Ethik und Staat [1 ed.] 9783428460809, 9783428060801


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Ethik und Staat [1 ed.]
 9783428460809, 9783428060801

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HERBERT SCHAMBECK · ETHIK UND STAAT

Schriften zum ö f f e n t l i c h e n Band 500

Recht

E t h i k u n d Staat

Von o. Prof. Dr. Herbert Schambeck Stellv. Vorsitzender des österreichischen Bundesrates

DUNCKER & HUMBLOT/BERLIN

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Schambeck, Herbert: Ethik und Staat / von Herbert Schambeck. — Berlin: Duncker und Humblot, 1986. (Schriften zum öffentlichen Recht; Bd. 500) I S B N 3-428-06080-6 NE: G T

Alle Hechte vorbehalten © 1986 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: M. Themessl, Berlin 61; Druck: Alb. Sayffaerth - E. L. Κ roh η, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-06080-6

Vorwort

Die vorliegende Publikation geht auf einen von mir in der „Accademia Patavina di scienze, lettere ed arti" zu Beginn deren 385. akademischen Jahres in Padua am 20. November 1983 gehaltenen Inaugural-Vortrag über „Ethik und Staat — ein Beitrag zur Geschichte der politischen Tugenden und die Situation des Staates heute" zurück. Diese Ausführungen sind 1984 in einer meinem Akademiekollegen Herrn o. Univ.-Prof. Dr. DDr. h. c. Franco Sartori von der Universität Padua zu dankenden italienischen Übersetzung in den Veröffentlichungen der Akademie in Padua erschienen.* Einer ehrenden Einladung des inzwischen verstorbenen, uns auch in Österreich unvergeßlichen Inhabers des Verlages Duncker & Humblot, Herrn Ministerialrat a. D. Senator h. c. Professor Dr. Dr. h. c. Johannes Broermann, folgend, habe ich diese meine Paduaner Ausführungen erweitert und seinem Wunsch entsprechend gerne als Band 500 in den »Schriften zum öffentlichen Recht4 veröffentlicht. Der Geschäftsleitung des Verlages, Herrn Rechtsanwalt Norbert Simon und Herrn Ernst Thamm, danke ich für die Übernahme dieser Publikation und Herrn Dieter H. Kuchta für die Herstellung des Buches. In der redaktionellen Arbeit haben mich mein Freund und Linzer Kollege o. Univ.-Prof. Dr. Heribert F. Köck, meine Frau Elisabeth sowie Frau Univ.-Ass. Dr. Anneliese Lindorfer vom Institut für Staatsrecht und politische Wissenschaften der Universität Linz, wo auch Frau Gabriele Langer und Frau Elisabeth Kamptner das Manu-

* Herbert Schambeck , Etica e stato — un contributo alla storia delle virtù politiche e l'odierna situazione dello stato, in: Atti e Memorie dell' Accademia Patavina di scienze, lettere ed arti già Accademia dei ricovrati anno academico 1983 - 84 - C C C L X X X V dalla fondazione volume X C V I parte I, Padova 1984, S. 25 ff.

6

Vorwort

skript geschrieben haben, unterstützt. Ihnen allen sei für ihre wertvolle Hilfe gedankt. Das Thema „Ethik und Staat" begleitet von altersher das gesamte Rechtsdenken und konnte daher auch in dieser Studie nur skizzenweise behandelt werden, wobei in vielen Zitaten bewußt mannigfache Bezüge hergestellt werden sollten. Die Einsicht in die Beziehung von Ethik und Staat ist schicksalshaft für eine menschliche Ordnung der Politik; sie war, als politisch denkendem und handelndem Menschen, ein besonderes Anliegen von Johannes Broermann, dessen gesamtes Wirken auch als Verleger eine ethische Erziehungsfunktion erfüllte. Seinem Gedenken sei, in Hochachtung vor seinem Wirken und in Dankbarkeit für viele Jahre verständnisvoller Zusammenarbeit, diese Schrift gewidmet. Linz, im September 1986

Herbert Schambeck

Inhall

Einleitung

13

Wesen und Funktion des Staates — Der Anspruch der Ethik — Reine Rechtslehre und Ethik — Zum Verhältnis von Ethik und Staat — Die beiden Aspekte der Tugend: individuelle und soziale Seite der Tugend — Ethik und Menschenbild — Die politischen Tugenden I . Zur Geschichte der politischen Tugenden Anthropomorphisierter Götterglaube — Vom rechten Maß in der Politik — Die Lehre vom Maßhalten bei Solon sowie bei Aischylos und Sophokles — Grundsätze des Zusammenlebens bei Pythagoras — Homo-mensura-Satz des Protagoras — Das Recht des Stärkeren — Die politische Tugend als solche — Bezogenheit von Ethos, Mensch und Recht bei Sokrates — Bürgerethos und politische Entwicklung — Piatons philosophische Anthropologie — Gesellschaft ohne Tugend — Idee der Rechtsstaatlichkeit — Beachtung objektiver Wesensgesetze des Staates — Das Gemeinwohl — Die Staatsformen bei Aristoteles — Tugend und Staatsform — Mensch und Staat — Zur politischen Tugend bei Cicero — Die Liebe als Grundtugend bei Augustinus — Die augustinische Zweireichelehre — Die Gemeinwohlgerechtigkeit bei Thomas von Aquin — Herrscheraufgaben — Dantes Tugendlehre — Der gewandelte Tugendbegriff bei Machiavelli — Trennung von Moral und Politik — Staatsraison — Tierzeichen — Der radikale Rechtspositivismus bei Hobbes— Recht auf Selbsterhaltung — Die Nützlichkeit als staatliche Grundtugend bei Spinoza — Der staatsfreie Raum bei Locke — Die natürliche Tugendlehre bei Pufendorf — Dienst an der Gemeinschaft — Die formale Sittlichkeit Kants — Kategorischer Imperativ — Ungesellige Geselligkeit — Die bürgerliche Tugendlehre in Nordamerika — Franklin und Jefferson — Natürliche Aristokratie — Die naturrechtlichen Ideen Thomas Paines — Aufklärung und moderner Staat — Federalist Papers — Die politischen Tugenden bei Montesquieu — Das utopische Menschenbild und die fiktive Sozialauffassung bei Rousseau — Die politische Tugend bei Hegel — Die Ethik bei Marx, Engels und Lenin — Der Einfluß der öko-

21

Inhalt

8

nomie — Gesellschaftliche Notwendigkeit und individuelle Freiheit — Recht und Marxismus — Ethik und Neue Linke — Verbalismus — Abschied von der Tugend? I I . Zur Trennung von Ethik und Staat ,

50

Der Verlust der Tugenden im öffentlichen Leben — Der Einfluß der französischen Revolution — Volonté générale und kompromißlose Diktatur — Der Rechtsstaat als bloßer Rechtswegestaat — Der Einfluß des Rechtspositivismus — Normativrechtliche Grundlage für jeden Staatszweck — Trennung von Rechtssatzform und -inhalt — Die Ohnmacht des Rechtswegestaates — Die Formalisierung des Rechtsstaates im Dienste jeden politischen Systems — Der liberal-demokratische Rechtsstaat — Menschenbild und Rechtsstaat — Rechtsgesinnung aus Rechtskenntnis und Rechtsverständnis — Staatsordnung und Gewissensentscheidung — Appellfunktion des Rechts — Rechtsethik — Die Aufgabe des Gesetzgebers — Recht und Moral — Das Spannungsverhältnis von Ethik und Staat I I I . Über Geltung und Autorität A. Die Geltung

64 64

Die verschiedenen Bedeutungen des Begriffs Geltung — Geltung, positives Recht und Sittlichkeit — Geltung als Existenzform des positiven Rechts — Geltung und Verbindlichkeit — Das Verhältnis von positiv-rechtlicher und sittlicher Ordnung — Der Aussdiließlichkeitsanspruch des positiven Rechts — Die Rechtsidee — Der Sinn der Geltung — Die Erscheinungsformen der Rechtsidee — Die Gerechtigkeit — Formale und materielle Gerechtigkeit — Die Rangordnung der Werte — Die allgemeinen Rechtsgrundsätze — Die Rechtssicherheit und ihre verschiedenen Bedeutungen — Die Erscheinungsformen der Rechtsidee als Ergänzungswerte — Geltung und Rechtsidee — Die Wahlfreiheit des Gesetzgebers — Der Grund der Geltung — Der Grund für Durchsetzbarkeit bzw. Wirksamkeit der positiven Rechtsordnung — Voluntaristische Geltung — Geltung und Grundnorm — Machtoder Legitimationsdenken — Die Fundamentalnorm einer Rechtsordnung B. Die Autorität Die Autorität als Geltungsgrund des positiven Rechts — Autorität und Anerkennung — Autoritative Geltung — Motivationen des Gehorsams — Pflichterkenntnis als Ursache für ein Verhalten —

83

Inhalt Geltung, Autorität und Wert — Die Verpflichtung auch als innere Zustimmung — Geltung und Wirksamkeit — Die Wirksamkeit als Bedingung der Geltung — Wirksamkeit und Moral — Die verschiedenen Gründe des Ordnungsanspruches und der Sanktionsfolgen von Recht und Moral — Die ordnungsstiftende und motivierende Kraft der Ethik — Rechtsbewußtsein und Autorität als komplementäre Größen — Die Freiheit des Gesetzgebers bei der Bestimmung des sittlichen Gehalts seiner Ordnung — Geltung und Verbindlichkeit als Ausdruck des Bestandes einer Norm — Verbindlichkeit und Sittlichkeit — Die Notwendigkeit der Erkenntnis der Sittenordnung — Die objektive Erfahrung des Sittlichen — Das gerechte Gesetz — Das Fehlen der Erfahrung der sittlichen Verantwortung — Widerspruch von Geltung und Verbindlichkeit — Die Gründe für die Sittenwidrigkeit von Rechtsordnungen — Der Schein des sittlichen Sollens — Der Grad der Positivität des Rechtes — Widerstand gegen die Staatsgewalt I V . Über Widerstand und positives Redit Α. Die historische Entwicklung des Widerstandsgedankens Verschiedene Formen des Widerstandes — Die historische Entwicklung des Widerstandsgedankens — Christentum und Widerstandsrecht — Germanisch-mittelalterliches Widerstandsrecht — Lehensrechtliches Widerstandsrecht — Ständisches Widerstandsrecht — Naturrechtliches Widerstandsrecht — Das Verschwinden des Widerstandsrechts als Einrichtung des positiven Rechts — Der Durchbruch des Widerstandsrechts in das positive Recht — Widerstandsrecht und Volkssouveränität — Der Einfluß der Lehre Rousseaus — Die zwei Möglichkeiten des Widerstandes bei Rousseau — Der Entzug der naturrechtlichen Grundlage des Widerstandes — Widerstandsrecht und konstitutioneller Staat — Die vermehrte Bedeutung des Rechtes auf Schutz durch die Verfassung — Das subjektive öffentliche Recht an Stelle des Widerstandsrechtes — Widerstandsrecht und Demokratisierung B. Positiviertes

Widerstandsrecht

Das Widerstandsrecht in den Verfassungen deutscher Länder — Das Widerstandsrecht im Bonner Grundgesetz — Widerstandsrecht im Dienst des Schutzes besonderer Verfassungsgrundsätze — Widerstandsrecht als ultima ratio — Die Voraussetzungen für die Gebrauchnahme des Widerstandsrechtes — Widerstand als Verfassungsschutz — Widerstand als individuelles Grundrecht — Vergleich der Widerstandsrechte von Berlin, Bremen und Hessen mit dem Bonner Grundgesetz

Inhalt

10 C. Wert und Anwendbarkeit

eines positivierten

Widerstandsrechtes

112

Die Stellung des Widerstandsrechtes im System des Grundgesetzes — Der Rechtsträger des Widerstandsrechtes — Der konservative Charakter des positivierten Widerstandes — Die Praktikabilität des Widerstandsrechtes — Rechtsunsicherheit durch Positivierung des Widerstandes — Bedenken gegen die Verankerung des Widerstandsrechtes — Vorteile eines Verzichtes auf Positivierung des Widerstandsrechtes — Widerstand als freiwillige Staatsnothilfe — Das Problem der Verankerung der Voraussetzungen für die Gebrauchnahme des Widerstandsrechtes — Legitimer Ungehorsam — Naturrechtliches Widerstandsrecht ohne Positivierung — Der Versuch einer positivierten Mitverantwortung des Einzelmenschen im Staat V. Ethische Bezüge im Staatsleben Der Mehrzweckestaat — Die Verideologisierung der Politik — Die Abwertung der staatlichen Institutionen — Politik- und ideologiegeprägter Verbalismus — Grundlagen in Gefahr — Gefahr für Grundstrukturen und Grundwerte — Die Allzuständigkeit der demokratischen Mehrheit — Die Relativierung des Rechtsstaates — Inhumanität unter dem Deckmantel der Legalität — Die Demoralisierung der Gesellschaft — Der Mißbrauch der Freiheit der Demokratie zur Intoleranz — Das Verfassungsrecht und seine moralische Verantwortung — Motivation durch Wertaussagen — Der Einsatz der Motivationskraft des Staates zur Erreichung einer Rechtsgesinnung beim Einzelnen — Ordnungsanspruch und Gewissensbezug beim Einzelnen — Gesetzesflut und Rechtsunsicherheit — Zur moralischen Verantwortung der Gesetzgebung — Staat ohne moralische Autorität — Der notwendige Bezug zur Ethik — Die präpositive Beziehung der Rechtsordnung — Naturrecht und positives Recht — Positivierung als Denaturierung — Die Funktionen des Gesetzes in der pluralistischen Gesellschaft — Integrationsfunktion — Repräsentationsfunktion — Antwortfunktion — Sozialhilfefunktion — Schutzfunktion — Neue Aufgaben der Verwaltung — Privatwirtschaftsverwaltung — Die Wirtschaftstätigkeit des Staates — Problematik des Rechtsstaates — Die Wirklichkeit des Staates neben dem Verfassungssystem — Das Maßnahmengesetz — Unbestimmter Gesetzesbegriff und Generalklausel — Das Selbstbindungsgesetz — Die Denaturierung der Gesetzesfunktion — Gesetz als Instrument der Politik — Die Natur der Sache als das Gesetz stiftender und prägender Gedanke — Die Aufgabe des Staatsmannes — Parlamentarismus — Die Verantwortung des Politikers — Politische Führung in Theorie und Praxis — Das vordenkende Führen durch

120

Inhalt den Politiker — Die Wahrheitspflicht der staatsleitenden Organe — Grundsätze einer ethikorientierten Politik — Ethik in Rechtsetzung und Vollziehung — Verhältnis von Bürger und Vollzugsorgan — Weisung und Verpolitisierung — Parteienstaat und Ethik — Ethik und Rechtsprechung — Die besondere Stellung des Richters — Der Persönlichkeitsbezug in der Ausübung von Staatsfunktionen — Die Funktion der öffentlichen Meinung — Die öffentliche Meinung und ihre Erforschung — Meinungsbefragung — öffentliche Meinung und Massenmedien — Kontrolltätigkeit der Massenmedien — Die öffentliche Meinung im System der Gewaltenteilung — Die klassische Gewaltenteilung im parlamentarischen Regierungssystem — Die öffentliche Meinungsbildung als vierte Gewalt — Ethik und öffentliche Meinung — Medienjustiz — Die Manipulation des Wortes zu Feindbegriffen — Ethik und Staatsbürger — Mündigkeit und Freiheit — Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaates — Der wechselseitige Zusammenhang zwischen Ordnungsanspruch des Staates und Gesinnung des Einzelnen — Der Staat als Ordnungsgemeinschaft und die praktizierte Rechtserziehung — Erziehung zum Staat — Die Ethik im Staat als Individual- und Sozialaufgabe — Normierung und Motivierung — Ethik und Motivationskraft — Rückbesinnung auf politische Tugenden und ihre Geschichte — Friede als Werk der Gerechtigkeit Schlußbetrachtung Politik nach menschlichem Maß — Die Bejahung von moralischer Verantwortung und Tugend — Ethik und öffentliche Ordnung — Erkennbarkeit und Anerkennung ethischer Postulate in der Rechtsordnung — Ethisch neutrale Rechtsbereiche — Notwendigkeit der politischen Kultur — Sittliches Rechtsgewissen — Das Maß des Zumutbaren — Tugenden im Staat — Poetische Merkregeln für eine kluge Politik — Erfordernisse der Rechtskultur — Das Maß an Moral einer Rechtsordnung — Neue Autoritätsbegründung — Das Vermögen, die Zustimmung anderer zu gewinnen — Ethik als Beurteilungsmaxime des positiven Rechts — Die Ordnungsaufgabe des Einzelnen im Staat

178

Einleitung „Die Republik wird aufhören zu bestehen, wenn sie aufhört, sich der Tugenden ihrer Gründer zu erinnern, sie zu verehren und nachzuahmen".1 Diese Worte stammen aus dem Nachruf auf John Adams und Thomas Jefferson, Gründungsväter der Vereinigten Staaten von Amerika. Sie gelten unabhängig vom jeweiligen Staat und seiner Staatsform für alle Staaten; sie drücken, da Tugenden in einer ethischen Grundhaltung begründet sind, den Bezug von Staat und Ethik aus. Wer von Ethik und Staat spricht, nimmt scheinbar eine Konfrontation vor: ein moralischer Anspruch wird einem solchen der Herrschaftsausübung gegenübergestellt. Wesen und Funktion des Staates Der Staat ist ja der dem Einzelnen und der Gesellschaft übergeordnete Herrschaftsverband, der Höchstfunktion erfüllt. Diese Höchstfunktion des Staates äußert sich in der Begründung und Sicherung der Ordnung in dem Gebiet und gegenüber dem Volk, die der Staat beherrscht. Der Staat ist demnach nicht Selbstzweck; seine Ge^· wait hat eine Aufgabe zu erfüllen, deren Rechtfertigung in einem demokratischen Staat vom Volk ausgeht, in einem autoritären Staat hingegen von einem Einzelnen oder einer Gruppe bestimmt wird, ohne daß die einzelnen betroffenen Menschen im Staat eine Mitbestimmungsmöglichkeit haben. Diese beiden politischen Ordnungsformen von demokratischer oder autoritärer Herrschaft können sich in Staatsformen der Republik oder der Monarchie ereignen und den Staat in seinem Herrschaftsanspruch mit ethischen Grundsätzen konfrontieren oder nicht; beide 1

M. D. Peterson, The Jefferson Image in the American Mind, New York 1Θ62, S. 7.

14

Einleitung

— Ethik und Staat — sind in ihrer Erkenntnis und Ausführung insofern entwicklungsbedingt, als sie vor allem nach Zeit unti Ort verschieden erfaßt werden. Aus dieser Sicht macht das Verhältnis von Ethik und Staat einen Teil nicht nur der politischen Geschichte, sondern auch der Geistesgeschichte aus.

Der Anspruch der Ethik Die Ethik tritt in moralischen Ansprüchen auf, die in der Individualmoral, welche auf den einzelnen Menschen mehr in seiner Privatsphäre bezogen ist, und in der Sozialmoral, die den einzelnen Menschen mehr auf das öffentliche Leben hin orientiert, ausgerichtet ist; sie betrifft den Gewissensbereich des Menschen, der Normsetzer oder Normadressat ist. Das Verhältnis von Staat und Norm wird vom Recht bestimmt; daher ist Hans Kelsen, der Schöpfer der Reinen Rechtslehre, von einer Identität von Staat und Recht ausgegangen,2 der Staat soll in der Erfüllung seiner Rechtsfunktion erfaßt werden. Hans Kelsen merkte bei all seinem Bemühen um die Reinheit seiner Lehre, nämlich den Staat nur in seiner Rechtsfunktion, also in der Beziehung seiner Rechtsnormen zu erklären, daß es daneben auch die Frage nach der Ethik gibt. So bemerkte er in seiner Abhandlung über „Staatsform und Weltanschauung" 1933: „Daß Staats- oder Gesellschaftstheorie und Ethik in den innigsten Beziehungen stehen, ist nicht zu verwundern. Denn im Grunde genommen sind beide voneinander gar nicht zu trennen, jene nur ein Teilgebiet dieser . . . Der Kern alles ethisch-politischen Räsonnements ist das Verhältnis von Herrschaftssubjekt und Herrschaftsobjekt". 3

Reine Rechtslehre und Ethik 1960 stellte Hans Kelsen zu „Recht un'd Moral" fest: „Neben dem Recht gibt es auch andere, das gegenseitige Verhalten von Menschen 2

Siehe Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960, bes. S. 283 ff. Hans Kelsen, Staatsform und Weltanschauung, Tübingen 1933, Neudruck in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Schriften von Hans Kelsen / Adolf Merkl / Alfred Verdroß, hgb. von Hans R. Klecatsky / René Marcic / Herbert Schambeck, 2. Band, Wien - Salzburg 1968, S. 1924. 3

Einleitung regelnde, d. h. soziale Normen, und die Rechtswissenschaft ist daher nicht die einzige Disziplin, die auf Erkenntnis und Beschreibung von sozialen Normen gerichtet ist. Diese anderen sozialen Normen können unter dem Namen der Moral zusammengefaßt und die auf ihre Erkenntnis und Beschreibung gerichtete Disziplin als Ethik bezeichnet werden. Insofern als Gerechtigkeit eine Forderung der Moral ist, ist in dem Verhältnis von Moral und Recht das Verhältnis von Gerechtigkeit und Recht Inbegriffen. Die methodische Gleichheit der Rechtswissenschaft wird nun nicht nur dadurch gefährdet, daß die Schranke, die sie von der Naturwissenschaft trennt, nicht beachtet wird, sondern — vielmehr noch — dadurch, daß sie nicht oder nicht deutlich genug von der Ethik geschieden, daß zwischen Recht und Moral nicht klar unterschieden wird . . . Auch die häufig vertretene Anschauung, daß das Recht ein äußeres, die Moral ein inneres Verhalten vorschreibe, trifft nicht zu. Die Normen beider Ordnungen bestimmen beide Arten des Verhaltens." 4 In seinem 1979 posthum erschienenen Werk: „Allgemeine Theorie der Normen" hat es Kelsen noch mehr verdeutlicht: „Was Recht und Moral gemeinsam haben, ist, daß sie beide normative Ordnungen, das heißt Systeme von Normen sind, die menschliches Verhalten regeln." 5 Zum 80. Geburtstag Hans Kelsens hatte sein einstiger Schüler, mein späterer Lehrer Adolf Merkl, das Thema „Reine Rechtslehre und Moralordnung" in seinem Festschriftsbeitrag wiederaufgenommen und anknüpfend festgestellt: „Recht und Moral haben möglicherweise und im größten Umfang dieselben Adressaten: sie fordern aber nicht dasselbe, sondern im größten Umfang verschiedenes Verhalten derselben Person. Schematisch ausgedrückt verhalten sich Recht und Moral wie zwei einander schneidende Kreise: so ergeben sich Bereiche identischer und unterschiedlicher Forderungen der beiden normsetzenden Autoritäten an die Adresse desselben Menschen, von denen freilich nur jeweils eine als geltend anerkannt werden kann. 4

Hans Kelsen, Recht und Moral, Festschrift für Prof. Luiz Legaz y Lacambra, 1960, S. 153 ff., Neudruck in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, 1. Band S. 797 ff.; beachte auch derselbe, Reine Rechtslehre, a.a.O., S. 60 ff. 5 Hans Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, im Auftrag des HansKelsen-Instituts aus dem Nachlaß, hgb. von Kurt Ringhofer und Robert Walter, Wien 1979, S. 40.

16

Einleitung

Wie der Mensch trägt auch die menschliche Gemeinschaft Staat die beiden Möglichkeiten in sich, sittlich, oder was dasselbe ist, moralisch und amoralisch zu wollen und zu handeln."6 Zum Verhältnis

von Ethik und Staat

Der Bereich von Ethik und Staat reicht in dieser Sicht von der Identität bis zur Disparität, schließt aber auf jeden Fall die jeweils zu bewältigende Polarität mit ein.7 I m Idealfall erfüllt der Staat einen moralischen Anspruch; in diesem Fall sind Rechts- und Gewissensanspruch itient, im Extremfall widersprechen sie sich und führen zum Konflikt, der sich im Widerstand des Einzelnen gegen den Staat äußert.* Ethik von Seiten des Staates vorauszusetzen und anzuerkennen, ist aber ebenso eine Frage der Politik und der Klugheit, wie sie für den Einzelnen in seiner mehr oder weniger ausgeprägten Gewissenhaftigkeit eine Frage der Überzeugung und der Zivilcourage ist. Wie treffend hat schon Algernon Sidney in seinem 1751 in London in 3. Auflage erschienenen „Discourses Concerning Government" bemerkt: „Tugend ist das Diktat der Vernunft oder das Überbleibsel göttlichen Lichtes, welches die Menschen in Gesinnung und Tat einander gut sein läßt." 9

6

Adolf Merkl, Zum 80. Geburtstag Hans Kelsens Reine Rechtslehre und Moralordnung, österr. Zeitschrift für öffentliches Recht 1961, N. F. Bd. 34, S. 299. 7 Vgl. Erich Rudolf Adler, De τ Staat als juristische und moralische Person, Gießen 1931; Gerhard Ritter, Das sittliche Problem der Macht, Bern 1948 und Arthur Kaufmann, Recht und Sittlichkeit, Recht und Staat, Heft 282/ 283, Tübingen 1964. β Beachte u. a. Kurt Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen rechtswidrige Ausübung der Staatsgewalt, Breslau 1916 sowie Adolf Merkl, Das Widerstandsrecht gegen die Staatsgewalt im Lichte der christlichen Ethik, in: Naturordnung in Gesellschaft, Staat, Wirtschaft, Festschrift für Johannes Messner zum 70. Geburtstag, hgb. von Joseph Höffner u. a., Innsbruck, Wien, München 1961, S. 467 ff. 9 Algernon Sidney, Discourses Concerning Government, 3. Aufl., London 1751, S. 212.

Einleitung Die beiden Aspekte der Tugend Die Tugend hat eine individuelle und eine soziale Seite; in ihrer individuellen Seite kann erfüllte Tugend zur Persönlichkeitsentfaltung des Einzelmenschen beitragen und in ihrer sozialen Seite beachtenswert für die Friedenssicherung in einer Gemeinschaft sein; beides setzt die Anerkennung des Menschen in seiner personalen Natur voraus, die einerseits in der Freiheit und Würde des Menschen10 begründet ist und andererseits die Seinserfüllung mit dem Erleben der Gemeinschaft verbindet. Die Tugend ist ein Anruf zur persönlichen Entscheidung des Einzelnen. Dem Wortsinn nach kommt das Wort Tugend von „taugen", d. h., für etwas befähigt sein, es führt zum Begriff der Tüchtigkeit hin, was noch keinen moralischen Charakter haben muß, aber kann. In diesem Sinne haben die Griechen hiefür das Wort Areté gebraucht. Die Römer haben für Tugend das Wort virtus verwendet, das sich von vir, der Mann, herleitet; in diesem Zusammenhang verstand man darunter die Männlichkeit und die sie auszeichnenden Eigenschaften. Das italienische Wort virtù wollte später damit die besonderen Fähigkeiten des Renaissance-Menschen hervorheben, was letztlich zum Begriff der Virtuosität führte 11 und seine inhaltliche Beziehung zur Ethik gefährdete. Eine in formaler Vollkommenheit erbrachte Leistung kann wöhl, aber muß nicht ethisch geboten sein. Virtuosität ist fast immer auch Ausdruck des Vorprogrammierten, was seinem Gehalt nach keine Tugend ist. Dietmar Mieth hat schon bemerkt: „Tugenden ereignen sich im Bereich des Nicht-Vorhersehbaren, des NichtPlanbaren, des Nicht-Machbaren, weil sie als sittliche Haltungen nur im Sinne von Selbstverpflichtungen der menschlichen Freiheit denkbar sind." 12 Tugend ist damit ein Weg selbstverwirklichter Menschlichkeit, die sich nach einer Gewissensentscheidung in einer Gesinnung äußert, und damit ein bestimmtes menschliches Verhalten im 10 Dazu Johannes Messner, Die Idee der Menschenwürde im Rechtsstaat der pluralistischen Gesellschaft, in: Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung, Festschrift für Willy Geiger zum 65. Geburtstag, hgb. von Gerhard Leibholz u. a., Tübingen 1974, S. 221 ff. 11

Otto Friedrich a. M. 1981, S. 13. 12

Bollnow, Wesen und Wandel der Tugenden, Frankfurt

Dietmar Mieth, Die neuen Tugenden, Düsseldorf 1984, S. 12.

2 Schambeck

18

Einleitung

Unterschied zu anderen hervorhebt, was der Tugend einen elitären Oharakter verleiht. Neben den Tugenden der Individualmoral, welche die Ethik des Einzelmenschen bestimmen, haben besonders die Tugenden der Sozialmoral das Verhältnis von Staat und Ethik in der jeweiligen Zeit geprägt. Als solche Tugenden der Individualmoral wären vor allem in allgemeiner Sicht die Aufrichtigkeit, die Bescheidenheit, die Selbstzucht, die Wahrhaftigkeit, die Glaubwürdigkeit, die Besonnenheit, die Sparsamkeit, die Klugheit, die Ruhe, die Gelassenheit und im Bereich der Sozialmoral als Tugenden die Treue, die Opferbereitschaft, die Gerechtigkeit, die Zivilcourage, der Bekennermut, das Pflichtbewußtsein und das Sozialverständnis beispielsweise hervorzuheben. Aus dieser nur beispielhaften Aufzählung kann ersehen werden, daß diese Tugenden der Individual- und Sozialmoral eine überlappende Bedeutung haben können. Diese in den Tugenden sich ausdrückenden Befähigungen haben sich mit dem sittlichen Bewußtsein der Menschen und den politischen Erfordernissen des Staates jeweils entwickelt und den Eindruck des Elitären vermittelt, der für eine Zeit des öffentlichen Lebens prägend war. Mieth meinte: „Zur Tugend gehört damit auch immer eine bestimmte soziale Trägerschaft: der griechische Polisbürger, der feudale Lehensträger, die Bürgerklasse der Neuzeit, die Arbeiterklasse." 13 Für ihn ist in dieser Tradition „der konkrete geschichtliche Bildcharakter der Tugenden als »Haltungsbilder' bewahrt. Diese »Haltungsbilder4 lösen sich ab, nach dem Schwerpunkt gesellschaftlicher Integration". 14 Wie der Staat mit seinen politischen Problemen macht daher auch die Ethik ihre Entwicklung an Tugen'dverständnis mit. Nach der alten Einteilung der Philosophie gehört ja die Behandlung der Tugenden neben der Güterlehre und der Pflichtenlehre in den Bereich der Ethik. Die Tugendlehre steht mit den beiden anderen Lehren der Ethik in einem wechselseitigen Zusammenhang. Sie haben soweit für den Staat Beideutung, als diese Tugenden sozialen Charakter besitzen und der Staat auf den Einzelnen Bezug nimmt. In dieser Sicht kann man einen Zusammenhang von Menschenbild und öffentlicher Ordnung erkennen. « Mieth, a.a.O., S. 16. Mieth, a.a.O., S. 18.

14

Einleitung

19

Ethik und Menschenbild Betrachtet man das Werden des Menschenbildes und des Sozialsinnes im abendländischen Rechtsdenken ,15 so verdeutlicht sich dieses in verschiedenen sich mehr oder weniger entwickelnden Begriffen und in sich abwechselnden Strömungen des geistigen wie politischen Lebens. Es wäre wahrlich eine euphorische und deshalb nicht realistische, sondern utopische Betrachtung des abendländischen Rechtsdenkens, wollte man meinen, es wäre ausschließlich eine Tugendlehre gewesen; es ist eine Lehre vom Einzelnen und seiner Stellung zum Staat und später auch zur Gesellschaft, es weist Merkmale des Individualismus und des Kollektivismus sowie !der Ethik und der Unmoral in gleicher Weise auf. Schon die Federalistautoren haben darauf hingewiesen, daß „die Menschen ihr Verhalten viel eher von Leidenschaften und unmittelbaren Interessen beeinflussen lassen als von allgemeinen und ferner liegenden Erwägungen rationaler Politik, Utilität oder Gerechtigkeit". 16 Vielleicht kann man die Gedanken über die politischen Tugenden am besten als ein Gespräch des Menschen über und mit sich selbst bezeichnen. Sie drücken — mehr oder weniger gelungen und deutlich — die Selbstbetrachtung und Selbsterkenntnis des Menschen aus, sie zu bedenken und so nachzuvollziehen, mag gerade in einer Zeit nicht ohne Bedeutung sein, in welcher sich das soziale Leben zwischen den Extremen der Gefahr der Verstaatlichung des Menschen einerseits und der Verneinung jeder Ordnung andererseits ereignet, es erlebt und erlitten wird. Vom Erleben und Erleiden des Otfdnungsund Rechtsdenkens sei deshalb gesprochen, weil geistige Vorgänge sich in der Politik ausdrücken, die Politik das Recht bedingt und die Ethik für sich sowie mit ihr die Tugenden in ihrer Beziehung zum Staat eine eigene Entscheidung entwickelt haben. Otto Friedrich Bollnow meinte zu dem Wandel der Tugenden sogar: „Es ist eine bedrückende Erfahrung aus der Geschichte, daß alle Entscheidungen des menschlichen Lebens sich wandeln, daß es nichts 15 Alfred Verdroß, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl., Wien 1963 und Herbert Schambeck, Menschenbild und Staatsform, in: Jahres- und Tagungsbericht der Görresgesellschaft 1977, Köln 1978, S. 26 ff. 16



Federalist, Nr. 6,54.

20

Einleitung

Festes darin gibt, an das man sich ein für allemal halten könnte. Immer wird das Frühere vom Späteren verdrängt, ohne daß dieses darum auch ein Besseres zu sein brauchte." 17 Ein Blick in einige ethische Bezüge des abendländischen Rechts- und Staatsdenkens soll die Fragen nach Staat und Ethik beantworten helfen.

17

Bollnow, a.a.O., S. 9.

L Zur Geschichte der politischen Tugenden Das abendländische Denken von Ordnung, Recht und Staat beginnt mit einem anthropomorphisierten Götterglauben, in dem Ordnungsfaktoren von Göttern in Menschengestalt dargestellt werden. Recht, Religion und Sitte bilden eine nicht unterscheidbare Einheit So tritt in Homers Ilias das Recht in der Gestalt der Gottheit Themis1 auf. Später verdeutlicht sich bei Hesiod ihre Tochter Dike, die den Rechtsanspruch darstellt. In der „Theogonie" erscheint Dike neben ihren Schwestern Eunomia, der guten Ordnung, und Eirene, dem Frieden, die alle Zeus zum Vater und Themis zur Mutter haben.2 Vom rechten Maß in der Politik Schon in dieser hesiodischen Dichtung tritt uns die soziale Ordnung in ihrem Spannungsverhältnis entgegen. Dike und ihre Schwestern haben nämlich drei Widersacherinnen: Eris 3, den Streit, Bia, die Gewalt, und Hybris, das Maßlose, das die Grenzen des Rechts überschreitet und damit das Recht in Unrecht verwandelt. Hier bei Hesiod treffen wir die Hauptfrage des politischen Denkens an, nämlich die nach dem rechten Maß in der Politik. 4 Das Maß, Metron, einzuhalten und Hybris zu bekämpfen, war das besondere Anliegen von Solon? der die wohlausgewogene Ordnung auch Eunomia nannte; sie ist gefährdet, wenn einzelne Gruppen im Staat übermächtig werden. Schon im 6. vorchristlichen Jahrhundert hat Solon erkannt, daß die Verletzung der Eunomia zu sozialen Übeln führt, wie zu Parteikämpfen, Haß und Unruhen. Er suchte auch der Hybris seiner Mit1 2 3 4

Siehe Homer, Ilias, ζ. Β. I X , S. 98 f., X X , S. 4 und X X I I I , S. 44. Beachte Hesiod, Theogonie, Vers 901 ff. Hesiod, Theogonie, Vers 226 ff.

Siehe Hesiod, Werte und Tage, Vers 274 ff. Näher Alfred Verdroß, Grundlinien der antiken Rechts- und Sozialphilosophie, 2. Aufl., Wien 1948, S.23ff. und derselbe, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl.. Wien 1963, S. 5 ff. 5

I. Zur Geschichte der politischen Tugenden

22

bürger zu begegnen und sah diese in drei Formen gegeben: in der Herrschsucht, Pleonexia, der Habsucht, Philargyria und der Geltungssucht, Hyperephania. Diesen Gefahren suchte Solon dadurch zu begegnen, daß er die Ordnung vor allem in seiner Vaterstadt Athen mit Dike und Bia wiederherstellen wollte, da er zwischen einer guten und einer schlechten Bia unterschied. Die Lehre vom Maßhalten bei Solon hat sich später auch bei den großen Tragikern Aischylos und Sophokles in der Dichtung fortgesetzt. So hat Aischylos in den „Persern" darauf hingewiesen, daß das Perserreich nur solange Erfolg hatte, als es sich „in Maßen hielt", 6 dann aber geschlagen wurde, als Xerxes „übers Maß hinaus" strebend7 auch Europa beherrschen wollte. Denselben Gedanken drückte Sophokles in „Aias"8 sowie in „ödipus auf Kolonos" aus, der Theseus warnt: „Schon so mancher Staat verfiel, auch gut regiert, dem Übermut". 9 Der Übermut drückt die Überschreitung des Maßes, nämlich die Hybris, aus, welche in der Folge die in der göttlichen Weltordnung vorgesehene Unrechtsfolge auslöst.

Der Maßstab In einer mathematischen Gesetzlichkeit dokumentierte sich für Pythagoras die Frage nach einer entsprechenden Verhältnismäßigkeit der Ordnungsfaktoren. Er bemühte sich, den Gedanken der Allharmonie aus dem Bereich der Natur in den der Sozialoidnung zu übertragen. Als bestimmende Grundsätze des Zusammenlebens gelten für ihn: die Ehrfurcht vor den Göttern und den Eltern, die Achtung der Gesetze und Sanftmut gegen alle Menschen. Von jedem Menschen als Glied der Gemeinschaft wird eine regelmäßige Selbstüberprüfung, eine friedliche Gesinnung und die Ergebung in das Schicksal verlangt. Die Gesetzlosigkeit wird von Pythagoras als das größte Übel aufgefaßt, da das Menschengeschlecht ohne eine Autorität nicht bestehen kann. 10 6

Aischylos, Perser, Vers 772.

7

Aischylos, Perser, Vers 820. Sophokles, Aias, ζ. B. Vers 132 f. Sophokles, ödipus auf Kolonos, Vers 1534.

β 9 10

Dazu Verdroß,

Abendländische Rechtsphilosophie, S. 17.

I. Zur Geschichte der politischen Tugenden Die wohl deutlichste Beziehung von Maßnehmen und Menschsein findet sich im 5. vorchristlichen Jahrhundert in dem sogenannten homo-mensura-Satz des Protagoras : „Der Mensch ist das Maß aller Dinge." 11 Wie Alfred Verdroß schon treffend hervorgehoben hat, sollte dieser Satz richtigerweise lauten: „Der Mensch ist das Maß aller Qualitäten und Wertungen."; 12 eine Auslegung, die Verdroß in dem folgenden Satz bestätigt fand: „Was einem jeden Staat gerecht und gut erscheint, das ist es auch für ihn, solange er bei dieser Meinung bleibt". 13 Protagoras ist daher den Weg eines gemäßigten Rechtsrelativismus gegangen, der die ethischen Erfordernisse zum Bestehen eines staatlichen Gemeinwesens erkannt hat; so erklärte er nach dem platonischen Dialog „Protagoras": „Auf diese Art also glaubt Sokrates, und aus dieser Ursache glauben auch die Athener, daß, wenn von der Kunst eines Baumeisters oder einer anderen Fachkunst die Rede ist, alsdann nur wenigen an der Beratung teilzunehmen gebühre. Wenn sie aber zur Betrachtung über die Bürger-Tugend gehen, wobei alles auf Gerechtigkeit und Besonnenheit ankommt, so dulden sie mit Recht einen jeden, weil es jedem gebührt, an dieser Tugend Anteil zu haben, wenn überhaupt ein Staat bestehen soll."14 Zu welchen Extremen aber andererseits der Rechtsrelativismus imstande ist, zeigt seine radikale Form bei Gorgias, 15 Trasymachos 16 und Kallikles, 17 für die das Recht das dem Stärkeren Zukömmliche ist. Dieses Recht des Stärkeren findet später bei Joseph Arthur Graf Gobineau 18 und Friedrich Nietzsche 19 seine aus dem 19. Jahrhundert in die Ideologien der Gegenwart reichende Fortsetzung, wobei der 11

Piaton, Theaitetos 151 E, 166 D. Verdroß, Abendländische Rechtsphilosophie, S. 17. 13 Piaton, Theaitetos 166 D. 14 Piaton, Protagoras, 12. Kap., 323. 15 Diels-Kranz, Fragmente der Vorsokratiker, 5. Aufl., Berlin 1935, I I , S. 288 ff., B. 11. M Piaton, Politela I, 338 C. 17 Piaton, Gorgias, 37. bis 73. Kap., dazu siehe Adolf Menzel, Kallikles, eine Studie zur Geschichte der Lehre vom Recht des Stärkeren, W i e n Leipzig 1922. 18 Joseph Arthur Graf Gobineau, Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen, 4 Bände, Stuttgart 1898 - 1901. 19 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 260. 12

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I. Zur Geschichte der politischen Tugenden

Faschismus und der Nationalsozialismus des 20. Jahrhunderts wohl die deutlichste, aber nicht die einzige Ausprägung dieses Rechts des Stärkeren geworden sind.

Die politische Tugend als solche Eine Konfrontation hiezu stellt wohl die Bezogenheit von Ethos, Mensch und Recht bei Sokrates dar. Er war der erste, der die Tugend, Areté, an sich für lehrbar hielt und für den Bestand des Staates die Beachtung des Guten an sich verlangte, das in einem Leben in Wahrheit, Besonnenheit und Gerechtigkeit gelegen ist, das gegen alle Lockungen un'd Drohungen durchgehalten werden muß. 20 Schon Alfred Verdroß wußte zu betonen, daß bei den Griechen Areté nicht als eine private, sondern als eine politische Tugend im Sinne von männlicher Tüchtigkeit im Staate zu verstehen ist, die sich erst mit Sokrates zu verinnerlichen beginnt, ohne aber ihren Gemeinschaftsbezug zu verlieren. 21 Als Lehrer der politischen Areté sprach er sowohl das Wort der sittlichen Erneuerung des Einzelnen und des Staates wie der Selbsterkenntnis des Einzelnen. Aus der Selbsterkenntnis soll nach Sokrates die Erneuerung des Staates treten. Die Erweckung des Bürgerethos ist die Voraussetzung für die politische Entwicklung, denn jede Reform des Staates setzt eine innere Umwandlung (metanoia) seiner Bürger voraus. Während Sokrates den Begriff der politischen Tugend für das Staats- und Rechtsdenken überhaupt geprägt hat und das Erfordernis der sittlichen Grundlage des Staates verdeutlichte, hat hernach sein Schüler Plato die Ethik vom Staat und der Politik umfassend zu erkennen gesucht. Plato hat die Tugend als „eine Verfassung der Seele zum guten Vollzug des angemessenen Werkes" 22 angesehen. Plato ging von einzelnen politischen Tugenden aus, welche die Gemeinschaft der Menschen begründen und erhalten; er versuchte hiezu zwar Ansätze zu leisten, aber nicht zur Gänze auszuführen. So 20

Platon, Laches, 191 d - e. 21 Verdroß, Grundlinien der antiken Rechts- und Staatsphilosophie, S. 5. 22

Platon, Politela I, 353 c 5 - 7.

I. Zur Geschichte der politischen Tugenden schrieb er im Dialog „Laches" über die Tapferkeit, in dem Dialog „Charmides" über die Selbstbeherrschung und im Dialog „Euthyphron" über die Frömmigkeit und Gerechtigkeit. Die gegenseitige Bedingtheit dieser Tugenden und ihren sozialen Charakter hat Plato erkannt; er gibt in diesen Dialogen keine umfassenden Definitionen von ihnen, sondern, wie es auch Alfred Verdroß hervorhebt, bricht sie ergebnislos 'ab.23 Piatons philosophische Anthropologie Eine umfassende Sozial- und Staatsphilosophie suchte Plato in seiner Politela zu geben, in der er eine philosophische Anthropologie entwickelte, auf der er seine Rechts- und Staatsphilosophie aufbaute. Aus dem Wesen des Menschen sucht er das Wesen des Staates zu erklären. Für Plato besteht der Mensch aus drei übereinander liegenden Schichten von unten nach oben: das sinnlichJbegehrliche Vermögen im Nahrungs- und Geschlechtstrieb sowie dem Ruhebedürfnis, hernach die eifrig-mutigen Seelenkräfte, nämlich der Mut, der Ehrgeiz und die Hoffnung. Die oberste Schicht bildet die Vernunft, die Piatos Staatslehre zur Ideenlehre führt, denn die Vernunft ist nicht bloß der berechnende Verstand, sondern auch das alles Seiende, überschauende Denken. 24 Jahrhunderte später, im 17. Jahrhundert, hat Blaise Pascal in seinen Pensées zwischen dem esprit géométrique und dem esprit de finesse, der Sprache des logisch Abstrakten und der des Herzens unterschieden. 25 Dieser Hinweis auf Pascal sei neben der Ähnlichkeit dieser Gedanken auch deshalb gegeben, weil nämlich seine Gedanken im Fragmentarischen bleiben, während Plato ein ganzes System entwickelte, in dem er aus dem Wesen des Menschen das Wesen des Staates zu bestimmen suchte, wobei er in seiner Politela zu einer ständischen Gliederung des Staates gelangte, in der die Vernunft dem Herrscherstand, der Mut dem Kriegerstand und die Sinnlichkeit dem Wirt23 24 25

Verdroß, Abendländische Rechtsphilosophie, S. 31. Siehe Platon , Politela, I V 434 d, V I I I 544 e und I X 580 d. Blaise Pascal, Pensée Fragment 282.

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I. Zur Geschichte der politischen Tugenden

schaftsstand entsprach. Die einzelnen Seelenkräfte führten zu einzelnen Sozialständen, zu einer Arbeitsteilung und sozialer Verbundenheit. Als Grenzideal erscheint ihm in der Politeia der ahne Gesetze herrschende weise Richterkönig. I n den Nomoi hingegen gibt er den Gesetzesstaat als Staat für die Tagespraxis an. Die Verbundenheit zwischen der Politeia und den Nomoi stellt der Dialog Politikos dar, in welchem Plato die Staaten nach dem Maßstab der Bindung oder Ungebundenheit an die Gesetze beurteilt und als ordnungsgemäße Staatsformen: Monarchie, Aristokratie und Demokratie, als entartete Staatsformen: Tyrannis, Oligarchie und die gesetzlose Demokratie nennt. 36

Gesellschaft ohne Tugend Plato tritt neben der Gesetzesbindung des Staates, die ihn zum ersten Begründer der Idee der Rechtsstaatlichkeit werden läßt, für die Beachtung objektiver Wesensgesetze des Staates ein, bei deren Mißachtung die Ordnung des Staates gefährdet ist. Von diesen ethischen Gesichtspunkten ausgehend gelangt Plato zu seiner im 8. Buch seiner Politeia dargestellten, berühmten Zyklentheorie; sie entartet die Aristokratie zur streitsüchtigen und ehrliebenden Timokratie, diese durch Verweichlichung und Bereicherung zur Oligarchie, die durch die Demokratie gestürzt wird, welche sich zur Demagogie entwickelt, in der letztlich alle in der Tyrannis in die Knechtschaft eines einzigen geraten. Plato hat diese Entwicklung des Staates nicht nur politisch, sondern auch menschlich gesehen: „Wenn zum Beispiel ein Vater sich gewöhnt, einen Buben vorzustellen, und sich vor seinen Söhnen fürchtet, wenn dagegen ein Sohn den Vater spielt und weder Scham noch Furcht vor seinen Eltern hat, damit er nämlich frei s e i . . . . . . Der Lehrer fürchtet und hätschelt seine Schüler, die Schüler fahren dem Lehrer über die Nase und so auch ihren Erziehern. Und überhaupt spielen die jungen Leute die Rolle der Alten und wetteifern mit ihnen in Wort und Tat, während Männer mit grauen Köpfen sich in die Gesellschaft der jungen Burschen herbeilassen, darin * Piaton, Politikos 39/301 ff.

I. Zur Geschichte der politischen Tugenden von Possen und Späßen überfließen, ähnlich den Jungen, damit sie nur ja nicht als ernste Murrköpfe, nicht als strenge Gebieter erscheinen . . . . . . Wenn du alle diese Erscheinungen zusammennimmst..., siehst du nun ein, was das Allerschlimmste hiebei ist? Daß sie die Seele der Bürger so empfindlich machen, daß sie, wenn ihnen jemand auch nur den mindesten Zwang antun will, sich alsbald verletzt fühlen und es nicht ertragen; ja endlich, verachten sie gar alle Gesetze, die geschriebenen wie die ungeschriebenen, um nur keinen Gebieter in irgendeiner Beziehung über sich zu haben . . . . . . Diese so schöne, . . . und jugendlich kecke Wirtschaft,... ist also denn der Anfang, woraus die Staatsform der Tyrannis erwächst, wie ich glaube . . . . . . Denn die allzu große Freiheit schlägt offenbar in nichts anderes um als in allzu große Knechtschaft, sowohl beim Individuum wie beim Staate . . . . . . Natürlich . . . geht die Tyrannis aus keiner anderen Staatsverfassung hervor als aus der Demokratie, aus der zur höchsten Spitze getriebenen Freiheit, die größte und drückendste Knechtschaft .. (Politela V I I I , Kap. 14 und 15). Plato hat also sowohl die Möglichkeit des guten Staates nach dem Vorbild des Vollmenschen wahrgenommen wie die Etappen seiner Entartung. Seine Staatslehre findet ihre Begründung in einer Anthropologie, die ihren letzten Sinn aus einer Theologie erhält, was sich im 10. Buch Nomoi zeigt. Er nimmt nämlich an, daß der Mensch von einer göttlichen Seele geleitet sei, wodurch anstelle des Homomensura-Satzes bei Protagoras der Deus-mensura-Satz bei Plato tritt. Das Gemeinwohl Eine dynamische Staatsbetrachtung treffen wir auch bei Aristoteles an, der sogar als erster vergleichendes Verfassungsrecht betrieben hat und in seiner Beurteilung der Staatsformen nur die als gute gewertet hat, welche dem gemeinsamen Nutzen dienen (To koinon sympheron). 27 Hier äußert sich erstmals in der Staatslehre der ethi27

Aristoteles,

Politik I I I / 5 und 6, 1278 ff.

28

I. Zur Geschichte der politischen Tugenden

sehe Grundsatz, der später im christlich geprägten Begriff des Gemeinwohls, dem bonum commune, besonders bei Thomas von Aquin, eine klassische Form bekam. Bemerkenswert ist, daß die Demokratie bei Aristoteles nicht zu den guten Staatsformen, sondern zu den schlechten zählt; die gute Volksherrschaft bezeichnet er als Politie. 28 Aristoteles will die Staatsformen nicht allein nach juristischen Gesichtspunkten, sondern auch nach ethischen Wertungen einteilen. Er gründet das Königtum und die Aristokratie auf die absolute Tugend,29 da in den Verfassungen dieser Staaten die Obrigkeit aus den Tugendhaftesten und somit schlechthin besten Männern besteht. Die Grundlage der Demokratie bildet die Freiheit und die der Oligarchie der Reichtum. Letztere ist überall dort entstanden, wo die Stärke des Staates in der Reiterei lag, da die Armen keine Pferde halten konnten. 30 Tugend, Reichtum und Freiheit ringen demnach im Kampf um die Macht im Staat. 31 Die Willkür ist für Aristoteles die Wurzel der Tyrannis. 32 Tugend und Staatsform Ethische Bezüge, welche sich in unterschiedlichen Beziehungen der Menschen zueinander äußern, sind nach Darstellungen von Aristoteles in der Nikomachischen Ethik bestimmend gewesen für die verschiedenen Staatsformen. So gründet sich die Monarchie auf der Dankbarkeit der Untertanen für die vom Monarchen empfangenen Wohltaten, die Aristokratie auf die höhere Bewertung der Herrscher durch die Untertanen sowie die Politie auf die Freundschaft zwischen Brüdern. In den entarteten Staatsformen gibt es nur wenig Freundschaft, am wenigsten in der schlechtesten Staatsform, der Tyrannis, da jede Freundschaft einer seelischen Verbundenheit bedarf, die aber dort nicht besteht, wo die Untertanen als Sklaven betrachtet werden, wie es in der Tyrannis der Fall ist.33 Die Entartung der Herrscher 28 29 30 31 32 33

Aristoteles, Aristoteles, Aristoteles, Aristoteles, Aristoteles, Aristoteles,

Politik I I I / 5 und 6,1279 b f., I V / 1 - 4, 1289 a ff. Politik IV/7,1293 b. Politik IV/3, 1289 b. Politik IV/8, 1294 a. Politik IV/10, 1295 a. Nikomachische Ethik VIII/13, 1161 a.

I. Zur Geschichte der politischen Tugenden führt, wie Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik 34 dargestellt hat, zum Übergang der einen Staatsform in die ihr entsprechende entartete Gestalt — nämlich die Monarchie in die Tyrannis, die Aristokratie in die Oligarchie sowie die Politie in die Demokratie. Für Aristoteles war die Polis der Bereich der Sittlichkeit; nur innerhalb des Staates kann der Mensch seine eigene Areté voll entfalten. Die Tugenden des Einzelnen und die politischen Tugenden werden gleichgesetzt. Für Aristoteles liegt jede Tugend in der Mitte, z. B. die Tapferkeit zwischen Feigheit und Verwegenheit, die Höflichkeit zwischen Grobheit und Schmeichelei, die Selbstbeherrschung zwischen Zuchtlosigkeit und Stumpfsinn. 35 Die Tugend wird von Aristoteles als Tüchtigkeit verstanden, was sich aus seinem entelechialen Seinsverständnis und Menschenbild ergibt, nach dem das Sein sich in der Entfaltung des Menschen in der Gemeinschaft erfüllt. Der Mensch, der seine Aufgabe und Funktion erfüllt, ist für ihn tüchtig und deshalb gut. Die Tugend ist so für Aristoteles ein Anliegen des richtigen Verhaltens, welches durch Belehrung und Übung zur Gewohnheit wird.

Mensch und Staat Die Haltung der Menschen ist für Aristoteles deshalb für den Staat so wichtig, weil der Staat eine zur Institution gewordene Gemeinschaft von Menschen ist, und zwar die umfassendste und wichtigste unter den verschiedenen menschlichen Gemeinschaften. Sie wird durch die Verfassung bestimmt. An zwei Stellen 36 hat Aristoteles sogar Verfassung und Bürgerschaft — politeia und politeuma — als miteinander identisch bezeichnet. So verdeutlicht sich einmal mehr seine Vorstellung vom Menschen als politisches Wesen,37 d. h. ein Wesen, das seine volle Entfaltung in der Gemeinschaft findet. Die Tugenden des Einzelmenschen und die politischen Tugenden werden daher gleichgesetzt. 34

Aristoteles, Nikomachische Ethik VIII/12,1160 b. Aristoteles, Nikomachische Ethik I I I , 1115 a, 5-1117 a, 20; IV, 1119 b, 22 - 1122 a, 17; 1123 a, 34 - 1125 a, 35. 36 Aristoteles, Politik I I I , 1278 b, 10 und 1279 a, 25. 37 Aristoteles, Politik 1/2,1153 a, 7. 35

30

I. Zur Geschichte der politischen Tugenden

Da es nun verschiedene Verfassungen gibt, kann es auch verschiedene politische Tugenden geben, die je nach der Verfassung ein unterschiedliches Verlangen an den Einzelnen ausdrücken.

Zur politischen Tugend bei Cicero Das geistige Erhe der Griechen eignete sich bei den Römern vor allem Cicero an, der es in Beziehung zur Situation des Staates seiner Zeit setzte und sich die Aufgabe einer politischen Erneuerung stellte. Voraussetzung hiefür ist ihm die Virtus. 38 Unter Virtus verstand man sowohl die Tugend wie die Manneswürde, die Tüchtigkeit, den Mut, die Standhaftigkeit und die Entschlossenheit. Cicero hat virtus, ein Wort, das von vir (der Mann) kommt, als das Kennzeichen des Römers angesehen: nämlich Würde, Ernst, Redlichkeit, Ehrfurcht gegen die Eltern, die Ahnen und die Götter. Den höchsten Grad der Virtus sieht Cicero nach seinem Werk „de re publica" in der Staatsführung gegeben, später hebt er sie in das Religiöse und nennt sie einen Weg zum ewigen Leben. Bemerkenswert ist Ciceros Anerkennung der Rechtsstaatlichkeit: so betont er, daß das, was in der Freundschaft die Zuneigung (amor) ist, 39 für den Staat hingegen die gemeinsame Anerkennung des Rechtes (iuris consensus) ist, wobei er unter ius die Gerechtigkeit versteht.40 Die Liebe als Grundtugend bei Augustinus Die Liebe — als die Quelle aller Seelenkräfte des Menschen und als die Mutter aller Tugenden — hat Augustinus erklärt. Da für Augustinus der Wille das Wesen der Menschen ist, kann man ihn nicht von der Liebe trennen. Es ist unmöglich, den Menschen zu befehlen, daß sie lieben sollen, noch ihnen zu verbieten, daß sie lieben dürfen, man kann ihnen nur sagen, was sie lieben sollen und was sie nicht lieben dürfen. Die richtige Wahl der Objekte, denen die Menschen Liebe zuwenden, macht nach Augustinus die ganze Sittlich38

Cicero, De Legibus I, 8, 25.

