Tätigkeiten gewährleistet war. Hier sieht Thomas Schmidt Rückschlüsse zu der ansteigenden Zahl der von Insolvenz bedrohten Häuser, wie z.B. Rostock oder Wuppertal.28

Regiebetrieb 29 Der Regiebetrieb ist Teil der öffentlichen Verwaltung und funktioniert als Bruttobetrieb, indem die Ein- und Ausgaben ein Teil des öffentlichen Haushaltes sind. Er unterliegt dem Träger in den Punkten Rechtsgrundlage, Haushaltsordnung und Wirtschaftsplan und hat keine rechtliche Selbstständigkeit. Das inkludiert auch die Entscheidungsgewalt. Personalentscheidungen werden in letzter Instanz vom Träger gefällt. Außerdem ist das Haushaltsjahr nicht dem Theaterjahr angepasst, sondern funktioniert nach dem Kalenderjahr. D.h., dass der Haushalt zum Ende des Jahres verbraucht sein muss, damit das Gesamtbudget im kommenden Haushaltsjahr nicht reduziert wird. Es liegt eine kameralistische Rechnungsführung vor. Der Regiebetrieb weist lange Verwaltungswege auf sowie eine negativ zu bewertende und nur eingeschränkt vorhandene Entscheidungsbefugnis der Theaterleitung für den Theaterbetrieb.30 Experten wie Thomas Schmidt sehen im Regiebetrieb keine Potenziale für eine zukünftig tragfähige Rechtsform.31 In Frankreich ist der Regiebetrieb sehr weit verbreitet und mehr als die Hälfte der Opernhäuser laufen unter dieser Rechtsform.

28 | Vgl. Schmidt (2017), S. 115. 29 | Vgl. Teubl, Thorsten: »Musiktheater in der Krise – Situationsbeschreibung und Alternativen für das Musiktheater unter besonderer Berücksichtigung der Kammeroper«, Theaterakademie Hamburg, 2008, S. 55ff. 30 | Vgl. Lübbe (2013), S. 21. 31 | Schmidt (2017), S. 117.

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Eigenbetrieb 32 Der Eigenbetrieb zeichnet sich dadurch aus, dass er über eine eigene Rechtspersönlichkeit verfügt. D.h., dass der Theaterbetrieb im eigenen Namen handelt und selbstständig Verträge abschließt. Der Rechtsstand unterliegt der gesetzlichen Vorgabe des Trägers, hat aber wirtschaftlich und organisatorisch eigene Freiräume. So unterliegt der Eigenbetrieb beispielsweise nicht dem Zwang der Kameralistik und hat dadurch einen größeren wirtschaftlichen Handlungsspielraum als der Regiebetrieb. Im Gegenzug muss die Theaterleitung auch organisatorisch und wirtschaftlich eigenverantwortlich agieren. Wenn der Eigenbetrieb von einem künstlerischen Leiter geführt wird, droht die wirtschaftliche Vernachlässigung. Wird der Eigenbetrieb von einem Verwaltungsleiter geführt wird, so droht die künstlerische Vernachlässigung.

Gesellschaft mit beschränkter Haftung – GmbH 33 Die Definition für eine GmbH lautet: »eine Kapitalgesellschaft mit eigener Rechtspersönlichkeit«34. Die Gründung hierfür setzt in Deutschland ein Stammkapital über 25.000 Euro voraus. Die Haftung beschränkt sich auf die eigene Kapitaleinlage. Ab einer Mitarbeiterzahl von 500 Personen ist die GmbH aufgefordert, einen Aufsichtsrat zu stellen. Die Rechtsform GmbH ermöglicht viele verschiedene Formen der Leitung: der alleingeschäftsführende Intendant, die Doppelgeschäftsführung oder die DreierLeitung mit Intendant, kaufmännischem/r Direktor und Generalmusikdirektor.35 Der Erfolg ist in diesem Fall sehr von den jeweiligen Akteuren in den Entscheidungspositionen abhängig.36 Vorteile der GmbH liegen in den kurzen Entscheidungswegen und der grundsätzlich größeren Entscheidungskompetenz der Leitung.

32 | Vgl. Teubl, (2008), S. 61-63. 33 | Vgl. Teubl, (2008), S. 61-63. 34 | Heinrichs, Werner/Klein, Armin: »Kulturmanagement von A–Z«, Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München, 2001, S. 129–131. 35 | Vgl. Röckrath, Gereon: »Vom Regiebetrieb zur GmbH«, in: Teubl, Thorsten: »Musiktheater in der Krise – Situationsbeschreibung und Alternativen für das Musiktheater unter besonderer Berücksichtigung der Kammeroper«, Theaterakademie Hamburg, 2008. S. 64. 36 | Vgl. Heinrichs, Klein (2001), S. 131.

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EPIC – établissement public à caractère industriel et commercial 20  Prozent der Opernhäuser in Frankreich funktionieren nach dieser Rechtsform. Als Träger verantwortet der Staat diese Rechtsform. Sie funktioniert jedoch durch ein hohes Maß an Autonomie in der Entscheidungsfreiheit, vergleichbar mit einem Unternehmen. Die Angestellten sind keine Angestellten im öffentlichen Dienst. Damit unterliegt die Kontrolle einem Vertreter des Kulturministeriums und einem Vertreter des Wirtschaftsministeriums, die zusätzlich einen Aufsichtsrat bilden. Der Intendant muss ihren Auflagen inhaltlich Folge leisten, gebunden an einen klar definiten Kulturauftrag. Seit 1994 gehört die Opéra de Paris zu EPIC. Hiermit sind die häufigsten Rechtsformen aufgezeigt. Weiterhin existiert in Deutschland das Modell der Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) oder das in beiden Ländern existierende Modell des eingetragenen Vereins – auf französisch association loi de 1901. Beide Rechtsformen werden häufig für kleine Ensembles und Kollektive gewählt. Der Verein hat klar den Vorteil, dass er im Gegensatz zur GbR kein Haftungsrisiko hat. Das Vereinsrecht sieht jedoch bislang nicht vor, dass es zur Bildung von Rücklagen kommen kann. Aus diesem Grund birgt diese Rechtsform planerische Unsicherheiten, in der Gründung ist sie jedoch unkompliziert. Des Weiteren gibt es das Modell der Stiftung, das den Vorteil der nachhaltigen Absicherung eines Theaterbetriebes hat. Hier ist die Stiftung Oper Berlin als eines der bekanntesten Beispiele in Deutschland zu nennen.37 In Frankreich gibt es außerdem die scène nationale als Rechtsform.

2.2.3 Leitungsmodelle Die Intendanz Der »alleinherrschende« Intendant oder Generalintendant wird von einer Berufungskommission oder den politischen Entscheidungsträgern auf der jeweils zugehörigen politischen Ebene, wie beispielsweise der Kommune, dem Land oder durch die Regierung (in Frankreich) bestimmt. Die Laufzeit beträgt i.d.R. fünf Jahre. Hierzu liegt jedoch keine einheitliche Regelung vor. Je nach Modell der Trägerschaft, der Rechtsform und der Betriebsstruktur ist die Eigenständigkeit des Intendanten unterschied37 | Vgl. Schmidt(2017), S. 117.

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lich. Im Falle eines Regiebetriebes unter der Trägerschaft der Stadt, wie im Beispiel der Opéra de Marseille, ist die autonome Handlungsfähigkeit des von der städtischen Regierung benannten Directeur so gering, dass er nahezu keine künstlerischen Entscheidungen fällen oder Personalbelange eigenständig entscheiden kann. Der alleinführende Intendant trägt dennoch die öffentliche Verantwortung für das künstlerische Geschehen am Haus. Durch die in den letzten Jahren weit verbreiteten Vertragsklauseln über das Einnahmesoll ist die Rolle des Intendanten stärkerem ökonomischen Druck ausgesetzt38 und muss bei schlechten Auslastungszahlen, finanziell schlechter Haushaltslage sowie künstlerischen Auffälligkeiten (wie z.B. Skandale, schlechter Kritik etc.) das Haus öffentlich verteidigen und im extremen Falle die Konsequenz ziehen und den Posten verlassen.

Doppel- oder Multi-Leitungen Der alleinherrschende Intendant wird von einem Modell abgelöst, in welchem der Intendant, meist der künstlerischere Leiter, einen Generalmusikdirektor oder einen kaufmännischen Direktor – oder in einigen Fällen sogar beides – zur Seite gestellt bekommt. In Deutschland wird im § 3-5 des Intendantenmustervertrags IMV von 1949 vorformuliert, dass eine einvernehmliche Gestaltung des Spielplans und das Engagieren von Musikern und Solisten von den leitenden Personen getroffen werden muss. Darin wird auch festgehalten, dass nur die künstlerischen Leiter für die künstlerischen Fragen stimmberechtigt sind. Dem Chefdramaturgen kommt hier meist nur ein eingeräumtes Mitspracherecht zu. Seit 1968 wurde die Rolle des Intendanten immer wieder in Frage gestellt. Dennoch haben sich bis heute dauerhaft keine Modelle der Mitbestimmung der Mitarbeiter oder Gremium-Modelle in Deutschland an Opernhäusern durchgesetzt. (Im Zuge dieser Untersuchung findet die Oper Halle und ihr Leitungsteam noch eingehender Besprechung, indem auch der Intendant alleinig haftend ist aber die Novation des Leitungsteams zu etablieren versucht.) Der Intendant bleibt der wichtigste Ansprechpartner für die Kultur- und Kommunalpolitiker und ist in Krisen und Streitfragen i.d.R. der Einzige, der zur Verantwortung gezogen

38 | Vgl. Lange, Klaus: »Ökonomie des subventionierten öffentlichen Theaters in Deutschland. Bestandsaufnahme und Entwicklungstendenzen Universität Bremen, Bielefeld, 2006, S. 13.

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wird.39 Das steht in starkem Widerspruch zu dem stetig wachsenden Aufgabenfeld eines Intendanten, wie u.a. neben der künstlerischen Verantwortung auch die Managementanforderungen zu erfüllen. Thomas Schmidt gibt einen Überblick über diese zusätzlichen Aktivitäten neben der künstlerischen Verantwortlichkeit: • • • • • • • • • • • •

»modernes Personalmanagement strategisches Management Umfeld- und Wettbewerbercoaching Moderation des Dialogs mit Politik, Medien und Zuschauern moderne Planungsmethoden professionelle Lobbyarbeit Compliance, Corporate Responsibility Betriebsverfassungs- oder Personalvertretungsrecht Entwicklungen in den Rechtsgebieten, wie Urheberrecht Veränderungen im Gesellschafts- und Arbeitsrecht modernes Finanzmanagement Mediation; Vernetzung; Diversity, u.v.a.m.« 40

In der angewandten Alltagspraxis muss die Theaterleitung gleichzeitig mit sinkenden finanziellen Zuwendungen umgehen, die Erhöhung von Einspielergebnissen erfüllen und trotz Personalabbau das Spielplanangebot künstlerisch durch mehr Attraktivität erhöhen um wettbewerbsfähig zu bleiben. Weiterhin führt Schmidt an, dass »sich die formale Rolle des Intendanten nur in wenigen Punkten« seit der Lebenszeit Johann Wolfgang von Goethes verändert hat.41 Mehrfach wurden in Deutschland in der Vergangenheit Bemühungen um die Etablierung eines Modells »Leitungsteam« deutlich. Dennoch kam es kürzlich in Mannheim zur Petition ehemaliger und amtierender Intendanten, die sich gegen ein Leitungsteam am Mannheimer Theater einsetzten, was mit knapper Mehrheit von der Politik vorher verabschiedet worden war.42

39 | Vgl. Schmidt, (2017), S. 80. 40 | Schmidt (2017), S. 79. 41 | Vgl. Fischer-Dieskau, Dietrich: »Goethe als Intendant: Theaterleidenschaften im klassischen Weimar«, dtv-Sachbuch, München, 2012. S. 55 42 | Vgl. Schmidt (2017), S. 80.

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»Der Brief […] spricht für die geringe Flexibilität in den Köpfen jener, die bereits die oberste Sprosse der Karriereleiter im Theater erklommen haben und nicht mehr hergeben möchten.« 43

Das Kollektiv Das Kollektiv gehört neben dem Gremium zum teamorientierten Leitungsmodell. Das Kollektiv bezeichnet die »créations collectives«, was meint, dass die u.a. Autorenschaft beim gesamten Kollektiv liegt. Eines der ersten Beispiele für das Kollektiv ist das Théâtre du Soleil.44 Das Kollektiv zeichnet sich durch einen Schutzraum aus. Eine Produktion entsteht hier im Inneren und mit vereinten Kräften der Gruppe. Dennoch bedarf das Kollektiv einer Instanz, »die am Ende die Verantwortung übernehmen muss«. Es ist als »demokratische Form nur in einer kleinen Gruppe zu realisieren«.45 Im Musiktheater ist das Kollektiv selten zu finden. Der Grund liegt vermutlich darin, dass sich das Kollektiv aufgrund der hohen Zahl von Mitwirkenden und der Arbeitsteilung (die im Musiktheater bspw. mit der Fachkenntnis in Komposition oder in der Virtuosität des Instrumentenspiels nur eingeschränkt im Team teilbar bzw. übertragbar ist) in der Praxis oftmals nicht ergibt.46

Das Gremium Die Grundkomposition des Gremiums basiert auf gleichberechtigten Direktoren für die verschiedenen Arbeitsbereiche: Künstlerischer Direktor, Musikalischer Direktor, Verwaltungsdirektor, Produktionsleiter oder Technischer Direktor und weitere nach Bedarf. Diese Direktoren werden von den Mitarbeitern oder der Mitarbeitervertretung in das Gremium gewählt und sind ab dem Moment des Inkrafttretens der Wahl mit den anderen Direktoren im Gremium gleichberechtigt. Wichtigste Eigenschaft des Gremiums ist das demokratische Entscheidungsprinzip.

43 | Vgl. Schmidt (2017), S. 80. 44 | Théâtre du Soleil, 1964 gegründet von Ariane Mnouchkine und Philippe Léotard. 45 | Vgl. Tabori, Georg: »Verliebte und Verrückte«, in: Tabori, Georg (Hg.): »Betrachtungen über das Feigenblatt: Ein Handbuch für Verliebte und Verrückte«, Carl Hanser Verlag, München/Wien 1991, S. 85ff. 46 | Vgl. Rebstock, Matthias in: Brauneck (Hg.), (2016), S. 574.

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Das Gremium hat den Vorteil, dass Entscheidungen mehrheitlich bestimmt und im Entscheidungsprozess gemeinsam abgewogen werden. Alle anfallenden Entscheidungen müssen hierzu vorab offen diskutiert werden, damit eine gemeinsame Entscheidung möglich ist. Somit fließen die verschiedenen Perspektiven der verantwortlichen Direktoren und ihren zugehörigen Bereichen in die Entscheidung mit ein. Das Gremium hat darüber hinaus den Vorteil, dass nicht alle Mitglieder gleichzeitig ausgetauscht werden müssen, sondern einzeln neu hineingewählt werden können. Hierdurch können künstlerische Wege und die Verbindung zur Bevölkerung am Standort konsequenter und nachhaltiger berücksichtig werden. Dieses Leitungsmodell ist im Musiktheater in Deutschland und Frankreich nicht verbreitet und erlangte seine Bekanntschaft vorwiegend durch das flämische Theatersystem. Hier wird das Gremium als Leitungsmodell in den Produktionshäusern seit den 1980er Jahren eingesetzt und wurde von den Theaterschaffenden selbst mitinitiiert. Das Modell basiert auf der Idee, einen Produktionsort zu schaffen, an dem eigene Neuproduktionen entstehen, aber auch gleichzeitig Gastspiele und Produktionen von externen Gruppen produziert werden können. Die Leitung fußt auf einem Mitspracheprinzip der Mitarbeiter.47 Erfolgreich etabliert ist dieses Modell seit 2011 am Koninklijke Vlaamse Schouwburg in Brüssel.48

2.2.4 Der Spielplan Der Spielplan entsteht an Musiktheaterbetrieben i.d.R. als Teil einer Gesamtkonzeption, die sich über mehrere Jahre (meist analog zum Intendanzvertrag) auf baut. Dieser Spielplan entsteht in enger Abstimmung mit dem künstlerischen Leitungsteam, was je nach Leitungsmodell aus dem Intendanten, dem Generalmusikdirektor und weiteren Mitgliedern der Theaterleitung besteht, wie z.B. der Dramaturgie und der theaterpädagogischen Abteilung.

47 | Vgl. Schmitt, Thomas, »Theatermanagement. Eine Einführung«, Weimar, 2012, S. 134f. 48 | Vgl. Kuyl, Ivo, »Vom Nationaltheater zur städtischen Plattform« in: Theater der Zeit, Arbeitsbuch »Heart of the city. Recherchen zum Stadttheater der Zukunft«, Heft Nr.7/8, Theaterverlag, Berlin, 2011, S. 116-122.

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Kriterien hierfür sind neben der Kalkulation von zu erreichenden Auslastungszahlen auch der Alleinstellungswert des Theaterbetriebes im Vergleich zu anderen Theatern sowie die finanziellen Möglichkeiten und im Falle des deutschen Repertoire-Systems auch die vorhandenen Ensemble-Struktur. Teil dieser Planung ist die Disposition der auf den Spielplan kommenden Stücke mit den dazugehörigen verantwortlichen Regie-Teams. Aufgrund der Werkstatt und Probenzeiten muss der Spielplan mit einem Planungsvorlauf von zwei bis drei Jahren erstellt werden. Kurzfristige Änderungen stellen den Betrieb vor eine Herausforderung, da viele Abteilungen und Mitarbeiter und damit verbunden Planungsvorläufe direkt betroffen sind. Dieses Spielplanmodell ist kaum für eine flexible Handhabung und die Einführung anderer Arbeitsweisen durchlässig, ebenso wenig sind kurzfristige Reaktionen auf die aktuelle Lage im gesellschaftlichen und politischen Geschehen möglich. Thomas Schmidt stellt fest, dass »die Zahl der Intendanten zunimmt, die sich allen Formen und Formaten öffnen und die gerne jede gesellschaftliche Regung spiegeln und bearbeiten wollen, und dennoch an ihren Strukturen festhalten, um ihre eigene Position und Entscheidungsfülle zu sichern.«49 Die Gründe hierfür sollen Teil der weiteren Betrachtung sein.

2.2.5 Tarif vereinbarungen Nach wie vor sind die Tarifregelungen ein Standard der öffentlichen Musiktheaterbetriebe und betreffen sowohl die technischen Gewerke als auch die Darsteller und das Orchester. Der Ursprung der Tarifregelungen liegt in Deutschland im Beginn des 20.  Jahrhunderts. Im §9 des Freiburger Intendantenvertrags wurde erstmals die Definition des Intendanten einheitlich beschlossen. Mit dem Ausbau der öffentlichen Theater entstand eine immer stärkere Nachfrage nach der Vereinheitlichung der Besoldung und Arbeitsbedingungen und einer Vertretung für die Mitarbeiter, woraus 1919 das Bühnentarifeinkommen hervorgegangen ist. In Deutschland wurde nach dem Ende des 2. Weltkrieges dieser als Normalvertrag Bühne (NV Bühne) wieder gültig und unterschied die Tarife der einzelnen Berufsgruppen nach Verwaltung, Technik, Orchester49 | Vgl. Schmidt, Thomas (2017), S. 229.

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musiker, Chorsänger, Tänzer, Solisten, Bühnentechnik und Solisten.50 Seit 2003 unterscheidet man in Deutschland die Tarifverträge zwischen dem Normalvertrag Bühne (NV Bühne), Beschäftigte im öffentlichen Theaterbetrieb (TVöD) und dem Tarifvertrag für Musiker in Kulturorchestern (TVK). Die Tarifvereinbarungen dienen der sozialen Absicherung der Mitarbeiter. Gleichzeitig bedeuten sie aber auch eine dispositionelle Verbindlichkeit in der Struktur des Theateralltags, die Dienst- und Ruhezeiten sowie weitere Regelungen betreffend. Die deutschen Tarifsysteme stehen in harter Kritik, da die Angestellten und Freischaffenden der Freien Szene zu extrem widersprüchlichen Konditionen künstlerische Produktionen erarbeiten. Somit wird einerseits die strukturelle Enge von den Tarifverträgen in der Kritik und andererseits der Widerspruch zu Gagenverhältnissen der Freien Szene angeführt mit der Forderung nach einer Neugestaltung der grundsätzlichen Entlohnung von Theaterangehörigen aller Systeme. In Frankreich verhält es sich ähnlich. An öffentlich getragenen Musiktheaterhäusern sind die technischen Gewerke dem öffentlichen Dienst unterstellt. Hingegen sind die freischaffenden Techniker und alle weiteren Berufe im Kultursektor, die saisonal und Produktionsweise im kulturellen Sektor beschäftigt sind, unter dem Status »statue l’intermittant du spectacle« (unter der Bedingung 507 Stunden oder mehr an den vergangenen 319 Tagen gearbeitet zu haben) ebenso den prekären Unsicherheiten der Beschäftigung ausgesetzt wie die Freischaffenden in der Freien Szene in Deutschland, jedoch mit dem entscheidenden Unterschied, dass ein freischaffend Tätiger in Deutschland keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld hat, wie es der Status l’intermittant du spectacle in Frankreich dennoch ermöglicht.

50 | Vgl. Lange, Klaus »Ökonomie des subventionierten öffentlichen Theaters in Deutschland. Bestandsaufnahme und Entwicklungstendenzen.«, Bielefeld, 2006, S. 13.

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2.2.6 Dritte Akteure Die sogenannten Dritten sind diejenigen, die sich in Form von Genossenschaften, Berufsverbänden oder ähnlichen Zusammenschlüssen für die Lobbyarbeit der einzelnen Berufsgruppen oder der Gattung selbst einsetzen. In Deutschland sind der Deutsche Bühnenverein (Bundesverband der öffentlichen und privaten Theater), wozu u.a. auch die Intendantengruppe gehört, sowie die deutsche Orchestervereinigung von wichtiger Bedeutung. Beide Gruppen befassen sich mit den Tarifangelegenheiten der Theaterangehörigen. Neben dem ASSITEJ, der Internationalen Vereinigung des Theaters für Kinder und Jugendliche mit ihrer Arbeitsgruppe Musiktheater für Kinder und Jugendliche, sind in jüngster Vergangenheit zunehmend mehr lokale Bündnisse für die Akteure des Musiktheaters, insbesondere der Freien Szene, gegründet worden, z.B. das Zeitgenössische Musiktheater Berlin und das Freie Musiktheater in Hamburg. In Frankreich sind die Opernhäuser in der Vereinigung La réunion des théâtres nationaux (RTLN) sowie La réunion des Opéras de France (ROF) vertreten. Die Avantgarde vertritt seit den 1970er Jahren das Netzwerk ATEM (atélier théâtre et musique) mit dazugehörigem Zusammenschluss T&M-Paris/Théâtre & Musique. Herauszustellen ist an dieser Stelle das Engagement des ZMB in Berlin, der sich als Verein 2015 gegründet hat mit der Erkenntnis, dass Berlin derzeit das »wichtigste Zentrum zeitgenössischen Musiktheaters bildet«51 und binnen kürzester Zeit alle Akteure der Szene vereint hat und sich gemeinsam als Interessenvertretung für mehr kulturpolitische Unterstützung und Förderinstrumentarien einsetzt, einen Austausch auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene pflegt und Aktivitäten der einzelnen Akteure als Plattform transparenter macht sowie 2018 erstmals ein eigenes Festival organisiert hat, das BAM! Berliner Festival für aktuelles Musiktheater.

51 | Vgl. ZMB: »Über den ZMB«, Quelle: http://musiktheater-berlin.de/zmb-e-v/ (22.08.2017).

2. Rahmenbedingungen von Musiktheater

2.3 M usik the ater und der R eformbedarf Einer der derzeit erfolgsreichten Theatermacher in Deutschland, Kay Voges,52 stellt für den gegenwärtigen Zustand des Theaters fest: »Wenn Theater die Gegenwartskunst schlechthin ist, müssen wir die Mittel untersuchen.« 53

Die bis hierhin vorliegende Bestandsaufnahme des Musiktheaters in Deutschland und Frankreich zeigt deutlich, welche Entwicklungen vorausgegangen sind und in welcher Stagnation sich das Musiktheater sowohl auf Seiten der Musiktheaterschaffenden als auch auf Seiten des strukturellen Apparates befindet: Lange Planungsvorläufe, seit Jahrzehnten existente Repertoire-Stagnation sowie inspirationslose Inszenierungen scheinen »State of the Art« des Musiktheaters zu sein. »Es ist schwierig, über die Zukunft des Musiktheaters zu sprechen, solange es in der ästhetisch interessierten Öffentlichkeit keinen Diskurs darüber gibt, wie es heute um die darstellenden Künste bestellt ist und was Zeitgenossenschaft im Theater ästhetisch bedeuten könnte.« 54,

so die Worte Heiner Goebbels, die an dieser Stelle die Betrachtung genau darauf lenken, worin es im zweiten Teil dieser Arbeit gehen soll: Zeitgenossenschaft und Innovation im Musiktheater. Gerard Mortier benannte die Situation als »eine Periode der Restauration«, in der die Opernhäuser geleitet werden von Intendanten die mehr Arbeit in die Auslastungszahlen als in die Kunst stecken.

52 | Kay Voges, dt. Regisseur und Intendant (*1972). 53 | Voges, Kay: in: Oberender, Thomas: »Tableau des Übergangs«, 18.05.2017, Quelle. https://blog.berliner festspiele.de/tableaus-des-uebergangs/ (28.08. 2017). 54 | Goebbels, Heiner: »Die Utopie der Form«, in Lettre International, 106, Herbst 2014, S. 67.

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»Meistens qualifizieren sich die neuen künstlerischen Leiter mehr durch ihre Virtuosität im Verkauf eines beliebigen Produkts als durch ihre Innovationskraft und Kreativität bei der künstlerischen und inhaltlichen Gestaltung der Spielpläne.« 55

Die Untersuchung folgt von hier an der Frage, was es mit dieser Zeitgenossenschaft auf sich hat und ob Innovation zum Kriterium werden kann, um dem Musiktheater zu mehr Zeitgenossenschaft zu verhelfen.

55 | Mortier, Gerard: »Dramaturgie einer Leidenschaft«, Bärenreiter Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel, 2014, S. 8ff.

Musiktheater in Deutschland und Frankreich. Innovative zeitgenössische Modelle

3. Kriterien für die praktische Untersuchung »Jeder Begriff der Geschichte ist stets mit einer bestimmten Erfahrung der Zeit verbunden, die er impliziert, die ihn prägt und die es hier zu erklären gilt. Jede Kultur ist gleichermaßen zuallererst eine bestimmte Erfahrung der Zeit, und eine neue Kultur ist nicht möglich ohne eine Veränderung der Erfahrung.«1

3.1 Zeitgenossenschaft Michael von zur Mühlen, Chefdramaturg und Mitglied der Intendanz der Oper Halle, konstatiert, dass »eine Kunstform, deren Repertoire maximal 15 Prozent zeitgenössisch ist, seine Lebendigkeit verloren hat«.2 Die Zuschreibung »zeitgenössisch« wird schnell und oft ohne tiefere Überlegung verwendet. In diesem Teil der Arbeit soll die Theorie des Begriffes »Zeitgenossenschaft« von dem italienischen Philosophen Giorgio Agamben3 eingeführt werden, bevor diese Begrifflichkeit am gegenwärtigen Musiktheater praktische Anwendung findet.

Giorgio Agamben: Was ist Zeitgenossenschaft?4 In der Einführungsvorlesung, die der politische Philosoph Giorgio Agamben 2006/2007 an der Facolta di Arte e Design in Venedig hielt, stellte er seinen Studenten die Frage: »Was ist Zeitgenossenschaft?« 1 | Agamben, Giorgio: »Kindheit und Geschichte«, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M., 2004. 2 | Vgl. Von zur Mühlen (2017), S. 27. 3 | Giorgio Agamben, ital. Philosoph (*1942). 4 | Vgl. Agamben, Giorgio: »Was ist Zeitgenossenschaft?«, e. in: »Nacktheiten«, Verlag nottetempo, Rom, 2009.

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In seiner Annäherung an den Begriff verweist Agamben auf Friedrich Nietzsches5 »Unzeitgemäße Betrachtungen«, die dieser 1874 veröffentlichte. Nietzsche bestimmte darin, dass das Zeitgenössische das Unzeitgemäße sei und verortete den Anspruch der Zeitgenossenschaft als eine Entkoppelung von der Gegenwart.6 Für Agamben sind hierbei der Aktualitätsbezug und die Unabhängigkeit der Betrachtung von Relevanz. Agamben greift dies auf und definiert das »spezielle Verhältnis des Zeitgenossen zur Gegenwart«: man ist Teil von ihr und dennoch ermöglicht einem ein Abstand zur Gegenwart, diese beobachten zu können. Explizit festgelegt ist auch, wer sich nicht zeitgenössisch nennen darf. Dabei handelt es sich um Menschen, die »restlos in ihrer Epoche aufgehen« und diese nicht reflektiert betrachten. Nach Agamben ist die Einteilung der Zeitgenossenschaft wie eine Idealform eines freidenkenden und unabhängigen Geistes, der in der Lage ist zu reflektieren, sich aber nicht für andere Zwecke einnehmen lässt. »Zeitgenössisch ist derjenige, der seinen Blick fest auf seine Zeit richtet, um nicht deren Glanz, sondern deren Finsternis wahrzunehmen.« 7

Dies beinhaltet für den Zeitgenossen, dass dieser sich der Schattenseiten bewusst ist und auch das Negative in seinen Blick aufnimmt, unabhängig davon, wie verschwindend klein es nur zu sehen ist. Als letztes bestimmt Agamben, dass es als wichtigste Fähigkeit des Zeitgenossen zu erachten ist, die Zeit zerlegen zu können und mit anderen Zeiten in Verbindung zu bringen. Agamben geht es aber nicht darum, dass sich der Zeitgenosse zu einem Beobachter entwickelt, der sich durch die Absonderung auf eine höhere Ebene als seine Gegenwart stellt. Ihm geht es darum, auf der Schwelle der Gegenwart zu bleiben und durch den Abstand eine inhaltliche Klarheit in den eigenen Wahrnehmungen zu ermöglichen. Daraus ergibt sich das Denk-Ideal, was nach Agamben notwendig ist, um an einen Idealzustand der Wahrnehmung und der Erkenntnis zu gelangen. Für diesen sind aber die Verbindung mit der eigenen Zeit und die abstrahierende Betrachtung der Erkenntnisse aus der Vergangenheit notwendig. 5 | Friedrich Nietzsche, dt. Philosoph (1844-1900). 6 | Vgl. Agamben (2010), S. 22. 7 | Agamben, Giorgio (2010), S. 26.

3. Kriterien für die praktische Untersuchung

»Zeitgenosse darf sich nur derjenige nennen, der sich nicht vom Glanz seines Jahrhunderts blenden lässt, dem es gelingt, seine Schattenseiten, seine tiefste Dunkelheit wahrzunehmen.« 8

Wenn fortan in dieser Arbeit von dem zeitgenössischen Musiktheater die Rede ist, soll die Einführung von Agambens Verständnis an dieser Stelle als Grundlage dienen. Auf bauend auf Agambens Betrachtung des Zeitgenössischen soll eben in dieser Arbeit nicht das untersucht werden, was nur der Gegenwart entspricht und so fälschlicherweise nach Agambens Eingrenzung den Titel »zeitgenössisch« vor Musiktheater trägt. Vielmehr geht es in der Auswahl der Beispiele um einen Bezug zum Begriff »Zeitgenossenschaft«, im Sinne eines Bewusstsein der »Schattenseiten« der Gattungshistorie, ein distanziertes Bewusstsein zur Gegenwart und diskursives Potential. Auf dieser Basis wird in dieser Arbeit für die Analyse der Fallbeispiele neben dem Kriterium der »Innovation« auch das Kriterium der »Zeitgenossenschaft« angewandt: nicht nur äußerliche Alleinstellungsmerkmale sondern die diskursive Auseinandersetzung mit der Historie von Musiktheater als auch der Reflektion und Auseinandersetzung mit gegenwärtigen künstlerischen Praktiken finden Untersuchung.

3.1.1 Das zeitgenössische Musiktheater Über das zeitgenössische Musiktheater wird in jüngster Vergangenheit viel diskutiert: Arbeitet die Regie sich an dem Repertoire ab? Ist die Regie das Einzige, dass den einzelnen Produktionen das Zeitgenössische attestiert? Was kann das Zeitgenössische im Musiktheater sein? Gibt es diese Zeitgenossenschaft in der Oper noch? Vergleicht man die fachspezifischen deutschsprachigen Feuilletons und die Berichte der Kritiker, könnte man meinen, dass die verantwortlichen und künstlerischen Akteure sich permanent an der Frage nach Zeitgenossenschaft in der Oper abarbeiten. Faktisch ist dem nicht so. Denn bereits bei einem genaueren Blick auf die Spielpläne fällt auf, dass die nach außen vermarkteten Versuche nach Neuerungen des Repertoires, nach progressiven Regiehandschriften oder wagemutigen Formaten als eine große Marketing-Blase meist binnen kürzester Zeit zerplatzen. Denn für 8 | Agamben, Giorgio (2010), S. 27.

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eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Anspruch zeitgenössisch zu arbeiten, reicht es nicht aus, auf dem Spielplan ein einzelnes zeitgenössisches Werk (d.h. ein Werk, das mindestens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts uraufgeführt wurde) zu haben. So hat z.B. die Oper Leipzig für die kommende Spielzeit 2017/2018 neben den großen Repertoire-Bestsellern als modernes Stück »Herzog Blaubart« von Bela Bartok9 platziert. Das ist aber schon der Höhepunkt der Versuche jüngere Werke einzuführen. Andere Formate als die großen Opern auf der großen Bühne finden sich gar nicht im Spielplan. Dies ist ein typisches Beispiel dafür, wie Spielpläne gestaltet werden. Ein Zitat von Detlev Brandenburg aus der Werkstatistik der deutschsprachigen Theater der Spielzeit 2014/2015 hierzu: »Unter den 20 meistgespielten Schauspielwerken finden sich zwölf zeitgenössische (nach 1945 uraufgeführte) Stücke, unter den 20 meistgespielten Opern ist dagegen nicht ein zeitgenössisches Werk.«

In detaillierten Zahlen veranschaulicht sich die dramatische Situation noch weiter: in derselben Spielzeit machten lediglich 649 von insgesamt 4.978 Vorstellungen den Anteil der Vorstellungen aus, die zeitgenössische Werke spielten. Bezogen auf die Gesamtzuschauerzahlen der Spielzeit 2014/2015 bedeutet dies, dass lediglich 1,71  Prozent der Zuschauer den Anteil der Besucher an uraufgeführten Opernwerken ausmachen.10 So konstatiert Michael von zur Mühlen: »Die Oper hat gerade im Hinblick auf ihr Material wichtige Entwicklungen und Produktionsweisen gegenüber den zeitgenössischen darstellenden Künsten verpasst.«11

Hier liegt genau die Verknüpfung zu Agambens Begrifflichkeit, wer oder was ein Zeitgenosse ist. Das Musiktheater, wie es mehrheitlich in der Praxis zur Aufführung kommt, scheint dies nicht zu haben, wenn man Von zur Mühlen und den vielen anderen kritischen Experten Glauben schenken darf. So scheint ein Faktor der Zeitgenossenschaft an dem veralteten 9 | Béla Bartók, ung. Komponist (1881-1945). 10 | Vgl. Brandenburg (12/2016), S. 48. 11 | Von zur Mühlen (2017), S. 27.

3. Kriterien für die praktische Untersuchung

Material zu liegen. Richard Wagner formulierte seine Zukunftsvision für die Oper wie folgt: »Der Erzeuger des Kunstwerkes der Zukunft ist niemand anderes als der Künstler der Gegenwart, der das Leben der Zukunft ahnt, und in ihm enthalten zu sein sich sehnt. Wer diese Sehnsucht aus seinem eigensten Vermögen in sich nährt, der lebst schon jetzt in einem besseren Leben – nur einer aber kann dies: – der Künstler.«12

Mit einer Einführung von mehr zeitgenössischen Werken allein ist es nicht getan. Die Art und Weise, mit der Auftragswerke vergeben werden, ist vielfach in sich so veraltet oder – mit den Worten von Agamben ausgedrückt – stehen diese neuen Kompositionen im Glanz ihrer Zeit oder der Vergangenheit und können in fast allen Fällen keinen Anspruch auf Zeitgenossenschaft für sich erheben.13 Gerard Mortier14 nannte dies 2009 bereits die notwendige Erhöhung des Risikos, indem alte Gewohnheiten verworfen werden und unerschütterlich auf Professionalität zu bestehen.15 Richard Wagner argumentierte deshalb für eine stärkere Präsenz des Künstlers. Die aktuelle Situation bedarf einer Annäherung an die Zeitgenossenschaft auf allen Ebenen und nicht nur aufs künstlerische Werk im Sinne der Komposition bezogen, sondern das Überwinden von Hierarchien und etablierten Rollenmustern »zugunsten eines kollektiven Arbeitens«. »Der Raum kann nur gemeinschaftlich und ohne Angst für etwas Neues geöffnet werden.«16

Neben dem künstlerischen Inhalt und der Umsetzung auf der Bühne muss in die Betrachtung auch die Struktur der Institution und der Produktionsprozess unter dem Begriff der Innovation berücksichtigt werden. 12 | Wagner, Richard: »Oper und Drama, tredition GmbH Verlag, Hamburg, 1852, S. 335. 13 | Vgl. Brandenburg (2017), S. 50. 14 | Gerard Mortier, belg. Opernintendant (1943-2014). 15 | Vgl. Mortier, Gerard: »Dramaturgie einer Leidenschaft«, Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel, 2014, S. 10. 16 | Vgl. Von zur Mühlen (2017), S. 28.

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3.2 Innovationsprozesse Der Titel dieser Arbeit beinhaltet den Begriff »Innovationsprozess«. Innovation leitet sich von dem lateinischen Wort »innovare« ab, was »erneuern« heißt. Der Begriff »Innovation« bezeichnet die »Idee, die etwas Neuartiges darstellt«.17 Der Vorgang der Innovation vollzieht sich prozesshaft. »Erst der gesamte Prozess, von der Planung über die Erforschung und Erfindung bis hin zur Vermarktung bzw. Umsetzung, kann als Innovationsprozess und sein Ergebnis als Innovation bezeichnet werden.«18

3.2.1 Theorie der Innovation Innovation lässt sich aus verschiedenen Perspektiven betrachten und ist gegenwärtig einer der tragenden Leitbegriffe in der Ökonomie.19 Etabliert hat sich der Begriff zuerst in der Wirtschaftswissenschaft, wo Innovationen als unverzichtbare Voraussetzung für Fortschritt und Entwicklung gelten und damit eng verknüpft sind, um das eigene Dasein legitimieren und ein Alleinstellungsmerkmal schaffen zu können. Das digitale Wörterbuch der deutschen Sprache zeigt im Wortprofil von Innovation alle Wörter an, die im deutschen Sprachgebrauch am häufigsten mit dem Wort Innovation verwendet werden. Aus der Summe dieser Worte lassen sich ebendiese Eigenschaften von Innovation ablesen.20 17 | Burr, 2004, in: »Paradigmen der Innovationsforschung: veränderte Rollen der Akteure«, Juni 2011, Fraunhofer Institut, S. 4, Quelle: www.isi.fraunhofer.de/isi -wAssets/docs/t/de/vorlesungen_us/7_Paradigmen_der_Innovationsforschung _Frietsch.pdf (13.08.2017). 18 | Grzpp, 1997, S. 15, in: »Paradigmen der Innovationsforschung: veränderte Rollen der Akteure«, Juni 2011, Fraunhofer Institut, S. 4, Quelle: www.isi.fraunho fer.de/isi-wAssets/docs/t/de/vorlesungen_us/7_Paradigmen_der_Innovations forschung_Frietsch.pdf (13.08.2017). 19 | Vgl. Weber, Susanne: »Innovation und »Schöpferische Zerstörung (J.A. Schumpeter), Fernuniversität Hagen, 2000/2011, S. 5. Quelle: www.fernuni-ha gen.de/PRPH/webinn.pdf (01.08.2017). 20 | Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache: Wortprofil zu Innovation, Quelle: https://www.dwds.de/wb/Innovation (13.08.2017).

3. Kriterien für die praktische Untersuchung

3.2.2 Joseph A. Schumpeter »Revolutionen brauchen eine tragende Idee, wenn sie etwas anderes sein sollen als mehr oder minder pompöser Unfug. Die Zeit der sozialen Entwicklungen muss eine Idee geboren haben, die lebensnotwendig und übermächtig ist und auf irgendwelche Hemmungen in der sozialen Organisation stößt. Werden solche Hemmungen mit einem Ruck gewaltsam niedergerissen, statt langsam vom Strom der sozialen Dinge weggeschwemmt zu werden, so ist das eine Revolution.« 21

Die Einführung des Begriffes Innovation geht auf den österreichischen Ökonom Joseph Alois Schumpeter zurück. Dieser führte den Begriff in der »Erklärung des Konjunkturzyklus« 1927 ein. Der Wirtschaftsexperte Oswald Metzger fasst Schumpeter zusammen: »Nur durch Innovationen, die aber gleichzeitig Bestehendes zerstören, können sich Unternehmen neu im Markt durchsetzen oder im marktwirtschaftlichen Wettbewerb auf Dauer bestehen.« 22

Darunter versteht Schumpeter die Herstellung eines neuen Produktes oder einer Produktqualität, die Einführung einer neuen Produktionsmethode, die neue Erschließung eines Marktes und neuer Bezugsquellen und die Durchführung einer Neuorganisation. Ein zentrales Merkmal der Innovation benennt Schumpeter in ihrem spontanen Ursprung und in ihrem diskontinuierlichen Auftreten. Sie ist somit Ausdruck einer Dynamik, die ihre Anpassung fordert. Diese nennt er die »schöpferische Zerstörung«. »[…] so vollziehen sich Neuerungen in der Wirtschaft doch nicht so, dass erst neue Bedürfnisse spontan bei den Konsumenten auftreten und durch ihren Druck der Produktionsapparat umorientiert wird […], sondern so, dass neue Bedürfnisse

21 | Schumpeter, J.A.: Schriften zur Ökonomie und Soziologie, Suhrkamp Berlin, 2016, S. 167. 22 | Metzger, Oswald: »Schöpferische Zerstörung durch Innovation«, Quelle: www.insm-oekonomenblog.de/11666-schoepferische-zerstoerung-durch-innova tion/ (23.07.2017).

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den Konsumenten von der Produktionsseite her angezogen werden, so dass die Initiative bei der letzteren liegt […].« 23

Das Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung (ISI) leitet für die gegenwärtige Nutzung von Innovation eine gesteigerte Anforderung an Bildung und Qualität ab, da die Komplexität moderner Produkte und Prozesse ein tiefes fachliches Wissen erfordert, was den Bedarf sowohl an multidisziplinärer Teamkonstellationen als auch an neuen kreativen Strukturen für mehr Eigenverantwortlichkeit und Unabhängigkeit erhöht.24 In der Wirtschaftswissenschaft dienen vier Dimensionen heute als Definition: »1. Inhaltlich (Was ist neu?), 2. Subjektiv (Für wen ist es neu?), 3.  Prozessual (Wo beginnt und endet die Innovation?), 4.  Normativ (Ist neu erfolgreich?)«.25 Vier Charakteristika der Innovation dienen weiterhin der Unterscheidung und Kontrolle: 1. Neuartigkeit: Alles, was eine Erweiterung des Erfahrungs- und Wissenstandes darstellt. 2. Unsicherheit/Risiko: Ein Merkmal für Innovation, weil die Neuartigkeit über wenig bis keine Erfahrungen verfügt. 3. Interdisziplinarität: Innovationen sind komplex in ihrer Anlage, vereinen verschiedene Bereiche im zeitgleichen Prozess und sind mitunter kompliziert. Die Innovation fordert Anpassung. 4. Konfliktpotenzial: Die Veränderungen infolge der Innovation rufen nicht selten Konflikte hervor. Zusammenfassend werden Innovationen durch folgende Merkmale definiert: Erstmaligkeit, Einmaligkeit, neuartige Zweck-Mittel-Kombination,

23 | Fraunhofer ISI, Seite 13. Quelle: www.isi.fraunhofer.de/isi-wAssets/docs/t/ de/vorlesungen_us/7_Paradigmen_der_Innovationsforschung _Frietsch.pdf (03.08.2017). 24 | Vgl. Fraunhofer ISI, S. 14. Quelle: www.isi.fraunhofer.de/isi-wAssets/docs/ t/de/vorlesungen_us/7_Paradigmen_der_Innovationsforschung _Frietsch.pdf (03.08.2017). 25 | Vgl. Hauschildt (2004), S. 22f.

3. Kriterien für die praktische Untersuchung

Komplexität, Unsicherheit sowie bewusste Wahrnehmung der Zielgruppe.

3.2.3 Innovationsprozess und Musiktheater In zwei kürzlich erschienen Publikationen, die sich mit Innovation und Theater befassen, wird deutlich, dass die Motivation und die Notwendigkeit von Innovationsprozessen im freien Theater und im öffentlichen Theater unterschiedliche Situationen beschreiben. Während im öffentlichen Theater die sogenannten Innovationskräfte immer erst zum Einsatz kommen, wenn ein Betrieb akut von Schließung oder Finanzkürzungen bedroht ist, hat sich hingegen im Freien Theater ein Innovationsdenken etabliert, dass von der Projektidee bis zur Umsetzung von zentraler Bedeutung ist.26 Matthias Rebstock benennt als »Innovationslinie im Feld des freien Musiktheaters« das Potenzial, um im Prozess für die jeweilige Projektidee den Bedürfnissen angepasst die Arbeitsweisen neu zu erfinden. Dies verhindert, gleichbleibenden Abläufen folgen zu müssen und die Prozesse vom inhaltlichen Gegenstand ableitend zu entwickeln.27 Dazu wird Georges Aperghis zitiert: »Les expériences les plus anciennes ne te servent pas. […] Je veux me lancer dans des aventures nouvelles, les plus difficiles parce qu’il n’y a pas une expérience.« 28

Thomas Schmidt verweist in seinem Werk »Theater, Krise und Reform. Eine Kritik des deutschen Theatersystems« auf die Krise der Organisation und darauf, dass Innovation erst zum Einsatz kommt, um »Krisensymptome abzuschwächen« oder die Krise aus Mangel an Innovationskraft entsteht. Schmidt sieht, dass sich durch die »Innovationskraft« eine »neue und wachsende künstlerische Qualität« entwickelt, um sowohl in den Wettbewerb mit anderen Theatern zu treten als auch »angesichts der wachsenden gesellschaftlichen Herausforderungen neue Themen zu be-

26 | Vgl. Schmidt (2017), S. 214. 27 | Vgl. Rebstock, in: Brauneck (2016), S. 585. 28 | Interview von Rebstock, Matthias, in: Rebstock, Matthias/Roesner, David: »Composed Theatre«, Intellect Ltd, 2011, S. 239.

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wältigen und neue Formate und Zielgruppen zu entwickeln (Migration, Diversität, Gender und Inklusion u.a.).«29 Dies präzisiert er noch auf den künstlerischen Inhalt bezogen: »›Innovationskraft‹ im Zuge der Entwicklung neuer Texte und Stoffe, um neue Kompositionen und Choreographien oder innovative Interpretationen bekannter Materialien und Stoffe oder bereits gespielter Werke, immer im Kontext gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen, entstehen zu lassen.« 30

und verweist weiter auf die Notwendigkeit dieser künstlerischen Innovationen, damit die bestehende Krise des Theatersystems nicht weiter dazu führt, dass das öffentliche Theater mit den Entwicklungen des freien Theaters nicht mehr mithalten kann.31 Entgegen des Umgangs mit Innovation in der Ökonomie soll es bei der Betrachtung von künstlerischer Innovation nicht um wirtschaftlichen Erfolg gehen. Für die Betrachtung von Innovation im Rahmen dieser Arbeit geht es um Alleinstellungsmerkmale im künstlerischen Inhalt, im Entstehungsprozess und in den Produktionsbedingungen und in der weiterführenden Frage, ob diese beispielhaften Elemente für eine Reform der kulturpolitischen Rahmenbedingungen in sich tragen.

