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German Pages [198] Year 2013
Beiträge zur Historischen Bildungsforschung Begründet von Rudolf W. Keck Herausgegeben von Meike Sophia Baader, Rudolf W. Keck, Elke Kleinau und Karin Priem Band 43
Klemens Ketelhut, Dayana Lau (Hg.)
Erziehungsgeschichte/n Kindheiten – Selbstzeugnisse – Reflexionen
2014
Böhlau Verlag Köln Weimar Wien
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Petra Schramm, »Nach Breughel«, 1997 © 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Frank Schneider, Wuppertal Satz: Susanne Weidemann-Zaft Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-21059-5
Inhalt
Klemens Ketelhut/Dayana Lau Einleitung ..................................................................................................
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KINDHEITEN Meike Sophia Baader Das Recht auf Glück im Hier und Jetzt. Neue Subjektivität, Frauenbewegung und Kindererziehung um 1970 ...................................... 15 Eva Maria Kohl Das langgestreckte Wunder. Anmerkungen zu einem Kinderbuch ........... 37 Helga Zeiher Sinnkonstruktion und Langeweile. Eine Fallstudie zur Zeitdisposition im Tageslauf .............................................................................................. 49
SELBSTZEUGNISSE Fritz Osterwalder Starke Frauen im Kloster – Das Kloster im Herzen, die Frau in der Welt. Die Arnauld-Frauen und Port-Royal.......................................................... 65 Ulrike Gleixner Eine wachsende weibliche Leserschaft in der Frühen Neuzeit: Selbstzeugnisse als Quelle von Lesepraktiken .......................................... 87 Elke Kleinau „Ich glaube, ich bin wirklich eine ganz miserable Lehrerin!“ Pädagogische Szenen aus dem Alltag einer deutschen Lehrerin in Brasilien................................................................................................. 103 Egle Becchi Ein Vater, ein Kind, zwei Egodokumente ................................................. 119
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Inhalt
Ulrike Mietzner Alfred Wertheim: Fotografische Positionen eines jüdischen Jugendbewegten aus Osnabrück ........................................................................... 139 Ulrike Pilarczyk Alfred Wertheim: Bilder im Umbruch (1935) ........................................... 151
REFLEXIONEN Christine Mayer Zirkulation und Adaption pädagogischer Ideen um 1800 – am Beispiel von Burtons Erziehungsschrift ‚Lectures on female education and manners‘ (1793) .................................................................................. 167 Reinhard Hörster Zwischen denkender Gemeinschaft und Norm. Zur Ambivalenz einer Karteikarte und ihrer Bedeutung für die Sozialpädagogik......................... 191
K LE ME N S K E TE LH U T /D A Y A N A L A U
Einleitung
Vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen der Disziplin, in der zunehmend der Begriff der Bildung verwendet wird, erscheint es auf den ersten Blick eher erstaunlich, Erziehung als Begriff, als verbindendes Konzept für einen Sammelband in den Vordergrund zu stellen. Und sicherlich ist „Erziehung“ ähnlich wie „Bildung“ ein offener, schwierig zu fassender und vielseitig verwendbarer Terminus. Was ihn jedoch, so könnte man den Minimalkonsens einer Annäherung darstellen, von Bildung unterscheidet, ist die Struktur der Beziehung und Interaktion, die in Erziehungsprozessen anders konturiert wird als in Bildungsprozessen. Sind Letztere – bezieht man sich auf Humboldt – Prozesse, in denen das Subjekt sich selbst durch eine Auseinandersetzung mit einer wie auch immer gearteten Umwelt eben bildet, also Prozesse, die primär innerindividuell verfasst und gedacht sind, handelt es sich bei Erziehungsprozessen um solche, die zwischen einer erziehenden und einer zu erziehenden Person stattfinden. In seinen Ausführungen zu Erziehung hat Immanuel Kant vier Dimensionen unterschieden (Zivilisierung, Kultivierung, Disziplinierung und Moralisierung) und auf das bekannte Dilemma – Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange? – hingewiesen. Ohne auf diesen hinreichend interpretierten Text näher einzugehen, kann sicherlich gesagt werden, dass viele Prozesse, die heute mit dem Etikett Bildung versehen werden, eher in den Bereich der Erziehung gehören. Auf der anderen Seite liegt auf der Hand, dass beide Begriffe zwar unterschiedliche Perspektiven einnehmen, aber in etwa den gleichen Gegenstandsbereich haben, nämlich den Vorgang des Hineinwachsens in die Welt und die Auseinandersetzung mit dieser Welt, begleitet von einem (mehr oder minder) latenten Konflikt, der durch den Wunsch nach Autonomie und gesellschaftlichen Ansprüchen beschrieben werden kann. Dieser Prozess scheint also durch ein Spannungsverhältnis zwischen individueller Autonomie und gesellschaftlichen Anforderungen bestimmt zu sein – und dieses ist konstitutiv für das nach Kant wesentliche Ziel der Erziehung, also für die Erlangung von Moralität: Bekanntlich geht Kant davon aus, dass der Mensch erst durch die Erziehung zum Menschen wird, dass also der Aspekt, der Tier und Mensch unterscheidet, die Vernunftbegabung ist. Diese muss, und das ist die Forderung, die Kant an Erziehung stellt, ausgebildet werden, um zur Geltung zu kommen.
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Klemens Ketelhut/Dayana Lau
Das heißt: Die Subjektwerdung ist untrennbar mit einer Idee von Erziehung, präziser: der Moralisierung, verbunden. Hier kommt der Erziehung also eine mehr als tragende Aufgabe zu: Sie muss, freilich in dem paradoxalen Spannungsfeld zwischen Freiheit und Zwang situiert, den Menschen dazu zu bringen, sich seiner Vernunft zu bedienen. Dazu bedarf es der Moralisierung, die, so Michael Wimmer, zu Moralität führt, also der „Selbstverpflichtung, die nur unter der Bedingung von Freiheit möglich ist“ (Wimmer 2009, S. 108). Moralisierung, so Wimmer weiter, führt genau zu der Situation, dass der Mensch losgelöst von gesellschaftlichen Vorgaben aus eigener Einsicht handeln kann. Dazu muss der Mensch „erst eine Selbstdistanz erreichen, ohne die er den Schritt der Autonomisierung nicht vollziehen kann. Vergesellschaftung ist Voraussetzung, um sich davon distanzieren zu können.“ (ebd.) Wendet man den Blick nun auf Erziehungsgeschichte(n) – also entweder auf historische Begebenheiten, die sich mit Erziehung befassen, oder darauf, was einzelne Menschen über ihre Erfahrungen mit Erziehung berichten –, dann wird deutlich, dass mit Erziehung nicht nur ein Verhältnis zwischen Erzieher und Zögling gemeint ist, das im besten Falle mit dem Ziel der Selbstdistanzierung einhergeht, sondern dass Erziehung in der Regel auch mit weiteren Zielen, Hoffnungen oder Absichten verbunden ist. Diese können auf mindestens zwei Ebenen festgemacht werden: zum einen auf der Ebene des Individuums, zum anderen auf der Ebene des Gesellschaftlichen. Auch diese normative Ausrichtung von Erziehung ist also in einem wechselseitigen Prozess zwischen individuellen und gesellschaftlichen Zielsetzungen angesiedelt. Während der Zusammenhang auf der Ebene des Individuums meist darin besteht, dass dem Educandus bestimmte Werte, Fähigkeiten oder Verhaltensweisen beigebracht werden sollen (die natürlich auch im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Vorgaben oder Dominanzen stehen), erscheint das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft aus der Perspektive der gesellschaftlichen Anforderungen schwieriger zu fassen. So begründen die Philanthropen bekanntlich ihre Forderung nach Reformen in schulischer und familiärer Erziehung anhand der Idee, dass Menschen, die vernünftig und zur Nützlichkeit erzogen sind, glückselig werden und dass sich so auch die gesamte Gesellschaft zu einem Besseren verändern werde. Der utilitaristische Grundton ist unverkennbar – man könnte sich fragen, inwiefern heutige Bildungsprozesse nicht eine ganz ähnliche Zielrichtung haben, wenn sie auf einer ökonomischen Theorie basieren, die den Menschen als nutzenmaximierenden Konsumenten und Produzenten interpretiert. Auch wenn sich Termini und Methoden geändert haben, hat die selbstunternehmerische Investition in das eigene Humankapital ebenfalls einen deutlich erkennbaren Bezug zu utilitaristischen Ideen – sowohl den Einzelnen als auch die Gesellschaft betreffend.
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Der vorliegende Sammelband wirft nun einen historischen und einen soziologischen Blick auf ganz unterschiedliche Aspekte von Erziehung: Dominiert bei der Auseinandersetzung mit Erziehungsgeschichte eher der Aspekt gesellschaftlicher Normativität, werden hier also Anforderungen, Vorstellungen und Entwürfe rekonstruiert, die grundlegend auf den Prozess von Erziehung, auf Erziehungsvorstellungen für einzelne Gruppen (zum Beispiel Mädchen) oder Wünsche und Hoffnungen abstellen, beschäftigen sich Erziehungsgeschichten mit der Sicht von Subjekten/Individuen. Hier stehen Erfahrungen, (Selbst)Reflexionen und Getanes im Vordergrund, werden individuelle Handlungsspielräume und Freiheitsgrade innerhalb gegebener Verhältnisse sichtbar. Thematisch sind die Beiträge in drei Kapiteln mit einem jeweiligen Schwerpunkt gruppiert: Kindheiten – Selbstzeugnisse – Reflexionen thematisieren dabei unterschiedliche inhaltliche Bezüge:
Kindheiten MEIKE SOPHIA BAADER diskutiert in ihrem Beitrag „Das Recht auf Glück im Hier und Jetzt. Neue Subjektivität, Frauenbewegung und Kindererziehung um 1970“, wie in der Kinderladenbewegung das Recht von Kindern auf Glück thematisiert und wie es umzusetzen versucht wurde. Sie fragt, welche Konzepte entwickelt wurden, um Kinder zur Glücksfähigkeit zu erziehen, und arbeitet dabei die Bedeutung der Debatten um die ‚Neue Subjektivität‘ der 1970er Jahre für diese Konzeptionen heraus. So wird sichtbar, wie sehr besonders die Ideen der Kinderladenbewegung von normativ und politisch aufgeladenen Subjektkonstruktionen überfrachtet waren. EVA-MARIA KOHL beschreibt in ihrem Beitrag „Das langgestreckte Wunder. Anmerkungen zu einem Kinderbuch“ die Geschichte eines Kinderbuches von Bernd Rosenlöcher aus der ehemaligen DDR vor und nach 1989. Anhand des Textes entwickelt sie Thesen über das sich wandelnde Bild des Kindes und entfaltet zudem die Visionen, die der Autor in Bezug auf das Verschwinden von Grenzen und einer besseren Welt entwickelt. Unter dem Titel „Sinnkonstruktion und Langeweile. Eine Fallstudie zur Zeitdisposition im Tageslauf“ untersucht HELGA ZEIHER anhand des Tageslaufs eines neunjährigen Mädchens und der theoretischen Kategorie Zeit, wie Kinder zeitliche Verläufe strukturieren, also mit sinnvollen Tätigkeiten füllen können oder nicht. In diesem Fokus arbeitet sie die subjektiven Sinnkon-
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struktionen in ihrer Fallgeschichte heraus und rekonstruiert deren gesellschaftliche Bedingtheit, indem sie die Handlungen des Mädchens, Ina, als Ergebnis sinnvoller Entscheidungen interpretiert und die konkreten Bedeutungen zu erfassen sucht.
Selbstzeugnisse FRITZ OSTERWALDER zeigt in seinem Beitrag „Starke Frauen im Kloster – Das Kloster im Herzen, die Frau in der Welt. Die Arnauld-Frauen und Port-Royal“ anhand autobiografischer Materialien der Äbtissin Angélique de Saint-Jean Arnauld (1624-1684), wie das Mädchen zunehmend das Kloster in ihr Inneres verlagert und damit eine Abgrenzung zwischen ihrem Selbst und der äußeren, feindlichen Welt errichtet. Osterwalder interpretiert diesen Zusammenhang des ‚Klosters im Herzen‘ als ‚absolute Subjektivität‘. „Eine wachsende weibliche Leserschaft in der Frühen Neuzeit: Selbstzeugnisse als Quelle von Lesepraktiken“ von ULRIKE GLEIXNER rekonstruiert anhand von Korrespondenzen, Tagebüchern und Lebensläufen das Lesen und die darüber stattfindende Kommunikation von Frauen verschiedener gesellschaftlicher Stände im 18. Jahrhundert. Einerseits zeigt Gleixner so die Bedeutung der Lektüre für Frauen als Möglichkeit, sich zu bilden und sich zugleich in eine imaginäre Gemeinschaft einzuschreiben. Andererseits zeigt sie auch, dass das Lesen von Frauen nicht erst, wie gemeinhin angenommen, ein Ergebnis der Aufklärung ist. ELKE KLEINAU untersucht in ihrem Beitrag „‚Ich glaube, ich bin wirklich eine ganz miserable Lehrerin!‘ Pädagogische Szenen aus dem Alltag einer deutschen Lehrerin in Brasilien“ einen Briefroman einer deutschen Lehrerin, die im 19. Jahrhundert in Südamerika arbeitet. Zum Thema macht sie die dort verarbeiteten Fremdheitserfahrungen und entwickelt dabei die These, dass diese Erfahrungen Subjektivität verändern und zugleich transkulturell wirksam werden. EGLE BECCHI untersucht in „Ein Vater, ein Kind, zwei Egodokumente“ ein besonderes Tagebuchkonstrukt aus der Mitte des 19. Jahrhunderts – nämlich eines, das gleichzeitig Kindertagebuch eines Vaters, dessen Autobiographie und Tagebuch des Sohnes ist. Becchi arbeitet heraus, wie sich so eine Erziehungsgeschichte abbildet, die einerseits unter der absoluten Kontrolle des Vaters steht und andererseits vom eigenständigen Bildungsprojekt des Jungen,
Einleitung
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Hugo, zeugt. So wird es möglich, die Herstellung einer sich abgrenzenden Nicht-Erwachsenen-Kultur des Kindes nachzuvollziehen, gerade weil die Erwachsenenkultur des Vaters mitdokumentiert wird. ULRIKE MIETZNER untersucht in „Alfred Wertheim: Fotografische Positionen eines jüdischen Jugendbewegten aus Osnabrück“ die Veränderung des photographischen Stils Wertheims in den Jahren 1924-33, die sich in zunehmender formaler Strenge, Veränderung der Perspektive und seinem eigenen Verschwinden dokumentiert, und interpretiert diese als Ausdruck des kulturellen Gedächtnisses dieser historischen Epoche. ULRIKE PILARCZYK nimmt in „Alfred Wertheim – Bilder im Umbruch (1935)“ den Bruch, der sich in der Bildsprache Wertheims im Jahr 1935 ereignet, zum Anlass für die Frage, was diesen Wandel veranlasste und welche Intentionen damit verbunden waren. Sie untersucht dabei besonders, wie sich der Blick Wertheims auf die jugendbewegte Gemeinschaft vor dem Hintergrund der zunehmenden Erfahrungen von Ausgrenzung vor der Emigration nach Palästina verändert. Anhand dieses Gegenstands wird auch die Bedeutung fotoanalytischer Methoden für erziehungswissenschaftliche Forschung reflektiert.
Reflexionen CHRISTINE MAYER entwickelt in „Zirkulation und Adaption pädagogischer Ideen um 1800 – am Beispiel von Burtons Erziehungsschrift ‚Lectures on female education and manners‘ (1793)“ ausgehend von Ansätzen der Kulturtransferforschung die These, dass pädagogische Wissensbestände im ausgehenden 18. Jahrhundert nicht nur transnational ausgetauscht wurden, sondern dass diese auch, durch Übersetzung und gleichzeitige Adaption, dem jeweiligen Ziel ihrer Reise angepasst und normativ neu aufgeladen wurden. So zeigt sich eine tiefe Dissonanz zwischen der von Burton intendierten Idee der Frauenbildung und deren deutscher Übersetzung. „Zwischen denkender Gemeinschaft und Norm. Zur Ambivalenz einer Karteikarte und ihrer Bedeutung für die Sozialpädagogik“ ist der Beitrag von REINHARD HÖRSTER überschrieben. Er beschäftigt sich mit einer Karteikarte von Joseph Beuys und trägt dabei die verschiedenen objektiven Sinnschichten dieses Kunstwerkes ab, um dann metatheoretische Anschlüsse für ein kritisches Nachdenken über Sozialpädagogik herzustellen.
M E IK E S O P H IA B A A D ER
Das Recht auf Glück im Hier und Jetzt Neue Subjektivität, Frauenbewegung und Kindererziehung um 1970
In der Erziehungsgeschichte ist der Zusammenhang von Kindheit und Glück sowie die Frage danach, was zum kindlichen Glück beiträgt, kein Novum des 20. Jahrhunderts oder gar der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Thema kann als Moment der Erziehungsgeschichte in der Moderne identifiziert werden. Auffinden lässt es sich etwa in der Pädagogik der Aufklärung. Pia Schmid hat es als Teil des neuen bürgerlichen Kindheitsdiskurses bezeichnet. 1 In Rousseaus ‚Emile‘ von 1762 wird beispielsweise mehrfach auf die Bedeutung des Glücks eingegangen. Beschrieben wird dort der Knabe im Alter von zehn bis zwölf Jahren als Figur, die einen idealen Daseinszustand verkörpert, da er noch nicht in den Gesellschaftszustand eingetreten ist. Angerufen wird ‚Emile‘ in diesem Zusammenhang als ‚glücklicher Schüler‘, da er über einen idealen Lehrer verfüge. 2 Allerdings verbleibt die Reflexion über das Glück im ‚Emile‘ ganz im Rahmen eines antiken Moral- und Tugenddiskurses, der sich an der Idee der Mäßigung orientiert. Über das Glück wird im ‚Emile‘ vor allem in allgemeiner Hinsicht bezogen auf das menschliche Streben sowie im Zusammenhang mit Heirat und Familiengründung reflektiert. 3 Kindheit wird hingegen als „Alter der Fröhlichkeit“ 4 und nicht als Zeit des Glücks beschrieben. In der deutschsprachigen Erziehungsgeschichte bringen dann insbesondere die deutsche Klassik und Romantik zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Vorstellung von Kindheit als glückliche Zeit hervor. 5 Um 1900 ruft die international agierende Reformpädagogin Ellen Key dazu auf, dass sich die häusliche wie öffentliche Erziehung gleichermaßen am Glück orientieren soll, da dies
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Vgl. Schmid 2013. Vgl. Rousseau 1762/1989, S. 150f.; Baader 1996, S. 43. Vgl. Rousseau 1762/1989, S. 55ff. und S. 488-493. Vgl. ebd., S. 55. Vgl. Baader 1996; Baader 2004; Baader 2012a, S. 487. In Baader 2012a wird die Frage nach dem kindlichen Glück im Kontext der antiautoritären Erziehungsbewegung erstmals von der Autorin aufgeworfen. Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um eine Weiterentwicklung der Thematik.
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zur Höherentwicklung der Menschheit im Sinne Nietzsches beitrage. 6 Ob das kindliche Glück als Erziehungsziel zu verfolgen sei, beschäftigt auch die Pädagogik im Umfeld des deutschen Herbartianismus um 1900 und ist etwa Thema der ‚Zeitschrift für Kinderforschung‘ im Zeitraum von 1896-1914. Dort wird jedoch eine ambivalente Antwort auf die Frage nach dem kindlichen Glück gegeben, die sich als Pädagogik des ‚begrenzten Glückes‘ beschreiben lässt. Die Idee des kindlichen Glücks kann somit durchaus auch auf ‚disziplinierende Erziehungskonzepte‘ verweisen. 7 Über die Grenzen des nicht zu viel und nicht zu wenig an Glück hat die Pädagogik sorgsam zu wachen und dieses zu regulieren. Im Umfeld der sogenannten antiautoritären Erziehungsbewegung um 1968 und in den 1970er Jahren wird die Frage nach dem kindlichen Glück dann radikalisiert. Nun geht es um eine Erziehung, bei der nicht nur die Erwachsenen dafür zu sorgen haben, dass Kinder glücklich sind oder eine glückliche Kindheit haben, sondern es ist ihre Aufgabe, die Kinder dazu zu befähigen, ihr Glück selbst herzustellen. Erziehung soll die Kinder dazu ermächtigen, glücklich zu werden und zum Akteur des eigenen Glücks zu werden. Die Selbstermächtigung ihrer Kinder zum Glück ist dabei sowohl Teil einer Auseinandersetzung der Akteure und Akteurinnen von 1968 mit der Erziehung ihrer Eltern als auch mit dem orthodoxen Marxismus sowie mit den eigenen Lebensformen und den Erwartungen an die eigene Lebensführung. Die Forderung, glücklich zu sein und die Kinder so zu erziehen, dass sie zu Akteuren des eigenen Glücks werden, ist Moment einer neuen Subjektivierungsform. 8 Diese soll in einer kindheits- und geschlechtergeschichtlichen sowie einer emotionsgeschichtlichen Perspektive nachgezeichnet werden. Systematisch muss eine erziehungsgeschichtliche Reflexion des Zusammenhanges von Kindheit und Glück also zwischen verschiedenen Perspektiven unterscheiden. Da gibt es erstens eine deskriptive Sicht auf Kindheit als glückliche Zeit im Lebenslauf, etwa in der deutschen Klassik und Romantik. Daran schließt sich in manchen Fällen zweitens die normative Forderung an, dass Kindheit eine glückliche Zeit sein soll, so etwa bei Friedrich Fröbel. 9 Drittens wird die Frage aufgeworfen, wie Pädagogik zu sein hat, damit Kinder als Kinder glücklich sind und ob dieses überhaupt erstrebenswert ist. Und viertens wird die Perspektive diskutiert, wonach durch die Erziehung in der Kindheit darüber entschieden wird, ob der Mensch als Erwachsener glücksfähig ist. 10 Mit der Frage nach dem Zusammenhang von Kindheit und Glück wird an ein Desiderat in der Forschung zur Geschichte der Kindheit angeschlossen, auf 6 7 8 9 10
Vgl. ebd., S. 488; Key 1902/1992, S. 175. Vgl. Eßer/Schröer 2011. Zu Kindern als Akteure um 1970 siehe Baader/Sager 2010 sowie Baader 2011b. Vgl. Baader 2002. Vgl. Baader 2012a, S. 486.
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das Peter Stearns verwiesen hat. Er unterstreicht, dass das neue Ziel des Glücks Teil der modernen Kindheitsgeschichte ist. Die Forderung nach ‚glücklichen Kindern‘ tauche in den USA verstärkt seit den 1920er Jahren auf. 11 Blicken wir nun jedoch zunächst darauf, wie im Kontext von 1968 in der Bundesrepublik auf das Recht auf Glück geblickt wurde, bevor wir uns der Frage nach der Relevanz des Glücks für Erziehungsfragen in der antiautoritären Bewegung und ihren Vorgeschichten in der Kindheitsgeschichte zuwenden.
1. Einleitung „Schon seit einiger Zeit konnte er das weise Marxgesicht über seinem Bett nicht mehr ausstehen. Er hatte es schon einmal verkehrt herum aufgehängt. Um den Verstand abtropfen zu lassen, […]. Er sah Marx in die Augen: ‚Was waren Deine Träume, alter Besserwisser, nachts meine ich? Warst Du eigentlich glücklich?‘“ 12
Dieser Passus steht am Anfang des 1973 erschienenen autobiographisch gefärbten Romans „Lenz“ von Peter Schneider. In diesem Text geht es um den Überdruss an der politischen Arbeit in den marxistischen linken Gruppen und den Aufbruch des Protagonisten Lenz nach Italien, um dort andere Lebensund Arbeitsformen kennen zu lernen. Als Lenz sich von seiner Betriebsgruppe in Berlin verabschiedete und darauf verwies, dass es Sommer sei, wurde ihm erklärt, dass die Gruppe sich zur Aufgabe gemacht hatte, diesmal gemeinsam zu verreisen, „damit die privaten Beziehungen mit den politischen Schritt halten“. Lenz entgegnete darauf hin: „Aufgabe, Aufgabe, habt ihr denn auch Lust dazu?“ 13 Glück und Lust werden hier, Anfang der 1970er Jahre, gegen Marx und eine politisch definierte Arbeits- und Pflichtethik gesetzt, um im katholisch geprägten Sehnsuchtsland Italien nach anderen Formen der Verbindung von Politik, Subjektivität und Emotionalität zu suchen. 14 In meinem Beitrag soll die Forderung nach einem individuellen Recht auf Glück, wie es Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre im Kontext von Protestbewegungen und Gegenkultur entwickelt wurde, genauer in den Blick 11 12 13 14
Vgl. Stearns 2010. Schneider 1973, S. 5. Ebd., S. 51. Zu Konstruktionen von Männlichkeit in der Literatur um 1968, dort auch zu Schneiders „Lenz“, siehe Tholen 2012.
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genommen werden. Dabei wird der Fokus auf Erziehungsverhältnisse und die so genannte antiautoritäre Kinderladenbewegung gerichtet. 15 In ihrem Rahmen wurde dazu aufgefordert, sich am ‚Glück der Kinder‘ bzw. der Erziehung zur Glücksfähigkeit zu orientieren. Die Kinderladenbewegung wird unter vier Aspekten diskutiert. Erstens: inwiefern handelte es sich bei der Erziehung zur Glücksfähigkeit um ein Novum in der Erziehungsgeschichte? Welche Konzepte wurden zweitens in dieser Hinsicht im Kontext der antiautoritären Kinderladenbewegung entwickelt? Welche Konflikte um eine Erziehung zum Glück lassen sich drittens innerhalb des gegenkulturellen Spektrums nachzeichnen? Auf welche wissenschaftlichen Theorietraditionen und Wissensbestände wurde zurückgegriffen und welche Subjekttheorien wurden vertreten? All diese Aspekte sind dabei durch die Frage nach der ‚Neuen Subjektivität‘ gerahmt, deren Erziehungs- wie Geschlechterdimensionen herausgearbeitet werden sollen. Die Debatten um die ‚Neue Subjektivität‘ der 1970er Jahre, die mit der Psychologisierung des Selbst 16 verbunden sind, weisen – dies wird eher selten in den Blick genommen – eine erziehungsgeschichtliche wie eine geschlechtergeschichtliche Dimension auf, die für eine Geschichte von Subjektkonstruktionen, Subjektivierungsformen und deren Emotionen von Bedeutung ist.
2. Perspektiven auf das Verhältnis von Erziehung und Glücksfähigkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert Sichtet man die deutsche Erziehungsgeschichte des 18., 19. und 20. Jahrhunderts unter den Perspektiven ‚Kindheit als Zeit des Glücks‘ (deskriptiv und normativ), ‚glückliche Kinder‘ sowie ‚Erziehung zur Glücksfähigkeit‘– systematisch zu unterscheidende Perspektiven –, dann wird man mit einem erstaunlichen Befund konfrontiert. Zwar gibt es seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert eine Sichtweise, in der ‚Kindheit als glückliche Zeit‘ beschrieben wird – dies wird dann insbesondere in der deutschen Romantik ausformuliert 17 – aber die Frage, ob das ‚kindliche Glück‘ oder gar die ‚Glücksfähigkeit‘ eine Rolle bei der Erziehung spielen sollte, wird in der 15 Zur Kinderladenbewegung wird von der Autorin ein DFG-Projekt geleitet. Es handelt sich um das DFG-Projekt „Die Kinderladenbewegung als case study der antiautoritären Erziehungsbewegung. 68 und die Pädagogik in kultur-, modernitäts- und professionsgeschichtlicher Perspektive“ (BA 1678/4-1, Laufzeit: Oktober 2010-2013) an der Stiftung Universität Hildesheim. 16 Siehe hierzu Tändler/Jensen 2012. 17 Vgl. Baader 1996; Baader 2004.
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deutschen Pädagogik Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts hochambivalent diskutiert. So zeigt eine Analyse der ‚Zeitschrift für Kinderforschung‘ (1896-1914), dass das individuelle Glück des Kindes vor dem Hintergrund eines antagonistisch gedachten Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft und der Sorge um die Moralität und Sozialität des Individuums tendenziell begrenzt werden muss. Der Pädagogik kommt dabei die Aufgabe zu, dieses Verhältnis zu regulieren. 18 Der Vorwurf, dass die Verfolgung des individuellen Glückes nicht mit einer gesellschaftlichen, sozialen oder moralischen Perspektive zu vermitteln sei, durchzieht die deutschen Debatten und begegnet als Konflikt zwischen individuellem Glück und Politik auch im Kontext von 1968 wieder. An der Frage nach dem Glück entzündeten sich Differenzen zwischen dogmatisch marxistischen Positionen einerseits und eher undogmatisch libertären Positionen andererseits. Blicken wir – zum Kontrast – auf die US-amerikanische Tradition der Diskussion um die Erziehung zum Glück, dann stellt sich die Situation fundamental anders dar. Dort ist das Glück ein wichtiges Thema der Pädagogik. Da das Streben nach dem individuellen Glück als ‚pursuit of happiness‘ in der Unabhängigkeitserklärung festgehalten ist, spielt dies nicht nur in der Sozialphilosophie, sondern auch in der Erziehung – insbesondere in der US-amerikanischen Progressive Education – eine wichtige Rolle. Tom Popkewitz konzediert für die Zeit um 1900: „Education was to change the individual so that the individual can pursue ‚happiness‘.“ 19 Peter Stearns konstatiert 2010 in seinem Beitrag „Defining happy childhoods“, dass die Entwürfe kindlichen Glücks zentraler Bestandteil von Kindheit in der Moderne seien, dass die Frage nach den Glückskonstruktionen von Kindheit eine ernst zu nehmende historische Frage darstelle und dass sie vollkommen untererforscht sei. Für die USA stellt er einen Boom ab den 1920er Jahren fest: „In the United States, childhood happiness, in principle at least, exploded in the 1920s, with some preliminary approaches in the previous decade.“ 20 Im Kontext europäischer reformpädagogischer Positionen findet sich die Forderung nach einem Recht von Kindern und Jugendlichen auf individuelles Glück etwa bei der schwedischen Reformpädagogin Ellen Key. Sie formulierte um 1900 ihre Forderung im Rekurs auf Nietzsche und auf eine sozialdarwinistische Sicht, wonach der glückliche Einzelne zugleich zu einer Höherentwicklung der Gesellschaft beitragen würde. 21 Das Recht auf individuelles Glück konturierte sie vor allem gegen die christliche Tradition und deren Verweigerung einer irdischen Idee von Glück.
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Vgl. Eßer/Schröer 2011. Popkewitz 2008, S. 143-167, S. 158. Stearns 2010, S. 166. Vgl. Key 1902; Andresen/Baader 1998; Baader 2012a.
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3. 1968: Erziehung zur Glücksfähigkeit als Immunisierung gegen den Faschismus Monika Seifert, Mitglied des Frankfurter SDS, Soziologin und Tochter der Psychoanalytiker Alexander und Melitta Mitscherlich, gründete 1967 in Frankfurt die erste antiautoritäre Kinderschule. Seifert war Mitarbeiterin am Frankfurter Institut für Sozialforschung von Theodor Adorno u.a. und hatte sich dort insbesondere mit den Studien des Institutes zu „Autorität und Familie“ aus dem Jahre 1936 befasst. Vor allem aber hatte sie die Schriften des Psychoanalytikers Wilhelm Reich entdeckt, 22 die aus der Vorkriegszeit im Institut lagerten und dessen Positionen seit Reichs Konflikt mit Freud im Jahre 1934 von Adorno abgelehnt wurden. 23 Außerdem war Seifert mit ihrer Tochter in England gewesen und hatte dort das Erziehungskonzept von Alexander S. Neill kennen gelernt. Neill hatte 1921 in England seine ‚Reformschule‘ Summerhill gegründet. Die Wurzeln von Summerhill lagen bekanntlich in den 1910er Jahren in der deutschen Reformpädagogik in Dresden, wo Neill seine erste Schule führte. Auch Neill bezog sich stark auf die Ideen Wilhelm Reichs, mit dem er befreundet war und im Briefwechsel stand. In England stieß Seifert zudem auf das Buch ‚A free Family‘ des englischen Paares Ritter aus dem Jahre 1959, das sie inspirierte. Der englische Architekt Ritter hatte seine fünf Kinder nach den Prinzipien von Neill erzogen und beschrieb dies in seinem Buch. Mit ihrer antiautoritären Kinderschule und den dort praktizierten Ansätzen wollte Seifert einer durch Erziehungsprinzipien des Nationalsozialismus geprägten Pädagogik etwas entgegensetzten. Zu diesen zählte sie eine Erziehung, die die Bedürfnisse der Kinder ignorierte und damit zu Kälte und Bindungslosigkeit erzog. In der Praxis wandte sie sich insbesondere gegen rigide Zeitpläne in der Erziehung, die die Bedürfnisse der Kinder beim Essen und Schlafen ignorieren. Seifert, 1932 geboren, stellte die antiautoritäre Erziehung in den Kontext der Auseinandersetzung mit ihrer Elterngeneration. Die antiautoritäre Erziehung sei eine „Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Lebensabschnitt der Eltern […], denn wir sind in diesem Abschnitt auf die Welt gekommen. In diesem Sinne sind wir ‚Hitlers Kinder‘.“ 24 Die Frage, wie das mit den Nazis passieren konnte, sei die ‚bestimmende Frage ihres Lebens‘. Für Seifert war Wilhelm Reichs ‚Beitrag zur Erklärung autoritären Verhaltens‘ unersetzlich, seine Tabuisierung am Institut erschien ihr problema22 Zu Reichs Rezeption in der Pädagogik vgl. Sager 2008. 23 Vgl. Berndt 1999, S. 130, HB-1. 24 Ebd., S. 130.
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tisch. 25 Um eine Wiederholung von Auschwitz zu verhindern, maß sie, ähnlich wie Adorno, der Erziehung, insbesondere der Erziehung in der Frühen Kindheit, eine entscheidende Bedeutung bei. Die „Wiederholung zu durchbrechen, individuell und politisch, dazu muss eine Veränderung in der Situation von Kindern kommen“, 26 erklärte sie. Die Erziehung in einem ‚freien Kindergarten‘, so Seifert 1969 in einem Artikel in „Konkret“, müsse sich ‚primär am Glück der Kinder‘ orientieren. Dazu müssten drei Bedingungen erfüllt sein: „1.
Das Kind muss sein Bedürfnis frei äußern und selbst regulieren können.
2.
Das Kind muss ohne Schuldgefühle […] in frei begründeter Rücksichtnahme aufwachsen können.
3.
Das Lernen muss primär von den Fragen des Kindes ausgehen und nicht auf einem für das Kind notwendig abstrakt erscheinenden Programm beruhen.“ 27
Benannt werden hier Bedingungen des kindlichen Glücks, die eine Ermächtigung und Handlungsfähigkeit (agency) seitens des Kindes voraussetzen. Das ‚Glück der Kinder‘ sowie die ‚Rücksichtnahme‘ gegenüber Kindern standen im Zentrum ihres pädagogischen Konzeptes und nicht Befehle und Gehorsam als Tugenden des so genannten ‚autoritären Charakters‘. Die grundsätzliche Intention ist dabei anspruchsvoll, denn Ziel der ‚neuen Erziehung‘ ist nichts weniger als der kritikfähige, vor allem aber der ‚genussund liebesfähige Mensch‘ − ein ‚kultiviertes‘ Körpergefühl und Sexualität eingeschlossen –, denn nur dieser, so die Hoffnung, muss andere nicht (mehr) unterwerfen und unterdrücken. 28 Dass bei dem Bemühen um eine kindliche Sexualerziehung der Neuen Linken nicht immer hinreichend zwischen kindlicher und erwachsener Sexualität unterschieden wurde, hat die neuere Diskussion um ‚Pädophilie und die Neue Linke‘ gezeigt. 29 Dies bezieht sich jedoch, nach allem was wir historisch wissen, nicht auf die Kinderschule von Monika Seifert. Seiferts theoretische Referenzen, um es noch einmal zusammenzufassen, sind die Psychoanalyse sensu Reich sowie der reformpädagogische Ansatz des Engländers Neill, der seinerseits von Reich inspiriert war. Wir haben es also mit der Rezeption von Theorien und pädagogischen Konzepten aus der Vorkriegszeit und deren transnationalen Reisen zu tun. Wich-
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Ebd., S. 131. Seifert 1993, S. 72. Seifert 1969, zitiert nach Berndt 1999, S. 132. Vgl. Seifert 1971, S. 171. Vgl. Baader 2012c, insbesondere S. 90-95.
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tige Stichworte gaben zudem die Arbeiten des Frankfurter Institutes für Sozialforschung, insbesondere die ‚Studien zum autoritären Charakter‘ (1949/50). Darüber hinaus findet sich bei der psychoanalytisch geschulten Seifert und ihren Mitstreiterinnen in der Frankfurter Kinderladenbewegung jene für Teile der Gegenkultur charakteristische Perspektive auf das Selbst: Die Veränderung des Selbst und die Arbeit am Selbst werden in einen politischen und gesellschaftlich emanzipativen Kontext eingerückt. „Sich selbst verändern, um die Gesellschaft zu verändern, die Gesellschaft verändern, um sich selbst zu verändert“, 30 so hatte es bekanntlich das prominente Berliner Kommune I-Mitglied Fritz Teufel formuliert. Bei Seifert wurde dieses Projekt zugleich zu einem Erziehungsprojekt, bei dem nicht nur die Kinder ‚anders‘ erzogen werden, sondern vor allem auch die Eltern sich durch Selbstreflexion verändern sollten. ‚Glück‘ und Erziehung zur ‚Glücksfähigkeit‘ geraten in einen politischen Kontext, weil das glücksfähige Individuum andere nicht unterdrückt, so die grundsätzliche Position.
4. 1968: Ein Anspruch auf Glück im Hier und Jetzt Auch in Berlin entstanden in den ersten Monaten des Jahres 1968 so genannte ‚Kinderläden‘. Diese Initiativen gingen zunächst von Frauen des ‚Aktionsrates zur Befreiung der Frauen‘ Anfang 1968 aus. Zu diesem Zeitpunkt wurde der ‚Aktionsrat‘ aus dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) heraus und in enger Verbindung mit der Gründung der Kinderläden ins Leben gerufen. Während Seiferts ‚Kinderschule‘ primär auf das ‚Wohl‘ und ‚Glück der Kinder‘ zielte, ging es bei den Kinderläden des Berliner ‚Aktionsrates‘ stärker um die Verbindung von Frauen- und Kinderfrage. Frauen wollten nicht mehr alleine in der Privatheit der Familie für die Erziehung ihrer Kinder zuständig sein. Das Experimentieren mit neuen Erziehungsformen war deshalb auch eng mit neuen Lebensformen wie Wohngemeinschaften und Kommunen verbunden und speiste sich aus der Kritik an der traditionellen bürgerlichen Kleinfamilie. Auch in diesem Zusammenhang findet sich die Forderung nach ‚Glück‘, dabei ging es vor allem um Vorstellungen von einem glücklicheren Leben für Frauen. Mit diesem Anspruch auf ‚Glück‘ war zugleich ein neuer Begriff des Politischen verbunden, der unmittelbar auf Fragen der Lebensformen zielte und in der Formulierung: „Das Private ist politisch“ seinen Ausdruck fand. 31 Die Frauen des ‚Aktionsrates‘ postulierten in einer Erklä30 Fritz Teufel o.J., zitiert nach Siegfried 2008, S. 19. 31 Vgl. Baader 2008a;b; Baader 2011a.
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rung, die sich explizit gegen das Politikverständnis des SDS richtete: „Es gilt Privatleben qualitativ zu verändern und diese Veränderung als politische Aktion zu verstehen.“ Dies wird dann explizit als ‚kulturrevolutionärer Akt‘ bezeichnet. 32 Die Revolution sei weniger eine Frage der Machtübernahme als eine Frage der ‚Verwirklichung‘ dessen, was jetzt schon als ‚Gegengesellschaft‘ möglich sei. Man könne und wolle dies nicht auf die Zukunft verschieben und nicht auf die Zeit nach der Revolution warten, so die Sprecherin des ‚Aktionsrates‘, Helke Sander, im September 1968 in ihrer berühmten Rede auf der Delegierten-Konferenz des SDS. 33 Dort wandte sie sich gegen die Usurpation der Berliner Kinderläden durch den männlich besetzten ‚sozialistischen Zentralrat‘ und die politische Instrumentalisierung der Kinderläden – flankiert von dem berüchtigten Tomatenwurf. 34 Den Anspruch auf Glück zur gesellschaftlichen Aktion werden zu lassen sei in besonderer Weise eine Aufgabe der Frauen, denn nur sie seien interessiert genug, dass sich etwas ändere, so heißt es in der erwähnten „Erklärung des Aktionsrates zur Befreiung der Frauen“. 35 Frauen mit Kindern seien diejenigen, von denen die größte Kraft zur Veränderung ausgehe, denn sie seien mit ihrem Leben am unzufriedensten, so die Argumentation. 36 Mit dieser Perspektive ist zugleich eine Kritik am überlieferten sozialistischen Revolutions- und Politikkonzept verbunden. Nicht nur werden Frauen mit Kindern zum treibenden Subjekt gesellschaftlicher Veränderung erklärt, sondern es wird ein Konzept von ‚Counterculture‘ entwickelt, das sich auf den Alltag richtete, und auf die Veränderung von Lebensformen sowie von Alltagskultur setzte. Das Projekt eines ‚alternativen Alltags‘, 37 das das ‚Gegenmilieu‘ auszeichnete, wurde wesentlich von Frauen vorangetrieben, denn sie formulierten ein Recht auf individuell befriedigendere Lebensformen, symbolisiert in der Formel vom ‚Glück im Hier und Jetzt‘. 38 Dass mit jenen Forderungen nach neuen Lebensformen zugleich eine fundamentale Umdeutung der Sphäre des Politischen verbunden war, wurde 1969 im ‚Kursbuch‘, dem Selbstverständigungsorgan der Neuen Linken, kommentiert und reflektiert. Zur Beschreibung der neuen linken Bewegung würden die traditionellen politischen Emanzipationsprogramme nicht mehr ausreichen. Nach herkömmlichem Politikverständnis würde ‚ein eigentümlich unpolitisches Moment‘ das ‚politische Movens der jungen Linken‘ ausma32 Vgl. Berliner Kinderläden 1970, S. 56 (Erklärung des ‚Aktionsrates zur Befreiung der Frauen‘). 33 Siehe dazu auch Verlinden 2011. 34 Vgl. Sander 1968/2004. 35 Vgl. Berliner Kinderläden 1970, S. 56. 36 Vgl. Sander 1968/2004. 37 Siegfried 2006, S. 67. 38 Vgl. Baader 2011a; Baader 2012b.
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chen. Es sei nicht der Wille, ‚Machtpositionen‘ zu erkämpfen, oder die ‚Macht im Staate‘ zu erringen, „sondern es ist der Wunsch, ein individuell befriedigenderes Leben zu leben, der die Jungen zum Protest auf die Straße treibt“. 39 Es gehe um die Veränderung der Lebensbedingungen. Die ‚Revolutionierung der Verhältnisse‘ soll sich gerade auch in den privatesten Bereichen, in den familiären Beziehungen und in der Kindererziehung zum Besseren auswirken. 40 Theoretisch wurde bei diesen – im engeren und traditionellen Sinne des Politischen – unpolitischen Forderungen der ‚Counterculture‘ nach einem befriedigenden Leben und individuellem Glück an die Psychoanalyse angeknüpft. Neben den Ideen von Wilhelm Reich waren es insbesondere auch diejenigen des deutsch-amerikanischen Philosophen Herbert Marcuse. Seine Ideen und Interpretationen reisten als ‚travelling protesting ideas‘ über den Atlantik und lieferten den protestierenden Studenten in den USA wie denjenigen in der BRD wichtige Stichworte. 41 Er war derjenige Intellektuelle, „der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, eine Verbindung zwischen der amerikanischen und deutschen Neuen Linken herzustellen“ 42 . Für den Schüler Husserls und Heideggers, der insbesondere auch Texte der deutschen Klassik, Romantik und des deutschen Idealismus neu interpretierte, 43 ist das Ziel einer besseren und vernünftigeren Gesellschaft dann erreicht, wenn „die Freiheit und das Glück in den gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen an erster Stelle stehen“. 44 Dies setzt eine anthropologische Sicht auf den Menschen voraus, die sowohl Freiheit als auch Glück als gesellschaftlichen Zustand von Dauer für denkbar hält. Diese Perspektive entwickelte Marcuse durch eine Kritik an Freuds ‚Unbehagen in der Kultur‘, wie er sie in seiner Schrift ‚Eros and Civilisation‘ (1957) entfaltet hat. Die Forderung nach einer Gesellschaft, die ‚Freiheit und Glück‘ an erste Stelle setzt, basierte auf einer Revision der Freudschen Psychoanalyse. In seiner Lesart befreit Marcuse die Psychoanalyse von ihrer grundsätzlich skeptischen Anthropologie und hebt damit das Freudsche Spannungsverhältnis von Kultur bzw. Gesellschaft einerseits und Triebbefriedigung – also von Freiheit und Glück – andererseits, tendenziell auf. Bei Freud ist der Mensch grundsätzlich nicht über einen längeren Zeitraum glücksfähig, vor allem aber trägt der Glückliche nicht zur kulturellen Produktivität bei. 39 Vgl. Berndt 1969, S. 132. 40 Vgl. ebd. 41 Marcuse lehrte Politologie in San Diego (Kalifornien), hatte 1967 Lehraufträge in der FU Berlin und wurde vom SDS auf einen Vietnam-Kongress im Mai 1968 nach Frankfurt eingeladen. Seine Schriften zur „Repressiven Toleranz“ (1965) und zum „Eindimensionalen Menschen“ (engl. 1964; dt. 1967) wurden von der deutschen Studentenbewegung breit rezipiert. 42 Gilcher-Holtey 2001, S. 39. 43 So etwa Texte von Hegel, Schiller, Baumgarten und Novalis. 44 Marcuse 1965, S. 112.
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Bezug genommen wurde also bei dem Anspruch, ‚Glück‘ gesellschaftlich zu ermöglichen und dem Nachdenken über Glück auch eine politische Dimension zu verleihen, auf zwei psychoanalytisch inspirierte Konzepte, dasjenige von Wilhelm Reich wie das von Marcuse. Beide befreiten die Freudsche Anthropologie von ihrem grundsätzlichen Skeptizismus und politisierten sie damit.
5. Der Streit um das Glück im Kontext von 1968 und der Neuen Frauenbewegung I. Anpassung an den Kapitalismus Die Erziehung zur Glücksfähigkeit ist nicht nur das erklärte Ziel von Seiferts Frankfurter Kinderschule, sondern durchzieht insgesamt die Debatten um die Erziehung in den Kinderläden, deren grundsätzliches Ziel als ‚Glück der Kinder‘ beschrieben wurde. 45 Gleichwohl war das Glück auch immer wieder Gegenstand von Kontroversen in den Kinderläden: Dies ist eine von mehreren Konfliktlinien, die sich rekonstruieren lassen. Anlass für den Streit bot das Buch von Alexander S. Neill über Summerhill, das 1969 in Deutschland unter dem Titel „Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung“ veröffentlicht wurde und hohe Auflagenzahlen erreichte. Ursprünglich war das Buch 1960 in einem US-amerikanischen Verlag erschienen und trug den Titel „Summerhill. A radical Approach to child rearing“. Neill bezeichnete Summerhill als Schule, „in der Kinder zu glücklichen Menschen erzogen werden“, 46 was für ihn vor allem auch hieß, sie von ihrem ‚Unglücklichsein zu heilen‘. Glückliche Menschen seien keine Störenfriede, würden keine Kriege predigen und ‚keine Neger lynchen‘ und „eine glückliche Frau nörgelt nicht an ihrem Mann oder ihren Kinder“. 47 Kurzum: Glückliche Menschen werden hier als sozialverträglich geschildert. 48 Auch Erich Fromm betont in seinem Vorwort 1969, das Ziel der Erziehung in Summerhill sei, „mit Freude zu arbeiten und glücklich werden zu können“. Glücklichsein sei für Neill gleichbedeutend mit ‚am Leben interessiert sein‘. Fromm formuliert dies dann noch mal mit eigenen Worten „Glücklichsein heißt, auf das Leben nicht nur mit dem Verstand, sondern mit der ganzen 45 46 47 48
Vgl. Weber 1974, S. 3. Neill 1969, S. 20. A.a.O. Damit knüpft Neill an die Anthropologie Rousseaus an. Auch dieser bemerkt: „nur wenn der Mensch unglücklich ist, wird er böse“ (vgl. Rousseau 1762/1989, S. 488).
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Persönlichkeit zu reagieren“. 49 Damit wird die emotionale Dimension der Erziehung zur Glücksfähigkeit unterstrichen. Bei dem reformpädagogisch inspirierten Neill selbst taucht im Kontext seiner Statements zur Glücksfähigkeit noch ein weiteres Argument auf, das ihn mit der Reformpädagogin Key verbindet. Neill betont, dass die Erziehung zur Glücksfähigkeit sich auch gegen die christliche Idee von der Sündhaftigkeit wende: „Eines Tages wird eine neue Generation Religion und Mythen unserer Zeit als veraltet über Bord werfen. Wenn dann eine neue Religion entsteht, wird sie mit der Vorstellung, der Mensch werde in Sünde geboren, gründlich aufräumen. Sie wird Gott verehren, indem sie die Menschen glücklich macht“. 50
Glücksorientierung erscheint damit quasi als Charakteristikum einer ‚neuen Religion‘, die sich gegen tradierte christliche Vorstellungen von der Sünde richtet. 51 Das Buch von Neill wurde in fast allen Kinderläden im Kontext von 68 gelesen, aber an ihm entzündeten sich Konflikte zwischen marxistisch-dogmatischen Gruppen, die ‚eine Erziehung zur Revolution‘ verfolgten, und antiautoritär-liberalen Vorstellungen, die eine ‚Revolution der Erziehung‘ im Blick hatten. Die Geister spalten sich u.a. in der Glücksfrage. Neills Gegner unterzogen seine ‚Erziehung zum Glück‘ einer ausführlichen Kritik: „Unternehmer können sich glücklich schätzen, wenn von Neill erzogene glückliche Arbeitnehmer bei ihnen Arbeit nehmen, denn sie seien gute Arbeiter […], ein besseres Erziehungsrezept kann sich eine kapitalistische Gesellschaft gar nicht ausdenken. Neills Methode wird irrtümlicherweise revolutionär genannt und es wird Zeit, dass man ihr diesen Makel nimmt“, 52
so etwa die Position des Berliner Zentralrates der sozialistischen Kinderläden. Die marxistischen Kritiker warfen Neill also vor, dass er unpolitisch sei, und entgegneten, dass glückliche Menschen angepasste Menschen, da für den Kapitalismus nützlich, seien. Diese Sicht war zugleich mit einer Distanzierung von der Freudschen Psychoanalyse verbunden und findet sich in radikalisierter Perspektive etwa in den Positionen zur Kindererziehung des Kieler SDS im Jahre 1969. Dort distanziert man sich sowohl von der antiautoritären Erziehung als ‚Erziehungsmethode im Spätkapitalismus‘ als auch von der Psy49 50 51 52
Fromm 1969, S. 14. Ebd., S. 16. Zur Religiosität der Reformpädagogik vgl. Baader 2005. Breiteneicher et al. 1971, S. 46ff.
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choanalyse. Eine Broschüre zur Vorschulerziehung wird mit den Worten eröffnet: „Diese Broschüre muss sein und ist: ein Schlag ins Gesicht all derjenigen, die glauben, sich mit psychoanalytischen Handwerkeleien einen Teil ihres verloren gegangenen Glücks zurückzuholen“ und „nun auch ihre Kinder dort hineinziehen wollen“. 53
In dieser orthodox-marxistischen Perspektive wird ein Gegensatz zwischen individuellem Glück, Psychowissen und Politik konstruiert, der sich dezidiert gegen die Sicht vom ‚Privaten des Politischen‘ positioniert. Hier lässt sich unmittelbar an das eingangs aufgeführte Zitat aus Schneiders „Lenz“ anschließen, wonach Karl Marx sich gerade nicht für das persönliche Glück der Individuen interessiere.
II. Die Illusion von der ‚glücklichen Kindheit‘ als Falle für die Frauen Die Forderung nach einer glücklichen Kindheit wird um 1970 jedoch noch von anderer Seite kritisiert, nämlich im Kontext transnational geführter Debatten um den Feminismus und die Frauenbewegung. Die kanadische Feministin Shulamit Firestone, die neben Betty Friedan und Kate Millet zu den drei prominenten Theoretikerinnen der ersten Stunde des internationalen Feminismus der 1960er Jahre gezählt wird, hat in einem bemerkenswerten Artikel „Nieder mit der Kindheit“, der in der Bundesrepublik 1973 im „Kursbuch“ erschien, auf den Zusammenhang zwischen der ‚Unterdrückung von Frauen‘ und ‚der Unterdrückung von Kindern‘ verwiesen. 54 Der Text ist Firestones Buch „The dialectic of sex“ von 1970 entnommen. Frauen wie Kinder, so Firestone, werden im Privatraum der Familie von der restlichen Gesellschaft isoliert. Bei ihrer Argumentation beruft sich Firestone – wissenschaftsgeschichtlich interessant – auf Ariès Untersuchung „La vie familiale sous l´ancien Regime“, die der Mentalitätshistoriker 1960 in Frankreich vorlegte und die 1962 in englischer Sprache als „History of childhood“ erschien. Das Kindheitsglück entlarvt Firestone als zentrales Element einer ‚modernen Kindheitsideologie‘. Sie führt aus: „Das Schlüsselwort der modernen Kindheitsideologie lautet: Glück. Man ist nur einmal Kind, das macht´s. Kinder müssen lebende Verkörperung des Glücks sein (trotzige, traurige oder gestörte Kinder fallen sofort in Ungnade; sie strafen den Mythos Lügen), 53 Kommunistische Erziehung 1969, S. 1. 54 Vgl. Holland-Cunz 2003, S. 141.
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Meike Sophia Baader alle Eltern haben die Pflicht, ihren Kindern eine Kindheit zu geben, an die sie sich gerne erinnern. […] Eine wichtige Stütze dieses Mythos ist die anhaltende Absonderung der Kinder von der übrigen Gesellschaft […]. Der Mythos des Kindheitsglücks blüht nicht deshalb so üppig, weil er etwa die Bedürfnisse der Kinder befriedigte, sondern weil er die Bedürfnisse der Erwachsenen erfüllt.“ 55
Firestone unterstreicht den Zusammenhang zwischen Weiblichkeitsentwürfen und Kindheitskonstruktionen. In allen Programmen der Frauen-Revolution sei die ‚Unterdrückung der Kindheit‘ zu berücksichtigen. 56 Die „Beseitigung gerade jener Bedingungen von Weiblichkeit und Kindheit“ verlange eine „Allianz der Unterdrückten“ 57, so die Feministin Firestone. 58
6. Resümee Die Auseinandersetzung um das Glück und die Frage nach der Erziehung zur Glücksfähigkeit sind Elemente der Geschichte des Selbst und seiner Emotionen in der Moderne. Sie verweisen auf die Auseinandersetzung mit antiken Tugend- und Moralvorstellungen, vor allem aber auf Säkularisierungsprozesse und auf die Ablösung von christlich geprägten Vorstellungen, für die wahres Glück vor allem im Jenseits verortet war. Dabei fällt auf, dass irdische Glücksansprüche noch bis in die 1960er Jahre von jenseitigen Heilserwartungen der christlichen Tradition abgegrenzt werden. Das in der bundesrepublikanischen ‚Gegenkultur‘ um 1970 – insbesondere von Frauen – formulierte ‚Recht auf Glück im Hier und Jetzt‘ wird auf Erziehungsverhältnisse übertragen, die damit Teil der ‚Neuen Subjektivität‘ wurden, indem Kinder bewusst lernen sollten, ihre eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und diesen Ausdruck zu verleihen. Die Aufforderung, dass Kinder ihre Bedürfnisse und Emotionen formulieren sollten, ist zugleich Ausdruck einer Psychologisierung des Kindes. Die Glücksansprüche der ‚Gegenkultur‘ sind Element ihrer Alltagsorientierung, die psychologische Aspekte einbeziehen und so Teil haben an der Psychologisierung des Selbst in der Moderne. 59 Schließlich hängt der historische Siegeszug der Psychoanalyse
55 56 57 58 59
Firestone 1973, S. 14f. Vgl. ebd., S. 24. A.a.O. Siehe hierzu auch Baader 2011b. Vgl. Illouz 2009.
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– wie Illouz gezeigt hat – selbst wesentlich mit deren Alltagsorientierung zusammen. 60 Mit der antiautoritären Kinderladenbewegung wird Erziehung politisiert, aber sie wurde – dort wo sie nicht in den Dienst einer proletarischen Erziehung gestellt wurde – vor dem Hintergrund jener ‚Neuen Subjektivität‘, die das Private zum Politischen erklärte, politisiert. Theoretische Referenzen bildeten dabei verschiedene psychoanalytische Ansätze der Erziehung. 61 Dort, wo die Psychoanalyse grundsätzlich dazu beitragen sollte, Entwürfe einer anderen Gesellschaft zu legitimieren, die sich an der Freiheit und dem Glück des Einzelnen ausrichtet, wie etwa bei Herbert Marcuse, wurde die Psychoanalyse ihrer skeptischen Anthropologie entledigt. Die Forderung nach einem ‚Recht auf Glück‘– verbunden mit psychoanalytischen Theorien und Ansätzen, die zu einem befreiteren Selbst beitragen sollten – markierten die Differenz zu einer orthodox-marxistischen bzw. zur kommunistischen Erziehung. Die Lektüren freudo-marxistischer Erziehungstheoretiker aus der Vorkriegszeit, von Wera Schmidt (Moskauer Kinderheim Laboratorium, 1924/1968), von Siegfried Bernfeld (Sisyphos, 1925/1967/1969) oder auch des an Alfred Adler orientierten Otto Rühle (Die Psychologie des proletarischen Kindes, 1925/1969) gingen im Kontext der antiautoritären Kinderladenbewegung bemerkenswerte – in systematischer Hinsicht teilweise unzulässige – Amalgamierungen mit der ‚Neuen Subjektivität‘ ein, die sich auch als Hybride bezeichnen lassen. 62 Sie wurden ergänzt durch neuere psychoanalytische Lektüren – etwa von Erik Erikson (Kindheit und Gesellschaft, 1961), Horst Eberhard Richter (Eltern, Kind, Neurose, 1963; Die Gruppe 1972; Lernziel Solidarität 1974) oder von Michael Balint. Vor allem aber gingen diese psychoanalytischen Lektüren spezifische Verbindungen mit neuen Lebensformen – insbesondere Kommunen, Alleinerziehenden und pluralisierten Familienformen – sowie international geführten sozialwissenschaftlichen Debatten um kompensatorische Erziehung, Sozialisation und Familie ein. Anders als die Historikerin Miriam Gebhardt in ihrem Buch zur Geschichte der frühkindlichen Erziehung vertritt, 63 verweist das in der bundesrepublikanischen Kinderladenbewegung vertretene Recht der Kinder auf eigene Bedürfnisse und Emotionen durchaus auf neue Subjektkonstruktionen und Sub-
60 Vgl. ebd. 61 Kauders diskutiert die Politisierung der Psychoanalyse im Umfeld von 1968 als deutsches Phänomen, vgl. Kauders 2012. Zur „Wieder-Entdeckung der Psychoanalyse“ in der Pädagogik um 1968 siehe auch Bilstein 2008. 62 So wurde der Begriff antiautoritär weder von Bernfeld noch von Schmidt verwendet. (vgl. Baader 2010). 63 Vgl. Gebhardt 2009, S. 172.