39

Cicero, Laelius — de amicitia 31. Cicero, De re publica I I I , 45.

40

I. Zur Geschichte der politischen Tugenden keit aus. Für ihn ist beginnende Liebe beginnende Gerechtigkeit und vollendete Liebe vollendete Gerechtigkeit. 41 Die Tugend ist für Augustinus die Kunst „recte vivere" 4 2 recht zu leben, was sich in zwei Ordnungen vollzieht, in der Ordnung des Genusses („frui") und der des Gebrauchens („uti"); erstere Ordnung besteht in der freien Selbstbestimmung, dem Bereich der Muße, letztere macht die Verpflichtung notwendiger Tätigkeiten aus.

Die augustinische Zweireichelehre Augustinus knüpft an den Gedanken Piatos an, daß sich alles sittliche Streben auf dieser Welt in der Gemeinschaft vollzieht, die er aber unter dem Einfluß seines früheren Manichäismus in einem Weltgeschehen sieht, das sich als Kampf zwischen dem Licht und der Finsternis, Gut und Böse ereignet. Von diesen Ansätzen gelangt Augustinus zu seiner Lehre von den beiden Reichen, nämlich dem irdischen Staat, der civitas terrena, und dem Gottesstaat, der civitas dei; das eine Reich anerkennt nur die irdischen Güter als Höchstwerte, das andere Reich hingegen das göttliche Gesetz. Die Reicheeinteilung hat im letzten ihren Ursprung in zwei Grundhaltungen der Seele, die Augustinus als amores, als Liebesweisen, erklärt hat: „Zwei Lieben sind es, die die beiden Staaten schufen: die Selbstliebe bis zur Gottesverachtung den irdischen, die Gottesliebe bis zur Selbstverachtung den himmlischen Staat." 43 Die einzelnen geschichtlichen Staaten setzen sich aus Bürgern beider Reiche zusammen.

Die Gemeinwohlgerechtigkeit

bei Thomas von Aquin

Mit dem geschichtlichen Staat hat sich auch Thomas von Aquin beschäftigt und den Herrscheraufgaben eine eigene Schrift „De regimine principum" gewidmet; er hat die iustitia legalis, die Gemeinwohlgerechtigkeit, als die erste Aufgabe für die Politik genannt.44 Sie 41 42 43 44

Aurelius Augustinus, De nature et gentium 80, 84, 298. Augustinus, De civitate Dei I V , 21. Augustinus, De civitate Dei X I V , 28. Thomas von Aquin, Summa Theologica I I — I I q. 58, a. 5.

32

I. Zur Geschichte der politischen Tugenden

soll im Herrscher architectonice sein, da er alles für das Gemeinwohl Erforderliche formuliert und durchsetzt; in den Untertanen soll sie administrative (ausführend) sein, indem sie den Gesetzen und Anordnungen der Amtsträger gehorchen und jede Schädigung des Gemeinwohls unterlassen. 45 Dieser iustitia legalis ist die iustitia distributiva untergeordnet; nach ihr sind die Güter nach der Würdigkeit und die Lasten nach Leistungsfähigkeit zu verteilen. Voraussetzung für die Tugend der Gerechtigkeit ist die eigentliche politische Tugend: die Klugheit, die prudentia; 46 sie ist die Fähigkeit, mit welcher der Herrscher unter Bedachtnahme auf den Zweck des Gemeinwesens bestimmt, was konkret politisch zu tun und durchzusetzen ist. Diese Tugend der prudentia allein genügt nicht, sie bedarf noch der Ergänzung durch die sapientia, die Weisheit. Alle diese Tugenden stehen nach Thomas in der Politik im Dienste des Gemeinwohls. Dantes Tugendlehre Die aristotelisch-thomistische Staatstheorie war auch die Grundlage für die Lehre vom Staat bei Dante Alighieri, für den daher auch der Mensch ein Gemeinschaftswesen ist. Ein Leben nach der Tugend stellt sich als Ziel und Zweck der irdischen Glückseligkeit für Dante dar, 47 wobei zum Unterschied von Aristoteles und Thomas, für ihn Vernunft und Glückseligkeit nur im Weltstaat voll erreicht werden können. Dante sucht auf diese Weise, die Verwirklichung einer Menschheitskultur, nämlich der civilitas 48 humani generis, wobei er sich dem Gedanken des Aurelius Augustinus: Pax hominum ordinata concordia 49 sehr verbunden fühlt. Der gewandelte Tugendbegriff

bei Machiavelli

Nicht von religiösen, sondern von tagespolitischen Zweckmäßigkeitserwägungen geht Niccolò Machiavelli aus; für ihn bedeutet virtù 45 Ulrich Matz, Thomas von Aquin, in: Klassiker des politischen Denkens, 1. Band, hgb. von Hans Maier / Heinz Rauscher / Horst Denzer, München 1969, S. 143. 46 Aquin, Summa Theologica I I — I I q. 47 ff. 47 Dante Alighieri, Corv. I V , 4. 48 Dante Alighieri, Monarchia I, 2. 49 Augustinus, De civitate Dei, 19,13.

I. Zur Geschichte der politischen Tugenden soldatische und staatemännische Tüchtigkeit zum Machterwerb. Er tritt für eine radikale Trennung von Moral und Politik ein; bei ihm werden die Anliegen der Ethik auf die Erfordernisse der jeweiligen Situation des öffentlichen Lebens abgestellt und somit relativiert. Beim Erwerb und Erhalten der Macht darf der Fürst, der für ihn die Personifizierung der Politik ist, vor nichts zurückschrecken, deshalb erklärte er auch: „So muß der Fürst Milde, Treue, Menschlichkeit und Frömmigkeit zur Schau tragen und besitzen, aber wenn es nötig ist, sie in ihr Gegenteil verkehren". 50 Handlungen sind nach ihrer Wirkung und Wirkungen nach ihrem jeweiligen Zweck zu bestimmen. Wenngleich auch bei Machiavelli Übeltat Übeltat bleibt, ist er jederzeit bereit, das Gute durch das Böse zu ersetzen, wenn dies der Zweck verlangt; die Zweckerfüllung selbst verlangt allerdings auch Glück (fortuna). Bei Machiavelli tritt an die Stelle der aristotelischen Lehre vom Telos des Menschen der utilitaristische Standpunkt von der Staatsraison, die Machiavelli durch ein rein politisches Zweckmäßigkeitsdenken ersetzt, das zum Relativismus führt. Der Staat ist in seiner Ordnung nicht mehr nach dem Bild des um seine volle Persönlichkeitsentfaltung ringenden Menschen orientiert, sondern ein Ausdruck des sich jeweilig ändernden politischen Kräftefelds. Wie sehr das Bild des Menschen für die Ordnung des Staates zurücktritt und das Tierzeichen hervortritt, zeigt sich deutlich bei Machiavelli, wenn er meint, der Staatsmann müßte, um Erfolg zu haben, Fuchs und Löwe zugleich sein. Diese Forderungen an den Politiker durch Machiavelli entsprechen seinem negativen Bild vom Menschen, den er in seinem Werk „II Principe" als undankbar, wankelmütig, heuchlerisch, feige und gewinnsüchtig bezeichnet hat.

Der radikale Rechtspositivismus

bei Hobbes

Ebenfalls ein negatives Menschenbild und ein vergleichsweise verwendetes Tiersymbol zur Veranschaulichung der Staatlichkeit gebrauchte bekanntlich Thomas Hobbes. Er verfolgt gleich Machiavelli eine mechanische Staatslehre; das von Plato von der Rechtsidee 50

Niccolo Machiavelli, I I Principe 18.

3 Schambeck

34

I. Zur Geschichte der politischen Tugenden

und von Aristoteles vom Telos des Menschen abgeleitete Sollen wird nicht beachtet, vielmehr für den Menschen eine Freiheit anerkannt, „seine Kräfte und Fähigkeiten nach eigener Willkür zu gebrauchen."51 Für Hobbes ist das wichtigste Grundrecht des Menschen das Recht auf Selbsterhaltung. Den Staat hat er anschaulich mit einem biblischen Seeungeheuer, Leviathan genannt, verglichen. Hobbes schrieb in seinem Werke „Leviathan": „Das Vermögen einzelner Personen ist hier die Kraft sowie das Glück des Volkes das allgemeine Geschäft; die Staatsmänner, von denen die nötigen Kenntnisse erwartet werden, sind das Gedächtnis; Billigkeit und Recht eine künstliche Vernunft". 52 Hobbes geht von einer Gehorsamspflicht des Bürgers gegenüber dem Staat aus, die aber nur so lange besteht, als der Staat imstande ist, seine Bürger zu schützen. Solange der Staat seiner Schutzpflicht nachkommen kann, steht ihm eine umfassende Autorität zu; im 26. Kapitel seines „Leviathan" schrieb Hobbes: „auctoritas, non Veritas facit legem"; ist der Staat aber zu dieser Ordnung nicht mehr imstande, erlischt die Gehorsamspflicht des Bürgers; der Staat ist daher ein „sterblicher Gott". 53

Die Nützlichkeit

als staatliche Grundtugend bei Spinoza

Die Grenzen staatlicher Macht hat gleich Hobbes auch Baruch de Spinoza wahrgenommen, der zwar ähnlich wie Machiavelli keine verpflichtende Moral für den Staat annimmt und den Staat gegenüber dem Einzelnen als übermächtig betrachtet, dort aber eine Grenze als gegeben zu erkennen glaubt, wo Furcht, Ehrfurcht und Vaterlandsliebe, auf welchen der Gehorsam der Untertanen beruht, als Motive versagen. Mit dem Überspannen der Inanspruchnahme des Bürgers gefährdet der Staat seine eigene Existenz.54

51 52

Thomas Hobbes, Leviathan, 26. Kap.

Hobbes, Leviathan, 17. Kap. 55 Verdroß, Abendländische Rechtsphilosophie, S. 118. 54 Baruch de Spinoza, Tractatus politicus, Kap. 3, § 4 und § 8 sowie Kap. 4, §4.

I. Zur Geschichte der politischen Tugenden Der staatsfreie

35

Raum bei Locke

Eine deutliche Hinwendung zu einem positiven Menschenbild hingegen zeigt sich bei John Locke und Samuel Pufendorf. Nach Locke bleibt der Mensch bei der Staatsgründung im Besitz seiner vorstaatlichen Rechte auf Leben, Freiheit und Eigentum, die er auch verteidigen kann. Die moralischen Grundsätze bilden sich in der Praxis auf Grund der Vernunft und der Erfahrung. 55 Die natürliche Tugendlehre bei Pufendorf Ganz deutlich tritt nach der mehr isolierten Betrachtung des Menschen bei Hobbes und Locke mehr seine soziale Natur bei Samuel Pufendorf auf. Den Dienst an der Gemeinschaft hat er als Hauptaufgabe des Einzelnen angesehen und daraus eigene Gemeinschaftspflichten abgeleitet: Keiner schädige den anderen; jeder achte den anderen und behandle ihn als einen von Natur ihm Gleichberechtigten, nämlich als Menschen schlechthin; jeder nütze dem anderen, soviel er mag, und jeder soll die von ihm übernommenen Verpflichtungen erfüllen. 56 Pufendorf ist für die Eigenart der Sittenordnung eingetreten und hat die spätere Unterscheidung von Legalität und Moralität bei Immanuel Kant als Unterscheidungskriterien von Recht und Moral vorbereitet, was Karl Engisch hervorgehoben hat. 57 Engisch sieht einen wesentlichen Ansatzpunkt für diese Unterscheidung schon in der durch die Stoa und das Christentum ausgebildeten Orientierung der Sittlichkeit an der Gesinnung sowie in der Unterscheidung von forum externum und forum internum. Thomas von Aquin hat das Recht als Ausprägung der Gerechtigkeit auf die äußeren Handlungen, „exteriores actiones", bezogen, welchen er den im übrigen von der rechten Vernunft zu regelnden „anteriores animae passiones" gegenüberstellt. 58 55

Siehe John Locke, Two treatises of civil government und A n Essay concerning Human understanding. 56 Samuel Pufendorf, De officio hominis et civis iuxta legem naturalem libri duo, Kap. V I ff. 57 Karl Engisch, Auf der Suche nach der Gerechtigkeit — Hauptthemen der Rechtsphilosophie, München 1971, S. 85. 58 Aquin, Summa Theologica I I — I I , q. 58.

3*

36

I. Zur Geschichte der politischen Tugenden Die formale Sittlichkeit

bei Kant

Als Träger der Vernunft sieht Immanuel Kant den Menschen an. Für Kant ist das Sittengesetz kein empirisches Gesetz, sondern „das einzige Faktum der reinen Vernunft, die sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend (sic volo, sic iubeo) ankündigt". 59 Das moralischrechtliche Sollen ergibt sich daher bei Kant nicht wie bei Aristoteles und Thomas aus der Finalität des entelechial gedachten menschlichen Seins, sondern tritt als kategorischer Imperativ auf. Es ist für ihn autonom als Selbstsetzung des menschlichen Willens: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." 60 Nach Kant umfaßt die Sittlichkeit zwei Bereiche: die äußeren Pflichten des Rechts und die inneren Pflichten der Moral. Die sittliche Notwendigkeit der Gesetzgebung sieht Kant in der Zwiespältigkeit der menschlichen Natur als gegeben an, die sich in einer „ungeselligen Geselligkeit" 61 äußert. Das Recht ist daher für ihn „der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann". 62 Kant bestimmt die Freiheit als Substanz der Sittlichkeit** und erhebt die Menschheit zum gleichen und universellen Subjekt der Ethik. Sein Bemühen um Verinnerlichung der moralischen Entscheidung führt zu einer Trennung von Ethik und Recht. Aufgabe der Politik ist daher die Herstellung der Übereinstimmung des freien Willens des einen mit dem freien Willen aller übrigen „nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit". 64 Recht, Staat und Verfassung sind daher notwendig, um die Konkurrenz der Freiheiten der Einzelnen 59 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft I, 1. Buch, 1. Hauptstück, § 7. * Kant, a.a.O. 61 Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 1784 (4. Satz), in: Kant Werke, Bd. 8, Berlin 1968, S. 20. 62 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Einleitung in die Rechtslehre, V I I , 31. 63 Immanuel Kant, Reflexionen zur Metaphysik, X V I I I , 82. 64 Kant, Metaphysik der Sitten, I V , 311.

I. Zur Geschichte der politischen Tugenden zu vermeiden und eine allgemeine Freiheit zu garantieren. Der kategorische Imperativ ist für Kant bestimmend für die Entscheidungen in der Politik.

Die bürgerliche

Tugendlehre

in Nordamerika

I m Unterschied zu vergleichbaren Äußerungen europäischer Staatsdenker zum Zeitpunkt ihrer Publikation haben die amerikanischen Vorstellungen zu einer gerechten Staatsordnung zumeist unmittelbar auf die staatlich-politische Realität dieses sich neu formierenden Staatswesens eingewirkt. Aus dieser sehr engen Wechselwirkung zwischen Theorie und Praxis in den nordamerikanischen Kolonien sind allerdings weitreichende und auch die europäische Entwicklung befruchtende Ideen und Initiativen entstanden. Sie führten zu einer bürgerlichen Tugendlehre, die sowohl auf das private Leben des einzelnen Bürgers als auch auf seine Beziehungen zum Staat gerichtet war. So hat Benjamin Franklin eine für den innerweltlichen Erfolg bestimmte Lehre vertreten, nach der die Tugend an ihrer Nützlichkeit zu messen ist. Bezeichnend ist der Titel seines 1735 vor einer Freimaurerloge gehaltenen Vortrages: „Selbstverleugnung macht nicht das Wesen der Tugend aus". In seiner Autobiographie hat er dreizehn Tugenden besonders genannt: Mäßigkeit, Verschwiegenheit, Ordnungssinn, Entschlossenheit, Sparsamkeit, Fleiß, Aufrichtigkeit, Gerechtigkeit, Milde, Sauberkeit, Gelassenheit, Keuschheit und Bescheidenheit. Für das öffentliche Leben der nordamerikanischen Kolonien auf dem Weg zu den USA war vor allem Thomas Jefferson (1743 - 1826), der Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, von Wichtigkeit. Er stellte in dieser 1776 fest: „Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: daß alle Menschen gleich geschaffen sind; daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; daß dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören; daß zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingesetzt werden, die ihre rechtmäßige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten; daß, wann immer eine Regierungsform sich als diesen

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I. Zur Geschichte der politischen Tugenden

Zielen abträglich erweist, das Volk berechtigt ist, sie zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen und diese auf solchen Grundsätzen aufzubauen und ihre Gewalten in der Form zu organisieren, wie es ihm zur Gewährleistung seiner Sicherheit und seines Glückes geboten zu sein scheint. Gewiß gebietet die Weisheit, daß von alters her bestehende Regierungen nicht aus geringfügigen und vorübergehenden Anlässen geändert werden sollten; und demgemäß hat jede Erfahrung gezeigt, daß die Menschen eher geneigt sind, zu dulden, so lange die Mißstände noch erträglich sind, als sich unter Beseitigung altgewohnter Formen Recht zu verschaffen. Aber wenn eine lange Reihe von Mißbräuchen und Übergriffen, die stets das gleiche Ziel verfolgen, die Absicht erkennen läßt, sie absolutem Despotismus zu unterwerfen, so ist es ihr Recht und ihre Pflicht, eine solche Regierung zu beseitigen und neue Wächter für ihre künftige Sicherheit zu bestellen."65 Beachtenswert sind auch seine Feststellungen über die Bedeutung der Herrschaft in Staat und Gesellschaft, besonders auch, weil sie aus seiner amerikanischen Sicht mit einer Kritik an den damaligen Verhältnissen Europas verbunden sind: „Ich bin überzeugt, daß in Gesellschaften, die ahne Herrschaft auskommen wie die Indianer, sich die große Masse eines unvergleichlich größeren Maßes an Glück erfreut, als in denjenigen, die unter den europäischen Regierungen leben. In dem ersten Typ steht die öffentliche Meinung an Stelle der Gesetze und sorgt für moralische Selbstzucht so machtvoll wie nur irgendwo die Gesetze. I m anderen Fall hat man die Nationen unter dem Vorwand, sie zu regieren, in zwei Klassen geteilt — Wölfe und Schafe. Ich übertreibe nicht. Das ist das wahre Bild Europas. Pflegt deshalb den Geist unseres Volkes und haltet seine Achtsamkeit wach. Urteilt nicht zu hart über seine Irrungen, aber berichtigt sie durch Aufklärung. Wenn das Volk einmal 65 The Political Writings of Thomas Jefferson — Representative Selection ed. by Edward Dumbold, The American Heritage Series Nr. 9, New York 1955, deutscher Text zitiert nach Otto Heinrich von der Gablentz, Die politischen Theorien seit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, 3. Aufl., Köln und Opladen 1967, S. 55. Siehe zu den geistigen Gewährsmännern und anderen amerikanischen politischen Schriftstellern dieser Ära, wie John Wise und James Otis, auch die Darstellung bei Ernst Reibstein, Volkssouveränität und Freiheitsrechte, Bd. I I , Freiburg - München 1972, S. 289 ff.

I. Zur Geschichte der politischen Tugenden den öffentlichen Angelegenheiten gegenüber gleichgültig wird, dann werden Sie und ich, der Kongreß und die einzelstaatlichen Parlamente, die Richter und die Gouverneure alle zu Wölfen werden. Es scheint trotz einzelner Ausnahmen ein Gesetz unserer Natur zu sein — und die Erfahrung bestätigt diesen Eindruck — daß der Mensch das einzige Wesen ist, daß seine eigenen Artgenossen verschlingt; denn ich kann keinen milderen Ausdruck gebrauchen für die europäischen Regierungen und den allgemeinen Raub der Reichen an den Armen ('S. 65/66)." Ä Nicht unerwähnt sollen auch Jeffersons Bemerkungen über die natürliche Aristokratie im Staat sein: „Ich stimme mit Ihnen darin überein, daß es eine natürliche Aristokratie unter den Menschen gibt. Die Gründe dafür sind Tüchtigkeit und Begabung. Früher verlieh körperliche Überlegenheit einen Platz unter den Edlen. Aber seit durch die Erfindung des Schießpulvers die Schwachen ebenso wie die Starken in die Lage versetzt wurden, aus der Ferne zu morden, sind Körperkraft ebenso wie Schönheit, gute Stimmung, Liebenswürdigkeit urtd andere Vorzüge nur noch zusätzliche Gründe für eine Auszeichnung. Es gibt auch eine künstliche Aristokratie, die sich auf Reichtum und Geburt ohne andere Tüchtigkeit oder Talente stützt; denn mit diesen Eigenschaften würde sie zur ersten Gruppe gehören. Die natürliche Aristokratie halte ich für die wertvollste Gabe der Natur für die Bildung, für Vertrauensposten, für die Regierung der Gesellschaft. Es wäre doch wirklich ein Widerspruch in der Schöpfung, die Menschen als gesellschaftliche Wesen zu bilden und nicht für genügend Tugend und Weisheit zu sorgen, um die Interessen der Gesellschaft wahrzunehmen. Sollten wir nicht geradezu sagen, daß die Regierungsform die beste ist, die am wirksamsten die Wahl dieser natürlichen Elite in Führungsstellen gewährleistet? Die künstliche Aristokratie ist ein bedenklicher Bestandteil für eine Regierung und es sollte Vorsorge getroffen werden, ihren Aufstieg zu verhindern. Über die Frage, welches die beste Vorsorge dagegen sei, sind wir beide uns nicht einig. Aber wir differieren als vernünftige Freunde, indem wir unseren Verstand frei gebrauchen und gegenseitig seine Irrtümer zugestehen. Sie halten es für das beste, die Pseudo-AristoBrief an Edward Carrington, Paris, vom 16.1.1787, Text in: von der Gablentz, a.a.O., S. 57.

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I. Zur Geschichte der politischen Tugenden

kratie in eine besondere Kammer der Gesetzgebung zu setzen, wo sie daran gehindert wird, durch das Zusammenspiel ihrer Gruppen Unheil anzurichten und wo sie auch die Wohlhabenden schützen kann gegen Agrarinteressen und Enteignungswünsche der Mehrheit des Volkes. Ich meine, wenn man ihnen Macht gibt, um sie vom Unheilstiften abzuhalten, dann gibt man ihnen gerade Waffen dafür und vergrößert das Übel anstatt es zu heilen (S. 91)."67 Weit verbreitet worden waren auch die radikalen naturrechtlichen Ideen von Thomas Paine (1737 - 1809). In seinem im Jänner 1776 erschienenen Pamphlet „Common Sense" formuliert er in einer sehr plastisch-plakativen Sprache Gedanken, die nicht nur gegen das ungeliebte England und die Herrschaftsform der Monarchie gerichtet waren, sondern 'auch Vorstellungen von einer neuen gerechten demokratischen Staatsordnung enthielten. So führt er darin aus, daß zwar die Gesellschaft in jedem Zustand ein Segen ist, „aber Herrschaft selbst in ihrer besten Form . . . nur ein notwendiges Übel (ist), in ihrer schlechtesten ein unerträgliches. Herrschaft, so wie Kleidung, ist das Siegel verlorener Unschuld! Die Paläste des Königs sind auf den Trümmern der Hütten des Paradieses errichtet. Denn würden die Regungen des Gewissens klar, einheitlich und unwiderstehlich befolgt, dann brauchte der Mensch keinen anderen Gesetzgeber; da dies aber nicht der Fall ist, sieht sich der Mensch gezwungen, einen Teil seines Eigentums aufzugeben, um sich Mittel zum Schutz des Restes zu schaffen, und dazu führt ihn die gleiche Klugheit, die ihm bei jeder anderen Gelegenheit rät, von zwei Übeln das geringere zu wählen. Da nun Sicherheit Zweck und Ziel der Herrschaft ist, folgt daraus unfraglich, daß diejenige Herrschaftsform, die sie uns am ehesten zu garantieren scheint, mit den kleinsten Opfern und dem größten Erfolg, allen anderen vorzuziehen ist." 68 In einer späteren Schrift über die Rights of Man (1791) setzte Paine sich auf dem Hintergrund der Erfahrungen der Französischen Revolution für eine konsequente demokratisch-republikanische Regie67 Brief an John Adams, Monticello, 28.10.1817, Text in: von der Gablentz, a.a.O., S. 57 f. 68

Text in: von der Gablentz, a.a.O., S. 58 f.

I. Zur Geschichte der politischen Tugenden rungsform auf der Grundlage allen Menschen gleich zustehenden natürlichen, angeborenen Rechten ein. Dabei verneint er — was heute angesichts zahlreicher zukunftsbelästender Entscheidungen vieler staatlicher Organe besonders aktuell klingt — von einer konsequenten Idee der Selbstbestimmung ausgehend das Recht eines Parlaments, einer Klasse oder einer Generation von Menschen in irgendeinem Lande mit dem Recht oder der Macht bis ans „Ende der Zeiten" die Nachlebenden zu binden oder zu verpflichten, oder für immer zu befehlen, wie die Welt regiert werden soll und wer sie zu regieren hat; folglich sind alle Klauseln, Bestimmungen oder Erklärungen, wodurch die Urheber sich anmaßen, etwas zu tun, wozu sie weder Recht noch Macht haben, noch die Gewalt, es durchzusetzen, in sich selbst null und nichtig. Jedes Zeitalter und jede Generation muß ebenso frei sein, in allen Fällen für sich selbst zu handeln, wie die Zeitalter und Generationen vor ihm. Die Eitelkeit und Anmaßung, über das Grab hinaus zu herrschen, ist die lächerlichste und unverschämteste aller Tyranneien. Der Mensch besitzt kein Eigentum an Menschen; ebensowenig besitzt eine Generation Eigentum an künftigen Generationen." 69 Bezüglich der Stellung des Einzelnen im Staat stellt er fest, daß erstens jedes bürgerliche Recht aus einem natürlichen Recht entspringt, oder, in anderen Worten, ein umgewandeltes natürliches Recht ist. Zweitens folgert er, daß die bürgerliche Gewalt für sich betrachtet, aus der Summe der Klasse von natürlichen Menschenrechten besteht, die in bezug auf die Macht beim Einzelnen versagen und nicht ihren Zwecken entsprechen, aber konzentriert in einem Brennpunkt für die Zwecke jedes Einzelnen verwendbar werden. Drittens, daß die Macht, die aus der Summe der natürlichen Rechte besteht, die der Einzelne für sich nicht ausüben konnte, niemals angewandt werden kann, die natürlichen Rechte zu verletzen, die der Einzelne für sich behielt und deren Ausübung ihm in gleichem Maße möglich ist wie das Recht selbst.70

69

Text in: von der Gablentz, a.a.O., S. 59.

70

Text in: von der Gablentz, a.a.O., S. 60.

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I. Zur Geschichte der politischen Tugenden Aufklärung

und moderner Staat

Eine der einflußreichsten amerikanischen staatstheoretischen Schriften der Revolutionszeit und des neuentstandenen Staatswesens waren die Artikeln von Alexander Hamilton (1757 -1804), James Madison (1751 - 1836) und John Jay (1745 -1829), die als Federalist Papers nach Annahme der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika von diesen drei Persönlichkeiten publiziert worden waren. 71 Die Verfasser bezeugen in diesen weitverbreiteten, in Briefform erschienenen Abhandlungen nicht nur die aufklärerischen Ideen der Beschränkung der Staatsgewalt durch die Gewaltenteilung, den Gesellschaftsvertrag und die Grundrechte, sondern sie leisten durch ihre Interpretationen der Werke von Montesquieu und Jean Jacques Rousseau auch eine unmittelbar in die staatlich-politische Praxis wirkende zeitgenössische Anwendung der heute noch gültigen Grundnormen bürgerlichsozialer Rechtsstaaten. Darüber hinaus kann man in diesen Schriften auch eine erste Verfassungslehre des Bundesstaates erblicken. 72 I m Europa des 18. Jahrhunderts setzten sich mit der Staatsordnung und der politischen Tugend die beiden bis heute über den europäischen Bereich hinaus durch ihr Denken in Politik und Staat wirkenden französischen Staatsphilosophen Charles de Montesquieu und Jean Jacques Rousseau auseinander. Charles de Montesquieu schrieb schon 1725 nach dem Vorbild Pufendorfs De officio hominis et civis unter dem Titel Traité des devoirs eine Pflichtenlehre, von der bedauerlicherweise nur noch eine Inhaltsangabe vorhanden ist. Die politischen Tugenden behandelte Montesquieu in seinem Werk De l'esprit des lois näher. Der Tugend (vertu) bedarf besonders die Demokratie, sie verlangt nach Patriotismus, der Hingabe an die Allgemeinheit, die Bereitschaft zur Selbstlosigkeit, die Einfachheit, Genügsamkeit und Gleichheit; die Aristokratie hingegen lebt vor allem aus der Mäßigung (modération); die Monarchie wieder vom Ehrgeiz, von der Ehre (honneur), die jeder 71

Vgl. dazu die Einführung und die Textausgabe, hgb. von Felix Erma cora f Der Föderalist, von Alexander Hamilton / James Madison / John Jay, Wien 1958. 72

So Ermacora, a.a.O., S. 3 und 26.

I. Zur Geschichte der politischen Tugenden seinem Rang und Stand nach sucht und die Despotie aus der Furcht (crainte). 73 Montesquieu wußte in der Politik zwischen Gut und Böse zu unterscheiden; das absolut Böse ist die Despotie, das Ideal des Guten die Freiheit, welche nicht in der Willkür, sondern in der Sicherheit durch generelle Gesetze begründet ist.74 Während Montesquieu die politischen Tugenden im Hinblick auf die jeweilige Form des Staates und sein politisches System ausgerichtet hat, ist Jean Jacques Rousseau in Auseinandersetzung sowohl mit der aristotelischen positiven Auffassung vom Menschen als ζόοη politikón als auch mit der negativen Auffassung des Menschen als Kampfgefährten im bellum omnium contra omnes bei Hobbes zu einem utopischen Menschenbild mit einer fiktiven Sozialauffassung gelangt, daß nämlich die Menschen im Urzustand weder schlecht noch gut waren und daher wéder Laster noch Tugenden hatten; die Ungleichheit Rousseaus entsteht durch das Eigentum. Am Anfang des Contrat social schreibt er: „Der Mensch ist frei geboren und überall ist er in Ketten." Später macht Rousseau nicht das Eigentum allein, sondern auch die Künste und die Wissenschaft für die Ungleichheit und den Verderb des Menschengeschlechts verantwortlich — ihnen stellt er die einfache republikanische Tugend entgegen und vertu und vérité sind seine Kampfrufe, ohne eine ausführliche politische Tugendlehre für seine plebiszitäre Form der Demokratie zu entwerfen. Sein Demokratismus hat bekanntlich später zu einem Totalitarismus geführt, der über die Jakobinerherrschaft in der französischen Revolution sich überall dort bis in die Gegenwart herein fortsetzt, wo Rousseaus Demokratismus nicht in eine Symbiose mit dem Liberalismus geführt hat und seine Lehre von der Demokratie, die er nur für einen Kleinstaat von der Größe Korsikas für vollziehbar erachtet hat, 75 auf den Großflächenstaat der Gegenwart mit seiner pluralen Massengesellschaft angewendet wird. Auf diese Weise führt die Lehre Rousseaus von der Demokratie, die er in der Identität von Herrscher und Beherrschten begründet wähnte, nicht zu 73 74 75

Charles de Montesquieu, De l'esprit des lois I I I , 2 - 1 1 . Montesquieu , X I , 3. Jean Jacques Rousseau, Contrat social, I I , X.

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I. Zur Geschichte der politischen Tugenden

mehr Freiheit, sondern zu mehr Unfreiheit, da die volonté générale neben sich keinen Einzelwillen verträgt. 76 Die politische Tugend bei Hegel Für ein Aufgehen des Einzelmenschen in der Volksgemeinschaft ist später auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel eingetreten. Die Eingliederung in die Gemeinschaft ist für ihn die Befreiung des Menschen, denn für ihn ist „die höchste Gemeinschaft die höchste Freiheit". 77 Hegel kennt kein die Gemeinschaft und damit den Staat beschränkendes Naturrecht oder eine ihn begrenzende Moral. „Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee"; 73 für Hegel ist der Staat nicht um der Bürger willen da. „Der Mensch soll organisches Glied oder Moment des Staates werden, um so zu der ihm möglichen Vernunft zu gelangen."79 Die politische Tugend des Einzelnen bestünde daher nach Hegel in der bloßen Einordnung seiner Person in den Staat; das Individuelle hat nach Hegel angesichts des Staates keine Daseinsberechtigung; denn nach Hegel besteht die größte Freiheit, wenn jeder seinem individuellen Willen in seiner Besonderheit entsagt.80 Mit Rousseau und Hegel beginnt eine Entwicklung Platz zu greifen, in welcher der ethische Bezug des Sozialen immer mehr verlorengeht. Karl Bergbohm erklärt später, daß es keine allgemeinen ethischen Grundsätze gibt, da jede Ethik zeit- und gesellschaftsbedingt ist;81 die Ethik wird relativiert und historisiert; ein Weg, den besonders Karl Marx gewiesen hat. Karl Marx suchte nämlich die wirtschaftliche Bedingtheit der Moral herauszustellen; für ihn verwandelt das Geld die menschlichen Verhältnisse in das Gegenteil: 76

Siehe Winfried Martini, Das Ende aller Sicherheit — eine Kritik des Westens, Stuttgart 1955, bes. S. 29 ff. und S. 38 ff. sowie Herbert Schambeck, Entwicklungstendenzen der Demokratie, in: Festschrift zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, hgb. von Dieter Wilke, Berlin - New York 1984, S. 641 ff. 77 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Rechtsphilosophie, § 260. 78 Hegel, a.a.O., §257. 79 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, S. 112. 80 Hegel, Vernunft, S. 142 f. 81 Karl Bergbohm, Iurisprudenz und Rechtsphilosophie, Leipzig 1892, S. 175, 425, 455.

I. Zur Geschichte der politischen Tugenden „Es verwandelt die Treue in Untreue, die Liebe in Haß, den Haß in Liebe, die Tugend in Laster, die Laster in Tugend, den Knecht in den Herrn, den Herrn in den Knecht."82 Die Ethik bei Marx, Engels und Lenin So geht die Ethik auf dem Weg der sogenannten Befreiung des Menschen verloren; wie meint doch Karl Marx: „Der Mensch wurde daher nicht von der Religion befreit, er erhielt die Religionsfreiheit. Er wurde nicht vom Eigentum befreit. Er erhielt die Freiheit des Eigentums. Er wurde nicht von dem Egoismus des Gewerbes befreit, er erhielt die Gewerbefreiheit." 83 Es ist die Freiheit wovon und nicht die Freiheit wozu. Die Tugend wurde auf diesem Weg anscheinend ein zurückbleibendes Relikt. In bezug auf die Ethik hat der Marxismus in der Folge allgemeingültige Prinzipien abgelehnt und jedes ethische Normensystem auf die wirtschaftliche Basis der jeweiligen Gesellschaft zurückzuführen gesucht. Friedrich Engels schrieb: „Wir weisen . . . eine jede Zumutung zurück, uns irgendwelche Moraldogmatik als ewiges, endgültiges, fernerhin unwandelbares Sittengesetz aufzudrängen, unter dem Vorwand, auch die moralische Welt habe ihre bleibenden Prinzipien, die über der Geschichte und den Völkerverschiedenheiten stehen. Wir behaupten dagegen, alle bisherige Moraltheorie sei das Erzeugnis, in letzter Instanz, der jedesmaligen ökonomischen Gesellschaftslagen." 84 Für Engels hat jede der drei Klassen der Gesellschaft, nämlich die Feudalaristokratie, die Bourgeoisie und das Proletariat, eine eigene Klassen-Moral, woraus er schließt: „Daß die Menschen, bewußt oder unbewußt, ihre sittliche Anschauung in letzter Instanz aus den praktischen Verhältnissen schöpfen, in denen ihre Klassengesellschaft begründet ist, aus den ökonomischen Verhältnissen, in 82 Karl Marx, Nationalökonomie und Philosophie (1844), in: Karl Marx, Die Frühschriften, hgb. von Siegfried Landshut, Stuttgart 1968, S.301. 83 Karl Marx, Zur Judenfrage, in: Karl Marx, Die Frühschriften, S. 198. 84

Friedrich Engels, Anti-Dühring, in: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, hgb. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Z K der SED, Bd. 20, Leipzig, 1962, S. 87 f.

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I. Zur Geschichte der politischen Tugenden

denen sie produzieren und austauschen".85 Im Marxismus wurde daher die Ethik soziologisiert und ökonomisiert, d.h., sie wurde aus der Sphäre der Gewissensentscheidung des Einzelnen und seiner individuellen Verantwortung in den Bereich der gesellschaftlichen Entwicklung übertragen. Die Ethik wurde daher nicht allgemeingültig aufgefaßt, sondern zeitbedingt gesehen, ihre Grundlage war nicht ideell, sondern materiell. Friedrich Engels lehrte: Freiheit ist die Kenntnis der ökonomischen Gesetzmäßigkeit,86 nach dem er formuliert hat: „Freiheit des Willens heißt daher nichts anderes als die Fähigkeit, mit Sachkenntnis entscheiden zu können . . . Freiheit besteht also in der auf die Erkenntnis der Naturnotwendigkeiten gegründeten Herrschaft über uns selbst und über die äußere Natur; sie ist damit notwendig ein Produkt der geschichtlichen Entwicklung." 87 Der Einzelne gewinnt seine Freiheit im marxistischen Sinn im Sinne seiner Verbindung mit der Gesellschaft zur Durchsetzung der objektiven Entwicklungsgesetze. M In dieser Sicht ist eine Freiheit des Einzelmenschen unmöglich, denn gesellschaftliche Notwendigkeit und individuelle Freiheit fallen auseinander. Beide werden in der Sicht des Marxismus überbrückt und verbunden durch das herzustellende und jeweils aufrechtzuerhaltende gesellschaftliche Bewußtsein, um das sich der Einzelne bemühen muß. Dem Menschen bleibt in dieser Welt- und Freiheitsdeutung nur mehr das Zurkenntnisnehmen der Notwendigkeiten des Geschichtsverlaufes und der Gesellschaftsentwicklung ,89 Der Einzelne ist nur mehr frei im Sinne eines Zustimmenkönnens. Heinz Robert Schiette hat es deutlich ausgedrückt: „Je mehr er den Gang der Geschichte erkennt und ihm zugleich auch handelnd zustimmt, um so mehr erlangt er seine Freiheit." 90 85 86 87 88 89

Engels, Engels, Engels, Rainer

a.a.O., S. 87. a.a.O., S. 106. a.a.O. A rit, Freiheit und Recht, Staat und Recht 1961, S. 797 f.

Siehe dazu auch Herbert Schambeck, Von der Last der Freiheit im Recht und Staat des Westens und des Ostens, in: Die Freiheit des Westens, hgb. von Otto B. Roegele, Graz 1967, S. 483 ff. und Urs Peter Ramser, Das Bild des Menschen im neuern Staatsrecht (Die Antinomie des Westens und des Ostens) Winterthur 1958. 90 Heinz Robert Schiette, Sowjethumanismus, München 1960, S. 54.

I. Zur Geschichte der politischen Tugenden Auf diesem Hintergrund des Marxismus ist auch der Begriff des Rechts zu verstehen, den Andrej Januarjevitsch Wyschinski formulierte: „Das Recht ist die Gesamtheit der Veihaltensregeln, die den Willen der herrschenden Klasse ausdrücken und auf gesetzgeberischem Wege festgelegt sind, sowie der Gebräuche un'd Regeln des Gemeinschaftslebens, die von der Staatsgewalt sanktioniert sind. Die Anwendung dieser Regeln wird durch die Zwangsgewalt des Staates gewährleistet, zwecks Sicherung, Festigung und Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse und Zustände, die der herrschenden Klasse genehm und vorteilhaft sind." 91 Das Recht des Staates wird damit zum Mittel des Klassenkampfes. Bereits Wladimir Iljitsch Lenin erklärte, daß einzig und allein „von den Interessen des proletarischen Klassenkampfes" die kommunistische Sittlichkeit abgeleitet wird und immer diesen Interessen untergeordnet ist. 92 „An eine ewige Sittlichkeit glauben wir nicht . . . Die Sittlichkeit ist dazu da, die menschliche Gesellschaft emporzuheben und sie von der Ausbeutung der Arbeit zu befreien." 93 Die Gesinnungsethik Immanuel Kants, einer auf apriorischen Prinzipien und auf Pflichtbewußtsein beruhenden persönlichen Entscheidung des Einzelmenschen wird von einer Ethik ersetzt, die auf Klasseneinstellungen beruht und auf ökonomische Erfordernisse abgestellt ist Engels hat es so formuliert, daß für ihn jedes Mittel gut sei, das zur Revolution führt, 94 ebenso wie jede Taktik. 95

Ethik und Neue Linke Diese Vorstellungen des Marxismus sind teils auch in der Begriffskonsequenz fortgesetzt worden, teils sind sie nicht wirkungslos im Verbalismus der sogenannten „Neuen Linken" neugeformt worden. In einer kritischen Untersuchung über die „Neue Linke" und ihre 91

Andrej Januar jevitsch Wyschinski, Fragen des Rechts und des Staates bei Marx, in: Sowjetische Beiträge zur Staats- und Rechtstheorie, Berlin 1953, S. 76. 92 Wladimir Iljitsch Lenin, Werke, 31, S. 281. 93 Lenin, a.a.O., S. 284. 94 Marx-Engels-Werke, Bd. 37, S. 327. 95 Marx-Engels-Werke, Bd. 39, S. 46.

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I. Zur Geschichte der politischen Tugenden

Dogmen hat Èie Erwin Scheuch als „die Wiedertäufer der Wohlstandsgesellschaft" bezeichnet; „mit dem Titel ,Die Wiedertäufer der Wohlstandsgesellschaft' sollte die böse historische Kontinuität der Vergewaltigung des Mitmenschen als Gesinnung ausgesprochen werden".96 Basierend auf QuaSinaturrechtslehren von Herbert Marcuse , Ernst Bloch, Theodor W. Adorno und Max Horkheimer 97 haben sie neue Begriffe für alte marxistische Vorstellungen formuliert, die Ludwig Reichhold aufgedeckt hat: „Der Begriff der Konsumgesellschaft als Ersatóbegriff für die kapitalistische Klassengesellschaft; der Begriff der antiautoritären Strukturen als Ersatzbegriff für die klassenlose Gesellschaft; schließlich der Begriff der außerparlamentarischen Opposition als Ersatzbegriff für die anarchistische Revolutionsidee. Der Bogen ihrer Begriffswelt spannt sich also vom Anarchismus bis zum Marxismus." 98 Dieser Verbalismus ist intellektuell bedingt und real unbelegt. Otto B. Roegele hat diesem Umstand seine „kleine Anatomie politischer Schlagworte" gewidmet und darin festgestellt: „Daß die öffentliche Diskussion sich zwischen Wogen stürmischer Erregung über wechselnde Themen und Intervallen ebenso unerklärlicher Apathie bewegt, hat vor allem zur Folge, daß kein Problem wirklich ausdiskutiert, gründlich erörtert und auf die Chance einer — möglichst allgemein akzeptablen — Lösung hin geprüft werden kann. Die Verlaufskurve der Debatte ähnelt dem, was die Mediziner eine septische Fieberkurve nennen mit hohen steilen Zacken und plötzlichen tiefen Abbrüchen. Für den Zustand eines Kranken ist das ein böses Zeichen."99

96 Die Wiedertäufer der Wohlstandsgesellschaft, eine kritische Unterstützung der „Neuen Linken" und ihrer Dogmen, hgb. von Erwin K. Scheuch, Köln 1968, S, 11. 97 Über die Naturrechtslehren der Neuen Linken siehe Alfred Verdroß, Statisches und dynamisches Naturrecht, Freiburg 1971, S. 49 ff. 98 Ludwig Reichhold, Abschied von der proletarischen Revolution, das Ende eines revolutionären Mythos, Frankfurt am Main 1972, S.250. 99 Otto B. Roegele, Kleine Anatomie politischer Schlagworte, Osnabrück 1972, S.8.

I. Zur Geschichte der politischen Tugenden Abschied von der Tugend? Wohin dieser Weg führen kann, hat wohl Paul Valéry in seiner Rede über die Tugend vor der französischen Akademie schon vor Jahren besonders aufgehellt, als er erklärte: „Tugend, meine Herren, das Wort Tugend ist tot oder mindestens stirbt es aus . . . Den Geistern von heute bietet es sich nicht mehr als unmittelbarer Ausdrude einer vorgestellten Wirklichkeit unserer Gegenwart dar . . . Ich selber muß gestehen: ich habe es nie gehört, oder vielmehr — was viel schwerer wiegt — ich habe es immer nur mit dem Vorzeichen der Seltenheit und in ironischem Sinne erwähnen hören in den Gesprächen, die man in der Gesellschaft führt. Das könnte bedeuten, daß ich eben nur in schlechter Gesellschaft verkehre, setzte ich nicht hinzu, daß ich mich auch nicht erinnere, es in den meistgelesenen oder sogar höchstgeschätzten Büchern unserer Tage angetroffen zu halben. Endlich ist mir auch keine Zeitung bekannt, die es druckt, noch fürchte ich, es außer in komischer Absicht zu drucken wagte." 100 Valéry meint, so ist es dahin gekommen, daß das Wort „Tugend" und „tugendhaft" nur noch im Katechismus, in der Posse, in der Akademie und in der Operette anzutreffen ist. Der katholische Philosoph Josef Pieper bezeichnete diese Diagnose von Paul Valéry als „ganz unbestreitbar richtig"101 und erkannte damit eine Zeitsituation, welche der protestantische Theologe Walter Künneth in seinem Werk über die christliche Ethik des Politischen treffend als „Politik zwischen Dämon und Gott" 102 bezeichnet hat.

100 Europäische Revue, Bd. 11, 1935, S. 657 ff. und Oeuvres, Bd. 1, Paris 1957, S. 937 ff. 101 Josef Pieper, Uber das christliche Menschenbild, 7. Aufl., München 1964, S. 18. 102 Walter Künneth, Politik zwischen Dämon und Gott, eine christliche Ethik des Politischen, Berlin 1954. 4 Schambeck

I I . Zur Trennung von Ethik und Staat Der Verlust der Tugend im öffentlichen Leben und der damit verbundene Mangel an Bezug der Ethik zum Staat ist zwar im 20. Jahrhundert, besonders in Staaten mit autoritären und totalitären Regimen deutlich geworden, und viele Ideologien haben zu diesem mangelnden Wertdenken beigetragen. Die Tendenzen dieser Entwicklung reichen aber weiter zurück. Sie haben schon in der Neuzeit begonnen, als allmählich die von Plato und Aristoteles geprägte Staatsauffassung, später verbunden mit dem Christentum, die den Staat als eine Einrichtung angesehen hat, welche der menschlichen Tugend die Möglichkeit ihrer Verwirklichung bieten könnte, immer mehr zurücktrat und das Menschenbild negativ gesehen wurde. So wertete z. B. Thomas Hobbes den Menschen negativ, sah ihn in einem homo-homini-lupus-Zustand befindlich und einem bellum omnium contra comnes verwickelt an. Geradezu symbolhaft zeigt sich der Wandel der Staatsauffassung in dem Wandel des Staatssymbols, es wird nämlich der Staat von Thomas Hobbes in dem gleichnamigen (1651 erschienenen) Werk als biblisches Seeungeheuer Leviathan dargestellt, nämlich als einen aus zahlreichen bewaffneten Männern zusammengesetzten Riesen, der in seiner Rechten das Schwert und in seiner Linken den Bischofsstab hält; er ist sowohl für die weltlichen als auch für die religiösen Fragen zuständig. Dieser Staat kontrolliert auch die Meinungen seiner Bürger. Der Einfluß der französischen Revolution Zu einer konsequenten Trennung des Staates von den menschlichen Tugenden ist es durch die Französische Revolution 1789 und durch die folgende Entwicklung gekommen. Nicht, daß diese Zeit nicht von Tugenden und Ethik gesprochen hätte, sie hat sie aber alle verideologisiert. So hatte Maximiiien de Robbespierre am 5. Februar 1794 im Konvent über die Prinzipien der politischen Moral erklärt: „Wir wollen eine Ordnung der Dinge, in der alle niedrigen und grausamen Leidenschaften in Ketten liegen, in der alle wohltätigen und groß-

II. Zur Trennung von Ethik und Staat

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mütigen Leidenschaften durch die Gesetze erweckt werden, wo der Ehrgeiz besteht in dem Verlangen, den Ruhm zu verdienen und dem Vaterland zu dienen, wo sich die Unterscheidungen nur ergeben aus der Gleichheit selber, wo der Bürger der Behörde, die Behörde dem Volk und das Volk der Gerechtigkeit unterworfen ist. . . . Wir wollen in unserem Land an Stelle des Egoismus die Moral setzen, an Stelle der Ehre die Rechtschaffenheit, an Stelle der Gewohnheiten die Grundsätze, an Stelle der Willkür die Pflichten, an Stelle der Tyrannei der Mode das Reich der Vernunft, an Stelle der Verachtung des Unglücks die Verachtung des Lasters, an Stelle des Hochmuts den Stolz, an Stelle der Eitelkeit die Seelengröße, an Stelle der Geldgier die Liebe zum Ruhm, an Stelle der guten Freunde die guten Menschen, an Stelle der Intrige das Verdienst, an Stelle der Geistreichigkeit den wahren Geist, an Stelle des Aufsehens die Wahrheit, an Stelle der Langeweile der Lüste die Heiterkeit des Glücks, an Stelle der Kleinheit der Großen die Größe des Menschen, ein großmütiges, mächtiges, glückliches Volk an Stelle eines liebenswürdigen, frivolen und erbärmlichen, d. h. alle Tugenden und alle Würden der Republik an Stelle der Laster und Lächerlichkeiten der Monarchie." 1 Unter Berufung auf die „volonté générale", die als wahrer Volkswille angesehen wurde, errichtete man eine kompromißlose Diktatur voller Intoleranz, die das ausführte, was Robbespierre bereits am 25. Februar 1793 angekündigt hatte. „Ich habe inmitten von Verfolgungen und ohne Beistand behauptet, daß das Volk niemals Unrecht hat; ich habe diese Wahrheit zu einer Zeit zu verkünden gewagt, als sie noch nicht erkannt war." 2 Als zu dieser verideologisierten Quasi-Tugendlehre noch die sogenannte Demokratisierung aller drei Staatsfunktionen trat und die Volksgunst für die Ausübung der gesamten Staatsgewalt bestimmend wurde, war die jakobinische Demokratie entstanden, welche jede gegenseitige Kontrolle im Staat und schließlich die Freiheit des Einzelnen beseitigte.3 1

Maximilien de Robbespierre, Textes Choisis, Rome I I , I I I , I V , hgb. von Jean Poperen, Les Classiques du Peuple, Paris 1958, deutscher Text in: Otto Heinrich von der Gablentz, Die politischen Theorien seit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, 2. Aufl., Könl und Opladen 1963, S. 77 f. 2 Zitiert nach Alphonse Aulard, Politische Geschichte der Französischen Revolution, München und Leipzig 1924, S. 720. 3 Siehe dazu Martini, a.a.O., S. 42 ff.

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II. Zur Trennung von Ethik und Staat Der Rechtsstaat als bloßer Rechtswegestaat

Die Forderungen der Französischen Revolution nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit erwiesen sich als eine Säkularisation christlichen Gedankengutes, zu der später der Einfluß des Positivismus trat, welcher der Rechtsform den Vorrang vor dem Rechtsinhalt einräumte, die Folge war der Rechtswegestaat 4 Dieser Staatstyp ist imstande, die normativrechtliche Grundlage für jeden Staatszweck zu bieten. Am deutlichsten hat sich dies in der Reinen Rechtslehre von Hans Kelsen5 dokumentiert; von dieser erklärte Adolf Merkl, der ursprünglich mit seiner Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung der Reinen Rechtslehre Hans Kelsens ein dynamisches Element gegeben hat, später zum 80. Geburtstag von Hans Kelsen in seinem Festschriftsbeitrag über „Reine Rechtslehre und Moralordnung": „Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man meinen, daß die Beschränkung des Staates auf das Recht eine typisch liberale Schrankenziehung für den Staat sei — und vielleicht hat dies sogar Kelsen selbst gemeint. Man muß aber, um zu einem endgültigen Urteil zu gelangen, überlegen, in welchem Sinn Kelsen den Staat auf das Recht beschränken will. Dabei stellt sich heraus, daß Kelsen den Staat keineswegs auf einen bestimmten Inhalt, sondern auf eine bestimmte Form des Handelns beschränken will. Wenn die,Reine Rechtslehre4 sagt, der Staat könne nur rechtlich handeln — oder, was auf dasselbe hinausläuft, er sei eine reine Rechtserscheiming — so soll damit nicht behauptet werden, er soll oder könne nur dem Rechtszweck dienen, er könne okier solle nur als Polizist öder Exekutor auftreten, sondern er könne, was immer er nur unternimmt, nur in der Form, auf dem Wege Rechtens handeln: Das bedeutet keine sachliche, sondern bloß eine formelle Beschränkung des Staates, eine Beschränkung auf eine bestimmte Handlungsform, die aber der sachlichen Leistungsmöglichkeit überhaupt keine Schranken zieht, also überhaupt nicht das, was man sich bisher unter liberaler Einstellung zum Staate vorgestellt 4 Adolf Merkl, Reine Rechtslehre und Moralordnung, österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, N. F. Bd. X I , Wien 1961, S. 303. 5 Beachte Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, Leipzig und Wien 1934, 2. Aufl. mit einem Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit, Wien 1960, Neudruck 1967; derselbe, Was ist die Reine Rechtslehre?, in: Demokratie und Rechtsstaat, Festgabe zum 60. Geburtstag von Zaccaria Giacometti, Zürich 1953, S. 143 ff.

II. Zur Trennung von Ethik und Staat hat. Gerade nach Kelsen ist das Recht taugliche Form für alle erdenklichen Zwecke, für den Kriegszweck nicht weniger als für irgendeinen Friedenszweck, für die Polizei nicht weniger als für die Justiz, für den Kultur- und Machtzweck nicht weniger als für den Zweck der Ordnungsbewahrung. Die Erkenntnis der inhaltlichen Neutralität des Rechtes als taugliches Mittel für jeden denkbaren sozialen Zweck stellt die unpolitische Natur der Reinen Rechtslehre außer Zweifel — welche politische Überzeugung immerhin ihr Schöpfer haben mag. Anders ausgedrückt: Der Rechtstheoretiker Kelsen gibt allen Rechtsinhalten und damit allen politischen Wertlehren Raum, mag auch der Rechtspolitiker Kelsen liberal gesinnt sein."6 Diesen Rechtswegestaat als normativrechtliches Produkt des Rechtspositivismus haben alle politischen Systeme, gleichgültig von welcher Ideologie sie geprägt waren, zu ihren Zwecken genutzt. Zurückblickend muß festgestellt werden, daß diese Formen des Rechtswegestaates auch gegen die Freiheit und Würde des Menschen mißbraucht wurden. So wurden ζ. B. während des NS-Regimes die Grundrechte als ein Aufstand des Egoismus gegen die Volksgemeinschaft angesehen.7 Die Ohnmacht des Rechtswegestaates Die Trennung von Rechtssatzform und Rechtssatzinhalt war bestimmend für das Schicksal des Rechtsstaates geworden. Werner Kägi hat es so ausgedrückt: „Das Rechtsstaatsideal ist der Formalisierung, Technisierung und Relativierung verfallen. Man hat geglaubt, dem Ideal in der Formalisierung die Allgemeingültigkeit zu geben. Das Abstrahieren von den materialen Gehalten war in dieser Sicht gleichbedeutend mit Steigerung der Objektivität. Man versuchte, die Rechtsstaatsidee von der sie tragenden Metaphysik, vom zugehörigen Menschenbild und Ethos zu lösen. Das machtvoll nachwirkende, geschichtliche Vorurteil zugunsten der Form (Nicolai Hartmann)8 ist eines der Motive. Die Form — die ,reine Form' — erscheint als das Klare, Bestimmte, Faßbare, Objektive; der Inhalt dagegen als das Unklare, Unbestimmte, Nichtfaßbare, Subjektive. « Merkl, a.a.O., S. 297 f. Siehe dazu Merkl, Idee und Gestalt der politischen Freiheit, in: Demokratie und Rechtsstaat, S. 186 ff. * Nicolai Hartmann, Ethik, 4. Aufl., Berlin 1962, S. 97 ff. 7

II. Zur Trennung von Ethik und Staat

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Das »Inhaltliche' ist zudem das Zeitgebundene und Standortgebundene; die Formalisierung aber soll die Rechtsstaatsidee befreien von allen jenen subjektiven Elementen, von allem was sich einer kritischen Betrachtung als bloße Objektivation des bürgerlichen oder ,bourgeoisen4 Geistes erweist. Es ist durchaus folgerichtig, wenn am Ende dieses Weges die »Erkenntnis1 steht, daß jeder Staat ein Rechtsstaat' ist.9 Diese Formalisierung und Relativierung der Rechtsstaatsidee hat ihr die Kraft geraübt. Die Loslösung der Form von allem Inhaltlichen, von den Grundwerten des Rechtsstaates, war ein Losreißen vom Lebensstrom. Der Rechtsstaat wird aus einer Ordnungsidee zur bloßen Technik. Diese Entleerung aber führte zur Ohnmacht des Rechtsstaates gegenüber der Demokratie. Die ,bloße Form 4 wird jedem Willen gefügig 44 . 10 Hans Kelsen selbst hat den Formalisierungseffekt seiner Reinen Rechtslehre erkannt, ihn aber für notwendig erachtet: „Daß aber ein System von Begriffen, so wie sie von der Reinen Rechtslehre bestimmt werden, einen relativ formalen Begriff haben muß, versteht sich für jeden, dem die Prinzipien der Logik und Methodenlehre nicht ganz fremd sind, von selbst. Denn durch die Begriffe einer allgemeinen Rechtslehre soll ja die ungeheure Fülle des positiven Rechtsmaterials erkenntnismäßig gemeistert werden. Wie jede Erkenntnis muß auch die Rechtsericenntnis ihren Gegenstand formalisieren. Diesen Formalismus kann ihr niemand zum Vorwurf machen. Denn gerade in diesem Formalismus liegt dasjenige, was man als Tugend dem als Laster verpönten Formalismus entgegenhält: liegt ihre Sachlichkeit.4411 Diese Sachlichkeit als Folge der Formalisierung des Rechtsstaates war für jedes politische System auf den normativen Wegen des Rechtsstaates verwendbar. „Als allgemeine Rechtslehre aber unterscheidet die Reine Rechtslehre an den Phänomenen des positiven Rechts Form und Inhalt, scheidet sie die Rechtsformbegriffe, die sich 9

Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1925, S. 90 ff.; Reine Rechtslehre, S. 115 ff., 126 ff. 10 Werner Kägi, Rechtsstaat und Demokratie, in: Demokratie und Rechtsstaat, S. 132 f. 11 Kelsen, Was ist die Reine Rechtslehre?, S. 160.

