Afrikanische Kindheiten: Soziale Elternschaft und Waisenhilfe in der Subsahara [1. Aufl.] 9783839429389

A new look at childhood in Africa, which is marked by AIDS and poverty on the one hand, and by radical modernization on

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German Pages 266 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Afrikanische Kindheiten
1. Das Waisenthema ist komplexer als es scheint
Zur Lebenslage von Waisen und ›vulnerable children‹ in Namibia
2. Kindheit und Elternschaft im Subsaharischen Afrika
»Ein Kind gehört Dir nicht allein.« Soziale Elternschaft in Nordbenin
Hauskinder – Großmachkinder – Logierkinder: Die Aufnahme von Kindern als Ressource im Kontext sozialer Sicherung
Kind unter Kindern. Geschwisterbeziehungen in Fransfontein, Namibia
3. Namibia: Warum sich die Lebensbedingungen von Kindern verschlechtern
Vom sozialen Frieden weit entfernt: Namibia im 24. Jahr seiner Unabhängigkeit
Politische Kultur und Zivilgesellschaft in Namibia
»If you have mahangu, you can look after your children.«1 Ernährungssicherung und bedrohte kleinbäuerliche Lebenswelt in Nordnamibia
4. Afrikas ›vulnerable children‹: Welche Hilfe wird gebraucht?
Ansätze zur Stärkung von Kindern im Südlichen Afrika, die von HIV und AIDS betroffen sind: das Beispiel ›terre des hommes‹
Kinder und Jugendliche in Afrika: Die Arbeit von ›Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst‹
Kindersoldaten und AIDS-Waisen – sind traumatherapeutische Konzepte hilfreich?
Waisenhilfe in Tansania – Was wir von Afrika lernen können
5. Auszüge aus den Diskussionen
»Who Takes Care?«
Autorinnen und Autoren
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Afrikanische Kindheiten: Soziale Elternschaft und Waisenhilfe in der Subsahara [1. Aufl.]
 9783839429389

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Michaela Fink, Reimer Gronemeyer (Hg.) Afrikanische Kindheiten

Michaela Fink, Reimer Gronemeyer (Hg.)

Afrikanische Kindheiten Soziale Elternschaft und Waisenhilfe in der Subsahara

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Wolfgang Polkowski, Gießen Umschlagabbildung: Zentrum für Waisen und gefährdete Kinder, Namibia Red Cross Society, Oshikoto Region, April 2014. Foto: Reimer Gronemeyer. Satz: Wolfgang Polkowski, Gießen Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2938-5 PDF-ISBN 978-3-8394-2938-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Afrikanische Kindheiten

1. Das Waisenthema ist komplexer als es scheint Zur Lebenslage von Waisen und ›vulnerable children‹ in Namibia Michaela Fink und Reimer Gronemeyer | 15

2. Kindheit und Elternschaft im Subsaharischen Afrika »Ein Kind gehört Dir nicht allein.« Soziale Elternschaft in Nordbenin Jeannett Martin | 43 Hauskinder – Großmachkinder – Logierkinder: Die Aufnahme von Kindern als Ressource im Kontext sozialer Sicherung Sabine Klocke-Daffa | 59 Kind unter Kindern. Geschwisterbeziehungen in Fransfontein, Namibia Julia Pauli | 81

3. Namibia: Warum sich die Lebensbedingungen von Kindern verschlechtern Vom sozialen Frieden weit entfernt: Namibia im 24. Jahr seiner Unabhängigkeit Henning Melber | 99 Politische Kultur und Zivilgesellschaft in Namibia Reinhart Kößler | 119 »If you have mahangu, you can look after your children.« Ernährungssicherung und bedrohte kleinbäuerliche Lebenswelt in Nordnamibia Jonas Metzger, Daniela Dohr und Philipp Kumria | 137

4. Afrikas ›vulnerable children‹: Welche Hilfe wird gebraucht? Ansätze zur Stärkung von Kindern im Südlichen Afrika, die von HIV und AIDS betroffen sind: das Beispiel ›terre des hommes‹ Claudia Berker | 151 Kinder und Jugendliche in Afrika: Die Arbeit von ›Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst‹ Karin Döhne | 161 Kindersoldaten und AIDS-Waisen – sind traumatherapeutische Konzepte hilfreich? Klaus-Dieter Grothe | 173 Waisenhilfe in Tansania – Was wir von Afrika lernen können Ulrike Brizay | 187

5. Auszüge aus den Diskussionen »Who Takes Care?« | 211

Autorinnen und Autoren | 257

Die das Buch illustrierenden großformatigen Bilder sind im Kontext verschiedener Forschungsreisen in Namibia unnd Tansania in den Jahren 2012 bis 2014 entstanden. Die Aufnahmen stammen von M. Fink, R. Gronemeyer und J. Erb (ausgenommen S. 58 und 79: S. Klocke-Daffa).

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Zum Beispiel Äquatorialguinea: Das kleine westafrikanische Land ist heute – gemessen am Bruttoinlandsprodukt – das reichste Land Afrikas. So sagt der IMF, der Internationale Währungsfond. Das Land ist fast so reich wie Neuseeland. Der Wohlstand kommt vom Öl, aber es ist eine kleine Elite, die vom Öl profi iert. Während diese politische Elite und ihre Anhängerschaft in Geld schwimmt verschlechtern sich die Lebensbedingungen aller anderen: Das Land wird ihnen weggenommen, das Wasser ist vielerorts in Folge der Ölförderung vergiftet, die Preise explodieren. Weniger als die Hälfte aller Kinder erhalten Basisimpfungen. In der primary school liegt die dropout Rate bei 50 Prozent. Nur ein Viertel der Menschen, die an AIDS leiden, werden medizinisch versorgt.1 Die Epoche der ›Entwicklung‹ scheint in vielen subsaharischen Ländern abgelöst zu werden von einem Zeitalter, das unter der Überschrift ›wachsende Ungleichheit‹ steht. Namibia zum Beispiel kann heute den Anspruch erheben, das Land zu sein, in dem die Disparitäten zwischen Arm und Reich im Weltmaßstab am stärksten ausgeprägt sind. Von einer ›afrikanischen Renaissance‹, von ungeahnten afrikanischen Wachstumsraten ist die Rede. Die Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young veröffentlichen regelmäßig einen »Africa Attractiveness Survey«. Bei manchen Investoren gilt Afrika als der letzte Zukunftsmarkt.2 Im 1 Esteva, Gustavo / Babones, Salvatore / Babcicky, Philipp (2013): The Future of De­

velopment. A Radical Manifest. University of Bristol, Chicago: Policy Press (Kindle, Pos. 767 v. 2702). 2 Vgl. die kritischen Analysen von Stephen Ellis (2012): Season of Rains. Africa in the

World. Chicago: University of Chicago Press / London: C. Hurst & Co (Publishers) Ltd; Patel, Raj (2007): Stuffed & Starved: Markets, Power and the Hidden Battle for the World Food System. London: Portobello Books; Mills, Greg (2010): Why Africa is Poor and what Africans can do about it. Johannesburg / London: Penguin.

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gleichen Atemzuge drohen sich die Lebensbedingungen derjenigen zu verschlechtern, die an diesem afrikanischen Wirtschaftswunder nicht teilhaben. Und dabei sind wiederum die Kinder besonders gefährdet.3 Viele Faktoren wirken dabei zusammen: Der Niedergang kleinbäuerlicher Landwirtschaft, die eine bescheidene, wenn auch prekäre Ernährung, gesichert hat. Die Erosion der großen Familie, die traditionelle Formen der sozialen Sicherung und der Sozialisation verschwinden lässt. Die (Arbeits-)Migration, die in urbane Verhältnisse führt, die für Kinder besonders gefährdend sein können (Straßenkinder, Prostitution, Missbrauch). »It takes a village to raise a child.« Kein afrikanisches Sprichwort erfreut sich so großer Beliebtheit und ist zugleich so nachdrücklich missverstanden worden. Im Kontext der nordamerikanischen und europäischen Gesellschaften bringt es ein Sozialisationskonzept auf den Begriff, in dem die hohe Dichte der kontrollierenden und sorgenden Personen im Vordergrund steht. Hilary Clinton hat in ihrem Buch »It takes a village«, das 1996 erschienen ist, dieses Sprichwort ihrem ›Care-Konzept‹ unterlegt. In afrikanischen Kontexten gelesen bringt dieses Sprichwort eher das Gegenteil zum Ausdruck: Es spricht von der Offenheit der dörflichen Gemeinschaft, die dem Kind die Distanz von der elterlich-familialen Aura ermöglicht, zumutet, ja geradezu zur Selbstverständlichkeit erhebt.4 Will man – sehr generalisierend – die Kinder des Nordens und die Kinder des Südens in ihren prekären Lebenslagen gegenüberstellen, dann erscheinen die Kinder des Nordens eher als latente ›Sozialisationskatastrophen‹, die Kinder des Südens eher als latente ›Hungerkatastrophen‹ – schlecht ernährt, schlecht versorgt – eben ›vulnerable‹, verletzlich. Dieses Buch versucht sich an der Frage, wie es Kindern im Subsaharischen Afrika geht, mit welchen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sie konfrontiert sind, welche traditionellen und modernen Lebensformen ihren Alltag bestimmen. Obwohl es bemerkenswerte Studien zum Thema ›Kindheit in Afrika‹ gibt5 , kann man doch feststellen, dass die gegen3 Vgl. dazu: The African Report on Child Wellbeing (2013). Towards Greater Accoun­ tability to Africa's Children. The African Child Policy Forum (ACPF). Addis Ababa, Ethiopia. 4 Vgl. Lancy, David (2008): Childhood: Cherubs, Chattel, Changelings. Cambridge

(UK): Cambridge University Press (chapter 4: It takes a village). 5 Z. B. Lancy (s. Fn. 4); Alber, Erdmute / Martin, Jeannett / Notermans, Catrien (eds.) (2013): Child Fostering in West Africa: New Perspectives on Theory and Practices. Leiden, Boston, Tokyo: Brill; Evers, Sandra J.T.M. / Notermans, Catrien / Ommering,

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wärtigen rasanten Modernisierungsprozesse und ihre Auswirkungen auf Kindheit im Subsaharischen Afrika noch keine hinreichende Aufmerksamkeit gefunden haben. Als ein Schlüsselthema kann in diesem Kontext das Thema ›AIDS-Waisen‹ gelten. Es ist ein Auslöser für viele karitative Aktivitäten der letzten Jahre. Wir sehen es aber auch als ein Schlüsselthema, an dem sich der Einfl ss von Modernisierungsprozessen (um es erst einmal sehr allgemein zu fassen) im Südlichen Afrika erkennen lässt – an dem aber auch die vehemente Entfaltung sozialer Kräfte, die auf diese Krise antworten, sichtbar wird. Das wissenschaftliche und karitative Thema ›AIDS-Waisen‹ hat sich in den letzten Jahren verändert und erweitert. Das hängt einerseits damit zusammen, dass die Konzentration auf das Thema ›Waisen‹ Missverständnisse erzeugt, die aus dem europäischen Gebrauch des Begriffs ›orphans‹ erwächst. Inzwischen ist im Südlichen Afrika meist von OVC die Rede – orphans and vulnerable children. Das trägt der Tatsache Rechnung, dass es eine beträchtliche, wohl auch wachsende Zahl von gefährdeten Kindern gibt, die mit dem Begriff AIDS-orphans nur teilweise erfasst werden – und dann auch noch oft missverständlich. Traditionell – so könnte man zugespitzt sagen – gibt es in den von uns beobachteten Kontexten keine Waisen, weil die große Familie zuständig ist, die biologischen Eltern nur am Rande. Aber es gibt vulnerable children, zu denen auch AIDS-Waisen gehören können – und es gibt eine vor allem von Frauen initiierte und getragene Antwort auf die veränderte soziale Lage. Ausgehend von der Frage nach den sozialen Folgen der Waisenkrise im Subsaharischen Afrika haben WissenschaftlerInnen und VertreterInnen von Hilfsorganisationen nach den kulturellen und sozialen Bedingungen von Kindheit und Elternschaft im afrikanischen Kontext gefragt. Die Ergebnisse dieses interdisziplinären Gesprächs, das im Januar 201 4 unter der Überschrift »Who takes care? Waisen und vulnerable children im Subsaharischen Afrika« stattfand, sollen mit dieser Publikation einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden.

Erik van (eds.)(2011): Not Just a Victim: The Child as Catalyst and Witness of Con­ temporary Africa. Leiden: Brill, Afrika­Studiecentrum Series, vol. 20; Cheney, Kristen (2010): Deconstructing Childhood Vulnerability: An Introduction. Childhood in Africa (2)1, pp. 4 – 7; Johnson, D. / Agbenyiga, D. / Hitchcock, B. (eds.) (2013): Vulnerable Children. Global Challenges in Education, Health, Well­being, and Child Rights. New York: Springer Press.

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Die Tagung fand im Kontext eines Forschungsprojekts zum Thema »AIDS-Waisen im Südlichen Afrika (Namibia): Soziale Krisen und soziale Kräfte« statt, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wird (201 2-2015, Reimer Gronemeyer / Michaela Fink / Julia Erb).

Im Zentrum des interdisziplinären Gesprächs standen folgende Fragen: • Wie sieht die Versorgung von Waisen und vulnerable children auf den unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen (der staatlichen, der zivilgesellschaftlichen, der familialen und der kommunalen Ebene) in Ländern des Südlichen Afrika aus? • Welche sozialen Kräfte sind im Kontext der HIV/AIDS-Epidemie und der Waisenkrise identifizierbar? • Welche Bedeutung haben die kulturell anders gestalteten Bedingungen von Kindheit und Elternschaft im afrikanischen Kontext für den Umgang mit Waisen und vulnerable children? • Welche gegenwärtigen sozialen und gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen sind für das Verständnis der HIV/AIDS-Epidemie und der Waisenkrise besonders bedeutsam? • Welche Hilfe wird gebraucht und welche Ansätze vertreten die Hilfsorganisationen? Mehrere der in diesem Band versammelten Beiträge von Soziologen, Ethnologen, Politologen, Psychologen und MitarbeiterInnen von Hilfsorganisationen beziehen sich, wie auch das rahmende Forschungsprojekt, auf das Beispiel Namibia – eines der Länder mit der weltweit höchsten HIV-Prävalenzrate. Die Beiträge, die auf den Vorträgen basieren, und die Diskussionsausschnitte, sollen zu einem tieferen Verständnis der kulturellen Bedingungen von Kindheit im afrikanischen Kontext beitragen. Sie liefern – so meinen wir – wichtige Erkenntnisse auch für die Frage, welche staatlichen und zivilgesellschaftlichen Modelle im Umgang mit der afrikanischen Waisenkrise förderlich sind und welche Aufgaben die (deutsche) Entwicklungszusammenarbeit in diesem Kontext wahrnehmen könnte und sollte. Michaela Fink und Reimer Gronemeyer

1. Das Waisenthema ist komplexer als es scheint

Zur Lebenslage von Waisen und ›vulnerable children‹ in Namibia Michaela Fink und Reimer Gronemeyer

Okutekulwa nennen die Ovambo im Norden Namibias eine kulturelle Tradition: Kinder werden früh zu Verwandten gegeben, um dort im wörtlichen Sinn ›gezähmt‹ zu werden.1 Obwohl sich die alte Praxis gewandelt und modernisiert hat, ist okutekulwa noch immer Normalität. Kinder leben häufig nicht bei ihren biologischen Eltern. Neben den Großmüttern und Tanten ist es in vielen Fällen die Namensvetterin (namesake), die Kinder aufnimmt und großzieht. Die mbushe – so die Oshivambo-Bezeichnung – bleibt für viele Menschen ein Leben lang die gefühlte Mutter. Erwachsene, und vor allem ältere Namibier, berichten häufig, dass sie erst im Jugendalter erfahren haben, wer ihre biologischen Eltern sind.2 Nicht die biologische Elternschaft, sondern Betreuung und Versorgung sind die ausschlaggebenden Kriterien für die Bindung eines Kindes an Erwachsene. Wer sich kümmert, der wird zu Mutter oder Vater. Die Namibierin Ellen N. Namhila hat diese kulturelle Praxis beschrieben: »Als ich fünf Jahre alt war wurde ich zu meinem Onkel gegeben, dem älteren Bruder meiner Mutter, der gerade geheiratet hatte und noch auf dem Gehöft

1 Okutekulwa: engl. ›taming‹, dt. ›zähmen‹. 2 So berichteten Interviewpersonen im Kontext des (noch laufenden) Forschungspro­ jekts »AIDS­Waisen im südlichen Afrika (Namibia): Soziale Krisen und soziale Kräfte« (Reimer Gronemeyer / Michaela Fink / Julia Erb, Institut für Soziologie, Justus­Lie­ big­Universität Gießen, 2012 – 2015, Förderer: Deutsche Forschungsgemeinschaft. Die abschließende Publikation der Forschungsergebnisse des Projekts erfolgt in 2015.

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meines Großvaters mütterlicherseits lebte. Ein Kind wegzugeben zu anderen Familienmitgliedern ist eine lebendige Tradition innerhalb der Ovambo­Kultur Namibias. Es ist normal, ein Kind an jemanden zu leihen, der frisch verheiratet ist, oder an Großeltern, so dass das Kind ihnen Gesellschaft leistet und bei der Hausarbeit hilft. In unserer Tradition ist der Hauptgrund, um zu heiraten, der sozialen Verantwortung nachzukommen, wie z.B. die Familienlinie weiter­ zugeben und sich um die Alten zu kümmern. Es ist eine übliche Praxis, dass neu verheiratete Paare ein Kind geliehen bekommen, mit dem sie ihr neues Leben beginnen können. So wurde ich zum frisch verheirateten Bruder meiner Mutter gegeben, um mit ihm und seiner Frau auf Großvaters Hof zu leben.«3

Die Aufnahme und Weggabe von Kindern geschieht bei den Ovambo (wie in vielen afrikanischen Kulturen) nicht primär aus einer Notlage heraus, sondern gründet in dem kulturell tief verankerten Prinzip von Gabe und Gegengabe.4 In manchen afrikanischen Gesellschaften ist die soziale Elternschaft sogar das bevorzugte Elternschaftsmodell.5 Nach der letzten verfügbaren Statistik von 2006/2007 wohnen nur 25,8 % der namibischen Kinder unter 18 Jahren bei ihren leiblichen Müttern und Vätern. 32,8 % leben bei der Mutter, 5 % beim Vater. 36,4 % leben weder bei der leiblichen Mutter noch bei dem leiblichen Vater.6 Es ist für Kinder durchaus normal, bei Verwandten (oder anderen nahen Bezugspersonen) aufzuwachsen. Die hohe Zahl der Waisen scheint diese Tradition eher zu verstärken (crisis fostering). 1 3 % aller Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren waren nach dem Bevölkerungszensus von 201 1 Halb-

3 Namhila (1997, p. 15) (Eigene Übersetzung des engl. Zitats). 4 Sabine Klocke­Daffa hat das gesellschaftliche Tauschprinzip (auch mit Blick auf die

Zirkulation von Kindern) bei den Nama (Namibia) untersucht. Nach Klocke­Daffa lässt sich das Tauschprinzip nicht allein mit ökonomischen Kategorien erklären: Es ist mehr als nur ein informelles Sicherungssystem. Das wird besonders dann deutlich, wenn enorme Aufwendungen (wie die Aufnahme von Kindern) selbst in äußersten Krisen­ zeiten beibehalten und zu einer realen wirtschaftlichen Bürde werden. Klocke­Daffa deutet das soziale Sicherungsprinzip auch im Kontext kosmologisch­religiöser Vor­ stellungen. Vgl. Klocke­Daffa (2001); und vgl. den Beitrag von Sabine Klocke­Daffa in diesem Band; vgl. außerdem die ›Gründerväter der ethnologischen Austauschtheorie‹: Mauss (1968); Malinowski (1979) und Levi­Strauss (1981). 5 Vgl. Alber (2013). 6 MOHSS (2008, p. 256).

Zur Lebenslage von Waisen und ›vulnerable children‹ in Namibia

oder Vollwaisen. 2,7 % haben beide Eltern verloren.7 Die Zahl der Waisen ist in den ländlichen Regionen höher als in den städtischen. Die meisten Waisen leben in den nördlichen Regionen Oshana, Ohangwena, Omusati (1 7 % aller Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren sind dort Halb- oder Vollwaisen). Da die Väter bei der Versorgung der Kinder jedoch nur eine marginale Rolle spielen, ist ein Kind ohne Mutter eigentlich Vollweise – und auch wieder nicht, weil alle Schwestern der Mutter auch meme, Mutter, sind. Im Blick auf die afrikanische HIV/AIDS- und Waisenkrise hat sich der Begriff orphans and vulnerable children (OVC) durchgesetzt, der die große Zahl der Kinder umfasst, die sich in schwierigen Lebenslagen befinden. In Namibia wird die Zahl der OVC auf 250.000 geschätzt – bei einer Einwohnerzahl von nur 2.2 Millionen Menschen sind das mehr als 10 % der Bevölkerung.8 Namibia gilt als das trockenste Land südlich der Sahara. In 201 3 herrschte zudem eine Dürre wie es sie seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben hatte. Durch die Trockenheit hat sich die ohnehin schwierige Lebenssituation vieler Kinder dramatisch zugespitzt. Im Jahr 201 2, also bereits vor Dürre, starben nach offiziellen Schätzungen 6.000 Kinder an den Folgen von Unter- und Mangelernährung.9 Unter den Bedingungen und negativen Auswirkungen der Dürre dürfte diese Zahl deutlich gestiegen sein.

Belastungen der Großmütter Sara lebt in der Nähe von Ondangwa. Sie ist eine der vielen Großmütter, die sich um ihre Enkel kümmern. Mit einer kleinen monatlichen Altersrente von N$ 600 (ca. 40 Euro) und Ernten vom eigenen Feld versucht sie die Kinder über die Runden zu bringen. Die Altersrente stellt für die meisten Waisen die wichtigste Versorgungsgrundlage da. Geschätzte 60 7 Namibia 2011 Population and Housing Census Main Report (2012, p. 55) – In Inter­ views des DFG­Forschungsprojekts »AIDS­Waisen« (Gronemeyer/Fink/Erb) schätz­ ten befragte Kinder, Jugendliche und LehrerInnen die Zahlen der Halb­ und Vollwai­ sen in ihren Schulklassen deutlich höher (auf 30 – 50 %) ein. 8 MGECW (2008a, p. ix). 9 NAFIN (2010, p. 6).

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Abbildung 1: Dürre, Nordnamibia, Oktober 2013, fotografiert aus dem Flugzeug. Foto: R. Gronemeyer

Prozent aller OVC leben bei ihren Großmüttern (UNICEF 2007). Von den acht Kindern, die bei Sara leben, sind fünf Waisen. Die Mütter der anderen Kinder arbeiten im Süden und kommen wegen der hohen Reisekosten nur selten. Manchmal schicken sie etwas Geld, ihre Löhne sind aber minimal. Von den Vätern ist erst gar nicht die Rede – dass sie sich nicht kümmern, ist fast eine Normalität. In Nordnamibia mangelt es an Arbeitsplätzen und wirtschaftlichen Möglichkeiten. Deshalb sind die meisten Männer heute gezwungen, sich als Wanderarbeiter in den südlichen Landesteilen zu verdingen. Dies ist eine Folge kolonialer und nachkolonialer ungleicher Entwicklungen, denn schon ihre Väter und Großväter wurden während der Kolonialzeit und Apartheid als Farm- oder Minenarbeiter ausgebeutet. Die sehr geringen Löhne, Zeitverträge, hohe Arbeitslosigkeit und veränderte Männlichkeitsvorstellungen führen dazu, dass etliche Männer aus dem Blickfeld ihrer Frauen und Kinder verschwinden. Trifft man einzelne Männer im Norden, sind sie häufig unheilbar krank. Wo einst die Großfamilie die Subsistenzlandwirtschaft und den sozialen Zusammenhalt sicherte, leben heute vor allem Frauen und Kinder. Das Hirsefeld, das Sara mit den Kindern beackert, hat die Stadtverwaltung von Ondangwa mit Stacheldraht eingezäunt und sie mit ein paar

Zur Lebenslage von Waisen und ›vulnerable children‹ in Namibia

namibischen Dollar dafür entschädigt. Dort, wo bislang das Hirsefeld war, soll gebaut werden: Die Stadt wächst. Sara hat nicht nur ihr Hirsefeld verloren, sie muss diesen Platz – nach einer Galgenfrist – ganz verlassen. Auch in dieser Großmutterfamilie gibt es nicht genug zu essen. Viele Familien müssen mit einer Mahlzeit oshifima, dem traditionellen Hirsebrei, am Tag auskommen. Shoprite, der Supermarkt, ist nicht weit. Aber um dort einkaufen zu können, braucht man Geld. Hier auf Saras Gehöft ist eshisha, der übliche geflochtene Hirsespeicher, leer. Saras leerer Hirsebehälter und die überquellenden Regale des Supermarkts bilden im Kleinen ab, was Namibia im Großen erlebt: Namibia ist Weltspitze im Blick auf die Unterschiede zwischen reicher Elite und verarmter Bevölkerung, die vor allem aus Frauen und Kindern besteht. Zur immer größer werdenden Kluft zwischen Arm und Reich gesellt sich eine globale Tendenz: Internationale Geldgeberorganisationen haben sich immer mehr aus Namibia zurückgezogen, weil die Weltbank der Regierung eine positive Wirtschaftsentwicklung bescheinigt und das Durchschnittseinkommen deutlich gestiegen sei. Das hat zur Folge: Viele Hilfsorganisationen, die sich für unterversorgte Kinder in Problemsitu-

Abbildung 2: Sara und ihre Enkelkinder in Eputa, einem Dorf bei Ondangwa, September 2013 · Foto: M. Fink

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ationen (vulnerable children) engagiert haben, kämpfen jetzt um ihren Fortbestand. Während durch Windhoeks Einkaufszentren ein Konsumrausch weht und die Immobilienpreise in der Hauptstadt explodieren, wächst in den ländlichen Gebieten die Zahl der Menschen, die sich mit einer Mahlzeit am Tag begnügen müssen.