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jektivierungsformen sowie eine veränderte Sicht auf das Kind. 64 Die Kinderladenbewegung ist in sich äußerst heterogen, ihre Einschätzung hängt von den Quellen, der Bewertung der historiographischen Narrative ehemaliger Akteure und deren Selbstdeutungen, sowie von dem in den Blick genommenen Zeitraum ab. In der einschlägigen Literatur wird die Kinderladenbewegung von 1967-1977 datiert und kann keinesfalls als homogen betrachtet werden. 65 Dass es in der Praxis der Kinderläden gleichwohl oft mehr um die Selbstthematisierung der Erwachsenen, um ihre Bedürfnisse und Emotionen ging, als um die Kinder, ist Teil ihrer Geschichte, genauso wie der Umstand, dass Erziehung hoffnungslos überfrachtet wurde, indem sie das intime, das befreite, das kritikfähige sowie das politische Selbst hervorbringen sollte. Insgesamt ist die Geschichte der antiautoritären Kinderladenbewegung auch eine Geschichte verkürzter Sozialisationskonzepte und überfrachteter Visionen. Das Recht auf (eine Erziehung zum) Glück ist dabei umstritten. Für orthodoxe Marxisten ist es Teil einer Anpassungsstrategie an gesellschaftliche Verhältnisse, für Vertreterinnen einer undogmatischen Neuen Linken (Monika Seifert) und in den Anfängen der neuen Frauenbewegung in der Bundesrepublik (Helke Sander) ist es mit Hoffnungen auf Gesellschaftsveränderungen und Immunisierungen gegen den Faschismus verbunden. Dabei geht es Seifert um das Recht der Kinder, Sander und ihrem Umfeld hingegen mehr um das der Frauen. Für internationale Vertreterinnen der neuen Frauenbewegung wie Shulamit Firestone ist die Rede vom ‚kindlichen Glück‘ schließlich Teil einer kritisch beleuchteten Anrufungspraxis, da sie Frauen auf ihre Mutterrolle verpflichtet. Das kindliche Glück wird um 1970 im Kontext Neuer sozialer Bewegungen kontrovers verhandelt, aber für die Frage nach der Selbstermächtigung von Kindern und Frauen sowie von Müttern wird dem Glück eine Bedeutung beigemessen. Für Monika Seifert ist es zudem unmittelbar mit der Praxis einer psychoanalytisch begründeten Sexualerziehung verknüpft. Erziehungsgeschichtlich ist damit die Gegenposition zu Rousseau markiert, der den Zustand ‚natürlicher Heiterkeit‘ des zehn- bis zwölfjährigen männlichen Kindes gerade in der Abwesenheit der Triebe sieht. Dass Kindheit und Glück mit einer psychoanalytisch inspirierten Sexualaufklärung in Verbindung gebracht werden, ist ein Moment des historisch Neuen an der Rede über das kindliche Glück im Kontext von 1968. 66 Um 1970 wird die Glücksfähigkeit des Kindes Teil seiner agency, auch wenn der Zusammenhang von Kindheit und Glück aus unterschiedlich motivierten politischen Perspektiven – einer radikal gesellschaftskritischen und einer feministischen – als Element eines Mythos bezeichnet wird. Die feministische Kritik richtet den Fokus dabei auf einen Aspekt, der sich auch aus einer kindheitshistorischen Perspektive aufdrängt, nämlich die 64 Siehe dazu ausführlich Baader/Sager 2010. 65 Vgl. Jansa 2000; Baader 2008c; Baader/Sager 2010. 66 Siehe dazu auch Sager 2010.
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enge diskursive Verbindung von kindlichem und mütterlichem Glück. Für eine kindheits- und familienhistorische Forschung ist die Frage nach dem kindlichen Glück in der Moderne ein lohnenswertes und weiter zu beforschendes Thema. Die Lektüren und Rezeptionen von Rousseau, Key, Neill, Marcuse, Ariès und Firestone machen dabei deutlich, dass es sich bei der Frage nach dem kindlichen Glück in der Moderne auch um transnational geführte Debatten handelte.
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Das Recht auf Glück im Hier und Jetzt
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E V A M A R IA K O H L
Das langgestreckte Wunder Anmerkungen zu einem Kinderbuch
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I. Im Sommer 2006 erscheint im Rostocker Hinstorff Verlag ein Bilderbuch in Form eines Leporellos, das – aufgeklappt – auf die beträchtliche Länge von über zwei Metern kommt. Wenn man es von vorn und von hinten liest, kommt man sogar auf über vier Meter Text und Bild. Das ist ein schöner Spaß für Kinder und auch erwachsene Leser. Worum geht es? Da liegt ein Mann in seinem kleinen Garten und spürt plötzlich, wie seine Beine zu wachsen anfangen. ‚Ich wachse noch‘, freut er sich. Die Beine wachsen hinüber ins Kohlrabibeet des Nachbarn, erreichen in Aufsehen erregender Disziplinlosigkeit die Schule, flitzen übers Fußballfeld und quer durch die Stadt und immer, immer weiter. Wörtlich heißt es an dieser Stelle: Die ganze Stadt war auf den Beinen, um dem langgestreckten Wunder hinterherzuwandern. Sie gelangten auf einen Berg, der war grün. Sie gelangten auf einen Berg, der war kahl. Sie gelangten auf einen Berg, der war Müll. ‚Was für ein schönes Land!‘ rief der Lehrer. Die Beine aber hielten auf einen Pfosten zu, hinter dem das Land zu Ende war. ‚Halt‘, rief der Posten am Pfosten, doch die Beine wuchsen und wuchsen. ‚Übertreibt es nicht‘, baten die Leute, doch die Beine wuchsen noch immer, obwohl sie keine Genehmigung zur Durchfahrt bei sich hatten. ‚Das ist ja zum Schießen‘, sagte der Posten am Pfosten. Da stießen die Füße den Posten samt Pfosten einfach um. ‚Au‘, sagte der Posten am Pfosten. ‚Au‘, sagte im Garten der Mann. Die Röhren aber fuhren triumphierend ins Nachbarland ein. Und alles, was Füße hatte, lief mit ihnen mit. Und die Leute von hüben und drüben betrachteten einander und sprachen: ‚Na, wir sind ein Volk.‘ ‚Wem gehören die Beine?‘ fragte der Bundeskanzler. Keiner meldete sich. 2 ‚Irgendwem müssen die Beine doch gehören!‘, wiederholte der Bundeskanzler. 1
2
Der Vortrag wurde anlässlich des Festcolloquiums zum 60. Geburtstag von Pia Schmid „Lebensgeschichte(n) – Gemeinschaften – Visionen. Historische Perspektiven auf die Bildung des Subjekts“ an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg am 13. Mai 2011 gehalten. Rosenlöcher 2006.
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Der Bundeskanzler erklärt die Dinger zur Chefsache und möchte sie gut bewacht wissen. Nur davon halten die Beine gar nichts. Sie laufen einfach weiter und suchen das Land, in dem sie sich selbst gehören können. Der Mann aber liegt noch immer in seinem Garten, ist in die Betrachtung des großen Himmels vertieft und verspürt plötzlich einen heftigen Schlag gegen seinen Hinterkopf. Die Geschichte endet: ‚Ach, da sind sie ja!‘ rief er und fasste rasch hinter sich, um die Füße festzuhalten. Und lag so eine Weile da, die Füße in der Hand, indes die Beine den Erdball umspannten. Und wieder sah er zum Himmel empor, ein schmerzliches Ziehen im Hals. Denn schon war der Hals etwas länger geworden, so dass der Kopf überm Garten3 zaun schwebte.
Für die erwachsenen Leser sind der Sprachwitz und die skurrilen Anspielungen des Autors auf die Wendezeit und den Sommer 1989, als DDR-Bürger massenhaft über Ungarn das Land verließen, nicht zu übersehen. „Das Bild der DDR als Garten, der zugleich schützt und einschließt“, ist bekannt, schreibt Gundel Mattenklott in einer Rezension für die FAZ, „und dies und manch anderes braucht das betrachtende Kind nicht zu verstehen“, aber es wird sich „an den Slapsticks in Handlung und Bild freuen“. 4 Völlig zu Recht verweist Mattenklott darauf, dass Kinder solche „Phantasien entschiedener Albernheit“ 5 sehr mögen und es lieben, konsequent bis zum grotesken Ende etwas zu durchdenken. Ich habe diese Entschiedenheit oft in von Kindern geschriebenen freien Texten finden können und könnte jetzt viele Beispiele aus unserem ‚Archiv für Kindertexte‘ bringen, wo solche Texte zu finden sind. Ich zitiere nur einen einzigen, einen Satz langen Text, der dennoch eine ganze Geschichte ist: Katharina, 8 Jahre: 6 „Eines Tages aß sich das Nudelpferd selbst auf.“
II. Zurück zur entschiedenen Albernheit und dem Grotesken im Text von Thomas Rosenlöcher, über den man sich im Sommer 2006 freut, dass er nun also anzufangen scheint, ein Kinderbuchautor zu werden und damit Kind3 4 5 6
Ebd. Mattenklott 2006. Ebd. Kohl 2005, S. 28.
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lichkeit zu inszenieren. Wie schon viele andere Bilderbuchkünstler der letzten fünfzehn Jahre trägt er etwas zum Aufbrechen der Erzählformen bei und natürlich ist am Erfolg des Bilderbuches auch die Illustratorin Jacky Gleich beteiligt, so dass dieses Bilderbuch wie manche andere zum Sammelobjekt für Kunstliebhaber werden kann und damit den Adressatenkreis des eigentlich traditionell Kleinkindern vorbehaltenen Bilderbuches immer mehr zu verändern scheint. Ich verzichte darauf, mich mit den erfreulichen Wandlungen der Subgattung Bilderbuch zu befassen, um einem anderen Gedanken ausführlicher folgen zu können. Die politischen Anspielungen im Text schätzt der erwachsene Leser, weil er vielleicht Rosenlöchers Dresdner Tagebuch aus der Wendezeit „Die verkauften Pflastersteine“ (1990) gelesen hat oder auch seinen Band „Ostgezeter“ (1997) oder das Reisetagebuch „Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern“ (1991), eine Harzreise auf den Spuren von Heinrich Heine. Der Mann aus der sächsischen Dichterschule wird gern mit einem anderen Lyriker aus Dresden verglichen, mit Erich Kästner. Und nun veröffentlicht Rosenlöcher also auch ein Buch für Kinder. Sein erstes. Und das genau stimmt so nicht. Die kleine Geschichte hat selbst eine Geschichte. „Das langgestreckte Wunder“ erschien zum ersten Mal 1989 im Kinderbuchverlag in Ostberlin. Es war ein kleines, heute schon etwas vergilbtes (was an der schlechten Papierqualität der Verlage in der DDR lag) Heftchen der Buchreihe „Minibücher“ mit der Nummer 35 im vokabelheftgroßen Format, 16 Seiten lang zum Preis von 1,25 Mark. Illustriert hat es Karl-Heinz Appelmann, ein bekannter Grafiker von Kinderbüchern aus dem Kinderbuchverlag. Auch dieser Text beginnt damit, dass einem Mann, der im Garten liegt, die Füße zu wachsen beginnen, und weiter geht es, wie oben schon gehabt: Die Füße biegen ins Klassenzimmer ein, bekommen für ihre Disziplinlosigkeit eine Fünf in Betragen (in der neuen Fassung eine Sechs), bringen die Schlange vor dem Konsum durcheinander, legen den Verkehr lahm und streben zum Fußballplatz. Die ganze Stadt bildet Spalier, um die unerklärlichen Röhren zu begrüßen. Und dann nimmt ein Vöglein auf den Füßen Platz und pickt den Mann in den großen Zeh. Die Füße stehen still und jagen zurück zu dem Mann hinterm Zaun und in seinen Garten. „‚Schade‘, sagten die Leute, denn endlich war hier einmal etwas los gewesen.“ 7 Mit diesem unverbindlichen Allgemeinplatz endet die Geschichte in der Fassung von 1989 im Kinderbuchverlag in Ostberlin.
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Rosenlöcher 1989.
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Was danach kommt und heute in der Fassung von 2006 gelesen werden kann, ist, wie Thomas Rosenlöcher mir mit schöner Übertreibung sagte, „mein gesamtdeutscher Roman“. Der banale Satz vom „endlich ist hier mal was los gewesen“ 8 ist für den Autor ein Kompromiss gewesen, für den er sich heute, wie er sagt, ein wenig schämt. Der eigentliche Schlusssatz, mit dem er den Text enden lassen wollte, „Morgen wachse ich weiter“, 9 wurde vom Verlag nicht akzeptiert, wäre nicht durch das Druckgenehmigungsverfahren gekommen und hätte damit ein Erscheinen des Büchleins verhindert. So endet das Büchlein mit dem Satz „Bestimmt wachsen sie morgen wieder ein Stück.“ 10 Nun mag man sich fragen, wieso das denn so ein gewaltiger Unterschied sein soll zu schreiben „Bestimmt wachsen sie morgen wieder ein Stück“ oder „Morgen wachse ich weiter“? Es ist das Drei-Buchstaben-Wort ICH, das so anstößig erschien, es ist die Frage nach dem Selbstbild und dem, was erlaubt und was nicht erlaubt war in der Literatur dieser zurückliegenden Epoche (wenn man dieses große Wort schon dafür benutzen darf, es sind genau 40 Jahre, über die man sprechen kann, wenn über die Literatur derer nachgedacht werden soll, die in der DDR gelebt und geschrieben haben).
III. Als sich der junge Autor Ende der achtziger Jahre auf den Weg in den Kinderbuchverlag macht, hat er bereits zwei Gedichtbände im Mitteldeutschen Verlag veröffentlichen können. Im ersten mit dem Titel „Ich lag im Garten bei Kleinzschachwitz“ (1982) findet sich auf S. 18 das Gedicht „ Die Verlängerung“. Hier hat das Bild vom Mann, der in seinem Garten liegt und dem die Füße zu wachsen beginnen, seinen Anfang. Ich lag in meinem Garten bei Kleinzschachwitz in einem Grün von niegesehnem Ausmaß und sah, nachdenkend über die Belange der unerhörten Rose und des Staates, hoch über mir den großen Tröster Himmel, als ich, kam das vom heftigen Nachdenken, 11 ein sanftes Ziehn in meinen Beinen spürte …. 8 9 10 11
Ebd. Ebd. Ebd. Rosenlöcher 1982, S. 18.
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Die Füße reisen weit, bis zum Brandenburger Tor, der Verkehr staut sich, die Regierung tagt, doch ehe die Füße mit Dynamit abgesprengt werden, stehen die Füße von selber still und der Mann in seinem Garten legt den Finger an die Nasenspitze und spricht bei sich: „Man muss bescheiden sein.“ 12 Jeder, der damals, eingesperrt in dieses kleine Ländchen DDR und mit kritischem Verstand und der rumorenden Sehnsucht im Herzen nach der großen weiten Welt versehen war und der seine Reise nicht nach Außen, sondern bestenfalls nach Innen und nach Unten, ins Vorher, ins Damals, also in die vielzitierte „Nische“ machen konnte, hat bei dieser letzten Verszeile Rosenlöchers böse auflachen müssen. Bescheiden sein? Das war blanke Ironie. Nur unter Lebensgefahr konnte man hinter die Mauer. Für Rosenlöcher und meine Generation (Rosenlöcher und mich verbindet das gleiche Geburtsjahr und der Umstand, dass wir beide unsere Kindheit und Schulzeit in Dresden verbracht haben) stand fest: Hinter die Mauer kamen wir nur im Traum, in den Worten und Versen und Bildern, die wir uns selbst schafften. Der Bau der Mauer ist für unsere Generation, scheint mir, tatsächlich zum Bewährungsmythos geworden wie für die vor uns Geborenen der Krieg, in den sie hineingeworfen wurden und der sie lebenslang prägte. Die den Krieg überlebt hatten, waren unsere Väter, und diese wiederum wurden zur Gründergeneration der DDR. Autoren wie Thomas Rosenlöcher, Uwe Kolbe, Richard Pietraß, Bernd Wagner, Irina Liebmann oder Thomas Brasch sind die Generation der in Ostdeutschland kurz nach dem Krieg geborenen und in ein totalitäres System hineinerzogenen Nachgeborenen. Sie hatten den Vätern ein für alle Mal dankbar zu sein für die Errungenschaften des Sozialismus, die sie für sie, die Kinder, erkämpft hatten. Die Kinder hatten rundum glücklich, dankbar und zufrieden zu sein. Der „Mythos von der glücklichen Kindheit galt den Politikern und Ideologen dieses Staates als eine ihrer großen Rechtfertigungen“, 13 schreibt die Erzählforscherin Kristin Wardetzky und geht noch einen Schritt weiter, indem sie ausführt, wie die Konstruktion dieses Mythos den erwachsenen Bürger in den Status eines Kindes zurückstuft, das dem Staat alles zu verdanken habe: „seine soziale Sicherheit, seine Zukunftsgewissheit, seine Sorglosigkeit … Die eigentlichen, übergeordneten Entscheidungen wurden von den Staats-Eltern getroffen. Den Kindern der Über-Eltern blieb es vorbehalten, die Gebote, Erlasse, Orientierungen und angebotenen Spielräume dankbar entgegenzunehmen und sich in ihnen einzurichten.“ 14 Einzurichten hatten wir uns – ich schließe mich noch einmal ein – im sozialistischen Kollektiv, in einem WIR, nicht in uns selbst, nicht in einem ICH. Im Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem der DDR 12 Ebd. 13 Wardetzky 2007, S. 193. 14 Ebd., S. 193.
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heißt es: „Der Bildungs- und Erziehungsprozess und das Leben der Schüler, Lehrlinge und Studenten sind so zu gestalten, dass sie im Kollektiv zum bewussten staatsbürgerlichen und moralischen Verhalten erzogen werden.“ 15 Das Ziel des „einheitlichen sozialistischen Bildungssystems“ bestand darin, Kinder zu „allseitig und harmonisch entwickelten sozialistischen Persönlichkeiten“ zu erziehen, „die bewusst das gesellschaftliche Leben gestalten, die Natur verändern und ein erfülltes, glückliches, menschenwürdiges Leben führen“. 16 Fröhlich sein und singen war das Motto, und so hieß auch eine Kinderzeitschrift der Pionierorganisation. „Kindliches Leid, kindliche Verzweiflung gehörten zu den gesellschaftlichen Tabubereichen.“ 17 Als Mitte der 1980er Jahre Theaterpädagoginnen in Ostberlin mit Kindern der 1. und 2. Klassen an Berliner Schulen im Rahmen einer Untersuchung zur Märchenrezeption von Grundschulkindern Gespräche führten und diese aufzeichneten, konnten sie in den unverschlüsselten Selbstaussagen der Kinder zeigen, wie viel Kummer und Wut und Trauer über missglückte ElternKind-Beziehungen die Kinder artikulierten. Die Gesprächsprotokolle sollten 1988 veröffentlicht werden, das Drucklayout war bereits fertig, aber die Druckgenehmigung wurde im letzten Moment verweigert. 1990 erschien eine Auswahl der kindlichen Gesprächsprotokolle unter dem Titel „Ins Tiefe springen“. Es ist heute antiquarisch noch zu bekommen. Wer das Nachwort von Kristin Wardetzky aufschlägt, mag sich wundern, warum darunter die Jahreszahl 1987 steht. Die Diskrepanz zwischen der Autorisierung des Vorwortes und dem offiziellen Erscheinungsjahr ist wieder eine Spur zu einer Geschichte, die der von Rosenlöchers Kinderbuch gleicht. Die Originale der Kinderprotokolle liegen übrigens heute vollständig im „Archiv für Kindertexte“, 18 Kristin Wardetzky hat sie uns zusammen mit den Materialien der Märchenuntersuchung überlassen.
IV. Das letzte Jahrzehnt der DDR wird nicht nur von der Generation, der Rosenlöcher angehört, als ein besonders dumpfes, stickiges, lethargisches beschrieben. Der Dichter, der da in seinem Garten in Dresden sitzt, spürt, wie seine 15 16 17 18
Vgl. Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem in der DDR. Ebd. Wardetzky 2007, S. 197. Forschungsstelle und Archiv für Kindertexte am Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
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Füße wachsen und rauswollen, hinter den Zaun, aber das geht nicht, sie müssen umkehren und hübsch bescheiden sein. Und so liegt er denn unterm blühenden Apfelbaum und beschreibt das unerhörte Blühen und das Weiß des Schnees und den Fluss und den Engel mit der Eisenbahnermütze und sich selbst. Er „steht im Hof und sieht die Weltgeschichte die geht voran und immer wieder schief Und wieder heißt es: vorerst noch verzichte… Lichtschluckend schöpft er Mut 19 Als käm die Zeit und alles würde gut…“
Die alte Stadt mit der Kirche, dem barocken Tanker, auf dem die Heiligen oben auf den Konsolen stehen, der Fluss, dessen Wasser wie eh und je dahin fließt und wie Lack glänzt, die Straßenbahnen, die sich durchs Gewühl pirschen wie Hirsche, und das Fußballspiel auf dem Rasen, das immer um 17 Uhr beginnt, 20 das sind in lyrischen Bildern immer wieder beschworene Haltepunkte, Anker in die Zeit, in der man sich zu verorten suchte, sich selbst suchte und gleichzeitig darauf wartete, dass sich etwas verändern möge. Es veränderte sich nichts. Der Ellenbogen des Mannes, auf einem Tisch im Garten wie ein Zirkel den Mittelpunkt der Welt markierend, bleibt das einzig Haltbare, sichere. 21 Rosenlöcher hat Lust, etwas für Kinder zu schreiben, die hohe Kunst des Vereinfachens zu versuchen. Auf was trifft er, als er Ende der achtziger Jahre an die Tür des Kinderbuchverlages klopft? Er bringt Komisches mit, Nonsens, Spaß und Übertreibung. Er arbeitet mit den Mitteln der Ironie, der Satire. Er pflegt den Sprachwitz, das Sprachspiel, er genießt den Unsinn und macht Ernst mit ihm.
V. Spaß und Nonsens hatten es auch noch in den achtziger Jahren in der Kinderliteratur in der DDR wirklich schwer. Auch das ist eine lange Geschichte und ich kann nur ein paar Schlaglichter darauf werden, leider, es lohnte sich, dem angemessen nachzugehen. Übrigens auch in der westdeutschen Kinderliteratur, da sieht es verblüffenderweise ganz ähnlich mit den Vorbehalten und Vorurteilen in Sachen kindliche Ironie und Sprachwitz aus. 19 Rosenlöcher 1982, S. 55. 20 Vgl. ebd., S. 63. 21 Vgl. ebd., S. 7.
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In den ersten Jahren nach dem Krieg, als der Kinderbuchverlag in Ostberlin gegründet war, wurden neben bewährten Klassikern, der Märchendichtung, den umfangreichen Übernahmen aus der sowjetischen Kinderliteratur, den Texten der aus dem Exil heimgekehrten deutschen Autoren wie Ludwig Renn, Alex Wedding, Friedrich Wolf, Bertolt Brecht u.a. sehr mühevoll Nachwuchsarbeit geleistet und junge Autoren wie Erwin Strittmatter, Alfred Wellm und Benno Pludra – um nur einige zu nennen – an den Verlag gebunden. Realistische Erzählungen entstanden und anders als in der westdeutschen Kinderliteratur verlaufen die Entwicklungslinien der Kinderliteratur der DDR in den folgenden Jahren tatsächlich parallel zu denen der Literatur für Erwachsene. 22 Als eine Besonderheit der ostdeutschen Kinderliteratur wird immer wieder hervorgehoben, dass sie zu keiner Zeit einen Schonraum Kindheit aufmacht. Die kindlichen Handlungsspielräume und Bewährungsfelder sind eng an die großen gesellschaftlichen Felder jener Zeit angeschlossen. So kann man heute noch den Kinderroman „Tinko“ (1954), der konsequent aus der Perspektive seines kindlichen Helden erzählt wird, als eine Geschichte der Bodenreform in den fünfziger Jahren lesen, und das ist eine bittere und tragische Geschichte. In der Erzählung „Karlchen Duckdich“ (1977) von Alfred Wellm tröstet ein Bruder seine kleine Schwester über das Alleinsein hinweg, weil sie gar nicht auf die Idee kommen, sich darüber zu beklagen, dass weder die berufstätige Mutter noch der Vater Zeit haben, sich um sie zu kümmern. In Benno Pludras „Insel der Schwäne“ (1980) zieht eine Familie vom Dorf in die Stadt, weil sie endlich eine gemeinsame Wohnung bekommen haben, und der zwölfjährige Junge kämpft um einen Spielraum für sich und die anderen Kinder. Das Reisemotiv findet sich auch in den Kinderbüchern der DDR. Aber gereist wird bis an die Ostsee (Gerhard Holtz-Baumert. Trampen nach Norden) oder nachts auf dem Bodden (Benno Pludra. Lütt Matten und die weiße Muschel) oder ins Innere einer Litfasssäule (Christa Kozik. Moritz in der Litfasssäule), weil man vor der Schule und den Eltern wegläuft. Diese Erzählung von Christa Kozik ist eine der ersten, die sich dem phantastischen Sujet zuwendet, später gibt es immerhin sogar einen „Engel mit dem goldenen Schnurrbart“ bei ihr, der auf die Erde fällt und dem die Flügel ziemlich rasch gestutzt werden. Phantastische Erzählungen für Kinder, die in der westdeutschen Kinderliteratur bis 1970 absolut vorherrschend sind, entstehen in der DDR erst sehr spät, bis 1974 sind es fünf Titel, dann erscheinen bis 1979 schlagartig 20 Titel kurz hintereinander. Die Märchendichtung nimmt dagegen schon immer einen großen Raum ein, im letzten Jahrzehnt der DDR entstehen auffallend 22 Vgl. Steinlein u.a. 1996; Richter 1995.
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viele gesellschaftskritische Märchendichtungen, die heute fast alle vergessen sind. Nicht vergessen sind zum Glück die großartigen Adaptionen antiker Stoffe für Kinder wie der „Prometheus“ (1974) oder die ShakespeareMärchen (1968) von Franz Fühmann; der eingangs schon erwähnte Hinstorff Verlag in Rostock erwirbt hier gerade große Verdienste mit hervorragend gemachten Editionen. Für die künstlerische Qualität der Kinderbücher aus der DDR, ihren literarästhetischen Anspruch, Teil der Nationalliteratur sein zu wollen, gibt es inzwischen eine – sagen wir – gestiegene Aufmerksamkeit. Zum heutigen Zeitpunkt fehlen allerdings bis auf das „Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur in der SBZ und der DDR“, (Hrsg. Rüdiger Steinlein u.a.) und einige einschlägige Arbeiten von wenigen, an einer Hand abzählbaren Wissenschaftlern, Forschungsarbeiten zur Entwicklung und Geschichte der Kinderliteratur in der DDR. Hier sind unübersehbar große, blinde Flecken in der Forschungslandschaft. Vielleicht muss mehr Gras darüber wachsen und Zeit vergehen, um das zu wagen. Anderseits ist inzwischen die erste Generation, die Gründergeneration der Kinderliteratur in der DDR, nicht mehr da. Man kann Alfred Wellm, Gerhard Holtz-Baumert, Fred Rodrian, Erwin Strittmatter, Franz Fühmann und sogar Peter Hacks – der eine Sonderstellung in der Geschichte einnimmt – nicht mehr fragen. Die Kinderbücher selbst scheinen noch da zu sein und aus verschiedenen, markstrategischen, die Nostalgie bedienenden Gründen sogar bisweilen inflationär aufzuleben. Schaut man aber genauer hin, entdeckt man, dass außer der zwölfbändigen Klassikerausgabe, die der Verlag Faber und Faber herausgegeben hat und über deren Auswahl man streiten könnte, hauptsächlich Bücher aus den ersten Jahren des DDRKinderbuchmarktes wiederauferstehen, die oft von einer arg naiven, moralisierenden und simplifizierenden Thematik geprägt sind. Die in den letzten Jahrzehnten entstandenen kritischen, von den Lektoren oft mit Mühe und Not an der Zensur vorbeigehievten Titel aber fehlen auf den Büchertischen. Die „Meta Morfoß“ von Peter Hacks findet nur, wer den Dramatiker Peter Hacks kennt und in seiner Gesamtausgabe sucht. Für die „Märchen auf Bestellung“ von Franz Fühmann muss man ein Freund des Hinstorff Verlages sein und für Jurij Brězans wundersame Krabatsage „Die schwarze Mühle“ braucht man Verwandtschaft in der Lausitz, die ihre alten Sagen noch pflegen. Thomas Rosenlöchers kleiner Text in der Minibuchreihe hatte übrigens, wie mir die Lektorin Hannelore Fischer erzählte, eine Auflage von 20.000 Exemplaren. Startauflage. Das ist eine Zahl, die heute gigantisch erscheinen muss bei gewöhnlichen Auflagen von einigen hundert Exemplaren. Sie erzählte mir auch, dass das Motto des Verlages für diese Reihe „Literatur in kleine Hände zu kleinen Preisen“ lautete und eine andere Editionsform, die
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sogenannten Lilliputbücher, eine Auflagenhöhe von 80.000 Exemplaren erreichte, auch das ein Phänomen, mit dem man sich beschäftigen könnte.
VI. Ich kehre zu meinen Ausgangsfragen zurück, einer Kinderliteratur, in der 1989 ein ICH gestrichen und durch die 3. Person, durch das „sie“ der Füße ersetzt werden musste, als ob das harmloser sei, sind ja nur die dummen Füße, die da losmarschieren wollen, da kann man ja mal drüber lachen ... und ansonsten ist alles nur Spaß gewesen. Das ICH, das da möglicherweise über die Grenzen hinauswachsen wollte – und man kann fragen, ob damit wirklich nur die Landesgrenzen gemeint waren und nicht auch das eigene Selbst, das ein Ziehen und Zerren spürte und Lust hatte auf Wachsen, auf Verändern – die Frage also nach dem ICH und dem Subjekt schien den staatlichen Instanzen dieser DDR heikel und sehr gefährlich. Das ICH wurde gestrichen. Wenn ich heute die beiden Fassungen des „Langgestreckten Wunders“ nebeneinander halte, so ist offensichtlich, dass die spätere, erweiterte und kunstvoll ausgestattete Ausgabe die prächtigere Fassung ist. Wie ich inzwischen weiß, hat die kleine Geschichte auch noch eine Hörspielfassung unter dem Titel „Herr Kurzmeier wächst noch“. Sie wurde zweimal produziert. Eine Produktion entstand 1989 im Studio in Leipzig, die andere nach der Wende 1990 in Berlin. Inzwischen sendet der MDR, wenn er das Hörspiel ausstrahlt, wieder die erste, die Leipziger Fassung, auch darüber könnte man lange nachdenken und fragen, wie sie wohl beschaffen sind und wie sie sich verändern, die Gütekriterien. Die Geschichte vom „Langgestreckten Wunder“ ist robust genug, durch die Zeiten getragen zu werden und zu überleben. Mir selbst ist das unscheinbare Heftchen mit der Erstfassung der Geschichte vom „Langgestreckten Wunder“ von 1989 auf besondere Weise kostbar. Sie hatte etwas, was wir damals sehr gebraucht haben und was überlebenswichtig war. Kunst stieß an die engen Grenzen des Staates, rieb sich die Stirne wund, um mit Heinrich von Kleist zu sprechen, und wir, die wir damals alle Utopisten waren, wie mir Thomas Rosenlöcher heute kopfschüttelnd sagt, wir vergewisserten uns im poetischen Wort, im sprachlichen Bild unserer Menschlichkeit. Dort, zwischen den Zeilen, konnten wir wachsen und groß werden, und das Enge, Kleinliche, Dumme abstreifen. Über das Bild von den Beinen, die einfach weiterwachsen und anstoßen und sich nichts verbieten lassen, haben wir,
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wenn auch eine Spur bitter, lachen können und sind ein wenig getröstet gewesen. Und das war sehr viel. Thomas Rosenlöcher ist im Jahr 2011 Stadtschreiber von Bergen-Enkheim bei Frankfurt am Main gewesen. Der Titel seiner Stadtschreiberrede ist mit einer Verszeile von Friedrich Schiller überschrieben worden, die da lautet „Ich weiß das Land nicht zu finden“. In der Rede denkt er nach über sein Sandstein-Dresden, aus dem er – es ist nicht zu überhören – herkommt, und über das WIR in dem sattsam bekannten Satz vom „Wir sind e i n Volk“. Dort erzählt er auch folgende Begebenheit: Bei einer Lesereise Mitte der neunziger Jahre fragte ihn ein Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Köln: „‚Sagen Sie, Herr Rosenlechner‘ – sagte also mein Kölner Betreuer – ‚bleiben Sie eigentlich länger in Deutschland?‘ ‚Nur zwei, drei Tage‘ antwortete ich. Und er hielt meine Hand und wünschte mir für den Rest der Zeit einen angenehmen Aufenthalt hier 23 bei uns.“
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H E LG A Z E IH ER
Sinnkonstruktion und Langeweile Eine Fallstudie zur Zeitdisposition im Tageslauf
Die Herausgeber hatten zu einem Beitrag eingeladen, der ‚Verknüpfungen von soziokulturellen Einbindungen und subjektiven Sinnkonstruktionen‘ aufzeigt. An biographischem Material sollten subjektive Sinnkonstruktionen herausgearbeitet und ihre gesellschaftliche Bedingtheit rekonstruiert werden. Die Person, an der ich dies mit einer Fallstudie versuche, ist ein neunjähriges Mädchen, die historische Zeit ist das Jahr 2000, der Ort ist Berlin, das Datenmaterial sind Tagesläufe, die Analysen richten sich auf das Zustandekommen der Tätigkeiten im Tagesablauf. Im Zentrum dieses Beitrags steht die Frage nach der empirischen Erforschbarkeit eines sehr komplexen Zusammenhangs: Wie lassen sich an alltagsbiographischem Material, wie es Tagesläufe sind, ‚Verknüpfungen von soziokulturellen Einbindungen und subjektiven Sinnkonstruktionen‘ untersuchen? Bei Tagesläufen, also Handlungsfolgen im Tageslauf, ansetzen, bedeutet: bei konkretem Handeln und bei der konkreten Alltagswelt, in der es zustande kommt. Die Verknüpfung wird von der Person hergestellt, indem sie über das Zustandekommen einer jeden Tätigkeit im Tagesverlauf entscheidet, sei es bewusst oder nicht bewusst. Der Möglichkeitsraum, in dem eine Tätigkeitsentscheidung entsteht, wird von den Eigenschaften der aktuellen Situation, wie die Person diese wahrnimmt, gebildet, von Erfahrungen, die diese Person in der Vergangenheit gemacht hat, und von den Bedingungen, die aus dem kommen, was ihr künftig möglich, vielleicht auch notwendig erscheint. In der einzelnen Entscheidung wirkt also Gegenwärtiges, Vergangenes und Künftiges zusammen. Das ‚Verhältnis von soziokultureller Einbindung und subjektiver Sinnkonstruktion‘ stellt sich im lebensgeschichtlichen Verlauf von Geburt an in einer jeden Tätigkeitsentscheidung erneut her; es ist ein dynamischer Prozess, in dem sich Umwelt und Person ständig wechselseitig bedingen und beeinflussen. Der Entscheidungsprozess, der dazu führt, warum die Person sich für jeweils eine bestimmte Tätigkeit entscheidet, und warum ihre Tage so verlaufen und nicht anders, ist der empirischen Untersuchung freilich nicht direkt zugänglich, wohl aber sein Ergebnis, die tatsächlich ausgeführte Handlung sowie ein Teil ihrer Bedingungen. Zu Letzteren gehören auch Informationen über die bisherige Lebensgeschichte der untersuchten Person. Die Analyseaufgabe besteht darin, die Bedingungen, die im Ent-
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scheidungsprozess wirksam gewesen sind, soweit als möglich zu rekonstruieren. In dem Forschungsprojekt „Alltagsorganisation in der mittleren Kindheit“, 1 dem die im Folgenden vorgestellte Fallstudie entnommen ist, haben zehnjährige Kinder an sieben Tagen jeweils alle ihre Tätigkeiten vom Aufwachen bis zum Einschlafen kurz protokolliert. Informationen zu den Entstehungsbedingungen der Tätigkeitsentscheidungen in Umwelt und Person, in Gegenwart und Vergangenheit wurden in Interviews mit den Kindern (jeweils am folgenden Tag), in Interviews mit deren Eltern sowie in Recherchen in der Wohnumwelt und der dort für Kinder relevanten Infrastruktur gewonnen. Viele wichtige Informationen zu den einzelnen Entscheidungen ergaben sich aus der jeweiligen zeitlichen Position im Tageslauf sowie aus dem Zusammenhang der sieben untersuchten Tagesläufe. Die Analyse bestand zunächst darin, eine jede tatsächlich ausgeführte Handlung auf die Gesamtheit der rekonstruierten Entscheidungsbedingungen zu beziehen. Als Ergebnis solcher Analysen wird einerseits etwas von dem erkennbar, was der handelnden Person in der konkreten Situation sowie aufgrund ihrer bisherigen Lebenserfahrungen und der von ihr antizipierbaren Zukunft zu tun möglich war – also der reale und virtuelle Handlungsspielraum, den sie hatte. Andererseits wird an der jeweils tatsächlich ausgeführten Tätigkeit etwas erkennbar von der besonderen Art und Weise, in der die untersuchte Person über ihr Handeln entschieden hat. In einem zweiten Analyseschritt wurden dann über alle Tätigkeitsentscheidungen mehrerer Tagesläufe einer Person hinweg (hier wurden je sieben Tagesläufe untersucht) Besonderheiten des je individuell besonderen Alltagslebens herausgearbeitet: Einerseits wurde der in der Zeit erstreckte Möglichkeitsraum dieser Person rekonstruiert und andererseits deren besondere Weise, Alltagszeit zu disponieren. Von der Analyse der vollzogenen Einzelhandlungen ausgehend gelangten wir so zu einer Analyse der individuellen Eigenheiten der Zeitdisposition der Person. Der Vergleich mehrerer solcher Fallstudien ermöglichte dann schließlich Aussagen über Gemeinsamkeiten in den Lebensbedingungen und den Weisen der alltäglichen Zeitdisposition der untersuchten Kinder (hierzu s. unten).
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Zum Forschungsansatz vgl. Zeiher/Zeiher 1994; Zeiher 1996; Zeiher 2001.
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Zwei Tagesläufe von Ina Ina, so heißt das zehnjährige Mädchen, hat zwei ältere Geschwister, die beide viel außerschulische Zeit mit Leistungssport verbringen. Der Vater hat regelmäßige Arbeitszeiten, die Mutter ist vielfältig außerhalb der Familie beschäftigt. Sehen wir uns einen Tag von Ina näher an. Am Mittwoch kommt Ina um 13.35 Uhr aus der Schule nach Hause. Die Mutter bereitet gerade das Essen; in 40 Minuten, wenn die beiden älteren Geschwister nach Hause kommen, soll gegessen werden. Ina nutzt die Zeit für ihre Schulaufgaben. Das macht sie mittwochs immer so, denn an diesem Tag ist der Nachmittag von zwei Kursterminen besetzt. Sie arbeitet am Küchentisch, um in der Nähe der Mutter zu sein. Gleich nach dem Essen, um 14.45 Uhr, fährt sie mit dem Fahrrad zum Töpferkurs, kurz vor 17.00 Uhr kommt sie zurück. In der Küche essen Mutter und Geschwister gerade Eis; Ina gesellt sich dazu. Danach steht der zweite Termin dieses Nachmittags an: um 18.00 Uhr beginnt das Leichtathletik-Training. Wie immer wird die Mutter sie mit dem Auto dorthin fahren und später wieder abholen. Ina zieht sich für den Sport um. Jetzt bleiben ihr noch zwanzig Minuten bis zur Abfahrt. Diese verbringt Ina im Flur, an der Wohnungstür auf ihre Mutter wartend. Um 19.40 Uhr ist sie wieder zu Hause, pünktlich zum Beginn der Fernsehserie ‚Gute Zeiten, schlechte Zeiten‘, die sie regelmäßig und deshalb auch jetzt anschaut. Nach Sendungsschluss, um 20.15 Uhr, isst sie mit Mutter und Schwester zu Abend. Anschließend geht sie von sich aus zu Bett.
Wie geht Ina mit ihrer Zeit an Tagen um, an denen mehr Offenheit besteht? Als Beispiel der untersuchte Samstag: Um 10.30 Uhr, gleich nach dem Frühstück, verlassen alle Familienmitglieder das Haus: Der Bruder geht zum Fußballtraining, die Schwester hat eine Verabredung, die Mutter will zu einer schulpolitischen Demonstration, der Vater will mit dem Auto zum Einkaufen in Technik-Spezialgeschäfte fahren. Nur Ina hat kein Vorhaben. Die Mutter schlägt vor, mit zur Demonstration zu gehen. Ina hat „keine Lust“, so lange zu laufen. Sie möchte aber auch nicht allein zu Hause bleiben. So schließt sie sich dem Vater an und verbringt mit ihm fast vier Stunden im Auto und in für sie uninteressanten Geschäften. Um 14.00 Uhr wieder zu Hause, beschäftigt sich der Vater mit dem neu erworbenen technischen Gerät. Außer ihm ist nur die Schwester zu Hause, die aber in ihrem Zimmer zu tun hat. Da, wie Ina später im Interview erklärt, „nichts los ist“, setzt sie sich an den Computer im Wohnzimmer. Sie spielt zunächst Kartenspiele, dann öffnet sie das Programm ‚paint‘ und malt damit Bilder. Fast hätte sie dabei die Fernsehserie ‚Tigerenten
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Helga Zeiher Club‘ verpasst, die sie regelmäßig anzuschauen pflegt, 2 beim zufälligen Blick auf die Wohnzimmeruhr erinnert sie sich. Ina schaut nun diese Lieblingssendung von 15.30 bis 17.00 Uhr. Nach deren Ende weiter fernsehen möchte sie nicht. An den Computer kann sie nicht zurückkehren, weil die Eltern nur eine Stunde Computer am Tag erlauben; sie antizipiert, dass der Vater, der nebenan in der Küche ist, mehr Zeit am Computer nicht zulassen würde. Ina ist es „so langweilig“ (wie sie später im Interview sagt). Weil sie „sonst nichts zu tun“ weiß, greift sie zum Heft einer Zeitschrift, die zu ihrer anderen Lieblings-Fernsehserie ‚Gute Zeiten, schlechte Zeiten‘ gehört. Das Heft hat sie sich heute Morgen von ihrem Taschengeld gekauft. Nach einer Stunde des Herumblätterns und -lesens ruft der Vater sie und die Geschwister zum Abendessen. Nach dem Essen, um 19.00 Uhr, bereitet sie sich zum Schlafen vor, obwohl es noch recht früh ist. Inas Begründung: „Weil ich nichts anderes mehr zu tun hatte.“ Im Bett hört sie dann noch Kassetten mit Kindergeschichten, bis sie nach 45 Minuten „keine Lust mehr“ hat und einschläft.
Wie Inas Tätigkeitsentscheidungen entstehen Zunächst der Mittwoch. Die Termine von Töpferkurs und Sporttraining hatte Ina vor langer Zeit akzeptiert, als sie sich zur Kursteilnahme verpflichtet hatte. Ihre Schulaufgaben macht sie mittwochs immer zwischen Heimkehr und Mittagessen, weil dies die einzig dafür offene Zeit ist. Sie folgt damit einer rational begründeten Gewohnheit. Auch mit der abendlichen Entscheidung zum Fernsehen folgt sie einer Gewohnheit: Sie versäumt das Sehen der Fernsehserie möglichst nie, denn ihr sind im Laufe der Zeit deren virtuelles Personal und das Geschehen so vertraut geworden, dass ihr die Teilnahme ein zwingendes Bedürfnis geworden ist. Die Teilnahme an den Mahlzeiten schließlich ist sowohl in Familiengewohnheiten eingebettet, wie auch jeweils ausdrücklich von den Eltern verlangt. An diesem Mittwoch steht also fast alles, was Ina tut, vorab fest. Es steht in Folgen wiederkehrender Ereignisse. Ihr Tun ist zum einen jeweils in ein inhaltlich und raum-zeitlich den Tag überdauernd festgelegtes Programm eingeschlossen oder es wird ihr in der akuten Situation ohne ihr Zutun von anderen Personen nahegelegt, wie die Mahlzeiten und das nachmittägliche Eis-Essen. Was sie wann an welchem Ort tut, hat jeweils nur die Entscheidung erfordert, ob sie das Programm tatsächlich absolvieren will beziehungsweise ob sie der Erwartung Anderer tatsächlich folgen will. Tatsächlich hat sie sich dann jeweils für das Geplante, Gewohnte oder ihr Nahegelegte entschieden. 2
Dass dies so zu sein pflegt, wird aus Entscheidungen an weiteren untersuchten Tagen erkennbar.
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Hätte sie sich für Anderes entschieden, etwa heute einen Kursbesuch geschwänzt oder eine Mahlzeit ausgelassen, hätte das besondere Beweggründe gebraucht: ein starkes Interesse an einem anderen Tun, oder ein Befinden, das dem erwarteten oder schon festgelegten Tun entgegen gestanden hätte, bei den Mahlzeiten etwa kein Appetit oder ein Konflikt mit Familienmitgliedern. Wenn sie solche Beweggründe gehabt hätte, hätte es zudem Kraft gebraucht, aus dem selbstgewählten Programm und aus dem Familiengeschehen auszusteigen. Offen und somit zeitlich spontane Disposition erfordernd sind an diesem Mittwoch nur die zwanzig Minuten vor dem Abfahren zum Sport. Ina lässt diese Zwischenzeit ganz von der Antizipation des bevorstehenden Termins bestimmt sein, sie tut nichts, als auf diesen Termin zu warten. Auch hier würde es besondere Beweggründe brauchen, um sich für ein bestimmtes Tun zu entscheiden. Doch von den vielerlei Dingen, die zu Hause immer zur Beschäftigung für eine solche Zeitspanne greifbar sind – etwa Spielzeug oder Bücher und Zeitschriften –, weckt nichts ihre Lust, sich jetzt damit zu beschäftigen, zumal die verfügbare Zeit kurz ist. Der Samstag ist mit Ausnahme der Selbstbindung an eine Fernsehserie ohne vorab bestehende Festlegungen. Doch sind ihre Möglichkeiten, diese Freiheit zu nutzen, an diesem Tag sozial und räumlich beschränkt: Als Personen kommen nur die Familienmitglieder in Frage. Andere mögliche Partner, andere Kinder etwa, sind nicht erreichbar, weil dazu vorab Verabredungen nötig gewesen wären, die sie aber nicht getroffen hat. Beide Eltern bieten Ina am Vormittag Mitmachen bei ihren jeweiligen Vorhaben an und Ina nimmt das Angebot des Vaters an. Später am Tag sind die Familienmitglieder mit eigenen Aktivitäten beschäftigt. So ist ab Mittag nur die Wohnung ihr möglicher Aktionsraum und dort ist sie auf sich allein verwiesen. In dieser Situation versucht Ina zunächst, dem Langeweile machenden Alleinsein zu entkommen. Sie schaut, wo in ihrem unmittelbaren Wahrnehmungsbereich gerade ein soziales Geschehen – oder als Ersatz ein virtuelles soziales Geschehen – stattfindet, dem sie sich anschließen könnte. Nur wenig bietet sich an: die Mahlzeiten, zu denen die Eltern sie rufen, und bestimmte Fernsehsendungen, die sie gewohnheitsmäßig anzuschauen pflegt. In den übrigen Zeiten, in denen, wie sie sagt, „nichts los“ ist, schaltet sie zuerst den Computer ein. Mit Kartenspielen und Malen am Computer und mit ihren Lieblings-Fernsehserien hat sie sich schon oft beschäftigt. Durch Wiederholungen haben sich diese Tätigkeiten über die Zeit hin gefestigt und sind latente Möglichkeiten geworden, auf die Ina bei Bedarf zurückgreifen kann, wenn sich in ihrer Umwelt nichts anderes bietet. Noch später, als sie nicht mehr vor dem Computer sitzen darf, weiß sie zunächst gar nichts zu tun – sie klagt später im Interview, ihr sei „so langweilig“ gewesen. Sie greift dann zu etwas, das ihr im Nahraum ins Auge springt: zu einer Zeitschrift, mit der sie
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auch außerhalb der Sendezeit in das Geschehen der Fernsehserie einsteigen kann. Nach dem Abendessen steht Ina schließlich noch einmal vor dem Problem, eine Beschäftigung zu finden. Sie löst es, indem sie etwas, das erst später ansteht, zeitlich vorzieht: Sie geht zu Bett, weil sie „nichts anderes mehr zu tun hatte“. Sie versucht also, sich der Notwendigkeit, Zeit immer durch ein Tun zu füllen, zu entziehen, indem sie auf ein Stück wacher Lebenszeit verzichtet, und damit auch auf die ihr unangenehme Erfahrung von Langeweile.
Inas Langeweile Wenn es kein Geschehen gibt, von dem sie angelockt wird, wenn sie von sich aus offene Zeit zu füllen hätte, leidet Ina an Langeweile. Zeit, so hat Niklas Luhmann ausgeführt, müsse immer mit irgendeinem Handeln gefüllt werden, es bestehe „die Notwendigkeit, Gegenwart von Moment zu Moment zu produzieren“. 3 Langeweile sei ein „negatives Erleben von Zeit“: „Man fällt zwar nicht aus der Zeit, aber man erfährt jene Leere, die sich daraus ergibt, dass der Augenblick, der nicht dauern kann, durch nichts ersetzt wird.“ Langeweile stehe im Gegensatz zu Ruhe, indem sie keine Ruhe lasse, weil etwas, das die Zeit ausfülle, fehle. „Das Erleben von Langeweile – im Sinne von ennui – “, so Luhmann, trage deshalb „Züge in Richtung auf Verzweiflung, auf Gegenwärtigkeit des Nichts.“ 4 Über solch negatives Erleben hinaus geht das Konzept der Langeweile, das Martin Heidegger in einer Vorlesung 1929/30 (1983) entwickelt hat. Susanne Schroeder hat es dargestellt: Im Augenblick, in dem alle Möglichkeiten des Tuns versagt seien und das Dasein „in die Leere der Zeit gezwungen“ sei, in der „tiefe Langeweile“ empfunden werde, könne das Versagte, nämlich die eigentliche Existenz aufscheinen. Andere Autoren sprechen auch von „existenzieller Langeweile“. Der Augenblick des „inneren Schreckens“ werde zum Augenblick der Freiheit, in dem der „Entschluss des Daseins zu sich selbst“, zu tätiger Selbstverwirklichung möglich sei. Deshalb sei für Heidegger „tiefe Langeweile“ nicht negativ; sie könne dazu verhelfen, dass wir uns selbst finden. Der „tiefen Langeweile“ stellt Heidegger zwei schwächere Formen der Langeweile gegenüber: zum einen das „Gelangweilt-Werden von etwas“, das daran zu erkennen sei, dass wir in kurzweiligen Zeitvertreib ausweichen, und zum anderen das „Sich-Langweilen bei etwas“, wenn wir in einem Geschehen mittun, 3 4
Luhmann 1979, S. 65. Ebd., S. 69.
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dabei aber „unser eigenes Selbst in gewisser Weise zurücklassen“. Das Langweilende sei hierbei, dass wir an ein Geschehen zeitlich gebunden seien, dieses uns jedoch leer lasse, weil es nicht mit unserer Person verbunden sei. Leere bilde sich, weil die Zeit vom Gewesenen und vom Künftigen abgeschnitten sei. 5 Soweit an den untersuchten Tagesabläufen erkennbar ist, scheint bei Ina das Leiden nicht so weit zu gehen, dass die Langeweile sie ‚zu ihrem eigenen Selbst‘ drängt. Bevor es zu ‚tiefer‘, ‚existentieller‘ Langeweile kommen würde, aus der heraus eine kreative Kraft zu neuem Tun entstehen könnte, weicht Ina in Zeitvertreib aus. Der Erziehungswissenschaftler Erich H. Müller ist in seinem sehr zu Unrecht nahezu vergessenen Buch ‚Erfüllte Gegenwart und Langeweile. Zeitgebundenheit und Zeitfreiheit im Leben der Kinder‘ (1969) dem nachgegangen, warum Kinder sich offensichtlich so viel öfter langweilen als Erwachsene. Für Kinder sei „‚gewöhnliche‘ und ‚existentielle‘ Langeweile noch eins. Wenn sich das Kind wirklich langweilt, dann ist es in seiner ganzen Existenz davon betroffen, dann hat sein Leben, das vor allem im Bezug zur Sachwelt gründet, vorübergehend seinen Sinn verloren.“ 6 Im Kindesalter sei das Verlangen nach Welt, die Neugier auf die Welt besonders groß und zugleich auch die Freude an Abwechslung und Bewegung. „Langeweile ist [...] eine Form gehemmter Weltzuwendung. [...] Langeweile ist ein unbefriedigtes, zielloses, unlustvoll erlebtes Verlangen nach Welt. Das Langeweile empfindende Kind sucht den verloren gegangenen Kontakt mit der Welt wieder herzustellen.“ 7 Der Weltkontakt sei gehemmt, wenn das Kind ermüde oder des allzu Bekannten überdrüssig werde oder weil die konkrete Situation das Ausleben des kindlichen Aktivitätsdrangs hindere, etwa wenn der Raum beschränkt ist oder wenn andere Personen keine Zeit haben; insbesondere Alleinsein trage bei, den Zugang zur Welt zu versperren. 8 In solchen „Käfig-Situationen“ werde Kindern die Zeit endlos lang, 9 die „vertraute und bekannte Welt verblasst zu einer gleichgültigen“. 10 „In der Langeweile lässt die Aufmerksamkeit, die Wachheit nach. Es fehlt die Gespanntheit des Interesses und dessen Intensität des Kontakts mit dem Gegenstand oder Geschehen. Aber es fehlt auch die Kraft, sich einem anderen Gegenstand zuzuwenden oder sich auf die eigene innere Welt zurückzuziehen.“ 11
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Heidegger-Zitate nach Schroeder 2006, S. 41ff. Müller 1969, S. 52. Vgl. ebd. Vgl. ebd, S. 66. Ebd., S. 70. Ebd., S. 71. Ebd., S. 64.
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Müllers Beschreibung trifft auf die Situationen zu, in denen Ina über Langeweile klagt: Sie ist dann räumlich auf die Wohnung beschränkt, die Familienmitglieder sind beschäftigt und nicht zu gemeinsamem Tun mit ihr bereit. Aber warum bringt Ina dann nicht von sich aus einen Handlungsentwurf hervor, mit dem sie in Weltkontakt treten würde? Hier sind wir bei der Ausgangsfrage dieses Beitrags nach der ‚subjektiven Sinnproduktion‘, das heißt, nach dem Hervorbringen von zeitübergreifend bestehenden Intentionen, die Sinnzusammenhänge im Leben konstituieren, indem sie darauf drängen, immer wieder erneut entsprechende Handlungsentscheidungen zu generieren. ‚Zeitübergreifend‘ sind Intentionen, die Gewesenes und Künftiges verbinden, sei es in kontinuierlicher oder in diskontinuierlicher Sequenz. Bei intentional verbundenen Handlungen kann es sich sowohl um Wiederholungen gleichartigen Handelns, Gewohnheiten etwa, handeln als auch um Schritte eines zielgerichteten Prozesses, also um ein Projekt. Ina verfügt über Sinnzusammenhänge beider Art. Doch weder ihre Gewohnheiten noch ihre Projekte kann sie zu beliebiger Zeit realisieren, weil die entsprechenden Handlungen an festgelegte Zeitstrukturen oder Zeitbeschränkungen gebunden sind. Das trifft zu auf Inas Gewohnheiten: die Mahlzeiten, die Lieblings-Fernsehsendungen und das ihr erlaubte Spielen am Computer. Und es trifft auf Inas Projekte zu – den Töpferkurs, das Leichtathletik-Training und (an anderen, hier nicht beschriebenen Wochentagen) das Schwimmtraining und den Samba-Tanzkurs. Alle diese Projekte sind zudem außer Haus in Institutionen angesiedelt. Zu Hause lässt Ina keine besonderen Intentionen – Interessen, Ziele oder Projekte – erkennen, aus denen heraus sie in den dortigen Bedingungen jederzeit konkretes Tun generieren könnte. Das müssten keineswegs nur Intentionen zu zweckgerichteten Tätigkeiten sein. Auch Interessen an bestimmtem Spielen oder bewusstes Genießen von Muße und Ruhe könnten das sein.