II. Zur Trennung von Ethik und Staat schlechthin an jeder Rechtsordnung bewähren, von den Rechtsinhaltsbegriffen, die durch eine vergleichende Betrachtung der historischen Rechtsordnungen gewonnen werden und eine Typisierung der Rechtsinhalte darstellen." 12 Kelsen scheint die Möglichkeit des Mißbrauches des Rechts zu machtpolitischen Zwecken wahrgenommen zu haben, konnte ihr aber mit dem System seiner Lehre nicht begegnen. So erklärte er auch abschließend in seiner Abhandlung „Was ist die Reine Rechtslehre?": „Wenn die Reine Rechtslehre trotz aller Widerstände es ablehnt, als ein Mittel im Kampf um die Macht irgendeiner Macht zu dienen, so in der Überzeugung, daß in dem ewigen Kampf der Macht gegen den Geist dieser zwar vorübergehend Niederlagen erleiden kann, bei denen auch die Wissenschaft zum Gefangenen des vorläufigen Siegers wird; daß aber — wie die Geschichte lehrt — der Sieg der Macht über den Geist niemals ein endgültiger ist, und daß der Geist, je mehr er vergewaltigt wird, desto gewaltigeren Widerstand leistet, bis er wieder erringt, was allem seinem innersten Wesen entspricht: die Freiheit." 13 Diese Freiheit kann mit dem Instrumentarium des Rechtsstaates verbunden werden, muß es aber nicht. Dort wo dies der Fall war, sind Demokratismus und Liberalismus eine Symbiose eingegangen, die zum demokratischen Rechtsstaat, dem Gesetzesstaat, geführt hat. 14 Der liberal-demokratische

Rechtsstaat

Die Kennzeichen dieses demokratischen Rechtsstaates sind vor allem das demokratische Wahlrecht, eine parlamentarische Staatswillensbildung, die Grundrechte, die Verfassungsbindung der Gesetzgebung und die Gesetzesbindung der Vollziehung, die Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit der Justiz, eine Justizmäßigkeit der Verwaltung, die Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit und die Amtshaftung. 12

Kelsen, a.a.O., S. 159. Kelsen, a.a.O., S. 162. 14 Siehe Merkl, Idee und Gestalt der politischen Freiheit, in: Demokratie und Rechtsstaat, S. 163 ff. und Herbert Schambeck, Vom Sinnwandel des Rechtsstaates, Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft e. V. Berlin, Heft 38, Berlin 1970, bes. S. 17 ff. 13

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II. Zur Trennung von Ethik und Staat

Der liberale Einfluß auf die Gestaltung des Rechtsstaates im Zeitalter der Demokratie hat stets zur Verhinderung der Jakobinisierung des demokratischen Rechtsstaates beizutragen vermocht; es war durch eine nuancierte Demokratisierung ein Gleichgewicht der Kräfte und eine gegenseitige Kontrolle ebenso möglich wie durch die Grundrechte ein Schutz der Stellung des Einzelnen im Staat. In ihnen drückt sich eine bestimmte Form des Vorbehaltes gegenüber dem Staat aus. Theo Mayer-Maly meinte dazu: „Die eben angesprochene Reserve gegenüber dem Staat kennzeichnet die Bedeutung des liberalen Gedankens für das öffentliche Recht. Das Prinzip der Gewaltentrennung, die rechtsstaatlichen Maximen und die Grundrechtsverbürgung sind Ausdruck dieser Reserve. Alle diese Verfassungsstrukturen mögen auch auf dem Boden anderer Konzeptionen begegnen und als rechtstechnisches Instrument mehr oder weniger gute Dienste leisten, ihr voller Sinngehalt erschließt sich nur auf der Grundlage einer Entscheidung für den liberalen Gedanken."15 Mayer-Maly deutet auch die Weite des liberalen Gedankens an: „Der funktionale Zusammenhang zwischen der staatsbegrenzenden Tendenz der liberalen Lehre vom öffentlichen Recht und dem freiheitlich-individualistischen Entwurf des Privatrechts ist notorisch . . . I m Zentrum dieser Wertung steht ein Bild vom Menschen — der Mensch, in dem die Ordnung angelegt ist. Es mag uns dieses Bild zu optimistisch, ja als zu illusionär erscheinen; aber wohin ein Recht gelangen muß, das vom Menschen weniger voraussetzt, gibt zu denken."16 Das Bild des Menschen und das System des Rechtsstaates stehen so gesehen in einem engen Zusammenhang. Diese Möglichkeiten und Grenzen des Rechtsstaates verdeutlicht wohl am klarsten Gustav Radbruch, der noch 1932 in der 3. Auflage seiner Rechtsphilosophie schrieb: „Wer Recht durchzusetzen vermag, beweist damit, daß er Recht zu setzen berufen ist", 17 1945 aber feststellte: „Es kann Gesetze mit einem solchen Maße von Ungerechtigkeit und Gemeinschädlich15

Theo Mayer-Maly, Der liberale Gedanke und das Recht, in: Festschrift für Adolf J. Merkl zum 80. Geburtstag, hgb. von Max Imboden u. a., Salzburg - München 1970, S.248. 16 Mayer-Maly, a.a.O., S. 250. 17

Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 3. Aufl., Leipzig 1932, S. 81.

II. Zur Trennung von Ethik und Staat keit geben, daß ihnen die Geltung, ja der Rechtscharakter abgesprochen werden muß." 18 In dieser Sicht führt die Frage nach den Bedingungen des Rechtsstaates auch zu den Grundlagen des Rechts und seiner Geltung; sie läßt auch die Erziehungsfunktion des Rechtes und Staates erkennen, die auf eine Rechtsgesinnung aus Rechtskenntnis und Rechtsverständnis gerichtet sein sollte. Rechtsgesinnung aus Rechtskenntnis und Rechtsverständnis Jede Zeit hat den in ihr entstandenen eigenen Bezug von Staatsordnung und Gewissensentscheidung, in dem sich das Verhältnis von Recht und Sittlichkeit mitdokumentiert. Arthur Kaufmann 19 hat dem entsprechend schon festgehalten, „daß hier weder Identität noch Disparität besteht, sondern Polarität, d. h., das Verhältnis eines relativen Gegensatzes, der einen engen sachlichen Zusammenhang nicht aus-, sondern einschließt, eine Gegensätzlichkeit bei wesensmäßiger Zusammengehörigkeit . . . Sittlichkeit und Recht sind also wohl in mancher Hinsicht verschieden, aber nicht voneinander geschieden".20 Das zeigt übrigens am deutlichsten der Rechtssatz selbst, von dem Kaufmann schrieb: „Die Grundstruktur des Rechtssatzes ist nicht ein Imperativ, sondern eine Norm, der Imperativ ist nur das Mittel, um den in der Norm enthaltenen Wert zu verwirklichen. Ist das Recht aber Norm, dann kann es sich mit Legalität nicht begnügen, denn die Norm verlangt Moralität". 21 Je mehr der heutige Staat in seiner von der pluralistischen Gesellschaft mit veranlaßten Mehrzweckeverwendung immer mehr Aufgaben der Menschen übertragen bekommt und ihnen auch immer mehr Leistungen abverlangt, desto mehr sollte er auch imstande sein, den Einzelmenschen in dieser seiner Moralität, seinem Ordnungs-, nämlich Rechts- und Pflichtenbewußtsein anzusprechen ,22 Der 18

Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 5. Aufl., Stuttgart 1956, S. 336. Arthur Kaufmann, Recht und Sittlichkeit, Recht und Staat, Heft 282/283, Tübingen 1964, S. 9. 20 So ausdrücklich auch Giorgio del Vecchio, Grundlagen und Grundfragen des Rechts, Göttingen 1963, S. 57. 19

21

Kaufmann, a.a.O., S. 32 f. Beachte auch Ernst Forsthoff, Der moderne Staat und die Tugend, in: Tymbos für Wilhelm Ahlmann, 1950, S. 80 ff., Neudruck in: Politik und 22

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II. Zur Trennung von Ethik und Staat

Staat sollte in gleicher Weise dem Einzelnen Rechtskenntnis vermitteln sowie Rechtsverständnis und Rechtsgesinnung ermöglichen. Dieses verantwortliche Mitdenken des Einzelnen wird im Staat nur möglich sein, wenn er die Erfordernisse des positiven Rechts erkennen kann, d. h., nicht bloß ihre Rechtssatzformen beachtet, sondern auch ihren Rechtssatzinhalt versteht. Im Idealfall wäre die Übereinstimmung von Rechtsbefehl und Rechtsüberzeugung begrüßenswert, sie setzt bei Normsetzer und Normadressat das gleiche Ordnungsbewußtsein voraus. Dies ist zwar nicht immer möglich, sollte aber angestrebt werden. Wenn die Ethik für den Staat und den Einzelmenschen mitbestimmend sein kann, würde dazu ein wertvoller Ansatz gegeben sein, der im letzten Legalität und Humanität zu verbinden imstande wäre. Darum ist Adolf Merkl zu beachten, der meint, es bleibt „höchste Pflicht des Rechtswissenschafters, sich durch die Macht nicht bluffen zu lassen, sondern ihr den Spiegel der Moral vorzuhalten. Das ist aber auch die große Leistung der Reinen Rechtslehre im Zuge ihrer Kritik der moralisierenden Rechtswissenschaft. Die Reine Rechtslehre ist gerade in ihrem Verdammungsurteil gegen Einmengungen aus anderen normativen und explikativen Wissenschaften eine theoretische Notwendigkeit, ein Durchbruch zum Recht. Weil dieses aber als allzu menschliche Einrichtung zwischen Ethik, hgb. von Heinz-Dietrich Wendland, Darmstadt 1969, S.351: „Der gestiegenen Intensität der Verwaltungsfunktion entspricht die erhöhte Verantwortung des Staatsbürgers, die eine höhere ethische Verläßlichkeit voraussetzt . . . Allerorts haben die Anforderungen an das Individualverhalten beträchtlich erhöht werden müssen. Will man nicht den Weg des Nationalsozialismus gehen und mit drakonischen Mitteln diese Anforderungen durchsetzen, so muß man an die Redlichkeit des Staatsbürgers appellieren und ist auf seine Tugenden angewiesen. Hier liegt angesichts der vorhandenen moralischen und ethischen Verwüstungen das eigentliche Problem des Rechtsstaates und damit mündet die Überlegung in eine aktuelle Problematik der modernen Staatslehre aus. Diese Problematik gilt weniger der Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigkeit von Verfassungsnormen oder der Richtigkeit oder Verderbtheit von Theorien, sondern der Tatsache, daß ein Staat, dessen Funktionen unvermeidlich einen hohen Grad der Intensität erreichen müssen, auf die Dauer der Intensivierung des Zwanges nur durch die Intensivierung der Tugend, und zwar seiner eigenen, wie der seiner Staatsgenossen, entgehen kann. Nur der von Tugenden getragene, moderne Staat kann ein freiheitlicher Staat sein."

II. Zur Trennung von Ethik und Staat dem Versuch und der Karikatur der Gerechtigkeit schwankt, bedarf die Rechtstheorie der Ergänzung durch eine Rechtsethik".23 I n welcher Weise immer nämlich der Geltungsanspruch des jeweiligen positiven Rechts vom Einzelnen aufgenommen wird, entweder entsprechend durch Normanwendung und Normbefolgung, die zur Wirksamkeit und damit dauernder Geltung führt, oder abgelehnt durch Widerstand, der den Bestand der Geltung verhindern soll, stets ist diese jeweilige Aufnahme der Rechtsnorm durch den Einzelnen Ausdruck einer Normbeziehung. Nach den Vorstellungen des rechtsetzenden Organs, das auf das Wertdenken der Normadressaten mehr oder weniger Bezug nimmt oder nicht, kann eine Rechtsgesinnung entstehen oder nicht. Diese vom einzelnen Normadressaten dem Normauftrag entgegengebrachte Haltung ist mitbestimmend für den Bestand der Geltung; sie prägt in gleicher Weise das Schicksal der Rechtsordnung und des Einzelnen im Staat. Franz Bydlinski hat die Rechtsgesinnung als „die — relativ dauernde und relativ weitgehende — Bereitschaft von Menschen verstanden . . . , sich mit Rücksicht auf andere Menschen den Anforderungen des Rechtes entsprechend zu verhalten". Es handelt sich also um eine Eigenschaft der Rechtsgenossen vom Charakter einer Disposition. Sie deckt sich mit der subjektiv, als menschliche Tugend, verstandenen »Gerechtigkeit4, wie sie in einer der berühmtesten Gerechtigkeitsformeln dargestellt ist: Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi" (Ulpian, Digesten 1, 1, 10 pr). 24 Wie auch Wolf gang Waldstein betont hat, enthält diese Aussage kein objektives Rechtsprinzip, sondern eine menschliche Tugend, nämlich die Tugend der Gerechtigkeit: „Eine Tugend kann aber ihrem Wesen nach keine Formel sein. Sie wird entweder realisiert oder nicht realisiert. Und wenn die Tugend der Gerechtigkeit nicht realisiert wird, d.h., wenn es am Willen fehlt, jedem sein Recht zuteil werden zu lassen, dann kommt es zur Rechtsverweigerung, zur willkürlichen Machtausübung und zu all 23

Merkl, Reine Rechtslehre und Moralordnung, S. 313. Franz Bydlinski, Rechtsgesinnung als Aufgabe, in: Festschrift für Karl Larenz zum 80. Geburtstag, hgb. von Claus Wilhelm Canaris u. Uwe Diederichsen, München 1983, S. 1. 24

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II. Zur Trennung von Ethik und Staat

jenen Erscheinungen, die zu allen Zeiten in der Menschheitsgeschichte als typische Ungerechtigkeit angesehen wurden." 25 Der Zwang als Anordnung der mit der Rechtsnorm verbundenen Sanktion allein bewirkt noch lange nicht einen auf Dauer gerichteten Rechtsgehorsam, er ist dann gegeben, wenn auch die Rechtsgesinnung hinzutreten kann. Bydlinski hat besonders auch auf diese Appellfunktion des Rechts hingewiesen: „Das Funktionieren des Rechtssystems im großen und ganzen ist einerseits in der psychologischen Wirkung des angedrohten rechtlichen Zwanges, andererseits aber eben in der Rechtsgesinnung als Rechtsgenossen begründet. Wieweit der letztere Faktor wirkt, hängt gewiß weitgehend davon ab, wieweit der Inhalt der Rechtsordnung mit dem Inhalt der allgemein verbreiteten ethischen Überzeugungen übereinstimmt. Soweit es an solcher Übereinstimmung fehlt, kann die Wirkung des erstgenannten Faktors durch Androhung schärferer rechtlicher Sanktionen, ζ. B. strengere Strafen, und durch massiven Ausbau des Zwangsapparates, d. h. durch Organisation einer allgegenwärtigen Geheimpolizei mit überragender Stellung bis zu einem gewissen Grad ausgeglichen werden. 26 Langfristig und umfassend betrachtet, dürften dieser Möglichkeit aber doch deutliche Grenzen gezogen sein; ganz besonders enge offenbar (und glücklicherweise) im pluralistischen, demokratischen Rechtsstaat."27 Diese für die Wirksamkeit einer Rechtsordnung bestimmende Rechtsgesinnung wird letztlich wesentlich bestimmt von einer auf das Zusammenleben der Menschen in einer staatlichen Gemeinschaft bezogenen Ethik. Wie aktuell und notwendig dieser Bezug auf die Ethik im Rechtsleben ist, zeigte auch Karl Lorenz, der sein 1979 erschienenes Buch über „Richtiges Recht" mit dem Untertitel versehen hat „Grundzüge einer Rechtsethik",28 in dem er u. a. auf die Rechtsidee als einheitlichen Bezugspunkt der Rechtsprinzipien, das Grund25

Wolf gang Waldstein, Ist das ,Suum Cuique' eine Leerformel?, in: lus Humanitatis, Festschrift für Alfred Verdroß, hgb. von Herbert Miehsler u. a., Berlin 1980, S. 293. 26 Herbert Lionel Adolphus Hart, Der Begriff des Rechts, Frankfurt am Main 1973, S. 236 f. und 265 ff. 27 Bydlinski, a.a.O., S. 2 f. 23 Karl Lorenz, Richtiges Recht, Grundzüge einer Rechtsethik, München 1978.

II. Zur Trennung von Ethik und Staat prinzip des gegenseitigen Achtens, die Prinzipien der Individualsphäre, nämlich die Prinzipien der Selbstbestimmung und Selbstbindung im Vertrag, das Äquivalenzprinzip beim gegenseitigen Vertrag, das Vertrauensprinzip, Treu und Glauben, weiter auf Prinzipien der straf- und zivilrechtlichen Verantwortlichkeit, nämlich das Schuldprinzip im Strafrecht, 29 die Prinzipien der Schadenshaftung, die Prinzipien der Gemeinschaftssphäre, und zwar der Teilhabe, der Gleichbehandlung, der Verhältnismäßigkeit und des sozialen Ausgleichs eingeht. Diese Hinweise auf die Bedeutung der Rechtsgesinnung und der Rechtsethik gehen von einem Verständnis der Geltung aus, welche die Rechtsanwendung nicht in monologischer Gewaltanwendung im Sinne von Machtausübung erblicken, sondern in einer motivierenden Sinnbezogenheit, die das Dialoghafte der Rechtsgeltung erkennen läßt. Die Ethik ist dann mit ausschlaggebend für die Wirksamkeit als Bestand der Geltung, wenn der einzelne Normadressat von einer Gewissenhaftigkeit getragen ist. In diesem Fall hat sich das Wissen mit dem Gewissen verbunden, was das lateinische Wort conscientia besonders verdeutlicht, denn es bedeutet sowohl Mit-Wissen als auch Gewissen. Rudolf von Ihering qualifizierte das Gewissen als „praktische Funktion des Sittlichkeitsgefühls". 30

Die Aufgabe des Gesetzgebers Leider muß aber bei realistischer Einschätzung der Menschen festgestellt werden, daß nicht alle Menschen von der gleichen Gewissenhaftigkeit und von dem gleichen Sittlichkeitsbewußtsein getragen 29 Beachte dazu grundlegend Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, Heidelberg 1961, z. B., S. 129: „Bei allem Streit über den Inhalt der strafrechtlichen Schuld: dies kann vernünftigerweise nicht in Zweifel gezogen werden, daß das Schuldprinzip nur dann Sinn und Bedeutung hat, wenn Schuld material verstanden wird. Material gibt es Schuld aber nur als sittliche Schuld: als freie, selbstverantwortliche Willensentscheidung gegen eine erkannte sittliche Pflicht." 30

Rudolf Ihering, Der Zweck im Recht, I I . Bd., 2. Aufl., Leipzig 1886, S. 56; siehe auch Ernst E. Hirsch, Zur juristischen Dimension des Gewissens und der Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit des Richters, Berlin 1979 sowie Alfred Klose, Gewissen in der Politik, Ethik für Entscheidungskrise, Graz 1982.

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II. Zur Trennung von Ethik und Staat

sind. Es kommt vielmehr darauf an, daß der Gesetzgeber auf allgemein anerkannte Gebote der Sittenordnung Bezug nimmt und diese auch von den einzelnen Normadressaten anerkannt werden. Recht und Moral werden aber nicht immer deckungsgleich sein,31 oft verstößt auch der Staat gegen Gebote der Ethik, wie ζ. B. in totalitären und autoritären Regimen, welche die Grundrechte verletzen, oder einzelnen Menschen fehlt ein entsprechendes Sittlichkeitsbewußtsein und sie geraten in Grenz- und Konfliktsituationen mit der staatlichen Ordnung, wie dies ζ. B. bei Sittlichkeitsverbrechern, Anarchisten und Terroristen der Fall ist. Theo Mayer-Maly hat schon erklärt: „Verhalten nach Anforderungen des Gewissens freizugeben, ist das Recht nicht in der Lage. Täte es dies, müßte es sich selbst aufgeben, da ja nicht damit gerechnet werden kann, daß sich aus der Vielzahl der Gewissensentscheidungen der Angehörigen einer Rechtsgemeinschaft eine funktionsfähige Ordnung gewinnen ließe. Doch stoßen wir in allen Gebieten des Rechts — in Verfassung und Verwaltung, im Strafrecht, Presserecht und Arbeitsrecht — immer wieder auf Versuche, die Abhängigkeit des Menschen von seinem Gewissen mit der Bindung an objektive Normen zu vereinen... Die Rechtsordnungen der Kulturstaaten setzen nicht den vom Gewissen freien oder befreiten Menschen Nietzsches, sondern den mit seinem Gewissen ringenden Menschen Abälards, Luthers und Kants voraus. In diesem Sinne wird das Recht Zeuge des Gewissens"32. In dieser Sicht gibt es keine für jede Zeit und jeden Ort in gleicher Weise gültige Beziehung von Recht und Ethik, sondern eine von den jeweiligen politischen Umständen meist mitbestimmte Beziehung von Ordnungsvorstellungen des Staates mit dem Wertdenken der einzelnen Menschen; die Ethik und der Staat befinden sich daher in jeder Zeit in einem eigenen Spannungsverhältnis, in dem der einzelne Mensch — bewußt oder unbewußt — mit seinem Gewissen steht, das, wie Theo Mayer-Maly bemerkte, der Jurist „in einer allgemein gültigen Weise weder erweisen noch widerlegen kann. Er kann 31 Siehe dazu u. a. Theo Mayer-Maly, Recht und Moral, in: Christliche Verantwortung in der Welt der Gegenwart, Salzburg 1983, S. 49 ff. 32 Theo Mayer-Maly, Das Recht als Zeuge des Gewissens, in: Europäisches Rechtsdenken in Geschichte und Gegenwart, Festschrift für Helmut Coing, Bd. I, hgb. von Norbert Horn u. a., München 1982, S. 613 f

II. Zur Trennung von Ethik und Staat aber in einer über seine Disziplin hinaus relevanten Weise darlegen, daß viele Rechtsordnungen von der Realität des Gewissens ausgehen. Die Wirksamkeit des Gewissens gehört einer durch Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung erschließbaren Erfahrung an". 33 Wie sehr dies die Entwicklung des positiven Rechtes prägt, zeigt die Geschichte der Gewissensfreiheit, welche die Geschichte der Staaten begleitet und die Beziehung von Ethik und Staat prägt; diese Beziehung gilt es auch in unserer Zeit zu bedenken; sie führt zur Frage nach der Geltung des positiven Rechts und seinen Grenzen.

33 Mayer-Maly,

a.a.O., S. 597.

I I I . Uber Geltung und Autorität A. Die Geltung Der Begriff der Geltung ist gleich dem Rechtsbegriff vieldeutig. Er hat stets einen anderen Inhalt, je nachdem, ob es sich um die Geltung des positiven Rechtes, der Sittenordnung oder des Gewohnheitsrechtes handelt. Daraus erklärt es sich, daß der Ausdruck Geltung in der Rechtslehre, wie Alfred Verdroß hervorhebt, in einem vierfachen Sinn verstanden wird: „Darunter versteht man nämlich entweder die naturrechtliche Verbindlichkeit einer Norm oder ihre Verankerung in der Verfassung in einer bestimmten Gemeinschaft oder den Umstand, daß sie mit der Androhung der Sanktionen für den Fall ihrer Nichtbefolgung verknüpft ist oder schließlich die regelmäßige Wirksamkeit (Effektivität) einer Norm in einer bestimmten Gemeinschaft" 1. Dieser vielfache Bezug der Geltung geht darauf zurück, daß eine Rechtsnorm einerseits kein ausschließender Ausdruck des Absoluten ist und andererseits jede Geltung auf den möglichen Rechtsgehorsam abgestellt sein muß, für den die verschiedensten Gründe bestimmend sind. Die Bindung des Einzelnen an eine Ordnung kann verschieden sein. Sie kann auf den bloßen Willen des Gesetzgebers zurückgehen oder sich als Ausfluß der Sittenordnung erweisen. Aus dem Willen des Gesetzgebers ergibt sich die Geltung und unter Voraussetzung der entsprechenden Autorität die Wirksamkeit, aus der Sittenordnung die Verbindlichkeit.

1

Alfred Verdroß, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl., Wien 1963, S. 284; siehe auch Peter Badura, Die Methoden der neueren allgemeinen Staatslehre, Erlangen 1959, S. 45 f. sowie Reinhold Zippelius, Das Wesen des Rechts, 4. Aufl., München 1978, S. 33 ff. und derselbe, Rechtsphilosophie, München 1982, S. 29 ff.

Α. Die Geltung

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Geltung, positives Recht und Sittlichkeit Spricht man von Geltung, dann ist damit das Prinzip der Bindung gemeint, welches die positive Rechtsordnung ermöglicht. 2 Die Geltung ist eine Herstellungsform der Ordnung, nämlich jener Ordnung, die in einem Staat mit einer Befehls- und Zwangsgewalt für die Gesellschaft einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort einen Interessenausgleich anstrebt. Die Geltung ist das Ordnungsprinzip des positiven Rechts. Neben der Geltung als dem Ordnungsprinzip des positiven Rechts gibt es aber noch andere Ordnungsprinzipien des individuellen und sozialen Lebens, die an sich eine jeweils verschiedene Wirkkraft haben; es sei an die sittlichen Normen erinnert. Diese Normen gelten (in diesem Fall: Geltung im weitesten Sinn) jeweils in einem anderen Sinn. Während die Realität der positiv-rechtlichen Normen von ihrer Geltung (jetzt im engeren Sinn) abhängt, hängt die Realität von sittlichen Normen von ihrer Verbindlichkeit ab. Die Übereinstimmung der Normen mit dem Willen des Gesetzgebers in dem einen Fall und die Übereinstimmung mit den unter den gegebenen Umständen als sittlich Wahr Gehaltenem in dem anderen Fall bildet die Quelle der Bindekraft der jeweiligen Ordnung. Die positivrechtliche Ordnung ist in keinem anderen Sinn wirklich als in dem der Geltung und die sittliche Ordnung in dem der Verbindlichkeit. Die Norm, die sich auf Grund eines ununterbrochenen Delegationszusammenhanges auf den Willen des Gesetzgebers zurückführen läßt, hat in ihrem Ordnungsbereich ebenso einen Anspruch auf Befolgung wie die Norm, die für sittlich wahr gehalten wird, im Gewissensbereich.

2 Siehe dazu besonders Herbert Schambeck, Ordnung und Geltung, österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht 1961, N. F. Bd. X I , Heft 3 - 4 , S. 470 ff.; Heinrich Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, München und Berlin 1964, bes. S. 299 ff. und S. 438 ff.; Luis Legaz y Lacambra, Rechtsphilosophie, Neuwied am Rhein 1965, S. 965, bes. S. 243 ff.; Rupert Schreiber, Die Geltung der Rechtsnormen, Berlin - Heidelberg New York 1966; Hans Welzel, A n den Grenzen des Rechts, Die Frage nach der Rechtsgeltung, Köln und Opladen 1966; Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 2. Aufl., Berlin 1969, bes. S. 265 ff. und René Marcic, Rechtsphilosophie, Freiburg im Breisgau 1969, bes. S. 164 ff.

5 Schambeck

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III. Über Geltung und Autorität

Die Geltung ist die spezifische Existenzform des positiven Rechtes. Sie ist als Forderung an den Normadressaten nicht selbst eine Wirklichkeit, sondern vielmehr eine Norm für die Wirklichkeit. Wo letztere erstgenannter entspricht, dort liegt Wirksamkeit vor; Forderung und Bestarid des Rechtes erfüllen nämlich erst in ihrer Wechselseitigkeit die Rechtsgeltung, die in einem Zusammentreffen von Normativität und Positivität besteht. Die Rechtsnorm selbst ist kein Wert, sondern bloß auf mögliche Werte insofern bezogen, als die praktizierte Norm einen Wert schaffen kann. Die Rechtsnorm ist ein Werturteil. Jede Normvollziehung stellt demnach die Verwirklichung einer Wertung dar. Von diesen geschaffenen Werten kann dann eine besondere Ordnungskraft ausgehen, wenn Werte der Sittenordnung positiviert und konkretisiert wurden. Es sind dann die betreffenden Normen nicht bloß gültig, sondern auch verbindlich. Diese Unterscheidung in der möglichen Bindung an Normen ist deshalb zu treffen, weil die Ursachen der Geltung bisweilen andere sind als die der Verbindlichkeit. Verdroß 3 hat zwar nicht im Ausdruck eine solche Differenzierung getroffen, dafür aber die Geltungsgründe klar voneinander getrennt. 4 Es darf daher die positiv-rechtliche Geltung einer Norm nicht von ihrer Übereinstimmung mit den Prinzipien der präpositiven Ordnung abhängig gemacht werden, sondern vielmehr von ihrer Wirksamkeit. Eine Norm gilt nämlich nur dann, „wenn sie die Fähigkeit hat, motivierend zu wirken, den Willen zu bestimmen".5 Dies setzt aber wieder voraus, daß die Rechtsordnung von einer sich ständig durchsetzenden Organisation getragen ist, denn nur dieser wird es möglich sein, Unrechtstatbestände zu ahnden. Geht doch jede Gesetzesnorm auf einen Willensakt zurück, der nach Durchsetzung verlangt. Wobei es allerdings der Eigenart des Rechtssatzes entspricht, daß seine Existenz, nämlich seine Geltung, unabhängig von der Existenz des Willensaktes ist, die die Geltung hervorbrachte. Die 3

Verdroß, a.a.O. Eine Unterscheidung auch in der Bezeichnung nimmt René Marcic, Die bedingte Natur des positiven Rechts, Juristenzeitung, Tübingen 1960, S. 199, Anmerk. 4, vor. 5 Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 6. Neudruck, Darmstadt 1959, S. 333. 4

Α. Die Geltung

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Rechtsnorm besteht bekanntlich auch dann weiter, wenn der sie zeugende Willensträger nicht mehr vorhanden ist. Der Mensch wird als Punkt sich schneidender Kreise von beiden Ordnungen von der positiv-rechtlichen wie von der sittlichen Ordnung erfaßt; in dem einen Fall ist er gesetzesunterworfener Normadressat, in dem anderen Fall zur sittlichen Vervollkommnung aufgerufene Person. Er wird von beiden Normkreisen angesprochen, von den sittlichen Normen wie von den positiv-rechtlichen Normen. Der Unterschied liegt vor allem darin, daß die sittlichen Normen unabhängig vom Willen des jeweiligen Gesetzgebers auf Grund ihres Gewissensanspruches verbindlich sind, die positiv-rechtlichen Normen hingegen ausschließlich durch den Willen des Gesetzgebers in Geltung gesetzt werden. Es erhebt sich nun die zu klärende Frage: bestehen beide Normordnungen voneinander unabhängig nebeneinander oder besteht doch eine Beziehung? Die Natur der menschlichen Gemeinschaft verlangt eine Ordnung, deren Bindekraft von den individuellen Wünschen jedes einzelnen Normadressaten unabhängig ist. Es soll eine Ordnung sein, die einen Ausgleich der Interessen zwischen der gesamten Gemeinschaft und dem Einzelnen (vorwiegend im öffentlichen Recht) und zwischen den Einzelpersonen untereinander (ζ. B. im Privatrecht) anstrebt und herstellt. Im Zeitalter des formellen Rechtsstaates, d. h. des Rechtswegestaates,6 in dem der Staat oft mehr an eine bestimmte Form seines Handelns, nämlich an die in Gesetzen, als an einen bestimmten Inhalt gebunden ist, steht es dem Gesetzgeber frei, unter Entsprechung der Formvorschriften sowohl Aufgaben des Rechts- und Machtzweckes wie auch des WohlMirts- und Kulturzweckes zu erfüllen. Der Herrschaftsanspruch des positiven Rechtes wird dadurch stets „totaler", d. h. er beginnt immer mehr Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens zu reglementieren. Der Ausschließlichkeitsanspruch des positiven Rechtes ist noch zu keiner Zeit der Rechtsentwicklung so deutlich geworden wie gerade in unseren Tagen. Dieser Ausschließlichkeitsanspruch wird um so 6 Adolf Merkl, Reine Rechtslehre und Moralordnung, österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht 1961, Bd. X I , S. 303; beachte auch Herbert Schambeck, Vom Sinnwandel des Rechtsstaates, Berlin 1970, S. 20 ff. und in dieser Schrift, S. 50 ff.

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III. Über Geltung und Autorität

stärker werden, je mehr das wechselseitige Angewiesensein der Menschen aufeinander zunimmt. Der Mensch ist Grund, aber zugleich auch Mittel der Geltung. Denn eine Ordnung positiver Rechtssätze erweist sich als geltend, wenn sie den Anspruch auf Gehorsam und Durchsetzung unter Ausschluß aller anderen Ordnungssysteme erhebt. Der Anspruch auf Geltung enthält auch den Anspruch auf Befolgung, der wieder die Rechtspflicht des Normadressaten begründen soll. Die Erfüllung dieser Rechtspflicht wird vom Normadressaten ein bestimmtes Maß an Gehorsam verlangen. Das Erfordernis einheitlicher Regelung gesellschaftlicher Tatbestände, der Befehls- und Zwangscharakter der positiv-rechtlichen Norm und die Rolle des Rechtsgehorsams geben nur Aspekte der Geltung an. Es gilt deshalb, den Sinn und den Grund der Geltung aufzudecken. Die Rechtsidee Die Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Geltung ergibt sich aus der Tatsache, daß jede Ordnung auf eine ihr wesensmäßige Idee ausgerichtet ist, auch das positive Recht.7 Gustav Radbruch sieht in ihm jene Wirklichkeit, die den Sinn hat, „dem Rechts werte, der Rechtsidee zu dienen".8 Arthur Kaufmann stellte fest: „Die Rechtsidee ist das Ziel des Rechts, auf das es ausgerichtet sein muß, um als Recht zu gelten (Geltungsproblem!)" 9 . . . sie „ist verstehbar nur im Hinblick auf die zu regelnden möglichen Lebenssachverhalte (,Stoffbestimmtheit der Idee 1 ), 10 diese aber sind als rechtlich relevante Lebenssachverhalte nur verstehbar im Hinblick auf die Rechtsidee, auf allgemeine Rechtsgrundsätze (,Ideebestimmtheit des Stoffes')" . . . er betont, „daß Recht weder einzig aus Rechtsidee und Rechtsnorm (Sollen) rein deduktiv abgeleitet, noch aus vorgestellten und wirk7

Siehe Schambeck, Ordnung und Geltung, S. 472 ff. Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 8. Aufl., Stuttgart 1973, S. 119. 9 Arthur Kaufmann, Recht und Gerechtigkeit in schematischer Darstellung, in: Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, hgb. von Arthur Kaufmann und Winfried Hassemer, 3. Aufl., Heidelberg und Karlsruhe 1981, S. 284. 8

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Diesen Ausdruck hat Radbruch bei seinem ersten Ansatz zur Überwindung des Methodendualismus geprägt; siehe jetzt auch Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 94.

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liehen Lebenssachverhalten (Sein) rein induktiv konstruiert werden kann. Recht wird — es sei ausdrücklich wiederholt — aus Norm und Sachverhalt, aus Sollen und Sein." 11 Die Rechtsidee 12 wirkt aber nicht direkt, unmittelbar auf den Normadressaten, sondern mittels der Rechtssätze, in denen es dem Gesetzgeber obliegt, ihr nach Möglichkeit zu entsprechen, sie wird nie Realität, sondern bleibt Idealität und ist der ideelle Grund der Rechtsordnung. Sie ist als Teil der präpositiven Ordnung möglicher Sinn und Ziel des positiven Rechtes. Dies soll aber nicht heißen, die Rechtsidee hätte ausschließlichen Einfluß auf die Rechtsetzung, oft spielen Faktoren in der Gesetzgebung mit, die der bloßen Machtsicherung dienen und keinen sittlichen Gehalt haben. Auf diese Umstände geht es zurück, daß die Rechtsordnung bald als Friedensordnung und bald als Machtordnung erscheint. Wenn diese Momente oft auch dadurch ausschließlich Bedeutung gewinnen, daß sie abwechselnd alleiniger Inhalt von Theorien über das Wesen des Rechtes werden, im Grunde sind sie ja doch nur ein Ausschnitt aus der Vielfalt der Wesenszüge des positiven Rechtes. Aus der Rechtsidee lassen sich aber nicht alle Rechtseinrichtungen systematisch für eine Rechtsordnung ableiten. Die Rechtsidee verrät nur den potentiellen Sinn des Rechtes und in ihren Elementen die Grenzen des gesetzgeberischen Willens, ohne die Möglichkeit zu bieten, jedes einzelne Rechtsinstitut auf seine Begründung in der Rechtsidee selbst zu untersuchen. Die Bedeutung der Rechtsidee liegt darin, daß sie die Verbindung zwischen dem positiv-rechtsnormativen und dem wertidealen sittlichen Bereich ist. Helmut Coing stellte bereits fest: „Das Recht ragt mit der Rechtsidee in den Bereich des Sittlichen hinein. Aber es nimmt ihn nicht vollständig in sich auf." 13 Die Rechtsidee drängt, die auf konkrete Lebensvorgänge abgestellten sittlichen Postulate in abstrakten Tatbeständen für den normativen Bereich des Rechtes anwendbar zu machen. Nach dem Maß der Entsprechung gegenüber der Rechtsidee durch den Gesetzgeber wird das positive Recht mehr oder 11 12

Kaufmann, a.a.O., S.296f.

Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 120 ff., S. 164 ff. und Schambeck, a.a.O., S. 470 ff. 13 Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, Berlin 1950, S. 149.

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III. Über Geltung und Autorität

weniger die Sittlichkeit zum Grunde seiner Recht- bzw. Gesetzmäßigkeit machen. Die Rechtsidee tritt dem Gesetzgeber in ihren Erscheinungsformen, d. s. das Gerechtigkeitsprinzip, die Rangordnung der Werte, die allgemeinen übereinstimmend anerkannten Rechtsgrundsätze und der Grundsatz der Rechtssicherheit, entgegen.

Die Gerechtigkeit Die Gerechtigkeit 14 ist das Prinzip, das die Gleichheit verlangt, wonach gerecht ist, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich, ungerecht aber, Ungleiches gleich und Gleiches ungleich zu behandeln.15 Die Gerechtigkeit im Sinne der Gleichheit gibt ein Verhältnis an, und zwar im formalen Sinn: die Übereinstimmung eines Rechtssatzes mit einer ranghöheren Norm, im materiellen Sinn: die Beobachtung eines materialen Apriori durch den Gesetzgeber im Wege der Positivierung. Der formalen Gerechtigkeit entspricht ζ. B. in der österreichischen Rechtsordnung das gesetzesstaatliche Prinzip, das im Art. 18 (1) Bundes-Verfassungsgesetz lautet: „Die gesamte staatliche Verwaltung darf nur auf Grund der Gesetze ausgeübt werden." Danach sind nur jene Rechtsakte gesetzmäßig, die letztlich auf Grund von Gesetzen, d. h. von Beschlüssen des Parlaments gesetzt werden. Die gesamte Rechtsordnung steht im Dienste der Konkretisierung von Normen, die miteinander durch den Bedingungszusammenhang der Gesetzmäßigkeit verbunden sirid. Gerecht ist danach jene Norm, welche die ranghöhere Norm näher ausführt. Einen anderen Bezug stellt die materiale Gerechtigkeit her. In diesem Sinne handelt gerecht jener Gesetzgeber, der die in den Dingen liegenden Strukturen — man spricht auch von der ,Natur der Sache1 — berücksichtigt, dessen Rechtsetzung also einer Sach14

Vgl. dazu Max Rümelin, Die Gerechtigkeit, Tübingen 1920; Giorgio del Vecchio , Die Gerechtigkeit, Basel 1940; Hans Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?, Wien 1953; Wilhelm Sauer, Die Gerechtigkeit, Berlin 1959 und Legaz y Lacambra, a.a.O., S 315 ff. 15 Radbruch, a.a.O., S. 108: „Recht erhebt seinem Wesen nach Anspruch auf Gerechtigkeit, Gerechtigkeit aber fordert Allgemeinheit des Gesetzes, Gleichheit vor dem Gesetze."

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entsprechung gleichkommt.16 Dies ist etwa der Fall, wenn der Gesetzgeber im Privatrecht die natürlichen Dauereigenschaften des Menschen17 berücksichtigt und im öffentlichen Recht aus der Natur des Menschen18 zur Sicherung seiner Freiheit und Würde 19 Grundrechte ableitet. Eine derartige Gesetzgebung ist keine Rechtsfindung im Sinne der Neuschöpfung eines bisher unbekannten Wertes, sondern vielmehr eine allgemein verbindliche positiv-rechtliche Anerkennung. 20 Materialgerecht handelt somit jener Gesetzgeber, der die den Dingen innewohnende permanente Ordnung des sozialen Lebens zum Inhalt positiver Rechtssätze macht. Stellt man beide genannten Formen der Gerechtigkeit einander gegenüber, so ist dieser Verhältniswert in seiner formalen Sicht am positiven Recht ausgerichtet und kann als Gesetzmäßigkeit bezeichnet werden. I m materialen Sinn ist die Gerechtigkeit hingegen nicht Maß am Recht, sondern des Rechtes, woran das positive Recht gemessen wird. Dieser Sinn der Gerechtigkeit ist die Rechtmäßigkeit. Die Rangordnung der Werte Die Gerechtigkeit ist wohl das bekannteste Element der Rechtsidee, aber nicht ihr einziges. Sie erhält in der Rangordnung der Werte einen sinnvollen Gehalt; das Bemühen um diesen war stets das Streben und das Kennzeichen des echten Kulturvolkes. Ihr richtiges Erfassen wurde oft erschwert einerseits durch die sich ändern16

I n diesem Zusammenhang schreibt auch Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Göttingen 1952, S.252: „Die Beobachtimg dieser sachlogischen Strukturen ergibt jene ,Natur der Sache', in der Maßstäbe einer konkreten Gerechtigkeit liegen!" Siehe auch die diesbezüglichen Ausführungen in der 2. Auflage dieses Werkes, Göttingen 1967, S. 426 ff. 17 Über die natürlichen Dauereigenschaften selbst siehe Fritz von Hippel, Das Problem der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie, Tübingen 1936, S. 49. 18 Siehe dazu Herbert Schambeck, Der Begriff der Natur der Sache, Wien 1964, insb. S. 45 ff. 19 Vgl. Alfred Verdroß, Die Würde des Menschen in der abendländischen Rechtsphilosophie, in: Naturordnung in Gesellschaft und Staat, Festschrift für Johannes Messner zum 70. Geburtstag; hgb. von Joseph Höffner u.a., Innsbruck, Wien, München 1961, S. 353 ff. 20 Beachte Hans Peters, Die Positivierung der Menschenrechte und ihre Folgen, in: Naturordnung, a.a.O., S. 363 ff.

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den erkenntnistheoretischen Bedingungen und andererseits durch die politischen Wertungen der einzelnen Epochen. Vom Mut des Kriegers in der germanischen Zeit, über die Ehre Gottes im Mittelalter bis zur Freiheit, Gleich'hait und Brüderlichkeit des ausgehenden 18. Jahrhunderts wechselt die Bedeutung der einzelnen erstrebenswerten Höchstgüter, die es zu verteidigen oder anzustreben galt. Jede Stufe der kulturellen Fortentwicklung brachte ihre eigene Wertskala hervor. Diese Feststellung soll nicht die Anerkennung eines Relativismus, sondern vielmehr ein Hinweis auf das stete Bemühen der Menschen aller Generationen um Höchstwerte sein.

Die allgemeinen Rechtsgrundsätze Daß es eine Übereinstimmung in der Erkenntnis verschiedener Werte, die in der Idee des Rechts selbst gelegen sind, gibt, zeigen die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die wir in allen Rechtskreisen feststellen können und die deshalb als übereinstimmend anerkannt bezeichnet werden. Sie sind teils materieller Natur — wieder Grundsatz von Treu und Glauben und das ihm korrespondierende Verbot des Rechtsmißbrauches —, teils Grundsätze des Verfahrensrechts wie die Einrede der Verjährung gegen allzulange nicht geltend gemachte Ansprüche. Manche zählen auch Forderungen der juristischen Logik hieher, wie den Grundsatz „lex specialis derogat legi generali". Die allgemeinen Rechtsgrundsätze sind ein Ausfluß des Rechtsbewußtseins der Menschen, welches von der einen sich im natürlichen Rechtsgewissen manifestierenden Rechtsidee bestimmt wird und daher als einheitlich angesehen werden kann. Diese Rechtsgrundsätze sind die Voraussetzungen der Rechtsordnungen der einzelnen Staaten sowie des Rechts der Staatengemeinschaft, des Völkerrechte. Auf ihnen hat das moderne Völkerrecht stark aufgebaut; 21 auf sie ist auch zur Lösung völkerrechtlicher Fälle immer dann zurückzugreifen, wenn das positive Völkerrecht keine Regelung enthält. Ihre ausdrückliche Positivierung, d. h. die Anerkennung dieses subsidiär zur Anwendung gelangenden Rechtabestandes im positiven Völkerrecht, erfolgte durch Art. 38 Zif. 1 lit. c des Statuts des (früher: Ständigen) 21 Hiezu grundlegend Sir Hersch Lauterpacht, Private Law Sources and Analogies in International Law, London 1927.

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Internationalen Gerichtshofes. Die dort als dritte Entscheidungsgrundlage angeführten „von den zivilisierten Staaten anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze" (principes généraux de droit) sind heranzuziehen, wenn sich ein Fall weder aufgrund eines zwischen den Parteien bestehenden Vertrages noch aufgrund des Völkergewohnheitsrechtes entscheiden läßt. 22 Es handelt sich dabei um Grundsätze, die im innerstaatlichen Bereich bereits positiviert worden sind, ihre Ermittlung erfolgt durch Rechtsvergleichung. 23.

Die Rechtssicherheit Die Rechtsidee und ihre bisher aufgedeckten Erscheinungsformen verlangen nicht bloß erkannt, sondern in der gleichen Weise anerkannt zu werden. Dies setzt aber eine letzte Ausgliederung der Rechtsidee voraus: die Rechtssicherheit. Ohne diesen normativen Grundwert würde sich die ganze Rechtsordnung erübrigen. Erst sie macht eine Rechtsetzung möglich. Der Begriff der Rechtssicherheit ist vieldeutig. Man versteht darunter in gleicher Weise die Bestimmbarkeit von Ordnungsprinzipien, den Schutz von Rechtseinrichtungen wie die Vorhersehbarkeit staatlichen Organhandelns. Die Rechtssicherheit ist nicht allein darin zu erblicken, daß ein Gesetzesbefehl mit Sicherheit durchgesetzt wird, sondern auch darin, daß mit Sicherheit die Elemente der Rechtsidee, nämlich die Formen der Gerechtigkeit, der Rang der Werte und die allgemein anerkann22 Vgl. Alfred Verdroß, Die allgemeinen Rechtsgrundsätze i m Völkerrecht, in: Festschrift für Hans Kelsen zum 50. Geburtstag, hgb. von Alfred Verdroß, Wien 1931, S. 362 ff.; Stephan Verosta, Die allgemeinen Rechtsgrundsätze in der Staatenpraxis, österreichische Juristenzeitung 1950, S. 101 ff.; Grigory I. Tunkin, The General Principles of Law Recognized by Civilized Nations, in: Festschrift für Alfred Verdroß zum 80. Geburtstag, hgb. von René Marcie u. a., München - Salzburg 1971, S. 532 ff. 23 Dazu allgemein Peter Fischer und Heribert Franz Köck, Allgemeines Völkerrecht, 2. Aufl., Eisenstadt 1983, S. 61; dann Ignaz Seidl-Hohenveldern, Die Rolle der Rechtsvergleichung im Völkerrecht, in: Festschrift für Alfred Verdroß zum 70. Geburtstag, hgb. von Friedrich August Frhr. v. d. Heydte u.a., Wien 1960, S. 253 ff.; Hermann Mosler, Rechtsvergleichung vor völkerrechtlichen Gerichten, in: Festschrift für Alfred Verdroß zum 80. Geburtstag, S. 381 ff.

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III. Über Geltung und Autorität

ten Rechtsgrundsätze vom Gesetzgeber erkannt werden können. Dies gibt noch keine Sicherheit darüber, was Recht sein soll, sondern vielmehr eine Sicherheit, was Recht sein kann, wenn der Gesetzgeber sich entschlossen hat, der Rechtsidee und ihren Ausprägungen zu entsprechen. Die Rechtssicherheit24 ist als Möglichkeit der Konkretisierung der Rechtsidee und ihrer Bestandteile ein Idealzustand, als stete Sicherheit der Gesetzesdurchsetzung ein Realzustand, der sich u. a. in dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, den Verfahrensvorschriften, insbesondere in der Einrichtung der Rechtskraft manifestiert. Die Rechtssicherheit verlangt die Positivität des Rechtes, d. h. den Zwangscharakter, der dem gesatzten Recht zu eigen ist. Dadurch ist den Kategorien der Gerechtigkeit und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen nicht bloß ihre Rechtsfindung, sondern eine Rechtsbefolgung gewährleistet, nach der die Erscheinungsformen der Rechtsidee nicht nur vorhersehbar sind, sondern auch durchsetzbar werden. Insofern ist die Rechtssicherheit selbst ein Wert. Der Begriff Rechtssicherheit trägt jedoch eine große Gefahr in sich, die darin besteht, daß viele übersehen, daß sich der Wortteil „Sicherheit" mit dem Begriff „Gewißheit" nicht deckt. Oftmals schützt eine Rechtsordnung Güter, Rechtseinrichtungen, dhne daß ihr Gesetzgeber auch die Gewißheit hat, daß es sich nicht bloß um Wertungen, sondern um Werte handelt, die schutzbedürftig sind. Einem zeitbedingten Ordnungszweck wegen kann es dann geschehen, daß die beiden Bestandteile der Rechtsidee, nämlich die Gerechtigkeit und die Rechtssicherheit, dadurch miteinander in Widerspruch geraten, daß die Rechtssicherheit nach dem Satz Goethes: „Ich will lieber eine Ungerechtigkeit begehen, als Unordnung ertragen", die Geltung ungerechter Rechte nicht bloß ermöglicht, sondern auch zu entschuldigen scheint. Nur allzu leicht ist auf diese Weise im Streben nach Sicherheit an die Stelle der Freiheit die Unfreiheit getreten. Hat es doch den Anschein, als ließe sich mittels der Rechtssicherheit jedes positive Recht nicht allein entschuldigen, sondern auch rechtfertigen. 25 Dies 34 Siehe dazu auch Ludwig Bendix, Das Problem der Rechtssicherheit, Berlin 1914 und Max Rümelin, Die Rechtssicherheit, Tübingen 1924, Radbruch, a.a.O., S. 164 ff. und 193 ff.; Coing, a.a.O., S. 143 f. und Henkel, a.a.O., S. 333 ff.

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ist der Weg des Positivismus. Er hat es verstanden, die jeweils herrschenden Verhältnisse als normativ gewollte darzustellen. Am bekanntesten ist wohl im innerstaatlichen Recht die Verjährung und im Völkerrecht das Institut der Ersitzung, wonach ein Staat unter bestimmten Voraussetzungen nach Ablauf von mindestens 30 Jahren (Zeit einer Generation) auch an einem widerrechtlich erworbenen Gebiet Eigentum erwerben kann. Ein unrechtmäßiger Zustand wird dadurch zu einem Rechtszustand. — Im Widerstreit zwischen dem positiven Recht und dem Gedanken der Gerechtigkeit, der sicherlich den Hauptinhalt der Rechtsgeschichte26 ausmacht, nimmt die Rechtssichertieit die Mitte ein. Sie steht oft zwischen der Rechtsidee und der bloßen Macht. Aus der Rechtsidee lassen sich aber nicht alle Rechtseinrichtungen systematisch für eine Rechtsordnung ableiten. Die Rechtsidee läßt nur den potentiellen Sinn des Rechtes und in ihren Elementen die Grenzen des gesetzgeberischen Willens erkennen, ohne die Möglichkeit zu bieten, jedes einzelne Rechtsinstitut auf seine Begründung in der Rechtsidee zu untersuchen. Alle Erscheinungsformen der Rechtsidee stehen in einem bestimmten Verhältnis zueinander, da sie Ergänzungswerte sind. So bedarf die Gerechtigkeit im materiellen Sinn ebenso wie die Rangordnung der Werte der Gerechtigkeit im formellen Sinn und diese der Rechtssicherheit zu ihrer Entsprechung und Ausführung. Dies ist etwa der Fall, wenn die Freiheit und Würde des Menschen in den Grundrechten eines Staates geschützt werden; wo dies aber aus politischen Gründen nicht der Fall ist, widerspricht die Gerechtigkeit im formellen Sinn der Gerechtigkeit im materiellen Sinn und die Rechtssicherheit der Rangordnung der Werte. Vor diesem Problem der Erfassung und Ausführung der Rechtsidee und ihren Erscheinungsformen steht jeder Staat, da dem Menschen keine allgemeingültige Rechtseinsicht möglich ist. Die Rechtssicher25

So schreibt auch Radbruch f a.a.O., S. 182: „Aber wie ungerecht immer das Recht seinem Inhalt nach sich gestalten möge — es hat sich gezeigt, daß es einen Zweck stets, schon durch sein Dasein, erfüllt, den der Rechtssicherheit." Über Rechtssicherheit und Naturrecht siehe besonders Walter Antonioiii, Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien 1954, S. 107 ff. 26 Hans Planitz, Deutsche Rechtsgeschichte, Graz 1950, S. 1.

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heit verlangt nach dem positiven Recht, denn die Ordnung des Zusammenlebens kann den Rechtsanschauungen der einzelnen zusammenlebenden Menschen mit möglicherweise entgegengesetzten Anschauungen nicht überlassen bleiben, die Ordnung muß vielmehr durch eine überindividuelle Stelle eindeutig geregelt werden. Dies ist Aufgabe des staatlichen Gesetzgebers. Geltung und Rechtsidee Der Sinn der Geltung ist somit ein zweifacher: einerseits dem Postulat der Rechtsidee und ihren Erscheinungsformen zur Entsprechung zu verhelfen, andererseits aber die widerstrebenden Interessen von einzelnen Personen und Prinzipien, die sich aus der dynamischen Natur des Menschen ergeben, abzugleichen. Bedarf doch die Rechtsidee mit ihrem sittlichen Gehalt der konkreten, d. h. zeit- und ortsbezogenen Ausführungen und der Anwendung ihrer Erscheinungsformen. Als solche Erscheinungsformen sind bereits die Gerechtigkeit, die Rangordnung der Werte, die allgemeinen Rechtsgrundsätze und die Rechtssicherheit erwähnt worden. Diese Erscheinungsformen der Rechtsidee vermitteln uns zwar nicht den vollen Gehalt der Rechtsidee, wohl aber wesentliche Einsichten. „Sie geben uns die Möglichkeit, über formale Sätze hinaus bestimmte materielle Inhalte als sittlich notwendigen Inhalt des Rechts zu erweisen." 27 In welcher Weise das positive Recht dem in der Rechtsidee vorgegebenen Maßstab ihrer Ordnung entspricht, ist Aufgabe des Gesetzgebers. Die Geltung ist somit das Prinzip, das auch dem zum Inhalt der abstrakten Ordnung des positiven Rechts transformierten sittlichen Wert die Befolgung durch Androhung von Unrechtsfolgen sichert. Es ist eben der besondere Charakter der Erscheinungsformen der Rechtsidee, daß sie über den präpositiven Bereich hinaus auch in andere Ordnungen einzugehen vermögen. So kann ζ. B. das Prinzip der Rechtssicherheit und der formellen Gerechtigkeit als Grundsatz der Gesetzesstaatlichkeit in die positive Rechtsordnung eingehen. Die Rechtssicherheit ist dadurch gegeben, daß die Gesetze, welche in der Volksvertretung beschlossen und in den Gesetzesblättern veröffentlicht werden, die Grundsätze staatlichen Handelns dadurch vor27

Coing , Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 148.