Kinder in Nordnamibia 201 3, im Norden Namibias, wo die egumbos, die traditionellen Gehöfte der Ovambo, liegen, steht Samuel in einem orangefarbenen T-Shirt vor seiner Lehrerin. Er ist acht Jahre alt. Es ist 1 4 Uhr und 40 Grad heiß. Samuel hat den ganzen Tag noch nichts gegessen und kein oshikundu getrunken, das traditionelle, nahrhafte, fermentierte Getränk aus Hirse. Mit der Schulspeisung in den Grundschulen, die von der Regierung bezahlt wird, klappt es im Norden häufig nicht: Die Säcke mit Maismehl kommen nicht an oder die (freiwilligen) Köchinnen sind nicht da. Die Kinder müssen weit laufen, um in die abgelegene, ländliche Schule zu kommen. Viele bleiben in dieser Dürrezeit der Schule fern, weil es auch dort nichts zu essen gibt. Wer dennoch kommt, legt irgendwann den Kopf vor Erschöpfung auf den Tisch und schläft ein. Das Konzentrieren fällt schwer. Der einfühlsame Schuldirektor ist hilflos; er weiß nicht, warum gerade jetzt die Säcke mit Maismehl ausbleiben. Aus dem großen Wassertank, der auf dem Schulhof steht, kommt nur noch eine grünliche Restbrühe. Von den 365 Schülerinnen und Schülern sind 1 20 Halb- oder Vollwaisen. Die älteren Klassen haben Essays geschrieben.10 Das Thema lautete: ›Wer sorgt für mich?‹ (Who takes care of me? Growing up in times of AIDS). Es fällt auf, wie klar, kompetent und bitter die Schülerinnen und Schüler ihre Lebenslage darstellen. Ihre Beschreibungen kreisen um die Grundfragen ihres Lebens: Wer gibt mir zu essen? Wer sorgt für meine Schuluniform? Wo habe ich einen Platz zum Wohnen und Schlafen? Sie äußern sich kaum über Empfindungen und emotionale Zuwendung. Die Aufsätze bestätigen, dass die Mädchen und Jungen meistens bei Verwandten leben: Es gibt offenbar viele Großmütter und Tanten (besonders die Schwestern der Mütter), die Kinder – besonders Waisen – zu sich nehmen und so gut es geht, für sie sorgen. Ortswechsel und Wechsel der caretaker sind so nor10 Vgl. Fink/Gronemeyer (2013).

Zur Lebenslage von Waisen und ›vulnerable children‹ in Namibia

mal wie die tägliche Sorge um das Essen. Die häuslichen Pflichten sind umfangreich: Verantwortung für kleine Kinder, das Hüten der Tiere, Hilfe bei der Feldarbeit, Holz sammeln, kochen. »We are struggling« – Wir kämpfen, das ist eine häufig anzutreffende Zusammenfassung der Lebenslage. Namibia – mit den Augen seiner Kinder gesehen, da zeigen sich durchgängig drei Motive: Die Armut, die sie erfahren, und der Alkohol, dem viele Erwachsene verfallen sind. Hinzu kommt die AIDS-Epidemie, die zwar aus den Schlagzeilen verschwunden ist, aber im Alltag der Kinder eine große Rolle spielt: Sei es, weil sie Diskriminierung und Mangelversorgung erleben, sei es, weil sie ihre kranken Eltern pflegen müssen, sei es, weil sie durch den AIDS-Tod der Eltern zu Waisen geworden oder selbst mit dem Virus infiziert sind. Die Kinder sind in ihrem Alltag vielfach allein auf sich gestellt. Vieles erzählen die Essays, über vieles schweigen sie. Es fällt auf, wie häufig von körperlicher Gewalt die Rede ist. Offenbar werden Schülerinnen vielfach Opfer sexueller Gewalt. Die hohe Zahl von Schulschwangerschaften hat auch hier ihre Ursache. Einer UNICEF-Studie zufolge berichteten von den befragten Mädchen und Frauen in der Altersgruppe 15 – 24 Jahre 40 % von Schwangerschaften als Ergebnis von erzwungener Sexualität.11 Familiäre Gewalt ist verbreitet. Der Direktor einer Schule in der Ohangwena-Region im nordnamibischen Busch benennt zudem Missbrauch durch Straßenarbeiter, Viehhüter und Grenzpolizisten, teilweise verlangen sie sexuelle Dienste gegen wenig Geld. In einem Zeitungsbericht über die hohe Zahl an Schülerinnen-Schwangerschaften in der Erongo-Region werden vor allem lokale Minenarbeiter für die Vaterschaften verantwortlich gemacht.12

11 UNICEF (2006a, p. 9). 12 Close to 90 Erongo School Girls Pregnant. The Namibian, 22.07.2014 – Selten – so wird berichtet – sind Mitschüler die Väter. Es sind vor allem (ältere) Männer, die einer Arbeit nachgehen, was vermuten lässt, dass ökonomische Motive für die Mädchen eine Rolle spielen. Der Schulleiter in Ohangwena erklärt, dass die Mädchen mit einer Schwangerschaft oftmals die Hoffnung auf eine Bindung an den Kindsvater und auf dessen Unterstützung verknüpfen. Doch diese Hoffnung erweist sich allzu oft als Il­ lusion, auch weil viele der Männer Wanderarbeiter sind und nach einiger Zeit wieder wegziehen. Baby dumping (die Aussetzung und Tötung von Kindern) kann die Folge sein – besonders wenn Mädchen aufgrund ihrer Schwangerschaft den Schulverweis befürchten und den Konflikt in ihren Familien; wenn sie nicht wissen, wie sie ihr Baby ernähren können und befürchten, ein hiv­positives Kind zur Welt zu bringen.

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Es sind Kinder, deren Eltern und Großeltern am Befreiungskrieg beteiligt waren oder ihn erlebt haben. Wo sind deren seelische Erschütterungen geblieben? Fällt der Schatten des Krieges auf die Sichtweisen und Stimmen dieser Schülerinnen und Schüler? Ist die kulturelle Zerstörung eine Mixtur aus den Folgen kriegerischer Gewalterfahrungen und einer rasanten Modernisierung? Namibia erlebt einen Wandel. Aus der kolonialen Kontrollgesellschaft wird eine Konsumgesellschaft. Die erzwingt Individualisierung und zerstört vor allem familiale Solidarität.

Kinder in der Stadt Die 1 7 jährige Mercia aus Katutura hat einen Aufsatz geschrieben, der die Empörung, Enttäuschung und Bitterkeit der Jugendgeneration bezeugt. Sie appelliert an eine Moral, die sie bei den Älteren vermisst: »Die politischen Führer werden immer älter und sind immer noch machthung­ rig. Sie reden sich ein, die Jugend sei unreif und ihr fehle die Einsicht. [ … ] Unser Land ist so trocken und ungeschützt, wir haben nicht einmal saube­ res Wasser. Wir haben kaum etwas Ordentliches zu essen. Ich sage Offen­ sichtliches, aber es ist nichts als die Wahrheit. Es ist Afrika gesehen mit den Augen seiner Kinder. [ … ] Ich bin Schülerin in der Windhoek High School. Aber macht mich das besser als irgendjemand anders? Schau Dich um – wir betrügen uns unablässig selbst. Wie kannst Du Dich als etwas Besseres füh­ len, solange jemand da draußen Hilfe braucht? [ … ] Wir brauchen integere Menschen; Menschen die auch tun, was sie versprechen. Männer bringen ihre Frauen um, weil sie an das Patriarchat glauben. Frauen benutzen ihre Männer. Keiner kennt mehr den Unterschied zwischen Gut und Böse. Wir sind im Begriff, alles zu verlieren. Ja, vielleicht verallgemeinere ich und vielleicht bin ich zu schroff. Aber ich bin nicht bereit, die Tatsachen zu verzuckern. Die Wahrheit muss ans Licht kommen. Bei uns geht es zu wie bei dem Pastor, der seiner Gemeinde erzählt, jeder müsse mit gutem Beispiel vor­ angehen, und einen Minderjährigen im Hinterzimmer vergewaltigt.«13

13 Ihren Aufsatz hat Mercia (..) im Rahmen des Interviews mit ihr am 19.09.2013

in Windhoek­Katutura zur Verfügung gestellt. (Eigene Übersetzung des engl. Zitats)

Zur Lebenslage von Waisen und ›vulnerable children‹ in Namibia

In Katutura, Windhoeks Hinterhof, der die alte Stadt allmählich wie ein Riese überragt, werden Babys von kranken, verzweifelten und oftmals alkoholabhängigen Müttern ausgesetzt. Es sind mehr denn je, wenn man auf die zahlreichen Zufl chtsstätten für Babys schaut. Die 1 1 jährige Anna aus Katutura berichtet über die familiäre Verantwortung, die bereits Kindern aufgeschultert wird: »Kinder können ihre Eltern nicht einfach zu Hause liegen lassen und sagen: ›Mama, Papa, ich geh' zur Schule‹, während die Eltern da liegen. Und wenn sie (die Kinder) heim kommen, sind sie tot. Die Kinder müssen sich um ihre Eltern kümmern, ihnen zu Essen geben, sie waschen, viele Dinge tun, und den Haushalt führen.«14

Die Situation der Kinder im urbanen Katutura und im ländlichen Norden gleicht sich: Essen, Obdach und Kleidung sind bei vielen OVC nicht gewährleistet.

Was tut der Staat? Die Regierung hat ein Unterstützungssystem eingeführt: die child welfare grants 15 , die sich vor allem an Waisen adressieren. Die können N$ 200 (ca. 1 4 Euro) pro Monat bekommen. Voraussetzung ist der Tod eines biologischen Elternteils oder beider Eltern oder eines ›legalen‹ Vormunds. Aber das Geld geht nicht selten an Personen, die abwesend sind und gar keine Verantwortung übernehmen. Oder die benötigten Dokumente, die die Waisen bräuchten, sind nicht zu besorgen: Geburts16 - und Sterbeurkunden. Nur ein Teil der Waisen erhält bislang die Beihilfe. Aus Sicht der caretaker ist die Summe jedoch viel zu niedrig, um damit ein Kind über die Runden zu bringen. Allerdings hat die Regierung für eine weitere

14 Interview mit Anna (..) am 23.09.2013 in Windhoek­Katutura. 15 Der child welfare grant wurde in Namibia im Jahr 2000 eingeführt und fällt seit

2003 in den Zuständigkeitsbereich des MGECW. Vgl. McGrath (2006, p. 15). 16 In den Geburtsurkunden müssen beide (biol.) Eltern eingetragen sein. Der

Tatbestand, dass Väter jedoch oft unbekannt oder abwesend sind, trägt dazu bei, dass viele Kinder über keine Geburtsurkunden verfügen. Vgl. z.B. Absent fathers, culture clashes and polygamy. Namibian Sun, 20.06.2014.

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Entlastung der Familien gesorgt: Seit 201 3 sind die staatlichen Grundschulen Namibias gebührenfrei, auch wenn weiterhin Kosten anfallen für Schuluniformen und Schreibmaterialien.17 Das Ministerium adressiert sich mit dem grant nicht in erster Linie an arme Haushalte. Diese – so vermutet das Ministerium – verstehen die Unterstützung häufig als eine Art Sozialhilfe oder als Förderung für Schul- und Examensgebühren, was zur Folge hat, dass Familien den (höheren) Schulbesuch der Kinder bisweilen von der Auszahlung des grants abhängig machen.18 Zu den weiteren bürokratischen und praktischen Hürden des grantSystems gehören die langen Prüf- und Bearbeitungszeiten der Anträge, was auch mit einem landesweiten Mangel an SozialarbeiterInnen zusammenhängt.19 Des Weiteren ist der grant in der Bevölkerung noch nicht hinreichend bekannt; und Familien in abgelegenen Regionen können die langen Wege und die damit verbundenen Transportkosten zu den entsprechenden Behörden oft nicht bewältigen. Die Versorgung von Kindern, die ohne ihre biologischen Eltern leben, ist vorwiegend informell geregelt (kinship care). Die sozialen Eltern treten oft erst dann bei den Behörden in Erscheinung, wenn die staatliche Waisenhilfe beantragt wird.20 In einem Regierungsbericht werden SozialarbeiterInnen des Ministry of Gender Equality and Child Welfare (im Folgenden abgekürzt als MGECW) zitiert, die sich über die Schwierigkeiten des grant-Systems äußern. Sie beklagen den Missbrauch der Beihilfe durch Angehörige21 und die vielfach schlechte Versorgung der Kinder:

17 Grundsätzlich war es bereits vor 2013 (und ist es auch gegenwärtig beim höheren

Schulbesuch) möglich, eine Befreiung von den Schulgebühren für Waisen zu beantra­ gen. Die Antragstellung ist jedoch ebenso komplex wie die Beantragung des grant. Außerdem besteht die Möglichkeit der Befreiung nur für Waisen, nicht aber für Kinder, die ebenfalls in prekären Verhältnissen – und ggf. ohne caretaker – leben, auch wenn sie keine Waisen sind. 18 MGECW (2008a, p. 10). 19 In 2012 waren 312 qualifizierte SozialarbeiterInnen für ganz Namibia (2,2 Millionen Gesamtbevölkerung) zuständig. Vgl. Critical Shortage of Social Workers in Namibia. Namibian Sun, 24.09.2012. 20 MGECW (2008a, p. 8); vgl. auch Ruppel/Shipila (2009, p. 196). 21 Vgl. z.B. Stealing from Orphans. Namibian Sun, 04.07.2013.

Zur Lebenslage von Waisen und ›vulnerable children‹ in Namibia

»Es ist ein langer und kräftezehrender Prozess. Nur in 5 % der Fälle beantra­ gen caretaker, die nicht mit dem Kind verwandt sind. Manche Kinder haben ihre leibliche Mutter nie gesehen – sie haben immer mit dieser Person gelebt, die jetzt profitieren will. […] Ein Gerichtsbeschluss ist notwendig. Viele Kin­ der entbehren eher eine gute Fürsorge als Bargeld, insofern ist der grant oft unzureichend.«22

Den meisten Angehörigen gehe es um das Geld und weniger um eine gute Fürsorge für das Kind, so die Einschätzung der SozialarbeiterInnen.23 Die Regierungsinitiativen sind vor allem auf die Stärkung der foster care (der Kindspflegschaft) ausgerichtet. Die Unterbringung von Kindern in Institutionen wird nur als Notlösung akzeptiert. Nur etwa 1 .000 OVC leben laut Angaben des MGECW derzeit in Heimen und Übergangseinrichtungen.24 Der namibische child welfare grant umfasst vier Arten von grants: • Der maintenance grant wird an ein Elternteil gezahlt, dessen Ehegatte oder Ehegattin gestorben ist und der oder die sich um ein Kind (oder mehrere Kinder) unter 18 Jahren kümmert. Der grant ist eine finanzielle Unterstützung für die Versorgung des Kindes. Qualifizierungsberechtigt sind namibische Staatsbürger, die kein oder nur ein geringes Einkommen haben (weniger als N$ 1 .000 pro Monat); die eine Altersoder Behindertenrente bekommen; oder deren Ehegatte/-gattin sich für mehr als 6 Monate in Gefängnishaft befindet. Gezahlt werden N$ 200 pro Monat und pro Kind. • Der special maintenance grant ist eine finanzielle Unterstützung für die Versorgung eines Kindes unter 16 Jahren, das eine Behinderung hat. Gezahlt werden N$ 200 pro Monat. • Der foster care grant wird an einen Vormund gezahlt, der/die sich um ein nicht-leibliches Kind kümmert. Qualifizierungsberechtigt für den grant ist eine Person, die sich temporär um ein Kind kümmert, das als bedürftig gilt im Sinne des Children’s Act von 1960 und das durch einen Bevollmächtigten der Kindeswohlfahrt in die Obhut der Person gegeben wurde. Der grant beträgt N$ 200 pro Monat und pro Pflegekind. 22 MGECW (2008a, p. 8) (Eigene Übersetzung des engl. Zitats). 23 Ebd. (Eigene Übersetzung des engl. Zitats). 24 Ebd.

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• Die place of safety allowance wird gezahlt an eine Person oder Institution, in deren Obhut ein Kind unter 18 Jahren durch einen Bevollmächtigten der Kindeswohlfahrt (im Sinne von Abschnitt 33 des Children’s Act von 1960) gegeben wurde. Der grant beträgt N$ 10 pro Kind und pro Tag. Zuständig für die Registrierung der OVC und die Auszahlung der grants ist das MGECW.25 Weitere OVC-relevante Regierungsaktivitäten sind folgende: • Das MGECW implementiert OVC-Zentren mit Nachmittagsbetreuung, Suppenküchen, Sport- und Freizeitaktivitäten sowie Community Child Care Workers; unterhält das Namibia Childrens Home in Windhoek, das einzige staatlich finanzierte Kinderheim mit 1 40 Plätzen; vermittelt Adoptionen und Pflegschaften (in Zusammenarbeit mit dem Justizministerium); entwickelt und implementiert Gesetzesgrundlagen und Programme, wie die Child Care and Protection Bill (Gesetzesentwurf seit 2009), die Namibia’s National Agenda for Children 2012 – 2016 und den National Plan of Action for OVC in Namibia 2006 – 2010. • Das Ministry of Education organisiert das Namibia School Feeding Programme (NSFP). Die Versorgung von Grundschulen mit angereichertem Maismehl wurde 1991 vom World Food Programme (WFP) eingeführt und 1997 von der namibischen Regierung übernommen; unter dem Dach des Ministry of Safety and Security existieren landesweit 15 Women and Child Protection Units (WACPU).26 Diese Einheiten sind spezialisierte Polizeistationen, an die sich misshandelte und missbrauchte Frauen und Kinder wenden können; das Ministry of Labour and Social Welfare untersucht Kinderarbeit in Namibia; das Ministry of Justice beschäftigt sich mit dem Problem des Kinderhandels; das Ministry of Health and Social Services ist zuständig für die Bereiche PMTCT (Prevention of Mother-to-Child Transmission of HIV), HIV/AIDS-Therapie und Home-Based-Care.

25 Ausführliche Informationen unter: http://209.88.21.36/opencms/opencms/grnnet/MGECW/services/grantsChildren; vgl. auch MGECW (2010). 26 MGECW (2008b, p. 6).

Zur Lebenslage von Waisen und ›vulnerable children‹ in Namibia

Die Modernisierung der Kindspflegschaft Da Pflegeeltern in der Regel Verwandte sind, bedeutet foster care (Kindspflegschaft) in erster Linie kinship care (kinship = Verwandtschaft).27 Formal sieht das namibische Gesetz eine Begrenzung von Kindspflegschaften auf eine maximale Dauer von zwei Jahren vor. In diesem Turnus müssen die gerichtlichen Beschlüsse jeweils erneuert werden. Informelle Praktiken der Kindspflegschaft bzw. der sozialen Elternschaft28, wie okutekulwa, rücken damit in den Bereich der Illegalität. Pflegeeltern werden von der Regierung explizit aufgefordert, sich um formale Lösungen zu bemühen.29 Damit befördert die Waisenkrise die Modernsierung sozialer Elternschaft. Zudem lernen Kinder, deren biologische Eltern (oder Elternteil) gestorben sind, sich als Waisen zu begreifen. Die staatliche Waisenbeihilfe und die Unterstützungsmaßnahmen von NGOs, die sich an OVC adressieren, machen eine Identifizierung und Registrierung der betroffenen Kinder erforderlich. Folglich wissen (ältere) Kinder häufiger (als in traditionellen Kontexten) um ihren Waisenstatus und verwenden das Label OVC sogar bisweilen als Selbstbezeichung. Die Konsequenz ist u.a. eine Bedeutungsaufwertung biologischer Elternschaft. 27 Die Regierung versucht die Differenzierung zwischen foster care und kinship care auch gesetzlich zu berücksichtigen und zu verankern. Vgl. MGECW (2008, p. xii); vgl. auch: Child Care and Protection Bill Namibia. Revised Final Draft, June 2010, p. 109: »Kinship care is a new concept in Namibian law (although it is already used in some other countries). It is designed to cover the common situation where families make their own arrangements for children to live with and be cared for by someone other than their birth parents – such as extended family members, friends or someone in the local community. (A non­relative can be classified as a kinship care­giver by virtue of the broad definition of ›family member‹ in section 1.) The old Children's Act did not cater for kinship care, with the result that people in such arrangements had to go to court to be named as ›foster parents‹ in order to be eligible for grants. This placed a burden on courts and social workers, and did not really add to the protection of the child since the courts ended up just rubber­stamping arrangements made by the child's family. There are also many cases where needy households are unable to access the grant because the placement of the child has not been approved through the court.« 28 Wie bei Alber (2013) werden die Begriffe ›Kindspflegschaft‹ und ›soziale Elternschaft‹ auch in diesem Beitrag als Synonyme verstanden, aber kontextabhän­ gig verwendet: je nachdem, ob eher die Perspektive von Pflegekindern oder von Pflegeeltern betont werden soll. 29 MGECW (2008a, p. 9).

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Notwendigerweise braucht es für die staatliche Waisen-Förderung ein Regulierungs- und Kontrollsystem, das eine Formalisierung der Kindspflegschaften einschließt. Zugleich aber haben solche Modernisierungsprozesse eine zersetzende Wirkung auf lokale Fürsorgepraktiken und Konzeptionen von Kindheit. Dazu gehört auch, dass durch das staatlich geförderte moderne foster care Modell – auf Basis international definierter Kinderrechte – die Interessen der Kinder ins Zentrum gerückt werden. Dagegen werden bei ›traditionellen‹30 foster care Praktiken, wie okutekulwa, die Interessen von Kindern zwar berücksichtigt, das Kind – als Individuum – steht aber keineswegs im Vordergrund. Ausschlaggebend für die Aufnahme und Weggabe von Kindern sind im Kontext von okutekulwa die Interessen der Familien, also der Erwachsenen (Kinder als Gabe an Kinderlose oder als Hilfen im Haushalt und in der Landwirtschaft; Erziehung und Vorbereitung auf das spätere Leben und die zukünftige Rolle als Mann/Frau und als vollwertiges Mitglied der community; Weggabe von Kindern zwecks Schulbesuch).

Zivilgesellschaftliche Antworten Noch immer ist HIV/AIDS die Todesursache Nummer eins in Namibia.31 Durch die Vielzahl der Erkrankten, Verstorbenen und Verwaisten geraten die familialen Strukturen immer deutlicher an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Die sozialen Folgen der Epidemie im Südlichen Afrika scheinen erst jetzt richtig durchzubrechen. Die Großfamilie, die bisher vieles aufgefangen hat und die wichtigste Form sozialer Sicherung war, wird von zwei Seiten her angefressen: Modernisierungsprozesse (wie Arbeitsmigration, Landfl cht und Urbanisierung) unterminieren sie von der einen Seite, die Folgen der Epidemie von der anderen. Die verstörenden Nachrichten von misshandelten, vernachlässigten und ausgesetzten Kindern scheinen ein Beleg dafür zu sein. Man wird aufmerksam beobachten müssen, welche Antworten die namibische Zivilgesellschaft jetzt und in Zukunft auf das Thema ›AIDS-Waisen‹ findet. 30 Der Begriff ›traditionell‹ ist nicht mißzuverstehen als ein statisches, unveränder­ liches Konzept, sondern er bezeichnet immer etwas Dynamisches. Vgl. hierzu Sabine Klocke­Daffa in diesem Band auf Seite 61. 31 CDC in Namibia Factsheet (2013).

Zur Lebenslage von Waisen und ›vulnerable children‹ in Namibia

Abbildung 3: Kinderbild ›my community‹, Oktober 2013. Das Namibische Rote Kreuz unterstützt Waisen und gefährdete Kinder in verschiedenen Regionen, z.B. durch OVC support centers, wie in Onambiya, einem Dorf in der Region Oshikoto. In dem Zentrum treffen sich ca. 150 Kinder zweimal wöchentlich zu Nachmittagsaktivitäten. Bei einem der Treffen haben Kinder ihre ›community‹ gemalt. Das Bild eines Mädchens zeigt (im Uhrzeigersinn beginnend links unten) das OVC support center, darüber einen Viehkraal, rechts daneben eine Ansammlung von cuca shops (Kneipen), einen egumbo (traditionelles Gehöft), eine Kirche, eine Schule und einen Friedhof. Neben dem Friedhof sind Personen abgebildet, die sich erhängt haben. Namibia hat eine alarmierend hohe Selbstmordrate – das dürfte nicht zuletzt mit der AIDS-Epidemie und ihren Folgen zusammenhängen.