Wie kommt es, dass Ina so wenig ‚subjektive Sinnproduktion‘ erkennen lässt? Warum erwarten wir von Ina, dass ihr immer etwas zu tun einfällt, so dass sie sich nicht langweilt? Warum erwarten wir von ihr zu jeder Zeit Handeln, das aus ‚subjektiver Sinnproduktion‘ hervorgeht? Hinter der Mangeldiagnose steht zweifellos der zeitökonomische Imperativ der Moderne, das ‚Nutze die Zeit‘, dem die Menschen in den Jahrhunderten der Entfaltung der profitorientierten Wirtschaft zunehmend unterworfen worden sind. In der zeitlichen Erziehung und Sozialisation der Kinder wird diese gesellschaftliche Unterwer-
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fung immer wieder erneut reproduziert. Auch Kinder werden ermahnt, Zeit zu nutzen. In der Schule und auch in frühkindlichen und außerschulischen Einrichtungen sind Kinder ständig mit Angeboten und auch mit Zwängen zum Aktiv-Sein konfrontiert. Zu Hause bemühen sich Eltern, Kinder zu ununterbrochenem Tun anzuregen, indem sie ihrem Kind mit Spielzeug und Spielgerät und durch Arrangieren von Geschehen – möglichst lernfördernde – Handlungsangebote machen. Wenn ein Kind trödelt oder sich langweilt, irritiert das eilige, immer Zeit nutzende Erwachsene. Erwachsene entwerfen verbale und materiale Vorlagen für Handlungsintentionen, die den Kindern Aktivität nahelegen, indem sie jeweils die Bedingungen für erwünschtes Tun bereitstellen. Dies alles drängt Kinder nicht nur zu ganz bestimmten Aktivitäten, sondern auch dazu, immer aktiv zu sein. Auf diese Weise verinnerlichen Kinder mehr oder weniger den gesellschaftlich herrschenden Anspruch, jederzeit etwas zu tun zu haben; sie verinnerlichen den Zwang zu ökonomischem Umgang mit Zeit – und damit die negative Bewertung des Nichts-Tuns. Nun ist die lernorientierte Nutzung der kindlichen Zeit zur Vorbereitung auf das künftige Erwachsenendasein nur die eine Seite des Kindheitsentwurfs der Moderne. Komplementär dazu ist ein anderes Konzept des Kindes, das die Differenz der Kinder zu den Handlungsimperativen der Erwachsenenwelt betont und als vorgesellschaftliches Glück des Kindseins versteht. So betrachtet, gilt das Trödeln und Spielen in Eigenwelt und Eigenzeit als Privileg der Kinder. Das zeitvergessen spielende Kind hat keine Langeweile; es bringt im Spiel immer erneut Intentionen hervor. Ebenso wie Sich-Langweilen bei Kindern häufig zu beobachten ist, so auch dessen Gegenteil, das zeitvergessene Sich-Versenken in ein Tun. Wie kommt es, dass Ina sich so besonders oft langweilt? Kinder unterscheiden sich erheblich in ihren psychischen Voraussetzungen und individuelle Umwelten ermöglichen oder verhindern, begünstigen oder hemmen bestimmte Handlungsweisen. Die Untersuchung, der die hier vorgestellte Fallstudie entnommen ist, zielt nicht auf psychologische Aspekte. Meine Frage beschränkt sich auf einen soziologischen Aspekt: Gibt es Relationen zwischen Inas Weise, Zeit zu disponieren, und Bedingungen der Zeitdisposition in ihrem jetzigen Alltag und in ihrer bisherigen Lebensgeschichte? In welchen Zeitbedingungen hat Ina ihre Handlungsweisen im Laufe ihres Lebens eingeübt und in welchen lebt sie zur Zeit der Untersuchung? Da sind zunächst die Situationen in formal organisierten Institutionen. Als Kleinkind hat Ina ganztags den Kindergarten und daneben Kurse besucht. Jetzt, im Alltag der Zehnjährigen, sind es neben der Schule vier Kurse: Leichtathletik, Schwimmtraining, Samba-Tanzen und Töpfern. Sie besucht eine Schule, in der das tradierte schulische Zeitregime herrscht: Stundeneinteilung und kleinteilig vorstrukturierte Arbeitsschritte. Auch die Abläufe des Leistungstrainings in den beiden Sportvereinen geben Zeitabläufe detailliert
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vor, ebenso der Tanzkurs. Von den Teilnehmern wird erwartet, zu tun, was jeweils zeitlich, räumlich und sozial organisiert ist, somit für alle vorab feststeht. Ina befand und befindet sich also in einem großen Teil ihrer Alltagszeit in Gruppen von Kindern, die sich gleichzeitig im selben Programm bewegen und in denen das einzelne Kind vom sozialen Geschehen mitgetragen wird. Dort ist niemals „nichts los“, dort kommt niemals vor, dass Ina nicht weiß, was sie tun soll. Ina hat in diesen Situationen von frühem Alter an kaum aus eigener Kraft Intentionen hervorbringen und selbstbestimmte Interessenbereiche entwickeln müssen. Dann die Nachbarschaft. In Inas Wohnumgebung gibt es kein zeitlich spontan sich entfaltendes nachbarschaftliches soziales Leben unter Kindern. Ohne Verabredung kann sie keine anderen Kinder erreichen. Verabredungen gelingen ihr jedoch selten, weil mehrere Nachmittage der Woche bei ihr selbst wie auch bei ihren Schulfreundinnen durch Kurstermine besetzt sind. So fehlt Ina schon aus Zeitgründen meist die Möglichkeit, Spielkameraden jenseits der Institutionen und zeitlich spontan zu treffen. Schließlich die Familie. Wenn sie nicht in der Schule oder in Freizeitveranstaltungen ist, ist Ina auf das Geschehen zu Hause angewiesen. Doch dort ist ja oft „nichts los“. Schon als die Kinder klein waren, hat sich die Mutter selten direkt mit ihnen beschäftigt, sondern viel Energie in die institutionellen Arrangements gesteckt, in die sie Ina und ihre Geschwister schickte. Sie hat im Kindergarten mitgearbeitet, im Schwimmverein war sie Trainerin von Inas Kindergruppe, jetzt ist sie in der Schule als Elternvertreterin aktiv. Die Menge dieser und anderer Engagements wirkt in den Familienalltag zurück: Es bleibt relativ wenig Zeit füreinander. Rest- und Zwischenzeiten, etwa zwischen den Mahlzeiten, dienen der Vorbereitung externer Aktivitäten, am Abend auch dem Fernsehen. Während die anderen viel zu tun haben und oft in Eile sind, hat Ina offene Zeiten: Wartezeiten und auch große Zeitblöcke, die sie von sich aus mit Handeln zu füllen hat. Zusammengefasst: Ina hat viel in vorstrukturierten Abläufen gelebt, deren Ziele dauerhaft feststehen und wo erwartet wird, dass die Teilnehmer sich in die Vorgaben der Institution einfügen. Die Kinder haben den institutionalisierten Sinn des dortigen Geschehens fraglos anzunehmen. Persönliche Auseinandersetzungen und Verhandlungen zwischen Kind und Erwachsenem über Sinn und Ziel des Tuns, wie sie im persönlichen Kontext der Familie und der privaten Freundschaften üblich sind, mögen auch hier vorkommen, sind aber institutionell nicht vorgesehen. Nicht eigene Zeitknappheit und Zeitdruck sind Inas Problem. Ihr Problem ist die Leere der Zeit in Wartezeiten, Zwischenzeiten und Restzeiten. Meine These ist: Dass Ina mit offenen Zeiten oft nicht sinnbestimmt umzugehen vermag, ist vermutlich – neben Anderem – nicht unbeeinflusst davon, dass sie
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von früher Kindheit an besonders viel Zeit in vorgegebenen Programmen verbracht hat.
Lässt sich dieses Ergebnis ‚verallgemeinern‘? In der Sozialforschung gibt es bekanntlich zwei Wege, um Aussagen zur Allgemeingültigkeit von Ergebnissen zu machen. Der eine Weg geht über viele Fälle: über Variablendefinition, Stichprobenziehung und statistische Analysen von Merkmalshäufigkeiten. Die Ergebnisse gelten dann als repräsentativ für vorab bestimmte Bevölkerungsgruppen. Der andere Weg beginnt beim einzelnen Fall. Hier geht es um eine Fallstudie. Wie können wir von der Partikularität des einzelnen Falls zu generellen Aussagen über Verhältnisse in heutiger Kindheit kommen? Ließe sich aufgrund der Fallanalyse Ina etwa sagen, dass die Verlagerung eines großen Teils des Kinderalltags in formal organisierte Institutionen ungünstige Bedingungen für die Entwicklung subjektiver Sinnkonstruktionen und Interessen in der alltäglichen Lebensführung schaffe? Die Antwort ist: Nein, so einfach ist das nicht. Gesellschaftliche Bedingungen erscheinen bei jedem Kind in einer anderen konkreten Form. Und sie verbinden sich in jedem individuellen Leben auf eigene Weise miteinander und mit weiteren persönlichen Voraussetzungen und Bedingungen. Inas Alltagsleben ist nur eines von vielen möglichen Kinderalltagen. Jeder Einzelfall zeigt jedoch eine besondere Konstellation, die in dieser Gesellschaft möglich ist, möglich neben anderen möglichen Konstellationen. Das fallübergreifende Ziel der Einzelfallstudie liegt darin, die konstitutiven Elemente der besonderen Konstellation herauszuarbeiten und diese Elemente in gesellschaftsanalytischen Begriffen zu fassen, um so eine Aussage über etwas in den Bedingungen dieser Gesellschaft Mögliches zu machen – und somit eine Aussage über diese Gesellschaft. Der Weg der gesellschaftsbezogenen Analyse führt in den konkreten Fall hinein zum darin aufscheinenden Allgemeinen. Auch das ist eine Verallgemeinerung, freilich eine fundamental andere als die der statistischen Häufigkeitsanalyse. Ein solcher Fallstudien-Ansatz, wie er der hier vorgestellten Untersuchung zugrunde liegt, 12 beruht auf der Dialektik von Allgemeinem und Besonderem. Das Allgemeine ist dem Besonderen immanent; es hat keine von ihm abgetrennte Existenz. Daher geht es darum, den einzelnen konkreten Fall so zu untersuchen, dass das, was in ihm gesellschaftlich bedingt ist, deutlich hervortritt. Das kann 12 An anderer Stelle ist ausgeführt, was hier nur knapp angedeutet werden kann: vgl. Zeiher/Zeiher 1994, S. 73ff.
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geschehen, indem die Analyse des Konkreten mit Begriffen durchdrungen wird, die das ihm immanente Allgemeine erkennbar machen. Ein jeder Fall ist eine konkrete Stelle, an der sich mehrere allgemeine gesellschaftliche Tendenzen gleichsam kreuzen. Vom jeweiligen Forschungsinteresse und dessen theoretischer Fassung hängt es ab, welche gesellschaftlichen Aspekte am Einzelfall jeweils herausgearbeitet werden. Für die Untersuchung, aus der ich hier berichte, wurden die Kategorien Raum und Zeit zugrunde gelegt. Denn einerseits stellen zeitliche und räumliche Grenzen und Distanzen konkrete Möglichkeiten und Beschränkungen für konkrete Handlungsentscheidungen dar und andererseits erscheinen in konkreten zeitlichen und räumlichen Alltagsverhältnissen allgemeine gesellschaftliche Verhältnisse. In den Begriffen Raum und Zeit lassen sich sowohl Merkmale des alltäglichen Handelns und dessen Alltagsbedingungen als auch übergreifende gesellschaftliche Verhältnisse und Entwicklungen fassen und aufeinander beziehen. In diesem Beitrag habe ich den Fokus auf Zeit und weniger auf Raum gelegt: auf Zeitdisposition und Zeitbedingungen. Eine Fallstudie wie die hier vorgestellte kann zeigen, wie ein einzelnes Kind, das eine bestimmte Lebensgeschichte hat und in einem bestimmten Umfeld lebt, seine freie Zeit disponieren kann oder nicht kann. Was das eine Kind Ina tut, hat insofern eine allgemeine Bedeutung, als darin eine der vielen Weisen in Erscheinung tritt, in denen Kinder in ihrem Vermögen, Lebenszeit ‚sinnvoll‘ zu gestalten, bei extensivem Besuch von formal organisierten Einrichtungen (bestimmter Art von institutioneller Organisation in einer bestimmten historischen Phase der Institutionalisierung der Kindheit) beeinflusst werden können, aber durchaus nicht notwendig werden. Es handelt sich um einen begrenzten Ausschnitt aus der Vielfalt des gesellschaftlich Möglichen. Mit einer Reihe solcher Fallstudien lässt sich der Ausschnitt erweitern.
Literatur HEIDEGGER, Martin (1983): Die Grundbegriffe der Metaphysik, Gesamtausgabe Band 29/30. Frankfurt am Main. LUHMANN, Niklas (1979): Zeit und Handlung – Eine vergessene Theorie. In: Zeitschrift für Soziologie 8, S. 63-81. MÜLLER, Erich H. (1969): Erfüllte Gegenwart und Langeweile. Zeitgebundenheit und Zeitfreiheit im Leben des Kindes. Heidelberg. SCHROEDER, Susanne (2006): Langeweile. Von Nutzen und Nachteil eines ungeliebten Phänomens. Berlin.
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ZEIHER, Hartmut J. (1996): Konkretes Leben, Raum-Zeit und Gesellschaft. Ein handlungsorientierter Ansatz zur Kindheitsforschung. In: HONIG, MichaelSebastian/LEU, Hans Rudolf/NISSEN, Ursula (Hg.): Kinder und Kindheit. Soziokulturelle Muster – sozialisationstheoretische Perspektiven. Weinheim und München, S.157-173. ZEIHER, Hartmut J. (2001): Alltägliche Lebensführung: ein Ansatz bei Handlungsentscheidungen. In: VOSS, Günther/WEINRICH, Margit (Hg.): tagaus, tagein. Neue Beiträge zur Soziologie alltäglicher Lebensführung. München und Mering, S. 165-188. ZEIHER, Hartmut J./ZEIHER, Helga (1994): Orte und Zeiten der Kinder. Soziales Leben im Alltag von Großstadtkindern. Weinheim und München.
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Starke Frauen im Kloster – Das Kloster im Herzen, die Frau in der Welt Die Arnauld-Frauen und Port-Royal
1599 erhält der Hofmann und Advokat Baron Simon Marion vom König Henri IV. für seine beiden Enkeltöchter die Abteien zweier Klöster. Die Enkel sind die Töchter des Generalstaatsanwaltes, ‚Procureur général‘, und Rates am Hofe der Königin Catherine des Medicis, des Advokaten Antoine Arnauld und der Catherine Marion: 1 Die am 8. September 1591 geborene Jacqueline erhält die Abtei Port-Royal, die am 31. Dezember 1593 geborene Jeanne die Abtei Saint-Cyr. Jacqueline legt mit neun Jahren die Gelübde ab und wird der amtierenden Äbtissin von Port-Royal als ‚coadjutrice‘ beigegeben. Mit zehn Jahren und zehn Monaten wird sie als Mère Angélique de Sainte Magdelaine am 29. September 1602 Äbtissin des Klosters von Port-Royal unter Vorspiegelung eines falschen Alters. Das Kind betrachtet Religion insgesamt und seine Situation als Nonne und Äbtissin als eine große Last; es verbringt seine Zeit viel lieber mit Spielen als mit Exerzitien und geistlichen Aufgaben. Die jüngere Schwester Jeanne − jetzt als Mère Agnès − die für die gleiche Laufbahn bestimmt war, wird von Saint-Cyr nach Port-Royal gebracht; sie verzichtet auf das für sie bestimmte Äbtissinnen-Amt, damit sie zusammen spielen können. Während die Äbtissin mit ihrer Schwester betreut von einer untergebenen Nonne spielt, sind es vor allem die Eltern, die sich um die Aufgaben des Amtes kümmern. Insbesondere ist es die Mutter, die sich neben ihrem mondänen Haushalt, den 20 Geburten und den zehn lebenden Kindern auch noch mit der Aufrechterhaltung des Betriebes des Klosters Port-Royal im Tal der Chevreuse, 30 km vor den Toren der Stadt Paris, beschäftigt. Während das jüngere Mädchen, die Mère Agnès, sich in ihre Bestimmung und in das Klosterleben schickt, schwankt die Äbtissin zwischen psychischer Apathie und Krankheiten und verbringt viel Zeit zuhause bei den Eltern, sei es in Paris oder im Schloss Andilly. Am 26. September 1609 kommen die Eltern zusammen mit einer Tochter und dem ältesten Sohn Robert Arnauld d’Andilly nach Port-Royal, um die beiden Mädchen zu besuchen. An der Pforte des Klosters werden sie zurück1
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gewiesen und informiert, dass der Zugang für alle weltlichen Besucher fortan verwehrt bleibe, da die Äbtissin das Kloster „reformiert“, das Klosterleben nach strengen benediktinischen Regeln, den Regeln des Zisterzienser-Ordens, geordnet und erneuert habe. 2 Mit der Tochter könnten sie nur noch hinter dem Gitter im ‚parloir‘ sprechen. Nach erfolglosem Befehlen und Anflehen von Vater und Mutter beschimpft der 20-jährige Bruder, Robert Arnauld d’Andilly, seine Schwester: „Un monstre d’ingratitude & une patricide qui répondroit devant Dieu de la mort de son père qu’elle feroit mourir de regret d’avoir élevé avec tant d’amour une Fille qui le traitoit de la sorte.“ 3 Die Äbtissin bleibt unerbittlich, die Karosse der Familie wird vorbereitet, um in die Stadt zurückzukehren, da tritt der Vater in einer letzten Aufwallung der Gefühle schmerzverzerrt ins ‚parloir‘ und teilt der Tochter mit, dass er sie über alles liebe. Bis jetzt hätte er alles unternommen, für ihre Geschäfte zu sorgen und sie gesund und glücklich zu erhalten. Da er sie jetzt nie mehr sehen werde, müsse sie aus Liebe zu ihm versprechen, für ihre eigene Gesundheit besorgt zu sein. „Il lui faisoit une derniere priere, qui étoit que pour l’amour de lui, elle eu soin de se conserver elle-même & de ne pas ruiner sa santé & sa vie par des austerités indiscretes.“ 4 In der reichhaltigen Geschichtsschreibung und im Selbstverständnis der französischen, katholischen Frömmigkeitsbewegung, des Jansenismus oder der Bewegung von Port-Royal, wird dieses Ereignis, ‚la journée du guichet‘, der ‚Tag des Sprechgitters‘, zum zentralen Ereignis gemacht. Es markiert in der individuellen Lebensgeschichte der Äbtissin und in der Kirchengeschichte den sichtbaren Weg Gottes in die Welt. Die junge, 18-jährige Frau, die demütig gewordene Nonne und Äbtissin, ist so stark, dass sie aus Gottes Liebe selbst der Liebe ihres Vaters, der natürlichen und intimsten Liebe, widerstehen kann. Es soll hier gezeigt werden, wie in der Geschichtsschreibung des Jansenismus aus diesem Ereignis von 1609, aus der Figur der jungen Frau, die 2
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Die Regeln ‚Constitutions du monastère de Port-Royal du Saint Sacrement‘ (1665/2004), die in der Zeit des Niedergangs des Klosters in der zweiten Verfolgungswelle veröffentlicht wurden, sind nicht das Werk einer einmaligen Reform, sondern wurden seit der Reform durch den Beschluss der Äbtissin Angélique Arnauld laufend ergänzt. Sie knüpfen an die benediktinische und zisterziensische Tradition des geschlossenen Klosters und der geregelten Exerzitien an (vgl. Weaver 1978). Arnauld A. de Saint Jean 1737, S. 34. „Ein Monster der Undankbarkeit und eine Vatermörderin, die vor Gott sich für den Tod ihres Vaters verantworten muss, den sie im Kummer, dass er mit so viel Liebe eine Tochter erzog, die ihn jetzt derart behandelt, sterben ließ.“ Ebd., S. 36. „Er brachte eine letzte Bitte an, dass sie aus Liebe zu ihm dafür sorge, sich zu bewahren und ihre Gesundheit und ihr Leben nicht zu zerstören durch maßlose Selbstaufgabe.“
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sich vollständig der Welt, auch ihren uninteressiertesten und feinsten Gefühlen und Beziehungen zu ihren leiblichen Eltern verschließt, ein neues Ideal der starken Frau entsteht. Mit ihrer absoluten Subjektivität, die nur aus und in göttlicher Liebe – ‚charité‘ – handelt, verfügt sie entsprechend der göttlichen Allmacht über die Welt, ist dieser in keiner Art und Weise ausgeliefert. Der erlöste Mensch, der einzig und allein aus dem Willen Gottes motiviert handelt, ist der objektiven Welt gegenüber frei, insofern diese selbst das Werk Gottes ist. Aus diesem religiös-theologisch begründeten Konzept entsteht im 18. Jahrhundert das Ideal des starken bürgerlichen weiblichen Individuums, das der Welt, der entstehenden Öffentlichkeit gegenüber unangefochten in sich selbst ruht. In einem ersten Schritt soll kurz Ziel und Umfang der jansenistischen Geschichtsschreibung beleuchtet werden. Dann werden im Hauptteil die Dimensionen der starken Frau in der Beschreibung dieser ‚journée du guichet‘ in den verschiedenen Phasen der jansenistischen Historiographie dargelegt. Abschließend soll skizziert werden, wie das Konzept der starken Frau in dieser Geschichtsschreibung aus einem traditionell monastischen zu einem weltlichen Ideal wird, oder aus dem Kloster in die profane Welt hinaustritt.
1. Das memorialistische Werk des Jansenismus Die reichhaltige Geschichtsschreibung und Memorialistik hat in der französischen Frömmigkeitsbewegung von Port-Royal im 17. und vor allem im 18. Jahrhundert, als sie sich öffnete und zur großen religiös-politischen Oppositionsbewegung wurde, einen zentralen Platz erhalten. Als 1648 die Nonnen des streng geregelten Klosters Port-Royal nach einer ersten Verfolgungswelle durch Kirche und König aus ihrem Refugium in der Stadt Paris in das Kloster im Tal der Chevreuse, in die ländliche Abgeschiedenheit, zurückkehrten, war de facto das ursprüngliche Projekt der französischen Jansenisten, eine kirchlich-monastische Erneuerungsbewegung einzuleiten, einen neuen und großen, radikal nach den klösterlichen Idealen der Entsagung von der Welt und den Exerzitien geregelten Frauen-Orden zu gründen, bereits gescheitert, 5 beziehungsweise auf eine bescheidenere, traditionelle Dimension zurückgenommen worden. 5
Port-Royal und der Jansenismus sind in diesen Bestrebungen nicht allein. Andere, wie z. B. der Orden der Visitation von Jeanne de Chantal, erleben eine ähnliche Entwicklung, auch wenn sie nicht verfolgt werden und damit weniger im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Ausnahmen bilden die Gründungen, die weitestgehend auf die
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Dafür trafen die Nonnen in den Annexgebäuden des Klosters, in den ‚granges de Port-Royal‘, den Scheunen, auf die ‚solitaires‘, die Einsiedler, eine Gruppe von Männern. Diese Gruppe bildete sich um den Neffen der Äbtissin, Antoine Le Maistre, der sich 1638 in einem publizitär wirksamen Akt im ‚mépris du monde‘, in der Weltverachtung, von Hof und städtischem Bürgerleben verabschiedete, um in der Einsamkeit in der Nähe des leerstehenden Frauen-Klosters in sich zu gehen und Gott zu suchen. In dieser Einsamkeit und Dürftigkeit auf dem Land widmeten sich die ‚solitaires‘ auch der Erziehung von Knaben. Aus einem monastischen Projekt wurde zunehmend eine religiöse Bewegung der ‚noblesse de robe‘, des Verwaltungsadels und des freien Bürgertums der Städte, die sich auf Innerlichkeit und entsprechende Erziehung ausrichtete. Unter den zurückkehrenden Nonnen, ein großer Teil waren Angehörige der weitverzweigten Familie Arnauld, die nicht nur finanziell, sondern auch personell und theologisch das Rückgrat der Bewegung bildete, war auch die Nonne Angélique de Saint Jean Arnauld d’Andilly, die Nichte der ReformÄbtissin und Tochter von deren Bruder, der sie am Tag der Abschließung des Klosters beschimpfte. Diese junge Frau traf hier mit ihrem Cousin, dem Einsiedler Le Maistre, zusammen. Dieser hatte bereits zwei Werke – Biographien – geschrieben, die historisch das monastische und das weltliche Projekt der Bewegung vereinigen sollten. Im Zentrum dieser beiden Biographien standen zwei Ordensleute, die sowohl in ihren Klöstern und Orden als Äbte wie auch in der Welt mit einem geistigen Führungsanspruch auftraten. 1644 schloss Le Maistre seine Biographie über den Abt von Saint-Cyran, Jean Duvergier de Hauranne (1581-1643) ab. Dieser Mitstreiter von Jansenius und Beichtvater von Port-Royal, der von Richelieu in den letzten Jahren seines Lebens unter dem Vorwand der Häresie wegen seines politischoppositionellen, frondistischen Einflusses im weltlichen Leben in Haft gehalten wurde, galt sowohl den Nonnen wie auch den ‚solitaires‘ und ihrem Projekt als Leitfigur. Die zweite Biographie galt dem großen Vorbild der Bewegung, Bernard de Clairveaux, der nicht nur den Zisterzienser-Orden zur großen monastischen Kraft im Hochmittelalter werden ließ, sondern auch als Ratgeber und geistiger Führer weltlicher Herren und sogar des französischen Königs auftrat. 6 Cousin und Cousine formulierten ein gemeinsames neues biographischhistorisches Projekt, das sich stark an der literarischen Tradition der Heili-
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Lehrtätigkeit ausgerichtet sind, die sich mit der Ausbreitung des Bildungswesens auch entwickeln, wie z.B. das ‚Oratoire‘ des Pierre de Berulle, die aber bezeichnenderweise nicht geschlossene Klöster gründen. Le Maistre 1647/1655. Die Biographie ‚La Vie de S. Bernard‘ zeigt nicht nur das memorialistisch-historische, sondern auch das eigentliche politisch-monastische Programm der Bewegung, dazu Lesaulnier (1999).
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gengeschichte orientierte. Dessen Ziel ist pädagogisch-didaktisch (‚édifier‘ 7) die Leser und Leserinnen sollten durch die Lektüre selbst auf die Spuren Gottes in der Geschichte, in ihrem eigenen Leben gelenkt werden. Dabei soll die Geschichte der Reform von Port-Royal die Leser erbauen, sie soll zeigen, wie die göttliche Gnade über das Wirken in der Seele der einzelnen, von Gott auserwählten Frau, des absoluten Subjekts in die Welt kommt, und damit den Leser aus der Welt in seine eigene Innerlichkeit lenken. Die beiden planen zusammen ein großes bio-historiographisches Werk über ihre Tante, die Äbtissin Jacqueline, Mère Angélique de Sainte Magdelaine Arnauld, und die Reform des Klosters von Port-Royal zu verfassen. Dazu sollten 1. die Zeitzeugen, die älteste Nonnen-Generation, welche die Regulierung des Klosters und seine ursprüngliche Ausstrahlung miterlebt hatten, befragt werden; 2. sollte die Äbtissin selbst angehalten werden, ihre eigene Geschichte, d.h. das Wirken Gottes aus und in ihren Handlungen selbst zu beschreiben; und 3. sollte schließlich aus diesen ‚mémoires‘ die große Geschichte, ‚l’histoire‘ der Erneuerung der Christenheit aus dem Geist von Port-Royal geschrieben werden. 8 Als Le Maistre 1658 starb, war die Befragung der Nonnen abgeschlossen, und die Äbtissin Angélique de Sainte Magdelaine hatte ihr Zeugnis 1655 vorgelegt, eine Beschreibung von Port-Royal bis zur Übernahme der jansenistischen Theologie, d.h. bis zur Unterstellung der Nonnen unter die geistliche Führung des Abtes von Saint-Cyran. Bis zu diesem Punkt, 1623, war auch die ‚große Geschichte‘ durch Angélique de Saint Jean fertiggestellt, als 1664 in der zweiten Repressionswelle die Autorin verhaftet wurde. Nach ihrer Freilassung nach Port-Royal zurückgekehrt, schrieb sie die ‚Relation de Captivité‘, die Geschichte ihres eigenen Opferganges. 9 Als sie dann 1678 selbst das Äbtissinnenamt übernahm, brach sie ihre Arbeit am biohistoriographischen Projekt endgültig ab. Nichtsdestotrotz entstand in der Folge eine weitere Erinnerungsliteratur der jansenistischen Schüler, Lehrer und Priester, die sich bruchlos an das ursprüngliche Projekt anschließen lässt und um den Kern, die Biographien der Arnauld-Frauen, die in und um Port-Royal wirksam wurden, gruppiert ist. Dieser riesige, mehrere tausend Seiten umfassende Torso von ‚Mémoires‘ und ‚Histoire‘ bildet publizistisch-literarisch das öffentliche Profil der Frömmigkeitsbewegung des Jansenismus im 18. Jahrhundert, als sie nach der Zerstörung des Klosters 1709 und der Verurteilung als Häresie in der päpstlichen Bulle ‚Unigenitus‘ 1713 zur mächtigen politischen Opposition der ‚Noblesse de robe‘, des Verwaltungsadels und des städtischen Bürgertums 7 8 9
Arnauld, A. de Saint Jean 1737, S. iii. „erbauen“. Vgl. Mengotti-Thouvenin 1999. Sie beschreibt sich selbst darin als Isaak, der aus Liebe zu Gott auf dessen Geheiß durch seinen Vater geopfert wird (Arnauld, A. de Saint Jean 1711/1954, S. 31).
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wurde. Diese Texte wurden in den verschiedensten Varianten, mit Kürzungen und in immer wieder neuen Kombinationen veröffentlicht und fanden in der gebildeten Öffentlichkeit ein großes Echo und in der schreibenden Zunft zunehmend Nachahmung. 10
2. ‚La journée du guichet‘ – die Stärke der Mère Angélique de Sainte Magdelaine Ein Vergleich der Darstellung der ‚journée du guichet‘ aus der Perspektive der wichtigsten Akteurin selbst und aus der Perspektive der Memorialisten zeigt exemplarisch, wie für die Beschreibung der Stärke der Frau und ihres Entschlusses zur Verschließung – „clôture“ – des Klosters und seiner Reform zunehmend die Subjektivität der Nonne, der Äbtissin Angélique de Sainte Magdelaine Arnauld ins Zentrum gerückt und zur eschatologischen Perspektive verwandelt wird. In der Selbstdarstellung von 1655, der ‚Relation écrite par la Mère MarieAngélique Arnauld de ce qui est arrivé de plus considérable dans PortRoyal‘, 11 wird dem Ereignis, der Auseinandersetzung mit Vater und Bruder vor den verschlossenen Toren des Klosters, eine relativ geringe Bedeutung zugemessen. Ihre eigene Ernennung zur Äbtissin, die auf Ämterkauf – durch den Großvater – und auf wahrheitswidrigen Altersangaben – durch die Eltern – beruhte, schreibt Angélique selbst dem „grand désordre, ordinaire en ce temps là“ 12 zu. Selbst die lockere religiöse Ordnung, die es im Kloster vor der Reform noch gab, empfindet das Mädchen, die Äbtissin, Mère Angélique, gemäß der eigenen Erinnerung „comme un joug insupportable“. 13 Die Religion selbst stößt das Kind ab, und es wendet sein ganzes Interesse auf die äußere Welt, „que la Religion me déplût, & que j’eusse un grand amour pour le monde“. 14 Mit ihrer Schwester zusammen nutzt sie jeden Moment, um zu spielen und 10 Die Entwicklung des politischen Jansenismus, des sogenannten ‚parti dévot‘, im 18. Jh. als bedeutende kulturelle und politische Vorbereitung der Revolution rückt gegenwärtig ins Zentrum des wissenschaftlichen historischen Interesses (vgl. Van Kley 1996, Maire 1998, Lyon-Caen 2010). Die literarische und pädagogische Bedeutung dieser Entwicklung über die Frömmigkeitsbewegung hinaus ist nach wie vor historisch wenig erforscht. 11 Arnauld, A. de Sainte Magdaleine 1737, S. 1. 12 Ebd., S. 1. „der großen Unordnung, die in dieser Zeit allgemein war“. 13 Ebd., S. 5. „als ein unerträgliches Joch“. 14 Ebd., S. 5. „die Religion gefiel mir überhaupt nicht und ich empfand eine große Liebe für die Welt“.
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große Spaziergänge auf den Ländereien des Klosters zu unternehmen. Je älter sie wird, umso listiger wird sie, die religiösen Vorschriften zu umgehen und sich weltliche Genüsse zu verschaffen. „Je suis obligée de dire qu’avançant en âge, j’avançois en malice et ne pouvois plus souffrir la religion.“ 15 So erzählt sie, dass sie während des Spielens, als die Glocken zum Gebet läuteten, sich nicht darum kümmerte, während die Schwester alles stehen ließ und in die Kapelle lief und sich den Gebeten zuwandte. Als ihr die fromme Schwester Vorhaltungen machte, vertröstete sie diese auf die Buße, die sie als Erwachsene tun würde. 16 Die Äbtissin nimmt sich auch gegenüber den dürftigen Regeln des Klosterlebens immer mehr Freiheiten, in der Erwartung, dass sie einmal als alte Frau Abbitte und Buße zu leisten hätte. Sie erzählt jedoch niemandem von ihrer Vorliebe für die Welt, ihren Aberwillen gegen die Religion und das Klosterleben, sondern täuscht nach außen vor, zufrieden zu sein. Allerdings sind es nur die regelmäßigen Aufenthalte zuhause und die Besuche der Eltern im Kloster, die ihr überhaupt ermöglichen, die Situation auszuhalten. Die Ausschweifungen steigert sie, bis ihre Mutter davon erfährt und sie tadelt. Das Mädchen fällt darauf in eine tiefe Melancholie und wird krank; es bleibt aber seiner Bestimmung zur Nonne treu, aus Liebe zu den Eltern. „La grande amitié que mon Père & ma Mère m’avoient témoignée, me fit résoudre de bon coeur pour les satisfaire de demeurer Religieuse & de vivre dans toute la modestie que je devois sans aller plus loin ni regarder mes devoirs vers Dieu.“ 17 Nach dieser eingehenden Schilderung des unglücklichen und falschen Klosterlebens des Kindes widmet sie ihrer Bekehrung während einer Predigt allerdings nur einen einzigen Satz: „Nous allâmes donc au Sermon de ce Capucin, qu’il étoit tout nuit, pendant lequel Dieu me toucha tellement, que dès ce moment, je me trouvai plus heureuse d’être Religieuse, que je ne m’étois estimée malheureuse de l’être.“ 18 Ausgehend von diesem großen inneren Erlebnis, dessen Inhalt undurchsichtig und unbeschrieben bleibt, beschließt die 16-jährige Frau, das Klosterleben zu ordnen und das Kloster vor allen weltlichen Einflüssen und Men15 Ebd., S. 5. „Ich fühle mich verpflichtet zu sagen, dass, je älter ich wurde, auch meine List zunahm; ich konnte die Religion nicht mehr ertragen.“ 16 Ebd., S. 20. 17 Ebd., S. 7. „Die große Freundschaft, die mein Vater und meine Mutter mir bezeugt hatten, ließ mich guten Herzens entscheiden, sie zufrieden zu stellen und Nonne zu bleiben, in aller Bescheidenheit zu leben, wie ich es schuldete, ohne dabei weiter zu gehen oder meine Verpflichtung gegen Gott zu beachten.“ 18 Ebd., S. 8. „Wir gingen also in die Predigt dieses Kapuziners, als es stockfinstere Nacht war. Während dieser Predigt hat mich Gott so stark berührt, dass ich seit diesem Moment mich glücklicher fühlte, Nonne zu sein, als ich mich vorher unglücklich betrachtete, es sein zu müssen.“
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schen zu verschließen, um ganz dem Gottesdienst und dem monastischen Ideal zu leben. Im Anschluss an dieses Bekehrungserlebnis beschreibt die Äbtissin die Auseinandersetzung mit den Nonnen und den Priestern über den Plan, das Klosterleben neu zu ordnen. Diese Auseinandersetzung gipfelt darin, dass die Ordensleitung und vor allem die Eltern alarmiert werden. Noch einmal wird das Mädchen zur Weinernte auf das elterliche Landgut geholt, die Eltern versuchen es davon abzuhalten, irgendwelche Schritte zur Änderung des Klosterlebens zu unternehmen. Das Mädchen wird hin und her gerissen zwischen seiner eigenen Überzeugung, der Berufung, die Reform durchzuführen, und den Ermahnungen von Eltern, Ordensleitung und Priestern. Die Melancholie verstärkt sich zunehmend. Zurück im Kloster spricht sie mit einer Nonne, die sie dienend betreut und die gleichzeitig während der Predigt bekehrt, von Gott berührt wurde. Als diese sie darauf hinweist, dass sie zu den Auserwählten gehört, die für die Gerechtigkeit verfolgt werden, versteht sie, dass sie wählen muss „de satisfaire plûtôt à Dieu qu’à mon Père“. 19 Von dieser klaren Alternative aus treibt alles auf die Auseinandersetzung mit Bruder, Mutter und Vater am ‚journée du guichet‘ an den Pforten des Klosters zu. Die Tochter versucht die Eltern abzuhalten, sie besuchen zu wollen, die Mutter versucht, sie zu überzeugen, „qu’il étoit nécessaire qu’elle entrât, pour voir comme je me comporterois“. 20 Darauf folgt die lakonische Schilderung der Rückweisung und des Schmerzes des Vaters. Schließlich ist es aber der Schmerz der Tochter über die Trauer des Vaters, die diesen dazu führt, doch wieder mit ihr am Gitter zu sprechen. „J’eus une telle douleur, que je pensai étouffer, ce qui le toucha tant, qu’il s’apaisa, & se résolut de me voir au parloir.“ 21 In der Folge erzählt die greise Äbtissin ausführlich, wie die Reform des Klosters voranschritt, welche Kontakte mit andern Klöstern und andern Orden geknüpft wurden und insbesondere von welchen Priestern, ‚directeurs de conscience‘, die Nonnen betreut wurden. Dabei stehen die Kontakte mit dem Bischof von Langres Sébastien Zamet und der missglückte Versuch, einen neuen Orden zu gründen, und mit dem gleichzeitig entstehenden Orden der Visitation um Jeanne de Chantal und vor allem deren Beichtvater François de
19 Ebd., S. 13. „eher Gott recht zu tun als meinem Vater“. 20 Ebd., S. 14. „dass es notwendig wäre, dass sie (die Mutter ins Kloster) eintrete, um zu sehen wie ich mich betrüge“. 21 Ebd., S. 15. „Ich empfand einen solchen Schmerz, dass ich meinte zu ersticken, das hat ihn [den Vater] derart berührt, dass er friedlicher wurde und sich entschied, mich am Sprechgitter zu sehen.“
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Sales im Zentrum. 22 Die Erinnerung endet damit, dass Jean Duvergier de Hauranne (1581-1643), der Abt von Saint-Cyran und Mitstreiter von Jansenius, 1623 die geistliche Führung der Mère Angélique übernimmt und damit die Klosterreform von Port-Royal zum Zentrum seiner augustinischgallikanischen Reformbewegung in der Kirche macht. Der Vollständigkeit halber sei hier angemerkt, dass die verschiedenen Beichtväter der Nonnen von Port-Royal auch im Hause Arnauld Eingang fanden und der Ausgleich zwischen Familie und Äbtissin sehr schnell wieder über diese Vermittlung gefunden werden konnte. Eine zweite Darstellung der ‚journée du guichet‘ wird im Gespräch entwickelt, das die Äbtissin am 2. April 1652 mit ihrem Neffen führte, dem ‚solitaire‘ Antoine le Maistre. Sie erläutert dabei das ganze Ereignis mit der Formel, mit der sie sich damals an die anderen Nonnen wandte, nachdem Vater und Bruder sie als undankbar und sogar als Vater-Mörderin beschimpften: „Vraiment cela est bien plaisant: ils m’ont fait Religieuse à neuf ans, lorsque je ne voulois point l’être, & que mon âge me rendoit peu capable de le vouloir; & aujourd’hui que je veux bien l’être, ils veulent que je me damne, en n’observant pas ma Regle. Je n’en ferai rien. Ils ne m’ont point demandé ma volonté pour me faire Religieuse, je ne leur demanderai point la leur pour vivre en Religieuse & pour me sauver.“ 23
Die Äbtissin fügt in diesem Gespräch einzig noch an, dass sie es in diesem Moment des großen Konfliktes mit Eltern und Bruder um die Reform vorgezogen hätte, an einem Ort zu sein, wo es weder Eltern noch Bruder gibt, wo sie selbst nicht die Aufgabe als Äbtissin zu wirken gehabt hätte und nur für Christus, ihren wirklichen Vater, Mutter und Bruder hätte leben können. Diese beiden Beschreibungen der Auseinandersetzung mit den Eltern am Tage der vollständigen Verschließung des Klosters aus der Perspektive der Reform-Äbtissin Angélique de Sainte Magdelaine Arnauld erfolgt in der traditionellen Entgegensetzung von Kloster und Welt. Der Weg zum Heil führt über die monastische Askese, den Selbstausschluss aus der durch die Sünde verdorbenen Welt und aus allen Beziehungen des weltlichen Lebens. Der 22 Zur Beziehung der Reform von Port-Royal zum Orden der Visitation von Jeanne de Chantal und zu François de Sales vgl. ausführlich Grébil 1992. 23 Le Maistre 1742, S. 265. „Das ist wirklich lustig: sie haben mich mit neun Jahren zur Nonne gemacht, als ich es sicher nicht sein wollte und als mein Alter mich kaum befähigte, es zu wollen; und heute, wo ich es sein möchte, wollen sie, dass ich mich selbst verdamme, indem ich meine Regel nicht einhalte. Ich werde nichts tun. Sie haben mich nicht nach meinem Willen gefragt, um mich zur Nonne zu machen, ich frage sie sicher auch nicht nach ihrem, um als Nonne zu leben und mich zu erretten.“
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Rückzug in das Kloster und dessen Verschließung ermöglichen ein Leben, das durch jegliche weltlichen Belange, sinnlichen Genuss, Besitz, Neugier, Stolz und Begehren ungestört bleibt und einzig auf das geistliche Leben, die Seele und ihre Begegnung mit Gott ausgerichtet ist. Die Beschreibung der Stärke, der Frau, die diesen Schritt vollzieht, das Kloster verschließt, die benediktinischen Regeln der Armut, der Keuschheit und des geistlichen Lebens wieder strikt einführt und darum auch den Bruch mit ihrer Familie vollzieht, erfolgt getreu dieser traditionellen monastischen Entgegensetzung von klösterlicher Askese und Gottesdienst versus Welt der Sünde. Die Stärke der Frau und ihres Entscheides folgt der Gnade der Bekehrung; es ist ein Entscheid für Gott und das Seelenheil, für das klösterliche Leben und gegen die Welt und die Familie, die in der Welt, ‚höfisch‘, lebt. Anders, mit dramatischem Crescendo auf die wachsende Stärke der Frau, der Äbtissin, und auf eine neue Konfliktlinie und Alternative ausgelegt ist die Darstellung des Ereignisses in der ‚Histoire‘ der Nichte, der Mère Angélique de Saint-Jean Arnauld d’Andilly, die aus dem Ereignis und der starken Frau den eigentlichen Mythos von Port-Royal und der Erneuerung der Kirche macht. 24 Die von der Reformäbtissin selbst als nebensächlicher, inzidenteller Akt beschriebene Szene, die im Rückblick fast jegliche Dramatik verliert, erscheint hier als die fast notwendige Abfolge einer langen Entwicklung, eines auf lange Wirkung angelegten Erlösungsplanes, der über verschiedene, aufeinander aufbauende Stufen in Selbstreflexion der Nonne zur Transformation der Seele zur starken Frau führt, durch die Gott im Kloster und in der Welt handelt. –
Als das neunjährige Mädchen 1600 das Gelübde ablegt, hört es einen Kirchgänger sagen: „La pauvre enfant ne sçai ce qu’elle fait.“ 25 Ganz im Gegensatz zu dieser rührseligen Bemerkung des Beobachters denkt das Mädchen in seiner Innerlichkeit: „Suis-je donc folle, puisqu’on croit que je ne sçai ce que je fais? Je le sçai très bien.“ 26 Und dann kommentiert die Historiographin mit Einblick in die Seele des Kindes: „& de fait elle a si bien crû depuis qu’elle sçavoit ce qu’elle faisoit, tout enfant qu’elle
24 Die Charakterisierung der Geschichtsschreibung von Port-Royal als Mythos und von Angélique de Saint Jean als „Mythographer“ (Weaver 1978, S. 130) zielt auf die devotionale, erbauende Bedeutung der ‚Histoire‘ in der zweiten Phase der Bewegung des Jansenismus – die gleichermaßen auf die entstehende nationale Geschichtsschreibung im 18. Jahrhundert und ihre Heldenfiguren ausstrahlte. 25 Arnauld, A. de Saint Jean 1737, S. 5. „Das arme Mädchen weiß nicht, was es tut.“ 26 Ebd., S. 5. „Bin ich also verrückt, dass man denkt, dass ich nicht weiß, was ich tu. Ich weiß es sehr wohl.“
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étoit alors, que depuis qu’elle devint plus grande, & qu’elle discerna fort bien que dans la verité elle n’étoit point Religieuse.“ 27 Das einzige, was sie im Kloster hält und sie vortäuschen lässt, eine Nonne zu sein, ist der Wunsch, den eigenen Eltern nicht zu missfallen, „de faire déplaisir à Mr. son Pere & à M. Arnauld, qu’elle aimoit avec une extréme tendresse“. 28 Sie folgt einzig ihrer weltlichen Liebe und Neigung, weiß aber dass sie die andern Menschen täuscht und ihre Pflicht als Nonne Gott gegenüber vernachlässigt. Die zweite Stufe wird erreicht nach ihrer Einsetzung als Äbtissin, 1602 als Zehnjährige. Sie spielt im Hof des Klosters mit ihrer Schwester. Während die jüngere Schwester das Spiel unterbricht, um die Exerzitien durchzuführen, spielt die Äbtissin weiter. Nach der Ermahnung durch die fromme Kleine tritt sie erneut in die Selbstreflexion ein, reflektiert über ihre Beweggründe, in die die Historiographin erneut Einblick nimmt: „Elle étoit bien capable de se garder elle-même, puisqu’elle sçavoit bien garder les autres.“ 29 In der Selbstreflexion realisiert sie, dass sie ihr Leben gar nicht selbst bestimmt, sondern dass es von anderen bestimmt wird. Diese Erkenntnis stürzt sie in eine große Krise. „Les inquiétudes de son esprit croissant avec son âge, la mirent enfin dans une si profonde tristesse, qu’elle en tomba dans une violente maladie.“ 30 In dieser Krise verfällt sie in der dritten Stufe in äußere Lethargie bis zu ihrem Bekehrungserlebnis, in dessen Schilderung der Leser jetzt präzise über den Vorgang in der Seele informiert wird unter Hinweis auf Bernard de Clairveaux: „Dieu la toucha si puissamment dans ce moment, que dès cette heure, il mit en elle toutes les semences de tous les fruits de graces & de vertus qu’elle a depuis produits; & cette heure fut comme le point du jour, qui toûjours été croissant en elle jusqu’au midy.“ 31 Die Äbtissin löst sich innerlich von der Welt, die sie bis anhin bestimmte, und wendet sich in der Innerlichkeit vollständig Gott zu, der ihr Gnade und Freiheit verheißt. Sie lebt in Furcht, diese Gaben wieder zu verlie-
27 Ebd., S. 5. „Und in der Tat hat sie seither sehr wohl geglaubt zu wissen, was sie tat, schon als Kind, das sie damals war, und noch mehr als sie heranwuchs, wusste sie sehr wohl, dass sie in Wahrheit ganz und gar keine Nonne war.“ 28 Ebd., S. 5. „um ihrem Herrn Vater und Frau Arnauld nicht zu missfallen, die sie mit außerordentlicher Zärtlichkeit liebte.“ 29 Ebd., S. 8f. „Sie war sehr wohl fähig, sich selbst zu betrachten, da sie auch sehr wohl die anderen betrachten konnte.“ 30 Ebd., S. 12. „Die Unruhen des Geistes, die mit ihrem Alter wuchsen, versetzten sie in eine so tiefe Traurigkeit, dass sie von einer heftigen Krankheit befallen wurde.“ 31 Ebd., S. 17. „Gott hat sie so machtvoll berührt in diesem Moment, dass er seit dieser Stunde die Samen aller Früchte der Gnade und der Tugend, die sie hervorbrachte, in sie legen konnte; und diese Stunde ist wie der Anfang des Tages, der immer bis zum Mittag fortschreitet.“
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ren, und wünscht, sich aus der Welt und sogar aus dem Kloster selbst zurückzuziehen. Schließlich erfolgen in der vierten Stufe die Wiedererrichtung der strikten Regeln und die Verschließung des Klosters, als äußere Bedingung für den Weg der Seele zu Gott und zu sich selbst. Aus der Innerlichkeit tritt die aus und in Gottes Gnade absolute Subjektivität in die Welt und handelt. Das Geschehen an der Klosterpforte wird aber im Gegensatz zur knappen Berichterstattung der Äbtissin selbst hier in höchster Dramatik als ein „jour de combat“ 32 beschrieben. Der Kampf spielt sich dabei nicht ab zwischen dem monastischen und dem weltlichen Gesetz, sondern als ein Kampf der Gefühle in der Nonne selbst zwischen „des passions les plus tendres soient dans la nature“ und der „fidélité pour Dieu“. 33 Der Vater kommt mit Mutter, Bruder und Schwester an die Pforte und verlangt Einlass, den die jugendliche Tochter standhaft verweigert. Nach der ausführlichen Beschreibung dieser „Histoire mémorable de cette journée“ 34 tritt die Historiographin als Nonne und Nichte erneut mit eigenen Überlegungen auf. Sie erklärt, dass sie bei anderen Gelegenheiten, bei erschütternden Ereignissen – es wird verwiesen auf den Tod des Beichtvaters, Duvergier de Hauranne –, als die Mère Angélique so schnell die Fassung wieder gewann oder sie nicht einmal verlor, sich fragte, ob diese überhaupt über natürliche Gemütsregungen für ihr nahe Menschen verfüge. Sie beantwortet diese Frage mit dem Hinweis darauf, dass die Äbtissin aus göttlicher Gnade sich von allen natürlichen Bindungen und Interessen an jene, die ihr nahe sind, getrennt hätte und einzig berührt werde durch ihr Seelenheil – das mit dem Tod in sichere Hände gelegt sei. 35 Im Gegensatz zur Autobiographie verharrt die Mère Angélique in der Histoire-Biographie nicht in dieser Innerlichkeit des klösterlichen Lebens, in der monastischen Einsamkeit, sondern sie tritt eschatologisch in die Welt hinaus. Aus der ‚charité‘, der göttlichen Liebe in der absoluten Subjektivität, wirkt sie im Kloster und in der Welt gegen alle Intrigen und Widerstände. Aus dieser absoluten Subjektivität, bestimmt durch die Liebe und Gnade Gottes, verwandelt sie nicht nur die klösterlichen Beziehungen, sondern auch diejenigen der eigenen Familie. Ihre weiblichen Geschwister, ihre Nichten, sogar ihre eigene leibliche Mutter treten ins Kloster ein und werden – wie immer betont wird – zu geistlichen Kinder, ihrer eigenen natürlichen Tochter oder Schwester. Die Umwelt verwan-
32 Ebd., S. 32. „Kampftag“. 33 Ebd., S. 32. „die zärtlichsten Leidenschaften, die in der Natur existieren“, „die Treue zu Gott“. 34 Ebd., S. 39. „Erinnerungswürdige Geschichte dieses Tages“. 35 Vgl. ebd., S. 40.
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delt sich schließlich in ein Kloster – so wie es auch in der Biographie von Bernard de Clairveaux durch Antoine Le Maistre dargestellt wird. 36 Der hier dargestellte Stufenweg der Äbtissin zur absoluten Subjektivität und zur Eschatologie, mit der sie und das regulierte Kloster in die Welt treten, entspricht ohne Zweifel der jansenistischen, neu-augustinischen Theologie, mit der die zweite Generation der Nonnen, unter ihnen die Nichte und Biographin der Äbtissin, Angélique de Saint Jean Arnauld d’Andilly, bestens vertraut war. 37 Sie bietet auch den Rahmen der Pädagogisierung dieser Theologie der Transformation der Seele, die im Rahmen der Bewegung von PortRoyal vor sich ging. Dabei waren es nicht nur die Erziehung der Knaben durch die ‚solitaires‘ in den ‚petites écoles‘ – die nur kurze Zeit aufrechterhalten werden konnte – und die Mädchenerziehung im Kloster durch die Nonnen – die ein bisschen länger aufrechterhalten werden konnte –, die den Ruf des Jansenismus im Feld der Erziehung begründete. 38 Vielmehr war es auch ein eigenständiges Erziehungskonzept, das in Form von Abhandlungen und Ratgebern literarisch verbreitet wurde und eine bedeutende Wirkungslinie im 18. und 19. Jahrhundert ausmacht. 39
3. Schluss: Das Kloster im Herzen – die starke Frau in der Welt Wie tritt nun diese aus Gottesliebe absolute Subjektivität der starken Frau in die Welt der Sünde und des Verderbens? Diese Öffnung zur Welt soll an zwei der wohl beachtenswertesten Texte des historiographischmemorialistischen Torso von Port-Royal dargelegt werden. Der erste Text ist die Biographie von Catherine Marion, der Mutter der Reformäbtissin. Geschrieben ist der Text von der ältesten Tochter, Catherine Le Maistre, die nach einer unglücklichen Ehe und fünf Kindern selbst ins Kloster Port-Royal eintrat, und als Nonne ‚Tochter‘ ihrer jüngeren Schwester, der Reformäbtissin, wurde. Der Text entstand unmittelbar nach dem Tod 36 Le Maistre 1655, S. 31. 37 Zur Ausbildung dieser zweiten Generation vgl. Sedgwick 1998. 38 Dabei sind es vor allem die Lehrpersonen, unter ihnen Blaise und Jacqueline Pascal und Pierre Nicole, die von diesen geschaffenen Lehrbücher, darunter die sogenannte ‚Logik von Port-Royal‘ und auch so herausragende Schüler wie der Dramatiker Jean Racine, die den Ruf der Erziehung von Port-Royal befestigten, obwohl diese Erfahrung sowohl für die Bewegung und sicher für die Entwicklung der Schulen in Frankreich quantitativ eher marginal war. 39 Vgl. Osterwalder 2003.
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der Mutter und findet sich unter dem Titel „Relation de la Vie & des vertus de Madame ARNAULD, Religieuse de Port-Royal sous le nom de Soeur Catherine de Sainte Felicité“. 40 Die Mutter der Reformäbtissin stammt wie der Vater aus der Schicht der um die Jahrhundertwende entstehenden ‚Noblesse de robe‘, des zukünftigen Verwaltungsadels. Ihr Vater war einer der bedeutendsten Anwälte von Paris und Hofmann. 41 Mit zwölf Jahren wurde das Mädchen verheiratet mit dem vierundzwanzigjährigen Anwalt und Hofmann Antoine Arnauld de la Mothe, „avec lequel elle a vecu trente-quatre ans en grande paix & amitié“. 42 Mit 15 Jahren gebar sie das erste Kind, mit 39 ihr 20, die letzten Kinder gebar sie gegen den Rat der Ärzte, ihre Gesundheit, ja sogar ihr Leben gefährdend. 43 Von den 20 Kindern überlebten zehn das dritte Lebensjahr. Von den sechs überlebenden Mädchen traten fünf schon als Kinder ins Kloster Port-Royal ein, die älteste, die Biographin der Mutter, folgte ihnen. Obwohl die Tochter die Tugenden der Mutter hervorhebt, „la chasteté“, 44 „la modestie“ und „la devotion“, 45 wird auch betont, dass sie für die Welt und die weltliche Ehre lebte und dementsprechend die Ordnung des noblen Haushaltes pflegte. Die Stärke dieser Frau liegt nach der Beschreibung allerdings nicht darin, dass sie diese riesigen Aufgaben, die zwanzig Schwangerschaften, die Erziehung von zehn kleinen Kindern, die Führung eines auf mehrere Paläste verteilten Haushaltes, die stellvertretende Führung eines verrotteten Frauenklosters bewältigte, sondern gerade umgekehrt darin, dass sie die Ordnung der Familie und des Haushaltes innerlich durchbricht. Nachdem diese Frau in der Welt bekehrt, ‚durch Gott berührt‘ wurde, führt sie ein Leben in der ‚charité‘, der Liebe Gottes. 46 In dieser Liebe kehren sich die weltlichen Verhältnisse geradezu um. Die adlige Frau unterwirft sich in Demut und göttlicher Liebe ihren Dienstboten. 47 Noch bedeutender allerdings ist die Tatsache, dass sie nach dem Tod ihres Gemahls 1619 dem Ruf der Duchesse de Guise an den Hof nicht folgte, sondern sich ganz dem Kloster Port-Royal zuwandte. 1625 trat sie selbst ins Kloster ein und legte vier Jahre später, 1629, die Gelübde ab. Ihre Stärke wird jetzt darin geschildert, dass sie in ihren Töchtern und Enkelinnen, die sie im Kloster trifft, gerade nicht die natürliche Ordnung der 40 Le Maistre C. 1641/1742. 41 Ebd., S. 278. 42 Ebd., S. 276. „mit dem sie 34 Jahre lang in großem Frieden und großer Freundschaft lebte“. 43 Ebd., S. 286f. 44 Ebd., S. 281. „die Keuschheit“. 45 Ebd., S. 285. „die Bescheidenheit“, „die Frömmigkeit“. 46 Ebd., S. 284. 47 Ebd., S. 284.