Innovation – das Rezept für die Oper der Zukunft? Innovation ist keine neue Errungenschaft der Gegenwart. Wie bereits aufgezeigt, versuchen sich seit Jahrzehnten Betriebsstrukturen unter dem Suchbegriff der Innovation neu zu finden, zu restaurieren, zu reformieren. Innovation kann sich in Bezug auf Theater auf die ästhetische Darstellung beziehen, was bereits in dieser Arbeit in Bezug auf das Musiktheater anhand der ästhetischen Entwicklungen im Musiktheater (Kapitel 1.1.1) genauer in seiner historischen, aber auch ästhetischen Entwicklung erläutert wurde. Insbesondere sorgte hier in den letzten Jahren die Weiterentwicklung bzw. die Abgrenzung zum inzwischen etablierten Regietheater für Furore. Häufig kam es zu diesen künstlerischen Handschriften durch grenzüberschreitendes Arbeiten. Einflüsse aus der bildenden Kunst bzw. Performancekunst waren hier wegweisend. Der 29 | Vgl. Schmidt (2017), S. 214. 30 | Schmidt, (2017), S. 214. 31 | Vgl. Schmidt, (2017), S. 214.

3. Kriterien für die praktische Untersuchung

Aktionskünstler und Regisseur Christoph Schlingensief32 erhielt seinen Input aus der bildenden Kunst von Joseph Beuys33. Das Judson Dance Center in New York vereinte in den 1960er Jahren Tänzer und Komponisten, um bestehende Bühnenkonventionen durch neue ästhetische Experimente zu durchbrechen. Weiter übte die Fluxus-Bewegung der AvantgardeKünstler, wie George Maciunas34, Robert Filliou35, Robert Page36, Ludwig Gosewitz37 oder John Cage38, in den 1970er Jahren starken Einfluss aus, um sich von dem Happening abzugrenzen, das in den 1960er Jahren dominierte. »Fluxus war gleichzeitig eine Form der Aktionskunst, eine Bewegung unter Künstlern gegen elitäre Hochkunst und der Versuch, neue kollektive Lebensformen zu schaffen.« 39

Dieser Einfluss ging in der ›Neuen Musik soweit, dass Karlheinz Stockhausen Bezug darauf nehmend sein Musiktheater »Originale« komponierte, als »ein Stück, in dem Schauspieler, Maler, andere Künstler oder eben einfach »originale« Menschen frei in spontanen Aktionen auftreten sollten.« 40

32 | Christoph Schlingensief, 1960-2010, dt. Filmregisseur, Aktionskünstler, Hausregisseur an der Volksbühne Berlin, inszenierte 2004 Richard Wagners Oper »Parsifal« bei den Bayreuther Festspielen. 33 | Joseph Beuys, 1921-1986, dt. Aktionskünstler und Kunsttheoretiker, definierte den »erweiterten Kunstbegriff« und konzipierte die »soziale Plastik« als Gesamtkunstwerk um gesellschaftsverändernde Kunst stärker in den Diskurs und die künstlerische Praxis zu rücken. 34 | George Maciunas, us-amer. Künstler (1931-1978). 35 | Robert Filliou, frz. Künstler (1926-1987). 36 | Robert Page, brit. Konzeptkünstler (1932-2015). 37 | Ludwig Gosewitz, dt. Künstler (1936-2007). 38 | John Cage, us-amer. Komponist (1912-1992). 39 | Hans Belting: Das unsichtbare Meisterwerk: Die modernen Mythen der Kunst. C.H. Beck, 2001, S. 455. 40 | Bauermeister, Mary: »Ich hänge im Triolengitter: Mein Leben mit Karlheinz Stockhausen«, Edition Elke Heidenreich bei C. Bertelsmann, München, 2011.

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Genauso soll es nicht nur um das Endresultat auf der Bühne in Form der Vorstellung von Musiktheater gehen, sondern um den Prozess. In den institutionellen Einrichtungen unter den Fallbeispielen ist die grundlegende Motivation für Innovation und Neuerung eng verknüpft mit dem Beginn einer neuen Intendanz, in den Beispielen der Freien Szene hingegen mit der Kollektivgründung. Die Betrachtung der Beispiele bezieht die Produktionsbedingungen und Grundvisionen von Musiktheater mit ein. Die vier Charakteristika von Innovation (die Neuartigkeit, die Unsicherheit, die Interdisziplinarität und das Konfliktpotenzial) dienen hier ebenso wie der Aspekt der Zeitgenossenschaft nach Giorgio Agamben der folgenden Betrachtung.

4. Fallbeispiele

Wie in den vorherigen Beispielen theoretisch hergeleitet wurde, basiert die Untersuchung der einzelnen Fallbeispiele auf den Kriterien der Innovation und der Zeitgenossenschaft. Bei der Wahl der Fallbeispiele waren zuerst die offensichtlichen Eigenschaften ausschlaggebend, um die jeweiligen Formate auszuwählen. Die genauere Untersuchung im Rahmen der Feldforschung bestätigte, ob sich die anfängliche Annahme von Innovation und Zeitgenossenschaft im Rahmen der Untersuchung erfüllte oder wodurch die ursprüngliche Annahme widerlegt wird. Bei der Wahl der Fallbeispiele war vorab ein wichtiges Kriterium, die verschiedenen institutionellen Strukturen zu berücksichtigen. So wurden neben den Opernhäusern, wie der Oper Halle, der Oper Wuppertal, dem CDN Le Nouveau Théâtre de Montreuil, der Opéra Bastille, auch die freien Kollektivstrukturen das Musiktheaterkollektiv HAUEN UND STECHEN, das Opera Lab Berlin, sowie das deutsch-französische Kollektiv La Cage untersucht. Wie bereits im ersten Teil dargestellt wurde, unterliegt der empirische Teil dieser Arbeit dem methodischen Prinzip der Datenerhebung mittels Interviewführung und Datenanalyse (von Internetauftritten, Programmheften, Rezensionen, Presseartikeln u.v.m.). Diese werden nach einem eigens für diese Arbeit entwickelten Schema ausgewertet.

Vorgehensweise und Schema für die Untersuchung der Fallbeispiele Die Darstellung der einzelnen Fallbeispiele wird in verschiedene Bereiche, die in der Praxis einen wesentlichen Einfluss auf das künstlerische Gesamtergebnis von Musiktheater haben, eingeteilt: die Konzeption und Vision, die strukturellen Rahmenbedingungen und die Kulturpolitik sowie der Standortfaktor und der Überblick über die künstlerischen Inhalte selbst. Damit wird sowohl

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die Kunst als auch der Kontext der Produktionsbedingungen berücksichtigt und lässt Rückschlüsse auf die einzelnen Faktoren zu. Die Darstellung beginnt mit einem Übersichtsblock mit Rahmendaten zu dem jeweiligen Beispiel. Danach findet das Beispiel anhand der einzelnen Unterteilungen konkret Betrachtung. Hauptaugenmerk der Untersuchung liegt danach in der Anwendung der Kriterien »Innovation« mit den Unterkriterien Neuartigkeit, Unsicherheit/Risiko, Interdisziplinarität, Konfliktpotenzial sowie Zeitgenossenschaft. Dies erfolgt erst in tabellarischer Übersicht und anschließend in schriftlicher Ausführung. Zum Abschluss der Untersuchung werden die vier folgenden Fragen auf das jeweilige Beispiel angewandt: 1. 2. 3. 4.

Was ist neu? Für wen ist es neu? Wo beginnt und wo endet die Innovation? Hat das Neue das Potenzial sich langfristig durchzusetzen?

Am Ende jeden Fallbeispiels steht ein zusammenfassender Überblick über das jeweilige Beispiel. Dieses Schema findet Anwendung auf alle Beispiele und mündet in einer konkludierenden Darstellung aller sieben Beispiele, bevor diese in der Diskussion ausgewertet werden.

4. Fallbeispiele

4.1 O per H alle : H e terotopia – die R aumbühne Auf die Oper Halle fiel die Wahl, da die Ausgangslage an dem Opernhaus für das neue künstlerische Leitungsteam nach dem Intendantenwechsel zur Spielzeit 2016/2017 wirtschaftlich und künstlerisch vor großen Herausforderungen stand und die Konzeption dieser Leitung vorsah, neue strukturelle Elemente einzuführen. Eine Erläuterung der Ausgangssituation in Halle: »Die dekretierten, brachialen Zuschusskürzungen des Landes für die Theater in Dessau, Eisleben und Halle erzwingen nicht nur Strukturanpassungen an diesen Häusern, sie gefährden (vor allem in Eisleben und Dessau) bereits die Existenz ganzer Sparten, ja der Institution.«1

Der Neuanfang des Leitungsteams beinhaltet den Versuch mittels neuen Formen und intensivem Austausch mit dem Publikum das Opernhaus in einen lebendigen Ort der Utopie zu verwandeln, der das gemeinschaftliche Theatererlebnis ermöglicht und den Diskurs für neue Formen von Musiktheater öffnet. »So entsteht ein Ort der Utopie, ein Noch-nicht-Ort, und das gemeinsame Erleben des Theaterabends im Hier und Jetzt ermöglicht es, dass dieser Ort für den Moment entsteht, dass diese Handlung tatsächlich stattfindet. Die Raumbühne erweitert diesen Begriff zu HETEROTOPIA, der vielfältige Ort, in dem die Zuschauer mittendrin oder nah dran sind.«2

1 | Lange, Joachim: »Der Neue« in: neue musikzeitung, 30.05.2017, Quelle: https:// www.nmz.de/online/der-neue-in-halle-wird-florian-lutz-2016-neuer-operndirektor (12.08.2017). 2 | Hannak, Sebastian: »THEATER FINDET STADT«, in: Opernzeitung, Erste Ausgabe, Oper Halle, Erste Spielzeithälfte 16/17, S. 2.

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Institution

Oper Halle

Stadt & Größe

Halle an der Saale, 236.991 Einwohner1

Rechtsform

Gesellschaft mit beschränkter Haftung, TOO GmbH Halle (seit 2008), vereint die Oper Halle mit dem neuen theater Halle, der Staatskapelle Halle, dem Puppentheater als Mehrspartenhaus mit jeweils einem künstlerischen Leiter pro Sparte

Betriebsstruktur

Repertoire-System

Kulturpolitische Förderung

Stadt Halle und Land Sachsen-Anhalt

Finanzierung

2017: 9.053 Mio. Euro (Landesmittel) und 20,698 Mio. Euro (städtische Mittel); Eigeneinnahme-Soll: 11 Prozent2

Leitungsmodell

Die TOO GmbH Halle ist ein Mehrspartenhaus, dem ein kaufmännischer Geschäftsführer vorsteht und jede Sparte von einem künstlerischen Leiter verantwortet wird. Die Oper Halle wird von einem dreiköpfigen Leitungsteam geleitet.

Anzahl der Mitarbeiter

455 Mitarbeiter (gesamt für die TOO Halle GmbH)3; Künstlerisch Tätige für die Oper: 8 Solisten, 30 Choristen sowie Gäste

Bezahlung der Mitarbeiter

Größtenteils tariflich festgelegt im Haustarifvertrag

Bespielbare Bühnen

Große Bühne im Opernhaus (672 Sitzplätze), Operncafé, Foyer

Probebühne

Zwei hauseigene Probebühnen, ein Orchesterprobesaal

Konzeptionsbeginn

Juni 2015 (nach der Benennung des Intendanten)

Produktionsbeginn

01.08.2016 (mit einem Vorlauf von einem halben Jahr für Vorproben und Werkstattanfertigungen)

Motivation

Künstlerisches Neuausrichtung und neues Publikum gewinnen

Vision

Einen lebendigen Ort der Utopie schaffen, der das gemeinschaftliche Theatererlebnis ermöglicht und den Diskurs öffnet.

Ziel

Neue Formen von Musiktheater mit neuen strukturellen Möglichkeiten etablieren, um ein breiteres und jüngeres Publikum für die Kunstform zu gewinnen.

4. Fallbeispiele

4.1.1 Vision und Konzeption »Und wenn sich, wie hier in der Stadt, so wenig Leute für Oper interessieren, ging die Überlegung weiter, wie man das hinkriegen könnte, dass sich doch mehr Leute angesprochen fühlen.« 3

In der Opernzeitung zur Spielzeiteröffnung wird Klaus Zehelein4 zitiert, der sagt, dass es um die Erfahrung des sozialen Wesens im Bereich der Ästhetik und um die Frage geht, wie der ästhetische Raum geöffnet werden kann, um das aufzugreifen, was die Menschen gesamtgesellschaftlich umtreibt und betrifft.5 Dieses Bestreben spiegelt sich in den drei Schwerpunkten wieder, die der Konzeption des ersten Spielplans zu Grunde liegen: 1. Gesellschaftliche Relevanz 2. Gegenwartsbezug in den künstlerischen Inhalten 3. Personelle Umstrukturierung Die Nachricht, die dabei an die Stadt und die Bewohner gesendet werden soll, ist, dass »das Theater ein in sich laufend änderndes System«6 ist.

Konzeption Diese drei Themenbereiche finden sich konkret in der Konzeption der Spielzeitplanung wieder. Die gesamte Spielplangestaltung setzt bewusst auf einen Bruch zu bisherigen Spielplänen des Opernhauses Halle, wo in der Vergangenheit mit Barockopern, der Aufführung von Wagners »Ring des Nibelungen« und vielen Operetten eher auf Repertoire und Unterhaltung gesetzt wurde.

3 | Lutz, Florian; aus einem Interviewgespräch mit der Verfasserin, 28.11.2016, Halle. 4 | Klaus Zehelein, dt. Dramaturg, Theaterwissenschaftler und Opernintendant (*1940) 5 | Vgl. Zehelein, Klaus, zitiert nach Hannak (2016/2017), S. 2. 6 | Hannak (2016/2017), S. 2.

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1. Auftakt-Festival: Heterotopia Die inhaltliche Zielsetzung wird vereint in dem Bühnenkonzept des Eröffnungsfestivals »Heterotopia«, wo eine Raumbühne gleichzeitig der Oper, dem szenischem Konzert, dem Ballett, dem Schauspiel und den Konzerten als Bühnenraum dient. »Das Theater als eine Form des Erlebens ist darin eine wichtige und revolutionäre Errungenschaft für ein neues zeitgemäßes und politisches Musiktheater, das von den Menschen im Hier und Jetzt, im Halle unserer Zeit ausgeht.« 7

Zur Eröffnung der neuen Spielzeit mit der neuen Intendanz erfolgte ein Eröffnungsfestival basierend auf dem Gedanken von Michel Foucault über »Heterotopie« als eine realisierte Utopie eines anderen Ortes. Während dieses Festivals fanden alle Neuproduktionen im gleichen Bühnenraum, der »Raumbühne«, statt. 2. Diskussionsreihen Gesprächsformate werden im regelmäßigen Turnus durchgeführt. Das sind neben etablierten Formen wie dramaturgischen Einführungen und Publikumsgespräch im Anschluss an Vorstellungen die Gesprächsreihe »Agitation und Revolte«, in der Experten verschiedener Disziplinen eingeladen werden eine Produktion des Spielplans mithilfe ihrer Fachperspektive anders zu beleuchten. 3. Interdisziplinarität: die Diskursreihe »Das Kunstwerk der Zukunft« Die performative Diskursreihe »Kunstwerk der Zukunft« dient neben der inhaltlichen Abhandlung zu Richard Wagners Begriff »Kunstwerk der Zukunft« und Karl Marx Werk »Das Kapital« der interdisziplinären und grenzüberschreitenden Verknüpfung und Auseinandersetzung von Künstlern an der Schnittstelle zwischen Performance, Musiktheater, Bildender Kunst und Poesie. In der ersten Spielzeit gibt es sechs Ausgaben, mit jeweils zwei Terminen. 4. Etablierung neuer Strukturen Eine personelle Umstrukturierung dient der Einführung von flexibleren Strukturen, um neue künstlerische Arbeitsweisen umsetzen zu können. 7 | Lutz, Florian: Spielzeitheft 2016/2017, Oper Halle, S. 2.

4. Fallbeispiele

Das Leitungsteam, bestehend aus Florian Lutz, Veit Güssow und Michael von zur Mühlen, setzt sich aus den Bereichen Regie und Dramaturgie zusammen. Mit Beginn der Spielzeit wird der neue Kurs auf die Ansprache eines jungen Publikums, auf die Etablierung außergewöhnlicher Bühnenformen von Musiktheater und auf die Kontinuität im Diskurs des zeitgenössischen Musiktheaters ausgerichtet. Der inhaltlichen Zielsetzung getreu eröffnet das Leitungsteam mit dem Festival »Heterotopia«, bei dem eine Raumbühne mehreren Produktionen gleichzeitig dient und das Opernhaus über 14 Tage in ein Total-Theater verwandelt. Hierbei wird die Raumbühne in allen neun Neuproduktionen jeweils so verwandelt, dass der Zuschauer sie aus einer anderen Perspektive erlebt. Aus dem »breiten Spektrum an Genres und Gattungen der darstellenden Kunst« soll ein neuer Dialog zwischen den Sparten und Kunstformen entstehen und erwachsen, der bisher so an der Oper Halle nicht stattgefunden hat.8 Das erste Spielzeit-Motto heißt »ALLES BRENNT!«. Hier positioniert sich die neue Leitung der Oper zum Opernhaus, aber insbesondere bezeichnet es die inhaltliche Auseinandersetzung der Stücke auf dem Spielplan mit den »Konflikten und gesellschaftlichen Brandherden« als ein Lebensgefühl vieler Menschen im Sommer 2016:9 »Die Welt scheint aus den Fugen geraten, der gesellschaftliche Zusammenhalt steht auf dem Prüfstand und im ideologischen Durcheinander des öffentlichen und medialen Diskurses »brennt alles«.10

4.1.2 Strukturelle Rahmenbedingungen und Kulturpolitik 2008 wurde aufgrund finanzieller Einsparungen beschlossen, dass die Kulturbetriebe Oper, Staatskapelle, Puppentheater und Schauspiel in eine GmbH umgewandelt werden sollen. Dies bedeutet eine Überführung der eigenständigen Kultureinrichtungen Oper Halle/Staatskapelle Halle, Kulturinsel und Thalia Theater in die Organisationsstruktur eines 8 | Vgl. Lutz (2016/2017), S. 1. 9 | Vgl. ebd. 10 | Vgl. ebd.

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Mehrspartenhauses namens »Theater, Oper und Orchester GmbH Halle« (kurz: TOO GmbH Halle). Damit gingen erhebliche Veränderungen einher: mit den finanziellen Einsparungen und durch die Reduktion der in der Staatskapelle Halle beschäftigten Musiker um ein Drittel als auch eine Reduktion der Solisten ist die künstlerische Qualität des Opernhauses einem Risiko ausgesetzt. Es besteht ein Zwiespalt zwischen dem Versuch trotzdem eine permanente Spielfähigkeit im bestehenden Repertoire-System vorzuweisen und gleichzeitig bringt diese die Gefahr der Überarbeitung der vorhandenen Mitwirkenden.11 Eine Tatsache, die dem kulturpolitischen Beschluss von 2008 widerspricht: »Bei den künstlerischen Ensembles der Oper Halle verbieten sich Stellenreduzierungen weitestgehend, da sie die künstlerische Leistungsfähigkeit erheblich beeinträchtigen würden und ein ausreichendes Angebot nicht mehr gewährleistet wäre.«12

Demnach sollte die Ensemblestruktur weitestgehend von den Kürzungen verschont bleiben, um die Spielplangestaltung im Repertoirebetrieb aufrechtzuerhalten: »Mit den Neuinszenierungen der nächsten Jahre muss hier der Wiederaufbau eines mehrjährigen Repertoires als Grundlage für ein ausreichendes und abwechslungsreiches Spielangebot angestrebt werden, welches weit gefächert sein sollte, um das Haus für breitere Publikumskreise attraktiver zu machen.«13

Hier zeigt sich deutlich, dass neben der Neugewinnung eines breiteren Publikums ebenso die Fortführung des Repertoire-Systems vom Land Sachsen-Anhalt und der Stadt Halle gewünscht ist und erhalten werden soll. Für die Gewinnung neuer Publikumsgruppen wird die Erschließung neuen Publikums bestehend aus schulischem Publikum sowie auch potenziellen Besuchern aus dem Umland benannt: 11 | Vgl. Stadt Halle: »Beschlussvorlage«, 20.11.2008, S. 14, in: Stadtratsbeschluss vom 28.11.2008 Quelle: www.halle.de/de/Kultur/Kulturpolitik/SanierungTOOH/ (09.08.2017). 12 | Vgl. ebd. 13 | Ebd. S. 18.

4. Fallbeispiele

»[…] dass bei stärker auf die Publikumsgewinnung ausgerichteter Spielplanung und verstärkter Öffentlichkeitsarbeit durchaus noch Besucherpotenzial erschlossen werden können. Vor allem im Umland, aber auch mit den Schulen sind hier noch erhebliche Reserven zu erschließen. Angesichts gegenläufiger Tendenzen, die z.B. in der demografischen Entwicklung oder anderer Faktoren zu sehen sind, wäre es jedoch vermessen, für die nächsten Jahre von einer erheblichen Steigerung der Besucherzahlen auszugehen.«14

Dieser Beschluss ist somit die Unterstützung von Seiten der Kulturpolitik und nimmt den Entwicklungen zur Publikumserschließung mit dem Bewusstsein über deren langsame Prozesshaftigkeit den Druck eines schnellen Erfolgs. 2014 hat das Land Sachsen-Anhalt weitere Kürzungen der Finanzierung beschlossen. Das hatte zur Folge, dass der bis dahin amtierende Intendant Axel Köhler seinen Vertrag nicht verlängerte: »Ich werde nicht zum Totengräber des Ensembles der Oper Halle.«,

so Axel Köhler.15 Dr. Ines Brock, Fraktionsvorsitzende BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN äußerte sich: »Es kann und darf nicht passieren, dass die Intendanten zu ›Abbauverwaltern‹ degradiert werden.«16 Axel Köhler verwies auf die Nachbarländer Sachsen und Thüringen und spitzte die Haltung Sachsen-Anhalts gegenüber der eigenen Theaterlandschaft zu: »Die haben ihre Theateretats angehoben, weil die begriffen haben, dass lebendige Kultur – und zwar die, die jeden Abend Leben auf die Bühne bringt – ein wichtiger Standortfaktor ist.«17

14 | Ebd. S. 19. 15 | www.mz-web.de/3191482, 2016, (gesehen am 04.07.2017). 16 | Ebd. 17 | Eger, Christian: »Alex Köhler: Das trage ich nicht mit!«, 14.04.14, Quelle: www. mz-web.de/3191482, 2016, (gesehen am 04.07.2017).

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In Sachsen-Anhalt zeigen die Fakten eine Reduzierung der Mitarbeiter: Ausgehend von im Jahr 2008 noch 23 Solisten sank die Anzahl erst 2013 auf nur noch 15 Solisten18 und schließlich auf in der Spielzeit 2016/2017 nur noch acht fest engagierten Solisten. Dies belegt, dass sich eine deutliche Diskrepanz zwischen den kulturpolitischen Forderungen und gleichzeitig ihren Maßnahmen ergibt und bedeutet für die künstlerische Praxis erhebliche Veränderungen. Unter den folgenden kulturpolitischen Bedingungen musste die neue Intendanz der Oper Halle beginnen: • • • •

reduzierte Anzahl an Solisten Sparauflagen und wachsendes Finanzdefizit eine Einspielquote von 11 Prozent die Auflage der Gewinnung neuen Publikums.

Findungsverfahren für den neuen Intendanten Thorsten Maß, Leiter des Berliner Theatertreffens von 1978 bis 2001, wurde zum Vorsitz der Findungskommission benannt. Aus zehn finalen Kandidaten fiel die Wahl auf den freischaffenden Regisseur Florian Lutz. Der Spielplan der Vorjahre an der Oper Halle entsprach nicht mehr der gewünschten künstlerischen Qualität. »Der Spielplan der Oper setzte in den letzten Jahren ansonsten allzu sehr aufs Leichte und auch Seichte, vermied szenische Herausforderungen, lieferte bestenfalls routinierte Meterware.«19

Hauptkriterien für die Wahl waren neben der künstlerischen Konzeption auch die Bewerbung selbst, die auf programmatische Weise dem Opernhaus ein schärferes Profil geben sollte. So hieß es in der Mitteldeutschen Zeitung: »Man muss künstlerisch ein Alleinstellungsmerkmal haben, das sich von Leipzig abgrenzt. Man kann nicht mehr versuchen, alles zu machen. Es müssen Schwerpunkte gesetzt, Publikum geworben werden.« 20 18 | Stiska (2013). 19 | Lange (30.05.2017). 20 | N.N.: Mitteldeutsche Zeitung, 29.05.2015, Quelle: www.mz-web.de/halle-saale/nachfolger-von-axel-koehler-steht-fest-regisseur-florian-lut z-wirdopern-intendant-in-halle-1672986 (12.08.2017).

4. Fallbeispiele

Künstlerische Leitung: Florian Lutz, Veit Güssow & Michael von zur Mühlen Florian Lutz wurde ab der Spielzeit 2016/2017 als neuer Intendant an die Oper Halle berufen. Im Alter von 37 Jahren übernahm er die künstlerische Verantwortung. Seit 2006 arbeitete Lutz als freischaffender Regisseur in der Freien Szene und an Stadttheatern. In Halle selbst hatte er vor seinem Amtsantritt bereits drei Mal gearbeitet. Seine Regiehandschrift wird von der Presse als provokant bezeichnet. Dies schien den Politikern in Halle zu gefallen und somit fiel die Entscheidung auf Lutz und seine Bewerbung, die ungewöhnliche Spielformate vorsah. Lutz selbst nennt es eine ungewöhnliche Entscheidung, dass er als junger Regisseur für die Intendanz berufen wurde.21 Doch die Auslastungszahlen zum Zeitpunkt des Berufungsverfahrens lagen bei 62 Prozent und die »Faktenlage sprach für eine Neuerfindung, um mehr Leute an das Haus zu binden, eine bessere Auslastung zu erreichen und Einnahmen einzuspielen«.22 »Die Spielplankonzeption in der Bewerbung sah vor, eine Kontroverse in der Stadt auszulösen durch auf neue Richtungen verweisende Inszenierungsformate, auf der Basis von dem Versuch eines zeitgenössischen Musiktheaterdiskurses und nicht nur einer Repertoireverwaltung.« 23

Nach der Benennung zum Intendanten entwickelte Florian Lutz gemeinsam mit den Regisseuren Michael von zur Mühlen und Veit Güssow die Konzeption des gleichberechtigten Leitungsmodells.24 Michael von zur Mühlen, Teil des Leitungsteam, benennt die neue Ausrichtung: »Eine andere Oper braucht nicht zuletzt andere Organisationsstrukturen und die fangen bei der Leitung an. Die Zeit der Patriarchen ist vorbei, Kunst lässt sich nicht von oben verordnen.« 25

Vom Oberbürgermeister Bernd Wiegand wurde unterstrichen, dass die Stadt Halle einen neuen ästhetischen Auf bruch wolle und von Florian 21 | Lutz, Interviewgespräch, 28.11.2016, Oper Halle. 22 | Ebd. 23 | Lutz, Interviewgespräch, 28.11.2016, Oper Halle. 24 | Ebd. 25 | Von zur Mühlen (2017), S. 27.

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Lutz erwarte die Kunstform in die neue Zeit zu transportieren. Programmatisch sollte mit einem »in die Moderne gerichteten Profil« ein junges Publikum für die Oper begeistert werden.26

Kriterien des Leitungsmodells Abbildung 2: Oper Halle Leitungsteam (v.l.n.r.) Veit Güssow, Florian Lutz, Michael von zur Mühlen

Foto: Anna Kolata

Das dreiköpfige Team trifft gemeinsam die Entscheidungen. Hierfür wird jede Entscheidung einer maximalen Qualitätsprüfung unterzogen. Jedes Leitungsmitglied erweitert die gesamte künstlerische Perspektive um jeweils neue Kompetenzbereiche: Finanzkontrolle, Mitarbeiterführung, Teambuilding, u.v.m. Eine klassische autoritäre Leitungsstruktur wird durchbrochen und das Team wird eingesetzt mit dem Ziel die qualitative Arbeit vor allem in den künstlerischen Belangen zu erhöhen. Durch das dreiköpfige Leitungsteam verstärkt sich die Rückkopplung zu den einzelnen Gewerken. Ziel ist die Stärkung der Zusammenarbeit der verschiedenen Abteilungen. Die Haftung liegt dennoch allein bei dem Intendanten, der juristisch das Opernhaus als alleiniger Leiter verantwortet.

26 | Wiegand, Bernd, zitiert in: Brandenburg (11/2016), S. 37.

4. Fallbeispiele

4.1.3 Überblick über den Spielplan Die Spielzeit 2016/2017 stand unter dem Motto »ALLES BRENNT!« und startete mit dem Eröffnungsfestival »Heterotopia«. Auf die Schwachstellen der vergangenen Jahre eingehend, wie z.B. ein überaltertes Publikum, wurden explizit Formate entwickelt, die über den klassischen Opernbegriff hinausgehen und sich an ein breites Publikum richten. Das Eröffnungsfestival »Heterotopia«27 sollte hier bereits eine hohe Publikumsauslastung erreichen. »Unsere Formate HETEROTOPIA ebenso wie DAS KUNSTWERK DER ZUKUNFT unterstreichen neben ihrer bemerkenswerten sinnlichen und haptischen Qualität auch ein bewusstes inhaltliches Engagement: das Bewusstsein des realen Erlebnisses, das sich in einer Versammlungsstätte mit vielen anderen Menschen vollzieht, erzählt fast zwangsläufig immer auch von politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen und Krisen unserer Zeit.« 28

Auswahl Künstler und Stücke Unter den beteiligten Künstlern der ersten Spielzeit waren viele namenhafte Vertreter verschiedener Kunstgattungen, vor allem bekannt durch ihre interdisziplinären Arbeitsweisen. Hierzu zählte bspw. der Künstler Thomas Goerge29 und der aus Halle stammende Autor Clemens Meyer30. Dieser wurde zum Performer für »Stallgespräche Halle: Ich werde eine Oper bauen« im Rahmen des Eröffnungsfestivals und interpretierte die Spielplanankündigung als »eine anarchistische Mixtur aus Lesung, Gesprächen, Videoeinspielungen und politischen Bezügen«31.

27 | Lutz, Interviewgespräch, 28.11.2016, Oper Halle. 28 | Lutz, in: Hannak (2016/2017), S. 2. 29 | Goerge, Thomas; dt. Künstler und Kostüm- und Bühnenbildner (*1973). 30 | Meyer, Clemens; dt. Schriftsteller (*1977). 31 | Schulze, Mathias: »Stallgespräch« Clemens Meyer begeistert mit Montagewerk« in: mitteldeutsche zeitung, www.mz-web.de/24833274, 30.09.2016, (gesehen: 10.07.2017).

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»Das ist das Material, das von uns zerschlagen und verändert werden will. Nur so kann aus toter Substanz lebendige große Kunst werden.« 32

Weiterhin waren neben Opernregisseuren wie Jochen Biganzoli auch Namen wie die der Regisseurinnen Katja Czelnik und Thriza Bruncken, der Komponistin Sarah Nemtsow und dem Librettisten Dirk Laucke, auf dem Spielplan vertreten. Als Reaktion auf die Tatsache, dass zeitgenössische Stücke auf den Spielplänen der Opern im deutschsprachigen Raum unterrepräsentiert sind, sticht die Oper Halle mit gutem Beispiel heraus: der Einteilung entsprechend, dass Stücke mit einer Uraufführung nach 1945 als zeitgenössisch gelten33, waren in Halle im Spielplan 2016/2017 insgesamt 16 zeitgenössische Produktionen vertreten. »Auf ganz vielen Ebenen versuchen wir das Versäumte nachzuholen, neu zu erfinden oder auch alte Sachen, die es schon gab, wiedereinzuführen.« 34

Tabellarische Spielplanübersicht zur 1. Spielzeit der Oper Halle Titel

Komponisten/ Urheber

Uraufführung

Genre

Anzahl der Vorstellungen

»Der fliegende Holländer«

Richard Wagner

1843

Oper

11

»Wut«

Elfriede Jelinek

2016

Schauspiel

7

»Kein Schöner Land«

Katja Czelnik

2016

Musikalische Heimatbeschwörung

5

»Stallgespräche: Ich werde eine Oper bauen«

Clemens Meyer

2016

Performance

1

»Farben der Moderne«

Konzeption der Oper/Staatskapelle Halle

2016

Konzertmarathon

1

32 | Vgl. ebd. 33 | Vgl. Brandenburg (12/2016), S. 48ff. 34 | Lutz, Interviewgespräch, 28.11.2016, Oper Halle.

4. Fallbeispiele

»Groovin’ Bodies«

Ralf Rossa

2016

Ballett

8

»Peter und der Wolf«

Sergej Prokofjew

1936

Musikalisches Märchen

8

»Tosca«

Giacomo Puccini

1900

Oper

8

»Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny«

Kurt Weill

1930

Oper

9

»Spring Awakening«

Frank Wedekind

1906

Musical

15

»Sacrifice«

Sarah Nemtsow

2017

Oper

8

»Luther – Das Kantatenprojekt«

Veit Güssow

2017

Szenische Kollage mit Musik

6

»Werther«

Ralf Rossa

2017

Ballett

5

»Herzogs Blaubarts Burg + Bremer Freiheit«

Bela Bartok + Rainer Werner Fassbinder

1918 + 1971

Oper + Schauspiel

5

»Jephta«

Georg Friedrich Händel

1752

Oratorium

4

»Kunstwerk der Zukunft 1-7«

Diverse Künstler

2016/ 2017

7-teilige Musiktheater-Reihe

14

Gesamtzahl

21

115

Gesamtzahl der Werke nach 1945

16

60

Davon Gesamtzahl Oper

5

41

Davon uraufgeführt nach 1945

1

8

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Bezieht man in die Rechnung auch alle neuen Formatkreationen mit ein, so liegt der Anteil der zeitgenössischen Werke bei 76,19 Prozent. Das sind immerhin 52,17 Prozent der gesamten Vorstellungen der Spielzeit. Abbildung 3: Überblick der Werke mit Uraufführung vor/nach 1945

Quelle: D. Lübbe

Dieser Spielplan belegt die Neuerungsversuche des Leitungsteams der Oper Halle. Aber nicht nur die Zahlen, auch die jeweiligen Werke und neuen Formatschöpfungen sprechen für sich.

Das Spielzeit-Motto: »ALLES BRENNT!« Eine Imagekampagne, die irritieren möchte.35 So »wollen wir darauf verweisen, was wir glauben, womit sich Oper und Theater beschäftigen sollten: mit den brennenden Themen unserer Zeit«,

so von zur Mühlen.36 Diesem gilt ein starker Fokus auf dem Spielplan, der sich aus drei Säulen zusammensetzt:37

35 | Große (2016/2017). 36 | Pausch, Katja: »Alles Brennt! Aber was?«, 30.09.2016, Quelle: www.mz-web. de/24684640 ©2017, gesehen: 10.07.2017. 37 | Lutz, Interviewgespräch, 28.11.2016, Oper Halle.

4. Fallbeispiele

1. Säule:

Widmet sich des zeitgenössischen Musiktheater in Theorie und Praxis

2. Säule:

Impliziert das klassische Opernrepertoire sowie zwei Wiederaufnahmen aus der vorherigen Intendanz (die Oper »Carmen« und eine Tanztheaterproduktion)

3. Säule:

Schließt partizipative Projekte wie »Luther – das Kantatenprojekt« in der Regie von Veit Güssow zum Reformationsjubiläum ein4

Insgesamt gab es in der ersten Spielzeit zehn neue Inszenierungen und damit deutlich mehr als unter der vorherigen Intendanz. Hierfür gibt der Intendant Lutz zwei Faktoren an, die ein kostengünstigeres Arbeiten ermöglichen: zum einen die neue »Raumbühne« und zum anderen das neue Leitungsteam, bestehend aus drei aktiven Regisseuren, deren eigene Regiearbeiten fester Bestandteil des Spielplans sind.38  »Der Spielplan ist eines der kreativsten Konzepte eines interdisziplinären, diskursiven, gegenwartsbezogenen Musiktheaters, das mir in den letzten Jahren untergekommen ist.« 39

4.1.4 Heterotopia: Der künstlerische Inhalt Im Rahmen des Eröffnungsfestivals »Heterotopia« der Spielzeit 2016/2017 wurde die Bühne zur »weitläufigen MusikTheaterStadt«.40 In dieser sogenannten Raumbühne wurde Musiktheater als eine Utopie von Stadt für den Zuschauer zur greif baren Kulisse und diente knapp zehn verschiedenen Produktionen gleichzeitig als Kulisse (vom großen Opernabend »Der fliegende Holländer« über die musikalische Heimatbeschwörung »Kein schöner Land« und der Uraufführung von »Sacrifice« bis hin zu mehreren Konzerten und Balletten). Die Raumbühne zielte in jedem Stück auf eine Veränderung der räumlichen Anordnung vom Publikum zu den Mitwirkenden ab. In der zu einem öffentlichen Raum transformierten Bühne wurde der Zuschauer zum Teil des Geschehens, wie in »Der fliegende Holländer«, oder nahm in der Mitte des Geschehens Platz, wie z.B. in der Schauspielproduktion »Wut« von Elfriede Jelinek.

38 | Große (2016/2017). 39 | Brandenburg (11/2016), S. 37. 40 | Lutz (2016/2017), S. 1.

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Die Spielplangestaltung setzte bewusst auf einen Bruch zu den bisherigen Spielplänen am Opernhaus in Halle. Dies wurde in der ersten Spielzeit mithilfe des Großprojektes Raumbühne verwirklicht. Das Eröffnungsfestival trug den Titel »Heterotopia«, basierend auf Michel Foucaults41 Theorie. Der Opernzuschauer wurde in der Opernzeitung auf folgende Definition hingewiesen: »He I te I ro I to I pie, […] 2. (Philosophie) (nach M. Foucault) Ort, Zone als tatsächlich realisierte Utopie, in der alle anderen Räume innerhalb einer Kultur zugleich repräsentiert, bestritten oder umgekehrt werden. Gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.« 42

Diese kurze Definition auf der Titelseite der Opernzeitung verwies deutlich auf eine gezielt progressive Auseinandersetzung mit den Werken, die in der Spielzeit 2016/2017 an der Oper Halle zur Aufführung kommen sollten. Ferner sollten gegenwartsbezogene, aktuelle Problematiken im Rahmen der hier konzipierten Raumbühne unter dem Motto »ALLES BRENNT!« einer kontroversen Auseinandersetzung und Diskussion ihre Zuspitzung finden. »Die Welt scheint aus den Fugen geraten, der gesellschaftliche Zusammenhalt steht auf dem Prüfstand und im ideologischen Durcheinander des öffentlichen und medialen Diskurses ›brennt alles‹. Konflikte und gesellschaftliche Brandherde treiben uns um und werden Spielplan und Ästhetik der kommenden Saison maßgeblich prägen.« 43

Lutz führt dies noch weiter aus, indem er sagt, dass die für die Oper Halle konzipierten Formate »Heterotopia« und die Performance-Serie »Das Kunstwerk der Zukunft« neben der sinnlichen und inhaltlichen Komponente zusätzlich noch das zeitgenössische Engagement unterstreichen. In der Rezeption des realen Erlebnisses durch den Zuschauer entwickelt sich ein politischer und gesellschaftsrelevanter Zusammenhang, so Lutz. 41 | Michel Foucault: frz. Philosoph u. Soziologe (1926-1984). 42 | Lutz (2016/2017), S. 1. 43 | Lutz (2016/2017), S. 1.

4. Fallbeispiele

»Das ist eine Erfahrung körperlicher und geistiger Teilhabe. Sie erlaubt auch einen anderen Blickwinkel auf die gesellschaftlichen und demokratischen Zusammenhänge unserer realen Lebenswelt. […] Gleichzeitig macht ein solches Theater einen irrsinnigen Spaß!« 44

Florian Lutz benennt die eigene Arbeit am Haus. Das Leitungsteam würde »brennen für die Kunst« und sie »wollen die Oper Halle mit neuer Glut und kritischem Geist befeuern«.45 In der Raumbühne wurden außerdem die Grenzen bzw. die Hierarchien zwischen Zuschauer und Mitwirkendem einschließlich der Musiker (ohne Orchestergraben) aufgelöst und es entstand eine fiktive »MusikTheaterStadt«.46 Der Raum entwickelte sich zu einer »musiktheatralen Erlebniswelt« mit dem Bestreben, dass die virtuelle Stadt zum Totaltheater würde47. Die Motivation des Bühnenbildners Sebastian Hannak war, einen Raum als Bühne zu entwerfen, der die Interaktion zwischen Publikum und Darstellern ermöglichen würde. Entstanden ist dabei eine Raumbühne, die während der gesamten Spielzeit insgesamt vier Mal eine Fülle von Produktionen, wie Musiktheater, Konzerte, Tanz und Schauspiel, der TOO GmbH Halle beherbergte. »Ein Raum, der verschiedene Stücke und Formate beherbergt, der für 150 bis 500 Zuschauer konzipiert ist, die unterschiedliche Perspektiven auf das jeweilige Bühnengeschehen haben.« 48

Die Idee nach Foucault – einen »Anders-Ort« zu kreieren – war für das neue Leitungsteam Anlass die Oper Halle zum neuen Stadtgespräch werden zu lassen. Mit der entworfenen Raumbühne und dem Eröffnungsfestival schaffte es das Leitungsteam, nach außen den Eindruck eines Großevents zu vermitteln. Durch die gesteigerte öffentliche Aufmerksamkeit sollte der Fokus wieder auf den eigentlichen Gegenstand, nämlich den künstlerischen Inhalt, gerichtet werden. Der Spielplan wurde kontinuierlich von Diskussionsveranstaltungen begleitet, wie auch von der Performance-Se44 | Lutz (2016/2017), S. 2. 45 | Vgl. ebd. 46 | Vgl. ebd. 47 | Vgl. ebd. 48 | Lutz (2016/2017), S. 2.

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rie »Kunstwerk der Zukunft«. Diese spielte eine wichtige Rolle, um die Etablierung neuer Formen von Musiktheater und des künstlerischen Experiments zu erreichen. Neben Neuarrangements fand auch der große Opernklassiker Richard Wagners »Der fliegende Holländer« seinen Platz in Heterotopia. Den Zuschauern werden das Theater und seine Bühne als öffentlicher Raum zur Disposition angeboten, um das Theater als eigenen Erfahrungsraum nutzen, erleben und in Besitz nehmen zu können.

4.1.5 Standort Halle An den heutigen Standort der Oper Halle, dem Universitätsring, ist das Stadttheater 1886 mit neuer Spielstätte gezogen. Damals erlebte Halle durch die positiven Auswirkungen der Industrialisierung einen Aufschwung, was sich anhand des neuen Theaterbaus, der repräsentativ für diese Epoche ist, erkennen lässt. Der Neubau verfügte über viele technische Neuerungen, die die Vorstellungen auf der Frontalbühne erleichterten: die Funktion des Eisernen Vorhanges und elektronischen Strom für die Beleuchtung. Damit zählte das Stadttheater Halle im 20. Jahrhundert zu dem »technisch modernsten Theater Europas neben der Staatsoper Budapest«.49 1945 wurde das Opernhaus durch den Krieg zerstört. Erst 1951, sechs Jahre nach Kriegsende, wurde das Theater wieder in Betrieb genommen und in den folgenden Jahren erfolgten umfassende Modernisierungen.50 Der Lyriker Clemens Meyer benennt die Oper Halle in seinem in der Wochenzeitung DIE ZEIT erschienen Essay als »eines der schönsten Opernhäuser, das ich kenne«.51 Meyer schildert Halle weiterhin als »eine von der Kunst der Jahrhunderte so munter durchspülten Saalestadt, wo es heute anscheinend vielerorts an Mut und auch an Offenheit fehle«.52 49 | Hannak, Sebastian, »Theater findet Stadt. Die Raumbühne HETEROTOPIA an der Oper Halle«, erschienen in: Opernzeitung, Ausgabe I, Erste Spielzeithälfte 16/17, Oper Halle, 2016, S. 2. 50 | Vgl. Halle im Bild, Quelle: https://www.halle-im-bild.de/fotos/freizeitein richtungen/landestheater-halle (12.08.2017). 51 | Meyer, Clemens: »Hallesche Kometen«, 02.07.2017, Quelle: www.zeit.de/ 2017/23/halle-saale-oper-ostkurve (gesehen am 04.07.2017). 52 | Ebd.

4. Fallbeispiele

Wenn man sich die Auslastungszahlen der vergangenen Jahre an der Oper Halle betrachtet, so wird Halles akutes Problem deutlich: die Besucher in die Oper zu locken. Dabei sprechen die sichtbaren Faktoren von Halle dafür, dass die Stadt ein wichtiges Zentrum von Kultur und auch dem entsprechenden Publikum haben sollte: • mit 20.000 Studenten verfügt die Universitätsstadt Halle über eine hohe Anzahl Studierender, • Burg Giebiechenstein Kunsthochschule Halle gilt als eine national anerkannte Ausbildungsstätte für bildende Künstler, • die intensive Erhaltung des Erbes von Georg Friedrich Händel (Händelfestspiele weisen eine internationale Reputation auf). So fasst Florian Lutz zusammen: »Deprimierend waren in jüngster Zeit die Auslastungszahlen, gerade zu den 20.000 Studierenden der Martin-Luther-Universität gab es zu wenig Kontakt.« 53

4.1.6 Auswertung Kriterium

Merkmal

Neuartigkeit

Konsequent programmatische Umsetzung des Spielplans mit neuen Formaten und Diskursveranstaltungen. Raumbühne als Utopie der Theaterwelt und als Antwort auf die finanzielle Situation. Konsequente Haltung zum Leitungsmodell gegenüber Kulturpolitik und Zuschauern.

Unsicherheit

Der hohe Auslastungsdruck und die gleichzeitig radikale Spielplanveränderung bedingten das Risiko, dass das Konzept nicht aufgehen und die notwendige Einspielquote nicht erfüllt werden würde.

Interdisziplinarität

Viele Formate sind gattungs- und genreübergreifend angelegt, auch über die eigene Musiktheatersparte hinaus.

Konfliktpotenzial

Presse und Stammpublikum reagierten innerhalb kürzester Zeit auf den Spielplan. Die Leitung musste sich öffentlich stark positionieren, um den Spielplan der zweiten Spielzeit der eigenen Vision getreu verteidigen zu können.

53 | Hanssen, Frederick: »Volle Kraft voraus«, in Opernwelt Nr. 11 November 2016, S. 15.

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Zeitgenossenschaft

Sowohl das Spielzeitmotto als auch die meisten Inszenierungen wiesen einen starken Bezug zur Gegenwart auf. Darüber hinaus wurde der Diskurs um das zeitgenössische Musiktheater mit historischem Bezug geführt und die Schwierigkeit der neuen Formen offensiv behandelt.