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Viele zivilgesellschaftliche Organisationen sind seit den neunziger Jahren entstanden, insbesondere als eine Konsequenz der HIV/AIDS-Epidemie. Seit der Unabhängigkeit Namibias 1990 ist der Sektor der zivilgesellschaftlichen Organisationen rasant gewachsen – eine Entwicklung, die jedoch seit 201 1 , infolge der Hochstufung des Landes als upper middle income country, in die Krise geraten ist.32 Eine Mitarbeiterin von USAID in Namibia kommentiert: »Viele NGOs kämpfen um ihr Überleben oder sind one-man-shows geworden. Jetzt sind die Chinesen reingekommen, aber das hat seinen Preis.«33 Trotz der Krise im NGO-Sektor ist die Zahl nationaler und internationaler Hilfsorganisationen – gemessen an der kleinen Bevölkerungszahl – immer noch bemerkenswert hoch. 234 Organisationen wurden in 201 3 alleine für den HIV/AIDS Sektor Namibias identifiziert.34 Zu den international vertretenen Organisationen gehören UNICEF, UNAIDS, USAID, UNDP, UNESCO, Project Hope, oder das WFP. Auf nationaler Ebene sind besonders die folgenden Organisationen für die Bereiche HIV/AIDS und OVC von Bedeutung: Catholic AIDS Action (CAA), Namibia Red Cross Society (NRCS), Church Alliance for Orphans (CAFO), LifelineChildline, AIDS Care Trust of Namibia, Family of Hope Services, Sister Namibia oder etwa die Dachorganisation NANASO (Namibia AIDS Network). Die Wohlfahrtsorganisationen, die sich an OVC adressieren, bieten vor allem Unterkünfte, Suppenküchen, Kindergarten-, Vorschul- und Nachmittagsbetreuung, Freizeit- und Sportaktivitäten, psycho-soziale und materielle Unterstützung (v.a. durch Schuluniformen, Decken, Winterbekleidung und Hygieneartikel). Weit verbreitet sind kids clubs und OVC support groups. Es existieren drei international getragene SOS Kinderdörfer (in Windhoek, Tsumeb und Ondangwa). Bis auf das Namibia Childrens Home sind alle Kinderheime Namibias nicht-staatlich getragen. Insgesamt gibt es landesweit 42 staatlich registrierte und informelle Einrichtungen für OVC.35 32 Vgl. Namibia: Aids Sector in a Panic. The Namibian, 16.02.2012. 33 Interview mit Darlene van Westhuizen (USAID) am 27.03.2013 in Windhoek (Eigene Übersetzung des engl. Zitats). 34 BLC/NANASO (2013, p. 8). 35 MGECW (2008a, p. 14) – Zu den unterschiedlichen Einrichtungsformen für OVC

siehe auch den Bericht: Minimum Standards for Residential Child Care Facilities in Namibia. Ministry of Gender Equality and Child Welfare (MGECW, 2009).

Zur Lebenslage von Waisen und ›vulnerable children‹ in Namibia

Während die Mehrzahl der OVC im Norden des Landes lebt36, sind die meisten Hilfsorganisationen in Windhoek und der städtischen Khomas-Region angesiedelt. Das hängt einerseits mit der höheren Bevölkerungsdichte in den nördlichen O-Regionen zusammen, zugleich siedeln sich weniger NGOs in den ländlichen Regionen an, da die Infrastruktur dort sehr viel schlechter ist. Kinder in sehr abgelegenen Buschregionen sind ohnehin schwieriger mit den Angeboten zu erreichen. Viele Kinder leben auf dem Land bei ihren Großmüttern, die immerhin eine Rente und ihr Hirsefeld haben. Eltern, die in Windhoek arbeiten, oder nach Arbeit suchen, schicken ihre Kinder häufig auf das Land zu Verwandten, weil das Leben dort billiger ist und weil die Kinder bei der Feldarbeit und bei der Versorgung der Älteren gebraucht werden.37 Neben den größeren Organisationen spielen auch kleinere Initiativen eine bedeutende Rolle bei der Bewältigung der AIDS-Epidemie. Sie haben jedoch oftmals nur wenige Ressourcen, da viele von ihnen im informellen Bereich angesiedelt sind und daher nur begrenzte Möglichkeiten haben, finanzielle Mittel zu beantragen. Dabei haben besonders solche ›Graswurzelbewegungen‹ eine große Expertise auf lokaler Ebene.

Couragierte Selbstorganisation In den ländlichen und urbanen Armutsregionen halten vor allem Frauen das soziale Leben aufrecht und gründen Initiativen für Kinder. Viele OVC-Initiativen werden von einzelnen Frauen geleitet. Die unübersehbare Zerstückelung der Großfamilien wird immer deutlicher durch zivilgesellschaftliche Initiativen aufgefangen. Exemplarisch für die vielfältigen Ansätze der Selbstorganisation sind: Frieda Kemuiko-Geises, die eine Suppenküche für über vierzig OVC in Havana (Katutura) betreibt, oder Agnes Tom, die das Waisenhaus Baby Haven in Katutura ins Leben rief. 36 Namibia 2011 Population and Housing Census Main Report (2012, p. 55). 37 Im öffentlichen Diskurs wird immer wieder der Vorwurf formuliert, dass beson­ ders Waisen für die Feldarbeit herangezogen (und ausgebeutet) werden, während die leiblichen Kinder zur Schule gehen dürfen. Die Diskriminierung von Waisen (als eine Gruppe von Pflegekindern) wird in den Interviews des DFG­Forschungsprojekts »AIDS­Waisen« (Gronemeyer/Fink/Erb) vorwiegend als ein modernes Phänomen ge­ sehen und mit dem Zerfall der Familienzusammenhänge und mit den Folgen der HIV/ AIDS­Epidemie begründet.

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Sie ist in 201 3 gestorben, ihre Tochter führt die Arbeit weiter. Bemerkenswerte Arbeit leistet auch Rauna Jairus, die in Katutura einen Kindergarten für OVC organisiert und 1 2 Waisen ganz bei sich aufgenommen hat. Die insgesamt 40 Kinder ernährt sie weitgehend aus ihrem Gemüsegarten. Petrine Shiimi leitet in Ondangwa das Tageszentrum Oonte für OVC. Rosa Namises hat das Dolam Childrens Home in Katutura gegründet und Christaline Vega-Biart unterstützt im Mount Sinai Center in Katutura hiv-positive Mütter und deren Babys mit Milchpulver und Lebensmitteln. Man könnte diese Liste mit vielen anderen Beispielen weiterführen. Die Frauen, die diese Orte geschaffen haben, leben von Spenden, die vielfach aus den USA oder Europa kommen. Es sind finanziell fragile, aber sozial starke Einrichtungen. Immer wieder gibt es die Klage, dass die Unterstützer in zunehmendem Maß kontrollieren und am liebsten selbst die Leitung der Projekte übernehmen wollen. Einige Initiativen haben sich in einem Netzwerk zusammengeschlossen, um sich mit der Problematik auseinanderzusetzen.38

De-Chiffrierung des Waisen-Konzepts: soziale Krisen und soziale Kräfte Obgleich die sozialen Verwüstungen unübersehbar sind, wird am Umgang mit der Waisenkrise nach wie vor etwas von dem sozialen Reichtum sichtbar, der sich auf die Kraft der Familie, der Nachbarschaft und der Subsistenzwirtschaft gründet. Diese Kraft wird manifest in den Großmüttern, die sich um eine Vielzahl von Enkeln kümmern oder etwa in den vielen alleinstehenden Frauen in Katutura, die – obwohl sie über kein festes Einkommen verfügen – gleich mehrere Kinder aus der Verwandtschaft oder aus ihrer community bei sich aufnehmen. Von diesen Kräften, die sich aus dem Eigenen speisen, wird jedoch kaum etwas erkennbar, schaut man auf die globale Ikonographie des afrikanischen Waisenkindes. Im internationalen Diskurs der Politik, der Hilfsorganisationen und der Medien wird meist ein eindimensionales Bild des afrikanischen Waisenkindes vermittelt – nämlich das eines hilfs- und schutzbedürftigen Kindes, das durch Entwicklungsmaßnah-

38 Vgl. Fink/Gronemeyer (2014)

Zur Lebenslage von Waisen und ›vulnerable children‹ in Namibia

men – insbesondere durch Schulbildung (durch education)39 – aus seiner dürftigen Existenz befreit werden soll. Wie diese Ikonographie den Blick auf lokale Kräfte und Bewältigungsstrategien, die gerade aus der Krise hervorgehen können, verstellt, zeigt das Beispiel eines Kinderhaushalts in Katutura:40 Lovisa41 (1 7 J.) und ihre Schwestern (1 3 und 8 J.) bewohnen das kleine Wellblechhaus ihrer Tante, die sie meme, Mutter, nennen. Die Tante ist selten zu Hause, sie arbeitet unter der Woche als Reinigungskraft beim Militär. An den Wochenenden verkauft sie selbstgeschneiderte Kleider auf dem lokalen Markt. Die leibliche Mutter der Kinder ist vor Jahren gestorben. Im fortgeschrittenen Stadium ihrer Krankheit ging sie zurück in ihr Dorf in den Norden Namibias, um sich dort von ihrer Herkunftsfamilie bis zu ihrem Tod pflegen zu lassen. Die Kinder sind in Katutura geblieben, auch wegen der Schule. Der Vater, der in der Nachbarschaft wohnt, ist arbeitslos, alkoholkrank und keine Stütze für die Kinder. Mit der Gefriertruhe und dem Farbfernseher der Tante betreiben die Mädchen ein kleines Geschäft: Sie leihen DVDs aus und organisieren in ihrem Haus ein Kino, das von Nachbarn, die ein kleines Eintrittsgeld zahlen, besucht wird. Aus der Gefriertruhe verkaufen die Mädchen selbsthergestelltes 39 Obwohl education beinahe wie ein Heilsversprechen in aller Munde ist, werden de­ struktive Konsequenzen der Schule von vielen Namibiern (insbesondere von Älteren und Bauern) sehr deutlich wahrgenommen und formuliert. Ein älterer headman erklärt z.B.: »Die Kinder halten sich heute für gebildet, aber ich kann die Früchte nicht erken­ nen. Unsere Felder werden immer kleiner, weil die Kinder viel weniger als Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Oft kommen die Kinder absichtlich spät von der Schule nach Hause, weil sie keine Lust haben, auf dem Feld zu helfen. Die meisten machen aber gar nicht ihren Schulabschluss, sondern brechen nach der 7. Klasse ab [viele Familien können sich die Schulgebühren, die ab der weiterführenden Schule anfallen, nicht leisten]. Dann hängen sie in den Kneipen herum und suchen dort nach Arbeit. Wir beschäftigen inzwischen junge Viehhirten aus Angola. Dort ist der Schulbesuch nicht so verbreitet. Allerdings haben wir das Problem, dass diese Jungen unsere Mädchen schwängern.« (Eigene Übersetzung des engl. Zitats). Workshop mit Kleinbauern in der Oshana Region im April 2014 im Kontext des Forschungsprojekts »Saatgut und Sozialsystem« (vgl. den Beitrag von Metzger/Dohr/Kumria in diesem Band). – Dass die Schule ein wesentlicher Faktor für den gesellschaftlichen Wandel im nachkoloni­ alen Afrika darstellt, hat auch Erdmute Alber (2013) beschrieben. Eine radikale Kritik der Schule hat Ivan Illich formuliert (1972). 40 Besuche in dem Kinderhaushalt fanden im Rahmen des DFG­Forschungsprojekts »AIDS­Waisen« (Gronemeyer/Fink/Erb) bei mehreren Forschungsaufenthalten statt. 41 Name fiktiv.

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Wassereis mit Apfelaroma, das sie im Supermarkt kaufen. Mit ihren Einkünften finanzieren sie Essen, Wasser, Elektrizität und Schulgebühren. Lovisa’s Schulweg beträgt etwa eine Stunde. Wenn sie nach Hause kommt, kocht sie für sich und die beiden Schwestern Maisbrei, manchmal gibt es etwas Gemüse dazu. Die Tante hat die Nichten bei sich aufgenommen, weil sie alleine nicht sicher wären vor Einbrüchen und Vergewaltigungen. Die Ernsthaftigkeit in den Gesichtern der Mädchen ist unübersehbar. Zugleich strahlen sie eine Souveränität und Lebenskraft und eine heitere Gelassenheit aus, die bemerkenswert ist. Die Kinder verfügen über erstaunliche Kompetenzen bei der Bewältigung ihres schwierigen Alltags. Auf die Gefahr einer Stereotypisierung kindlicher Erfahrungen im internationalen Diskurs über afrikanische Waisen – im Kontrast zu den komplexen Lebensrealitäten – haben Helen Meintjes und Sonja Giese aufmerksam gemacht. Sie beschreiben, inwiefern universalisierte Definitionen und Konzepte von Waisenschaft und Vulnerabilität an den lokalen Gegebenheiten vorbei gehen: »Der globale Fokus auf – und die Aktivitäten um – afrikanische Waisen und gefährdete Kinder (als ein international definiertes Konzept), und auf ihre Rechte als Kinder, die ›einer speziellen Fürsorge bedürfen‹ (UNICEF 1990: Artikel 22), übersieht die lokale Wirklichkeit […].« 42

Die internationale Waisen-Definition lässt, so Meintjes und Giese, nicht nur die Bedeutung sozialer Elternschaft im afrikanischen Kontext außer Acht (die Waisendefinition bezieht sich auf den Verlust der biologischen Eltern), mit den Statistiken wird außerdem verschleiert, dass die Mehrzahl der Waisen durchaus noch einen lebenden (biologischen) Elternteil hat: Von den 34 Millionen Kindern und Jugendlichen unter 15 Jahren, die nach UNICEF im subsaharischen Afrika als Waisen gelten (ca. 1 1 % infolge von HIV/AIDS), sind lediglich 15 % (nach biol. Definition) Vollwaisen.43 Die alarmierenden Zahlen liefern jedoch die Begründung für die Vielzahl 42 Meintjes/Giese (2006, p. 408) (Eigene Übersetzung des engl. Zitats) – Auch nach

nationaler (namibischer) Definition bezieht sich Waisenschaft auf den Verlust der bio­ logischen Eltern: »An Orphan is a child who has lost one or both parents because of death and is under the age of 18 years.« (NPOVC) »A vulnerable child is a child who needs care and protection«. Vgl. MGECW (2007, p. 3) und MGECW (2010, p. vii). 43 Vgl. Meintjes/Giese (2006, p. 411); und vgl. UNICEF 2003, p. 49) – Im Jahr 2006 schätzt UNICEF die Zahl der Waisen im Subsaharischen Afrika auf 48 Millionen (ca.

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Abbildung 4 und 5: Kinderhaushalt in Katutura: Lovisa und ihre beiden jüngeren Schwestern betreiben ein kleines Kino und verkaufen Eis. September  2012· Fotos: M. Fink

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an nationalen und internationalen Hilfsprogrammen wie für den globalen und medialen Fokus auf das Waisen-Thema – und sie vermitteln den Eindruck, dass alle diese Kinder hilfsbedürftig seien.44 Zwar antworten die kontinuierliche Erweiterung der Terminologie und die Ausweitung definitorischer Konzepte einerseits auf eine reale Krise, sie können zugleich aber auch als der Versuch einer kategorialen Klientel-Erweiterung im Interesse der Hilfsindustrie gelesen werden. Kristen Cheney schreibt hierzu: »Die UNICEF­Definition eines Waisenkindes, als ein Kind, dessen Vater und/ oder Mutter verstorben ist, verstärkt eine statische, biologische Definition von Familie, während traditionell Waisen im afrikanischen Kontext sozial defi­ niert werden. Die Konsequenz einer biologischen Definition von Waisenschaft ist ein inflationärer Anstieg der Waisenpopulation. Wie um den überwältigenden Statistiken, die auf der UN­Definition von Wai­ sen beruhen, weiter Nachdruck zu verleihen, hat die Hilfsindustrie die Termi­ ni ›orphans and vulnerable children‹ (OVC) und ›children affected by AIDS‹ (CABA) etabliert. Diese Konzepte sollen betonen, dass nicht nur Waisen der Unterstützung bedürfen, sondern auch Kinder, die Not erleiden, weil ihre El­ tern an AIDS erkrankt sind oder die Versorgung der Kinder aus anderen Grün­ den nicht gewährleistet ist. Folgt man diesen Definitionen, dass Kinder einer speziellen Unterstützung bedürfen, wenn ihre nahe oder erweiterte Familie, ihre community, und weiterhin, die Strukturen und Dienstleistungen, die für sie sorgen sollen, überfordert sind infolge der HIV/AIDS­Pandemie, dann ist heute jedes Kind im Subsaharischen Afrika ein CABA und damit per Defini­ tion Adressat für spezielle Dienstleistungen, die jedoch weitestgehend nicht existieren. Dagegen werden lokale Definitionen von Waisenschaft und lokale Antworten auf die Waisenkrise in den internationalen Entwicklungsansätzen nicht nur ignoriert, die Hilfsprogramme wirken zudem zersetzend auf lokale Bewältigungsstrategien.« 45

12 % Mio. Waisen infolge der AIDS­Epidemie). Diese Zahl bezieht sich jedoch auf die Altersgruppe der unter 17Jährigen. Vgl. UNICEF (2006b, p. 2). 44 Vgl. http://www.unicef.org/media/media_45279.html: »For example, UNICEF's ›orphan‹ statistic might be interpreted to mean that globally there are 132 million children in need of a new family, shelter, or care.« 45 Cheney (2013, p. 155) (Eigene Übersetzung des engl. Zitats).

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Auch Jane Shityuwete von der namibischen Organisation LifelineChildline formuliert im Interview: »Das Label OVC kam nicht von uns [aus Namibia], es ist ein Importprodukt der HIV-Industrie.«46 Der Umgang mit Waisen und vulnerable children als »belieferungsbedürftige Mängelwesen« (Ivan Illich), als Entwicklungshilfe- und Management-Projekte, birgt die Gefahr, dass lokale Kräfte und Kompetenzen, auch der Kinder selbst, übersehen und untergraben werden. Dazu gehört auch, dass die Erfahrung des Teilens und Schenkens, als ein wichtiger Bestandteil afrikanischer Sozialisation, bedroht ist, wenn Kinder sich ausschließlich als Empfänger von Hilfe erleben. Darauf hat Agnes Tom, die 201 3 verstorbene Gründerin des Waisenhauses Baby Haven in Katutura, hingewiesen. »Orphans should also learn how to give« (»Auch Waisen müssen das Geben lernen«), sagte Tom im Interview. Immer wieder hat sie die älteren Kinder, die im Baby Haven leben, mit in die community genommen, um erhaltene Sachspenden zu verteilen. Der Baby Haven ist ein kleines, bescheidenes Haus, in dem etwa 15 Babies und Kinder Zuflucht finden können. Kein Drei-Sterne-Waisenhaus. Das war auch nicht das Ideal von Agnes Tom, die der Überzeugung war, dass es »schlecht« sei »in einer Umgebung zu leben, in der alles gegeben ist«.47 »No Disneyland«, sagte Tom, und verweist damit auf die Gefahr einer Kommerzialisierung und Verkitschung der kindlichen Lebenswelt. Insbesondere der Einfl ss wohlhabender und wohlmeinender Spender aus den reichen Industrieländern befördert bisweilen einen Prozess der Herauslösung der Einrichtungen aus den lokalen, lebendigen, sozialen Zusammenhängen. Die Lebenswirklichkeit von Waisen droht dabei zum Kunstprodukt der Hilfsindustrie und seiner Ernsthaftigkeit beraubt zu werden.48 46 Interview mit Jane Shityuwete, LifelineChildline, am 25.03.2013 in Windhoek – Die

Gefährdungen, die von technisch geplanten Bedürfnissen ausgehen, hat Ivan Illich schon in den 1970er Jahren beschrieben. Experten definieren, produzieren und for­ men Bedürfnisse, so Illich, »für die der passende professionelle Dienstleister schon bereitsteht«. Vgl. Illich (2006, S. 59); Während die Befriedigung der geplanten Be­ dürfnisse für die Mehrzahl der Menschen unerreichbar bleibt, werden massenhaft »belieferungsbedürftige Mängelwesen« erzeugt, die dann von Institutionen und Ex­ perten (Schule, Medizin, Entwicklungshilfe etc.) verwaltet werden. Vgl. Illich (1970; 1972; 1979; 1993; 1998). 47 Interview mit Agnes Tom am 20.09.2012 in Windhoek­Katutura. 48 Vgl. hierzu Freidus/Ferguson (2013); Freidus (2011); Dahl (2009).

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Zur Lebenslage von Waisen und ›vulnerable children‹ in Namibia

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2. Kindheit und Elternschaft im Subsaharischen Afrika

»Ein Kind gehört Dir nicht allein.« Soziale Elternschaft in Nordbenin Jeannett Martin

In diesem Beitrag geht es um die Praxis sozialer Elternschaft in Nordbenin.1 Mit sozialer Elternschaft oder Kindspflegschaft (im Englischen meist child fosterage, in neuerer Zeit child fostering, im Französischen oft adoption) ist gemeint, dass Kinder dazu veranlasst werden, bzw. es ihnen ermöglicht wird, für längere Zeiträume, meist über Jahre hinweg, in einem anderen Haushalt als dem ihrer biologischen Eltern zu leben.2 In der afrikabezogenen ethnologischen Literatur wurde die Praxis der Kindspflegschaft für verschiedene gesellschaftliche Kontexte beschrieben. In besonderem Maße gilt das für die Region Westafrika.3 Dabei wurde sie zumeist als ein Charakteristikum des sozialen Lebens ethnisch verfasster Gemeinschaften dargestellt, z. B. für die Gonja und die Bulsa in Nordghana, für die Kotokoli in Togo, für die Baatombu und Fée in Benin.4 Doch wie gestaltet sich die Praxis der Kindspflegschaft in einer Region wie Nordostbenin, in der unterschiedliche sozio-ökonomische, bzw. ethnisch verfasste Gruppen zusammenleben? Welche Praktiken sozialer Elternschaft gibt es dort? Welche Formen und Merkmale lassen sich dabei 1 Die AIDS­Waisenproblematik spielt in meinem Beitrag keine Rolle. HIV/AIDS ist in

Benin zwar ein Thema zivilgesellschaftlicher Debatten und Aktivitäten, jedoch sind die Erwachseneninfektionsraten mit geschätzten 1,2 % (2009) deutlich niedriger, als in betroffenen Ländern des Südlichen und Östlichen Afrika. 2 Alber / Martin / Notermans (2013, p. 5). Ich verwende die Begriffe ›soziale Eltern­

schaft‹ und ›Kindspflegschaft‹ im Rahmen dieses Beitrags synonym. 3 Vgl. Alber / Martin / Notermans (2013). 4 Vgl. z. B. Goody (1982); Meier (1993); Lallemand (1994); Alber (2004); Martin

(2007).

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beschreiben? Gibt es auch Praktiken der Kindspflegschaft, bei der ethnische Grenzen überschritten werden? Diesen Fragen gehe ich im Folgenden nach. Ich beschreibe Muster und Merkmale der Pflegschaftspraxis in verschiedenen ethnischen Milieus im Nordosten Benins. Danach gehe ich auf eine Form interethnischer Kindspflegschaft in der Region ein. Ich beschreibe deren Grundlagen, Merkmale und historische Einbettung und illustriere diese Praxis anhand eines Fallbeispiels. Anhand der empirischen Darstellungen versuche ich zu zeigen, dass es normative Vorstellungen und gelebte Praktiken von Elternschaft gibt, die sich von gegenwärtigen westlichen Vorstellungen in mancherlei Hinsicht unterscheiden.

1. Soziale Elternschaft in Nordostbenin: Normen, Verbreitung, Formen Die folgenden Ausführungen basieren auf empirischen Erhebungen bei Angehörigen von vier in Nordostbenin lebenden Gruppen: Baatombu, Fée (auch: Mokollé), Fulbe und Gando.5 Alle Gruppen können als ethnisch verfasste Gemeinschaften beschrieben werden, auch wenn es sich bei den Gando, als Nachkommen von Unfreien (Sklaven), zunächst vor allem um eine soziale Statusgruppe handelt(e). Gleichzeitig sind Baatombu, Fée, Fulbe und Gando als sozioökonomische Gruppen zu sehen, bei denen einerseits der Regenfeldbau (bei Baatombu, Fée und teilweise Gando) im Mittelpunkt der wirtschaftlichen Aktivitäten steht und andererseits die Rinderzucht (bei Fulbe und Teilen der Gando). Diese in der Region leben-

5 Die dem Beitrag zugrundeliegenden empirischen Daten entspringen einem For­ schungszusammenhang, der am Lehrstuhl Sozialanthropologie der Universität Bay­ reuth angesiedelt ist. Im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten und von mir geleiteten Forschungsprojektes »Kindspflegschaften im Kontext interethnischer Beziehungen, Borgu/Republik Benin« konnte ich zwischen 2009 und 2013 einen Forschungsaufenthalt von zehn Monaten (August 2009 bis Juni 2010) und vier kürzere Forschungsaufenthalte (insgesamt knapp drei Monate zwischen Februar 2011 und Oktober 2013) realisieren. Zudem verwende ich Daten, die im Rahmen eines vorangegangenen DFG­Projektes mit dem Titel »Soziale Eltern­ schaft in Westafrika« (Leitung: Prof. Dr. Erdmute Alber) stammen.

»Ein Kind gehört Dir nicht allein.« Soziale Elternschaft in Nordbenin

den Gruppen sind auf historische, soziale, politische wie ökonomische Weise miteinander verflochten.6

1.1 Normen Soziale Elternschaft ist in diesen vier ethnischen Milieus eine bekannte, anerkannte und häufig gelebte Praxis. Dabei lassen sich zahlreiche Ähnlichkeiten und teilweise gruppenspezifische Unterschiede erkennen, wobei ich vor allem auf erstere eingehe. Die Praxis der Kindspflegschaft beruht in allen betrachteten Gruppen auf sich ähnelnden normativen Grundannahmen: Anders als im aktuellen euro-amerikanischen Raum werden Kinder in der Untersuchungsregion weniger Elternpaaren, sondern in erster Linie Verwandtschaftsgruppen (lineages) zugehörig betrachtet, wobei die Hauptverantwortung für ein Kind, bzw. die Hauptverfügungsrechte an einem Kind, einer bestimmten Einzelperson zugeschrieben werden. Damit in Verbindung steht eine grundlegende Erwartungshaltung, nach der leibliche Väter und Mütter ihre Kinder unter Verwandten teilen sollen, bzw. dass man die Bitte eines Verwandten um ein Kind nicht ablehnt. Die Redewendung »Ein Kind gehört Dir nicht allein«, welche in verschiedenen westafrikanischen Sprachen der Region verbreitet ist, bringt diese Vorstellung über die geteilte Zugehörigkeit von Kindern auf den Punkt. Elternschaft beschränkt sich in dieser Logik also nicht nur nicht auf die leiblichen Eltern, sondern weist diesen, anders als bei uns, teilweise sogar eine nachgeordnete Position in Bezug auf die Verfügungsrechte an Kindern (wie auch die Versorgungspflichten) zu. Allgemeiner gesprochen folgt das Pflegschaftshandeln in den untersuchten Gesellschaften kulturellen Skripten, die auf der Vorstellung der Existenz von Verfügungsrechten über andere Menschen basieren.7 Innerhalb von Verwandtschaftsgruppen werden insbesondere den Brüdern und Schwestern des Vaters, der Mutter und den (auch klassifikatorischen) Großmüttern bzw. Großvätern eines Kindes entsprechende Verfügungsrechte zugeschrieben. In besonderem Maße gelten diese in allen der untersuchten Gruppen für erstgeborene Kinder eines Paares. 6 Vgl. u. a. Lombard (1965); Boesen (1994); Guichard (1996); Kuba (1996). 7 Von Historikern wurden diese normativen Vorstellungen mit dem Konzept der rights

in persons beschrieben. Vgl. Miers/Kopytoff (1977, pp. 7 – 11).