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Familie sieht, sondern sich ihrer leiblichen Tochter, der Äbtissin, als ihrer geistlichen Mutter unterwirft, und mit den andern leiblichen Töchtern und Enkelinnen als geistlichen Schwestern zusammenlebt. 48 Die starke Frau, die Mutter Arnauld, zeichnet sich wie ihre Tochter, die Äbtissin, dadurch aus, dass sie alle, aber auch gerade die intimsten und engsten, sozialen und natürlichen Beziehungen, die familiären Beziehungen, ja sogar die Mutter-Kind-Beziehungen durchbrechen und in der Ordnung der Erlösung aufgehen lassen kann. Die Stärke dieser Frauen, alle, auch die intimsten „natürlichen“ Beziehungen in der Welt mit der inneren Ordnung des Heils zu durchbrechen und zu überhöhen, wird in einem weiteren Text, der wohl als erster in eindrücklichster Form den ‚literarischen Stil von Port-Royal‘ 49 und dessen Erfolg präsentiert, noch übersteigert. Es handelt sich dabei um einen autobiographischen Text der Memorialistin und Historiographin Angélique de Saint Jean Arnauld d’Andilly, der Nichte der Reformäbtissin, ‚Relation de captivité‘. 50 Geschrieben wurde der Text 1665, nachdem die Nonne aus der nahezu ein Jahr dauernden Gefangenschaft, in der sie isoliert und von allen gottesdienstlichen Handlungen und Sakramenten ausgeschlossen war, ins Kloster nach Port-Royal zurückkehren konnte. 51 In ihrem Bericht beschreibt diese Tochter des ältesten Sohnes der Arnaulds, die mit sechs Jahren, 1630, ins Kloster Port-Royal eintrat, ihren 48 Ebd., S. 297. 49 In der französischen literarischen und literaturhistorischen Tradition wird immer wieder auf den Stil von Port-Royal verwiesen (vgl. Bremond 1923). 50 Arnauld, A. de Saint-Jean 1954. Zu bemerken ist, dass dieser Text nicht in der großen Sammlung von Utrecht enthalten ist (vgl. An. 1742 a-c). In dieser bio- und historiographischen Sammlung findet sich nur ein kurzer, anonymer Text über die Historiographin selbst (vgl. An. 1742c, S. 498ff.). Auch in diesem Text der großen Sammlung wird auf die Umkehrung der familiären und sozialen Beziehung durch das Werk der bekehrten Frau verwiesen (vgl. S. 531). Der Text behandelt die Periode der Gefangenschaft der Nonne sehr summarisch (vgl. S. 519), es wird aber auf zwei vorgängig gedruckte Ausgaben der ‚Relation de Captivité‘ verwiesen (vgl. S. 499). 1711 hätte der P. Quesnel eine gedruckte Ausgabe veranlasst, die ihrerseits auf einem gedruckten Text beruhe, der 15-20 Jahre früher, d.h. schon ca. 1695, in Brüssel erschien. Dass diese frühe, heute nicht mehr verfügbare Ausgabe des Textes mit seinen literarischen Qualitäten schon sehr früh erfolgreich für die jansenistische Apologetik wirkte, belegt der Hinweis darauf in Racines testamentarisch verfasster ‚Geschichte von Port-Royal‘, die um 1690 entstand und mit einem Hinweis auf den Text von Angélique de Saint Jean endet (siehe Schluss dieser Arbeit). 51 1664 wurden auf königliche Anweisung diejenigen Nonnen, die sich weigerten, das Formular zur Verurteilung der jansenistischen Theologie als Häresie zu unterschreiben, von Soldaten verhaftet, in fremden Klöstern isoliert und von jeglichen gottesdienstlichen Handlungen und den Sakramenten ferngehalten.
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Widerstand gegen die Versuche, sie zur Unterschrift unter das Formular zur Verurteilung der jansenistischen Theologie zu bewegen. Selbst der Erzbischof von Paris besucht sie in ihrer Gefangenschaft, um sie mit Kritik und auch Lob der jansenistischen Theologie zur Unterschrift zu bewegen. Dabei folgt die Kritik selbstverständlich dem Häresieverdacht, während Lob und Anerkennung vor allem den vielbeachteten pastoral-theologischen Schriften des Onkels der Gefangenen, dem ‚Grand Arnauld‘, gelten. Die Frau weicht diesen Schmeicheleien nicht, für theologische doktrinäre Querelen zeigt sie kein Interesse und trotzt ihrem geistlichen Verführer von hohem Rang. Doch in der autobiographischen Rechenschaftslegung wird der Akzent eindeutig nicht auf diese Formen des Widerstandes, die Verweigerung der Unterschrift, gelegt. Die Prüfung, die im Zentrum steht und an der sich die Stärke der Frau beziehungsweise die Gnadenwirkung in ihrer Seele zeigt, liegt in einer tiefen Glaubenskrise, im Zweifel an der Gnade Gottes. In dieser Krise der Isolierung und der Verzweiflung an der Gnade wird sie „aux portes tenebreuses“ 52 herangeführt, durch die sie allerdings nicht hindurchgehen muss. „(Dieu) il me faisait grâce de me les faire voir, afin que j’en eusse horreur plutôt que d’y entrer sans les discerner faute de lumière, comme on fait quand on laisse vaincre à ses troubles et à ses découragements, en recherchant son soulagement parce qu’on ne peut plus souffrir.“ 53 Diese Krise und ihr Verlauf und schließlich das siegreiche Überstehen werden geschildert als selbstreflexiver, innerer Kampf, in dem sich zwei Personen gegenüberstehen. Glücklicherweise erweist sich eine dieser Personen als stark und kann die andere stützen. „Je sentais deux personnes en moi, dont l’une avait assez de force pour porter l’autre dans sa faiblesse.“ 54 Was in Port-Royal die klösterliche Gemeinschaft bewirkte, erfüllt jetzt diese eine, starke Person; sie trägt die schwache Person in der menschlichen Seele, nährt und schützt sie vor allen Anfechtungen. Die absolute Subjektivität der starken Frau, die aus Gnade handelt, trägt selbstreflexiv schützend und stärkend die geplagte Seele. „ll me semblait que je portais toujours mon âme dans mes mains comme une gouvernante porte entre ses bras un enfant que l’on sèvre.“ 55 In dieser selbstreflexiven Stärke führt die isolierte Frau auch mit sich selbst alle gottesdienstlichen Handlungen durch; wo sie von ihrem Kloster 52 Ebd., S. 65. „an die Pforten des Schattenreiches“. 53 Ebd., S. 65. „Er [Gott] erwies mir die Gnade, dass er sie [die Pforten des Schattenreiches] mir zeigte, damit ich eher den Schrecken davor hätte, statt in der Dunkelheit unbemerkt hineinzugehen, wenn man sich durch seine Störungen und Entmutigungen besiegen lässt und einfach Erleichterung sucht, weil man nicht mehr leiden kann.“ 54 Ebd., S. 60. „Ich fühlte zwei Personen in mir, eine davon hatte genügend Kraft, um die andere in ihrer Schwäche zu tragen.“ 55 Ebd., S. 38. „Es schien mir, dass ich immer meine Seele in den Händen hielt, so wie eine Gouvernante ein Kind in den Armen trägt, das entwöhnt wird.“
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und seiner Kirche ferngehalten wird, errichtet sie „ma petite église“ 56 in sich selbst. Daraus wird auch gleich die radikale ekklesiatische Schlussfolgerung gezogen, und die Kirche in die eigene, absolute Subjektivität verlegt. „J’ai fort éprouvé que le temps est venu qu’on adore Dieu en tout lieu en esprit et en verité, et qu’il n’a point attaché sa grâce aux murailles des temples.“ 57 Und ebenso radikal wird die Schlussfolgerung in Bezug auf das Kloster und sein ursprünglich großes monastisches Projekt vorgestellt. Angélique de Saint Jean erzählt in ihrem Bericht dazu zwei Träume: Der erste Traum – während der Gefangenschaft – beschreibt die Kutschenreise der Nonne zurück nach Port-Royal. Plötzlich merkt sie, dass sie ganz allein ist und nicht weiß, wohin die Reise geht, es ist finstere Nacht, sie sieht niemanden, nicht einmal den Kutscher oder die Pferde, nur ab und zu fährt eine zweite Kutsche vorbei, in der sie ihren „directeur de conscience“, den Beichtvater Antoine Singlin – der allerdings im Moment des Traumes schon tot ist – sehen kann, der sie schweigend mit dem Finger auf eine Stelle in einem Buch des Johannes Chrysostomos hinweist, die Anweisungen und Tröstungen für die Zeiten der Verfolgung enthält. 58 Schließlich kommt sie in der Finsternis zum Kloster Port-Royal und sucht vergebens einen Eingang. Als sie durch ein erhelltes Fenster in das Kloster klettert, wird sie von den Schwestern auf den brennenden Himmel und das drohende Unheil verwiesen. Angélique de Saint Jean gibt selbst eine Erklärung für diesen Traum. Der brennende Himmel verweist auf die kommende Verfolgung der Frommen und die Bedrohung des emblematischen Klosters, die Unordnung der Welt. Die Tatsache, dass sie keine Türe findet und durch das Fenster in das Kloster eintreten muss, erklärt sie damit, dass der Erzbischof, der Vertreter der äußerlichen Kirche, davon gesprochen habe, Port-Royal in einen Kerker, „un dojon“, zu verwandeln, aus dem die Nonnen nie mehr herauskönnen. Dieser Deutung des Traumes fügt sie dann an, dass die äußerliche Einmauerung unwirksam sei, da Gott in der Innerlichkeit wirke und in der Seele der Gläubigen seine, die wahre Kirche errichte; „Dieu édifie intérieurement la maison spirituelle parmi nous“. 59 Dieser erste Traum wird aber erst erklärt durch den zweiten Traum vor der Gefangenschaft, an den sie sich jetzt erst erinnert. Im zweiten Traum nimmt sie erneut dieses Bild der klösterlichen Mauern auf, kehrt es allerdings um. Sie sieht in der Nacht von der Straße aus das städtische Kloster von Port-Royal; ein Teil der Böden ist eingestürzt, die Mauern weisen weite Risse auf, aber die Steine stehen noch aufeinander, es 56 Ebd., S. 122. „meine kleine Kirche“. 57 Ebd., S. 122. „Ich habe ganz stark empfunden, dass die Zeit gekommen ist, in der man Gott überall anbeten kann im Geist und in der Wahrheit, und dass er seine Gnade sicher nicht mit den Mauern seiner Kirche verbunden hat.“ 58 Ebd., S. 187. 59 Ebd., S 189. „Gott errichtet sein Haus unter uns innerlich.“
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pfeift ein schrecklicher Wind durch das Gemäuer und trotzdem ragt das Gebäude mächtig in die Höhe. In der Erklärung des Traums hält sie fest, dass tatsächlich gegenwärtig die klösterlich regulierte Gemeinschaft kaum mehr von Bedeutung sei, „une pauvre communauté destituée de toute assistance et séparée de ses propres superieurs, sans appui et sans conduite“. 60 Aber trotz offener Mauern und trotz des Verlustes der geregelten monastischen Gemeinschaft und ihrer Ordnung, des äußeren Klosters, bleibt durch die innere Regulierung der starken Frauen die Erneuerungsbewegung, die Präsenz der Gnade Gottes in der Welt unangefochten und auch unbesiegbar durch „une conspiration de tout l’enfer“. 61 Die innerliche Stärke, das Kloster im Herzen, ermöglicht den starken Frauen, hinaus in die Welt der Leidenschaften und der Macht von Familie und Gesellschaft zu treten und nicht davon angefochten zu werden. Die Kirche und das Kloster im Herzen schützen und stärken die schwache und angefochtene Seele in dieser feindlichen Welt, lenken sie, aber versöhnen nie mit der Welt. Es ist nicht nur ein Zufall, dass das letzte Werk Jean Racines, der als Knabe bei den jansenistischen ‚solitaires‘ zur Schule ging, dann aber ‚abschwörte‘, um Eingang am Hof zu finden, seine heimliche Apologie von Port-Royal, die er kurz vor seinem Tod 1699 schrieb und die ‚la Ville et la Cour‘, die entstehende Öffentlichkeit der Zeit von Louis XIV nach ihrem Bekanntwerden mehr als überraschte, 62 abrupt endet mit dem Hinweis auf das Schicksal der „Soeur Angélique“ in ihrer Haft und auf den autobiographischen Text. Er weist damit auf das tragische Schicksal hin, dass die Gesellschaft und der Hof, denen er sein großes dramatisches und historiographisches Werk widmete, den starken Frauen von Port-Royal zu bereiten sich anschickte – aber auch, entsprechend dem Bild der starken Frau, auf ihre Unbesiegbarkeit in der Welt. 63 In Tat und Wahrheit wurde das Kloster 1709 endgültig durch den König geschlossen, darauf bis auf die Grundmauern geschleift und die jansenistische Theologie 1713 mit der päpstlichen Bulle Unigenitus als häretisch verurteilt. Aber als Form der Frömmigkeit, der subjektiven Selbstwahrnehmung und des kulturellen und politischen Netzwerkes entwickelte sich die Perspektive von Port-Royal im städtischen Bürgertum und Amtsadel im 18. Jahrhundert. 60 Ebd., S. 190. „Eine arme Gemeinschaft, aller Unterstützung beraubt und getrennt von ihren Obern, ohne Unterstützung und ohne Begleitung.“ 61 Ebd., S. 190. „Eine Verschwörung der ganzen Hölle.“ 62 Vgl. Couprie 1994. 63 Racine 1994, S. 223f. „On peut voir dans la relation de la Soeur Angélique Arnauld la manière dont elle fut traitée chez les Filles Bleues de Paris. La plupart des autres le furent à peu près de la même sorte.“ (Man kann im Bericht der Schwester Angélique Arnauld die Art und Weise sehen, wie sie bei den Filles Bleues in Paris behandelt wurde. Den meisten der andern erging es ungefähr gleich.)
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Im Zentrum dieser Bewegung stehen die starken Frauen, die in den Familien, an Höfen und im Salon mit Selbstbewusstsein, mit dem Kloster im Herzen wirken und über die verdorbene Welt ihre Beziehungsnetze der Gnade und der göttlichen Liebe, den „zivilen Jansenismus der Elite der Gnade“ 64 ausbreiten.
Anhang
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Vgl. Lyon-Caen 2010, S. 281, S. 526.
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Quellen und Literatur Quellen ALEMANY, Véronique (Hg.) (2004): Constitutions du Monastère de Port-Royal du Saint-Sacrement. Paris. (AN.) (Hg.) (1742a): Mémoires pour servir à l’histoire de Port Royal, et à la Vie de la Reverende Mère Marie Angélique de Sainte Magdelaine Arnauld Reformatrice de ce Monastère. Tome premier. Utrecht. (AN.) (Hg.) (1742b): Mémoires pour servir à l’histoire de Port Royal, et à la Vie de la Reverende Mère Marie Angélique de Sainte Magdelaine Arnauld Reformatrice de ce Monastère. Tome second. Utrecht. (AN.) (Hg.) (1742c): Mémoires pour servir à l’histoire de Port Royal, et à la Vie de la Reverende Mère Marie Angélique de Sainte Magdelaine Arnauld Reformatrice de ce Monastère. Tome troisième. Utrecht. ARNAULD, Marie Angélique Jacqueline de Sainte Magdeleine (1737): Mémoires pour servir à la vie de la R. Mère Marie Angélique de Sainte Magdelaine Arnauld, Réformatrice de Port-Royal. o.O. ARNAULD D’ANDILLY, Angélique de Saint Jean (1737): Relation sur la Vie de la Reverende Mère Angélique de Sainte Magdelaine Arnauld. o.O. ARNAULD D’ANDILLY, Angélique de Saint Jean (1954): Relation de la Captivité. Hg. Louis Cognet, Paris. LAMY (i.e. LE MAISTRE, Antoine) (1655): La Vie de Saint Bernard. Paris. LE MAISTRE, Antoine (1742): Relation de plusieurs Entretiens de la Mere Angelique avec M. le Maistre, son neveu, qui les écrivoit sur le champ dans le dessein de s’en servir un jour pour son Histoire. In: An. (Hg.) 1742b, S. 247407. LE MAISTRE, Catherine (1742): Relation de la vie & des vertus de Madame Arnauld, Religieuse de Port Royal sous le nom de Soeur Catherine de Sainte Felicité. In: An. (Hg.) 1742c, S. 275-313. RACINE, Jean (1994): Abrégé de l’Histoire de Port Royal. Paris.
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U LR I K E G LE IX N ER
Eine wachsende weibliche Leserschaft in der Frühen Neuzeit: Selbstzeugnisse als Quelle von Lesepraktiken
Möglicherweise liegt es in der Natur der Sache, dass Spezialistinnen und Spezialisten einer bestimmten historischen Epoche substanzielle Innovationen stets am Beginn ihres eigenen Untersuchungszeitraumes zu verorten suchen. Nicht anders verhält es sich mit der Forschung über das Lesen von Mädchen und Frauen. Entweder wird das Jahrhundert der Aufklärung mit seiner Alphabetisierungswelle als Epoche der Herausbildung und Entfaltung eines weiblichen Lesepublikums angeführt, oder der Zusammenhang zwischen Lesen und weiblicher Persönlichkeitsentwicklung wird als Neuerung des späten 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der ersten Frauenbewegung angesehen. 1 Beide Annahmen sind meines Erachtens nicht unrichtig, wenn man die Anzahl an Druckwerken, die Gesamtheit der weiblichen Leserschaft und die thematische Vielfalt der Texte zum Argument macht. Aber die lesende Frau ist dennoch keine ursächliche Folge der Aufklärung: Frauen haben immer gelesen. Periodisierungen und Epochengrenzen scheinen hier historische Einsichten in längere Entwicklungslinien zu erschweren. Lesediskurse, etwa die weibliche „Lesesucht“-Debatte am Ende des 18. Jahrhunderts, bilden keine realen Suchtzustände ab, stattdessen wurde mittels dieser Polemik die weibliche Lesepraxis neu vermessen. Mit der Debatte installierte man die Notwendigkeit einer Lenkung und Kontrolle weiblichen Lesens in einem expandierenden Druckmarkt. 2 Helga Brandes hat gezeigt, wie stark im Jahrhundert der Aufklärung die erlaubten Lektüren für Frauen diskursiv beschnitten wurden. Nahm man in der Frühaufklärung noch eine eher geschlechterneutrale Perspektive ein, zeichnete sich im Laufe des 18. Jahrhunderts im Zuge der Herausbildung sogenannter „Geschlechtscharaktere“ die Tendenz einer geschlechterspezifischen Literaturauswahl ab. Gegenstände, Themen und Inhalte der Lektüre konstituierten eine neue weibliche Geschlechterrolle. 3 Über eine biologistische Argumentation wurde ein zwingender Zusammenhang zwischen Psyche, Geist und Körper hergestellt. 4 1 2 3 4
Dazu auch kritisch Brandes 1994, S. 125; Kleinau/Opitz 1996. Vgl. Barth 2002, S. 86ff. Vgl. Brandes 1994, S. 131. Vgl. Honegger 1991.
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Unabhängig von ständischen Unterschieden lag nun das männliche Vermögen im abstrakten Denken, das weibliche Vermögen im Bereich der Gefühle. Im Zuge der gesellschaftlichen Durchsetzung der neuen biologistisch definierten Geschlechterdifferenz im 18. und 19. Jahrhundert nahm der Lesediskurs eine konstitutive Rolle ein. Die neue Lesebegrenzung für Frauen war kein Reflex auf eine polarisierte Geschlechterordnung, sondern wurde über den als weiblich markierten Lesekanon etabliert. Am Beginn der Moderne steht daher, trotz expandierendem Buchmarkt, die Einhegung der Möglichkeit extensiven Lesens für Frauen und damit einhergehend ein partieller Ausschluss aus bestimmten Lektürebereichen.
Abb. 1: Frau mit Buch, Radierung, Stecherin Amalia Baader, 1790 5
Im Folgenden möchte ich argumentieren, dass Frauen schon mit der Medienrevolution und Entstehung des Buchmarktes im 16. Jahrhundert Teil der lesenden Gesellschaft wurden. Ihr Lesen gestaltete sich – wie das von Männern – nicht unabhängig von Stand und sozialer Platzierung. 6 Einen wesentlichen Anteil an der neuen Le5 6
Herzog August Bibliothek: Graph. A1: 74a; PURL http://diglib.hab.de/?grafik=grapha1-74a. Informativer Überblick zur Frühen Neuzeit, leider ohne Berücksichtigung der weiblichen Leserschaft, bei Messerli 2010.
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sepraxis hatte die religiöse Lektürepflicht, die mit Reformation und katholischer Reform einherging. 7 Seit dem 16. Jahrhundert wurde nicht nur das gemeinschaftliche, sondern insbesondere das „Für-sich“-Lesen, das individuelle Lesen, für alle Geschlechter und Lebensalter unter dem Gesichtspunkt der Frömmigkeit forciert. Luther etwa propagierte die Eigenlektüre zentraler religiöser Texte wie Bibel und Katechismus. Das intensive und wiederholende Lesen wurde zum Bestandteil der religiösen Meditation. Die wiederholende Lektüre garantierte die mentale und sprachliche Aneignung des religiösen Stoffes. 8 Das individuelle Lesen des Christen wurde damit zur Basis reformatorischer Kulturtechnik. Luthers pädagogischer Einsatz für die Vermittlung von Lesefähigkeit und die Einrichtung von Schulen insbesondere auch für Mädchen zum Zwecke einer intensiven religiösen Lektürepraxis 9 legte den Grundstein für die Entwicklung eines extensiven Lesens, das bald nicht mehr auf bestimmte Gattungen oder Inhalte begrenzt war. Anne Conrad und auch Sylvia Schraut haben den Ausbau des katholischen Mädchenbildungswesens für das 16. und 17. Jahrhundert aufgedeckt und für den Katholizismus ebenfalls eine verstärkte Lesepraxis reklamiert. 10 In welchem erstaunlichen Umfang im 16. und 17. Jahrhundert Kinderund Jugendliteratur entstand, die entweder speziell für Mädchen oder für beide Geschlechter gedacht war, hat Cornelia Moore uns gezeigt. Zu den empfohlenen Lektüren gehörten neben Bibelauszügen, Katechismen, Predigten, Meditationen, szenischen Spielen, Gebetssammlungen, Poesie vor allem auch Biographien. Zielsetzung der literarischen Vorlagen war es, Vorbilder zu vermitteln und Mädchen zu einer guten christlichen Hausfrau zu erziehen. 11 Auf der protestantischen Seite traten Pädagogen, Humanisten und Theologen wie Wolfgang Ratke (Rachitius 1571-1635), Jan Amos Comenius (15921670) oder Johann Valentin Andreae (1586-1654) für eine Verbesserung der Bildungsmöglichkeiten von Mädchen und Jungen ein, wie auch ihre katholischen Kollegen, etwa Juan Luis Vives (1492-1540), Erasmus von Rotterdam (1469-1536) oder Aegidius Albertinus (1560-1620). 12 Im späten 17. und beginnenden 18. Jahrhundert waren Jansenismus und Pietismus geradezu besessen von der absoluten Notwendigkeit der Eigenlektüre religiöser Texte für jeden wahrhaft Frommen. Der Rückzug in eine von der unmittelbaren Umgebung abgesonderte Lese- und Schreibsituation, die zugleich den Rahmen persönlicher Introspektion bieten sollte, wurde zum stereotypen Bild einer vorbildlichen Frömmigkeitspraxis. Johann Jacob Spener (1635-1705) und andere 7 8 9 10 11 12
Vgl. Medick 1991; Moore 1991; Moore 1994; Signori 2009. Vgl. Flachmann 1996. Vgl. Hermann u.a. 1524. Vgl. Conrad 1991; Schraut/Pieri 2004. Vgl. Moore 1987, S. 25. Vgl. ebd., S. 55.
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pietistische Theologen deklarierten die Eigenlektüre religiöser Texte auch für Frauen und Mädchen zu einer verpflichtenden Frömmigkeitspraxis, bei der die Notwendigkeit häuslicher Arbeiten nachgeordnet war. Diese Umkehrung der Pflichten – erst die religiöse, dann die häusliche – eröffnete für Frauen aller Schichten einen weiteren gesicherten Lektüre- und Schreibraum. Die systematische Analyse von weiblichen Selbstzeugnissen könnte tiefere Einblicke in die Vielfalt weiblicher Lesepraktiken der Frühen Neuzeit ermöglichen. Eine dichte Auswertung autobiographischer Zeugnisse (Brief, Tagebuch, Lebenslauf) würde nicht nur die Vielfalt der Lesestoffe zu Tage fördern, sondern zudem die Reflexion der Frauen über ihre Lektüren vergegenwärtigen. 13 Ich kann für diesen Beitrag nur einige Beispiele präsentieren, die die drei Quellengattungen autobiographischen Schreibens umfassen: den Brief, das Tagebuch und den Lebenslauf. Die Beispiele beziehen sich auf verschiedene gesellschaftliche Stände des 17. und 18. Jahrhunderts: Hochadel, Bürgertum und Sklaven. Gelehrte Frauen und Dichterinnen habe ich nicht berücksichtigt, da ihre Lektürepraxis in der Forschung besser präsent ist. Ich wende mich hier den Selbstzeugnissen von eher durchschnittlichen Frauen der unterschiedlichen Stände zu.
1. Hochadel Elisabeth Charlotte von der Pfalz, verehelichte Herzogin von Orléans und damit Schwägerin Ludwig XIV., genannt Liselotte von der Pfalz (16521722), verfasste ein umfangreiches Briefwerk, insbesondere nach ihrer Heirat an den französischen Königshof im Jahr 1671. 14 Ihre Briefe geben beiläufig auch Auskunft über geistliche und weltliche Lektüren. Die Herzogin musste für die Heirat zum Katholizismus konvertieren, blieb aber in ihrer religiösen Lektürepraxis der protestantischen Herkunft verhaftet. Als Witwe las sie jeden Morgen nach dem Aufwachen und nach ihrem Gebet einen Psalm und je ein Kapitel aus dem Neuen und dem Alten Testament in der deutschen Bibel. 15 In der langjährigen Korrespondenz mit ihrer ehemaligen Erzieherin Anna Katharina von Harling, geb. von Offeln, und deren Ehemann Christian Friedrich von Harling, Geheimrat am Hof in Hannover, kommen immer wieder 13 Vgl. Rippl 2000. 14 Vgl. Haberl 1996. 15 Liselotte von der Pfalz, Briefe, Fontainebleau, den 4. Nov. 1701, an die Raugräfin Amalie Elisabeth (Liselottes Halbschwester, 1663-1709), S. 268; Versailles, den 18. Aug. 1702, an dieselbe, S. 284; Marly, den 16. Mai 1705, an dieselbe, S. 312.
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literarische Urteile aus der eigenen Lektüreerfahrung zum Ausdruck. In einem Brief, der die Glaubhaftigkeit von Gespenstergeschichten zum Inhalt hat, berichtet sie in Kurzform von einer Gespenstererzählung des Freiherrn von Amason, die ihr die Gräfin Johanna Sophia von Schaumburg-Lippe zugesandt hatte, und macht deutlich, dass sie an Begebenheiten dieser Art nicht glaube. Mit der Frau von Harling teile sie die Einschätzung, dass die ältere französische Sprache mehr Ausdruck habe als die gegenwärtige. Ihr Urteil über die französische Neuübersetzung des spanischen Ritterromans Amadis de Gaula (Garcia Rodriguez Montalvo) ist vernichtend, während sie die französische Übersetzung von 1540 überaus schätze. Auch die französische Neuübersetzung des Don Quichotte (Miguel Cervantes), eine Parodie auf die Amadis-Romane, erachte sie als nicht gelungen. 16 Es zeugt von umfassender Leseerfahrung, wenn die muttersprachlich deutsch Sozialisierte sich in der Beurteilung französischen Sprachwandels so sicher ist. Ihr Urteil über die dreibändige Histoire de Margueritte de Valois, Reine de Navarre (Soeur de François I. Paris) 1696 von Charlotte Rose de Caumont de la Force fiel dagegen gnädiger aus: Das sei ein „artiger“ Roman und „gemachlich“ zu lesen. 17 Gelegentlich erlauben Briefwechsel aus dem Hochadel auch Einblicke in weibliche Lesezirkel am Hof, wie der wöchentliche Briefwechsel in französischer Sprache zwischen der 40-jährigen Herzogin Luise Dorothea von Sachsen-Gotha-Altenburg (1710-1767) 18 und ihrer jüngeren ehemaligen Hofdame Friederike von Montmartin, geb. von Wangenheim, 19 in den Jahren 1751 bis 1752, nach deren Heirat und Weggang nach Regensburg. Der viel ältere Ehemann war Gesandter Gothas am Immerwährenden Reichstag in Regensburg. 20 Diese Korrespondenz zwischen einer Fürstin und ihrer Hofdame gibt nicht nur Auskunft über Lesestoffe, sondern Einblick in eine Lesekultur im Umfeld der Herzogin am Gothaer Hof. 21 Gemeinschaftliche Lektüren und philosophisch-literarische Diskussionen wurden im sogenannten Frauenzimmer, dem Hofstaat der Fürstin, gepflegt. Grundlage dafür war die umfangreiche Privatbibliothek der Herzogin Luise Dorothea und ihre beständigen Neuerwerbungen und Ankäufe. 22 Die Fürstin hatte zudem in ihrem Tagesablauf eine feste Lesezeit am Nachmittag. 23 Regelmäßige Lesezeiten im Tagesablauf sind aus vielen Selbstzeugnissen von Fürstinnen bekannt: Henriette
16 17 18 19 20 21 22 23
Helfer 2007, Teil 1: Brief 381, 1720. Ebd., Brief 388, 1720. Sie war die Gattin des regierenden Herzogs Friedrich III. Friederike stirbt 1752 wenige Tage nach der Geburt des ersten Kindes. Der Gesandte Friedrich Samuel von Montmartin war zwanzig Jahre älter. Vgl. Raschke 2009. Vgl. ebd., S. 10; Raschke 2004. Vgl. Raschke 2009, S. 55.
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Karoline von Hessen-Darmstadt (1721-1774) etwa las morgens zwischen 6 und 9 Uhr vor dem Aufstehen im Bett. 24 Zusammen mit ihrer Oberhofmeisterin Juliane Franziska von Buchwald, geb. von Neuenstein, gestaltete die oben genannte Gothaer Herzogin die Hofkultur und ihren Lesezirkel. In ihren Briefen bat Friederike Montmartin wiederum Luise Dorothea mehrfach, ihr neue Bücher zu schicken. Gegenstand des Briefwechsels war zudem der Austausch über literarische Neuigkeiten und Urteile. 25 Am 29. Juli 1751 schrieb Friederike Montmartin: „Vor zwei Tagen hat mir ein hiesiger Schöngeist eine französische Übersetzung von Haller geschickt. Ich glaube nicht, sie in Gotha gesehen zu haben. Sie ist in Prosa im Stil der Übersetzung Popes. Frau von Buchwald [Oberhofmeisterin, s.o.] wird sicher mit Freude erfahren, dass man ihrem Helden erneut huldigt …“. 26
Die Herausgeberin der Briefedition Bärbel Raschke vermutet, dass es sich hier um die Übersetzung des philosophischen Lehrgedichts „Über den Ursprung des Übels“ handelt, die der Schweizer Naturwissenschaftler, Mediziner und Schriftsteller Al-brecht von Haller anfertigte. Verfasst war das Lehrgedicht im Stil des englischen Schriftstellers Alexander Pope, von dem Haller inspiriert war. Im übernächsten Antwortbrief der Fürstin vom 3. August 1751 geht die Fürstin auf die Lektüremitteilung ein und schreibt: „Die liebenswürdige Buchwald [Oberhofmeisterin, s.o.], die sie herzlich grüßt, ist an der Übersetzung des Gedichts von Haller sehr interessiert. Sie wissen, Madame, dass ich ihre Meinung [die der Oberhofmeisterin] zu Übersetzungen überhaupt nicht teile, insbesondere wenn es sich um deutsche Gedichte handelt, die aus einer derart harten und nüchternen Feder wie der unseres Poeten stammen. Ich gebe zu, dass ich Lentz allen Hallern der Welt vorziehe. Aber trotzdem wäre ich ihnen sehr verbunden, wenn sie mir zur Freude meiner Freundin ein Exemplar schicken und die Rechnung beilegen würden.“ 27
Zwar legt die Fürstin auf diesen Druck keinen Wert, ermöglicht aber ihrer Oberhofmeisterin die Lektüre. Der genannte Lentz ist vermutlich Ludwig Friedrich Lenz (1717-1780), Verfasser von Gelegenheitsgedichten und geistlichen Liedern, zugleich Hofrat in Gotha, der als spätbarocker Erbauungsschriftsteller klassifiziert wird. 28 Die Gothaer Fürstin bevorzugt demnach die spätbarocke, geistliche Lyrik ihres Hofrates Ludwig Friedrich Lenz gegen24 25 26 27 28
Vgl. Meise 2004, S. 253. Vgl. Raschke 2009, S. 21. Ebd., S. 58. Ebd., S. 63. Vgl. Kühlmann 2010, S. 228.
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über der Lyrik von Albrecht von Haller, die vom aufklärerischen Denken geleitet wurde. In den Briefen kommen nicht nur literarische Urteile zum Ausdruck, sondern es wird darüber hinaus die kommunikative Situation der höfischen Literaturkritik angesprochen. Unter der Leitung der Herzogin versammelte sich die Hofgesellschaft und nahm selbst die Feder in die Hand, um kleinere literarische Formen zu bedienen: Porträts, Gedichte, Rätsel. Diese wurden herumgereicht und kritisch besprochen. Lese- und Schreibpraxis gehören hier zusammen. Die Fürstin kaufte jährlich für 330 Reichstaler die wichtigsten Neuerscheinungen und abonnierte zahlreiche literarische Zeitschriften, wie den Mercure de France und das Journal des Dames. 29 Sie selbst und ihr Hofstaat waren die Leserschaft ihrer Sammlung. Das Diskutieren und Mitteilen der eigenen Leseeindrücke in einem festen kommunikativen Rahmen am Hof, wie das Aufschreiben der persönlichen Leseeindrücke in Briefen, Kalendern und Tagebüchern, gehörten zur höfischen Praxis von Fürstinnen im 17. und 18. Jahrhundert, an dem auch der weibliche Hofstaat teilhatte, wie die Briefe mit Erzieherinnen und Hofdamen zeigen. Dokumentiert ist diese Lesekultur durch autobiographische Zeugnisse und private Büchersammlungen von Fürstinnen, die zur standesgemäßen Lebensführung gehörten und zugleich die Interessen und Selbstbildungspraxen der Fürstinnen spiegeln. 30 Ein Charakteristikum der Büchersammlungen von Fürstinnen war die Orientierung an druckfrischer Literatur, neuem Wissen und modernen Vermittlungsformen wie den Zeitschriften. Helga Meise schreibt, dass das Lesen der Fürstinnen zu ihrem Selbstverständnis gehörte, Teil ihrer Rolle war und zugleich einen Bereich darstellte, der das persönliche Selbstverständnis formte. 31
2. Bürgertum Aber nicht nur die Frauen des Hochadels, auch die Bürgerinnen pflegen die Kultur täglicher Lektüre. Die bürgerlich-weibliche Lektürepraxis wurde mit dem Anwachsen der erbaulichen Literatur im 17. und 18. Jahrhundert nachdrücklich verankert und ausgedehnt. Die Frömmigkeitsbewegungen des 17. und 18. Jahrhunderts popularisieren das Lesen für alle Bevölkerungsschichten. Die programmatische Forderung nach täglicher individueller Bi29 Vgl. Raschke 2009, S. 10. 30 Es gibt eine wachsende Literatur zu Fürstinnen als Büchersammlerinnen. Vgl. Meise 2009; Gleixner 2010; Bepler/Meise 2010. 31 Vgl. Meise 2004.
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bellektüre sowie der Vorstoß pietistischer Schulgründungen können als Beleg dafür dienen. Der württembergische pietistische Waisenhauslehrer Israel Hartmann hebt im Lebenslauf seiner 1795 verstorbenen Ehefrau, Agnes Rosina, geb. Burk, ihre tägliche Bibellektüre hervor. 32 Drei Bücher brachte sie mit in die Ehe: eine Bilderbibel, Speners Katechismus und eine „Medicinische Schatzkammer“. 33 Die ebenfalls württembergische pietistische Pfarrfrau Beate HahnPaulus (1778-1742) las regelmäßig in den nachgelassenen theologischen Schriften und Predigten ihres Vaters und ihres Großvaters, die beide Pfarrer gewesen waren. 34 Aus ihrer Lektüre leitete sie Antworten zum Umgang mit den alltäglichen Auseinandersetzungen mit ihrem Ehemann ab. Das Tagebuch dieser pietistischen Pfarrfrau zeigt sehr eindrücklich, wie religiöse Lektüre zum persönlichen Trost eingesetzt wurde: „Las eine Predigt, wo mir des Heilands Rede mit seinen Jüngern [37] zur Lehre wurd. Daß er sagte, ich werde hinfort wenig mit euch reden könen, denn es komt der Fürst dießer Welt [Joh 14,30].“ Beate Hahn-Paulus deutet das als Rechtfertigung ihres Verhaltens, dass man, „wenn man in großen Versuchungen stehe, sich nicht viel mit anderen abgeben könne, sondern mit sich zu thun habe“. 35 Ihr Tagebuch gibt nicht nur Aufschluss über ihre persönliche, stille Lektüre, sondern sie erwähnt regelmäßig ihr Vorlesen von Bibelkapiteln für ihre Kinder. Auch die wöchentlichen Bibelstunden, die sie für ihre Kinder hält, nimmt sie zum Anlass, im Tagebuch ihre persönliche Situation mit einer biblischen Ausdeutung zu versehen: „Hatte mit meinen Kinder im Erzählen von ...“. Darauf folgt der Vergleich ihrer schwierigen Situation mit Personen vornehmlich des Alten Testamentes (Abraham oder Hiob, Kaleb, Jakob, David, Moses, Elias, Tobias), aber auch des Neuen Testamentes, etwa mit den Jüngern und Jesus. Parameter des Vergleichs mit ihrem eigenen Leben sind die Prüfungen und Leiden der biblischen Gestalten. An diesem Beispiel lässt sich die große Bedeutung religiöser Lektüren zur Bewältigung des Lebens und Alltags von Frauen ermessen. Eine weitere Spur weiblicher Lesepraxis im Zusammenhang mit dem autobiographischen Schreiben lässt sich in familialen Überlieferungen nachweisen. Autobiographische Texte von weiblichen Vorfahren wurden im Kontext von Familie nicht nur aufbewahrt, sondern auch immer wieder gelesen und zudem kompilierend für biographische Texte umgeschrieben. Seit dem Mittelalter haben Frauen mittels Biographien, biographischer Sammlungen, Na32 Vgl. Staatsarchiv Ludwigsburg (STAL) Pl 701 Bü 20: Lebenslauf Agnes Rosina Hartmann, geb. Burk, verfasst von ihrem Ehemann Israel Hartmann zu ihrem Tod 1795. 33 Vgl. Staatsarchiv Ludwigsburg (STAL) PL 701, Bü 16: Brautbrief v. 15. Okt. 1751. 34 Vgl. Gleixner 2007. 35 Gleixner 2007, S. 35, März 1818.
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menslisten und biblischer Exempla die Leistungen ihrer Geschlechtsgenossinnen aufgezeichnet. 36 Im späten 18. und im 19. Jahrhundert expandierte die biographische Geschichtsschreibung von bürgerlichen Frauen erheblich. 37 Die Autorinnen setzten dabei ganz unterschiedliche Schwerpunkte, konzentrierten sich etwa auf Gelehrsamkeit, Heldenmut oder Frömmigkeit, und folgten höchst unterschiedlichen Bewertungskriterien. 38 Biographische Schreibtraditionen in weiblicher Linie, die auf der Lektüre autobiographischer Überlieferung beruhen, lassen sich in bürgerlichen Familienkontexten häufig nachweisen. Charlotte Zeller, geb. Geß (1815-1899), verfasste in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Manuskriptform acht Biographien über weibliche Vorfahren ihrer Familie bis zu der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Diese biographische Schreibform hatte auch schon ihre Mutter gepflegt. 39 Für ihre biographische Arbeit griff die Autorin auf nachgelassene autobiographische und innerhalb der Familie vererbte Dokumente zurück, wie Tagebücher, Haushaltsbücher, Briefe, Gebetsammlungen der Verstorbenen, Leichenpredigten und Festreden anlässlich von Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen sowie auf mündliche Überlieferungen. Aus diesen gesammelten Gedächtnistexten verfasste Charlotte Zeller ihre acht zusammenhängenden Lebensbeschreibungen, in denen zum Teil originale Briefe, Leichenpredigten, sogar Haarlocken und Stoffstückchen eingelegt sind. Über die reine Textualität hinausweisend ist das Gedächtnis darin materialisiert durch eine individuelle, körperliche Stofflichkeit, die an die beschriebene Frau erinnert. Aus den genannten heterogenen Textgattungen ist die Lebensgeschichte kompilierend zusammengestellt, wobei aus Briefen und Tagebüchern lange Passagen als Zitate eingearbeitet werden. Das intertextuelle Kompositionsprinzip mit Auswahl und Kommentar ermöglicht der Autorin, die Überlieferung für ihre fromme familiale Sinnstiftung einzusetzen. In Familienkontexten werden weibliche autobiographische Zeugnisse nicht nur von weiblichen Nachfahren aufgehoben, sondern auch gelesen und zu biographischen Bildern weiterverarbeitet. Der Leseraum für bürgerliche Frauen öffnete sich schon vor der Aufklärung seit dem Buchdruck insbesondere durch religiöse Lektüre, dennoch blieb die Praxis nicht auf religiöse Lektüren beschränkt. Dazu möchte ich in das Beispiel der Basler Bürgerin Anna Maria Preiswerk-Iselin (1758-1840) 36 37 38 39
Sehr viele Beispiele durch alle Jahrhunderte in Lerner 1993; Wunder 1991. Vgl. Smith 1984. Vgl. Weckel 1998. Ihre Mutter Charlotte Williardts hatte ein Exzerpt des geistlichen Tagebuches ihrer Großmutter Maria Dorothea Caspart geb. Rieger angefertigt. Archiv für Familienforschung, Leonberg (AFFL) 18 I 12/1 Anton Williardts, In memoriam matris secundea, dilectissimae nat. Schütz und 18 I 13/1, Charlotte Williardts, Tagebuch meiner l. sel. Großmutter Caspart geb. Rieger.
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einführen. Esther Bauer hat das Tagebuch der Anna Maria Preiswerk-Iselin für den Zeitraum 1785 bis 1840 analysiert. 40 Die Tochter des Basler Stadtschreibers Isaak Iselin, eines bekannten Spätaufklärers, der ebenfalls Tagebuch schrieb, heiratete 1776 den Seidenbandfabrikanten Niklaus Preiswerk. Zwischen 1776 und 1788 kamen sieben Kinder zur Welt; Ehekonflikte führten 1799 zur getrennten Haushaltsführung, sie lebte in Basel und auf einem Landgut im Elsass, er in Straßburg. Die Familie war äußerst wohlhabend. Anna Maria Preiswerk-Iselin, Tochter aus philanthropischem Elternhaus, vermerkte in ihrem Tagebuch auch ihre Lektüren, die sich nicht auf einen „weiblichen“ Lesekanon beschränkten. Sie las die einschlägigen philosophisch-literarischen Zeitschriften wie die Schillersche Thalia, die Horen, später die Minerva, dann zeitgenössische Philosophen wie Herder, Kant, Fichte, Schelling und Schleiermacher, antike Autoren wie Platon und Horaz, auch Literaturgeschichte, historische Darstellungen sowie theologische und pädagogische Werke. An zeitgenössischen Literaten konsumierte sie Goethe, Schiller, Hölderlin, Jean Paul, Novalis und Tieck. 41 Hinzu kamen noch Tageszeitungen. Sie las thematisch breite und sehr anspruchsvolle Literatur, keineswegs nur Romane. Es gibt keine Tagebuchseite, auf der nicht ein Bezug zur Lektüre hergestellt wurde, und sie vermerkte emphatisch, welche Passagen sie berührten und besondere Bedeutung für sie gewannen: „Das Werk der Md de Stael über die fr. Revolution hat mir äusserst viel Freude gemacht: die übereinstimmung ihrer Ansichten mit den meinigen, in so fern meine eingeschränkte Lage u das wenige meines Wissens mir erlauben. Mir ist als ob dies Werk mich heraushöbe, als ob es meine dunklen Gefühle, die ich nur im stillen wagte nun zur Klarheit geworden wären.“ 42
Die Lektüre historischer Werke gab ihr selbst eine Stimme und ermöglichte ihr, ihre Gedanken zu formulieren. Preiswerk-Iselin las systematisch, Unterbrechungen wurden jedoch durch ihre familialen und sozialen Verpflichtungen sowie Krankheit verursacht.
40 Vgl. Baur 2001. 41 Vgl. ebd., S. 101. 42 Ebd., S. 102.
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3. Sklaven-Stand Der in methodistischer Tradition abgefasste Erweckungsbericht der 97-jährigen ehemaligen Sklavin Elizabeth verband den unfreien Status als Sklavin mit der religiösen Erweckung und der aus dieser Verknüpfung resultierenden Selbsterklärung einer göttlichen Berufung. Für diese Konstellation spielte das Lesen in der Bibel als aus-lösendes Element eine zentrale Rolle. Elizabeth, 1766 in Maryland/USA als Kind ebenfalls versklavter Eltern geboren, die als fromme Menschen zur Methodistengemeinde gehörten, erlangte über ihren stets samstags vorlesenden Vater eine profunde Bibelkenntnis. 43 Seit ihrem fünften. Lebensjahr fühlte sie, wie der Geist Gottes von ihr Besitz ergriff, wenn sie allein war. Als 11-jährige wurde sie von ihrer Familie getrennt und von ihrem Besitzer auf eine andere, mehrere Meilen entfernt liegende Farm versetzt. Ihr Heimweh und ihre Einsamkeit sowie die vorübergehende Flucht nach sechs Monaten Trennung von den Eltern, die als Konsequenz eine Auspeitschung durch den Aufseher nach sich zog, bewirkten eine religiöse Erweckung und die Bewusstwerdung ihrer Erwählung. Die Selbstdarstellung als Sklavenmädchen mit dem Schicksal der Abhängigkeit und Rechtlosigkeit war eng verwoben mit der religiösen Erweckung. Die Hinwendung zu Gott – die auch durch die Mutter forciert wurde, indem diese ihr beim Abschied verdeutlichte, dass sie sich als Sklavin nur auf Gott verlassen könne – ermöglichte ihr Überleben als Person. Nach der erneuten Trennung von der Familie entwickelte sie in ihrer einsamen Verzweiflung eine Todessehnsucht mit Nahrungsverweigerung, gefolgt von einem körperlichen Zusammenbruch, in dessen Verlauf sie die Stimme Gottes hörte, die ihr befahl zu beten, was sie auf den Knien ausführte. Die Gebetshaltung brachte sofortige Stärkung. Diese fortgesetzte intensive Frömmigkeitspraxis ermöglichte ihr den Weg ins Erwachsenenleben und markierte in dem methodistischen Lebenslauf die notwendige „Erneuerung des ganzen Menschen durch Gott“. Mit 42 Jahren und offenbar frei gelassen erkannte sie, dass sie eine göttliche Nachricht zu überbringen hatte, deren Inhalt ihr zunächst verborgen blieb. Lesend suchte sie die Antwort in der Bibel, doch der Text blieb ihr verschlossen. Beim zufälligen Öffnen der Bibel blieben ihre Augen an einer Passage aus dem prophetischen Buch Hiob hängen: „gürte wie ein Mann deine Lenden und antworte mir“ (Hiob 38,3). Gott hatte ihr einen predigenden Auftrag erteilt, und so begann sie, prophetische Reden vor schwarzem und weißem Publikum zu halten. Zwar war das Laienpredigertum in den metho43 Vgl. Old Elizabeth. From Six Women’s Slave Narratives. In: Boyd, Herb (Hg.), Autobiography of a People. Three centuries of African American History told by those who lived it. New York 2000, S. 44-47.
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distischen Gemeinden verbreitet und Frauen hatten das Recht zu predigten, aber Elizabeths Aktivitäten forderten die Gemeindeleitung heraus, die ihre Reden als unbedacht verboten. Aus der heimatlichen Gemeinde verdrängt, begann sie das mühevolle und nicht ungefährliche Leben einer Wanderpredigerin. In den Südstaaten der USA, in Virginia, wurde sie vorübergehend festgenommen, weil sie als predigende Schwarze eine Grenze überschritt. Während ihrer Reisetätigkeit, die sie in methodistische Versammlungshäuser bis nach Kanada führte, traf sie immer wieder auf Geistliche, welche die ihr zuteil gewordene göttliche Offenbarung für unmöglich hielten. Aber die Gemeinden, insbesondere die der Schwarzen, empfingen sie mit offenen Armen. In Michigan gründete sie eine Schule für schwarze Waisen, und erst im Alter von 78 Jahren gab sie ihr Wanderpredigertum auf und verbrachte dann ihren Lebensabend in Philadelphia. Diese autobiographische Erweckungsgeschichte ist im Kontext einer methodistischen Schreibpraxis und Traditionsbildung entstanden, in der Erweckungserzählungen als Zeugnis und Vorbildkultur gesammelt wurden. 44 Die Bibellektüre war in den Erzählungen dieser Tradition ein zentrales Element für die Erweckung und diese bot gerade Armen und Rechtlosen die Möglichkeit zu einer subjektiven inneren Befreiung. Ausgehend von der Hypothese, dass Frauen nicht erst im 18. Jahrhundert mit dem Lesen begannen, sondern schon mit dem Buchdruck zur anwachsenden Leserschaft gehörten, zeigte die Analyse von weiblichen Selbstzeugnissen, wie stark das Lesen von den schreibenden Frauen thematisiert wird. Im autobiographischen Schreiben von Frauen spielten sowohl religiöse wie weltliche Lektüren eine wichtige Rolle, der Lesestoff war nicht selten von der ständischen Position abhängig. Zu den Lesestoffen der hier ausgewerteten autobiographischen Literatur gehörten: Romane, historische und zeitgeschichtliche Darstellungen, Biographien, Erbauungsliteratur, die Bibel, Predigten, medizinische Handbücher, antike Autoren, zeitgenössische philosophische Autoren, theologische und pädagogische Werke sowie Zeitungen und Zeitschriften. Mädchen und Frauen haben seit der Expansion des gedruckten Wortes gelesen. Waren es zunächst mehrheitlich die Frauen der höheren Stände, so wuchs die Leserschaft mit dem Ausbau der schulischen Bildung und des Druckmarktes. Das weibliche Lesen jedenfalls ist kein Resultat der Aufklärung.
44 Vgl. Nussbaum 1989.
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Quellen und Literatur Ungedruckte Quellen Lebenslauf Agnes Rosina Hartmann, geb. Burk, verfasst von ihrem Ehemann Israel Hartmann zu ihrem Tod 1795. STAL, Pl 701 Bü 20. Brautbrief v. 15. Okt. 1751. STAL, PL 701, Bü 16. Anton Williardts: In memoriam matris secundea, dilectissimae nat. Schütz und 18 I 13/1, Charlotte Williardts: Tagebuch meiner l. sel. Großmutter Caspart geb. Rieger. AFFL, 18 I 12/1.
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E LK E K LE IN A U
„Ich glaube, ich bin wirklich eine ganz miserable Lehrerin!“ Pädagogische Szenen aus dem Alltag einer deutschen Lehrerin in Brasilien
1. Einleitung „Weißt Du, was ich heute in die tiefsten Tiefen meines Koffers versenkt habe? … Unsern Bormann, d.h. seine ‚vierzig pädagogischen Briefe‘. Sie passen nicht, Grete, sie passen hier nicht! Und ich hatte mich so darauf verlassen! – Wenn mich unterwegs die Angst befiel, wie ich mit meinen brasilianischen Zöglingen fertig werden würde, dann dachte ich immer an das hülfreiche kleine Buch unter meinen Reiseeffekten und sagte mir beruhigt: So machst Du’s! Und nun …! Ach Grete, ich glaube, Bormann hätte hier oft selber nicht gewußt, was er machen sollte. Man ärgert sich über so vieles, was sich garnicht [!] greifen läßt, und was doch da ist und immer wieder da ist!“ 1
In den Autobiographien von im Ausland tätigen deutschen Lehrerinnen, die wir im Rahmen des Projektes „Nation und Geschlecht. Konstruktionen nationaler Identität in Autobiographien deutscher Lehrerinnen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert“ 2 ausgewertet haben, wird der direkten Berufsausübung, d.h. dem Unterrichten, wenig Platz eingeräumt. Das Thema tritt zugunsten der irritierenden Begegnung mit der ‚Fremde‘ zumeist in den Hintergrund. Aus dem pädagogischen Alltag gibt es anscheinend kaum etwas mitzuteilen, zumindest wenig Spektakuläres. Eine Lehrerin, die weitgereiste Auguste Mues (*1839), sah sich immerhin im Vorwort ihrer 1894 erschienenen Lebenserinnerungen bemüßigt, das fehlende Eingehen auf ihren Berufsalltag zu rechtfertigen. Auch wenn die Beschreibung ihres „wechselvollen Lebens“, ihre Reisen in ‚fremde‘ Kontinente, ihre Begegnungen mit Land und Leuten, ‚fremden‘ Sitten und Gebräuchen im Mittelpunkt ihrer Erzählung stünden, so wolle sie doch vorausschicken, dass „die glücklichsten Stunden“ ihres Lebens „nicht die in Genuß und Wohlleben verbrachten waren, sondern
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Binzer 1887, S. 10. Das Projekt wurde von der DFG gefördert und in den Jahren 2004-2008 an der Universität zu Köln von Dr. Wolfgang Gippert unter meiner Leitung durchgeführt.
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die, welche ich in ernster Arbeit meinem Berufe widmete!“ 3 Hier schwingt die Besorgnis einer im religiösen Milieu des Pietismus aufgewachsenen Lehrerin mit, man könne sie einer leichtlebigen, nur dem eigenen Vergnügen gewidmeten Lebensweise bezichtigen. Der eingangs zitierte Stoßseufzer pädagogischer Verzweiflung entstammt einer anderen Feder. Er ist dem 1887 erschienenen Briefroman „Leid und Freud einer Erzieherin in Brasilien“ entnommen. 4 Über die soziale Herkunft und den beruflichen Werdegang der Autorin Ina von Binzer ist wenig bekannt. Zumindest können die biografischen Angaben, die einige Autorinnen und Autoren vermitteln, 5 nicht als gesichert gelten. Ihre Angaben gehen fast alle auf das „Lexikon deutscher Dichter und Prosaisten“ zurück, dem zufolge Ina von Binzer am 3. Dezember 1856 in Brunstorff geboren wurde. 6 Ihre Kindheit verbrachte sie in verschiedenen Orten Schleswig-Holsteins, später zog die Familie ins sauerländische Arnsberg. 7 Im Briefroman streut Ulla von Eck, das fiktive und zugleich autobiografische Alter Ego Ina von Binzers, 8 einzelne Hinweise ein, wobei die Grenzen zwischen Authentizität und Fiktion nicht immer leicht auszumachen sind. Ihre schulische Ausbildung soll Ina von Binzer in einem Bonner Internat abgeschlossen haben. Im Gegensatz zu älteren Kolleginnen, die sich autodidaktisch oder durch Privatunterricht auf ihre spätere Berufstätigkeit vorbereiteten, 9 absolvierte Ina von Binzer bereits eine seminaristische Ausbildung. Ihr Lehrerinnenexamen soll sie in Soest abgelegt haben. 10 Im Briefroman bezieht sie sich mehrfach auf eine gemeinsam mit der Adressatin, einer Jugendfreundin namens Grete, verbrachte Seminarzeit und die dort vermittelten Erziehungslehren des preußischen Lehrer/innenbildners und Provinzialschulrats Karl Bormann (1802-1882), 11 die allerdings bei brasilianischen Zöglingen so gar nicht fruchten wollten. Als örtlicher Bezugspunkt wird in den Briefen allerdings nicht Soest, sondern mehrmals Berlin genannt. 12 In den Jahren 1881-1884 war Ulla von Eck als Gouvernante in verschiedenen Familien 3 4
Mues 1894, S. 4 Die Erstveröffentlichung von „Leid und Freud einer Erzieherin in Brasilien“ erfolgte 1887. 1956 erschien die erste brasilianische Übersetzung, die verschiedentlich wieder neu aufgelegt wurde (vgl. Wedel 2010, S. 93). Auf dem deutschen Markt ist der Briefroman seit 1994 in einer zweisprachigen Neuausgabe erhältlich (vgl. Binzer 1994). 5 Vgl. Schamm 2006; Hahner 1989, S. 119 ff.; Mertin 1994. 6 Vgl. Lexikon o.J., S. 185f. 7 Vgl. Mertin 1994, S. 260; Wedel 2010, S. 93. 8 Vgl. Schamm 2008, S. 27. 9 Vgl. Buchwald 1889; Mues 1897; Kleinau 2010. 10 Vgl. Mertin 1994, S. 260. 11 Vgl. Binzer 1887, S. 21, 91, 94, 143. 12 Vgl. ebd., S. 211.
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wohlhabender Kaffee- und Zuckerplantagenbesitzer in Brasilien tätig; zwischenzeitlich arbeitete sie kurze Zeit in einem Mädchenpensionat in Rio de Janeiro und als Gouvernante in einer Familie in São Paulo. Die Wahl des Genres ist wohl nicht zufällig erfolgt. Reiseberichte setzten sich im 19. Jahrhundert zunehmend dem Verdacht aus, es mit der Wahrheit nicht allzu genau zu nehmen. Die Briefform stand dagegen in dem Ruf, für Authentizität und Glaubwürdigkeit zu bürgen. Mit ihrer Erzählstrategie 13 bezieht die Schreiberin die Leserinnen und Leser unmittelbar in das Geschehen mit ein. Sie sind sozusagen ‚live‘ dabei, wenn Ulla von Eck als aufmerksame Beobachterin ihrer soziokulturellen Umwelt alles festhält, was ihr fremd, neu und ungewohnt erscheint. Sie schreibt witzig, ironisch, selbstreflektiert, nimmt sich und ihre anfänglich naiven Vorstellungen von Land und Leuten häufig selbst ‚aufs Korn‘, und sie schildert relativ offen und durchaus selbstkritisch ihren pädagogischen Alltag und ihre Versagensängste während verschiedener Stationen ihres Brasilienaufenthaltes.