Neuartigkeit Bemerkenswert war die konsequente und stringente Verknüpfung des Spielzeit-Mottos im Spielplan. In keiner einzigen Inszenierung oder in weiteren Formaten wurde davon Abstand genommen und sich stattdessen einzig dem »Schönen« gewidmet. Dies erforderte ein hohes Maß an radikalem Durchsetzungsvermögen gegenüber Presse, Publikum und Kulturpolitik, um den eingeschlagenen künstlerischen Kurs konsequent durchhalten zu können. Außerdem wurde für die angespannte Finanzsituation eine Anfangslösung versucht, indem infolge der Konzeption der Raumbühne mehrere Inszenierungen räumlich miteinander gekoppelt wurden und somit Einsparungen im Bereich der Ausstattung erreicht wurden. Auch der offensive und geradlinige Umgang mit dem eingeführten Leitungsmodell sah sich massiven Angriffen ausgesetzt. Insbesondere gegen Ende der Spielzeit wurde dieses Modell – neben der künstlerischen Ausrichtung des Spielplans – zum Gegenstand einer kulturpolitischen und hausinternen Debatte. In dieser lehnte sich der kaufmännische Geschäftsführer gegen die künstlerische Leitung auf und versuchte zu einem vorgezogenen Zeitpunkt Auslastungszahlen zu veröffentlichen, die dem Image der Oper Schaden zugefügt hätten. Dazu bestand jedoch während der noch laufenden Spielzeit keine faktische Notwendigkeit. Infolgedessen wurden sowohl die Fortsetzung der künstlerischen Arbeit als auch der Verkauf der letzten Vorstellungen einem hohen Risiko ausgesetzt.

Unsicherheit/Risiko Die große Unsicherheit und gleichzeitig das Risiko dieses Beispiels lag darin begründet, dass aufgrund der vorherrschenden extrem angespannten finanziellen Situation sowie der für die bestehenden Besucheraktivitäten (die vorherige Auslastung lag unter 65 Prozent) hohen Einspielquote von 11 Prozent ein starker Druck auf der Auswertung der ersten Spielzeit lastete. Im Bewusstsein aller Beteiligten gab es lediglich zwei Möglichkeiten, mit denen die Spielzeit beendet werden konnte: zum einen der Er-

4. Fallbeispiele

folg des künstlerischen Konzeptes und eine damit einhergehende ausreichende Besucherauslastung oder zum anderen ein Misserfolg und damit eine rasche Abwicklung der Intendanz, wie das Beispiel der Intendanz in Trier mit seiner weiteren Verschuldung 2016 zeigte. Risikoreich war insbesondere die Orientierung des progressiv auf neue Formen von Musiktheater ausgelegten Spielplanes an studentische Zielgruppen, die mit ermäßigten Eintrittspreisen Zutritt zum Opernbesuch bekommen können. Daraus resultierte die Notwendigkeit, dass die Anzahl studentischer Opernbesucher zur Erfüllung der Einspielquote weitaus höher sein muss, als die der normal zahlenden Besucher. Darüberhinaus gab es als weiteres Risiko die Möglichkeit, dass der neue Spielplan die Anzahl der knapp 2.000 Abonnenten verringern könnte.

Interdisziplinarität Generell ist die Idee der Raumbühne bereits ein Indiz für Interdisziplinarität. In dem Versuch einen Bühnenraum gemeinsam für verschiedene künstlerische Gattungen und Neuschöpfungen nutzen zu können, ist der interdisziplinäre Gedanken bereits verankert. Das Beispiel zeigt, dass nicht nur eine Inszenierung in einem jeweils eigenen Bühnenbild stattfinden kann, sondern auch hier Überschneidungen zu anderen künstlerischen Konzeptionen möglich sind. Mit dem Bewusstsein für künstlerische Vielfalt und die Qualität von Genregrenzen sprengenden Kreationen widmeten sich die künstlerisch Schaffenden den interdisziplinären Arbeitsweisen. Insbesondere trat die Diskursreihe »Das Kunstwerk der Zukunft« hervor, wo sich aus den Perspektiven der verschiedenen künstlerischen Bereiche einem Thema gewidmet wurde. Hier wurde jeweils eine Folge von einem anderen künstlerischen Team gestaltet. In der ersten Folge war es ein Team aus Opernsänger, Schauspieler aus der Schauspielparte, Videokünstler und Dramaturgie, die gemeinsam eine Performance entwickelt haben. In späteren Folgen waren es Wissenschaftler, bildende Künstler, Komponisten, Bühnenbildstudenten, der Kinderchor und weitere Solisten. Dieses Format fand in einem Sicherheitsrahmen statt, d.h., dass zwei Aufführungen pro Folge im Operncafé für bis zu bis 150 Zuschauern angeboten wurden. »Bühnenbildner Christoph Ernst entwirft einen Kunstraum, der eine Ästhetik des Privaten, des Hinterzimmers, Hobbykellers und Separees zitiert. Es sind Nebenräume und Rückzugsorte der medialen Öffentlichkeit, in die die Funktionalisierung

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noch nicht vollkommen eingedrungen ist. Hier werden Sehnsüchte versteckt ausagiert und krude oder visionäre Weltanschauungen kultiviert.« 54

Abbildung 4: Oper Halle, Die performative Diskussionsreihe »Das Kunstwerk der Zukunft«

Foto: Sebastian Weise

Im Anschluss an die Aufführungen gab es immer Austausch zu dem Gesehenen im Barbereich. Ebenso interdisziplinär war die musikalische Heimatbeschwörung »Kein schöner Land« als Teil von »Heterotopia« angelegt: hier wurden deutsche Kompositionen als politisches Statement gegen die rechtspopulistischen Forderungen der Partei Alternative für Deutschland in ein szenisch-musikalisches Happening verwandelt, in denen Staatskapelle, Schauspieler, Solisten, Performer aus der freien Szene sowie Statisten unter den Zuschauern auf der Bühne gemeinsam wirkten.

Konfliktpotenzial Bei einem Intendantenwechsel ist das mediale Interesse am Anfang sehr hoch und die Berichterstattung von absoluter Relevanz für den Start und die Reputation des Theaterbetriebes in den Folgejahren der Intendanz. Weiterhin liegt ein Risiko darin vorhandenes Stammpublikum durch den neuen Spielplan und der Änderung der künstlerischen Handschrift zu verschrecken.

54 | Lutz (2016/2017), S. 1.

4. Fallbeispiele

Auf Anfrage der Verfasserin erteilt das Opernhaus Auskunft zur Bilanz der Reaktionen der abgeschlossenen Spielzeit 2016/2017. Mit Neuorientierung der künstlerischen Formate wurde das Ziel erreicht, ein regionales, nationales und internationales Medienecho zu erlangen. Nach zu Spielzeitbeginn noch überwiegend positiver Resonanz seitens des Publikums wurde die Kritik im Laufe der Spielzeit zunehmend lauter gegenüber den künstlerischen Handschriften, wie z.B. mit der Premiere von Kurt Weills Oper »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« in der Regie von Michael von zur Mühlen. An diesem Beispiel zeigt sich eine Diskrepanz zwischen Presse- und Besucherstimmen. Im Gegensatz zur überregionalen Besprechung bis hin zur New York Times war das Publikum verunsichert und kritisierte die Arbeit stark. Wohingegen die Inszenierung überregional bis in die New York Times55 Besprechung fand waren die lokalen Besucher stark, in Form von Leserstimmen bis hin zu parteiischen Lokaljournalismus56 und direkten Beschwerden bei dem Opernleitung. Hier wählte das Leitungsteam einen transparenten Lösungsweg und lud zum öffentlichen Publikumsgespräch »Welche Oper braucht Halle?«. Diese Veranstaltung zeigte das Bestreben des Leitungsteams, die Bedürfnisse und Vorbehalte der Bevölkerung im Hinblick auf die künstlerische Arbeit zu diskutieren und allem voran eine ebenbürtige Haltung als Opernleitung der Bevölkerung gegenüber einzunehmen. Diese Publikumsdiskussion macht deutlich, dass das Leitungsteam und ihre künstlerische Ausrichtung starken Rückhalt bei vielen Besuchern haben.57 Festzuhalten ist: der Bürger in Halle äußert sich zu seiner Oper, denn die ist ihm nicht gleichgültig. Sowohl durch die kritischen Stimmen als auch dem Stadtgespräch, das durch den Spielplan der Oper Halle geweckt wurde, ist das Opernhaus wieder stärker ins Zentrum der Stadt Halle gerückt. So teilt die Opernleitung mit, dass sie verstärkt Rückmeldung bekommen haben 55 | Vgl, Barone, Joshua: »Kurt Weill: How Germany Finally Unearthed a National Treasure«, 09.03.2017, in: New York Times, Quelle: https://www.nytimes. com/2017/03/09/ar t s/music/kur t-weill-composer-of-the-threepenny-opera-how-germany-finally-unearthed-a-national-treasure.html (13.08.2017). 56 | Vgl. Färber, Detlev: »Kommentar zur Oper Halle«, 24.04.2017, Quelle: www. mz-web.de/halle-saale/kommentar-zur-oper-halle-eigenlob-trotz-katastrophaler-zahlen--mehr-arroganz-geht-kaum-26756534 (10.08.2017). 57 | Vgl.ebd.

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von Besuchern, die sich aufgrund des neu entstandenen Stadtgespräches erstmals wieder zu einem Opernbesuch entschlossen haben. Gleichzeitig blieben Abonnementkündigungen nicht aus. Hier ist beobachtungswürdig, ob diese durch eine Umstrukturierung der Publikumsgruppen aufgefangen wird oder ob sich ein nachhaltiger Publikumsverlust daraus ergeben wird. Die Möglichkeit, Konflikte austragen zu können, lag vor allem an der Einführung vielfältiger Gesprächsformate. Hier war von der Verfasserin zu beobachten, wie offen kritische Punkte angesprochen, diskutiert und gelöst wurden. So wurde z.B. im Anschluss an die Premiere von »Herzog Blaubarts Burg/Bremer Freiheit« durch kritische Besucher bei der Premierenfeier gefordert, das neu gestaltete Operncafés wieder zurückzubauen: »Ganz ungewöhnlich für eine Premierenfreier bekam der Ausstatter auch da noch eine Portion ab und das offene Plädoyer einer herzerfrischend dazwischenrufenden Zuschauerin für einen Rückbau des von ihm verantworteten Operncafés.« 58

Zeitgenossenschaft Die Indikatoren der Zeitgenossenschaft liegen in der inhaltlichen Umsetzung des Spielzeit-Mottos. »Das Unbehagen an den politischen und sozialen Selbstverständlichkeiten unseres Alltags und die Suche nach einem neuen Musiktheater der Zeitgenossenschaft und der thematischen Relevanz findet seinen Ausdruck nicht zuletzt in dem zentralen Thema der Kampagne, mit der wir den Neustart der Oper Halle flankieren: ALLES BRENNT!« 59

So werden »Konflikte und gesellschaftliche Brandherde« maßgeblich Teil des Spielplans. Auf die Gegenwart und die jüngere Vergangenheit Bezug nehmend wird ein Spielplan gestaltet, der sich sowohl ethnischen Fragen, wie durch die Uraufführung der Oper »Sacrifice« über die Konvertierung zum Islamischen Staat, als auch politischen Fragen, wie die als künstlerische Performance gestaltete musikalische Heimatbeschwörung als 58 | Lange Joachim: »Im Experimentiermodus«, 08.05.2017, Quelle: https:// www.nmz.de/online/im-experimentiermodus-oper-halle-kombiniert-herzog-blaubarts-burg-von-bartok-mit-fassbinders- (13.08.2017). 59 | Lutz (2016/2017), S. 1

4. Fallbeispiele

mission statement 60 der Oper Halle gegen den lokalen Rechtspopulismus widmet und sowohl den Glanz der Gegenwart als auch den Schatten der Vergangenheit in sich aufgreift. Dieser Bezug zur Gegenwart und Vergangenheit ist lesbarer und inhaltlich greif barer Indikator für die Zeitgenossenschaft der künstlerischen Ausrichtung der Oper Halle. Obwohl die künstlerisch Schaffenden an der Oper Halle mit der eigenen Praxis beschäftigt sind, ist der daraus resultierende Diskurs über das Musiktheater von morgen mit Abstand und reflektierend gestaltet. Der Diskurs um das zeitgenössische Musiktheater wird im Bewusstsein mit der Historie geführt und mit der Schwierigkeit neuer Formen offensiv umgegangen. Der Erfolg des neuen Leitungsteams wurde zum Ende der Spielzeit 2016/2017 öffentlich zur Diskussion gestellt. Grund dafür ist die Veröffentlichung von negativen Wirtschaftsbilanzen durch den Geschäftsführenden Direktor Stefan Rosinski im Mai 2017.61 Der Pressespiegel des Opernhauses umfasst 250 Seiten, der sowohl Rezensionen, Lesermeinungen als auch kulturpolitische Berichte umfasst. Festgestellt werden kann vorab, dass das Interesse der Presse nach dem Auftakt der Spielzeit weiter

60 | Definition in Gabler Wirtschaftslexikon: Mission; Mission Statement; 1.  Begriff: Element des normativen Rahmens eines Unternehmens in dem es den Zweck seines Daseins in Form von Nutzenversprechen gegenüber seinen Anspruchsgruppen darlegt (strategisches Management). 2. Merkmale: a) Orientierungsfunktion: In expliziter Form wird die Soll-Identität des Unternehmens zum Ausdruck gebracht. b) Motivationsfunktion: Die Identifikation der Mitarbeiter mit dem Unternehmen wird verstärkt; eine anspruchsvolle, zugleich aber konsensfähige (und realistische) Zielvorstellung wird formuliert. c) Legitimationsfunktion: Die verschiedenen Interessenten werden über die handlungsleitenden Grundsätze aufgeklärt und diese zugleich begründet. Inwieweit diese Funktionen tatsächlich erfüllt werden können, ist davon abhängig, auf welche Weise die Mitarbeiter in den Prozess der Leitbilderstellung integriert sind und in welchem Umfang das Leitbild im Unternehmen diffundiert und gelebt wird. Quelle: http://wir tschaf tslexikon.gabler.de/Definition/unternehmensleitbild. html?referenceKeywordName=Mission+Statement (12.08.2017). 61 | Vgl. Petraschewsky, Stefan: »Was wird aus den Bühnen Halle?«, 13.06.2017, Quelle: w w w.mdr.de/kultur/themen/theater-halle-f inanzen-streit-100.html (13.08.2017).

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über die gesamte Spielzeit anhielt. So konstatiert der Tagesspiegel nach der Spielzeiteröffnung: »Sein Ziel aber, Musiktheater als eine quicklebendige Kunstform darzustellen, die den Zuschauer emotional förmlich anspringt, hat der neue Intendant dennoch erreicht.« 62

Dennoch hat sich durch die in den Medien geführte Streitdebatte zwischen Geschäftsführer und den künstlerischen Leitern aller Sparten die Diskussion auf den künstlerischen Spielplan der Oper Halle versteift. »Problematisch wird’s, wenn sich der notwendige Streit um die Ästhetik mit einem um die Situation des Hauses verknüpft und dabei eine Debatte angeheizt wird (wie im Regionalteil der Tageszeitung vor Ort), die mit Einnahme- und Zuschauerzahlen Stimmung gegen die Oper zu machen versucht, die man erst am Ende der Spielzeit seriös vergleichen kann und die, wie immer, auch einer Interpretation bedürfen.« 63

Die Situation kulminierte darin, dass die ambitionierte Arbeit des Leitungsteams anhand der Verkaufszahlen kurzfristig gemessen wurde. Dies widerspricht der kulturpolitischen Entscheidung, die 2015 ausschlaggebend für die Wahl des jungen Regisseurs Florian Lutz war. »Aber das war von der Stadt so gewollt. Florian Lutz wurde mit diesem Konzept nach Halle geholt und vom Aufsichtsrat gewählt, in dem auch die großen im Stadtrat vertretenen Parteien eine Stimme haben – gewählt mit der Aufgabe, die Oper auch einem neuen, jüngeren Publikum zu öffnen.« 64

Die Podiumsdiskussion »Welche Oper braucht Halle?« brachte Klarheit in der Haltungsfrage der aktiven Opernbesucher aus Halle und zeigte, dass trotz der finanziellen Not für die an der Diskussion teilnehmende Bevölkerung (nach Angaben des Hauses kamen knapp 400 Besuchern) die Kursrichtung des Leitungsteams weiter unterstützungswürdig ist. 62 | Hanssen, Frederik: »Seesturm an der Saale, 28.09.2017, Quelle: www.tagesspiegel.de/kultur/florian-lutz-inszeniert-den-hollaender-seesturm-an-der-saale/ 14608594.html (12.08.2017). 63 | Lange (08.05.2017). 64 | Petraschewsky (13.06.2017).

4. Fallbeispiele

»Eine Debatte mit zahlreichen leidenschaftlichen – teils euphorischen, teils auch sehr kritischen – Beiträgen zeigte, mit wie viel Offenheit, Neugier und Hoffnung der vom Programm und den Inszenierungen her auch stark umstrittene Start des Trios Florian Lutz, Veit Güssow und Michael von zur Mühlen von vielen halleschen Theaterfreunden begleitet worden ist. Und auch weiterhin begleitet wird.« 65

So bilanziert der Mitteldeutsche Rundfunk die erste Spielzeit unter dem Leitungsteam als durchaus positiv, weil nicht zuletzt die Oper wieder zum Stadtgespräch wurde, wenngleich mit Einschränkungen: »Allerdings ist diese Aufmerksamkeit teuer erkauft. Bislang treue Theatergänger waren teilweise irritiert von den ambitionierten Inszenierungen. Auch der zeitweise komplette Umbau des Zuschauerbereichs zu einer Raumbühne sorgte für Widerstand, brachte aber auch neues Publikum ins Opernhaus. Das führte zu einerBerg- und Talfahrt in den Einnahme-Statistiken und bringt den Geschäftsführer der Theater, Oper und Orchester GmbH Halle (TOOH) ins Spiel.« 66

Abbildung 5: Collage von Clemens Meyer zu seiner Performance: Wir wollen eine Oper bauen

Foto: Clemens Meyer 65 | Färber, Detlev: »Diskussion um die Oper Halle«, 15.05.2017, in: Mitteldeutsche Zeitung, Quelle: www.mz-web.de/26909284, (12.08.2017). 66 | Lies, Theo M.: »Knatsch zwischen Intendanten und Geschäftsführer«, 07. 07.2017, Quelle: www.mdr.de/sachsen-anhalt/halle/finanzloch-tooh-halle-kom mentar-100.html (12.08.2017).

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Schlussendlich bleiben der progressive Spielplan, der auf Kontinuität und Kontroverse ausgelegte Diskurs zum zeitgenössischen Musiktheater als auch die inhaltliche Programmatik und nicht zuletzt die rege Aktivität der Presse genug Beweis dafür, dass hier versucht wird Innovation und Zeitgenossenschaft zur Programmatik der künstlerischen Handschrift zu machen.

Abschluss der Untersuchung des Fallbeispiels der Oper Halle: Was ist neu? • Interesse der Presse: umfasst einen Pressespiegel über 250 Seiten • auf Kontinuität und Kontroverse ausgelegter Diskurs zum zeitgenössischen Musiktheater – und im Dialog mit der Bevölkerung • Reaktivierung der Oper Halle im Stadtgespräch • Neueinführung des gleichgestellten Leitungsteams • Mehrfache Nutzung eines Bühnenraumes (Raumbühne) für mehrere Stücke

Für wen ist es neu? • Die künstlerische Ausrichtung war Neuland sowohl für die hauseigenen technischen Abteilungen als auch für das Stammpublikum. • Das alteingesessene Stammpublikum (inkl. Abonnenten) wurde mit der neuen ästhetischen Vision konfrontiert. • Durch die progressive und radikale künstlerische Programmatik sind die Darsteller auch dem Risiko des Missfallens von Publikum und Presse ausgesetzt. Ein vergleichbarer Spielplan ist aktuell im deutschsprachigen Raum nicht zu finden.

Wo beginnt und wo endet die Innovation? Die Innovation beginnt mit der Bildung des Leitungsteams und der umfangreichen Ausführung der künstlerischen Visionen im Spielplan. Sie ist in diesem Leitungsmodell die Basis des Gesamtkonzeptes und fordert die ganzheitliche Umsetzung von allen beteiligten Mitarbeitern.

4. Fallbeispiele

Hat das Neue das Potenzial sich durchzusetzen? Am Beispiel der Oper Halle zeigt sich deutlich, welche Wechselwirkung eine innovative Konzeption mit der Unterstützung der Kulturpolitik hervorruft. Sowohl die hausinterne (siehe den Konflikt mit dem aktuellen kaufmännischen Geschäftsführer) als auch die kulturpolitische Haltung gegenüber den künstlerischen Arbeiten und dem Führungsstil sind ausschlaggebend für den Erhalt und Werdegang einer künstlerischen Leitung. So kann ein rigoros progressiver Spielplan, wie dieses Beispiel veranschaulicht, nur im Einvernehmen mit den kulturpolitischen Entscheidungsträgern umgesetzt werden. Für den Fall Halle liegt der Vorteil ganz deutlich in der vorausgegangenen Ausgangssituation: die finanzielle Notlage und der stetige Publikumsrückgang. Für die Kulturpolitik war der einzig mögliche Schritt für den Erhalt des Opernhauses eine Neuorientierung mittels künstlerischer Konzeptionen und einem wagemutigen Spielplan. Ohne diese Notsituation wäre es vermutlich nicht zu dem Rückhalt durch die Politik und einem vergleichbaren Neuanfang in der Radikalität, wie es der erste Spielplan belegt, gekommen. Die erste Spielzeit endet mit dem in den Medien breit diskutierten Streit zwischen dem kaufmännischen Geschäftsführer und den künstlerischen Leitern aller Sparten. Insbesondere die Oper ist Gegenstand der Auseinandersetzung. Der Autor Clemens Meyer zieht seine Bilanz aus der Beobachtung des Streites: »Kann man nicht froh sein, dass die Hallesche Oper sich im wahrsten Sinne des Wortes in Bewegung befindet, sie mit vielfältigen Projekten auch einen gesellschaftlichen Diskurs anstrebt? Da wird alles auf Zahlen reduziert, als wären die Kunst, das Theater, die Musik nicht einige der letzten wirklich freien Räume, die wir haben. Und die wir brauchen. Vor allem bei uns.« 67

Ausblick Festzustellen ist, dass die Intendanz trotz vehementer Kritik am Spielplan weiter auf der gleichen künstlerischen Ausrichtung auf baut: neben einigen risikofreien Stücken, wie die Wiederaufnahmen zu »Cosi fan tutte« oder »Die Hochzeit des Figaro«, werden bereits eingeschlagene Wege weiter gegangen und auf künstlerische Handschriften der 1. Spielzeit Bezug genommen und vielfach eine Zusammenarbeit fortgesetzt. Auffällig ist, 67 | Meyer (02.07.2017).

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dass weibliche Regisseure stark vertreten sind. Was auf nationaler Ebene auf den Spielplänen im Musiktheater nicht zum Regelfall gehört, scheint in Halle Normalität zu sein. Unter anderem wird eine weitere Koproduktion mit dem neuen theater Halle in der Regie von der Chefdramaturgin Henriette Högbk angesetzt. Die Uraufführung der Oper »Spiel im Sand« wird von der Crossover-Künstlerin Astrid Vehstedt in Szene gesetzt. Abbildung 6: Uraufführung der Oper »Mein Staat als Freund und Geliebte« von Johannes Kreidler in der 2. Spielzeit 2017/2018

Foto: Falk Wenzel

4. Fallbeispiele

Vertreter des zeitgenössischen Musiktheaters haben sich als Sympathisanten oder Partner loyal an die Seite des Leitungsteams gestellt, wie z.B. der Komponist und Performer Johannes Kreidler, der Autor Clemens Meyer oder der Performer, Regisseur und Bühnenbildner Martin Miotk. Ebenso der Ausstatter Christoph Ernst ist dem Leitungsteam eine sichere Konstante mit seiner rigorosen und deutlich mit der Vergangenheit des Regietheaters brechenden Ästhetik. Das Beispiel der Oper Halle macht deutlich, dass es durchaus möglich ist, mehrere Veränderungen gleichzeitig zu vollziehen, wie die Umsetzung eines an Zeitgenossenschaft orientierten künstlerischen Arbeitens aber auch das zeitgenössische Umdenken und Umsetzten der Leitungsebene in Form einer gleichberechtigten Teamleitung zeigt.

4.2 N ouve au Thé âtre de M ontreuil : das F estival »M esure au M esure « Das Beispiel des Nouveau Theéâtre de Montreuil (NTM) wurde ausgewählt, weil unter der Leitung des Künstlers und Regisseurs Mathieu Bauer das Theaterhaus seit 2011 zum vierten Mal ein Festival in den Spielplan integriert hat, dass sich dem »théâtre musical« widmet. Dies ist in Frankreich ein Alleinstellungsmerkmal und leistet einen wichtigen Beitrag für den Diskurs um das »theâtre musical« auf nationaler und europäischer Ebene. Institution

Nouveau Théâtre de Montreuil, NTM

Stadt & Größe

Montreuil, mit 104 748 Einwohnern, Teil der Métropole Grand Paris

Rechtsform

Gesellschaft mit beschränkter Haftung, frz. Société à responsabilité limitée (SARL), (Stammkapital: 7 622 Euro6)

Betriebsstruktur

Repertoire-System

Kulturpolitische Förderung

Mit dem Status des CDN gefördert durch den Staat und die collectivités territoriales (Körperschaft des öffentl. Rechts)

Finanzierung

Durch das Ministère de la Culture et de la Communication, Ville de Montreuil, Conseil départemental de la Seine-Saint-Denis und weitere Unterstützung durch die Région Île-de-France

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

Leitungsmodell

Direktor Mathieu Bauer, unterstützt von einem administrativen Team

Anzahl der Mitarbeiter

24 Mitarbeiter (Stand der Spielzeit 2016/2017), kein eigenes Ensemble

Bezahlung der Mitarbeiter

Es liegen keine Informationen vor.

Bespielbare Bühnen

2 Bühnen: Salle Jean-Piere Vernant (357 Sitzplätze) & Salle Maria Casarès (150 Sitzplätze)7

Probebühne

1 hauseigene Probebühne

Konzeptionsbeginn

01. Juli 2011 (Beginn der Leitungstätigkeit von Mathieu Bauer)

Produktionsbeginn

Das Festival »Mesure au mesure« existiert seit November 2011 und fand bis 2017 viermal statt

Motivation

Dem théâtre musical eine Plattform zu bieten, verschiedene musikalische Ausdrucksformen und zeitgenössische Oper nebeneinander zu präsentieren

Vision

Experimentell und vielfältig mit Musik zu arbeiten und gleichzeitig eine möglichst hohe Auslastung erreichen

Ziel

Über Musik mit dem Publikum in einen Dialog treten

4.2.1 Vision und Konzeption Vision Abseits der französischen Opernhäuser, die vornehmlich tradiertes Standardrepertoire auf den Spielplan setzen, stehen vor allem experimentelle Komponisten und Künstler auf dem Spielplan, das Festival »Mesure au mesure« sowie eigene künstlerische Neukreationen und Musiktheater. Hierbei versucht der Leiter Mathieu Bauer für das NTM folgende Punkte zu berücksichtigen: 1. Gesellschaftliche Relevanz: Die Gegenwart auf ihre politischen und künstlerischen Entwicklungen zu befragen und Raum für Diskussion zu schaffen. 2. Einen Gegenwartsbezug in den künstlerischen Inhalten herstellen. 3. Dem Genre théâtre musical am NTM einen festen Ort für Produktion und Präsentation zu ermöglichen.

4. Fallbeispiele

Konzeption 4. Festival »Mesure au Mesure«: Ein Festival wird in den Spielplan integriert, dass künstlerische Entwicklungen des théâtre musical zum Thema macht und hierzu Experimente und Gesprächsformaten, wie beispielsweise das RITM (Rencontre international de théâtre musical), anbietet. 5. Politik und Kunst zusammenbringen: Durch die Möglichkeit Künstlerkollektive einzuladen, Produktionen zu koproduzieren, ist es die Absicht im gesamten Spielplan Künstler aus krisenbehafteten Ländern (wie z.B. Griechenland) zu unterstützen und zu programmieren. 6. Interdisziplinarität: Das Programm besteht aus Künstlern verschiedener Gattungsbereiche und Disziplinen mit dem Schwerpunkt auf théâtre musical (60 Prozent eigene Produktionen und Koproduktionen, 40 Prozent Gastspiele). 7. Teilhabe vom Publikum: Partizipative Projekte dienen der Publikumsgewinnung sowie der Einbindung der lokalen Bevölkerung.

4.2.2 Strukturelle Rahmenbedingungen und Kulturpolitik Das NTM wird seit 2000 als Centre Dramatique National (CDN) durch öffentliche Gelder finanziert, (vom Staat, den regionalen und kommunalen Organen, dem Conseil General und der Stadt Montreuil). Das Theater wurde 1989 gegründet und dann 2000 zum CDN ernannt. Der Gebäudekomplex in Montreuil, in dem das NTM heute beherbergt ist, wurde 2007 eingeweiht. Mathieu Bauer ist der zweite Direktor seit der Ernennung zum CDN.68 Ein niederschwelliger Zugang wird durch Eintrittspreise zwischen 8 und 23 Euro ermöglicht.69

68 | Vgl. Nouveau Théâtre de Montreuil: »Le Lieu«, Quelle: www.nouveau-theatre-montreuil.com/fr/theatre/le-lieu (11.08.2017). 69 | Vgl. Nouveau Théâtre de Montreuil: »Tarifs et infos pratiques« in: Saison 2016/2017.

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Abbildung 7: Bildüberschrift: Das Nouveau Theatre de Montreuil

Foto: NTM

Abbildung 8: Mathieu Bauer in seiner Produktion »DJ Set«

Foto: Jean Louis Fernandez

Künstlerische Leitung: Mathieu Bauer Mathieu Bauer bezeichnet sich selbst als Autodidakt, der seine Ausbildung nicht im klassischen Sinne an akademischen Ausbildungsstätten sondern in der Kunst selbst erfahren hat. Seine Arbeit ist geprägt von

4. Fallbeispiele

seinem eigenen künstlerischen Schaffen als Musiker, Autor, Regisseur, Komponist. Vielfach wurden seine Arbeiten ins Ausland eingeladen, z.B. ans Schauspiel Frankfurt. 1989 gründete er die Kompanie Sentimental Bourreau, dessen künstlerischer Leiter er seit 1999 ist. Die Produktionen der Kompagnie wurden regelmäßig eingeladen ins MC93-Bobigny, ins Subsistances in Lyon oder ins Théâtre de la Bastille a Paris. Mit einigen Produktionen der Kompagnie ist Bauer bereits häufig zu Gast in Montreuil am NTM. Am NTM ist er neben seiner Funktion als Direktor auch aktiv künstlerisch als Regisseur tätig und inszeniert pro Spielzeit mindestens eine Neuproduktion (in der Vergangenheit: »Pease kill me«, »Une faille«, »The Haunting melody«, »Shock Corridor«, »DJ set (sur) écoute«).

Inhaltliche Mission 70 Der kulturpolitische Auftrag durch die Regierung an das NTM ist einem CDN entsprechend formuliert: die Neuschöpfung und Verbreitung von zeitgenössischen Formen der darstellenden Künste. Unter der Direktion von Mathieu Bauer wurde dies intensiviert auf Formen, die die Bereiche Theater, Musik, Kino und Literatur miteinander verbinden übertragen. Das théâtre musical findet hier einen besonderen Schwerpunkt, ebenso die Hybridität und Multidisziplinarität, d.h. das vielfältige Formen im NTM eine Bühne bekommen sollen und klassische Gattungsgrenzen übertreten werden. Die inhaltlichen Missionen am Nouveau Théâtre de Montreuil 1.

Stücke, die Fragen und neue Praktiken hervorrufen

2.

Künstler, die die Gegenwart zum Thema machen und den Blick auf die Gesellschaft richten

3.

Sowohl nationale Künstler als auch ausländische Künstler auf dem Spielplan zu vereinen und somit eine geistige Mobilität im Spielplan zu erzeugen

Das Resultat dieser inhaltlichen Leitlinien findet wechselseitig seine Umsetzung in dem Austausch zwischen Produktionen, die an das NTM eingeladen werden und gleichzeitig Gastspielen eigener Produktionen an andere Spielorte im In- und Ausland. Hierbei unterscheidet das NTM zwi70 | Nouveau Théâtre de Montreuil: »Le projet«, Quelle: www.nouveau-theatre-montreuil.com/fr/theatre/le-projet (12.08.2017).

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schen künstlerischen Konzeptionen, die in dem Schutzraum des NTM experimentieren und nicht dem Druck eines großen Publikums ausgesetzt werden, und Produktionen, die sich diesem Publikum bewusst aussetzen und künstlerische Konzeptionen mit dem Publikum teilen. »Il s’agit de faire de ce théâtre à la fois un lieu intime des Montreuillois et un espace de création destiné au plus large public, national et international. Un lieu dédié aux artistes et un lieu de partage tourné vers son territoire, sa ville, son département et vers l’ailleurs.« 71

Le théâtre musical Das NTM ist sich dem nicht ausgeschöpften Potenzial von musiktheatralen Formen und der nicht vorhandenen Präsenz dessen in Frankreich bewusst. Deshalb liegt ein besonderer Schwerpunkt darauf; die dazugehörigen Akteure und Formen sichtbar zu machen und zu stärken. »Le théâtre musical est un genre très dynamique et riche dans sa diversité, bien que sous-représenté en France.« 72

4.2.3 Überblick über den Spielplan Das Spielzeitmotto am NTM der Saison 2016/2017 lautete »Libérons Prométhée«, bezog sich auf das »zivilisiert sein« und nahm Bezug auf die indifferente Angst gegenüber Flüchtlingen, den Attentaten, dem herrschenden Hass und den öffentlich geführten Diskursen der Rechtsextremisten: »Il suffit pour cela de mesurer l’effroi dans lequel nous a plongés la série des attentats, la honte suscité par l’indifférence que nouc avons réservée au sort des réfugiés, la peur que provoquent les discours de haine des extrémistes de tous vords, ou encore la tristesse éprouvée quand on voit toutes les formes d’intelligences et de pensées bafouées ou réprimées.« 73

71 | Nouveau Théâtre de Montreuil: »Le projet«, Quelle: www.nouveau-theatre-montreuil.com/fr/theatre/le-projet (12.08.2017). 72 | Ebd. 73 | Bauer, Mathieu/Bakouri, Fériel: »Libérons Prométhée«, Spielzeitheft 2016/ 2017, Nouveau Théâtre de Montreuil, S. 2.

4. Fallbeispiele

Darauf auf bauend wurde im Spielzeitheft angekündigt, dass die Spielzeit unter folgenden Kriterien entstanden sei: 1.

Eine Auswahl an Stücken und Künstlern, die die Freiheit und die Vorstellungskraft bedienen.

2.

Einen Querschnitt der Vielfalt im Musiktheater sichtbar machen sowie die Mittel und die Historie dessen thematisieren.

3.

Ausländische Künstler einzuladen und den Blick auf die Wirklichkeit durch ihr künstlerisches Schaffen perspektivisch erweitern.

4.

Den Austausch über Genregrenzen hinaus öffnen und die lokale Bevölkerung in die Debatte einbeziehen.

5.

Laien in den Prozess der künstlerischen Neuschöpfungen miteinbeziehen.

Das spiegelte sich in einem vielfältigen Spielplan wieder, der sowohl ausländische und nationale Künstler als auch Produktionen mit Amateuren beinhaltet.

Auswahl der Stücke und Künstler Die Herkunft der Künstler und deren künstlerische Inhalte sind vielfältig. Hier stehen bekannte Namen, experimentelle Handschriften und verschiedene künstlerische Anordnungen auf dem Spielplan nebeneinander. Neben experimentellen Formaten ist immer wieder anhand einzelner Stücke der Bezug zur Gegenwart in den künstlerischen Konzeptionen erkenntlich. So beginnt die Spielzeit mit der Produktion »Le jour du grand jour« vom Théâtre Dromesko, einer renommierten Kompagnie aus Rennes, die Zirkus, Musik und Theater in ihren Arbeiten vereint. Inhaltlich wird provozierend mit der Idee der Hochzeit als »der große Tag« umgegangen und die gesellschaftliche Sichtweise dazu beleuchtet.74 Hier liegt eine Verbindung zu der französischen Zirkus-Tradition sowie ein Verweis auf der Infragestellung des Establishments mittels poetischer Bildsprache. Die zweite Produktion der Spielzeit »Corbeaux« der Kompagnie O um die marokkanische Choreografin Bouchra Ouizguen integrierte in einem mystischen Tanzstück über Raben an jedem Produktionsort neue Laientänzerinnen. Hier wird der Laie, die weibliche Tänzerin, mit den eigenen

74 | Théâtre Dromesko: Beschreibung zu »Le jour du grand jour«, Quelle: www.dro mesko.net/fr/spectacles/le-jour-du-grand-jour (12.08.2017).

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

Erfahrungswerten zum wichtigsten Teil der künstlerischen Gesamtkonzeption.75 So setzt sich die Spielplankonzeption fort. Ein Spielzeit-Motto wie beim Beispiel der Oper Halle spielt hier als eine inhaltliche Haltung eine untergeordnete Rolle und stellte vielmehr eine Leitlinie dar. Deutlich tritt ein Interesse an musiktheatralen Formen hervor, ohne eine Eingrenzung dessen vorzunehmen, was »théâtre musical« im eigentlichen Sinne bedeutet. So benennt der Leiter Mathieu Bauer das »théâtre musical« als etwas, das ab dem Moment entsteht, wo sich eine künstlerische Konzeption, als eine Schreibweise mit einer Dramaturgie, über eine Komposition legt und vereint: »C’est à partir du moment où il y a une écriture, il y a une dramaturgie qui s’appuie sur une partition musicale et non pas textuelle et, on peut considérer que le théâtre musical est là.« 76

Hierfür wird das Festival »Mesure au mesure« in die erste Hälfte des Spielplans integriert und wartet mit einer durch europäische Musiktheaterschaffende prominent besetzten Konferenz auf. Die Arbeit des deutsch-französischen Kollektives La Cage wurde mit einer partizipativen und zeitgenössischen Oper im Zentrum des Festivals neben weiteren musiktheatralen Produktionen platziert. Auffallend sind im Spielplan gegenwärtige Themen als inhaltliche Schwerpunkte, wie z.B. die Griechenlandkrise oder die Präsidentschaftswahlen in Frankreich. Hier positioniert sich das Theater in starker Verantwortung seinen Besuchern und der anliegenden Bevölkerung gegenüber. »On offre une vision du monde différente.« 77

75 | Vgl. Interview mit Bouchra Ouizguen, April 2016, Quelle: https://www.bouch raouizguen.com/corbeauxgl (12.08.2017). 76 | Bauer, Mathieu; Interviewgespräch mit der Verfasserin, Nouveau Theatre de Montreuil, 18.11.2016. 77 | Bauer, Mathieu; Interviewgespräch mit der Verfasserin, Nouveau Theatre de Montreuil, 18.11.2016.

4. Fallbeispiele

Insgesamt mehr als 20 Produktionen mit mehr als 150 Vorstellungen präsentiert das NTM pro Saison und erreicht jährlich etwa 30.000 Zuschauer.78

4.2.4 »Mesure au Mesure«. Der künstlerische Inhalt Das seit 2011 stattfindende Festival ist den Entwicklungen und Formaten dem »théâtre musical« gewidmet. Hier wird das Festival zum Anlass genommen, originäre Produktionen vorzustellen und die Musiktheaterschaffenden aus den verschiedensten Ländern und Disziplinen Europas zu vereinen. Inzwischen hat sich innerhalb des Festivals zusätzlich ein renommiertes Treffen der Musiktheater-Szene, die »rencontres internationales de théâtre musical« (RITM), etabliert. In der Saison 2016/2017 wurden die Künstler und die Stücke nach dem Kriterium der Vielfalt im musikalischen Ausdruck ausgewählt. Als »klassischster« unter den Programmpunkten findet sich die zeitgenössische Oper »Votre Faust« von Henri Pousseur in der Regie von Aliénor Dauchez mit dem Kollektiv La Cage. Der Komponist legte die Oper so an, dass sie variable Elemente enthält und das Publikum mittels einer Abstimmung eine Entscheidung über den Ausgang der Oper treffen muss. Das Opernerlebnis wird für den Zuschauer selbst zu einer Spiegelung über die eigenen Unterhaltungsansprüche. In einer demokratischen Abstimmung entscheidet das Publikum über das Schicksal des Protagonisten.79 »MDLSX« von der Compagnie Motus stellte zudem ein Stück vor, in welchem eine Solo-Tänzerin zu ihrem eigenen DJ Set, bestehend aus Popsongs, ihre eigene sexuelle Identität hinterfragte. Ebenfalls als DJ Set konzipiert, aber mit Live-Musikern, wurde in dem Stück »DJ set (sur) écoute« von Mathieu Bauer anhand der Playliste eine sensible Reflexion und Befragung der Musik vorgenommen. Das Spektrum der Musik reichte von der Feuerwehrsirene bis hin zu durchkomponierte Gesangsarie von Béla Bartók. 78 | Nouveau Théâtre de Montreuil: »Un nouveau Directeur de Production«, Q ue lle: »w w w. s y nde ac .or g /w p - c on t en t /uplo ad s/g r av i t y_ f or m s/4 -35 ad 0a69412dd9b92b7ee3c8e323e908/2016/01/annonce-directeur-des-produc tions_NTDM-jan16.pdf (12.08.2017). 79 | La Cage, Pressemitteilung zu »Votre Faust«, Quelle: https://www.lacage.org/ de/performance/votre-faust-version-francaise/ (12.07.2017).

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

Abbildung 9: Die Produktion »Encyclopédie de la parole«

Foto: Bea Borgers

Die letzte Produktion war »Suite No. 2« von Encyclopédie de la parole unter der Leitung des Künstlers Joris Lacoste. Diese kommt ohne Rollencharaktere oder einer Handlung aus. Einzig das Wort steht hier im Vordergrund. Über mehrere Jahre wurde das Material für diese Produktion an vier verschiedenen Orten auf der Welt aufgenommen, um als Neukomposition von vier Darstellern als »parole chanté« interpretiert zu werden. Durch das präsentierte Klangerlebnis wird der mit der Frage konfrontiert, was zuhören bedeutet. Darüber hinaus lädt das NTM im Rahmen des Festivals zwei Künstler zur Residenz ein. Das Festivalprogramm zeigt wie vielfältig die praktische Annäherung des NTM an den Begriff »théâtre musical« ist. In diesem Beispiel wird deutlich, dass in den vorliegenden künstlerischen Konzeptionen sowohl die Rolle des Zuschauers neu definiert wird (»Votre Faust«) und die aktive Teilhabe am künstlerischen Prozess durch die Konferenz auch in diskursiver Form angeboten wird. Damit lässt sich deutlich der experimentelle und lustvolle Umgang des NTM mit dem »théâtre musical« erkennen und stellt das Alleinstellungsmerkmal der Institution auf nationaler Ebene dar.

4. Fallbeispiele

Rencontres internationales de théâtres musical (RITM) 80 Die RITM fand bereits 2014 im Théâtre des Bouffes du Nord, in den Folgejahren im NTM statt. Die als Expertenkonferenz angelegten Treffen über mehrere Tage beschäftigten sich mit der Definition der hybriden Natur des »théâtre musical« und der Annäherung an diese sowie mit diversen praktischen Beispielen des »théâtre musical«. Die dritte Ausgabe der RITM bezog sich sowohl auf die Historie von Musiktheater als auch auf die Ausbildungsmöglichkeiten dieses Bereiches mit ein. Eingeladen waren Regisseure, Intendanten, Komponisten, Autoren und Musiker, um die Themenstellung gemeinsam über zwei Tage zu diskutieren. Diese Konferenzen dienten neben dem inhaltlichen Austausch und der Bestandsaufnahme über aktuelle Formate auch dem Sichtbarmachen und der Existenz und Vielfältigkeit dieses Genres. 2016 waren Akteure aus Frankreich, Finnland, Belgien, Niederlande, Schweiz, Großbritannien und Deutschland auf dem Podium vertreten.

4.2.5 Standort Montreuil Montreuil ist eine Stadt in der Île-de-France und gehört zur Métropole du Grand Paris (8  Kilometer Distanz zur Notre-Dame in Paris). Montreuil hat derzeit 104.748 Einwohner. Aus dem bis ins Jahr 2000 anhaftenden Ruf, eine Stadt von Proletariern zu sein, ist Montreuil inzwischen raus gewachsen. Gegenwärtig ist Montreuil durch eine starke Diversität verschiedener ethnischer Herkünfte geprägt. Inzwischen gehören insbesondere viele Studenten und junge Arbeitnehmer zum Stadtbild. Neben dem NTM gibt es in Montreuil außerdem eine nationale Musik- und Tanzschule, ein Kino, das musée de l’Histoire vivante, die Galerie ABDC, das centre d’art contemporain u.v.m., sodass ein vielfältiges Kulturangebot vorhanden ist.

80 | Die Teilnehmer an der Konferenz 2016 finden sich hier: www.nouveau-thea tre-montreuil.com/fr/programme/rencontres-theatre-musical_2 (28.08.2017).

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

4.2.6 Auswertung Kriterium

Merkmal

Neuartigkeit

Schwerpunkt Musiktheater, abseits der Opernhäuser

Unsicherheit/Risiko

Eine Nischen-Sparte wie das Musiktheater so präsent wie möglich hervorzuheben

Interdisziplinarität

Zusammenspiel der diversen Künstler und Kompagnien. Einziger roter Faden: Musik

Konfliktpotenzial

Künstlerisches Experiment als Risiko für Erfolg des Hauses

Zeitgenossenschaft

Sowohl die inhaltlichen Themen und der gesellschaftliche Gegenwartsbezug als auch die künstlerischen Auseinandersetzungen

Neuartigkeit Mit seinem Schwerpunkt auf dem »théâtre musical« stellt das NTM eine absolute Rarität in Frankreich dar. Hierbei ist das Engagement, den Dialog zu anderen europäischen Künstlern über die experimentellen Formen des zeitgenössischen Musiktheaters zu pflegen, bemerkenswert.

Unsicherheit/Risiko Die Zukunft der Form und die Etablierung des Musiktheaters in Frankreich birgt eine Unsicherheit für das Genre in sich. Bislang ist die Überzeugung vom »théâtre musical« an den aktuellen Direktor Mathieu Bauer geknüpft und dem Risiko besteht, dass ein Nachfolger andere Schwerpunkte setzen wird.

Interdisziplinarität Neben verschiedenen musikalischen Stilen sind auch verschiedene Disziplinen der Darstellenden Künste auf dem Spielplan des NTM vertreten, deren Verschmelzung Thema vieler Produktionen ist.

Konfliktpotenzial Da das NTM auf keine langjährige Historie auf baut ist das Konfliktpotenzial im Hinblick auf die hauseigene Geschichte gering. Ein Risiko liegt einzig in dem Erfolg der experimentellen Arbeiten. Die aktuelle demographische Entwicklung verzeichnet eine Verjüngung in der Bevölkerung in Montreuil. Dies kann dem experimentellen Spielplan sehr entgegenkommen.

4. Fallbeispiele

Zeitgenossenschaft Die Anknüpfung an gegenwarts- und gesellschaftsbezogenen Themen ist ein Indikator für die zeitgenössische Arbeit. Diese tritt in Gleichzeitigkeit zur Auseinandersetzung mit der Fortschreibung der musiktheatralen Geschichte auf.

Was ist neu? Neuartig für Frankreich ist die Tatsache, dass an einem CDN der Fokus auf Musiktheater in der künstlerischen Praxis liegt und seine Umsetzung stattfindet.

Für wen ist es neu? Die Stärkung des Musiktheaters ist für die Institution des CDN grundsätzlich in ihrer hier vorzufindenden Kontinuität neu und erlangt durch den Stellenwert eines CDN in Frankreich hohe Aufmerksamkeit. Darüber hinaus kann durch die Gastspieltätigkeit die Verbreitung von théâtre musical in Frankreich zusätzlich erreicht werden.

Wo beginnt und wo endet die Innovation? Die Innovation beginnt mit der konsequenten Festlegung von Musiktheater als grundsätzliche Programmatik des NTM. Sie endet bei den finanziellen Mitteln. Bauer gibt zu bedenken, dass zwar »Votre Faust« im NTM gespielt wurde, die Kosten jedoch die finanziellen Möglichkeiten des NTM überstiegen haben und ohne Unterstützung von l’Arcadie nicht realisierbar gewesen wäre.