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Von den leiblichen Eltern wird eine weitgehende Meidung in der sozialen Interaktion mit ihren Erstgeborenen erwartet. So werden solche von ihren leiblichen Eltern normalerweise nicht bei ihrem Namen gerufen und sie erfahren in der Öffentlichkeit weniger elterliche Aufmerksamkeit als nachgeborene Geschwister. Bei ländlichen Baatombu, Fée, Fulbe und Gando werden viele, vor allem aber erstgeborene Kinder von Verwandten in Pflegschaft genommen, nachdem sie von ihren leiblichen Müttern abgestillt wurden. Ab da wachsen sie bei einer klassifikatorischen Großmutter, einem Onkel, einer Tante väterlicherseits oder auch bei jemandem aus der mütterlichen Verwandtschaft auf.8 Die Durchsetzung solcher Verfügungsrechte (die nicht immer unwidersprochen bleiben) ist in der sozialen Praxis eine Frage von Aushandlungen, an denen Erwachsene, aber auch Kinder aktiv beteiligt sind. Dabei kommt es gegenwärtig nicht selten zu Konflikten.9

1.2 Verbreitung Bei dem Versuch, das Phänomen in Nordostbenin numerisch zu fassen, ergibt sich auf der Grundlage standardisierter quantifizierender Erhebungen folgendes Bild: Tab.: Pflegschaftsraten in vier ethnischen Milieus in Nordostbenin (ländlicher Raum) (Frauen und Männer über 50 Jahre) Ethnisches Milieu der Befragten (Erhebungs­ jahr, Zahl der Befragten)

Baatombu (2002, n = 186)

Fée (2006, n = 182)

Fulbe (2009, n = 125)

Gando (2009, n = 176)

bei Pflegeperson/Pfle­ geeltern aufgewachsen

52 %

60 %

28 %

23 %

Die Zahlen stellen Durchschnittswerte aus jeweils drei Erhebungsdörfern (bei Gando, Baatombu, Fée) bzw. zwei Erhebungsregionen (bei Fulbe) dar. 8 Für eine quantitative Analyse entsprechender Untersuchungsergebnisse bei den

Baatombu vgl. Alber (2014, S. 396f.). 9 Für das ländliche Fée­Milieu vgl. die Fallstudien in Martin (2007; 2013a und b), für

die Baatombu vgl. Alber (2014, S. 260ff. und S. 362ff.).

»Ein Kind gehört Dir nicht allein.« Soziale Elternschaft in Nordbenin

Sie erheben keinen Anspruch auf Repräsentativität, verweisen jedoch auf ein Muster, nach dem die Praxis der Kindspflegschaft in allen vier Erhebungsgruppen keine Ausnahme darstellt, sondern teilweise die numerische Norm. Am deutlichsten zeigt sich das in den Dörfern von Fée und Baatombu, wo mehr als die Hälfte der Befragten älteren Personen über Pflegschaftserfahrungen verfügt. Doch auch bei den rinderzüchtenden Fulbe und bei den Gando wuchs jeweils rund ein Viertel der Befragten bei anderen als den leiblichen Eltern auf.

1.3 Formen Zumeist werden Kindspflegschaften zwischen Personen gelebt, die als miteinander verwandt gelten und die die gleiche ethnische Zugehörigkeit teilen. Esther Goody bezeichnet diese zwischen Verwandten gelebte Praxis als kinship fostering 10. Die konkreten Arrangements zwischen den Verwandten sind dabei vielgestaltig – in Bezug auf die beteiligten Akteure, die zugrundeliegenden Motive, die Muster der gelebten Praxis und nicht zuletzt in Bezug auf die Konflikthaftigkeit der Aushandlungen. Neben den Geschwistern des Vaters oder der Mutter treten häufig die Großeltern, in erster Linie die Großmütter der Kinder, als Pflegepersonen in Erscheinung. Sie ziehen oft die erstgeborenen Kinder ihrer Töchter oder Söhne auf. Großeltern übernehmen aber auch im Falle von familiären Krisen, wie Trennung oder Tod von Eltern oder auch im Falle von vorehelichen Schwangerschaften einer Tochter, Elternrollen. Charakteristisch für Formen des kinship fostering in der Untersuchungsregion (wie auch in anderen westafrikanischen Kontexten) ist, dass die Verwandten Ansprüche auf die Nachkommen ihrer Geschwister oder erwachsenen Kinder erheben und sie, wenn sie die Zustimmung der leiblichen Eltern, vor allem des Vaters bekommen, sich dann ›ihr Kind‹ von diesen Eltern abholen. Bei den Mende in Sierra Leone fordern Großmütter ihre Enkel selbstbewusst von deren Eltern ein, weil sie sich konkreten Nutzen davon versprechen, so in Form von praktischer Unterstützung bei Arbeiten im Haushalt, in Form von sozialer Anerkennung und emotionaler Zufriedenheit und auch in Form der Möglichkeit, die Eltern

10 Goody (1982).

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des Kindes um Geld und Nahrungsmittel bitten zu können.11 Dies trifft auch in Nordbenin zu, wenngleich sich die Großmütter-Enkel-Beziehungen, wie für die Baatombu beschrieben, dort wandeln: So sind vor allem Städter nicht mehr bereit, ihre Kinder den im Dorf lebenden Großmüttern zu überlassen, weil sie befürchten, dass ihren Nachkommen dadurch Bildungs- und Aufstiegschancen verloren gehen.12 Die Übernahme von Elternrollen ist für Frauen auch in anderen verwandtschaftlichen Rollen von Bedeutung: Nicht nur als Großmütter, auch als Vaterschwestern können sie auf Verfügungsrechte an den Kindern ihrer Brüder zurückgreifen. In den Gesellschaften, in denen die verwandtschaftliche Zugehörigkeit von Kindern über die väterliche Linie definiert ist (patrilineare Gesellschaften) und wo Frauen bei Heirat gewöhnlich in das Gehöft ihrer Ehemänner ziehen (virilokale Wohnfolgeregelung; beides ist in allen vier Gruppen die Norm), können Kindspflegschaften dazu beitragen, die soziale Position einer Frau in ihrem ehelichen Gehöft, in dem sie als Fremde gilt, zu stärken. So kann auch eine verheiratete Frau, die ihre Nichte in Pflegschaft nimmt, daraus für sich verschiedene Vorteile ziehen. Dies zeigen u. a. die Arbeiten von Barbara Meier über eine spezielle Form der Nichtenpflegschaft bei den Bulsa in Nordghana.13 Angesichts der starken Expansion von Schulen und der in den vergangenen Jahren stark gestiegenen Einschulungsraten in Nordbenin hat das so genannte educational fostering 14 in der Untersuchungsregion stark an Bedeutung gewonnen. Gemeint sind Arrangements, in denen Kinder bei Verwandten, zuweilen auch Nichtverwandten untergebracht werden, um ihnen den Schulbesuch zu ermöglichen. Solche Arrangements gibt es mittlerweile zu Tausenden in Nordostbenin, v.a. in städtischen Haushalten und in größeren Dörfern mit Sekundarschulen. Dabei werden die Arrangements im Alltag zwischen Eltern, Pflegeeltern und den (Schul-) Pflegekindern ausgehandelt. Den Pflegepersonen in der Stadt dient die Aufnahme der Kinder vom Land dazu, ihre Verwandtschafts- bzw. freundschaftlichen Beziehungen zu den Eltern der Schüler zu stärken; sie dient ihnen aber auch, weil sie damit von den Kindern Unterstüt-

11 Bledsoe/Isiugo­Abanihe (1989). 12 Vgl. Alber (2003b). 13 Vgl. Meier (1993). 14 Goody (1982).

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zungsleistungen bei Arbeiten im Haushalt bzw. in der Landwirtschaft einfordern können.15

2. Interethnische Arrangements Unter den Schulpflegschaften finden sich zuweilen auch solche, bei denen Kinder bei ethnisch Fremden leben. So geben z. B. manche Gehöftchefs der Fulbe, welche meist abseits der Dörfer siedeln, einzelne Nachkommen in Haushalte von ethnisch Fremden, die in größerer Nähe zur Schule wohnen. Manchmal überlassen auch ärmere Familien einem wohlhabenden Angehörigen einer anderen Ethnie eines oder mehrere ihrer Kinder. So nehmen im Staatsdienst arbeitende Lehrer nicht selten ethnisch fremde Kinder in ihren Haushalten auf, die sie dann auch zur Schule schicken. Aufgrund regelmäßiger Versetzungen stammen verbeamtete Lehrer zumeist nicht aus den lokalen Milieus, in denen sie arbeiten und oft handelt es sich bei ihren Pflegekindern um solche von Personen aus der Region, mit denen die Lehrer in einer persönlichen Beziehung stehen. Manchmal bemühen sich Kinder auch selbst darum, in den Haushalt eines Fremden aufgenommen zu werden. Die Entstehung und Verbreitung interethnischer Schulpflegschaften ist an die Einführung und Verbreitung schulischer Bildung geknüpft. Umgekehrt ist die Verbreitung der Schulbildung in Nordbenin an die Bereitschaft zahlreicher Menschen geknüpft, Kinder in ihren Haushalten aufzunehmen – Kinder, die nicht ihre leiblichen Nachkommen sind. Ohne die Institution der Kindspflegschaft wäre – gerade bei den oft außerhalb von Siedlungen lebenden Fulbe – eine Steigerung der Schülerzahlen im Grund- und Sekundarschulbereich, so, wie sie in den vergangenen Jahren in der Region umgesetzt wurde, gar nicht möglich gewesen.16 Neben solchen Schulpflegschaften gibt es noch eine andere, historisch ältere Form interethnischer Pflegschaftsverhältnisse, die auf spezifischen, in der Region verbreiteten Glaubensvorstellungen beruht. Dabei handelt es sich um eine Form sozialer Elternschaft, die sich zwischen bäuerlichen Familien und Fulbe-Rinderzüchtern etabliert hat. Im Baatombu- und Fée-Mi15 Eine Untersuchung dazu in der Elfenbeinküste stammt von Atto (1996). 16 Vgl. zu diesem Argument Alber (2010); zur Entwicklung der Schülerzahlen in einer

meiner Erhebungsregionen vgl. Amouzo – Glickpa/Sambieni (2013).

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lieu (und darüber hinaus) waren bzw. sind Vorstellungen verbreitet, nach denen Kinder, bei denen sich während der Geburt, bzw. im Kleinkindalter, bestimmte Anomalien zeigen, über besondere spirituelle Kräfte verfügen. Diese Kräfte können die Kinder gegen die eigene Herkunftsgruppe einsetzen und ihr Schaden in Form von Krankheiten und Todesfällen bei Mitgliedern der Gruppe zufügen. Im Baatonum sind solche Unglück verheißenden Kinder als yõnobu (Baat., Sing.: binyobu) bekannt.17 Als Erkennungsmerkmale der Unglück verheißenden Kinder werden u. a. gesehen, dass sie im achten Schwangerschaftsmonat zur Welt kommen, dass es sich um eine Steißgeburt handelt oder dass bei ihnen im Kleinkindalter die ersten Schneidezähne im Oberkiefer statt im Unterkiefer durchbrechen.18 Um drohendes Unheil von den Mitgliedern der Verwandtschaftsgruppe abzuwenden, wurden solche Säuglinge und Kleinkinder zu einem auf deren Behandlung spezialisierten Heiler gebracht, sie wurden getötet oder aber einem in der Region lebenden Rinderhirten der Fulbe überlassen. Den Fulbe wird nachgesagt, dass sie durch die Nähe zu ihren Rindern und durch ihr magisches Wissen gegen die spirituelle Macht der Unglück verheißenden Kinder resistent seien. Die Fulbe betrachten diese Kinder als zusätzliche Arbeitskräfte und zogen sie im Status von Unfreien (Fulfulde: maccube) auf. Sobald sie ins arbeitsfähige Alter gelangten, überließen sie ihnen die schweren und von den Fulbe als unwürdig erachteten Arbeiten.19 Anders als ihren eigenen Nachkommen gaben sie den yõnobu meist keine Rinder weiter, welche bei den Fulbe die Basis für eine zukünftige ökonomische Unabhängigkeit bzw. für eine materielle Altersabsicherung darstellen. Sie verheirateten sie mit yõnobu, die in anderen Fulbe-Gehöften aufwuchsen. Zuweilen versuchen leibliche Baatombu-Verwandte, ihre yõnobu im Jugendlichen- oder Erwachsenenalter gegen eine symbolische Gabe aus den Gehöften der Fulbe auszulösen. Einem solchen Anliegen verwehren sich die Fulbe in der Regel nicht, da sie die verwandtschaftliche Zugehörigkeit der Kinder anerkennen. Jedoch waren bzw. sind nicht alle der betroffenen yõnobu bereit, zu den Verwandten, die sie einst verstoßen haben, zurückzukehren. Dies war der Fall bei Boyi und Mauwne, die im Zentrum des folgenden Fallbeispiels stehen. Beide teilen das Schicksal von Hexenkindern, die in Fulbe-Gehöften der Region aufgewachsen sind. Sie sind heute mit17 Vgl. Hardung (2006, S. 33 und S. 93ff.). 18 Vgl. Sargent (1988). 19 Vgl. Baldus (1977); Hardung (2006).

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einander verheiratet und haben mehrere Nachkommen. Anhand ihrer Geschichte soll diese spezifische Form interethnischer Pflegschaftsarrangements illustriert werden.

2.1 Boyi20 Die heute ca. 35-jährige Boyi war als Baby zu einem Heiler in der Region gebracht worden, nachdem sie die Zeichen eines binyobu zeigte. Als Boyi etwa eineinhalb Jahre alt war, kam eine Fulbe-Frau zu dem Heiler und nahm das Mädchen mit in das Gehöft ihres Ehemannes. Hier wuchs Boyi auf, zusammen mit anderen Kindern, leiblichen wie in Pflegschaft genommenen, darunter auch zwei Mädchen, die, wie sie, wegen ihrer vermuteten Gefährlichkeit weggegeben worden waren. Später wurde Boyi mit Mauwne verheiratet, der in einem Fulbe-Gehöft in der Nähe lebte. Dass ihre inna (Fulfulde für Mutter) und ihr baaba (Fulfulde für Vater) nicht ihre leiblichen Eltern sein sollten, erfährt Boyi erst im Erwachsenenalter. Sie wendet sich an die Mutter, die ihr die Gerüchte bestätigt, ihr aber keine Auskunft über Boyi’s leibliche Eltern geben kann. Letztere waren bis heute nicht in das Fulbe-Gehöft gekommen. Als ich mit Boyi über ihre Gechichte spreche, macht sie deutlich, dass sie sich für die Baatombu-Verwandtschaft, die sie im Kleinkindalter weggegeben hatte, heute nicht mehr interessiert. Angesichts einer aus ihrer Sicht inhumanen sozialen Praxis und der Versorgungsleistungen ihrer sozialen Eltern sind ihr die Letzteren wichtiger: B: »Man hat mir gesagt, in welchem Dorf die, die mich geboren haben, leben. Aber sie interessieren mich nicht.« J: »Warum nicht?« B: (aufgebracht): »Dein Vater, deine Mutter, die dich geboren hat – sie finden ein Argument, dass du nicht gut bist und sie werfen dich weg – vielleicht wollten Sie dich sogar töten! Diese Familie zu suchen würde bedeuten, dass du jene enttäuschst, die dich großgezogen haben.« 20 Die Fallbeispiele stellen eine Rekonstruktion dar, die auf in den Jahren 2009 und

2010 erhobenen Daten beruht. Sie stammen insbesondere aus Interviews und infor­ mellen Gesprächen mit Boyi und Mauwne sowie aus solchen mit Boyi's Pflegemutter, Mauwne's Pflegevater sowie mit einem der leiblichen Söhne des Pflegevaters.

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Gegenwärtig lebt Boyi in einem Fulbe-Gehöft, gemeinsam mit Mauwne, der ihr zum Mann gegeben wurde. Sie hat mehrere Kinder geboren und bestellt mit Mauwne ein eigenes Feld, dass ihnen der Fulbe-Gehöftchef nach der Verheiratung zugewiesen hat. Eines der von Boyi geborenen Kinder, ein Mädchen, lebt seit einigen Jahren bei Boyi’s inna, jener Fulbe-Frau, die sie groß gezogen hat. Nach wie vor pflegt Boyi einen engen sozialen Kontakt zu ihr, wie auch zu ihrem inzwischen an einem anderen Ort lebenden Fulbe-Vater, den sie regelmäßig besucht.

2.2 Mauwne Mauwne ist das Fulfulde-Wort für Freitag. Der Name verweist auf den Wochentag, an dem der Junge als Kleinkind in das Gehöft seines Fulbe-Besitzers kam. Wie Boyi galt er als binyobu, nachdem bei ihm im Kleinkindalter die oberen Schneidezähne vor den unteren sichtbar wurden. Aus Angst vor drohendem Unglück überließen seine Verwandten, Baatombu-Bauern aus dem benachbarten Dorf, das Kleinkind einem ihnen bekannten Pullo (Sing. von Fulbe), der in der Umgebung des Dorfes siedelte. Eine Ehefrau des Pullo hatte Zwillinge geboren, zwei Jungen, von denen einer gestorben war. So zog die Fulbe-Frau ihren leiblichen Sohn auf und kümmerte sich zudem um das fremde Baatombu-Kind. Mauwne, der heute 45 Jahre alt ist, erfuhr im Alter von etwa neun Jahren von Kindern aus der Nachbarschaft, dass die Frau, die er bis dahin für seine Mutter hielt, nicht seine leibliche Mutter ist und dass er mit dem Jungen, als dessen Zwillingsbruder er sich hielt, nicht verwandt sein sollte. Nachdem ihn die Großmutter über seine Baatombu-Ursprungsfamilie aufklärte, wendete er sich an seine Fulbe-Mutter, um mit ihr darüber zu sprechen. Auf meine Frage nach dem Inhalt dieses Gesprächs macht Mauwne deutlich, dass auch er seine soziale Mutter als die für ihn bedeutsamere hält: J: »Was hast du deiner Mutter gesagt, als du diese Geschichte erfahren hast?« M: »Ich habe ihr gesagt: ›Du warst es, die mich aufgezogen hat! Du hast mich akzeptiert, während die, die mich geboren hat, mich verstieß. Du hast mich behalten. Deshalb werde ich dich nach wie vor als meine Mutter betrachten.«

»Ein Kind gehört Dir nicht allein.« Soziale Elternschaft in Nordbenin

Abbildung 1: Kinder im Gehöft von Mauwne’s Pflegevater: Wer ist Pullo, wer Gando? Wer ist leibliches und wer ist Pflegekind? · Foto: J. Martin, 2010 Mauwne lebt seit nunmehr über vier Jahrzehnten im Gehöft seines Pullo-Vaters, inzwischen mit zwei Ehefrauen und insgesamt zehn Kindern. Letzterer hatte sich um seine Verheiratung gekümmert und ihm Felder zugewiesen, von denen er sich, seine Frauen und Nachkommen ernährt. Anders als die älteren leiblichen Söhne des Pflegevaters bekam Mauwne jedoch kein einziges Rind von seinem Vater. Und bei Zeremonien im Gehöft wie Hochzeiten bleiben bestimmte Tätigkeiten, wie das Ausnehmen der geschlachteten Tiere, für Mauwne reserviert. Auch Mauwne fühlt sich der Fulbe-Gehöftgemeinschaft stärker verbunden als seinen leiblichen Baatombu-Verwandten. Anders als Boyi lernte Mauwne jedoch seine im Nachbardorf lebende Baatombu-Familie als Jugendlicher kennen. Eine leibliche Schwester war vor Jahren in das Gehöft des Fulbe-Vaters gekommen und hatte den Gehöftchef darum gebeten, Mauwne seinen Baatombu-Verwandten vorstellen zu dürfen. Mauwne folgte der unbekannten Schwester, allerdings nur aus Respekt vor seinem Fulbe-Vater, der ihn dazu drängte. Im dörflichen Baatombu-Gehöft wird er dem leiblichen Vater, der leiblichen Mutter und Geschwistern vorgestellt. Überwältigt ist Mauwne von dieser Begegnung nicht – im Gegenteil. Er macht den Blutsverwandten deutlich, wo er selbst sein Zuhause verortet; wen er als seine ›echte‹ Verwandtschaft sieht:

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JM: »Was hast du den Verwandten im Dorf gesagt, als du wieder gegangen bist?« M: »Ich habe ihnen gesagt: ›Gut, ich bin gekommen und habe euch kennen gelernt. Aber ihr solltet wissen, dass ich niemals hier leben werde. Ich werde bleiben, wo ich aufgewachsen bin. Dort gefällt es mir. Hier werde ich nicht bleiben.‹«

Im Alltag spricht Mauwne Fulfulde, die Sprache der Fulbe. Zwar versteht er Baatonum, die Sprache der Blutsverwandten, doch spricht er sie nur ungern. Der Kultur der Baatombu fühlt er sich, wie auch seine Frau, fremd. Beide betrachten sich als Fulbe, auch wenn diese subjektiv gefühlte Zugehörigkeit von vielen Baatombu und Fulbe, die sie als Gando sehen, nicht anerkannt wird. Geschichten wie die von Boyi und Mauwne sind keine Seltenheit im Beniner Borgu. Das beschriebene Muster interethnischer Pflegschaftsarrangements ist ein Element der historisch gewachsenen Beziehungen zwischen (freien) Bauern und (freien) Fulbe und der soziale Status der Gando in der Region wird in vielen Fällen auf ein solches interethnisches Pflegschaftsarrangement zurückgeführt. Die Vorstellungen über die Unglück verursachenden Kinder existierte schon vor Einwanderung der Fulbe in die Region im 18. Jahrhundert.21 Die Praxis interethnischer Kindspflegschaften hat sich im Zuge ihrer Einwanderung und der Herausbildung einer komplementären Arbeitsteilung etabliert.22 In den vergangenen Jahrzehnten ist diese Form interethnischer Kindspflegschaft stark zurückgegangen. Dies ist in erster Linie eine Folge der Aktivitäten lokaler, oft aus dem westlichen Ausland finanzierter, Nichtregierungsorganisationen, die sich der Bekämpfung der Praxis und der daran geknüpften Glaubensvorstellungen verschrieben haben. Gegenwärtig trauen sich nur noch wenige bäuerliche Familien, ihre als gefährlich erachteten Kinder als solche öffentlich zu machen, sie einem Heiler oder einem Fulbe-Rinderzüchter zu überlassen oder sie gar zu töten.

21 Vgl. zu dieser Migration Bierschenk (1993). 22 Aus der Gruppe von Unfreien, zu denen die Unglück verheißenden Kinder zählen, ist eine zahlenmäßig und auch ökonomisch bedeutsame Gruppe geworden, die sich mittlerweile auch als ›ethnische‹ Gruppe versteht: Unter Berufung auf eigene ›kultu­ relle‹ Merkmale grenzen sich die Gando von anderen Gruppen in der Region ab bzw. kämpfen um staatsbürgerliche Rechte. Vgl. Hardung (2006); Hahonou (2011).

»Ein Kind gehört Dir nicht allein.« Soziale Elternschaft in Nordbenin

3. Zusammenfassung Die Überlassung von Kindern an andere Personen als die leiblichen Eltern stellt ein charakteristisches Merkmal des sozialen Zusammenlebens in Nordbenin dar. Kindspflegschaften sind jedoch kein spezifisches kulturelles Merkmal scheinbar homogener ethnischer Gemeinschaften. Vielmehr kann die Praxis als Ausdruck von historisch verankerten normativen Vorstellungen der Übertragbarkeit von Verfügungsrechten an Kindern (und damit verbundene Versorgungsansprüche) gesehen werden. Solche Rechte (und Pflichten) beziehen sich in der Untersuchungsregion auf Angehörige der gleichen Verwandtschaftsgruppe und Ethnie, seltener auf Nichtverwandte, manchmal auch auf ethnisch Fremde, wie ich u. a. am Beispiel der yõnobu gezeigt habe. Die verschiedenen, sich wandelnden Praktiken der Kindspflegschaft sind ein bedeutsames und vielgestaltiges Element sozialen Zusammenlebens. Die ihnen zugrundeliegenden normativen Vorstellungen von Elternschaft unterscheiden sich grundlegend von solchen, die den leiblichen Eltern eine zentrale Rolle bei der Sicherung des Aufwachsens von Kindern zumessen. Das Beispiel aus Nordbenin zeigt, dass unsere eigenen Vorstellungen über Elternschaft und das ›richtige‹ Aufwachsen von Kindern nur eines unter verschiedenen Modellen ist.