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hersehbar machen, daß das Volk selbst durch seine Vertreter auf die Rechtssetzung Einfluß nimmt und es sich über diese Beschlüsse jederzeit unterrichten kann. In diesem Fall ist es daher unmöglich, daß einen Normadressaten ein Rechtsauftrag unvorbereitet trifft. Diese Sicherheit durch Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit staatlichen Verhaltens verschafft dem Einzelnen eine Sicherheit, der auch ein sittlicher Wert zukommt. Als weitere Verwirklichung einer Erscheinungsform der Rechtsidee, nämlich der materialen Gerechtigkeit, kann die Erlässung von Grundrechten zum Schutz der dignitas humana angesehen werden. Einem vorgegebenen Wert, der Freiheit und der Würde des Menschen, wird auf diese Weise ein qualifizierter Schutz, der Rechtsschutz, zuteil. Es steht dem Gesetzgeber die Wahlfreiheit zu, in welcher Weise — nach Form und Inhalt — er der Rechtsidee entspricht. So gibt es Rechtsordnungen, die eine mehr oder weniger qualifizierte Rechtssicherheit 23 gewähren. Oder es kann eine Rechtsordnung zwar gerecht im formellen, aber ungerecht im materiellen Sinn zu werten sein. Letzteres ist etwa in einem totalitären Staat der Fall, welcher wohl eine Form der Rechtsstaatlichkeit mit einer Rangordnung verschiedener Rechtssatzformen kennen mag, aber keine Grundrechte. Der Sinn der Geltung ist nicht allein von der Notwendigkeit der gesicherten Konkretisierung sittlicher Werte, sondern auch von den gesellschaftlichen Gegebenheiten her zu verstehen. Diese lehren es uns, daß die Regelung des Zusammenlebens der Menschen nicht den wechselnden Interessen, ja den Launen von Einzelpersonen oder Personengruppen überlassen werden kann, weil Gegensätzlichkeiten und nicht Einheitlichkeit die Folge dessen wären. Die Regelung der Ordnung soll den individuellen Machtkämpfen entrückt werden, sie soll durch eine „überindividuelle Stelle" 29 erfolgen. Dies ist schon 28 Das verschiedene Maß an Rechtssicherheit ist an der Entwicklung des Rechtsstaates zu erkennen. Siehe dazu wie über den Zusammenhang von Rechtsstaatlichkeit und Rechtsschutz Adolf Merkl, Die Wandlungen des Rechtsstaatsgedankens, in: Festnummer des österreichischen Verwaltungsblattes zum 80. Geburtstag Adolf Menzels, 8. Jg. (1937), Nr. 7, S. 174 ff. und Herbert Schambeck, The Development of Austrian Administrative Law, Revue Internationale des Sciences Administratives, Brüssel 1962, S. 215 ff. sowie derselbe, Vom Sinnwandel des Rechtsstaates, Berlin 1970. 29

Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 175.

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deshalb notwendig, weil jede an dem Zustandekommen einer Ordnung interessierte Person andere sachliche Gründe ins Treffen führen wird. Der Streit der Meinungen, welches Ordnungsbild als das gerechteste und zweckmäßigste anzusehen ist und angesehen werden soll, wird sich nicht entscheiden lassen. Nicht fortgesetzt werden soll aber der Machtkampf, daher muß eine in Form der Rechtsordnung entsprechende Entscheidung herbeigeführt werden. Die Form der Rechtssetzung ist verschieden, dies kann ein monarchischer Willensentschluß sein oder eine demokratische Abstimmung. In beiden Fällen kann das Ergebnis privaten Einzelpersonen nicht mehr zugerechnet werden, es ist eine überindividuelle Größe entstanden, die nach dem Maß der Ausführung der Rechtsidee von mehr oder weniger großem sittlichen Wert ist. Der sich aus den angeführten Gründen ergebende Sinn der Geltung ist im Streben jedes Gesetzgebers, selbst in dem rechtsetzenden Bemühen einer siegreichen revolutionären Gruppe, die sich hernach als Regierung bezeichnet, erkennbar; er liegt in dem Streben nach „Ruhe und Ordnung", d. h. nach der Sicherheit im Recht. Dieser Sinn erweist die Geltung als eine Einrichtung im Dienste der Rechtsidee. 30 So sehr man nämlich das Recht, und es ist damit zum Unterschied vom Naturrecht stets das positive, im sozialen Leben geltende Recht gemeint, von der Idee des Rechts unterscheiden muß, so sehr sollte es nach Julius Binder bewußt sein, „daß dieses rein Empirische gar nicht Recht ist; daß es nur seine Beziehung zur Idee des Rechts ist, was dieses Empirische zum Rechte macht".31

Der Grund der Geltung Die Frage nach dem Sinn der Geltung wäre mit dem Hinweis auf das Erfordernis der notwendigen Einheitlichkeit der Ordnung unvoll30 Wenn das Ordnungsprinzip des positiven Rechts, nämlich die Geltung als eine Einrichtung im Dienste der Rechtsidee angesehen wird, so soll das nicht heißen, diese Geltung wäre auch das Ordnungsprinzip der sittlichen Ordnung, das ist nämlich die Verbindlichkeit. Man hüte sich daher, beide Ordnungsprinzipien bei aller möglichen Bezogenheit zu verwechseln. 31

Julius Binder, Philosophie des Rechts, Berlin 1952, S. 762; beachte auch Adolf Merkl, Die Lehre von der Rechtskraft, L e i p z i g - W i e n 1923, S.210.

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ständig beantwortet, sie bedarf noch der ergänzenden Aufdeckung des Grundes der Geltung. Erst mit dem Geltungsgrund ist es möglich, den Sinn der Geltung zu erfüllen. Während der Sinn der Geltung die Erklärung ist, „warum" es eine positive Rechtsordnung geben muß, läßt es der Grund der Geltung erklären, „wodurch" diese Ordnung existiert. Diese Frage nach dem Grund der Geltung ist die Frage, worauf der Bestand einer positiven Rechtsordnung zurückzuführen ist. Da der Bestand einer Ordnung von ihrer Durchsetzbarkeit, d.h. von ihrer Wirksamkeit abhängt, ist die Frage nach dem Grund der Geltung konkreter gefaßt, wenn man nach den Gründen der ordnungssichernden Durchsetzbarkeit fragt. Meist wird als der augenfälligste Grund für die Durchsetzbarkeit, d. h. für die Wirksamkeit der positiven Rechtsordnung, der sie tragende Macht- und Zwangsapparat genannt. Danach wäre jeweils die Ordnung als geltend anzuerkennen, die sich auf Grund der Macht durchsetzt. Ihre Rechtfertigung soll diese Macht aus der Tatsache erfahren, daß keine Ordnung mit ihrer einstimmigen Annahme rechnen kann, da die Ordnungsvorstellungen der Menschen verschieden sind und die erforderliche Einheitlichkeit der Gesellschaftsziele oft unter Zwang hergestellt werden muß. Es sei die Tatsache, daß eine Rechtsordnung der Macht bedarf, nicht geleugnet, denn dies entspricht der Wirklichkeit. Es hat sich ja von mehreren Geltungsansprüchen immer jener durchgesetzt, hinter dem die Macht stand. Dies verlangt auch äußerlich die Rechtssicherheit, also eine Erscheinungsform der Rechtsidee. Welche Unsicherheit würde doch auch entstehen, wenn mehrere positive Ordnungen gleichzeitig an einen Normadressaten appellieren? Die bestimmende Ordnung wäre weder vorhersehbar noch einheitlich. Es würde vielmehr ein Konkurrenzkampf um Anerkennung entstehen, der die Sicherheit des Einzelnen gefährdet. Soll aber die Folge dieser Erkenntnis in der vorbehaltlosen Anerkennung einer Macht gelegen sein, die den Charakter der Gewalt hat? Das Erfordernis der Gewaltherrschaft wäre die Folge.

Die voluntaristische

Geltung

Gibt man sich mit dem alleinigen Vorhandensein eines Machtund Zwangsapparates zufrieden, dann wäre die Gewaltausübung das

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einzige Streben und das einzige Kennzeichen des positiven Rechts. Dem Willen des gewalthabenden Gesetzgebers wären keine anderen Schranken gesetzt, als die seiner Wünsche. Eine solche positiv-rechtliche Ordnung würde auf einer bloß voluntaristischen Geltung beruhen. Diese voluntaristische Geltung könnte aber nur eine Seite der Wirksamkeit zeitigen: Die Rechtsanwendung durch die Rechtsvollzugsorgane. Die Macht zur Rechtsetzung und zur Rechtsanwendung allein werden aber kaum jene andere Seite der Wirksamkeit zeitigen, die zum dauerhaften Bestand einer Rechtsordnung erforderlich ist: der Rechtsgehorsam als Anerkennung der gegenständlichen Ordnung. I n der Kenntnis dieser Tatsache haben auch Zwangsordnungen auf diese ihre Anerkennung verzichten müssen und sich mit der Androhung von Zwang an die Befehlsunterworfenen „begnügt". Entweder wollten oder muß ten sie der Frage nach dem Wert ihrer Ordnung aus dem Wege gehen. Man wird wohl zugeben müssen, daß die bloße Gewalt als Existenzbedingung der positivrechtlichen Ordnung keinen allgemein gültigen Grund für die Geltung abgibt, sondern vielmehr die Auödrucksform einer bestimmten Ordnung der Gewaltherrschaft bleibt, deren Bestand mangels voller Wirksamkeit ständig gefährdet ist.

Geltung und Grundnorm Der Grund der Geltung, der eine umfassende Wirksamkeit der positiven Rechtsordnung nach allen Seiten, d.h. sowohl gegenüber dem normempfangenden Adressaten als auch gegenüber dem rechtsetzenden Organ ermöglicht, kann nicht die bloße Macht in der Form nackter Gewalt sein, sondern wird ein Bindungsprinzip eigener Art sein müssen, das die Voraussetzung für das geltende positive Recht überhaupt bildet, es ist also der letzte Geltungsgrund. Wir sind es in der positiven Rechtsordnung gewohnt, die positivrechtliche Bindung, d. h. die Geltung einer Norm aus einer anderen ranghöheren Norm derselben Art abzuleiten. So ist unter der Voraussetzung verschiedener Rechtssatzformen die Verfassung der Grund für die Gesetze, die Gesetze sind die Grundlage für die Verordnungen und diese wieder die Grundlage für die individuellen Rechtsakte. Mit einer rechtslogischen Deduktion wird eine Rechtsnorm aus

Α. Die Geltung

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einer anderen abgeleitet. Das positive Recht bedingt sich also in den Stufen einer Konkretisierung selbst.32 Jeder Rechtssatz muß in dem ihm ranghöheren Satz bereits vorgegeben, in seiner Geltung bereits enthalten sein. Das positive Recht entwickelt sich aus sich selbst, es ist seine eigene Erzeugungsregel. Eine solche auf die bereits in Geltung befindliche Rechtsordnung bezogene Rechtsbetrachtung wird nicht die gewünschte Antwort auf die Frage nach dem Grund der Geltung zu geben vermögen, da sie ihre Bindegewalt aus der bereits vorhandenen Geltung schöpft, ohne diese zu erklären. Diese Fragestellung wird nicht der Ursprung der Bindegewalt aufzudecken vermögen, der Rechtssatz wird aus der Bedingtheit eines ranghöheren Satzes erklärt werden müssen, ohne die Frage selbst zu stellen, wodurch dieser Satz überhaupt Rechtssatz geworden ist, was ihm Geltung verschafft hat. Dieses wichtigste Problem der Lehre von der Geltung erhält den Ansatz einer Lösung von Walter Burckhardt , der feststellte, daß, wenn man diese letzte Frage stellt, „wie das Recht, das einmal Geltung erlangt hat, aus dem früheren Zustand, in dem es noch nicht galt, hervorgegangen sei, so kann die Antwort nicht anders lauten als: es ist aus etwas anderem als (geltendem) Recht entstanden".33 Man kann diese Antwort nicht mit dem Hinweis darauf geben, daß sich eine Ordnung durchgesetzt habe, d. h. daß sich die Tatsache der Geltung aus der bloßen Tatsache der Durchsetàbarkeit selbst ergeben hat, dies sei nämlich der Geltungsgrund. Es wäre doch auch sinnlos, den letzten Grund von Geschehnissen aus anderen Geschehnissen, d. h. eine zeitgebundene Ursache aus einer anderen, erklären zu wollen.

32 Über den Stufenbau der Rechtsordnung beachte die von Adolf Merkl entwickelte Lehre in folgenden Schriften: Das Recht im Lichte seiner A n wendung, Deutsche Richterzeitung 1918, S. 56 ff.; derselbe, Die Lehre von der Rechtskraft, Wien 1923; derselbe, Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien 1927, und derselbe, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues, in: Gesellschaft, Staat und Recht, Festschrift für Hans Kelsen; hgb. von Alfred Verdroß, Wien 1931, S. 252 ff. 33 Walther Burkhardt, Die Organisation der Rechtsgemeinschaft, 2. Aufl., Zürich 1944, S. 199.

6 Schambeck

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III. Über Geltung und Autorität Macht- oder Legitimationsdenken

Die Erstursache, d. h. die Fundamentalnorm einer Rechtsordnung selbst bedarf einer Begründung. Diese Vorschrift ist nicht dadurch Recht geworden, daß sie durch ein bloßes Ereignis bedingt wurde, sie ist vielmehr der Ausdruck eines zeitlosen Grundes, auf den sie, um Aussicht auf Bestand zu haben, ausgerichtet sein muß. Dieser zeitlose Grund ist aber nicht die bloße Macht im Sinne von Gewalt. Die Machtausübung durch Gewaltanwendung ist zeitgebunden. Sollte auf ihr der letzte Geltungsgrund ruhen, so würde mit dem Nachlassen der Gewalt die Geltung gefährdet und mit ihrem Erlöschen die Geltung verlorengehen. Dies hat etwa Napoleon klar erkannt; so soll er einmal gegenüber seiner Gemahlin Marie Louise, der Tochter Kaiser Franz I. von Österreich, erklärt haben, daß er es sich im Gegensatz zu anderen Monarchen, die einen legitimen Herrschaftsanspruch haben, wie ihr Vater, nicht leisten könne, eine Niederlage zu erleiden. Er hat damit zweifellos nicht gemeint, daß eine solche Niederlage sein Selbstbewußtsein so sehr erschüttern würde, daß er seine Herrscherqualitäten verliere, sondern er hat vielmehr die Gefahr erkannt, daß eine Niederlage seine Machtausübung gefährden und er so die Gewalt in der seiner Herrschaft eigenen autoritären und totalitären Weise nicht mehr ausüben könnte. Gelingt es ihm nämlich nicht mehr, seine Untertanen bis in ihren Gesinnungsbereich zu erfassen und muß er ihnen mangels der erforderlichen Macht die Entscheidung über die Annahme seiner Ordnung überlassen, so sieht er sich vor die Gefahr eines Werturteils gestellt, welches er aber gerade vermeiden wollte. Helmut Coing betonte daher, „daß sich in der Geschichte bestimmte Prinzipien entwickelt haben, die in der Anschauung der betreffenden Zeit die Regierung rechtfertigen. Ihre Bedeutung liegt darin, daß Herrschaft, die diesen Prinzipien gemäß erworben worden ist, als legitim erscheint und daher von den Beherrschten akzeptiert wird, so daß die Macht mit einem Minimum an Gewalt behauptet werden kann, weil der Gehorsam freiwillig ist. Solche Prinzipien waren in der Zeit der monarchischen Staatsgestaltung der Gedanke der Erbmonarchie mit festem Grundsatz der Herrscherfolge; kein geringerer als Napoleon hat die Stabilität bewundert, die dieses Prinzip den alten Monarchien Europas gab. Es ist heute das Prinzip der Volkssouveränität, welches die von der Mehr-

Β. Die Autorität

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heit bestimmte Regierung als legitim erscheinen läßt . . . Gewalt muß da eintreten, wo die Anerkennung gemeinsamer Legitimitätsprinzipien fehlt". 34 Die Machtausübung durch bloße Gewaltanwendung wird allein aber nicht den dauernden Bestand der Geltung zu sichern vermögen, sondern es ist dazu mehr erforderlich, nämlich eine Form der Bestimmung zur Ordnung, die nicht allein auf der Androhung und Anwendung von Gewalt besteht, sondern auch auf der motivierenden Kraft von Werten, deren notwendiger Sicherung die Macht dienen soll. Die Macht hat in einem vom jeweiligen Gewalthaber zu bestimmenden Maße der Sicherung von Werten, die Ausdruck einer ihrer Kategorie nach zeitlosen Wertigkeit sind, zu dienen, um in einer möglichst widerspruchslosen Einheit mit der Rechtsidee und ihren Erscheinungsformen den Grund der Geltung zu bilden, der sich als die Autorität erweist. Die Autorität kann deshalb als der Grund der Geltung bezeichnet werden, weil die Autorität es ist, welche den Gehorsam, durch welchen die Ordnung auf möglichst lange Dauer gilt, ermöglicht. Diese Bedeutung der Autorität läßt schon das Wort selbst erkennen. Autorität kommt von auctoritas und dieses Wort gehört zu auctio, dem Hauptwort, und dem Zeitwort augere. Die Autorität ist daher die Kraft, welche zu vermehren vermag. Wem auctoritas zukommt, der vermag einen Zuwachs zu ermöglichen; in diesem Fall einen solchen der gestifteten Ordnung. Als auctor wird auch stets ein Stifter und Schöpfer angesehen. So kannte ja das römische Recht den auctor als Bürgen, d.h. als eine Person, welche der Erfüllung eines Rechtsverhältnisses vermehrte Sicherheit verschafft. Durch Mitwirkung des auctor konnte sogar ein Geschäftsunfähiger Geschäfte abschließen (Gaius, D. 26,8, 9 pr. bis 2). B. Die Autorität Die Autorität ist der Geltungsgrund des positiven Rechts; wer Gehorsam verlangt, muß Autorität haben. Gehorsam ist aber nicht bloß Zustimmung durch Schweigen, sondern ein positiver Akt, näm34 Helmut Coing , Grundzüge der Rechtsphilosophie, 4. Aufl., Berlin 1985, S. 244 f.

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III. Über Geltung und Autorität

lieh der Akt der Annahme. Nur die Annahme ermöglicht die Treue, welche mit zur Wirksamkeit einer Rechtsnorm erforderlich ist. Die Treue ist ja der wesentlichste Grund für den Rechtsgehorsam.35 Übersehen wir nicht, daß es ja doch auch Rechtssätze gibt, deren Einhaltung rechtlich nicht erzwungen werden kann, weil sie sich auf einer solchen Ranghöhe befinden, daß dies ausgeschlossen ist. Wer wollte etwa die Geltung von Verfassungsrechtssätzen, die sich auf die obersten Staatsorgane beziehen, erzwingen. Hans Marti erklärt, daß die Geltung dieser Fundamentalsätze einer Rechtsordnung auf der Tatsache beruhen, „daß diese Organe solche Rechtssätze auch im Gewissen als verbindlich anerkennen." 36

Autorität und Anerkennung Es wäre aber grundlegend falsch, wollte man diese Annahme als Anerkennung in dem Sinne ansehen, als bliebe es dem Belieben des Normadressaten überlassen, ob er eine positive Rechtsordnung zur Kenntnis nehmen und ihr den entsprechenden Gehorsam zollen wolle oder nicht. Eine solche Auffassung würde in der Anerkennung und nicht in der Autorität den Grund der Geltung sehen. Die Anerkennung, eine Form des Gehorsams, ist nur eine Bestandsgarantie der Geltung, aber nicht der Grund selbst. Eine Ordnung, die nur dann gilt, wenn ihr die Rechtsunterworfenen den Gehorsam zollen wollen, wäre keine positive Rechtsordnung. Der Gehorsam ist nur für die Wirksamkeit der Rechtsordnung, d. h. für den Bestand der Geltung erforderlich, nicht aber für ihre Begründung. Das positive 35 So bemerkt auch Gustav E. Kafka, Autorität und Norm (Verfassungskrisen als verfassungsrechtliches Problem I I ) österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht 1952, N. F. Bd. I V , S.302: „Nicht der ,Zwang', d.h. die Furcht, wie die herrschende Lehre es will, sondern die Treue ist die conditio sine qua non jeder Rechtsgeltung und daher jeder juristischen Betrachtung" oder derselbe, a.a.O., S. 330: „Denn das Recht ist nicht nur eine Wirklichkeit, die w i r erleben, sondern im Gegenteil ein Erlebnis, das wir verwirklichen, ein Erlebnis, das die Grundhaltung der Treue voraussetzt und darum der als Wissenschaft maskierten Ideologie indifferenten Unterwürfigkeit niemals zugänglich sein wird." 36 Hans Marti, Naturrecht und Verfassungsrecht, in: Rechtsquellenprobleme im Schweizerischen Recht, Festgabe für den Schweizerischen Juristenverein, Bd. 91 der Zeitschrift des Bernischen Juristenvereines, Jg. 1955, S. 81.

Β. Die Autorität

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Recht appelliert daher nicht bangend an die Zustimmung des Einzelnen, sondern verlangt vom Einzelnen ein Streben nach Werteinsicht. Das positive Recht tritt also an den Normadressaten nicht bittend, sondern fordernd heran. Dieser Forderung nach Werteinsicht kann der Normadressat nur folgen, wenn auch der Gesetzgeber den Werten entsprochen hat. Eine Werteinsicht des Einzelnen ohne Wertentsprechung von Seiten des Gesetzgebers ist unmöglich. Der Gehorsam verlangt eben eine echte Autorität, aus der eine Geltung die Kraft ihrer vollen Durchsetzung schöpfen kann. I m Unterschied zu der auf einem bloßen Macht- und Zwangsapparat beruhenden voluntaristischen Geltung, die den schrankenlosen Willen eines machthabenden sogenannten Gesetzgebers auszuführen hat, beruht diese Geltung auch auf der motivierenden Kraft der Anerkennung durch den Normadressaten, die eine Steigerung bis zur innerlichen Zustimmung erfahren kann. Diese Geltung kann mit einer vollen Wirksamkeit rechnen, welche die Rechtsanwendung und den Rechtsgehorsam umfaßt. Sie gründet sich auf einer echten, auf ein ethisches Minimum bezogenen Autorität, weshalb diese Geltung als autoritative Geltung zu bezeichnen ist. Während sich die voluntaristische Geltung nur allzuoft zu einer Willkürordnung entwikkelt, stellt sich die autoritative Geltung als Ansatz einer auf die Rechtsidee und ihre Erscheinungsformen bezogene Ordnung dar, die deshalb den Ehrentitel Rechtsordnung verdient. Nur diese Rechtsordnung hat Aussicht auf einen dauerhaften Bestarid, denn ihr wohnt jene Kraft inne, durch welche die Ordnung gilt. Diese Autorität kann daher als der Grund der Geltung des positiven Rechts anerkannt werden. Wird die Autorität als Geltungsgrund des positiven Rechts angesehen, so hat man die Frage nach der Geltung nicht in der Weise gestellt, daß man sich fragt, warum die Menschen tatsächlich dem Befehl des Gesetzgebers gehorchen, sondern warum sie gehorchen sollen. Daß die Menschen tatsächlich gehorchen, hat ja nicht einen, sondern verschiedene Gründe. So gehorchen manche, weil sie physisch oder psychisch dazu gezwungen werden oder weil sie sich vor den Unrechtsfolgen ängstigen. Diese Gründe, oder besser Motivationen des Gehorsams unterscheiden sich kaum von jener Angst, mit dem ein Tier den Befehl eines anderen Tieres oder eines Menschen

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III.

ber Geltung und Autorität

befolgt. Furcht und Gewalt können aber nicht als ausschließliche Gründe für die Wirksamkeit einer Rechtsordnung, d. h. als Bestand der Geltung genannt werden; wissen wir doch, daß es Menschen gibt, die sich auch 'dann an eine Rechtsordnung gebunden fühlen, wenn sie sich nicht unmittelbar vom „Auge des Gesetzes" beobachtet fühlen. Sie handeln dann nicht aus verspürter Angst und aus ausgeübtem Zwang, sondern erfüllen eine erkannte Pflicht. Nicht ein Angst- oder Zwangserlebnis ist der Grund für ihr Verhalten, sondern die Pflichterkenntnis. Würde der Mensch bloß dem Zwang folgend und nicht aus Pflichtbewußtsein gesetzmäßig handeln, so müßten die Gesetzesbefehle mit „Du mußt" und nicht mit „Du sollst" beginnen. Da sie aber stets ein Sollen ausdrücken und kein Müssen, zeigen sie, daß sie beim Normadressaten nicht den Eindruck eines Gezwungenseins, sondern eines Verpflichtetseins erwecken wollen. Dadurch unterscheiden sich auch die Bürger eines Staates von den Opfern einer Räuberbande. Beide haben bestimmte Leistungen zu erbringen, das Opfer, weil es gezwungen wurde, der Bürger, weil er verpflichtet ist. Geltung, Autorität und Wert Diese Verpflichtung des Normadressaten findet ihre Begründung nicht allein in der Positivität der Rechtsordnung, d.h. in der Tatsache, daß eine Rechtsordnung in der Regel von den Normadressaten befolgt wird, sondern auch im Wert, den der Gesetzesbefehl ausdrückt. Die Befolgung kann nämlich wdhl auf einige Zeit erzwungen werden, die Verpflichtung aber, die eine innere Zustimmung verlangt, nicht. Die Verpflichtung beruht ja auf einer Werteinsicht, die durch einen Gewaltakt nicht ausschließlich ersetzt werden kann. Rudolf von Laun37 hat daher mit Recht festgestellt, daß die Positivität einer Rechtsordnung deren „Geltung" im Sinne einer Fähigkeit, innerlich zu „verpflichten", ein „Sollen" zu erzeugen, nicht erklären kann, denn es läßt sich dartun, daß physische Gewalt kein Sollen erzeugen kann, und die Positivität die bloße Tatsächlichkeit des Massengehorsams ist, die als solche gleichfalls kein Sollen erzeugen kann. Auch die stärkste physische Gewalt der Welt kann das innere Erlebnis 37 Rudolf Laun, Vom Geltungsgrund des positiven Rechts, in: Grundprobleme des internationalen Rechts, Festschrift für Jean Spiropoulos, Bonn 1957, S. 327.

Β. Die Autorität

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des Verpflichtetseins, des Sollens selbst des Letzten, des Ärmsten, des Geringsten, des noch so sehr Besiegten, nicht erzwingen. Erzwingen kann sie nur den äußeren Gehorsam. 38 Dieser äußere Gehorsam wird aber aufhören, wenn der ihn erzeugende äußere Zwang aufhört. Dieses Bestimmungsmoment des Zwanges wird daher schwerlich auf Dauer jenes Maß an Gehorsam erzeugen können, das Kelsen 39 selbst als einen Bestandteil der Wirksamkeit und damit als Garantie der Geltung ansieht. Die bloße Zwangsordnung wird mit dem Zwang erlöschen. Für die Zeit der Ausübung des Zwanges wird die Rechtsordnung positiv sein, und selbst Massentötungen von Tausenden von Menschen ohne hinreichenden Grund auf Grund von Staatsbefehlen werden von vielen trotz ihrer Unsittlichkeit in abzulehnender Weise nicht als Mord, sondern als Hinrichtung angesehen; denn nach diesem positiven Recht waren Staatsorgane ermächtigt und zuständig, solche Handlungen zu setzen. Die Zurechnungsregel exculpiert die Taten dieser Menschen für die Dauer der Positivität dieser Ordnung. Diese Form der Positivität der Rechtsordnung wird sich aber auf längere Zeit nicht halten können. Die Geschichte selbst lehrt uns, daß die vom juristischen Positivismus vertretene Ansicht falsch ist, wonach die verpflichtende Kraft des positiven Rechts sich aus der physischen Gewalt ableiten lasse. Die verpflichtende Kraft des positiven Rechts drückt sich nämlich gleich der Geltung, die im Einzelnen die Stimme wachruft: „Du sollst", in einem Rechtssatz aus, der nicht bloß positiv ist, das heißt gesetzt wurde, sondern gilt. Er erhält seine Bestandsgarantie von jenem letzten, von nichts weiter ableitbaren Erkenntnisvorgang, in dem das Individuum in einem subjektiven Erlebnis erfährt, „daß es im konkreten Fall etwas ,soll'".40 Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang die Feststellung von Arthur Kaufmann: 38

Laun, a.a.O., S. 328. Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1967, S. 11. 40 Laun, a.a.O., S. 330; beachte auch Josef Isensee, Ein Grundrecht auf Ungehorsam gegen das demokratische Gesetz? — Legitimation und Perversion des Widerstandsrechtes, in: Frieden im Lande, vom Recht auf Widerstand, hgb. von Basilius Streithofen, Bergisch-Gladbach 1983, S. 159 f.: „Die rechtsstaatliche Demokratie lebt aus dem freien Gehorsam aller Bürger. Der Gesetzesgehorsam ist die naturrechtliche Voraussetzung aller demokratischen Gesetzlichkeit. Selbst der hartnäckigste Gesetzespositivist kann nicht umhin, dieses naturrechtliche Fundament zu akzeptieren." 39

III.

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ber Geltung und Autorität

„Schließlich hält auch die Behauptung, das Recht begnüge sich mit bloßer Legalität, genauerem Zusehen nicht stand. Das wäre nur dann richtig, wenn der Rechtssatz nichts weiter wäre als ein Zwangsbefehl, ein reiner Imperativ. Aber wir haben schon gesehen, daß Befehl und Zwang als solche kein Sollen begründen können. Pflichtcharakter erhalten sie nur dann, wenn ihnen ein Wert zugrunde liegt . . . So ist ja auch allenthalben zu beobachten, daß dem Recht die Rechtsgesinnung keineswegs gleichgültig ist." Er betont auch: „Wer wie die Rechtspositivisten im Zwang das Wesen des Rechts sieht, spricht ihm die Fähigkeit, Pflichten zu begründen, ab, und er ist nicht imstande, das Recht von bloßer Gewalt und Terror durch ein materiales Merkmal zu unterscheiden." 41 Geltung und Wirksamkeit Die Geltung einer Rechtsnorm ist zwar, Hans Kelsen hat es bereits ausgedrückt, als ein Sollen von der Wirksamkeit, die eine Seinstatsache, ist, zu unterscheiden, ein bestimmter Zusammenhang besteht aber insoferne, als „eine Norm, die nirgends und niemals angewendet und befolgt wird, das heißt, eine Norm, die — wie man zu sagen pflegt — nicht bis zu einem gewissen Grad wirksam ist, nicht als gültige Rechtsnorm angesehen wird". 42 Die Wirksamkeit ist also Bedingung der Geltung, 43 und zwar insofern, „als Wirksamkeit zur Setzung einer Rechtsnorm hinzutreten muß, damit diese ihre Geltung nicht verliere. Dabei ist zu beachten, daß unter Wirksamkeit einer Rechtsnorm . . . nicht nur die Tatsache zu verstehen ist, daß diese Norm von den Rechtsorganen . . . angewendet, das heißt: daß die Sanktion in einem konkreten Fall angeordnet und vollstreckt wird, sondern auch die Tatsache, daß diese Norm von den der Rechtsordnung unterworfenen Subjekten befolgt, das heißt: daß das Verhalten an den Tag gelegt wird, durch das die Sanktion vermieden wird." 44 41

Arthur Kaufmann, Recht und Sittlichkeit, Recht und Staat, Heft 282/ 283, Tübingen 1964, S. 32 f. 42 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 10, beachte auch S. 215 ff. 43 Siehe auch Hans Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, Wien 1979, S. 112 f. 44 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 11.

Β. Die Autorität

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Die Wirksamkeit muß also der Setzung folgen, damit die Geltung Bestand hat. I n die Determinologie Kelsens übertragen, bedarf es eines Seinsvorganges, damit ein Sollen auch gesichert ist Kelsen hat auch die erforderliche Breite der Wirksamkeit ernannt, die zur Bestandsgarantie der Geltung erforderlich ist, nämlich sowohl die Rechtsanwendung durch die Normkonkretisierungsorgane in Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Verwaltung sowie die Normbefolgung durch die Normadressaten. Für den Rechtsgehorsam in der Normbefolgung sind von Ordnungsbewußtsein, Rechtsüberzeugung, Angst vor Sanktionen angefangen, sicher verschiedene Beweggründe maßgebend, die ethische bzw. moralische Einstellung des einzelnen Normadressaten ist sicherlich mitbestimmend, wenngleich nicht für alles, was die Wirksamkeit der Geltung bestimmt, deckungsgleich.

Wirksamkeit

und Moral

Recht und Moral haben verschiedene Gründe ihres Ordnungsanspruches und auch verschiedene Sanktionsfolgen der Nichtbeachtung ihres Ordnungsanspruches. Sie sind aber beide auf menschliches Verhalten gerichtet und drücken eine gewisse Positivität aus. Hans Kelsen bemerkt: „In diesem — d u r c h menschliche Akte — GesetzSein und der im Vorhergehenden gekennzeichneten Wirksamkeit als Bedingung der Geltung liegt die Positivität der Moral und des Rechts. So wie die Tatsache des Göboren-Werdens und ErnährtWerdens Bedingungen des Lebens eines Menschen, nicht aber das Leben selbst sind, so sind die Seins-Tatsachen des Gesetz-Werdens und des Wirksam-Seins Bedingungen der Geltung einer Norm, aber nicht diese Geltung selbst."45 Hans Kelsen selbst hat die für diese Wirksamkeit wesentlich bestehende moralische Voraussetzung der Normgeltung nicht ausgedrückt. Es wäre nämlich dann in bestimmter Weise das Sollen der Norm von der Motivationskraft der Ethik abhängig, was wohl nicht zu leugnen ist. Georg Jellinek hat bereits 1908 in seiner Studie über 45

Kelsen, Allgemeine Theorie, S. 114.

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III. Über Geltung und Autorität

„Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe" erklärt: „Das Recht ist nichts anderes als das ethische Minimum." 46 Franz Klein nahm hernach 1912 in seiner Studie über „Die psychischen Quellen des Rechtsgehorsams und der Reditsgeltung" darauf Bezug und forderte: „Die Bezeichnung des Rechts als ethisches Minimum will nicht besagen, daß die Sittlichkeit im Rechte immer auf einem möglichst niedrigen Fuße bleiben muß und nie über die rohesten, kümmerlichsten Pflichten hinausgehen dürfe. Darum ist es keineswegs von Übel, wenn die Rechtsprechung die jeweils vollkommensten, bestkultivierten Vorgangsweisen der Verkehrssitte zum Muster und zur Richtschnur nimmt, sich tunlichst an ihre obere Schicht hält, statt sie durch zu karge Auslegung auf ein tieferes Niveau herabzuziehen." 47 Auch Franz Klein ist von der ordnungsstiftenden und den Einzelnen motivierenden Kraft der Ethik insofern ausgegangen, als er meinte, „daß sittliches Handeln im Dienste des Rechtes eine allgemeine, man könnte sagen, konstitutive Erscheinung ist. Die Sittlichkeit ist durch die ganze Gesellschaft hindurch mit dem Phänomen des Rechtsgehorsams verflochten, letzteres ist eine gemeinsame Schöpfung sittlichen und sanktionsmächtigen rechtlichen Sollens".48 Geltung, vom Rechte gesagt, heißt für Klein: „sich dadurch gebunden, verpflichtet halten, es als Norm eines Handelns innerlich anerkennen und befolgen" 49; „eine Norm gilt, wenn sie die Fähigkeit hat, motivierend zu wirken. Auf den Höhepunkten der Rechtsgeltung dagegen ist entscheidend, daß und wie sich die Individuen durch die Norm bestimmen, motivieren lassen".50 Rechtsbewußtsein und Autorität Sittliches Rechtsbewußtsein und Autorität des Staates sind komplementäre Größen. Die innere Zustimmung des Normadressaten ist 46 Georg Jellinek, Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, 2. Aufl., Berlin 1908, S. 45. 47 Franz Klein, Die psychischen Quellen des Rechtsgehorsams und der Rechtsgeltung, Berlin 1912, S. 57. « Klein, a.a.O., S. 58. 49 Klein, a.a.O., S. 72. 50 Klein, a.a.O., S. 77.

Β. Die Autorität

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die echte Antwort auf das durch Autorität des Gesetzgebers hervorgerufene Sollen. Für die Positivität des Rechtes mag die Macht in Form des Zwanges ausreichen, für die Geltung ist aber mehr erforderlich, die Autorität. Die Autorität ist daher jener Grund der Geltung, welcher dem Sinn der Geltung am besten entspricht, sie ist der normative Ausdruck des sittlichen Auftrags der Rechtsidee. Bereits die Römer verstanden unter auctoritas, siehe senatus auctoritas, die Geltung. Von dem Vorhandensein der Autorität eines Gesetzgebers, von seinem sittlichen Ansehen wird es abhängen, wie ein Staat beurteilt wird, ob ihm bloß für die Dauer der Angst gefolgt wird, oder ob er auf eine auf sittlicher Uberzeugungskraft innerer Zustimmung ruhende Gefolgschaft seiner Bürger rechnen kann. Jeder Gesetzgeber hat die Freiheit, den sittlichen Gehalt der Bindung des Einzelnen an seine Ordnung zu bestimmen. Die ihm zur Verfügung stehende Spannweite ist sehr groß, sie reicht von der Positivität bis zur Autorität einer Ordnung, d.h. von ihrem Gesetzwerden bis zu ihrem Gelten. Jeder Gesetzgeber hat das ihm wesensmäßige Streben zu gelten. Gelten aber heißt in seiner einleuchtendsten und gängigsten Sinngebung anerkannt sein. So wird doch auch ein Mensch, der etwas gilt, als ein angesehener Mensch anerkannt. Ansehen ist aber stets mit Würde und Würde mit Wert verbunden. Einen solchen Wert zu haben, versucht, wenn auch bisweilen nur vortäuschend oder mit untauglichen Mitteln, jeder Gesetzgeber, der dem Einzelnen gegenübertritt. Geltung und Verbindlichkeit Mag es für die Entstehung einer Rechtsnorm genügen, daß sie auf dem Willen des Gesetzgebers beruht, so ist es aber für ihren längeren Bestand erforderlich, daß ihr Rechtssatzinhalt auch verbindlich ist, d. h. Gültigkeit im sittlichen Sinn beanspruchen kann. Die Geltung ist der Ausdruck eines zeitlichen, die Verbindlichkeit eines überzeitlichen Bestandes der Norm. Beide Ordnungsprinzipien sind in einer positiv-rechtlichen Norm dann vereint, wenn der Gesetzgeber in ihr auch der Sittenordnung entsprochen hat. Die Macht positiv-rechtlichen Wollens und die des sittlichen Werturteils fallen dann zusammen und werden nach dem Grad an sittlichem Wertbewußtsein ein Maß an Befolgung zeitigen können, ohne das eine volle Wirksam-

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III. Über Geltung und Autorität

keit und damit ein dauernder Bestarid der Geltung letztlich nicht möglich ist. So schwierig es ist, die Erkenntnis sittlicher Werte mit der naturwissenschaftlichen Kenntnissen eigenen Genauigkeit zu beweisen, so eindeutig ist es aber, daß ohne sittliche Wertbetrachtung das Gesetz zum Recht des Stärkeren degradiert würde, was eine Gleichsetzung von Recht und Macht zur Folge hätte. Der eigentliche Sinn des Rechtsbegriffes würde dadurch verloren gehen und letztlich jedes Gesetz, selbst das unsittliche, auch als gerecht beurteilt werden. Daß dies bisher in der Rechtsgeschichte nie der Fall war, beweist die Notwendigkeit ständiger Konfrontation des positiven Rechts mit seinen präpositiven Prinzipien, wie sie aus der Rechtsidee und ihren Elementen erkennbar sind. So schreibt auch Hans Nawiasky: „Das Recht geht dem Gesetz vor wie das innere Wesen eines Gegenstandes seinen äußeren Erscheinungsformen." 51 Verbindlichkeit

und Sittlichkeit

Es sei auch nicht außer acht gelassen, daß die Erfüllung einer Rechtspflicht wohl mehr voraussetzt als die bloße Angst vor einer allzu schweren Unrechtsfolge, sie verlangt auch nach der Erkenntnis des sittlich Notwendigen. Nur im sittlichen Bewußtsein kann letztlich eine Pflicht begründet werden. Diese Sittlichkeit, aus der allein die Verbindlichkeit aufzudecken ist, darf nicht als Inbegriff abstrakter Begriffe und Prinzipien gesehen werden, sondern vielmehr als der Ausdruck der Übereinstimmung von Handlungen und Haltungen mit den dem Menschen und den Sachen wesensmäßig eigenen Zwekken. Im einzelnen wird die sittliche Verbindlichkeit der „existentiellen Zwecke" (Johannes Messnerf 2 durch die „Sachrichtigkeit" 53 bestimmt. Sie macht das objektive Kriterium des Sittlichen aus, das allen Menschen in gleicher Weise zugänglich ist. Die Fähigkeit des Menschen, sittlicher Grundsätze einsichtig zu werden, darf aber nicht des Umstandes wegen bestritten werden, daß es Menschen gibt, 51 Hans Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl., Einsiedeln - Zürich Köln 1948, Vorwort, S. X X . 32 Johannes Messner, Das Naturrecht, 3. Aufl., Innsbruck - Wien - München 1958, S. 40. 53

Die Sachrichtigkeit wird aus der „Natur der Sache" bestimmt; über diese siehe Herbert Schambeck, Der Begriff der „Natur der Sache", österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht 1959/60, N. F. B d . X , S. 452 ff.

Β. Die Autorität

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welche das Unsittliche dem Sittlichen vorziehen. Dies hieße nämlich, den Fehler zur Regel erheben zu wollen, um darauf eine Ordnung zu begründen. Die Erkenntnis der Sittenordnung ist deshalb notwendig, weil „aus Gewalt niemals eine Pflicht abgeleitet werden kann, auch dann nicht, wenn man die Gewalt ,Recht4 nennt", 54 aus ihr kann höchstens ein Zwang entstehen. Dem Zwang wird mehr aus Angst vor der Strafe gefolgt, der Pflicht jedoch aus der Überzeugung des sittlich Notwendigen entsprochen.55 Wenn jedoch die Furcht vor den Unrechtsfolgen das ausschließliche Moment ist, 56 das zum Gesetzesgehorsam veranlaßt, dann werden die Wirksamkeit und die Geltung vorwiegend der Angst des Normadressaten vor der Strafandrohung und nicht seinem Rechtsbewußtsein ihr Dasein verdanken. Diese Geltung wird, da sie nicht mit der Verbindlichkeit gepaart ist, nur für die Dauer der wirksamen Zwangsdrohung gegeben sein und mit dieser schwinden. Anders ist dies, wenn der gesetzgeberische Befehl mit einer sittlichen Pflicht einhergeht, die von sich aus den Einzelnen auf Dauer zu binden vermag. Die sicherste Bindung des Einzelnen an das Gesetz ist dann gegeben, wenn der Normadressat erkennt, nicht bloß aus einem äußeren unvermeidbaren Zwang oder einer höchstpersönlichen Wertvorstellung heraus zu einer bestimmten Ordnung verhalten zu sein, sondern wenn er gewahr wird, wie Laun es ausdrückt, „daß jeder in der gleichen Lage ein inhaltlich gleiches Sollen erleben würde". 57 Dies ist die objektive Erfahrung des Sittlichen. Entspricht der Gesetzgeber dieser präpositiven Ordnung, dann macht er dem Einzelnen, unter Voraussetzung der Erkenntnis des sittlich Notwendigen durch denselben, den Rechtsgehorsam leicht. Er wird in diesem Fall das Gesetz als gerecht empfinden. 54

Rudolf von Laun, Recht und Sittlichkeit, 3. Aufl., Berlin 1935, S. 9. So meint auch Laun, a.a.O., S. 29: „Der Stärkere kann mich zwingen, aber nicht verpflichten, wenn mir selbst nicht mein Gewissen und Rechtsgefühl die Verpflichtung schafft, ihm zu gehorchen." 56 Gustav Böhmer, Grundlagen der bürgerlichen Rechtsordnung, Tübingen 1951, I I , 1, S. 225, meint sogar, „weniger die Freiheit als Minimum an spießbürgerlicher wirtschaftlicher Geborgenheit ist im Werturteil weiter Volkskreise das »höchste Gut', dem die Freiheit bedenkenlos oder resigniert geopfert wird". 55

57

Laun, a.a.O., S. 71.

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III. Über Geltung und Autorität

Wenn den Menschen auch bisweilen die Erfahrung der sittlichen Verantwortung fehlt, darf das sittliche Wertbewußtsein doch nicht als irrelevant betrachtet werden. Wollte man dies aber doch tun, so käme dies der Ansicht gleich, als würden die Menschen nur deshalb nicht ständig morden, weil sie die Todesstrafe oder den lebenslangen schweren Kerker fürchten und nicht, weil sie sich nicht für bevollmächtigt erachten, über das Leben eines Mitmenschen nach Willkür zu verfügen. Stets wird ein Teil der Menschen die Erfüllung einer Rechtspflicht als sittliches Gebot ansehen, ein anderer bloß als geringeres Übel. Je nachdem, in welchem Maß das Gesetz auf Normen der Sittenordnung Bedacht nimmt und das sittliche Wertbewußtsein ausgeprägt ist oder nicht, wird der Gesetzesbefehl auf einem autonomen oder heteronomen Sollen beruhen. Laun geht sogar so weit zu sagen, daß wir bei der Verbindung des Begriffes „positiv" mit dem Begriff „Recht" voraussetzen, „daß wenigstens ein großer Teil der Akte des tatsächlichen Gehorsams auf autonomem Sollen beruht", 58 und er mag nicht unrecht haben, denn je mehr Menschen auf Grund ihrer autonomen Werterkenntnis das positive Recht befolgen, auf desto sichererem Boden befindet sich die Staatsgewalt. Ein Widerspruch von Geltung und Verbindlichkeit entsteht jedoch, wenn die positiv-rechtliche Ordnung etwas gebietet, was mit der sittlichen Ordnung unvereinbar ist. Beispiele hiefür bieten sich in großer Zahl in den Rechtsordnungen totalitärer und autoritärer Staaten. 59 Diese Sittenwidrigkeit kann dreifach begründet sein: sie kann sich aus dem Inhalt oder den Folgen des Gesetzes ergeben oder auch dadurch entstehen, daß ein sittlich indifferentes Verhalten von dem Normadressaten verlangt wird. In diesem Fall ergibt sich die Frage, ob die juristische Geltung von der Übereinstimmung mit dem Sittengesetz abhängig ist. 60 Die Antwort sei zunächst aus einer reali58

Laun, a.a.O., S. 54. Beachte ζ. B. schon den Bericht der Internationalen Juristenkommission: Recht in Fesseln, 1955. 60 Karl Bergbohm, Jurisprudenz u. Rechtsphilosophie, Leipzig 1892, S. 398, leugnete anscheinend die Berechtigung einer solchen Fragestellung, wenn er schrieb: „Und gerade dem um seiner Schädlichkeit oder Inhumanität mißfälligen Recht gegenüber bewährt sich erst des reinen Juristen vornehmste Tugend: die Fähigkeit, seinen Verstand jeder Beeinflussung selbst durch die tiefsten persönlichen Überzeugungen u. heißesten Herzens59

Β. Die Autorität

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stischen Betrachtung der Rechtegeltung gegeben. Danach ist eine sittenwidrige positive Rechtsnorm so lange gültig, als sie imstande ist, eine Ordnungsfunktion dadurch zu erfüllen, daß sie ein Minimum an Schutz gewährt. Sollte dazu aber ein Gesetzgeber nicht imstande sein, dann sind seine unverbindlichen Normen auch nicht gültig, weil sie nämlich nicht einmal der Rechtssicherheit zu dienen vermögen. Diese positive Rechtsordnung verliert ihren spezifischen Wertcharakter, da sie keine „wirklichkeitsgestaltende Kraft" (Hans Welzelf 1 mehr hat. In positiv-rechtlicher Sicht ist die Beantwortung der Frage, wie lange ein sittenwidriges Gesetz in Geltung ist, davon abhängig, ob der betreffende Verfassungsgesetzgeber auf dem sittlichen Gehalt übergesetzlichen Rechtes aufbaut oder nicht. I m ersteren Fall ergibt sich die Antwort aus dem Inhalt des positiven Rechtssatzes höheren Ranges, dem der niederen Ranges zu entsprechen hat. Tut dies der einfache Gesetzgeber nicht, so ist sein Gesetzesbeschluß als verfassungswidrig anfechtbar. Der vorgegebene Wertmaßstab ist nämlich positiviert worden, was zur Folge hat, daß jeder sittenwidrige Rechtssatz aufgehoben werden kann, der dieser staatlichen Fundamentalordnung widerspricht. 62 Anders ist die Rechtslage, wenn der Verfassungsgesetzgeber keinen Bezug auf die Sittenordnung nimmt. In diesem Fall sind dem Belieben des einfachen Gesetzgebers in bezug auf die Sittenordnung keine positiv-rechtlichen Schranken gesetzt, so daß jener Normkonflikt eintreten kann, in dem es, wie Adolf Merkl immer wieder sagte, „ehrenwerter ist, durch den Staat als für den wünsche zu entziehen, die Befriedigung derselben nur auf dem Wege der Rechtsumbildung erwartend." 61 Hans Welzel, Naturrecht und Rechtspositivismus, in: Festschrift für Hans Niedermeyer, Göttingen 1953, S. 288. 62 Über die Vielzahl an Rückgriffen der Gerichte auf das Sittengesetz und verwandte Begriffe in der Judikatur der deutschen Gerichte siehe Albrecht Langner, Der Gedanke des Naturrechts seit Weimar und in der Rechtsprechung der Bundesrepublik, Bonn 1959, insbes. S. 94 f. und die dort angegebenen Belegstellen. Beachte auch Eberhard Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, 1. Teil, Göttingen 1952, S. 225, sowie Hans-Ulrich Evers, Der Richter und das unsittliche Gesetz, Berlin 1956; Gebhard Müller, Naturrecht und Grundgesetz, zur Rechtsprechung der Gerichte, besonders des Bundesverfassungsgerichts, Würzburg 1967 sowie Herbert Schambeck, Richteramt und Ethik, Berlin 1982.

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III.

ber Geltung und Autorität

Staat zu sterben". Auch in diesem letztgenannten Fall sucht meist der betreffende Gesetzgeber in irgendeiner Weise eine sittliche Rechtfertigung seiner Befehle zu erlangen; selbst der Nationalsozialismus erachtete nach der Beseitigung der Grundrechte zumindest eine Entschuldigung vor sich selbst durch seine Ideologie als erforderlich, was aber nicht gelang. Er wollte auf diese Weise wenigstens den Schein des sittlichen Sollensf 3 wahren. Sieht man mit Laun die Positivität des Rechtes in der Tatsächlichkeit, dann darf diese nicht bloß in der Tatsächlichkeit der Rechtsanwendung gesehen werden, sondern es muß auch die Tatsächlichkeit des sittlichen Wertbewußtseins miteinbezogen werden. So gesehen, bedeutet das Wort Recht „ein an diese Tatsächlichkeit geknüpftes Werturteil". 64 Das Gesetz hat in diesem Sinn nicht bloß ein durch einen Zwangsapparat durchsetzbares Müssen zu enthalten, sondern auch ein Sollen, das aus dem den Menschen eigenen sittlichen Werterlebnis erfahrbar ist. So bestimmt sich der Grad der Positivität des Rechtes sowohl nach dem Macht- und Zwangsapparat, über den ein Gesetzgeber verfügt, als auch nach dem sittlichen Bewußtsein sowie dem Gewissen, das der Mehrzahl der Normadressaten zu eigen sein soll.65 Beides ist notwendig für die dauernde Geltung einer positiven Rechtsnorm 66 und für jenes Maß an Ansehen des positiven Rechtes, 63

Hans Fehr, Die Ausstrahlung des Naturrechts der Aufklärung in die neue und neueste Zeit, Vortrag gehalten am Internationalen Historikerkongreß in Zürich, 1936, insbes. S. 26 ff., hat ein solches Recht sehr treffend und anschaulich als das isolierte Naturrecht der totalitären Staaten bezeichnet. 64 Laun, a.a.O., S. 52. 65 Den Zusammenhang von Rechtsgeltung und Rechtsgehorsam hat klar Karl Lorenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, Berlin - Göttingen Heidelberg 1960, S. 149, im Anschluß an den Satz bei Ludwig Ennecerus Hans Karl Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 15. Aufl., Tübingen 1959, I, § 30, Anm. 4: „Unter Rechtssatz ist also nicht ein grammatikalischer Satz, der sich auf das Recht bezieht, sondern eine das Rechtsleben gestaltende Rechtsregei zu verstehen", aufgedeckt: „Das »Rechtsleben' zu gestalten, vermag der Rechtssatz nur dadurch, daß er in das Rechtsbewußtsein, und zwar in der für die jeweilige Situation erforderlichen Bestimmtheit, aufgenommen wird." 66

Laun, a.a.O., S. 329, bezeichnet den Satz „Das positive Recht gilt" als eine Tautologie, denn nach der positivistischen Rechtslehre gilt j a jedes Recht, da „Gelten" und „Positivsein" dasselbe ist.

Β. Die Autorität

97

das die Autorität 67 ausmacht, durch die die Ordnung gilt. Geraten sie in Widerspruch zueinander, dann kann Widerstand gegen die Staatsgewalt die Folge sein.

67 Siehe dazu Gerhard Möbus, Autorität und Disziplin in der Demokratie, Köln 1959.

7 Schambeck

I V . Über Widerstand und positives Recht Der Widerstand kann in verschiedener Weise geleistet werden, er kann u. a. im Unterlassen von Handlungen, in mündlicher und schriftlicher Kritik, in öffentlichen und geheimen Druckwerken, in Grenzvergehen, im Streik, im Boykott, in der Emigration, Sabotage, Wehrdienstverweigerung und im Aufstand bestehen.1 In jedem dieser beispielsweise genannten Fälle wird eine bestehende Ordnung in Frage gestellt, ist doch Widerstand gegen etwas auch gleichzeitig Kritik an etwas. Auf diese Weise führt der Widerstand, welchen Grund er immer haben mag, zu einer Spannung zwischen dem Staat und dem Einzelnen. Somit ist der Widerstand Ausdruck einer Konfrontation von Staat und Einzelnem, von positiver und präpositiver Ordnung und die Ausübung des Widerstands eine Konfliktsituation im Staat.

A. Die historische Entwicklung des Widerstandsgedankens Christentum und Widerstandsrecht Der Gedanke des Widerstandes? setzt eine kritische Haltung des Einzelnen dem Staat gegenüber voraus. Dies war, abgesehen von Ansätzen bei einzelnen antiken Philosophen,3 in umfassender Weise 1 Beachte Günther Scheidle, Das Widerstandsrecht, Berlin 1969, insbes. S. 130 ff.; Josef Isensee, Ein Grundrecht auf Ungehorsam gegen das demokratische Gesetz?, in: Frieden im Lande, vom Recht auf Widerstand, hgb. von Basilius Streithofen, Bergisch-Gladbach 1983, S. 160 f. 2 Siehe u. a. Kurt Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstand des Volkes gegen rechtswidrige Ausübung der Staatsgewalt, Breslau 1916; Widerstand gegen die Staatsgewalt, Dokumente der Jahrtausende, hgb. von Fritz Bauer, Frankfurt a. Main 1965; Karl Friedrich Bertram, Widerstand und Revolution, Berlin 1964, sowie Adolf Merkl, Das Widerstandsrecht gegen die Staatsgewalt im Lichte christlicher Ethik, in: Naturordnung in Gesellschaft, Staat, Wirtschaft, Festschrift für Johannes Messner, hgb. von Joseph Höffner u.a., Innsbruck 1961, S.467ff.

Α. Die historische Entwicklung des Widerstandsgedankens

99

erst durch das Christentum der Fall. Dieses hat anfangs auf Grund seines Glaubensgutes4 den einzelnen Christen dem heidnischen Staat gegenüber zur Unterlassung des heidnischen Götzendienstes, also zu einem passiven Widerstand, veranlaßt. Als das Christentum 313 Staatsreligion wurde, war es mitverantwortlich für den Staat geworden, dessen Herrscher damit auch Pflichten im Sinne der christlichen Staatsethik übernahm, deren Erfüllung beurteilt werden konnte. So sieht sogar die fränkische „Reichsordnung" 817 ein förmliches Strafverfahren gegen einen tyrannischen Herrscher vor und 833 folgte der kirchlichen Bestrafung Ludwig des Frommen auch der Verlust der Herrscherrechte.