Hat das Neue das Potenzial sich durchzusetzen? Die Verbreitung sowie die Etablierung der neuen Formen von Musiktheater hat in Frankreich nur dann die Chance sich längerfristig durchzusetzen, wenn andere künstlerische Leiter an Theaterbetrieben die Notwendigkeit sehen das Genre auch zu unterstützten. Solange dies an einzelne Personen gebunden ist, ist das Risiko extrem hoch, dass aus diesem Beispiel keine für das Genre nachhaltigen Folgen entstehen werden. Weiterhin muss der Anfang, der durch die bisher dreimal stattgefundenen Konferenzen gesetzt wurde, fortgeschrieben werden, um langfristig den Diskurs von théâtre musical in einen ganzheitlichen Kunstdiskurs zu etablieren und eine eigene Setzung auf nationaler Ebene zu erreichen.

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

Ausblick Für die kommende Spielzeit 2017/2018 ist das Festival bereits angekündigt, aber die rencontres internationales de théâtre musical finden erst in 2018/2019 ihre Fortsetzung.

4.3 O per W uppertal : »S ound of the C it y« Das Beispiel der Oper Wuppertal wurde gewählt, da zur Spielzeit 2016/2017 ebenfalls ein Intendantenwechsel erfolgte. Der neue Intendant begann mit problematischer Ausgangslage: extreme Sparauflagen und seit zwei Jahren kein festes Solisten-Ensemble. Trotz unsicherer Zukunft des Opernhauses wurde die künstlerische Entscheidung getroffen, mit dem Beginn der neuen Intendanz wieder ein festes Solisten-Ensemble einzuführen. Institution

Oper Wuppertal

Stadt & Größe

Wuppertal, 350.046 Einwohner8

Rechtsform

Wuppertaler Bühnen und Sinfonieorchester GmbH, vereint die Sparten Oper, Schauspiel und Sinfonieorchester

Betriebsstruktur

Repertoire-System (2016 wieder eingeführt)

Kulturpolitische Förderung

Kommunaler Stadttheaterbetrieb

Finanzierung

Kommunale Förderung

Leitungsmodell

Ein Intendant, Geschäftsführender Direktor

Anzahl der Mitarbeiter

Ensemble: 6 Solisten, 4 Sänger in Residenz9

Bezahlung der Mitarbeiter

Tarifverträge, außertarifliche Verträge

Bespielbare Bühnen

Große Bühne im Opernhaus (700 Sitzplätze) Theater am Engelsgarten (155 Sitzplätze)

Probebühne

Hauseigene Probebühne

Konzeptionsbeginn

Frühjahr 2016

Produktionsbeginn

September 2016

Motivation

Schließung des Opernhauses abwenden

Vision

Genre Musiktheater wieder in Wuppertal relevant machen

Ziel

Jüngere Zuschauer als dauerhaftes Publikum zu gewinnen

4. Fallbeispiele

4.3.1 Vision und Konzeption Durch die existenzielle Bedrohung infolge des Einflusses der Kulturpolitik und der schwindenden Zuschaueranzahl lag die Herausforderung für die neue Intendanz neben strategisch günstiger Finanzplanung in der kreativen und künstlerischen Konzeption. Hier bemüht sich die neue Leitung der Oper Wuppertal Aktualität und Nähe zur Bevölkerung.

Vision Die Bedeutung des Genres Musiktheater soll mit Bezug zur Lebenswirklichkeit im 21. Jahrhundert hergestellt werden und durch ein vielfältiges und relevantes Musiktheater auf dem Spielplan der Oper Wuppertal Darstellung finden.81 Hierbei standen in der Spielzeit 2016/2017 folgende Aspekte im Vordergrund: 1. Gewinnung junger Menschen als permanentes Publikum 2. Das Genre Oper für die Menschen im 21.  Jahrhundert relevant machen 3. Einbeziehung der städtischen Bevölkerung

Konzeption »Wichtig ist mir aber auch, die Oper strukturell zu öffnen – u.a. indem wir im Rahmen von ›Sound of the City‹ in einen intensiven Austausch mit den anderen musikalischen Akteuren in der Stadt treten. Zudem müssen wir neue Formen der Teilhabe entwickeln, um das bestehende Publikum und neue Publikumsgruppen für die Kraft von Theater und Oper zu begeistern«, umreißt Berthold Schneider sein künstlerisches Konzept.« 82

81 | Vgl. Schneider, Berthold, in: Rühlemann, Sven: »Die Wuppertaler sollen sich mit ihrem Opern-Ensemble identifizieren…«, Die Stadtzeitung Wuppertal, Ausgabe September 2016, Quelle: www.diestadtzeitung.de/interviews/die-wupperta ler-sollen-sich-mit-ihrem-opern-ensemble-identifizieren (13.08.2017). 82 | IOCO: »Oper Wuppertal: Mit eigenem Ensemble zu neuen Ufern!«, 18.07. 2016, Quelle: www.ioco.de/2016/07/18/wuppertal-oper-wuppertal-nocke-schnei der-auf-zu-neuen-ufern-ioco-aktuell-15-07-2016/ (18.08.2017).

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

1. Abwechslungsreicher Spielplan: Der Spielplan berücksichtigt neue interdisziplinäre Konzeptionen, wie die Video-Oper »Three Tales«, und Stücke, die den sogenannten Klassikern zugeordnet werden und partizipative Formate. 2. Aktive Teilhabe der Bevölkerung: Das Vertrauen der Bevölkerung in das Opernhaus ist die letzten Jahre geschädigt worden. Aktive Teilhabe der Bevölkerung, wie in dem Projekt »Sounds of the City«, soll das Vertrauen zurückgewinnen. 3. Das digitale Zeitalter in das Opernhaus einziehen lassen: Die neue Leitung setzt in der Öffentlichkeitsarbeit auf die Möglichkeiten der digitalen Technologien u.a. durch die aktive Teilhabe am Opernerlebnis durch Foto- und Kommentarmöglichkeiten während des Vorstellungsbesuches in den Social Media.

4.3.2 Strukturelle Rahmenbedingungen und Kulturpolitik Das Opernhaus Wuppertal wurde 1905 errichtet und erlangte große Berühmtheit als Hauptwirkungsstätte von Pina Bausch.83 Grundlegende Veränderungen für den Spielbetrieb am Opernhaus bewirkte die Grundsanierung des Opernhauses von 2006 bis 2009 und die Einsparungen im Finanzetat aufgrund der drohenden Überschuldung der Stadt Wuppertal als alleiniger Träger des Opernhauses.84 »Das Schauspielhaus geschlossen, das Opernensemble entlassen – die Wuppertaler Bühnen wurden bundesweit zum Symbol der Folgen der kommunalen Finanzkrise.« 85

Im Zuge der weiterführenden Sparmaßnahmen wurde 2013 Generalmusikdirektor Toshiyuki Kamioka zusätzlich zum Opernintendant ernannt. Dieser schaffte das Ensemble ab.86 Damit erfolgte die Umwandlung vom Repertoire-Betrieb zum Stagione-Betrieb. Erstmalig in der Geschichte der Wuppertaler Bühnen wurde auf ein festes Ensemble verzichtet und 83 | Pina Bausch, dt. Tänzerin und Choreografin (1940-2009). 84 | dpa (13.09.2016). 85 | Ebd. 86 | Sander, Georg: »Opernhaus Wuppertal: Will Kamioka das Stagionesystem einführen?«, 16.07.2013, Quelle: www.njuuz.de/beitrag21483.html (13.08.2017).

4. Fallbeispiele

nur mit Gastsolisten gearbeitet.87 Dies stieß auf starke Kritik. So bezog die Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger Stellung dazu: »Erst wurde entschieden, das Schauspiel mit einem Schrumpfensemble zu führen und jetzt soll die Opernsparte ohne geordnete Tarifstrukturen möglichst billig Höchstleistungen bringen. Das bisherige Niveau der beiden Sparten Oper und Schauspiel wird damit nachhaltig beschädigt – inklusive der Arbeit von Chor und Orchester.« 88

Dieser Versuch scheiterte 2016. Mit einem um 20 Prozent geringeren Etat89 kam es zu einer deutlichen Abschwächung der künstlerischen Leistung. Außerdem konnte durch den Verlust des Ensembles das breite Spektrum kleinerer Formate auf dem Spielplan nicht mehr abgedeckt werden.90 »Das Programm von Kamioka, so befand ein Kritiker, enthalte ›nur narrensichere Stücke, die so auch 1952 in Braunschweig oder 1974 in Augsburg hätten aufgeführt werden können‹. Kamioka zerstört ›die Strukturen eines Stadttheaters, nicht um künstlerische Freiheiten zu bekommen, sondern ausschließlich um Geld zu sparen‹, kritisierte Deutschlandradio Kultur.« 91

Das wiederum führte dazu, dass das Publikum die Bindung zum Opernhaus verlor.92 Derzeitig ist die Finanzierung der Wuppertaler Bühnen nur bis 2020/2021 gesichert, sodass die Schließung der Wuppertaler Bühnen wei87 | Ebd. 88 | Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger: »GDBA zum Ende des Ensembles an der Wuppertaler Oper«, 17.03.2014, Quelle: www.buehnengenossen schaft.de/pressemitteilung-gdba-zum-ende-des-ensembles-an-der-wupper ta ler-oper (13.08,.2017). 89 | Vgl. Gondorf, Ulrike »Spardruck zwingt Wuppertal zur Leihdiva«, Deutschlandfunk Kultur, 05.09.2014, Quelle: www.deutschlandfunkkultur.de/saengeren semble-abgeschafft-spardruck-zwingt-wuppertal-zur.1013.de.html?dram:article_ id=296749 (13.08.2017). 90 | Löwer, Jörg: »Scherbenhaufen in Wuppertal«, 20.11.2014, Quelle: www.bueh nengenossenschaft.de/scherbenhaufen-in-wuppertal (13.08.2017). 91 | Ebd. 92 | Vgl. Gondorf (05.09.2014).

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

terhin zur Diskussion steht,93 so die Bilanz des Geschäftsführers Enno Schaarwächter.94 Dem stimmen die lokalen Medien zu: »Lösungen für dieses Problem müssen auf einer anderen Ebene gesucht werden: in der Umverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen; in der Definition der Kultur, die nicht mehr als ›freiwillige‹ und also nicht notwendige Aufgabe, sondern als zentrales Element der Lebensqualität in einer Stadt angesetzt werden muss.« 95

Künstlerische Leitung: Berthold Schneider »Die krisengeschüttelte Oper Wuppertal wagt den Neustart. Ihr neuer Intendant, Berthold Schneider, möchte vor allem auf die jüngere Generation zugehen: ›Wir müssen Schranken überwinden, unsere Häuser öffnen, flexibler werden.‹« 96

Berthold Schneider ist in den letzten Jahren hervorgetreten durch seine Arbeit als Dramaturg und Operndirektor (u.a. Sauerländisches Staatstheater und Staatstheater Darmstadt). Als künstlerischer Leiter verantwortete er von 1999 bis 2005 die staatsbankberlin,97 einen Aufführungsort für interdisziplinäre Formen von Musiktheater in Berlin. Die staatsbankberlin hatte das Ziel das »Spartendenken zu überwinden«, die Existenz von Oper, Konzert und Ausstellung neu zu befragen und eine Weiterentwicklung der Formen »vom experimentellen Provisorium bis zu den großen Produktionen« voranzutreiben.98 In den letzten Jahren fokussierte sich

93 | Vgl. Schaarwächter, Enno, Geschäftsführer der Bühnen, im Gespräch mit Nicole Bolz: »Allein schaffen wir das nicht«, 11.Juni 2017, Quelle: www.wupper taler-rundschau.de/kultur/schaar waechter-allein-schaffen-wir-das-nicht-aid1.6876222 (13.08.2017). 94 | Vgl. ebd. 95 | Gondorf (05.09.2014). 96 | Mumort, André: »Eine Kunstform wiederentdecken«, Deutschlandfunk Kultur, 17.09.2016, Quelle: www.deutschlandfunkkultur.de/reset-am-opernhaus-wupper tal-eine-kunstform-wiederentdecken.2159.de.html?dram:ar ticle_id=366145 (13.08.2017). 97 | Schneider, Berthold: »Die Konzeption«, Quelle: www.operaworks.de/staats bank.htm (13.08.2017). 98 | Vgl. ebd.

4. Fallbeispiele

Schneider vor allem auf künstlerische Konzeptionen von vorwiegend interdisziplinären oder genreübergreifenden Musiktheaterproduktionen. Abbildung 10: Der neue Intendant der Oper Wuppertal: Berthold Schneider

Foto: Jens Grossmann

Die Neukonstitution eines Solistenensembles Intendant Schneider teilte nach seiner Berufung mit, dass er wieder ein kleines Ensemble auf bauen wolle. Die Mittel hierzu waren begrenzt und es wurde zur Spielzeit 2016/2017 mit sechs Festengagements begonnen. Diese sollten nicht nur den Spielbetrieb sichern, sondern auch eine stärkere Bindung zwischen Bevölkerung und Opernhaus erreichen.99 »Es ist auch wichtig für die Identifikation der Stadt, die jungen Karrieren zu begleiten und die Entwicklungen der einzelnen Künstler beobachten zu können.«100

Durch Gastsolisten war es möglich, einen Mixed-Stagione-Spielbetrieb 2016/2017 wiedereinzuführen, indem das feste Ensemble kontinuierlich die kleineren Formate abdeckte und in mehreren kleinen Blöcken mit den Gastsolisten große Produktionen gespielt werden konnten.

99 | Schneider, in: Rühlemann (September 2016). 100 | Ebd.

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

4.3.3 Überblick über den Spielplan Auswahl Stücke und Künstler »Wir machen Oper im Bewusstsein der Lebenswelt des 21. Jahrhunderts – das muss unser Anspruch sein. Sowohl in der kritischen Auseinandersetzung mit den klassischen Stoffen als auch im aufrichtigen Spaß, den wir mit den bunten und oftmals auch liebevoll-bösen Stücken des leichteren Repertoires haben wollen.«101

Der Spielplan beinhaltete acht Premieren und eine Wiederaufnahme. Die Auswahl der Stücke war vielfältig und reichte vom klassischen Opernrepertoire, wie »Hoffmanns Erzählungen« von Offenbach102, »Rigoletto« von Verdi103 und Prokofjews104 »Die Liebe zu den drei Orangen«, über das von Sebastian Welker inszenierte Musical »The Rocky Horror Show« des Komponisten O’Brien105 bis hin zu zeitgenössischen Werken, wie der Video-Oper »Three Tales« von Steve Reich106 und Beryl Korot107 und der Uraufführung von Helmut Oehrings108 »AscheMOND ODER THE FAIRY QUEEN«. Hier wird das Hauptinteresse des Spielplans deutlich: das künstlerische Experiment, wie beispielsweise »Hoffmanns Erzählungen« in der Inszenierung von vier verschiedenen Regisseuren zeigte. Ein theoretischer Ansatz, der für die Infragestellung von Arbeitsweisen stand und signalisierte: der Regisseur ist nicht mehr unantastbarer und alleiniger Interpret eines Stückes.109 Als Eröffnung wurden an einem Wochenende erst die zeitgenössische Oper »Three Tales« und am Folgetag die traditio101 | Schneider, Berthold, in: Oebens, Detlev (Hg.): »Oper Wuppertal«, 24.05. 2016, Quelle: http://opernmagazin.de/oper-wuppertal-programm-der-spielzeit-201617-veroeffentlicht/ (18.08.2017). 102 | Jacques Offenbach, frz. Komponist (1819-1880). 103 | Giuseppe Verdi, ital. Komponist (1813-1901). 104 | Sergej Prokofjew, russ. Komponist (1891-1953). 105 | Richard O’Brien, brit. Komponist (*1942). 106 | Steve Reich, us-amer. Komponist (*1936). 107 | Beryl Korot, us-amer. Videokünstlerin (*1945). 108 | Helmut Oehring, dt. Komponist (*1961). 109 | Schulte im Walde, Christoph: »Vier Regisseure für »Hoffmanns Erzählungen«, 25.09.2016, Quelle: https://www.nmz.de/online/vier-regisseure-fuer-hoffmanns-erzaehlungen-neustart-an-der-oper-wuppertal (13.08.2017).

4. Fallbeispiele

nelle Oper »Hoffmanns Erzählungen« aufgeführt. So zeigte sich in der Spielplangestaltung: Tradition findet an der Oper Wuppertal parallel zu gegenwärtigen Strömungen der darstellenden Künste statt.

Schwerpunkt: Vernetzung Das Projekt »Sharing your Opera« sollte Oper auf einen neuen Weg bringen: Während den Vorstellungen sind die Zuschauer eingeladen, Fotos aus der Vorstellung live mit der digital community auf ihren Social Media Profilen zu teilen. Ein vergleichbares Projekt gibt es bislang an keinem weiteren Opernhaus in Deutschland. Die digitale Vernetzung wird mit dem Programmheft neu kombiniert. Mittels der Funktion von QR-Codes werden zusätzliche Informationen über das Stück in Text, Video und Hörformaten den Zuschauern zugänglich gemacht.110 »Schon in der ersten Spielzeit soll klar werden, dass wir eine Richtung haben«, sagt Schneider. »Wir möchten hier über Oper in unserer Gegenwart nachdenken, und das nicht abstrakt, sondern gelebt.«111 In Frankreich hat die Opéra national de Paris mit dem Projekt »3e scène« ein ähnliches Projekt seit 2015 gestartet. Abbildung 11: Das Digitalisierungs-Projekt »Sharing your Opera«

Foto: Oper Wuppertal

110 | Vgl. N.N.: »Wuppertaler Oper setzt wieder auf eigenes Ensemble«, in: Musik Heute. Die Nachrichtenagentur für Klassische Musik, 20.06.2016, Quelle: www. musik-heute.de/13065/wuppertaler-oper-setzt-wieder-auf-eigenes-ensemble/ (13.08.2017). 111 | dpa: (13.09.2016).

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

Aktive Teilhabe: »Sound of the City« Eine andere Form der aktiven Teilhabe bietet das Projekt »Sound of the City«. Ein über drei Jahre angelegtes Projekt, das in jeder Spielzeit ein anderer experimenteller Künstler oder Musiktheaterkollektiv kuratiert. »Part 1«, das in mehreren Folgen in der Spielzeit2016/2017 stattgefunden hat, hat zum Thema den »Bund der Utopisten«, basierend auf der Idee des englischen Humanisten Thomas Morus »De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia«112 von 1516: Die Entdeckung einer neuen Gesellschaftsstruktur auf der Insel ›Utopia‹ als Gegenentwurf zur eigenen Wirklichkeit, in der die Gemeinschaft und das gemeinschaftliche Miteinander über allem steht. 2016/2017 wurde hierfür in Wuppertal der »Bund der Utopisten« gegründet. Dieser besteht aus diversen künstlerischen Akteuren und Bürgern der Stadt Wuppertal sowie Wissenschaftlern und Angehörigen bestimmter Berufsgruppen, die unter der künstlerischen Leitung von Thomas Fiedler vom KommandoHimmelfahrt113 die einzelnen Folgen erarbeiten und dann an verschiedenen Orten der Stadt dem Publikum vorstellen. Damit sollen die Chancen auf ein utopisches Leben der Wuppertaler abseits der rationalen Wirklichkeit erhöht werden.114 »Sound of the City« dient als Initiative um über die gesamte Spielzeit verschiedene Beteiligte durch den »Bund der Utopisten« zusammenzubringen, in den künstlerischen Prozess mit einzubeziehen und Identifikation mit der Stadt und der Oper zu schaffen, eine Vernetzung bereits kulturell aktiver Bürger untereinander zu bewirken und das künstlerische Potenzial der Stadt Wuppertal sichtbar zu machen. Konkret findet dies Umsetzung durch gemeinschaftliche Aufführungen an diversen Spielorten, wie dem Orchesterproberaum der Oper Wuppertal, Kultureinrichtungen und weiteren Orten. Zu den Mitwirkenden gehören viele künstlerisch aktive Laiengruppen, wie z.B. das Feuerwehr Orchester, der Chor der jüdischen Gemeinde und andere. Das Projekt schafft eine Vernetzung bereits kulturell aktiver Bürger untereinander und macht das künstlerische Potenzial der

112 | deutsche Übersetzung: »Vom besten Zustand des Staates und der neuen Insel Utopia«. 113 | KommandoHimmelfahrt ist eine 2008 gegründete Künstlergruppe, die sich mit Grenzbereichen politischer und wissenschaftlicher Utopien beschäftigt. 114 | Vgl. Oper Wuppertal: »Projektbeschreibung«, auf: Opernblog, Quelle: www. oper-wuppertal.de/oper/opernblog/2016-2017/sound-of-the-city/ (13.07.2017).

4. Fallbeispiele

Stadt Wuppertal sichtbar. Durch die Laufzeit über drei Jahre ist die Möglichkeit einer Fortsetzung des Projektes offen. »Die Menschen haben wenig Möglichkeiten der Teilhabe an dieser wunderbaren Kunstform – und das ist eine Kunstform, die wirklich uns allen gehört und die wir gemeinsam wiederentdecken müssen. Dafür müssen die Stadttheater Foren bilden, dafür müssen wir einen Teil unserer Budgets verwenden, da müssen wir Energie reinstecken – und das passiert nicht von alleine!«115

Der Geschäftsführer der Wuppertaler Bühnen zieht am Ende der Spielzeit 2016/2017 Bilanz und attestiert Berthold Schneider, dass er positive Ergebnisse erzielt hätte: »Für ›Hoffmanns Erzählungen‹ gab es direkt sehr viel Aufmerksamkeit und überregional sehr viele positive Kritiken. Da müssen wir hin: Das Wuppertaler Theater muss in NRW wieder wahrgenommen werden als eine Bühne, die im Aufwind ist.«116

4.3.4 Standort Wuppertal Wuppertal ist eine Stadt in Nordrhein-Westfalen und gilt vornehmlich als Industriestadt. Bis heute sind hier viele Fabriken und Forschungszentren von Unternehmen ansässig. Seit 2012 ist ein anhaltender Bevölkerungsrückgang zu verzeichnen. Damit verbunden ist der zunehmende Leerstand von Gebäuden, Abwanderung des gehobenen Einzelhandels und eine Arbeitslosenquote von 9,1 Prozent.

115 | Mumort, André: »Eine Kunstform wiederentdecken«, Deutschlandfunk Kultur, 17.09.2016, Quelle: www.deutschlandfunkkultur.de/reset-am-opernhaus-wup pertal-eine-kunstform-wiederentdecken.2159.de.html?dram:article_id=366145 (13.08.2017). 116 | Schaarwächter, Enno, im Gespräch mit Nicole Bolz: »Allein schaffen wir das nicht«, 11.Juni 2017, Quelle: www.wuppertaler-rundschau.de/kultur/schaarwaech ter-allein-schaffen-wir-das-nicht-aid-1.6876222 (13.08.2017).

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

4.3.5 Auswertung »Dieser Neustart war auch dringend notwendig, denn noch bis Ende der letzten Spielzeit dümpelte das erst vor wenigen Jahren aufwändig renovierte Opernhaus nur noch irgendwie vor sich her.«117 Kriterium

Merkmal

Neuartigkeit

Abschaffung und Wiedereinführung des Ensembles

Unsicherheit/ Risiko

Finanzielle Situation

Interdisziplinarität

Genreübergreifende Konzeptionen u.a. durch aktive Einbeziehung der Bevölkerung

Konfliktpotenzial

Erwartungshaltung gegenüber dem Erfolg der neuen Leitung, auch im Hinblick auf mögliches Ende der städtischen Finanzierungsmöglichkeiten

Zeitgenossenschaft

Berücksichtigung der verschiedenen Künste und digitalen Medien in die Spielplankonzeption im Opernhaus

Neuartigkeit Das Theaterhäuser durch Einsparungen von der Schließung bedroht sind, kommt immer wieder vor. Dahingegen ist der Vorgang der Abschaffung und der Wiedereinführung des Ensembles bisher einzigartig. Dieser radikale strukturelle Wechsel binnen zwei Jahren hat direkte Auswirkungen und erzeugt Wechselwirkungen mit der Kulturpolitik und dem Publikum und bedeutet Strapazen für den Spielbetrieb. Schlussfolgernd empfiehlt es sich zu prüfen, ob nachhaltig Schäden hierdurch entstanden sind und welches Potenzial das Arbeiten mit Residenzsängern haben kann.

Unsicherheit/Risiko Aus kulturpolitischer Perspektive betrachtet gibt es gegenwärtig kein vergleichbares Beispiel in Deutschland, indem ein Intendant sich für die Abschaffung der Ensemble-Struktur entschieden hat. Dies führte in diesem Beispiel zu einem schnellen Scheitern der vorherigen Intendanz. Hier wäre es lohnenswert, tiefergehend die genauen kulturpolitischen Um117 | Schulte, Christoph: »Vier Regisseure für ›Hoffmanns Erzählungen‹«, 25.09. 2016, Quelle: https://www.nmz.de/online/vier-regisseure-fuer-hoffmanns-erzaeh lungen-neustart-an-der-oper-wuppertal (13.08.2017).

4. Fallbeispiele

stände zu betrachten, ist aber unter der vorliegenden Fragestellung dieser Arbeit nebensächlich. In Deutschland werden die Theaterlandschaft und das bestehende Ensemble-System kritisch betrachtet. Intendant Schneider entschied mit seinem Amtsbeginn das Ensemble wieder einzuführen. Zur Spielzeit 2016/2017 übernahm Berthold Schneider das Opernhaus mit einer wirtschaftlich schlecht aufgestellten Ausgangssituation. Zudem war infolge der über mehr als zehn Jahre dauernden Wuppertaler Theaterkrise, unter welcher aufgrund eines finanziellen Defizites und dem akuten Sanierungsbedarf bereits die Schließung des Schauspielhauses erfolgte, das Vertrauen der Bevölkerung gebrochen. Auf der anderen Seite hatte die Bevölkerung bei den massiven Einsparungen der Kommunalpolitik zusehen müssen: diese entschied sich für die Einsparung von zwei Millionen Euro im Bereich der Kulturförderung und Sportförderung, um damit die städtische Verschuldung mindern zu können. Intendant Schneider geht gegen das Misstrauen der Bevölkerung und der Kulturpolitik offensiv vor und konzipiert den ersten Spielplan als aktives Miteinander mit der Bevölkerung und fordert auf, die Oper der Gegenwart zu leben.118

Interdisziplinarität Das Kriterium der Interdisziplinarität findet sich hier in zwei Punkten: 1. Die Einbeziehung der digitalen Medien in den Spielbetrieb, in die Öffentlichkeitsarbeit sowie in der Video-Oper »Three Tales«. 2. Die künstlerische Disziplinen verbindende Formate wie »Sound of the City«, wo ausgehend vom künstlerischen Potenzial der teilnehmenden Bürger sich die künstlerische Konzeption ergibt.

Konfliktpotenzial Die Situation der Oper unter der Leitung des vorherigen Intendanten hat gezeigt, dass ohne ein Miteinander von Kulturpolitik und Theaterleitung ein Scheitern des Opernhauses schnell eintreten kann. Es zeigte sich die Notwendigkeit der Zusammenarbeit zwischen der künstlerischen Lei118 | Schneider, Berthold, in: dpa: »Das Wunder von Wuppertal – Oper fängt neu an«, 13.09.2016, Quelle: https://www.abendblatt.de/kultur-live/buehne/ ar t icle208233785/Das-Wunder-von-Wupper t al- Oper-faeng t-neu-an.ht ml (13.08.2017).

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

tung des Opernhauses und den kulturpolitischen und politischen Akteuren – aber auch der Bevölkerung.

Zeitgenossenschaft Die Spielplangestaltung zeigt wenige Übereinstimmungspunkte mit dem Kriterium der Zeitgenossenschaft. Zwar kann das Beispiel von »Sound of the City« einem futuristischen Thema zugeordnet werden sowie der Anspruch der Opernhausleitung erkannt werden, einen Spielplan mit einem Aktualitätsbezug des Genre Oper zum 21. Jahrhundert anzubieten. Jedoch wird hier wird nicht provoziert, befragt oder in Zweifel gezogen, sondern lediglich ausgeführt. Ein Grund hierfür könnten die langjährigen Erfahrungen Schneiders sein, die ihn dazu bewogen, auf leisen Wegen über eine moderate Etablierung neuer künstlerischer Elemente einen Erfolg für ein Opernhaus zu erreichen, was durch die kulturpolitischen Entscheidungen der jüngsten Vergangenheit noch stark in seinem Selbstverständnis geschwächt ist.

Was ist neu? Die in Wuppertal angewandte Spielplangestaltung ist Teil routinierter Wirklichkeit. Die Ausgangssituation nach der Abschaffung des Ensembles durch den Vorgänger und infolge der finanziellen Situation war verherrend. Den Schritt zur Einführung eines Ensembles und damit verbundenen Kosten zu gehen ist ein großer Wagemut. In diesem Prozess blieb aber ein grundsätzliches Umdenken, Infragestellen oder Umstrukturieren der Ensemblestruktur aus. Das zeigt, dass zum Erhalt des Opernbetriebes in Wuppertal – anders als in Halle – auf bewährte Strategien gesetzt wird. Hier gilt abzuwarten, wie die neue Intendanz und der zugehörige Spielplan vom Publikum angenommen werden.

Für wen ist es neu? Die Unsicherheit der gegenwärtigen Situation ist nicht neu, stellt aber alle Beteiligten (Mitarbeiter, Kulturpolitiker, Bevölkerung) kontinuierlich vor neue Situationen, wie die Ab- und Anschaffung des Ensembles.

4. Fallbeispiele

Wo beginnt und wo endet die Innovation? Als Innovation zu bezeichnen ist die Bestrebung die Digitalisierung als Teil der Wirklichkeit des Opernhauses durch den Besuchers zu erleben. Das Digitale dient dem Erlangen von Aufmerksamkeit und weniger künstlerischen Konzepten.

Hat das Neue das Potenzial sich durchzusetzen? An diesem Beispiel zeigt sich, dass das Potenzial, das ein Intendantenwechsel in sich birgt, in der hier schwierigen politischen Ausgangssituation nicht genutzt werden konnten: in erster Linie wurde die Spielfähigkeit des Hauses wiederhergestellt.

Ausblick: neuer Spielplan Der neue Spielplan beinhaltet zwar noch Repertoire-Klassiker, wie z.B. »Carmen«, »Hänsel und Gretel« oder »My Fair Lady«, setzt aber deutlich auf das künstlerische Experiment, wie die Uraufführung von Heiner Goebbels »Surrogate cities/Götterdämmerung« sowie der zweite Teil von »Sound of the City« zeigen. Der bereits in der ersten Spielzeit begonnene Schwerpunkt der Einbeziehung des Publikums wird weiter ausgebaut. So findet die Vermittlungsarbeit sowohl in kleinen Formaten als auch in Jonathan Doves Community-Oper »The Monster in the Maze«, ein Stück für Laien-Mitwirkende im Chor und Orchester in der politischen Inszenierung (als eine Übernahme vom Festival d’Aix-en-Provence) von Marie-Eve Signeyrole, ihre Umsetzung. Der zweite Spielplan wirkt auf den ersten Blick aufgrund dieser Schwerpunkte in Bezug auf Innovation relevanter, wenngleich auf bekannte Akteure und bekanntes Material gesetzt wird. Vielleicht ist genau das die einzig funktionierende Herangehensweise, um das Opernhaus Wuppertal erhalten zu können? Der Weiterentwicklung und Fortschreibung von Musiktheater hingegen hilf es nicht.

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

Abbildung 12: 2018 startet die Oper Wuppertal mit neuer Werbekampagne

Foto: Oper Wuppertal

4.4 O pér a B astille : »U n opér a moderne e t popul aire « Das Beispiel der Opéra Bastille liegt bereits weiter in der Vergangenheit, ist aber dennoch von Interesse, da die politische Entscheidung und Umsetzung für diese Arbeit beachtenswert ist. Die Opéra Bastille entstand aus der Notwendigkeit heraus und mit dem Wunsch, eine moderne und volkseigene Oper zu schaffen, die sich an ein breites Publikum richtet und das Genre Oper wieder populärer macht. In der Spielzeit 2014/2015 hat die Opéra national de Paris, die ein Zusammenschluss aus der Opéra Bastille und der Opéra Garnier ist, 820.000 Zuschauer erreicht – und dies bei 950.000 zum Verkauf stehenden Tickets in der Spielzeit.119 Damit ist die Opéra national de Paris eines der meist besuchten Opernhäuser weltweit.

119 | Vgl. Opéra national de Paris: »Les chiffres clefs de l’Opéra national de Paris«, 18.06.2016, S. 8.

4. Fallbeispiele

Institution

L’Opéra nationale de Paris (seit Februar 1994)

Stadt & Größe

Paris, 2.220.445 Einwohner10

Rechtsform

EPIC: établissement public autonome à caractère industriel et commercial (seit 1978)11

Betriebsstruktur

Stagione-Systeme

Kulturpolitische Förderung

Nationale Förderung sowie Zugehörigkeit zum Ministère de la Culture et de la Communication

Finanzierung

200 Mio. Euro (47 Prozent davon staatliche Förderung, 53 Prozent aus Eigenfinanzierung, davon zwei Drittel aus Eintrittsgeldern)12

Leitungsmodell

Aufsichtsrat, Intendant

Anzahl der Mitarbeiter

2.000 Mitarbeiter Künstlerisch Tätige darunter: 174 Orchestermusiker, 112 Choristen, 154 Tänzer

Bezahlung der Mitarbeiter

1.501 Festangestellte (CDI: contrat à durée indéterminée)13

Bespielbare Bühnen

Palais Garnier (1.950 Sitzplätze) L’Opéra Bastille: Grand Salle (2.745 Sitzplätze), Amphithéâtre (500 Sitzplätze), Studio (200 Sitzplätze)14

Probebühne

Les Ateliers Berthiers mit mehreren Probebühnen

Konzeptionsbeginn

1981 (Beschluss durch Präsident François Mitterrand)

Produktionsbeginn

14. Juli 1989

Motivation

Oper niederschwellig einem breiten Publikum zugänglich machen

Vision

Durch günstigere Tarife und einen vielfältigen Spielplan neue Publikumsgruppen erschließen

Ziel

Einen Musiktheaterbetrieb kreieren, der Oper wieder zeitgemäß mit der Gesellschaft verbindet

4.4.1 Vision und Konzeption 120 Mit dem Entschluss zur Neugründung eines Opernhauses in Paris durch den französischen Präsidenten François Mitterrand startete das Projekt »opéra moderne et populaire« und zielte neben einem Neubau mit der Spielplangestaltung und der Preispolitik darauf ab, das Genre Oper einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.

120 | Sénat: »L’OPÉRA NATIONAL DE PARIS«, 15.08.2007, Quelle: https://www. senat.fr/rap/r06-384/r06-3842.html (15.08.2017).

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

»Au moment de son projet, l’Opéra Bastille correspondait à une volonté de démocratisation de l’Opéra.«121

Vision 1. Einen vielfältigen Spielplan gestalten und niedrige Eintrittspreise anbieten um ein breites Publikum zu erreichen. 2. Die Fortschreibung des lyrischen Genres durch zeitgenössische Werke. 3. »Un opéra moderne et populaire« als Inbegriff der nationalen Kultur greif bar machen. 4. Der Hauptstadt Paris wieder internationales Renommee in der Opernwelt zu verschaffen.

Konzeption »L’établissement public culturel doit bâtir une programmation assurant un bon équilibre entre les oeuvres inscrites à son répertoire et des productions nouvelles, ainsi qu’entre les grands ouvrages reconnus des répertoires lyriques et chorégraphiques et les créations d’oeuvres contemporaines, afin de répondre à l’attente du grand public, d’une part, et de renouveler les genres lyriques et chorégraphiques, d’autre part.«122

Der Opéra national de Paris liegt als staatlich geförderte Institution ein Kulturauftrag vor, dem sie Folge leisten muss und der folgende Punkte beinhaltet: 1. Diverse Spielplangestaltung: Die Pflege des klassischen Repertoires als auch Uraufführungen und die Aufführung zeitgenössischer Werke spiegelt sich in einem Spielplan wieder, der vornehmlich das klassische Repertoire beinhaltet, was für gute Auslastungsergebnisse sorgen kann (wie z.B. »La Traviata«, »Carmen«, u.v.m.). Hinzu kommt

121 | Roussel, Françoise: »La diversification des publics à l’Opéra national de Paris«, Quelle: http://fgimello.free.fr/documents/d_rousse.pdf (15.08.2017). 122 | Sénat: »L’OPÉRA NATIONAL DE PARIS«, 15.08.2007, Quelle: https://www. senat.fr/rap/r06-384/r06-3842.html (15.08.2017).

4. Fallbeispiele

ein Kompositionsauftrag pro Saison und eine geringe Anzahl von Werken der jüngeren Musiktheatergeschichte. 2. Neue Werke und zeitgenössische Komponisten: Durch die Vergabe von einem Kompositionsauftrag pro Saison soll die Fortschreibung des lyrischen Genres gepflegt werden. 3. Sensibilisierung der jungen Zuschauer: Die pädagogischen Angebote richten sich durch Kooperationen mit Bildungseinrichtungen (wie z.B. Probenbesuche, Treffen mit Künstlern, Führungen, begleitete Vorstellungsbesuche) an junge Menschen. Spezielle Programme, wie »Dix mois d’École et d’Opéra«, begleiten Schulklassen über einen längeren Zeitraum und gewähren Einblicke in Abläufe und Strukturen des Opernalltages. 4. Diffusion Culturelle: Die hohe Anzahl an Zuschauern wird durch eine aktive und menschennahe Öffentlichkeitsarbeit geleistet. Neben den Spielzeitankündigungen und dem eigenen Magazin En scène! ist die Arbeit über die Social Media und das Internet ein wichtiger Bestandteil. Seit 2016 bietet »3e scène« eine zusätzliche Dialog- und Informationsfläche für das Publikum an.123

4.4.2 Strukturelle Rahmenbedingungen und Kulturpolitik Seit jeher bildete die Pariser Oper in Frankreich eine »kulturelle Konstante und einen Fixpunkt des kulturellen Lebens«.124 Dennoch stand die Oper gegen Ende des 20. Jahrhunderts vor einem Problem: Steigende Kosten, rückläufige Zuschauerzahlen sowie Etatkürzungen führten dazu, dass die Oper nicht mehr Teil des gesellschaftlichen Selbstbildes zu sein schien.125 Nach Mitterands Wahlsieg 1981 verkündet der sozialistische Präsident, dass nun ein »Auf bruch der Kreation« bevorstehen würde. Teil von Mitterands Plan der Grands Travaux ist der Neubau eines Opernhauses, um eine zeitgemäße Repräsentation der Kulturnation zu ermöglichen und sich von dem Klientelismus der an der Opéra Garnier haftete 123 | Ministère de la Culture: »L’Opéra national de Paris en 2011«, 10.08.2012, Quelle: www.culturecommunication.gouv.fr/Actualites/L-Opera-national-de-Pari sen-2011 (15.08.2017). 124 | Vgl. Zalfen, Sarah: »Sera un opéra moderne et populaire«, in: Frankreich Jahrbuch 2011, Axel Springer Verlag, Wiesbaden, 2011. 125 | Vgl ebd. S. 101.

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

abzuwenden. Die Oper sollte als Abbild des Staates wieder volkstauglich zu machen.126 Zu dieser Zeit war die Zusammensetzung des Publikums der Inbegriff des »sozial exklusiven Charakters« der Oper: 70 Prozent des Publikums gehörten zur Bildungselite.127 Im Zuge der Dezentralisierung sah Mitterrands Strategie vor, Oper in das demokratische Kulturverständnis zu integrieren und das elitäre Image abzulegen.128 »Denn die Institutionen der Hochkultur, allen voran die prachtvolle Pariser Opéra Garnier, waren nicht das, was die Kulturnation verband; sie hatten keinesfalls die Rolle von Repräsentanten einer als gemeinschaftlich empfundenen Kultur inne, sondern galten allein den Mächtigen.«129

Damit reagierte Mitterrand auf einen 1959 gefällten Beschluss, »alle wichtigen Kunstwerke der Menschheit und insbesondere Frankreichs für die größtmögliche Anzahl der Franzosen zugänglich zu machen, unserem kulturellen Erbe das größtmögliche Publikum zu sichern, und die Schaffung von bereichernden neuen künstlerischen und geistigen Werken zu fördern«130

und ließ Taten folgen: mit dem Wunsch, die Demokratisierung der Kunst umzusetzen. Präsident Mitterrand und der Kulturminister Lang bemühten sich wieder eine soziale Einheit in Frankreich herzustellen. Diese unterlag folgenden Leitmotiven: »Die Kultur gehört keiner Verwaltung. Die Kultur gehört keiner Klasse. Die Kultur gehört keiner Stadt, und sei es der Hauptstadt. Die Kultur gehört keinem einzelnen Sektor, und sei es dem öffentlichen Sektor. Die Kultur gehört keiner Kunstform«, proklamierte Jack Lang.«15

Der gewählte Ort des Neubaus war der Platz der Bastille, symbolischer Ausgangspunkt der französischen Revolution am 14. Juli 1789. Weiterhin 126 | Ebd. S. 99f. 127 | Vgl. ebd. S. 99f. 128 | Vgl. ebd. 129 | Vgl. ebd. 130 | Zalfen (2011).

4. Fallbeispiele

bestand die Idee, innerhalb kürzester Zeit die finanziell angespannte Situation an der Opéra Bastille zu lösen: weniger Personal für ein größeres Publikum zugunsten einer niedrigen Preispolitik. »Die Opéra de la Bastille sollte ein leuchtendes Beispiel für diese kulturpolitische Quadratur des Kreises werden. Der Standort der neuen Oper bildete dafür gewissermaßen das argumentative Gravitationszentrum. Als Ausgangspunkt der Französischen Revolution und mithin Sinnbild für die Durchsetzungskraft des Willens des Volkes gegen die Herrschenden fungiert die Place de la Bastille bis heute als der zentrale Ort vieler Demonstrationen, Kundgebungen und Volksfeste, die so den historischen Bezug zur der neuen Oper stand daher klar fest: Alle Oper dem Volke!«131

Schließlich wurde die neue Oper am Place de la Bastille in Paris mit der Eröffnungspremiere »Les Troyens« von Hector Berlioz am 14. Juli 1989 in Betrieb genommen. Abbildung 13: Die Baustelle der Opéra Bastille

Foto: Opéra national de Paris

131 | Agid/Tarondeau (2006), S. 109f.

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

Inhaltlicher Auftrag Mit der Gründung der l’Opéra Bastille durch den Präsidenten François Mitterand ist der inhaltliche Kulturauftrag verbunden, der die Aufgaben der Oper festhält und von einer elitären Ausübung in der künstlerischen Praxis schützen soll.132 »L’activité de l’Opéra national de Paris doit répondre au dessin des pouvoirs publics de disposer dans la capitale d’un théâtre d’opéra et de danse ouvert au plus vaste public possible.«

So heißt es in dem am 5. Februar 1994 verabschiedeten Beschluss, dass die Opéra national de Paris folgenden Aufgaben erfüllen soll:133 1.

Einen Zugang für ein größtmögliches Publikum zu der Tradition von Oper und Tanz bilden.

2.

Die Kreation und Aufführung von zeitgenössischen Werken unterstützen.

3.

Einen Beitrag zur Ausbildung und Weiterbildung junger Sänger und Tänzer leisten.

4.

Einen Teil zu der Fortschreibung des lyrischen und choreographischen Genres in Frankreich beitragen.

Leitung Die Leitung der Opéra national de Paris besteht aus einem/r Direktor/in, derzeitig Stéphane Lissner, der/die von einem Aufsichtsrat berufen wird. Dieser Aufsichtsrat setzt sich aus vier Repräsentanten des Kulturministeriums, einem Verwaltungsdirektor, vier Repräsentanten für Gehaltsfragen und weiteren vom Kulturministerium benannten Beiräten zusammen.134 Die Amtszeit des Direktor/ins beträgt sechs Jahre und kann einmal um drei Jahre verlängert werden. Der/die Direktor/in verantwortet die künstlerische Politik am Haus und entscheidet über die Spielplan-

132 | Vgl. Ott, Carlos: »Opéra Bastille: construire un instrument de musique«, 15.04.2006, Quelle: www.mitterrand.org/Opera-Bastille-construire-un.html (15. 08.2017) 133 | Sénat: »L’OPÉRA NATIONAL DE PARIS«, 15.08.2007, Quelle: https://www. senat.fr/rap/r06-384/r06-3842.html (15.08.2017). 134 | Sénat: »L’OPÉRA NATIONAL DE PARIS«, 15.08.2007, Quelle: https://www. senat.fr/rap/r06-384/r06-3842.html (15.08.2017).

4. Fallbeispiele

gestaltung, die Auswahl der Stücke und die Besetzung.135 Seit 2015 ist Stéphane Lissner Direktor der Opéra national de Paris. Die Rechtsform der Opéra Bastille unterliegt dem établissement public autonome à caractère industriel et commercial. Diese ermöglicht der künstlerischen Leitung, also dem Intendanten, ein stärkeres autonomes Handeln trotz der Kontrolle durch den von Kultur- und Finanzministerium gestellten Aufsichtsrat.

Le Salle Modulable Ursprünglich baute die Konzeption des Neubaus auf der Idee des Salle Modulable auf, welcher letztlich nicht umgesetzt wurde. Stattdessen entstand eine variable und zugleich frontale Bühne, die für 2.700 Zuschauer einsehbar sein sollte. Die Idee des Salle Modulable, entworfen von Pierre Boulez, benennt einen Spiel- und Produktionsort für neue Musik(-theater-)kreationen, der in der Anlage der Räumlichkeit absolute Flexibilität beinhaltet, sodass alle Möglichkeiten und Formen umgesetzt werden können. 2016 kündigte Lissner an, dass das Konzept des Salle Modulable in den kommenden Jahren mit 800 Sitzplätzen in den ateliers Berthier gebaut werden soll.136 Vergleichbares wurde bereits an der Staatsoper Berlin unter Daniel Barenboim137 mit dem Bau des Pierre-Boulez-Saals umgesetzt, der 2017 eingeweiht wurde.

Debatte Ein wirtschaftliches Argument sowie ein technisches Argument wurden zugunsten des Neubaus gebracht: Zum einen hätte die Anzahl der verfügbaren Sitzplätze im Palais Garner nicht zugelassen, dass eine Neugestaltung der Eintrittspreise zugunsten eines niederschwelligen Zugangs zur Oper möglich gewesen wäre. Zum anderen entsprach die Bühnentechnik im Palais Garnier nicht den Anforderungen, die eine Neuerung der Musiktheaterpraxis benötigte.

135 | Vgl. Opéra national de Paris (2016), S. 6ff. 136 | N.N.: »A Bastille, l’Opéra de Paris s’offre une deuxième salle de 800 places«, 25.10.2016, Quelle: https://cultureveille.fr/a-bastille-lopera-de-paris-soff re-une-deuxieme-salle-de-800-places/ (15.08.2017). 137 | Daniel Barenboim, arg.-isr. Pianist und Dirigent (*1942).