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Jeannett Martin

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»Ein Kind gehört Dir nicht allein.« Soziale Elternschaft in Nordbenin

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Hauskinder – Großmachkinder – Logierkinder: Die Aufnahme von Kindern als Ressource im Kontext sozialer Sicherung Sabine Klocke-Daffa

1. Kindspflegschaften als Ressource Jenseits der Frage, ob es ein Menschenrecht auf soziale Sicherheit gibt, dem moderne Nationalstaaten verfassungsrechtlich und sozialpolitisch zu entsprechen haben,1 existieren informelle Institutionen, die in der Praxis häufig die verlässlichere Form der Sicherung sind. Dazu gehören Pflegschaftsverhältnisse für Kinder. Die Institution der Kindspflegschaft (engl. foster care) ist in Namibia wie in vielen anderen afrikanischen Ländern ein Mittel der sozialen Sicherheit, aber zugleich ein integraler Bestandteil kulturspezifischer Lebensentwürfe und Sozialisationsmuster. Millionen von Kindern verbringen ihre Kindheit ganz oder teilweise in der Obhut anderer Personen als ihrer eigenen Eltern. Pflegschaften haben viele Funktionen – dazu gehören die ökonomische Absicherung von Individuen ebenso wie die Integration sozialer Einheiten.2 Mittels der Zirkulation von Kindern zwischen Familien und Haushalten können bestehende Beziehungen gestärkt oder neue geschaffen werden, Krisen überbrückt, staatliche Defizite ausgeglichen und persönliche Bedürfnisse ganz unterschiedlicher Art befriedigt werden. Pflegschaften können zugleich ein Bestandteil der gesellschaftlichen Ordnung sein. Sie stel1 Van Langendonck (2007). 2 Für Westafrika s. etwa 1) Alber (2014) (»Zirkulation von Kindern«, S. 73 – 80;

»Delegation von Elternschaft«, S. 65 – 67); 2) Alber / Martin / Notermans (2013).

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len damit eine Ressource im Sinne einer gesellschaftlichen Grundlage dar, mittels derer die soziale Kohäsion gestärkt oder aufrechterhalten werden kann,3 die aber auch Raum für individuelle Handlungsstrategien lässt und nicht unbeeinfl sst von den je besonderen historischen und machtpolitischen Einfl ssfaktoren bleibt. In einer Gesellschaft wie die der Nama in Namibia, um die es in diesem Beitrag gehen soll, in der sich Individuen und Kollektive ganz wesentlich durch religiös legitimierte reziproke Austauschbeziehungen definieren,4 sind Pflegschaften eine Form von sozialem Kapital. Es wird innerhalb von strukturell eingebetteten Netzwerken eingesetzt,5 die soziale, ökonomische, politische und kosmologische Implikationen aufweisen. Sie machen das Individuum erst zu einer sozialen Person, haben aber ganz unzweifelhaft auch materielle und politische Funktionen. Auf dieses Kapital greifen Menschen zurück, um gesellschaftlichen Erwartungen gerecht zu werden und um persönliche Ziele zu erreichen oder sich individueller Verpflichtungen zu entledigen. Unter schwierigen externen Bedingungen, wie sie in Namibia derzeit gegeben sind und durch die AIDS-Pandemie noch verstärkt werden,6 können Pflegschaften zur Versorgung von Kindern überlebenswichtig sein. Doch die Notwendigkeit allein erklärt nicht, warum so viele Kinder bei anderen als ihren eigenen Eltern aufwachsen – auch dann, wenn es sich nicht um vulnerable children7 handelt. Die Institution der Kindspflegschaft ist nicht nur aus der Not heraus geboren.

3 Die Autorin folgt damit der Definition von RESSOURCEN des aktuell laufenden

Sonderforschungsbereichs 1070 RessourcenKulturen an der Universität Tübingen, dessen Mitglied sie ist. 4 Klocke­Daffa (2001). 5 Zu Netzwerken als soziales Kapital s. Henning (2010); Giordano (2008, S. 48). 6 Klocke­Daffa (2009). 7 Die Zahl der Waisen und anderer gefährdeter Kinder in Namibia (engl. orphans and

vulnerable childen, kurz OVC) wird in offiziellen Publikationen unterschiedlich ange­ geben. Nach der von namibischen Regierungsinstitutionen verwendeten Definition gilt als OVC ein Kind »under the age of 18 whose mother, father or both parents and primary caregiver has died, and/or is in need of care and protection« (National Policy on Orphans and Vulnerable Children 2004). Zu dieser Gruppe zählten im Jahre 2006 rund 28 % aller namibischen Kinder (s. Center for Global Health and Development 2009, 1). Nach den aktuellen Angaben des Census von 2011 (erschienen in 2012) sind dagegen ›nur‹ 13 % aller Kinder in Namibia Halb­ oder Vollwaisen. Für die Regionen Hardap und Karas belaufen sich die Zahlen auf 10,3 % bzw. 9,9 %, vgl.

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Kulturelle Grundlagen sind nie monolithische Blöcke, die so und nur so schon immer bestanden haben oder irgendwann als fixe Einheiten vorhanden waren, über die dann plötzlich die Moderne hereinbrach. Kulturen sind dynamische Ganze, die sich ständig verändern, in denen immer wieder Traditionen über Bord geworfen werden und Neues aufgenommen wird, die auch nicht von allen in gleicher Weise mitgetragen oder von allen geteilt werden. Kulturelle Grundlagen unterliegen kontinuierlichen Veränderungsprozessen durch Individuen und Kollektive und können letztlich auch von Wissenschaftlern nur interpretiert werden. Dennoch impliziert Kultur mehr als die Aushandlungsstrategien von Akteuren. Kulturen sind Bedeutungssysteme, die Menschen einen Orientierungsrahmen für ihr Handeln und Denken bieten. Normative Verhaltensgrundlagen, Glaubensvorstellungen und Werte können für diejenigen, die sich ihnen verpflichtet fühlen, bindend sein, was nicht bedeutet, dass sie kontinuierlich befolgt oder auch nur gutgeheißen würden. Sie lassen Spielraum für sozial verhandelte Variationen, aber auch für individuelle Strategien, die ganz unterschiedlichen Bedürfnissen entsprechen. Zugleich spielen externe Einfl ssfaktoren durch politische Maßnahmen oder Versäumnisse eine Rolle, die das Leben der Akteure tangieren. Struktur und Handlungsfreiheit sind also keine Gegensätze, sondern sind dynamisch aufeinander bezogen, wie in sozial- und kulturwissenschaftlichen Studien vielfach nachgewiesen ist.8 Im Falle von Pflegschaften für Kinder wird das besonders deutlich. Im Folgenden soll eruiert werden, inwieweit Pflegschaftsverhältnisse eine soziale Ressource bilden, um die Frage beantworten zu können: Warum wird die Aufnahme von Kindern von Einzelpersonen überhaupt angeboten – auch in größerer Zahl, auch bei nicht-ausreichend vorhandenen Subsistenzmitteln und auch dann, wenn die Kindeseltern durchaus in der Lage sind, sich um die eigenen Kinder zu kümmern? Bezogen auf die daraus folgenden Konsequenzen für zukünftige sozial-politische Maßnahmen zur Verbesserung der Situation von gefährdeten Kindern wird zugleich eine Hypothese formuliert: Die Bewältigung der OVC-Krise in Namibia wird nur gelingen, wenn die kulturellen Dynamiken der Sozialisation Berücksichtigung finden. h ttp://www.nsa.org.na/files/downloads/Namibia %202011 %20Population %20 and %20Housing %20Census %20Main %20Report.pdf (Angaben auf S. 56). 8 Vgl. Sewell (1992); Schnegg (2010).

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2. Ausgangssituation in Namibia Die allgemeine soziale und ökonomische Situation in Namibia zeigt rund 25 Jahre nach der Unabhängigkeit, dass mehr als 60 % der Bevölkerung an oder unterhalb der Armutsgrenze leben.9 Arme Namibier leben sowohl auf dem Lande als auch in den Townships der Städte, wie in Katutura, am Rande von Namibias Hauptstadt Windhoek, wo die Ansiedlungen wegen der anhaltend hohen Land-Stadt-Migration kaum noch zu kontrollieren sind. Rund 50 % der Erwachsenen gelten in Namibia als arbeitslos10 – dies in einem Land, das bei einer Größe von rund 800.00 qkm nur 2,3 Millionen Einwohner hat und keineswegs zu den least devoloped countries in der Welt gehört, sondern in den internationalen Statistiken als Land mit mittlerem Einkommen gilt, laut UN als upper middle-income country 11 . Namibia verfügt über sehr viele Bodenschätze (Diamanten, Gold, Kupfer, Silber und Uran), über Einnahmen aus Landwirtschaft, Fischerei und in steigendem Maße aus dem Dienstleistungssektor, insbesondere aus dem Tourismus. Nur eine kleine soziale Schicht profi iert bisher davon. Laut Internationalem GINI-Index ist Namibia schon seit Jahren das Land mit den weltweit größten Unterschieden zwischen den höchsten und den niedrigsten Einkommen. Nirgendwo in der Welt ist die Kluft zwischen Armen und Reichen größer. Namibia hat jedoch im Prinzip genügend Mittel, um seine Bevölkerung zu versorgen. Es müsste nicht eine solch große Zahl von Armen und so viele unversorgte Kinder geben, wenn al9 Die Angaben differieren je nach Bemessungsgrundlage. Der Namibia Household Income and Expenditure Survey, durchgeführt durch das Central Bureau of Statistics von 2003/2004 und publiziert im Oktober 2008, kommt zu dem Ergebnis, dass der Anteil der Armen bei 27,6 % liegt, davon leben 13,8 % in absoluter Armut (Central Bureau of Statistics 2008, p. 6). Nach dem Human Development Index (HDI) der UN zu Na­ mibia leben hingegen rund 40 % in »multidimensionaler Armut« (bei der nicht nur das Pro­Kopf­Einkommen gemessen wird), weitere 23,6 % sind permanent oder temporär von Armut bedroht; vgl. den Human Development Report 2013, s. http://hdr.undp. org/sites/default/files/Country­Profiles/NAM.pdf. 10 Statistische Angaben nach Index Mundi (Stand von 2008), http://www.index­

mundi.com/de/namibia/arbeitslosigkeit.html. Lt. Angaben des Census von 2011 soll die Arbeitslosigkeit derzeit nur noch bei 37 % liegen, s. h ttp://www.nsa.org.na/files/downloads/Namibia %202011 %20Population %20 and %20Housing %20Census %20Main %20Report.pdf. 11 Angaben bei United Nations Development Program, s. http://www.na.undp.org/ content/namibia/en/home/countryinfo.

Hauskinder – Großmachkinder – Logierkinder

lein die vorhandenen staatlichen Sicherungsleistungen effizienter eingesetzt würden und die informellen Sicherungssysteme weniger belastet wären. Die Gründe für diese Ungleichgewichte sind vielfältig: soziale Umbrüche, Landfl cht, Modernisierung, zu wenige Arbeitsplätze, ungleiche Verteilung der Ressourcen und die AIDS-Pandemie. Auch ohne AIDS wäre jedoch die sozio-ökonomische Situation des Landes nicht wesentlich günstiger, da sie strukturell bedingt ist. Die Krise hat sie lediglich weiter verstärkt und die Bruchstellen sichtbarer gemacht. Kinder sind davon in besonderem Maß betroffen, zudem werden die Folgen des sozio-ökonomischen Wandels seit der Unabhängigkeit deutlich. Das Modell der erweiterten Familie (extended family), bestehend aus Großeltern, Eltern, Kindern und weiteren Verwandten, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend zugunsten der Nuklearfamilie (nuclear family), die sich auf Eltern und Kinder reduziert, verschoben.12 Das ›Modell Familie‹ ist insgesamt im Umbruch.13 Das kann zur Folge haben, dass verwaiste oder vernachlässigte Kinder nicht mehr jederzeit Aufnahme innerhalb des größeren Familienverbandes finden und an ihren eigenen engeren Kreis von Verwandten verwiesen werden. Wenn dieser überfordert oder schlicht nicht-existent ist, steigt das Risiko für betroffene Kinder, unversorgt zu bleiben. Symptomatisch dafür ist die wachsende Zahl von Straßenkindern wie auch die Zunahme von staatlichen, privaten oder NGO-basierten Hilfsorganisationen für vulnerable children in Namibia. Eine Gleichsetzung von Großfamilie und adäquat versorgten Kindern greift jedoch zu kurz. Die Größe der Familien bzw. der Haushalte ist kein Garant für die Lebensqualität von Kindern. Viele namibische Kinder sind weder Voll- noch Halbwaisen, zählen aber nach allen Kriterien einer kindgerechten Versorgung dennoch zu den vulnerable children, wie umgekehrt manche potentiell gefährdete Kinder gut versorgt sind und sich hinsichtlich ihrer materiellen und sozialen Situation nicht von anderen unterscheiden. Auch die Form und Zusammensetzung der Haushalte ist kein Indiz für die Qualität der Versorgung der darin lebenden Kinder. Bei den Nama und Damara bleibt ein großer Teil der Erwachsenen mit Kindern unver-

12 Fink / Erb / Gronemeyer (2012, S. 68). 13 Zimba / Otaala (1995).

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heiratet,14 was nicht per se der Weg in die Armut ist. Die sog. matrifokalen Haushalte, die von alleinerziehenden Frauen geführt werden, sind zwar potentiell krisenanfälliger als andere Haushalte, können aber durchaus gut situiert sein und eine adäquate Erziehung für die Kinder gewähren.

3. Hauskinder – Großmachkinder – Logierkinder Wenn von den ›kulturellen Grundlagen‹ in Namibia die Rede ist, dann müssen konsequenterweise alle ethnischen Gruppen berücksichtigt werden. Das sind – je nach Klassifikation – rund ein Dutzend: Ovambo, Kavango, Caprivianer, Herero, Himba, Damara, Nama, San, Coloureds und Rehobother Baster, Buren, Deutsche und Tswana. Dieser Text rückt eine dieser Gruppen in den Fokus: Die Nama (oder auch Khoekhoen genannt) gehören zur größeren Sprachgruppe der Khoisan des Südlichen Afrikas, zu denen die Khoekhoen und die San sowie wegen der sprachlichen und kulturellen Ähnlichkeiten auch die Damara zählen. Die namibischen Nama leben heute in allen Teilen des Landes, bewohnen aber mehrheitlich die ruralen Gebiete des Südens der zentralnamibischen Region Hardap und der Region Karas.

3.1 Kulturelle Faktoren der Sozialisation und das Konzept der Person Sowohl in urbanen wie in ländlichen Gebieten sind große Nama-Haushalte mit Kindern und Jugendlichen anzutreffen, von denen viele nicht die eigenen Kinder oder Enkel der Erwachsenen dieser Haushalte sind, sondern temporär oder langfristig aufgenommen im Haushalt verbleiben. Häufig sind Frauen für diese Kinder zuständig, was nicht bedeuten muss, dass sie alleinerziehend sind. Anders als zu erwarten wäre, besteht kein direkter Zusammenhang zwischen der Zahl der aufgenommenen Kinder und dem regulären Einkommen oder der sozialen Stellung des Haushaltsvorstandes oder dem Alter der Erziehungsberechtigten. Relativ wohlsituierte Haushalte mögen ›nur‹ 2 – 3 Kinder aufnehmen, alleinerziehende Mütter, Verwitwete oder Geschiedene können sechs und mehr Kinder zu 14 Schnegg / Pauli (2010).

Hauskinder – Großmachkinder – Logierkinder

sich nehmen, auch wenn sie finanziell nicht gut situiert sind. Selbst ältere Personen, die eigentlich physisch und psychisch kaum noch in der Lage sind, sich um Kinder zu kümmern, bieten von sich aus Erziehungs- und Versorgungsleistungen an. Es stellt sich also zunächst die Frage: Welche und wessen Kinder sind in Nama-Haushalten anzutreffen? In der Nama-Sprache wird begrifflich unterschieden: • Hauskinder (||gâu-| gôan oder oms-|gôan) sind Kinder, die meist vor der Ehe geboren werden (auch ›Vorkinder‹ genannt). Da viele Namafrauen ihre ersten Kinder bereits zwischen dem 16. und dem 18. Lebensjahr zur Welt bringen, gelten diese Kinder als Mitglieder des Hauses ihrer Großeltern (darum Hauskinder) und ziehen häufig nicht zu ihrer Mutter, falls diese später einmal heiratet (kai kai -|gôan = von Großeltern groß gemachte Kinder, auch ||nuri-| gôan = ›Oma-Kinder‹ genannt). • Eigene Kinder ( | gôan): Aus einer Ehe hervorgegangen Kinder, die im Haushalt leben. Allerdings werden oftmals auch die ersten in einer Ehe geborenen Kinder zu den Großeltern gegeben (wenn dort nicht schon zu viele Vorkinder leben). • Großmachkinder = Pflegekinder (oa-!ga-| gôan): Kinder, um die sich die Eltern nicht selbst kümmern wollen oder können, die deshalb kurzfristig oder längerfristig in eine andere Familie gegeben werden. Als Großmachkinder werden auch Adoptivkinder bezeichnet. Begrifflich wird nicht von anderen Großmachkindern unterschieden. Aufnehmende Personen sind oftmals Verwandte, aber auch Nachbarn, Freunde oder Arbeitskollegen der Kindeseltern. • Waisenkinder (!oa-| gôan = ›Trauerkinder‹) sind Halb- und Vollwaisen, welche denselben Status wie Großmachkinder haben. • Logierkinder (|| an!nâ-| gôan) werden in Haushalte gegeben, weil sie in der Nähe zur Schule gehen und keine andere oder keine bezahlbare Unterkunft in der Nähe haben. Sie werden wie andere Großmachkinder im Haushalt behandelt, verlassen aber ihre Gasthaushalte regelmäßig und kehren an Wochenenden und in allen Schulferien zu ihren Familien zurück. Begrifflich wird also nicht primär nach der tatsächlichen biologischen, sondern nach der sozialen Beziehung zum Erziehungsberechtigten unterschieden:

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Abbildung 1: Zwei unverheiratete Schwestern mit Haus-, Großmach- und Logierkindern ihres Haushalts, zu dem weitere Erwachsene gehören. Foto: S. Klocke­Daffa

Hauskinder und insbesondere die von den Großmüttern angeblich verwöhnten Oma-Kinder übernehmen einen Teil des Prestiges, das mit dem Alter ihrer Erziehungsberechtigten einhergeht und können gegenüber ihren eigenen Eltern auch so auftreten; Großmachkinder können je nach sozialer Nähe einen sehr unterschiedlichen Status einnehmen. Waisenkinder mögen nicht viel mehr als einen Schlafplatz und etwas zu essen erhalten, weil es keine sozial einforderbare soziale Beziehung zu ihren Eltern gibt. Die Annahme einer Pflegschaft geht in der Regel mit Erziehungspflichten und der Übernahme des Sorgerechts einher und wird von öffentlichen Stellen wie Schulen, Krankenhäusern oder Sozialämtern auch so registriert. Die jeweils erziehungsberechtigte Person hat dafür zu sorgen, dass die Kinder erzogen und ernährt werden, dass sie regelmäßig zur Schule gehen und die Schulgebühren15 bezahlt werden. Sie erhält im Gegenzug gelegentliche Zahlungen seitens der Eltern oder anderer Ver15 Seit 2013 ist die Primarschule gebührenfrei. Damit entfallen die für viele arme

Haushalte belastenden school funds, zumindest für die jüngeren Kinder.

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wandten der Kinder sowie die staatlichen Zuschüsse, die z.B. für Waisen, Halbwaisen, Behinderte oder sonstige als vulnerable children bezeichnete Kinder gezahlt werden. Jede Person in der Funktion einer ›Mutter‹ oder eines ›Vaters‹ wird auch so angeredet. Wenn sie in fortgeschrittenem Alter ist, wird sie ›Großmutter‹ oder ›Großvater‹ genannt.16 Das klassifikatorische Verwandtschaftssystem der Nama mit seinen gleichen Termini für gleiche Klassen von Personen erleichtert die Wahl des Anrede- und Referenzterminus. Erst bei genauem Nachfragen wird deutlich, welches die biologischen und welches die klassifikatorischen Verwandten sind, wobei auch Nicht-Verwandte mit Verwandtschaftstermini angeredet werden können. Die Übernahme von Erziehungsaufgaben ist in der Regel auf Zeit angelegt: Kinder bleiben vorübergehend bei den Großeltern, kehren dann zu den Eltern zurück und werden später evtl. zu einer Schwester der Mutter geschickt, während ihre eigenen Eltern wiederum Nichten oder Neffen vorübergehend bei sich aufnehmen. Auf diese Weise wechseln Kinder mehr oder weniger häufig die Haushalte und wachsen mit vielen ›Großmüttern‹ und ›Großvätern‹, ›Müttern‹, ›Vätern‹, ›Brüdern‹ und ›Schwestern‹ auf. Vor allem Großeltern werden bevorzugt und wiederholt – auch für längere Zeit – aufgesucht, weil sie aufgrund ihres Alters, ihrer Kompetenz in Erziehungsfragen und ihres Wissens um die kulturellen Traditionen als prädestiniert für diese Aufgabe gelten – sofern sie nicht zu alt und gebrechlich sind. Selbst Kinder, die ganz überwiegend bei ihren eigenen Eltern aufwachsen, werden in den Schulferien regelmäßig zu den Großeltern geschickt.

3.2 Gabentausch und Wertesystem Die Bedeutung von Kindspflegschaften als Gabe und soziale Ressource wird erst vor dem Hintergrund des kulturspezifischen Austauschsystems deutlich. Es ist nicht nur ein informeller sozialer Sicherungsmechanismus, sondern ein kulturelles Ordnungsprinzip, das sich in vielen Bereichen wiederfindet und auch die Situation von Kindern beeinfl sst. 16 ›Fortgeschrittenes Alter‹ ist allerdings relativ. Als ›Großvater‹ oder ›Großmutter‹

können auch Personen im Alter von knapp über 40 Jahren angesprochen werden, wenn sie selbst bereits Großeltern sind.

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Die Nama wie auch andere Khoisan geben einen beträchtlichen Teil ihres verfügbaren Einkommens, ihrer Zeit und ihrer Energie in Form von Gaben an andere Personen weiter. Solche Gaben werden auch kontinuierlich von anderen Personen erbeten, denn alles, was man zum Leben braucht, sich aber nicht leisten kann, darf im Prinzip von anderen erbeten werden: Geld für Miete, Strom und Wasser, Nahrungsmittel oder Kleidung, das Aufladen des Mobiltelefons und Dienstleistungen aller Art, wie etwa Hilfe im Haushalt, Transport zur nächsten Stadt oder Unterstützung im Betrieb. Auch emotionale Zuwendung und Mitleid sind Gaben, solange sie mit konkreten Leistungen verbunden sind. Auf diese Weise können ebenso Personen als Gabe gelten. Eine ältere Person kann darum bitten, dass eine Tochter oder eine Jugendliche zu ihr zieht, um ihr im Haushalt zu helfen; eine Frau, die sich nicht um ihre Kinder kümmern kann, weil sie z.B. AIDS-krank ist oder als Berufstätige keine Person zur Beaufsichtigung ihrer Kinder hat, wird meistens jemanden aus der Familie um Übernahme der Kinder bitten. Umgekehrt können auch Kinderlose erwarten, dass ihnen ein Kind gegeben wird. In der Namasprache gibt es für diese Form des Gebens den Begriff au oder ma (= geben, i.S.v. miteinander teilen). Der Ausdruck ma hê ta ge bedeutet wörtl. »ich wurde gegeben«, d.h. als Großmachkind einer anderen Person übergeben. Der Begriff ≠gan (erbitten) bedeutet so viel wie »fragen«. »Ich gehe fragen« ist die übliche Art, sich Dinge zu besorgen, die man selbst nicht hat. Der auserkorene Geber kann dann kaum nein sagen, denn die Norm lautet »Wenn du hast und jemand kommt fragen, dann musst du geben«17. Solange man etwas zu geben hat, muss gegeben werden, selbst wenn das bedeuten kann, dass am nächsten Tag selbst wieder gefragt werden muss. Meist wird erst einmal abgewartet, ob jemand ›fragt‹, aber oftmals wird auch ohne ausdrückliche Bitte etwas geschickt, insbesondere gekochtes Essen oder auch Geld – heute per Banküberweisung oder per Telefon-Banking.18 Es kann vorkommen, dass an einem Tag freiwillig etwas geschickt wird, dann aber am nächsten Tag dieselbe Sache von derselben Person zurück erbeten wird. Es geht also nicht in jedem Falle primär um ökonomische Notwendigkeiten, sondern um die sozialen Beziehungen, die durch solcherart Austausch in Gang gehalten oder etabliert werden. 17 Klocke­Daffa (2001, S. 219ff.); Klocke­Daffa (2008). 18 Zu Überweisungen s. Greiner (2009).

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Auf diese Weise kann ein Netzwerk von sozialen Beziehungen geschaffen werden, das sehr zuverlässig ist, wenn es regelmäßig gepflegt wird und die Mitglieder im Netzwerk sich am Austausch beteiligen. Die Gegenseitigkeit des Austausches (Prinzip der Reziprozität) ist das »Grundmaterial« aller sozialen Netzwerke.19 Netzwerkpartner müssen nicht notwendigerweise Verwandte aus der engeren oder erweiterten Familie und nicht untereinander verbunden sein. In urbanen Gebieten können auch Nachbarn, Arbeitskollegen oder Mitglieder der Kirchengemeinde komplementär deren Funktionen übernehmen oder sporadisch hinzukommen. Sie sind in vielen Fällen keine permanenten Austauschpartner, sondern »soziale Adressen«20, die lediglich potentielle Kontaktchancen repräsentieren mögen, aber gerade dadurch für Stabilität im Netzwerk sorgen. Im Notfall können sie angesprochen werden oder weitere Beziehungen vermitteln. Verbunden mit dieser Konzeption ist ein System von Geben und Teilen (sharing), welches das Geben positiv bewertet, nicht in erster Linie das Haben. Man hat (auch) um zu geben, nicht um materiellen Besitz oder finanzielle Reserven aufzubauen, wie sie etwa für den Kauf eines Hauses oder die Eröffnung eines Einzelhandelsunternehmens erforderlich wären. Denn dann müssen Ressourcen zurückgehalten werden, die nicht für den sozialen Austausch zur Verfügung gestellt werden können. Es gibt allerdings individuelle Strategien, wie dieser Problematik entgangen werden kann.21 Gefragt, warum überhaupt immer so viel gegeben wird, statt sich um sich selbst zu kümmern, lautet eine häufig gegebene Antwort: »Ich tue das für den HERRN – ich tue das für Gott«, denn es heißt: »Der HERR liebt die Geber« und: »Der Herr sieht das, wenn du nichts gibst obwohl du hast.« Geben und Teilen basiert also auf einem Wertesystem, das religiös legitimiert ist: die Vorstellung, dass etwas zurückzugeben ist für das, was der Einzelne von Gott erhalten hat. Eine Möglichkeit des reziproken Erwiderns göttlicher Gunst besteht in Gaben an Dritte. So kann ein Austauschsystem in Bewegung gehalten werden, das letztlich von einer dritten Instanz legitimiert ist.22 Das erklärt, warum nicht jede Gabe im selben Wert oder überhaupt zurückgegeben werden muss. Subjektiv ist 19 Stegbauer (2010, S. 119). 20 Holzer (2006, S. 156). 21 Klocke­Daffa (2001, S. 284 – 335). 22 Klocke­Daffa (2003).