Germanisch-mittelalterliches

Widerstandsrecht

Dieses kirchliche Widerstandsrecht erlangte während des Investiturstreites besondere Bedeutung, was nicht zuletzt in diesem Maße deshalb erklärlich ist, weil schon in der germanischen Zeit die Überzeugung vom Recht zum Widerstand wegen Rechtsverletzungen vorhanden war. Fritz Kern bezeichnete sogar das Widerstandsrecht als einen integrierenden Bestandteil der germanisch-mittelalterlichen Staatsanschauung.5 Dieses Recht findet seine Wurzel im germanischen Volksrecht, das schon gewohnheitsrechtlich ein „Verlassen" des Herrschers aus Mängeln, die in seiner Person liegen, kannte. Solche Fehler waren neben der körperlichen und geistigen Unfähigkeit des Herrschers seine „Gesetzlosigkeit". „Wenn also der König das Recht bricht, verliert er ohne weiteres, eben durch sein Handeln, den Anspruch auf den Gehorsam der Untertanen." 6 Nur ein getreuer Herr3

Dazu Josef Anton Stiittler, Das Widerstandsrecht und sein Rechtfertigungsversuch im Altertum und i m frühen Christentum, Archiv für Rechtsund Sozialphilosophie 51, 1965, S. 495 ff. 4

Siehe besonders Markus 12, 17; Apostelgeschichte 5, 29; Matthäus 7, 1 und Römerbrief 13,1 und 2. 5 Fritz Kern f Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im frühen Mittelalter, 2. Aufl., hgb. von Rudolf Buchner, Münster - Köln 1954, S. 138 ff. 6 Kern, a.a.O., S. 152; beachte auch Wilhelm Sickel, Zum karolingischen Thronrecht, in: Festschrift für Alfred S. Schultze, Leipzig 1903, S. 121 ff.: „Die allen Reichsangehörigen gemeinsam und von den Königen selbst geteilte Rechtsüberzeugung von rechtlichen Verpflichtungen des Königs hat die Voraussetzung für eine rechtmäßige Verlassung des Herrschers gebil-

7*

100

IV. Über Widerstand und positives Recht

scher konnte getreue Untertanen erwarten. Kern erklärt deshalb auch die chronische Permanenz der Aufstände im Mittelalter nicht bloß als Ausdruck selbstsüchtiger Auflehnung und Anarchie, sondern vielmehr eines dunklen Rechtsbewußtseins, „das jedem, der sich vom König in seinem Recht gekränkt fühlt, die Befugnis zusprach, für die Rechtsverweigerung sich selbst Genugtuung zu verschaffen". 7 Auf die aus verletztem Rechtsbewußtsein entspringenden spätmittelalterlichen Fehden des Südostens weist Otto Brunner hin. 8

Lehensrechtliches Widerstandsrecht Aus dem individuellen Widerstandsrecht entwickelte sich später das lehensrechtliche Widerstandsrecht Dieses Recht gründet sich auf dem mit dem Lehen entstandenen Treueverhältnis zwischen Lehensherrn und Lehensmann, bei dessen Verletzung ein Recht zum Widerstand entsteht. Anfangs genügte es einfach, den ungetreuen Lehensherren zu verlassen, später wurde es auch erforderlich, die Lehenstreue feierlich aufzukündigen. Damit war aus dem formlosen Widerstandsrecht eine formelle Rechtseinrichtung geworden. 9 Dieses Widerstandsrecht ist sowohl in seiner formlosen wie in seiner formellen Prägung der Ausdruck eines Treueverhältnisses mit einer Gegenseitigkeit von Herrscher- und Untertanenrechten und -pflichten. Welche Rolle das Widerstandsrecht im frühmittelalterlichen politischen und juristischen Denken spielte, zeigt der Karolingische Staatsvertrag aus dem Jahre 842. In diesem werden die Untertanen als Bürger für ordnungsmäßige Vertragserfüllung zugleich zu Richdet . . . Die Vorstellung, daß das, was vom Herrn Untergebenen zu gewähren ist, im Rechtssinne geschuldet wird, ist allem germanischen Verbandsrecht immanent . . . I n allen Fällen erscheint das Verhalten des Gewaltträgers, der den Gewaltunterworfenen Gebührendes versagt oder Ungebührliches zufügt, als Unrecht. Hier wurzelt die im Mittelalter so vielfach lebendig gewordene und nicht selten in Rechtssätzen ausgeprägte A n schauung, daß, wenn der Herr seine Schuldigkeit verletzt und Zwang gegen ihn ausgeschlossen ist, auch die Untergebenen ihre Pflicht ledig wurden und das Recht des Ungehorsams haben." 7

Kern, a.a.O., S. 158.

* Otto Brunner, Land und Herrschaft, 4. veränderte Aufl., Wien - Wiesbaden 1959, S. 21 ff. 9 Carl Heyland, Das Widerstandsrecht des Volkes, Tübingen 1950, S. 9.

Α. Die historische Entwicklung des Widerstandsgedankens

101

tern über das Verhalten des Königs dadurch bestellt, daß Ludwig der Deutsche und Karl der Kahle ihre Untertanen von Gehorsam und Treue für den Fall entbinden, daß sie den Vertrag verletzen. 10 Weitere Beurkundungen des Widerstandsrechtes sind in der folgenden Zeit u. a. in England und Ungarn erkennbar. 11 Die geistige Grundlage für dieses Widerstandsrecht ist, wie Carl Heyland n feststellt, durch Jahrhunderte die Lehre von der Volkssouveränität und vom „Herrschaftsvertrag", der als zwischen Herrscher und Volk bestehend angenommen wird. Ständisches Widerstandsrecht Als später neben die Fürsten immer mehr die Stände traten, wurde im ständisch organisierten Staat das Widerstandsrecht von den Ständen zum Schutz ihrer Eigeninteressen und der Interessen ihrer Untertanen ausgeübt.13 Bisweilen wird dieses Recht auch allen Untertanen zugesichert. Das Widerstandsrecht diente dem Schutz bestimmter verfassungsmäßiger Rechte der Stände und des Volkes, wie u. a. der Bewilligung von Steuern, der Zustimmung zur Münzprägung, dem Recht auf Teilnahme an der landesherrlichen Verwaltung und das Recht auf unparteiischen Rechtsschutz.14 Dabei geht es u. a. um das Recht der Landstände auf eine gerechte Rechtsprechung.15 Verletzte der Landesherr eines der Rechte, so gefährdete er damit seine Autorität, denn in diesem Fall waren die Stände berechtigt, Widerstand zu leisten. Man kann daher sagen, daß die Freiheitsrechte des Mittelalters in der vertraglichen Selbstbindung des Herrschers gegenüber seinen Untertanen ihren Grund finden. 16 Dabei weist Theo Mayer-Maly 17 darauf hin, daß der Vertrag die typische Rechtsform der Bindung darstellte und Vertrag und Privileg im Mittelalter eine 10

Monumenta Germaniae, 3. Aufl., S. 36 ff. Siehe Heyland, a.a.O., S. 14. 12 Heyland, a.a.O., S. 17 f. und S. 27 ff. 13 Wolzendorff, a.a.O., S. 29 ff. und S. 74 ff. 14 Siehe Wolzendorff, a.a.O., S. 56 ff. « Heyland, a.a.O., S. 25 f. 16 Robert Keller, Freiheitsgarantien für Person und Eigentum im Mittelalter, Beiträge 14, 1., Heidelberg 1933, S. 38, 238, 243 und 293. 17 Theo Mayer-Maly, Zur Rechtsgeschichte der Freiheitsidee in Antike und Mittelalter, österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. V I N. F., Wien 1955, S. 421. 11

102

IV. Über Widerstand und positives Recht

ebenso taugliche Form genereller Normen wie das Gesetz war, denn nach Bartolus ist „der Vertrag dessen, der Gesetze erlassen kann, Gesetz".18 Naturrechtliches

Widerstandsrecht

Je mehr jedoch später die Herrscher ihre Macht vergrößerten und am europäischen Kontinent an die Stelle des ständischen Staates der absolute Staat trat, desto mehr wurde diese Bedeutung des Vertrages und das Widerstandsrecht verdrängt. In einem Staat, in dem nämlich die Staatsgewalt nicht zwischen dem Herrscher und den Ständen als den Repräsentanten des Volkes aufgeteilt wurde, sondern vielmehr ungeteilt in den Händen des Herrschers verblieb, mußte das Widerstandsrecht als Einrichtung des positiven Rechts verschwinden. An die Stelle eines dialogischen Spannungsverhältnisses trat nun die Wirkkraft der monologischen Macht. Das Widerstandsrecht lebte aber als naturrechtliche Idee in den Lehren verschiedener Theologen und Rechtsphilosophen weiter. Martin Luther, 19 Calvin ,30 die Monarchomachen, 21 Johannes Althusius ,22 Hugo Grotius 23 seien als Beispiel genannt. Ein Durchbruch in das positive Recht gelangt dem Widerstandsrecht in Europa erst im Anschluß an die französische Revolution 1789. Seit dieser Zeit hat das Widerstandsrecht, das seit den Uranfängen des Rechtsdenkens als bester Beweis für den dialogischen Charakter der Rechtssetzungsautorität galt, einen sichtbaren Ausdruck im modernen positiven Recht gefunden. Es nahm sich die Entwicklung in Nordamerika zum Vorbild, wo bereits der Aufruf des ProvinzialKongresses von Massachusetts 1775, hernach 1776 die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von Virginia, Pennsylvania und Maryland, sowie 1777 von Vermont, 1780 von Massachusetts und 1784 von 18 Tractatus repressalarium, in: Consilia questiones et Tractatus, Lyon 1547, S. 117. 19 Martin Luther, Von weltlicher Obrigkeit, 1523. 20 Johann Calvin, Institutio religionis christianae, 1559. 21

Siehe Calvinische Monarchomachen, hgb. von Jürgen Dennert, Köln und Opladen 1968. 22 Beachte Peter Jochen Winters, Die Politik des Althusius und ihre zeitgenössischen Quellen, Freiburg i. Br. 1963, bes. S. 260 ff. 23 Hugo Grotius, De iure belli ac pacis libri très, 1625.

Α. Die historische Entwicklung des Widerstandsgedankens

103

New Hampshire die Erklärung des Widerstandsrechtes beinhalteten. Unter diesem Einfluß stehend enthält der Art. 2 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 als natürliches und unveräußerliches Grundrecht das Recht auf Widerstand: „Le but de toute association est la conversation des droits naturels et imprescriptibles de l'homme. Ces droits sont la liberté, la propriété, la sûreté et la résistance a l'oppression", das auch in den französischen Verfassungen von 1791 und 1793 enthalten ist. Auf diesen Grundrechten von 1789 baut auch die französische Verfassung vom 4. November 1848 auf. Diese Grundrechte haben sich einschließlich des Widerstandsrechtes im Rechtsdenken der Franzosen so eingelebt, daß selbst Carl Schmitt erklärte: „Die Prinzipien der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 haben sich im Bewußtsein der Franzosen so fest eingebürgert, daß ihre Festsetzung in der Verfassung sich erübrigt." 34 In diesem Sinne enthalten auch die französischen Verfassungsgesetze von 1875 keine Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte.

Widerstandsrecht

und Volkssouveränität

Neben der amerikanischen Verfassungsgesetzgebung hat dieses Widerstandsrecht seine geistige Wurzel in der Lehre Jean Jacques Rousseaus. Rousseau geht zwar in seinem „Contrat social" nicht von der dualistischen Auffassung der Staatsgewalt aus, die den Ständestaat beherrschte, sondern vielmehr von einer einheitlichen unteilbaren Staatsgewalt, die nach seiner Lehre von der Volkssouveränität beim Volk ruht. Das Volk macht auch den Staat erst möglich, da es sich bekanntlich in einem eigenen Vertrag, dem sogenannten Gesellschaftsvertrag, zusammenschließt. In dieser Identität von Herrscher und Beherrschten liegt das Prinzip der Volksherrschaft begründet. Das Volk selbst ist souveräner Gesetzgeber, der in jedem Bereich des Lebens eingreifen kann. Da für Rousseau die Staatsgewalt eine Einheit ist, faßt er die Einsetzung eines Gouvernements nicht wie bisher als Vertrag, sondern als einseitigen Rechtsakt auf. Das leitende Exekutivorgan des Staates befindet sich auch zur freien Verfügung des Volkes. Aus dieser Konstruktion ergeben sich nach Rous34

Carl Schmitt, Verfassungslehre, München und Leipzig 1928, S. 128.

104

IV. Über Widerstand und positives Recht

seau zwei Möglichkeiten des Widerstandes: einmal, wenn die Gewalt der Regierung anders ausgeübt wird, als es der gesetzgeberische Wille vorschreibt, ein andermal, wenn der Wille des Gesetzgebers selbst jene Vorschriften ändert. 25 Dieses Widerstandsrecht beruht auf dem Gesellschaftsvertrag; denn wird dieser in den beiden genannten Fällen verletzt, treten die Bürger wieder in ihre ursprünglichen Rechte zurück. 26 In diesem Zustand schulden sie keinen Gehorsam méhr und können somit Widerstand leisten. Während der Gedanke des Widerstandes im allgemeinen, der Gedanke des Verlustes der Herrscherstellung wegen Verletzung gewisser verfassungsrechtlicher Bestimmungen im besonderen, das englische,27 amerikanische, französische und skandinavische28 Rechtsdenken beherrschte, war dies im deutschen Rechtskreis später nicht der Fall. In Deutschland wurde nämlich der absolute Staat durch den konstitutionellen Staat abgelöst, in dem der Einzelne durch eine Verfassung geschützt wurde, zu deren Erlassung das Volk den Monarchen veranlaßte und welche keinen Bezug auf ein neben oder über dem positiven Staatsrecht herrschendes Recht kennt. Den Entzug der naturrechtlichen Grundlage des Widerstandes hatte bereits Immanuel Kant vorbereitet: „Der Grund der Pflicht des Volkes einen selbst den für unerträglich ausgegebenen Mißbrauch der obersten Gewalt dennoch zu ertragen, liegt darin: daß sein Widerstand wider die höchste Gesetzgebung selbst niemals anders als gesetzwidrig, ja als die ganze gesetzliche Verfassung vernichtend geachtet werden muß. Denn, um zu demselben befugt zu sein, müßte ein öffentliches Gesetz vorhanden sein, welches diesen Widerstand des Volkes erlaubte, das heißt, die oberste Gesetzgebung enthielte eine Bestimmung in sich, nicht die oberste zu sein und das Volk, als Untertanen in einem und demselben Urteil zum Souverän über den zu machen, 25 Jean Jacques Rousseau, Contrat social, Liv. I I I , chap. Χ , X V I — X V I I I ; siehe auch Wolzendorff, a.a.O., S. 354. 26 Rousseau, a.a.O., Liv. I I I , chap. X . 27 Julius Hatschek, Englisches Staatsrecht, Tübingen 1905, Bd. I, S. 596 ff. 28 Beachte C. Goos und Henrik Hansen, Das Staatsrecht des Königreiches Dänemark, Tübingen 1913, S. 46 ff., den Art. 1 der Norwegischen Verfassung vom 4. November 1814 und die Schwedische Thronfolgeordnung von 1810. Wenn auch religiöse Gründe für den Thronverlust angegeben werden, so ist dieser selbst Ausdruck des Widerstandes, d. h., der Grenzen der Herrschaft.

Α. Die historische Entwicklung des Widerstandsgedankens

105

dem es untertänig ist; welches sich widerspricht." 29 Für Kant nimmt das positive Recht den ganzen Rechtsbegriff in sich auf. Dem Widerstandsrecht fehlte damit die Legitimation.

Widerstandsrecht

und konstitutioneller

Staat

Die Situation des Widerstandsrechtes im konstitutionellen Staat hat wohl Kurt Wolzendorff am besten gekennzeichnet: „Der Staat ist uns die höchste Macht im menschlichen Gemeinschaftsleben, eine auf sich selbst gestellte Herrschergewalt, die von keiner anderen Macht abgeleitet ist. Im modernen Staat ist aber diese Herrschermacht ,in das Recht gestellt4, ihre Wirkungen geschehen im Rahmen der Rechtsordnung, der Staat ist Rechtsstaat. Daher würde für den modernen Staat die Anerkennung eines Volkswiderstandsrechtes den rechtlichen Verzicht auf die Wahrung seiner Herrschermacht bedeuten, also eine Selbstentäußerung seines Wesens. Eine andere Rechtsquelle als solch eigener Verzicht des Staates ist aber für den Staat nicht zu denken. Denn der Verlust der aus seinem Wesen sich ergebenden Rechtsmacht zur Geltendmachung seiner Herrschergewalt, die mit der rechtlichen Existenz einer den Widerstand gegen sie gestattenden Norm gegeben wäre, ist für uns rechtlich anders nicht konstruierbar, weil wir eine rechtliche Bindung der Staatsgewalt nur kennen als freiwillige, als Selbstbindung. Ein Recht zu prinzipeller Bekämpfung oder gar Vernichtung der Staatsgewalt, wie es das Recht des Volkswiderstandes bedeuten würde, ist daher in sich unmöglich." 30 An die Stelle des Rechtes auf Widerstand trat immer mehr ein Recht auf Schutz durch die Verfassung und ihre Rechtseinrichtungen. Da das Volk im Zuge der Demokratisierung des Verfassungsstaates immer mehr Einfluß auf das Staatsgeschehen erlangte, meinte man durch ein demokratisches Staatsrecht genügend geschützt zu sein.31 Der Einfluß des Volkes auf die Gesetzgebung einerseits und 29 Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, I I . Teil, 5. Kap. Auch Fichte anerkennt in Überwindung des Dualismus von positivem und Naturrecht nur mehr ein Recht, das in der Form des positiven Rechts auftritt. Siehe dazu Johann Gottlieb Fichte, Grundlagen des Naturrechts nach Prinzipien der Wirklichkeitslehre, Jena und Leipzig 1796. 30

Wolzendorff,

a.a.O., S. 461 f.

106

IV. Über Widerstand und positives Recht

die Gewaltenteilung und die Rechtsstaatlichkeit der Vollziehung, d. h. insbesondere die Bindung der Vollziehung an die Gesetze andererseits, wurden als hinreichender Schutz angesehen. Als hiezu noch die Gerichtsbarkeit öffentlichen Rechts in Form der Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit, die u. a. die Möglichkeit der Überprüfung aller Rechtsakte auf ihre Gesetzmäßigkeit durch unabhängige Richter bietet, wirksam wurde, glaubte man die Freiheit des Einzelnen endgültig gesichert zu haben. In einem solchen Staat war ein Widerstandsrecht seinem Anschein nach überflüssig geworden; die Verfassung hat den Schutz des Einzelnen übernommen. Man strebte daher in der deutschen Rechtsentwicklung nicht nach einer Anerkennung des Widerstandsrechtes, sondern nach der Gewährung einer Verfassung und in ihr nach einer Ausführung der Grundsätze des demokratischen Rechtsstaates.32 Der auf Grund dieser Verfassung tätige Gesetzgeber sollte nach der vom deutschen Reichsgericht formulierten Ansicht selbstherrlich und nur an diejenigen Schranken gebunden sein, die er sich selbst in der Verfassung und den Gesetzen gegeben hat. 33 Carl Schmitt erklärte auch das Widerstandsrecht als vor- und überstaatliches Menschen- und Freiheitsrecht für juristisch nicht organisierbar und hielt seine Umleitung in ein staatlich zugelassenes Rechtsmittel für ausgeschlossen.34 An die Stelle des Widerstandsrechtes scheint somit das subjektive öffentliche Recht des Einzelnen getreten zu sein. Es besteht aber ein 31 M i t Recht stellt Heyland, a.a.O., S. 76 fest: „Seit dem Ende der Revolution von 1848 ist der Gedanke des Widerstandsrechts in Deutschland tot." 32 Eine Ausnahme bildete die Tübinger Rechtsfakultät, die im 26. Jänner 1839 in einem zum hannoveranischen Verfassungskonflikt von 1837 erstatteten Gutachten erklärte, daß der staatsbürgerliche Gehorsam nicht unbedingt, sondern eine durch die Verfassung bedingte Pflicht ist. Die Untertanen sind daher dem Herrscher gegenüber nicht schutzlos, sondern vielmehr zum Widerstand berechtigt, wenn gegen die Verfassung oder gegen Gesetze gehandelt worden ist, durch welche die regierende Macht erst ihre Bestimmimg erhalte. Beachte dazu Gutachten der Juristen-Fakultät in Heidelberg, Jena und Tübingen, die Hannoversche Verfassungsfrage betreffend, hgb. von Friedrich Christof Dahlmann, 1839, S. 131 ff., insbesondere S. 273 ff. 33 34

RGZ 118, S. 327. Schmitt, a.a.O., S. 164.

Α. Die historische Entwicklung des Widerstandsgedankens

107

großer Unterschied zwischen beiden. Während nämlich der Widerstand meist auf eine präpositive Wertordnung bezogen ist, richtet sich der Verfassungsschutz und das richterliche Prüfungsrecht auf den Schutz des positiven Rechts des Gesetzgebers. Dieser Schutz stellt eine Scheininstitutionalisierung des Widerstandes dar. Steht es doch dem Gesetzgeber in derselben Weise, in der er die Grenzen seines Handelns bestimmen kann, auch frei, die Maßstäbe der Überprüfung festzustellen. Eine solche Rechtsauffassung läßt für das Widerstandsrecht des Volkes keinen Raum, denn für sie steht die Ordnung des Staates im Mittelpunkt ihres Strebens. Ein Freiheitsanspruch des Einzelnen wird nur soweit anerkannt, als er die Ordnung des Staates nicht gefährdet.

Widerstandsrecht

und Demokratisierung

Der Versuch eines Ausgleiches zwischen dem Rechtsschutzbedürfnis des Einzelnen und des Staates wurde auf dem Wege der Demokratisierung der Staatsfunktionen und der Gewaltenteilung unternommen. Das Spannungsverhältnis zwischen dem Einzelnen und dem organisierten Herrschaftsverband, von präpositiven Werten und positiven Wertungen sollte durch eine innersystematische Polarität ersetzt werden. Diese war jedoch gefährdet, als im deutschen Rechtskreis die „Selbstherrlichkeit" des Gesetzgebers einen Willkürcharakter annahm, und die demokratischen Einrichtungen im Zuge des mit dem Autoritätsstreben verbundenen Totalitätsanspruches immer inhaltsleerer wurden, um schließlich die Grundrechte als einen „Aufstand des Egoismus gegen die Volksgemeinschaft" zu bezeichnen. Die totalitären Herrschaften der Gegenwart haben es ja bewiesen, daß dem Einzelnen zunächst die präpositive Wertbezogenheit seines Rechtsdenkens unmöglich gemacht wird, um ihn hernach dem Wertungsstreben des jeweiligen Gesetzgebers auszuliefern. Welches Maß an Mißachtung die Würde des Menschen erfuhr, hat die politische Geschichte des 20. Jahrhunderts gezeigt.

108

IV. Über Widerstand und positives Recht B. Positiviertes Widerstandsrecht

Als sich nach dem 2. Weltkrieg die Möglichkeit der Erneuerung des Rechtsdenkens eröffnete, wurde dem Einzelnen im deutschen Verfassungsrecht eine Garantie des Rechtsschutzes seiner Persönlichkeit gewährt: es wurden nach angloamerikanischem Vorbild vor- und überstaatliche Grundrechte des Menschen anerkannt, ja das Bonner Grundgesetz erklärt sogar im Art. 79 (3) u. a. eine Änderung der in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze, die sich auf die Menschenwürde, die Rechtsverbindlichkeit der Grundrechte, die Staatsform und die Rechtsstaatlichkeit beziehen, für unzulässig. Sollte also der Gesetzgeber die Würde des Menschen verletzen, indem er etwa die Grundrechte suspendiert, so hört dieser Staat im Rechtssinn auf zu bestehen, es ist ein Bruch der Rechtskontinuität eingetreten. Andererseits wurde eine an der demokratischen Idee ausgerichtete Organisation der obersten Staatsfunktionen geschaffen. Einzelne deutsche Landesverfassungen gingen einen Schritt weiter und positivierten die Idee des Widerstandes.

Das Widerstandsrecht

in den Verfassungen

deutscher Länder

So bestimmt der Art. 23 (3) der Verfassung von Berlin vom 1. September 1950: „Werden die in der Verfassung festgelegten Grundrechte offensichtlich verletzt, ist jedermann zum Widerstand berechtigt." In dieses Neuland am weitesten vorgestoßen ist wohl die Hessische Verfassung vom 1. Dezember 1946 in Art. 147: „(1) Widerstand gegen verfassungswidrig ausgeübte öffentliche Gewalt ist jedermanns Recht und Pflicht. (2) Wer von einem Verfassungsbruch oder einem auf Verfassungsbruch gerichteten Unternehmen Kenntnis erhält, hat die Pflicht, die Strafverfolgung des Schuldigen durch Anrufung dee Staatsgerichtshofes zu erzwingen. Näheres bestimmt das Gesetz." Eine ähnliche Bestimmung findet sich im Art. 19 der Verfassung der freien Hansestadt Bremen vom 21. Oktober 1947: „Wenn die in der Verfassung festgelegten Menschenrechte durch die öffentliche Gewalt verfassungswidrig angetastet werden, ist Widerstand jedermanns Recht und Pflicht."

Β. Positiviertes Widerstandsrecht Das Widerstandsrecht

109

im Bonner Grundgesetz

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland enthielt zunächst 1949 den Widerstand weder als Recht noch als Pflicht; der parlamentarische Rat 35 hatte damals bei den Beratungen über das Grundgesetz davon abgesehen, das Widerstandsrecht trotz der Anerkennung seines Bestehens in die Verfassung aufzunehmen, da es als ein übergesetzliches Recht verstanden wurde, das sich nur schwer in einem Gesetz durch das positive Recht eingrenzen ließ. Diesen Standpunkt gab der Bundestag 1968 auf und übernahm das Widerstandsrecht als Art. 20 Abs. 4 des Grundgesetzes in das Bundesverfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutsche das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist." 36 Art. 20 Abs. 4 GG ist eine besondere Regelung der Widerstandsleistung; sie ist nicht, wie die klassischen Fälle des Widerstandes, in Aktiv- oder Passivhaltung gegen den Staat, sondern vielmehr auf den Schutz seiner Ordnung gerichtet und das sowohl gegen den Staatsstreich, etwa in Putschform von oben, wie gegen die Revolution von unten. Klaus Stern betonte: „daß es sich beim positivierten Widerstand des Art. 20 Abs. 4 GG nur um einen Ausschnitt aus dem allgemeinen, nicht positivierten Widerstandsrecht handelt, der in der Verfassung eine Regelung gefunden hat. Es ist herrschende Meinung, daß Art. 20 Abs. 4 GG das übergesetzliche Widerstandsrecht unberührt läßt, unbeschadet der Schwierigkeit, diesem einen klar konturierten Inhalt zu geben".37 Auf diese Weise ist das Widerstandsrecht des Art. 20 Abs. 4 GG in den Dienst des Schutzes besonderer Verfassungsgrundsätze gestellt. 35 Siehe 44. Sitzung des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates vom 19.1.1949. 36 Beachte Josef Isensee, Das legalisierte Widerstandsrecht, Bad Homburg - Berlin - Zürich 1969, S. 96 ff. und derselbe, Ein Grundrecht auf Ungehorsam, S. 155 ff.; Hans Schneider, Widerstand im Rechtsstaat, Juristische Studiengesellschaft Karlsruhe, Schriftenreihe, Heft 92, Karlsruhe 1969, S. 10 ff.; Günther Scheidle, Das Widerstandsrecht entwickelt anhand der höchstrichterlichen Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1969, S. 145 f. sowie Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I I , München 1980, S. 1503 ff. 37

Stern, a.a.O., S. 1507.

110

IV. Über Widerstand und positives Recht

Es soll zur Ausübung kommen, „wenn andere Abhilfe nicht möglich ist", d.h. ersatzweise, also subsidiär. Diese andere Abhilfe, die zum Schutz der genannten Verfassungsgrundsätze zunächst zu ergreifen ist, besteht im Rechtsweg. Aus dem Wortlaut des Art. 20 Abs. 4 GG kann eindeutig entnommen werden, daß der Rechtsweg dem Widerstandsrecht vorgeht. Der Widerstand kann nur dann erhoben werden, wenn der Rechtsweg erschöpft, bzw. fruchtlos geblieben ist oder überhaupt nicht ergriffen werden kann. Sollte es auch von vornherein offenkundig sein, daß der Rechtsweg aussichtslos und die Gefahr für die zu schützenden Verfassungsgrundsätze sehr groß und unmittelbar ist, dann braucht ebenfalls nicht abgewartet zu werden. Dieser Grundsatz der Subsidiarität in der Ausübung des Widerstandsrechtes zeigt die Grenzen des positiven Rechts und den Charakter des Widerstandes als ultima ratio des Rechtsschutzes.38 Da das Widerstandsrecht als ultima ratio des Verfassungsschutzes angesehen wird, kommt es darauf an, alle Voraussetzungen seines Einsatzes genau zu bestimmen. Aus diesem Grund hat man auch bei den Beratungen im Bundestag und Bundesrat 39 immer wieder betont, daß der neue Art. 20 Abs. 4 den Grundsätzen folgen solle, die das Bundesverfassungsgericht entwickelt habe. Da das Bundesverfassungsgericht in seinem KPD-Urteil von einem Widerstandsrecht in dem Fall spricht, daß „das mit dem Widerstand bekämpfte Unrecht offenkundig" sei,40 meint Hans Schneider, daß man auch bei der jetzigen Fassung des Art. 20 Abs. 4 G G das Merkmal der Evidenz hineininterpretieren dürfe, also lesen müsse: „Gegen jeden, der es offensichtlich unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen . . " 4 1 Der durch den auszuübenden Widerstand abzuwehrende offenkundige Angriff kann — wie schon betont wurde — verschiedener Natur sein; er kann einerseits als Aufstand ein von privater Seite, nämlich vom Volk ausgehender Umsturz oder andererseits als Putsch der Mißbrauch der Amtsgewalt von Personen sein, die an den Schalthebeln der Macht im öffentlichen Leben sitzen. I m erstgenannten 38 So auch Isensee, a.a.O., S. 37; beachte auch das Protokoll der 174. Sitzung des Bundestages vom 15. Mai 1968. 39 Deutscher Bundesrat, 326. Sitzung, 14. Juni 1968, S. 1380 ff. 40 BVerfGE 5, S. 377. 41 Hans Schneider, a.a.O., S. 19.

Β. Positiviertes Widerstandsrecht

111

Fall würde dem Versuch, auf illegalem Weg zur Macht zu gelangen und im zweitgenannten Fall dem Bemühen, die auf legalem Weg erlangte Macht zu illegalen Zwecken zu verwenden, zu begegnen sein. Wenngleich der Art. 21 GG das Parteienprivileg beinhaltet, das den Parteien erstmals eine bestimmte Mitwirkung am Prozeß der Staatswillensbildung sichert, geht das Widerstandsrecht des Art. 20 Abs. 4 dem Parteienprivileg des Art. 21 vor, 42 könnte doch dieses Parteienprivileg unter Umständen auch zu illegalen Zwecken mißbraucht werden, ohne daß das Bundesverfassungsgericht eine solche Partei eventuell in einer bestimmten Lage verbieten könnte. Diese zum Schutze der freiheitlichen demokratischen Ordnung zu setzenden Handlungen des Widerstandes sind daher Akte der Verteidigung eines bestehenden Zustandes der Geltung festumrissener Verfassungsgrundsätze und stellen zum Unterschied von einer Revolution nicht die Herbeiführung eines bisher nicht bestandenen Zustandes dar. Der Art. 20 Abs. 4 kann daher nicht zur Legitimierung von Umsturzhandlungen mißbraucht werden, enthält doch gerade diese Bestimmung als Staatsnothilferecht bzw. Verfassungsschutzbestimmung eine Ermächtigung, einen solchen Umsturzversuch zu verhindern. In dieser Sicht ist Klaus Stern mit seiner Feststellung zuzustimmen: „Als Norm des Verfassungsschutzes ist Art. 20 Abs. 4 GG verteidigender, konservierender, nicht aber reformatorischer oder gar revolutionärer Natur. Der letzteren Tendenz gegenüber verhält sie sich geradezu konträr, als »Gegenbild der Revolution4, wie Isensee zutreffend bemerkt 4 3 Aus gleichem Grunde ist das Widerstandsrecht auch kein Instrument zur Umgestaltung der Sozialordnung, ganz abgesehen davon, daß sein Einsatz zu solchem Zweck stets an der Subsidiaritätsklausel scheitern würde. Art. 20 Abs. 4 G G ist Ordnungs-, nicht Umgestaltungsfaktor. Er gewährleistet ein statisches, aber kein dynamisches Recht.44 4 4 Da nach dem Grundgesetz das Volk Quelle und oberster Träger der Staatsgewalt ist, ist es verständlich, daß Art. 22 Abs. 4 auch das 42 43 44

Siehe Bertram, Das Widerstandsrecht, S. 68 ff. Isensee, a.a.O., S. 53. Stern, a.a.O., S. 1509 f.

112

IV.

ber Widerstand und positives Recht

Volk zum Ergreifen des Widerstandes als Verfassungsschutz aufruft. Da Widerstand nur von Einzelnen geleistet werden kann, ist dieses Widerstandsrecht als individuelles Grundrecht zu verstehen. 45 Vergleicht man diese im Art. 22 Abs. 4 GG vorgesehene Ermächtigung zum Widerstand mit den ihr vorangegangenen Ermächtigungen zum Widerstand in den Verfassungen von Berlin, Bremen und Hessen in bezug auf das Schutzobjekt, so kann festgestellt werden, daß die Widerstandsermächtigung im Art. 19 der Bremer Verfassung und Art. 23 Abs. 3 der Verfassung von Berlin insoferne enger gezogen sind, als beide Widerstand nur zum Schutze der Grundrechte vorsehen; die in Art. 22 Abs. 4 GG vorgesehene Widerstandsermächtigung ist darüber hinausgehend, da sie sich auf den Schutz der Grundsätze der Verfassungsordnung überhaupt bezieht und damit dem weiten Umfang des Schutzobjektes der Widerstandsermächtigung des Art. 147 Abs. 1 der Hessischen Verfassung nahekommt, die den Widerstand „gegen verfassungswidrig ausgeübte öffentliche Gewalt" erlaubt. Andererseits bleibt die Widerstandsermächtigung doch hinter denselben der Verfassungen von Hessen und Bremen zurück, als sie zum Unterschied von diesen keine Verpflichtung, sondern nur eine Berechtigung zum Widerstand beinhaltet. Welchen Umfang die Widerstandsermächtigung immer haben mag, ihre Aufnahme in das Gesetz wirft die Frage auf, welche Bedeutung die Positivierung für die Ausübung des Widerstandes haben kann. C. Wert und Anwendbarkeit eines positivierten Widerstandsrechtes Wer das positivierte Widerstandsrecht im System des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland betrachtet, ist veranlaßt, es als einen Ausdruck der weiteren Entwicklung der demokratischen Rechtsstaatlichkeit aufzufassen. Das Volk, von dem die Staatsgewalt ausgeht und dessen oberster Träger sie ist, wird zum Schutze der Gewalt und der Einrichtungen des Staates gegen Mißbrauch aufge45

Schneider, a.a.O., S. 15; beachte auch seine Ausführung zum Ausmaß der Ermächtigung zum Widerstand im Hinblick auf die i m Art. 22 Abs. 4 verwendeten Worte „allen Deutschen"; dazu auch Ferdinand v. Peter, Bemerkungen zum Widerstandsrecht des Art. 22 Abs. 4 GG, Die öffentliche Verwaltung 1968, S. 719 ff.

C. Wert und Anwendbarkeit eines positivierten Widerstandsrechtes 113 rufen. Es ist erklärlich, daß diese Entwicklung zum positivierten Widerstandsrecht gerade in Deutschland Platz gegriffen hat, das in seiner jüngsten Geschichte die gröbsten Verletzungen der Grundrechte bei gleichzeitiger Ohnmacht der für Wirksam gehaltenen Rechtsschutzeinrichtungen der Vollziehung erlebte. Um Wiederholungsfälle zu vermeiden, wurde dieses individuelle Grundrecht des positivierten Widerstandes geschaffen. Der Rechtsträger des Widerstandsrechtes Wurde Widerstand vom Einzelnen in den Jahrhunderten abendländischer Geschichte oft gegen die autorisierten Träger der Staatsgewalt ergriffen, weil sie die ihnen im Rahmen ihrer Ermessenssphäre auf Grund eines meist autoritären und totalitären politischen Ordnungssystems legal zustehende Macht in gemeinwohlwidriger Weise ausübten, also Widerstand gegen den Staat leisteten, handelt es sich hier um einen Widerstand, der vom Einzelnen nicht gegen das politische System eines Staates, sondern im Dienst des Staates zu seinem Schutz geleistet werden soll. Dieser Widerstand hat daher, es sei wiederholt, keinen revolutionären, sondern vielmehr konservativen Charakter. Dies ist erklärlich, da nach dem Grundgesetz das Volk schon Träger der Staatsgewalt ist und es nicht erst werden muß. Sein Widerstand richtet sich daher nicht gegen eine als ungerecht empfundene Rechtsordnung, sondern steht im Dienste einer vom Einzelnen anerkannten Rechtsordnung. Handlungen, für deren Beurteilung nicht die Gemeinwohlwidrigkeit, sondern der Widerspruch gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung maßgeblich ist, können auf Grund des Art. 22 Abs. 4 GG vom Einzelnen abgewehrt werden. Die bestehende Ordnung soll so geschützt werden. Dieser konservative Charakter des positivierten Widerstandes des Art. 22 Abs. 4 GG ist schon aus der Geschichte des positivierten Widerstandsrechtes im Deutschen Recht nach 1945 erkennbar. Sie ist gekennzeichnet von der Überzeugung des Unvermögens des auf die Zeit der konstitutionellen Monarchie zurückgehenden und später von der Weimarer Republik übernommenen Rechtsschutzes. So erklärte ja auch der Abgeordnete Bauer bei der zweiten Lesung des hessischen Verfassungsentwurfes zu dem damaligen Art. 127, dem heutigen 8 Schambeck

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IV. Über Widerstand und positives Recht

Art. 147: „Es wurde einmütig festgestellt, daß es auf keinen Fall noch einmal möglich sein darf, daß mit Hilfe der Verfassung und durch die Verfassung ein neuer Adolf Hitler oder eine nationalsozialistische Partei an die Macht kommt . . . Es wird festgestellt, daß es jedermanns Pflicht sei, für den Bestand der Verfassung mit allen ihm zu Gebot stehenden Kräften einzutreten. Es ist dies ausdrücklich festgestellt worden, damit nicht noch einmal Menschen nach einer bestimmten Terrorperiode sich damit herausreden können, daß sie sagen: ,Ja, ich hatte doch gar keine Möglichkeit, gegen den Nationalsozialismus Stellung zu nehmen, ich war doch irgendwie gebunden und außerdem war es mir gar nicht vorgeschrieben'." 46 So sehr es zu begrüßen ist, daß man in Deutschland bestrebt ist, aus der rechtlichen und politischen Entwicklung der Vergangenheit zu lernen, ist es doch nicht ganz problemlos, den Einzelnen im positiven Recht selbst zum Widerstand zu legitimieren. Die Gründe, welche die Positivierung des Widerstandsrechtes bedenken lassen, sind mannigfach. Die Praktikabilität

des Widerstandsrechtes

Geht man vom geltenden deutschen positiven Recht aus, muß man erklären, daß die auch vom Grundgesetz bejahten Erfordernisse des Rechtsstaates die Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit in der Ausübung der Rechtseinrichtungen verlangen. Das ist aber beim positivierten Widerstandsrecht nicht der Fall. Es gibt und kann auch auf Grund der Natur der zu bewältigenden Gegebenheit keine Instanz geben, welche genau bestimmt, wann und in welchem Ausmaß Widerstand zu leisten ist. Da der Widerstand als subsidiärstes Rechtsschutzmittel zum Einsatz kommen soll, ist das etwaige denkbare staatliche Institutionensystem nicht mehr wirksam vorhanden. Diesem positivierten Widerstandsrecht fehlt daher das vom Rechtsstaat immer geforderte Maß an Rechtssicherheit. Bemerkenswert ist, daß Konrad Hesse in diesem Zusammenhang erklärte: „Da es in einer Widerstandslage keine Instanz gibt, die autoritär entscheiden könnte, ob die Voraussetzung eines Unterneh46 Stenographische Protokolle der 5. Sitzung der Verfassungsberatenden Landesversammlung, Groß-Hessen, H. 1, S. 40/41.

C. Wert und Anwendbarkeit eines positivierten Widerstandsrechtes 115 mens der Beseitigung dieser Ordung wirklich vorliegt, muß dieses Unternehmen offenkundig sein."47 Dieses dem Rechtsstaat eigene Maß an Rechtssicherheit widerspricht geradezu dem mit jedem Widerstand verbundenen Risiko. Da das Widerstandsrecht in das Verfassungsrecht aufgenommen wurde, wird in bestimmter Weise sogar eine Rechtsunsicherheit Teil des Gehaltes der Verfassung. Diese durch die Positivierung des Widerstandes entstandene Rechtsunsicherheit wird auch durch den Anschein, daß die etwaige Ausübung des Wilderstandes Verfassungsvollzug wäre, geradezu verdeckt, was die Unsicherheit noch potenziert, da für den Fall des Falles die verfassungsmäßigen Normalund Ausnahmezustände fast nahtlos ineinander übergehen.4® Hesse muß dies erkannt haben, denn er stellt fest: „Trotz seiner tatbestandmäßigen Umschreibungen ermöglicht Art. 20 Abs. 4 G G keine klare Bestimmung der Fälle zulässigen Widerstands. I m Zeitalter der perfektionierten Techniken einer ,kalten4 Revolution werden die Lagen, die er voraussetzt, schwerlich in voller Reinheit eintreten und erkennbar sein . . . Statt dessen trägt die Bestimmung die Gefahr in sich, daß sie dazu benutzt wird, rechtswidrige Aktionen mit dem Schein rechtsstaatlicher Legalität zu umgehen und damit einen inneren Notstand auszulösen oder zu verschärfen, gegen dessen Gefahren sie nach den Vorstellungen ihrer Schöpfer gerade sichern sollte. Deshalb muß Art. 20 Abs. 4 GG so restriktiv wie möglich interpretiert werden." 49 Neben diesen Bedenken, die sich aus der Sicht des positiven Rechts ergeben, müssen auch solche geäußert werden, die sich im Hinblick auf die Tatsache zeigen, daß der Widerstandsgedanke Teil der Idee präpositiver Ordnung und der Widerstand gleichsam die Sanktion für Verletzung einer präpositiven Ordnung ist. Diese Sanktionsmög47

Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechtes der Bundesrepublik Deutschland, 15. Aufl., Heidelberg 1985, S. 283; er verweist auch in Fußnote 14: „Die durch Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a G G eingefügte Möglichkeit, das Widerstandsrecht im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend zu machen, kann praktische Bedeutung nur für die nachträgliche Entscheidung der Frage erlangen, ob konkrete Widerstandshandlungen gerechtfertigt waren oder nicht." 48 49



I n diesem Sinne auch Isensee, a.a.O., S. 102. Hesse, a.a.O., S. 284.

116

IV. Über Widerstand und positives Recht

lichkeit läßt sich auf dem Wege der Denaturierung durch Positivierung nicht institutionalisieren. Ist doch der Widerstand Ausdruck einer Gewissensentscheidung, die von einem präpositiven Ordnungsdenken getragen ist. Auch der Art. 22 Abs. 4 GG zeigt, daß der Widerstand in seiner positivierten Form eine Gewissensentscheidung geblieben ist, die niemand dem Einzelnen abnehmen kann. Durch die Positivierung entsteht aber die Gefahr, daß nicht allein, wie bereits aufgedeckt, u. a. das Risiko des Widerstandes verdeckt und ein Übergang vom Normal- zum Ausnahmezustand unkontrollierbar hergestellt wird, sondern daß der präpositive Charakter des Widerstandes verloren gëht, da das positive Recht den unbeschränkten Rückgriff auf präpositive Rechtsvorstellungen verbietet.

Vorteile

eines Verzichtes

auf Positivierung

des Widerstandsrechtes

Will man daher abschließend Vor- und Nachteile einer Positivierung des Widerstandes, wie er im Art. 22 Abs. 4 auch seinen Ausdruck gefunden hat, abwägen, muß diese Positivierung abgelehnt werden. Der Widerstand kann vom Einzelnen als Staatsnothilfe auch freiwillig ohne Positivierung ergriffen werden, ist doch auch der Bestand eines überstaatlichen Rechtes, wie es das Widerstandsrecht ist, von seiner Aufnahme in das positive Recht und seiner mehr oder weniger möglichen Präzisierung und Formulierung in einem Gesetz unabhängig.50 Es hängt auch die Ausübung des Widerstandes nicht vom Inhalt eines Gesetzes, sondern von der Wachheit des Gewissens des Einzelnen ab. Dieses Gewissen wird wesentlich vom Wissen des Einzelnen um seine politische Verantwortung bestimmt. In diesem Sinne haben auf Grund ihrer Gewissensüberzeugung die frühen Christen ohne einen Gesetzesauftrag — im Gegenteil sogar gegen diesen — Widerstand geleistet. Später allerdings ist der Widerstand jahrhundertelang dadurch profaniert und säkularisiert worden, daß die Leistung des Widerstandes eine Sartktion im Dienste des positiven Rechtes der jeweiligen Herrschaftsordnung, sei es ζ. B. des Lehensund Ständestaates, war. Als Naturrechtsgebot bestand aber die Idee des Widerstandes unabhängig von dieser ihrer Profanierung weiter und wurde auch als 50

So auch Scheidle, a.a.O., S. 143, Anm. 143.

C. Wert und Anwendbarkeit eines positivierten Widerstandsrechtes 117 Naturrechtsgebot gefördert und geleistet. Als nach der Französischen Revolution das Widerstandsrecht wieder im Zusammenhang mit dem Schutz von Menschenrechten in Frankreich positiviert wurde, erwies es sich im Laufe der Entwicklung als so verwurzelt im Rechtsbewußtsein des Volkes, daß es in Frankreich keiner Positivierung bedurfte. Wenn nun die Idee des Widerstandes im deutschen Staatsrecht nach 1945 wieder aufgelebt ist, ist dies insoferne verständlich, als das deutsche Staatsrecht, sowohl auf Landes- wie auf Bundesebene, von einer Anerkennung des Naturrechtes und seinen gemeinwohlorientierten Forderungen ausgeht. Es erhebt sich nun die Frage, ob eine solche Staatsrechtsordnung zum Schutze ihrer Grundsätze der Positivierung des Widerstandes bedarf. Die dazu angestellten Erwägungen lassen diese Frage nicht vorbehaltlos bejahen, da es sich gezeigt hat, daß sich das naturrechtliche Widerstandsrecht positivrechtlich nicht leicht einordnen läßt. 51 Das Widerstandsrecht kann auf Grund seines präpositiven Charakters konstitutiv weder positivrechtlich gewährt noch genommen werden. Durch die Positivierung des Widerstandsrechtes entsteht vielmehr die Gefahr des Anscheins, es würde der präpositive Bezug dieses Rechtes verloren gehen. So hat Hans Klecatsky bereits gewarnt: „Der totale positivistische Staat ist in dem Augenblick grundgelegt, in dem ihm auch nur eine naturrechtsfreie, dem Widerstandsrecht verschlossene Zelle zugestanden wird" und die berechtigte Frage gestellt: „Warum soll das naturrechtliche Gebot zum Widerstand dort minder beachtlich sein, wo der Widerstand gegen den harmlosen Rechtsstaat und daher gefahrlos zu üben wäre?" 52 Durch Positivierung des naturrechtlichen Widerstandsrechtes wollte man der Verfassung einen erhöhten Schutz verschaffen. Dies ist aber vor allem aus zwei Gründen problematisch: Erstens, weil die genannten Bedingungen zur Leistung des Widerstandes nicht genau genug umschrieben werden können, um eine dem Erfordernis der 51

So auch Hans Marti, Naturrecht und Verfassungsrecht, in: Rechtsquellenprobleme im Schweizerischen Recht, Festgabe für den Schweizerischen Juristenverein, Zeitschrift des Bernischen Juristenvereines, Jg. 195*5, Band 91, S. 92. 52 Hans R. Klecatsky, Der Staat von morgen, Juristische Blätter 1959, Jg. 81, S. 19.

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IV. Über Widerstand und positives Recht

Rechtssicherheit angepaßte Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit der Ausübung des Widerstandsrechtes und der Erfüllung der Widerstandspflicht zu gewährleisten. Gerade in der heutigen Zeit verbalistischer Umdeutung von Begriffen des öffentlichen Lebens ist ein Mißbrauch dieses Widerstandsrechtes von Seiten der Alternativszene in einer Form „legitimierten Ungehorsams" nicht zur Gänze auszuschließen53. Zweitens sollte nicht übersehen werden, daß auch im Rechtsstaat das naturrechtliche Widerstandsrecht des Einzelnen auch ohne Positivierung bestehen bleibt. Es kann nicht in einer positiven Rechtsnorm eingefangen werden. Ist doch auch in einem Rechtsstaat dem Gesetzgeber weiterhin die Freiheit in der Auswahl des Rechtsschutzobjektes und der Bestimmung des Maßes des Rechtsschutzes belassen, die er gebrauchen oder auch mißbrauchen kann. Es bleibt daher auch im modernen Verfassungsstaat, in dem in qualifizierter Form die Herrschermacht „in das Recht gestellt" ist, der Staat also Rechtsstaat ist, das Spannungsverhältnis zwischen normsetzendem Organ und Normadressaten bestehen. Aus dieser Erkenntnis, ergeben sich für den Widerstandsfall nur zwei Möglichkeiten: Entweder der Organwalter verweigert die Anwendung oder Vollstreckung der betreffenden obrigkeitlichen Anordnung oder aber die normunterworfenen Bürger verweigern den Gehorsam. Dies sind dann die Formen des Widerstandes. So sehr sich der Gesetzgeber auch immer um eine Verrechtlichung möglichst vieler Bereiche des Lebens und der staatlichen Tätigkeit bemühen mag, eine abschließende, endgültige, allgemeinverbindliche Form der Entsprechung des Widerstandes wird sich im positiven Recht nicht finden lassen. Art 20 Abs. 4 GG stellt aber einen bemerkenswerten Versuch positivierter Mitverantwortung des Einzelmenschen im Staat für die freiheitliche demokratische Grundordnung der 53

Isensee, Ein Grundrecht auf Ungehorsam, S. 158: „Widerstand ist seinem Wesen nach gesetzwidrig. Ein »legaler Widerstand' ist, juristisch gesehen, ein Widerspruch in sich" und S. 162: „Das Widerstandsrecht lebt erst auf, wenn die Verfahren des Rechtsstaates versagen" sowie S. 167: „Die politischen Reizthemen der aktuellen Widerstandsbewegungen aber, von der Energiepolitik bis zur Rüstungspolitik, beziehen sich nicht auf evidentes Unrecht, wenn überhaupt Unrecht im Spiel sein sollte. Solange die freie, demokratische Diskussion währt, ist Widerstand nicht nötig. Wenn die demokratische Mehrheitsentscheidung gefallen ist, ist er nicht möglich, sondern nur friedliche Überzeugungsarbeit."

C. Wert und Anwendbarkeit eines positivierten Widerstandsrechtes 119 Bundesrepublik Deutschland dar. Das Recht des Widerstandes wird daher präpositiv weiterbestehen. Wenn nämlich auch nur im Hintergrund, so übt die Möglichkeit des Widerstandes allein schon eine Regulativfunktion aus, die zu keiner Zeit zu unterschätzen ist; sie ist für den Fall eines Konfliktes zwischen Ethik und Staat die Folge einer Gewissensentscheidung des Einzelnen. Diese Entscheidung liegt ausschließlich bei ihm, sie kann ihm von einem Gesetzgeber in einem positiven Rechtssatz nicht abgenommen und auch nicht verboten werden. Sie mag eine der schwersten Entscheidungen sein, vor die sich ein Mensch gestellt sehen kann. Nicht jeder, der mißbräuchlicher Gesetzesherrschaft unterworfen war, mag zu einem solchen Widerstand bereit gewesen sein. Verlangt er doch eine Einsamkeit der Entscheidung und eine Opferbereitschaft, die die wenigsten auf sich zu nehmen bereit sind. Aus der Tatsache der nicht regelmäßigen Widerstandsleistung darf aber nicht auf ihre Unmöglichkeit geschlossen werden. Die politische Geschichte und die Rechtsgeschichte liefern dafür eine Fülle an Beispielen. Sie zeigen, daß es präpositive Bezüge des Menschen gibt, zu denen die Ethik mitzuzählen ist, welche seine Gesinnung, sein Gewissen und damit auch seinen Gehorsam gegenüber dem Staat mitbestimmen. Diese ethischen Bezüge in den Bereichen der einzelnen Staatsfunktionen und im öffentlichen Leben gilt es zu bedenken.

V. Ethische Bezüge im Staateleben Der Mehrzweckestaat Der Staat der Gegenwart ist einerseits durch seine MehrzweckeVerwendung 1 und andererseits durch eine Verideologisierung der Politik 2 gekennzeichnet. In seiner Mehrzweckeverwendung ist der heutige Staat für die Erfüllung sowohl des Rechts- und Machtzweckes wie des Kultur- und Wohlfahrtszweckes zuständig geworden. Fast hat es den Anschein, als würde der Einzelne seine jahrhundertelange Reserviertheit gegenüber dem Staat beendet haben, um immer mehr Aufgaben der Menschen dem Staat zu übertragen. 3 Durch das Übertragen von menschlichen Aufgaben an den Staat ist der Staat aber selbst nicht menschlicher geworden. Der Staat hat zwar an Aufgaben zugenommen, nicht aber in der Ausdrucks- und Motivationskraft gegenüber dem Einzelnen, der in dem Maße, in dem er den Staat immer mehr beansprucht, sein Interesse an eben diesem Staat immer mehr verliert. Verideologisierung

der Politik

Diese Mehrzweckeverwendung des Staates steht in einem engen Zusammenhang mit einer Verideologisierung der Politik, in welcher die heutige Gesellschaft mit ihren politischen Parteien und Interessenverbänden ihre ganze Pluralität einbringt. Diese Verideologisierung hat zwar die Politik transparenter, nämlich einsichtiger in ihre Wertvorstellungen und ihr Wollen gemacht, aber andererseits auch damit gegensätzlicher werden lassen. 1

Siehe ζ. B. Herbert Schambeck, Die Staatszwecke der Republik Österreich, in: Die Republik Österreich, Gestalt und Funktion ihrer Verfassung, hgb. von Hans R. Klecatsky, Wien 1968, S. 243 ff. 2 Beachte u. a. Politische Theorien und Ideologien, hgb. von Franz Neumann, Baden - Baden 1974/75. 3 Dazu Herbert Schambeck, Grundrechte und Sozialordnung, Gedanken zur europäischen Sozialcharta, Berlin 1969, S. 120 ff.

V. Ethische Bezüge im Staatsleben

121

Abwertung der staatlichen Institutionen Diese Verlebendigung der Politik im Staat, welche durch Aufgabenvermehrung der öffentlichen Hand, stärkere Mitbestimmung im sozialen Leben und deutlicher werdendes unterschiedliches politisches Denken gekennzeichnet ist, führt im täglichen Leben des Staates zu mehr Gegensätzlichkeiten und prägt den Inhalt der Gesetze. In einer solchen Situation des Staates und seiner Rechtsordnung zeigen sich im politischen Bereich die Extreme der Ideologien und die Rechtswege des Gesetzesstaates, die mit unterschiedlichen Inhalten zu mannigfachen Zwecken verwendet werden. Wie mannigfach und umfassend diese Tendenzen sind, sollen nachstehende Hinweise verdeutlichen. So erklärte bereits Friedrich H. Tenbruck anschaulich anläßlich eines Staatsjubiläums zu „Alltagsnormen und Lebensgefühle in der Bundesrepublik": „In merkwürdigem Widerspruch zu der Zufriedenheit und Lebensfreude im privaten Bereich genießen die Institutionen kaum Anerkennung. Viele nehmen sie als selbstverständliche Gegebenheiten hin, aber Lob, Anerkennung oder Stolz auf die öffentlichen Einrichtungen hört man nie spontan, wohl aber Mißmut, Ungeduld und Mißtrauen, die in der Publizistik, in der Literatur, auf dem Theater, in der Intelligenz zur beherrschenden Signatur geworden sind. Dort grassiert ein aufgeregter Mobilismus des Klagens und Forderns, des Planens und Reformens, dem die gegebenen Zustände und Einrichtungen bestenfalls noch deshalb als vorübergehend erträglich gelten, weil sie geändert werden können. Für diese lautstarken Teile der Bevölkerung sind nur die Ziele, Versprechen und Reformen moralisch legitimierbar, nicht die Zustände. Auf den Plätzen, wo öffentlich Meinung verkündet und gemacht werden kann, gehören die Anklage und das Mißtrauen gegen Staat und Gesellschaft zum guten Ton, so daß ihre Verteidigung meist nur entschuldigend und fast schon mit schlechtem Gewissen vorgetragen werden kann. Gewiß läuft das alles an der Mehrzahl der Bevölkerung ab; der Haß auf ,das System4 ist Sache einer lautstarken Minderheit. Aber die Unsicherheit über Normen und Ziele ist verbreitet, so daß erhebliche Teile der Bevölkerung verschreckt und stumm die politischen Konflikte ohne eigenes Urteil verfolgen, das man sich nicht mehr

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V. Ethische Bezüge im Staatsleben

zutraut oder auch nicht mehr gerne äußert. Inmitten von Auseinandersetzungen, die sowohl an ihren faktischen Aussagen wie nach ihren moralischen Ansprüchen undurchschaubar werden, erfährt das gewachsene Bewußtsein, Bürger dieses Staates zu sein, Grenzen und Einschränkungen. So tun sich zwischen den Menschen und den Gehäusen, in denen sie leben, überall Verwerfungen auf, aus denen latente Unzufriedenheiten und gestaute Energien plötzlich durch die Gewöhnungen und Zufriedenheiten hindurchbrechen können, und diese dumpfen und unklaren Ungehaltenheiten gehen durch alle Gruppen und Einrichtungen . . . Mobilisierbare Unzufriedenheiten liegen wie Einsprengsel in der Landschaft der privaten Zufriedenheit unter der Oberfläche, machen sich plötzlich im privaten Gespräch Luft oder brechen auch öffentlich durch. Da rät der höchste Repräsentant des Staates Schülern, aus den staatlich genehmigten Schulbüchern Seiten, die ihnen nicht passen, kurzerhand herauszureißen. Da bejubeln nächtliche Zuschauermengen, wenn aus einem Hochhaus die Flammen schlagen, und skandieren ihre Bravos. Da mausern sich Bildungseinrichtungen im Namen von Reformen zu Stätten politischer Kaderschulung; da verkümmert Wissenschaft zur öden Routine, die mit Scheinen und Titeln beglaubigt wird, solange nur die Fassaden von Betrieb und Wortschwall noch stehen; da wird ,Manna4 auf Steine geschrieben, die den Studenten statt Brot gereicht werden. Da werden Gerichtssäle zu Schaubühnen, auf denen Staat, Recht, Verfassung, Gesellschaft verhöhnt und provoziert werden; da zerfallen Parteien in Lager, die sich wie Skorpione in der Flasche bis zur Machtprobe des tödlichen Stichs umkreisen . . . Überall herrscht Verwirrung, die der Demagogie und Schwarmgeisterei die Tore öffnet. Keine Institution, keine Norm, keine Idee scheint mehr sicher. Sprache und Bewußtsein zerfasern in einem Babel der Diskussion, die sich in Formen und Inhalten an nichts mehr halten kann. Gewalt ist Gegengewalt; Recht Unterdrückung; Wahrheit Klassenlüge; Revolution Befreiung; Erziehung Vergewaltigung; Leistung Repression; Bildung Inhumanität; Demokratie Ausbeutung; Diktatur Freiheit; Verrat Befreiung; Religion Revolution; Dienst Verrat; Gehorsam Feigheit; Angeklagte Kläger; Kompetenz Anmaßung. Da ist nichts, was nicht doppelbödig geworden wäre, nicht mit zwei Namen genannt werden könnte, und der Bürger gewöhnt

V. Ethische Bezüge im Staatsleben

123

sich an zweigleisiges Denken, für das alles bis auf Abruf auch sein Gegenteil sein darf, ja mancher genießt es wie ein lustiges Spiel, die Sachen bald so, bald anders nennen zu dürfen. Und so geht es durch die Situationen und Einrichtungen hindurch. Überall scheinen verquere Ungehaltenheiten bereitzuliegen, reiben sich akute Unzufriedenheiten an den Institutionen, regieren Unruhe und Verwirrung." 4 Diese mannigfach im öffentlichen Leben feststellbaren Entwicklungstendenzen drücken sich in der Gegenwart in besonderer Weise auch in Worten aus, die den Inhalt prägen, ein politik- und idologiegeprägter Verbalismus macht sich breit, von dem Otto B. Roegele feststellte: „Zu allen Zeiten wurde die menschliche Sprache nicht nur als Mittel zur Verständigung, sondern auch als Instrument der Beeinflussung benutzt. Aber in früheren Zeiten bewegte sich das, was man öffentliche Meinung nennt, wie ein ruhig dahinfließendes Gewässer, vergleicht man damit den heutigen Zustand, der das Bild eines hochgehenden Wildbachs mit Stromschnellen, Strudeln und Treibholz heraufbeschwört. Wer unsere öffentliche Diskussion aus einiger Distanz beobachtet, muß alsbald entdecken, daß sie zu je verschiedenen Zeiten von je verschiedenen Themen und Stichworten beherrscht wird, deren Herkunft oft unklar bleibt, die aber nichtsdestoweniger mit solcher Bereitschaft aufgegriffen und akzeptiert werden, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt. Auf ebenso rätselhafte Weise verschwinden Themen und Stichworte dann wieder aus der öffentlichen Diskussion. Man ist versucht, an das Verhalten eines Kindes gegenüber seinem Spielzeug zu denken: Ganz konzentriert, ganz hingegeben, durch nichts ablenkbar, beschäftigt sich das Kind ausschließlich mit diesem Gegenstand; wer ihm etwas anderes anbietet, wird gar nicht wahrgenommen; wer es ihm wegnehmen will, erntet Protest und Geschrei. Indes — ein paar Augenblicke später ist alles vorüber: Das Spielzeug wird achtlos fallengelassen und vielleicht tage-, ja wochenlang nicht mehr berührt. Etwas anderes ist plötzlich ak4 Friedrich H. Tenbruck, Alltagsnormen und Lebensgefühle in der Bundesrepublik, in: Die Zweite Republik, 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland, hgb. von Richard Löwenthal und Hans-Peter Schwarz, Stuttgart 1974, S. 308 f.