2. Stationen und Engagements 2.1 São Francisco – „die heilige Vehme“ Was ist es nun, was Ulla von Eck derart an ihren pädagogischen Fähigkeiten zweifeln lässt und wobei auch die Zuflucht zu ihrer pädagogischen Bibel, ‚dem Bormann‘, keine Lösung des Problems verspricht? Auf der Kaffeeplantage ihres ersten brasilianischen Arbeitgebers, Dr. Rameiro, gibt es zwölf Kinder, von denen sieben unter ihrer „pädagogischen Fuchtel“ stehen. 14 Der Unterrichtstag beginnt um sieben Uhr morgens mit einer Deutschstunde für die drei ältesten Töchter der Familie. Mit 19, 21 und 22 Jahren stünden die Mädchen in Brasilien dicht an der Grenze zur „alten Jungfer“, schreibt Ulla von Eck. 15 Diese Vorstellung erschrecke sie, sei sie doch selbst im Alter der ältesten Tochter. Damit ist bereits, wenn auch indirekt, ein Problem angesprochen. Lehrerin und älteste Schülerin sind gleich alt, und die drei Schwestern setzen den Bildungsbemühungen ihrer jungen Gouvernante stummen, aber äußerst wirkungsvollen Widerstand entgegen:
13 Zu Erzähl- bzw. Beglaubigungsstrategien in Reiseberichten vgl. Siebert 1998, S. 44ff. sowie Gippert 2012. 14 Binzer 1887, S. 9. 15 Ebd., S. 10.
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„Die ersten Morgende kamen sie [die Schülerinnen] regelmäßig zu spät in die Stunde, so daß ich mich zu dem Ersuchen veranlaßt sah, doch pünktlich zu erscheinen, denn damals lebte ich noch nach Bormann. Seitdem sitzen sie nun jeden Morgen, wenn ich hereinkomme, ernst und schweigend um den Tisch mit ihren blaßgelben, unbewegten brasilianischen Gesichtern, und auch das dumpfe, gleichgültige ‚Bon jour, mademoiselle‘ bringt keinerlei Ausdruck darauf hervor; keine Morgenfrische, keine Lernfreude, keine persönliche Sympathie – ach Grete, dies Trio ist entsetzlich lähmend! Mir fällt jetzt immer bei ihrem Anblick die heilige Vehme ein, wo die Richter nicht ernster und kälter in der Runde gesessen haben können. Ich bin feige genug, bereits zu wünschen, ich hätte sie nicht um Pünktlichkeit ersucht. Wir würgen uns mühsam durch diese deutsche Stunde, natürlich immer durch das Medium des Französischen, und letzteres ist noch das Beste von der Sache, denn sowie sie anfangen, deutsch zu sprechen, verstehe ich keine Silbe mehr.“ 16
Diese Beschreibung beschwört das Bild eines mittelalterlichen Vehmegerichts herauf, mit den drei Schwestern in der Rolle der Richter. Für die Lehrerin bleibt die Rolle der Angeklagten übrig, aber was ist ihr Vergehen? Die Vorstellungen der Lehrerin, ihrer Schülerinnen und die ihrer Arbeitgeber von einem regulären Unterrichtablauf liegen sehr weit auseinander. Ulla von Eck besteht auf einen pünktlichen Unterrichtsbeginn und leidet unter dem hohen Lärmpegel im Haus, der ihr ein konzentriertes Arbeiten unmöglich macht. 17 Ihr preußischer Ordnungs- und Pünktlichkeitssinn löst bei den Familienmitgliedern Befremden aus, sie wird mit ihren Schülerinnen und deren Eltern einfach nicht ‚warm‘. 18 Sprachliche Verständigungsprobleme kommen hinzu, weil beide Parteien in einer Fremdsprache miteinander kommunizieren müssen. Portugiesisch lernt Ulla von Eck erst während ihres Brasilienaufenthaltes, 19 und den jungen Damen mag auf ihrer entlegenen Estancia der Sinn, Deutsch lernen zu müssen, nicht so ohne weiteres eingeleuchtet zu haben. Vor allem aber spricht die Unsicherheit der jungen Lehrerin aus dieser Textpassage. Sie verfügt anscheinend über wenig Berufserfahrung und weiß nicht so recht, wie sie ihre unwilligen Schülerinnen zum Lernen motivieren kann.
16 Ebd. 17 Ebd., S. 57. 18 Vgl. ebd., S. 77. Dieses Gefühl des Nichtwarmwerdens ist nicht nur im übertragenen Sinn des Wortes zu verstehen. Die Gouvernante friert, insbesondere in den empfindlich kalten Nächten, „zum größten Gaudium der Familie, die der ‚kalten Deutschen‘ das Recht dazu eigentlich völlig abspricht“ (ebd., S. 27). 19 Vgl. ebd., S. 3.
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2.2 Rio de Janeiro – „wüstes Chaos“ In einer weiteren Textsequenz, entstanden während ihrer Tätigkeit in einer höheren Töchterschule mit angeschlossenem Pensionat in Rio de Janeiro, kommt der Zweifel Ulla von Ecks an ihrer pädagogischen Eignung noch deutlicher zum Ausdruck. Eingestellt für den Unterricht in den Fächern Englisch und Deutsch sowie für die Erteilung von Klavierstunden ist sie zutiefst davon überzeugt, dass beide Sprachen, insbesondere aber die deutsche Sprache ihren „Schülerinnen wohl ewig ein Buch mit sieben Siegeln bleiben; es ist merkwürdig, wie wenig sie bei mir lernen! Ich habe noch nicht herausfinden können, ob es an mir oder an ihnen liegt, vielleicht macht es auch der Racenunterschied zwischen Germanen- und Romanentum, denn Französisch lernen sie halb im Schlaf, und die Französinnen werden auch viel besser mit ihren Klassen fertig. Ich war schon wieder ein paar Mal in Versuchung, den Bormann hervorzuholen, ich habe ihn aber doch schließlich stecken lassen, weil ich weiß, dass ich zu viele Vorwürfe für mich darin finden würde.“ 20
Der Blick in den Bormann unterbleibt, weil die Gouvernante sich ansonsten eingestehen müsste, Fehler im Umgang mit ihren pädagogischen Zöglingen gemacht zu haben. Über die Art der Fehler lässt sie ihre Freundin Grete und somit auch ihre Leserinnen und Leser im Ungewissen. Stattdessen spekuliert sie darüber, ob es am ‚Rassenunterschied‘ zwischen Germanen und Romanen liegen könnte, dass ihre Schülerinnen sich mit dem Erlernen der deutschen Sprache schwer tun, Französisch dagegen fast ‚im Schlaf‘ lernen und die französischen Lehrerinnen deutlich weniger Disziplinprobleme mit den Schülerinnen haben als sie. Aus fremdsprachendidaktischer Sicht hätte es näher gelegen, mit der strukturellen Verwandtschaft der beiden romanischen Sprachen Portugiesisch und Französisch zu argumentieren, statt über ‚rassisch‘ bedingte Unterschiede nachzudenken. Ulla von Eck nutzt den Begriff ‚Rasse‘ nicht nur, um sich als ‚Weiße‘ von der ‚schwarzen‘ Sklavenbevölkerung Brasiliens, 21 sondern auch um sich kulturell als ‚Germanin‘ von den ‚weißen, 22 romanischen‘ Brasilianern abzugrenzen. Mit dem Verweis auf ‚rassische‘ Differenzen ist es der Lehrerin allerdings gelungen, die eigenen Zweifel an ihren pädagogisch-didaktischen Fähigkeiten in den Hintergrund 20 Ebd., S. 90. 21 In Brasilien wurde die Institution der Sklaverei endgültig erst im Jahr 1888 abgeschafft. Zur Auseinandersetzung Ulla von Ecks mit der Sklavenfrage vgl. Kleinau 2010, S. 78ff. 22 Ulla von Eck bezeichnet sie allerdings nicht als ‚weiß‘, sondern als ‚blaßgelb‘ oder ‚wachsgelb‘ (vgl. ebd., S. 10, 19, 91), was man als einen nicht besonders subtilen Hinweis der Autorin auf die angeblich nicht ganz ‚rassereine‘ Abstammung der ‚weißen‘ Brasilianerinnen und Brasilianer interpretieren könnte.
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treten zu lassen zugunsten einer Argumentation, die auf angebliche kulturelle Unterschiede setzt. Die brasilianische ‚Kultur‘ hinterlässt bei Ulla von Eck einen höchst ambivalenten Eindruck. Sie erscheint ihr „phantastisch, südlich, fremdartig und wunderbar reizvoll“, 23 wenn nur der ohrenbetäubende Lärm, der Schmutz und die Unordnung nicht wären. Auch in der Mädchenschule fehle es an Ordnung und Disziplin, schreibt sie, die sich selbst als „strafferzogene[n] Norddeutsche[n]“ bezeichnet. 24 In den ersten Tagen sei es ihr wie „ein wüstes Chaos“ erschienen. 25 Die Lehrerin klagt darüber, dass ihr bei ihrem Dienstantritt weder ein Lehr- noch ein Stundenplan ausgehändigt worden sei, auch über ihre zukünftigen Schülerinnen sei sie nicht informiert worden: „Die Anzahl meiner Klavierschülerinnen habe ich bis jetzt beim besten Willen noch nicht feststellen können; wenn ich mich des Morgens um halb sieben ans Klavier setze, so erscheint bis um zehn alle halbe Stunde eine Andere mit ihren Noten, als ob sie von einem mechanischen Uhrwerk ausgespien würden; ich notiere sie mir nun alle nach der Reihe und werde wohl so mit Mühe und List endlich zu einem gewissen Stundenplan durchdringen.“ 26
Die Organisation des Unterrichts in beengten räumlichen Verhältnissen bringt es mit sich, dass zwei Lehrerinnen sich ein Klassenzimmer teilen müssen. Während in der einen Ecke des Raumes „portugiesische Gedichte deklamiert werden“, versucht Ulla von Eck, mit wenig Erfolg ihren Schülerinnen „die Verwicklungen der deutschen Deklinationen“ 27 nahezubringen. Die Mädchen sind unaufmerksam, laut und im Umgang mit ihrer deutschen Lehrerin wenig respektvoll, was diese in ihrer Verzweiflung doch wieder zum Bormann greifen lässt. Der Versuch, preußische Disziplinarmethoden einzuführen, misslingt jedoch auf ganzer Linie und löst bei der jungen Frau zunächst tiefe Versagensängste aus: „O Gretel, dieses Collegio – es wächst mir über den Kopf! Ich glaube, ich bin wirklich eine ganz miserable Lehrerin! Sie lernen nicht bei mir, sie lernen garnichts. Ob es hier wohl Schulinspektoren giebt [!]? Dann blamiere ich mich entsetzlich.“ 28
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Ebd., S. 84. Ebd. Ebd., S. 92. Ebd., S. 92. Ebd., S. 91. Ebd., S. 94.
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Was genau ist passiert? Ulla von Eck fährt fort: „Als ich neulich in die Klasse trat, fand ich dieselbe sehr unruhig und lärmend, und in meiner Ratlosigkeit that ich nochmals einen verzweifelten Griff auf Bormann zurück. Sobald ich nämlich so viel Ruhe schaffen konnte, dass ich gehört wurde, kommandierte ich ‚Aufstehen – setzen!‘ fünf Mal hinter einander, was bei uns ja auch wirklich nie verfehlt, eine Klasse zu beschämen. Und hier – o sancta simplicitas! Nachdem ich ihnen erst überhaupt nur schwer begreiflich gemacht hatte, was ich von ihnen verlangte, waren die Kinder derart weit entfernt, das Ganze für eine Strafe anzusehen, daß sie glaubten, es handle sich um einen guten Spaß, hopsten zuletzt immer noch von selbst wie die Perpendikel auf und nieder und amüsierten sich königlich.“ 29
Die Methode, die als Disziplinierungsmittel bei deutschen Schülerinnen und Schülern angeblich nie ihre Wirkung verfehlt, versagt bei den brasilianischen Zöglingen vollständig. Im Gegenteil, die Kinder begreifen nicht einmal, dass es sich um eine Sanktionsmaßnahme handelt, sondern sie finden die Aktion ausgesprochen lustig. Von diesem Moment an hat Bormann als pädagogische Autorität in Brasilien ausgedient. Sie sehe jetzt ein, schreibt Ulla von Eck, „[…] wenn hier eine Pädagogik eingeführt werden soll, dann muß sie brasilianisch sein und nicht deutsch – brasilianisch in Bezug auf die ganze Auffassung und alle Voraussetzungen, sie muß dem Charakter des Volkes, den häuslichen Lebensverhältnissen dieser Leute angepaßt sein. Brasilianische Kinder sollten überhaupt nicht von Deutschen erzogen werden, es ist völlig verlorene Mühe, denn das fremde Reis, das der Jugend da aufgepfropft wird, gedeiht doch nicht.“ 30
Ob die oben geschildete Methode tatsächlich bei zeitgenössischen deutschen Schülerinnen und Schülern derart wirkungsvoll war, wie Ulla von Eck behauptet, sei dahingestellt. Aber geht sie tatsächlich auf Bormann zurück? Mit den „vierzig pädagogischen Briefen“ könnten Bormanns „Vierzig pädagogische Sendschreiben“, 1859 als dritter Teil der „Schulkunde für evangelische Volksschullehrer“ erschienen, gemeint sein. Nur, so wie Ulla von Eck die Methode und ihre unfehlbare Wirksamkeit in deutschen Klassenzimmern schildert, findet sie sich in diesem Text nicht wieder. Bormann behandelt das Thema, wie man nach der Pause, in der die Schüler lebhaft gespielt, gerauft und getobt haben, wieder Ruhe in den Unterricht bringt, und verweist an dieser Stelle lediglich auf einen anderen, aber nicht namentlich genannten Text, in dem er für diese Situation die „Anwendung von Freiübungen“ empfohlen
29 Ebd. 30 Ebd., S. 95.
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hat. 31 Fündig wird man bei der Lektüre des ersten Teiles der von Bormann publizierten „Schulkunde für evangelische Volksschullehrer“. Unter der Überschrift „Wie gewöhnt die Volksschule zur Stille?“ schreibt der Berliner Schulrat: „Eine ungewöhnliche Aufregung unter den Kindern, wie sie zuweilen durch äußere Umstände oder durch ein allgemeines Nachlassen der Aufmerksamkeit hervorgerufen wird, beseitigt der Lehrer am einfachsten dadurch, daß er plötzlich die ganze Klasse zum Aufstehn [!] auffordert, dann zum Niedersetzen kommandirt [!], und diese Uebung eingemale wiederholt. Dadurch kehrt in die Schüler das Gefühl der Gemeinsamkeit und das der Unterordnung unter den Lehrerwillen zurück, welches ihnen in der vorangegangenen Aufregung augenblicklich abhanden gekommen war.“ 32
Ina von Binzer hat Bormann demnach eigentlich missverstanden, denn es geht ihm in dieser Textpassage gar nicht um die ‚Beschämung‘ von Schülerinnen und Schülern, sondern um die Wiederherstellung von Unterordnung und Gehorsam, die ja im Fall der ‚undisziplinierten‘ brasilianischen Zöglinge gegenüber ihrer Lehrerin erst herzustellen war. Möglich ist, dass Ina von Binzer, die ihre seminaristische Lehrerinnenausbildung in den 1870er Jahren absolviert haben muss, noch mit Bormanns Schriften, die stark den Stiehl’schen Regulativen von 1854 verhaftet sind, im Seminar traktiert worden ist. Im Zuge der fortschreitenden Modernisierung und Industrialisierung des Deutschen Reiches wurden aber die pädagogisch-didaktischen Handreichungen Bormanns als Seminarlektüre seit Anfang der 1880er Jahre aus dem Verkehr gezogen. 33 Heutige Schülerinnen und Schüler würden mit Sicherheit ähnlich reagieren wie die Zöglinge Ulla von Ecks. Dass eine für deutsche Verhältnisse entwickelte Pädagogik nicht umstandslos auf lateinamerikanische Verhältnisse zu übertragen ist, deckt sich mit heutigen Erkenntnissen einer interkulturell ausgerichteten Erziehungswissenschaft. Die weitergehende Schlussfolgerung, brasilianische Kinder dürften überhaupt nicht von deutschen Pädagoginnen und Pädagogen erzogen werden, wirkt jedoch deutlich überzogen. Das anfängliche Eingestehen pädagogischen Unvermögens weicht hier einer kulturalistischen Erklärung, mit deren Hilfe Ulla von Eck versucht – angesichts der gerade erlittenen pädagogischen Blamage –, ihr arg ramponiertes Selbstwertgefühl wieder aufzurichten. Die oben zitierte Textpassage geht noch weiter, und die Autorin zieht an dieser Stelle eine interessante Parallele zu einer früher geschilderten Szene, in 31 Bormann 1859, S. 165. Die einzelnen ‚Sendschreiben‘ waren ursprünglich ab dem Jahr 1852 in acht Jahrgängen im „Schulblatt für die Provinz Brandenburg“ publiziert worden (vgl. ebd., S. Vf.). 32 Bormann 1861, S. 202. 33 Vgl. Brümmer 1903.
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der sie, gerade in Brasilien angekommen, ihrer tief empfundenen kulturellen ‚Fremdheit‘ Ausdruck verliehen hat. Ihre erste Fremdheitserfahrung hatte Ulla von Eck an der Begegnung mit der üppigen tropischen Flora festgemacht: eine Begegnung, die sie zwar berauschte und verzauberte, aber mit dem Gefühl der absoluten Fremdartigkeit zurückließ. Sie sei voller Bewunderung für „all diese südliche Pracht“, hatte sie an Grete geschrieben, aber sie „verstehe sie nicht; ich kann mir nichts mit diesen prächtigen Pflanzen erzählen, ich kenne sie nicht und sie kennen mich nicht“. 34 Dieses Gefühl stellt sich nun auch gegenüber ihren Schülerinnen ein. „Mir geht es hier mit den Kindern, wie ich Dir von São Francisco in Bezug auf die Pflanzen schrieb: wir verstehen einander nicht, wir reden äußerlich und auch seelisch eine fremde Sprache mit einander, und besonders letzteres macht mir die Existenz hier zu einer furchtbar unbehaglichen.“ 35
Ein Gefühl großer Einsamkeit spricht aus dieser Textsequenz. Ulla von Eck vermisst „eine gleichgestimmte Seele“, 36 die sie in ihren französischen und englischen Kolleginnen im Collegio nicht findet. Auf Anraten des deutschen Konsuls bewirbt sich die Lehrerin nach São Paulo, wo mehr deutsche Kolleginnen anzutreffen seien.
2.3 São Paulo – „antike Zöglinge“ In São Paulo, der „geistigen Hauptstadt Brasiliens“, 37 kommt Ulla von Eck zu der Familie Costa, und sie entwickelt zum ersten Mal eine gefühlsmäßige Beziehung zu einem ihren Zöglinge. Die zwölfjährige Lavinia gewinnt ihre Zuneigung, aber dass ihr Bleiben in der Familie nicht von langer Dauer sein wird, darauf deutet bereits der schlechte Ruf hin, den sich die Costa’schen Jungen in Erzieherinnenkreisen erworben haben. Kontakte mit deutschen Kolleginnen haben sich sehr schnell ergeben, und diese weisen Ulla von Eck darauf hin, die älteren Söhne der Familie seien „in der ganzen Stadt berüchtigt wegen ihrer Ungezogenheit“, und da keine Erzieherin in São Paulo mehr bereit gewesen sei für die Familie zu arbeiten, habe die Familie mit ihr eine aus-
34 Binzer 1887, S. 24. Zur Interpretation dieser Textpassage über den Bedeutungsgehalt ‚fremdländischer‘ und ‚heimischer‘ Flora vgl. Kleinau 2012. 35 Binzer 1887, S. 25. 36 Ebd., S. 97. 37 Ebd., S. 107.
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wärtige Kraft engagieren müssen. 38 Doch davon mag Ulla von Eck zunächst nichts hören. Sie genießt den Austausch mit gleichgesinnten Kolleginnen sowie den geselligen Umgang im Haus des deutschen Konsuls, wo sie auch Mr. Hall kennenlernt, einen englischen Ingenieur, der die Interessen einer großen englischen Maschinenfabrik in Brasilien vertritt. Gleich bei der ersten Begegnung wird deutlich, dass Mr. Hall im weiteren Verlauf des Briefromans noch eine bedeutende Rolle spielen wird. 39 Ihrer Freundin Grete gegenüber schwärmt von Eck, er sei fast wie ein Deutscher, habe „aufrichtige große blaue Augen“ und sehe ausgesprochen „männlich“ aus. 40 Weitere Begegnungen – alle rein ‚zufällig‘ – werden sorgfältig notiert. Bei einem dieser Treffen überreicht er ihr „ein paar herrliche Rosen“, die er ‚zufällig‘ gerade erstanden hat. 41 Dass sich zwischen den beiden etwas anspinnt, ist unübersehbar. Dass die Geschichte nach einer berufsbedingten Trennung in ein ‚happy end‘ mündet, stellt allerdings in unserem Sample von Lehrerinnenautobiografien eine Besonderheit dar. Die meisten der uns vorliegenden Lebenserinnerungen stammen von Lehrerinnen, die ihr ganzes Leben lang berufstätig und damit – in Zeiten des Lehrerinnenzölibats – unverheiratet blieben. In ihren Jugendjahren erlebten einige von ihnen eine unglückliche, weil unerfüllte Liebe. Soziale und/oder finanzielle Hindernisse machten eine Eheschließung unmöglich, und oft verstarb der geliebte Mann kurze Zeit nach der durch bürgerliche Konventionen erzwungenen Trennung. 42 Dass dieses Motiv der – letztendlich durch den Tod des Geliebten – unerfüllten Liebe Toposcharakter hat, liegt auf der Hand. Aber warum ließ Ina von Binzer ihren Briefroman mit einem nachweislich fiktiven, wenn auch nicht unrealistischen Ende ausklingen? Fiktiv ist dieses Ende, weil die Autorin keinen englischen Ingenieur, sondern 1896 einen deutschen Juristen namens Adolf von Bentivegni ehelichte; 43 realistisch, weil zeitgenössischen Quellen zufolge Lehrerinnen im selben Zahlenverhältnis, nur später als andere Frauen, heirateten. Abgesehen davon, dass mit einem solchen ‚happy end‘ wohl auch eine Erwartungshaltung zeitgenössischer Romanleserinnen bedient wurde, erzählstrategisch erscheint das Ende des Briefromans durchaus stimmig: In der 38 Ebd., S. 112. Diese Arbeitgebertaktik griff fast 20 Jahre später Helene Lange in einem Handbuchartikel auf. Sie schrieb, dass hinter Zeitungsannoncen nicht immer seriöse Kunden steckten. Suche z.B. „eine englische Familie eine deutsche Erzieherin in deutschen Blättern“, so sei davon auszugehen, dass sie aus irgendwelchen Gründen in England, wo ausreichend deutsche Erzieherinnen vorhanden seien, keine mehr finde“ (vgl. Lange 1904, S. 546). 39 Binzer 1887, S. 113. 40 Ebd., S. 116. 41 Ebd., S. 123. 42 Vgl. Buchwald 1889; Mues 1894. 43 Vgl. Wedel 2010, S. 93.
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gefühlsmäßig aufgewühlten Stimmung des Verliebtseins fängt Ulla von Eck an, sich auf Land und Leute einzulassen, sich heimisch zu fühlen. Die Schilderung der ersten Begegnung mit Mr. Hall endet mit den Worten: „Ach, Gretele, ich bin so froh, daß ich hier bin, so sehr froh! Deine glückliche Ulla.“ 44 Doch zurück zum pädagogischen Alltag: Ulla von Eck muss sehr bald die Erfahrung machen, wie zutreffend ihre Kolleginnen die pädagogische Lage im Haus der Costas eingeschätzt haben. Die „antiken Zöglinge“, Cajus Gracchus und Plinius geheißen, fordern der Lehrerin „alle möglichen pädagogischen Finessen“ ab. 45 Die Eltern kümmerten sich gar nicht um die Kinder, klagt die Lehrerin, die drei ältesten seien vollständig ihrer „geistigen Fürsorge anvertraut“ und die jüngeren würden mehr schlecht als recht von Sklavinnen versorgt. 46 Wie nachgiebig sich angeblich die Eltern gegenüber ihren verzogenen Söhnen zeigen, illustriert folgende mittägliche Szene: „Cajus und Plinius besaßen nämlich jeder ein Velociped, ersterer sogar ein ganz modernes Bicycle, das Herr Costa ihm aus England hatte kommen lassen. Auf diesen unseligen Vehikeln brachten nun die Römerjünglinge außer den Schulstunden ihr Dasein hin und entwickelten eine derartige Anhänglichkeit an dieselben, dass sie sogar ‚vom hoh’n Velociped herab‘ zu Mittag speisten. Da die Eltern gleichmütig dabei saßen, mochte ich nicht wehren, aber meine Mahlzeiten wurden durch Plinio’s bedrohliche dreirädrige Nachbarschaft entschieden in ihrer Gemütlichkeit nicht gehoben; zumal waren die Momente beunruhigend, wenn er von kleinen zerstreulichen Rundfahrten um den Tisch, die er in seinen Essenpausen unternahm, auf seinen Platz zurückkehrte. Nachdem er denn auch richtig einmal derartig in meinen Stuhl gefahren war, daß er mich fast mit dem Gesicht in meinen Teller schickte, bekam er zwar eine Rüge, aber das aufregende Vehikel blieb zu Rechtens bestehen.“ 47
Ob die oben dargestellte Szene, die durchaus absurde Züge beinhaltet, sich tatsächlich so abgespielt hat, oder ob hier eine Verdichtung mehrerer Episoden zu einer höchst unterhaltsamen Szene stattgefunden hat, sei dahingestellt. Zur großen Erleichterung der Lehrerin geht jedoch das Fahrrad des jüngeren Sohnes durch exzessiven und fehlerhaften Gebrauch sehr bald entzwei, und der eklatante Facharbeitermangel im Sklavenhalterstaat Brasilien, den die Lehrerin in mehreren ‚nationalökonomischen Abhandlungen‘ eingehend dargestellt und beklagt hat, zeigt in diesem Fall positive Auswirkungen. Mr. Hall, der durch einen seiner Arbeiter leicht hätte Abhilfe schaffen können,
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Binzer 1887, S. 113. Ebd., S. 133. Ebd., S. 134. Binzer 1887, S. 137.
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verzichtet darauf, um die überstrapazierten Nerven der verehrten jungen Frau zu schonen. 48 Das Engagement in São Paulo endet Knall auf Fall. Die Costa-Söhne, die in ihrem Einfallsreichtum an dummen Streichen für Ulla von Eck Vergleiche mit Max und Moritz heraufbeschwören, haben aus purem Leichtsinn und Übermut die Pferde der Trambahn mit Feuerwerk und Knallerbsen so erschreckt, dass dabei ein Pferd zu Tode gekommen ist. Diese Episode, die dem Vater eine Klage auf Schadenersatz einbringt, hat zur Folge, dass die Jungen einer Klosterschule übergeben werden. Für die Tochter allein lohnt es sich nicht, eine Erzieherin zu halten. Ulla von Eck muss die deutsche Kolonie in ihrem geliebten São Paulo und Mr. Hall verlassen und wiederum aufs Land ziehen, dieses Mal auf die Plantage São Sebastiao.
2.4 São Sebastiao und Santos – „der vernünftigste Mensch“ Wider Erwarten gefällt es der Gouvernante auf der abgelegenen Zucker- und Baumwollplantage der Familie de Souza sehr gut. Die Familie sei „die liebenswürdigste“, die sie „bisher unter den Einheimischen kennengelernt“ habe. 49 Die kleinen Schülerinnen sind artig und gut erzogen und für die Lehrerin hat man das „besteingerichtete“ Zimmer im Haus hergegeben. 50 Die Dame des Hauses wird – im Gegensatz zu den bisher dargestellten Brasilianerinnen – als unermüdlich tätige Hausfrau geschildert, die fleißiger sei „als manche berühmte ‚deutsche Hausfrau‘ und unter schwierigeren Verhältnissen obendrein“. 51 Über den pädagogischen Alltag auf São Sebastiao wird nichts mehr berichtet, was für eine gelingende pädagogische Beziehung zwischen der Erzieherin und ihren Zöglingen spricht. Während eines Badeurlaubs der Familie in Santos übernimmt Ulla von Eck zusätzlich den Unterricht für einen Cousin der Mädchen. Da der Junge bereits 14 verschiedene Lehrerinnen gehabt hat, befürchtet die junge Frau zunächst „eine Wiederholung meiner Zeit des klassischen Altertums in São Paulo“. Aber Luiz-Guilherme entpuppt sich als ein „ziemlich liebenswürdiger und recht intelligenter Junge von 13 Jahren“, 52 und es erfüllt die junge Frau mit großem Stolz, als er ihr ein unerwartetes pädagogisches Lob zukommen lässt. Gegenüber seiner Mutter habe er geäußert, sie
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Vgl. ebd., S. 137. Ebd., S. 148. Ebd., S. 152. Ebd., S. 153. Ebd., S. 180.
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sei von allen Lehrerinnen, deren Unterricht er genossen habe, „der vernünftigste Mensch“. 53 Dass, trotz aller Sympathie für die Familie de Souza, die Brasilianerinnen und Brasilianer der Gouvernante letztendlich doch fremd bleiben, wird deutlich, als sie unvermutet von einer Ansiedlung erfährt, die nordamerikanischen Ansiedlerinnen und Ansiedlern gehört. Ihr entfährt der Ausruf „ganz zivilisierte[n] Menschen!“ 54 Gemeinsam mit den Amerikanerinnen und Amerikanern besucht sie einen Gottesdienst, der ihr, obwohl sie eigenen Angaben zufolge keine fleißige Kirchgängerin ist, 55 in seiner ergreifenden Schlichtheit nachhaltig in Erinnerung bleibt. Zum einen stiftet wohl das Wissen, zur protestantischen Diaspora in Brasilien zu gehören, eine Art von Gemeinschaftsgefühl mit Menschen des angloamerikanischen Kulturkreises. Zum anderen fühlt Ulla von Eck sich aber zu ihnen hingezogen, weil ihr schon „immer das Wesen und Sein germanischer Volksstämme“ weitaus sympathischer gewesen sei als das der ‚Romanen‘. Die Brasilianer bleiben ihr ‚fremd‘, „[…] fremder sogar als alle anderen Fremden hier, die schon ein gewisses Gefühl der Zusammengehörigkeit als Gäste auf hiesigen Boden zusammenzieht“. 56 Damit thematisiert sie ein Phänomen, das sich bis heute unter Migrantinnen und Migranten findet. Verunsichert durch die Fremde, fremde Sitten und Gebräuche wird der Anschluss an bereits vor Ort befindliche Angehörige aus der Heimat gesucht. Sind solche nicht vorhanden, hält man sich an Angehörige befreundeter Nationen. Gemeinsame Interessen oder Geschmäcker spielen dabei eine untergeordnete Rolle, oftmals stellt das Fremdheitsgefühl das einzig verbindende Element dar. Träfen diese Menschen in ihrem jeweiligen Heimatland aufeinander, entstünden völlig andere Beziehungen, eventuell sogar gar keine. 57
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Ebd. Ebd., S. 163. Vgl. ebd., S. 116 und 167. Ebd., S. 164. Vgl. Mitscherlich 1997, S. 60.
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3. Schluss
Mit dem ihr gespendeten Lob ihrer pädagogischen Fähigkeiten, der gelungenen Beziehung zu ihren Schülerinnen, aber auch mit den sich häufenden positiven Bezugnahmen auf die anglo-amerikanische Kultur sowie der geliebten englischen Sprache steuert der Briefroman auf das absehbare Ende der Erzählung zu. Dass Ulla von Eck in Mr. Hall verliebt ist und er in sie, war von Anfang an nicht zu übersehen. Nach einem unverhofften Wiedersehen lässt sie sich zu der Äußerung hinreißen: „Ach Gretele, ich bin so froh! Und es ist doch eigentlich ganz hübsch in Brasilien.“ 58 Als glücklich Verliebte lassen sich die zuvor kritisierten Zustände und Zeitgenossen in der ‚Fremde‘ und vielleicht auch das eigene Unvermögen als Lehrerin leichter ertragen. Und so schließt der Roman mit einer Verlobungsanzeige und – der überraschenden Ankündigung der baldigen Rückkehr der ‚überglücklichen‘ Ulla Hall nach Deutschland. 59 Mit der Heirat ist für Ulla von Eck nicht nur die Heimreise gesichert, sondern auch das Ausscheiden aus dem Beruf als Lehrerin.
Quellen und Literatur Quellen BINZER, Ina von (1887): Leid und Freud einer Erzieherin in Brasilien. Berlin. BORMANN, Karl (1859): Vierzig pädagogische Sendschreiben. (Schulkunde für evangelische Volksschullehrer, 3. Theil). Berlin. BORMANN, Karl (91861): Schulkunde für evangelische Volksschullehrer auf Grund der Preussischen Regulative vom 1., 2. u. 3. October 1854 über Einrichtung des evangelischen Seminar-, Präparanden- und Elementar-Unterrichts, 9. Verbesserte Auflage. Berlin. BUCHWALD, Bertha (1889): Erinnerungsblätter aus dem Leben einer deutschen Lehrerin. Weimar. LANGE, Helene (1904): Erzieherin. In: REIN, Wilhelm (Hg.): Encyklopädisches Handbuch der Pädagogik, Bd. 2. Langensalza, S. 539-547. MUES, Auguste (1894): Lebens-Erinnerungen und Reise-Eindrücke einer Erzieherin. Osnabrück. 58 Binzer 1887, S. 178. 59 Ebd., S. 225.
„Ich glaube, ich bin wirklich eine ganz miserable Lehrerin!“
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Forschungsliteratur GIPPERT, Wolfgang (2012): Abwehr – Annäherung – Aneignung. Fremdheitskonstruktionen und Kulturtransfer in Frauenreiseschriften. In: KLEINAU, Elke/RENDTORFF, Barbara (Hg.): Eigen und anders. Beiträge aus der Frauen- und Geschlechterforschung und der psychoanalytischen Pädagogik. Opladen/Berlin/Toronto, S. 35-50. HAHNER, June Edith (Ed.) (1998): Women through Women’s Eyes. Latin American Women in Nineteenth-Century Travel Accounts. Wilmington. KLEINAU, Elke (2010): Klasse, Nation und „Rasse“ – Intersektionelle Perspektiven in der genderorientierten Historischen Bildungsforschung. In: Der pädagogische Blick. Zeitschrift für Wissenschaft und Praxis in pädagogischen Berufen, Jg. 18, Heft 2, S. 68-81. KLEINAU, Elke (2012): Konstruktionen von Heimat und Fremde in autobiografischen Zeugnissen deutscher Lehrerinnen. In: KLEINAU, Elke/ RENDTORFF, Barbara (Hg.): Eigen und anders. Beiträge aus der Frauen- und Geschlechterforschung und der psychoanalytischen Pädagogik. Opladen/ Berlin/Toronto, S. 51-64. MITZSCHERLICH, Beate (1997): „Heimat ist etwas, was ich mache“. Eine psychologische Untersuchung zum individuellen Prozess von Beheimatung. Pfaffenweiler. SCHAMM, Christoph (2008): Kulturschock in Brasilien. Eine Studie zur Interkulturalität in Ina von Binzers Briefroman Leid und Freud einer Erzieherin in Brasilien (1887). In: Revista Contingenta, Jg. 3, Heft 1, S. 26-50. SIEBERT, Ulla (1998): Grenzlinien. Selbstpräsentationen von Frauen in Reisetexten 1871 bis 1914. Münster/New York/München/Berlin. WEDEL, Gudrun (2010): Autobiographien von Frauen. Ein Lexikon. Köln/ Weimar/Wien.
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Gegenstand meiner Überlegungen sind zwei Tagebücher. Das erste, länger und ausführlicher, enthält Abschnitte aus dem zweiten, das viel kürzer und weniger geordnet ist und an einem bestimmten Punkt abbricht. Es handelt sich um zwei voneinander verschiedene und miteinander verbundene Egodokumente, die beide von denselben Personen, doch aus unterschiedlichen Perspektiven sprechen. Es ist also ein kompliziertes Kapitel aus der Geschichte der Autobiografie und der Biografie, die in diesen Texten auf faszinierende Weise miteinander verflochten sind. Dazu im Voraus einige Bemerkungen.
1. Autobiografie, Egodokumente und autobiografischer Pakt Seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts wird das autobiografische Schreiben als eine eigenständige narrative Form anerkannt, die einer wissenschaftlichen Analyse und Interpretation würdig ist, und zwar nicht nur auf dem Gebiet der Literatur, sondern auch der Philosophie und im Weiteren auch der Geschichte. Die Gesamtheit der Dokumente, die immer häufiger als Egodokumente bezeichnet werden, umfasst alle Texte, in denen das auktoriale Ich Subjekt und zugleich Objekt ist. Die Erzählformen können variieren, Zeiten, Ereignisse, Personen und Handlungsorte höchst unterschiedlich sein, ebenso die Formen der Selbstdarstellung des Autors sowie deren Ziele und Räume. Nicht immer handelt es sich ja um Bücher oder unveröffentlichte Schriften, allmählich sind andere narrative Techniken hinzugekommen, die die Formen der Selbstdarstellung diversifizieren. Von den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts an gab es Versuche, die Geschichte der Autobiografie zu schreiben, doch einen wissenschaftlichen Anspruch kann als erste die monumentale Geschichte der Autobiographie von Georg Misch 1 erheben, deren erste Fassung 1907 erscheint. In der Einlei1
Ich zitiere nach Misch 1949. Die Veröffentlichung dieses Werkes zog sich über ein halbes Jahrhundert hin, jeder Band erlebte mehrere verbesserte Neudrucke. Der erste
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tung wird der Begriff Autobiografie definiert als Lebensbeschreibung eines Einzelnen durch ihn selbst; als komplexe Äußerung, in welcher darstellende und dargestellte Person identisch sind. Diese Textgattung wird in ihren vielen Formen untersucht: als im Titel deklarierte Ich-Erzählung, die als fortlaufender Text erscheint, oder als Gesamtheit von Texten, in denen der Autor von sich spricht und die Teil eines anderen, nicht autobiografischen Textes sind; in Prosa oder Versen, in offizieller oder privater Sicht; in Reden, Memoiren, Briefen, Familienchroniken, Romanen, Epigraphen. Diese reiche und vielfältige Typologie erklärt die „proteische“, 2 „chamäleonartige“ 3 Natur dieses Genres. Misch zufolge ist die Autobiografie im Rahmen der Diltheyschen Lebensphilosophie zu sehen, als „ein Mittel zur menschlichen Selbsterkenntnis“, 4 sie stelle sich dar als ein „Zeugnis für die Entwicklung des Persönlichkeitsbewusstseins der abendländischen Menschheit“. 5 Misch beschreibt denn auch das Erzählen vom Ich unter dem Gesichtspunkt einer Theorie des Menschen, seines Wissens und seiner Geschichte, wobei lexikalische Präzisierungen, Textuntersuchungen des Erzählens vom eigenen Leben beiseite gelassen werden zugunsten einer Bedeutung des Terminus, die herausarbeitet, dass die Selbstgeschichte ein herausragendes Moment eines umfassenden Geschehens ist. Die Folge davon ist, dass der große Überblick von Misch beinahe nur Zeugnisse von Erwachsenen heranzieht und untersucht, die die Ereignisse des eigenen Lebens niedergeschrieben oder diktiert haben, das heißt von Personen, die selbst in der Lage waren, zu schreiben oder einem Schreiber zu diktieren, was sie erlebt hatten. Ausgeschlossen blieben daher Autobiografien von Menschen, die nicht schreiben konnten oder schriftlosen Kulturen angehörten; Kinder, die noch nicht schreiben gelernt hatten, und ganze traditionell oder altersbedingt analphabetische Schichten. Also eine schweigende Welt, die vielleicht bestenfalls von anderen beschrieben wurde und durch Texte an die Öffentlichkeit gelangte, die das Subjekt, dessen Geschichte mündlich überliefert war, nicht selbst kontrollieren konnte, weil es den Modus des Ausdrucks nicht nachzuprüfen in der Lage war. Im Lauf der Jahrzehnte präzisierten sich die Geschichte und die Interpretation der Autobiografie – und
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Band erschien 1907, die beiden Teile von Band II 1955, die beiden Teile von Band III von 1959 bis 1962, die beiden Teile von Band IV posthum, 1967-69. Darüber hinaus wurde die monumentale Geschichte begleitet von weiteren Publikationen des Autors zu spezifischen Themen der Ich-Erzählung. Misch benutzt dafür verschiedene Termini, wie Autobiographie, autobiographisches Schrifttum, Lebensdokument, Selbstbiographie, Selbstdarstellung. Es ist hier nicht der Ort, die semantischen Unterschiede dieser Termini bei Misch zu klären. Für eine kritische Darstellung der Schriften von Misch verweise ich auf Mazzanzanica 2001. Ebd., S. 7. Ebd., S. 9. Ebd., S. 13. Ebd., S. 5.
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damit auch ihrer Bedeutung –, und vom Standpunkt einer Philosophie der Kultur bei Misch gelangte man zu einer deutlicher definierten Betrachtung des autobiografischen Erzeugnisses als solches. In den 1950er Jahren, als Misch noch an der Vervollständigung seines monumentalen Werks arbeitete, setzte ein holländischer Historiker, Jacques Presser, 6 einen neuen Terminus in Umlauf, das ‚Egodokument‘, ihm zufolge die Gesamtheit von “diaries, memoirs, personal letters, and other forms of autobiographical writings […] Those documents in which an ego intentionally or unintentionally discloses, or hides itself […] and writes about his or her own acts and thoughts”. 7 Der Terminus findet Verbreitung, er wird nicht ohne Diskussionen in den verschiedensten Bereichen der historischen Kultur Europas akzeptiert und erweitert sein Bedeutungsfeld bis hin zu Dokumenten wie Befragungen, Lebensläufen und anderen offiziellen und nicht offiziellen Texten. Doch vor allem führt er zu einer Reflexion über die Verbindung zwischen solchen Dokumenten und anderen historischen Zeugnissen, sowie über öffentliche und private Bedeutungen solcher Texte, nicht zuletzt der Herstellung einer Identität. Damit wird das Egodokument zu einem unverzichtbaren Instrument der historischen Forschung, zwar nicht Zentrum der Weltgeschichte, doch – und darüber wird heute noch lebhaft diskutiert – subjektive Darstellung eines Lebens innerhalb einer Gesamtheit von Umständen, von welchen dieses Leben beleuchtet wird, sie aber auch beleuchtet. Weiterhin regt die Herausarbeitung des Begriffs Egodokument die Diskussion über die Definition des literarischen Genres, aber vor allem des Selbst und der Individualität an, was dazu führt, dass Autobiografien aus privaten Archiven gesammelt, dass Sammlungen zu verschiedenen Kontexten und Zeiten hergestellt werden. Damit entstehen auch Kommentare zu Schreibweisen, und man erkennt die Autorenschaft junger Menschen an. 8 Die noch laufenden Diskussionen über Sinn, Funktion und Wert eines Egodokuments betrachten aber kaum textliche Aspekte der Autobiografie und verharren bei einer weitgehend deskriptiven Bedeutung. Alles in allem ist die Definition des Egodokuments weit gefasst, wohl auch, um die Fülle der bisherigen Ergebnisse nicht einzugrenzen und weitere, vielversprechende Forschungen nicht einzuschränken.
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Ich entnehme die kurzen von mir zitierten Informationen aus der Einführung von Rudolf M. Dekker (2002) zu dem von ihm herausgegebenen englischen Text. Ebd., S. 7. Ich erinnere an den ersten Band einer Reihe des Verlags Brill mit dem Titel „Child of the Enlightenment. Revolutionary Europe reflected in a Boyhood Diary“, in dem die beiden Herausgeber, Arianne Baggerman und Rudolf Dekker, das Tagebuch eines holländischen Jungen vom Ende des 18. Jahrhunderts kommentieren, kontextualisieren und mit reichen Informationen versehen.
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Theoretische Ansätze bezüglich einer sichereren und erschöpfenderen Definition des Terminus entstehen im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts auf dem fruchtbaren Boden der französischen Erzählforschung. 1975 erscheint ein Text, der helfen wird, die Fragen der Definition weiter zu klären: Le pacte autobiographique 9 von Philippe Lejeune, einem anerkannten Spezialisten und Autor von Studien zum récit de soi, die in den folgenden Jahren immer zahlreicher werden sollten. Gegenstand der Überlegungen von Lejeune ist die Autobiografie als Text. Ihm ging es, wie er schreibt, „darum, mich mit der Funktionsweise dieses Textes zu befassen, indem ich ihn funktionieren ließ, das heißt: indem ich ihn las“. 10 Im ersten Kapitel gibt Lejeune seine Definition der Autobiografie: „Rückblickende Prosaerzählung einer tatsächlichen Person über ihre eigene Existenz, wenn sie den Nachdruck auf ihr persönliches Leben und insbesondere auf die Geschichte ihrer Persönlichkeit legt.“ 11 Die Bedingung für eine Autobiografie ist, dass der Autor unmissverständlich identifizierbar sei und dass der Leser ihn ebenso unmissverständlich erkennen könne. Dies ist ‚der autobiographische Pakt‘. Doch das Dokument des Selbst und auch die Autobiografie, wie sie Lejeune versteht, findet nicht nur ihren Ausdruck in der vollständigen oder beinah vollständigen Form einer Lebensgeschichte, wo der Autor tatsächlich und unmissverständlich derjenige ist, der die eigene Lebensgeschichte erzählt. Neben dieser Form, die lange Zeit als grundlegend und paradigmatisch betrachtet wurde, zeichnen sich andere Beispiele für Egodokumente ab (Radiointerviews, biografische Filme, mündliche Zeugnisse und Lebensgeschichten der ethnografischen Forschung). Sie untersucht und diskutiert Lejeune in seiner Schrift aus dem Jahr 1980 Je est un autre. Auf den wenigen Seiten des Avant-propos stellt Lejeune die Absolutheit des Autors je der Autobiografie in Frage, der nun, je nach Mittel, Situation der Mitteilung, den sozialen Beziehungen, die das Erzählen vom Selbst betreffen, seine Exklusivität als einziger und unwiederholbarer Autor des Textes verliert. Als Mischform von Autobiografie und Biografie stellt diese neue Gemeinsamkeit von Genres – anders als die niedergeschriebene Seite – das Konzept des autobiografischen Pakts in Frage; sie erscheinen als Modalitäten eines Genres a priori, der Biografie, „Form des Lebens“, um dann zu Erscheinungsweisen des „biografischen Raumes“ 12 zu werden. In den Texten, in denen er die Idee vom autobiografischen Pakt präzisiert und revidiert, erwähnt Lejeune keine Formen der Autobiografie, deren Autor kein Erwachsener ist. Dabei fehlt es nicht an Beispielen. Und auch hier gibt 9
Paris: Éditions du Seuil 1975; ich zitiere nach der deutschen Übersetzung aus dem Jahr 1994. 10 Ebd., S. 7. 11 Ebd., S. 14. 12 Lejeune 1980, S. 9.
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es Ausnahmen; sie können das erzählende – und nicht selten auch schreibende – Subjekt betreffen, den an seiner Stelle Schreibenden sowie autobiografische Passagen, die keinem systematischen Ganzen angehören.
2. Zwei Tagebücher Die beiden von mir betrachteten Texte illustrieren einige dieser Möglichkeiten. Die folgenden Untersuchungen gelten den Texten eines Erwachsenen und eines Kindes – Vater und Sohn, die miteinander in demselben Umfeld gelebt haben und die auf dramatische Weise aufeinander und ihre beiden Geschichten verweisen. Der Text des Vaters ist eine Autobiografie aber auch ein Kindertagebuch, 13 denn im Tagebuch des Vaters wird prinzipiell vom Kinde gesprochen. Und mehr noch: Die Schrift des Vaters enthält auch Teile eines Tagebuches des Sohnes. Dieses Tagebuch eines nicht Erwachsenen ist in Fragmenten, die wir nicht als Ganzes rekonstruieren können, in das Tagebuch eingefügt, das der Vater über seinen Sohn und für ihn schreibt. Das Tagebuch des Vaters – der Autor nennt es auch Buch – ist 1997 in Deutschland erschienen, Herausgeber ist Andreas Feuchte. 14 Der Verfasser ist Hermann Franck (1802-1855), Musikkritiker, geboren in Breslau und gestorben in Brighton;15 er spricht in diesen Aufzeichnungen von sich in der ersten Person als Vater von Hugo, dem dieses Tagebuch gewidmet ist und dessen Alltagsleben es beschreibt und kommentiert. Das Tagebuch umfasst beinah acht Jahre, vom Dezember 1847 bis zum 18. Januar 1855 (es gibt keine Hinweise darauf, ob dieses Datum den Schluss des Tagebuchs darstellt), und richtet sich an den Sohn, „meinen lieben Hugo“ (1840-1855), der wenige Stunden vor dem Vater stirbt. Das Tagebuch von Hermann Franck, 16 die „Jugendgeschichte von Hugo“, 17 ist eine dichte, zeitlich nicht regelmäßige Erzählung; manchmal unterbricht der Vater sie wochenlang, wenn er verreist ist oder wichtige Verpflichtungen hat, und nicht immer macht er sich Notizen für die Vervollständigung, 18 die meist nachts stattfindet, 19 oft liest er es wieder, 20 manchmal 13 14 15 16
Zu Kindertagebüchern siehe Becchi 2001. Franck 1997. Zu Hermann Franck siehe Feuchte 1998. Das Originalmanuskript des Tagebuchs befindet sich in einem nicht genauer angegebenen Privatarchiv (vgl. Feuchte 1998, op.cit. S. 305, unter Nachlass Franck Privatbesitz). 17 Franck 1997, op.cit, S. 531, 22. September 1853. 18 Ebd., S. 495, 4. August 1853.
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(besonders in den letzten Jahren) vervollständigt er es nicht. 21 Geschrieben ist es mit seltener Eleganz, Dichte, Urteilskraft. Der veröffentlichte Text besteht aus sechs zeitlich und umfangmäßig nicht gleichen Teilen. 22 Die Zeichnungen und Schulaufgaben Hugos sind nicht erhalten, möglicherweise befinden sie sich in dem anonymen Archiv, wo das Tagebuch aufbewahrt ist; nur in wenigen Fällen sind Briefe von Hugo reproduziert. 23 Es werden auch zwei Seiten eines Tagebuchs der Mutter für Hugo erwähnt, ohne dass genauere Angaben über ihre Entstehungszeit gemacht werden. 24 Aber am interessantesten für meine Untersuchung ist die Existenz von Teilen eines Tagebuchs von Hugo vom 22. Februar 1848 bis zum 11. September 1851 innerhalb des Tagebuchs von Hermann Franck. Auch andere Äußerungen des Ego von Hugo werden erwähnt. Es ist die Rede von einem Geschichtsbuch, in das Hugo „schreibt“, 25 von einem Tagebuch des Sohnes, von dem nicht klar ist, ob es das 1848 begonnene ist, das der Junge während einer Reise nach Bad Gastein im Juli 1851 führt, 26 wo er völlig uninteressante Dinge festhält, dann wieder genau von Orten und Ausflügen berichtet, und das mehr ein Reisetagebuch als eine Aufzeichnung von Gefühlen und Reflexionen ist, aus denen die tägliche „Chronik“ von Hugo bestehen sollte; weiter gehört zu diesen Äußerungen des Ego von Hugo ein Tagebuch „aus freiem Antrieb“, 27 das Hugo nach dem Ende des ersten im Mai 1853 begonnen hat und von dem man nicht weiß, ob es fortgesetzt wurde. Schließlich wird ein Tagebuch erwähnt, das Hugo 1854 lustlos als vom Vater auferlegte Pflicht 19 Ebd., S. 88, 20. Dezember 1847 und S. 128, 18. März 1848. 20 Ebd., S. 217, 5. Dezember 1847. 21 Ebd., S. 534, 23. Oktober 1853 und S. 536ff., 28. Oktober 1853, insbesondere wo es sich um Reaktionen des Vaters gegenüber dem Sohn handelt. 22 Teil I. vom 10. Dezember 1847 bis 21. Juli 1848, S. 75-146; Teil II. vom Juli 1848 bis Dezember 1849, S. 147-220; Teil III. vom Januar 1850 bis 20. August 1851, S. 221-350; Teil IV. vom 27. August 1851 bis 18. April 1852, S. 351-401; Teil V. vom 21. April 1852 bis 9. August 1853, S. 403-517; Teil VI. vom 16. August 1853 bis Ende 1854, S. 521-616. Der Herausgeber erklärt nicht, ob es sich um Hefte handelt oder um Blätter, die irgendwie zusammengehalten werden, wie es aufgrund einer Bemerkung von Hermann Franck scheinen könnte. (vgl. ebd., S. 149). 23 Ebd., S. 143, 12. Juli 1848, und S. 184, 6. Mai 1848. 24 Ebd., S. 89, 23. Dezember 1847, und S. 103, 5. Januar 1848. 25 Ebd., S. 102, 4. Januar 1848. 26 Anscheinend ist dies ein anlässlich der Reise verfasstes Tagebuch und keine Fortsetzung des normalen. Jedenfalls ist es in den Augen des Vaters ein interessanter Text, denn er denkt daran, ihn als Vervollständigung in sein Tagebuch aufzunehmen. Vgl. ebd., S. 333, 16. Juli 1851; S. 335, 21. Juli 1851; S. 338, 30. Juli 1851. 27 Ebd., S. 484ff., 23. Mai 1853. Dem Vater zufolge, dem Hugo die ersten Seiten dieses Tagebuchs gezeigt hat, soll es „dein Vertrauter in allen Gelegenheiten der Schule“ sein (S. 485).
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zur Vervollständigung seines Buchs während einer seiner letzten Ferienreisen geführt hat. 28 Viele Texte des Egos also, von Autoren verfasst, die sich nicht nur im Alter des Schreibenden voneinander unterscheiden, sondern auch durch ihre Bestimmung, den Gebrauch, den Zugang. Zwei davon will ich genauer untersuchen. Das große Tagebuch, das über 500 Druckseiten umfasst, wird vom Vater geführt, es setzt ein am Tag nach dem Tod seiner Frau am 10. Dezember 1847 und reicht bis zum 18. Januar 1855, als Vater und Sohn im Begriff sind, nach England zu reisen, wo Hugo eine Ausbildung in der Marine beginnen will. Bis zum Ende des Textes 29 erklärt Hermann Franck immer wieder, dieser sei für den Sohn bestimmt, seinen einzigen Leser („Dies Tagebuch ist allein für Dich bestimmt“ 30), und es habe eine wichtige pädagogische Aufgabe. In erster Linie soll das Tagebuch von der Konstruktion einer Bildung berichten. Hermann Franck beginnt seinen Bericht mit der Erklärung, er wolle seine Zeit ganz der Erziehung des Sohnes widmen. Das Tagebuch ist gleichzeitig Rechenschaft davon und Mittel dafür: 31 „Ich wünsche, zu welchem Zeitpunkt Du es auch zu lesen bekommen magst, dass es die gute und wohltätige Wirkung auf Dein Gemüt habe, die ich damit beabsichtige“. 32 Dieses Projekt entwickelt sich nicht ohne Zweifel, mit dem Heranwachsen Hugos, den Problemen seines Reifens und Selbstständigwerdens, den kritischen Fragen der Berufsfindung fragt sich der Vater, ob seine pädagogischen Entscheidungen richtig waren, und stellt sich Fragen wie: „Bin ich auf dem rechten Wege?“; 33 „Dient […] dazu, mich mit dem Gedanken einer Umänderung vertraut zu machen, die ich unfehlbar vornehmen werde, sobald ich angefangen habe einzusehen, dass das Fortgehen auf dem bisherigen Wege Dich Deinem wahrscheinlichen Ziele nicht zuführen kann?“, 34 ja er erwägt sogar „eine totale Veränderung“ 35 seiner paideia. 28 Ebd., S. 580, 26. August 1854. Als Beispiel für eine weit verbreitete Mode in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Kinder zur Führung eines Tagebuchs nach vorhandenen Beispielen anzuhalten, nenne ich einen anonymen deutschen Text des 19. Jahrhunderts: Über Tagebücher zur Beförderung der Kenntnis und Bildung des Herzens und Verstandes. Für die Jugend. Mit auserlesenen Beyspielen und Lehren berühmter Männer. München: Lentner 1813. 29 Ebd., S. 597, 30. November 1854. 30 Ebd., S. 587, 31. August 1854. 31 Anlässlich einer Reise werden die Seiten, die den ersten Teil des Tagebuchs bilden, in Verwahrung der Berliner Bank gegeben. Ebd., S. 149, 30. Juli 1848. 32 Ebd., S. 77, 10. Dezember 1847. 33 Ebd., S. 522, 22. August 1853. 34 Ebd., S. 537, 5. November 1853. 35 Ebd., S. 563, 28. Mai 1854.