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

»L’insuffisance des recettes de billetterie du Palais Garnier d’une part ; les insuffisances techniques de l’arrière-scène d’autre part.«138

In einer Erklärung von Hugues Gall139 hieß es 1990, dass die l’Opéra Bastille eine schlechte Antwort auf ein Problem sei, was gar nicht existiert hätte.140 Mit anderen Worten: die kulturpolitische Entscheidung zum Bau der Opéra Bastille galt als umstritten. Obwohl der Neubau des Opernhauses eine niedrigschwellige Gestaltung der Eintrittspreise ermöglichen sollte, ergab sich trotz allem die Diskrepanz der Ticketunterschiede von 5  Euro bis 280  Euro141 pro Vorstellung. Einerseits wurde damit ein Zugang zur Oper bis zu einem limitierten Kartnekontingent für jeden ermöglicht, aber gleichzeitig wurde die Möglichkeit des Luxuserlebnisses aufrechterhalten. Weiterhin wurde die Möglichkeiten eines Generalprobenbesuches für einen Einheitspreis von 10  Euro angeboten sowie eine Ermäßigung der Eintrittspreise um 40 Prozent für die unter 40jährigen eingeführt. Immerhin erreicht die Opéra national de Paris einen Anteil von über 8,5 Prozent der Gesamtzuschauer im Alter bis 28 Jahren.142 Unter der Direktion des Intendanten Gerard Mortier143 (2004-2009) kam es schließlich zur gewünschten Verjüngung des Abonnentenpublikums von einem Durchschnittsalter von 54 Jahren auf nur noch 48 Jahren. Mortier setze auf eine neue Ästhetik und brachte neue Elemente der Darstellung, wie z.B. die Einführung des Videos an der Opéra national de Paris und erntete dafür starke Kritik144:

138 | Ebd. 139 | Hugues Gall, frz. Intendant, leitete die Opéra national de Paris von 19942004 (*1940) 140 | Hossein-Pour, Sonia: »Opéra Bastille-Paris«, 09.06.2016, Quelle: https:// www.forumopera.com/actu/opera-bastille-paris (15.08.2017). 141 | Opéra national de Paris: »Tarifs«, Quelle: https://www.operadeparis.fr/infor mations-pratiques/plans-de-salle-et-tarifs (15.08.2017). 142 | Vgl. Opéra national de Paris (2016), S. 25. 143 | Gerard Mortier, belg. Dramaturg und Intendant der Salzburger Festspiele, Opéra La Monnaie Brüssel, Ruhrtriennale, leitete die Opéra national de Paris von 2004-2009 (1943-2014). 144 | Vgl. Macassar, Gilles/Pascaud, Fabienne: »Entretien »A la tête de l’Opéra de Paris, je me suis vidé sans rien recevoir«, 18.07.2009, Quelle: www.telerama.fr/mu-

4. Fallbeispiele

»La presse parisienne me reproche d’être un homme de festival, mais je suis peutêtre le seul directeur à connaître à fond le système du théâtre de répertoire tel qu’il se pratique encore à l’Opéra de Vienne. Je pourrais diriger l’Opéra de Vienne demain, sans problème!«145

4.4.3 Überblick über den Spielplan Im Durchschnitt werden an der Opéra national de Paris pro Spielzeit 389 Vorstellungen von etwa 35 Produktionen gezeigt, bestehend aus Oper, Tanz, Symphoniekonzerten und Kammermusik.146 Davon sind etwa 220 Vorstellungen Opernproduktionen, welche sich aus 20 verschiedenen Stücken zusammensetzen, wovon fünf bis sechs Neuproduktionen und eine Uraufführung sind.

Auswahl Stücke und Künstler Unter der Direktion von Hugues Gall wurde eine Spielplanpolitik forciert, die auf bekannte Stücke setzte, die in ihrer jeweiligen Inszenierung so zugänglich waren, dass über mehrere Jahre ein breites Publikum erreicht werden konnte. »Ainsi les mêmes ouvrages sont repris dans la même mise en scène pendant plusieurs saisons consécutives ou en alternance. Cette politique, qui fait partie de la mission assignée par le Ministère de la culture et de la communication à la direction de l’établissement, permet à un très large public, national et international, d’assister aux spectacles.«147

Danach wurde unter der Direktion von Mortier auf das Erreichen eines jüngeren Publikums hingearbeitet. Dies gelang durch einen populär gestalteten Spielplan und neue Elemente in der Aufführungspraxis.

sique/a-la-tete-de-l-opera-de-paris-je-me-suis-vide-sans-rien-recevoir,45209. php (18.08.2017). 145 | Ebd. 146 | Vgl. Roussel, Françoise: »La diversification des publics à l’Opéra national de Paris«, Quelle: http://fgimello.free.fr/documents/d_rousse.pdf (15.08.2017). 147 | Ebd.

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

»Hugues Gall (1994-2004) ou Gérard Mortier (2004-2009), ont particulièrement marqué l’histoire de la maison: l’un pour sa gestion économique exemplaire, l’autre pour son audace artistique.«148

Das Repertoire auf dem Spielplan heute setzt sich zusammen aus Werken, die der Auslastung gerecht werden, wie beispielsweise die italienischen Opernklassiker »La Traviata« oder »La Bohème«, und einer Minderheit an weniger bekannten und schwer zugänglicheren Stücken.149 Daneben setzt die aktuelle Direktion von Stéphane Lissner auf ein breit aufgestelltes pädagogisches Programm, um sowohl vom Kindesalter bis zu den jungen Erwachsenen Neugierde für das Genre Oper und Tanz zu wecken und auch langfristig ein neues Publikum zu binden. So finden beispielsweise seit 2015 sogenannte »Concertini«, kleine Konzerte an öffentlichen Plätzen vor den abendlichen Vorstellungen statt und suchen die Aufmerksamkeit und den Dialog mit der Bevölkerung.150 Ebenso zählt die Neueinführung der 3e scène zu dem Instrumentarium des neuen Direktors. Hierbei soll über die digitalen Medien auf einer dritten Bühne der Zuschauer erreicht werden. Die zugrundeliegende Annahme ist, dass sich der Zuschauer heute dank der digitalen Technologie weltweit im Einzugsbereich der Oper befinden kann. Die 3e scène ist ein freies Modell, dass neue Technologien mit Tradition, Geschichte und künstlerischer Konzeption verbinden soll.151 »La 3e scène, espace numérique de création lyrique, musicale et chorégraphique, entre dans la deuxième étape de sa jeune existence après avoir déjà trouvé son public dans le monde entier: à partir du début de l’année 2017, elle proposera des formats et des contributions franchement différents, en se jouant des frontières sociales, géographiques, de format ou de genre, tout en s’inscrivant dans la continuité du projet initial.«152

148 | Hossein-Pour, (2016). 149 | Ebd. 150 | Ebd. 151 | Vgl. Opéra national de Paris: »Manifeste«, Quelle: https://www.operadeparis.fr/3e-scene/manifeste (18.08.2017). 152 | Lissner, Stéphane: »Editorial pour la saison 17/18«, Quelle: https://www. operadeparis.fr/saison-17-18/le-promontoire-du-songe (18.08.2017).

4. Fallbeispiele

Bereits drei Monaten nach ihrer Einführung verzeichnete die 3e scène 550.000 Klicks durch Nutzer der Seite.153

4.4.4 Standort Paris Paris spielte für die historischen Opernentwicklungen eine große Rolle und stellt das kulturelle Zentrum Frankreichs dar, sodass ein besonderes Interesse an der Verwirklichung eines neuen kulturellen Angebotes an diesem Standort bestand. Durch die Tatsache, dass Paris die Hauptstadt Frankreichs ist, kam dem Neubau der Oper höchstmögliche Aufmerksamkeit in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und im Tourismus zu. Abbildung 14: Die Opéra Bastille

Foto: Christian Leiber/Opéra national de Paris

Auswertung Kriterium

Merkmal

Neuartigkeit

Neubau eines Opernhauses mit dem Ziel ein breiteres Publikum zu erreichen und ein breiteres (inkl. zeitgenössischerem) Programm anzubieten.

Unsicherheit/ Risiko

Ablehnung des Spielplanangebotes durch die Bevölkerung.

153 | Vgl. Opéra national de Paris (2016), S. 28f.

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Interdisziplinarität

Einsatz neuer Instrumentarien, wie z.B. Videotechnik, sowie die Einführung der digitalen 3e scène im Internet.

Konfliktpotenzial

Trotz Dezentralisierungsversuche wird hier mit einer staatlichen Subvention von 110 Mio. Euro pro Jahr nahezu nur Pariser Publikum erreicht (einige Gastspiele sind die Ausnahme).

Zeitgenossenschaft

Auseinandersetzung mit der digitalen Welt als Erweiterung des Spielplans sowie die Parallelität im Spielplan durch Erhalt von Opernrepertoire und die Einführung von neuen Werken.

Neuartigkeit Die grundlegende Entscheidung der französischen Regierung 1979 durch Investitionen in die »Grands Travaux«, wozu auch die Opéra Bastille gehörte, eine soziale Einheit aufzubauen, erscheint aus gegenwärtiger Sicht außergewöhnlich, da dem Genre Oper nicht mehr Zeitgenossenschaft zugeschrieben wird. Obwohl grundsätzlich die Diskussion der öffentlichen Finanzierung von Opernhäusern Kritik auf bringt, sind sich Kulturpolitiker bewusst, welches Potenzial und Alleinstellungsmerkmal in den repräsentativen Bauten der Opernhäuser steckt. Vergleichbare Entscheidungen wurden aktuell u.a. in Paris mit dem Bau der 2015 eröffneten Philharmonie de Paris und in Hamburg mit dem Bau der 2017 eröffneten Elbphilharmonie getroffen.

Unsicherheit/Risiko Das Risiko liegt in der Größe der Opéra Bastille. Mit einem Zuschauersaal, der 2.700 Sitzplätze aufweist, ist der Druck hoch die notwendige Auslastung zu erreichen, damit maximale Einspielergebnisse erzielt werden. Hier liegt die Verantwortung in der Spielplangestaltung und der ernsthaften Auseinandersetzung mit der Bevölkerung und den Zielgruppen.

Interdisziplinarität Durch das Einbinden der digitalen Medien in die programmatische Arbeit gelingt der Opéra national de Paris eine interdisziplinäre Arbeit bereits vor dem Vorstellungsbesuch. Mit den Möglichkeiten der digitalen Techniken wird die dargebotene Kunst der Oper sichtbar gemacht und erreicht die Zuschauer auf anderen, kürzeren und grenzfreien Wegen.

4. Fallbeispiele

Konfliktpotenzial Trotz Dezentralisierungsabsichten von der Kulturpolitik wird an diesem Beispiel gezeigt, dass die staatlichen Subventionen von 110 Mio. Euro pro Jahr fast ausnahmslos nur Pariser Publikum zugute kommen. Die geringe Anzahl an Gastspielen ist hier nicht ausreichend, um den Vorwurf der zentral auf Paris ausgerichteten Arbeit von der Hand zu weisen.

Zeitgenossenschaft Die Auseinandersetzung mit der digitalen Welt als Erweiterung des Spielplans sowie die im Spielplan vorhandene Parallelität des Erhalts von Opernrepertoire und der Einführung von neuen Werken sind klare Belege für die zeitgenössische Arbeit der Opéra national de Paris. Leider ist dem Auslastungsdruck des großen Saals in der Opéra Bastille geschuldet, dass nicht mehr experimentelle Arbeiten zur Aufführung kommen. Das wiederum schützt unter Umständen die neuen Kompositionen, um nicht gleich der gnadenlosen Kritik ausgesetzt zu sein.

Was ist neu? Zwei Faktoren sind neu: 1. Die kostenaufwändige Investition in einen Neubau zugunsten einer Publikumsgewinnung. 2. Der Einzug der digitalen Techniken in die tägliche Arbeit eines Opernhauses.

Für wen ist es neu? Es ist auch für die Kulturpolitiker neu, die Entscheidung des neuen Opernhauses mit dem verbundenen Kulturauftrag zu begleiten und zu erhalten. Eine Schließung wäre für die Politik ein fatales Eingestehen einer Fehlentscheidung.

Wo beginnt und wo endet die Innovation? Die Innovation beginnt mit dem Beschluss ein neues Opernhaus zu bauen und wird enden, wenn die Kulturpolitik nicht mehr sicherstellt, dass sowohl der inhaltliche Anspruch an den Spielplan als auch der niederschwellige Zugang für ein breites Publikum gewährleistet wird.

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

Hat das Neue das Potenzial sich durchzusetzen? Das Modell des Neubaus einer Oper wird sich nicht durchsetzen. Der Beschluss von 1979 zeigte deutlich, wie viel Geld und Aufmerksamkeit die Regierung in die soziale Einheit der Nation Frankreichs investieren wollte. Hier wurde Nationalpolitik anhand von Kulturpolitik betrieben. Das war ein einmaliges Projekt für die Oper in Frankreich, um den Ruf einer elitären Einrichtung ablegen zu können, was nur bedingt gelungen ist. Dennoch muss weiterhin die Kulturpolitik Unterstützung und auch künstlerische Kontrolle leisten, wie z.B. bei der Benennung des/der Direktors/in, damit die politische Vision der »opéra moderne et populaire« erhalten bleibt. Dies bedeutet dann auch, dass mehr in junge Musiktheaterschaffende investiert werden kann und der künstlerische Anspruch einer »modernen und volkseigenen Oper« praktische Umsetzung findet.

Ausblick: neuer Spielplan 154 Der Spielplan für die kommende Spielzeit besteht aus Klassikern des Opernrepertoires: »Ein Maskenball« von Verdi, »Parsifal« von Wagner, »La Bohème« von Puccini und viele andere prominente Werke. Die einzigen Neuheiten unter den Stücken bilden die französische Erstaufführung von Kaija Saariahos155 Oper »Only the sound remains« und »La Ronde«, eine Oper in zehn Szenen von den Komponisten Philippe Boesmans156 und Fabrizio Cassol157 nach einem Libretto von Luc Bondy158, die im Amphitheater der Opéra Bastille uraufgeführt werden wird.

154 | Opéra national de Paris: »Saison 2017/2018«, Quelle: https://www.opera deparis.fr/saison-17-18/opera?filter=1 (15.08.2017). 155 | Kaija Saariaho, finn. Komponistin (*1952). 156 | Philippe Boesman, belg. Komponist (*1936). 157 | Fabrizio Cassol, belg. Komponist (*1964). 158 | Luc Bondy, schw. Opernregisseur und Intendant (1948-2015).

4. Fallbeispiele

4.5 D as M usik the aterkollek tiv H auen und S techen Das Beispiel wurde ausgewählt, weil die Opernregisseurinnen Julia Lwowski und Franziska Kronfoth das erste freie Musiktheaterkollektiv in Berlin gründeten, das von zwei Frauen geleitet wird und eine einzigartige künstlerische Handschrift entwickelt hat. Alleinstellungsmerkmal ist, dass das Kollektiv bewusst mit flachen Hierarchien arbeitet und alle relevanten Entscheidungen im Kernteam trifft. 2012 unter dem Namen LWOWSKI•KRONFOTH•MUSIKTHEATER KOLLEKTIV gegründet zeichnen sich ihre künstlerischen Arbeiten durch eine Kollagentechnik aus, die Elemente aus Oper mit Text, Video und performativen Mitteln neu zusammensetzt. Das Kollektiv besteht im Kern aus elf Künstlern, die die Bereiche Musik, Schauspiel, Videokunst, Regie, Bühnen- und Kostümbild abdecken. »Neben Einflüssen aus Oper, Schauspiel und Film kommt auf diese Weise das performative Element der konkreten, wiederholten und sich auf diese Weise entwickelnden und verändernden Aufführungssituation zum Tragen. Die Stücke lassen bewusst Zwischenräume für die Impulse der Darsteller und Wechselwirkungen mit den Zuschauern und finden in einer besonderen räumlichen Nähe statt.«159

159 | Hauen und Stechen: »Das Kollektiv«, Quelle: www.hauen-und-stechen.com/ kollektiv (18.08.2017).

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Abbildung 15: Das Kollektiv Hauen und Stechen

Foto: Thilo Mösner Die Mitwirkenden: Hsuan Huang, Franziska Kronfoth, Martin Mallon, Michael Glowski, Julia Lwowski, Gina-Lisa Maiwald, Günter Schanzmann, Roman Lemberg, Edwin Dickman, Maria Buzhor, Günter Lemke, Johanna Ziemer.

Bekanntheit erlangte das Kollektiv durch die Performance-Reihe »Hauen und Stechen«, für die innerhalb einer Woche eine Opernperformance erarbeitet und präsentiert wurde. Besonderes Merkmal ihrer künstlerischen Arbeiten sind die Anordnungen im Raum, mithilfe welcher sich die Zuschauer durch einen Parcours hindurch bewegen. Das Netzwerk Zeitgenössisches Musiktheater Berlin bezeichnet die Arbeit als »ein Labor für ein grenz- und genreübergreifendes Musiktheater«, das eine »einzigartige Musiktheatersprache« bedient, die »inhaltlich und ästhetisch enorm engagiert und expressiv ist«.160 160 | Vgl. Zeitgenössisches Musiktheater Berlin: »Hauen und Stechen Musiktheaterkollektiv«, Quelle: http://musiktheater-berlin.de/hauen-und-stechen/ (18.08.2017).

4. Fallbeispiele

Institution

Hauen und Stechen

Ansässig

Berlin

Rechtsform

Verein

Betriebsstruktur

Kompanie mit festem Ensemble

Kulturpolitische Förderung

Jede Produktion wird neu durch Fördermittelgeber getragen, wobei das zur Verfügung stehende Budget abhängig von der jeweiligen bewilligten Fördersumme ist.

Finanzierung

U.a.: strukturelle Förderung durch ein Stipendium der Elsa-Neumann-Stiftung16 und die DoppelpassFörderung in Kooperation mit den Sophiensälen (2016-2018).

Leitungsmodell

Doppelspitze entscheidet in Abstimmung mit dem Kollektiv

Anzahl der Mitglieder

Elf feste Mitglieder plus zusätzliche Mitwirkende

Bezahlung der Mitwirkenden

Zu Beginn ohne Förderung: unentgeltliche Mitwirkung, mittlerweile je nach Produktionsverhältnissen Mindestgage oder mehr Geld

Bespielte Bühnen

In Berlin: Galerina Steiner, Hebbel am Ufer, Sophiensäle, Ballhaus Ost, Akademie der Künste, Club Wilde Renate, Neuköllner Grießmühle. Weitere Orte: Schwere Reiter München, Opera Stabile Hamburg, Schwankhalle Bremen, Haus der Künstlerfamilie Schoeck (CH, Bayrische Staatsoper).

Probebühne

Abhängig vom Produktionsort

Anzahl an Produktionen

40 realisierte Produktionen

Gründung

2012

Motivation

Eigene künstlerische Konzepte zu realisieren

Vision

Grenz- und genreübergreifendes Musiktheater

Ziel

Mehr Musiktheater abseits der Guck-Kasten-Tradition stattfinden zu lassen und viele Menschen zu erreichen

4.5.1 Vision und Konzeption »Es ist eine Mischform, in der Oper die Hauptrolle spielt, aber mit Literatur und Sprechtheater, Film- und Videokunst, Performancekunst und Bildender Kunst kommuniziert; […] Was wir versuchen, ist, dass wir uns ernsthaft mit dem Stoff, den wir uns gewählt haben, was meistens eine Oper aus dem Repertoire ist, anzunehmen […] und alle Fragen, die man sich in der Auseinandersetzung stellt, auf die

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

Bühne holt und die live, theatral und mit einer Lust, mit einer Wildheit, mit einer Durchlässigkeit von den Darstellern bearbeitet.«161

Vision 1. Den Zuschauer aus der Starre der vierten Wand (sitzend im Zuschauerraum) zu befreien. 2. Tradierte Formen auf brechen durch einen performativen Umgang mit dem Material. 3. Eigene künstlerische Arbeiten mit Akteuren umsetzen, die die gleiche Motivation teilen. 4. Als junge Frauen sich Arbeitsbedingungen zu schaffen, die auf die eigenen künstlerischen und strukturellen Bedürfnisse zugeschnitten sind ohne abhängig zu sein.

Konzeption Julia Lwowski und Franziska Kronfoth sind die ersten Opernregisseurinnen in Berlin, die 2012 ein als Kollektiv geführtes freies Ensemble gründeten. Absicht dahinter war das Schaffen eigener Möglichkeiten, um künstlerische Arbeiten mit ihrer eigenen Arbeitsmethode umsetzen zu können und das Finden der eigenen Produktionweise. In einem festen Kollektiv plus zusätzliche Gäste werden bis zu vier Produktionen im Jahr erarbeitet. Daneben arbeiten die beiden Regisseurinnen auch weiterhin eigenständig. »Wir verlangen dem Zuschauer einiges ab – vor allem eine Offenheit für viele Bilder, für Videos, tolle Kostüme und ein dezentrales Bühnenbild, das den ganzen Raum einnimmt, für eine sehr detaillierte Interpretation und dafür, dass alle Zuschauer involviert werden. Die Zuschauer sind Teil des Geschehens. Die Grenze zwischen Zuschauer und Darsteller, zwischen Kunst und Kunstbetrachtung schaffen wir soweit es geht ab. Wenn man es negativ ausdrücken will, ist es eine Art Überforderung. Aber es ist auch eine Explosion von Bildern und Oper.«162 161 | Lwowski, Julia u. Kronfoth, Franziska, Interviewgespräch mit der Verfasserin, 24.09.2016, Neuköllner Oper. 162 | Lwowski, Julia: in: Team »Franziska Kronfoth und Julia Lwowksi machen interaktive Oper«, 05.07.2016, Quelle: http://femtastics.com/short-stories/franziska-kronfoth-und-julia-lwowski-machen-interaktive-oper/ (20.08.2017).

4. Fallbeispiele

4.5.2 Strukturelle Rahmenbedingungen und Kulturpolitik 2012 bekam Lwowski, damals noch Studentin der Opernregie an der Hochschule für Musik Hanns-Eisler in Berlin, die Möglichkeit die Räume der Galerina Steiner 163 für ihre eigenen künstlerischen Arbeiten zu nutzen. »Ich hatte alles, aber keine Lust, auf dem Papier zu inszenieren. Das war wirklich meine Todesangst, […] oder wie fast alle meine Kollegen, entweder assistieren gehen oder halt versacken und nichts machen. Es ist doch irgendwie sinnvoller, einfach selber was zu schaffen, wo du immer konstant Arbeit hast, auch wenn du erstmal für nichts arbeitest.«164

Die Chance für die junge Regisseurin lag darin, sich neben dem Studium auch der Praxis intensiv zu widmen. Das fand zu Beginn ohne finanzielle Mittel statt. Lediglich die Räumlichkeiten boten als Infrastruktur den Ausgang für das künstlerische Arbeiten. »Die Frau hat eigentlich ihr Redaktionsbüro in den Räumen, wo wir probten. […] Es gab immer 20 Personen, die so alle fünf Minuten hin und her laufen und fragen, ob du dies oder das hast. Dann war das mit der Uni sehr gut zu koppeln, weil wir da durch die Kontakte erstmal noch die Sänger hatten.«165

Lwowski tat sich mit ihrer Kollegin Franziska Kronfoth zusammen, die gerade das Studium absolviert hatte. Gemeinsam starteten sie eine Serie von Performances mit interessierten und motivierten Künstlern, i.d.R. noch Studenten, unter dem Titel »Hauen und Stechen«. Die Idee war, innerhalb von kurzer Zeit ein offenes Thema performativ und musikalisch zu bearbeiten. Der Rhythmus wurde so gelegt, dass jede Woche eine neue Performance erarbeitet und vor Publikum gezeigt wurde. Nach drei Wo163 | Galerina Steiner: ist eine kleine freie Galerie, die 2012 eröffnet wurde und drei bis vier Ausstellungen jährlich präsentiert. Daneben hat die Galerie in dem Zeitraum von 2012 bis 2015 elf Opernperformance von HAUEN UND STECHEN beherbergt und diente als Produktions-, Proben- und Aufführungsort gleichzeitig. 164 | Lwowski, Julia u. Kronfoth, Franziska, Interviewgespräch mit der Verfasserin, 24.09.2016, Neuköllner Oper. 165 | Ebd.

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

chen wurde der Abstand vergrößert, weil die Anstrengung zu groß war. Auch ohne Bezahlung etablierte sich ein festes Kernteam. »Nach und nach entwickelt sich, dass immer mehr Leute gefragt haben und immer mehr Zeit investiert haben bei uns mitzumachen. Es hat irgendwann angefangen zu leben.«166

Das Team der Mitwirkenden erwies sich als flexibel und somit war die wichtigste Komponente gegeben, um die Ideen der jungen Macherinnen umzusetzen. Unter Berücksichtigung der nicht vorhandenen Entlohnung der Mitwirkenden und zur Vermeidung von Überarbeitung der Mitwirkenden wurde der Proebenzeitraum auf fünf Tage begrenzt. In diesem Zeitraum wurde aber Tag und Nacht gearbeitet. »Wir konnten denen kein Geld geben, also guckt man, dass man sich da irgendwie mit arrangiert.«167

So gelang es unter improvisierten Arbeitsbedingungen eine eigene künstlerische Handschrift und eine eigene Arbeitsweise zu entwickeln. Durch die Möglichkeit permanent arbeiten zu können, gelang es den Künstlerinnen eine Infrastruktur zu etablieren. Diese besteht aus den zwei relevanten Aspekten: der Arbeitsmethode und dem festen Kollektiv. Beides entwickelte sich im Laufe der ersten Produktionen und verfestigte sich als wichtige Instanz für die künstlerische Handschrift. »Wir haben uns ein kleines Theaterhaus selber organisiert, wirklich auf dem absurdesten Weg. Aber wenn du es nicht schaffst als Frau, vor allem als junge Frau, mit deinen Ideen, Künsten, Talenten, Visionen gegen diese krasse, unfassbare männliche Wand anzukommen…«168

Die künstlerischen Arbeiten erlangten schnell Aufmerksamkeit, sodass sich freie Institutionen, wie die Neuköllner Oper, das Ballhaus Ost und die Sophiensaele, als Unterstützer wiederholt einschalteten und neue künst166 | Lwowski, Julia u. Kronfoth, Franziska, Interviewgespräch mit der Verfasserin, 24.09.2016, Neuköllner Oper. 167 | Ebd. 168 | Ebd.

4. Fallbeispiele

lerische Aufträge an das Kollektiv oder eine der beiden Regisseurinnen vergaben. Auch hier entstanden einige Arbeiten aus dem Moment heraus. So hat Lwowksi beispielsweise ihre erste Produktion sehr kurzfristig am Ballhaus Ost eingeräumt bekommen, ohne dass hierfür ein Budget oder andere Mittel von Seiten der Institution eingeplant waren.169 Aus Sicht der beiden Künstlerinnen sind diese Institutionen, wie das Ballhaus Ost und die Galerina Steiner, unverzichtbare Unterstützer gewesen für ihre eigene Entwicklung. Auf die Frage des Stern Magazin an den Galeristen Thilo Mössner, warum er das mitmache: »Weil da frische und starke Kräfte heranwachsen«, schwärmt er. »Weil es nicht so aufgeblasen ist wie der übliche Opernbetrieb. Und überhaupt: weil Oper cool ist.«170

Die vielen Produktionen führten mit ihren jeweiligen Erfahrungswerten dazu, dass sich die künstlerische Handschrift entwickelte, die das Kollektiv jetzt auszeichnet. Wiederkehrende Mitwirkende sind inzwischen zum festen Bestandteil des Kollektivs geworden.

Künstlerische Leitung: Franziska Kronfoth & Julia Lwowski Das Kollektiv wird von Franziska Kronfoth und Julia Lwowski künstlerisch geleitet. Die Entscheidungen über Stücke und Themenstellung entstehen in enger Zusammenarbeit mit dem Kernteam, bestehend aus dem musikalischen Leiter, dem Dramaturgen, den Ausstattern und den Darstellern. Ein festes Netzwerk aus Darstellern, Musikern, Sängern, Performern, Dirigenten und Ausstattern arbeitet regelmäßig mit dem Kollektiv zusammen.

169 | Ebd. 170 | Mössner, Thilo: in: Lösel, Anja »In der Pool-Position«, Stern Magazin, 06.06.2013, S. 121.

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

Abbildung 16: Die Gründerinnen (v.l.n.r.), Franziska Kronfoth und Julia Lwowski

Foto: Dominik Odenkirchen

Doppelpass-Förderung 171 Der Doppelpass wird von der Kulturstiftung des Bundes für Kooperationen zwischen freien Theatergruppen und festen Theaterhäusern mit einer Laufzeit von zwei Jahren vergeben. Durch die vorhandene Infrastruktur des Theaterbetriebes erhält die geförderte freie Künstlergruppe 171 | Vgl. Kulturstiftung des Bundes: »Doppelpass – Fonds für Kooperationen im Theater«, Quelle: www.kulturstiftung-des-bundes.de/cms/de/programme/doppel pass/ (18.08.2017).

4. Fallbeispiele

Rahmenbedingungen, die zum einen die Möglichkeit schaffen neue Konzepte zu erarbeiten und zum anderen den Grundstein für eine langfristige Zusammenarbeit legen können. »Die Förderung will Künstlerinnen und Künstler beider Seiten den nötigen Freiraum eröffnen, um ihre Strukturen und Arbeitsweisen produktiv zu verbinden.«172

Für HAUEN UND STECHEN wurde über den Zeitraum von zwei Jahren neben den infrastrukturellen Möglichkeiten durch den Kooperationspartner Sophiensaele Berlin ein Budget von 165.000 Euro zur Verfügung gestellt. Diese decken sämtliche Personalkosten des Ensembles über den genannten Förderzeitraum hinweg.173 Im Rahmen dieser Doppelpassförderung erarbeitete das Kollektiv das Opernwerk »Turandot« von Puccini174 mittels drei Studien: »Die Todesqualle oder wer flüstert, der lügt #1, #2, #3«. und »Cazza Ragazza – Puccinis letztes Lied«.

4.5.3 Gesamtüberblick über die künstlerischen Arbeiten Die künstlerischen Arbeiten des Kollektives bedienen zwei Komponenten: entweder wird ein Thema als musiktheatrale Performance erarbeitet oder ein bestehender Operntext durch die Kollagentechnik mit neuen performativen und musikalischen Materialien bearbeitet. Insgesamt wurden auf diesem Weg 40 Arbeiten realisiert, hiervon zwölf in der Galerina Steiner und die anderen in verschiedenen Spielstätten der Freien Szene in Berlin, in der Hamburgischen Staatsoper sowie im Schwere Reiter in München u.v.m.

Performancereihe »Hauen und Stechen« In den Jahren 2012 bis 2016 lud die Galerina Steiner zu der PerformanceReihe »Hauen und Stechen« ein, die im Kellergewölbe unter der Galerie, in der Galerie selbst und in der Künstlerwohnung eines Malers im Nebenhaus stattfand. In einem Labyrinth aus kleineren und größeren Gängen 172 | Lwowski, Julia u. Kronfoth, Franziska, Interviewgespräch mit der Verfasserin, 24.09.2016, Neuköllner Oper. 173 | Lwowski, Julia u. Kronfoth, Franziska, Interviewgespräch mit der Verfasserin, 24.09.2016, Neuköllner Oper. 174 | Giacomo Puccini, ital. Komponist (1858-1924).

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und Räumen konzipieren die Regisseurinnen Lwowski und Kronfoth mit ihrem Kollektiv einen musiktheatralen Parcours zu ausgewählten Themen oder zur Opernliteratur. An zwei Tagen wurden die Performances bis zu sechs Mal wiederholt und somit einem großen Publikum zuteil. In dieser Phase wurden fünf Studien zu »Lulu« erarbeitet, die als Abschlussinszenierung »LULU/NANA oder Das Huhn mit dem Inneren und dem Äußeren« in den Sophiensaelen Berlin zur Aufführung kam.

Arbeitsweise Ursprünglich ist HAUEN UND STECHEN der Titel einer Performancereihe, die sich einzelnen Themengebieten widmet. Für jede Folge dieser Reihen erarbeitete das Kollektiv zu einem bestimmten Themenbereich eine Materialsammlung bestehend aus Opern, Arien, Noten, Texten und philosophischen Denkweisen. In einer Probenzeit von fünf Tagen wurde dieses Material bis zur letztlich gefundenen Anordnung bearbeitet, zerstückelt und neu angeordnet. Während des Elsa-Neumann-Stipendium für Franziska Kronfoth wurde daraus eine serielle Arbeitsweise entwickelt.

Serielles Arbeiten zu »Lulu« 175 Während der Vorbereitungen zu »LULU/NANA oder Das Huhn mit dem Inneren und dem Äußeren«, auf der Basis von Material von Alban Berg176, Jean-Luc Godard177 und Frank Wedekind178, stellte Franziska Kronfoth die Theorie auf, dass es nicht eine eindeutige Lesart für das Stück geben könne. Stattdessen stand vordergründig die Frage im Zentrum des Arbeitens: Wer kann alles Lulu sein? In Form von verschiedenen Studien wurde daraufhin der Text in Verbindung mit einer Materialsammlung untersucht. Für jede Studie kamen andere Darsteller zum Einsatz, die einen Themenkomplex dieser Frage bearbeitet haben. Über diese Auseinandersetzung mit dem Thema entstand die szenische Form. Ziel der einzelnen Studien war es, sie am Ende in einer Abschlussinszenierung zusammensetzen zu können. 175 | Lwowski, Julia u. Kronfoth, Franziska, Interviewgespräch mit der Verfasserin, 24.09.2016, Neuköllner Oper. 176 | Alban Berg, österr. Komponist (1855-1935). 177 | Jean-Luc Godard, frz.-schw. Filmregisseur (*1930). 178 | Frank Wedekind, dt. Schriftsteller, Dramatiker (1846-1918).

4. Fallbeispiele

Abbildung 17: Aus der Produktion »LULU/NANA«, (v.l.n.r.): Julia Lwowski, Roman Lemberg, Gina-Lisa Maiwald

Foto: Thilo Mössner

Mitspiel-Prinzip Ein wichtiges Anliegen für die beiden Regisseurinnen ist es, immer auch selber als Performerinnen in den Produktionen beteiligt sein zu können. Das wird dadurch ermöglicht, dass sie sich in der Regieführung regelmäßig abwechseln. In den künstlerischen Arbeiten, wo beispielsweise Lwowksi inszeniert, wird Kronfoth zum festen Bestandteil des Ensembles und agiert als Performerin. »Also, es gibt ja oft diese Probleme […]. Da hast du natürlich Leute, die das nicht verstehen, die davor Angst haben, die extrem, sozusagen, dagegen gehen, und da ist es natürlich super, jemanden im Team zu haben, […] also deinen Partner. Und das ist eben etwas, was wir beide sehr gerne tun, d.h. Regie und Spielen.«179

Das Mitspielen ermöglicht von innen heraus eine erweiterte Betrachtung auf das eigene Stück. Für das Kollektiv bedeutet das Performative aber 179 | Lwowski, Julia u. Kronfoth, Franziska, Interviewgespräch mit der Verfasserin, 24.09.2016, Neuköllner Oper.

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auch die Möglichkeit eines Dialoges mit den Zuschauern. Die sogenannte vierte Wand, bestehend aus sitzenden Zuschauern, kann so aufgebrochen werden. »Unsere Inszenierung verführt dazu, sich auf Oper einzulassen, auch wenn man sonst keine Oper mag. Die Oper ist bei uns ganz nah dran und lebendig.«180

Dem Kollektiv ist es ein Anliegen eine physische Nähe aufzubauen und die Stimme, den Atem und die Lautstärke des Operngesangs von seiner Unnahbarkeit zu befreien. »Du hörst die Musik anders, du begreifst diese Musik anders, du findest sie anders und du erlebst sie anders als Zuschauer, wenn es an dich herangeholt wird.«181

4.5.4 Standort Berlin »Wenn direkt am Straßenstrich Kurfürstenstraße der Berliner Opernnachwuchs um Julia Lwowski und Franziska Kronfoth mal wieder eine wüste Uraufführung veranstaltet, dann drücken sich 50, 60 Menschen in einem Luftschutzkeller, ohne Fluchttüren, mit Zigaretten unter Gasleitungen.«182

Nach ihrem Studium der Opernregie an der Hochschule für Musik Hanns-Eisler war die Ausgangssituation für die Gründung eines Kollektivs in Berlin optimal: neben der Verfügbarkeit der Räume der Galerina Steiner und dem Netzwerk basierend auf arbeitswilligen Studenten der Hochschule war in Berlin auch ein experimentierfreudiges Publikum zu finden und ein Austausch mit Fachleuten möglich. Unterstrichen wurde das zusätzlich durch hohe Besucherzahlen in den Vorstellungen und 180 | Kronfoth, Franziska: in: Team »Franziska Kronfoth und Julia Lwowksi machen interaktive Oper«, 05.07.2016, Quelle: http://femtastics.com/short-stories/fran ziska-kronfoth-und-julia-lwowski-machen-interaktive-oper/ (20.08.2017). 181 | Lwowski, Julia u. Kronfoth, Franziska, Interviewgespräch mit der Verfasserin, 24.09.2016, Neuköllner Oper. 182 | Schumacher, Hajo: »Warum in Berlin so viel schiefläuft – und es keinen stört«, in: Berliner Morgenpost, 13.12.2015, Quelle: https://www.morgenpost.de/ berlin/article206818699/Warum-in-Berlin-so-viel-schieflaeuft-und-es-keinenstoert.html (18.08.2017).

4. Fallbeispiele

durch Einladungen an andere Orte in Berlin, von öffentlichen Räumen über Clubs bis hin zu Theaterhäusern, zu arbeiten.

4.5.5 Auswertung Kriterium

Merkmal

Neuartigkeit

Gründung des Kollektivs und anfängliches Arbeiten ohne Finanzierung

Unsicherheit

Finanzielle Absicherung war nicht gegeben

Interdisziplinarität

Elemente aus Philosophie, Film, Oper und Performance werden gleichwertig zusammengebracht

Konfliktpotenzial

Die Arbeitsweise bringt Schwierigkeiten in den Fällen, wo Theaterbetriebe das Kollektiv einladen bei sich zu arbeiten

Zeitgenossenschaft

Die inhaltliche Themenstellung wird auf die Gegenwart hin befragt

Neuartigkeit Hauen und Stechen war das erste weiblich geführte Musiktheaterkollektiv in Berlin. In der Zwischenzeit sind weitere Kollektive entstanden, wie Opera Lab Berlin oder La Cage. Außerdem war der Wagemut, ohne finanzielle Mittel kontinuierlich zu arbeiten, eine Neuartigkeit.

Unsicherheit/Risiko Von Beginn an bestand eine hohe Unsicherheit in der Tatsache, dass keine finanziellen Mittel zur Verfügung standen. Diese Unsicherheit wurde von den beiden Macherinnen im Hinblick auf die schlechter gestellte Rolle der Frau im Theater- und Opernbetrieb und der somit neuen Möglichkeit sich frei entfalten zu können, bewusst in Kauf genommen.

Interdisziplinarität Verschiedene künstlerische Elemente wurden gleichwertig zusammengebracht. Der Blick auf das Genre Oper wurde aus den verschiedenen Disziplinen betrachtet. Das sich daraus ergebende künstlerische Ergebnis war eine fragmentarische Zusammensetzung und bildete eine Neukomposition.

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Konfliktpotenzial Solange das Kollektiv an Orten künstlerisch tätig ist, in denen sie selbst die für ihre künstlerische Arbeit notwendige Infrastruktur einführen gibt es wenig Konfliktpotenzial. Durch zunehmende Zusammenarbeiten mit bestehenden Institutionen zeigt sich, dass die eigene Arbeitsweise zu Konflikten führen kann, wenn sie der Struktur des Hauses widerspricht. In einer Produktion hatten die Regisseurinnen mit einem starken Widerstand der Sänger des Hauses gegen die künstlerische Konzeption zu kämpfen.183 Die Untersuchung der Gründe für dieses Konfliktpotential kann im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden.

Zeitgenossenschaft Die künstlerische Handschrift der Regisseurinnen ist von Zeitgenossenschaft gekennzeichnet: der Einsatz von den grundlegenden performativen Mitteln, wie Zeit und Raum, erstellt im Zusammenspiel mit den Darstellern, Zuschauern und der Materialsammlung den Bezug zur Gegenwart und öffnet gleichzeitig einen Verweis zur Historie der Materialien.

Was ist neu? Neu ist in diesem Beispiel die kollektive Arbeitsweise, in der sich am Opernbegriff abgearbeitet wird und gleichzeitig nicht die Abgrenzung zur Oper gesucht wird.

Für wen ist es neu? Die Arbeitsweise und das Auftreten im Kollektiv sind im Musiktheater und für den Rezipienten neu und an Opernhäusern noch unüblich. Ebenso ist der performative Zugriff in ihren Arbeiten auf bestimmte Opernstoffe ein in Opernhäusern unübliches Arbeiten. Dennoch etabliert sich das Kollektiv zunehmends mehr und kann die Arbeiten auch an Opernhäusern zeigen, wie u.a. an der Bayrischen Staatsoper.

Wo beginnt und wo endet die Innovation? Die Innovation beginnt mit der Idee der Kollektivgründung und der Bereitschaft, ohne Rahmenbedingungen Musiktheater zu machen. Nur solange der Schöpfungsdrang weiter Initiator für künstlerische Konzep183 | Lwowski, Julia u. Kronfoth, Franziska, Interviewgespräch mit der Verfasserin, 24.09.2016, Neuköllner Oper.

4. Fallbeispiele

tionen bleibt, wird das Kollektiv weiter innovative Situationen in Möglichkeiten verwandeln, die künstlerische Arbeiten in dieser Form hervorbringen.

Hat das Neue das Potenzial sich durchzusetzen? Das Beispiel dieser Kollektivbildung wurde bereits als Vorbild genommen für die Gründung weiterer Kollektivstrukturen in Berlin. Es belegt damit, dass das Modell ein künstlerisches Arbeiten ermöglicht und zeigt, was notwendig ist, um eigene künstlerische Arbeiten umsetzen zu können. Die Macher schaffen sich die Konditionen, die sonst nicht vorhanden sind. Die Presse reagierte mit gemischten, aber regelmäßigen Pressemitteilungen über die Arbeiten des Kollektivs. Der Tagesspiegel schrieb am 13.02.2016 über Lwowskis »Elektra«, dass es eine verstörende Inszenierung und nicht die beste Elektra sei, Lwowskis mit ihrem Stück jedoch Atmosphäre hergestellt habe und sich etwas trauen würde.184 Die neue musikzeitung schrieb über den »Orpheus« an der Staatsoper Hamburg, dass die Regisseurinnen »Kronfoth und Lwowski mit diesem Konzept von genreübergreifendem und grenzzerstörendem Theater nah dran seien, an dem was Telemann wollte«: Musik für Bürger und eine Vereinheitlichung von den bisherigen deutsch, französisch und italienischen Musikstilen.185 Die taz stand Lwowskis Inszenierung von »Schwindel. Über das Verlieren« in der Neuköllner Oper kritisch gegenüber und fragte: »Kann das Streben nach einem konzeptuell ambitionierten, modernen Musiktheater auf Dauer die Liebe zur Oper ersetzen, fragt man sich an diesem Abend dann doch? Denn den Nachweis, dass beides zusammengeht, hat ›Schwindel‹ leider nicht erbracht, auch wenn das Produktionsteam schon mal den Griff zum großen Opernstoff gewagt hat.«186 184 | Badelt, Udo: »Küss mich nicht!«, in: Tagesspiegel, 13.02.2016, Quelle: www.tagesspiegel.de/kultur/elektra-an-der-neukoellner-oper-kuess-mich-nicht/ 12957228.html (18.08.2017). 185 | Schalz-Laurenze, Ute: »Georg Philipp Telemanns »Orpheus« an der Hamburger opera stabile«, 11.07.2016, neue musikzeitung, Quelle: https://www.nmz. de/online/georg-philipp-telemanns-orpheus-an-der-hamburger-opera-stabile (18.08.2017). 186 | Granzin, Katharina: »Die Dame auf der Stange«, 11.01.2014, taz, Quelle: www.taz.de/!410672/ (18.08.2017).

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Doch alle Kritiken waren sich einig: hier wird von allen Mitwirkenden viel und Außergewöhnliches geleistet. »Beide Sänger müssen körperlich Erhebliches leisten, sich auf den Boden werfen, humpeln, springen, tanzen, klettern, dass es nur so eine Art hat. Daneben auch noch zu singen, grenzt an Schwerstarbeit.«187

Das Beispiel von Hauen und Stechen zeigt exemplarisch mehrere Faktoren, die die Situation von jungen Musiktheaterschaffenden verdeutlicht: 1. Keine bis geringe finanzielle Mittel erzwingen das künstlerische Schaffen zu prekären Bedingungen. 2. Ohne die Unterstützung von bestehenden Strukturen oder Institutionen ist es nicht möglich, die künstlerischen Arbeiten umzusetzen. 3. Der Wagemut hat sich gelohnt, da nach einem risikoreichen Beginn die Akzeptanz und Anerkennung der Institutionen folgte und das Kollektiv eingeladen wurde an anderen Häusern zu arbeiten.

Ausblick In der kommenden Spielzeit wird Hauen und Stechen erstmalig an einem französischen Theater, das Théâtre d’Athénée 188 in Paris, arbeiten und noch dazu eine Kooperation mit der Bayrischen Staatsoper beginnen. Somit stehen vielversprechende Experimente bevor und es bleibt zu hoffen, dass das Kollektiv sich dauerhaft in der Musiktheaterlandschaft etabliert und weiterhin für intelligente Diskussionen über den Begriff und die künstlerische Neuausrichtung von Oper sorgt.

187 | Granzin, Katharina: »Die Dame auf der Stange«, 11.01.2014, taz, Quelle: www.taz.de/!410672/ (18.08.2017). 188 | Vgl. Théâtre d’Athénée: »Notre Carmen«, Quelle: www.athenee-theatre.com/ saison/spectacle/notre_carmen1.htm (18.08.2017).

4. Fallbeispiele

4.6 D as O per a L ab B erlin »Das Opera Lab Berlin ist ein freies Ensemble, das sich seit 2013 der Herstellung von zeitgenössischem, wirklichkeitsverbundenem und genreübergreifendem Musiktheater verschrieben hat.«189

Das Ensemble Opera Lab Berlin gründete sich 2013 und erarbeitete seitdem 15 Produktionen zeitgenössischer Musiktheaterwerke, die sowohl neue künstlerische Sichtweisen als auch Alltagsrealitäten vereinen und ohne Beschränkungen der Produktions- und Darstellungsweisen arbeiten.190 Das Ensemble wird von zwei Künstlern geleitet, die als Direktion die Entscheidungen über Stücke und Besetzungen treffen, sowie sich um alle administrativen Belange kümmern. Die Mitglieder des Ensembles stellen sich als Netzwerk an assoziierten Künstlern den Projekten zur Verfügung. Abbildung 18: Das Opera Lab Berlin

Foto: Opera Lab Berlin

189 | ZMB: »Opera Lab Berlin«, Quelle: http://musiktheater-berlin.de/operalab/ (18.08.2017). 190 | Vgl. ebd.

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

Institution

Opera Lab Berlin

Ansässig

Berlin

Rechtsform

Eingetragener Verein

Betriebsstruktur

Ensemble, künstlerisches Leitungsteam und ein Pool aus Künstlern, die je nach Produktion besetzt werden

Kulturpolitische Förderung

Unterstützung durch städtische Fördermittel, Hauptstadtkulturfonds, aber auch durch Kooperationen mit Theatern, wie dem Ballhaus Ost

Finanzierung

Keine Strukturförderung, individuelle Förderung durch Kooperationen, Koproduktionen

Leitungsmodell

Doppelspitze

Anzahl der Mitglieder

33

Bezahlung der Mitwirkenden

Erfolgte ab dem zweiten Jahr nach der Gründung

Bespielte Bühnen

Acker Stadt Palast Berlin, Ballhaus Ost, Tischlerei Deutsche Oper Berlin, Staatsoper im Schillertheater, u.v.m.

Probebühne

Acker Stadt Palast Berlin

Anzahl an Produktionen

15

Gründung

2013

Motivation

Fortsetzung der Zusammenarbeit von Komponist und Regisseur für zeitgenössisches Musiktheater

Vision

Eigene Produktionen von zeitgenössischem Musiktheater in Zusammenarbeit mit lebenden Komponisten realisieren

Ziel

Zukünftig eine neue Uraufführungsinstitution mit dem Ensemble bespielen

4.6.1 Vision und Konzeption Opera Lab Berlin hat sich mit der Motivation gegründet, dem Mangel an Uraufführungen von zeitgenössischem Musiktheater mit einem festen Ensemble und einem Netzwerk aus lebenden Komponisten und Regisseuren entgegenzuwirken.