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V. Ethische Bezüge im Staatsleben

tuell geworden und nimmt alle Aufmerksamkeit für sich in Anspruch . . . Auch was den Zustand unserer öffentlichen Debatte betrifft, muß man von alarmierenden Symptomen sprechen. Das rationale Argument, die subtile Analyse der Begriffe, die geduldige Suche nach einem gemeinsamen Nenner, das prüfende Vergleichen der angebotenen Problemlösungen, das faire Aushandeln von Kompromissen, das Auffinden eines mittleren Weges, den zu begehen allen noch zumutbar erscheint, werden dadurch unmöglich gemacht. Statt daß die Öffentlichkeit sich in stetiger, kontinuierlicher Bemühung mit den wirklich großen Fragen auseinandersetzen kann, fällt sie von einem Schüttelfrost der — mehr oder weniger künstlich geförderten — Erregung in den anderen und kommt in den kurzen Pausen dazwischen nicht einmal zu der Erkenntnis, wieviel Wichtigeres sie versäumt, was sie alles verpaßt hat." 5 Roegele steht mit seiner Mahnung nicht allein, auch Josef Pieper stellte fest: „Mißbrauch der Sprache — Mißbrauch der Macht".6 Mit Worten werden einseitige politische Akzentverschiebungen vorgenommen, ζ. B. Ordnung wird zum System, das zu überwinden ist, und Autorität zu autoritär, was zu bekämpfen ist. Grundlagen in Gefahr Die Folge dieser Verideologisierung der Politik führt zu einer Gefährdung der Grundstrukturen des Staates und der Grundwerte des öffentlichen Lebens? Man darf aber bei diesen jederzeit erlebbaren und daher nachprüfbaren Tendenzen im öffentlichen Leben nicht 5 Otto B. Roegele, Kleine Anatomie politischer Schlagworte, Osnabrück 1972, S. 7 f. 6 Josef Pieper, Mißbrauch der Sprache — Mißbrauch der Macht, Hochland, 57. Jg., 1964. 7 Dazu näher Grundwerte in Staat und Gesellschaft, hgb. von Günter Gorschenek, München 1977; Die Zukunft unserer Demokratie, München 1979; Walter Leisner, Demokratie, Selbstzerstörung einer Staatsform, Berlin 1979; derselbe, Der Gleichheitsstaat, Macht durch Nivellierung, Berlin 1980; derselbe, Die demokratische Anarchie, Verlust der Ordnung als Staatsprinzip?, Berlin 1982; und derselbe, Der Führer, Persönliche Gewalt — Staatsrettung oder Staatsdämmerung?, Berlin 1983 sowie Herbert Schambeck, Die Grundwerte des öffentlichen Lebens, in: Objektivierung des Rechtsdenkens, Gedächtnisschrift für limar Tammelo, hgb. von Werner Krawietz u. a., Berlin 1984, S. 321 ff.

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übersehen, daß sie von einer Überforderung des Staates und seiner Rechtsordnung begleitet sind, wozu seine Mehrzweckeverwendung und die Entwicklung der Demokratie mit beigetragen haben. Der demokratischen Mehrheit wurde eine absolute souveräne Allzuständigkeit zuerkannt, die in jenen Staaten, deren Verfassungsrecht keine ethischen Bezüge aufweist, wie dies in Österreich aufgrund der rechtspositivistischen Einstellung des Schöpfers des Entwurfes des Bundes-Verfassungsgesetzes Hans Kelsen der Fall ist,8 auch keine Wertansprüche stellen. War die normative Form des Rechtsweges nur eingehalten, stand der Inhalt des Rechtssatzes jeder Entscheidung demokratischer Staatswillensbildung offen. Auf diese Weise wurde der Weg zur Relativierung des Rechtsstaates beschritten und ist auch Inhumanität unter dem Deckmantel der Legalität möglich geworden. Der Weg von Ermächtigungsgesetzen zu Führerbefehlen und schließlich zu Rassengesetzen haben dies im autoritären Staatssystem bewiesen. Nicht unbeachtet sollte auch das Verhältnis von Recht und Moral anläßlich von Strafrechtsreformen in demokratischen Staaten sein, welche in der sogenannten Fristenlösung in einem bestimmten Zeitraum nach der Zeugung die Abtreibung für zulässig9 erklären, was in Staaten, wie in Österreich, in welchen das Recht auf Leben im Grundrechtskatalog nicht ausdrücklich geschützt wird, die Tötung werdenden menschlichen Lebens10 gesetzmäßig sein läßt; 11 was zwar gesetzmäßig erscheinen mag, aber amoralisch ist. 12 Der Staat soll zwar einerseits nicht, gleich einem Voyeur, 8 Siehe Georg Schmitz, Die Vorentwürfe Hans Kelsens für die österreichische Bundesverfassung, Wien 1981 und Felix Ermacora, Hgb., Die österreichische Bundesverfassung und Hans Kelsen, Wien 1982. 9 § 97 Abs. 1 Ζ. 1 StGB 1974, BGBl. Nr. 60/1974. 10 Beachte dazu Heribert Berger, Die Heimatlosigkeit des Menschen, Innsbruck 1074, bes. S. 20 ff. 11 Österreichischer Verfassungsgerichtshof, E r k . v o m i i . 10.1974, Slg. 7400. 12 Vgl. Herbert Schambeck, Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, in: Ordnung im sozialen Wandel, Festschrift für Johannes Messner zum 85. Geburtstag, hgb. von Alfred Klose u.a., Berlin 1976, S. 480 ff. und derselbe, Die Verantwortung des Gesetzgebers und der Schutz des ungeborenen Leben, Arzt und Christ, 27. Jg., 1981, Heft 2, S. 98 ff sowie besonders Wolf gang Waldstein, Das Menschenrecht zum Leben, Beiträge zu Fragen des Schutzes menschlichen Lebens, Berlin 1982, bes. S. 100 ff.

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V. Ethische Bezüge im Staatsleben

den Einzelnen auch in seinem Privatleben bespitzeln und mittels des positiven Rechtes moralisieren, aber auch nicht andererseits mittels des positiven Rechts der Demoralisierung der Gesellschaft das Tor öffnen. Die Demoralisierung der Gesellschaft Diese Demoralisierung der Gesellschaft im Rahmen des Staates kann einerseits dadurch erfolgen, daß die Rechtsordnung bestimmte Werte der Moral nicht mehr schützt, und andererseits, daß die Möglichkeiten der Rechtsordnung unter wachsender Gleichgültigkeit zu amoralischen oder auch einseitig politischen Zwecken mißbraucht werden, wobei dann letztlich eine Claque für eine Clique Politik macht und aufgrund des Schweigens der Mehrheit den Eindruck allgemeiner Zustimmung erweckt. Das gilt besonders für Ausdrücke der Intoleranz und die zunehmende Gewaltausübung im öffentlichen Leben. Franz Bydlinski hat schon aufgedeckt: „Ursache bedenkenlos geübter öffentlicher oder doch vielfach akzeptierter Gewalt kann aber heute nicht nur politischer Fanatismus sein, sondern alles und jedes: Selbstverständlich die immer üblich gewesenen kriminellen Motive, aber auch dem Außenstehenden unzugängliche Unterschiede zwischen verschiedenen Jugendbanden; Pop- und Rockkonzerte; eine unerwartete Niederlage oder ein besonders wertvoller Sieg eines populären Fußballvereins; die Verlegung einer Verwaltungsbehörde in einen anderen Ort oder der Bau der Landebahn eines Flugplatzes; rassische oder nationale Spannungen; materielle Not ebenso wie materielle Übersättigung; die permanente Langeweile, in die die letztere so häufig ausmündet und die zu abstoßenden Brutalitäten gegen zufällig vorbeikommende Menschen oder — im günstigeren Fall — bloß zu Vandalismus gegen Telephonzellen oder Parkbänke führt. Schon die Beliebigkeit der Anlässe belegt, wie tief die Krise offenbar reicht. Man kann beinahe vermuten, daß bei vielen Zeitgenossen eigentlich jede stärkere Emotion, ohne Rücksicht auf ihren Anlaß und Inhalt, dazu tendiert, ohne die geringste Rücksicht auf rechtliche Schranken in gewalttätige Handlungen umzuschlagen. Besonders grotesk ist, daß neuerdings sogar Aktionen oder Demonstrationen für den Frieden bei einigen seltsamen »Friedensfreunden 4 Ursache gewalttätiger Aggressionen sein können. Es fragt sich, ob

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die Absurdität dieser Situation der Masse der Friedensdemonstranten, bei denen dies glücklicherweise nicht der Fall ist, ausreichend zum Bewußtsein kommt. Die soziale Degenerationserscheinung öffentlich als quasi legitim geübter oder doch weithin als quasi legitimes Mittel der Interessenverfolgung akzeptierter Gewalttätigkeit verliert freilich viel an Erstaunlichkeit, wenn man sich das Klima vergegenwärtigt, das zu einem nicht unerheblichen Teil die ideologisch-politische Diskussion beherrscht. Zahlreiche radikale Ideologen aller intellektuellen Kaliber fühlen sich nicht nur dazu legitimiert, eine bestimmte extreme Überzeugung davon zu haben, was im menschlichen Leben allein und umfassend richtig ist, sondern sie auch ohne Rücksicht auf ihre voraussichtliche Realisierbarkeit, dafür aber mit allen Mitteln zur Alleinherrschaft zu bringen. Sie glauben sich im Besitz aller auf dieser Welt wesentlichen Erkenntnisse und fühlen sich dadurch berufen, diese ohne Rücksicht auf das Recht allen denen aufzuzwingen, die noch nicht so weit »fortgeschritten* sind".13 Die Freiheit der Demokratie, jenem politischen Ordnungssystem, das der Persönlichkeit des Einzelnen das größte Maß freier Entfaltung ermöglicht, wurde auch zur Intoleranz mißbraucht, weil nicht alle erkennen, daß die Freiheit des einen dort endet, wo die Freiheit des anderen beginnt! Diese im öffentlichen Leben des Staates der Gegenwart sich ereignenden Vorgänge werden noch durch Vorgänge im Rechtsleben begleitet, die bedenkenswert sind; sie beginnen auf der Ebene der Verfassung, setzen sich auf der der Gesetze fort und enden schließlich beim Einzelmenschen im Staat.

Verfassungsrecht

und seine moralische Verantwortung

Das Verfassungsrecht 14 wurde von einer Bürger und Staat in gleicher Weise organisierenden und motivierenden positiv-rechtlichen Grundordnung zu einer Herrschaftsordnung, welche oft nur die Aus13 Franz Bydlinski, Rechtsgesinnung als Aufgabe, in: Festschrift für Karl Larenz zum 80. Geburtstag, München 1983, S. 8 f. 14 Dazu Herbert Schambeck, Der Verfassungsbegriff und seine Entwicklung, in: Festschrift für Hans Kelsen zum 90. Geburtstag, hgb. von Adolf Merkl u. a., Wien 1971, S. 211 ff.

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Übung der drei Staatsfunktionen, nämlich der Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Verwaltung, regelt, sowie die Abgrenzung vom Einzelnen un'd dem Staat in den Grundrechten vornimmt, ohne daß über die Festsetzung der Möglichkeiten und Grenzen der Staatsorganisation hinausgehend eine Staatsordnung geschaffen werden konnte, welche eine gesamtstaatliche Verantwortung begründete, die auch im Gewissensbereich Organe und Einwohner des Staates in gleicher Weise bewegt. Manche Verfassungsordnungen, wie die Österreichs, machen auch keine über den Primärzweck des Staates, dem Rechts- und Machtzweck, hinausgehenden Angaben über Staatszielsetzungen und überlassen dies den jeweils bestimmenden Kräften eines Landes, wodurch die Rechts- und Staatsordnung immer mehr zu einer Parzellierung von Gruppeninteressen wird und das Verfassungsrecht seine allgemein anerkannte Motivationswirkung, die auch den Einzelmenschen bewegt, verliert. Werner Kägi hat aber bereits betont: „Wo der organisatorische Teil der Verfassung in den Vordergrund gerückt wird, dominiert sein in gewissem Sinne wertneutrales (dezisioijistisches) Prinzip über die Wertordnung der Grundrechte (die Verfassung ratione materiae) . . . Eine solche Verfassung aber wirkt nicht mehr bestimmend auf den Inhalt der Staatsakte, wie die Verfassung mit Verhaltensnormen, sondern beschränkt sich auf die Regelung der Zuständigkeit, d.h., bestimmt die Akte nur noch formal." 15 Als normative Grundordnung des Gesamtstaates kommt es vielmehr darauf an, daß das Verfassungsrecht rechtsformale und rechtsinhaltliche Fragen in gleicher Weise regelnd beantwortet und sie somit auch der Dispositionsfreiheit der jeweiligen Mehrheit entzieht. Mit der jeweiligen qualifizierten Mehrheit seiner Beschlußfassung kann das Verfassungsrecht den allgemeinen Grundkonsens im Staat erweitern und mit dem Inhalt seiner Wertaussage die Motivationskraft der Staatsrechtsordnung verbessern. Im ersteren Fall übt das Verfassungsrecht eine Schutzfunktion aus, weil die Minderheit im Parlament vor der Willkür der Mehrheit geschützt wird, was schon Hans Kelsen zu betonen wußte, 16 und im letzteren Fall vermag die 15

Werner Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, Untersuchungen über die Entwicklungstendenzen i m modernen Verfassungsrecht, Zürich 1945, Neudruck Darmstadt 1971, S. 97 f.

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Verfassungsrechtsordnung eine Erziehungsfunktion im Staat zu erfüllen; sie hat nämlich die Chance, den Einzelnen durch die in ihr zum Ausdruck kommenden Wertaussagen zur Beachtung ihrer Ordnung zu motivieren und über den Zwang der Sanktion, die mit der Rechtsnorm verbunden ist, auch eine innere Zustimmung beim Einzelnen im Staat zu erreichen. Was für die Pädagogik allgemein gilt, gilt auch für die Erziehung zum Staat. Das Auswendiggelernte vergißt man, das Aufgezwungene haßt man, nur das, von dem man überzeugt ist, ist man bereit, nötigenfalls auch mit Opfern zu vertreten, zu bekennen und sich so dafür einzusetzen. Ein solcher Rechtserfolg ist aber mit einem bloßen Verfassungsorganisationsrecht nicht erreichbar; in ähnlicher Weise gilt dies auch für den jeweiligen Aufgabenbereich des einfachen Gesetzesrechts. Der Einzelne ist im Staat und für den Staat bereit, Leistung zu erbringen und Opfer auf sich zu nehmen, wenn er auch weiß: warum und wozu, daher gilt es nicht bloß zu normieren, sondern auch zu motivieren! Kurt Eichenberger hat es in seiner Rektoratsrede über „Leistungsstaat und Demokratie" festgehalten: „Will der Leistungsstaat Demokratie sein, bestimmt sich die Richtung des Staatsentscheides nicht bloß aus Sachgesetzlichkeiten und funktionalistischer Organisation, sondern auch daraus, daß solche Gefühlslagen und solche Organkompositionen beachtet werden, die eine demokratische Anerkennung zustande bringen." 17 Diese Motivationskraft des Staates könnte zu einer Rechtsgesinnung beim Einzelnen führen, was aber voraussetzt, daß der Staat von ihm nicht bloß als ein mehr oder weniger gut funktionierender Mehrzweckeapparat angesehen wird, der bei einem Minimum an eigenem Einsatz auch dem Einzelnen ein Maximum an Leistung zu erbringen hat, sondern als eine Herrschaftsordnung, die eine die Gemeinschaft und den Einzelmenschen in gleicher Weise auch motivierend erfassende Ordnung darstellt, die schicksalsbestimmend ist. Auf diese Weise könnte der Ordnungsanspruch des positiven Rechts im Staat zum Gewissensbezug beim Einzelmenschen führen. Dies setzt aber 16

Siehe Hans Kelsen, V o m Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl., Tübingen 1929, S. 53 ff. sowie Karl Korinek f Verfassungsbewußtsein in Österreich, Schriftenreihe Niederösterreichische Juristische Gesellschaft Heft 33/34, St. Pölten 1980, S. 80. 17 Kurt Eichenberger, Leistungsstaat und Demokratie, Basier Universitätsreden, 62. Heft, Basel 1969, S. 25 f. 9 Schambeck

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auch einiges beim positiven Recht und seiner Erscheinungsform voraus. Das Verfassungsrecht sollte daher nicht nur einen Spiegel der Machtverhältnisse im Staat darstellen, sondern vielmehr eine Ordnung ausdrücken, welche die Staatsorganisation mit der Aussage über die Grundwerte des öffentlichen Lebens und die Grundrechte des Einzelnen zu verbinden vermag. Das Staatsleben sollte weniger vermachtet, sondern mehr verrechtlicht werden und auch mehr als bisher die Abgrenzung von Verfassungs- und einfachem Gesetzesrecht bedacht werden. Das positive Recht sollte zur Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit des staatlichen Handelns beitragen und nicht Situationsordnungen vermitteln. Karl Korinek hat es schon bedauert: leider kommt es dazu, „daß die Einhaltung von Verfassung und Gesetz häufig zu einer Frage der Opportunität wird. Die Wächter des Gesetzes »drücken ein Auge zu4, Entscheidungen wird ausgewichen, der Vergleich zwischen Normunterworfenen und Staatsorganen erobert sich ein weites Anwendungsfeld auf Kosten der Gesetzmäßigkeit und der Gleichheit. Wer auf das Gesetz pocht, erhält oft die Antwort, daß die Praxis eben andere Bedürfnisse habe 44 . 18 Dazu tritt im heutigen Gesetzesstaat mit seiner Mehrzweckeverwendung der Umstand, daß die Gesetzesflut nicht zur Vermehrung der Rechtssicherheit, sondern zur Rechtsunsicherheit führt. 19 Dies entsteht vor allem auch dadurch, daß der Einzelne die Vielzahl der Gesetze nicht mehr verfolgen und ihren Inhalt aufgrund der Kompliziertheit der Sprache nicht immer entsprechend verstehen kann. 20 Will der Rechtsstaat seine soziale Funktion nicht allein in der großen Spannweite seiner Regelungen, sondern auch in der Spannweite seines Verstandenwerdens erfüllen, wird die Beziehung von Norm und Normadressat zu verbessern sein.21 „Hat der Bürger keine reelle Chance, 18

Korinek, a.a.O., S.23. Beachte Theo Mayer-Maly, Rechtskenntnis und Gesetzesflut, Salzburg-München 1969. 20 Siehe besonders Fritz Schönherr, Sprache und Recht, Wien 1965. 21 Beachte dazu Gesetzgebung, kritische Überlegungen zur Gesetzgebungslehre und zur Gesetzgebungstechnik, Gesamtredaktion Günther Winkler und Bernd Schilcher, Forschungen aus Staat und Recht 50, Wien New York 1981 und Methodik der Gesetzgebung, Legistische Richtlinien in Theorie und Praxis, Gesamtredaktion Theo öhlinger, Forschungen aus 19

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sich Klarheit darüber zu verschaffen, was er soll und was er nicht darf, so verhält er sich nicht nach den Anforderungen des Rechts, sondern nach wirtschaftlichen und anderen Interessen — als ob es das Recht nicht gäbe. Geht alles glatt, fragt er weder nach seinem Recht noch nach dem eines anderen. Kollidiert er aber mit dem Recht, so disponiert er um — so oft und so lange, bis endlich alles glatt geht. Die Rechtsordnung wird hingenommen, nicht aber mit Bedacht gelebt. Eine Rechtsgesinnung, die sich bei einer Bedrohung der das Recht tragenden Werte bewähren könnte, kann auf diese Weise nicht entstehen. I m Grunde kann ein Recht, das Bestand haben will, aber nicht ohne solche es tragende Rechtsgesinnung auskommen." 22 Zur moralischen Verantwortung

der Gesetzgebung

Aus diesen Gründen der Bestandgarantie der Geltung bedarf es einer Rechtsordnung, für welche der Gesetzgeber bedacht ist, daß sie möglichst frei von Rechts- und Wertungskonflikten ist. Leider ist dies nicht immer der Fall; auch aus seiner Erfahrung als Verfassungsrichter stellt Karl Korinek fest: „Die Träger politischer Gewalt scheinen sich nicht mehr für den Vollzug der Gesetze zu interessieren; nur mehr für deren Neuproduktion. Gesetze werden mitunter kaum mehr daraufhin überprüft, wie sie sich in der Praxis auswirken; es wird nicht gesehen, daß Probleme häufig nicht dadurch entstehen, daß Normen fehlen, sondern dadurch, daß sie mit anderen Normen nicht zusammenpassen, nicht harmonisiert sind."23 Diese Form der Rechtsordnung entspricht dem Staat der Mehrzweckeverwendung und der Gruppeninteressen, dem aber oft die moralische Autorität fehlt. Konkret hat sich dies schon vor längerer Zeit Hans-Heinrich Jeschek im Zusammenhang mit der Strafrechtsreform gefragt: Staat und Recht 57, W i e n - N e w York 1982 sowie Willibald Liehr, Die Rechtsbereinigung in Niederösterreich, Schriftenreihe Niederösterreichische Juristische Gesellschaft, Heft 21, St. Pölten o. J. und Robert Walter, Vorarbeiten zu einer Reform der Legistischen Richtlinien 1979, Schriftenreihe zur Verwaltungsreform Nr. 11, hgb. vom Bundeskanzleramt, Wien o. J. 22 23

9*

Mayer-Maly, a.a.O., S. 79. Karl Korinek, a.a.O., S. 11.

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„Besitzt unser Staat aber eigentlich die moralische Autorität, die nötig ist, um eine allgemein anerkannte Wertordnung aufstellen zu können? Besitzt der Staat der modernen Industriegesellschaft überhaupt irgendein anderes Anseihen als dieses, daß er den Überfluß der Konsumgüter richtig und reibungslos verteilt, eine Polizei unterhält und dafür sorgt, daß die Züge pünktlich verkehren? Mir ist diese neutralistische, wertindifferente Staatsauffassung genau bekannt, die sich aus dem Schrecken über unsere Vergangenheit und aus der Resignation vor unserer Gegenwart sehr wohl begreifen läßt, aber ich glaube, daß sie für die Widerstandskraft der Welt, in der es sich um der Freiheit willen allein zu leben lohnt, geradezu verheerend wirkt. Ein Staat, der sich darauf beschränken wollte, ein gut funktionierender Mehrzwecke-Apparat zu sein, entbehrte jeder Integrationswirkung und würde in der Auseinandersetzung mit dem Osten auch moralisch immer der schwächere bleiben, wenn er nicht schon in der ersten besten Absatzkrise von selber auseinanderfiele. Fragt man, woher der Staat diese neue, ihm gewiß sehr nötige moralische Autorität gewinnen soll, so kann die Antwort nur lauten: durch die Lebensarbeit von uns allen, besonders auch von uns Juristen." 24

Der notwendige Bezug zur Ethik Moralische Autorität wird aber auf allen Ebenen des Staates ohne einen bestimmten Bezug zur Ethik nicht erreicht werden können. In diesem Sinne "hat schon Theodor Heuß in Gedanken zu „Stilfragen der Demokratie" erklärt: Es eröffne sich die Frage, „ob nicht die technische Vervollkommnung bezahlt wird mit einer Einbuße an ethischem Elan, der allein der Demokratie die dynamische Kraft gibt, geben soll, geben kann und damit auch den inneren Stil". 25 24

Hans Heinrich Jeschek f Das Menschenbild unserer Zeit und die Strafrechtsreform, Recht und Staat, Heft 1981/149, S. 8. 25 Theodor Heuss, Politiker und Publizist, hgb. von Ralf Dahrendorf und Martin Vogt, Tübingen 1984, S. 464; beachte auch derselbe, Selbstgestaltung der Demokratie, in: Gedenkschrift zur Verleihung des Hansischen Goethe-Preises 1959, Hamburg 1959, S. 15 ff. sowie Martin Buber, Geltung und Grenzen des politischen Prinzips, in: Gedenkschrift zur Verleihung des Hansischen Goethe-Preises 1951, Hamburg 1951, S. 9 ff.; Herbert Weichmann, Vom Wesen und Unwesen, ein Staatsmann zu sein, in: Verleihung des Freiherr vom Stein-Preises 1973, Hamburg 1974, S. 21 ff. und derselbe,

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Wenn man die Ethik mit dem Wertdenken im weitesten Sinne des Wortes verbindet, dann ergibt sich eine über das positive Recht hinausgehende präpositive Beziehung von der Verfassung beginnend über alle Stufen der Rechtsordnung und versetzt das positive Recht in seinem ständigen Streben nach Bestand der Geltung in ein Spannungsverhältnis. Betrachten wir diesen Stufenbau der Rechtsordnung,26 der heute weltweit dem von einem Rechtsquellenpluralismus gekennzeichneten demokratischen Rechtsstaat eignet, so müssen wir feststellen, daß jedem Akt der Verfassungskonkretisierung eine politische Entscheidung vorangeht , ζ. B. auf Grund der Verfassungsermächtigung im Parlament ein Gesetz zu beschließen oder auf Grund des Gesetzes von der Behörde eine Verordnung zu erlassen. René Marcic erklärte einmal: „Politisch heißt der Raum des freien Ermessens, den die ranghöhere Norm jeweils demjenigen anheimgibt, dessen Funktion es ist, sie zu vollziehen, anzuwenden, zu befolgen. Das Rechtliche transzendiert je und je a priori das Politische."27

Naturrecht

und positives Recht

Politik verlangt Zweckmäßigkeitserwägungen, mögen sie zeit- und ortsorientiert sein, sie wären aber auch auf Motivation zu richten, besonders auf Verfassungsebene, in welcher das Wertdenken nicht auszuschließen ist. Für diese präpositiven Werte im Rechtsdenken spricht in ewiger Wiederkehr, um einen Buchtitel von Heinrich Rommen 28 Der Gesellschaft und dem Staat verpflichtet, einfache und schwierige Wahrheiten, Hamburg o.J. 26 Hiezu Adolf Merkl, Das Recht im Lichte seiner Anwendung, Deutsche Richterzeitung 1918, S. 56 ff.; derselbe, Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien 1927, Neudruck Darmstadt 1970, insbes. S. 157 ff. und derselbe, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues, in: Gesellschaft, Staat und Recht, Festschrift für Hans Kelsen zum 50. Geburtstag, Wien 1931, S. 252 ff. Vgl. dazu aus der jüngeren Literatur insbes. Robert Walter, Der Aufbau der Rechtsordnung, Wien 1974. 27 René Marcic, Rechtsphilosophie, Freiburg 1969, S. 222. 28 Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, l.Aufl., Leipzig 1936, 2. Aufl., München 1947; beachte auch Johannes Messner, Das Naturrecht, 7. Aufl., Innsbruck 1966, Neudruck Berlin 1984; Naturrecht oder Rechtspositivismus?, hgb. von Werner Maierhof er, Darmstadt 1966; Hans-

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zu gebrauchen, das Naturrecht; seine Bedeutung für die Verfassungswerdung und damit für die Grundlegung des Aufbaues der Rechtsordnung hat Adolf Merkl sogar in der Zeit der treuesten Gefolgschaft zu seinem positivistischen Lehrer Hans Kelsen, nämlich schon 1918 in seiner unter dem Titel „Das doppelte Rechtsantlitz" veröffentlichten Betrachtung aus der Erkenntnistheorie des Rechts erkannt: „Eine Art naturrechtliche Wurzel fehlt keiner wie immer konstituierten Rechtsordnung. Auch hat wohl jeder positive Rechtsstaat einmal das Stadium naturrechtlicher Normativität passiert. Der Vorwurf der ,Naturrechtlerei' ist dort nicht am Platz, wo erst die Grundsteine des Rechtsgebäudes gelegt werden sollen."29 1923 fügte Merkl in seiner „Lehre von der Rechtskraft" dem hinzu: „Soll das Chaos von Rechtsgestalten, als eine Summe zusammengehöriger Erscheinungen mit einem Wort als Rechtssystem, als ein rechtlicher Konsens gedeutet werden können, dann muß diesem Chaos ein delegierendes Prinzip nicht bloß subintellegiert, dann muß es vielmehr als Ausfluß eines gemeinsamen Ursprungs erkannt werden. Die eine Ursprungsnorm ist nicht anders als die Summe der von ihr abgeleiteten Normen eine rechtliche Gegebenheit, die nur dadurch den Schein der Irrealität annimmt, daß sie nie und nirgends die äußeren Formen des positiven Rechts teilt, insbesondere niemals als sogenanntes geschriebenes Recht auftritt." 30 Mit dem Akt der Rechtssetzung, also der Positivierung, tritt eine Denaturierung ein; an die Stelle etwaiger präpositiver Sittlichkeit und ihrer Verbindlichkeit tritt die Stellung des Rechtssatzes im Verfassungsgesetz oder wie es Werner Kägi ausgedrückt hat: „Mit dem Inkrafttreten der Verfassung . . . ; . . . objektiviert sich das Politische Dieter Schelauske, Naturrechtsdiskussion in Deutschland, Köln 1968; Herbert Schambeck, Der Stand der Naturrechtsdiskussion heute, in: Rechtspositivismus, Menschenrechte und Souveränitätslehre in verschiedenen Rechtskreisen, hgb. von Edward Kroker und Theodor Veiter, Wien - Stuttgart 1976, S. 11 ff. sowie derselbe, Naturrecht und Verfassungsrecht, in: Das Naturrechtsdenken heute und morgen, Gedächtnisschrift für René Marcie, Berlin 1983, S. 911 ff. 29 Adolf Merkl, Das doppelte Rechtsantlitz, eine Betrachtung aus der Erkenntnistheorie des Rechts, Juristische Blätter 1918, S.465; Neudruck in: Die Wiener Rechtstheoretische Sdiule, I. Bd., S. 1112. 30 Adolf Merkl, Die Lehre von der Rechtskraft, entwickelt aus dem Rechtsbegriff, Leipzig und Wien 1923, S. 210.

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zu einem System von Rechtsnormen"; 31 sie bilden die Grundlage für das Gesetz. Wie bereits erwähnt, eignet dem Verfassungsgesetz und dem einfachen Gesetz formell gesehen derselbe generell abstrakte Normcharakter; der Unterschied liegt in dem Weg des Zustandekommens und der Veröffentlichung, welcher bei einem Verfassungsrechtssatz qualifizierter ist.

Die Funktionen des Gesetzes in einer pluralistischen

Gesellschaft

Nach dem Stufenbau der Rechtsordnung ergehen die einfachen Gesetze auf Grund der Zuständigkeit und der mehr oder weniger vorhandenen inhaltlichen Bestimmungen, die im Verfassungsrecht gegeben sind. Die einfachen Gesetze dienen der Verfassungskonkretisierung, wobei diese Möglichkeit aber davon abhängt, wie weit eine Verfassung in ihren Staatsstrukturbestimmungen über die Staatsorganisation hinaus auch die Staatszwecke bestimmt und inhaltliche Aussagen für die gesamte Rechtsordnung trifft. Je mehr dies der Fall ist, desto geringer ist der Bereich für die politischen Entscheidungen des einfachen Gesetzgebers und umgekehrt. I m Vergleich verschiedener Rechtssysteme kann festgestellt werden, daß heute mit mehr oder weniger deutlicher Vorschreibung im Verfassungsrecht nahezu alle Rechtsordnungen sich bemühen, neben der Herstellung und Aufrechterhalturig von Ruhe, Ordnung und Sicherheit auch das ihre auf dem Wege der einfachen Gesetzgebung zur Entwicklung des kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Lebens zu leisten. Die Erfüllung derartiger Aufgaben ist aber nicht leicht, da die meisten Staaten von einer pluralistischen Gesellschaft gekennzeichnet sind, welche es zu verkraften gilt. Betrachtet man die Funktionen des Gesetzesi 32 der Gegenwart, insbesondere im Hinblick auf die Mehrzweckeverwendung des Staates, dann können mehrere Funktionen des Gesetzes heute erkannt wer31 Werner Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, Zürich 1945, S. 129. 32 Herbert Schambeck, Das Gesetz und seine Funktionen heute, in: Aus Österreichs Rechtsleben in Geschichté und Gegenwart, Festschrift für Ernst C. Hellbling, Berlin 1981, S. 45 ff.

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den; Funktionen und Eigenschaften des Gesetzes, welche nicht allein dem einfachen Gesetz, sondern in dem Maße, in dem eine Verfassung auch grundlegende gesellschaftspolitische Entscheidungen beinhaltet, in einem besonderen Maß auch dem Verfassungsgesetz eignen. Zunächst ist es die vordringlichste Funktion des Gesetzes, durch den Beschluß der Rechtssetzung im Rahmen der Staatswillensbildung die Verschiedenheit der politischen und rechtlichen Zielsetzungen a b zugleichen und durch den Gesetzesbeschluß eine Integrationsfunktion zu erfüllen. Jeder Gesetzesbeschluß stellt einen Integrationsakt dar, da er damit einen Vorgang der Rechtsfindung abschließt. Je demokratischer ein Staat ist, desto offener, aber auch vielfältiger wird die Auseinandersetzung sein, welche zu diesem Rechtsstaat führt. Am deutlichsten können in einer derartigen Auseinandersetzung die verschiedenen Strömungen einer Gesellschaft, seien sie politischer, philosophischer, ideologischer und weltanschaulicher Natur, sein, wenn es sich um eine Verfassungswerdung handelt. Ein Verfassungsgesetz kann in einer offenen Gesellschaft pluralistischer Prägung auch eine Repräsentationsfunktion durch das Ausdrücken der Meinungen dieses politischen Breitegrades in dem Verfassungstext und in dem Gesetzesbeschluß selbst eine Antwortfunktion erfüllen. Während die Représentations- und Integrationsfunktion des Gesetzes vor allem auf Verfassungsebene deutlich ist, spielt die Antwortfunktion angesichts der Schutz- und Sicherheitsbedürfnisse des heutigen Einzelmenschen und seiner Gesellschaft eine vordergründige Rolle auch für das einfache Gesetz. Der heutige Bürger erwartet sich vom Gesetzgeber eine Hilfe in seinen Nöten und Sorgen, ein Anliegen der gegenwärtigen Gesetzgebung, welche sich von der klassischen Hoheitsverwaltung der Ordnungsgarantie zur Sozialgestaltung im Rahmen der Leistungsverwaltung fortentwickelt hat. Die antwortgebende Funktion des Gesetzes hat zur Sozialkorrektur mit und durch das Gesetz geführt. In jenen Staaten, die von den Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaates und damit von der Bindung der Vollziehung an die Gesetze gekennzeichnet sind, kommt dem Gesetz noch eine fünfte

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Funktion zu, nämlich eine Schutzfunktion. Das Gesetz schützt den Einzelmenschen vor der Willkür des Staates. Mit Recht hat Hans R. Klecatsky das Gesetz als „die Drehscheibe des demokratischen Rechtsstaates"33 bezeichnet und betont: „Das Gesetz hebt den schwachen Einzelnen auf die Stufe des starken Kollektivs." 34 Das Gesetz macht den Einzelmenschen dem starken Staat gegenüber rechtlich ebenbürtig. Diese Ebenbürtigkeit durch das Gesetz als Schutzmittel ist dem Einzelmenschen im Staat dann besonders gewährt, wenn er durch die Gesetzesbindung der Vollziehung geschützt ist, weiters durch die Unabhängigkeit der Gerichte, die Justizmäßigkeit der Verwaltung und dabei besonders auch durch ein Verwaltungsverfahrensrecht, eine Gerichtsbarkeit öffentlichen Rechts, nämlich eine VerfassungsundVerwaltungsgerichtsbarkeit, die der Einzelne anrufen kann, wenn er durch einen Rechtsakt der Verwaltung in einem verfassungsrechtlich oder einfachgesetzlich gewährleisteten Recht sich verletzt erachtet, durch Grundrechte und eine Amtshaftung, nach welcher der Staat für jene Schäden haftet, welche seine Organe anläßlich der Vollziehung der Gesetze anrichten. Den Weg zu diesem heute im demokratischen Rechtsstaat erkennbaren Schutz des Einzelnen eröffnet das Gesetz. In dieser Sicht kann unterstreichend die Représentations-, Integrations·, Antwort-, Sozialhilfe- und Schutzfunktion als die Aufgabe des Gesetzes bezeichnet werden. Funktionen, die einmal mehr auf Verfassungsebene und einmal mehr auf einfach gesetzlicher Ebene in den verschiedenen Staaten erkennbar sind und in ihren Rechtsordnungen neben den klassischen Verwaltungsgebieten des Polizeirechtes besonders das Arbeitsrecht, das Sozialversicherungsrecht, das Wirtschaftsrecht als neue Rechtsgebiete der Verwaltung erkennen lassen.35 Neue Aufgaben der Verwaltung, die nicht ohne Probleme für die gesamte Rechtsentwicklung sind. 33

Hans R. Klecatsky, Die Funktion des Gesetzes im modernen demokratischen Rechtsstaat, Zeitschrift für den Bernischen Juristenverein 1970, Band 106, Heft 5, S. 171 ff. 34 Hans R. Klecatsky, Die verfassungsrechtliche Problematik des modernen Wirtschaftsstaates, Graz 1968, S. 7. 35 Siehe etwa Herbert Schambeck, The Development of Austrian Administrative Law, Revue Internationale des Science Administrative 1962, Vol. X X V I I I , S. 215 ff.

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Besonders muß hervorgehoben werden, daß die heutige Inanspruchnahme des Staates durch den Einzelmenschen und seine Gesellschaft neben die traditionellen Bereiche der Hoheitsverwaltung auch in einem vermehrten Maße die Bereiche der Privatwirtschaftsverwaltung treten läßt und diese nicht in der Weise, in welcher der Staat als Hoheitsträger auch als Träger von privaten Rechten an die Gesetze bindet. In diesem Zusammenhang verweise ich besonders auf die privatwirtschaftliche Tätigkeit des Staates als Eigeminternehmer — in Österreich macht der Einfluß des Staates in der Wirtschaft durch seine verstaatlichten Banken und Betriebe über 60 % des Wirtschaftsgeschehens aus —, als Auftragserteiler und Subventionsvergeber. 36 Die Wirtschaftstätigkeit des Staates, welche auch eine finanzielle Voraussetzung für seine sozialen und kulturellen Verpflichtungen sein könnte, befindet sich meistens leider in ihrer Erfassung nach den Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaates, die eine Zuständigkeits- und Verfahrensregelung sowie eine solche für den Inhalt des Handelns der Verwaltung verlangt, dort, wo sich die Hoheitsverwaltung im vergangenen Jahrhundert befunden hat. Die Aufgaben des Staates und die Inanspruchnahmen des Gesetzes haben durch die Mehrzweckeverwendung des Staates zugenommen, ohne daß aber mit der Schnelligkeit der Aufgabenvermehrung der Rechtsstaat sein Instrumentarium auch weiterentwickelt hätte; die Folgen, welche sich auf Grund dieser Funktionen des Gesetzes und der Tendenzen in der Entwicklung des Rechtsstaates ergeben, gilt es zu bedenken. Diese zu bedenkende Problematik des Rechtsstaates heute hat sich durch die Entwicklung des Gesetzesbegriffes ergeben; das Gesetz ist 36

Beachte hiezu Hans R. Klecatsky, Die Köpenickiade der Privatwirtschaftsverwaltung, Juristische Blätter 1957, S. 333 ff., Neudruck in: derselbe, Der Rechtsstaat zwischen heute und morgen, Wien 1967, S. 71 ff.; weiters Herbert Schambeck, Österreichs Wirtschaftsstaat und seine Kontrolle, österreichische Juristenzeitung 1971, Heft 22, S. 589 ff.; derselbe, Verfassungsrecht und Wirtschaftsordnung in Österreich, in: Verwaltung im Dienste von Wirtschaft und Gesellschaft, Festschrift für Ludwig Fröhler zum 60. Geburtstag, hgb. von Peter Oberndorfer u. Herbert Schambeck, Berlin 1980, S.41ff. und derselbe, Wirtschaftsverfassung und Verstaatlichung in Österreich, in: Beiträge zum Wirtschaftsrecht, Festschrift für Karl Wenger zum 60. Geburtstag, hgb. von Karl Korinek, Wien 1983, S. 39 ff.

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für jeden Inhalt offen und wird daher bloß formell betrachtet. War früher das Gesetz noch an ideelle Werte, wie Gerechtigkeit und Gemeinwohl gebunden und im 19. Jahrhundert zum Schutz von Leben, Freiheit und Eigentum vorgesehen, so ist dies heute anders. Ulrich Scheuner hat schon in seinen Gedanken über „Die Aufgabe der Gesetzgebung in unserer Zeit" bemerkt: „Der Gesetzesbegriff unseres heutigen Verfassungsrechts läßt eine Differenzierung nach materialen Maßstäben nicht mehr zu. Er ist bis auf wenige Reste historisch-konventioneller Überlieferung rein formal gefaßt. Er stellt allein auf den Ursprung der Norm aus der Beschlußfassung der Volksvertretung ab, ohne noch andere inhaltliche Kategorien zu verwenden, als den bis zur äußersten Formalität abgeschliffenen Maßstab der generellen Satzung. Alle älteren Verbindungen des Gesetzes zu einer inhaltlichen Qualität, die Forderung einer materialen Übereinstimmung mit dem Gebot der Gerechtigkeit und dem Gemeinwohl hat der moderne Gesetzesbegriff längst abgestreift." 37 In der Offenheit für seine neuen Aufgaben hat der Staat als Protektor, Verteiler, Aufseher, Lenker und Schiedsrichter in der pluralistischen und technisierten Industriegesellschaft mit der Schwierigkeit fertig zu werden, Sozial-, Wirtschaftsund Kulturstaat geworden zu sein und gleichzeitig Rechtsstaat bleiben zu können. Dazu gilt es vorerst zu bemerken, daß die Unterscheidung in Verfassungsrecht und einfach-gesetzliches Recht immer mehr verschwindet und das Verfassungsrecht nicht immer die entsprechende Grundlage für die übrige Rechtsordnung bildet; die Wirklichkeit des Staates , ζ. B. der Parteien und Interessen verbände, entwickelt sich oft neben dem Verfassungssysfem. Oft wird Verfassungsrecht nur auf bestimmte kurze Zeit beschlossen, wodurch sich ein derartiges Gesetzesrecht ins Provisorische und Experimentelle verliert 38 und allmählich an normativer Kraft einbüßt. 39 Unsicherheit, Experimentierlust und die Gefahr zunehmender Verpolitisierung, vor allem im Wirtschaftsrecht, greifen um sich. 37 38

Ulrich Scheuner, Staatstheorie und Staatsrecht, Berlin 1978, S. 505.

Alfred Kobzina, Rechtsstaat, Demokratie und Freiheit, Juristische Blätter 1966, S. 599. 39 So auch Kägi, a.a.O., S. 29.

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Auch von der Rechtstechnik her ist die Mehrzweckeverwendung des Staates und seiner Gesetze problematisch. Es gibt Formen des Gesetzes, die so auf den Einzelfall und eine politische Zweckmäßigkeit abgestellt sind, daß ihnen das Merkmal des Generell-Abstrakten mangelt; ich meine die heute öfters zu treffende Form des sogenannten Maßnahmen- und des Selbstbindungsgesetzes. Ein Maßnahmengesetz ist eine derartige parlamentarische Anordnung, bei der „die Zweckgerichtetheit, die Ausrichtung an einem praktisch-politischen Ziel im Vordergrund steht".40 Es handelt sich um eine „situationsgebundene Normierung" 41 wie es etwa ein Investitionshilfegesetz ist, eine wirtschaftliche Regelung, die eine vorübergehende Notlage oder Krise zum Gegenstand hat. Es ist eine für einen Einzelfall getroffene Rechtssetzung, welcher das Charakteristikum des Generell-Abstrakten mangelt, da es gleichsam ein für den Einzelfall getroffener vorweggenommener Vollzugsakt ist. Das Gesetz soll generelle Regeln aufstellen und keine bloßen Einzelanordnungen treffen. Umgekehrt muß man auch das Vordringen von unbestimmten Gesetzesbegriffen und die Flucht in die Generalklausel feststellen, also das andere Extrem. Selbstbindungsgesetze 42 wieder, wie ζ. B. im Bereich des Förderungswesens, sind Anordnungen des Gesetzgebers an die Vollziehung, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten, ohne daß ein Dritter daraus auch Rechte ableiten kann. Dieses Selbstbindungsgesetz erweckt den Anschein einer generellen Weisung in Gesetzesform. Beide Gesetze, sowohl das Maßnahmengesetz wie das Selbstbindungsgesetz, widersprechen den Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaates, weil beide Akte ermöglichen, die nicht auf ihre Rechtmäßigkeit überprüfbar sind.

40

Scheuner, a.a.O., S. 504. Scheuner, a.a.O. 42 Beachte Karl Wenger, Zur Problematik der österreichischen „Selbstbindungsgesetze", in: Wirtschaft und Verfassung in Österreich, Franz Korinek zum 65. Geburtstag, Wien - Freiburg - Basel 1972, S. 189 ff. 41

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Die Denaturierung der Gesetzesfunktion Das Gesetz wird immer mehr in voluntaristischer Weise zum Instrument der Politik, welches die Abgrenzung in Verfassung, einfaches Gesetz, Verordnung und Vollzugsakt nur mehr zu einer Frage der formellen Differenzierung werden läßt. Geltungsdauer und Inhalt des Gesetzes werden von tagespolitischen Kriterien bestimmt. Der Rechtsstaat ist nicht so sehr vom Inhalt seiner Rechtsakte, sondern vielmehr von der Form seiner Rechtswege geprägt. Zu dieser Anlage des Rechtsstaates hat schon Werner Kägi kritisch bemerkt: „Der ,Wille zur Macht' hat den Willen zur Norm abgelöst .. ." 43 Ein derart wechselndes Recht, „ein Recht ,mit fließender Geltungsfortbildung', ein ,dynamisches Recht' gestattet bestenfalls noch juristische »Momentaufnahmen' ", 44 aber keine Systematik und Dogmatik des Staatsrechtes, von der die Stabilität für das öffentliche und private Leben auf Dauer auszugehen vermag. Wie anders war doch die Lebenskraft früherer Zeiten, von welchen Franz Klein 1911 im Hinblick auf das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch in Österreich schrieb: „Die Lebenskraft der Gesetzbücher, welche die Wende des 18. Jahrhunderts brachte, beweist, daß grundlegende philosophische oder Staatsideen und geistige Perspektiven, die in die Vergangenheit und in die Zukunft tauchen, für ein Gesetz keineswegs schädlich sind. Sie lehren uns, daß die Gesetzgebung kein Handwerk sein darf, zumindest muß sie ein Kunstgewerbe bleiben. Prüfungen, platte Legistik und trockene Lebenskunde machen noch nicht zum Gesetzgeber. Nur ein die Menschen ergreifender, allgemeiner Gedanke kann die Massen dazu bringen, daß sie von selbst in ihre Tätigkeit Ordnung bringen, wie es das letzte Ziel jedes Gesetzes sein muß." 45

43

Kägi, a.a.O., S. 151. Kägi t a.a.O. 45 Franz Klein, Die Lebenskraft des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches, in: derselbe, Reden, Vorträge, Aufsätze und Briefe, l.Band, Wien 1927, S. 194. 44

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V. Ethische Bezüge im Staatsleben Die Natur der Sache

Dieser das Gesetz stiftende und prägende Gedanke kann insbesondere von der Natur der jeweiligen Sache46 als im Wesenhaften begründete Sachnotwendigkeit oder von einer religiösen, philosophischen, ideologischen oder weltanschaulichen Grundhaltung 47 sowie einer bestimmten Interessenslage ausgehen. Stets kommt es aber darauf an, daß dieser Gedanke eine Mehrheit im parlamentarischen Bereich findet und von den Normadressaten verstanden wird. Je pluralistischer ein Staat ist, was bei den freien Demokratien oft der Fall ist, desto wichtiger ist dieser Repräsentations- und Integrationsvorgang, den der Parlamentarismus ermöglicht4® sowie die Staatsgewalt konstituiert und legitimiert. Eine jeweilige Anschauung des Menschen, seiner Individualität und Sozialität, der Gemeinschaft und der Welt kann so Ausdruck finden. In dieser Sicht ist die Weltanschauung ein umfassender Begriff. Karl Jaspers hat es erkannt: „Wenn wir von Weltanschauung sprechen, so meinen wir Ideen, das Letzte und das Totale des Menschen, sowohl subjektiv als Erlebnis und Kraft und Gesinnung, wie objektiv als gegenständlich gestaltete Welt." 49 Ohne diese Anschauung der Welt im weitesten Sinne ist keine Politik möglich. Zu dem Erkennen von Ordnungsbereichen tritt das Überzeugtsein, tritt die Anschauung der Welt. Das die menschlichen Lebensbereiche kennzeichnende Ordnungsstreben, im Sinne der größt- und bestmöglichen Entsprechung von Anliegen, Befriedigung von Bedürfnissen und Ausgleich von Interessen, wird begleitet von einem eigentümlichen Bemühen des Menschen um das Erfassen des Ganzen und der Grenzen der Welt. Das Warum, Wodurch und 46

Beachte Herbert Schambeck, Der Begriff der „Natur der Sache", Wien 1964 sowie Günter Ellscheid, Das Naturrechtsproblem. Eine systematische Orientierung, in: Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, hgb. von Arthur Kaufmann und Winfried Hassemer, 4. Aufl., Heidelberg 1985, S. 171 ff. 47 Vgl. Herbert Schambeck, Politik und Weltanschauung, Wissenschaft und Weltbild, März 1968, S. 40 ff. 48 Siehe näher Herbert Schambeck, Vom Sinn und Zweck des Parlamentarismus, in: Der österreichische Parlamentarismus, Werden und System, hgb. von demselben, Berlin 1987, S. 1 ff. 49 Karl Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, 4. Aufl., Berlin Göttingen - Heidelberg 1954, S. 1.

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Wozu der einzelnen Ordnungsformen sucht er zu ergründen. Der Mensch stellt sich damit eine Aufgabe, die, zum Unterschied von dem erlebbaren und unmittelbar erfahrbaren Ordnungsstreben des Menschen in der Politik, über die erforderliche Rationalität sowie Utilität hinaus den Menschen existentiell erfaßt. Wer das Gewissen als zur Existenz des Menschen zugehörig ansieht, kann bei diesem Existenzvollzug nicht an der Ethik menschlichen Seins und damit auch im politischen Bereich besonders an dem dem Parlamentarismus gestellten Moralanspruch vorbeisehen.

Die Aufgabe des Staatsmannes Der Parlamentarismus umfaßt jenen Bereich der Politik, der besonders auf einen Ausgleich der Interessen gerichtet ist und je nach der Staatsform, nämlich Monarchie oder Republik, sowie je nach dem politischen Ordnungssystem, nämlich autoritär oder demokratisch, von den Wegen monologischer Machtausübung oder dialogischer Willensbildung im Staate geprägt wird. Der Parlamentarismus öffnet den Weg zu jener Staatswillensbildung, die eine Einigung durch Rede und Gegenrede zustande bringt. Daß jedoch eine solche Beschlußfassung möglich wird, dazu ist ein entsprechendes Verzichtleisten des einzelnen Menschen in der Politik, d. h. ein Entgegenkommen erforderlich. Diese Auseinandersetzung im sachlichen Bereich und diese dazu erforderliche Begegnung im persönlichen Umgang sind ohne ethische Grundhaltungen, die bewußt oder unbewußt bezogen werden, nur schwer vorstellbar. Auch hier drückt sich jeweils eine bestimmte Anschauung von der Welt und damit auch vom Menschen aus, die in einer tätigen Haltung mündet. So bemerkte auch Jaspers: „Weltanschauung ist nicht bloß ein Wissen, sondern sie offenbart sich in Wertungen, Lebensgestaltung, Schicksal, in der erlebbaren Rangordnung der Werte." 50 Diese erlebbare Rangordnung der Werte stellt eine besondere Beziehung zur Politik und damit auch zur Gesetzgebung dar, die sie in der normativen Form der Gesetze ausdrückt; sie kann damit ethische Bezüge darstellen oder auch nicht. Die Verantwortung hierfür trägt im Bereich des öffentlichen Lebens allgemein und dem der Gesetzgebung im besonderen der 50

Jaspers, a.a.O.

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Politiker, 51 von ihm stellt Jaspers fest: „Darum ist Politik die größte Sache für das Dasein miteinander in der Welt. Die Staatsmänner haben ein hohes Ansehen wegen ihrer faktischen Macht und weil sie das gemeinschaftliche Daseinsschicksal bewirken. Menschen und Völker danken ihnen oder verfluchen sie. Sie wachsen ins Unheimliche. Auch da, wo sie Unheil und Zerstörung bewirken, werden sie nicht vergessen. Es kennzeichnet die Menschen und ihr politisches Denken, welchen Staatsmännern der Geschichte ihr Herz sich zuwendet, in welchen sie Größe sehen. Größe des Staatsmannes sehen wir dort, wo er sich der Verantwortung für die Freiheit bewußt ist. Sie liegt nicht schon in der machtvollen, grausigen Herrlichkeit eines geisterfüllten Tigers, wie etwa Cäsar, und gar nicht in der Tötungsgewalt eines schlauen, Machtsituationen exakt spürenden Insekts, wie etwa Hitler. Cäsar zu gehorchen, erhob noch einmal ein großes Volk, in dem zugleich die Gegner erwuchsen, die der Freiheit wegen ihn ermordeten. Hitler erniedrigte uns, unser Volk und jeden Einzelnen, am meisten die, die ihm folgten, und niemand vermochte aus dem reinen Willen zur politischen Freiheit ihn zu vernichten. Jene Verantwortung aber des großen Staatsmannes, wie etwa des Solon, des Perikles, vollzieht jene doppelte Orientierung: an der Gewalt und an der Freiheit mit ihrer gewaltlosen Vernunft. Selbstbehauptung durch Gewalt verlangt List und Lüge, Vernunft dagegen Offenheit, Wahrhaftigkeit und zuverlässigen Vertrag. Selbstbehauptung verlangt Verantwortung für die faktischen Folgen eines politischen Tuns für die Macht des eigenen Staats. Vernunft verlangt die moralische Gesinnung, die dem Erfolg, der Gewalt und der Macht nur zustimmt, wenn sie im Dienste der überpolitischen Aufgabe des Menschen bleiben. Ein großer Staatsmann kann im Sinne der bloßen politischen Selbstbehauptung verantwortungslos werden, wenn er auf Erfolg und Macht verzichtet, sobald diese als Preis die Gesinnungslosigkeit verlangen. Es gibt keine grundsätzliche Lösung. Wie die Gesinnung in die Verantwortung für die Folgen aufgenommen, die Verantwor51 Dazu Herbert Schambeck, Der Mensch in der Politik, Wissenschaft und Weltbild, März 1961, S. 1 ff. und Juni 1961, S. 105 ff.