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Die Erzählung, wie ein Vater die Bildung seines Sohnes aufbaut, berichtet aber auch, wie diese Erzählung gleichzeitig ein wesentliches Mittel dieses Erziehungsaufbaus ist: Als Tagebuch einer in den kleinsten Details beschriebenen Entwicklung eines Kindes, später eines Jugendlichen, ist es auch das wichtigste Mittel für den Sohn zur künftigen Herstellung seiner Selbsterkenntnis: 36 „Ich bin überzeugt, dass […] das rechtzeitige Lesen dieses Tagebuch […] einen wohltuenden Einfluss auf Dein Gemüt haben [werde] und einen nützlichen auf deine Selbsterkenntnis und Bildung.“ 37 Telos des Bildungswerks von Hermann Franck ist in der Tat die vollständige Kenntnis des eigenen Ichs, ein erschöpfendes Begreifen des eigenen Wesens, sobald der Mensch das Maximum von Alter und sozialen Sitten erreicht hat. 38 Außer dem Ziel, seinen Sohn zu bilden, hat der Vater die Absicht, ihm, dem Adressaten dieser Bildung, „eine Schilderung von Dir, wie Du als Kind warst“ 39 zu vermitteln, vor allem aber eine Bilanz seiner Charakterzüge und seiner Intelligenz: „Ich schreibe alles das hier auf, damit Du später, wenn Du es liest, Dich selbst und Dein Gewissen befragen kannst, ob Dir von den Fehlern Deiner Kindheit noch manches anhängt oder ob Du Dich ganz frei von ihnen fühlst. In dem einen wie in dem anderen Falle werden Dir diese Mitteilungen aus deinen Kinderjahren nützlich sein, weil es zur Selbsterkenntnis, um die es jedem tüchtigen Mensch ernstlich zu tun sein muss, sehr wichtig und von großer Hilfe ist, dass man erfahre, wie man als Kind gewesen [ist].“ 40 Dies bewirkt Skrupel und Vorsichtsmaßnahmen, vor allem soll das Buch kein Tagebuch des Autors werden, kein Bericht über das, was Hermann tut, denkt, in seinem persönlichen Leben unternimmt. Wir haben also keine Nachricht von Francks Tätigkeiten außer für die kurze Zeit, in der er im Frühjahr 1848 in der Berliner Bürgerwehr war; 41 vor allem aber herrscht das fortwährende Bemühen, alles festzuhalten, was Hugo tut und sagt, denkt und emotional erfährt, 42 produziert, 43 sowie all das vom Verhalten und vor allem den Äuße36 Ebd., S. 183, 22. April 1849. 37 Ebd., S. 208, 21. September 1849. 38 Franck hatte in den Jahren 1823-25 in Berlin die Vorlesungen von Hegel an der Berliner Universität gehört und hatte mit ihm und später den Neuhegelianern in Verbindung gestanden (vgl. Feuchte 1998, op.cit. S. 39ff.). Daher vielleicht das Insistieren auf Selbsterkenntnis als Krönung der Bildung, auf der Idee der vollkommenen menschlichen Realität als Subjekt, das sich selbst begreift. 39 Franck 1997, op.cit. S. 85, 18. Dezember 1847. 40 Ebd., S. 94, 26. Dezember 1847. 41 Ebd., S. 134, 13. Mai 1848. 42 Hugo erzählt dem aufmerksamen Vater einige seiner Träume (vgl. ebd., S. 209, 24. September 1849 und S. 281, 21. November 1850, S. 414, 17. Juni 1852). 43 Der Vater erklärt, er wolle zusammen mit seinem Tagebuch auch die Zeichenbücher von Hugo aufbewahren (vgl. ebd., S. 78, 11. Dezember 1847); in der veröffentlichten Fassung des Tagebuchs sind sie jedoch nicht vorhanden.
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rungen des Jungen und Adoleszenten niederzuschreiben, was sein Wesen, 44 seine grundlegenden Charakterzüge, 45 sein Naturell 46 erfasst, um ihm ein richtiges Bild zur Selbsterkenntnis 47 vorzustellen, ihm zu helfen, sich fortschreitend „klar zu werden“. 48 Natur, Temperament, Sinnesart von Hugo sind vorrangige Gegenstände des Tagebuchs, 49 eine Art Selbst in fieri, das erkannt und in aller Genauigkeit 50 und Klarheit 51 beschrieben werden muss. Daher die fortwährende Kontrolle und eine nie aufhörende Diskussion mit dem Sohn, um von ihm für das Getane Rechenschaft zu fordern, um mit ihm über seine Schwächen, vor allem Trotz, Leichtsinn, Unzuverlässigkeit zu diskutieren, um ihm zu helfen, den Grund vieler seiner Unvollkommenheiten 52 und das Warum vieler seiner Reaktionen zu verstehen 53 und gleichzeitig auch Reste davon nicht zu dulden, um diese Selbsterkenntnis aufzubauen, dieses höchste Ziel der Bildung von Hugo. Ein Ideal der vollkommenen und absoluten Selbsterkenntnis treibt die Bemühungen von Hermann Franck voran, der keine Einmischung duldet. Niemand darf das Tagebuch sehen, auch Hugo wird es erst als Erwachsener lesen können, eine zeitliche Entfernung, die von der häufig erscheinenden Wendung ‚wenn Du dies liest‘ unterstrichen wird. Der Vater ist getrieben von einem Drang, alles zu wissen, nichts dem Zufall zu überlassen, kein Element dieses vollkommenen Bildes zu verlieren, das er schaffen und Hugo übergeben will, wenn er reif und selbstständig geworden ist. Er kann auf keine Information, aber auch keine Perspektive verzichten, und deshalb freut er sich über Urteile anderer über Hugo, verfolgt begierig die kleinlichen und grausamen Lehrmethoden des Joachimsthalschen Gymnasiums, 54 um zu sehen, wie der Sohn beurteilt wird. Aber besonders wichtig ist für ihn die Sichtweise des zur Selbsterkenntnis Bestimmten, Hugo, die Art und Weise, wie dieser seine Erfahrungen sieht und erlebt. Hermann Franck hat den wahnsinnigen Anspruch, alle Sichtweisen auf ein Individuum zu kennen, um keine Lücken zu lassen und nichts Falsches zu sehen. Das verleiht den Äußerungen des Ego ihre Wichtigkeit − sowohl den Ausdrucksweisen des Jungen, die originell sind und Geist und Witz verraten, als auch dem, 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54
Ebd., S. 214, 4. November 1849 und S. 531, 22. September 1853. Ebd., S. 228, 6. März 1849. Ebd., S. 238, 29. Juni 1850 und S. 571, 14. August 1854. Ebd., S. 301, 20. März 1851. Ebd., S. 183, 22. April 1849. Ebd., S. 527, 11. September 1853. Ebd., S. 341, 4. August 1851. Ebd., S. 467, 11. Februar 1853. Ebd., S. 461, 25. Dezember 1852. Ebd., S. 502, 5. August 1853. Zum preußischen Gymnasium jener Jahre, seine Organisation, Lehrerschaft, Didaktik, Dozimologie verweise ich auf Jeismann 1996, S. 463ff., und, zu Hugos Gymnasium, Wetzel 1907.
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was er über sich niederschreibt. (Das sind die erwähnten Briefe, Gedichte des Jungen für das väterliche Tagebuch. 55 Es soll nicht vergessen werden, dass Hugo sich schon mit sieben Jahren vollkommen auszudrücken vermag.) Das macht dieses Tagebuch zu einem Text, dessen Adressat nicht nur Protagonist, sondern auch Autor ist. Wenn dies die charakteristischen Züge des Tagebuchs von Hermann Franck sind, könnte man untersuchen, wie sie sich im Lauf der Zeit verändern, denn das Buch hat eine innere Geschichte, die zweifellos von äußeren Ereignissen abhängt, die meist erwähnt werden, manchmal nicht explizit, besonders wenn es um die väterliche Stimmung geht, die zunehmend sinkt, 56 und/oder den wachsenden Übermut in Hugos Worten gegenüber Hermann. 57 Man könnte ebenfalls untersuchen, wie diese Züge zusammentreffen mit Ereignissen in der privaten Geschichte der beiden Personen, wie zum Beispiel die Umzüge 58, in immer kleinere Wohnungen, die sich vom Zentrum entfernen und für Hugos Freunde schwer zu erreichen sind, die wachsende Isolierung, Verhärtung, Unterwerfung des Sohnes unter die Allmacht des Erwachsenen. Dies alles zu verfolgen, ist hier nicht möglich. Das kleinere Tagebuch ist das, welches Hugo am 22. Februar 1848 aus eigenem Antrieb zu schreiben beginnt: „Heute hast Du selbst ein Tagebuch zu schreiben angefangen. Wir wollen sehen, wie lange Du es aus eigenem Antrieb fortsetzen wirst. Ich habe in meiner Erzählung von Joseph und Christoph (eine Geschichte, die der Vater Jahre hindurch beim Essen erzählt hat, E.B.) schon immer darauf hingewirkt, dass Du Dir ein Beispiel an dem kleinen Räuber nehmest, der fleißig jeden Abend in sein Tagebuch schrieb. Ich weiß nicht, wodurch plötzlich Dein Entschluss dazu heute reif geworden.“ 59 Diese Initiative des noch nicht Achtjährigen entspringt wahrscheinlich dem Wunsch, ein Phantasiewesen, mit dem er sich identifiziert oder dem er sich assimiliert, nachzuahmen und/oder vielleicht auch seinem Bedürfnis, einen eigenen Freiraum außerhalb der Hausaufgaben und Unterrichtsstunden zu finden, ungestört von anderen Kindern und vor allem – wie er irrtümlich meint – außerhalb der väterlichen Kontrolle; einen Raum, wo er sich ausdrücken, erzählen und den Alltag und seine psychischen Auswirkungen auf seine Art verarbeiten kann. Es gibt keinen ausdrücklichen Auftrag des Vaters, was Vorgehen, Zeit, Inhalte des kindlichen Tagebuchs betrifft, aber allmählich 55 Franck 1997, op.cit, S. 112 u. S. 171, 7. November 1848. 56 Ebd., S. 534, 23. Oktober 1853: „ich bin oft in einer Stimmung, von welcher ich so wenig in Mitteilungen mag übergehen lassen, die für Dich allein bestimmt sind.“ (vgl. auch S. 557, 14. März 1854). 57 Ebd., S. 553, 21. Februar 1854. 58 Über die vielen Umzüge und die immer kleineren Wohnungen von Vater und Sohn verweise ich auf Becchi 1999. 59 Ebd., S. 122, 22. Februar 1848.
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werden die musts für Hugo und seine Produktion immer deutlicher und bestimmender. Sehr wahrscheinlich hatte Hugo nicht damit gerechnet, dass auch in diesen Raum der Konstruktion seiner Selbsterkenntnis der unerbittliche Blick des Vaters eindringen würde, der Daten für sein Tagebuch suchte und vor allem zu sehen verlangte, wie sich die Selbsterkenntnis – das höchste Ziel der väterlichen Bildung – auch a parte subjecti herausbildete. Wie die anderen ‚kreativen‘ Tätigkeiten des Kindes – Zeichnungen, kleine Arbeiten in Karton, musikalische Improvisationen – wurde auch diese Produktion von dem erziehenden Erwachsenen mit Beschlag belegt und in die Wiedergabe von Erlebnissen, Erfahrungen, Gefühlen mittels geschriebener Worte gezwungen. Es lässt sich verfolgen, wie Hugos Tagebuch immer mehr einem täglichen lästigen Ritual ähnlich wird, das er eilig erledigt, genau wie die vielen Schularbeiten, die er machen muss, und dass es von einem freien Produzieren zu einer Pflicht wird. 60 Im Unterschied zum Tagebuch des Vaters, das für Hugo noch verschlossen ist, kann der Vater das Tagebuch des Sohnes lesen, tut es aber nicht in dessen Gegenwart. 61 Im Buch von Hermann Franck werden wenige Seiten aus Hugos Tagebuch wiedergegeben, und einige, auf denen das Kind weniger Fakten als Gefühle beschreibt, werden als besonders gelungen beurteilt (die Erinnerung an die Mutter, der Schmerz keine Eltern mehr zu haben, 62 Dankbarkeit für ein Geschenk, sein Desinteresse fürs Zeichnen, 63 seine Genugtuung über die Zufriedenheit des Vaters 64 und andererseits sein Unverständnis für dessen häufige Unzufriedenheit 65). Über solche Passagen sollte der Junge, so wünscht der Vater, weiter nachdenken, aber er hält sich zurück, weil er fürchtet, damit Hugos Äußerungen zu hemmen. 66 Hugo seinerseits reflektiert bisweilen: „Papa hat gesagt, ich solle mir das Widersprechen abgewöhnen hier in Franzensbrunn, und ich nehme es mir vor. Wenn ich widerspreche, so geschieht es nicht mit Wollen, sondern plötzlich bin ich raus damit, ohne es zu wollen, und nachher erst weiß ich, dass ich 60 Ebd., S. 182, 14. April 1849: „An meinem heutigen Geburtstag durftest Du mir nicht gratulieren und mir auch kein Geschenk mit einer Zeichnung machen. Ich hatte nämlich gestern die Entdeckung gemacht, dass Du seit einiger Zeit nicht bloß Dein Tagebuch überaus nachlässig führst, so dass manche Einschreibung aus zwei Zeilen besteht, sondern dass Du Dir auch erlaubt hast, was früher niemals vorgekommen, manchen Tag gänzlich ausfallen zu lassen. Da ich überdies sah, dass Du noch vor kurzem in dem Tagebuch selbst den Vorsatz ausgesprochen, solche Unregelmäßigkeiten in Zukunft zu vermeiden, so missfiel mir dies alles zusammengenommen so, dass ich Dich tüchtig heruntermachte und die oben erwähnte Strafe auferlegte.“ 61 Ebd., S. 188, 19. Juni 1849. 62 Ebd. 63 Ebd., S. 241, 31. Juli 1850. 64 Ebd., S. 242, 1. August 1850. 65 Ebd., S. 265, 27. September 1850. 66 Ebd., auch S. 190, 1. Juli 1849.
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naseweis gewesen bin oder dass ich gestritten habe.“ 67 Auch von kurzen Äußerungen der Freude ist die Rede. 68 Aber in Hugos Tagebuch gibt es auch Ereignisse, die schwer zu erzählen sind und die er, anstatt sie auszusprechen, lieber niederschreibt und dem Vater zusammengefasst zu lesen gibt, wie zum Beispiel einen mysteriösen Vergewaltigungsversuch, dem er auf der Straße zum Opfer fiel. 69 Im Widerspiel zwischen dem Tagebuch des Vaters und dem des Kindes wird nicht nur der alles beherrschende Charakter der Pädagogik des Erwachsenen sichtbar, sondern auch das geringe und im Grunde illusorische Maß der zweifellos vorhandenen freien Augenblicke und Aktivitäten, die dem kleinen Hugo eingeräumt werden, sowie die Bedeutung, die diese im väterlichen Bildungsprogramm haben. Begegnungen mit Freunden, wählbare Vergnügungen mit Erwachsenen, die dem Kind reichlich angeboten und erlaubt werden, sind auch – und ich würde sagen vor allem – Gelegenheiten, um es dabei zu beobachten und um es zu veranlassen, sich selbst, quasi gespiegelt, klarer zu sehen. In Hugos Tagebuch, das dem Vater offensteht und sich also asymmetrisch zu dem für den Sohn unzugänglichen Buch von Hermann Franck verhält, kontrolliert Franck nicht nur, ob er es führt und fleißig und genau ist, ob er reflektiert, Episoden aus seinem Leben erzählt, sondern auch seine Reaktionen darauf und die Erklärungen dafür: „Eine Deiner Sonderbarkeiten ist, dass Du für Deine Urteile oder Neigungen und Abneigungen sehr häufig keine Gründe abgeben kannst. Heut schriebst Du in Dein Tagebuch, dass Dir die Lehrstunde bei Herrn Dr. Friedel sehr unangenehm gewesen sei; warum? das wusstest Du nicht anzugeben. Diesen Morgen frug ich Dich, warum Du Dein Tagebuch nicht so schriebest wie ich es wünsche.“ 70 Der kleine Spiegel, der wichtig ist, um die Ereignisse in der Optik dessen zu sehen, der sie erlebt hat – des Kindes – ,dient nicht nur zur Überprüfung der Aufrichtigkeit des Jungen und seiner Genauigkeit in der Wiedergabe der emotional bedeutsamen Tagesereignisse, er ermöglicht es auch, sich in die ganz eigenen und geheimen Räume des Kindes einzuschleichen, den zudringlichen Blick des Erwachsenen fortwährend und respektlos auf Situationen zu richten, in denen ein Kind sich selbst konstruiert, indem es auf seine Weise an seine Emotionen denkt. Hugos Reaktionen auf die Entfremdung des Ortes, den er der eigenen Kultur vorbehält, sind bedeutsam: Nachlässigkeit, 71 Eile, 72 lakonische Äußerungen, 73 Ungenauigkeit, 74 Vernichtung einiger geschriebener Seiten. 75
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Ebd., S. 240, 28. Juli 1850. „Juchze und Ausrufungen des Vergnügens“, ebd., S. 201, 13. September 1849. Ebd., S. 223, 21. Januar 1850. Ebd., S. 134, 16. Mai 1848. Einmal trägt der Junge ein Erlebnis nicht in sein Tagebuch ein und empfängt deshalb Vorwürfe (vgl. S. 145, 12. Juli 1848). 71 Ebd., S. 249, 29. August 1850 und S. 262, 16. September 1850.
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Als Geschichte in der Geschichte hat Hugos Tagebuch ein Ende – wie auch das Buch des Vaters ein Ende, und zwar ein tragisches, nehmen wird. Am 11. September 1851 befinden sich Vater und Sohn in Berlin, der Sohn, der sein Tagebuch hätte schreiben sollen, weigert sich: „Ich kann nicht schreiben: es kommen mir immer andere Dinge in den Kopf“. 76 Der Ablauf der Ereignisse, die ich für so wichtig halte, dass ich sie hier vollständig wiedergebe, macht die Distanz des Kindes von diesem autobiografischen Schreiben evident und das daraus verursachte Leiden: „Natürlich befahl ich Dir, ohne Verzug zu schreiben, kam aber, nachdem Du das Deinige ungefähr mochtest geschrieben haben, in Dein Zimmer, und diktierte, was Du nun schreiben solltest, nämlich dass Du gegen Dich selbst so nachgiebig seist, Dich nicht zu einem so kleinen Geschäfte aus freien Stücken zusammennehmen zu können. Da ich mit Absicht die Ausdrücke Pimpelei und Muttersöhnchen brauchte, so kam Dir das Niederschreiben sehr hart an, und Du musstest heftig weinen, nachdem Du Dich vergeblich, jedoch nur einen kurzen Augenblick, gegen die Zumutung gewehrt hattest. Vielleicht war diese bittere Lection eine wirksame. Unmittelbar nach diesem Vorfall gingen wir aus und waren noch nicht fünfzig Schritt vom Hause weit, so sagtest Du: ‚Papa. Kaufe mir einen solchen Kuchen wie den gestrigen, sie sind so sehr gut!‘“ 77 Von Hugos Tagebuch ist im Buch des Vaters daraufhin nicht mehr die Rede: als Ort der väterlichen Diktatur und wahrscheinlich für ein paar weitere Jahre ersetzt durch Aufzeichnungen über seine Schulerfahrungen, wie ich oben andeutete, hat dieser Ort der vertraulichen Mitteilungen Hugos an sich selbst keinen Sinn mehr und kann aufgegeben werden. Hinzu kommt, dass wenige Tage nach dem väterlichen Überfall auf das Tagebuch des Sohnes, am 13. Oktober 1851, die Schule anfängt. Ein neuer Raum eigener Produktion –und auch der Kontrolle durch den Vater und andere Erwachsener – eröffnet sich im Leben des Jungen. Dass ein Erwachsener ein Kind verfolgt – wie es in jeder Pädagogik geschieht – wird in dieser Geschichte des Tagebuchs von Hugo nach meiner Ansicht besonders dramatisch, denn wo das Kind ein eigenes Ausdrucksfeld sucht, wird dieses vom Erwachsenen okkupiert mit der Forderung, es mit eigenen Mitteln zu nutzen. Der Schlusspunkt dieses komplizierten Weges ist der Abbruch der kindlichen Produktion über sich selbst, da das Kind weder Kräfte noch Zeit noch Mittel dafür findet. 72 Ebd., S. 167, Oktober 1848: „[…] nahmst Du Deine Bausteine und spieltest damit, schriebst Du auch Dein Tagebuch, aber höchst flüchtig“. 73 Ebd., S. 290, 1. Januar 1851. 74 Ebd., S. 335, 21. Juli 1851. 75 Ebd., S. 327, 27. Juni 1851. 76 Ebd., S. 360, 11. September 1851. 77 A.a.O.
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3. Kultur für Kinder, Kultur der Kinder Im Gegensatz zu dieser Politik der Kontrolle über die Gefühlsäußerungen des Sohnes erweist sich die väterliche Pädagogik innerhalb dieses strengen Bildungsmodells, das auf die vollständige Selbsterkenntnis abzielt, im Alltagsleben als weich, nicht selten als liberal. Auch das wird im Tagebuch sichtbar. Es handelt sich um eine höchst widersprüchliche Pädagogik, in der die Hauptbeteiligten, Familie und Schule, ihre Aufgaben geteilt haben und in der bei aller Kontrolle Hugo über soziale und räumliche Freiheiten sowie eine nicht unerhebliche Entscheidungsfreiheit verfügt. Hugo befindet sich in der widersprüchlichen Situation einer bemerkenswerten Freiheit in seinen Spielen und Späßen, in der Wahl von Freunden und von Begegnungen mit Erwachsenen und Kindern, in sozialen Erfahrungen, und gleichzeitig der Überwachung, der Vorwürfe, der Erwartungen, der Übersetzung seiner Initiativen in institutionelle Termini. Zum Beispiel bekommt er Zeichenunterricht, als der Vater sieht, dass er gern zeichnet, und er stellt fest – später auch von Autoritäten wie den Malern Lehmann 78 und Ingres 79 bestärkt –, dass der Junge Talent hat: Er bekommt also einen Lehrer für seine Arbeiten in Karton, wird vom Vater, von einigen Lehrern unterrichtet und geprüft, von den Gymnasiallehrern besonders in den alten Sprachen. Das vielfarbige Bild, das sich aus diesen Aufzeichnungen ergibt, die einen guten Teil des väterlichen Tagebuchs ausmachen, zeigt uns zum einen die Grunddialektik der Pädagogik von Hermann Franck, zwischen der vom Vater eingeräumten Autonomie und der Bewusstseinsweckung einerseits und der Kontrolle des Erwachsenen und dem Ausweichen des Sohnes davor andererseits. 80 Zum anderen zeigt dieses Bild das Heranwachsen eines Kindes im intellektuellen Milieu 81 der besonderen Schicht der nicht gläubigen Juden wie Hermann Franck und seine Freunde 82 in der preußischen Hauptstadt um die Mitte des 19. Jahrhunderts, als Berlin mit seinem blühenden Leben reiche Bildungsmöglichkeiten bot: Theater, Schaustellungen für Erwachsene und Kinder, Museen, Ausstellungen, 78 Ebd., S. 197, 17. August 1849. Heinrich Lehmann (1814-1882), geboren in Hamburg, war Schüler von Ingres. Von ihm stammt die Bleistiftzeichnung von Hugo, abgebildet in Franck 1997, S. 2. Der Vater erwähnt, dass Hugo dem Maler Modell steht, auf S. 193, 16. Juli 1849. 79 Ebd., S. 272, 9. Oktober 1850. 80 Ich denke an die Weigerungen des Jungen, den Befehlen des Vaters zu gehorchen, seine Nachlässigkeiten, seine häufigen Kopfschmerzen. 81 Hugos Freunde sind Söhne von Bekannten des Vaters, zu ihnen gehören die Söhne des Mathematikers Johann Dirichlet, eines Verwandten der Familie Mendelssohn Bartholdy, der Sohn des Philologen Johannes Franz, der Sohn des Mathematikers Jacobi und die Söhne des Philosophen Rosenkranz. 82 Hugo wird „im christlichen Glauben“ erzogen, ebd., S. 104, 6. Januar 1848.
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Konzerte. Der Philosoph Karl Rosenkranz, der im selben Haus wie die Francks wohnte und dessen beiden Söhne mit Hugo befreundet waren, beschreibt brillant und treffend dieses Berlin. 83 Mehr noch: Das Tagebuch liefert auch wichtige Informationen über den Stil der häuslichen Erziehung, über die sozialen Beziehungen unter den Jungen bei ihren häuslichen Begegnungen, über die Regeln des Schenkens in der damaligen guten Gesellschaft, über den Austausch von Geschenken zu Weihnachten und zu den Geburtstagen zwischen Vater und Sohn und den jungen Freunden, was pünktlich im Buch festgehalten wird; schließlich auch über die gebräuchlichen Zärtlichkeiten (bis zu den letzten Seiten wird erwähnt, dass der Junge sich gewöhnlich dem Vater auf den Schoß setzte und ihn streichelte oder neckte) und über die Strafen (bisweilen setzt es eine Ohrfeige). Vielleicht verstärkt sich die Symbiose zwischen Vater und Sohn dadurch, dass der Vater auch sein Lehrer ist, anfänglich unterrichtet er den Jungen selbst in Latein, später, wenn andere Lehrer auftreten und noch später die Schule diese Funktion übernimmt, überwacht, korrigiert, prüft, mahnt und tadelt er den Sohn hinsichtlich seines Lernens. Schließlich bieten auch die Ereignisse des Vormärz, während derer der Vater in der Bürgerwehr aktiv ist und auf der Seite der gemäßigten Demokraten steht, Gelegenheit für Diskussionen, Meinungsaustausch und eine Einführung des Sohnes in die Politik. Hugo erlebt in Begleitung des Vaters und seiner jungen und erwachsenen Freunde das Beste, was die preußische Hauptstadt zu bieten hat, kann sehen, beurteilen, diskutieren; auf den Reisen, die Vater und Sohn in andere deutsche Städte führen, in Kurorte, in touristische Ziele des Auslands, in die Schweiz, nach Frankreich, Belgien, in andere deutsche Hauptstädte betreiben sie einen gut vorbereiteten, in seinen Details gemeinsam beschlossenen Kulturtourismus, den sie auch gemeinsam kommentieren und beschreiben. Hugo und sein Vater reisen nicht nach den Vorschriften der Grand Tour mit einem Programm von Begegnungen, Aufenthalten und Studien. Gewiss gibt es auf jeder Reise Besuche bei Verwandten, das Erleben von Zuneigung und Überraschung, aber jede Route enthält auch eine Reihe von Orten des Abenteuers, der Entdeckung, Anlässe des Staunens über Dinge und Menschen, der Prüfung der rasch wachsenden Reife und der Sichtbarmachung des Wesens von Hugo an Orten, die sich von den gewohnten unterscheiden. Auch um sein Tagebuch mit reichem Material zu füllen und es so noch besser für seinen Zweck auszustatten, nämlich dem erwachsen gewordenen Hugo zu helfen, seine Selbsterkenntnis genau und erschöpfend zu definieren, stellt Hermann Franck seinen Sohn in eine große Zahl von Situationen, die sowohl Lernmöglichkeiten für den Sohn als auch Laboratorien für die Informationsfindung des Vaters sind. 83 Vgl. Rosenkranz 1850.
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In dem großen und unmöglichen Experiment dieser Bildung, wie sie das Buch von Hermann Franck beschreibt, gewinnen die Orte – Wohnungen, Landschaften, erlesene Sitze und bescheidene Räume – eine unverzichtbare Bedeutung und begleiten Hugos Unterricht, zuerst beim Vater und Privatlehrern, dann in einer der berühmten Berliner Schulen, dem Joachimsthalschen Gymnasium, wo die Didaktik, besonders die der alten Sprachen, sich in starren Formen bewegt und ihre Ergebnisse minutiös und ohne Mitleid für Schwächen und jugendliche Zerstreutheit beurteilt werden. 84 Es ist also ein komplexes Angebot von Kultur für die Kindheit und die Präadoleszenz, das der Sohn annimmt oder zurückweist (wie im Fall der Schule) und innerhalb dessen sich der Weg eines Wachstums von besonderer Schönheit abzeichnet, denn Hugo ist niemals ein langweiliges, uninteressantes, gefühlsmäßig und intellektuell armes Kind. Aber es finden sich auch nicht unwichtige Fragmente einer Kultur des nicht Erwachsenen, neben und verflochten mit jener Kultur der Subjektivität des Kindes und Präadoleszenten. Der Junge baut sich selbst Spielzeug aus Karton, 85 er spielt mit Bleisoldaten und erweitert allmählich seine Sammlung, er spielt einfache Instrumente, nicht nur um Stücke auszuführen, sondern auch um Melodien zu komponieren. Mit ungefähr 13 Jahren beginnt er Tragödien 86 und Farcen 87 zu schreiben, in jedem Alter, wenn auch unregelmäßig, zeichnet er, manchmal macht er Gedichte. Vor allem aber spielt er mit Freunden seines Alters, später geht er schwimmen, segeln, rudern, macht Ausflüge mit Schulkameraden, wird eingeladen und lädt nicht nur zu den großen Gelegenheiten wie Weihnachten oder Geburtstag andere Kinder und Präadoleszente ein, mit denen er vermutlich eine Welt nach dem Maß der nicht Erwachsenen produziert. Später organisiert er mit seinen Klassenkameraden einen Bund mit dem sprechenden Namen Schindlerbund, 88 der auch eine Zeitung veröffentlicht, in der er Parodien schreibt und zusammen mit den Klassenkameraden einen SchulJargon 89 benutzt. Kurz, der Junge macht eine Reihe von Erfahrungen von sozialer Produktion unter Gleichen, die der Vater unterstützt und fördert und deren Abnehmen er beklagt. Mit seinen Schulkameraden tauscht sich Hugo verbal aus, übt sich in motorischen Kompetenzen, und mit ihnen zusammen konstruiert er mit aller Wahrscheinlichkeit ein nicht irrelevantes Stück einer
84 Ebd., in einem Abschnitt auf S. 525, 5. September 1853, spricht Hermann Franck von den Schrecknissen und dem Pathos der Prüfungen. 85 Ebd., S. 94, 27. Dezember 1847. 86 Ebd., S. 465 ff., 30. Januar 1852. 87 Ebd., S. 466, 31. Januar 1852. 88 Ebd., S. 472, 14. März 1853. 89 Ebd., S. 452, 18. November 1852.
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Welt, die er der Welt der Erwachsenen, insbesondere der häufigen Besucher des Vaters, entgegensetzt und hinzufügt. Wie der Sohn seine freie Zeit nutzt, ist dem Vater sicher bekannt, er erfährt es nachträglich, kontrolliert die Wahrheit der Berichte, erscheint aber in diesen Fällen viel weniger beherrschend als bei dem Tagebuch. Schon mit zwölf Jahren macht Hugo Ausflüge in die Umgegend und auf die Berliner Seen, 90 dabei und auf Reisen entdeckt er allein Orte, Gewohnheiten, Menschen, die er nicht aus seinem Alltag kennt und die ihm Gelegenheiten für einen autonomen Erwerb von Kultur bieten. Bei diesen Erfahrungen erweist sich sein Unternehmungsgeist, er bringt davon ganz persönliche Redeweisen und Geschmacksurteile mit, die nicht aus dem Zusammenleben mit dem Vater stammen und die Produkte einer vermutlich autonomen Kultur sind, welche Hermann Franck im Tagebuch beobachtet, notiert, kommentiert. Diese Produktivität erreicht einen Höhepunkt während der Schulzeit im Alter von 12 bis 13 Jahren, wenn aus seinen an den Vater gerichteten Worten Elemente einer die Schule einhellig verspottenden Gegenkultur anklingen, wo die sparsamen Berichte des Sohnes Spitznamen, Späße, Listen 91 verraten. Ein Jargon, bestimmte Haltungen, ein gemeinsames Verhalten klingen aus diesen Erzählungen, die nicht nur interessant sind, um die von Hugo konstruierte und produzierte kindliche und präadoleszente Kultur kennenzulernen, sondern auch um ein breiteres Bild einer Schülerkultur in den Berliner Gymnasien jener Zeit zu gewinnen. Unter diesem Gesichtspunkt ist das Tagebuch von Hermann Franck ein außergewöhnliches Dokument, weil es erlaubt, die Herstellung einer Nicht-Erwachsenen-Kultur von der Kindheit bis zur Adoleszenz in ihren Entscheidungen, ihren Inhalten, ihren Formen und Mitteln und ihren Kontexten zu verfolgen.
4. Vom Tagebuch zum Drama In Hermann Francks Tagebuch erscheint der Austausch zwischen Kinderkultur und Kultur der Kindheit in seinen Momenten sozialer Produktion intensiv, detailreich, lebhaft; auf höchst exemplarische Weise überliefert sie uns diese dialektische Verknüpfung. Mehr noch, dieses Bild eines vielfältigen kulturellen Universums wird nicht nur in seinen Fakten beschrieben, sondern auch in seinem subjektiven Nachhall, in einer doppelten und höchst seltenen Dokumentation des Ego. Es kommt jedoch ein Element hinzu, dass das Gan90 Ebd., S. 429, 8. August 1852, und S. 433, 22. August 1852. 91 Ebd., S. 455, 24. November 1852.
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ze weitaus dramatischer macht. Im Januar 1855 endet das Tagebuch von Hermann Franck oder es bricht ab. Der Herausgeber, Andreas Feuchte, kommentiert diesen ‚Schluss‘ so: „Mit dem 18. Januar 1855 endet das vorhandene Tagebuch. Da der sechste Band bis zum letzten Blatt beschrieben ist, darf angenommen werden, dass Hermann Franck seine Aufzeichnungen in einem siebten Band auch über dieses Datum hinaus fortgeführt hat, möglicherweise bis zum gemeinsamen Tod mit Hugo Franck am 3. November 1855 in Brighton. Leider sind diese Aufzeichnungen verschollen, so dass über den weiteren Lebensweg von Sohn und Vater nur aus anderen Quellen […] Aufschluss zu gewinnen ist.“ 92 Der Herausgeber des Tagebuchs teilt Weiteres nicht mit, und mir war es nicht möglich zu erfahren, in welchem privaten Archiv das Manuskript liegt, und noch weniger, ob es diejenigen, die über dieses Dokument verfügen, sind, die den Zugang zu einem eventuell vorhandenen letzten Teil, sicher dem dramatischsten und intimsten, verbieten. Die Geschichte von Hermann und Hugo endet tragisch, es ist eine Jugendgeschichte, 93 die mit dem Tod ihren Abschluss findet, was das Buch aus dem Genre des Tagebuchs in ein dramatisches Genre überführt. Ich habe weder die Absicht noch die Möglichkeit, den Motiven und Leidenschaften nachzuforschen, die zu diesem Ende geführt haben. Ich kann nur vermuten, dass die dramatischen dialektischen Spannungen der Pädagogik von Hermann Franck, über deren Eignung er sich selbst bisweilen beunruhigt Fragen stellte und die er zuletzt auch zu ändern bereit war, und zugleich sein Zögern, all das dem Tagebuch anzuvertrauen, was in Hugos Wesen von dieser Pädagogik berührt worden war oder berührt werden würde, Signale für die wachsenden Schwierigkeiten in dieser Beziehung sein könnten. Es war ja nicht nur eine Beziehung zwischen Vater und Sohn, zwischen Lehrer und Lernendem, sondern auch zwischen der Kultur einer bestimmten Welt, die sich in dem Konstrukt der Selbsterkenntnis als Endziel der Bildung ausdrückte, und einer Kultur der Subjektivität, die zu erschaffen wir in jedem Alter fähig sind, deren Freiheit uns aber nicht immer zugestanden wird, insbesondere in der Kindheit. Übersetzung: Christine Wolter-Hoppe-Polo
92 Ebd., S. 635. 93 Am frühen Morgen des 3. November 1855 springt Hermann Franck aus dem Fenster des Hotels in Brighton, wo er mit seinem Sohn wohnte. Hugo liegt tot auf seinem Bett, die Todesursache – ein natürlicher Tod, Selbstmord oder Ermordung durch den Vater – bleibt bis heute unbekannt. Dazu die Vorbemerkung von Andreas Feuchte in Wenn Du dies liest … op.cit., S. 63ff.
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U LR I K E M IE TZ N ER
Alfred Wertheim: Fotografische Positionen eines jüdischen Jugendbewegten aus Osnabrück
„There are millions of photographs in Israel“: 1 Wurde zunächst im 19. Jahrhundert das Heilige Land porträtiert und dann die Phase der Einwanderung nach Palästina sowie die Gründung des Landes Israel im 20. Jahrhundert fotografisch dokumentiert, so hat auch jeder Kibbuz seine Anfänge mit Fotografien begleitet und präsentiert sie zu jedem Gründungsjubiläum neu. 2 Die fotografische Repräsentation des Landes, die Umdeutung von ganz unterschiedlichen Symbolen zu Nationalsymbolen und die Formung zu einem Nationalstaat erfolgte auch im Sinne einer visuellen Begründung. 3 Zu diesen Millionen Fotografien Israels gehören auch private Fotonachlässe von Einwanderinnen und Einwanderern vor und nach 1933. Fotografische Zeugnisse jüdischen Leben in Deutschland und Europa – dort so gewaltsam ausgelöscht – finden sich in den Archiven Israels. Einer dieser Nachlässe ist in Givat Brenner, einem Kibbuz zwischen Tel Aviv und Jerusalem; es sind die Aufnahmen und Alben von Alfred Wertheim, geboren 1904 in Osnabrück, gestorben als Eliezer Wertheim 1968 in Givat Brenner. Wertheim hat dem dortigen Archiv ein mehr als tausend Fotografien umfassendes Konvolut hinterlassen (Abb. 1). Es ist nicht nur wegen der Qualität der Fotografien auffallend und wegen der Tatsache, dass es einen Zeitraum von über 50 Jahren umfasst, von privaten Kinderfotos bis zu den letzten Kibbuzfotos aus den 50er und 60er Jahren, es bewegt besonders, weil einem auf den ersten Alben ein Junge, später dann ein junger Mann entgegenschaut, über den wir bis heute nicht so sehr viel wissen, von dem vielleicht auch seine Angehörigen nicht so viel wussten und der ir-
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So erklärte Tamar Rapoport Ulrike Pilarczyk und mir auf einer von Pia Schmid organisierten Tagung. Juliane Jacobi, Ulrike Pilarczyk und ich fanden diese damals übertrieben klingende These bestätigt. Die folgende Recherche war Teil eines DFG-finanzierten Projektes „Wandering Images – Die Darstellung jüdisch/israelischer Gemeinschaftserziehung auf Fotografien aus Deutschland und Israel von 1920 bis 1970“, das Ulrike Pilarczyk und die Autorin unter Leitung von Prof. Juliane Jacobi an der Universität Potsdam bearbeitet haben. Arbel 1996; Bar-Am 1998 u.a. Vgl. hierzu u.a. Pilarczyk 2009; Perez 2000; Revealing the Holy Land 1997; Silver-Brody 1998.
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gendwann Mitte der 1930er Jahren aus seinen Fotos verschwindet. Zudem fällt auf, dass sich sein Stil zu fotografieren im Laufe der Jahre gravierend ändert.
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Mit Karl Mannheim lässt sich die ästhetische Form als Ausdrucksform der jeweiligen Kultur verstehen; Fotografien sind deshalb nicht allein persönliche Erinnerung, sondern auch ein Erbe, das zum kulturellen Gedächtnis gehören. Aus dem kommunikativen Gedächtnis der Familie Wertheim sind sie weitgehend entfallen. 4 Der 1909, also fünf Jahre nach Alfred Wertheim, geborene Hans Keilson, ein deutscher Jude, schrieb in seinen 2011 erschienenen Erinnerungen: „es ist das Zeitalter, das mein Leben geprägt hat“. 5 Alfred Wertheims Fotografien sind ebenfalls Teil des gesellschaftlichen und kulturellen Sinngewebes. Zunächst die biographischen Angaben, die aus dem Gedenkbuch Osnabrücker Juden, den Angaben seiner zweiten Frau und Witwe, der inzwischen in Givat Brenner verstorbenen Hanni Wertheim, zwei schriftlichen Nekrologen aus dem Kibbuz und Informationen, die den Fotos und dem Archiv in Givat Brenner zusammengefügt wurden. 6 Die Familie Wertheim soll väterlicherseits seit 1700 in Deutschland leben, die Familie der Mutter war 1789 aus Erlangen nach Ostfriesland gezogen, weil der Urgroßvater dort nicht heiraten konnte, so berichtete 1934 Alfred Wertheim in seiner Antwort auf eine Anzeige eines Dr. Nussbaums, des Leiters der Arbeitsgemeinschaft jüdische Erbforschung und Erbpflege. 7 Seit 1941 wohnt keiner aus der Osnabrücker Familie Wertheim mehr in Deutschland. 4 5 6 7
Vgl. Mannheim 1964. Keilson 2011, S. 10. Eine Arbeit, die ohne die engagierte und akribische Arbeit der Fotoarchivarin aus Givat Brenner, Michal Sofer, nicht hätte geleistet werden können. Brief vom 4.5.1934, Abschrift, Quelle Archiv des Kibbuz Givat Brenner.
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Alfred war der mittlere Sohn einer wohlhabenden jüdischen Familie, die in Osnabrück ein Kaufhaus besaß. Es handelt sich aber nicht um die Kaufhauskette des gleichen Namens. Alfred hatte eine ältere Schwester, Edith, und einen neun Jahre jüngeren Bruder, Paul. Der Vater, Simon Wertheim, starb nach langer Krankheit 1925, als Alfred 21 Jahre alt war. Statt zu studieren, wie eigentlich beabsichtigt, besuchte der Sohn nach dem Tod des Vaters die Handelsschule und arbeitete im Kaufhaus, das nun von Alfreds Mutter, Röschen Wertheim, und vom Onkel, Gustav Stein, einem Zionisten, schon in den 1920er Jahren geleitet wurde. Mit 15 Jahren, also gleich nach dem Ersten Weltkrieg, wurde Alfred Mitglied des in Osnabrück zionistisch orientierten jüdischen Jugendverbandes sowie auch – zeitweilig – einziges Osnabrücker Blau-Weiß-Mitglied. 8 Um 1925 war er Mitglied des ebenfalls zionistischen Jungjüdischen Wanderbundes, in dem er bald Jugendführer wurde. Auch den Fotografien lassen sich biographische Fakten entnehmen: Noch 1929, zur Zeit der Weltwirtschaftskrise, schien die Familie wohlhabend; Wertheim fuhr Auto und unternahm Sommer- und Winterreisen in die Schweiz zum Skifahren. 1936 heiratete Alfred Wertheim Erna Kraatz (geb. 1912), 1937 kurz vor der Emigration wurde die Tochter Susan geboren. Zweimal, 1928 und 1933, reiste Wertheim als Tourist nach Palästina und besuchte Kameraden aus dem Jungjüdischen Wanderbund in Givat Brenner. Auf Wunsch seiner Familie emigrierte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht nach Palästina, obwohl der Entschluss schon gefasst war; erst 1937 verließ er Deutschland mit 33 Jahren. Seine Frau und seine Tochter sollten nachkommen. Diese scheinbar geglückte Emigration – erzwungen aus der politisch begründeten Lebensgefahr – besitzt ein tragisches Moment: Erna Wertheim emigrierte mit der kleinen Tochter entgegen aller Planung nicht nach Palästina, sondern reiste zusammen mit ihren Eltern in die USA, ohne eine Adresse für ihren Ehemann zu hinterlassen. Diese Trennung geschah wohl auf Druck der Eltern, die die Tochter nicht ins damals gefährliche, sehr arme, politisch unsichere Palästina ziehen lassen wollten. Das Ehepaar sah sich nie wieder, die Folgen dieser gewaltsamen Trennung, zu der es ohne den nationalsozialistischen Antisemitismus nie gekommen wäre, prägen die Familiengeschichte. Auch von der Familie, die bis heute in Givat Brenner lebt, gibt es einige mündlich überlieferte Daten: Wertheims Schwester Edith, die Alfred mit ihren beiden Kindern häufig fotografiert hatte, emigrierte ebenfalls in die USA. Der Bruder Paul/Shlomo gelangte über Holland Ende der 1930er Jahre nach Palästina nach Givat Brenner. Die Mutter, Röschen Wertheim, wurde 68-jährig
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Junk/Sellmeyer 1988, S. 78 und 80.
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von ihrem letzten Wohnort Hamburg aus am 6. Dezember 1941 nach Riga deportiert, wo sich ihre Spur in eines der Todeslager verlor. Wertheim lebte und arbeitete bis zu seinem Tod im Kibbuz Givat Brenner, 1946 hatte er erneut geheiratet und zwei Töchter bekommen. Er reüssierte als Leiter des Weinanbaus, der zu den berühmtesten des Landes zählte. Das Fotografieren gab er niemals auf, seine Leica und die Fotoausrüstung hatte er mit in die Emigration genommen. Zusammen mit den Fotografen Chanan Bahir und Walter Lifmann dokumentierte er das Leben und die Menschen im Kibbuz. Da die Aufnahmen über den historischen Umbruch in Deutschland, über zwei politische Systeme reichen, spiegeln sie – so die These – die Wandlungen des Blicks des Fotografen auf seine Welt wider. Alfred fotografierte zunächst über viele Jahre hinweg Jugendgruppen der jüdischen Jugendbewegung in Osnabrück und Umgebung sowie Bundeslager und Fahrten in ganz Deutschland und im Ausland. Allein die Zahl der vorhandenen Aufnahmen weist auf die zentrale Bedeutung seines Engagements für diese Gruppen in Wertheims Leben hin. Die Bedeutung steckt jedoch nicht allein im Motiv, sondern auch in der Art des Fotografierens: Diese Phase ist durch Alfreds Selbstporträts in der Gruppe bestimmt, sie reichte ca. von 1925 bis ca. Ende 1930. Alfred war 20 bis 25 Jahre alt.
Abb. 2
Die Fotografien zeigen die Position des bürgerlichen jungen Mannes zwischen Bürgerlichkeit und Jugendkultur. Eine Fotografie zeigt die Gruppe bestehend aus Bruder Paul, Schwester Edith und zwei Kameraden, die eine Parkbank quer zu der wenn auch wohl nicht befahrenen Straße stellte (Abb. 2). Damit nahmen die Jugendlichen Raum ein und eroberten sich die städtische Umwelt, eine in Szene gesetzte Rebellion.
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Eine ganze Bildserie inszenierte das Ablegen der bürgerlichen Kleidung – ebenfalls aus dem Jahr 1924 (Abb. 3 und 4).
Abb. 3
Abb. 4
Alfred hatte da den Anzug schon mit der jugendbewegten Kluft vertauscht und mit ihm ostentativ die Bürgerlichkeit, in die er hineingeboren war, abgestreift. Aber selbst die Kluft mit kurzer Hose und offenem Hemd, das legere Kleid des Mädchens wurden abgelegt. Die Jugendlichen stehen immer noch in Positur, aber nur noch in Badekleidung. Was die Fotografie ursprünglich darstellen sollte, ist – wie dies für viele Privatfotografien gilt – nicht mehr zu rekonstruieren, aber es gibt einen Bildsinn über das intendierte Szenische hinaus: Die Abgebildeten demonstrieren mit dem Abstreifen der Hüllen, dass sich die Gruppe dadurch nicht verändert und die Personen sie selbst bleiben oder sogar sie selbst werden. Diese Aufnahmen sind umso bemerkenswerter, wenn man
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weiß, wie Alfred Wertheim im Kibbuz ankam: im Anzug und mit feinem Lederkoffer, die legere Lebensweise gehörte also zu seiner Jugend. In diesen frühen Jahren probierten Alfred und seine Kameradinnen und Kameraden sich und verschiedene Rollen spielerisch aus. Der Stil der Fotografie variierte, er war wenig intentional – verglichen mit Wertheims späteren Aufnahmen –, eher schnappschussartig, die Technik wurde jedoch schon bewusst eingesetzt. Der Fotograf fotografierte die Gruppe nicht als fest gefügte Form, sondern wie bei einem Spiel wurde mit jedem Foto eine neue Form aus der Bewegung heraus hergestellt. Und der Fotograf verhielt sich analog, er war einer von ihnen, befand sich mittendrin und auf gleicher Höhe, was sich in der Augenhöhe des Kamerawinkels ausdrückt. Die Aufnahmen sind Momentaufnahmen von Bewegungen (Abb. 5-7).
Abb. 5
Abb. 6
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Abb. 7
Alfred bewegte sich unter den Jugendbewegten, auch beim Bundestag auf dem Hohen Meissner 1925 und 1927. Allerdings war er in dieser Position beides: Kamerad und Beobachter. Aber die Distanz ist minimal, die Aufnahme wurde aus der Mitte und aus Teilnahme am Gespräch gemacht, wie der Blick des Mädchens andeutet. Um 1930 begannen sich die Fotografien zu wandeln (Abb. 8 und 9), sie wurden klarer in der Form, präziser im Arrangement:
Abb. 8
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Abb. 9
Die Nähe zu den Kameradinnen und Kameraden blieb aber Thema der um 1930 entstandenen Aufnahmen, doch wurde es in anderer Weise – mit größerem Formwillen und damit schon in größerer Distanz und Überlegtheit – thematisiert als früher. Die Sinnlichkeit ist greifbar, die Ästhetik der Körper der jungen Menschen interessierten Wertheim offensichtlich, und er inszenierte sich selbst inmitten dieser lebendigen Jugendlichkeit, in der direkten körperlichen Begegnung und Berührung vor allem mit den jungen Frauen. Alle diese Fotografien vermitteln eine erotische Atmosphäre durch die entspannten Posen, die körperliche Nähe, den Wechsel der Positionen. Viele Fotografien dokumentieren Reisen in kleineren oder größeren Gruppen, manchmal waren Alfreds Geschwister mit auf Fahrt, manchmal leitete er eine Jugendgruppe. Auf der Sommer-Alpenfahrt nach Innsbruck waren mindestens sieben Personen mit von der Partie, drei Männer und vier Frauen, eine davon war seine Schwester Edith. Auf diesen Fotografien inszenierte der Fotograf die Gruppe als Gruppe: Er posierte mit den anderen als Gemeinschaft. Alfred wählte beispielsweise einen Blickwinkel, durch den die lagernden Personen mit ihren Körpern den Berg hinter sich nachformten. Obwohl die Form des Berges eine Hierarchie andeuten könnte, scheint dies nicht der Fall zu sein, eher verleiht der Berg und die Positionierung unterhalb des Horizontes den Rastenden Form und Stabilität als Gemeinschaft. Es gibt nur die Augenhöhe, also Statusgleichheit als fotografische Position. Die Beziehungen der Kameradinnen und Kameraden untereinander sind nicht auf den ersten Blick offensichtlich, insbesondere Alfreds Position: Er sitzt hinten, auch auf dieser Fotografie hat er seine Hand um eine links neben ihm sitzende Frau gelegt. Die beiden Wanderkameraden links und rechts wirken kleiner, umrahmen die Gruppe oder sind integrierter Teil. Alfred wirkt – obwohl er wie die anderen jungen Männer im Hintergrund ist – wie eine Mitte des Bildes. Die zentrale und höchste Frauengestalt tritt etwas zurück, weil sie den Kopf gesenkt hält und etwas unterbelichtet ist. Wertheims Blick ist nicht
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auszuweichen. Gleichzeitig positionierte er auch die anderen Gruppenmitglieder so, dass sie als Bestandteil der Gruppe zentral waren. Eine Gemeinschaft, die nicht um eine gemeinsame Idee kreiste, sondern von der Kraft der Individuen zusammengehalten und geprägt war. 1930 bis 1933: Beinahe zeitgleich mit den vorangegangenen Aufnahmen, aber zunehmend bis in die Mitte der dreißiger Jahre formte sich in Alfreds Fotografien ein neuer, entschiedener Stil (Abb. 10 und 11).
Abb. 10
Abb. 11
Die Aufnahmen von den Jugendreisen 1931 und vor allem von der Sommerund Winterreise 1932 in die Schweiz künden nun von einem strengen Formwillen. Die Gruppe rückt weiter weg, die einzelnen werden anonymer, wirken ausgesetzt. Die Gruppe zieht ihre Bahn, ohne dass deutlich würde, wohin der Weg führt. Es ist nicht mehr der Blick des Gleichen unter Gleichen, der Fotograf teilt nicht mehr die Perspektive der jungen Menschen, die er fotografiert, und so ist er auch nur noch selten Teil der Selbstinszenierungen vor der
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Kamera, seine Perspektive ist jetzt eine andere, sein Blickwinkel wird weiter, er überschaut ein größeres Terrain. Dies wird noch deutlicher, wenn man sieht, wie er die Fotografien im Album arrangiert. Zwar hat er seine Fotos nie erzählerisch arrangiert, aber so formal, so streng war sein Blick zuvor nicht. Und so viel Horizont war auch noch nie. Nun hat sich tatsächlich seine Position verschoben. Er wurde Leiter von Gruppen jüngerer Jugendbewegter, hatte gelernt Verantwortung zu übernehmen. In dieser Zeit entwickelte Wertheim zudem einen für ihn neuen Typ Fotografie, der am ehesten unter dem Begriff der Landschafts- oder Heimatfotografie zu fassen ist (Abb. 12 und 13).
Abb. 12
Abb. 13
Offensichtlich nahmen seine formalen, technischen und ästhetischen Bemühungen zu. Möglicherweise festigte sich in dieser Zeit sein Entschluss, sich stärker der Fotografie zu widmen, die Aufnahmen lassen sich dann auch als
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Ausdruck wachsender Professionalisierung deuten. Nach 1930 war der Entschluss, nach Palästina zu emigrieren, eigentlich schon gefasst. Die Aufnahmen sind stärker als Rückblick denn als Blick in die Zukunft inszeniert. Der Blick schweift über die Landschaft, gibt ihr eine Form. Eine idyllisierende Blickführung, die er später in Palästina nachahmte, wo er dann ganz ähnliche Aufnahmen machte. Die Stimmung dieser Bilder veränderte sich durch die Distanznahme, nun ist nicht mehr Nähe das Thema, sondern Ferne und weite Horizonte, der Blick greift weit hinaus und bleibt doch in der weichen Gestalt der Heimat verfangen. Alfred Wertheim verschwindet in dieser Zeit aus seinen Fotografien und taucht dort bis zu seinem Lebensende nicht mehr auf.
Abbildungsverzeichnis Alle Fotografien stammen aus Privatalben von Alfred Wertheim aus dem Fotoarchiv des Kibbuz Givat Brenner. In der Regel gilt A.W. auch als Fotograf, dem Stil einiger Fotografien nach lässt sich vermuten, dass er mit Selbstauslöser gearbeitet hat. Bei der Abb. 1 ist der Fotograf unbekannt. Zudem befinden sich in den Alben der Jugendbewegung häufig auch Fotografien anderer Mitglieder der Jugendbewegung. Abb. 1: Fotograf unbekannt: Die Familie Wertheim im November 1924. Von links nach rechts: Paul Wertheim, Edith Wertheim, Röschen Wertheim, Alfred Wertheim, Simon Wertheim. Abb. 2: Juni 1924 Bad Nauheim. Von links nach rechts: Paul Wertheim, Edith Wertheim, unbekannter Kamerad, Alfred Wertheim. Abb. 3: Juli 1924 Ottenstein-Brevörde bei Hameln. Abb. 4: Juli 1924 Ottenstein-Brevörde bei Hameln. Die Fotografien sind auf einer Albumseite zusammen montiert. Abb. 5: 1925 Bundestag des Jung-Jüdischen Wanderbundes auf dem Hohen Meissner. Abb. 6/7: 1926 Harzfahrt. Abb. 8: Sommer 1930 Weserfahrt. Abb. 9: Um 1930 Alpenfahrt: Knappenhäuser Weg zum Kreuzeck. Abb. 10: Um 1930 Alpenfahrt: Hafelekar bei Innsbruck. Abb. 11: Juni 1932 Fahrt in die Schweiz. Abb. 12: April 1935 Osnabrück. Abb. 13: 1932 Carlshafen.
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Literatur ARBEL, Rachel (1996): Blue and White in Color. Visual Images of Zionism, 1897-1947. Tel Aviv. BAR-AM, Micha (1998): Israel. A Photobiography. The First Fifty Years. New York. JUNK, Peter/SELLMEYER, Martina (1988): Stationen auf dem Weg nach Auschwitz. Entrechtung, Vertreibung, Vernichtung. Juden in Osnabrück 1900-1945. Ein Gedenkbuch. Hg. von der Stadt Osnabrück. Bramsche. KEILSON, Hans (2011): Da steht mein Haus. Erinnerungen. Hg. von Heinrich DETERING. Mit einem Gespräch zwischen Hans Keilson und dem Herausgeber. Frankfurt am Main. MANNHEIM, Karl (1964): Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk. Hrsg. von Kurt H. WOLFF. Neuwied/Berlin. PEREZ, Nissan (Hg.) (2000): A century of photography in the land of Israel. Jerusalem. PILARCZYK, Ulrike (2003): Fotografie als gemeinschaftsstiftendes Ritual. Bilder aus dem Kibbuz. In: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie. Christoph WULF/Jörg ZIRFAS (Hg.): Rituelle Welten. Band 12/2003, Heft 1 und 2, S. 621-640. PILARCZYK, Ulrike (2009): Gemeinschaft in Bildern. Jüdische Jugendbewegung und zionistische Erziehungspraxis in Deutschland und Palästina/Israel. (unter Mitarbeit von Ulrike MIETZNER, Juliane JACOBI und Ilka VON COSSART). Göttingen. Revealing the Holy Land. The Photographic Exploration of Palestine (1997). Essay by K. Stewart HOWE. Santa Barbara Museum of Art. SILVER-BRODY, Vivienne (1998): Documentors of the Dream. Pioneer Jewish Photographers in the Land of Israel 1890-1933. Jerusalem/Philadelphia.
U LR I K E P I LA R C Z Y K
Alfred Wertheim: Bilder im Umbruch (1935)
Im privaten Fotoalbum Alfred Wertheims finden sich – datiert auf den Mai 1935 – zwei Seiten, die sowohl thematisch wie kompositorisch und stilistisch im Vergleich zu seinem bisherigen fotografischen Schaffen einen Bruch markieren. Sofort fällt auf, dass hier Motive wie Landarbeit und Lernen auftauchen, die Wertheim fotografisch bislang nicht beschäftigten. Außerdem fotografierte er nicht spontan aus einer Gruppe heraus, sondern wählte eine distanzierte Position, zumeist sogar etwas oberhalb des Geschehens, aus der sich ein überblickender, objektivierender Blick ergab. Sowohl die fotografierten Szenen als auch das gesamte Arrangement vermitteln sich nicht nur sachlich wie ein Report, sondern haben etwas ausgesprochen Statisches. Damit jedoch unterscheiden sie sich im Stil stark von Wertheims Fotos aus jugendbewegter Zeit im „Jung-Jüdischen Wanderbund/Brith Haolim“, die sich gerade durch Lebendigkeit und die Autarkie der abgebildeten Personen Abb. 1: Kibbuz Westerbeck 1935 (Fotograf: Alfred und die Dialoge mit dem (Eliezer) Wertheim, Privat-Album, Arch. Givat Fotografen auszeichneten. Brenner) aus: Pilarczyk 2009, S. 137.