4. Fallbeispiele

Vision 1. Die »Herstellung von zeitgenössischem, wirklichkeitsverbundenem und gattungsübergreifendem Musiktheater«191 gewährleisten. 2. Die Uraufführungen und Neuproduktionen von zeitgenössischem Musiktheater mit der Möglichkeit der geteilten Autorenschaft und dem Austausch zwischen Komponisten und Regisseuren fördern. 3. Ein Netzwerk mit lebenden Komponisten bilden und vor einer Öffentlichkeit sichtbar zu machen. 4. »Ein genreübergreifendes, unterhaltsames und wirklichkeitsnahes Musiktheater zu machen«192 und die Verbindung von neuer Musik mit allen Formen der Darstellung als ein »zeitgenössisch relevantes Musiktheater«.193

Konzeption Das Opera Lab Berlin ist ein Ensemble mit festen Mitgliedern und einem künstlerischen Leitungsteam. Inhaltlich liegt der Fokus auf der Produktion von Musiktheaterwerken noch lebender Komponisten. Das Opera Lab Berlin versteht sich auch als Kurator und lädt Regisseure und Komponisten mehrmals im Jahr ein, um für die Reihe Im Feld mit dem Ensemble von Opera Lab Musiktheaterwerke zu erarbeiten. Opera Lab Berlin versteht sich als Laboratorium zur Fortschreibung und Befragung des zeitgenössischen Musiktheaters. Zwischen drei und sechs dieser Produktionen entstehen jährlich.

4.6.2 Strukturelle Rahmenbedingungen und Kulturpolitik Zur Gründung kam es, ausgehend von der Kooperation Neue Szenen194, zwischen der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin und der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin. Die Gewinner aus einem internationalen

191 | Opera Lab Berlin: »Ensemble«, Quelle: www.opera-lab-berlin.com/de-en semble-copy (18.08.2017). 192 | Höppner, Michael u. Gardner, Evan; Interviewgespräch mit der Verfasserin, Ballhaus Ost, 04.06.2017. 193 | Ebd. 194 | Höppner, Michael u. Gardner, Evan; Interviewgespräch mit der Verfasserin, Ballhaus Ost, 04.06.2017.

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

Kompositionswettbewerb wurden durch Regieteams und mit einem Vokal- und Instrumentalensemble der Hochschule realisiert. Hier traf der Komponist Evan Gardner auf den Regisseur Michael Höppner und initiierte im Anschluss die Gründung des Ensembles Opera Lab Berlin.195 Zu Beginn gab es für die Mitwirkenden noch keine Möglichkeit der Bezahlung. Alle potenziellen Mitglieder des Ensembles mussten zur Projektteilnahme inhaltlich überzeugt werden. Nach den ersten Produktionen änderte sich das. »Das erste Jahr konnten wir noch nicht unsere Musiker bezahlen. […] Man muss aktiv vorher sein, bevor man überhaupt für Geldgeber infrage kommt.«196

Als Berliner Projekt profitierte das Ensemble von den auf Berlin bezogenen Fördergeldern, wie beispielsweise den Senat oder den Hauptstadtkulturfonds. Bisher existiert noch keine feste strukturelle Förderung. Abbildung 19: Die Gründer und Leiter des Opera Lab Berlin: Evan Gardner, Michael Höppner

Foto: Opera Lab Berlin

Künstlerische Leitung: Evan Gardner & Michael Höppner Evan Gardner ist ein norwegisch-amerikanischer Komponist sowie Gründer und Vereinsvorsitzender. Michael Höppner ist deutscher Regisseur und der stellvertretende Vorsitzende. Beide leiten das Opera Lab Berlin 195 | Vgl. Opera Lab Berlin: »Neue Szenen«, Quelle: www.opera-lab-berlin.com/ de/neue-szenen (18.08.2017). 196 | Höppner, Michael u. Gardner, Evan; Interviewgespräch mit der Verfasserin, Ballhaus Ost, 04.06.2017.

4. Fallbeispiele

künstlerisch und treffen die Entscheidungen über Stücke, Komponisten und Regieteams gemeinsam. Meist erarbeiten sie selbst eine Produktion pro Saison gemeinsam. Das Opera Lab Berlin funktioniert anders als ein Kollektiv. Nicht alle Produktionen, die das Oper Lab Berlin initiiert werden auch von der eigenen künstlerischen Leitung verantwortet. Für die Musiktheaterreihe »IM FELD« werden Komponisten und Regieteams eingeladen zusammenzuarbeiten. »Wir versuchen eigentlich das klassische Theatermodell. Es gibt wie so eine Art künstlerischer Leitung und Geschäftsführung, wie so eine Art Intendanz.«197

Die Mitwirkenden können nicht allein von ihrer Mitwirkung im Opera Lab Berlin leben, sondern arbeiten auch in anderen Projekten. Terminabsprachen müssen früh vereinbart werden, um die Zusammenarbeit sicherzustellen. Die Bezahlung der Mitwirkenden erfolgt durch eine Probenpauschale und ein Honorar für die Vorstellungen. Durch die Abhängigkeit von Förderanträgen beginnt die Konzeptformulierung etwa ein Jahr im Voraus. Die eigentliche Probenzeit beträgt sechs Wochen, mit der Perspektive, auch in den laufenden Kompositionsprozess eine Workshop-Phase zu integrieren, aus der sich die Komposition wieder befruchten kann.

Arbeitsweise Das Ensemble besteht aus Künstlern, die genreübergreifend und szenisch agieren. Die Mitwirkenden für die Produktionen werden aus dem Ensemble besetzt, ohne dass eine Verbindlichkeit vorhanden ist, dass das gesamte Ensemble in jeder Produktion zum Einsatz kommen muss.198 Zusätzlich zu den Produktionen gibt es in unregelmäßigen Abständen Coaching-Sessions, in denen Performancetechniken oder andere Zusatzqualifikationen ausgebaut werden sollen.199

197 | Höppner, Michael u. Gardner, Evan; Interviewgespräch mit der Verfasserin, Ballhaus Ost, 04.06.2017. 198 | Ebd. 199 | Ebd.

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

4.6.3 Gesamtüberblick über die künstlerischen Arbeiten Seit der Gründung wurden mehr als 15 Produktionen umgesetzt. Hierzu zählt die Mitwirkung an Salvatore Sciarrinos Oper »Macbeth« in der Inszenierung des Intendanten der Staatsoper Berlin Jürgen Flimm direkt im zweiten Jahr. Diese verhalf zu großer Aufmerksamkeit. Vorwiegend stehen jüngere lebende Komponisten im Fokus. Evan Gardner als künstlerischer Leiter selbst ist Komponist von Neuer Musik. Daneben tauchen Namen von Komponisten auf, die weitestgehend noch nicht an Musiktheaterbetrieben aufgeführt wurden: Stefan Johannes Hanke200, Leah Muir201, Michael Maierhof202, Georg Nussbaumer203, Carola Bauckholt 204, Ulrich Kreppein205, Trond Reinholdtsen206. Die Wahl der Regisseure, die eingeladen werden um mit den Komponisten zusammenzuarbeiten, wird vor allem durch das Kriterium experimenteller Arbeitsweisen getroffen. Viele dieser Regisseure sind Absolventen der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin.

Performancereihe »IM FELD« Die Musiktheaterreihe IM FELD ist ein Labor und bietet als Struktur anderen Regisseuren und Komponisten die Möglichkeit ihre Sicht auf zeitgenössisches Musiktheater mit dem Ensemble umsetzen zu können. In einer einwöchigen Probenphase wird das Konzept erarbeitet und dann an drei Tagen in Folge aufgeführt. Hierfür dient der Acker Stadt Palast mit einem Zuschauerraum für 50 Personen plus Bühne, der flexible Möglichkeiten in einem geschützten Rahmen bietet. Einmal pro Saison realisiert das Opera Lab Berlin eine größere Produktion mit sechswöchigem Probenzeitraum. In der Spielzeit 2016/2017 wurde die Komposition von Evan Gardner »Gunfighter Nation« in der Regie von Michael Höppner am Ballhaus Ost aufgeführt. Die medialen Reaktionen waren sehr zahlreich und divers. So wurde einerseits die Ver200 | Stefan Johannes Hanke, dt. Komponist (*1984). 201 | Leah Muir, amer. Komponistin (*1978). 202 | Michael Maierhof, dt. Komponist (*1956). 203 | Georg Nussbaumer, österr. Komponist (*1964). 204 | Carola Bauckholt, dt. Komponistin (*1959). 205 | Ulrich Kreppein, dt. Komponist (*1979). 206 | Trond Reinholdtsen, norw. Komponist (*1972).

4. Fallbeispiele

änderung der Funktionen der Mitwirkenden in einem gleichberechtigten Handlungsspielraum auf der Bühne positiv beschrieben und gleichzeitig honoriert, dass beim Opera Lab Berlin eine Fortschreibung des experimentellen Arbeitens, verglichen mit Sasha Waltz und Marc Andre, stattfinde.207 Andererseits vermissten die Pressestimmen dramaturgische Konventionen: »Als komplexes Musiktheater-Werk kann die improvisatorisch wirkende Aneinanderreihung von minimalistischen Szenen ohne dramaturgische Legierung kaum gelten. Zu dünn sind die Einfälle, die sich einerseits auf das leichte Verfremden traditioneller amerikanischer Harmonik und Melodik, andererseits auf ein einfaches Kollagieren von Geräuschen und Rhythmen beschränken, ohne auch im Ansatz zu einer persönlichen Klangsprache zu finden.« 208

In weiteren Rezensionen fand sowohl die Anordnung im Raum als auch die ganzheitlich konzipierte Ausstattung und Ausführung der Mitwirkenden vielfaches Lob.209

4.6.4 Standort Berlin Ähnlich wie beim Musiktheaterkollektiv Hauen und Stechen bietet Berlin dem Opera Lab Berlin optimale Voraussetzungen als Sitz des Ensembles.

207 | Kanemaki, Saori: »Progressiv! Expressiv! Musik und Bewegung in der Westernoper Gunfighter Nation des Opera Lab Berlin« 12.11.2016, Quelle: https:// bachtrack.com/de_DE/kritik-gardner-gunfighter-nation-opera-lab-berlin-ball haus-ost-november-2016 (18.08.2017). 208 | Kon, Christian: »BERLIN/Opera Lab im Ballhaus Ost: GUNFIGHTER NATION – Quälender Dilettantismus«, Quelle: http://der-neue-merker.eu/berlin-opera-lab-im-ballhaus-ost-gunfighter-nation-quaelender-dilet tantismus (18.08.2017). 209 | Pachl, Peter P.: »Uraufführung von Evan Gardners Westernoper »Gunfighter Nation« im Berliner Ballhaus Ost, 12.11.2016, Quelle: https://www.nmz.de/online/urauffuehrung-von-evan-gardners-westernoper-gunfighter-nation-im-berliner-ballhaus-ost (18.08.2017).

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

Abbildung 20: Opera Lab Berlin, Produktion »Gun Fighter Nation«, 2017

Foto: Opera Lab Berlin

Die vielfältigen Möglichkeiten durch die Opernhäuser, Fördernetzwerke wie das ZMB, der Szene für Neue Musik und die Lage der Hochschule für Musik Hanns Eisler und der Universität der Künste vereinfachen die Möglichkeiten für ein Ensemble sowohl Mitwirkende als auch die entsprechenden Zielgruppen als Publikum zu finden. Aber auch auf kulturpolitischer Seite führt der Standort Berlin zu einem Mehrwert. Obwohl die zeitgenössische Musiktheaterszene nur wenig explizite Fördermöglichkeiten hat, verfügt Berlin hingegen noch über die Möglichkeit der Senatsunterstützung als auch dem Hauptstadtkulturfonds. Ebenso erhöht sich an dem Standort Berlin die Aussicht auf eine Kooperation oder Koproduktion mit den ansässigen Opernhäusern (Staatsoper Berlin, Deutsche Oper Berlin, Komische Oper Berlin, Neuköllner Oper).

4. Fallbeispiele

4.6.5 Auswertung Kriterium

Merkmal

Neuartigkeit

Ensemble, das sich dem zeitgenössischen Musiktheater von lebenden Komponisten widmet

Unsicherheit

Bisher keine strukturellen Förderungen und somit nur kurzzeitige Planungen möglich

Interdisziplinarität

Durch einen gleichberechtigten Einsatz aller Mitwirkenden auf der Bühne verändert sich die künstlerische Gesamtleistung und verlässt Genreeingrenzungen

Konfliktpotenzial

Das künstlerische Experiment, gerade mit neuen Kompositionen junger Komponisten, darf auch scheitern.

Zeitgenossenschaft

Ist durch die Zusammenarbeit von lebenden Komponisten mit den Regieteams und Ensembles gegeben und befördert den inhaltlichen Austausch

Neuartigkeit Das Opera Lab Berlin funktioniert anders als ein Kollektiv. Im Gegensatz zu diesem dient das Ensemble als Pool an Möglichkeiten für die Besetzungen, ist aber keine zwanghafte Verbindlichkeit. Die Relevanz liegt auf der inhaltlichen Stückauswahl. Die Leitung des Ensembles erfolgt in radierter Hierarchie durch Verantwortlichkeit der beiden künstlerischen Leiter.

Unsicherheit/Risiko Bislang wurden keine strukturellen Förderungen dem Ensemble bewilligt und somit sind nur kurzzeitige Planungen – von Projekt zu Projekt – möglich.

Interdisziplinarität Durch einen gleichberechtigten Einsatz aller Mitwirkenden auf der Bühne verändert sich die künstlerische Gesamtleistung und verlässt Genregrenzen.

Konfliktpotenzial Das künstlerische Experiment, gerade mit neuen Kompositionen junger Komponisten, darf beim Opera Lab Berlin auch scheitern und steht somit im Konflikt mit dem üblichen Erfolgshaltungen von Presse und anderen

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

Institutionen, die diese Haltung nicht handhaben. Hierin liegt aber auch das künstlerische Potenzial des Ensembles.

Zeitgenossenschaft Durch die Zusammenarbeit zwischen lebenden Komponisten, Regieteams und dem Ensemble ist der Gegenwartsbezug vorhanden und hebt den zeitgenössischen Charakter der Produktionen: alles kann flexibel ineinerander verschränkt und gemeinsam gedacht werden. Unter diesem Punkt hat das Ensemble eine Leitidee formuliert: »Zeitgenossenschaft heißt für uns, sich unabhängig vom kulturellen Zeitgeist kritisch mit dieser Wirklichkeit auseinanderzusetzen. Stoffe und Themen der Kompositionen, Stückentwicklungen und Inszenierungen von Opera Lab Berlin erwachsen unseren eigenen Anliegen und zielen auf verbreitete Interessen und Bedürfnisse. Opera Lab Berlin adressiert dabei alle an unserer Arbeit interessierten Menschen und versucht, ihnen umfassend Zugang zu unserem Musiktheater zu verschaffen.« 210

Was ist neu? Eine Struktur wurde geschaffen, die sich mittels eines festen Ensembles ausschließlich szenischen Produktionen von zeitgenössischen Musiktheaterwerken widmet. Dieses dort entstehende Musiktheater trägt eine »Sprache der zeitgenössischen Musik« und der zeitgenössischen Ästhetik: »Das ist etwas, das eine Reibungsfläche ergibt mit dem, was ich so inszeniere und mir bei meinen Inszenierungen eine Welt öffnet, die sehr spezifisch ist und die ich ohne die zeitgenössische Musik nicht hätte.« 211

Für wen ist es neu? Das Opera Lab Berlin verschafft den Musiktheaterschaffenden selbst eine neue Perspektive: kontinuierlich kann mit einem festen Ensemble, das zwar modular unterschiedlich zum Einsatz kommt aber aus einem festen 210 | Opera Lab Berlin: »Ensemble«, Quelle: www.opera-lab-berlin.com/de-en semble-copy (18.08.2017). 211 | Höppner, Michael u. Gardner, Evan; Interviewgespräch mit der Verfasserin, Ballhaus Ost, 04.06.2017.

4. Fallbeispiele

Musikstamm besteht, sich mit zeitgenössischen Musiktheaterkompositionen und neuen Inszenierungsweisen befasst werden. Dies geschieht nicht nur in einem projektbezogenen Arbeiten sondern als feste Struktur und mit Regelmäßigkeit. Das ist sowohl für das zeitgenössische Musiktheater als Genre neu als auch für die Musiktheaterschaffenden, in diesem Fall die Ensemblemitglieder, Komponisten und Regisseure.

Wo beginnt und wo endet die Innovation? Die Innovation wird in diesem Beispiel durch die Struktur gegeben. D.h., durch die Gründung des Opera Lab Berlin wurde ein Instrumentarium für die innovative Praxis von zeitgenössischem Musiktheater geschaffen, dass den schöpferischen Prozess für zeitgenössisches Musiktheater ermöglicht.

Hat das Neue das Potenzial sich durchzusetzen? Die Vision von Opera Lab Berlin, als Uraufführungs-Institution sich zukünftig zu etablieren, hat absolut Potenzial sich durchzusetzen sofern die kulturpolitischen Mittel hierfür zur Verfügung gestellt werden. Zunehmend plant das Opera Lab Berlin mit großen Institutionen Koproduktionen und Kooperationen, sodass es naheliegend ist, der Kulturpolitik die Empfehlung auszusprechen eine permanente Fördermöglichkeit für das Ensemble zu beantragen: 1. Das Opera Lab Berlin ermöglicht die Fortschreibung des Musiktheaterbegriffs. 2. Es entsteht ein Gegenwartsbezug durch zeitgenössische Kompositionen und Regiearbeiten. 3. Der gleichberechtigte künstlerische Einsatz des Ensembles als Musikern und Performer als kontinuierlich bestehende Arbeitsform kann zum neuen Qualitätsmerkmal von Musiktheaterhäusern werden.

Ausblick Neben den drei bis sechs kleinen IM FELD-Produktionen sind bereits für 2018 eine Kooperation mit der Münchener Biennale für Neues Musiktheater und der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin geplant.

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

4.7 D ie M usik the aterkompanie L a C age 212 213 Das Beispiel der Musiktheaterkompanie La Cage wurde gewählt, weil es aktuell die einzige deutsch-französische Musiktheaterkompanie ist und in dem deutsch-französischen Kontext der vorliegenden Forschungsarbeit untersuchungswürdig ist, welcher Mehrwert in dem binationalen Arbeiten liegt und wo strukturelle Hürden liegen. Die Kompanie wird künstlerisch geleitet von der Regisseurin Aliénor Dauchez, die die künstlerischen Arbeiten verantwortet. Institution

La Cage

Ansässig

Berlin und Paris

Rechtsform

Zwei eingetragene Vereine (1x Paris, 1x Berlin)

Betriebsstruktur

Kompanie ohne festes Ensemble

Kulturpolitische Förderung

Jede Produktion wird neu durch Fördermittelgeber getragen und das Budget richtet sich je nach Antragsbewilligung. Bisher keine strukturelle Förderung.

Finanzierung

Für »Votre Faust«: l’Arcadie Île-de-France, DRAC Île-de-France, Fondation Denibam, Jeune Théâtre National, Théâtre La Forge Nanterre Für »Sono un Fomo«: Hauptstadtkulturfond, Fachausschuss Musik BS/BL, Sophie und Carl Binding Stiftung, Ernst-GöhnerStiftung, Migros Kulturprozent, Ernst von Siemens Musikstiftung

Leitungsmodell

Administrative Leitungsstruktur ist der Verein (Präsident, Vorsitzende, Beirat), künstlerisch leitend ist Aliénor Dauchez. Dt. Verein: Aliénor Dauchez ist sowohl künstlerische Leiterin als auch Vorstandsvorsitzende. Frz. Verein: der Vorstand ist durch ehrenamtliche Mitglieder besetzt, Aliénor Dauchez wird von ihnen zur künstlerischen Leitung berufen.

Anzahl der Mitglieder

Beirat + künstlerisches Team (Videokünstler, Bühnenbildner, Kostümbildner) + zwei Verwaltungsleiter (pro Verein).

Bezahlung der Mitwirkenden

Abhängig vom Budget, i.d.R. mehr als Mindestlohn

Bespielbare Bühnen

Abhängig von Vorstellungsorten

Probebühne

Keine eigene Probenräume

212 | Internetpräsenz: www.lacage.org 213 | Dauchez, Aliénor, Telefoninterview mit der Verfasserin, 16.08.2017.

4. Fallbeispiele

Anzahl an Produktionen

1-2 Produktionen pro Jahr

Gründung

2015

Motivation

Das eigene künstlerische Arbeiten in Deutschland und Frankreich zu verbinden. Künstlerisch die Arbeiten zu realisieren, in denen die performative Form im Vordergrund steht und die man selbst gerne sehen will.

Vision

Neue Musik mit vergangenen Epochen mittels Performance zu verbinden.

Ziel

Eine Produktion pro Jahr zu machen, die formell innovativ ist und die Darsteller ihre klassischen Funktionen verlassen.

4.7.1 Vision und Konzeption Vision La Cage möchte in künstlerischen Konzeptionen neue Musik mit Elementen der Performance als musiktheatrale Form zusammenfügen. 1. Die Künstler begeben sich auf eine künstlerische Forschung basierend auf einem Konzept, das gleichwertig den erweiterten deutschen und französischen Kunstbegriff bemüht ist einzubeziehen. 2. Musiktheater wird zum bildhauerischen Arbeiten und die Form steht im Zentrum des künstlerischen Prozesses.

Konzeption • Experimentelle Konzepte im Kontext von Deutschland und Frankreich zu entwickeln und die künstlerischen Arbeiten im Hinblick auf die inhaltliche Relevanz vielfältig zu befragen. • Sich sowohl dem deutschen als auch dem französischen Verständnis von Kunst zu bedienen und in das eigene künstlerische Arbeiten integrieren. • Die Interdisziplinarität als feste Arbeitsweise durch das Aufheben von funktionsbezogenen Positionen zu etablieren (der Musiker wird zum Performer usw.). • Formen der Aktivierung des Publikums zu benutzen, wie beispielsweise in »Votre Faust« durch den aktiven Entscheidungsmoment des Publikums, der den weiteren Verlauf der Vorstellung bestimmt.

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

4.7.2 Strukturelle Rahmenbedingungen und Kulturpolitik La Cage wurde 2015 als Kompanie gegründet. Die organisatorische Struktur baut auf das Prinzip des Vereins, bestehend aus einem Vorstand, der für die Dauer eines Jahres gewählt wird. Durch das künstlerische Arbeiten als Kompanie in der freien Szene ist La Cage auf Fördergeldern angewiesen. Bisher verfügt La Cage über keine feste Strukturförderung. Für den Erhalt von lokalgebundenen Fördermitteln war es notwendig, dass die Kompanie zwei Vereine mit jeweils einem Sitz in Deutschland und Frankreich hat. Dies bedeutet eine gesonderte Hürde für die kleine Kompanie weil somit zwei verschiedene administrative Systeme bedient und eingehalten werden müssen. Hierfür sind verschiedene Personen notwendig. Wohingegen in Deutschland ein Verein für eine Gründung lediglich sieben Personen benötigt, die dem Verein selbst vorstehen können und gleichzeitig für den Verein künstlerisch tätig sein können, muss sich in Frankreich der Vereinsvorstand aus ehrenamtlichen Personen zusammensetzen. Die künstlerische Leitung wird von dem Vorstand benannt. Die Organisationsstruktur als Verein mit ihren zugehörigen Regularien ermöglicht Transparenz und nachvollziehbare Vorgänge. Es gibt ein festes künstlerisches Kernteam um die künstlerische Leitung, die die Entscheidungen zu neuer Konzeption und Besetzung in enger Absprache mit den Produktionsleitern trifft. Die Besetzung erfolgt immer in Kooperation mit bestehenden Musiker-Ensembles, wie z.B. in der Vergangenheit mit dem Ensemble Kaleidoskop in Berlin.

Künstlerische Leitung: Aliénor Dauchez 214 Aliénor Dauchez ist Regisseurin und bildende Künstlerin. Regelmäßige Zusammenarbeiten verbinden sie mit dem Solistenensemble Kaleidoskop, Zafraan Ensemble, Il Profondo und der Musikfabrik. Ihr Schwerpunkt liegt auf musiktheatralen Projekten mit neuer Musik und Klanginstallationen. Nach eigenen Angaben nutzte sie die Zeiträume zweier Stipendien zum Auf bau der Kompanie. Durch ihren Wohnsitz in Frankreich und den statue intermittant ist Dauchez monatlich abgesichert.

214 | Akademie Schloss Solitude: »Biografien der Stipendiaten«, Quelle: www. akademie-solitude.de/de/stipendium/stipendiaten/alienor-dauchez~pe3723/ (12.08.2017).

4. Fallbeispiele

Abbildung 21: Aliénor Dauchez

Foto: Sonja Müller

Arbeitsweise Durch die finanzielle Gebundenheit an Fördermitteln beträgt der Planungsvorlauf drei Jahre. Ausgehend von einer Konzeption, meist mit einem konkreten Künstler (i.d.R. ein Komponist) beginnt die Zusammenarbeit und unterteilt sich in drei Phasen: 1. Jahr: Dient der Konzeption. Die Idee wird inhaltlich und künstlerisch entwickelt. 2. Jahr: Förderanträge werden gestellt. 3. Jahr: Das Konzept wird umgesetzt. (bei Antragsbewilligung) Nach zwei Jahren Bestehen der Kompanie zeigt sich die Tendenz von Gastspielen in einem weiteren vierten Jahr. So wurde beispielsweise »Votre Faust« 2017 in zehn französischen Theaterbetrieben gespielt. Auffällig ist, dass die Arbeiten von La Cage bisher an keinem klassischen Musiktheaterbetrieb gezeigt wurden. Die Arbeiten sind werden präsentiert an Gastspielorten, wie dem Gare du Nord in Basel oder bei Festivals, die sich der künstlerischen Forschung von Klang, Neuer Musik und Installationen widmen.

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

4.7.3 Gesamtüberblick über die künstlerischen Arbeiten Die künstlerische Leitung von Aliénor Dauchez zeichnet sich durch ein Arbeiten mit konzeptuellem Schwerpunkt aus, in denen der Zuschauer eine aktive Rolle zugedacht wird. Bisherige Arbeiten von La Cage befassten sich mit Arbeiten der Komponisten Franck Bedrossian215, Christophe Bertrand 216, Raphaël Cendo217, Martin Grütter218, Johannes Kreidler219, Sarah Nemtsov220, Alexander Schubert 221, Carola Bauckholt 222 und Dmitri Kourliandski223 und Caspar Johannes Walter224.

Produktion »Votre Faust« »Votre Faust« ist eine Oper in zwei Akten von dem belgischen Komponisten Henri Pousseur225 nach einem Libretto von Michel Butor226 aus dem Jahr 1969. Die Besetzung ist für fünf Schauspieler, vier Sänger, zwölf Musiker und dem Medium Tonband komponiert. Das Gesamtmaterial der Oper umfasst sieben Stunden. Die Hauptfiguren im Werk sind ein Theaterdirektor und ein Komponist, der einen Auftrag für eine Oper bekommt. Die Musiker werden zu szenisch agierenden Darstellern und Schauspieler verkörpern die Protagonisten. Das dramaturgische Prinzip baut auf einem Anti-Oper-Prinzip. In dem Gesamtgeschehen nimmt der Zuschauer ab dem zweiten Akt eine entscheidende Rolle ein. Das Publikum ist aufgefordert durch basisdemokratisch getroffene Entscheidungen den Fortgang der Vorstellung zu bestimmen. Aus sieben Stunden Gesamtma215 | Franck Bedrossian, frz. Komponist (*1971). 216 | Christophe Bertrand, frz. Komponist (1981-2010). 217 | Raphaël Condo, frz. Komponist (*1975). 218 | Martin Grütter, dt. Komponist (*1983). 219 | Johannes Kreidler, dt. Komponist u. Aktionskünstler (*1980). 220 | Sarah Nemtsow, dt. Komponistin (*1980). 221 | Alexander Schubert, dt. Komponist (*1979). 222 | Carola Bauckholt, dt. Komponistin (*1959). 223 | Dmitri Kourliandski, russ. Komponist (*1976). 224 | Caspar Johannes Walter, dt. Komponist (*1964). 225 | Henri Pousseur, belg. Komponist (1929-2009). 226 | Michel Butor, frz. Librettist (1926-2016).

4. Fallbeispiele

terial auf tausend Seiten Partitur entsteht ein Ablauf, der durch die Entscheidung des Publikums jedes Mal einen anderen Ausgang findet. Das setzt voraus, dass die Mitwirkenden mehrere Szenarien einstudiert haben, um den Entscheidungen Folge leisten zu können. Gleichzeitig wird inhaltlich die Frage der Funktion von Theaterdirektionen und nach der Rolle der Künstler und ihrem Machtverhältnis gestellt als auch der kollektive Prozess der künstlerischen Kreation auf Basis des demokratischen Mehrheitsprinzips für den Zuschauer am eigenen Leib spürbar umgesetzt. Über die Form bekommt das Publikum eine Stimme und reflektiert die eigene Mitbestimmung: was bewirkt meine Stimme? Was zählt meine Stimme gegenüber den anderen? Die Frankfurter Allgemeine Zeitung bescheinigt, dass das Konzept der »Mitmach-Oper« aufgegangen ist.227 »So hat dieser Abend eindringlich demonstriert, wie in einer kompetenzfreien Demokratie durch permanente Verführung zum Eingriff der Weg zu einem guten Ende verdorben werden kann… Gnadenlos ließ die Vorstellung nach vier Stunden ihr Publikum in einem Schlamassel zurück, den es selbst angerichtet hatte.« 228

2013 ist »Votre Faust« als Koproduktion am Radialsystem V in Berlin und am Theater Basel konzipiert und aufgeführt worden. Die Gründung der Kompanie war mit dem Bestreben auf Förderung durch französische Fördermittel verbunden, um an französischen Theatern gastieren zu können. Dies gelang und die wiederaufgenommene Version von »Votre Faust«, die 2016 am NTM Premiere feierte, konnte durch die finanzielle Unterstützung von l’Arcadie anschließend an zehn Theatern in Frankreich gezeigt werden.

227 | Vgl. Luehrs-Kaiser, Kai: »Demokratie der Erschöpfung«, in: Opernwelt, Nr.5, Mai 2013, S. 82. 228 | Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.04.2013.

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

Abbildung 22: La Cage, Produktion »Votre Faust«

Foto: Frieder Aurin

4.7.4 Standort Paris und Berlin Den Sitz der Kompanie in Paris und Berlin zu haben ist eine logistische und administrative Herausforderung und steht gleichzeitig für einen unerschöpflichen Freiraum an Theaterbühnen, Instrumentalensembles, freischaffende Sänger und unabhängige Probebühnen durch die Möglichkeiten, die beide Szenen zu bieten haben. Dem gegenüber steht die administrative Notwendigkeit von zwei Vereinsstrukturen, verbunden mit der in beiden Ländern jeweils eigenen Kultur- und Förderpolitik, die den Arbeits- und Organisationsaufwand der Kompanie erhöht. Bislang gibt es nur wenig Fördermittel, und vor allem aufwendig zu beantragende EU-Förderprogramme, die eine Probenphase mit binational ausgerichtetem Vorstellungsziel fördern. Was wiederum zur Konsequenz hat, dass jede Vorstellung, jedes Gastspiel und damit verbundene Wiederaufnahmeprobe einzeln beantragt werden muss. Das bedeutet in dieser bestehenden Verfahrensweise einen Mehraufwand, der schon eine hohe inhaltliche Motivation mitbringen muss damit Kompanien oder Kollektive sich darauf einlassen. Der inhaltliche Mehrwert einer auf Deutschland und Frankreich ausgerichteten künstlerischen Arbeit kann ohne Zweifel bereichernd sein. Da in der Szene vergleichbare Projekte nahezu nicht existent sind, hat sich La Cage ein Alleinstellungsmerkmal gesichert. Anhand der Schwie-

4. Fallbeispiele

rigkeiten vor die La Cage hierbei gestellt ist, lässt sich belegen, dass die kulturpolitischen Maßnahmen noch nicht für derartige Projekte eingestellt sind.

4.7.5 Auswertung Kriterium

Merkmal

Neuartigkeit

Binationale Kompanie mit binationaler Administration

Unsicherheit

Ein Nischen-Dasein, Durchhaltevermögen

Interdisziplinarität

Zuschreibungen von festgelegten Arbeitsbereiche für die Mitwirkenden werden durchbrochen

Konfliktpotenzial

Der Zuschauer muss sich aktiv zu der Produktion verhalten und kann sich nicht passiv zurückziehen und konsumieren

Zeitgenossenschaft

Die Auseinandersetzung mit neuen Musik- und Klangelementen als künstlerische Forschung unter Berücksichtigung der Musikgeschichte

Neuartigkeit In der vorliegenden Fallstudie ist La Cage das einzige unter den Fallbeispielen, dass sich für den administrativen Mehraufwand zwei administrativer Strukturen entschieden hat. Der erhöhte Aufwand, der hierdurch entsteht hat keinen sichtbaren Mehrwert an Vorteilen, die hieraus entstehen. Im Gegenteil: die administrative Aufgaben – wie bei kleinen Kompanien und Kollektiven üblich – werden im Kernteam oder in Personalunion selbst bewältigt und die Zeit, die der künstlerischen Auseinandersetzung dient, verkürzt sich dadurch. Im künstlerischen Inhalt bedeutet das Bestreben von La Cage, nach einer auf die Formsprache festgelegten Konzeption, keine Neuerung. Vielmehr ist das Befragen des künstlerischen Inhalts ein Kerngedanke der darstellenden Künste.

Unsicherheit/Risiko Der Versuch eine deutsch-französische Kompanie zu führen, ist an eine Vielzahl von Faktoren gebunden. Die spezielle Fördersituation erfordert von den Beteiligten ein großes Durchhaltevermögen. Neben der allgemeinen politischen Situation der beiden Länder ist entscheidend für die erfolgreiche künstlerische Arbeit der Kompanie wie sich die Umsetzung der kulturpolitischen Konditionen für die eigene Praxis gestalten.

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

Interdisziplinarität Künstlerisch ist die Arbeitsweise interdisziplinär angelegt. Bereits die künstlerische Konzeption beinhaltet eine Aufhebung festgelegter Disziplinen und fordert von den Mitwirkenden einen ganzheitlichen Einsatz, der nicht auf eine Position (z.B. als Musiker) festgelegt ist.

Konfliktpotenzial Ein Reibungspunkt in der künstlerischen Arbeit von La Cage liegt in der Grundeigenschaft, dass die Zuschauer aus einer Tradition der rezipierenden Passivität abgeholt und zur aktiven Teilnahme aufgefordert werden, wie das Beispiel »Votre Faust« zeigt. Dort hat es den entscheidenden Effekt: der Zuschauer kommt in die Situation, dass er durch seine Entscheidung über das Stück sein eigenes Unterhaltungsbedürfnis offenbart. Soll da Stück tragisch oder versöhnlich enden? Der Zuschauer ist aktiv zum Nachdenken aufgefordert und kriegt reflektiert wohin das eigene und kollektive Unterhaltungsbedürfnis führt.

Zeitgenossenschaft Der Aspekt der Zeitgenossenschaft liegt bei La Cage in dem Infrage stellen und Beleuchten der Aufführungspraxis. Es wird nicht auf gewohnte Aufführungspraxen vertraut sondern für jede neue künstlerische Konzeption die Form neu bedacht.

Was ist neu? »Votre Faust« ist ein idealistisches Stück, weil die gesellschaftliche Struktur vor die Frage der aktiv gelebten Demokratie gestellt wird und das in der Aufführungspraxis durch die Einbeziehung der Zuschauer aktiv zur Darstellung kommt.

Für wen ist es neu? Die Musiker müssen einem Willkür-Prinzip in der Aufführung folgen, weil sich jeden Abend durch die Entscheidung des Publikums der Ablauf verändert und somit andere Musik gespielt wird. Das ist sehr fordernd und komplex für die Darsteller. Außerdem ist für die Mehrheit des Publikums neu, dass sie sich aktiv einbringen können.

4. Fallbeispiele

Wo beginnt und wo endet die Innovation? Der innovative Ansatz bei La Cage liegt in dem Bestreben als deutsch-französische Kompanie künstlerische Arbeiten zu realisieren. Die deutschfranzösische Komponente bezieht sich hier auf die Organisationsstruktur aber auch auf die inhaltliche Berücksichtigung der deutsch-französischen Prägungen der Akteure selbst.

Hat das Neue das Potenzial sich durchzusetzen? Das Neue bezieht sich in diesem Beispiel auf eine in zwei Ländern ansässige Kompanie. Diese hat als binationale Kompanie Potential, wenn für diese Art von Projekten weitreichende kulturpolitische Strukturen geschaffen werden, um ein Fortsetzen einer länderübergreifenden künstlerischen Arbeit zu sichern. Andernfalls ist diese Arbeitsweise mühselig und ohne sichtbaren Mehrwert.

Ausblick Im dritten Jahr nach der Gründung hat La Cage bereits Gastspiele an renommierten Institutionen gespielt. Dazu gehören das Radialsystem V in Berlin, das Nouveau Théâtre de Montreuil und künftig das Festival d’Aixen-Provence. Darüber hinaus war Aliénor Dauchez 2016/2017 Stipendiatin der Akademie Schloss Solitude. Es bleibt spannend zu beobachten, wie sich das deutsch-französische Projekt weiterentwickeln wird. Abbbildung 23: Szene aus »Votre Faust«

Foto: La Cage

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

Ob aus kulturpolitischer Perspektive eine deutsch-französische Vertiefung der Förder- und Kulturpolitischen Maßnahmen erstrebenswert wäre, lässte sich nicht anhand dieses Beispiels allein beurteilen. Leider fehlen aktuell alternative Beispiele im binationalen Kontext, die eine vergleichende Anschauung und anschließende Ableitung ermöglichen könnten.

5. Auswertung der Untersuchung

Der deutsche Komponist und Regisseur Andreas Bode behauptet, »ein Grund, dass einem aus wahllosen Opernaufführungen der Geruch eines langsamen Sterbens entgegenzieht, mag der sein, dass diese Gattung noch nie durch eine freie Musiktheaterszene gefüttert und belebt wurde.«1

Die Betrachtung der hier vorgenommenen sieben Beispiele aus der Praxis des Musiktheaters in Deutschland und Frankreich beinhaltet verschiedene Modelle institutioneller Strukturen von Musiktheater vom Opernhaus zum freien Künstlerkollektiv. Alle Beispiele vereint eines: der Drang nach »Neuem«. Diese Arbeit hat gezeigt, dass die freie Musiktheaterszene die Gattung neu unterfüttert. In dieser Arbeit wurde das »Neue« in den künstlerischen Konzeptionen und Arbeitsweisen mithilfe der Kategorien Zeitgenossenschaft und Innovation untersucht. Kritisch für die Betrachtung bleibt die geringe Anzahl der Fallbeispiele im Verhältnis zu der vielfältigen Musiktheaterlandschaft in Deutschland und Frankreich. Bei der vorliegenden Forschungsarbeit handelt es sich somit lediglich um einen kleinen ausgewählten Ausschnitt. Dennoch wird die strukturelle Vielfalt der Beispiele eine Breite an künstlerischen Konzeptionen und Arbeitsweisen für die Betrachtung abgedeckt und somit ein repräsentativer Eindruck über die aktuelle Szene ermöglicht. Zu beachten ist, dass bei den Untersuchungen dieser Arbeit eine künstlerische Struktur von vorneherein nicht berücksichtig wurde: das Festival. Dies ist nach wie vor der wichtigste Produktionsort für neue Formen von Musiktheater: vom tradierten Opernfestival (z.B. Salzburger Festspiele) bis 1 | Bode, Andreas: in: Knauer, Bettina/Krause, Peter: »Von der Zukunft einer unmöglichen Kunst. 21 Perspektiven zum Musiktheater«, AISTHESIS Verlag, Bielefeld, 2006, S. 40f.

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

zur Biennale für neues Musiktheater (z.B. Münchener Biennale für neues Musiktheater). Das Festival d’Aix-en-Provence hat beispielsweise in den letzten Jahren das mehrheitlich tradierte Festivalprogramm offensiv mit neuen Vermittlungsformaten und experimentellen kleinen Formaten bestückt. In Aix-en-Provence gelingt es somit neue Formen der Aufführungspraxis (in der Umsetzung von jungen Musikern, Solisten, renommierten Orchestern und Künstlern) aus dem Nischendasein zu befreien und zu einem festen Bestandteil des Festivalprogramms zu machen. Anders künstlerisch ausgerichtet ist die Münchener Biennale für zeitgenössisches Musiktheater die seit ihrer Gründung 1988 wichtiges Zentrum für Uraufführungen von Komponisten in Zusammenarbeit mit experimentierfreudigen Regieteams ist. Für diese Arbeit bestand jedoch der Anspruch feste und kontinuierliche Strukturen in ihrer Alltagspraxis zu betrachten. Das Festival schloss sich dadurch für die Untersuchung aus. Bei der Untersuchung im Feld ist es gelungen, die im ersten Teil dieser Arbeit abgeleiteten Hypothesen zum zeitgenössischen Musiktheater aus der Theorie durch die Betrachtung der Beispiele der angewandten Praxis zu untersuchen. Dadurch ergaben sich folgende Fragestellungen: • Sind die kulturpolitischen Rahmenbedingungen mitverantwortlich für den Mangel an künstlerischen Neuerungen? • Sind Neuerungen und Innovationen von strukturellen Bedingungen abhängig? Die Eingrenzung der Untersuchung durch die Begriffe Innovation und Zeitgenossenschaft hat geholfen eine inhaltliche Struktur zu erstellen, die die Untersuchung der Fallbeispiele begrenzt und die beide relevant für das undefinierte »Neue« sind. Alle hier untersuchten Fallbeispiele verbindet das Bestreben, in ihren Projekten oder in den Spielplänen das Musiktheater weiterzuentwickeln, um einen Bezug zum 21.  Jahrhundert herzustellen und Musiktheater (wieder) zukunftsfähig werden zu lassen. In Wuppertal erhebt Berthold Schneider den Anspruch, dass »Oper im Bewusstsein der Lebenswelt des 21.  Jahrhunderts« betrieben werden soll.2 Alle in der vorliegenden 2 | Vgl. Schneider, Berthold, in: Oebens, Detlev (Hg.): »Oper Wuppertal«, 24.05. 2016, Quelle: http://opernmagazin.de/oper-wuppertal-programm-der-spielzeit-20 1617-veroeffentlicht/ (18.08.2017).

5. Auswer tung der Untersuchung

Arbeit dargestellten Musiktheaterschaffenden belegen, dass sie mit ihren künstlerischen Programmen ein großes Wagnis eingehen. Gleichzeitig scheinen sie jedoch auch von der Motivation angetrieben zu werden, diese Kunst weiter voranbringen zu wollen. Die Musiktheaterwissenschaftlerin Barbara Beyer vergleicht diese Versuche als eine »Operation an einem bereits toten Körper«3, die aber für das Weiterdenken der Form erforderlich sind. Gerard Mortier befürwortet das Befragen der Aufführungspraxis und unterstreicht den Wert dieses Arbeitens für die Zukunft: »Diese Art, sie [die Oper4] neu zu denken und sie für unsere Epoche zu erzählen, hat ihre Bedeutung nicht im Geringsten geschmälert, sondern sie im Gegenteil für unsere Zeit gerettet.«5 Aus den Erkenntnissen der Untersuchung werden in diesem dritten Teil der Betrachtung in drei Unterkapiteln zu den Bereichen Struktur, Kunst und Kulturpolitik die Schlussfolgerungen abgeleitet und daraus der Bedarf für ein zukunftsfähiges Musiktheater benannt.

5.1 M usik the ater als I nstitution Die sieben Beispiele decken die verbreitesten Strukturen von Musiktheater ab. Einmal sind es die festen Häuser mit struktureller Finanzierung aus öffentlichen Fördergeldern: • auf nationaler Ebene: die Opéra de Paris und das CDN Nouveau Théâtre de Montreuil • auf Landesebene: die Oper Halle • auf kommunaler Ebene: Oper Wuppertal. Dazu kommen drei Beispiele aus der Freien Szene, die keine permanente Förderung beziehen:

3 | Vgl. Beyer, Barbara, »Freiheit für die Stimmen«, 09.10.2012, e. in: Die Zeit, Quelle: www.zeit.de/2012/40/Oper-Regisseure (13.08.2017). 4 | Ergänzung der Verfasserin. 5 | Mortier (2014) S. 89.

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

• das Kollektiv: Hauen und Stechen • die Kompanie: La Cage • das Ensemble: Opera Lab Berlin. Ziel dieser Arbeit war die Untersuchung des strukturellen Kontextes, in welchem die Fortschreibung des Musiktheaters stattfindet, und der künstlerischen Konzeptionen sowie die gleichzeitige Betrachtung der kulturpolitischen Instrumentarien, die dieser Entwicklung unterstützend zur Verfügung stehen. Alle Beispiele weisen signifikante künstlerische Profile auf: von dem durch die Regierung geförderten Neubau einer modernen und volksnahen Oper bis hin zum freien jungen Ensemble, dass zum Ziel hat, lebende Regisseure mit lebende Komponisten zusammenzubringen. Die drei Beispiele mit freien Strukturen, Hauen und Stechen, Opera Lab Berlin, La Cage, haben für ihre künstlerischen Arbeiten eigene Produktionsweisen entwickelt. Vergleichsweise zeigt sich hier, dass La Cage tendenziell nur inhaltlich auf die Konzepte bezogen experimentiert und in der Produktionsweise und dem Leitungsmodell am ehesten klassische Abläufe bedient. Die Kompanie La Cage produziert die Stücke, die anschließend auf Tournee gehen. Das feste Kernteam um Aliénor Dauchez arbeitet dabei kontinuierlich zusammen, dennoch hat Dauchez die alleinige künstlerische Verantwortung für die Arbeiten der Kompanie. Dies ist nicht ungewöhnlich für das Arbeiten von französischen Theaterkompanien: da das »Theatersystem auf freien Theatertruppen basiert«, sind Kompanien stark verbreitet.6 Schon allein in Paris werden in dem Verband Association Opale mehr als 800 freie Theatergruppen vertreten.7 »Viele dieser freien Gruppen sind sehr innovativ und verfolgen über Jahre konsequent ihre künstlerischen Visionen. Die Regisseure sind nicht nur Künstler, sondern auch Produzenten und Unternehmer, die die ökonomischen Risiken der Produktionen tragen.« 8

6 | Vgl. Heine, Beate: »Mehr als Kunst. Was macht französisches Theater so anders?«, 26.02.2013, Quelle: www.bpb.de/internationales/europa/frankreich/ 153270/theater (24.08.2017). 7 | Vgl. ebd. 8 | Ebd.

5. Auswer tung der Untersuchung

Opera Lab Berlin praktiziert das Ensemble-Prinzip. Das Ensemble findet sich vor allem bei freien Instrumentalgruppen angewandt. In diesem Fall besteht das Ensemble aus Sängern und Musikern. Das Besondere bei diesem Beispiel ist die Doppelführung durch Evan Gardner als Komponist und Michael Höppner als Regisseur. Hierdurch sind die Ziele des Ensembles, die Uraufführungen von Werken noch lebender Komponisten mit experimentell arbeitenden Regisseuren zu verbinden, optimal vertreten. Die beiden Künstler haben somit die optimale Struktur zur ihrer eigenen Profession entworfen. Hauen und Stechen grenzt sich von den anderen Beispielen ab. Die Gründerinnen haben sich bewusst für das Kollektiv entschieden und sind bestrebt durch flache Hierarchien und einem festen Kernteam, bestehend aus Künstlern der verschiedenen Disziplinen, gemeinschaftlich zu einer künstlerischen Handschrift zu gelangen. Dafür haben die Angehörigen des Kollektivs dank ihrer eigenen künstlerische Praxis eine eigene Arbeitsweise entwickelt: das serielle Arbeiten in Studien. Diese Arbeitsweise hat dazu geführt, dass das Kollektiv zu einer eigenen künstlerischen Form gefunden hat: »ein Labor für ein grenz- und genreübergreifendes Musiktheater«9 mit der »Oper in der Hauptrolle«10. Dies ist zu dem Alleinstellungsmerkmal von Hauen und Stechen geworden. Dieses Beispiel vereint sowohl eine innovative Herangehensweise in der Entstehung von Musiktheater als auch eine außergewöhnlich kreative Entwicklung und Umsetzung der künstlerischen Konzeptionen. Die hier genannten drei Beispiele sind aufschlussreich um Rahmenbedingungen von freien Gruppierungen im Musiktheater identifizieren zu können. Bei den weiteren vier Beispielen handelt es sich um institutionelle Theaterbetriebe. Drei Beispiele davon stellen traditionelle Opernhäuser mit fester personeller Infrastruktur und fester struktureller Förderung dar. Sowohl die Opéra national de Paris, die Oper Wuppertal als auch das Nouveau Théâtre de Montreuil werden von einer klassischen Leitung an9 | Vgl. Zeitgenössisches Musiktheater Berlin: »Hauen und Stechen Musiktheaterkollektiv«, Quelle: http://musiktheater-berlin.de/hauen-und-stechen/ (18. 08.2017). 10 | Lwowski, Julia u. Kronfoth, Franziska, Interviewgespräch mit der Verfasserin, 24.09.2016, Neuköllner Oper.