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tung selber Gesinnung wird, das ist die geschichtliche je einmalige Entscheidung, nicht ein Ausgleich. Niedrig ist der Politiker ohne jede Spannung: er tut, was gerade den geringsten Widerstand bietet und für den Augenblick erfolgreich scheint. Groß ist der Staatsmann, der in dieser Spannung das Handeln der Selbstbehauptung findet, das sein Volk und ihn zum Adel des Menschseins steigert, der tut, was er für immer auf sich zu nehmen gewillt ist. Er kann nicht der sogenannten Realpolitik und dem Opportunismus sich unterwerfen. Er will die staatliche Gemeinschaft, der er dient, nicht durch verwerfliche Handlungen, die für den Augenblick erfolgreich scheinen, moralisch vernichten. Mit dem, was er tut, erzieht er zugleich die Staatsbürger. Er bleibt nicht um jeden Preis an der Macht, wenn sein Gewissen, politisch und moralisch zugleich, es ihm verbietet, zu verantworten, was gegen Interesse und Würde des eigenen Volkes geschieht. Das Ziel der Politik kann in diesem einen Satz ausgesprochen werden: Mit der politischen Freiheit wird der Mensch, der er selbst ist, zugleich mit der Freiheit im Innern seines Staatswesens und mit der Selbstbehauptung nach außen . . . Gewalt soll durch die Politik bewältigt werden zugunsten der Macht des Rechts und der persönlichen Freiheit. Für diese gibt es nur eine Grenze: soweit sie mit der Freiheit der anderen zusammen bestehen kann. Die Politik will Bändigung der Gewalt durch Miteinanderreden, durch Vertrag, durch gemeinschaftliche Willensbildung auf legalem Wege. Dieser Zustand braucht die zu ihm gehörigen Staatsmänner. Sie wollen nicht Diktatoren sein, weil sie keine Lust haben, über Sklavenseelen zu herrschen. Sie begehren die Macht nur für die Zeit ihres Auftrages, solange sie das Vertrauen ihrer Völker, das Vertrauen von Bürgern, nicht von Untertanen haben, und verzichten, sobald sie dieses Vertrauen verlieren. Sie hassen die Gewalt, aber sind die wahren Demagogen, das heißt Erzieher der Völker zur Politik. Sie sagen ihnen, was diese eigentlich wollen, in den konkreten Situationen durch Tatsachen und Gründe, so daß die Bürger, selber prüfend, in ihnen ihre eigene Urteilskraft wiedererkennen und in ihren Entschlüssen beflügelt werden. Ihre Worte und Taten werden noch nach Jahrtausenden erinnert. 10 Schambeck

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Aber nicht aus dem Nichts kam die politische Freiheit. Geschichtlich das erste war eine noch unpolitische lebendige Freiheit. Ein Freiheitswille, erfüllt durch Bindungen, war nicht leer, sondern bewahrte den Gehalt überlieferter Substanz im gemeinschaftlichen Leben. Woher solche sich ihrer selbst noch gar nicht bewußte Freiheit kam, ist unbegreifliches Geheimnis. Von Rasse- und Völkerbegabungen zu reden, ist leer und zugleich für die Größe der Sache erniedrigend. So hat die Freiheit der griechischen Polis ihre Voraussetzung in dem griechischen Freiheitswillen seit Homer und den Ioniern, erreichte ihren ersten Gipfel in dem einzigen Solon und ihre Vollendung im Perserkrieg mit seinen Folgen. — Das freie Bauernleben der Schweizer war Voraussetzung für die Schwurgemeinschaft, die im dreizehnten Jahrhundert in einer Urkunde mit einfachen herrlichen Grundsätzen die Konstituierung der inneren Freiheit zugleich mit der uneingeschränkten Opferbereitschaft in der Abwehr der Unterdrückung von außen vollzog. — Die amerikanische Freiheit gründete in der Gesinnung der Pilgerväter und des in vielen Gemeinschaften entfalteten amerikanischen Lebens. In der Revolution gegen England wurde mit dem Sieg zugleich die innere Verfassung, erst die einzelner Staaten, dann des Bundes konstituiert. Überall kamen erst später die Lehren über den Sinn des Ganzen, in denen Gründer und Nachfahren sich dessen vergewisserten, was sie erhalten wollten." 52 Politische Führung in Theorie und Praxis Diese von Karl Jaspers gezeigte Aufgabenstellung des Politikers liegt im vordenkenden Führen, das sich heute auf die Willensbildung im Parlament und auf die Zustimmung der Einzelnen im Staat richtet, andernfalls die Geltung der Rechtsnormen in ihrem Bestand gefährdet ist. Das bedeutet nicht das bloße Beifallsheischen, sondern vielmehr auch die Hinführung zur Sacheinsicht und zur Gewissensentscheidung; beides setzt allerdings bei Normsetzer und Normadressaten die erforderliche Sacheinsicht und die entsprechende Gewissensbildung voraus; beides führt zu einer sachbezogenen Ethik, wie 52 Karl Jaspers, Kleine Schule des Philosophischen Denkens, München 1965, S. 75 ff.

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sie unsere Zeit in dem Mehrzweckestaat braucht; man denke ζ. B. nur an die Zusammenhänge von kulturellem Fortschritt, wirtschaftlichem Wachstum und sozialer Sicherheit im allgemeinen, dem technologischen Fortschritt und der Kernenergie im besonderen. Diese führende Aufgabe stellt sich in der Staatsleitung dem Parlament und der Regierung in gleicher Weise. Beide stehen unter den Geboten des Verfassungsrechts, welche das Parlament in einfachen Gesetzen auszuführen hat, die für die Regierung und ihre Verwaltung Handlungsanweisungen sind, die sie zwar in Regierungsvorlagen an den Gesetzgeber mit vorbereiten können, deren endgültige Prägung aber dem Gesetzgeber obliegt. Die Ethik dieser politischen Führung ist mitbestimmend für die Ethik in einem Staat. Was Karl Carstens über „Politische Führung" schrieb, gilt es auch in diesem Zusammenhang zu bedenken: „Mit Führen ist ein Doppeltes gemeint. Das Setzen von Zielen und die Beeinflussung von Menschen, damit sie auf diese Ziele hinarbeiten." 53 Carstens betont: „Führen in dem hier gebräuchlichen Sinne heißt nicht Befehlen." 54 Es ist eine motivierende Anordnung gemeint. Wenngleich die politische Führungspraxis lehrt, daß Motivation für die Führung, sei es durch Parlament oder Regierung, alleine nicht genügt, daß zu diesem Idealzustand oft auch der Zwang durch Machteinsatz tritt, soll der Idealfall gerade in einer Studie über „Ethik und Staat" nicht vergessen und die beispielgebenden Eigenschaften des Staatsmannes nicht übersehen werden, die Karl Clausewitz beschrieben hat: „Zum Staatsmann gehören zwei Eigenschaften: einmal der Verstand, der auch in dieser gesteigerten Dunkelheit nicht ohne eigene Spuren des inneren Lichts ist, die ihn zur Wahrheit führen, und dann der Mut, diesem schwachen Licht zu folgen." 55 I m heutigen Gemeinwesen des großen Flächenstaates der pluralistischen und technisierten Massengesellschaft ist es nicht möglich, daß der Staatsmann, sei es als Politiker in Parlament oder Regierung, mit den einzelnen Bürgern in ihrer Gesamtheit im Staat persönlich in Kontakt treten kann, dies ereignet sich über die Öffent53 Karl Carstens, Politische Führung, Erfahrungen i m Dienste der Bundesregierung, Stuttgart 1971, S. 11. 54 Carstens. a.a.O., S. 12. 55

10·

Zitiert nach Carstens, a.a.O., S. 14.

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lichkeit, 56 in welcher die Massenmedien eine besondere Mittlerfunktion erfüllen und von der Neugierde als Laster und Tugend begleitet werden. 57 Die staatsleitenden Organe sind dabei wie alle übrigen Organe im Dienste des Staates insofern an die Wahrheitspflicht gebunden, als sie ja einen Eid abgelegt haben, nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln.58 Das Parlament wird verfassungsgemäß seine rechtssetzende Funktion nur erfüllen können, wenn es wahrheitsgemäß von der bestehenden Faktenlage, z. B. im wirtschaftlichen Bereich bezüglich der Budgeterstellung, ausgeht.59 Die Regierung, die neben dem Gesetzesvollzug auch das öffentliche Leben in der Eigendynamik seiner Entwicklung zu bedenken hat, steiht genauso unter dem Gebot seiner Verfassung, nur ist sie aufgrund des ständigen Handlungszwanges in einer anderen Situation als das Parlament. Sie hat neben der Konkretisierung des positiven Rechts im Stufenbau der Rechtsordnung auch politische Situationen staatsleitend zu bewältigen, die sich in einer Rechtsnorm nicht immer genau vorhersehen und berechnen lassen. Aus seiner Erfahrung hat Carstens dazu festgestellt: „Die Entscheidungen der Bundesregierung werden an politischen und rechtlichen, daneben aber auch an moralischen Kriterien gemessen. Dies geschieht aus unterschiedlichen Motiven. Für einige Regierungsmitglieder haben die moralischen Kategorien eine unbedingt verbindliche Kraft. Sie sind nicht bereit, sich über sie hinwegzusetzen. Andere haben diese Skrupel nicht, doch sind sie sich be56 Vgl. etwa Hans R. Klecatsky, Der Einzelne und die Massenmedien, Veröffentlichungen der Universität Innsbruck 51, Innsbruck 1979; Wolf gang Martens, Öffentlichkeit als Rechtsbegriff, Bad Homburg v. d. H. - Berlin Zürich 1969; Manfred Welan und Ernes Markl, in: Zur Stärkung der Justiz, Schriftenreihe Niederösterreichische Juristische Gesellschaft, Nr. 39/ 40/41, St. Pölten 1986, S. 31 ff. und 45 ff. 57 Beachte Otto B. Roegele, Neugier als Laster und Tugend, Zürich 1982. 58 Beachte ζ. B. die Eidesformel des österreichischen Bundespräsidenten nach Art. 62 (1) B - V G : „Ich gelobe, daß ich die Verfassung und alle Gesetze der Republik getreulich beachten und meine Pflicht nach bestem Wissen und Gewissen erfüllen werde." Dazu auch Herbert Schambeck, Verantwortlichkeit nach österreichischem Bundesverfassungsrecht, in: Humanes und Urbanes, Festschrift für Viktor Wallner, St. Pölten 1982, S. 117 ff., bes. S. 124 und 126 f. 59

Vgl. dazu Johannes Hengstschläger, Das Budgetrecht des Bundes, Berlin 1977, S. 179 ff. sowie insb. Art. 51 Abs. 3 B - V G i. d. F. der Novelle 1986.

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wußt, daß eine Verletzung moralischer Gebote eine negative Reaktion in der Öffentlichkeit des Inlands und des Auslands zur Folge haben würde, und aus diesem Grunde stellen sie moralische Erwägungen an. . . . Ein weiteres moralisches Gebot, dessen Gewicht jede Regierung spürt und das bei allen Entscheidungen eine Rolle spielt, ist die Wahrheitspflicht. . . . Der demokratische Prozeß setzt voraus, daß das Parlament und jeder Bürger sich ein zutreffendes Bild von der Lage machen kann. Wie können sie das, wenn die Regierung ihnen nicht die Wahrheit sagt? Indessen muß man erkennen, daß es für eine Regierung nicht immer möglich ist, öffentlich ,die volle Wahrheit zu sagen, nichts zu verschweigen und nichts hinzuzufügen 1, wie es unsere Prozeßordnungen von dem vor Gericht erscheinenden Zeugen verlangen. Vor allem im Bereich der Außenpolitik würde die deutsche Regierung international jedes Vertrauen einbüßen, wenn sie nach diesem Grundsatz verfahren würde. In der Außenpolitik müssen streng vertrauliche Sondierungen und Beratungen möglich sein. Wie kann eine Regierung in dieser Lage der Wahrheitspflicht gegenüber ihrem Parlament und ihrer Öffentlichkeit genügen? Zunächst wird man grundsätzlich fordern müssen, daß die Regierung keine Unwahrheiten sagt, d. h. keine Tatsachenbehauptungen aufstellt, von denen sie weiß, daß sie falsch sind. Ein solches Verhalten würde mit Recht als ebenso moralisch verwerflich wie politisch falsch bezeichnet werden. Aber auch in fahrlässiger Weise darf eine Regierung nichts Falsches erklären. Ihr steht ein riesiger Apparat zur Verfügung. Wenn sie die Angelegenheit mit dem nötigen Nachdruck betreibt, ist sie fast immer in der Lage, einen Sachverhalt aufzuklären. Ist sie sich ihrer Sache nicht sicher, so muß sie ihre Erklärungen entsprechend vorsichtig formulieren. Wenn sie etwas nicht weiß, sollte sie sich nicht scheuen, dies zu sagen. Merkwürdigerweise haben viele Regierungsvertreter, vor allem die Pressesprecher, starke Hemmungen, eine solche Erklärung abzugeben. Anscheinend befürchten sie, dadurch an Prestige zu verlieren. Es könnte der Eindruck entstehen, sie persönlich seien über wichtige Vorgänge nicht unterrichtet. Andere scheinen zu glauben, daß die Erklärung, man wisse etwas nicht, den Beweis für einen Mangel an Intelligenz darstelle. Alle diese Befürchtungen halte ich nicht für durchschlagend.

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Ich würde es für nützlich halten, wenn die Vertreter der Regierung sich nicht scheuen würden zu erklären, daß sie etwas nicht wüßten, vorausgesetzt, daß dies wahr ist. Auch die Erklärung, man wolle oder könne auf eine bestimmte Frage keine Antwort geben (,no comment4), ist bei deutschen Regierungsvertretern nicht beliebt, und doch kann diese Formel in bestimmten Fällen die bestmögliche Antwort darstellen. Sie hat zudem den Vorteil, daß sie den Sprecher niemals in Konflikt mit der Wahrheitspflicht bringen kann. Denn ob er antworten kann oder will, ist eine Frage, die er selbst entscheidet. Nun gibt es aber Fälle, in denen die Antwort, man wolle keine Antwort geben, eindeutige Schlüsse auf den wahren Sachverhalt zuläßt. Hier erhebt sich die Frage, ob ausnahmsweise wahrheitswidrig erklärt werden darf, der Sprecher wisse von einer behaupteten Tatsache nichts, öder ob er sogar wahrheitswidrig sagen darf, die Meldung stimme nicht, wenn die Geheimhaltung im Staatsinteresse unbedingt erforderlich ist und die Preisgabe des Geheimnisses schwere Nachteile mit sich bringen würde. Man wird eine solche Frage nicht a limine verneinen können. Auch die Wahrheitspflicht der Regierung ist kein absolutes Gebot, hinter dem alle anderen Erwägungen zurückstehen müssen. Aber nur mit strengsten Einschränkungen erscheint mir ein Abweichen von dem Gebot der Wahrhaftigkeit in einem demokratischen Staate vertretbar zu sein. Zunächst darf die Regierung in der Irreführung nicht selbst eine aktive Rolle spielen oder gar die Initiative dazu ergreifen. Wenn sie überhaupt etwas Wahrheitswidriges erklärt, dann darf es sozusagen nur in der Defensive geschehen, z. B. um die Presse, die einem sorgfältig zu hütenden Staatsgeheimnis auf die Spur gekommen ist, abzuschütteln. Auch in der Defensive darf die Unwahrheit nur der letzte mögliche Ausweg sein. Es muß eine Situation vorliegen, in der andere Erklärungen wie: ,Ich weiß es nicht4 oder ,no comment1 die Lage noch verschlimmern würden, und schließlich und vor allem muß es sich um ein Geheimnis handeln, das im Interesse der Allgemeinheit unbedingt gewahrt werden muß. Keinesfalls darf die Regierung zu dem Mittel der Lüge greifen, um sich selbst oder einzelne ihrer Mitglieder oder die sie tragenden politischen Parteien vor Schaden zu bewahren. In der Regel ist die Regierung gut beraten, wenn sie mit der Wahrheit nicht zurückhält, nicht

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zuletzt auch deswegen, weil sie mit größter Wahrscheinlichkeit schließlich doch ans Licht kommen wird. So empfindlich die deutsche Öffentlichkeit reagiert, wenn in der politischen Auseinandersetzung über Tatsachen falsche Erklärungen abgegeben wenden, so wenig scheint sie sich um ein eng damit zusammenhängendes Phänomen zu kümmern, das der Heuchelei. Sie bildet, vor allem in der Form der geheuchelten Entrüstung, einen besonders unangenehmen Zug in 'der öffentlichen politischen Auseinandersetzung in der Bundesrepublik. Man regt sich über eine Äußerung des politischen Gegners äußerlich auf, weil man glaubt, damit in der Öffentlichkeit einen guten Eindruck zu machen. In Wirklichkeit weiß man genau, daß der Gegner in der Sache recht hat. . . . Fast nie ist für eine politische Entscheidung nur ein einziges Kriterium maßgebend, meist sirtd eine Fülle von Gesichtspunkten zu berücksichtigen, die nach jeweils anderen Kriterien zu beurteilen sind. Dann entsteht die Frage, welchem dieser Kriterien im Konfliktfall der Vorrang einzuräumen sei, und spätestens hier werden sich die Meinungen wieder teilen. Das Ergebnis dieser Überlegungen ist das folgende: Für fast alle politischen Entscheidungen gibt es eine bestimmte Bandbreite, eine Art graue Zone, innerhalb derer mit guten Gründen verschiedene Auffassungen vertreten werden und daher mehrere verschiedene Entscheidungen ,richtig 1 sein können. Erst jenseits dieses Bandes liegen die eindeutig falschen Entscheidungen. Wenn ich sage »eindeutig 4 , so meine ich damit, daß kein verständiges Kriterium innerhalb der Prämissen unseres freiheitlichen und demokratischen Systems die Entscheidung rechtfertigt, so etwa, wenn um geringer materieller Vorteile willen das Leben von Menschen aufs Spiel gesetzt wird. Ihnen stehen die eindeutig richtigen Entscheidungen gegenüber. Das sind Fälle, in denen ein von allen verständigen Menschen innerhalb der Prämissen unseres Systems akzeptiertes Kriterium eine bestimmte Entscheidung verlangt. Auch hier liegen die eindrucksvollsten Beispiele im humanitären Bereich. Ein Flottenmanöver wird abgebrochen, um ein in Seenot geratenes Schiff zu retten. Aber nicht immer können humanitäre Erwägungen allein den Ausschlag geben. Gegenüber Erpressern braucht man bereits ein nuancierteres Konzept." 60 « Carstens, a.a.O., S. 204 ff.

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V. Ethische Bezüge im Staatsleben Grundsätze einer ethikorientierten

Politik

Ein detailliertes Programm von Geboten der Ethik für alle Fälle der Politik wird es schwer geben, wohl aber bedenkenswerte Grundsätze, welche die Wahrheitspflicht mit dem Gemeinwohlgebot verbinden, was Johannes Messner 61 besonders hervorhob. Die öffentliche Meinung und das individuelle Gewissen werden gerade in der Demokratie hiezu entscheidend beitragen können. „In der Demokratie ist politisch nur das möglich, was in der öffentlichen Meinung, im »öffentlichen Gewissen4 auf Unterstützung rechnen kann. Das ist das Gesetz der Demokratie." 62 Realistisch fügt Johannes Messner hinzu: „Dabei wird jedoch übersehen, daß der Gesetzgeber und die Regierung in der heutigen Demokratie von dem Stimmverhältnis bei den Wahlen und von den jeweiligen Fragen abhängig sind. Ihre Macht ist nicht größer als die, die ihnen das auf das christliche Gewissen hörende Volk durch Wahlstimmen und öffentliche Meinung zu geben vermag", 63 und warnte: „Ausbalancierung von Machtverhältnissen gibt an sich noch keine Ordnung der Gerechtigkeit." 64 Er erkannte, daß die pluralistische Demokratie, wie sie ja den Staat der Gegenwart kennzeichnet, von einem Verantwortungspluralismus gekennzeichnet ist, in dem das Volk immer wissen sollte, „daß auf seiner eigenen Seite ebensoviel Verantwortung liegt wie auf der Seite der von ihm gewählten Politiker, besonders auch in der Richtung, daß es zwischen den Wahlterminen nicht nur Zuschauer sein darf, sondern sich auch dauernd um das öffentliche Gewissen bemühen muß." 65 61

Beachte u. a. Johannes Messner, Der Funktionär. Seine Schlüsselstellung in der heutigen Gesellschaft, Innsbruck - Wien - München 1961, bes. S. 140 ff. und S. 2-57 ff., derselbe, Der Staat, in: Die Kirche und die Mächte der Welt, Wien 1961, S. 108 ff. sowie derselbe, Das Gemeinwohl: Idee, Wirklichkeit, Aufgaben, 2. Aufl., Osnabrück 1968, bes. S. 151 ff.; siehe dazu Herbert Schambeck, Johannes Messner und die Staatsordnung, in: Das Neue Naturrecht, Gedächtnisschrift für Johannes Messner, hgb. von Alfred Klose u. a., Berlin 1985, S. 125 ff. 62 Messner, Der Staat, S. 110. 63

Messner, a.a.O., S. 113. Messner, Das Gemeinwohl, S. 159. 65 Messner, Der Staat, S. 113; siehe auch Hans Zbinden, Das ermüdete Gewissen, Privatdruck. 64

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Ethik in Rechtsetzung und Vollziehung Anders als das Verhältnis von Politiker und Bürger im Staat ist das von Bürger und Vollzugsorganen in Verwaltung und Gerichtsbarkeit, d. h. Beamter und Bürger. Während der Politiker in Parlament und Regierung auf 'den Einzelnen, sei es als Wähler in der Demokratie oder als Normadressat, Bedacht zu nehmen hat, der mit seinem Gewissen und seinem Rechtsgehorsam den Bestand der Geltung einer Rechtsnorm mehr oder weniger mit trägt, steht das Normvollzugsorgan in der Verwaltung und der Gerichtsbarkeit ausschließlich im Dienste der Normvollziehung und ist unabhängig von politischen Erwägungen. Seine Entscheidung, sei es als Verwaltungsbeamter oder als Richter, steht ausschließlich im Dienste kies Gesetzes; wer eine andere Entscheidung des Vollzugsorgans erwartet, muß dies nicht von diesem verlangen, sondern auf dem Wege der Gesetzgebung herbeiführen, was besonders im demokratischen Rechtsstaat deutlich wird. Das Gesetz als normativrechtliches Maß des Staates und der Beamte sowie der Richter als Handlungsbevollmächtigte 'des Staates stehen aufgrund der Gesetzesfoindung der Vollziehung, welche im demokratischen Rechtsstaat besonders deutlich ist, im engsten Zusammenhang. Da das Handeln des gesetzestreuen Beamten und gesetzestreuen Richters dem Willen des Gesetzgebers Gestalt gibt, führt er damit den ethischen, jeweils mehr oder weniger gegebenen Bezug des Rechtssetzungsorgans aus. Je mehr die Rechtsethik der Rechtsetzung eignet, desto mehr kann sie bei der Rechtsvollziehung zum Ausdruck kommen. Die Aufgabe des Beamten und Richters besteht daher nicht darin, allein persönlichen ethischen Vorstellungen beim Rechtsvollzug in Bescheid- oder Urteilsform zum Durchbruch zu verhelfen, sondern im Hinblick auf den Einzelfall dem Willen des Gesetzgebers und seiner mehr oder weniger gegebenen Ethik zu dienen. Die dem Beamten und dem Richter eigene Ethik hat sich vor allem auf die sachlich objektive Gesetzesanwendung zu beziehen und sich keinen gesetzesfrem'den Einflüssen hinzugeben. Adolf Merkl hat bereits festgestellt: „Erst dadurch wird jedoch das aus dem Parteiwillen geborene Gesetz zu einer objektiven Norm, daß seine Wirkung durch eine parteipolitisch neutrale Justiz und Verwaltung

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mediatisiert wird. Gelingt es typischerweise den Berufsbeamten, die Subjektivität der Rechtserzeugung durch objektive RechtsanWendung zu neutralisieren und somit die in der Gesetzgebung auftretende Parteiherrschaft zu sublimieren, so macht die zusätzliche Parteipolitik in Gestalt einer parteipolitisch orientierten, wo es der Parteivorteil gebietet, auch rechtswidrigen Konkretisierung der Norm, also die Kumulierung parteipolitischer Gesetzgebung mit parteipolitischer Verwaltung und Justiz, die Parteiherrschaft gehässig und verhaßt." 66 So sehr die Gesetzesvollziehung zum einseitigen Vorteil einer bestimmten politischen Partei oder eines einzelnen Interessenvei^bandes abzulehnen und vor allem auch mit dem Erfordernis objektiver Gesetzesvollziehung unvereinbar ist, so sehr ist es bisweilen verständlich, wenn oberste Vollzugsorgane im Bereich der Verwaltung von ihrer Weisungsmöglichkeit gegenüber Beamten Gebrauch machen, um eine einheitliche Gesetzesvollziehung in einem bestimmten Sachbereich so zu ermöglichen, daß sie der rechtlichen, politischen und finanziellen Seite der betreffenden Ministerverantwortlichkeit 67 entspricht. So sehr nun die Weisung auch im demokratischen Rechtsstaat als Notwendigkeit jedes Regierens anerkannt sei, muß aber jeder Versuch zur Verpolitisierung der Verwaltung auf dem Wege der an den Beamten gerichteten Weisung abgelehnt werden. 68 Die Parteien haben zwar im Sinne der Demokratie dem Gesetz — auch auf dem Kompromißweg 69 — zu folgen, sich aber jedes Einflusses zu einseitig parteipolitischen Zwecken, die mit dem Inhalt des Gesetzes unvereinbar sind, auf die Vollziehung der Gesetze zu enthalten. Auch der Parteienstaat bedarf seiner spezifischen Ethik. Die häufig anzutreffenden Versuche, das, was nicht in der Gesetzgebung an Parteiwünschen erreicht wurde, im Wege der Vollziehung durch parteipolitisch veranlaßte Weisungen durchzusetzen und so das „poli66

Adolf Merkl, Entwicklung und Reform des Beamtenrechtes, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 7, Berlin 1932, S. 78. 67 Hans Weiler, Der Verwaltungsjurist, Juristische Blätter 1966, S. 500; Herbert Schambeck, Die Ministerverantwortlichkeit, Karlsruhe 1971 und dazu Karl Korinek, Ministerverantwortlichkeit, Wien 1986. 68 Merkl, a.a.O., S. 73. 69 Siehe Walter Adolf Jähr, Der Kompromiß als Problem der Gesellschafts-, Wirtschafte- und Staatsethik, Recht und Staat Heft 208/209, Tübingen 1958.

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tische Glück" zu korrigieren, dient nicht der Sicherung, sondern der Gefährdung und Aushöhlung des Volks willens; es sind dies autokratische Abwandlungen von Pseudodemokraten. Der Parteienherrschaft im Bereich der Vollziehung Schranken zu setzen — und die wichtigste Schranke ist ein parteipolitisch unbeeinflußt funktionierendes Berufsbeamtentum —, ist daher dem Idealtypus der Demokratie kongenial, wie wenig ihr auch der Realtypus der Demokratie immer entsprechen mag. Es ist also kein Widerspruch, zugleich die Demokratie und das Berufsbeamtentum 70 zu bejahen. In der Demokratie drückt das Volk seinen Willen in den Gesetzen seiner Volksvertreter aus und die Beamten haben diese auszuführen. Wer daher in demagogischer Weise versucht, bei politischen Eingriffen in die Vollziehung der Gesetze sich auf die Demokratie zu berufen, übersieht, daß die Demokratie und der Rechtsstaat ihrer ideenmäßigen Wurzel und ihres Anliegens nach eins sind.71 Wer gesetzwidrige Weisungen erteilt, mögen sie auch mit den parteipolitischen Vorstellungen der obersten Vollzugsorgane und ihrer Regierung übereinstimmen, gefährdet dadurch den demokratischen Verfassungsstaat. 72

Ethik und Rechtsprechung Eine besondere Stellung nimmt in der Vollziehung der Richter ein, der in seiner rechtsprechenden Funktion mit verfassungsgesetzlich gewährleisteter Unabhängigkeit ausgestattet ist. Er dient der 70 Siehe näher Herbert Schambeck, Der Beamte — seine Aufgaben und sein Schutz im modernen Staat, in: I m Dienste von Freiheit und Recht, Gedenkschrift für Hans Weiler, hgb. von Hans R. Klecatsky u. Friedrich Kohl, Berlin 1976, S. 125 ff.; derselbe, Die Verantwortung in der modernen Demokratie, in: Verantwortung in Staat und Gesellschaft, hgb. von Alois Mock und Herbert Schambeck, Wien 1977, S. 37 ff., bes. S. 54 ff. und derselbe, Der Beamte und die Gesellschaft, in: Die Diener des Staates, hgb. von Günther Engelmayer, Wien 1977, S. 117 ff. 71 Siehe Werner Kägi, Rechtsstaat und Demokratie, in: Demokratie und Rechtsstaat, S. 107 ff. sowie Hans R. Klecatsky, Der Rechtsstaat zwischen heute und morgen, Wien 1967. 72 Beachte hiezu Kurt Ringhofer, Legalitätsprinzip und Grenzen der Weisungsgebundenheit, Juristische Blätter 1951, S. 409 ff.; derselbe, Die strafgesetzwidrige Weisung, in: Festschrift für Adolf Merkl zum 80. Geburtstag, hgb. von Max Imboden u.a., München - Salzburg 1970, S. 319 ff.; Walter Barfuß, Die Weisung, Berlin - New York 1967 und Karl Lengheimer, Die Gehorsamspflicht der Verwaltungsorgane, Wien - New York 1975.

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Gesetzesvollziehung in einem zu einem Urteil führenden Gerichtsverfahren. Da die Beamten der Verwaltung den obersten Vollzugsorganen, die meistens von den politischen Parteien gestellt werden, weisungsgebunden und gehorsamspflichtig sind, kommt dem Richter, sei es in der Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechtes, nämlich der Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit, oder der ordentlichen Gerichtsbarkeit, un!d zwar der Strafrechts- und Zivilrechtspflege, eine besondere Bedeutung im Hinblick auf einen objektiven Gesetzesvollzug zu. In einer Zeit mannigfacher Kritik am öffentlichen Leben hat der Richter auch als Ausdruck der Kontinuität des Staates ein besonderes Ansehen. Von ihm wird erwartet, daß er sich nicht an den Auseinandersetzungen beteiligt, sondern über diesen steht. Aus diesem Grunde sollte auch der Richter, dem wie jedem Staatsbürger das Grundrecht des politischen Bekenntnisses zusteht, zwar mit Interesse, aber gleichzeitiger Distanz zur Parteipolitik stehen, nämlich sie beobachten und nötigenfalls sie im Richterspruch beurteilen, aber sich nicht einseitig engagieren. Ernst Markel hat sogar von der notwendigen parteipolitischen Abstinenz des Richters geschrieben.73 Von der unabhängig von der Politik seienden Position des Richters hängt wesentlich das Ansehen des Staates ab, für dessen Ordnung der Richter geradezu die Personifikation ist. In seinem Urteil stellt der Richter im Konfliktfall die Verbindung zwischen dem Rechtsgebot des Gesetzes, das allgemein gültig ist, und dem individuellen Rechtsproblem her. Der oft zeitbedingte Rechtskonflikt wird vom Richter in einer rechtskräftigen Entscheidung einer Lösung zugeführt, wodurch er eine Befriedigungsfunktion erfüllt. Die Erfüllung dieser Funktion setzt aber vom Richter, wie kaum von einem anderen Organwalter des Staates, eine entsprechende Berufseinstellung voraus, die ethisch mitbestimmt ist.74 Diese ethische Grundhaltung ist für den Richter neben der Gesetzeskenntnis deshalb so wichtig, weil er für Menschen mit seinem 73

Emst Markel, Einleitung, in: Der Richter in der pluralistischen Gesellschaft, hgb. von der Vereinigung österreichischer Richter, Wien 1986, S.7. 74 Siehe näher Herbert Schambeck, Richteramt und Ethik, Berlin 1982.

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Richterspruch eine Kraft des Schicksals ist und diese Aufgabe vor einer ihn beobachtenden Öffentlichkeit erfüllt, zu der es einer seinem Beruf entsprechenden Einstellung bedarf. Diese ist nicht mit einem beifallsheischenden Blick auf das Publikum getan, sondern verlangt das Gesetzesverständnis im Hinblick auf den zu beurteilenden Rechtsfall sowie den meist dahinter stehenden Menschen. Der Richter sollte daher die Rechtsfindung auf dem Weg der Verbundenheit von Gesetzesanwendung und Menschenkenntnis erreichen. Fritz Werner hat es so ausgedrückt: 75 „Ein Richter soll seit jeher ein Mensch sein, der zuhören kann. Ohne echtes Zuhören-Können ist Richten sinnlos. Was aber bedeutet das in einer Welt, in der es selten ist, die Geduld zum Zuhören aufzubringen und in der der Geist des hämischen Unterschiebens und des Mißtrauens alle zu überfluten droht. Es wäre schlecht um die Rechtspflege bestellt, wenn auch auf der Richterbank das ZuhörenKönnen seltener wird. Wer gut zuhören will, muß selbst enthaltsam im Reden sein. Zumindest darf das Rechtsgespräch nicht zum Monolog des Richters werden. Die Richterbank ist auch keine Rampe, an die ein Schauspieler gerufen werden will, um vom Beifall des Publikums bestätigt zu werden. Es gibt nicht nur die Versuchung der Macht, sondern auch die der Publizität. Wer ihr erliegt, gerät in die Gefahr, den Richter zum Funktionär der Tagesmeinung werden zu lassen. Der Richter, der nur noch unwillig oder schlecht zuzuhören vermag, mag selten sein. Es gibt jedoch einen Typ des Richters, der dem nicht-zuhörenden Richter verwandt ist. Es ist der ironische Richter. Er hört noch auf das, was vor seine Schranken gebracht wird. Aber an dem Gehörten entzündet sich für ihn die Möglichkeit, gegenüber den Parteien, ihren Prozeßbevollmächtigten, dem Angeklagten, den Zeugen das Feuerwerk der Ironie zu entzünden. Wie leicht ist es, von der Richterbank her ironisch zu sein! Man weiß es ja besser und hat mit seinem Richterspruch die Möglichkeit, sein besseres Wissen durchzusetzen. Selbstverständlich wird es Gelegenheiten in der richterlichen Praxis geben, wo ein ironisches Wort am Platze sein mag. Die Ironie kann seit altersher eine pädagogische Maßnahme sein und, soweit der Richter überhaupt einen pädagogi75 Fritz Werner, Das Problem des Richterstaates, Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft e. V. Berlin, Heft 2, Berlin 1960, S. 8 f.

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sehen Auftrag hat — das ist allerdings selten der Fall —, mag er auch vom Mittel der Ironie Gebrauch machen. Aber er sollte es höchst sparsam tun. Denn ironisch von der Richterbank zu sein, kann auch ein Spiel der Eitelkeit sein. Es kann das Zuhören in ein Gregenteil verkehren, wo es nicht mehr auf das Gehörte ankommt, sondern auf das, was auf der Richterbank als Kommentar gegeben wird. Oft ist eine solche Ironie mit Menschenverachtung gekoppelt, einer Eigenschaft, die ganz gewiß auf dem Richterstuhl fehl am Platze ist. Es gibt wenige Berufe, zu denen so viel Menschenliebe und eben nicht Menschenverachtung gehört wie zum Richterberuf. All diese Selbstverständlichkeiten stehen mit dem Zühörenkönnen und Zuhörenwollen in einem engen Zusammenhang. In einer Welt, in der der Mensch nicht bereit ist, auf den anderen zu hören, greifen Ironie, Verachtung, Besserwisserei um sich. Diese lassen den richterlichen Beruf zu einer Farce werden." 76 In dieser Sicht bedarf das Richteramt vom jeweiligen Organwalter einer Distanz sich und dem zu beurteilenden Anderen gegenüber. Othmar Hanke hat diese Vorbildfunktion des Richters im Hinblick auf seine ethischen Erfordernisse mit „Demut statt Ehrgeiz, Leistung statt Entlastung, Bescheidenheit und Zurückhaltung statt Geltung sowie Ehre und Würde statt Anbiederung und Applaus" richtig veranschaulicht.77 Eine derartige Grundhaltung läßt auch den Richter jenen Ton finden, in dem sich Legalität und Humanität ergänzen könnten. Leopold Wurzinger hat den Weg hiezu beschrieben: „Für die Ausübung des Richteramtes ist neben der erforderlichen juristischen Ausbildung vor allem eine echte Persönlichkeit mit Verständnis für die Anliegen der rechtsuchenden Bevölkerung und der Fähigkeit eines angemessenen Umganges mit ihr erforderlich. Der Richter muß sich immer bewußt sein, daß jeder verfehlte und unangebrachte Ton dem Ansehen des Richterstandes und dem Vertrauens76

Willi Geiger, Von der Aufgabe und der Bedrängnis des Richters, Deutsche Richterzeitung 1959, S. 336 ff. hat in seinem Vortrag auf dem Würzburger Richtertag zutreffend formuliert: „Richter sind keine Akteure in einem Drama." 77 Othmar Hanke, Das Bild des Richters in der pluralistischen Gesellschaft, in: Der Richter in der pluralistischen Gesellschaft, Wien 1986, S. 46.

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Verhältnis der Bevölkerung zu ihm schadet und oft Verbitterung und Mißtrauen auslösen kann. Unangebrachte Anbiederung oder am falschen Platz hervorgekehrte Leutseligkeit ist für den Richter ein ebenso unrichtiges Verhalten wie Überheblichkeit und Hochmut. Es mag durchaus auch Humor gelegentlich am Platze sein. Es muß aber sehr sorgfältig bedacht werden, ob er in der jeweils gegebenen Situation unter Rücksichtnahme auf die Lage aller Beteiligten wirklich angebracht ist und niemanden verletzt. Humor darf jedenfalls nicht mit Zynismus und Ironie verwechselt werden. Es muß vielmehr für die angesprochene Person immer deutlich sein, daß der Richter ihr Anliegen ernst nimmt, mit Verständnis prüft und sie wirklich anhört." 78 Findet der Richter diesen Ton am Weg zum Urteilserkenntnis, dann entgeht er auch der Gefahr falscher Öffentlichkeitswirkung. Er ist nicht abhängig von der Stimmung des Publikums im Saal und den Massenmedien außerhalb des Gerichtes, er ist ausschließlich auf den Rechtsfall hin ausgerichtet, in dem er sich des betreffenden Menschen an-nimmt, für ihn be- und verurteilend da ist; diese Erfordernisse hat schon Fritz Werner erkannt: „Zum Richter gehört, daß sich der Richter mit dem Recht, das er spricht, identifiziert. Urteilen ist stets ein Sich-entscheiden, ein Sichbekennen. Richten kann nur dort ein Gewicht haben, wo der Urteilsspruch als von der Persönlichkeit des Richters getragenes Bekenntnis empfunden wird." 79

78 Leopold Wurzinger, Von der Aufgabe des Richters, in: Der Richter in der pluralistischen Gesellschaft, S. 98 f. 79 Fritz Werner, Recht und Gericht in unserer Zeit, Reden, Vorträge, Aufsätze 1948 - I960, hgb. von Karl August Bettermann und Carl Hermann Ule, Köln - Berlin - Bonn - München 1971, S. 161; Erstveröffentlichung, derselbe, Die geistige Situation des Richters von heute, Zeitwende 1952, S. 703 ff.; beachte auch derselbe, Bemerkungen zur Funktion der Gerichte in der gewaltenteilenden Demokratie, in: Recht und Gericht, S. 165 ff., Recht und Gerechtigkeit, in: Recht und Gericht, S.411 ff. und Recht und Toleranz, in: Recht und Gericht, S. 425 ff. sowie Egbert Paul, Gewissen und Recht — Demokratie und Rechtsstaat, Köln - Berlin - München 1970, bes. S. 14 ff., 20 ff. und 27 ff. und Emst E. Hirsch, Zur juristischen Dimension des Gewissens und der Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit des Richters, Berlin 1979.

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Dieser Hinweis auf den Persönlichkeitsbezug in der Ausübung von Staatsfunktionen, sei es in der Gesetzgebung oder in der Vollziehung, als Beamter oder Richter, sei deshalb gegeben, weil er verdeutlichen soll, wie gewissensorientiert die Staatsgewalt ausgeübt werden kann. Die Funktion der öffentlichen

Meinung

Jedes dieser Staatsorgane übt dabei seine Verfassungsfunktion in einer Öffentlichkeit aus, die meinungsbildend ist. Je demokratischer ein Staat ist, desto entscheidender ist diese öffentliche Meinung, die sich über die Ausübung der Staatsgewalt und das öffentliche Leben in einem Gemeinwesen bildet. Gegenstand der öffentlichen Meinung sind Angelegenheiten von allgemeinem Interesse; die Meinungsbildung ist allgemein zugänglich; sie erfolgt sowohl von einzelnen Privatpersonen und öffentlichen Organen als auch unter wesentlichem Einsatz der Massenmedien: Rundfunk, Fernsehen und Zeitungen. Die öffentliche Meinung drückt meist eine allgemeine Auffassung aus; spezifische Interessensforderungen sind nur selten Gegenstand der öffentlichen Meinung; ihrem Inhalt nach kann die öffentliche Meinung neben einer Sachaussage auch einen bejahenden oder verneinenden Gehalt haben. Die öffentliche Meinung ist wichtige Voraussetzung für >die demokratische Staatswillensbildung; wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 20. Juli 1958 erklärt hat, erfüllt sie ihre Aufgaben im gesellschaftlich-politischen Raum. Treffend hat Klaus Stern geschrieben: „In der Demokratie bedeutet öffentliche Meinung Aufklären, Klären, Informieren, Diskutieren, Meinung bilden. Hierauf ist der Bürger angewiesen um seine politischen Rechte wahrnehmen zu können. Für den demokratischen Prozeß sind darum die Informations- und Kommunikationsmittel in der Tat schlechthin konstitutiv." 80 80

Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 2. Aufl., München 1984, S. 618.

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In dieser Weise wird die öffentliche Meinung oft auch gleichgesetzt mit der Volksstimme oder dem Zeitgeist. Oft wird ihr daher kritisch entgegengetreten. Grundsatzlosigkeit, Unberechenbarkeit, Wankelmütigkeit und Manipulierbarkeit wird ihr öfters vorgeworfen. Oft ist es auch unmöglich, bei verschiedenen Auffassungen die entsprechende öffentliche Meinung herauszufinden; ist sie doch meist nichts Spezifisches, nichts Materielles, sondern etwas Immaterielles. Die öffentliche Meinung ist eine Voraussetzung der Demokratie und des Sozialstaates, denn sozial und demokratisch heißt gesellschaftlich und mitbestimmend; zu beidem kann die öffentliche Meinung wesentlich beitragen. Die öffentliche Meinung wird die Staatswillensbildung zwar mitbestimmen, aber nicht ersetzen können, sonst wäre in diesem Staat keine Demokratisierung, sondern eine Jakobinisierung erfolgt. Der Öffentlichkeit kommt im Staat eine integrierende Bedeutung zu, in der öffentlichen Meinungsbildung nimmt sie geradezu instrumentalen Charakter an.

Die öffentliche

Meinung und ihre Erforschung

So bedeutend die öffentliche Meinung im Staat und für den Staat der Gegenwart ist, so schwer ist sie selbst genau zu bestimmen; heute spielt dabei die Demoskopie zur Erfassung der öffentlichen Meinung eine besondere Rolle. Mit der Demoskopie, der Meinungsbefragung, wird in zunehmendem Maße versucht, die öffentliche Meinung zu erhellen. Die Demoskopie ist der Befragten, von der der Formulierung der keit der Meinung und

aber problematisch, und zwar von der Zahl verschiedenen Wertigkeit der Meinungen, von Fragen und letztlich von der Manipulierbarder Antwortenauswertung her gesehen.

Der Veränderbarkeit der Meinungen nach kann manche öffentliche Meinungsbildung mit einem Thermometer verglichen werden. Die Demoskopie ist kein Ersatz für Wahlen und besitzt keine demokratische Legitimation aus der Verfassung. Es sei auch betont, daß Mei11 Schambeck

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nungsbefrager keine Staatsorgane sind. Sie besitzen weder fachliche noch politische Legitimation. Meinen ist auch kein Wählen; meinen ist meist sach- und einzelbezogen; gewählt wird meist auf Grund von Interessenslagen oder geistigen, wie z.B. weltanschaulichen und ideologischen Grundhaltungen. Übersehen wir auch nicht: Meinungsbefragung wird nicht kontrolliert und überprüft; daher besteht auch die Gefahr des Mißbrauches. Meinungsbefragungen können aber von Bedeutung für den Nachweis jeweiliger Stimmungen und als Sachentscheidungsvorbereitung sein. öffentliche

Meinung und Massenmedien

Neben der Meinungsbefragung drückt sich die öffentliche Meinung in bestimmter Form in den Massenmedien aus. Aufgaben dieser Massenmedien sind die Information, die Mitwirkung an der Meinungsbildung sowie Kontrolle und Kritik. In Erfüllung dieser Funktionen sind die Massenmedien im Dienst der öffentlichen Meinung im heutigen Staat nicht wegzudenken, wenngleich für die Journalisten gleiches gilt wie für die Politiker, mit welchen sie sich meist beschäftigen; es handelt sich um eine Tätigkeit, die keine Berufsvoraussetzungen, wie ζ. B. einen Gewerbeschein dder eine Dienstprüfung, verlangt; wie beim Politiker ist auch beim Journalisten die Tätigkeit erfolgsorientiert. Beide sind für die Lebendigkeit des heutigen Staates existenzbedingend. In diesem Sinne gilt es René Marcic zuzustimmen, der von der öffentlichen Meinung schrieb: „Sie bedarf zur Artikulation der Medien: der Presse, des Rundfunks, des Fernsehens . . . usf. Diese Medien erfüllen im Gegenwartsstaat eine eminent öffentliche Aufgabe — keine Gewalt! — obwohl sie keine Staatsorgane, keine öffentlich-rechtlichen Körperschaften sind. . . . Medien der öffentlichen Meinung, Parteien, Verbände gehören zur »Gesellschaft' zum Unterschied vom »Staat4, der den nämlichen Menschenkreis unter einem formal anderen Aspekt erfaßt . . ." 81 Klaus Stern bemerkte: „Presse und Rundfunk sind Sprach81

Marcic, a.a.O., S. 257; siehe auch derselbe, Der Publizist in der Entscheidungssituation, in: Menschen im Entscheidungsprozeß, hgb. von A l fred Klose und Rudolf Weiler, Wien 1971, S. 349 ff.

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röhr für die Staatsorgane in doppelter Hinsicht: sie sprechen zu ihnen, und diese sprechen durch sie. In diesem Sinne ist die ,öffentliche Meinung' auch wenn sie mitunter nur veröffentlichte Meinung ist, ein maßgeblicher Faktor im Staatsleben geworden, dem sich auch Diktaturen nur schwer entziehen können. Sie hat die Funktion einer öffentlichen Kontrollinstanz erlangt." 82 Diese allgemeine Feststellung über die Kontrolltätigkeit der Massenmedien läßt sich heute konkret erleben in der Wirkweise der Massenmedien, welche das Parlament deutlich auf diesem Gebiet überflügelt hat. Parlamentarische Körperschaften beschäftigen sich nur allzuoft erst nach der Themenaufbereitung und Materialsammlung durch die Massenmedien mit zu untersuchenden Vorgängen und zu beurteilenden Personen. Nahezu ständig kommt es vor, daß parlamentarische Körperschaften erst nach aufdeckenden Berichten in den Massenmedien, die so eine Art Vorkontrolle ausüben, die ihnen in der Verfassung zustehenden Kontrollmöglichkeiten einsetzen. Auf diese Weise zeigt sich die öffentliche Meinung im Staat als neue Form wirksamer Machtverteilung neben der klassischen Gewaltenteilung der Staatsfunktionen.

Die öffentliche

Meinung im System der Gewaltenteilung

Die Lehre von der Gewaltenteilung 83 hat die drei Staatsfunktionen Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Verwaltung in einer Trennung und Kontrolle gesehen: einer balance of power. Diese ist heute im parlamentarischen Regierungssystem des Parteienstaates nur mehr von formell-organisatorischer Bedeutung. Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Verwaltung erfolgen durch verschiedene Behörden. Materiell liegt aber weitgehend eine politische Einheit vor, die über diese Behörden verfügt. Nachdem nämlich der Bestand der Regierung vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit abhängt, bildet diese die Regierung, und da die meisten der parlamentarischen Kontrollmittel Mehrheitsrechte sind, 82

Stern, a.a.O., S. 191. Beachte ζ. B. Max Imboden, Montesquieu und die Lehre der Gewaltentrennung, Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft e.V. Berlin, Heft 1, Berlin 1959. 83

11*

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werden diese von der Mehrheitspartei im Parlament gegen ihre Parteifreunde in der Regierung nicht immer angewendet. Ähnlich ist es in der Justiz, in der ein vom Vertrauen der parlamentarischen Mehrheit getragener Ressortchef weisungsberechtigt gegenüber den Staatsanwälten ist, ohne die bei Offizialdelikten keine Anklage erhoben werden kann und so kein Verfahren zustande kommt. Umgekehrt kann über Weisung eines Parteimannes als Justizminister auch ein Verfahren eingeleitet werden, das zu bestimmten Zeiten, etwa vor einer Wahl, stark meinungs- und stimmungsbildend wirken kann. Die öffentliche Meinung erweist sich neben der klassischen, aber heute nicht immer wirksamen Gewaltenteilung als besonders einflußreiche Machtverteilung; ja man spricht im Zusammenhang mit den Massenmedien von der öffentlichen Meinungsbildung als vierter Gewalt. Die heutige Machtverteilung verläuft zwischen parlamentarischer Willensbildung und außerparlamentarischer Meinungsbildung, weiters zwischen Beamten und Politikern urid in einem Bundesstaat zwischen Bund und Ländern. Diese Stellung der öffentlichen Meinung im Staat der Gegenwart hat Martin Löf fier schon 1962 nicht zu Unrecht als unsichtbares Parlament bezeichnet und darauf verwiesen, „daß die Amerikaner der öffentlichen Meinung bewußt den Rang eines »Oberparlaments 1 zugewiesen haben, dem sich alle anderen Gewalten im Staat fügen".® 4 Auf diese Weise wächst die öffentliche Meinung, im besonderen die Massenmedien in die Rolle des Kontrollorgans des gesamten öffentlichen Lebens, wobei sich gerade in einem demokratischen Verfassungsstaat die nicht unbegründete besorgte Frage stellt: Wer befähigt und kontrolliert diese Kontrollore? Die öffentliche Meinung in einem Staat ist ein Zeichen für Lebendigkeit in der Politik und dort, wo sie ohne Zwang zustandegekommen ist, ein Aufdruck der Freiheit.

84 Martin Löf fier, Die öffentliche Meinung — das unsichtbare Parlament, in: Die öffentliche Meinung, München u. Berlin 1962, S.21.

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Zum Unterschied von Gesetzen und anderen Rechtsakten des Staates, die mit einer klar erkennbaren Geltungsdauer ausgestattet sind, ist die öffentliche Meinung wechselnd und hat eine Dynamik, die nur schwer berechenbar ist, außer sie ist zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrer Feststellung mit Rechtsrelevanz in der Staatsrechtsordnung verbunden worden. Das ist der Fall bei Wahlen, bei Volksbefragungen und Volksabstimmungen. In Bürgerinitiativen und Volksbegehren 45 wieder zeigen sich mit empfehlendem Charakter deutlich gewordene Auffassungen, die in der Mehrzahl der Fälle gegen die öffentliche Hand gerichtet sind. Ähnliches kann im Kleinformat auch für die öffentliche Meinung gesagt werden, die sich in Leserbriefen von Zedtungen dokumentiert. Die freie westliche Demokratie lebt aus der Kraft der öffentlichen Meinungsbildung; so wie Rudolf Smend allgemein meinte, der Staat „lebt . . . in diesem Prozeß beständiger Erneuerung, dauernden Neuerlebtwerdens; er lebt, um Renans berühmte Charakterisierung der Nation auch hier anzuwenden, von einem Plebiszit, das sich jeden Tag wiederholt".* 6 Der Kampf um die Geltendmachung der öffentlichen Meinung ist ein Teil des Freiheitskampfes der Menschen und damit der Entwicklung der Grundrechte sowie der Demokratie. Leider muß heute festgestellt werden, daß die öffentliche Meinung, die früher zur Sicherung der Freiheit im Staat errungen wurde, heute bisweilen die Freiheit und persönliche Würde des Einzelnen für den Fall ihrer gesetzeswidrigen und ethisch abzulehnenden Manipulation gefährdet. Denkt man an die von Anarchisten und Terroristen oft ausgehenden Motivationen, so kann sich diese manipulierte öffentliche Meinung gegen die Freiheit und Ordnung im Staat selbst richten. Während der Staat in Erfüllung seiner Rechtsfunktion auf Grund der Gesetzeslage in vorhersehbaren und berechenbaren Rechtsakten auftritt, ist die öffentliche Meinung nicht in Enunziationsformen verdichtbar; ihre Bandbreite reicht von Leserzuschriften in Zeitun85

Siehe Herbert Schambeck, Das Volksbegehren, Recht und Staat, Heft 400/401, Tübingen 1971. 86 Rudolf Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl., Berlin 1968, S.136.

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gen, über Wandbeschriftungen, Demonstrationen bis zu den Einrichtungen der direkten Demokratie. Manchmal wird auch künstlich, bisweilen auch fiktiv oder utopisch, öffentliche Meinung durch Medien erzeugt. Für sie gilt der Satz von Ludwig Wittgenstein: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen."87 So befinden sich auch die öffentliche Meinung und ihre Medien zwischen Wahrheit und Lüge, menschlich begleitet von verschiedenen persönlichen Anliegen, beruflichen Interessen und politischen Vorstellungen. Wann und wie welche Informationen gebraucht oder eine Person photographiert wird, ist keine Rechtsfrage. Das Gebot der Bergpredigt: „Euere Rede sei ja, ja nein, nein. Alles weitere ist von Übel" (Matthäus 5, 37) gilt auch für die Medien und die öffentliche Meinung.

Ethik und öffentliche

Meinung

Die Bedeutung der öffentlichen Meinung im Staat sei daher auch aus ethischer Sicht bedacht. Man kann nämlich Themen und Personen in der öffentlichen Meinung totschweigen oder auch hoch- und herabspielen. Sachprobleme können verideologisiert und Personen diabolisiert werden. Urinstinkte der Menschen können für die politischen Auseinandersetzungen wachgerufen werden, man lese nur ζ. B. das schon 1966 in 1. Aufl. erschienene Werk von Helmut Schoeck „Der Neid — eine Theorie der Gesellschaft". Ein Phänomen besonderer Art ist es, wenn Personen in den Medien be- und verurteilt werden, bevor noch ein ordentliches Verfahren, sei es parlamentarisch oder gerichtlich, durchgeführt und abgeschlossen wurde. Hier tritt der Journalist als Richter auf, der Wertigkeiten setzt. Die sogenannte Medienjustiz hat schon Schicksale und Karrieren von Menschen ebenso bestimmt wie den Bestand von Regierungen. Durch Information können die Massenmedien politische Entscheidungen ermöglichen; sie können diese aber auch dadurch manipulieren, daß durch eine absichtliche Vorausinformation die Meinungs87 Ludwig Wittgenstein, Traktate, in: Ludwig Wittgenstein in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbeck 1979, S. 12.