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Die Frage, der ich im Folgenden nachgehen möchte, ist, was diesen Wandel der Bildsprache veranlasste bzw. welche Intentionen und Erfahrungen damit verbunden waren. Dafür sind die biografischen Daten im engeren Sinn nicht ausreichend, die Bildgestaltung Alfred Wertheims ist darüber hinaus in den Kontext zeitgenössischer Bildentwicklungen zu stellen, ohne den die Bedeutung dieses fotografischen Statements nicht erschlossen werden kann. Denn natürlich vermitteln private fotografische Bilder eine individuelle ästhetische Auseinandersetzung mit persönlichen und gesellschaftlichen Erfahrungen, aber die private Fotografie ist immer in spezifischer Weise auch Teil zeitgenössischer Bildkommunikation. Den Intentionen von Fotografen bzw. den Gestaltern eines Fotoalbums kommt man in der Regel durch die Betitelung näher. Außer über Monat und Jahr informiert der Seitentitel über den Ort der Aufnahmen: Kibbuz Westerbeck. Diese Angabe ist interpretationsbedürftig, denn mit dem Begriff Kibbuz verbindet man gewöhnlich landwirtschaftliche Kollektivsiedlungen in Israel. Doch Westerbeck liegt bei Osnabrück und auch eine ganze Reihe der fotografischen Informationen (Lichtverhältnisse, Landschaft, Gebäude, Bekleidung, die Wasserpumpen) sprechen dafür, dass es sich nicht um Aufnahmen aus Palästina handelt. Die Fotos stammen aus einer landwirtschaftlichen Ausbildungsstätte, in der sich jüdische Jugendliche auf die Auswanderung nach Palästina und ihre zukünftige Arbeit im Kibbuz vorbereiteten. Diese landwirtschaftliche, handwerkliche oder gärtnerische Ausbildung wurde Hachschara genannt (hebr. für Vorbereitung im Sinne von Tauglichmachung). 1 Alfred Wertheim hatte 1935 in der Hachschara-Stätte Westerbeck eine Jugendgruppe des zionistischen Jugendbundes Habonim geführt. Dort – wie in anderen HachscharaStätten – gaben sich die jungen Leute selbst den Namen Kibbuz, wenn sie ihrer zionistischen Gesinnung Ausdruck verleihen wollten, und nahmen damit begrifflich ihre zukünftige Lebensform vorweg. Thematisch lassen sich Wertheims Fotografien aus der Hachschara als junge Menschen beim Arbeiten, beim Lernen und in ihrer Freizeit fassen. 1
Die überwiegende Zahl dieser Hachschara-Stätten waren von den zionistischen Jugendbünden in Zusammenarbeit mit den anderen Organisationen der jüdischen Selbsthilfe nach 1933 aufgebaut worden. Mit der Ausbildung sollten die Voraussetzungen für die Vergabe eines der so genannten Arbeiterzertifikate zur Einreise nach Palästina erworben werden können, die nur an körperlich gesunde, erwachsene Personen mit landwirtschaftlicher oder handwerklicher Ausbildung vergeben wurden. Denn die Einwanderung nach Palästina war durch die britische Mandatsregierung über die Vergabe von Zertifikaten verschiedener Art streng limitiert. Diese Restriktionen stellten für die Emigration den größten Hinderungsgrund dar. In vielen Regionen boten die Hachschara-Lehrgüter und -Werkstätten nach 1933 die einzige Möglichkeit einer zertifizierten beruflichen Ausbildung für jüdische Jugendliche. (vgl. Michaeli/Klönne 2007; Fiedler/Fiedler 2004).
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Dabei tritt nie eine Person allein, sondern entweder zwei oder eine Gruppe auf. Dargestellt sind körperliche Arbeiten bzw. Verrichtungen, wie sie auf einem Bauernhof anfallen: Hühner füttern, Kühe melken, Wasser pumpen. Während der Fotograf Wasser pumpen und Füttern als Aktion formuliert, ist das Melken durch symbolische Attribuierungen wie Kuh, Melkschemel, Zinkeimer und entsprechende Kleidung assoziiert, das Lernen durch die Darstellung einer Gruppensituation am Tisch sitzender, über Lesestoff gebeugter Jugendlicher vor einer Wandzeitung. Diese Gruppe ist im Bild zum Dreieck formiert, dessen Spitze auf die Wandzeitung und deren zentrale Abbildung (eine Palästinakarte) weist. Freizeit hingegen ist hier durch eine kreisrunde Formation symbolisiert, die den Horra-Tanz darstellen soll. Nur ein einziges Bild hat keinen Bezug zu konkreten Tätigkeiten, die drei gegen den Himmel fotografierten jungen Männer stehen für den Zusammenhalt, die Gemeinschaft der jüdischen Pioniere (Chaluzim), als die sich die Jugendlichen und künftigen Kibbuzniks verstanden. In den relativ eng begrenzten Bildräumen gibt es darüber hinaus keine Bezüge auf ein soziales Umfeld. Um zu verstehen, was Wertheim zur Darstellung dieser Szenen bewegte, müssen wir uns zunächst seine biografische Situation vergegenwärtigen. 1933 hatte er seine zweite Palästinareise unternommen, während der er die Kameraden aus dem Jung-Jüdischen Wanderbund/Brith Haolim besuchte, die seit 1928 das phantastische Unternehmen einer Kibbuz-Gründung in der Nähe von Rechovoth begonnen hatten. Was Wertheim 1933 dort, im Kibbuz Givat Brenner, erlebte, bestärkte ihn offenbar in dem Entschluss, nach Palästina auszuwandern, denn nach seiner Rückkehr forcierte er seine eigene Auswanderung. Dass er dann doch erst 1937 Deutschland verließ, hatte verschiedene Gründe. Zum einen reiste sein Onkel und Geschäftspartner Gustav Stein 1935 nach Palästina aus, Wertheim musste nun die von den Nazis erzwungene Liquidation des Kaufhauses in Osnabrück allein abschließen und seiner Mutter zur Seite zu stehen. Anzunehmen ist, dass auch seine Heirat 1936 und die Geburt der Tochter die Auswanderungspläne verzögerten, Frau und Kind begleiteten ihn nicht nach Palästina. Zugleich wurde er im Jugendbund Habonim dringend gebraucht, denn er gehörte unterdessen zu den Älteren, denen die Führung der jüngeren Mitglieder oblag. Die politischen Ereignisse nach der Machtergreifung Hitlers hatten zu einer ersten massiven jüdischen Auswanderungswelle 1933/34 geführt. Die jüdischen Jugendbünde hatten sich unter dem Druck der politischen Ereignisse zusammengeschlossen und bekannten sich auch unter dem Einfluss der palästinensischen Kibbuz-Bewegung, die die Ansiedlung junger Menschen in Palästina förderte, zu eindeutig zionistischen Positionen. Sie orientierten ihre Mitglieder auf Auswanderung, weshalb sie auch bis 1938 von den nationalsozialistischen Behörden zwar restriktiv gemaßregelt, aber geduldet wurden. Alle anderen jüdischen Bünde wurden bis spätestens Anfang 1936 verboten.
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Nach dem, was wir über die Arbeit der zionistischen Jugendbünde in dieser Zeit wissen, ist es wahrscheinlich, dass Wertheim die Aufgabe übernommen hatte, Jugendliche in der Hachschara-Stätte Westerbeck in der Nähe von Osnabrück zu betreuen. Da war er schon über 30 Jahre alt, die Aufnahmen aus der Hachschara-Stätte machte Wertheim also aus der Perspektive eines viel Älteren und pädagogisch Verantwortlichen. So war sein fotografisches Anliegen nun auch nicht mehr das Erfassen des Moments, nicht ein spontanes „So-ist-es-gewesen“ und auch nicht in erster Linie die spätere Erinnerung. Die Bilder, die er hier entwirft, sind vielmehr prospektiv: Arbeit, Lernen und Leben in einer neuen zukünftigen Gemeinschaft, im Kibbuz. In den von ihm entworfenen Arrangements und Bildräumen sind die Jugendlichen zu Pionieren der zionistischen Bewegung (Chaluzim) formiert. Weder vorher noch jemals danach waren Wertheims Bilder so pädagogisch und zugleich auch ideologisch. Die von Wertheim selbst aufwendig gestaltete Bildbeschriftung Kibbuz Westerbeck unterstreicht das über die Aufnahmen transportierte Thema Zukunft. Kibbuz war für die jüdische Jugend dieser Zeit in Deutschland mehr als nur Zukunftsvorstellung und Erlösung aus der Not nationalsozialistischer Ausgrenzung und Schikane – Kibbuz war das zionistisch-sozialistische Modell zur Rettung der ganzen Welt – Rebellion und Revolution zugleich. Das kam den verunsicherten, nach Halt und Idealen suchenden Jugendlichen gerade recht. Allerdings wirken Wertheims Aufnahmen als Zukunftsentwurf nicht besonders überzeugend, zu eintönig erscheint das Ambiente, zu wenig innere Spannung vermitteln die Haltungen der Jugendlichen. In den von Wertheim entworfenen Bildräumen wirken die Arbeitenden, Lernenden und Tanzenden wie Staffagefiguren innerhalb wenig aussagekräftiger Bühnenentwürfe. Zwar entwirft er über diese Bilder Rollen arbeitender, lernender, miteinander feiernder Mitglieder einer virtuellen Kibbuz-Gemeinschaft, doch waren offenbar weder er als Bildgestalter noch seine Protagonisten in der Lage, diese Rollen auszufüllen, d.h., die intendierte Kibbuz-Idee überzeugend ins Bild zu setzen. So bleibt die visuelle Umsetzung im Entwurf stecken, was auch die statische Wirkung der Fotos und des Arrangements erklärt. Ihm selbst scheint dies bewusst gewesen zu sein, so ließe sich die Wiederholung der vergleichsweise lebendigen Szene als ästhetischer Kunstgriff bewerten, mit dem er möglicherweise den steifen Gesamteindruck auflockern wollte. Wertheims Bildentwürfe waren keine originären Eigenschöpfungen, sondern Teil eines angestrengten Ringens der Juden um Selbstverständigung und Identität in Deutschland, das von einer intensiven Bildsuche und Bildschöpfung begleitet war. Die für die jüdische Öffentlichkeit der 1930er Jahre entfaltete Bildwelt speiste sich, solange es eine solche Öffentlichkeit noch gab, hauptsächlich aus zwei Quellen. Ein Teil der Bilder stammte aus Palästina,
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worauf noch zurückzukommen sein wird. Die zweite Quelle waren die noch in Deutschland für verschiedene jüdische Zeitungen und Verlage tätigen professionellen Fotografen wie Herbert Sonnenfeld oder Abraham Pisarek. Die für diese Praxis im Folgenden hier exemplarisch gewählten Aufnahmen von Sonnenfeld stammen aus Serien, die dieser Mitte der dreißiger Jahre in verschiedenen Hachschara-Stätten anfertigte. 2 Wie dem Amateur Wertheim ging es auch dem Pressefotografen Sonnenfeld weniger um sachlichobjektive Berichterstattung als um einen Entwurf von Arbeit, Lernen und Leben in einer erneuerten jüdischen Gemeinschaft. Auch in seinem Entwurf erscheint Arbeit als körperliche, oft schwere Arbeit.
Abb. 2: Hachschara in BerlinNiederschönhausen, ca. 1935 (Fotograf: Herbert Sonnenfeld, Jüdisches Museum Berlin) aus: Pilarczyk 2009, S. 131.
Abb. 3: Hachschara in Jessen, o.J. (Fotograf: Herbert Sonnenfeld, Jüdisches Museum Berlin) aus: Pilarczyk 2009, S. 130.
Arbeit ist auch hier repräsentiert über verschiedenes Arbeitsgerät zur Bodenbearbeitung oder für die Ernte.
2
Die Hachschara-Fotografien von Herbert Sonnenfeld sind im Archiv des Jüdischen Museums Berlin zugänglich, die Fotografien von Abraham Pisarek (Alt-Karbe, Gut Winkel, Ahrensdorf) über die Online-Datenbank des Archivs für Kunst und Geschichte (www.akg-images). Zum fotografischen Schaffen von Sonnenfeld vgl. Krüger 1992.
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Auch Sonnenfeld wählt zur Darstellung weiblicher Arbeit u.a. das Hühnerfüttern (Abb. 4).
Abb. 4: Hachschara in Schniebinchen, o.J. (Fotograf: Herbert Sonnenfeld, Jüdisches Museum Berlin) aus: Pilarczyk 2009, S. 132.
Abb. 5: Hachschara in Rüdnitz, 1938 (Fotograf: Herbert Sonnenfeld, Jüdisches Museum Berlin) aus: Pilarczyk 2009, S. 134.
Und ebenso wie Wertheim formierte auch er seine Jugendlichen in ihrer Freizeit zum Kreis der Hora-Tanzenden (Abb. 5) und versammelte Lerngruppen an Tischen, die symbolisch auf das Thema Eretz Israel (hebr. für das Land Israel) ausgerichtet waren (Abb. 6).
Abb. 6: Hachschara in Jessen, o.J. (Fotograf: Herbert Sonnenfeld, Jüdisches Museum Berlin) aus: Pilarczyk 2009, S. 134.
Im Unterschied zu den Fotografien von Wertheim aus dem Kibbuz Westerbeck wirken jedoch die Aufnahmen Sonnenfelds dynamischer und stilistisch entschlossener, auch sind sie insgesamt heller.
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Insbesondere seine Arbeitsmotive mit männlichen Jugendlichen setzt er frei in Zeit und Raum, wählt fast durchgängig eine Perspektive von unten und stellt sie auf diese Weise dramatisch in einen „ewigen“ Zusammenhang von Himmel und Erde (vgl. Abb. 2 und 3). Stolz aufgerichtet tragen in diesen Bildern Jugendliche Schaufeln, Hacken und Sensen, beschäftigen sich mit Technik und wenden das Heu. Damit gewinnen vor allem die Porträts männlicher Jugendlicher jene zeitlose und zugleich zukunftsweisende dynamische Dimension, wie sie für die avantgardistische und auch propagandistische Fotografie der großen Ideologien jener Zeit, eben auch für die zionistische, die nationalsozialistische und sowjetische Propaganda typisch waren. In diesem Stil entwarf er ein heroisches Bild von körperlicher Arbeit und insbesondere das des männlichen jüdischen Jugendlichen – des Chaluz. Für weibliche Jugendliche gelang Sonnenfeld ein solcher Entwurf nur in wenigen Bildern. Zumeist folgen seine Bilder einem traditionellen Rollenverständnis, wenn er die Mädchen bei haushälterischen Tätigkeiten, z.B. Bügeln, Nähen oder leichter Gartenarbeit aufnimmt. Und tatsächlich war, auch wenn das Prinzip der Gleichheit aller Mitglieder in der Hachschara stets betont wurde, die Ausbildung von Mädchen und Jungen verschieden. Mädchen sollten hauptsächlich in den Bereichen Haus-, Milch-Wirtschaft, sowie Kleinviehhaltung und im Gartenbau ausgebildet werden, wohingegen die eigentlich landwirtschaftliche oder handwerkliche Ausbildung in den Werkstätten den Jungen vorbehalten blieb. Allerdings war man bemüht, die haushälterischen Tätigkeiten mit Blick auf die zukünftige Rolle der Frau in den Kibbuzim ideologisch aufzuwerten und den Mädchen ein berufliches Selbstverständnis zu ermöglichen, was jedoch nur bedingt gelang. Wenn schon die Aussicht auf haushälterische Tätigkeiten für viele Mädchen nicht verlockend war, so hatte auch die landwirtschaftliche Ausbildung in den Gütern mit dem Ziel eines Lebens im Kibbuz ein ImageProblem. Vielfach wurde angenommen, die Mädchen könnten dadurch „verbauern“. Daher dürfte auch das Bild Sonnenfelds der auf Mistgabeln gestützten Mädchen, das zu den wenigen populären Chaluza-Entwürfen in Deutschland gehörte und mit dem für Hachschara und Auswanderung geworben wurde, bei jüdischen Mädchen und Eltern gemischte Gefühle ausgelöst haben.
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Abb. 7: Rückseite des Außentitels von Arbeitsgemeinschaft für Jugend-Alija (Hrsg.), Jugendalija, 1936. (Fotograf: Herbert Sonnenfeld), aus: Pilarczyk 2009, S. 133.
Thematische und stilistische Ähnlichkeiten zur zeitgleich medial präsenten nationalsozialistischen Propaganda-Fotografie sind dabei nicht zu übersehen. Was aber die Bilder Sonnenfelds im Vergleich dazu nicht haben, ist das mythisch Dunkle und die Entindividualisierung der Protagonisten in der Gleichschaltung von Bewegung und Ausdruck. Im Gegenteil schwingt in seinen Fotografien auch Optimismus mit und Sympathie, fast Rührung für die zum Teil sehr jungen Menschen. Vor allem auf der körperlichen Ebene zeigen viele seiner Aufnahmen die Gebrochenheit der Intention, denn zumeist sind seine Darsteller/innen kaum in der Lage, den dramatischen Bildentwurf durchzuhalten, und so wirkt manche Bewegung ungelenk, für andere fehlt sichtbar noch die nötige Kraft und routiniertes Körperwissen (wie Abb. 2). Der Charme der Sonnenfeld-Aufnahmen besteht gerade in dieser in vielen Details sichtbaren Differenz zwischen Ideal-Bild und Alltag. Wie bei Wertheim wird auch hier der Versuch deutlich, neue Rollengestalten für die jüdische Jugend zu entwerfen, und dem professionellen Fotografen Sonnenfeld gelingt es auch, sie dramatischer in Szene zu setzen. Trotzdem vermitteln sich diese Intentionen auch bei Sonnenfeld nicht ungebrochen, vor allem deshalb, weil auch seine Protagonisten kaum in der Lage waren, die Rollenentwürfe auszufüllen. Das unterscheidet nun die Bilder aus Deutschland grundsätzlich von denen, die zionistische Fotografen zeitgleich in Palästina entwarfen. Fast alle wurden dort im Auftrag verschiedener vorstaatlicher zionistischer Organisationen, hauptsächlich des Jüdischen Nationalfonds (Keren Kajemet Leisrael), des Palästina-Grundfonds (Keren Hajessod) oder der Jewish Agency angefertigt. Der Auftrag war, die erfolgreiche Eingliederung der deutschen jüdischen Jugendlichen in palästinensische Kibbuzim zu zeigen. Interessanterweise wa-
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ren die meisten dieser jüdischen Fotografen (und nur wenigen Fotografinnen) deutschsprachig. 3 Viele von ihnen hatten in Mitteleuropa ihre fotografische Ausbildung erhalten. Sie waren, nachdem sie nach 1933 in Deutschland praktisch Berufsverbot hatten, im Verlaufe der 1930er Jahre nach Palästina emigriert. 4 Diese propagandistischen Bilder aus Palästina waren über verschiedene Medien – Presse, Buch, Kalender, Film – solange in der jüdischen Öffentlichkeit in Deutschland präsent, wie es eine solche dort noch geben durfte.
Abb. 8: Jüdische Rund schau Nr. 76, Palästina-Beilage im September 1935, (Fotograf: Zoltan Kluger) aus: Pilarczyk 2009, S. 129.
So entstand beispielsweise die Titelseite der regelmäßig erscheinenden und vielbeachteten Bildbeilage der Jüdischen Rundschau 1935 ausschließlich unter Verwendung des in Palästina zu dieser Zeit bereits etablierten deutschungarischen Fotografen Zoltan Kluger. Diese Fotografien präsentieren Mitglieder des Jung-Jüdischen Wanderbundes/Brith Haolim beim Aufbau des Kibbuz Givat Brenner. Das waren eben jene Kameraden aus dem Jugendbund, deren Leistungen und Zusammenleben Alfred Wertheim nach seiner zweiten Palästinareise 1933 in dem Entschluss bestärkt hatten, dorthin auszuwandern. Es gab also einen lebendigen Bildtransfer, nicht nur über Fotografie, sondern auch über den Film von Palästina nach Deutschland und Österreich – 3 4
Vgl. Bar-Am 2005. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurden die Pressefotografen zwangsweise in den berufsständischen Organisationen des „Reichsverbandes deutscher Bildberichterstatter“ vereinigt und per Gesetz auf die Prinzipien nationalsozialistischer Staatsideologie verpflichtet. Als „Bildberichterstatter“ wurde nur aufgenommen, wer den Nachweis der arischen Abstammung erbringen konnte. Praktisch bedeutete das, dass jüdische Fotografen danach nur noch im Auftrag jüdischer Organisationen oder Zeitschriften tätig sein konnten (vgl. Domröse 1995, S. 12ff.).
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aber nicht umgekehrt. In dem Bildstrom der neuen zionistischen Fotografie aus Palästina dominierten in Bezug auf die Darstellung einer neuen jüdischen Jugend in Eretz Israel deutlich die drei Themen Arbeit, Lernen, Gemeinschaft. Die zionistischen Fotografen arbeiteten alle, mehr oder weniger engagiert, an der Formulierung eines Typus des neuen Juden. Auch semiprofessionelle Kibbuz-Fotografen wie der aus Wien stammende Hans Heller (Hanan Bahir) aus dem Kibbuz Givat Brenner hatten Anteil an der visuellen Formulierung des neuen Juden.
Abb. 9: Deutsche Jugend-Alija im Kibbuz Sarid, 1941 (Fotograf: Zoltan Kluger, Central Zionist Arch. Jerusalem) aus: Pilarczyk 2009, S. 190.
Gestaltungsprinzipien dieser Fotografie waren Dynamisierung durch Schräglagen und extreme Untersichten, Pathetisierung durch Herabziehen der Horizonte und Dramatisierung durch das gekonnte Einsetzen von Kontrasten und Lichtverhältnissen. Durch Vereinzelung und durch Plakatierung vor monochromen oder eintönigen Hintergründen sowie durch die Perspektive von unten erreichten diese Fotografen Typisierung und dramatische Heroisierung zugleich. Der kantig stilisierte neue Jude war männlich, muskulös und braungebrannt, das Kinn energisch vorgereckt. Wie bei Sonnenfeld bereits angedeutet, speiste sich das Bild des Erbauers eines neuen jüdischen Nationalwesens in Fotografie und Film zu dieser Zeit ästhetisch aus den gleichen Wurzeln wie die zeitgleich präsente nationalsozialistische und auch die sozialistische sowjetische Fotografie. Das ist wenig verwunderlich, wenn man sich bewusst macht, dass ein Großteil der zeitgenössischen Fotografen ihre Ausbildung in den großen Zentren visueller Ästhetik wie dem Bauhaus absolviert hatte. 5
5
Vgl. Honnef/Weyers 1997; Fiedler 1995.
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Arbeit erschien in den Bildern der zionistischen Fotografen aus Palästina ebenso wie in den Bildern von Wertheim und von Sonnenfeld als schwere körperliche Arbeit, die sich vor allem im männlichen Umgang mit Arbeitsgerät und Maschinen ausdrückte. Im Unterschied zu den Bildern in Deutschland siedelten fast alle Bilder aus Eretz Israel im Motivkreis von Aufbau und Urbarmachung: Bodenbearbeitung, Pflügen, Säen, Ernten. Darüber wurde in den 1930er Jahren auch das Bild der Pionierin, der kräftigen Chaluza in kurzen Hosen kreiert. Daneben gab es natürlich immer die weitaus weniger auffällige Arbeiterin im Gemüsebeet und die Hühnerfütternde. Die fotografischen Versuche, jüdische Mädchen aus Deutschland zu zionistischen Pionierinnen zu transformieren, zeugten hier wie da von Unentschiedenheit, welches Frauenbild zum jüdischen Aufbauwerk am besten passen könnte. Daher war die Darstellung von Mädchen und jungen Frauen der deutschen Alija (hebr. für Aufstieg nach Eretz Israel) auch nicht eindeutig auf einen Typus fixiert. Während jedoch das Chaluza-Bild nicht einmal bis zur Staatsgründung Israels 1948 als Leitbild weiblicher Kibbuzniks überdauerte, blieb das Bild der fleißigen und bescheidenen Kibbuz-Arbeiterin. Insbesondere das Füttern von Federvieh entwickelte sich zu einer der fotografischen Standardsituation zur Darstellung weiblicher Arbeit im Kibbuz (Abb. 10). Zweites zentrales Thema war das Lernen, diese Bilder aus dem Kibbuz kamen nun ohne Eretz Israel-Symbolik aus (Abb. 11).
Abb. 10: 1936, o.O. (Fotograf: Rudi Weißenstein, Samml. Photohouse Prior, Tel-Aviv) aus: Pilarczyk 2009, S. 193.
Abb. 11: Kibbuz Givat Brenner, o.J. (Fotograf: Hanan Bahir, Arch. Givat Brenner) aus: Pilarczyk 2009, S. 196.
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Das dritte Thema, Gemeinschaft, wurde zumeist über die repräsentativen Aufnahmen von Gruppen formuliert sowie über die Darstellung von Festen und Feiern mit Hora-tanzenden Gruppen.
Abb. 12: Deutsche Jugend-Alija in Givat Brenner, 1935/36 (Fotograf: Hanan Bahir, Arch. Givat Brenner) aus: Pilarczyk 2009, S. 196.
Abb. 13: Deutsche Jugend-Alija in Ein Charod, 1936 (Fotograf: Zoltan Kluger, Central Zionist Arch. Jerusalem) aus: Pilarczyk 2009, S. 196
Im Vergleich wirken sowohl die Bilder, die Wertheim 1935 von den Jugendlichen der Hachschara-Stätte Westerbeck fertigte, als auch Sonnenfelds Hachschara-Fotos wie Themenzitate dieser neuen zionistischen Fotografie. Dennoch sind sie stilistisch anders. Wertheim mied nicht nur die starken Untersichten, sondern entschied sich ja zumeist sogar für Aufsichten. Es scheint, als suchte er durch Distanzierung und formale Reduktion nach einer Essenz der Themen Arbeit und Gemeinschaft, um Heroisierung ging es ihm jedenfalls nicht. Seine Bilder vermitteln Strenge, kein ausgelassenes Jugendleben, nicht einmal beim Tanz, aber sie wirken auch nicht melancholisch, sondern eher schwer und ernst. Dass er seine Protagonisten – wie auch der Pressefotograf Sonnenfeld – teilweise in synchronen Haltungen und Tätigkeiten auftreten ließ, kann man zum einen Teil mit Wertheims Alter und der Funktion, die er in dem Hachschara-Camp hatte, erklären. Denn es fotografierte ja nun nicht mehr ein Statusgleicher, ein Jugendlicher die Gleichaltrigen seiner Gruppe, sondern ein Erwachsener, der sich außerdem für diese Jugendlichen pädagogisch verantwortlich fühlte. Das Pädagogische prägt ganz offensichtlich diesen Zukunftsentwurf, in Wertheims Perspektive tun die Jugendlichen das, was sie auch sollen. Zum
Alfred Wertheim: Bilder im Umbruch (1935)
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anderen Teil lässt sich der Wandel der Formsprache auch mit der weltanschaulichen Entwicklung Wertheims nach 1933, seinem zweiten Palästinabesuch, erklären. Denn damit war auch der Übergang von jugendbewegtbündischen zu zionistischen Erziehungsvorstellungen verbunden. Obwohl seine Aufnahmen wohl auch propagandistisch gemeint waren – es ist nicht einmal unwahrscheinlich, dass sie für den Eintritt in einen zionistischen Jugendbund, Hachschara und Alija werben sollten –, unterschieden sich seine und auch die Fotografien von Sonnenfeld, die ja auf jeden Fall für die Werbung genutzt wurden, von der zeitgenössischen zionistischen Fotografie in Palästina. Es fehlen zunächst die harten Kontraste, auch wenn sich Sonnenfeld um die Simulation mediterraner Lichtverhältnisse bemühte. Die Darstellung von Bewegung wurde von ihnen verfehlt und der für den PropagandaStil typische dynamisch-dramatische Bildaufbau gelang nur Sonnenfeld ansatzweise, während er bei Wertheim wohl gar nicht intendiert war. Der visuelle Entwurf chaluzischer Jugend in Deutschland wirkt in der Formulierung dieser beiden Fotografen eher vermittelnd, ihm fehlt die Rigorosität der Form. Damit soll jedoch kein gestalterisches Defizit festgestellt werden, denn die Bilder, die die Fotografien von Wertheim und Sonnenfeld transportieren, siedelten in einem anderen Erfahrungs- und Vorstellungsraum als die der deutsch-jüdischen Fotografen in Palästina. Dieser Raum war bestimmt durch das „Nicht mehr“ und ein „Noch nicht“. Das heißt, die Aufnahmen der beiden Fotografen waren utopische Entwürfe, die wenig mit dem Hachschara-Alltag der Jugendlichen und ebenso wenig mit dem Alltag der Juden im nationalsozialistischen Deutschland zu tun hatten, aber dennoch in der Reaktion auf diese Verhältnisse und in der Verarbeitung persönlicher und kollektiver Erfahrungen der Ausgrenzung und Diffamierung entstanden. In den Bildern lassen sich gerade in der Ambivalenz der Orte, der Gebrochenheit der Intentionen und ihrer Schwere (bei Wertheim) die Spuren dieser alltäglichen Erfahrungen erkennen. Von diesen Erfahrungen konnten die zionistischen Fotografen in Palästina abstrahieren. Mit dem Alltag der Jugendlichen in den Kibbuzim hatten ihre Entwürfe zwar auch wenig zu tun, doch werden über die jeweiligen Intentionen der Fotografen hinausgehend, im Stil dieser Bilder, insbesondere in ihrer fotografisch geschaffenen Räumlichkeit, auch die mentalen Dispositionen der zionistischen Aufbaugeneration, ästhetisch erfahrbar. Die grenzenlosen Bildräume und die harten Kontraste verweisen auf eine prinzipielle und durchaus nicht nur als hoffnungsvoll, sondern auch schmerzlich empfundene Offenheit und Bedingungslosigkeit dieser Lebenssituation in einem unüberschaubaren und schwer deutbaren Raum mit ungewisser Zukunft. Auch diese Bildräume sind ein Reflex auf die Lage der jungen Men-
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schen, auf ihr tatsächliches Ausgesetztsein und ihre Schutzlosigkeit unter ungewohnten, extremen klimatisch-geographischen und politischen Bedingungen. Die Erfahrung dieser Wirklichkeit wird Alfred Wertheim erst in den Jahren nach seiner Ankunft im Kibbuz Givat Brenner fotografisch verarbeiten.
Literatur BAR-AM, Micha (2005): Deutsch-jüdische Fotografen und die visuelle Kultur in Palästina. In: ZIMMERMANN, Moshe/HOTAM, Yotam (Hg.): Zweimal Heimat. Die Jeckes zwischen Mitteleuropa und Nahost. Frankfurt a.M., S. 255-259. DOMRÖSE, Ulrich (Hg.) (1995): Leitbilder für Volk und Welt. Nationalsozialismus und Photographie. Berlin. FIEDLER, Herbert/FIEDLER, Ruth (2004): Hachschara. Vorbereitung auf Palästina. Schicksalswege. Teetz. FIEDLER, Jeannine (1995): Social Utopias of the Twenties. Bauhaus, Kibbutz and the Dream of the New Man. Wuppertal. HONNEF, Klaus/WEYERS, Frank (Hg.) (1997): Und sie haben Deutschland verlassen … müssen. Fotografen und ihre Bilder 1928-1997. Köln 1997. KRÜGER, Maren (1992): Herbert Sonnenfeld. Ein jüdischer Fotograf in Berlin 1933-1938. Berlin. MICHAELI, Ilana/KLÖNNE, Irmgard (Hg.) (2007): Gut Winkel − die schützende Insel. Hachschara 1933-1941. Berlin. PILARCZYK, Ulrike (2009): Gemeinschaft in Bildern. Jüdische Jugendbewegung und zionistische Erziehungspraxis in Deutschland und Palästina/Israel. (unter Mitarbeit von Ulrike MIETZNER, Juliane JACOBI und Ilka von COSSART). Göttingen.
C H R IS TIN E M A Y E R
Zirkulation und Adaption pädagogischer Ideen um 1800 am Beispiel von Burtons Erziehungsschrift ‚Lectures on female education and manners‘ (1793)
1. Einleitung Im ausgehenden 18. Jahrhundert setzte im deutschen Sprachraum eine Intensivierung des pädagogischen Diskurses ein, was unter anderem auch darin sichtbar wird, dass vermehrt Erziehungsschriften entstanden, darunter auch solche, die sich auf die bisher weitgehend vernachlässigte weibliche Erziehung und Bildung richteten. Wenngleich der Diskurs vom deutschen Aufklärungsdenken geprägt war, fand er im Kontext eines transnationalen Austausches pädagogischer Ideen und Konzepte statt. Diese kulturellen Grenzüberschreitungen spiegeln sich auch in den zahlreichen Leseempfehlungen und Buchbesprechungen in Zeitschriften und Rezensionsorganen der Aufklärungszeit wider. Eine wichtige Rolle in diesem kulturellen Transfer spielten dabei Übersetzungen. Zu sehen ist dies z.B. in der von August Hermann Francke (1663-1727) schon 1698 veranlassten Übersetzung von ‚Traité de l’éducation des filles‘ (Paris 1687) des französischen Erzbischofs François Fénelon (1651-1715). Francke sah sich zu diesem Schritt veranlasst, da es eine vergleichbare Schrift, die auch für die Erziehung protestantischer Töchter geeignet gewesen wäre, in deutscher Sprache nicht gab. 1 John Lockes Erziehungsschrift von 1693 lag zwar schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts in deutscher Übersetzung vor, wurde aber vorwiegend in der französischen Übersetzung Pierre Costes (1668-1747) gelesen. 2 In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts waren es dann vor allem die Schriften Rousseaus (1712-1778), die nicht nur im deutschen Sprachraum übersetzt und rezipiert wurden. So lag schon 1761 eine deutsche Übersetzung des Briefromans ‚La nouvelle Héloïse‘ vor, und auch der ‚Emile‘ wurde noch im gleichen Jahr seines Erscheinens in deutscher Sprache verlegt. Eine weitere Rezeptionswelle löste dann die Neuübersetzung des ‚Emile‘ in der von Joachim Heinrich Campe (1746-1818)
1 2
Vgl. Kramer 1885, S. 9f. 1708 lagen zwei Übersetzungen vor (Greifswald und Leipzig), die allerdings unzulänglich waren (vgl. Pollok 2004, S. XXXIf.).
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herausgegebenen ‚Allgemeine[n] Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens‘ (1789-1791) aus. Die intellektuellen Grenzüberschreitungen und Rezeptionskulturen verliefen jedoch nicht nur einseitig, wie sich an der Übersetzung von Campes Schrift ‚Väterlicher Rath für meine Tochter‘ (1789) ablesen lässt, die ins Holländische (Amsterdam 1791), mehrmals ins Französische (Paris 1803, 1820; Braunschweig 1804, 1812), aber auch ins Russische (Petersburg 1804), Polnische (Krakau 1805) und Dänische (Kopenhagen 1804) übertragen wurde. 3 Auch zwischen Mary Wollstonecraft (1759-1797) und Christian Gotthilf Salzmann (1744-1811) fand ein wechselseitiger Austausch pädagogischen Denkens statt. Wollstonecraft, die sich für Erziehungsfragen interessierte – 1787 erschien ihre Schrift ‚Thoughts on the education of daughters‘ –, übersetzte zu Beginn ihrer Laufbahn als freie Schriftstellerin Salzmanns ‚Moralisches Elementarbuch‘ (1782/1783) ins Englische. Die drei Bände erschienen, wie auch ihre frühere Erziehungsschrift, 1790 und 1791 bei dem befreundeten Londoner Verleger Joseph Johnson (1738-1809). Nicht zuletzt aufgrund der hervorragenden Übersetzung war Salzmanns Schrift nicht nur im deutschsprachigen Kulturraum sehr erfolgreich. Zusammen mit den amerikanischen Ausgaben, die allerdings nicht alle der Wollstonecraft-Übersetzung folgten, kam es zu 24 Auflagen der ‚Elements of morality‘ im englischen Sprachraum; hinzu kamen noch französische, ungarische und zahlreiche weitere Übersetzungen. 4 Im Gegenzug wurde Wollstonecrafts Schrift ‚A vindication of the rights of woman‘ (1792, dt. 1793/1794) ins Deutsche übertragen. Diese Übersetzung ist hauptsächlich Georg Friedrich Christian Weißenborn (1764-1834), Lehrer am Schnepfenthaler Philanthropin und Schwiegersohn Salzmanns, zu verdanken, der höchstwahrscheinlich auch die werbewirksamen Würdigungen schrieb, die in verschiedenen Zeitschriften erschienen. Salzmann verfasste zwar das Vorwort zu der Schrift, distanzierte sich ansonsten aber durch geschickte Argumentation – die wohl auch der Zensur geschuldet war – von den Auffassungen Wollstonecrafts. 5 Weißenborn übersetzte noch weitere von Wollstonecrafts Schriften, 6 wodurch die Buchhand-
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Vgl. Kersting 1989, S. 373. Vgl. C. G. Salzmann-Bibliographie 1981, S. 83ff. Eine zum Gebrauch im Sprachunterricht preiswertere Ausgabe der ‚Elements of morality‘ wurde mit Zustimmung der Autorin und des englischen Verlegers 1796 in Schnepfenthal gedruckt und kam dort im Unterricht zum Einsatz (vgl. Niedermeier 1993, S. 615). Niedermeier analysiert diesen Zusammenhang ausführlich und unterzieht die bisherigen Annahmen einer kritischen Korrektur (vgl. auch Gibbels 2004, S. 83ff. und Schotte 1988). Darunter ‚Original stories from real life‘ (1788, dt. 1795) und William Godwins (1756-1836) ‚Memoirs of the author of ‚A vindication of the rights of woman‘ (1798, dt. 1799) (vgl. Niedermeier 1993, S. 608, 616).
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lung der Schnepfenthaler Erziehungsanstalt entscheidend zur Popularisierung ihrer Schriften im deutschen Sprachraum beitrug. Auch in den verschiedenen Auflagen von August Hermann Niemeyers (1754-1828) Standardwerk ‚Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts‘, die ab 1796 in permanenter Erweiterung erschienen und als eine der ersten Versuche gelten können, die zeitspezifischen pädagogischen Wissensbestände zu systematisieren, zeigt sich die Internationalisierung der pädagogischen Gedankenwelt. Seinen Vorstellungen zur weiblichen Erziehung, die er in den verschiedenen Ausgaben ebenfalls ständig erweiterte, 7 schloss er Literaturempfehlungen an, die den damaligen Diskussionsstand repräsentierten und auch zur Orientierung und Hilfe der Erziehungspraxis gedacht waren. Schon in der ersten Auflage der ‚Grundsätze‘, in der allerdings die Ausführungen zum Bereich Erziehung und Geschlecht noch sehr knapp ausfielen, unterteilte er die empfohlenen Schriften zur Mädchenerziehung in solche, welche „die Bestimmung des weiblichen Geschlechts überhaupt“ betrafen, worunter er neben Ernst Brandes (1758-1810) ‚Über die Weiber‘ (1787), Johann Gottlieb Marezolls (1761-1828) ‚Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht‘ (1788), Rousseaus ‚Emile‘ (V. Buch) und Campes ‚Väterlicher Rath‘ auch radikalere Schriften zählte, wie die von Theodor Gottlieb von Hippel (1741-1796) ‚Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber‘ (1792) und Mary Wollstonecraft ‚Rettung der Rechte des Weibes‘ (1794). Davon unterschied er solche, die er als die „eigentlich pädagogische[n] Schriften über die Erziehung des weiblichen Geschlechts“ ansah. Darunter fasste er die traditionellen französischen Schriften wie Fénelons Erziehungsschrift, Mme de Lamberts ‚Lettres sur la véritable éducation des filles‘ (1682) und ‚Traité de l’éducation des femmes et cours complet d’instruction‘ (VI. Vol., 1788) sowie Mme Leprince de Beaumonts ‚Unterweisung für ein junges Frauenzimmer, das in die Welt tritt‘ (1768), aber auch Mädchenerziehungskonzepte deutschsprachiger Autoren wie Rudolph Heinrich Zobels (1734-1775) ‚Briefe über die Erziehung der Frauenzimmer‘ (1773), Johann Georg Sulzers (1720-1779) ‚Anweisung zu Erziehung seiner Töchter‘ (1781), Christian Karl Andrés (1763-1821) ‚Über die Bildung der Töchter in Schnepfenthal‘ (1789) und die von Niemeyer als „ganz vorzüglich“ hervorgehobene Schrift Heinrich Christian Schwarz’ (1766-1837) ‚Grundriß einer Theorie der Mädchenerziehung in Hinsicht auf die mittleren Stande‘ (1792). 8 In dieser als pädagogisch relevant eingestuften Referenzliteratur findet sich auch das zweibändige Werk John Burtons ‚Lectures on female education and manners‘ (1793, dt. 1795), das von dem pädagogischen Schriftsteller und literarischen Aufklärer Christian Felix Weiße (1726-1804) übersetzt wurde. In den nachfolgenden Ausgaben der ‚Grundsätze‘, in denen der Literaturkorpus zum Teil erweitert wurde, Titel aber auch 7 8
Zu Niemeyers Konzept der Mädchenerziehung vgl. Schmid 2007. Niemeyer 1796/1970, S. 204.
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wegfielen, bildeten Burtons ‚Vorlesungen über weibliche Erziehung und Sitten‘ einen festen Bestandteil in Niemeyers Liste an pädagogischen Leseempfehlungen. Dem Literaturkorpus fügte er später auch Charles Allens (1728?-1792) erfolgreiche Schrift ,The polite lady: or, a course of female education in a series of letters‘ (1760) hinzu, die von dem Schriftsteller, Bibliothekar und Übersetzer Johann Joachim Schwabe (1714-1784) unter dem Titel ‚Das wohlgezogene Frauenzimmer, oder vollständige Anweisung zur weiblichen Erziehung in einer Reihe von Briefen‘ (1767) ins Deutsche übertragen wurde. Die von Niemeyer empfohlenen Werke zur weiblichen Erziehung verdeutlichen, dass die traditionellen französischen Erziehungsschriften auch noch im ausgehenden 18. Jahrhundert virulent waren, zunehmend aber Schriften deutscher Pädagogen erschienen, die sich dem bisher vernachlässigten Problem der Mädchenerziehung widmeten. Daneben wird anhand der englischen Erziehungsschriften deutlich, dass die Transfer-Konstellationen nicht nur bilateral verliefen, sondern in den Perzeptions- und Rezeptionsprozessen häufig mehr als zwei Kulturräume miteinander verknüpft waren. Auch in Gustav Krusches Bibliographie (1887) zur weiblichen Erziehung zeigt sich, wie sich im 18. Jahrhundert der französische und englische Kulturraum anhand von Übersetzungen mit dem deutschen überschneidet. Die Liste an Beispielen zur Zirkulation pädagogischen Wissens ließe sich noch unschwer erweitern, galt das 18. Jahrhundert doch nicht nur als das ‚pädagogische Jahrhundert‘, sondern auch als das „Jahrhundert der Übersetzungen“ 9 und mithin als eine Zeit, in der sich auf unterschiedlichen Gebieten das Bewusstsein für Interkulturalität in einer sich zunehmend globalisierenden Welt zu entwickeln begann.
2. Der transnationale Austausch pädagogischer Ideen als Kulturtransfer Will man die Zirkulation pädagogischer Ideen näher untersuchen, so stellt sich die Frage, wie die in einem bestimmten kulturellen Kontext entstandenen pädagogischen Gedanken in einen anderen Kulturraum transferiert und aufgenommen werden. Ansatzpunkte hierzu liefert das Konzept des Kulturtransfers, das Mitte der 1980er Jahre im Rahmen der französischen Germanistik des ‚Centre nationale de la recherche scientifique‘ (CNRS) in Paris in kritischer Auseinandersetzung mit den methodologischen Grundlagen der 9
D’Aprile/Siebers 2008, S. 122.
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Komparatistik entstanden ist und als Forschungsprogramm zur systematischen Untersuchung transkultureller Beziehungen weiterentwickelt wurde. 10 Beim Kulturtransfer steht nicht die Parallelisierung von Gegenständen, die Herausarbeitung von Gegensätzen oder die Bilanz eines Vergleichs im Vordergrund; es geht vielmehr um die Analyse von Import- und Exportmechanismen und die vielfachen Verflechtungen zwischen Kulturräumen. Eine stärkere Beachtung finden hierbei Formen der Vermischung (métissage), die auf der Suche nach Identitäten häufig ausgeblendet werden. 11 Ausgehend von der Überlegung, „daß Gedankenkonstellationen und Praxiszusammenhänge sich nicht aus eigenem Antrieb verbreiten, sondern von Vermittlungsinstanzen getragen werden müssen“, 12 richtet sich der Blick auch auf die Mittler kultureller Transfers. Im Vordergrund stehen also die Importmechanismen des fremden Kulturgutes sowie der Rezeptionskontext. Für eine Untersuchung des Austauschs pädagogischer Ideen auf der Grundlage des Transferkonzepts scheinen somit vor allem zwei Aspekte von Wichtigkeit zu sein: (1) Obgleich beim Transfer pädagogischer Konzepte auch die Entstehungsbedingungen und kulturellen Kontexte von Bedeutung sind, geht mit dem Ansatz des Kulturtransfers zugleich eine radikale Umkehrung der Perspektive auf das Verhältnis von Ausgangs- und Rezeptionskultur einher. 13 Die Rezeptionsbedürfnisse und der Aufnahmekontext rücken in das Blickfeld und damit auch die Frage der Auswahl der Transfergüter und die Art und Weise ihrer Modifikation in der Aufnahmekultur. (2) Da die von pädagogischen Ideen und Konzepten ausgehenden Anregungen auf das zeitgenössische Denken zumeist über Bücher und Zeitschriften vermittelt wurden, gilt es auch, die spezifischen Bedingungen des Transfergeschehens mit zu bedenken, wie z.B. die Entwicklung des Büchermarktes oder die Rolle des Buchhandels, um die Verflechtungszusammenhänge und Vermittlungsprozesse analysieren zu können. Eine besondere Bedeutung kommt im 18. Jahrhundert dem Übersetzungswesen zu, da – wie einleitend schon skizziert – der Austausch aufklärerischer Gedanken und Praktiken zwischen unterschiedlichen Sprach- und Kulturräumen weitgehend auf dem Wege der Übersetzung stattfand. In literatur- und kulturgeschichtlichen Studien der letzten Jahre wurde die zentrale Rolle von Übersetzungen als Mittel des interkulturellen Austausches verstärkt herausgearbeitet 14 und dabei auch die Leistungen von Frauen im Rahmen der Übersetzungskultur näher untersucht. 15 Daneben ist von nicht unerheblicher 10 11 12 13 14 15
Vgl. Espagne/Werner 1985. Vgl. Middell 2000, S. 7ff., 17; Espagne 2000, S. 42ff. Espagne 1997, S. 310. Zu dieser Perspektivverschiebung vgl. Middell 2000, S. 18ff. Vgl. z.B. Frank/Kittel 2004; Stockhorst 2010. Vgl. Wehringer/Brown 2008; Willenberg 2008, S. 233ff.
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Bedeutung, dass die Buchproduktion in Deutschland vor allem im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts immens zu expandieren begann. Zwischen 1769 und 1805 steigerte sie sich um mehr als das Zehnfache gegenüber den Jahren 1721 bis 1769. 16 Diese Steigerungsraten wurden noch durch die enorme Gründungswelle von Zeitschriften und Zeitungen übertroffen; zwischen 1766 und 1790 erreichte mit 2.191 Zeitungsgründungen die Expansion ihren Höhepunkt. 17 Neben der Erweiterung fand zugleich auch eine Umstrukturierung des Büchermarktes statt. Die Zusammensetzung des Angebots veränderte sich durch den Rückgang theologischer Schriften und einen Anstieg moralisch-philosophischer und pädagogischer Literatur sowie praktischer Hausbücher. Diese Schriften machten 1780 fast 40 Prozent an der Gesamtproduktion aus. 18 Innerhalb dieser Entwicklung spielten die zahlreichen Übersetzungen, die sich auch innerhalb des pädagogischen Schrifttums zeigen, eine nicht geringe Rolle. Denn die Lesegewohnheiten des Publikums waren extensiver geworden und der damit gestiegenen Nachfrage musste mit einem erweiterten Angebot entsprochen werden. Das extensive Lesen, zu dem auch eine weibliche Leserschaft mit beitrug, hatte seine Ursache nicht zuletzt im Aufstieg der ‚gebildeten Stände‘, zumal die Aneignung von Literatur für die bürgerliche Identitätsbildung eine nicht unerhebliche Rolle spielte. 19 In der historischen Transferforschung standen bisher vor allem die deutsch-französischen Austauschbeziehungen im Vordergrund. In den beiden großen Forschungsprojekten ‚Kulturtransfer im Epochenumbruch Frankreich – Deutschland 1770 bis 1815‘ und ‚Kulturtransfer zwischen Sachsen und Frankreich im 18. und 19. Jahrhundert‘ ging es zum einen um die quantitative Entwicklung und inhaltliche Erfassung der französisch-deutschen Übersetzungsbibliothek, 20 zum anderen um eine disziplinübergreifende Untersuchung der kulturellen Transferbeziehungen zwischen den beiden Ländern Sachsen und Frankreich. 21 Wenngleich der Begriff ‚Kulturtransfer‘ mittlerweile Konjunktur hat, steht eine Erforschung pädagogisch-kultureller Transferbeziehungen für das lange 18. Jahrhundert noch weitgehend aus. 22 Die nachfolgenden Ausführungen sind als ein Versuch zu verstehen, den kulturellen Austausch pädagogischer Ideen auf der Grundlage des skizzierten Transferansatzes und am Beispiel eines einzelnen Falles näher zu untersuchen. Ein 16 17 18 19 20 21
Vgl. Bödecker 2005, S. 501. Vgl. ebd., S. 503. Vgl. ebd., S. 502. Vgl. hierzu z.B. Schmid 1985, S. 100ff. Vgl. Lüsebrink/Reichardt 1997. Vgl. Espagne/Middell 1999. Weitere Studien befassen sich aber auch mit geographisch wie zeitlich unterschiedlichen Kulturräumen, wie z. B. Lüsebrink 2006 oder Fuchs/Trakulhun 2003. 22 Eine Ausnahme bildet Roldán Veras Studie (2003) zu transkontinentalen Formen des pädagogischen Wissenstransfers anhand des britischen Buchhandels.
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fallstudienartiges Vorgehen bietet sich insofern an, als Transferbeziehungen und Rezeptionskontext im Rahmen einer Fokussierung besser ausgelotet werden können. Im Mittelpunkt der Analyse steht John Burtons Erziehungsschrift ‚Lectures on female education and manners‘, die im deutschsprachigen Raum weite Verbreitung fand und – nicht zuletzt aufgrund von Niemeyers Empfehlungen – bis weit in das 19. Jahrhundert hinein in Lexika, Zeitschriften und Bibliographien zu finden ist.
3. John Burtons ‚Vorlesungen über weibliche Erziehung und Sitten‘ und ihre Verbreitung Über John Burtons (1745/46-1806) Leben und den Entstehungshintergrund seiner zweibändigen Schrift gibt es kaum Hinweise. Er hatte einen adeligen Hintergrund – hinter seinem Namen findet sich der Zusatz ‚Esq.‘ – und war Sekretär an der königlichen Schiffswerft in Chatham (Kent). Weitere Werke von ihm sind nicht bekannt. Die erste Ausgabe seiner Schrift erschien 1793, eine zweite, korrigierte Fassung wurde aufgrund des großen Zuspruchs im selben Jahr bei Joseph Johnson in London gedruckt. Johnson verlegte als ‚liberal publisher‘ vor allem Werke radikaler Denker wie die Schriften Mary Wollstonecrafts, William Godwins und Joseph Priestleys (1733-1804), 23 der – wie Johnson selbst – führendes Mitglied der Unitarians war, eine Gruppe von Dissenters, die sich theoretisch und praktisch mit Erziehungsreformen beschäftigten, wovon Frauen nicht ausgeschlossen waren. 24 Ob auch Burton zu diesem Kreis gehörte, konnte bisher nicht ermittelt werden. Seine Auffassungen über weibliche Erziehung deuten jedenfalls auf eine gedankliche Nähe zu dieser Gruppe hin. In den beiden Bänden, die eine Auswahl von Vorlesungen beinhalten, finden sich zahlreiche Verweise, insbesondere auf Priestley. Burtons ‚Lectures‘, die Fragen der Erziehung und Selbstbildung sowie der häuslich-familialen Lebensgestaltung behandeln und auch verschiedene Aspekte des gesellschaftlich-sozialen Umgangs thematisieren, richteten sich an Schülerinnen in ‚boarding schools‘. Folgt man Christina de Bellaigue, so besuchten hauptsächlich Töchter aus Familien der englischen ‚middle class‘ diese Schulen. 25 Gegen Ende des 18. Jahrhunderts hatte sich deren Anzahl zwar merklich erhöht, zugleich mussten sie jedoch auch mit ihrem Ansehen 23 Vgl. Tyson 1979, S. 81ff. 24 Vgl. Watts 1998. 25 Vgl. Bellaigue 2007, S. 11f.; zum Begriff der ‚middle class‘ vgl. Watts 1998, S. 14; Hobsbawm 1995.
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kämpfen. 26 Burtons Schrift ist deshalb auch als ein Beitrag zur Verfeinerung, Kultivierung und Vervollkommnung der weiblichen Erziehung in ‚boarding schools‘ zu sehen. Ähnliche Bestrebungen verfolgte auch Erasmus Darwin (1731-1802) mit seinem ‚Plan for the conduct of female education in boarding schools‘ (1797), der 1822 von dem Arzt Christoph Wilhelm Hufeland (1762-1836) ins Deutsche übertragen wurde. Eine erste Übersetzung von Burtons ‚Lectures‘ lag mit Kupferstichen versehen 1795 vor, eine zweite Auflage erschien 1798/99. Zur gleichen Zeit wurde die deutsche Ausgabe in Wien nachgedruckt, 27 mehrere Nachdrucke der englischen Ausgabe lassen sich zudem für die USA und für Irland nachweisen. 28 Wie hoch die Auflagenhöhe der deutschen Ausgaben war, ist schwer zu ermitteln. Zieht man den Verlag der Schnepfenthaler Erziehungsanstalt als Vergleich heran, so galt dort eine Auflagenhöhe von 1.800 Exemplaren „als gut und rentabel“, 29 wobei aufgrund der Organisation des Lesens in Lesezirkeln und Leihbüchereien „für die tatsächliche Leserzahl [...] ein Multiplikator von schätzungsweise zehn Lesern angenommen werden“ muss. 30 Beide Bände wurden zu einem Preis von 1 Reichstaler 18 Groschen verkauft. Dieser Preis bewegte sich im damals üblichen Rahmen, wenn man Wollstonecrafts zweibändiges Werk ‚Rettung der Rechte des Weibes‘ zum Vergleich heranzieht, das für 1 Reichstaler 8 Groschen angeboten wurde. Campes ‚Väterlicher Rath‘ in der Ausgabe von 1797 war hingegen für 1 Reichstaler zu haben. 31 Anhand der Verbreitung von Burtons Erziehungsschrift zeigt sich, dass sich der Kulturtransfer nicht nur auf den englischen und deutschsprachigen Kulturraum beschränkte, sondern es auch vielfältige Transferbeziehungen zwischen den englischsprachigen Räumen gab. Der große Erfolg von Burtons Schrift verweist zudem darauf, dass sich das Interesse an einer verbesserten weiblichen Erziehung und Bildung keineswegs auf den deutschsprachigen Raum beschränkte, sondern in eine globalere Diskurslandschaft eingebettet war, die sich jedoch hinsichtlich der jeweiligen sozialen, politischen, kulturellen und religiösen Kontextbedingungen und Diskursformationen unterschiedlich ausgestaltete.
26 Ausführlicher hierzu Mayer 2011, S. 6f. 27 Bei Pichler 1799 und Sammer 1799. 28 Z.B.: 1st American ed., New York: S. Campell 1794; 1st American ed., Philadelphia: Rice 1794; 5th American ed., Elizabeth-Town: S. Kollock 1799; 4th ed., Baltimore: Samuel Jefferis 1811 und 3rd ed., Dublin: H. Gaine 1794; 3rd ed., Dublin: John Milliken 1794; 4th ed., Dublin: John Milliken 1796. 29 Grosse 1989, S. 266. 30 Kiesel/Münch 1977, S. 160, zit. nach Gibbels 2004, S. 85; vgl. auch Goldfriedrich 1909/1970, S. 247ff. 31 Niemeyer Bd. 2, 51805, S. 443, 440.
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4. Christian Felix Weiße als Übersetzer Burtons ‚Lectures‘ übersetzte der Dramatiker, pädagogische Schriftsteller und Übersetzer Christian Felix Weiße, der zusammen mit Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) schon während seines Studiums damit begann, um seine Theaterbesuche zu finanzieren. 32 Der Aufklärer Weiße wurde bekannt durch seine Theaterstücke, Lieder und Schauspiele für Kinder, 33 insbesondere aber durch seinen ‚Kinderfreund‘ (1776-1784), eine speziell an Kinder und Jugendliche gerichtete Zeitschrift, die dem englischen ‚Spectator‘ nachempfunden war und in drei Auflagen und vier Nachdrucken weite Verbreitung fand. 34 Als pädagogischer Schriftsteller machte sich Weiße in der frühen Phase des Philanthropismus auch einen Namen mit dem ‚ABC- und Lesebuch für kleine Kinder‘, das – ermutigt durch Johann Bernhard Basedow (1724-1790) – 1772 veröffentlicht wurde. Das Buch erschien in sechs Auflagen sowie mehreren Nachdrucken und wurde ganz im Sinne volksaufklärerischer Bestrebungen auch in einer preiswerteren Ausgabe gedruckt. 35 Weiße interessierte sich schon früh für Sprachen und fremde Kulturgebiete. Nach seinem Studium war er von 1750 bis 1760 Hofmeister des jungen Grafen Johann Heinrich von Geyersberg (1739-?) in Leipzig, mit dem er auch 1759 eine sechsmonatige Reise nach Paris unternahm und dort mit Diderot und Rousseau zusammen traf. 36 1759 übernahm Weiße die Redaktion der ‚Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste‘, 37 eine von den Berliner Aufklärern Friedrich Nicolai (1733-1813) und Moses Mendelssohn (1729-1786) gegründete Literaturzeitschrift, die sich an interessierte Laien richtete und diese anhand vielfältiger Mitteilungen und Buchbesprechungen über das europäische Kunst- und Kulturleben informierte. Im Vordergrund der Besprechungen standen englische Werke, die zumeist aus dem Rezensionsfundus des ‚The Monthly‘ und ‚The Critical Review‘ entstammten. 38 Auch wenn eine systematische Untersuchung der ‚Bibliothek‘ noch aussteht, verweisen die bisherigen Forschungsbefunde auf die Bedeutung der Zeitschrift und ihres Herausgebers für die Rezeption der englischen Literatur im deutschen Kulturraum und die davon ausgehenden Einflüsse auf das Aufklä-
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Vgl. Pape 1990. Vgl. Mai 2003; Krätzer 2001. Vgl. ausführlich Hurrelmann 1974. Vgl. Lexikon deutscher Dichter und Prosaisten 1810, S. 271; vgl. auch Brüggemann 1982, S. 830ff. 36 Weißens Selbstbiographie 1806, S. 70ff.; Espagne 2001, S. 164. 37 Ab 1765 ‚Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste‘. 38 Vgl. Wilkie 1955/56, S. 2f.; Willenberg 2008, S. 146.