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ein Ausgleich schon dann erreicht, wenn von irgendeiner Seite etwas zurückkommt. Gaben stellen eine moralische Pflicht dar, ihre Annahme ein soziales Recht. Das wissen die Benefizienten, und so wird es sprachlich auch ausgedrückt: »Du musst mir Geld geben« oder »Du musst mein Kind nehmen«.

3.3 Konzept der Person Diesem Wertesystem entspricht eine spezifische Konzeptualisierung der ganzen Person, nach der Erwachsen-sein nach Maßgabe der akzeptierten sozialen Verpflichtungen definiert wird. Der ›ganz normale Egoismus‹ wird eigentlich nur Kindern zugestanden – schon Jugendliche haben soziale Aufgaben zu erfüllen, bei der Heirat kommt noch einmal eine ganze Familie dazu. Wer nie heiratet, kann seinen gestiegenen Verpflichtungen auch ohne eine angeheiratete Familie nachkommen. Ältere leben vor allem für ihre sozialen Beziehungen und definieren sich über ihr soziales Beziehungsgeflecht, das ein Leben lang aufgebaut und (re-) konstruiert wird. Das sind die kai khoen (wörtl. ›große Leute‹). Sie haben nur wenig materielle Unterstützung anzubieten, bleiben aber Geber im System, können Wissen zu Verfügung stellen und Erziehungsleistungen übernehmen. Auch deshalb akzeptieren sie Kinder in ihren Haushalten. Im Gegenzug erhalten sie von den Kindeseltern oder von einer anderen Person Geld, Lebensmittel, Kleidung, Besuche und Zuwendung. Weil Erziehung vor allem die Aufgabe der Frauen ist, finden sich viele Haushalte von älteren, unverheirateten oder verwitweten Frauen, in denen viele Kinder leben. Manchmal leben Frauen in erweiterten Familien mit erwachsenen Töchtern und Söhnen, die alle in der einen oder anderen Weise für diese Kinder mit sorgen, auch wenn es nicht ihre eigenen sind. Umgekehrt gibt es Kleinfamilien oder Haushalte, die nur aus zwei alleinstehenden Frauen mit ihren Kindern bestehen, die aber durch mehr oder weniger regelmäßige Unterstützungsleistungen andere Haushalte mit versorgen. Es gibt also moderne Kleinfamilien, die sehr traditionell sind, wie umgekehrt viele Großfamilien in mancher Hinsicht aus emischer Sicht eher ›modern‹ handeln, indem sich ihre Mitglieder vorwiegend um sich selbst kümmern und nur zu bestimmten Anlässen familiären Zusam-

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menhalt zelebrieren.23 Kinder stellen in diesem System ein Bindeglied für die Interaktion zwischen den Generationen dar und übernehmen einen wichtigen Part im Austausch. Sie sind jedoch keine willenlosen Objekte der sozialen Strukturen – ebenso wenig wie die Erwachsenen – sondern gestaltende Akteure, welche die Berücksichtigung ihrer individuellen Präferenzen einfordern können.

4. Soziale Normen, individuelle Präferenzen und staatliche Einflüsse Psychologische Studien zu den emotionalen Folgenwirkungen des häufigen Wechsels von Erziehungsbefugten und die Erfahrung des Verlassenwerdens in früher Kindheit stehen für Namibia noch aus. Ob Kinder diese Praxis als traumatisch erleben, kann vorerst nicht beantwortet werden. Sie befinden sich jedenfalls nicht allein in ihrer Situation. Da fast immer andere Kinder um sie herum sind, fällt die Anpassung an veränderte Umstände leichter. Kinder können in vielen Fällen aktiv mit entscheiden, bei wem sie leben wollen, werden zurückgebracht, wenn sie sich nicht integrieren oder können sich umgekehrt weigern, zu ihren Eltern zurückzukehren. Auf diese Weise kann sich ihre ökonomische Situation auch verschlechtern: Waisen mögen zwar in finanziell gut situierten Haushalten aufgenommen worden sein, bestehen aber ggf. darauf, in einen anderen, ohnehin überlasteten und materiell schlechter gestellten Haushalt wegen der anderen dort lebenden Kinder (z.B. ihre Geschwister) aufgenommen zu werden oder bei einer Großmutter auf dem Lande zu bleiben, obwohl die schulischen Möglichkeiten dort beschränkter sind als im urbanen Umfeld. Auch für Eltern und Pflegeeltern sind kulturelle Normen nicht zwanghaft bindend. Viele junge Namafrauen lehnen es ab, ihren Nachwuchs als Hauskinder bei ihren Eltern bzw. der eigenen Mutter zurückzulassen und bestehen darauf, selbst für die Erziehung zu sorgen. Dieses selbstbestimmte Handeln kann jedoch mit Rechtfertigungszwängen und innerfamiliärem Streit einhergehen, denn die sozialen Sanktionen treffen nicht die Mütter, sondern die Großmütter: Sie liefern sich dem Verdacht der Vernachlässigung ihrer erwachsenen Töchter und der Zurückhaltung 23 Klocke­Daffa (2008).

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von Unterstützungsleistungen aus, mithin dem Ruf, eine Gabe verweigert zu haben. Unverheiratete und Alleinstehende haben es ungleich schwerer, ihre persönlichen Bedürfnisse zu artikulieren und durchzusetzen. Vor allem bei Personen mit einem regelmäßigen Einkommen wird argumentiert, dass sie eher als andere in der Lage sein sollten, fürsorgebedürftige Kinder aufzunehmen. Ähnliches gilt für verheiratete Personen mit einem relativ guten Einkommen oder anderen ökonomischen Reserven, etwa aus dem Besitz einer Farm mit Viehherde. Sie haben dann zusätzlich zu ihren eigenen Kindern weitere Kinder als Großmachkinder aufzunehmen. Aufgrund der Praxis der temporären Erziehungsangebote kann bei auftretenden wirtschaftlichen Krisen oder persönlichen Problemen der Erziehungsberechtigten ein Teil der Kinder an andere Personen aus der erweiterten Familie, Nachbarschaft oder Kollegenschaft weitergegeben

Göttliche Instanz

Legitimation

übersoziale Ebene

Soziale Austauschnormen

Kulturelle Normen

soziale Ebene

Individuelle Praxis Präferenzen

Indiv. Bedürfnisse u. Strategien

Aushandlungen

Konflikte

individuelle Ebene

Externe Einflussfaktoren politische Einflüsse

Machtkonstellationen

Legislative Vorgaben

externe Leistungen

extraindividuelle Ebene

Abbildung 2: Ebenen und Einflussfaktoren sozialer Beziehungen im Modell. Entwurf: S. Klocke­Daffa

Hauskinder – Großmachkinder – Logierkinder

werden. Da dieser Personenkreis jedoch in manchen Fällen nicht handlungsfähig oder bereits stark überlastet ist, besteht die Gefahr einer anhaltenden Überforderung von Einzelpersonen und Haushalten. Desorganisation, finanzielle Zusammenbrüche, Eheprobleme und gesundheitliche Beeinträchtigungen können die Folgen sein. Klagen und innerfamiliäre Konflikte über nicht-eingehaltene soziale Pflichten sind alltäglich. Wenig hilfreich ist meist der Verweis auf staatliche Unterstützungsprogramme oder Hilfslieferungen von kirchlichen, nicht-staatlichen und internationalen Organisationen, die zwar akute Notstände lindern, aber keine nachhaltigen Verbesserungen bewirken können. Der Alltag ist ein immer wieder neu auszutarierender Balanceakt im Spannungsfeld von kulturspezifischen moralischen Normen, individuellen Ansprüchen und externen Einfl ssfaktoren (s. Abb. 2).

5. Pflegschaftsbeziehungen als Ressource Manche Personen entwickeln ihre ganz eigenen Strategien, um individuellen Bedürfnissen nachzukommen und sind sich ihrer Position als handlungsmächtige Akteure sehr wohl bewusst. Die Aufnahme von vulnerable children bietet auch die Chance, um: • zusätzliche soziale Beziehungen zu etablieren, die sowohl soziales Ansehen als auch Zugang zu ökonomische Ressourcen versprechen; • eigene, subjektiv empfundene Defizite an sozialem Status oder emotionaler Nähe (z.B. wegen nicht erfolgter oder gescheiterter Ehe, Kinderlosigkeit, Witwenschaft o.a.) zu kompensieren und im Alter nicht allein zu sein; • eigene erwachsene Kinder und andere Sozialpartner zur Übernahme ihrer Verantwortung im Netzwerk zu verpflichten und an das Haus zu binden; • das Ansehen einer moralisch integeren und sozial engagierten Person zu erlangen. Vor allem ältere, unverheiratete, geschiedene oder verwitwete Frauen sind daher durchaus daran interessiert, Kinder in ihren Haushalt aufzunehmen und sie dort zu belassen. Dabei spielt es kaum eine Rolle, ob es sich dabei um solche aus der eigenen Familie, von Nachbarn und Freunden

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Abbildung 3: Verheiratete Lehrerin in ihrem städtischen Haushalt, mit Großmach- und Waisenkindern. · Foto: S. Klocke­Daffa oder um Straßenkinder ohne festes Zuhause handelt. In vielen Gesprächen ist der Einwurf kai kai ta gê = »ich habe [xy] groß gemacht« zu hören – ein nicht ohne Stolz vorgebrachter Hinweis auf erbrachte Erziehungsleistungen. Diese Frauen generieren ihr Prestige und ihr Selbstwertgefühl ganz wesentlich aus ihren Aktivitäten als gute Geberinnen – zu dem Preis, dass sich manche von ihnen permanent überfordern, von anderen ausnutzen lassen und schließlich der gesamte Haushalt unterversorgt ist. Dem kann durch individuell geschicktes Taktieren teilweise entgegengewirkt werden, indem starke Verbindungen nach außen als eher schwache hingestellt werden, um das Netzwerk zu vergrößern oder indem durch bewusste Desinformation hinsichtlich des realen Bedarfs die Kooperationspartner zu kontinuierlichen Gaben animiert werden. Dennoch bleibt latent und real die Gefahr der längerfristigen Unterversorgung bestehen – mit Konsequenzen für Pflegeeltern und Kinder. Pflegschaftsbeziehungen sind somit nicht in jedem Fall ein Indikator für Armut oder ein Symptom für Kinder in Not. Als soziale Ressource sind sie Mittel der Aufrechterhaltung eines gesellschaftlichen Ordnungssystems und bieten dadurch zugleich ein Potential zur Lösung von Krisen, wie sie in Namibia schon durch die alltägliche Armut gegeben sind und

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durch die AIDS-Krise noch potenziert wurden. Dass diese Ressource kein statisches Modell der Krisenbewältigung darstellt, zeigt sich an der Dynamik der Interaktionen und individuell eingebrachten Präferenzen.

6. Optionen für ›vulnerable children‹ Pflegschaften sind hinsichtlich ihrer Verlässlichkeit und Stabilität zwar ein bewährtes Mittel der Versorgung von gefährdeten Kindern und anderen Personen, aber keine Versicherung gegen alle Unwägbarkeiten des Lebens. Kinder, die in Haushalten mit vielen anderen Kindern leben und ›groß gemacht‹ werden, haben keine Garantie auf gute Versorgung, sondern lediglich eine Chance, mitversorgt zu werden, weil ihre Erziehungsberechtigten sich moralisch dazu verpflichtet fühlen, den sozialen Normen ihrer Gesellschaft zu entsprechen. Unabhängig von der AIDS-Krise hat ausgerechnet der so lange erkämpfte politische Umbruch des Landes die Situation vieler Kinder noch verschärft. Denn dadurch wurde vieles möglich, was vorher für den größten Teil der Bevölkerung materiell nicht erreichbar war. Der Geist des Konsums hat mittlerweile auch Namibia erfasst, und das westliche Konzept von Individualität ist durchaus verlockend. Junge Leute wollen mehr für sich selbst behalten, möchten sich nicht mehr hauptsächlich durch ihre sozialen Beziehungen definieren, sondern auch durch das, was sie sich selbst aufgebaut haben. Deshalb wird nicht mehr jedem, der ›fragt‹, gegeben. Es wird weniger an Verwandte mit vielen Kindern im Haus geschickt und nicht jedes bedürftige Kind aufgenommen. Die Folgewirkungen sind allenthalben feststellbar: • potentielle Geber im System ziehen sich zurück; • die mittlere Generation fällt aufgrund der zahlreichen AIDS-Fälle teilweise als Geber und Versorger aus; • das staatliche System ist oftmals ineffizient; • überfüllte Haushalte werden nicht oder nur unzureichend entlastet; • überforderte Erziehungsberechtige können nicht (mehr) abgeben; • gefährdete Kinder finden zwar Aufnahme, sind aber dennoch vernachlässigt.

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Der Einsatz der Ressource Pflegschaft stellt mithin nur eine von mehreren Möglichkeiten dar, die Probleme von vulnerable children anzugehen. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Aus der Perspektive der anwendungsorientierten Ethnologie wäre eine Reihe von Optionen zu prüfen: • Den gefährdeten Kindern ist nicht in jedem Falle damit gedient, dass mehr Waisenhäuser gebaut werden. Für erziehungsberechtigte Frauen mit vielen Großmachkindern in ihrem Haushalt wäre es keine Option, keine Kinder mehr in ihrem Haushalt zu haben. Sie definieren sich über ihre Erziehungsaufgaben. Viel wäre daher gewonnen, bedürftige Haushalte zu stützen, anstatt das System insgesamt zu schwächen. Eine Möglichkeit wäre die Bereitstellung von finanziellen, personellen und organisatorischen Hilfen. • Betroffene sollten in Lösungsprozesse einbezogen werden. Sie sind keine Opfer, die arm, handlungsunfähig und deshalb auch denkunfähig sind, sondern sie sollten selbst entscheiden können, wie sowohl kulturelle Faktoren als auch individuelle Präferenzen und Bedürfnisse zu berücksichtigen sind. Die Realisierung dieser Optionen setzt voraus, dass sowohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene bestimmte Voraussetzungen gegeben sind: • Für einen multikulturellen Staat wie Namibia sind sozial-politische Konzepte auszuarbeiten, welche die kulturelle Diversität des Landes berücksichtigen. Das ist zwar schwierig zu denken, würde aber nicht an finanziellen Mitteln oder am mangelnden Wissen scheitern. Beides steht weltweit in reichlichem Maße zur Verfügung. • Schwierig ist vor allem, die Verantwortlichen in diesem Prozess dazu zu bewegen, die Perspektive zu wechseln und Optionen für mehrgleisige Wege offen zu lassen, anstatt schon vorab festzulegen, was für die vernachlässigten Kinder Namibias richtig und notwendig ist. • Daher müsste die Deutungshoheit für soziale Probleme und die Handlungsmacht zu deren Lösung nicht allein der namibischen Politik und den internationalen Hilfsorganisationen überlassen werden.

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Es bleibt zu hoffen, dass es zuerst und zuletzt stets um die betroffenen Kinder und nicht um ideologische Auseinandersetzungen um den besten Weg in der Sozialpolitik geht. Dazu bestehen reelle Chancen, solange die kulturellen Faktoren im Prozess mit berücksichtigt werden.

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gen Bellers (Hg.): Fremdes Verstehen. Entwicklungspolitische und ethnologische Beiträge. Baden-Baden: Nomos Verlag, S. 1 1 – 40 Klocke-Daffa, Sabine (2008): The Modernity of Traditionalists. Culture Change, Identity and the Impact of the State Among the Namibian Khoekhoen. In: Biesele, Megan / Cornelia Limpricht (eds.): Heritage and Cultures in Modern Namibia: In-depth Views of the Country. Windhoek, pp. 1 74 – 182 Klocke-Daffa, Sabine (2003): »Der HERR ist doch gut«. Zur religiösen Fundierung von Austauschbeziehungen bei Khoekhoengruppen in Namibia. In: Kramer, Dieter u.a. (Hg.): Missio – Message und Museum. Festschrift für J. F. Thiel zum 70. Geburtstag. Frankfurt am Main: O. Lembeck, S. 225 – 236 Klocke-Daffa, Sabine (2001): »Wenn du hast, mußt du geben«. Soziale Sicherheit im Ritus und im Alltag bei den Nama von Berseba / Namibia. Münster: LIT Verlag Schnegg, Michael (2010): Ethnologie. In: Stegbauer, Christian / Häußling, Roger (Hg.): Handbuch Netzwerkforschung, vol. 4. 1 . Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 859 – 867 Schnegg, Michael / Pauli, Julia (2010): Namibische Wahlverwandtschaften: Zur Dualität von Struktur und Handlungsfreiheit in der Verwandtschaftsethnologie. In: Alber, Erdmute (Hg.): Verwandtschaft heute. Berlin: Reimer Verlag, S. 305 – 328 Sewell, William H. (1992): A Theory of Structure. Duality, Agency and Transformation. In: American Journal of Sociology 98, pp. 1 – 29 Stegbauer, Christian (2010): Reziprozität. In: Stegbauer, Christian / Häußling, Roger (Hg.): Handbuch Netzwerkforschung, vol. 4.1 , S. 1 1 3 – 1 22 Van Langendonck, Jef (2007): The Meaning of the Right to Social Security. In: Ders. (ed.): The Right to Social Security. Antwerpen/Oxford: Intersentia, pp. 3 – 12 Zimba, Roderick Fulata / Otaala, Barnabas (1995): The Family in Transition: A Study of Childrearing Practices and Beliefs Among the Nama of the Karas and Hardap regions of Namibia. Windhoek: University of Namibia

Kind unter Kindern. Geschwisterbeziehungen in Fransfontein, Namibia1 Julia Pauli

Wer kümmert sich um die Kinder? Im April 2004 beobachteten Michael Schnegg und ich, wie eine Gruppe von Nachbarskindern im Vorschul- und Grundschulalter, die am Abend vorher nicht nach Hause gekommen waren, in das Dorf Fransfontein im Nordwesten Namibias zurückkehrten. Zu dem Zeitpunkt lebten wir bereits seit fast einem Jahr in Fransfontein und führten eine ethnographische Feldforschung zu kulturellen und historischen Dynamiken demographischer Prozesse durch. Die Fransfonteiner Region ist dünn besiedelt. Verlässt man das Dorf, ist man sehr schnell und für lange Zeit alleine. Die Kinder waren an einem Tag zu einer entlegenen Farm des kommunalen Umlands gelaufen, dort über Nacht geblieben und am darauff lgenden Tag zurückgekehrt. Nach meinem Empfinden wurden die Kinder bei ihrer Rückkehr ausgesprochen gelassen begrüßt. Ihre Mütter, Väter 1 Ich danke Michaela Fink, Reimer Gronemeyer und Julia Erb für die Einladung zur

Tagung »Who takes care? Waisen und vulnerable children im Subsaharischen Afrika« (Universität Gießen, 16.­18.01.2014). Ebenfalls danken möchte ich allen Tagungsteil­ nehmerInnen für Ihre wichtigen Anmerkungen zu meinem Vortrag. Die DFG hat das Projekt im Rahmen des TP C10 des SFB 389 gefördert. Michael Schnegg hat wesent­ lich zur Entwicklung der hier dargestellten Ideen und Analysen beigetragen. Ohne die Großzügigkeit und das Vertrauen der Fransfonteiner Bevölkerung wäre meine Arbeit nicht möglich gewesen. Dafür bin ich sehr dankbar.

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Abbildung 1: Fransfontein · Foto: T. Davis

und weitere Verwandte freuten sich, dass die Kinder wieder da waren. Darüber hinaus widmeten sich die Erwachsenen aber nicht weiter den Kindern. Ich stellte mir vor wie es wäre, wenn Kinder diesen Alters auch nur für wenige Stunden in Köln, dem Ort, an dem wir damals lebten, ›verschwunden‹ wären. Verstärkt wurde meine Irritation ob des Wohls der Kinder auch durch den Umstand, dass Michael Schnegg und ich die Forschung gemeinsam mit unserer damals gerade zwei Jahre alten Tochter Liliana durchführten. Da uns die Beobachtung nicht losließ, begannen wir, Erwachsene und Kinder zu fragen, ob es denn in Fransfontein üblich sei, Kinder über längere Zeit einfach alleine zu lassen. Unisono war die Antwort, dass Kinder durchaus auch über längere Zeit auf sich gestellt sein könnten. Aber wie wir denn eigentlich auf die Idee kämen, dass die Kinder alleine seien? Ein Kind wäre doch niemals alleine in Fransfontein! Immer wären andere Kinder, oft Geschwister, bei ihm oder bei ihr und würden sich kümmern. Diese Episode zeigt sehr deutlich, wie unterschiedlich die Wahrnehmung der Vulnerabilität von Kindern sein kann. Während wir implizit davon ausgegangen waren, dass längere Zeit auf sich gestellte Vorschulund Grundschulkinder ohne eine erwachsene Person, in der Regel Mut-

Kind unter Kindern. Geschwisterbeziehungen in Fransfontein, Namibia

ter oder Vater, gefährdet und verletzbar sind, sahen dies unsere Fransfonteiner InformantInnen nicht so. Vielmehr war ein Kind dieses Alters für unsere InformantInnen erst dann gefährdet, wenn es wirklich alleine war. War es aber Teil einer sich gegenseitig helfenden Gruppe an Kindern, wurde die Situation als nicht problematisch wahrgenommen. Unsere Perspektive auf die Vulnerabilität von Kindern ist auch Ausdruck eines westlichen Blicks auf Kinder (und Eltern). Vor über 30 Jahren haben die Ethnologen Thomas Weisner und Ronald Gallimore darauf hingewiesen, dass die Versorgung von Kindern viel zu sehr nur aus einer intergenerationalen Perspektive untersucht wird. Im Mittelpunkt steht die Interaktion zwischen Eltern und Kindern. Die gerade in nicht-westlichen Regionen zentrale Bedeutung des Versorgens unter Kindern wird übersehen: »Perhaps for social and historical reasons, mother­child dyadic analyses flou­ rish in Western, industrialized nations; where mothers have been the primary caretakers of children; other caretakers – such as siblings or other kin – are and have been in recent decades less available here than almost anywhere else in the world. Socialization in relatively small nuclear families has been ex­ amined to the exclusion of the other patterns that are characteristic of many cultural and social groups.«2

Mit der Entwicklung der sogenannten New Kinship Studies in der Ethnologie3 ist die Frage des Verwandtseins und Verwandtwerdens jenseits von genealogischen, oft auch als ›biologisch‹ bezeichneten, Eltern-Kind-Beziehungen allerdings stark in den Mittelpunkt gerückt. Dementsprechend wird nun auch eine größere Bandbreite an Verwandtschaftsbeziehungen, etwa Geschwisterbeziehungen, verstärkt untersucht.4 Verwandtsein (engl. relatedness) ist in dieser Forschungsrichtung nicht nur eine Frage genealogischer Verbindung. Vielmehr sind diejenigen Personen verwandt, die sich aufgrund geteilter Substanzen und/oder Erfahrungen als verwandt fühlen. Dabei spielt das gemeinsame Sorgen und Versorgen (engl. caring) eine wichtige Rolle.5 Unklar ist allerdings, wieviel Teilen 2 Weisner/Gallimore (1978, p. 170); vgl. auch Goldring (1989). 3 Als Überblick vgl. Alber et al. (2010); Carsten (2004). 4 Z.B. Alber et al. (2013). 5 Borneman (2001).

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und wieviel Sorge letztendlich gemeinsam erlebt werden müssen, damit sich zwei Personen als verwandt fühlen. Zum Beispiel kann anhand der obigen Beobachtung der zurückkehrenden Kinder die Frage gestellt werden, ob – und wenn ja wie – sich diese Kinder als verwandt fühlen. Vor diesem Hintergrund möchte ich in meinem Beitrag untersuchen, welche Kinder sich in Fransfontein in welcher Art und Weise als verwandt wahrnehmen. Dabei werde ich mich auf Geschwisterbeziehungen konzentrieren. Wie ich zeigen werde, ist diese verwandtschaftliche Kategorie in Fransfontein größer und komplexer als in vielen anderen kulturellen Kontexten. Um die Vulnerabilität von Kindern in Fransfontein und wahrscheinlich auch im weiteren Namibia zu ermessen, erscheint es mir notwendig, diese wichtige Dimension sozialen Lebens genauer zu beschreiben und zu verstehen. Wie ich des Weiteren zeigen möchte, haben die in der Kindheit gebildeten Geschwisterbeziehungen oft auch im späteren Lebensverlauf eine zentrale Bedeutung.6 Im nächsten Abschnitt werde ich kurz den Hintergrund meiner Forschung und den Forschungsort beschreiben. Daran anschließend skizziere ich Bedeutung, Terminologie und Demographie von Geschwisterbeziehungen in Fransfontein. Vor dem Hintergrund der komplexen und vielfältigen Möglichkeiten, Geschwisterbeziehungen in Fransfontein zu leben, werde ich dann im letzten Abschnitt analysieren, warum bestimmte Beziehungen als wichtiger und zentraler als andere empfunden werden.