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

geführt. D.h. in diesen Beispielen trifft eine Person, der Directeur oder der Intendant, die künstlerischen Entscheidungen allein. Einzig an der Oper Halle arbeitet ein dreiköpfiges Leitungsteam. Dies ist gleichgestellt und entscheidet gemeinschaftlich über die künstlerischen und strukturellen relevanten Belange des Opernhauses. Dieser Teil der Untersuchung zeigt deutlich, inwieweit ein mehrköpfiges Leitungsmodell wie das Leitungsteam der Oper Halle zu einer konsequenteren und mutigen künstlerischen Handschrift im Spielplan führt. Drei künstlerisch denkende Mitglieder der Leitung haben dazu geführt, dass sich ein vielseitiger und zeitgenössischer Spielplan durchgesetzt hat. Einzig die angespannte Situation mit dem Geschäftsführer zeugt von dem dringenden Bedürfnis das Leitungsmodell auszuweiten, sodass die Verantwortlichen in der Verwaltungsebene Teil des Teams, Gremium oder Direktorium sind und ein Miteinander nicht zur Disposition gestellt werden kann.

5.2 M usik the ater als I nnovation Die Fallbeispiele weisen sehr unterschiedliche künstlerische Handschriften und Arbeitsweisen auf. Ein verbindendes Element ist die Ko-Autorenschaft. D.h., dass anhand verschiedener Prozesse zu beobachten ist, dass die Urheberschaft bei mehreren Künstler liegt. Bei Opera Lab Berlin ist es das Zusammenwirken von Komponisten und Regisseuren im Hinblick auf eine Uraufführung, bei Hauen und Stechen ist es das kollektive Entwickeln und Forschen von Themen, bei der Oper Wuppertal ist es die aktive Einbeziehung von Bürgern in »Sound of the City« und bei La Cage bestimmen die Zuschauer den Ausgang des Abends. In den Fallbeispielen lassen sich drei wichtige Tendenzen ablesen: 1. Künstlerische Arbeitstechniken: eine klassische Arbeitsweise existiert nicht mehr. Für die einzelnen Projekte werden eigene Arbeitstechniken erfunden, von der seriellen Studie bis hin zu einem Raumbühnenkonzept. 2. Neuschöpfungen: Für die Fortschreibung des Genres Musiktheater sind die Herangehensweisen an Neuschöpfungen vielfältig. Neben der klassischen Uraufführung haben sich vermehrt neue Formen entwickelt: die kollagenartige Neukomposition aus diversen Materia-

5. Auswer tung der Untersuchung

lien (Hauen und Stechen oder »Kein schöner Land«, Oper Halle) sowie künstlerische Entwicklungen in partizipativen Projekten durch selbstreferentielle Beteiligung der Mitwirkenden (»Sound of the City«, Oper Wuppertal). 3. Austausch: Der Austausch findet auf mehreren Ebenen statt. Neben dem direkten Austausch mit dem Publikum und der Presse sind es Gesprächsformate (Diskursreihe »Kunstwerk der Zukunft«, Oper Halle), Konferenzen (»RITM«, Nouveau Théâtre de Montreuil) und Angebote für Bürger, um sich in künstlerische Prozesse einzubringen. Kritisch zu betrachten bleibt der hier angewandte Begriff der Innovation, der dazu verleitet abgeschlossene Prozesse benennen zu wollen. Die Fallbeispiele sind allesamt nicht in sich abgeschlossen, sondern offene, fließende und bewegliche künstlerische Konzeptionen. Das zeichnet sie aus. Gleichzeitig liegt hier die Schwierigkeit den aus der Wirtschaftswissenschaft kommenden Begriff dezidiert anwenden zu können. Die von der Verfasserin entwickelten Kategorien zur Untersuchung von Innovation ähnelten stark einer vergleichenden Betrachtung. Hier ergibt sich aus dem Untersuchungsablauf eine Enge, die sich für die Betrachtung als weniger erkenntnisreich herausstellte.

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Europera. Die Reform des Musiktheaters

»200 Jahre lang haben die Europäer ihre Opern zu uns rübergeschickt. Jetzt schicke ich ihnen alle zurück.«1

1987 komponierte der amerikanische Komponist John Cage »Europera 1&2« im Auftrag der Oper Frankfurt. Die angewandte Kompositionstechnik benutzt Fragmente aus bestehenden Opern und schafft daraus eine Neuzusammenstellung.2 Dem Ablauf durch unterliegt ein Zufallsprinzip: die Darsteller bedienen sich eines Wörterbuchs und entwickeln hierzu in vorgegebenen begrenzten Zeitfenstern eine Handlung. Die zwei Werke bestehen aus einem Libretto mit 24 Szenen und sollen auf einer Bühne bestehend aus 64 Quadraten dargestellt werden. Die Komposition sieht 19 Sängern und 28 Instrumentalisten vor, sowie eine computergesteuerte Beleuchtungsregie. Es gibt kein Dirigat sondern nur Zeitangabe einer digitalen Uhr. »Europera 1&2« besteht aus Fragmenten von mehr als 100 Opern europäischer Komponisten aus dem 18. und 19. Jahrhundert und war konzeptuell als Cage provokante Antwort auf die europäische Operntradition angelegt. Damit verzichtet Cage auf eine »seit Jahrzehnten von jedem avancierten Komponisten erwartbare bloß abstrakte Negation des Opernwesens«3. Die Kompositionen zielen darauf ab, dass das bisherige Operndenken, wie es in jahrhundertelanger Tradition betrieben wurde in seiner Umsetzung kritisiert wird. Aber anstelle eines ihm oftmals unterstellten Aktionismus, ging es Cage um den »Abbau des Unzufriedens 1 | Cage, John: in: Dürr, Anke: »I Ging gegen das Ego«, 15.08.2012, Quelle: www. spiegel.de/kultur/gesellschaft/eroeffnung-ruhrtriennale-mit-john-cage-europe ras-von-heiner-goebbels-a-850015.html (29.08.2017). 2 | Vgl. Metzger, Hein-Klaus (1990), S. 75. 3 | Metzger, Heinz-Klaus: »Europas Oper«, in: Metzger, Heinz-Klaus: Musik-Konzepte Sonderband »John Cage II«, edition text + kritik, München, 1990, S. 72.

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

zwischen Vorurteilen und eingefahrenen Gewohnheiten des Hörens«.4 Mittels Zufallsoperationen alle zur Verfügung stehenden theatraler Mittel entsteht eine Kollage, in der alles gleichberechtigt nebeneinander stattfinden kann.5 John Cage stellt damit alles Tradierte in Frage und provoziert bewusst die bisherige Opernpraxis, auch des Regietheaters, und »das Gesamtkunstwerk Oper löst sich in selbstständige Parameter auf«6. »Die Entrümpelungsversuche in der traditionellen Oper durch das zeitgenössische Regietheater waren dagegen immer auf einen Kompromiß mit der unantastbaren Partitur angewiesen.« 7

»Europera« – eine Provoktaion: your Operas, eure Opern. Cage schafft mit dieser Arbeit die komplette Auflösung bestehender Konventionen: Arien sind nicht mehr an Sängerdarsteller geknüpft, der Bühnenraum wird geöffnet und zum Totaltheater verwandelt in dem Zuschauerraum, Seitenbühne und Hinterbühne ebenso bespielt werden, alles ist transparent und gewohnte Erwartungshaltungen werden nicht bedient. Hierin unterscheidet sich Cages Arbeit von Mauricio Kagels Staatstheater. Cage demontiert die Oper nicht sondern zerlegt sie in ihre Einzelteile. Die Möglichkeiten der Arbeitsweisen, wie Fragmentierungen, Kollagen, Neukompositionen, führen zu einer Arbeitsweise, die den in dieser Arbeit untersuchten Beispielen zu entsprechen scheint bzw. in welche diskursive Historie sich insbesondere die Beispiele der Oper Halle und des Kollektivs Hauen und Stechen fortzuschreiben scheinen. Die vorliegende Nutzung im Titel »Europera« ist somit in Anlehnung an John Cages kritische Auseinandersetzung mit dem Erbe der europäischen Opernpraxis gewählt. Diese diente dem gesamten Forschungszeitraum als Anregung, Provokation und Motivation. Gleichzeitig schafft die Wortschöpfung von Cages es auf simple Art und Weise zwei Dinge zu vereinen, die historisch zusammengehören und aufgrund der kulturpolitischen Rahmenbedingungen sich inzwischen weit entfernt haben: Oper und Europa. In dem Begriff von John Cage liegt somit die Utopie, die für 4 | Vgl. Zuber, Barbara: »Entrümpelung«, in: Metzger, Heinz-Klaus: Musik-Konzepte Sonderband »John Cage II«, edition text + kritik, München, 1990, S. 100. 5 | Vgl. ebd. S. 100. 6 | Vgl. ebd. S. 105. 7 | Vgl. ebd. S. 102.

Europera. Die Reform des Musiktheaters

das zeitgenössische Musiktheater wie ein Lebenselixier sein kann, wenn es wieder gemeinsam gedacht wird. Die Möglichkeit diese Forschung auf das Terrain Deutschland und Frankreich zu übertragen kann für den Beginn eines Forschungsidalog stehen, der viel Potenzial für das Musiktheater bereit hält aber eine intelligente Weiterführung von den Verantwortlichen auf europäischer Ebene bedarf. Dies lässt sich nicht in einer wissenschaftlichen Abhandlung für die Komplexität Europas erfüllen. »Dagegen räume ich ein, dass die Frage, wie Theater zu machen sei, vielschichtiger ist, weil sie die Mittel, die Formen und ihre professionelle Verwendung in Betracht ziehen muss; weiter, in welchem Verhältnis die künstlerische Form und die Zeit, in deren Verlauf sie sich entwickelt hat, zueinander stehen und ob die Form nur routinemäßig benutzt oder im Gegenteil kreativ in eine neue Epoche übertragen wird.« 8

8 | Mortier (2014) S. 8.

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6. Zur Struktur eines zukünftigen Musiktheaters 6.1 F reie S truk turen Die Analyse der sieben Beispiele aus der Praxis des zeitgenössischen Musiktheaters zeigt, dass die sogenannten freien Strukturen – die Kompanie, das Kollektiv und das Ensemble – für andere Produktionsweisen stehen als an Musiktheaterbetrieben vorzufinden sind. Die Ästhetik, die bei allen drei Beispielen sich als künstlerische Handschrift entwickelt, steht dezidiert für das neue Musiktheater. Für den Entstehungsprozess stehen andere Produktionsweisen zur Verfügung. Dies ist signifikant für die Freie Szene, muss aber vorsichtig betrachtet werden, denn diese anderen Produktionsweisen sind nicht als eine »Einheitlichkeit des Freien Theaters zu konstatieren«.1 Das deckt sich mit den Erkenntnissen der Untersuchung: das Opera Lab Berlin widmet sich den lebenden Komponisten von Musiktheater, Hauen und Stechen kreiert neue musiktheatrale Kollagen auf der Basis von Opernrepertoire und La Cage sucht die musiktheatrale Konzeption in Klang und Raum im deutschfranzösischen Kontext. Hierfür sind in allen drei Beispielen Flexibilität und der kollektive Prozess als feste Eigenschaften unverzichtbar. Insbesondre bei Hauen und Stechen zeichnet sich die kollektive Autorenschaft als Form der künstlerischen Forschung aus und wird in der Praxis zu einer an Agambens Forderung an Zeitgenossen nahe kommenden künstlerischen Praxis. Die Motivation für ihr künstlerisches Schaffen kommt nicht aus der wirtschaftlichen Not heraus oder aus dem Bedarf eine neue künstlerische Handschrift als neue Struktur kenntlich zu machen, sondern aus der Notwendigkeit Kunst zu machen und zu arbeiten. Zusätzlich verbirgt sich hinter den drei unterschiedlichen Motivationen für die 1 | Vgl. Schneider, in: Brauneck (2016) S. 616.

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

Gründung und Wahl der jeweiligen Struktur auch Institutionskritik. Julia Lwowksi formuliert am prägnantesten die Notwendigkeit nach der eigenen Struktur: damit sie mehr als auf dem Papier inszenieren kann. Ebenso Opera Lab Berlin, das sich selbst den Wunsch nach mehr Uraufführungen von lebenden Komponisten durch die eigene Struktur erfüllt. Bei La Cage ist der unzureichende Austausch zwischen der deutschen und französischen Szene für zeitgenössisches Musiktheater Anlass zur Gründung einer dt.-frz. Kompanie. Darüber hinaus lässt sich an der zunehmenden Zahl freier Strukturen in der Musiktheaterlandschaft erkennen, dass ein ausgeprägter Wille nach den eigenen künstlerischen Arbeiten und ein starker Drang nach künstlerischer Freiheit vorherrscht und scheinbar die freien Strukturen die Möglichkeit bieten andere künstlerische Konzeptionen hervorbringen zu können. Das bedeutet aber auch gleichzeitig eine Mehrfachbelastung für die Akteure. »Andererseits muss der Künstler zum Projektmanager werden, was wiederum die künstlerischen Produktionsformen beeinfluss. Dieser neue Geist in der Welt des Kulturbetriebs führte zur Entstehung einer Institution neuen Typs.« 2

Dies bezieht sich auch auf den künstlerischen Prozess, wie die Untersuchung im Falle von Hauen und Stechen und Opera Lab Berlin bestätigt. Auch der Darsteller ist vielfältig im Einsatz und hat keine festgeschriebene Funktion mehr. Matthias Rebstock verweist darauf, dass die Theorie hierzu bereits bei Mauricio Kagel3 in den 1970er Jahren erdacht wurde, dass sich aber die Haltung hierzu in der Praxis verselbstständigt hat: »Neu ist aber die Selbstverständlichkeit und Offenheit, mit der sich heute Musiker/ -innen und Ensembles solchen performativen Aufgaben gegenüber verhalten.« 4

2 | Schneider, in: Brauneck (2016) S. 617. 3 | Mauricio Kagel, arg.-dt. Komponist (1931-2008). 4 | Rebstock, Matthias, in: Schneider (2016) S. 602.

6. Zur Struktur eines zukünf tigen Musiktheaters

6.2 S ta atliche S truk turen Die Auswahl der vier staatlichen Beispiele ist anhand der Kriterien Innovation und Zeitgenossenschaft auf vier Häuser gefallen, die durch eine ungewöhnliche künstlerische Spielplangestaltung bzw. ein außergewöhnliches Leitbild wie bei der Opéra Bastille hervorstechen. Nur in einem dieser Beispiele wurde hierfür explizit eine andere Arbeitsweise in der Struktur etabliert: das Leitungsmodell der Oper Halle. Das Nouveau Théâtre de Montreuil zeigt, dass die Überzeugung zu künstlerischen Schwerpunkten an Häusern, die von einem alleinigen Intendanten geführt werden, komplett an diese Person und ihre Entscheidungen gebunden ist. Mit einem Intendantenwechsel ist die Wahrscheinlichkeit einer anderen Spielplanausrichtung hoch und häufig mit einem Wechsel des künstlerischen Fokus verbunden. An der Opéra national de Paris wird der künstlerische Direktor durch den Aufsichtsrat in seinen Entscheidungen kontrolliert. Die Qualität dieser Kontrolle ist abhängig von der Zusammensetzung der Fachkompetenzen im Aufsichtsrat und kein Garant für künstlerische Alleinstellungsmerkmale eines Opernhauses. Im Falle der Opéra national de Paris bleibt zu vermuten, dass die Auslastungszahlen bei einem Zuschauersaal mit 2.700 Sitzplätzen von höherer Relevanz für den Aufsichtsrat sein könnten, als das künstlerische Experiment vor unter Umständen leeren Sitzreihen. So erklärt sich ein repertoireorientierter Spielplan im Widerspruch zum Leitbild der »opéra moderne et populaire«. An der Oper Wuppertal bestätigt sich, dass der Intendant in starker Abhängigkeit zu kulturpolitischen und wirtschaftlichen Faktoren steht. In diesem Falle übt der Standort von außen entscheidenden Einfluss auf die künstlerischen Möglichkeiten des Intendanten aus. Hier sind Experimente nur begrenzt möglich, was den im Verhältnis zu den anderen Fallbeispielen solide anmutenden Spielplan erklärt. Trotz der beengten Freiräume, die in dem Korsett aus Sparmaßnahmen und Auslastungsdruck der Oper Wuppertal bleiben, passiert hier dennoch erstaunlich viel: ein Ensemble sichert die Möglichkeit auf vielfältige Formate auch abseits der großen Bühne und der Schwerpunkt auf partizipativen Formaten verhilft interdisziplinären Neukreationen den Einzug in den Spielplan. »Erst mit der Ablösung des Intendanten als alleinigen, absolutistischen Leiter des Theaters und dem Übergang zu einem Teamorientieren Leitungsmodell werden

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

sich wesentliche strukturelle Ungleichgewichte lösen lassen. […] Mit seiner Funktion wird die vertikale Hierarchie des Theaters zementiert.« 5

Die Oper Halle weist in die Zukunft: durch eine über Jahre sehr angespannte wirtschaftliche Situation und eine kontinuierlich schlechte Auslastungsbilanz war die Kulturpolitik veranlasst neue Wege für das Opernhaus einzuleiten oder es abzuschreiben. Die politischen Entscheidungsträger der Stadt Halle entschieden sich für das Opernhaus. Darüberhinaus war der Oberbürgermeister ein Befürworter der kreativen Innovation, um die Neuausrichtung der Oper Halle Wirklichkeit werden zu lassen. Die Konstitution des Leitungsteams scheint in diesem Zusammenhang konsequent zu sein. In der Praxis heißt das für die drei Leiter: Transparenz, Mitspracherecht und gemeinschaftliche Entscheidungen. Dies führte zu einem ausdifferenzierten Leitbild (»Alles brennt!«) und einem beachtlichen Spielplan mit zeitgenössischen Formaten und neuen Werken von Musiktheater. Die erste Spielzeit zeigte, dass dieser kreative und experimentierfreudige Spielplan sowohl auf Begeisterung, aber auch Irritation und Verunsicherung traf. Die Verunsicherung ging soweit, dass der künstlerischen Leitung öffentlich die Vertrauensfrage gestellt wurde, ob sich dieser Spielplan in Verantwortung der Hallenser Stadtbevölkerung auch zukünftig vertreten lassen würde. In dieser Situation lebte das Leitungsteam die Transparenz und Stärke, die das Modell auszeichnet, konnte dadurch Haltung bewahren und den Spielplan erfolgreich rechtfertigen. Das Modell der Oper Halle ist zukunftsweisend für die Führung eines zukunftsfähigen Musiktheaterbetriebes. »Direktorien, bei denen man an etwas festes, haltbares, dennoch flexibles und dynamisch sich Entwickelndes denken darf, eine Art neues Netzwerk, das auf diesem Wege Transparenz und Fluktuation zulässt.« 6

5 | Schmidt (2017) S. 81. 6 | Schmidt (2017) S. 81.

6. Zur Struktur eines zukünf tigen Musiktheaters

6.3 S tandort Der Standort wirkt in vielerlei Hinsicht auf die Konzeption und Weiterentwicklung des Musiktheaters ein. Das Beispiel Wuppertal zeigt, dass der Standort verantwortlich dafür sein kann, dass durch eine schlechte kommunale Haushaltskasse der Erhalt des Opernhauses kein Selbstverständnis mehr ist. Durch die Sparmaßnahmen begann in Wuppertal das Experimentieren mit der Struktur des Hauses und der Abschaffung des Ensembles mit direkten Auswirkungen auf den Spielplan und direkten Einbußen in den Auslastungszahlen. Die neue Intendanz versucht das verlorene Vertrauen der Bevölkerung in die Oper zurückzugewinnen. Hierzu ist neben der Wiedereinführung des Ensembles die intensive Auseinandersetzung mit dem Standort von Bedeutung. »Und nur das Repertoiretheater kann halbwegs flexibel auf Gelungenes und Gescheitertes reagieren. Wir müssen also festhalten, dass ein inhaltlicher Fortschritt nur erzielt werden kann, wenn die Mittel zu einer grundlegenden Erfahrung dafür vorhanden sind.« 7

Nicht nur die Wiedereinführung eines Solistenensembles als Repräsentant der Oper Wuppertal und damit die Gewährleistung eines regelmäßigen Spielbetriebes, sondern auch die intensive Auseinandersetzung mit der Bevölkerung in partizipativen Projekten und die Nutzung städtischer Räume sind Indikator für eine »soziale Dialektik« als Einbettung von Musiktheater in seinen lokalen Kontext.8 Bei den freien Gruppen dieser Untersuchung war der Standort in allen drei Fällen ausschlaggebend für die Gründung, da der Standort jeweils über eine ausreichende Infrastruktur verfügte, insbesondere die Hochschulen und Spielstätten der Off-Szene, um eine rege Betrieblichkeit zu gewährleisten.

7 | Glanert (2012) S. 236. 8 | Vgl. Mortier (2014) S. 37ff.

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

6.4 D igitale Technologien und I nterne t Auffällig ist, dass die digitalen Technologien lediglich in zwei Strukturen der hier vorliegenden Beispielen eine entscheidende Rolle für die Kommunikationsarbeit nach außen spielen. Die digitalen Medien bieten eine freie Zugänglichkeit zum Musiktheater. Durch das Internet und die LiveÜbertragungen im Internet, wie sie z.B. die Bayrische Staatsoper oder das Programm »3e scène« der Opéra national de Paris regelmäßig anbieten. Hier richtet sich das Angebot – im Gegensatz zu den internationalen Kinoübertragungen von Opernvorstellungen – an alle potenziell Interessierten und ermöglicht damit dank des Internets den barrierefreien Zugang. Insbesondere ein junges Publikum ist dem Umgang digitaler Medien und des Internets gegenüber zugewandt. Über das Vertraute kann ein Annähern an ein u.U. unbekanntes Kunstgenre leichter erfolgen.9 Vergleichbar ist der Erfolg in den 1960er Jahren Herbert von Karajans Initiierung von Tonaufnahmen von Konzerten und Opern für die Verbreitung von Musik.10 Fast 60 Jahre später – und somit 30 Jahre nach der Inbetriebnahme des Internets – ist die Etablierung der digitalen Medien und des Internets keineswegs als Innovation zu betrachten. Vielmehr ist seine Verwendung eine dringliche Notwendigkeit für die Zukunftsfähigkeit von Musiktheater im Hinblick auf die Verbreitung von Musiktheater und dient der Erschließung neuer Publikumsgruppen. Wolfgang Schneider verweist auf ganzheitliche Kulturmanagementkonzepte als Notwendigkeit, um auf ein sich veränderndes Publikum eingehen zu können.11 »Traditionelles Marketing allein, welches sich darauf fokussiert, ein vorhandenes Produkt zu verkaufen, und der Gewinnmaximierung alles Bemühen um den Kunden unterordnet, kann nicht mehr genügen.«

6.5 A ustausch /D iskurspflege Anhand der Beispiele des Nouveau Théâtre de Montreuil und der Oper Halle lässt sich untersuchen, inwieweit der mit der Öffentlichkeit gepflegte Austausch relevant für die Fortschreibung und Weiterentwicklung des 9 | Vgl. Mortier (2014) S. 80. 10 | Vgl. Mortier (2014) S. 74. 11 | Vgl. Schneider, in: Brauneck (2016) S. 621.

6. Zur Struktur eines zukünf tigen Musiktheaters

Musiktheaters ist. Die jährliche Konferenz im NTM ermöglicht den internationalen Austausch. Die Oper Halle lädt im Rahmen der Diskursreihe »Das Kunstwerk der Zukunft« oder dem Diskussionsformat »Agitation und Revolte« das Publikum monatlich zur Teilnahme am Diskurs ein. Angebote dieser Art sind entscheidend für den Prozess, um dauerhaft mehr Verständnis und Vertrauen für neue künstlerische Wege und Konzeptionen aufzubauen. Durch ein regelmäßiges und kontinuierliches Angebot dieser Begleitveranstaltungen wird ermöglicht, sich mit neuen Konzeptionen von Musiktheater vertraut zu machen. »Wo sich die Darstellenden Künste einmischen, können sie in den öffentlichen Raum hineinwirken und die gesellschaftliche und politische Entscheidungsfindung beeinflussen. […] Im Idealfall kann Theaterkunst den öffentlichen Raum wieder beleben; was früher als normal galt, kann somit in einem anderen Licht erscheinen, etwa durch überraschend anregende Assoziationen, Irritationen oder gar Provokationen. So erhalten wir neue Ideen, wie wir die Zukunft bewohnbarer machen können.«12

Es fällt auf, dass der Kontakt der Akteure untereinander nur in ihren einzelnen Szenen wirklich gepflegt wird. So wird deutlich, das Beweggründe vorhanden sind, weshalb die Zahl der Kooperationen zwischen den Akteuren der Freien Szene und staatlichen Institutionen nur begrenzt stattfinden. Um die Basis für einen Austausch zu etablieren, braucht es eine feste Infrastruktur, wie z.B. eine Gastspielförderung und einen kulturpolitischen Auftrag hierzu. Ebenso kann das Prinzip der Koproduktionen noch mehr Verwendung finden, insbesondere zwischen freien Gruppen und Häusern, um den Austausch zu forcieren. Hier ist das Beispiel der Doppelpass-Förderung auch auf europäischer Ebene nachahmungswert, was seit 2017 in dem Förderprogramm zusätzlich möglich ist. »Abgesehen davon, dass diese Kooperationen zum guten Gedeihen der Kunstgattung Oper beitragen, ist bemerkenswert, wie sehr die Einbeziehung dieser Künstler alle Mitwirkenden zwingt, einen Schritt zurückzutreten und über den Sinn nachzudenken, den jedes einzelne szenische Element haben soll.«13

12 | Schneider, in: Brauneck (2016) S. 621. 13 | Mortier (2014) S. 92.

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6.6 L obbyarbeit Nicht zu unterschätzen ist der Einfluss dritter Akteure auf die Entwicklungen und das Gelingen von Kunst und Kultur. Verbände, Gewerkschaften, Presse und Freundeskreise sind der erweiterte Radius der Akteure und gleichzeitig der Kulturpolitik. So stellt Thomas Schmidt fest: »Journalisten sind die wahrscheinlich einflussreichsten Agenten, die über das Prestige eines Theaters, und die Karrieren urteilen und in einigen Fällen sogar vorentscheiden.«14

Der Einfluss der Presse lässt sich anschaulich am Beispiel der Oper Halle zeigen. Seit der Eröffnungspremiere waren Kritiker des Feuilletons und der Fachmagazine treu und positiv gestimmte Berichterstatter für nahezu alle Premieren. Damit wurde für die neue Leitung des Opernhauses Halle Stellung bezogen und die zeitgenössische Spielplangestaltung fand eingehend Besprechung, was sich wiederum auf die Bevölkerung und somit das Publikum übertragen kann. Das trug erheblich zur überregionalen Wahrnehmung der künstlerischen Leistungen seit dem Neustart bei. Ab dem Moment, in dem der Konflikt zwischen der künstlerischen Leitung, den Publikumsreaktionen und der Veröffentlichung von Defizitzahlen des Haushalt durch den Geschäftsführer das Gesamt-Image des Opernhaus gefährdeten, schaltete sich sowohl die überregionale Presse als auch der Deutsche Bühnenverein ein und verhalf dem künstlerischen Leitungsteam durch öffentliche Unterstützung aus der Krise. Daran zeigt sich der Einfluss der dritten Akteure und bestätigt Schmidts Aussage. Durch die Lobbyarbeit kann das Verständnis und die Neugierde für neue Formen und künstlerische Handschriften von Musiktheater mitgetragen werden und ist unverzichtbar für das zeitgenössische Musiktheater.

14 | Schmidt (2017) S. 308.

6. Zur Struktur eines zukünf tigen Musiktheaters

6.7 F a zit zur S truk tur des zukunf tsfähigen M usik the aters Die Beispiele zeigen deutlich, dass das »Neue« in Form von künstlerischen Innovationen, die sich bei allen hier genannten Beispielen belegen lassen, Auswirkungen auf die Struktur hat. In allen Fällen wird die Struktur grundsätzlich neu behandelt. Dennoch zeigt sich, dass die Innovation nur in den Beispielen Opera Lab Berlin, Hauen und Stechen und Oper Halle tatsächlich aktiv in die Struktur der eigenen Institution übertragen wird. Ein Reformbedarf ist in folgenden Punkten deutlich geworden: • Die Notwendigkeit von Starthilfe für die Gründung freier Strukturen. • Kollektive Führungsmodelle müssen an Opernhäusern etabliert werden, um neue Arbeitsweisen mit flachen Hierarchien, Transparenz, Leitbild und mit Eigenverantwortung zugunsten künstlerischer Konzeptionen einzuführen. • Der Standort hat Einfluss auf die Entwicklung und den Erfolg von Konzepten. • Das zukunftsfähige Musiktheater hat bisher ungenutzte Potenziale in den digitalen Medien und im Internet. • Der verstärkte Austausch der Akteure untereinander benötigt eine eigene Mobilitätsförderung und eine kulturpolitische Absichtserklärung hierzu, um die Verbreitung von Musiktheater auch abseits der Metropolen gewährleisten zu können. • Der Einfluss der Lobbyarbeit auf Entwicklung und Erfolg von künstlerischen Konzeptionen muss berücksichtigt werden.

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7. Zur Kunst eines zukünftigen Musiktheaters »Theater machen bedeutet, die Routine des Alltäglichen zu durchbrechen, die Akzeptanz wirtschaftlicher, politischer und militärischer Gewalt als Normalität infrage zu stellen, die Gemeinschaft zu sensibilisieren für Fragen des menschlichen Daseins, die sich nicht durch Gesetze regeln lassen, und zu bekräftigen, dass die Welt besser sein kann, als sie ist.«1

7.1 K ünstlerische Q ualität Die Qualität von Kunst lässt sich kaum oder gar nicht messen. Sie ist dennoch oder gerade deshalb der wichtigste Faktor von zeitgenössischem Musiktheater. Der Umgang mit dem Material ist hier wichtig. Die Möglichkeit, die vor allem im freien Musiktheater genutzt wird, einen Operntext frei in seine Einzelteile zu zerlegen und einen neuen Umgang durch eine Neuzusammensetzung zu finden (siehe Hauen und Stechen) ist für die Befragung des Genres Musiktheater genauso unverzichtbar wie eine handwerklich perfekte Inszenierung des originalen Opernwerkes. Ohne diese parallelen Entwicklungen in den letzten zwanzig Jahren wäre die Diskussion über veraltete Produktionsweisen an Opernhäusern nicht an den Punkt gelangt, wo sie heute ist. Diese Entwicklung hat zur Folge, dass 2016 erstmals ein Leitungsteam in Halle an den Start gegangen ist und auch andere Opernhäuser ihre Spielpläne von den Arbeiten der freien Musiktheaterszene beleben lassen. Es hat sich ein Selbstverständnis dafür etabliert, dass der Bühnenraum vielfältig genutzt werden kann. Im Falle der Oper Halle wird das verdeutlich durch die Inszenierung von

1 | Mortier (2014) S. 11.

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

»Der fliegende Holländer« in einem interaktiven Raumkonzept als greifbare Utopie einer »Musiktheaterstadt«. Ebenso ist die Ko-Autorenschaft eine neue Tendenz im Musiktheater, die sich sowohl an Opernhäusern, wie bspw.an der Oper Wuppertal die Inszenierung von »Hoffmanns Erzählungen« durch vier Regisseure, als auch in freien Kollektiven, wie im Opera Lab Berlin mit den Ko-Autorenschaften zwischen Komponisten und Regieteams, durchsetzt.

7.2 I nhalte Die Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit von Musiktheater ist (auch) von ihrem Inhalt abhängig. Wolfgang Schneider fordert hierzu in seinem Plädoyer einen neuen Weg zu einer Theaterlandschaft – auch über den künstlerischen Inhalt: »Voraussetzung ist allerdings, dass das Theater interessant genug ist, vielleicht sogar neugierig macht, vor allem aber etwas Bedeutsames zu bieten hat. Es braucht ein Motiv um Aufmerksamkeit zu erzeugen, die nicht oberflächlich bleibt, sondern den Zuschauer bewegt, an- und umtreibt. Es braucht Motivation, ein Sich-gegenseitig-Bedingen, wie es die Psychologie definiert. Es braucht Substanz, Brisanz und Relevanz, um sich angesprochen zu fühlen und sich Gedanken zu machen. Das alles könnte Theater sein – wenn die Reform der Theaterlandschaft kulturpolitisch endlich angegangen wird.« 2

Alle Beispiele erlangen durch ihre inhaltlichen Arbeiten Alleinstellungsmerkmale, die über ihre Daseinsberechtigung hinaus die künstlerische Konzeption zu einer wichtigen Momentaufnahme in der Fortschreibung des Genres Musiktheater machen. Insbesondere in den letzten Jahren ist sichtbar geworden, dass die Künstler über das Konzeptuelle und der Herstellung eines Realitätsbezugs, oft in selbstreferentieller Form, arbeiten. »Viele Akteur/-innen begreifen dabei ihre Arbeit als Forschung.« stellt Matthias Rebstock fest, aber verweist auf den Mangel an Spielräumen an Häusern hierzu.

2 | Schneider, in: Brauneck (2016) S. 638.

7. Zur Kunst eines zukünf tigen Musiktheaters

»Durch die Beschränkung auf das etablierte Repertoire und die Doktrin einer musikalischen Werktreue bestehen für solche Ansätze an den Opernhäusern kaum Spielräume […]. Im Freien Musiktheater lassen sich hier hingegen eine ganze Reihe von Ansätze finden.« 3

Hier wird deutlich, weshalb Musiktheaterschaffende die Möglichkeit der Kollektivbildung und des kollektiven Arbeitens wiederentdeckt haben. Gerard Mortier benennt diese inhaltlichen Bemühungen als Qualität für die Weiterentwicklung des Musiktheaters. »Diese Art, sie neu zu denken und sie für unsere Epoche zu erzählen, hat ihre Bedeutung nicht im Geringsten geschmälert, sondern sie im Gegenteil für unsere Zeit gerettet.«

Diese Rettung sieht Mortier in der Tatsache, dass durch diese Versuche ein vielseitiger Eindruck von Musiktheater erzeugt wird, der das Interesse von neuem Publikum weckt und somit relevant für die Zukunftsfähigkeit von Musiktheater ist, da es dem »Niedergang der Kunstform Oper« entgegenwirken kann.4

7.3 U r aufführungen Nicht neu ist die Forderung nach einer Spielplangestaltung, die einen Anteil von 50 Prozent an Werken des 20. Jahrhunderts und Uraufführungen beinhaltet.5 Doch mit den Uraufführungen tritt parallel das Phänomen auf, dass die wenigsten Stücke zu einer Wiederaufnahme oder Neuinszenierung gelangen, sondern vielmehr in einem »Uraufführungsgrab« enden.6 Es reicht demnach nicht aus sich lediglich auf die Uraufführungen zu fokussieren, vielmehr muss eine stärkere Auseinandersetzung mit diesen Stücken angeboten werden. Dazu gehören u.a. Werkeinführungen, Konferenzen und Informationen im Internet.7 Das kann ein Ensemble 3 | Rebstock, in: Brauneck (2016) S. 603. 4 | Mortier (2014) S. 89. 5 | Mortier (2014) S. 86. 6 | Vgl. Lübbe (2013) S. 65. 7 | Vgl. Mortier (2014) S. 87.

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wie z.B. das Opera Lab Berlin nur schwerlich leisten, da die personelle Struktur diesen Mehraufwand nicht hergibt. Hier wäre das Engagement von Dritten gefragt, wie z.B. durch die Verbände oder der Kulturpolitik. Die Oper Halle zeigt, dass hier nicht nur mit einem jungen Spielplan getrumpft wird, sondern auch die Aufarbeitung dieser zeitgenössischen Konzeptionen durch ein Begleitprogramm gewährleistet wird. Das Nouveau Théâtre de Montreuil setzt ebenfalls auf diese Begleitformate, wie z.B. durch eine Konferenz im Festival »Mesure au mesure«. Doch Zeitgenossenschaft wird nicht allein über die Werke erreicht, sondern über die ganzheitliche Konzeption. So kann die musikalische Heimatbeschwörung »Kein schöner Land«, ausschließlich bestehend aus deutschen Werken, durch eine Neukomposition dieser als »performatives Orchester-Happening« zu einem zeitgenössischen Verweis auf ein politisches Thema gelangen. Auch »Votre Faust« verknüpft mit der aktiven Mitbestimmung der Zuschauer einen in den 1970er Jahren geschriebenen inhaltlichen Stoff mit der Gegenwart, sodass der Zuschauer in den Moment der bewussten Wahrnehmung und Reflektion seines eigenen Unterhaltungsbedürfnisses und Rezeptionsverhaltens gerät. Beide Beispiele zeigen, wie wichtig die Lebendigkeit im Musiktheater ist und gleichzeitig erkennt man, dass hier die größte Herausforderung des Musiktheaters liegen kann. »Das Theater muss ständig in Bewegung sein, so wie die Welt selbst, deren Abbild und Sprachrohr es ist. Ein Theater, das sich ans Historische heftet, wird zum toten Buchstaben. Theater muss nicht schockieren, aber es muss uns aufrütteln in unseren täglichen Gewohnheiten, unserem Konformismus und in unseren Gefühlen, die sich nicht auf bloße Sentimentalität beschränken dürfen. Auf diese Art kann das Theater zum Keim unseres Handelns in der Welt werden, weil es uns erschüttert und weil die aus dieser Erschütterung hervorgehenden Emotionen jene Kreativität entstehen lassen, die eine existenzielle Kraft des Menschlichen ist«. 8

8 | Mortier (2014) S. 101.

7. Zur Kunst eines zukünf tigen Musiktheaters

7.4 L eitbild oder öffentliche H altung Sowohl das Nouveau Théâtre de Montreuil, die Opéra national de Paris als auch die Oper Halle beziehen zu gesellschaftsrelevanten Themen Stellung. Dies kann verschiedene Ausrichtungen aufweisen, wie bspw. das Beziehen einer politischen Stellung. Am Beispiel der Oper Halle wurde dies gleich zweifach bewiesen. Zum einen führte das Spielzeitmotto »Alles brennt!« zu einer deutlichen öffentlichen Ankündigung auf künstlerische Inhalte. Gleichzeitig bezog das neue Leitungsteam mit der musikalischen Heimatbeschwörung »Kein schöner Land« Stellung zu der Forderung der rechtspopulistischen Partei für eine exklusive Förderung des deutschen Kulturgutes entgegen einer Förderung von kultureller Vielfalt. Am Beispiel der Opéra national de Paris zeigt sich das Leitbild der »Opéra moderne et populaire« in der kulturpolitischen Entscheidung zum Bau der Opera Bastille mit dem Ziel eines niederschwelligen Zugangs zur Kunstform Oper in Frankreich. Hier bekannte sich die Regierung dazu, dass das Genre Oper gemeinschaftstauglich und verbindend für ein breites Publikum werden sollte. Die künstlerischen Inhalte sind relevant um den Bezug zwischen Musiktheater und der Gegenwart sichtbar zu machen. Gerard Mortier fordert: »Da, wo politische und ökonomische Entscheidungen zur Zeit meistens ohne jede langfristige Vision getroffen werden, brauchen wir mehr als je zuvor das Theater als moralische Anstalt, die sich sowohl die Warnung wie die Vision zur Aufgabe macht.« 9

Thomas Schmidt weist auf die zusätzliche Qualität des Managementinstrument des Leitbildes durch Bildung eines Selbstverständnis des Theaters, sowohl für die Mitarbeiter als auch nach außen für Politik, Bevölkerung und Presse.10

9 | Mortier, Gerard: »Dramaturgie einer Leidenschaft«, Bärenreiter Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel, 2014, S. 7. 10 | Vgl. Schmidt (2017) S. 388.

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»Man muss jedoch ein höheres Risiko eingehen als zuvor, alte Gewohnheiten verwerfen, unerschütterlich auf Professionalität bestehen und den politischen Charakter des Theaters verteidigen, das bedeutet: seinen Platz in der Gesellschaft.«11

7.5 F a zit zur K unst des zukunf tsfähigen M usik the aters Die Zukunftsfähigkeit ist abhängig von der künstlerischen Qualität von Musiktheater. Diese bezieht sich nicht nur auf die Werke, sondern auch auf die Einbettung der Werke. Der Reformbedarf für die Kunst von zukunftsfähigem Musiktheater konnte anhand der Untersuchungsergebnisse wie folgt abgeleitet werden: • Die Fortschreibung des Genre Musiktheaters bedarf auch eines neuen Umgangs mit dem Material, wie z.B. durch Neuarrangements des Materials, der Ko-Autorenschaft und der Herabsetzung des allein interpretierenden Regisseurs auf das Kollektiv. • Uraufführungen neuer Werke benötigen begleitende Maßnahmen. • Die Zukunftsfähigkeit von Musiktheater ist abhängig von ihrer Lebendigkeit. • Die Einführung eines Leitbildes hilft Mitarbeitern, Kulturpolitik und Bevölkerung zur Identifikation mit dem Musiktheater.

11 | Mortier (2014) S. 10.

8. Zur Kulturpolitik eines zukünftigen Musiktheaters Die Untersuchung hat gezeigt, dass die Bestrebung einer Umsetzung von »Neuem« in starker Abhängigkeit von dem kulturpolitischen Kontext steht. Als Beispiel par excellence zeigen dies die Oper Halle auf der einen Seite und die Oper Wuppertal auf der anderen Seite. Anhand der Beispiele wird deutlich, dass ein Gelingen von künstlerischen Konzeptionen nur in Kenntnisnahme und Wechselwirkung der Musiktheaterschaffenden mit den zuständigen kulturpolitischen Akteuren und den sogenannten »Dritten«, in diesem Fall der Presse und den Verbänden, gelingen kann. Hier bedeutet die Innovation, eingeführt und vertreten durch den Spielplan, eine Wachstumschance für das Opernhaus. Die Kehrseite von dem Verhältnis zwischen Kulturpolitik und Opernhaus zeigt das Beispiel in Wuppertal, in welchem eine negative kulturpolitische Ausgangslage die Freiräume im Spielplan stark begrenzt.

8.1 P ersonelle S truk tur Schumpeter benötigt für die Einführung neuer Prozesse »schöpferische Zerstörungskraft«. Diese ist relevant, wenn die etablierten Hierarchien am Theaterbetrieb durchbrochen werden und durch neue vertikale Arbeitshierarchien ersetzt werden sollen. Für ein erfolgreiches Umsetzen von neuen Ideen und Arbeitsweisen ist die Einbeziehung aller Beteiligten entscheidend. Am Beispiel der Oper Halle bestätigt sich das. So erklärt Florian Lutz, dass die Herausforderung der Raumbühne nur durch ein Miteinander und mithilfe von flachen Hierarchien möglich war.1 Hierfür sind die Eigenverantwortlichkeit der einzelnen Abteilungen und Mitspra1 | Lutz, Florian; Interviewgespräch mit der Verfasserin, Oper Halle, 28.11.2016.

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

chemöglichkeiten im Planungsvorlauf wichtig. Außerdem ermöglicht ein mehrköpfiges Leitungsmodell, wie z.B. das Leitungsteam an der Oper Halle, eine Gewährleistung der Kommunikation innerhalb des Hauses. »Ein guter Manager hat immer das Gesamtensemble der Aufgaben im Blick« 2

Das ist im Theaterbetrieb schwerlich in allen Bereichen mit gleicher Qualität von nur einem Leiter zu leisten, wird aber von den Opernhäusern und der Kulturpolitik bisher nicht erkannt bzw. umgesetzt. Es existiert derzeit keine ernsthafte Praxis von anderen Leitungsmodellen, solange die administrative Ebene hierzu nicht geklärt ist. Von der Kulturpolitik muss dafür gesorgt werden, dass das notwendige Instrumentarium für alternative Führungsmodelle, wie z.B. das Direktorium, das Gremium oder das Leitungsteam, zur Verfügung gestellt wird. D.h. auch, dass die bisher existierende juristisch alleinige Haftung eines Intendanten für alternative Führungsmodelle angepasst werden muss. Im Hinblick auf die Oper Halle würde das bedeuten, dass die politischen Entscheidungsträger die juristischen Grundlagen für eine Mehrfach-Haftung schaffen und das gesamte Leitungsteam in die Haftungsebene einbezogen wird. Dadurch wäre der Grundstein gelegt, dass auch im Leitungsteam letztlich die Praxis der Entscheidungen die Qualität des Teams nicht durch eine versteckte Hierarchie gefährdet. »Die Oper kann noch Gemeinschaft bilden, wenn sie sich auf die Lage des neuen Menschen, des Kollektiv-Menschen, einstellt.« 3

8.2 K ulturpolitischer A uf tr ag Ohne die Unterstützung der Kulturpolitik werden es zeitgenössische und experimentelle Formen schwer haben existieren zu können. Insbesondere das Beispiel der Oper Halle zeigt, dass ein Spielplan mit zeitgenössischem Musiktheater einer starken Kritik ausgesetzt ist. Eine Entschärfung 2 | Schmidt (2017) S. 310. 3 | Holl, Karl: »Oper in Not«, in: Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth (Hg.): »Strukturprobleme des Musiktheaters in der Bundesrepublik Deutschland«, Bayreuth, 1978.

8. Zur Kulturpolitik eines zukünf tigen Musiktheaters

dieser Situation kann erreicht werden, indem die Förderung zeitgenössischer Formen in einem Kulturauftrag für Opernhäuser festgehalten wird. Als Beispiel dafür ist Frankreich zu nennen, da hier die Förderung vom Kulturministerium in einem Kulturauftrag an die Opernhäuser erteilt wird. Somit würde die experimentelle und zeitgenössische Arbeit an Opernhäusern ein Selbstverständnis bekommen und nicht mehr grundsätzlich zur Diskussion gestellt werden. Darüber hinaus ist es notwendig, dass die Kulturpolitik die Zusammenarbeiten zwischen den Akteuren der Freien Musiktheaterszene und den subventionierten Häusern fördert. In Deutschland ist ein erster wichtiger Schritt mit der Doppelpass-Förderung eingeführt worden und hat gezeigt, dass eine Weiterverfolgung dieses Weges lohnenswert ist. »Im Hinblick auf das Hauptziel des Fonds, die nachhaltige Stärkung der deutschen Theaterlandschaft, zeigte sich die große Mehrheit der Interviewten überzeugt, dass der Doppelpass einen Entwicklungsprozess, die zunehmende Durchlässigkeit der Grenzen zwischen Stadttheatern und freier Szene, aufgegriffen und nachhaltig dynamisiert habe. Das Programm verstärke das wechselseitige Verständnis. Die Strukturdebatte werde intensiviert und in Richtung Öffnung gelenkt.« 4

Zukünftig wird diese Förderung durch die Nennung eines dritten Partners auch mit der Möglichkeit auf Partner im europäischen Ausland ausgedehnt. Initiator dieser Förderung ist die Kulturstiftung des Bundes. Dies sollte im Hinblick darauf, dass die Regierungen selbst solche Förderinstrumente einführen und zudem Möglichkeiten für europäische Kooperationen in der Kulturpolitik verankern, von politischer Seite überdacht werden. Nur dann kann auch ein Austausch, ein niedrigschwelliger Zugang zu Musiktheater und eine Formenvielfalt sichergestellt werden.