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rungsdenken. 39 Durch die redaktionelle Tätigkeit konnte Weiße nicht nur seine weitläufigen Korrespondenzen und Kontakte weiter ausbauen, die englischen Zeitschriften boten ihm zudem eine gute Informationsquelle für mögliche Übersetzungsprojekte, sodass es nicht verwundert, dass sich um ihn und die Zeitschrift ein Übersetzungs- und Informationsnetzwerk etablierte. 40 Weiße war ein versierter und produktiver Übersetzer, der zahlreiche poetische, pädagogische und moralische Schriften aus dem englischen und französischen Kulturkreis ins Deutsche übertrug. 41 Die englischen Übersetzungen hatten dabei allerdings ein deutliches Übergewicht. Zwischen 1752 und 1794 übersetzte er mindestens 28 Werke aus dem Englischen ins Deutsche. Zu den frühen Übersetzungen gehören die ‚Tugendlehren‘ aus den Werken Samuel Richardsons (1689-1761) (dt. 1752) und James Fordyces (1720-1796) zweibändige Schrift ‚Predigten für junge Frauenzimmer‘ (dt. 1767, 1768), die nicht nur im englischsprachigen Raum in mehrfachen Auflagen und Nachdrucken erschien, sondern auch als Übersetzung weit verbreitet war. 42 Die spätere Übertragung von Fordyces ‚Reden an Jünglinge‘ (dt. 1778) war hingegen weniger erfolgreich. Daneben übersetzte Weiße Edward Moores (1712-1757) überaus erfolgreiche Erziehungsschrift ‚Fabeln für das weibliche Geschlecht‘ (dt. 1762, 1772) und Wethenhall Wilkes’ (1705/06-1751) ‚Erinnerungen an ein junges Frauenzimmer, für alle Auftritte des Lebens‘ (dt. 1763, 1764, 1771, 1776). Moores ‚Fabeln‘ wie auch die von Weiße ebenfalls übersetzte Schrift ‚Gregory’s Vermächtsniß an seine Töchter‘ (1763) von John Gregory (1724-1773) gehörten zu den pädagogisch-moralischen Schriften, die in England – unter anderem durch ihren Abdruck in ‚The Lady’s pocket library‘ – bis in das 19. Jahrhundert hinein verlegt wurden. Neben der Transmission zahlreicher Romane und pädagogischer Schriften für die Jugend beiderlei Geschlechts übersetzte Weiße auch Werke von Frauen, die in England als ‚women of letters‘ einen Namen hatten und durch ihre Erziehungsschriften oder ‚novels of manner‘ die Diskussion über die Erziehung und Bildung der Frau angeregt und deren Rolle in der englischen Gesellschaft thematisiert haben, allerdings aus durchaus unterschiedlichen Perspektiven. So übertrug Weiße Hester Chapones (1727-1801) überaus erfolgreiche Schrift ‚Briefe zur Ausbildung des Gemüths, an ein junges Frauenzimmer gerichtet‘ (dt. 1794) schon ein Jahr nach deren Erscheinen ins Deutsche und auch Fanny Burneys (Mme Frances D’Arblay, 1752-1840) mehrbändige Erziehungsromane ‚Evelina, oder eines jungen Frauenzimmers 39 Vgl. Rek 2001, S. 198ff.; Peitsch 1992, S. 27ff.; Klingenberg 2006. 40 Vgl. Rek 2001, S. 207. 41 In Weißes Selbstbiographie (1806, S. 239-241) ist die Liste der genannten Übersetzungen lückenhaft, ein ebenfalls nicht ganz vollständiger Überblick findet sich im ‚Lexikon deutscher Dichter und Prosaisten‘, S. 288ff. 42 Vgl. auch Niemeyer 51805, Bd. 2, S. 440.
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Eintritt in die Welt‘ (1778) und ‚Cecilie‘ (1782) wurden von Weiße zeitnah übersetzt (dt. 1779; 1784/85). Zu seinen späten Übersetzungen gehörten auch Anna Laetitia Barbaulds (1743-1825) Schriften für Kinder und Jugendliche, die als mehrbändige Reihe (1792-1803) verlegt wurden. Zu diesen letzten Übersetzungsaktivitäten Weißes zählen auch Burtons ‚Vorlesungen über weibliche Erziehung und Sitten‘ (dt. 1795). Weißes Übersetzungen umspannen zwar ein breites thematisches Feld, den Schwerpunkt bilden jedoch hauptsächlich pädagogische Werke. Bemerkenswert ist, dass er über einen Zeitraum von nahezu 30 Jahren Schriften übersetzte, die sich vornehmlich der weiblichen Erziehung und Bildung widmeten. Diese Akzentsetzung mag, wie dies auch schon bei der Kinderliteratur der Fall war, damit zusammenhängen, dass er sich als Vater von drei Töchtern – die jüngste war 19 Jahre alt, als die Übersetzung von Burtons ‚Lectures‘ erschien – nicht nur für Fragen der Mädchen- und Frauenbildung interessierte, sondern auch schon frühzeitig den Mangel an geeigneten Erziehungsschriften im deutschsprachigen Raum erkannte. Weißes Auffassungen zur Erziehung des weiblichen Geschlechts spiegeln sich in vielfältiger Weise in seinem ‚Kinderfreund‘ wider. In den Alltagsgeschichten, familialen Szenen und Geschwisterbeziehungen werden Erziehungsvorstellungen erkennbar, die von einem breiten, auch naturwissenschaftlich geprägten Bildungsprogramm für Mädchen ausgehen, und eher die Gemeinsamkeit als die Differenz im Verhältnis der Geschlechter betonen. 43 In der erziehungswissenschaftlichen Diskussion wird Weiße hauptsächlich als Autor von Kinder- und Jugendliteratur wahrgenommen, kaum beachtet wurden hingegen bisher seine Leistungen als Übersetzer zahlreicher Erziehungsschriften und seine damit verbundenen Verdienste als Förderer pädagogisch-literarischer Austauschbeziehungen und als Mittlerfigur transkultureller Transfers.
5. Die Übersetzung Nach 1770 gab es zwar schon ein Englisch lesendes Publikum in Deutschland und auch ein Markt für englische Bücher begann sich zu konstituieren, jedoch bildeten Übersetzungen die entscheidende Grundlage zur Verbreitung und Adaption neuer und fremder Ideen. Da sich Bücher im Spannungsfeld zwischen Kulturprodukt und Ware bewegen, darf die ökonomische Dimension der 43 Vgl. Der Kinderfreund 1776-1778; Fankhauser 1975, S. 100ff. Eine systematische Analyse des ‚Kinderfreund‘ unter geschlechterbezogener Perspektive steht allerdings noch aus.
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Übersetzung nicht übersehen werden. Durch die veränderten und extensiveren Lesegewohnheiten des Publikums gewannen Übersetzungen für Verlage an wirtschaftlicher Attraktivität, denn ausländische Bestseller konnten relativ rasch zu erfolgreich vermarkteten Produkten werden, zumal diese Schriften in dieser Zeit noch rechtlich weitgehend ungeschützt waren. Die meisten Übersetzungen Weißes erschienen in der renommierten Leipziger Buchhandlung ‚Weidmanns Erben & Reich‘, die sich vor allem unter dem Einfluss des Verlegers Philipp Erasmus Reich (1717-1787), mit dem Weiße einen engen Kontakt pflegte, zu einer Handlung mit internationalen Verbindungen entwickelte. 44 Ein Hauptbestandteil des Unternehmens war das Geschäft des Übersetzens. Vor allem mit Übersetzungen aus dem Englischen, die zwischen 1778 bis 1782 einen Anteil von 40 Prozent der gesamten Verlagsproduktion ausmachten, nahm die Buchhandlung in Deutschland des 18. Jahrhunderts eine führende Stellung ein. 45 Reich beschäftigte in London eigene Agenten und Korrespondenten, die für ihn Bücher vor Ort einkauften. Aber auch Weiße, der über die Lektüre englischer Zeitschriften und als Rezensent englischer Neuerscheinungen in der ‚Neuen Bibliothek‘ frühzeitig über lohnende Übersetzungsprojekte informiert war und über ein breites Kommunikationsnetzwerk verfügte, verhalf Reich dazu, zum bedeutendsten Importeur englischsprachigen Schrifttums aufzusteigen. 46 Burtons ‚Vorlesungen‘ erschienen in der Gräffschen Buchhandlung in Leipzig, die von Heinrich Gräff geführt wurde, einem Bruder Ernst Martin Gräffs (1760-1802), der nach dem Tod Reichs das Weidmannsche Verlagshaus übernehmen konnte. Der Buchhändler Heinrich Gräff war auf pädagogische und moralische Schriften vor allem für die weibliche Jugend spezialisiert. Er verlegte z.B. die verschiedenen Erziehungsschriften Sophie de La Roches (1730-1807), darunter die zuerst in ihrer Zeitschrift ‚Pomona für Teutschlands Töchter‘ (1783, 1784) erschienenen ‚Briefe an Lina‘ (1788). Zum Verlagsprogramm gehörte auch eine Neuübersetzung des mehrbändigen Werks Samuel Richardsons ‚Clarissa‘, das zwischen 1790 und 1796 mit 24 Kupferstichen von Daniel Niklaus Chodowiecki (1726-1801) erschien. Zu den größten Erfolgen Gräffs zählte aber Wilhelmine Karoline von Wobesers (1769-1807) Erzählung ‚Elisa oder das Weib wie es sein sollte‘ (1795), die nach nur fünf Jahren in fünfter Auflage erschien und ins Französische, Dänische, Englische und Holländische übersetzt wurde. 47 Nicht nur in der Übersetzungspraxis Weißes, sondern auch in dem Verlagsprogramm Gräffs, das um 1800 mehrere englische Originalbücher enthielt, zeigt sich die zeittypische Umorientierung von der französischen zur englischen Literatur. Galt die 44 45 46 47
Vgl. Lehmstedt 1989; Schmidt 1902-1908/1979, S. 1030ff. Vgl. Willenberg 2008, S. 191, 113. Vgl. ebd., S. 113. Vgl. Schieth 1990, S. 1.
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französische Sprache noch bis in das 19. Jahrhundert hinein als die Sprache der großen Welt, des Adels und der Diplomatie, so wurde deren Dominanz durch die englische Sprache als neuer Fremdsprache im Verlauf des 18. Jahrhunderts abgeschwächt. Ein Indiz hierfür ist auch die Eröffnung der ersten englischen Buchhandlung auf dem Kontinent 1788 in Hamburg, die sofort ein großer Erfolg war. 48 Auch auf einer anderen Ebene wird die Verschiebung deutlich. So nahmen im Verlauf des 18. Jahrhunderts nicht nur die Übersetzungen sprunghaft zu, sondern auch die Übertragungswege und die Übersetzungspraxis veränderte sich: Die Übertragung von englischen Texten über die französische Übersetzung verlor nach 1760 zunehmend an Bedeutung und die vormals wortgetreue Transmission wich – vor allem wenn aufklärerische und volkserzieherische Absichten verfolgt wurden – einem freieren Übersetzungsstil, d.h., man orientierte sich jetzt mehr an dem Inhalt und Sinngehalt des Originaltextes, wodurch Wendungen, Strukturen und Ausdrücke der Vorlage stärker dem deutschen Sprachgebrauch unterworfen und angepasst wurden. 49 Studien zur neueren historischen Übersetzungsforschung verweisen darauf, dass die durch Übersetzung evozierten kulturellen Transfers vor allem in der „Umdeutung von Textgehalten, die bei der Adaption in geographisch oder historisch fremden Zielkulturen sowohl unterschwellig als auch programmatisch erfolgte“, 50 zum Tragen kamen. Denn im Prozess der Übersetzung „texts do not just change their language, but first and foremost their cultural frame of reference. Thus, significant transformations inevitably occur in the course of their de- and re-contextualisation, be it through the material or structural changes that go with the linguistic border-crossing, or through semantic shifts due to a different interpretative access.“ 51 Weißes enger Freund Christian Garve (1742-1798) trug mit seiner Art des Übersetzens der frühen Theoretiker der schottischen Aufklärung erheblich dazu bei, deren Ideen im deutschen Sprachraum einem größeren Publikum verständlich zu machen. ‚Verständlichkeit‘ bedeutete dabei für ihn, den fremden Text so zu übertragen, dass er dem heimischen Leser wie ein deutsches Original erscheinen sollte. 52 Diese Übersetzungspraxis machte es allerdings erforderlich, dass oftmals neue Begrifflichkeiten geschaffen werden mussten. Als routinierter, erfahrener und der Volksaufklärung verpflichteter Übersetzer praktizierte auch Weiße einen ähnlichen Übersetzungsstil. Die Transmission von Burtons ‚Lectures‘ passte er an den deutschen Sprachge48 Vgl. Fabian 1994, S. 141. 49 Vgl. Willenberg 2008, S. 274ff.; Knufmann 1968, S. 491ff.; Goldfriedrich 1909/1970, S. 304ff.; Roche 1997. 50 Stockhorst 2007, S. 9. 51 Stockhorst 2010, S. 23. 52 Vgl. Waszek, S. 42f., 51; Ôz-Salsberger 1995.
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brauch an und nahm damit sprachliche wie kulturelle Grenzüberschreitungen vor, indem er die aus einem spezifischen kulturellen Kontext hervorgegangenen pädagogischen Ideen in ein anderes Diskurssystem adaptierte. Im Rahmen dieser Kontextverschiebungen gingen auch Umdeutungen von Textstellen einher, denn wenn der fremde Text der Leserschaft sprachlich wie ein Originaltext erscheinen sollte, musste das Einlassen auf eine andere Sprache und Kultur sich an den Denkweisen und Wertvorstellungen der eigenen Verhältnisse, d.h. im vorliegenden Fall an dem lokalen Erziehungsdiskurs orientieren. So wird z.B. in der nachfolgenden Textstelle deutlich, dass nicht nur Begriffe in den jeweiligen kulturellen Denkhorizont eingepasst werden, wenn ‚Professional‘ mit ‚Lehrämter‘ übersetzt wird, sondern dass auch Bedeutungsgehalte in ihrem Sinn verschoben werden, um den Text an die Erziehungsvorstellungen der Leserschaft anzupassen. Burtons Kritik an dem engstirnigen Vorurteil, Frauen in Unwissenheit zu halten, um sie gefügiger für die Leitung der häuslichen Angelegenheiten zu machen, wird bei Weiße in einen anderen Sinnzusammenhang gestellt, wenn es dort heißt, dass auch für Frauen ein gewisser Grad an Kenntnis rühmlich und nützlich sei, um häusliche Angelegenheiten selbst geschickt besorgen zu können. „And though it be not necessary for Women to study the learned Languages, or those Arts and Sciences which are called Professional, yet a certain degree of knowledge is both ornamental and useful. It is, therefore, an illiberal prejudice to say, that Women should be kept in ignorance, in order to render them more docile in the management of domestic concerns.“ 53
„Und ob es gleich für Frauenzimmer nicht nöthig ist, gelehrte Sprachen zu erlernen, oder solche Künste und Wissenschaften zu studiren, die sich auf Lehrämter beziehen: so wird doch ein gewisser Grad von Kenntniß rühmlich und nützlich seyn, um auch selbst häusliche Angelegenheiten desto geschickter zu besorgen.“ 54
Im Unterschied zu vielen Übersetzern seiner Zeit hatte Weiße größere Freiheiten bei der Wahl seiner Texte und konnte aufgrund seiner Stellung im Übersetzungsgeschäft auch weitgehend Schriften übersetzen, an deren Verbreitung und interkulturellen Austausch er aus pädagogisch-aufklärerischer Sicht interessiert war. Weiße stellte Burtons Erziehungsschrift in seinem Vorwort in die Tradition der ‚englischen Moralisten‘ (bezugnehmend z.B. auf Joseph Addison und Richard Steele, John Locke, Samuel Richardson, James Fordyce, John Gregory, Wethenhall Wilkes, William Enfield, Joseph Priestley 53 Burton 1793, vol. I, S. 169. 54 Burton 1795 (dt.), Bd. 1, S. 207.
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und John Aikin) und deren Verdienste um die weibliche Erziehung. Ausdrücklich verweist er dabei auch auf die besonderen Leistungen von Frauen (genannt werden u.a. Namen wie Hester Chapone, Elizabeth Griffiths, Hannah Cowley, Anna Barbould, Hannah More, Charlotte Smith, Mary Robinson, Elizabeth Inchbald, Anna Seward, Harriet Lee, Frances Burney und Mary Wollstonecraft), die „ihre schriftstellerischen Talente zur Aufklärung und Bildung ihrer Schwestern genutzt“ hätten. 55 Als ein Kenner des englischen Kulturraumes ordnete er Burtons Schrift in einen Kontext ein, in dem nicht nur der Erziehung und Bildung des weiblichen Geschlechts eine große Bedeutung beigemessen wurde, sondern in dem auch Frauen eine Stimme hatten und am Diskurs beteiligt waren. Sichtbar wird dies auch in seiner Übersetzungspraxis. Weiße folgte ohne Auslassungen der Buchvorlage, arbeitete jedoch die als Fußnoten ausgewiesenen Anmerkungen Burtons in den Text ein und ergänzte an einigen Stellen den Originaltext für das deutsche Lesepublikum durch zusätzliche Anmerkungen. So verwies er bei der Frage nach den gleichen Geistesanlagen von Frau und Mann auf Miß Wollestoncrafts „vortreffliche[s] Buch: Rettung der weiblichen Rechte“, die darin beweise, „wie ungerecht die geringschätzige Meynung von den Talenten und Geistesansprüchen ihres Geschlechts, und wie nachtheilig sie für das Ganze sey“. 56 Und an anderer Stelle verwies er auf die „Meßverzeichnisse“ (Kataloge der Buchmessen), die in den verschiedenen Fachrichtungen zeigten, dass es auch im eigenen Lande nicht an „gelehrten“ wie auch „witzigen“ Schriftstellerinnen fehle. 57 Wie schon zuvor erwähnt, war die deutschsprachige Ausgabe von Burtons Schrift mit vier Kupferstichen versehen, die zur Ausschmückung der Bücher dienten und in dieser Funktion auch den Verkaufswert steigern sollten. Die Vorlagen zu den Buchillustrationen stammten von dem Künstler Johann David Schubert (1761-1822/1823), Professor der Akademie und Direktor der Zeichenschule zu Meisen, gestochen wurden sie von den Leipziger Kupferstechern Johann Heinrich Elias (1757-1820) und Gottlieb Wilhelm Hüllmann (1765-nach 1828), Letzterer ein Schüler des bekannten Hofkupferstechers Christian Gottfried Schulze (1749-1819). Die Abbildungen stellen szenisch die Lebensphasen der Frau in vier Lebensstufen dar, und zwar als Kind, Jungfrau, Mutter und Matrone. Dabei begnügte man sich nicht, die Illustrationen den Lebensstufen entsprechend zu betiteln, sondern mit zusätzlichen Erklärungen wurde versucht, den ikonographischen Bedeutungsgehalt der Abbildungen zu vereindeutigen und den intendierten Sinnzusammenhang moralpädagogisch zu unterlegen. 55 Ebd., S. VI. 56 Ebd., S. 200. 57 A.a.O.
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Die Jungfrau (G. W. Hüllmann sc.)
So wird z. B. das Bild ‚Die Jungfrau‘ folgendermaßen kommentiert: Ein „eben so gutes wie schönes Mädchen“ sucht ihren kranken Vater, der eingeschlafen war, durch das Anbringen eines Schirmes vor der Sonne zu schützen. „Gefühlvolle Jünglinge bemerken diese kindliche Sorgfalt, und wünschen sich diese Pflegerin für ihr Alter. Wie reizend ist nicht der Eindruck, den ein schönes Weib als Krankenpflegerin auf das Herz der Männer macht!“ 58
58 1795, Bd. 2, S. VIII.
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Die Mutter (Heinr. Müller sc.)
Und zum Bild ‚Die Mutter‘ heißt es: „Auf diesem Blatte hat der Künstler eine sorgsame Mutter dargestellt, wie sie die Gesundheit und das körperliche Wohlseyn ihrer Kinder durch fleißiges Reinigen und Säubern zu befördern sucht.“ Es werden sodann die verschiedenen geschlechtsspezifischen Aktivitäten der Kinder beschrieben und abschließend die Figur des Vaters wie folgt erläutert: „Der empfindende Vater kann dieses schöne Bild häuslicher Glückseligkeit ohnmöglich mit halbem Blicke betrachten; er verlässt auf einige Minuten seine ernste Arbeit, um die Wonne ganz zu fühlen, die der Ahnblick einer Gattin giebt, welche ganz Weib, ganz Mutter zu seyn strebt.“ 59 Es stellt sich die Frage, welche Konzepte und Vorstellungen zum Lebensentwurf von Frauen über das Bildmaterial transferiert werden. Burton, der mehr von einer Angleichung der Geschlechter ausging und in seinen ‚Lectures‘ die Frau nicht nur auf den häuslichen Bereich beschränkt wissen wollte, sondern auch und gerade das gesellschaftliche Leben in seinen Bildungs- und Moralvorstellungen mit reflektierte, dürfte mit der Transformation seiner Gedanken, wie sie sich im Bildmaterial repräsentieren, wohl nicht ganz ein59 Ebd., S. VIIIf.
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verstanden gewesen sein. Eine systematisch angelegte ikonographische Analyse könnte zum kulturellen Transfer und zur Adaption pädagogischer Ideen anhand von Illustrationen wahrscheinlich noch mehr Aufschlüsse erbringen.
6. Resümee Die Frage, wie sich Burtons Erziehungsschrift inhaltlich mit dem spezifischen Aufnahmekontext verknüpft hat, muss einem weiteren Untersuchungsschritt vorbehalten bleiben. Weißes Übersetzungsstil und die damit verbundene Intention, den zu übersetzenden Text dem deutschen Sprachgebrauch und damit auch bestimmten kulturellen Deutungsmustern und Sinnzusammenhängen anzupassen, trugen zu einer positiven Aufnahme von Burtons Erziehungsschrift in den pädagogischen Diskurs bei. Die Transfer- und Adaptionsleistungen zeigen sich nicht nur in den Rezensionen verschiedener Zeitschriften und Zeitungen wie z.B. in der ‚Jenaische[n] Allgemeine[n] Literatur-Zeitung‘ (1795) 60 oder den ‚Gothaische[n] gelehrte[n] Zeitungen‘ (1795), 61 sondern auch im Nachdruck einiger ausgewählter Vorlesungen aus Burtons Schrift (1811) in der von David Fränkel (1779-1856) gegründeten Zeitschrift ‚Sulamith‘, der ersten jüdischen Zeitschrift in deutscher Sprache. 62 Auch in der Krünitzschen ‚Ökonomischen Encyklopädie‘ (1828), in der unter dem Lemma ‚Schule‘ auch eine Abhandlung über ‚Töchterschulen‘ zu finden ist, wird auf Burtons Schrift verwiesen, 63 aber auch in einschlägigen Bibliographien, wie z.B. in der ‚Bücherkunde für gebildete Frauenzimmer‘ (1823), werden unter dem Abschnitt ‚Erziehungs- und Bildungsbücher‘ Burtons ‚Vorlesungen‘ erwähnt. 64 Diese Hinweise verdeutlichen zugleich, dass pädagogische Konzepte und Ideen nicht aus eigenem Antrieb verbreitet wurden, sondern es vielmehr verschiedener Vermittlungsinstanzen bedarf. Neben der Übersetzung kam hierbei Diskursorganen wie Zeitschriften, Lexika oder einschlägigen Bibliographien eine wichtige Vermittlerfunktion im Transfer pädagogischen Wissens zu.
60 61 62 63 64
1795, Bd. 1, S. 391f. 1795, 6. Stück. 1811, Jg. 3, Bd. 2, S. 300ff., 373ff.; Will 2002. 1828, Bd. 149, S. 233f. Müller 1823, S. 20-28.
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R E IN H A R D H Ö R S TE R
Zwischen denkender Gemeinschaft und Norm Zur Ambivalenz einer Karteikarte und ihrer Bedeutung für die Sozialpädagogik
„Denken und Sprache sind als Plastik zu betrachten, ganz so, wie ein Bildhauer eine Plastik sieht. Mein Hauptinteresse ist dabei, bei der Sprache zu beginnen und Materialisierungen folgen zu lassen, als Zusammenhang von Denken und Handeln.“ (Joseph Beuys, 1973)
Wenn ein Kunstwerk sich auf einer Karteikarte befindet oder gar ein Werk aus einer solchen Karte besteht, dann verblüfft das den Betrachter vermutlich, weshalb es in diesem Fall nahe liegt, genauer hinzuschauen. Eben das möchte ich in meinem Vortrag tun. Ich stelle Ihnen ein Kunstwerk vor, das erstaunlicherweise auf einer Karteikarte Platz genommen hat und sich mit ihr verbindet. Es ist eine kleine gelbe Karte, wie wir sie alle kennen, ein profanes Arbeitsmittel, auf dem Geistesarbeiter, Forscher und Wissenschaftler ihre Orientierungen am Denken anderer, wie Kant es von dem selbst Denkenden fordert, 1 auch heutzutage bisweilen noch festhalten. Das Kunstwerk gehört zur Gattung der sogenannten Multiples, die in den 1960er Jahren aufkam. Multiples sind Kunstwerke, die mit lediglich geringem Aufwand vervielfältigt werden können und – als Alternative zum unikaten Kunstwerk – nur in ihrer Vervielfältigung bestehen. Auf der Karte steht mit blauer Tinte und in schwungvoller Schrift der Satz geschrieben: Wer nicht denken will fliegt raus, und in Schreibmaschinenschrift: sich selbst. Dieses leicht vermehrbare, aber gewichtige Kunstwerk stammt aus dem Jahre 1977. Geschaffen hat es Joseph Beuys – im Rahmen der Free International University auf der 6. Documenta in Kassel. 2
1 2
Kant 1922 (1786). Vgl. Wolfson 2007, S. 26.
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Indem ich mich der Lektüre dieser Karte widme, versuche ich, überzeugt von seiner Aussagekraft, einen Sinn des Beuysschen Kunstwerkes zu erarbeiten; zudem möchte ich – wenn auch nur sehr knapp – andeuten, wie das Erarbeitete fruchtbar gemacht werden kann, und zwar für die Markierung einer Ebene, auf der sich ein sozialpädagogisches Denken artikuliert.
I. Die Karte ist in der Tat simpel: gelb, schwarz liniert, sich normgerecht gebend, mit einer obersten roten Linie, auf der der Vordersatz prangt: Wer nicht denken will. Darunter, etwa in der Mitte liest man: fliegt raus. Und eine Zeile darunter, im Zentrum der Karte und genau in der verlängerten Mitte zwischen fliegt und raus stehen in Schreibmaschineschrift die Worte: sich selbst – in einer verkleinerten Times-Type, die aussieht, als sei sie direkt auf die Karte getippt, in Wirklichkeit aber sind die Worte sich selbst gestempelt. Es handelt sich um ein Multiple, das, von Beuys zunächst in 30facher Auflage erstellt, heute von der Edition Staeck als Postkartendruck vertrieben wird. Wer nicht denken will fliegt raus: sich selbst. Oder: Wer nicht denken will fliegt – sich selbst – raus. Das Werk spielt, so möchte ich behaupten, intensiv mit einer Differenz im Sichtbaren des unterschiedlich Geschriebenen, auch des unterschiedlich groß Geschriebenen, und den sich daraus ergebenden verschiedenen Möglichkeiten. Hauptsächlich operiert es wohl mit der Gegenläufigkeit zweier Bedeutungen. Ich werde auf diese Gegenläufigkeit oder, wie die Semiotiker sagen, auf diese „Kookkurrenz“ 3 im Laufe meiner Darlegungen zu sprechen kommen. In ihr verkörpert sich für mich der Sinn dieses Kunstwerkes. Die Bedeutungen, die der Gebrauch der Sprache auf dieser Karteikarte hervorbringt 3
Eco 1987, S. 18.
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und die ich herauslese, sind fünf an der Zahl, allerdings mit einigen nicht unwichtigen Untervarianten. Im Spiel befindet sich erstens die per Hand niedergeschriebene Regel, die man, angehalten von der differenten Schrift, auch für sich lesen kann. Sie kommt in einer imperativen Geste und als autoritative Drohung daher – Wer nicht denken will fliegt raus; zu tun haben wir es mit einer Achtung gebietenden Ankündigung eines Ausschlusses durch eine nicht näher bestimmte Macht, gleichsam eine gelb-rote Karte auf dem Platz des Denkens. So ganz höflich geht es in diesem Zusammenhang nicht zu – etwa nach dem Motto: Wer jetzt nicht denken will, der möge bitte den Saal verlassen, er oder sie kann sich draußen am Buffet bedienen. Die imperative Geste ist schon etwas drastischer zu verstehen. Wer nicht denken will, fliegt raus, und zwar im hohen Bogen, selbst wenn er als Nichtdenkender da bleiben will. Gedroht wird in der ersten Bedeutung mit Rausschmiss. In dieser Bedeutung bietet sich eine Karte dar, auf der eine ‚Norm zu denken‘ deklariert wird, gegen die willentlich zu verstoßen mit einem Unwerturteil versehen ist; ein Urteil, das eine Disziplinarstrafe, den Ausschluss, nach sich zieht; der muss passiv hingenommen werden. Handeln kann es sich in dem besagten Zusammenhang auch um eine schriftlich sublimierte Wut, die ausbricht, wenn ein Denken-Wollen sich nicht so einstellt wie vom Schreiber gewünscht – der Wutausbruch eines frustrierten Hochschullehrers etwa. Doch wer bestimmt das, wer hat die Macht eine solche Norm aufzustellen und – sei es auch zornig – so zu drohen? Wer ist auf diesem Platz der Schiedsrichter? Wie soll der Wille zum Denken festgestellt werden? Woran zeigt es sich, wenn er nicht da ist? Wem nützt die Drohung? Wer setzt sie durch? – Je länger ich den mit Tinte hingeworfenen Schriftzug auf der Karte betrachte, um so mehr fällt vor meinen Augen die mit der Drohung des Ausschlusses verbundene Durchsetzungsmöglichkeit der ‚Norm zu denken‘ in sich zusammen, versucht doch ein imperativer Gestus wie dieser das Denken abzunehmen. Ich nenne das, was ich in dieser ersten Lesung der Beuysschen Karteikarte an Handschriftlichem vor Augen habe, die drohende Disziplin. Weiterhin nur das handschriftlich Niedergelegte betrachtend, tun sich noch andere Lektüremöglichkeiten auf. Das Handschriftliche spielt nämlich zweitens mit dem gleichen Satz – wer nicht denken will fliegt raus – noch einmal, jetzt aber in einer anderen Bedeutung: Weil einer oder eine nicht denken will, hat er/sie keine andere Wahl als rauszufliegen, er oder sie muss rausfliegen. In dieser in der Modalform der Notwendigkeit operierenden Fassung ist – ähnlich wie in der ersten Lesart – eine Zwangsläufigkeit zwischen dem Willen nicht zu denken und dem Ausschluss behauptet, der Ausschluss wird hier aber nicht wie in der ersten Fassung gebieterisch verfügt, er gilt vielmehr als eine Wirkung des Nicht-Denken-Wollens, eine Wirkung, die freilich auch hier den Wollenden in der Passivität belässt. Vielleicht fliegt er gar raus, ohne es zu bemerken. Wir haben es mit einem durch Erfahrung gesättigten Gesetz zu tun,
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einem Gesetz, in dem man Kausalverhältnisse vermuten kann. Skeptisch gegenüber der Behauptung von Kausalitäten, erblicke ich hier eine beschreibende und auf Gewohnheit bezogene Bedeutung; diese Bedeutung artikuliert sich ebenfalls in einem bestimmten Sprechakt, nämlich in einer gut gemeinten Warnung. Sie sei die auf Gewohnheit und Erfahrung sich beziehende Warnung genannt. Dieser Lektüremöglichkeit fügt, wie ich meine, das mehrfache Spiel des Werkes eine dritte Bedeutung des gleichen handschriftlichen Satzes hinzu: Wenn einer nicht denken will, dann fliegt er aus einem nicht näher bezeichneten Zusammenhang heraus. Hier liegt eine Feststellung über den Zusammenhang von Nicht-Denken-Wollen und Weggehen, Herausfliegen vor; es handelt sich um eine konstative Äußerung, wie die Sprechakttheoretiker sagen, eine Behauptung über denjenigen, der eine Wahl getroffen hat, nämlich die Wahl, nicht zu denken. Das „wer“ bezeichnet hier jemanden, der – wahrscheinlich – aufgrund der gewussten einfachen Korrelation zwischen Nicht-Denken-Wollen und Rausfliegen die Freiheit haben möchte, sich von dannen zu machen, einen, der somit das Nicht-Denken-Wollen, und das scheint mir wichtig zu sein, strategisch einsetzt. Ich nenne deshalb diese Bedeutung die strategische Bedeutung. Die oder der Nicht-Wollende bleibt strategisch aktiv. Das gelbe Kartenwerk von Joseph Beuys treibt die freie und spielerische Aktivität der Bedeutungen jedoch noch weiter. Lässt man den Blick auf diesem fast schon eingraviert erscheinenden maschinellen sich selbst ruhen, auf einem – freilich sehr, sehr kleinen – sich reflektierenden Selbst, dann zeigen sich diese Zeichen – im Gegensatz zur eher flüchtig erscheinenden Handschrift – sehr solide und stehen genau im Zentrum der Karteikarte. Das Selbst präsentiert sich und gibt sich, klein aber fein, die Ehre. Auf der Karte findet sich so ein vierter Sprachgebrauch ein, in dem sich die Bedeutung einer majestätischen Präsentation artikuliert. Fünftens, und das kann man nicht genug herausstellen, entwickelt sich eine Bedeutung des Kunstwerkes jenseits der differenten Schreibmaterien im Medium einer allgemeinen, beide Schriftarten verbindenden Schriftsprache. Sie artikuliert sich transdifferent – auf dem Kontinuum der differenten Maschinen- und Tintenschrift, die Differenz dabei materiell mit einbeziehend. Sie konstituiert sich so in der als Gesamtheit zu lesenden Feststellung Wer nicht denken will fliegt sich selbst raus. Das Beuyssche Spielfeld, auf dem ein reichhaltiges, mit Sicherheit nicht vollständig entwirrbares Bündel von Bedeutungen liegt, kreiert also eine weitere Möglichkeit. Im Nicht-DenkenWollen verliert das ansonsten relevante Selbst an Gewicht; es fliegt aktiv selbst und sich selbst raus. Dies muss dem Nicht-Denken-Wollenden allerdings nicht unbedingt bewusst sein. Es liegt hier – zunächst einmal – eine Aussage vor, die aus der Beobachterposition heraus formuliert ist. Ein Be-
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obachter oder Experte in Denkfragen unterrichtet den Betrachter der Karte darüber, dass einer oder eine sich selbst raus wirft, falls er oder sie nicht denken will. Zu tun haben wir es mit einer Position, die uns über die Verstrickungen des Selbst des Nicht-Denken-Wollenden aufklärt, wodurch der Angesprochene sich vielleicht gegenüber seinen eigenen Verstrickungen exzentrisch positionieren kann, wie ich mit Helmut Plessner sagen möchte. Ein solcher Sachverhalt, der dem oben genannten strategischen nahe kommt, macht jedoch im Gegensatz zu ihm explizit, dass das Selbst desjenigen, der nicht denken will, das Handlungsfeld mitkonstituiert. – In diesem Zusammenhang lässt sich sodann neben der gerade genannten Beobachterpositionierung auch eine paradoxe Reflexivität am Kunstwerk selbst festmachen: Eine sich inszenierende imperative Geste – seht her, ich bin ein zorniger Akt, der den Nicht-Denken-Wollenden rauszuschmeißen gedenkt – zeigt explizit an, dass sie sich selbst aus dem Spiel nimmt, weil sie als imperative und zornige das Denken-Wollen nicht praktiziert, eine Anzeige, die wiederum eine nicht unbeträchtliche Leistung des nachdenklichen Schreibers und Stemplers darstellt. Die Geste zeigt also den Zusammenbruch, den ich oben im Handschriftlichen gelesen habe, in der transdifferenten, gleichwohl mit einer Zäsur versehenen Schrift des Kunstwerkes selbst an. Vielleicht lässt sich die wirkliche Genese des Multiplen eben dieser Möglichkeit zuordnen. In einem Ausstellungskatalog des Kunstmuseums Celle können wir bei Michael Wolfson nachlesen: „Erschöpft nach einer Diskussion in einem von der Freien Internationalen Hochschule veranstalteten Seminar (…) klagte Beuys, der das Denken als einen selbstverständlichen Teil des wachsamen, bewussten Lebens betrachtete: ‚Soziale Plastik – da kann ich nur lachen! Wer nicht denken will, fliegt raus!‘ Klaus Staeck reichte Beuys umgehend eine gelbe Karteikarte, auf der er, nachdem er sich wieder gefangen hatte, nur den zweiten Satz aufschrieb.“ 4 Das gestempelte sich selbst folgte demnach erst später – nach einigem weiteren Nachdenken, so nehme ich an. – Ich nenne die fünfte in der Transdifferenz operierende Möglichkeit, gleich ob eine Verstrickung des Selbst beobachtend oder eine disziplinäre Drohung reflexiv anzeigend, die aufklärende. Es ist wohl insbesondere das oszillierende Gegeneinanderlaufen dieser Aufklärungsbedeutung einerseits und der disziplinären Bedeutung andererseits, die dem Beuysschen Kunstwerk seine eigentümliche Spannung, aber auch so etwas wie eine „optische Konsistenz“ und „semiotische Homogenität“ 5 verleiht. Die durch diese Kookkurrenz hervorgerufene Spannung des Kunstwerkes steigert sich noch, wenn man bedenkt, dass in der aufklärenden Perspektive weitere Möglichkeiten verschachtelt sind: eine Fassung, in der das Denken willentlich negiert, und eine implizit mitgelieferte Fassung, in der das 4 5
Wolfson 2007, S. 26. Latour 2006, S. 286.
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Denken willentlich bejaht wird: Entweder Wer nicht denken will, ist selbst ganz klein und leicht, fliegt sich raus, muss sich dann selbst rausfliegen, kann dann rausfliegen und – selbstverständlich – darf dann sich selbst rausfliegen oder eben die implizite Fassung, die wir vermutlich alle irgendwie appräsentieren, wenn wir diese Karte lesen: Wer denken will, verleiht dem Selbst auch ein normatives Gewicht, kann es nicht rausfliegen, muss es nicht, will es nicht rausfliegen … – und bleibt drin. Ich unterstelle, dass wir in der Regel bei der Betrachtung der Karteikarte in dieser Weise appräsentieren, auch wenn das gar nicht geschrieben steht. Konstruieren wir nicht lesend von vornherein eine das Denken negierende und eine das Denken bejahende Bedeutungsvorstellung dieser Karteikarte? Spielt nicht in dieser Bedeutung von vornherein eine spezifische Differenz im Sprachgebrauch eine Rolle, verfährt nicht dieser Sprachgebrauch – fernab jeglicher logokrathischer Attitüden – zunächst einmal heterothetisch? Ja, ich denke das ist so: Eine Bedeutungsvorstellung, die vom Willen zum Denken ausgeht, artikuliert sich in der vom Nichtwillen zum Denken ausgehenden Aufklärungs-Bedeutung gleich mit, weil die Leerstellen im heterothetisch operierenden Sprachgebrauch eine solche Rezeption ermöglichen und nahe legen. Dies geschieht vermittels Appräsentation, in der wir uns die implizite Fassung des Beuysschen Satzes vor Augen führen: Wer denken will, fliegt sich selbst nicht raus, bleibt selbst drin. Wenn er rausgeschmissen wird, dann aus anderen Gründen. 6 Gestatten Sie mir, dass ich an dieser Stelle in die Betrachtung des Beuysschen Kunstwerkes zwei Anmerkungen einschiebe. Erstens: Inwiefern das in der Aufklärungs-Fassung genannte Nicht-Denken-Wollen Sinn macht und angemessen sein kann, geht aus Überlegungen bedeutsamer Denker hervor. Wie vor ihm schon Schelling oder Horkheimer hat etwa George Steiner betont, dass Denken auch traurig macht, es sei melancholisch verpackt. Steiner präsentiert hierfür zehn Gründe, von denen ich, gleichsam als Kontrapunkt zu dem oft gesungenen Hohen Lied auf das Denken, ein paar nennen möchte. Nur durch Denken, so Steiner, gelangen wir niemals zu richtig befriedigenden Antworten. Die absolute Fokussierung im Denken berge in sich das Risiko geistiger Erschöpfung. Da Denken im tiefsten Innern unseres Seins sich befinde, aber gleichzeitig ganz gewöhnlich und repetitiv vonstatten gehe, klebe die Traurigkeit an ihm. 7 Allerdings: Um Denken, das möchte ich – zweitens – doch betonen, kommen wir nicht herum. Denken entzündet sich in Situationen, in denen uns etwas auffällt, das uns beunruhigt, wir zögern, weil wir nicht genau wissen, wie es weitergehen könnte, wir zweifeln und überlegen, wir ziehen Bücher 6 7
Zum Verhältnis von heterothetischen und antithetischen Operationen vgl. Koeppe/ Koeppe 2009, S. 186. Vgl. Steiner 2006.
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zurate und fragen Andere, wir überprüfen etwas und bereiten auf der Basis einer solchen Überprüfung das künftige Handeln vor. John Dewey schreibt: „Statt sich darauf zu stürzen, ‚irgend etwas in der Sache zu tun‘, konzentriert sich die Handlung darauf, etwas über die Hindernisse und die Hilfsmittel herauszufinden und rudimentäre Formen der späteren spezifischen Reaktion zu entwerfen.“ 8 Das sachbezogene Handeln verzögert sich. Ein solches in der Verzögerung erkundendes Tun ist auch ein Handeln. Dieses Handeln ist das Denken. Im Denken wird die zweifelhafte Situation nicht routinemäßig und in den Abschattierungen der Normalität übergangen, sondern zu einem Problem, wir befinden uns in einer Verzögerung, in der eine Ungewissheit darüber besteht, wie es ausgehen wird. In einem solchen verzögernden Raum des Denkens ist auch das wissenschaftliche Handeln angesiedelt, auch das der wissenschaftlichen Sozialpädagogik. Deshalb interessiert mich, wenn es um die das Denken bejahende Appräsentation geht, wie sie im Rahmen der Aufklärungsbedeutung der Beuysschen Karte nahe liegt, vor allem die Frage: Worin bleibt die Denken-Wollende? Bei der Beantwortung der Frage bin ich jetzt weiterhin hartnäckig, nerve vielleicht und behaupte, was Sie vielleicht schon ahnen: Auch in der Beantwortung dieser Frage gibt es wiederum verschiedene Möglichkeiten, die die Bedeutungen berühren. Eine für mich als Sozialpädagogen sehr nahe liegende Antwort lautet: Wer denken will, belässt sein Selbst in der Gemeinsamkeit des Denkens. Im Sinnzusammenhang dieser Antwort wird unterstellt und ausgedrückt, und ich halte das für sehr wichtig, dass das Denken auch etwas Gemeinschaftliches hat – Gemeinschaftliches, aus dem man sich bewusst selbst entfernt, wenn man nicht denken will. Von daher ist es kein Zufall, wenn etwa Bill Readings behauptet, Denken habe etwas mit Dialogik zu tun, es sei ein „Name, aufgrund dessen Wortwechsel stattfinden“. 9 Readings meint eine Dialogik, in der polyphon das jeweilige Denken aufeinander trifft. Ich stimme diesem ganz jung verstorbenen, kanadischen vergleichenden Literaturwissenschaftler ausdrücklich zu. In der Beantwortung der Frage, worin die Denken-Wollende und das Denken-Bejahende verbleibt, ergibt sich als eine Möglichkeit eine denkgemeinschaftliche Füllung der Aufklärungs-Bedeutung der vor uns liegenden Karteikarte, die dadurch eine dialogische Relevanz erhält. Wie sieht die andere Möglichkeit aus, auf die Frage nach dem Worin des Denkens in der Betrachtung der gelben Karte eine Antwort zu finden? Bei genauerem Nachspüren könnte, wie mir scheint, in der Tat noch eine weitere Alternative in diesem Spiel bedeutsam werden. Es besteht nämlich in der bejahenden Fassung der Aufklärungs-Bedeutung die Möglichkeit, dass das Selbst sich in der Mitte dieser Karteikarte im DIN-Format gleichsam als ma8 9
Dewey 1998 [1929], S. 223. Readings 2010b, S. 323.
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schinelle Type festmacht, dass es nur in der – vorgegebenen – Norm zu Hause ist und sich – auch wenn es dabei denkt – denkend selbst verregelt und verriegelt. Readings weist darauf hin, dass die „komplexe Zeit zum Nachdenken nicht vollständig berechenbar ist“, 10 und ich füge hinzu: Sie ist jedenfalls nicht so vollständig berechenbar, wie sich die Vorreiter des Bolognaprozesses das gedacht haben. Wer an normativen Verfügungen, im DIN-Format zu denken, denkend leidet (und das kann selbst bei den schönsten Inhalten geschehen), kommt vielleicht zu dem überhaupt nicht abwegigen Schluss, dass er lieber auch mal nicht denken will, und zwar um gegen diese Verriegelung und ihre Hypostasen mitsamt der meistens damit einhergehenden „symbolischen Übersättigung“ 11 Widerstand zu leisten. Der oder diejenige ist dann einfach mal weg. Es wäre in diesem Fall – anders als beim Rückgriff auf George Steiner in der negierenden Fassung der Aufklärungs-Bedeutung – ein Nicht-Denken-Wollen, das – in großzügiger Anlehnung an Melvilles Geschichte vom Schreiber Bartleby und die Deleuzesche Reflexion dieser Geschichte 12 – die Kompetenz und den Willen zu denken erst so richtig bezeugt, ein Nicht-Denken-Wollen, das den Zustand des Denkens im Widerstand gegen eine geschlossene normative Vorabverfügung auszeichnet. Entweder im Widerstand oder in der vorab normierten und monologisch ausgerichteten Denkverfügung, so lautet in dieser Aufklärungs-Fassung die Antwort auf die Frage, worin denn das Selbst des Denkens verbleibt, wenn die Norm zu denken das Selbst des Denkens verriegelt. Widerstand wird dabei nicht als ein sich für hegemoniale oder gegenhegemoniale Ziele aufopfernder Widerstand zu verstehen sein, kann es in der Gemeinschaft heute, wie Nancy detailliert darlegt, doch lediglich um die zu teilenden Bedingungen unserer Existenz gehen. 13 Wo man sich gerade befindet, in der normierten Denkverfügung oder im Widerstand gegen sie, kann aus einer solchen Position der Schwäche heraus von den Leuten selbst nicht mehr strategisch, sondern nur noch taktisch bestimmt werden. So hat es jedenfalls Michel de Certeau, für mich der Erforscher von Praktiken, in seiner berühmten Kritik an dem Diskurs- und Strategiebegriff Foucaults deutlich gemacht. 14 Ein Beispiel: In einer Situation, in der ‚unsere Leute‘, die Studierenden der B.A.-Studiengänge Sachsen-Anhalts, im Rahmen bildungspolitischer Steuerungsprozesse strategisch einzig und allein dazu da sind, Sollzahlen im Hochschulpakt zu erfüllen, und zu sonst nichts, kann man nicht mehr erwarten, dass sich diese Leute, die auch die angehenden Akademiker sind, hierzu nicht taktisch verhielten, insbesondere dann nicht, wenn es um die große Ungerechtigkeit doppelter 10 11 12 13 14
Readings 2010a, S. 115. Deligny 2008, S. 126. Vgl. Deleuze 1994. Vgl. Nancy 2009, S. 70 u. S. 100. Vgl. de Certeau 1988, S. 105ff.
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B.A.-Jahrgänge geht, für die im kommenden Semester an unserer Universität das Geld für eine Verdoppelung der Masterstudiengangsplätze nicht vorhanden ist. Den skandalösen Rausschmiss nach sechs Semestern von mindestens reichlich zwei Dritteln zweier Jahrgänge aus unserer Universität können wir jedenfalls nicht mit dem mangelnden Willen der Studierenden zu denken begründen, sieht doch die Konstellation an der Selektionsfront ein Jahr später wieder anders aus. Auch gut gemeinte und nuancierte Rekrutierungsverfahren für den Masterstudiengang helfen hier nicht weiter. Ich gebe zu, dass ich in Situationen wie dieser auch ratlos bin. Vermutlich sind es aber gerade solche aporetischen Situationen, in denen das Kunstwerk relevant ist. Ist es doch wohltuend zu sehen, wie Joseph Beuys Lektüremöglichkeiten in der Schwebe hält, Luft rein lässt, nicht mit vorschnellen Lösungen hausieren geht und mit einem Bündel von Bedeutungen hilft, Orientierungen zu erarbeiten. Ich glaube, eben das zu zeigen ist diesem Kunstwerk möglich: Dass es sich nämlich um ein spielerisch hingeworfenes Bündel von Bedeutungen handelt, das in all seiner Ambivalenz eine sinnhafte und orientierungswirksame Struktur im Zusammenhang vielfacher Denkkonstellationen besitzt. Die Kookkurrenz zwischen der disziplinär drohenden Bedeutung und der aufklärenden Perspektive mit ihren Untervarianten verleiht dem Werk eine überschießende Spannung, die sich in mannigfaltige gesellschaftlichen Kontexte zu ergießen vermag. Genau hierin besteht sein Witz, wie mir scheint. Aussagekräftig kann das Beuyssche Kunstwerk auch sein – davon bin ich überzeugt – für die Sozialpädagogik und die Strukturierung ihrer Lehr- und Forschungsprobleme. Es bietet sich demnach an, dieses Bedeutungen bildende, vielfältige Spiel zu nehmen und mit einer ganzen Serie sozialpädagogischer Problematisierungen zu verbinden. Hier und heute habe ich mich aber zu beschränken und deute zum Schluss nur noch ganz kurz an, wie ein – lediglich kleiner – Teil von dem reichen Gehalt dieser Aussagekraft des Werkes in der Sozialpädagogik veranschlagt werden könnte.
II. Zur Sozialpädagogik gehört es, 15 Teilnahmemöglichkeiten zu erkunden, Individuen, die sich assoziieren sollen, zum Mitleben zu erziehen und schließlich Konzepte, die die Inskription und Deskription der diesbezüglichen Erziehungs- und Bildungsformen gestatten, bereitzustellen. Der sozialpädagogische Gehalt zirkuliert also in einem solchen Gefüge von Elementen, er ar15 Im Folgenden beziehe ich mich in weiten Teilen auf Hörster 2011.
200
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tikuliert sich in dieser spezifischen „Formgebung“, 16 wie Carl Mennicke das 1937 treffend genannt hat. Die Sozialpädagogik, wie ich sie hier im Anschluss an Mennicke verstehe, geht aus von einer immer wieder erneut stattfindenden „Freisetzung“ aus gegebenen Gemeinschaften. Die damit einhergehende Verlegenheit zu bewältigen, scheint mir mit Mennicke eine gesellschaftliche Gestaltungsaufgabe zu sein. Will man heutzutage mit dem Gemeinschaftsbegriff arbeiten, wird man sich der Anstrengung unterziehen müssen, die „Befähigung“ der Individuen zum „teilnehmenden Mitleben in der Gemeinschaft“, 17 auf die es Mennicke zu Recht in seinem Sozialpädagogikverständnis ankam, in einem anderen, auf Bindungen zielenden, Begriff zu konstruieren als in dem gängigen. Der gängige Gemeinschaftsbegriff hebt nur das eigene Gemeinsame wie einen Besitz heraus und verankert es innerhalb eines allgemeinen Äquivalents. Auf die Notwendigkeit einer Alternative hierzu haben in jüngster Zeit sowohl Roberto Esposito als auch Jean-Luc Nancy unabhängig voneinander hingewiesen. 18 Woher aber bezieht in einer solchen Situation die reflektierende Sozialpädagogik ihr Material, jenes Material, in dem die Form der Gemeinschaft lesbar wird? Sozialpädagogik artikuliert sich, wenn sie sich bemerkbar macht, in einem spezifischen Denken, in einem kasuistischen Denkmodus, wie Jonsen und Toulmin, zwei Vertreter des „ordinary-language-approach“, es ausdrücken. 19 Wie das Wurzelgeflecht eines Baumes das Wasser, so speichern Texte in diesem Denkmodus sozialpädagogische Bedeutung. Es ist also das in erster Linie mit Analogien arbeitende und von jeweils besonderen Erfahrungen ausgehende Denkmilieu des kasuistischen Tuns, das den Sozialpädagogikbegriff trägt. Der Denkmodus durchzieht den kasuistischen Wissensspeicher, der als ein Medium dient, in das Sozialpädagogik eingeschrieben wird, in dem sie sich ausformt und ihre Bedeutung gewinnt. Im weitläufigen, verästelten und widersprüchlichen Milieu dieses Denkens kann man der Sozialpädagogik habhaft werden. Ohne zu exemplifizieren, wie im kasuistischen Tun seine Bedeutung generiert wird, ließe sich ein Begriff der Sozialpädagogik lehrend nicht veranschaulichen, und ohne zu demonstrieren, wie die kasuistische Denkweise in Feldern der Sozialen Arbeit operiert, könnte man ihn nicht begründen. Der Sozialpädagogikbegriff bliebe demnach ohne die Artikulationsmöglichkeit auf einer solchen materialen Ebene leer und geriete zur Hypostase. Die Sozialpädagogik flöge sich dann einfach selbst raus, oder aber sie würde eben von sich gut in Szene setzenden Psychotechnikern im hohen Bogen rausgeschmissen, von Psychotechnikern, die im therapistischen Diskurs 16 17 18 19
Mennicke 2001, S. 81. Ebd., S. 19. Vgl. Esposito 2004, S. 10; Nancy 2009, S. 54. Vgl. Jonsen/Toulmin 1988.
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operieren, wie die israelische Soziologin Eva Illouz ihn rekonstruiert hat. 20 Vorstellen lässt sich dieser Rausschmiss in Analogie zu jenem diskursiven Handeln der Psychiater im 19. Jahrhundert, das den Diskurs der Richter ‚aufgefressen‘ hat – so das mit einer starken Metapher arbeitende Diktum Foucaults. Mennicke war 1937 im niederländischen Exil der erste, der das sozialpädagogische Dispositiv an der Relationierung von Elementen eines spezifischen kasuistischen Denkmodus systematisch festgemacht hat: an dem auszutarierenden Verhältnis zwischen dem, was er Inszendieren und Transzendieren nennt. Inszendieren bedeute, jene Elemente der Wirklichkeit, mit denen Sozialpädagoginnen zu tun haben, von innen heraus nuanciert zu erkunden und sie „immer besser zu erspüren“. 21 Nach Mennicke ist eine solche Rekonstruktion nur dann wirksam, wenn sie mit dem Transzendieren einhergeht. Eine Tätigkeit, die kasuistisch erspürt, ist demnach nicht möglich ohne einen transzendierenden Fluchtpunkt, wie z.B. die Mitwirkung der Adressaten. Insofern hat die Rekonstruktion von vornherein eine verlagernde oder ‚de-platzierende‘ Wirkung. Im kasuistisch inszendierenden und transzendierenden Denkmodus erforscht man normative Gehalte von Fällen, die für Entscheidungen relevant sind. Der Ausgangspunkt eines weitergehenden bestimmenden Studiums ist dabei eine Irritation, der man in widerstreitenden Perspektiven beizukommen sucht. Die gegenläufigen Artikulationen gewinnen im kasuistischen Denkmodus aber an Spiel. Und es ist eben dieses Spiel, das einen besseren Umgang mit dem jeweiligen Widerspruch im Zusammenhang mit den Besonderheiten eines Falles ermöglicht – auch wenn die grundsätzliche Kontroverse nicht aufgelöst werden kann. Weil die Kontroverse im Prinzipiellen jetzt aber den anstehenden Entscheidungsprozess nicht mehr so stark belastet, driftet sie ins Offene. Die kasuistisch Denkenden begeben sich hier immer wieder auf ein dünnes Eis und haben die Frage nach der Füllung des nicht selten leeren Gemeinschaftsterminus auch um den Preis des Scheiterns jeweils neu zu klären. Wo gibt es Anhaltspunkte, wenn man bei der Füllung gezwungen ist, den Sinn der Gemeinschaft im stets unfertigen und fragmentarischen Zwischenraum mit all seinen Ungereimtheiten zu generieren? 22 Das ist eine Frage, die aktuell in verwandten Zusammenhängen (im Zusammenhang der Fragen nach den Ursprüngen und Wegen der Gemeinschaft oder nach der Wahrheit der Demokratie) von Roberto Esposito, Elena Esposito oder Jean-Luc Nancy aufgeworfen wird. Eine im kasuistischen Denkmodus operierende Sozialpädagogik hat die Frage heutzutage, dem Sisyphos gleich, in steter Wiederholung zu 20 Vgl. Illouz 2009. 21 Mennicke 2001, S. 177. 22 Vgl. Esposito 2004, S. 31; Nancy 2009.
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stellen, aber auch ergänzend und nicht nur repetitiv zu klären – allerdings nur dann, wenn sie sich nicht rausfliegen und wenn sie drin bleiben will.
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