Feldforschung in Fransfontein, Nordwest Namibia Die hier vorgestellten Ergebnisse basieren auf mehr als 18 Monaten gemeinsamer Feldforschung mit Michael Schnegg in Fransfontein seit 2003. In diesem Rahmen haben wir sowohl qualitative wie auch quantitative Daten erhoben.7 Für den hier diskutierten Kontext sind vor allem unsere Ergebnisse Teilnehmender Beobachtung und biographische Interviews von Bedeutung. Wie auch Thomas Weisner und Ronald Gallimore bemerken, stellt die Untersuchung von Kindern eine besondere Herausforderung dar: 6 Pauli (2013). 7 Vgl. Pauli (2009), (2011), (2012), (2013); Schnegg/Pauli (2010); Schnegg et al. (2013).

Kind unter Kindern. Geschwisterbeziehungen in Fransfontein, Namibia

»Child caretakers cannot readily be interviewed in the same ways, they cannot easily fill out standardized questionnaires, and their responsibilities for child care can only be understood in the context of the home setting and interac­ tion with other caretakers.« 8

Auch wir haben keine Fragebögen mit Kindern erhoben. Da uns unsere Tochter während der Feldforschung begleitete, hatten wir das Glück, die gelebte Praxis kindlicher Versorgung mehrfach selbst zu erfahren. Die biographischen Interviews mit Erwachsenen ergänzen diese Beobachtungen. Sie geben Aufschluss darüber, warum bestimmte Personen als besonders nah und verwandt wahrgenommen werden. Dabei ist eine lebenszyklische Perspektive wichtig. Die Gemeinde Fransfontein hatte im Juli 2004 1 37 Haushalte. Im Umland von Fransfontein befanden sich weitere 163 Haushalte (eigene Zensuserhebung). Wie Abbildung 1 zeigt, handelt es sich um eine sehr dünn besiedelte und trockene Region. Fransfontein ist eine multiethnische und multilinguale Region.9 Die Sprache der größten ethnischen Gruppen der Region, der Nama und Damara, ist Khoekhoegowab. Neben Khoekhoegowab wird in Fransfontein aber auch Otjiherero, Englisch, Afrikaans und Deutsch gesprochen. Die Gemeinde Fransfontein wurde 1891 durch den Wuppertaler Missionar Riechmann (Evangelisch-Lutherische Mission) offiziell gegründet.10 Die deutsche Siedlerkolonie richtete 1905 ein sogenanntes ›Fransfonteiner Reservat‹ für die indigene Bevölkerung ein. Es kam zu massiven Landenteignungen und Umsiedlungen der von Viehwirtschaft (Rinder, Ziegen, Schafe) lebenden Damara und Nama Bevölkerung.11 Parallel wuchs der Bedarf an billigen Arbeitskräften bei den weißen Siedlern. Fast alle FransfonteinerInnen der älteren Generation mussten deshalb für viele Jahre und unter teils katastrophalen Bedingungen für ›weiße‹ FarmerInnen arbeiten. Durch die Annektierung Namibias in die Republik Südafrika in den 1960er Jahren wurde die Apartheidpolitik auch in Namibia umgesetzt. Wie in anderen Regionen Namibias entstanden soge8 Weisner/Gallimore (1978, p. 180). 9 Vgl. zur Geschichte der Region Bollig et al. (2006); Dawids et al. (2007); Schnegg

et al. (2013). 10 Riechmann (1899); Schnegg (2007). 11 Schnegg/Welle (2007).

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nannte Homelands.12 Das Fransfonteiner Reservat wurde Teil des Damaralands. Durch die Etablierung der Homelands entstanden neue administrative Strukturen, die unter anderem dazu führten, dass sich eine kleine, verhältnismäßig wohlhabende Elite aus LehrerInnen, PolitikerInnen, medizinischem Personal und Verwaltungspersonal bildete. Im Gegensatz zur großen Mehrheit der Bevölkerung konnten sich Mitglieder der neuen Elite ab ca. Ende der 1970er Jahre eine Vielzahl an neuen Konsumgütern, etwa Autos, Häuser, Wohnungseinrichtungen, bestimmte Lebensmittel, und immer mehr auch aufwendige und teure Hochzeiten leisten.13 Für alle anderen verschlechterten sich die Lebensbedingungen allerdings noch mit der Apartheid.14 Wie in anderen Teilen Namibias haben sich diese Dynamiken zunehmender sozialer und ökonomischer Ungleichheit auch nicht grundsätzlich seit der namibischen Unabhängigkeit 1990 geändert.15 Es ist weiterhin so, dass nur eine relativ kleine Elite (ca. 16 Prozent aller Haushalte) Zugang zu gut bezahlten und permanenten Stellen hat und dementsprechend den Großteil an Konsumgütern und Vieh besitzt. Die Mehrheit der Bevölkerung verfügt über kein permanentes Einkommen und lebt in ökonomisch prekären Verhältnissen. Während unserer längeren stationären Feldforschung von Juni 2003 bis Oktober 2004 wurde in Fransfontein sehr viel über HIV/AIDS diskutiert und informiert.16 Kinder, die einen Elternteil oder sogar beide Eltern aufgrund der Pandemie verloren hatten, lebten aber in keinem Fall in Haushalten alleine. Vielmehr funktioniert das auch schon vor der Pandemie existierende Pflegschaftssystem weiterhin recht gut. Die Kinder wurden von verwandten, in seltenen Fällen auch nicht verwandten Pflegemüttern aufgenommen.17 Diese Haushaltsstrukturen spielen auch für das Verständnis von Geschwisterbeziehungen eine Rolle.

12 Wallace (2011). 13 Pauli (2011). 14 Wallace (2011, p. 267). 15 Melber (2007); (2011). 16 Pauli/Schnegg (2007). 17 Pauli (2013).

Kind unter Kindern. Geschwisterbeziehungen in Fransfontein, Namibia

So viele Brüder und Schwestern! Geschwisterbeziehungen in Fransfontein In Fransfontein gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, zu Bruder, !gasab, oder Schwester, !gasas, zu werden.18 Die genealogische Verbindung, d. h. Kind gemeinsamer Eltern (oder auch einer gemeinsamen Mutter, eines gemeinsamen Vaters) zu sein, ist dabei eine wichtige Variante, wie die folgenden Schilderungen Monas zeigen.19 Die 1963 geborene Lehrerin Mona lebte bis zum ihrem neunten Lebensjahr gemeinsam mit anderen Kindern bei ihrer Großmutter Martha auf einer Farm in Rehoboth. In einem Interview im September 201 4 fragte ich Mona, wie viele Kinder denn ihre Mutter hatte.20 Mona antwortete mir folgendermaßen: »10 Kinder! Als meine Mutter heiratete, hat sie zwei Kinder mit dem Mann be­ kommen. Wir waren da schon acht. Als sie den Mann kennen lernte, heiratete sie ihn und bekam noch mal zwei Kinder. […] Die anderen acht Kinder: drei, nein, wir waren vier, vier von meinem Vater. Die anderen – sie waren drei, nein, vier, vier. Also, meine erste Schwester, nein, der erste ist ein Junge mit eigenem Vater. Und die zweite, das ist ein Mädchen, auch ein eigener Vater, und auch das dritte Kind – ein eigener Vater. Und dann kam das vierte Kind, oh, das hat noch einen eigenen Vater, das vierte Kinder. Und dann unsere drei, nein vier.«

Fasst man Monas Aussage zusammen, so zeigt sich, dass sie drei ›leibliche‹ Geschwister und sechs Halbgeschwister hat. Die hohe Anzahl an Halbgeschwistern ist keine Besonderheit der Biographie Monas. Vielmehr ist es in Fransfontein sehr verbreitet, dass Frauen mit mehr als einem Mann gemeinsame Kinder haben. Dies gilt vor allem für unverheiratete Frauen. Jane Guyer hat diese soziale und reproduktive Praxis der multiplen reproduktiven Partnerschaft als »polyandrische Mutterschaft« bezeichnet.21 Im Zentrum von Guyers Überlegungen steht die Frage, wie Frauen sich durch soziale und reproduktive Beziehungen absichern. Guyer unterscheidet da18 Im Khoekhoegowab enden die männlichen Termini auf das Suffix ›­b‹ und die weib­ lichen auf ›­s‹. Khoekhoegowab ist eine Klicksprache. !, //, / und # als Präfixe eines Wortes stehen wir unterschiedliche Klicks. 19 Alle Namen sind Pseudonyme. 20 Vgl. auch Pauli (2013); Schnegg/Pauli (2010). 21 Guyer (1994).

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bei eine lineare von einer lateralen Strategie der Absicherung. Heirat als Teil einer linearen Strategie bedeutet für eine Frau, dass sie vor allem enge und unterstützende Beziehungen mit der Verwandtschaftsgruppe ihres Mannes unterhält. Neben der Verwandtschaft des Mannes hat eine verheiratete Frau aber oft nur wenige weitere zentrale soziale Bindungen. Im Gegensatz dazu kann eine Frau, die nacheinander mit verschiedenen Männern Kinder bekommt, also eine nach Guyer laterale Strategie ›verfolgt‹, diese unterschiedlichen Männer und ihre Familien um Unterstützung bitten. Die zentrale Achse des Haushalts ist dann nicht das Ehepaar, sondern eine Mutter und ihre Kinder (oft auch drei Generationen an verwandten Frauen). Solche als »karibisch« und »matrifokal« bezeichneten familiären Muster finden sich heute auch in anderen Regionen des Südlichen Afrika.22 Aus der Perspektive der Kinder gestaltet sich diese soziale und reproduktive Praxis dermaßen, dass mir ein 10-jähriger Junge während eines Interviews mit seiner Mutter über ihre Geburtengeschichte mitteilte: »Hier hat jeder seinen eigenen Vater«.23 Für Kinder ist es deshalb nicht ungewöhnlich, mit vielen Halbgeschwistern aufzuwachsen, die wiederum ihrerseits viele Halbgeschwister haben. Neben dieser Komplexität geschwisterlicher Beziehungen aufgrund bestimmter sozialer und demographischer Verhältnisse führt auch die Verwandtschaftsterminologie dazu, dass es in Fransfontein eine sehr hohe Anzahl an Geschwisterbeziehungen gibt. Das verwandtschaftsterminologische System der Nama und Damara ist ein sogenanntes irokesisches Klassifikationssystem.24 Ich werde mich hier auf die Geschwisterbeziehungen konzentrieren.25 Jüngere Brüder (!gasab) und Schwestern (!gasas) werden von älteren Schwestern (ausis) und Brüdern (abutib) unterschieden. Anders als etwa im deutschen verwandtschaftsterminologischen System werden aber nicht nur die Kinder der biologischen (oder wie im Fall von Adoption der sozialen) Eltern als Geschwister bezeichnet. Auch sogenannte Parallelcousinen und -cousins werden als Bruder und Schwester angesprochen. Parallelcousinen und -cousins sind die Kinder der gleichgeschlechtlichen Geschwister der Mutter bzw. des Vaters, also die Kinder der Schwester(n) der Mutter und die Kinder des/der Bruders/ 22 Iken (1999); Kuper (1987); Mokomane (2006). 23 Pauli (2007). 24 Barnard (1992); Holy (1996). 25 Zu weiteren Beziehungen vgl. Barnard (1992); Schnegg/Pauli (2010).

Kind unter Kindern. Geschwisterbeziehungen in Fransfontein, Namibia

Brüder des Vaters. Der Bruder der Mutter und die Schwester des Vaters sowie deren Kinder, die sogenannten Kreuzcousinen und -cousins, werden davon unterschieden. Diese Kreuzcousinen und -cousins werden nicht als Bruder oder Schwester bezeichnet sondern haben eigene Verwandtschaftstermini.26 Während die Parallelcousinen und -cousins ebenfalls als Geschwister bezeichnet und wahrgenommen werden, gelten die Kreuzcousinen und -cousins als mögliche Heiratspartner. Diese Heiratsverbindung ist heute jedoch nur noch sehr selten. Allerdings enthält die Interaktion zwischen Kreuzcousinen und -cousins oft auch sexuelle Anspielungen. Im Gegensatz dazu ist die Interaktion zwischen allen Geschwistern (Parallelcousinen- und cousins wie auch biologischen und sozialen Geschwistern, d. h. allen Personen, die sich als !gasab, !gasas, abutib, ausis bezeichnen) von strengen sexuellen Tabus geprägt. Zum Beispiel schlafen gegengeschlechtliche Geschwister (alle obigen Varianten) ab einem bestimmten Alter nicht mehr im selben Raum. Bei Kreuzcousinen und -cousins ist das hingegen kein Problem. Überträgt man diese verwandtschaftsterminologischen Gegebenheiten auf die Geschwisterbeziehungen der oben vorgestellten Mona, so zeigt sich, dass Mona neben ihren drei ›leiblichen‹ Geschwistern und sechs Halbgeschwistern auch noch drei weitere Parallelcousinen und einen Parallelcousin mütterlicherseits hat, die sie als Geschwister bezeichnet und wahrnimmt. Insgesamt bezeichnet Mona damit zwölf Personen als Bruder oder als Schwester. Auch wenn das gleiche Prinzip auf der Seite ihres Vaters zur Anwendung kommen müsste, womit die Anzahl an Geschwistern in Monas Fall noch weiter erhöht würde, so ist dies für Mona selbst nicht der Fall. Mona betont, dass sie mit ihrem Vater eigentlich kaum Zeit verbracht habe und deshalb auch nicht die Kinder der Brüder des Vaters als Geschwister wahrnehme oder so bezeichne. Hier zeigt sich der Zusammenhang zwischen matrifokalen Haushaltsstrukturen und Verwandtschaftsbeziehungen deutlich. Da es in Fransfontein üblich ist, dass Kinder im Haushalt der Verwandtschaft der Mutter aufwachsen, sind Beziehungen zu Verwandten des Vaters für die Kinder oft nur von zweitrangiger Bedeutung.27 Vor dem Hintergrund dieser vielen Möglichkeiten der Geschwisterschaft möchte ich nun fragen, welche Geschwister sich aus welchen Grün26 Schnegg/Pauli (2010). 27 Schnegg/Pauli (2010).

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den besonders nahestehen und damit einhergehend ein besonderes Maß der Sorge für den anderen tragen. Dabei werde ich eine weitere Möglichkeit, Bruder oder Schwester zu sein, vorstellen. Diese Art der Beziehung, die sogenannte kai//are Beziehung (Geschwisterschaft aufgrund des gemeinsamen Wachsens), kann entweder bereits bestehende Geschwisterbeziehungen intensivieren oder sogar eine Geschwisterbeziehung initiieren.

Gemeinsam Wachsen (Kai//are) als kulturelles Schlüsselerlebnis Auf die Frage, wer für sie der wichtigste Mensch sei, antwortete mir Mona, das sei Christina, die die jüngste Schwester ihrer Mutter ist (MZ). Christina wird von Mona aber nicht als Tante bezeichnet und wahrgenommen, sondern als ihre !gasas, Schwester. Beide Frauen sind fast gleichaltrig. Christina wurde 1962, Mona 1963 geboren. Die beiden lebten bis zu ihrem neunten Lebensjahr gemeinsam mit Monas Großmutter (und somit Christinas Mutter) auf einer Farm in Rehoboth. Während dieser Zeit arbeitete Monas Mutter in Windhoek und versorgte ihre Mutter und die beiden Mädchen mit Geldsendungen und Nahrung. Sowohl Mona wie auch Christina betonten, dass diese gemeinsam verbrachten Jahre der Grund für ihrer große Nähe sei, die bis heute andauert. Dabei verwendeten sie den Begriff des gemeinsamen Wachsens, kai//are, als Beschreibung der Besonderheit ihrer Beziehung. Durch die Zeit des gemeinsamen Wachsens und der damit einhergehenden Erlebnisse und Erfahrungen hätten sie sich besser kennengelernt als irgendjemanden sonst. Diese Zeit hätte sie zu kai//are !gasas, Schwestern aufgrund des gemeinsamen Wachsens, gemacht. In einem Interview im September 2004 beschrieb Mona ihre Beziehung zu Christina folgendermaßen: »Christina ist der wichtigste Mensch für mich. Kai//are (gemeinsam ›groß wachsen‹) hat uns zu Schwestern gemacht. Wir haben zusammen gegessen, wir haben zusammen das Bett geteilt. Sie hat mir geholfen, wenn ich geschla­ gen wurde, und ich habe ihr geholfen, wenn sie geschlagen wurde. Sie fühlt den gleichen Schmerz wie ich. Sie wäscht mich, wenn ich krank bin, und sie gibt mir Essen, wenn ich krank bin.«

Im Fall von Mona und Christina resultiert das gemeinsame Erleben und Erfahren während der Kindheit darin, dass sie ihre Beziehung als Ge-

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schwisterbeziehung auffassen und sich auch als Schwestern anreden, obwohl sie aus einer genealogischen Perspektive keine Schwestern sind. In ähnlicher Art und Weise betonte auch der 1980 geborene Francois die besondere Bedeutung eines von ihm als kai//are !gasab bezeichneten Bruders, mit dem er aber im genealogischen Sinn nicht verwandt war. Vielmehr wurde Francois durch die Familie nach dem tragischen Unfalltod seiner Eltern unterstützt und quasi adoptiert. In einem Interview im August 2005 beschrieb er die Beziehung zu seinem kai//are !gasab: »Wir waren immer zusammen. Wir haben die gleichen Dinge durchlebt. Wir haben im gleichen Haus gelebt. Wenn wir hungrig waren, waren wir beide hungrig. Wir haben gemeinsam geschlafen und gegessen. Wir, alles was wir gemacht haben, haben wir zusammen gemacht.«

Neben der Entstehung von Geschwisterbeziehungen durch kai//are, gemeinsames Wachsen und Erleben, kann kai//are aber auch dazu dienen, eine bestehende Geschwisterbeziehung hervorzuheben und die besondere Bedeutung zu betonen. Der 1964 geborene Richard berichtete etwa in einem Interview im August 2005, dass sein Parallelcousin für ihn besonders wichtig sei, den er auch als kai//are !gasab bezeichnete. Die beiden Jungen halfen sich in schwierigen und gewalttätigen Situationen gegenseitig. »Ich war derjenige, der ihn immer beschützt hat […] Die Jungs waren sehr gemein. Wenn er verprügelt wurde, dann kam er zu mir.«

Und auch genealogische Geschwister wurden als kai//are Geschwister von anderen Geschwistern differenziert. Neben der Möglichkeit, das gemeinsame Erleben und Erfahren durch kai//are in eine Geschwisterbeziehung besonderer Qualität zu verwandeln, war es in Fransfontein ebenso üblich, nicht vorhandene Nähe zwischen genealogischen oder terminologischen Geschwistern damit zu begründen, dass man eben nicht gemeinsam aufgewachsen wäre, taman kai//are. Dies war besonders wichtig, wenn es darum ging, Hilfe und Unterstützung zu geben oder auch zu verweigern. Zum Beispiel konnten wir während unserer Feldforschung mehrfach beobachten, wie Familienmitglieder, etwa bei der Finanzierung einer Beerdigung, betonten, dass man doch verschwistert sei und deshalb auch etwas geben solle. Diese Verpflichtung konnte und wurde aber manchmal mit dem Hinweis abgelehnt, dass man nicht zusammen aufgewachsen

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wäre, taman kai//are, und es deshalb auch keine verwandtschaftliche Beziehung und auch keine Unterstützung gäbe. Betrachtet man die Aussagen von Mona, Francois und Richard, so zeigt sich, dass alle drei hinsichtlich der Besonderheit ihrer kai//are Geschwisterschaft von körperlichen Erfahrungen und körperlicher Nähe berichten. Physisches Leiden, vor allem in Form von Gewalt und Hunger, ist in Fransfontein allgegenwärtig. Das Teilen dieser sehr schmerzvollen Erfahrungen, aber auch die unendliche Freude darüber, etwas (am besten Fleisch!) gemeinsam essen zu können, führen dazu, dass man das Gegenüber in Situationen höchster Verwundbarkeit, aber auch großer Ekstase, kennenlernt. Die außergewöhnliche kai//are Beziehung, die oft ein Leben lang andauert, sticht aufgrund dieser spezifischen Qualität des Teilens und des Kennens aus der Vielzahl an möglichen Geschwisterbeziehungen hervor. Dabei ist das, was als zentrales Moment des gemeinsamen Erlebens und Teilens erfahren wird, kulturell bedingt. Um besser zu verstehen, welche Erlebnisse die Qualität haben, eine solcherart verwandtschaftliche Nähe zu evozieren, sind Sherry B. Ortners Überlegungen zu kulturellen »Schlüsselsymbolen« (key symbols) hilfreich.28 Ortner argumentiert, dass von ihr als »Schlüsselsymbole« bezeichnete Symbole kulturelle Ordnung schaffen und zum Ausdruck bringen. Analog zu diesen Überlegungen könnte das in Fransfontein so zentrale Teilen von bestimmten körperlichen Erfahrungen (Hunger, Gewalt, Essen) als ›Schlüsselerfahrungen‹ (key experiences) bezeichnet werden. Aufgrund der biographischen Interviews scheint es mir naheliegend, dass die wiederholte gemeinsame Erfahrung solcher ›Schlüsselerfahrungen‹ über die Zeit hinweg zu den für die Fransfonteiner Menschen so wichtigen kai//are Beziehungen führt. Insofern hat auch die zu Beginn geschilderte Beobachtung der Rückkehr der Kinder in das Dorf Fransfontein das Potential, dass aus Kindern kai//are Geschwister werden.

Fazit Geschwisterbeziehungen, und insbesondere kai//are Beziehungen, sind ein wichtiger Teil der sozialen Ressourcen und Netzwerke der Menschen im westnamibischen Fransfontein. Aufgrund bestimmter demographi28 Ortner (1973).

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scher, sozialer und terminologischer Gegebenheiten umfasst die Kategorie der Geschwister in Fransfontein sehr viele mögliche Personen. Es ist verbreitet, dass ein Individuum mehr als ein Duzend potentieller Schwestern und Brüder hat. Allerdings haben nicht alle möglichen Geschwisterbeziehungen auch die gleiche Bedeutung und Intensität. Kai//are Beziehungen als besondere Variante der Geschwisterbeziehungen entstehen durch gemeinsam während der Kindheit erlebte Schlüsselerfahrungen, vor allem das Teilen von Hunger und Nahrung sowie das Erfahren physischer Gewalt. Die durch das Teilen dieser Schlüsselerfahrungen entstandene Nähe wird durch einen eigenen verwandtschaftlichen Terminus, dem kai//are !gasab (Bruder des gemeinsamen Wachsens) und der !gasas (Schwester des gemeinsamen Wachsens), sprachlich erfasst. Kai//are Beziehungen bleiben oft ein Leben lang erhalten.29 Wie sowohl Erwachsene als auch Kinder betonen, helfen kai// are Beziehungen, die eigene Verletzbarkeit zu ertragen. Kai//are Beziehungen schaffen dabei nicht nur ökonomische Hilfe und Sicherheit, auch wenn diese Dimensionen wichtig sind. Darüber hinaus sind sie auch eine wesentliche emotionale Ressource, um mit schwierigen Situationen, etwa Erfahrungen von Verlust und Angst, umzugehen. Damit sind kai// are Beziehungen Teil der von Reimer Gronemeyer und Matthias Rompel als »verborgenes Afrika«30 bezeichneten Fähigkeiten, durch soziale Beziehungen auch krisenhafte Umstände, wie die HIV/AIDS Pandemie und die weitverbreitete Armut, zu überleben.