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bildung in eine bestimmte Richtung geht oder auch, daß durch eine vorabgegebene Presseerklärung eines Politikers bestimmten zuständigen Organen nur mehr die n a c h t r ä g l i c h e Legitimation politischer Aussagen in den Medien übrigbleibt; was nicht als demokratische Willensbildung bezeichnet und bewertet werden kann. In den letzten Jahren ist noch ein neues Phänomen in der öffentlichen Meinungsbildung hinzugetreten, auf das bereits hingewiesen wurde: die Manipulation des Wortes zu Feindbegriffen, mit welchen man auf intellektuellem Weg Gefühlslagen zu politischen Wandlungen erzwingen wollte: aus Wissen wird Informationsvorsprung, aus dem Lehrer der Sozialagent, dem Juristen der Gesetzesknecht, Rechte werden zu Privilegien, Pflichten zu Lasten, Mord zur Hinrichtung. Diese verbalistisch manipulierte öffentliche Meinung nimmt kämpferische Züge an, oft gegen den Staat und seine Gesellschaft, bisweilen gegen den Einzelnen selbst gerichtet, man denke an all die Opfer des Terrorismus. Die Herrschaft der Medien hat durch die ihnen mögliche Beeinflussung der öffentlichen Meinung das Maß an Beachtung der Moral entscheidend bestimmt und die Relativität des ethischen Gehalts unserer Zeit mit verursacht; sie hat aber auch 'die Chance, diese Situation zu ändern, nämlich zu verbessern/wobei meist die Medien das ausdrücken, was sich in einer Zeit ereignet, von dieser Gesellschaft empfunden und gedacht sowie von ihren Politikern gewollt wird. Wie ein Volk die Politiker, nämlich das Parlament und die Regierung hat, die es verdient, so hat es die öffentliche Meinung, die Medien, die ihm entsprechen. In der Demokratie kann das Volk die Politiker und die Medien wählen, die seinen Vorstellungen angepaßt sind. Ethik und Staatsbürger Auf diese Weise führen Gedanken über die Beziehung von Ethik und Staat im Letzten zum einzelnen Menschen im Staat, der durch seine ethische Grundhaltung — sei es als Organ oder Bürger des Staates, sei es aber auch zwischen beiden stehend als Berufstätiger in den Massenmedien — an der öffentlichen Meinungsbildung mit-

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wirkt und so den ethischen Gehalt eines Staates und seines Volkes mitbestimmt. Karl Carstens hat schon betont, wie wichtig es ist, hervorzuheben, „daß dieses Gemeinwesen nur leben kann, wenn die Bürger bestimmte Grundwerte akzeptieren: Achtung vor der Würde des Menschen, Toleranz gegenüber Andersdenkenden, ja, ich würde sogar sagen, eine gewisse Portion Nächstenliebe gehört auch dazu, wenn so ein Staatswesen funktionieren soll . . . Wir sollten uns alle vielleicht darum bemühen, durch den Gebrauch von Worten und Begriffen diese unsere freiheitliche Ordnung auch nach außen attraktiver zu machen. Das Wort Staat ist ein schwieriges Wort, weil im Wort Staat etwas liegt, was dem Bürger, jedenfalls in der Vorstellung vieler Bürger, als etwas Trennendes gegenübertritt, während wir natürlich der Meinung sind, Bürger und Staat seien dasselbe. Ich frage mich, ob es in unserer Diskussion nicht gut wäre, öfter den Begriff des Gemeinwesens zu verwenden. Es ist das Gemeinwesen, in dem wir alle vereinigt sind, dessen Glieder wir alle sind und an das sich dann unmittelbar der Begriff des Gemeinwohls anknüpfen würde, an dem sich unser Handeln orientieren sollte".®8 Gerade ein umfassendes Bemühen um ethische Dimensionen im politischen Leben eines demokratischen Staates, der besonders in der Gegenwart immer mehr an Pluralität verschiedener Art zunimmt, könnte jene auch geistige Gemeinsamkeit entstehen lassen, welche mit zu den Voraussetzungen des Bestandes eines Staates zählen. Hiezu zählt die Gewissenhaftigkeit des Einzelmenschen und das Ordnungsstreben des Staates; soll nämlich die Gemeinsamkeit von Menschen in der Bestimmtheit von Raum und Zeit als Staat Bestand haben, dann kommt es darauf an, daß dieses Gemeinwesen in einer legitimierten Staatsgewalt Ordnung begründen und aufrecht erhalten kann, was um so schwerer wird, desto pluralistischer die Demokratie wird und desto stärker sich der Kritizismus unserer Zeit nicht allein gegen einzelne Tendenzen der Gesellschaft und Phänomene des öffentlichen Lebens, sondern gegen den Staat und seine Einrichtungen selbst richtet. 88 Karl Carstens, in: Die Zukunft unserer Demokratie, hgb. von Norbert Schreiber, München 1979, S. 84 f.

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Mündigkeit und Freiheit Die Mündigkeit des Bürgers und die Freiheit in Staat und Gesellschaft darf niemals an der die Stellung aller in einem Gemeinwesen bestimmenden Ordnung sowie der sie begründenden und schützenden Staatsgewalt vorbeisehen lassen. Dies verlangt die Einsicht in die Erkenntnis, daß die Freiheit des einen dort endet, wo die Freiheit des anderen beginnt®9 und daß die Autorität 90 und Achtung eines Staates auch davon mitbestimmt wird, ob und bejahendenfalls in welcher Weise der Staat auch willens und fähig ist, seine Ordnung zu verteidigen. Herbert Weichmann hat in bezug auf diese Erfordernisse der Bestandssicherung des heutigen Staates schon erklärt: „Der mündige Bürger ergibt in seiner Vielzahl eine vielmündige Gesellschaft, eine pluralistische Gesellschaft, wie man sagt, und das heißt, eine Gesellschaft mit Spruch und Widerspruch. Die Unvermeidbarkeit gegensätzlicher Auffassungen darf aber nicht als eine Art permanenten und latenten Bürgerkriegszustandes aufgefaßt werden. Sie ist im Gegenteil eine Quelle fruchtbarer Spannungen. Damit sie aber auch als solche sprudelt, bedarf es, sozusagen als Gegenpol des Konfliktes, eines consensus omnium, nämlich der Übereinstimmung darin, daß wir bei aller Wahrheit der freiheitlichen Lebensform doch auch um die Grenzen der Freiheit wissen. Freiheit als Grundwert einer demokratischen Gesellschaft ist nicht ohne Bindung denkbar. Freiheit des Individuums bedingt auch das Bewußtsein seiner Pflicht, an das Wohl seiner Gemeinschaft zu denken, um die Weisheit des Kompromisses zu wissen und die Entscheidung der Mehrheit zu respektieren oder zumindest zu akzeptieren. Freiheit und Bindung, das bedeutet aber auch, die Autorität des demokratischen Staates anzuerkennen und vielleicht sollten gewisse Vorkommnisse der jüngsten Zeit ertauben, darauf noch mal hinzuweisen. Freiheit und Bindung bedeutet, die Gesetze dieses Staates zu respektieren und seine Ordnungsgewalt anzuerkennen. Law and order, manchmal mit Anführungsstrichen von gewissen Elementen versehen, ist in 89 Beachte dazu Herbert Schambeck, Von der Freiheit, die wir meinen, in: Freiheit und Autorität als Grundlage der modernen Demokratie, Würz^· burger Studien zur Soziologie, Band 7, Würzburg 1982, S.251 ff. 90 SieheHorst Wetterling, sen Nr. 29, Osnabrück 1972.

Ist Autorität unmenschlich?, Texte und The-

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totalitären Staaten eine angemaßte und willkürliche Gewaltinanspruchnahme, aber im demokratischen Staat eben die Garantie für die Wirksamkeit demokratischen Rechtes, wenn der Staat eben die notwendige Autorität besitzt und sie auch auszuüben vermag. Recht und Ordnung sind anzuerkennen vom Bürger, sie sind aber auch wahrzunehmen von den staatlichen Behörden. Falsche Duldsamkeit schafft falsche Vorstellungen über die Grenzen des Erlaubten . . . Nur der Staat hat das Monopol der Gewalt und bei ihm muß es bleiben."91 Man darf nämlich wirklich nicht übersehen, daß zu den auch ethisch zu rechtfertigenden Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaates 92 das Grundrecht auf Sicherheit gehört. Wer immer im öffentlichen Leben Autorität übertragen bekommt, ist auch im Gewissen verpflichtet, diese Autorität zur Herstellung und Aufrechterhaltung der Ordnung im Staat einzusetzen, dabei gilt es auch, das Ansehen des Staates zu wahren; 93 der Weg hiezu beginnt mit einem Wollen des Einzelmenschen, die Bedingungen und Voraussetzungen der Existenz des Staates zu verstehen und nicht dieselben zur Diskussion und Disposition zu stellen. Wer die personale Würde des einzelnen Menschen anerkennt, muß auch den Umstand wahrnehmen, daß der Einzelne aufgrund seiner sozialen Natur die volle Entfaltung seiner Persönlichkeit in der Begegnung mit dem Du 9 4 und in der Gemeinschaft findet, deren umfassendste Organisationsform der Staat ist. In dieser Sicht ist zwar der Staat nicht die Bedingung für die Persönlichkeitsentfaltung des Einzelnen, wohl aber der Rahmen für das öffentliche und plurale Leben des Menschen, der sein Schicksal mitbestimmt. Der Ordnungsanspruch des Staates und die Gesinnung des Einzelnen stehen daher in einem wechselseitigen Zu91

Herbert Weichmann, Der Gesellschaft und dem Staat verpflichtet, Hamburg o. J., S. 178 f. 92 Dazu Josef Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit zu den Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaates, Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft e. V. Berlin, Heft 79, Berlin 1983. 93 Beachte Karl Josef Partsch, Von der Würde des Staates, Recht und Staat, Heft 343, Tübingen 1967. 94 Siehe dazu Martin Buber, Schriften über das dialogische Prinzip, Heidelberg 1954, sowie Romano Guardini, Vom Sinne der Gemeinschaft, Graz 1952.

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sammenhang, sie sollten in eine Rechtsgesinnung münden, in der sich Legalität und Humanität verbinden können. Dieses ideale Ziel ist zwar in der Wirklichkeit nicht immer leicht erreichbar, sollte aber doch stets beachtet und mit den realen Gegebenheiten der jeweiligen Zeit konfrontiert werden. Franz Bydlinski hat auf diese Aktualität hinzuweisen gewußt: „Alle Anstrengungen der Jurisprudenz und intellektuell ernst zu nehmender Rechtspolitik sind aber gänzlich müßig ohne die Bereitschaft der schlichten Rechtsgenossen, sich einigermaßen an das zu halten, was bei jenen Anstrengungen herauskommt. Wer sich aktiv an der Zersetzung der Rechtsgesinnung des schlichten Rechtsgenossen beteiligt, mag sich zugleich noch so sachkundig mit juristischen Problemen (einschließlich der rechtspolitischen) auseinandersetzen: Er trägt dazu bei, daß solche Auseinandersetzung immer mehr ihren Sinn verliert. Wer nicht müde wird, das geltende Rechtssystem oder das Recht überhaupt als irrelevant oder gar verachtenswert darzustellen urid sich so bemüht, allen, die auf ihn hören, die Rechtsgesinnung auszutreiben, muß selbstverständlich damit rechnen, daß die allenfalls später, wenn er die erstrebte politische Macht und damit die Gesetzgebungsgewalt errungen hat, von ihm produzierten Gesetze ebenso ignoriert werden oder der Verachtung anheimfallen. Nur in sehr beschränktem Maße, nämlich (äußerstenfalls) für die engsten Anhänger der gerade herrschenden Ideologie läßt sich dann die ausgetriebene Rechtsgesinnung substituieren durch massive Propaganda, die suggeriert, daß erst die nunmehrigen Gesetze ein „gutes", z.B. besonders progressives oder den erreichten Zustand besonders gut schützendes Recht sind. Das eigentliche Surrogat der Rechtsgesinnung muß — nach Verabschiedung des Rechtsstaates — dann wohl die Herrschaft der Geheimpolizei und besonders aktiver politischer Kader sein. Die neuere und neueste Geschichte liefert dafür bemerkenswerte Beispiele. Die radikalen Vertreter aller »allein wahren' Ideologien wird eine solche Vorstellung freilich wohl nur angenehm berühren, wenn sie mit ihrer eigenen Herrschaft rechnen. Wer aber als Politiker, Meinungsmacher oder sonstiger Intellektueller heute gegen das Recht und jene, die ihm dienen, hetzt, und sei es auch nur aus Unkenntnis, aus irgendwelchen pragmatischen Gründen oder weil es so schick ist, darf seine Hände nicht in Unschuld

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waschen, soweit es um die angedeuteten, gut voraussehbaren Folgen geht. Eine zureichend breite und intensive Rechtsgesinnung erscheint jedenfalls als Voraussetzung jeder sinnvollen intellektuellen Arbeit an Rechtsfragen. Wo jedem nicht mehr das (gemeinsame) Recht, sondern allein Meinung und Interesse seiner speziellen Gruppe oder seiner eigenen Person Verhaltensmaxime ist, interessiert niemanden mehr die rationale Lösung von Rechtsfragen. Allerdings gibt es auch gar keine Rechtsgemeinschaft mehr, sondern Gewalt, Chaos und höchstens die ungezügelte Herrschaft des kurzfristig jeweils Stärkeren." 95 Der Staat als Ordnungsgemeinschaft und die praktizierte Rechtserziehung Die Rechtsgesinnung, welche den Ordnungsaufgaben des Staates ethische Maßstäbe anlegt und den Einzelnen auch im Gewissen anspricht, vermag den Staat nicht allein als Herrschaftsanspruch, sondern als Ordnungsgemeinschaft erkennen und erleben zu lassen. Hiezu bedarf es aber nicht allein einer normierten Rechtsordnung, sondern auch einer praktizierten Rechtserziehung. Selbst Hans Kelsen, der in seiner Reinen Rechtslehre das positive Recht von allen nicht normativen Maßstäben und Beeinflussungen freihalten wollte, hat das Erfordernis einer derartigen Erziehung zum Staat erkannt und schon 1913 in seiner Abhandlung über „Politische Weltanschauung und Erziehung" erklärt: „Wenn sich die staatliche Einheit für eine soziale Wirklichkeitöbetrachtung nicht erkennen läßt, wenn der Staat nicht auch im sozialen Sinne eine Einheit der ihm rechtlich zugehörigen Menschen ist, wenn die juristische Konstruktion der einheitlichen Staatsperson sich als politische Fiktion erweist, weil die wirtschaftlichen Klassengegensätze, weil nationale oder religiöse Differenzen das nur juristische Ganze des Staatsvolkes in zahlreiche feindliche Gruppen zerreißen, die kein anderes gemeinsames Band umschlingt, als die Soll-Geltung einer Rechtsordnung, die selbst wieder nur das Diktat einer einzelnen Gruppe der Klasse ist? — d a n n erhebt sich die Frage, ob solcher Staat das höhere sittliche Recht, ja ob er überhaupt 95

Bydlinski, a.a.O., S. 6 f.

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die psychologische Möglichkeit hat, all die von ihm Beherrschten nicht bloß ihn denken, ihn auch lieben und wollen zu lassen."96 Diese Betrachtung des Staates läßt zwar seine Bedeutung als Rechtssystem nicht bezweifeln, aber gleichzeitig als Erziehungsauftrag erkennen 97 und 'den ethischen Bezug der Staatlichkeit erfassen. Richard von Weizsäcker hat diesen Auftrag zu einer Ethik im Staat ausgedrückt: „Politisches Bewußtsein, Erkenntnis, Organisation und Vertretung von Interessen — das alles ist stark angewachsen. Insoweit sind wir dem notwendigen demokratischen Ziel der Partizipation näher als früher. Aber das ist nur die eine Hälfte dessen, was lebendige und freiheitliche Demokratie ausmacht. Die andere Hälfte heißt: Neben dem Mitbestimmen auch die Mitverantwortung; neben dem Kampf um die eigenen Rechte auch die Bereitschaft zu Ausgleich und Kompromiß; neben dem Kampf um die Macht auch die Annahme der Mehrheitsentscheidung; neben dem Pochen auf das Mehrheitsrecht auch die Toleranz für Minderheiten und Randgruppen. Der Rechtsstaat darf nicht über den Weg des Rechtswegestaates in die Rechthabereigesellschaft ausarten. Wer Frieden nach außen fordert, der muß auch in der Lage und bereit sein, Frieden nach innen zu geben. Zum Schutz der persönlichen freiheitlichen Ziele gehört der Schutz der Freiheit des Mitbürgers. Zur Hilfe, die man selbst im Notfall braucht, gehört die Hilfe, die man dem in Not befindlichen Nachbarn auch selber gewährt. Es ist gut, Rechte zum Mitreden zu haben und dort, wo man unterliegt, die Gerichte anrufen zu können bis zur höchsten Instanz. Aber am Ende braucht die Demokratie Entscheidungsfähigkeit. Demokratie kann nicht darin bestehen, jeder Minderheit ein Vetorecht gegen jede Entscheidung zu geben. Mit einem Wort: Das wichtigste soziale Ziel der Erziehung, und zwar im persönlichen wie im politischen Bereich, ist es, nicht Gegner96 Hans Kelsen, Politische Weltanschauung und Erziehung, in: Annalen für soziale Politik und Gesetzgebung, 2. Band, 1913, S. 15. 97 Beachte dazu auch Herbert Schambeck, Politische Bildung in der Schule, in: Christlicher Lehrer in moderner Zeit, Wien 1970, S. 91 ff. und derselbe, Politische Ordnung und staatsbürgerliche Erziehung, in: Politische Bildung, Beiträge zur Lehrerfortbildung, Band 1, Wien 1971, S. 32 ff.

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schaft zu lernen, sondern miteinander auszukommen, zusammen zu leben."98 Die Ethik im Staat als Individual - und Sozialaufgabe Der Staat von heute hat zwar die beachtenswerte Leistung eines umfassenden Rechtssystems zustande gebracht, das aber leider auch dort, wo es nicht auf autoritärem Weg, sondern demokratisch begründet wurde, mit der Normierung nicht immer auch die entsprechende Motivierung schaffen konnte. Der Einzelne weiß im Staat nicht immer, was er soll, und wo er es weiß, weiß er nicht immer warum, denn, wie bereits erklärt, hat die Gesetzesbindung des heutigen Staates zwar zur Gesetzesflut, aber nicht zur Rechtssicherheit geführt, weil oft die Rechtskenntnis und die Rechtsüberzeugung fehlen. Oft verwendet der Gesetzgeber auch eine Sprache, die der Normadressat im Wortlaut oder im Sinngehalt nicht versteht. Je vielfältiger im Staat der Gegenwart die persönlichen Wünsche und Anliegen der einzelnen Menschen, die Interessen der Gesellschaft sowie die Zwecke und Aufgaben des Staates werden, desto mehr verlangt diese Vielfältigkeit eine umfassende ethische Grundlage. Ohne diese Ethik verliert der Staat von heute jene Motivationskraft, welche die Freiheit und Würde des Menschen ebenso schützt wie den Bestand des Staates ermöglicht. Zu dieser Grundlegung des Staates und Sicherung des Einzelmenschen vermag eine Rückbesinnung auf die politischen Tugenden und ihre Geschichte viel zu leisten. Schon am 13. Juli 1960 hat Carl Jakob Burckhardt in seinem Festvortrag vor der Bayerischen Akademie erklärt: „Das Inventar der Wörter begrifflichen Inhalts, die einst entstanden sind, um das menschliche Zusammenleben zu behüten und zu regeln, ist innerhalb des europäischen Kulturkreises und seiner außereuropäischen Einflußzone vom 4. Jahrhundert vor Christus bis ins 20. Jahrhundert im wesentlichen dasselbe geblieben. Heute wie in der Antike sprechen wir von Recht, von Gesetz, von Richard von Weizsäcker, Wird unsere Parteiendemokratie überleben?, in: derselbe, Die deutsche Geschichte geht weiter, Berlin 1983, S. 169; dazu auch Hans Stercken, Zurück zum Leben, Pfullingen 1980, bes. S. 24 ff., 38 ff. und 53 ff.

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Friede, Freiheit, Gleichheit und so fort." 99 Burckhardt kann auch aus der heutigen Sicht nur zugestimmt werden: „Alle diese Begriffe schritten einst, geführt von der Sophrosyne, der verständigen Besonnenheit, durch die Wirrnis des menschlichen Tages, von mächtigem Leben erfüllt, als stets sichtbare Personifikationen in ihrer klaren, klugen, einsichtigen, erfahrenen Gefühlskraft. Viel mehr als Worte und Begriffe waren sie, ja mehr als beseelte, geistesmächtige Gestalten . . ."10° Die Geschichte des abendländischen Rechtsdenkens im allgemeinen und der politischen Tugenden im besonderen vermögen in dieser Sicht Wertvolles zum ethischen Bezug des Staates beizutragen. Sie veranlassen uns, das Gesetz an der Idee des Rechtes zu messen und die Gerechtigkeit an der Freiheit und Würde der Menschen auszurichten. Da aber nicht alle Menschen den gleichen Gerechtigkeitssinn und die gleichen ethischen Einstellungen zur Ordnung überhaupt und der des Staates im besonderen haben, bedürfen die Menschen der entsprechenden Autorität und somit jener Bia, welche die Staatsgewalt vollziehbar macht, die aber zum begründeten und dauernden Bestand der Rechtsgeltung sowohl normieren als auch motivieren sollte. Wer wollte nämlich leugnen, daß das Anliegen Solons im 6. Jahrhundert vor Christi, mit Dike und Bia die Ordnung seiner Vaterstadt zu erneuern, nicht auch heute im 20. Jahrhundert nach Christi als Notwendigkeit für uns gilt. Das verlangt, die Erfordernisse des Staates zu begründen und glaubwürdig zu vertreten. Rudolf KirchSchläger hat es schon hervorgehoben: „Es muß ein wenig von jener Toleranz in die tägliche Arbeit miteinbezogen werden, die für die Demokratie als Lebensform wesensmäßig ist. Wenn dazu noch etwas von der Überzeugung kommt, daß der Staat wir alle sind, die das Bürgerrecht dieses Staates besitzen, und daß alle, die diesen Staat verwalten, in seinem Dienst stehen, der Staat aber nicht ihnen gehört und sie ihn auch nicht beherrschen können, dann muß doch ein demokratischer Verkehr zwischen jenen, die den Staat vertreten 99 100

Carl J. Burckhardt , Gestalten und Mächte, Zürich 1961, S.415. Burckhardt , a.a.O., S. 417.

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oder in einem seiner Ämter arbeiten und den einzelnen Menschen nicht mehr so schwer werden." 101 Würden diese Erfordernisse gegenseitiger Achtung und Verstehens Platz greifen, dann würden Grundrechte und Grundpflichten 102 sich die Waage halten, 'dann dürfte niemand vom Staat mehr verlangen als er selbst zu leisten imstande ist, dann dürfte jeder nur das vom anderen erwarten, was er selbst zu tun bereit ist. Der Friede in der Welt beginnt nämlich im Frieden zwischen dem Ich und dem Du, setzt sich in dem Frieden zwischen der Gesellschaft und dem Staat sowie zwischen dem Staat und der Völkergemeinschaft fort. Der Friede ist nämlich auch im internationalen Leben nicht das Gleichgewicht des Schreckens, sondern um mit Papst Pius XII m gemäß seinem Wahlspruch „Opus iustitiae pax" zu sprechen, das Werk der Gerechtigkeit, zu dem jeder Mensch im Rahmen des ihm Möglichen beitragen kann. Auf diese Weise führen Gedanken über Ethik und Staat zum Ersten und Letzten jeder Gemeinschaft, letztlich des Menschseins überhaupt. Es verlangt, Grundsätze im Denken und Toleranz im Handeln zu üben. Grundsätze im Denken, das bedeutet nicht Rechthaberei, sondern jene Festigkeit in der Überzeugung, welche die Auseinandersetzung und das Gespräch glaubwürdig führen läßt, so wie sichere Brücken nur über feste Ufer möglich sind. Toleranz im Handeln wieder verlangt nicht Gleichgültigkeit, sondern die Gegenseitigkeit im Verstehen, die das Entgegenkommen und Dulden in seinen Möglichkeiten und Grenzen erfahren läßt. Was diesbezüglich zwischen einzelnen Menschen möglich ist, müßte auch zwischen den Menschen und dem Staat erstrebenswert und erreichbar sein. Was daher der Schweizer Schriftsteller Alfred A. Häsler in der Einleitung zu einem Buch über „Politik aus Verantwortung" tref101

Rudolf Kirchschläger, Der Friede beginnt im eigenen Haus, Gedanken über Österreich, Wien 1980, S. 88. 102 Hiezu näher Herbert Schambeck, Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, in: Ordnung im sozialen Wandel, S. 493 ff. sowie derselbe, Festrede in: Festsitzung des Nationalsrates u. des Bundesrates der Republik Österreich am 27.4.1985 aus Anlaß des 40. Jahrestages der Gründung der Zweiten Republik, S. 6 ff., bes. S. 11 ff. 103 Beachte Pius X I I . , Friede durch Gerechtigkeit, hgb. von Herbert Schambeck, Kevelaer 1986.

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fend festgestellt hat, sei abschließend hervorgehoben: „Das Vollkommene ist nicht unsere Sache, wer das erzwingen will, wird am Ende unmenschlich. Aber: Es ist doch einiges mehr an Ethischem realisierbar, als wir so gemeinhin anzunehmen bereit sind. Man kann erfolgreich sein und gleichzeitig anständig bleiben. Man kann dem Materiellen seinen notwendigen Wert lassen und doch einem Höheren verantwortlich sein. Man kann Macht erhalten und ausüben und doch ihren Versuchungen nicht erliegen . . . Man kann alles, ohne sich als Ausbund an Tugend und Tüchtigkeit zu fühlen oder zu präsentieren. Integrierte Ethik meint: Um die Grenzen menschlichen Tuns wissen und doch immer versuchen, diese Grenzen auszuweiten. Das ist Politik nach menschlichem Maß." 104 Diese Möglichkeit der Politik nach menschlichem Maß als einen ständigen Auftrag gilt es auch in der heutigen Zeit zu verdeutlichen.

104 Friedrich Traugott Wahlen, Politik aus Verantwortung, Reden und Aufsätze, herausgegeben und eingeleitet von Alfred A. Häsler, Basel 1974, S. 10.

12 Schambeck

Schlußbetrachtung Spricht man im Zusammenhang von Ethik und Staat von einer Politik nach menschlichem Maß, setzt dies ein entsprechendes Verständnis der Natur des Menschen voraus. Der Mensch wird positiv, nämlich in der Möglichkeit gesehen, die volle Entfaltung seiner Persönlichkeit in der Gemeinschaft zu finden, die im Staat eine besonders umfassende Organisationsform gefunden hat. Dabei vermag die Tugend dem Menschen sowohl im privaten wie im öffentlichen Leben auf dem Weg zu seiner Persönlichkeitsentfaltung und darüber hinaus zur Erfüllung seiner Aufgaben in der Politik eine Wegweisung zu sein. Josef Pieper erklärte: „Tugend bedeutet: daß der Mensch richtig ,ist' . . . Tugend also ist, ganz allgemein, seinsmäßige Erhöhung der menschlichen Person . . . Der tugendhafte Mensch ,ist' so, daß er, aus innerster Wesensneigung durch sein Tun das Gute verwirklicht," 1 und meinte mit Recht, daß der Begriff „Tugend", der weithin unkenntlich geworden und für das Gemeinbewußtsein zurückgewonnen werden kann, „für eine ethische Lebenslehre geradezu unentbehrlich zu sein" scheint2. Die Voraussetzung für diese Ethik in der Lebensführung, die nicht nur eine Bedeutung für den Einzelnen selbst, sondern auch für die von ihm mitgetragene Gemeinschaft hat, was der demokratische Staat besonders verdeutlicht 3 , ist das Ja des Menschen zu seiner moralischen Verantwortung und damit zur Tugend 4; dies kann ihm nicht abgenommen werden, sondern ver1 Josef Pieper, Über das christliche Menschenbild, 7. Aufl., München 1964, S. 19 f. 2 Josef Pieper, Tradition als Herausforderung, München 1963, S. 151. 3 Näher Herbert Schambeck, Der Staat und die Demokratie, in: Geschichte und Gesellschaft, Festschrift für Karl R. Stadler zum 60. Geburtstag, hgb. von Gerhard Botz, Hans Hautmann und Helmut Konrad, Wien 1974, S. 419 ff. und Derselbe, Verantwortung in der modernen Demokratie, in: Verantwortung in Staat und Gesellschaft, hgb. von Alois Mock und Herbert Schambeck, Wien 1977, S. 37 ff. 4

Beachte Pieper, a.a.O., S. 156 f.: „Im Begriff der Tugend als des Nachzugs der von Natur, das heißt, von Schöpfung wegen bereits in Gang be-

Schlußbetrachtung

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langt eine persönliche Entscheidung. Auf diese Weise liegt es mit am Einzelnen, das menschliche Maß auch in der Politik zu bestimmen. Je nach dem, wie viel Freiheit das politische System eines Staates kennt, wird der Einzelne über seine Privatsphäre hinaus mehr oder weniger den ethischen Gehalt des öffentlichen Lebens mitbestimmen; in vorhandener Freiheit der Demokratie und genützter Mitbestimmung durch den Einzelnen wegweisend, für den Fall der Unterdrückung des Menschen in autoritären und totalitären Regimen als Möglichkeit der Konfrontation der Ethik mit einer Rechtsordnung, die weniger als Pflicht anerkannt, sondern als bloßer Zwang erduldet wird. Ethik und öffentliche

Ordnung

Das positive Recht hat einen die gesamte staatliche Gemeinschaft umfassenden Geltungsanspruch, den der Einzelne mitzuvollziehen hat; die Ethik hingegen findet ihren Ausgang im Gewissensanspruch des Menschen, dessen Möglichkeiten an Persönlichkeitsentfaltung von der Ordnung des Staates mitbestimmt werden. Je mehr Sachgebiete des staatlichen Lebens für den Menschen ausschlaggebend sind, desto mehr nehmen die Bezüge der Ethik zum Staat und seiner Rechtsordnung — anerkannt vom Staat und vom Einzelnen oder nicht — zu. In dieser Sicht hat ζ. B. Johannes Messner sein umfassendes Werk „Das Naturrecht" als Handbuch der Gesellschafts-, Staats- und Wirtschaftsethik geschrieben und bezeichnet.5 Voraussetzung für die Anfindlichen Werdebewegung des Menschen ist also mitausgesagt, daß das Sittliche insgesamt den Charakter des Sekundären und Nachgeordneten hat. Es liegt ihm als die Norm des Sollens das schöpfungshafte Sein [des Menschen und seiner Welt] voraus Längst bevor von einer bewußten Willensentscheidung die Rede sein kann, ist der Wollende schon unterwegs zu dem ihm von Natur zugeordneten Gut; längst bevor der Mensch ein überlegtes ,Ja' (oder ,Nein') vollziehen kann, ist bereits in ihm selbst Bejahung im Gang. Und seine Entscheidung ist gut, sofern sie dieser schon gesetzten Bejahung ,folgt'. Der Tugendbegriff besagt, daß allem, was wir tun können, etwas vorausliegt, das wir nicht tun, das uns vielmehr als ein Empfangenes widerfährt." « Johannes Messner, Das Naturrecht, Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik, 5. Aufl., Innsbruck-Wien-München 1966, Neudruck Berlin 1984; beachte dazu, Das Neue Naturrecht, Gedächtnisschrift für Johannes Messner, hgb. von Alfred Klose, Herbert Schambeck und Rudolf Weiler, Berlin 1985. 12*

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Schlußbetrachtung

erkennung ethischer Postulate durch den Staat in seiner Rechtsordnung ist aber ihre Erkennbarkeit. So stellte Messner in bezug auf die sittlichen Rechtsprinzipien bereits fest: „Entscheidend ist, daß diese Prinzipien eindeutig sind, um den Gesetzgeber zu befähigen, die von der sittlichen Verantwortung des Menschen für die Erfüllung seiner wesenhaften Lebenszwecke geforderte Rechtsordnung ins Werk zu setzen."6 Diese Erkennbarkeit ethischer Postulate und die Aufgeschlossenheit zu ihrer Anerkennung in der Rechtsordnung durch den Gesetzgeber sind Voraussetzung für den ethischen Gehalt eines Staates. Der Einzelne mit seinem Gewissen ist für diese Möglichkeit der Entwicklung von Ethik und Staat bestimmend, denn zur allgemeinen Durchsetzbarkeit eines sittlichen Gebotes im Staat bedarf es seiner Positivierung, durch welche auf dem Weg der Rechtssetzung das Gebot der Ethik zu einem solchen des positiven Rechts wird. 7 Daneben darf aber nicht übersehen werden, daß es auch Rechtsbereiche gibt, die, wie schon Peter Badura einmal bemerkte, „ethisch neutral" sind, weil sie nämlich „ausschließlich an dem Wert »Zweckmäßigkeit4 orientiert sind";8 hiezu sind etwa die Wahl einer Landeshauptstadt oder die Rechts- oder Linksfahrordnung im Straßenverkehr zu zählen. Sicher hat gerade in den letzten Jahrzehnten mit der Zunahme der Technisierung die Sachbezogenheit auch der β Johannes Messner, Ethik, InnsbrudoWien-München 1955, S. 270; er verlangt a.a.O.: „Daß diese Prinzipien eindeutig genug sind, ist aus der unbeirrbaren Gleichförmigkeit zu ersehen, mit der die elementaren Rechtsprinzipien in allen Gesetzbüchern der Welt wiederkehren, wie das Recht des Menschen auf sein Leben, seinen Ruf, sein Eigentum, das Recht auf die Erfüllung von abgeschlossenen Verträgen, die Rechte der Kinder und Eltern auf die gegenseitige Unterstützung, das Recht der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder, in den Gesellschaften mit fortgeschrittenem sittlichem Rechtsbewußtsein das Recht auf freie Meinungsäußerung, das Vereinigungsrecht, das Recht der Gewissensfreiheit, der freien Religionsausübung. Gewiß sind diese Rechte nicht immer klar erkannt worden, haben in manchen Rechtssystemen der Vergangenheit gefehlt oder sind neuerdings wieder der Verdunklung anheimgefallen. Das sittliche Rechtsgewissen drängt indessen ständig immer wieder zu neuer und vollerer Sicherung dieser sittlichen Grundrechte durch die staatliche Rechtsordnung." 7 Siehe dazu Rafael de la Vega , Grundpositionen der Ethik, Ethik und Politik in der Geschichte, in: Politische Ethik, hgb. von Franz Neumann, Baden-Baden 1985, S. 39. β Peter Badura, Die Methoden der neuen allgemeinen Staatslehre, Erlangen 1959, S. 46.

Schlußbetrachtg Rechtsordnung zugenommen, man denke etwa nur an die verschiedenen Bereiche des Umweltschutzes.9 Es kommt aber immer darauf an, auch alle wissenschaftlichen Möglichkeiten und rechtlichen Erlaubtheiten im Rahmen des moralisch Gebotenen und Zulässigen zu nutzen. Hier öffnet sich die Weite an Interessens- und Gewissenskollisionen, die im Hinblick auf die jeweiligen Erfordernisse des Gemeinwohls, also unter Bedachtnahme auf die Notwendigkeit der Allgemeinheit ausgeglichen werden sollten. Diese im heutigen technisierten Industriezeitalter mit seiner pluralistischen Gesellschaft oft auftretenden Konflikte werden dann um so leichter vermieden werden können, wenn in einer freiheitlichen Staatsordnung ein möglichst umfassender Grundbestand gemeinsam anerkannter Wertiiberzeugungen und Lebenshaltungen besteht, beachtet und befolgt wird. Je stärker dann die Gemeinsamkeit auch an ethischen Grundhaltungen ist, desto leichter kann ein Grundkonsens zustande kommen, der gerade im Staat mit Mehrzweckeverwendung sowie pluralen politischen Überzeugungen wegweisend und existenzsichernd sein kann. Dies beginnt im Miteinander der Menschen mit Rücksichtnahme des einen auf den anderen, ζ. B. bezüglich der Lärmerregung, der Luftverschmutzung und sonstiger Verunreinigung. Die Erkenntnis, daß die Freiheit des einen dort endet, wo die des anderen beginnt, könnte hier schon im privaten Bereich Platz greifen und sich in der Öffentlichkeit der Politik fortsetzen. Hiezu kann auch die Einsicht treten, von den Mitmenschen, der Gesellschaft und dem Staat nicht mehr zu verlangen, als man selbst zu erbringen imstande ist. Da sich das Leben des Einzelmenschen heute im wachsenden Maße in und vor der Öffentlichkeit abspielt, wäre es wichtig zu beachten, daß es bei allen Äußerungen nicht allein darauf ankommt, wie es der Einzelne meint, sondern vielmehr wie es die anderen aufnehmen. Außerdem sollte auch die heftigste sachliche Auseinandersetzung in der Politik nicht zur persönlichen Herabsetzung mißbraucht werden. Selbst wenn die politische Konfrontation — gleichgültig auf welchem Gebiet und welcher Ebene — noch so groß ist, stets sollten sich die Beteiligten nicht als Feinde ansehen, sondern nur insofern als Gegner behandeln, als sie Mitbürger sind, welche eine unterschiedliche Mei• Siehe bereits Herbert Schambeck, Umweltschutz und Rechtsordnung, österreichische Juristenzeitung 1972, S. 617 ff.

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Schlußbetrachtung

nung im gemeinsamen Vaterland vertreten. Obgleich die Politik das öffentliche Leben seit altersher bestimmt und mit der Demokratisierung des staatlichen Lebens zugenommen hat, ist eine entsprechende Kultivierung der Politik nicht immer im erforderlichen Maße feststellbar. Dabei könnte gerade ein gewisses Maß an politischer Kultur 10, die auf bestimmten Werthaltungen und politischen Grundüberzeugungen der Gesellschaft basiert 11, entscheidend zur Vermeidung bzw. Beendigung von Konflikten beitragen und mit sich ergebenden Belastungen der Allgemeinheit leichter fertig werden.

Notwendigkeit

der politischen Kultur

Von der Erkenntnis und Entsprechung des Erfordernisses dieser politischen Kultur wird wesentlich die Entwicklung des öffentlichen Lebens der Zukunft und der Demokratie abhängen. Was Ernst-Wolfgang Böckenförde diesbezüglich über die Verwirklichungprobleme der repräsentativen Demokratie schrieb, gilt es auch in diesem Zusammenhang zu beachten: „Sie liegen nicht im Bereich tatsächlicher, sozial-struktureller, sondern im Bereich ethischer Gegebenheiten und Möglichkeiten. Daß solche ethischen Gegebenheiten und Möglichkeiten ebenfalls zu den Verwirklichungsbedingungen einer Staatsform gehören, vermag zunächst befremdlich erscheinen. Aber es kehrt darin nur die alte Erfahrung wieder, die freilich in der Staatsund Staatsformenlehre seit dem 19. Jahrhundert weitgehend vergessen war 1 2 , daß eine tragfähige Ordnung des Zusammenlebens der Menschen nicht allein durch Fragen der Organisation, Beteiligung, Legitimation und Kontrolle, durch rational-technische Vorkehrungen also, geschaffen und eingerichtet werden kann, sondern darüber hinaus ebenso der ethisch-normativen Orientierungen, Verformungen und Realisationen bedarf. Was im Leben des einzelnen von großer Bedeutung ist, ja vielfach über das Gelingen oder Scheitern 10 Siehe auch Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 2. Aufl., München 1984, S. 595 f. u Eckhard Jesse, Die Demokratie der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1978, S. 106. 12 Typisch dafür etwa die Darstellung der Staatsformen bei Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 1914, Neudruck Bad Homburg u. a. 1966, S. 669 - 736.

Schlußbetrachtung des Lebens entscheidet, kann im politischen Zusammenleben der Menschen nicht auf einmal irrelevant und zu vernachlässigen sein." 13 Auf diesem für erforderlich erachteten Weg zur politischen Kultur, die als breites Fundament gerade die Voraussetzung für die Demokratie ist 14 , wird die Beachtung der Tugend im öffentlichen Leben zur Wahrung der Ethik im Staat von Bedeutung sein. Dieser ethische Bezug im Staat wird in gleicher Weise die Wechselbeziehung von Einzelmenschen und Staat zu betreffen haben; beide haben Ordnungsbezüge gegeneinander, die neben der positivrechtlichen Pflicht auch ethische Ansprüche beinhalten. Wie es etwa gilt, die Freiheit und Würde des Menschen vom Staat her anzuerkennen, hat auch der Einzelne die Ordnungsfunktion des Staates, in deren Dienst die Macht des Staates steht, anzuerkennen. So hob schon Johannes Messner hervor: „Wie der Staat ohne Minimum von gesellschaftlicher Sittlichkeit, so kann er nicht bestehen ohne Minimum an Macht." 15 Das Problem liegt vielmehr in einer Versittlichung der Macht 16 und damit auch des staatlichen Rechts; denn man darf nicht übersehen, welche Bedeutung dem konkreten staatlichen Rechtssystem zukommt: es ist „der Grundwert des Gemeinwohls. Von ihm hängen Friede und Ordnung der Gesellschaft und damit überhaupt die Existenz der Gesellschaft und des Menschen als Kulturwesen ab." 17 Der Weg zu dieser Versittlichung der Macht und des Rechts setzt ein sittliches 18 Rechtsgewissen voraus, dessen sich in einem Staat Normsetzer und Normadressat, Subjekt oder Objekt des politischen Wollens in gleicher Weise befleißigen sollten. In seinen Ausführungen über „Die Friedenspflicht der Bürger und das Gewaltmonopol des Staates" hat bereits Josef Isensee dementsprechend festgestellt: „Vor allem be« Ernst Wolfgang Böckenförde, Mittelbare/repräsentative Demokratie als eigentliche Form der Demokratie, Bemerkungen zu Begriffs- und Verwirklichungsproblemen der Demokratie als Staats- und Regierungsform, in: Staatsorganisation und Staatsfunktion i m Wandel, Festschrift für Kurt Eichenberger zum 60. Geburtstag, hgb. von Georg Müller u.a., BaselFrankfurt am Main 1982, S. 326. 14

Siehe Böckenförde, a.a.O. S. 327. ι« Johannes Messner, Das Gemeinwohl, 2. Aufl., Osnabrück 1968, S. 165. ie Messner, a.a.O. S. 166. 17 Messner, a.a.O. S. 151. 18

Dazu siehe auch Messner, a.a.O. S. 166.

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Schlußbetrachtung

dürfen die diskreditierten staatsbürgerlichen Tugenden heute der demokratischen Rehabilitation. Dazu gehört gerade der Gehorsam, und zwar nicht der Kadavergehorsam, aber der freie denkende Gehorsam, den der Bürger jedem gültigen Gesetz, auch dem törichten, unbequemen, kritikwürdigen Gesetz schuldet. Demokratische Loyalität fordert die Selbstbeherrschung, gegen politische Torheit und gegen gesetzliche Ungerechtigkeit nur in den Formen des Rechtes zu kämpfen. Die staatsbürgerliche Aktivität braucht Augenmaß, Geduld und Einsicht in die eigene Unzulänglichkeit, wie die der Mitmenschen in ihrem privaten und in ihrem amtlichen Wirken. Das freie Gemeinwesen bedarf der Besonnenheit, der Toleranz und — als wirksamste Abwehr fanatisierter, gewaltgeneigter politischer Heilsgewißheit — des Humors." 19 Jeder Staat sollte aber in seinem Vertrauen auf die politischen Tugenden, auch der des Gesetzesgehorsams, nie das Maß des dem Einzelnen Zumutbaren aus dem Auge verlieren, um nicht im Extremfall der Grenzsituation Widerstand hervorzurufen. Tugenden im Staat Diese Tugenden im Staat sollten im politischen Leben beginnen, Platz zu greifen und sich im Rechtsleben fortsetzen, um in der Beziehung von Ethik und Staat letztlich zu einer Rechtskultur zu führen. Unter gleichzeitigem Bezug auf Aktualitäten des öffentlichen Lebens und Stellen in der Literatur hat mein einstiger Gymnasialprofessor, der mir später auch Vorbild in der Politik wurde, Viktor Wallner f „Poetische Merkregeln für eine kluge Politik" formuliert 20 : 1. „Das Wesentliche macht sich im Kleinen einprägsamer bemerkbar als im Großen Beschäftige Dich daher mit dem »Kleinen4, das sichert Dir und anderen die »Bürgernähe 4 des »kleinen Mannes4, für den Du da bist; 2. Vernunft

ist die Grundfeste

des fmündigen Bürgers

i* Josef Isensee, Die Friedenspflicht der Bürger und das Gewaltmonopol des Staates» zur Legitimationskrise des modernen Staates» in: Staatsorganisation und Staatsfunktion i m Wandel» S. 40. 20 Viktor Wallner, Poetische Merkregeln für eine kluge Politik, in: Pro Fide et Iustitia, Festschrift für Agostino Kardinal Casaroli, hgb. von Herbert Schambeck, Berlin 1984, S. 721 ff.

Schlußbetrachtg 3. Viele verlangen heute Utopien in der Politik. Bewahre Dir dennoch einen guten Bezug zur Wirklichkeit, sie verlangt von der Politik ihre Gestaltung; 4. „Aller Rede aber sei: ja, ja; nein, nein; was darüber ist, das ist vom Übel (Matthäus 5,37). Wahrheit und Klarheit allein machen — besonders in der Politik — glaubwürdig. Wittgenstein meint: »Worüber man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen4 und ,was gesagt werden kann, kann klarer gesagt werden 4 ; 21 5. In der Politik werden häufig alte Hüte als neue verkauft. Laß Dich vom Neuen nicht blenden, sondern untersuche jede Neuheit, ob sie nicht längst unter einem anderen Namen Wirklichkeit ist 6. Echter Fortschritt entsteht aus einem Kräfteparallelogramm von Fortschreiten und Beharren. Habe daher Achtung vor dem Bestehenden, überprüfe aber ruhig jede Tradition auf ihre Zeitgemäßheit, vor allem aber setze nie etwas Neues an die Stelle von Altem, ohne dessen Aktualität zu überprüfen 7. Ein schlechter Mann, der sich überschätzt, ein schlechterer, der sich unterschätzt! Sieh* es ruhig umgekehrt! Selbstkritik und richtiges Selbstverständnis sichern den mittleren Funktionen »Topbesetzungen4 und verhindern Überforderte an der Spitze 8. Auf dem Friedhof der Geschichte gelten die meisten Grabsteine versäumten Gelegenheiten. Handle daher rasch und entschlossen 9. »Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr, sagt ein Sprichwort, das viele für eine Maxime des Politischen halten, glaube es nicht! Bescheidenheit und Einfachheit allein lassen Dich menschlich gelten. 10 Gut bleibt eigentlich auch gut, selbst wenn es vom Gegner stammt. Versuche daher nicht nur besser als der andere, sondern einfach gut zu sein. 11. Politisches Handeln bedeutet im Zeitalter der Meinungsforschung immer mehr einfach Anpassung. Daraus entsteht Gefälligkeitsdemokratie. Sie ist falsch! Politik heißt Führung und nicht Ausführung von dem, was im Augenblick der Mehrheit gefällt. Dabei Ludwig Wittgenstein,

Tractatus logico — philosophicus, 1922.

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Schlußbetrachtung

muß man auf die »Meinung des Volkes' hören. Diese sollte aber nicht die Politik, sondern die Politik sie gestalten! ". I m Hinblick auf den Parteienstaat hat aus der Sicht des Staatsrechtslehrers Heinz Schäffer, für den auch „Demokratie zu ihrer Realisierung nicht nur ein beträchtliches Maß an ökonomischer und sozialer Entwicklung voraussetzt, sondern vor allem auch einen Zustand politischer Kultur", verlangt: „Um ihre Glaubwürdigkeitsverluste zu überwinden, müßten die Parteien zu einer Eingrenzung ihres Totalitätsanspruches und einer Relativierung ihres Parteilichkeitsverständnisses kommen. Überzeugend werden die Parteien ferner nur wirken, wenn sie nicht bloß auf die Meinungslage schielen, sondern selbständig politisch verantwortbare Ziele und Lösungen erarbeiten und diese auch durch Personen glaubwürdig vertreten. Letztlich handelt es sich um politische Tugenden, die man nicht normieren kann: Dazu gehören echte Gesprächsbereitschaft, seriöse politische Arbeit, aber auch Handlungen mit politischem Symbolwert (wie etwa Distanzierung von Mißbräuchen oder ein rechtzeitiger Ministerrücktritt), also alles Spielregeln einer politischen Kultur, die von den Parteipolitikern vorgelebt werden müssen."22

Erfordernisse

der Rechtskultur

Das Kulturgebot wird im heutigen Staat nicht allein an die Politik, sondern auch an das Rechtsleben gerichtet und mit der politischen Kultur eine Rechtskultur verlangt. In diesem Sinne bemerkte bereits Klaus Stern: „Unsere Rechtskultur ist, das muß leider registriert werden, nicht mehr auf der einstigen Höhe: Die Ordnungsfunktion des Rechts und die Stabilität der Gesetze wanken beträchtlich — Vorschaltgesetze, rasche Änderungsgesetze, Zeitgesetze, Maßnahmengesetze sind auf der Tagesordnung Zeitdruck ist ein schädliches Instrument bei der Rechtserzeugung. Die Zahl der Gesetze als Ausdruck einer politischen Erfolgstendenz erscheint mir eher ein Symptom des Abstieges des Gesetzes zu sein; maßgeblich darf allein seine Qualität sein. Damit einher muß der Wille gehen, 22 Heinz Schäffer, Parteienstaatlichkeit — Krisensymptome des demokratischen Verfassungsetaates?, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 44, Berlin-New York 1986, S. 78.

Schlußbetrachtg der Gesetzesinflation Einhalt zu gebieten. Wir werden nicht umhin können, in Bälde eine formelle und materielle Bereinigung der Rechtsordnung in Angriff zu nehmen, um sie vor der Hypertrophie übertriebener Perfektionierung und Deformierung zu bewahren." 28 Derartige Formen der Rechtsordnung dokumentieren zwar die Dynamik des Rechtslebens, stärken aber nicht die Rechtsgeltung, die, wie schon des öfteren betont wurde 24 , von der Wirksamkeit mitbestimmt wird, sondern gefährdet sie. Im Zusammenhang mit einem Krisensymptom des Staates auch der Gegenwart, nämlich der Korruption, hat Theo Mayer-Maly in seinen grundsätzlichen Überlegungen zur Wirksamkeit des Rechts bei der Bekämpfung von Korruption festgestellt: „Ein Sollen in Geltung zu setzen, kann nicht das letzte Ziel des Rechtserzeugungsaktes sein. Dessen Telos ist auf das Sein gerichtet. Wirksamkeit in dieser Welt ist auf den Sinn des Rechtes gerichtet. Diese Wirksamkeit ist nicht nur als Tatsache bedeutungsvoll, sie steht in einem wichtigen Wertbezug. In ihr manifestiert sich häufig der Grad der Annahme des Rechts durch die Rechtsgemeinschaft, die Konvergenz von Norm und Rechtsüberzeugung." 20 Dieser von Theo Mayer-Maly betonte Zusammenhang von Wirksamkeit der Norm als Voraussetzung ihrer Geltung und Wertbezug läßt das Wertdenken von Normsetzer und Normadressaten als geradezu schicksalshaft für den Bestand der Rechtsordnung erkennen. Von dem Maß ihrer mehr oder weniger ethischen Bezogenheit in der Rechtsetzung und dem Rechtsgehorsam wird das Maß an Moral einer Rechtsordnung entscheidend abhängen. Wenn aber das Klaus Stern, Rechtliche und ökonomische Bedingungen der Freiheit, Zeitschrift für das gesamte Familienrecht, März 1376, S. 131; beachte auch Derselbe, Der Rechtsstaat, Kölner Universitätsreden 45, Krefeld 1971, S. 12 ff. und meine Rede im österreichischen Bundesrat, als anläßlich der Regierungsvorlage der SPÖ-FPÖ Koalition zu einem neuen Weingesetz schon unmittelbar nach der Einbringung 41 Abänderungsanträge von Seiten der Regierungsparteien gestellt wurden, Protokoll der 470. Sitzung des Bundesrates vom 18. Dezember 1985, S. 19520. 24 Siehe in diesem Buch, S. 62, 64 f. und 77 f. as Theo Mayer-Maly, Grundsätzliche Überlegungen zur Wirksamkeit des Rechts bei der Bekämpfung von Korruption, in: Korruption und Kontrolle, hgb. von Christian Brünner, Studien zur Politik und Verwaltung, Band 1, Wien-Köln-Graz 1981, S. 504.

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Schlußbetrachtung

Wort einer Trennung von Ethik und Staat sowie seiner Rechtsordnung gesprochen wird, dann darf man sich über bestimmte Mangelerscheinungen an Wertdenken im Rechts- und Staatsleben nicht wundern. In diesem Sinne ist Mayer-Maly in seiner Aussage auch über den konkreten Anlaß seines Themas hinaus zuzustimmen: „Ohne eine Mobilisierung ethischer Potenzen bleibt — es wurde schon angedeutet — alles Instrumentar der Korruptionsbekämpfung chancenlos. Im ersten Paragraphen des Westgalizischen Gesetzbuches hieß es noch: ,Recht ist alles, was an sich selbst gut ist, was nach seinen Verhältnissen und Folgen etwas Gutes enthält oder hervorbringt und zur allgemeinen Wohlfahrt beiträgt. 4 Heute löst ein solcher Satz bei vielen nur ein müdes Lächeln aus. Über hundert Jahre lang wurden die Studenten vor allem darüber unterrichtet, was das Recht von der Ethik trennt. Jetzt können wir zur Kenntnis nehmen, was am Ende eines solchen Emanzipationsprozesses steht. Unsere Gesellschaft ist permissiv geworden. 4426

Neue Autoritätsbegründung Zur Überwindung dieser allgemeinen, nämlich auf verschiedenen Gebieten feststellbaren Permissivität vermag sicherlich eine Erneuerung des Wertdenkens und eine Hinwendung zur Ethik einen Beitrag zu leisten, mit dem die Kultur der Politik und des Rechts zu einer solchen des Staates führen könnte. Im öffentlichen Leben wäre es dann möglich, mit dieser Staatskultur für das positive Recht neu jene Autorität zu begründen, die Betrand de Jouvenel treffend als „das Vermögen 44 definierte, „die Zustimmung anderer zu gewinnen 44 . 27 Diese Zustimmung könnte für den Fall des auch ethisch begründeten Ordnungsdenkens bei Normsetzer und Normadressaten den dialoghaften Charakter der Beziehung von Staat und Einzelnem in der Rechtsnorm, die dem Einzelnen eine Pflichtenbegründung und keinen bloßen Zwang erfahren läßt, zum Tragen bringen; ein Idealfall, der zwar nie gänzlich erreicht werden kann, aber doch wohl bedacht und angestrebt werden sollte, damit im Staat jene Verantwor2β Mayer-Maly, a.a.O. S. 503. 27 Bertrand de Jouvenel, Über Souveränität auf der Suche nach dem Gemeinwohl, Politica, Band 9, Neuwied und Berlin 1964, S. 48.

Schlußbetrachtg tung zustande kommt, welche Geltung und Wirksamkeit der Rechtsordnung als einen Ausdruck des Antwortgebens erfahren läßt. 28 So gesehen kann die Ethik mit ihrem Gewissensanspruch die Rechtsgeltung im Staat zwar nicht ersetzen, aber in ihrer Sozialbezogenheit mitbestimmen; sie wird zu einer Beurteilungsmaxime, welche die Möglichkeiten und Grenzen des positiven Rechts erkennen läßt. Aus dieser Sicht ist das zu beachten, was schon Adolf Merkl abschließend zu „Reine Rechtslehre und Moralordnung" feststellte: „Gewiß sind die Kennzeichen der ethischen Normativität noch umstrittener als die der juristischen, ebenso gewiß ist aber der Erkenntnisgegenstand der Ethik, genauer: die Vorstellung des moralisch Gewollten, . . . das »regulative Prinzip' und somit, wenn auch in wechselndem Maß, die letzte Quelle des positiven Rechtes."29 Betrachtungen zu Ethik und Staat im allgemeinen sowie der politischen Tugenden im besonderen haben schließlich gezeigt, daß zwar das abendländische Rechtsdenken von einem Streben nach dem Maßstab der Beurteilung des Staates und seiner Rechtsordnung begleitet war und eine Tradition aufweist 30 , die es zu beachten gilt, deren Anwendbarkeit es aber für jede Zeit, ihre Verhältnisse und Menschen jeweils zu bedenken gilt 31 ; dieses Erfordernis gerade in unserer Zeit 28 Beachte Hans Ryffel, Bedingende Faktoren der Effektivität des Rechts, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Band 3, 1972, S. 225 ff., der für die Beschaffenheit der Rechtsnorm verlangt, daß sie adressatenbewußt gesetzt worden ist. Zustimmung hiezu Mayer-Maly, a.a.O. S. 505: „Gemeint wird die freie Übernahme und Befolgung einer Norm, also jene juridische Moralität, an der sich die Anerkennungstheorien des Rechts schon immer orientiert haben." 2» Adolf Merkl, Zum 80. Geburtstag Hans Kelsens Reine Rechtslehre und Moralordnimg, österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht 1961, Band 34, S. 313. 30

Siehe dazu Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl., Wien 1963. 81 Beachte auch Helmut Steinberger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie, dargestellt am Beispiel des Verfassumgsrechtsdenkens in den Vereinigten Staaten von Amerika und des Amerikanischen Antisubversionsrechits, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht, Band 60, Berlin-Heidelberg-New York 1974, S. 268: „Es gibt keine praktisch-politischen Patentformeln, deren Anwendung die Bewahrung freiheitlicher Ordnung in der politischen Wirklichkeit gewährleisten könnten. Es ist in erster Linie eine Frage der politischen Empirie,

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erneut zu betonen, ist das Ziel dieser Schrift über Ethik und Staat gewesen. In ihr sollte verdeutlicht werden, daß der Einzelne im Staat eine Ordnungsaufgabe zu erfüllen hat, und der Staat dein Menschen mit seiner Würde als Maßstab nicht mißachten soll. Die Lehre von der politischen Tugend könnte zu diesem Ordnungsauftrag einen unabweisbaren Beitrag leisten, der sich aber an keine Organisationsform von Staat und Gesellschaft richtet, sondern an den einzelnen Menschen selbst; Max Imboden sei nämlich abschließend zugestimmt: „Was sich im sozialen Gefüge als Struktur manifestiert, ist nur der Widerschein von Vorgängen, die sich im Inneren des Menschen vollziehen. Innen und Außen sind letztlich eines. Es gibt nur eine Wirklichkeit im sozialen Zusammensein der Menschen: die aus der Erfüllung der eigenen Persönlichkeit geschaffene Beziehung zum anderen."**

welche konkreten Maßnahmen zu einem gegebenen Zeitpunkt in einer bestimmten Gesellschaft sich als förderlich oder abträglich für die Erhaltung oder Herstellung einer als freiheitlich konzipierten Ordnung erweisen. Schon eingangs wurde betont, daß dabei die politische Kultur einer Gesellschaft ungleich wichtiger ist, als einzelne rechtliche Ausgestaltungen, daß andererseits aber bestimmte rechtliche Institutionen eben diese politische Kultur nachhaltig beeinflussen und bestimmen können." *2 Max Imboden, Die politischen Systeme, Basel und Stuttgart 1962, S. 12.