4 | Kulturstiftung des Bundes: »Erste Evaluation des Doppelpass (2012-2015)«, Quelle: www.doppelpass.kulturstiftung-bund.de/debatte/erste-evaluation-desdoppelpass-2012-2015 (28.08.2017).

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

8.3 A nerkennung der künstlerischen L eistungen – auch in der F reien S zene Die freie Musiktheaterszene ist das Zentrum von künstlerischer Forschung, Experimenten und der Verbreitung neuer Arbeitsweisen. Damit ist die freie Musiktheaterszene das eigentliche Laboratorium, aus dem im Anschluss Häuser, wie die Oper Wuppertal, Künstler einladen (wie z.B. das KommandoHimmelfahrt für »Sounds of the City«). Ebenso wird das in den Beispielen Opera Lab Berlin und Hauen und Stechen deutlich. Diese Künstlergruppen haben unter prekären Bedingungen mittels erfolgreichen Experimentierens neue Arbeitsweisen für sich gefunden, durch die ein künstlerisches Alleinstellungsmerkmal entstehen konnte. Das wird wiederum von strukturell und finanziell gut aufgestellten festen Institutionen, wie der Bayrischen Staatsoper, der Hamburgischen Staatsoper und dem Festival d’Aix-en-Provence,5 genutzt, indem die Künstlergruppen in ihren Spielplan aufgenommen werden. Empfehlenswert wäre die Bereitstellung von weiteren Strukturen, in denen die Künstler der Freien Szene produzieren und experimentieren können, wie beispielsweise in Künstlerresidenzen oder durch Arbeitsstipendien. Diese gibt es bereits, jedoch nicht in ausreichender Form. So ist es insbesondere für Kollektive kurz nach der Gründung schwierig Förderungen zu bekommen. Insbesondere in der Gründungsphase eines Kollektivs ist eine finanzielle und strukturelle Förderung von großer Bedeutung. Hier ist die Kulturpolitik in der Pflicht weitere Förderinstrumente zu schaffen und damit den Entwicklungen, die sich in den freien Kollektiven vollziehen, mehr Anerkennung und Akzeptanz entgegen zu bringen. »Eine eigene Tradition hat sich etabliert, nun geht es darum, die Bedingungen zu verbessern, unter denen die eigene Ästhetik jenseits der Stadttheaterstrukturen weiter entwickelt werden kann. Denn diese Bedingungen bleiben weiterhin – gerade auch im Vergleich zu anderen künstlerischen Bereichen – problematisch und nicht selten prekär: Kurzfristige Finanzierungen, permanenter Legitimationsdruck künstlerischer Arbeit außerhalb der etablierten Ensemble- und Repertoirebühnen, auch die mangelnde Bereitschaft zur Anerkennung des entstandenen alternativen Theaterkanons prägen nach wie vor den Alltag des Freien Theaters.« 6 5 | Lutz, Florian; Interviewgespräch mit der Verfasserin, Oper Halle, 28.11.2016. 6 | Impulse Theater Biennale »Projektbeschreibung«, in: Schneider (2016), S. 637.

8. Zur Kulturpolitik eines zukünf tigen Musiktheaters

8.4 H äuser öffnen »Lorsqu’une maison d’opéra se diversifie vers d’autres activités artistiques et que la place de l’opéra diminue en conséquence, la maison d’opéra devient sans le dire un théâtre multifonctions«.7

Die vielfältige Öffnung von Theaterhäusern für andere künstlerische Disziplinen kann man in Frankreich deutlich sehen. Beispielsweise dient das Grand Théâtre in Aix-en-Provence als Theater, das der Musik bestimmt ist und gegenwärtig durch ein breit aufgestelltes künstlerisches Programm seine Verwendung findet. Ähnlich agierte die Volksbühne Berlin unter der Leitung von Frank Castorf, wo beispielsweise nur 66.000 von 180.000 Zuschauern der gesamten Spielzeit 2012/2013 Sprechtheater besucht haben. Die anderen Zuschauer kamen für die Nebenprogramme, wie Konzerte, Diskussionen, Gastspiele und vielen mehr.8 Diese Form der Programmgestaltung ist an Opernhäusern noch weitestgehend unbekannt. Das hätte aber den Vorteil, dass das »eigene« Programm, also die eigenen Produktionen in ihrer Anzahl geringer sein könnten, eine vielfältigere Probeneinteilung planbar wäre und mehr Freiraum für die künstlerische Entwicklung entstehen würde. Das Beispiel des Nouveau Théâtre de Montreuil zeigt in der Untersuchung, dass diese Form der Spielplangestaltung in vielerlei Hinsicht ergiebig ist und über so viel Freiraum verfügt, dass inhaltliche Schwerpunkte tiefgründig verfolgt werden können.

8.5 N eue H äuser für K ooper ationen Um die Grenzen zwischen der freien Szene und den Opernhäusern auszuräumen, ist es wichtiger die Möglichkeiten der Zusammenarbeit weiterzudenken, als lediglich Kooperationen zwischen den Akteuren zu fordern. Heiner Goebbels schlug vor, in jedem Bundesland ein Opernhaus zugunsten der Eröffnung eines Musiktheaterhauses zu schließen. Diese soll ein Produktions- und Präsentationsort für freie Akteure sein 7 | Agid/Tarondau (2011), S. 308. 8 | Vgl. Müller, Tobi: »Wachstum oder Wandel?«, 12.09.2016, Quelle: www.doppelpass.kulturstiftung-bund.de/debatte/tobi-mueller-wachstum-oder-wandel (28.08.2017).

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

– aber mit den Möglichkeiten der Infrastruktur eines Theaters: mit seinen Bühnen, Werkstätten und Probebühnen und einer festen personellen Betreuung inbegriffen.9 In diesem Vorschlag steckt der Beginn einer flächendeckenden Infrastruktur, die einen flexibleren Austausch ermöglichen und gleichzeitig Mobilität durch eine Rotationsmöglichkeit schaffen kann. Musiktheater würde somit nicht mehr »ein eigener hermetischer Komplex« sein, wie Wolfgang Schneider es benennt.10 Thomas Schmidt diagnostiziert, dass »vor dem Hintergrund der sich verstärkenden Überproduktion vor allem der kleineren und mittleren Landestheater oder der Theater, die im Rahmen von Fusionen zwei oder noch mehr Standorte bespielen, würde es Sinn machen, diese Theater an ihrem Hauptstandort zu stärken und den zweiten Standort und/oder die Nebenspielstätte als Produktionsstandort der Freien Szene zur Verfügung zu stellen – wenn es hierfür wirklich einen Bedarf gibt, also, wenn wirklich eine aktive freie Szene existiert.«11 Das hätte einen deutlichen Effekt für die Qualität der Arbeitsbedingungen für die Freie Szene sowie für die Verbreitung der künstlerischeren Arbeiten. Dies wäre optimal kompatibel mit der Zukunftsvision von Opera Lab Berlin, ein Uraufführungshaus für Musiktheater zu gründen. Genau solche Konzeptionen sollte es für diese Häusern geben. Die deutsche Kulturpolitik sollte demnach die Überlegung ernsthaft betreiben, ob es nicht der Zukunftsfähigkeit von Theater und Musiktheater dienlich sein würde, dem französischen Modell der centre dramatique national zu folgen und die Betreibung der staatlich subventionierten Theaterbetriebe in Deutschland vielfältiger zu gestalten, d.h. mehr Alternativen zum Repertoire bedienenden Opernhaus anzubieten.

8.6 Tarife In Deutschland stellt derzeit die zeitgenössische Musiktheaterarbeit die Opernbetriebe noch vor eine Vielzahl an Herausforderungen, insbesondere im Orchester und in den technischen Bereichen. Die zugehörigen 9 | Vgl. Goebbels, Heiner: »Zeitgenössische darstellende Kunst als Institutionskritik«, in: Schneider, Wolfgang (Hg.): »Theater entwickeln und planen«, transcript Verlag, Bielefeld, 2013, S. 27ff. 10 | Vgl. Schneider, in: Brauneck (2016) S. 636. 11 | Schmidt (2017) S. 417.

8. Zur Kulturpolitik eines zukünf tigen Musiktheaters

Mitarbeiter sind durch Tarifvereinbarungen in ihren Arbeitsbedingungen geschützt und blockieren dadurch teilweise die Umsetzung neuer Produktionsweisen (u.a. auch durch die Festlegung der Probenzeiten). »Das Theater ist ein Kunstbetrieb, keine Behörde.«12

Detlev Glanert spitzt das weiter zu, in dem er festhält, das »die Mitarbeit in einem Opernhaus nolens volens eine künstlerische Tätigkeit ist, die den Stempel des Außergewöhnlichen trägt und tragen muss – dieser Prägung gilt es Rechnung zu tragen, indem sich die Mitarbeiter und ihre Verträge weitgehend von der bequemen Idee des bürgerlichen Angestelltenlebens verabschieden. D.h. Aufgabe lieb gewonnener Gewohnheiten und Abschaffung von Schlamperei.«13

Thomas Schmidt fordert hier die Aufhebung bestehender Tarifvereinbarungen14 und einen einheitlichen Tarifvertrag, unter dem alle Mitarbeiter zu den gleichen Bedingungen gefasst werden.15 Dies hat den Vorteil, dass durch den neuen Tarif die Mitarbeiter weiterhin am Standort abgesichert, aber nicht mehr an Tarifvereinbarungen und die Gewerkschaften gebunden wären. »Denn es kann nicht sein, dass faktisch jede Verdi-Tarifrunde darüber entscheidet, wie viele Inszenierungen ein Haus die nächste Spielzeit leisten wird.«16

12 | Deutscher Bühnenverein: »Resolution des Deutschen Bühnenvereins bei der Jahreshauptversammlung 2012 in Ingolstadt«, 02.06.2012. 13 | Glanert (2011) S. 236f. 14 | Anmerk. d. Verfasserin: in Deutschland existieren drei Tarifgruppen. Der TVöD, Tarifvereinbarungen für den öffentlichen Dienst, ist für Verwaltung und Technik, der NV Bühne, Normalvertrag Bühne, ist für die Künstler und der TVK, Tarifvertrag für Kulturorchester, ist für die Orchestermusik zuständig. 15 | Schmidt (2017) S. 391f. 16 | Glanert (2011) S. 237.

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

8.7 D ezentr alisierung Trotz vieler Bemühungen von der Kulturpolitik zur dezentralen Berücksichtigung in der Förderung von Theater im ländlichen Raum, findet das zeitgenössische Musiktheater ausschließlich in Städten und meist sogar in Kulturhochburgen wie Berlin statt. Das liegt vor allem daran, dass in den Städten dank der Infrastruktur mit einem relativ geringen finanziellen Aufwand viel Raum zum Experimentieren geboten wird, wie sich anhand der hier untersuchten freien Gruppen zeigt. Dennoch ist die Empfehlung an die Kulturpolitik auszusprechen, im Sinne der nachhaltigen Absicherung des Genres Musiktheaters eine Förderung von Gastspielen auszubauen. Auch das zeitgenössische Musiktheater muss, wie die gesamten Darstellenden Künste, flächendeckender der Bevölkerung zur Verfügung gestellt werden und auch abseits der Metropolen gespielt werden. D.h., dass die Kulturpolitik mehr Mobilität zulassen muss. »Kunst kann neue Themen eröffnen und uns dahin führen, dass wir die Welt anders sehen und vielleicht auch anders mit ihr umgehen.«17

8.8 P ublikum Das zeitgenössische Musiktheater bedient derzeit noch eine Nische. Wichtiger Teil der Arbeit wird es zukünftig sein über Vermittlungsformate und Kooperationen mit Bildungseinrichtungen eine langfristige Arbeit im audience development zu leisten und ein breites Publikum mit den künstlerischen Inhalten anzusprechen. Hier ist die Unterstützung durch die Kulturpolitik gefragt, deren Anspruch es ebenso ist einen Gesellschaftsquerschnitt im Publikum zu finden18 »Berührungsängste mit der Hochkultur und der Befürchtung, dass Kunst langweilig oder unverständlich ist, kann nur mit einer konsequenten Vermittlungsarbeit entgegen wirken.«19 17 | Schneider, in: Brauneck (2016) S. 627. 18 | Vgl. Schneider, in: Brauneck (2016) S. 622. 19 | Vgl. Schneider, in: Brauneck (2016) S. 622.

8. Zur Kulturpolitik eines zukünf tigen Musiktheaters

Der Beschluss zum Neubau der Opéra Bastille 1979 war ein richtiger Impuls hierzu. Aber es reicht nicht aus, dass die Kulturpolitik »Leuchttürme« baut, sondern es muss auch darum gehen, dass ein breites Publikum abseits der Metropolen angesprochen werden kann. So heißt verweist der Schlussbericht der Enquete-Kommission auch auf die wechselwirkenden Effekte der Vermittlungsarbeit mit jungen Zuschauern und ihrem Mehrwert in der Entwicklung junger Menschen. »Junge Zuschauer trainieren im Theater die Fähigkeit, die Zeichen der Zeit zu entschlüsseln, ihr schöpferische Kraft zum abstrakten Denken und das kreative Vermögen zur Weltaneignung.« 20

Ein ausdifferenziertes Gastspiel-Förderinstrumentarium kann behilflich der Umsetzung sein. Wolfgang Schneider fordert »mehr Theater für mehr Menschen« und weist auf das Ungleichgewicht in der Verteilung der Fördergelder hin: in Deutschland bedeutet die Kulturpolitik »vornehmlich eine Förderung der Infrastruktur, die Institutionalisierung verbraucht alle Mittel, die den Projekten und prozessorientierten Programmen fehlen«.21 Hier ist es lohnenswert als Kooperationspartner soziokulturelle Orte eine stärkere Rolle zu übertragen, da diese über die Infrastruktur und die lokale Vernetzung verfügen. Zeitgenössisches Musiktheater muss bereits im Kinder- und Jugendtheater verankert sein. Alle in dieser Arbeit untersuchten Beispiele außer der Opéra national de Paris haben hier deutliche Schwächen. Die Oper Halle hat beispielsweise in der ersten Spielzeit keine dem Spielplan angepassten Neuproduktionen von zeitgenössischem Musiktheater für Kinder, beginnt aber zumindest ab der 2. Spielzeit 2017/2018 mit diesem Programm. Die drei freien Kollektive hingegen haben keine Vermittlungsformate in ihrem Programm. Das liegt auch daran, dass dies finanziell und personell eine zusätzliche Herausforderung darstellen würde. Dennoch muss es auch gerade den Akteuren selbst ein Anliegen sein an der Langfristigkeit ihrer Zuschauer zu arbeiten. Hier wäre aber gesondert Hilfe durch eine kulturpolitische Förderung notwendig.

20 | Deutscher Bundestag: »Schlussbericht Enquete-Kommission«, S. 109. 21 | Vgl. Schneider (2016) S. 627.

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

8.9 F ördermit tel E uropa Das zeitgenössische Musiktheater hat seine Zukunft in der europaweiten Vernetzung, im Austausch. Auf europäischer Ebene gibt es projektbezogene Fördermittel von der Europäischen Union, wie Creative Europe 22 . Diese Förderung beziehen aber vorwiegend bereits etablierte Künstlergruppen oder Institutionen. Hier ist die Bereitstellung der Förderung von der EU auch auf eine Laufzeit von sechs Jahren festgelegt. Eine Maßnahme zur permanenten Einrichtung europäische Kunst- und Kulturförderung wäre hier absolut bedenkenswert. Ebenso eine strukturelle Förderung für einen aktiven Austausch und Mobilität innerhalb Europas sowie eine Vereinfachung der administrativen Hürden für europäische Projekte wäre hier eine Vereinfachung der Gegebenheiten und würde sich positiv auf das Ziel eines flächendeckendes Austausch künstlerischer Akteure in Europa auswirken. Auf nationaler Ebene gibt es auch für die Freie Szene in den Darstellenden Künsten ein großes Förderinstrumentarium.: Projektförderung, Konzeptionsförderung, Institutionelle Förderung, Festivalförderung, Förderung durch Preise, Nachwuchsförderung, Gastspielförderung, Stipendien, Residenzen, Förderung des internationalen Austausches, u.v.m.23 Doch in beiden Ländern ist bisher das zeitgenössische Musiktheater als Nischen-Sparte noch eher Zaungast als explizites Ziel der Förder-Ausschreibungen. Hilmar Hoffmanns Forderung nach »Kultur für alle« darf auch nicht vor den experimentelleren Formen zurückschrecken. Wenn Neuproduktionen gefördert werden, wäre es sinnvoll über eine anschließende Tourneeförderung als Voraussetzung grundsätzlich für Neuproduktionen nachzudenken und Musiktheater somit flächendeckender zugänglich zu machen.

22 | Anmerk. d. Verfasserin: Creative Europe unterstützt aus einem Budget mit 1,46 Mrd. € über die Dauer von sieben Jahren audiovisuelle Programm und Projekte aller künstlerischen Disziplinen zur Verbreitung und für Zugänglichkeit innerhalb Europas von Kunst und Kultur. 23 | Vgl. Schneider, in: Brauneck: (2016) S. 635.

8. Zur Kulturpolitik eines zukünf tigen Musiktheaters

8.10 F a zit der K ulturpolitik eines zukünf tigen M usik the aters Insbesondere auf kulturpolitischer Ebene gibt es akuten Handlungsbedarf, um das zeitgenössische Musiktheater in seiner Weiterentwicklung zu fördern und die Vielfalt des Genres sichtbar und zugänglich zu gestalten: • Neues« kann nur wachsen und gedeihen wenn ein wechselseitiges Verhältnis zwischen den verschiedenen Akteuren gepflegt wird. • die Kulturpolitik muss Grundlagen für andere als bestehende Leitungsmodelle einsetzen. • ein Kulturauftrag muss an die Institutionen ausgesprochen werden, der die Förderung zeitgenössischer Formen beinhaltet und Kooperationen und Gastspiele vorsieht. • die Anerkennung der künstlerischen Leistungen der freien Szene muss sichtbarer werden, auch durch mehr Förderelemente, wie Residenzen, Stipendien, Preise. • die langfristige Umstrukturierung von Opernhäusern als offene Gastspielstätten kann die Vielfalt des Genres Musiktheater erweitern. • das Tarifsystem kann durch eine Vereinheitlichung die künstlerischen Abläufe erleichtern. • eine ausdifferenzierte und flächendeckende Gastspielförderung wird der Verbreitung und Etablierung von zeitgenössischem Musiktheater dienlich sein. Förderinstrumentarien muss die Kulturpolitik zur Verfügung stellen. • Vermittlungsarbeit muss auch in Kooperation mit anderen öffentlichen Institutionen, wie soziokulturellen Einrichtungen stattfinden um Zugangsbarrieren zu minimieren. • auf europäischer Ebene fehlt es an Fördermitteln, die einen aktiven Austausch zwischen den Akteuren der Musiktheaterszenen fördern. Auf europäischer Ebene fehlt es an Fördermitteln, die einen aktiven Austausch zwischen den Akteuren der Musiktheaterszenen fördern.

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9. Schlussbemerkungen

Ziel dieser Untersuchung war es, zu sehen, in welchem strukturellen Kontext die Fortschreibung des Musiktheaters und durch welche künstlerischen Konzeptionen diese stattfindet. Gleichzeitig diente die Untersuchung der Benennung der kulturpolitischen Instrumentarien, die dieser Entwicklung unterstützend zur Verfügung stehen. Dies konnte erfolgreich beantwortet werden. Die Freie Szene ist das Laboratorium des zeitgenössischen Musiktheaters. Der Theaterapparat weist in seinen Strukturen sowohl in Frankreich als auch Deutschland strukturelle Engpässe auf, die die Einbettung dieser neuen Formen erschweren. Der deutsche Musiktheaterbetrieb kann im Gegensatz zum französischen durch die Ensemble-Struktur und das Repertoiresystem mehr Abwechslung in der Spielplangestaltung riskieren. Dies schlägt sich nieder in einer höheren Anzahl an Uraufführungen und einer Dichte an zeitgenössischen Werken. Hingegen hat das französische System den Vorteil einfacher Gastspiele zu programmieren, wie das Beispiel des Nouveau Théâtre de Montreuil veranschaulicht. Es zeigt sich anhand der Untersuchung die Notwendigkeit der kulturpolitischen Förderungen für das Nischen-Dasein des zeitgenössischen Musiktheaters. Eine explizite Förderung für Gastspiele, im Austausch und im Diskurs würde dem Genre helfen präsenter zu erscheinen und einem breiteren Publikum zugänglich zu werden. Außerdem ist eine Vertiefung der Vermittlungsarbeit empfehlenswert. Es konnte außerdem belegt werden, dass die künstlerische Innovation nicht abhängig von bestimmten Ausgangssituationen ist, sondern aufgrund vielfältiger Bedürfnisse entstehen kann. Auffällt anhand der Ergebnisse dieser Arbeit, dass alle Beispiele aus einer Krise heraus neue künstlerischen Konzeptionen geplant haben. Die einen waren jung und ohne Beschäftigung und haben sich ihre Beschäftigung durch die Grün-

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dung der eigenen Strukturen geschaffen. Die anderen übernahmen Häuser, die sich in einer wirtschaftlichen Extremsituation befanden, wo selbst der Kulturpolitik klar war, dass nur durch unkonventionelle Arbeiten der Fokus der Bevölkerung über wagemutige künstlerische Arbeiten erreicht werden kann. Und das Beispiel der Opera Bastille zeigt am deutlichsten wann und unter welchen Bedingungen die Politik es für nötig erachtet Investitionen in der Kultur mit Prestigedruck zu tätigen. 1923 benennt es Arnolt Bronnen: »Wenn uns nichts einfällt, sagen wir, dass das Theater in einer Krise sei. Das Theater ist immer in einer Krise. Die Krise ist seine Form und sein Inhalt.«1

Dies trifft auf die Motivation zur Entstehung neuer künstlerischer Konzeptionen zu und macht einen Teil der Identität von Kunst aus. Anhand der Beispiele konnte belegt werden, dass künstlerische Innovationen nicht von bestimmten strukturellen Verfügbarkeiten abhängig sind, sondern unter sehr diversen Konditionen entstehen kann. Wiederum zeigte die Untersuchung der Beispiele auch, dass die Akzeptanz der künstlerischen Konzeptionen einer Begleitung durch Gesprächsformate bedarf. Diese leisten mit vorbildlichem Charakter die Oper Halle und das Nouveau Théâtre de Montreuil. Relevant gestaltet sich die Rolle der Förderung für die künstlerische Innovation. Anhand der drei Beispiele der freien Akteure zeigt sich die Abhängigkeit von Förderern. Diese sind zum einen die finanziellen Fördermittelgeber aber auch Institutionen. Auffällt, dass die untersuchten Beispiele alle unter extrem prekären finanziellen Bedingungen stehen. Aus den Erkenntnissen der vorliegenden Untersuchung lässt sich zusammenfassend feststellen, dass ein großer Reformbedarf in der Förderpolitik als auch in strukturellen Gegebenheiten von Musiktheaterbetrieben vorhanden ist. Neue Gestaltungsmöglichkeiten für neue künstlerische Konzeptionen im zeitgenössischen Musiktheater müssen über die Organisationsstruktur von Musiktheaterbetrieben geschaffen werden, indem sowohl die Gastspieltätigkeiten vereinfacht und stärker von 1 | Bronnen, Arnoldt, 1926, zitiert in: Matiasek Hellmuth: »Die teure Form der Kunst«. in: Jochum, Manfred/Schmidt-Reiter, Isolde (Hg.): »Teure Kunstform Oper? Musiktheater im neuen Jahrtausend. Strategien und Konzepte«, StudienVerlag, Innsbruck, 2006, S. 89.

9. Schlussbemerkungen

der Kulturpolitik gefördert werden als auch die Häuser grundlegend als Spielstätte für Akteure der freien Szene zu öffnen, wie es das Beispiel aus Montreuil vormacht. Darüber hinaus muss eine juristische Grundlage geschaffen werden, damit auch alternative Führungsmodelle einer Musiktheaterinstitution reelle Chance auf Durchführbarkeit haben. Außerdem hat die Studie gezeigt, dass Interdisziplinarität im Einsatz und Zusammenspiel der verschiedenen künstlerischen Disziplinen einen erheblichen Mehrwert für die Entstehung neuer Formate hat. Dies stellt allerdings keine Neuartigkeit für das Musiktheater dar. Vielmehr wird es der Grundanalage von Musiktheater als eine multidisziplinäre Kunstform gerecht. Deshalb gilt für die (Kultur-)Politik dem austreibenden Samen des zeitgenössischen Musiktheaters einen fruchtbaren Boden zu geben. Vielfach wurde zu diesem Thema schon geschrieben, diskutiert und gestritten. Nach wie vor fehlt es an der Umsetzung der Reformbedürfnisse. Die vorliegende Betrachtung hat anhand der dargestellten und untersuchten Projekte und ihren künstlerischen Handschriften gezeigt, wie unverzichtbar diese für die Fortführung des Diskurses und den Gehalt von Kunst ist. Die Laboratorien der neuen Macher sind Teil der Daseinsberechtigung von Musiktheater und müssen neben der Pflege des Opernrepertoires genauso gefördert und unterstützt werden. Ohne diese durchaus provozierenden Konzeptionen ist die Relevanz von Kunst in Gefahr. Nur solange auch Kunst Widersprüche, Abneigungen, Diskussionen bis hin zur städtischen Debatte »Welche Oper brauchen wir?« erzeugt, ist sie lebendig und nur eine lebendige darstellende Kunstform kann einen Bezug zu seinem Publikum und seiner Zeit herstellen und unverzichtbar für die Zukunft sein. Musiktheater ist Raum eines kollektiven Gedächtnisses und braucht zeitgenössische Gedanken, um den Fragen dieser Zeit gerecht zu werden: neue Kompositionen, neue Lesarten der Werke, das Befragen von Repertoire. Das Zeitgenössische dient als Spiegel der Gesellschaft, um mit den Zuschauern Inhalte an einem kollektiven Ort gemeinsam zu thematisieren und zu reflektieren. Nur dann hat Musiktheater das Potential der Gesellschaft eine ästhetisch verarbeitende Identifikation zu bieten. Die Institution Oper braucht einen Kurswechsel für die neuen Macher: Laboratorien und Arbeitskollektive, die unverzichtbarer Motor zur Weiterentwicklung dieser Kunstform sind.

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Mit Brechts Worten: »Das Theater darf nicht danach beurteilt werden, ob es die Gewohnheiten seines Publikums befriedigt, sondern danach, ob es sie zu verändern vermag.«

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10. Literatur

Lange Joachim: »Im Experimentiermodus«, 08.05.2017, Quelle: https:// www.nmz.de/online/im-experimentiermodus-oper-halle-kombiniertherzog-blaubarts-burg-von-bartok-mit-fassbinders- (13.08.2017). Lies, Theo M.: »Knatsch zwischen Intendanten und Geschäftsführer«, 07.07.2017, Quelle: www.mdr.de/sachsen-anhalt/halle/finanzloch-tooh -halle-kommentar-100.html (12.08.2017). Lissner, Stéphane: »editorial pour la saison 17/18«, Quelle: https://www. operadeparis.fr/saison-17-18/le-promontoire-du-songe (18.08.2017). Löwer, Jörg: »Scherbenhaufen in Wuppertal«, 20.11.2014, Quelle: www.bueh nengenossenschaft.de/scherbenhaufen-in-wuppertal (13.08.2017). Lwowski, Julia: in: Team »Franziska Kronfoth und Julia Lwowksi machen interaktive Oper«, 05.07.2016, Quelle: http://femtastics.com/shortstories/franziska-kronfoth-und-julia-lwowski-machen-interaktiveoper/ (20.08.2017). Macassar, Gilles/Pascaud, Fabienne: »Entretien »A la tête de l’Opéra de Paris, je me suis vidé sans rien recevoir«, 18.07.2009, Quelle: www.tele rama.fr/musique/a-la-tete-de-l-opera-de-paris-je-me-suis-vide-sansrien-recevoir,45209.php (18.08.2017). Metzger, Oswald: »Schöpferische Zerstörung durch Innovation«, Quelle: www.insm-oekonomenblog.de/11666-schoepferische-zerstoerungdurch-innovation/ (23.07.2017). Meyer, Clemens: »Hallesche Kometen«, 02.07.2017, Quelle: www.zeit. de/2017/23/halle-saale-oper-ostkurve (gesehen am 04.07.2017). Ministere de la Culture et Communication: »missions principales« Quelle: www.culturecommunication.gouv.fr/Thematiques/Musique/Organismes/Creation-Diffusion/L-Opera-national-de-Paris (13.08.2017). Ministère de la Culture: »L’Opéra national de Paris en 2011«, 10.08.2012, Quelle: www.culturecommunication.gouv.fr/Actualites/L-Opera-natio nal-de-Paris-en-2011 (15.08.2017). Müller, Tobi: »Wachstum oder Wandel?«, 12.09.2016, Quelle: www.doppelpass.kulturstiftung-bund.de/debatte/tobi-mueller-wachstum-oderwandel (28.08.2017). Mumort, André: »Eine Kunstform wiederentdecken«, Deutschlandfunk Kultur, 17.09.2016, Quelle: www.deutschlandfunkkultur.de/reset-amopernhaus-wuppertal-eine-kunstform-wiederentdecken.2159.de. html?dram:article_id=366145 (13.08.2017).

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

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10. Literatur

Ott, Carlos: »Opéra Bastille: construire un instrument de musique«, 15.04.2006, Quelle: www.mitterrand.org/Opera-Bastille-construireun.html (15.08.2017). Ouizguen, Bouchra: Interview mit Bouchra Ouizguen, April 2016, Quelle: https://www.bouchraouizguen.com/corbeauxgl (12.08.2017). Pachl, Peter P.: »Uraufführung von Evan Gardners Westernoper »Gunfighter Nation« im Berliner Ballhaus Ost, 12.11.2016, Quelle: https:// www.nmz.de/online/urauffuehrung-von-evan-gardners-westernoper-gunfighter-nation-im-berliner-ballhaus-ost (18.08.2017). Pausch, Katja: »Alles Brennt! Aber was?«, 30.09.2016, Quelle: www.mzweb.de/24684640 ©2017, (10.07.2017). Petraschewsky, Stefan: »Was wird aus den Bühnen Halle?«, 13.06.2017, Quelle: www.mdr.de/kultur/themen/theater-halle-finanzen-streit-100. html (13.08.2017). Platon: »Hippias ou le beau«, S.  170, Quelle: https://fr.wikisource.org/ wiki/Hippias_majeur_(trad._Cousin)(17.07.2017). Regionaldaten Nordrhein-Westfalen, Quelle: https://www.it.nrw.de/statis tik/a/daten/bevoelkerungszahlen_zensus/zensus_rp1_dez15.html (13.08.2017). RITM, Liste der beteiligten Redner, Quelle: www.irma.asso.fr/1eres-Assises-du-theatre-musical (07.07.2017). Roussel, Françoise: »La diversification des publics à l’Opéra natinal de Paris«, Quelle: http://fgimello.free.fr/documents/d_rousse.pdf (15.08. 2017). Sander, Georg: »Opernhaus Wuppertal: Will Kamioka das Stagionesystem einführen?«, 16.07.2013, Quelle: www.njuuz.de/beitrag21483. html (13.08.2017). Schaarwächter, Enno, Geschäftsführer der Bühnen, im Gespräch mit Nicole Bolz: »Allein schaffen wir das nicht«, 11. Juni 2017, Quelle: www. wuppertaler-rundschau.de/kultur/schaarwaechter-allein-schaffenwir-das-nicht-aid-1.6876222 (13.08.2017). Schalz-Laurenze, Ute: »Georg Philipp Telemanns »Orpheus« an der Hamburger opera stabile«, 11.07.2016, neue musikzeitung, Quelle: https:// www.nmz.de/online/georg-philipp-telemanns-orpheus-an-der-ham burger-opera-stabile (18.08.2017). Schumacher, Hajo: »Warum in Berlin so viel schiefläuft – und es keinen stört«, in: Berliner Morgenpost, 13.12.2015, Quelle: https://www.mor

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

genpost.de/berlin/article206818699/Warum-in-Berlin-so-viel-schief laeuft-und-es-keinen-stoert.html (18.08.2017). Schneider, Berthold, in: Rühlemann, Sven: »Die Wuppertaler sollen sich mit ihrem Opern-Ensemble identifizieren…«, Die Stadtzeitung Wuppertal, Ausgabe September 2016, Quelle: www.diestadtzeitung. de/interviews/die-wuppertaler-sollen-sich-mit-ihrem-opern-ensemble-identifizieren (13.08.2017). Schneider, Berthold: »Die Konzeption«, Quelle: www.operaworks.de/ staatsbank.htm (13.08.2017). Schneider, Berthold, in: Oebens, Detlev (Hg.): »Oper Wuppertal«, 24.05.2016, Quelle: http://opernmagazin.de/oper-wuppertal-programm-der-spiel zeit-201617-veroeffentlicht/ (18.08.2017). Schulte im Walde, Christoph: »Vier Regisseure für »Hoffmanns Erzählungen«, 25.09.2016, Quelle: https://www.nmz.de/online/vier-regis seure-fuer-hoffmanns-erzaehlungen-neustart-an-der-oper-wuppertal (13.08.2017). Schulze, Mathias: »Stallgespräch« Clemens Meyer begeistert mit Montagewerk« in: mitteldeutsche zeitung, www.mz-web.de/24833274, 30.09.2016, (10.07.2017). Sénat: »L’OPÉRA NATIONAL DE PARIS«, 15.08.2007, Quelle: https:// www.senat.fr/rap/r06-384/r06-3842.html (15.08.2017). Stadt Halle: »Beschlussvorlage«, 20.11.2008, S. 14, in: Stadtratsbeschluss vom 28.11.2008 Quelle: www.halle.de/de/Kultur/Kulturpolitik/Sanie rung-TOOH/ (09.08.2017). Statistische Ämter des Bundes und der Länder, Quelle: www.statistik-por tal.de/Statistik-Portal/de_jb01_jahrtab1.asp, (17.07.2017). Statistisches Landesamt, Sachsen-Anhalt: »Bevölkerung und Erwerbstätigkeit«, Quelle: www.statistik.sachsen-anhalt.de/download/stat_be richte/6A102_hj_2015_02.pdf, 31.12.2015, (07.08.2017). Statistische Ämter des Bundes und der Länder: »Kulturfinanzbericht 2016«, Quelle: https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Bil dungForschungKultur/Kultur/Kulturfinanzbericht1023002169004. pdf?__blob=publicationFile (17.07.2017). Stiska, Rolf: »Strukturkonzept der TOOH GmbH«, 14.10.2013, Quelle: www. halle.de/de/Kultur/Kulturpolitik/Sanierung-TOOH/ (28-08-2017). Théâtre d’Athénée: »notre carmen«, Quelle: www.athenee-theatre.com/ saison/spectacle/notre_carmen1.htm (18.08.2017).

10. Literatur

Théâtre Dromesko: Beschreibung zu »Le jour du grand jour«, Quelle: www.dromesko.net/fr/spectacles/le-jour-du-grand-jour (12.08.2017). Vereinigung Opera-europa: »Qu’est-ce qu’est l’opéra?«, Quelle: www.ope ra-europa.org/fr/ressources-opera/qu-est-ce-que-l-opera (17.08.2017). Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt, Artikel 36, 22.07.1992, Quelle: www.landesrecht.sachsen-anhalt.de/jportal/; jsessionid=6E02F3B630 38E3809EE2411C673FB3A6.jp27?quelle=jlink&query=Verf+ST&psml =bssahprod.psml&max=true&aiz=true#jlr-VerfSTpArt36 (29.07.2017). Voges, Kay: in: Oberender, Thomas: »Tableau des Übergangs«, 18.05.2017, Quelle. https://blog.berlinerfestspiele.de/tableaus-des-uebergangs/ (28.08.2017). Warszawski, Jean-Marc, »L’Opéra«, Quelle: www.encyclopedie.fr (12.07. 2018). Weber, Susanne: »Innovation und »Schöpferische Zerstörung (J.A. Schumpeter), Fernuniversität Hagen, 2000/2011, S. 5. Quelle: www.fernunihagen.de/PRPH/webinn.pdf (01.08.2017). Zeitgenössisches Musiktheater Berlin: »Über den ZMB«, Quelle: http:// musiktheater-berlin.de/zmb-e-v/ (22.08.2017). Zeitgenössisches Musiktheater Berlin: »Hauen und Stechen Musiktheaterkollektiv«, Quelle: http://musiktheater-berlin.de/hauen-und-stechen/ (18.08.2017). Zeitgenössisches Musiktheater Berlin: »Opera Lab Berlin«, Quelle: http:// musiktheater-berlin.de/operalab/ (18.08.2017).

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11. Personenverzeichnis

Theodor W. Adorno, dt. Philosoph und Musiktheoretiker (1903-1963) Giorgio Agamben, ital. Philosoph (*1942) Georges Aperghis, gr. Komponist u. Gründer von ATEM(*1945) Daniel Barenboim, arg.-isr. Pianist u. Dirigent (*1942) Roland Barthes, frz. Philosoph und Schriftsteller (1915-1980) Béla Bartók, ung. Komponist (1881-1945) Carola Bauckholt, dt. Komponistin (*1959) Pina Bausch, dt. Tänzerin u. Choreographin (1940-2009) Philippe Beaussant, frz. Romancier u. Musikwissenschaftler (1930-2016) Franck Bedrossian, frz. Komponist (*1971) Maurice Béjart, frz. Choreograph (1927-2007) Samuel Beckett, ir. Schriftsteller (1906-1989) Alban Berg, österr. Komponist (1885-1935) Thomas Bernhard, österr. Schriftsteller (1931-1989) Christophe Bertrand, frz. Komponist (1981-2010) Joseph Beuys, dt. Aktionskünstler u. Kunsttheoretiker (1921-1986) Philippe Boesman, belg. Komponist (*1936) Luc Bondy, schw. Opernregisseur u. Intendant (1948-2015) Pierre Boulez, frz. Komponist u. Dirigent (1925-2016) Bertolt Brecht, dt. Dramatiker (1898-1956) Peter Brook, brit. Theaterregisseur u. Intendant (*1925) Benjamin Britten, brit. Komponist (1913-1976) Michel Butor, frz. Librettist (1926-2016) John Cage, us-amer. Komponist (1912-1992) Albert Camus, frz. Schriftsteller u. Philosoph (1913-1960) Fabrizio Cassol, belg. Komponist (*1964) Patrice Chéreau, frz. Regisseur (1944-2013) Raphaël Condo, frz. Komponist (*1975) Bernard Dort, frz. Theaterwissenschaftler (1929-1994)

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Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

Friedrich Dürrenmatt, schw. Schriftsteller (1921-1990) Walter Felsenstein, österreichischer Regisseur u. Intendant (1901-1975) Robert Filliou, frz. Künstler (1926-1987) Michel Foucault: frz. Philosoph u. Soziologe (1926-1984) Max Frisch, schw. Schriftsteller (1911-1991) Hugues Gall, frz. Intendant, leitete die Opéra national de Paris von 19942004 (*1940) Detlev Glanert, dt. Opernkomponist (*1960) Heiner Goebbels, dt. Regisseur und Komponist (*1952) Antoine Goléa, frz. Musikwissenschaftler (1906-1980) Ludwig Gosewitz, dt. Künstler (1936-2007) Charles Gounod, frz. Komponist (1818-1893) Hans Gregor, dt. Theaterintendant u.a. an der Komischen Oper Berlin (1866-1945) Walter Gropius, dt. Architekt u. Gründer d. Bauhaus-Bewegung, (18831969) Klaus M. Grüber, dt. Tegisseur (1941-2009) Martin Grütter, dt. Komponist (*1983) Peter Handke, österr. Schriftsteller (*1942) Stefan Johannes Hanke, dt. Komponist (*1984) Eugène Ionesco, dt.-rum. Schriftsteller (1909-1994) Leoš Janáček, tsch. Komponist (1854-1928) Mauricio Kagel, arg.-dt. Komponist (1931-2008) Beryl Korot, us-amer. Videokünstlerin (*1945) Dmitri Kourliandski, russ. Komponist (*1976) Ulrich Kreppein, dt. Komponist (*1979) Johannes Kreidler, dt. Komponist u. Aktionskünstler (*1980) Jack Lang, frz. Politiker, Kulturminister 1981-1986 u. 1988-1993 (*1939) George Maciunas, us-amer. Künstler (1931-1978) Gustav Mahler, österr. Komponist (1860-1911) Michael Maierhof, dt. Komponist (*1956) Jules Massenet, frz. Komponist (1842-1912) Giacomo Meyerbeer, frz. Komponist dt.-jüdischer Herkunft (1791-1864) Claudio Monteverdi, ital. Komponist (1567-1643) Gerard Mortier, belg. Opernintendant (1943-2014) Leah Muir, amer. Komponistin (*1978) Peter Mussbach, dt. Regisseur (*1949) Heiner Müller, dt. Dramatiker (1929-1995)

11. Personenverzeichnis

Napoleon III, Neffe v. Napoleon Bonaparte u. später Kaiser v. Frankreich (1808-1873) Sarah Nemtsow, dt. Komponistin (*1980) Friedrich Nietzsche, dt. Philosoph (1844-1900) Georg Nussbaumer, österr. Komponist (*1964) Richard O’Brien, brit. Komponist (*1942) Helmut Oehring, dt. Komponist (*1961) Jacques Offenbach, frz. Komponist (1819-1880) Robert Page, brit. Konzeptkünstler (1932-2015) Henri Pousseur, belg. Komponist (1929-2009) Sergej Prokofjew, russ. Komponist (1891-1953) Giacomo Puccini, ital. Komponist (1858-1924) Steve Reich, us-amer. Komponist (*1936) Max Reinhardt, österr. Theaterregisseur u. Intendant (1873-1943) Trond Reinholdtsen, norw. Komponist (*1972) Kaija Saariaho, finn. Komponistin (*1952) Jean-Paul Sartre, frz. Dramatiker (1905-1980) Christoph Schlingensief dt. Filmregisseur, Aktionskünstler (1960-2010) Arnold Schönberg, dt. Komponist u. Musiktheoretiker (1874-1951) Alexander Schubert, dt. Komponist (*1979) Joseph Alois Schumpeter, österr. Wirtschaftswissenschaftler (1883-1950) Bernard Sobel, frz. Theaterregisseur (*1935) Konstantin S. Stanislawski, russischer Theaterreformer u. Regisseur (1863-1938) Peter Stein, dt. Theater- und Opernregisseur, Intendant (*1937) Stendhal, frz. Schriftsteller und Politiker (1783-1842) Richard Strauss, dt. Komponist (1864-1949) Igor Strawinsky, russ. Komponist (1882-1971) Karlheinz Stockhausen, dt. Komponist (1928-2007) Giuseppe Verdi, ital. Komponist (1813-1901) Jean Vilar, frz. Regisseur, Intendant u. Gründer v. Festival d’Avignon (1912-1971) Jean-Pierre Vincent, frz. Regisseur und Intendant (*1942) Kay Voges, dt. Regisseur und Intendant (*1972) Richard Wagner, dt. Komponist (1813-1883) Caspar Johannes Walter, dt. Komponist (*1964) Kurt Weill, amer. Komponist (1900-1950)

273

274

Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

Herbert Wernicke, dt. Opernregisseur, Bühnen- u. Kostümbildner (19462002) Klaus Zehelein, dt. Dramaturg, Theaterwissenschaftler u. Opernintendant (*1940) Bernd Alois Zimmermann, dt. Komponist (1918-1970)

12. Abkürzungsverzeichnis Abb.

Abbildung

ASSITEJ

Internationale Vereinigung des Theaters fürKinder und Jugendliche

ATEM

Atelier de Théâtre et Musique

bspw.

beispielsweise

ca.

Circa

CDI

Contrat à Durée Indéterminée

CDN

Centre Dramatique National

CH

Schweiz

d.h.

Das heißt

DDR

Deutsche Demokratische Republik

dt.

Deutsch

Euro

Euro

EPIC

Établissement public à caractère industriel et commercial

frz.

Französisch

ggf.

gegebenenfalls

GbR

Gesellschaft bürgerlichen Rechts

GmbH

Gesellschaft mit beschränkter Haftung

Hg.

Herausgeber

i.d.R.

In der Regel

ISI

Institut für System- und Innovationsforschung

IMV

Intendantenmustervertrag

276

Europera. Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland und Frankreich

inkl.

Inklusive

Mio.

Millionen

Mrd.

Milliarden

NTM

Nouveau Théâtre de Montreuil

NV Bühne

Normalvertrag Bühne

o.ä.

Oder ähnlich

ROF

La Réunion des Opéras de France

RITM

Rencontres Internationales de Théâtres Musical

S.

Seite

u.a.

Unter anderem/anderen

u.v.m.

Und viele mehr

vgl.

Vergleiche

z.B.

Zum Beispiel

»Und mir scheint es nichts Schöneres zu geben, als sich in dieser völlig unmöglichen, grauenhaften und herrlichen Welt der zusammengesetzten Künste zu betätigen, den Phänomenen den eigenen Willen aufzuzwingen und trotz des Widerstandes der Materie – menschlich und praktisch – den eigenen Traum zu verwirklichen.«1

1 | Glanert (2012) S. 240.

Danksagung

Den Angehörigen des Forschungsprojektes: Prof. Dr. Wolfgang Schneider, Prof. Dr. Yannick Butel. Ausserdem Prof. Dr. Christophe Bident und Prof. Dr. Thomas Schmidt. Dem Team des PhD-Kollegs Julia Krettek, Theresa Bärwolff und der sehr geschätzten Weggefährtin Meike Lettau.

Den Inter viewpartnern: Dem Leitungsteam der Oper Halle, Florian Lutz, Veit Güssow, Michael von zur Mühlen. Dem Direktor des Nouveau Théâtre de Montreuil, Mathieu Bauer. Franziska Kronfoth und Julia Lwowski von Hauen und Stechen. Evan Gardner und Michael Höppner vom Opera Lab Berlin. Aliénor Dauchez von La Cage. Sowie als weiteren Interviewpartnern: Marie-Eve Signeyrole, Simon Halsey, Katja Czelnik.

Den beratenden Gesprächen, Lektorat und Kulinaristik: Klaus und Anita Lübbe, Katharina Lübbe, Josephine Reinisch, Anja Wernicke, Luise Langenhan, Sophie Behnert, Tilman Knabe, Annika Haller, Marjolaine Bencharel, Stefan Fricke.

Theater- und Tanzwissenschaft Wolfgang Schneider, Anna Eitzeroth (Hg.)

Partizipation als Programm Wege ins Theater für Kinder und Jugendliche 2017, 270 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3940-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3940-1

Andreas Englhart

Das Theater des Anderen Theorie und Mediengeschichte einer existenziellen Gestalt von 1800 bis heute 2017, 502 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-2400-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2400-1

Sabine Karoß, Stephanie Schroedter (Hg.)

Klänge in Bewegung Spurensuchen in Choreografie und Performance. Jahrbuch TanzForschung 2017 2017, 234 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3991-9 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-3991-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Theater- und Tanzwissenschaft Friedemann Kreuder, Ellen Koban, Hanna Voss (Hg.)

Re/produktionsmaschine Kunst Kategorisierungen des Körpers in den Darstellenden Künsten 2017, 408 S., kart., Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3684-0 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3684-4

Katharina Rost

Sounds that matter – Dynamiken des Hörens in Theater und Performance 2017, 412 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3250-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3250-1

Susanne Quinten, Stephanie Schroedter (Hg.)

Tanzpraxis in der Forschung – Tanz als Forschungspraxis Choreographie, Improvisation, Exploration. Jahrbuch TanzForschung 2016 2016, 248 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3602-4 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3602-8

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