Literatur Alber, Erdmute / Beer, Bettina / Pauli, Julia / Schnegg, Michael (2010): Verwandtschaft heute. Positionen, Ergebnisse und Forschungsperspektiven. Berlin: Reimer Verlag Alber, Erdmute / Coe, Cati / Thelen, Tatjana (201 3): The Anthropology of Sibling Relations. In: Alber, Erdmute / Coe, Cati / Thelen, Tatjana (eds.): The Anthropology of Sibling Relations: Shared Parentage, Experience, and Exchange. New York: Palgrave Macmillan

29 Pauli (2013). 30 Gronemeyer/Rompel (2008).

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Barnard, Alan (1992): Hunters and herders of Southern Africa. Cambridge: Cambridge University Press Bollig, Michael / Schnegg, Michael / Welle, Torsten / Pauli, Julia (2006): The New Ecological Anthropology: Theoretische Grundlagen und Fallbeispiele interdisziplinärer Zusammenarbeit im Bereich der Mensch/ Umwelt Beziehungen. Sociologus 56, pp. 85 – 1 19 Borneman, John (2001): Caring and To Be Cared For: Displacing Marriage, Kinship, Gender, and Sexuality. In: Faubion, James D. (ed.): The Ethics of Kinship: Ethnographic Inquiries. Lanham, Boulder, New York, Oxford: Rowland and Littlefield, pp. 29 – 46 Carsten, Janet (2004): After kinship. Cambridge: Cambridge University Press Dawids, Francois / Ilonga, Fiona / Kaumunika, Titus / Pauli, Julia / Schnegg, Michael / Seibeb, Jorries / Uirab, Charles O. (2007): Li ving together. Culture and shared traditions in Fransfontein, Namibia. Cologne: University of Cologne Gronemeyer, Reimer / Rompel, Matthias (2008): Verborgenes Afrika. Alltag jenseits von Klischees. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel Guyer, Jane I. (1994): Lineal Identities and Lateral Networks: The Logic of Polyandrous Motherhood. In: Bledsoe, Caroline / Pison, Gilles (eds.): Nuptiality in Sub-Saharan Africa. Oxford: Clarendon, pp. 231 – 252 Holy, Ladislav (1996): Anthropological Perspective on Kinship. London and Chicago: Pluto Press Iken, Adelheid (1999): Woman-headed households in Southern Namibia. Causes, patterns and consequences. Frankfurt and Windhoek: IKO and Gamsberg Macmillan Publishers Kuper, Adam (1987): South Africa and the Anthropologist. London, New York: Routledge & Kegan Paul Melber, Henning (2007): Poverty, politics, power and privilege. Namibia’s black economic elite formation. In: Melber, Henning (ed.): Transitions in Namibia. Which changes for whom? Upsalaa: Nordic Africa Institute, pp. 1 10 – 1 29 Melber, Henning (201 1): Namibia: a Trust Betrayed – Again? Review of African Political Economy 38(1 27), pp. 103 – 111 Mokomane, Zitha (2006): Cohabitating unions in Sub-Saharan Africa: Explaining Botswana’s Exceptionality. Journal of comparative family studies 37, pp. 25 – 42

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Ortner, Sherry B. (1973): On key symbols. Amercian Anthropologist 75, pp. 1 338 – 1 346 Pauli, Julia (2007): »We all have our own father!« Reproduction, marriage and gender in rural Northwest Namibia. In: LaFont, Suzanne / Hubbard, Dianne (eds.): Unravelling Taboos: Gender and Sexuality in Namibia. Windhoek: Legal Assistance Centre, pp. 197 – 21 4 Pauli, Julia (2009): Celebrating Distinctions. Marriage, elites and reproduction in rural Namibia. Habilitation Manuscript. Cologne: University of Cologne Pauli, Julia (201 1): Celebrating Distinctions: Common and Conspicuous Weddings in Rural Namibia. Ethnology 50(2), pp. 153 – 16 7 Pauli, Julia (201 2): Creating Illegitimacy: Negotiating Relations and Reproduction within Christian Contexts in Northwest Namibia. Journal of Religion in Africa 4, pp. 408 – 432 Pauli, Julia (201 3): »Sharing Made Us Sisters«: Sisterhood, Migration and Household Dynamics in Mexico and Namibia. In: Alber, Erdmute / Coe, Cati / Thelen, Tatjana (eds.): The Anthropology of Sibling Relations. Shared Parentage, Experience, and Exchange. New York: Palgrave Macmillan, pp. 29 – 50 Pauli, Julia / Schnegg, Michael (2007): »Blood test with the eyes«: Negotiating conjugal relationships during the HIV/AIDS crisis in rural Namibia. In: Bollig, Michael / Bubenzer, Olaf / Vogelsang, Ralf / Wotzka, Hans-Peter (eds.): Aridity, Change and Conflict in Africa. Köln: Heinrich-Barth-Institut, pp. 411 – 439 Riechmann, Heinrich (1899): Unter den Zwartboois auf Franzfontein. Ein Beitrag zur Missions- und Kolonialgeschichte Süd-Afrikas. Ausgabe 83 von Rheinische Missions-Traktate. Barmen: Im Verlag des Missionshauses Schnegg, Michael (2007): Battling Borderlands: Causes and Consequences of an Early German Colonial War in Namibia. In: Bollig, Michael / Bubenzer, Olaf / Vogelsang, Ralf / Wotzka, Hans-Peter (eds.): Aridity, Change and Conflict in Africa. Cologne: Heinrich-Barth-Institute, pp. 247 – 264 Schnegg, Michael / Pauli, Julia (2010): Namibische Wahlverwandtschaften: Zur Dualität von Struktur und Handlungsfreiheit in der Verwandtschaftsethnologie. In: Alber, Erdmute / Beer, Bettina / Pauli, Julia / Schnegg, Michael (Hg.): Verwandtschaft heute. Berlin: Reimer Verlag, S. 305 – 328

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3. Namibia: Warum sich die Lebensbedingungen von Kindern verschlechtern

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Namibia ist ein beliebtes Reiseziel. Touristen erfreuen sich nicht nur an der faszinierenden Landschaft und Tierwelt, sondern auch an den relativ europäischen Standards bei der Erkundung von Flora und Fauna. Auch die Spuren kolonialer Vergangenheit (und Gegenwart) im Lande werden zumindest bei den deutschsprachigen Touristen oft sehr geschätzt. Allerdings werden diese immer seltener, da sie zunehmend aus dem öffentlichen Raum verschwinden. Nicht nur Straßenumbenennungen lassen deutsche Namen im Stadtbild schwinden. Zu Weihnachten 201 3 gab es mit der spektakulären Versetzung des Reiterdenkmals eine unerwartete Bescherung, die nicht nur Kolonialapologeten beschäftigte. Doch ungeachtet solcher Irritationen rangiert Namibia weiterhin auf der Beliebtheitsskala überseeischer Touristen als Reiseland recht hoch. Nicht zuletzt gilt das ehemalige Deutsch-Südwestafrika als ein für afrikanische Verhältnisse erstaunlich ordentliches und geordnetes Land. All das ist aus der begrenzten und selektiven Perspektive des Besuchenden wohl zutreffend. Aber es gilt nur für einen kleinen Ausschnitt aus der Alltagswelt, dessen Repräsentativität durchaus angezweifelt werden darf. Das touristische Treiben auf den Gästefarmen, in den Wildreservaten und den Innenstädten ist eben nicht das, was die meisten Menschen in Namibia in ihrer Bewältigung der existenziellen Herausforderungen schätzen und genießen können. Auch die eindrucksvolle Pressefreiheit, wie sie dem Besuchenden insbesondere durch die Vielfalt an Printmedien präsentiert wird, verschleiert durchaus vorhandene repressive Strukturen einer Demokratie mit autori-

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tären Tendenzen.1 Tatsächlich schneidet Namibia in punkto Meinungsund Pressefreiheit nicht nur für afrikanische Verhältnisse gut ab. Dies ist sicherlich eine der Errungenschaften, die mit der Unabhängigkeit des Landes erreicht wurden, denn der öffentliche Diskurs bietet nahezu uneingeschränkte Möglichkeiten zur Artikulation auch kritischer Meinungen. Dieser Beitrag macht sich dies zunutze, indem er sich bei der Behandlung des Themas weitgehend auf lokale Medienberichterstattung und in den örtlichen Zeitungen veröffentlichte Meinungsbeiträge stützt. Damit wird ein Blick auf andere Verhältnisse dokumentiert, die selbst temporären Besuchenden nicht zwangsläufig verborgen bleiben müssten – wenn sie diese nur sehen wollten. Verhältnisse, die eben nicht das Bild der eingangs charakterisierten Sichtweise bekräftigen, sondern eine andere Wirklichkeit zeigen. So werden die zahlreichen Touristen, die sich im Lande auf Safari begeben, in der Wildnis ohne Sanitäranlagen auskommen müssen. Das wird als Teil des Abenteuers durchaus billigend in Kauf genommen, wenn nicht sogar erwartet. Schließlich trägt es zum Busch-Ambiente bei. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung Namibias hingegen (52 %) lebt stets ohne Sanitäreinrichtungen und verrichtet die Notdurft ihr Leben lang im Freien. So veröffentlichte die UNICEF am Welt-Toiletten-Tag (19. November) 201 3 Daten zur Lage in der Welt, denen zufolge Namibia zu den Ländern gehört, in denen die Unterversorgung mit sanitären Einrichtungen am gravierendsten ist. Diese unhygienischen Bedingungen gelten als Hauptverursacher von Diarrhöe (an dritter Stelle von Erkrankungen mit Krankenhausaufenthalt) und als zweitgrößte Ursache für kinderärztliche Behandlung im Lande.2 Doch nicht genug der Hiobsbotschaften, was die Schädigung der weit verbreiteten Reputation Namibias als afrikanischem Vorzeigeland betrifft: Am 18. November 201 3 veröffentlichte das African Child Policy Forum den aktuellen Index zur Lage von Kindern in den Ländern des Kontinents. Auf dem Index 2008 rangierte Namibia auf Rang 2. In der neuen Rangliste rutschte es um 24 Plätze auf Rang 26 unter den 52 erfassten Staaten, was die Kinderfreundlichkeit betrifft. Gemessen wurden dabei als Indi1 Siehe als ausführlichere Analyse zu Namibias nachkolonialer Gesellschaftspolitik

Melber (2014). 2 Lack of sanitation affects 52 % of Namibians. By Nomhle Kangootui. The Namibian, 21. November 2013.

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katoren das politische Engagement und dessen Umsetzung hinsichtlich des Schutzes und der Förderung der Rechte von Kindern. Hauptgründe für den drastischen Absturz waren Kürzungen in den Staatsausgaben für Maßnahmen in Sektoren, die eine kinderfreundliche Politik fördern sollten, eine verringerte Leistung bei der Umsetzung vorhandener Ressourcen in die Wohlfahrt für Kinder sowie eine schwache Bilanz hinsichtlich der Umsetzung von Kinderrechten in nationale Gesetze und den Zugang zu den internationalen Rechtsnormen.3 Was die Situation von Kindern betrifft, erschütterte Anfang 201 4 eine neue Horrormeldung die Öffentlichkeit. »Ein herzloses Land« betitelte die meist gelesene Zeitung im Lande ihr wöchentliches Editorial.4 Es reagierte auf den Tod eines vierjährigen Kindes in einer Polizeizelle in Wanaheda, einem Teil des früheren Windhoeker township Katutura. Im Streit der Mutter mit einer anderen Gefängnisinsassin über eine Tasse Tee wurde der Junge mehrfach am Fuß durch die Luft geschleudert und prallte mit dem Kopf gegen die Wand und auf den Fußboden. Die Verletzungen waren tödlich. Das öffentliche Entsetzen war mit der ungläubigen Frage verbunden, was ein Kleinkind in einer Polizeizelle zu tun hat. Die Täterin – selbst Mutter von drei Kindern im Alter von 5, 7 und 1 2 Jahren – nahm sich in Polizeigewahrsam noch vor Aufnahme des Verfahrens das Leben. Damit erhöhte sich die Zahl der Suizide in namibischen Gefängnissen im Zeitraum von zwei Monaten zwischen Mitte März und Mitte Mai 201 4 auf vier Fälle.5 Im Alltag Namibias sind jenseits der touristischen Pseudo-Idylle solch spektakuläre Gewaltexzesse leider keine Ausnahme. Fast täglich berichten die Medien im Lande über grausame Morde und körperliche Verstümmelungen, über Selbsttötungen, Vergewaltigungen und andere Formen des Missbrauchs und der Misshandlungen, insbesondere von Frauen und Kindern. Das baby dumping gehört mittlerweile zum fast alltäglichen Erscheinungsbild, indem Mütter ihre Neugeborenen heimlich an entlegenen Stellen ihrem Schicksal und damit in den meisten Fällen fast unvermeidlich dem Tod überlassen. In weniger als einer Woche wurden Anfang Juni 201 4 gleich drei solche Fälle in Windhoek gemeldet. Ein totes Baby wurde aus der Abwasseranlage gefischt, ein anderes totes Baby 3 Namibia not so child­friendly. The Namibian, 19. November 2013. 4 Country Without a Heart. The Namibian, 31. Januar 2014. 5 Suspected toddler killer hangs herself. By Ellanie Smit. Namibian Sun, 20. Mai 2014.

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wurde im Maul eines Hundes entdeckt und ein drittes totes Baby fand sich in Zeitungspapier und eine Plastiktüte gewickelt im Gebüsch.6 Das Ausmaß solcher Verzweifl ngstaten lässt das soziale Elend erkennen, das sich dahinter versteckt. Kaum ein Tag vergeht ohne Affekthandlungen mit Todesfolge und zahlreichen anderen Erscheinungsformen einer Gesellschaft, die Züge von Anomie trägt. Die Grausamkeiten alltäglicher Gewalt nehmen kein Ende. Zu den neuen Begrifflichkeiten gehört auch das sogenannte passion killing, bei dem es sich um einen Euphemismus handelt. Denn mit Tötung aus Leidenschaft (was ohnehin eine dubiose Begrifflichkeit ist) hat allenfalls der Hass und die Menschenverachtung zu tun, die in erster Linie Männer zu diesen Gewalttaten gegenüber früheren Partnerinnen treibt, von denen sie sich zurück gewiesen, verlassen oder betrogen fühlen. Oftmals richtet sich die Vernichtung des Lebens danach auch gegen sich selbst. Ähnlich häufig bleibt sie aber auch die zerstörerische männliche Gewalt gegen Frauen. Anfang Februar 201 4 enthauptete ein Mann seine Freundin. Das Editorial einer Zeitung kommentierte dies folgendermaßen: »It is no longer news when a woman is killed in Namibia. This type of heinous crime has become part of the social fabric of this country. However, the bar­ baric manner in which Nandjato was killed has left the nation dumbfounded. Who in their right state of mind cuts off the head of a woman they once claimed to love? This is a barbarous murder where a young woman's body was hacked like a butcher attacking a piece of meat. Ours is steadily becoming a nation of cowards.« 7

Namibias Gesellschaft ist krank. Die Menschen leiden. Ihre Verzweifl ng drückt sich auch in (selbst-)zerstörerischen Tendenzen aus. Die zur Unabhängigkeit gehegten Träume von einem besseren Leben sind für Viele geplatzt. Manche behaupten in ihrer Enttäuschung sogar, dass es unter der Apartheid besser gewesen sei. Ungeachtet dessen, dass dies eine überzogene Aussage sein mag, bleibt die Erkenntnis, dass dies ein ernüchterndes und schmerzliches Armutszeugnis für die Bilanz der nachkolonialen sozial-ökonomischen Entwicklung ist. Die oftmals aus purer Verzweif6 Another baby dumped. By Tuyeimo Haidula. The Namibian, 12. Juni 2014. 7 Cowards, Bloody Cowards! Namibian Sun, 5. Februar 2014.

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lung, aus Erniedrigung und ohnmächtiger Wut oder auch nur dem Verlust jeglicher Menschlichkeit und Empathie gespeisten Gewalttaten entstammen einem Nährboden sozialer Wirklichkeiten, die mit den eher rosigen Durchschnittswerten volkswirtschaftlicher Daten kontrastieren. Diese aggregierten Bilanzen suggerieren oftmals zweifelhafte Erfolgsgeschichten. Am Beispiel der sozialökonomischen Indikatoren Namibias aus dem Bericht zur menschlichen Entwicklung der UNDP des Jahres 201 3 zeigt sich erneut die Problematik statistischer Verallgemeinerungen und wird die Notwendigkeit deutlich, genauer hin zu schauen.8 Denn Namibia ist ein relativ (rohstoff-)reiches Land. Es ist derzeit der viertgrößte Produzent von Uranoxid (›yellow cake‹) für den Weltmarkt, verfügt über große Vorkommen an Diamanten, Kupfer, Zink, Gold und anderen Primärgütern des Bergbaus, darunter zahlreiche strategische Metalle und Mineralien. Des Weiteren exportiert das Land Rindfleisch, Fisch und andere landwirtschaftliche Produkte (wie zum Beispiel kernlose Tafeltrauben, die unter anderem in deutschen Ladenketten feilgeboten werden) auf den europäischen Markt. Das jährliche durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen für die etwa 2,2 Millionen Menschen im Lande liegt mit etwa 6.000 US-Dollar dementsprechend hoch. Namibia fällt damit in die Kategorie eines Landes mit ›höherem mittleren Einkommen‹. Das wäre auf einer Länderskala nach Durchschnittseinkommen der Platz 101 , also noch Mittelfeld und im afrikanischen Vergleich ziemlich weit oben. Der Index menschlicher Entwicklung hingegen liegt bei einem Wert von 0,608, was Rang 1 28 und damit eine Herabstufung um 27 Plätze bedeutet. Der relative Wohlstand korrespondiert also keinesfalls mit den entsprechenden Lebensbedingungen für die Mehrheit der Bevölkerung. Größere soziale Disparitäten gibt es fast nur in den arabischen Emiraten und anderen an Öl oder Bergbauvorkommen reichen Staaten Afrikas. Beispiele dafür sind Äquatorial Guinea (-97), Botswana (-55), Südafrika (-42), Gabon (-40), Angola (-35) sowie die monarchistische Diktatur Swasiland (-30). Diese Diskrepanz wird im Falle Namibias noch deutlicher, wenn die (Ungleich-)Verteilung des volkswirtschaftlichen Jahreseinkommens herangezogen wird. Der Gini-Koeffizient (eine Maßeinheit zur Ermittlung gesellschaftlicher Ungleichheit bei der Einkommensverteilung auf einer 8 Alle folgenden Daten sind dem statistischen Anhang des Berichts entnommen:

Human Development Report 2013.

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Skala von 1 = absolut ungleich bis 0 = absolut gleich) ist mit 0.64 von allen erfassten Länder am höchsten. Die mit der innergesellschaftlichen Ungleichheit verbundene Einordnung ist noch um 16 Ränge niedriger als jene auf dem Index der menschlichen Entwicklung. Das ist nach Südkorea (-18) und Venezuela (-1 7) die drittgrößte Verschlechterung. Nicht zuletzt dadurch wird die häufige Feststellung bestätigt, dass Namibia ein reiches Land mit armen Menschen ist. Ähnliche Negativtrends finden sich nur in Staaten Südamerikas und anderen Ländern Afrikas, wie Angola (-1 2) und Nigeria (-1 3), aber pikanterweise auch den USA (-1 3), wenngleich in letzterem Fall auf deutlich höherem Einkommensniveau. Eine anhaltende Dürre und deren Folgen für die ländliche Bevölkerung wurde seit Jahresmitte 201 3 auch dafür verantwortlich gemacht, dass Menschen im Lande an den Folgen von Unterernährung und Mangelkrankheiten leiden und sogar verhungerten. Als sich Kritik am Notprogramm der Regierung regte, wollte das Premierminister Hage Geingob nicht auf sich sitzen lassen. Er legte dem Parlament einen Zwischenbericht vor und beharrte in seiner Rede darauf, dass niemand in Namibia als Folge der gegenwärtigen Dürre an Hunger sterben müsse. Allerdings widersprach er nicht den Meldungen, dass Menschen verhungert seien. Wie er erklärte, wären diese bedauerlichen Vorkommnisse eine Folge von Verhältnissen, die bereits vor Ausrufung des Dürrenotstandes existiert hätten: »Let me state as of now, no person has died as a result of drought. Yes, malnourishment is there since those of our citizens who are poor are unable to have a balanced diet [ … ] I therefore would like to state that we should make a distinction between malnourishment and hunger caused by poverty and malnourishment and hunger that is caused as a result of lack of rain due to drought.«9

Als ob es eine Beruhigung wäre, dass Menschen in Namibia auch in ›normalen Zeiten‹ als Folge von Unterernährung und Hunger sterben,

9 Zitiert in: Drought relief distribution under control – PM says no deaths due to

drought. Namibia Today – article posted undated on the SWAPO party website: http://www.swapoparty.org/drought_relief_distribution_under_control.html. Siehe auch: No Record of Drought Related Deaths. By Tonateni Shidhudhu. New Era, 17. Oktober 2013.

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während eine Minderheit opulent und luxuriös in Reichtum schwelgt! Angesichts solch skandalöser Diskrepanzen wächst der Unmut in der Bevölkerung. Die Einsendungen, die täglich unter der Rubrik »SMSes of the Day« in der Tagezeitung The Namibian erscheinen, sind beredtes Zeugnis. Hier nur ein Beispiel: »YES it is true all our government leaders are living like kings and queens – in absolute luxury. It must be nice to be able to buy a house, farm or a car every year without checking your bank balance, while we have to decide whether to buy a loaf of bread today or a litre of milk because we cannot afford to buy both at the same time. Who will put this national disgrace to a stop?«10

Berechnungen eines Teams von Ökonomen für die Nationale Planungskommission im Jahre 2008 ergaben, dass die reichsten 5,6 % der Bevölkerung 53 % der jährlichen Gesamtausgaben tätigten, was mit 8 % Gesamtausgaben von knapp 52 % der ärmsten Bevölkerung kontrastierte.11 Immerhin gehört Namibia neben Südafrika zu den wenigen Ländern des Kontinents, in denen staatliche Sozialleistungen (z. B. Waisenrente, Behindertengelder und eine Altersrente ab 60 Jahren) institutionalisiert sind – ironischerweise als eine aus der Apartheid-Zeit stammende, damals allerdings entlang rassischer Kriterien diskriminierende Form von Sozialpolitik. Doch die Leistungen sind leider völlig unzureichend. Die staatliche Waisenbeihilfe beläuft sich auf N$ 200 monatlich, die Altersrente wurde 201 3 von N$ 550 auf N$ 600 angehoben. Doch sind die EmpfängerInnen heute angesichts des Kaufkraftschwunds ärmer dran als zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit.12 So kostet ein Liter Milch derzeit deutlich mehr als N$ 10 und ist damit sogar teurer als in manchen westeuropäischen Ländern. Wer also meint, dass ein natürlicher Rohstoffreichtum auch der Bevölkerungsmehrheit zugutekommt, sieht sich enttäuscht. Dies gilt auch für die Annahme, dass die Extraktion von Ressourcen quasi automatisch Arbeitsplätze schaffen würde: Die Arbeitslosigkeit in Namibia bleibt Gegenstand höchst unterschiedlicher Angaben, liegt aber mit Sicherheit bei über einem Drittel der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter. Für Jugendliche beläuft sich die Schätzung auf bis zu 70 %! Da10 SMSes of the Day. The Namibian, 3. Februar 2014. 11 Central Bureau of Statistics (2008, p. 34). 12 Levine (2007).

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bei ist dies nicht nur die Generation, die eigentlich über die Zukunft des Landes zu befinden hätte, sondern auch der größte Teil der Bevölkerung. Ein kurzer Abstecher in die Ergebnisse der letzten Volkszählung von 201 1 genügt, um dies zu dokumentieren. Von den mehr als 2,1 Millionen Einwohnern, die damals in Namibia erfasst wurden, waren über 56 % in der Altersgruppe zwischen 15 und 59 Jahren. 23 % waren zwischen 5 und 1 4 Jahre alt und 1 3 % noch jünger. Nur 7 % waren 60 Jahre oder älter.13 Das statistische Durchschnittsalter aller Menschen im Lande belief sich (je nach Berechnung) auf 21 b is 22 Jahre. Angesichts der wenig rosigen Aussichten sollte die politische Apathie unter den Jüngeren im Lande nicht überraschen. Die letzten Erhebungen für die ländervergleichenden Daten in dem »Afrobarometer«-Forschungsprojekt wurden im November/Dezember 201 2 vom lokalen Institute for Public Policy Research (IPPR) im Lande durch geführt und in einem ersten Zwischenbericht am 1 4. März 201 3 öffentlich vorgestellt. Den Ergebnissen der Umfrage zufolge ist lediglich die Hälfte der befragten 18- bis 24-Jährigen an öffentlichen Angelegenheiten interessiert. 23 % unter diesen wäre es egal, ob sie in einem demokratischen Staat leben, 1 4 % würden mitunter sogar undemokratische Herrschaftsformen bevorzugen. Eine demokratische Staatsform und Politikordnung war auch 25 % der 25- bis 34-jährigen Befragten schnuppe und 15 % gaben nicht-demokratischen Systemen den Vorzug. Demgegenüber spielte die Religion in nahezu allen Altersgruppen eine vergleichsweise höhere Rolle und hatte mehr Bedeutung als die Politik. Das sollte schon deshalb auch den Politikern zu denken geben, da gegenwärtig bereits 57 % der namibischen Bevölkerung zwischen 15 und 59 Jahre alt sind. Zum wahrscheinlichen Zeitpunkt der nächsten Wahlen (November 201 4) wird über die Hälfte der Gesamtbevölkerung unter 30 Jahre alt und mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten jünger als 35 sein.14 Mitte Januar 201 4 wurden die Ergebnisse der Schulabschlussprüfungen Ende 201 3 bekannt gegeben. Von insgesamt 42.000 Absolventen der höheren Sekundarstufe erlangten nur 10.800 ein Ergebnis, das die Zulas13 Census gives snapshot of Namibia's population. By Jo­Maré Duddy. The Namibian,

28. März 2013. 14 Institute for Public Policy Research (IPPR). Election Watch, Nr. 5/2013; siehe auch:

»Weniger« Sinn für Demokratie. Von Clemens von Alten. Allgemeine Zeitung, 15. März 2013.

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sungskriterien für ein Universitätsstudium erfüllt. Im Editorial des Namibian wurde daraufhin eine »black hole generation« beschworen: »A rule of thumb (since there are no statistics readily available to help us get accurate figures) would suggest that annually perhaps as many as 20 000 young Namibians from Grade 10 and 12 may well be described as the Black Hole Generation. If they can't get to vocational training, university or into the job­market, what becomes of them? To their fellow Namibians, except close family and friends they simply disappear into a large black hole. That metaphorical bottomless pit is actually very real for many young Namibians, especially those aged 30 and under 14.«15

Es soll jedoch keinesfalls verschwiegen werden, dass trotz dieser Zustände die Regierungspartei und ehemalige Befreiungsbewegung SWAPO nach wie vor die einzig relevante politische Partei im Lande ist, die auch weiterhin mit der Unterstützung einer Mehrheit der Bevölkerung rechnen und unangefochten regieren kann – und sei es auch nur aus Mangel an glaubwürdigen Alternativen. So gibt es nach wie vor auch Stimmen, die sich in der folgenden Art zu Wort melden: »I will vote for the ruling party again. Although not everything is in place, so much has changed in this country. I still can't believe that we have got purified water and electricity at our village. We grew up drinking water from wells. Even our school had no clean drinking water. As small as we were, we used to go down into wells to get water to drink, which was very dangerous. We survived by God's grace. The devil I know is better than the angel I don't know. This is my opinion and I am entitled to it. Ciao. Ngonyofi.«16

An solche Zustimmung gewöhnt, reagiert die SWAPO-Führung gelegentlich recht unwirsch und wenig staatsmännisch auf Kritik. So auch Parteiund Staatspräsident Hifikepunye Pohamba, als er bei einer öffentlichen Veranstaltung in der nordöstlichen Region Kavango West mit dem Unmut einer frustrierten Bevölkerung konfrontiert wurde, die damit drohte, demnächst nicht mehr zur Wahl zu gehen, weil ja eh nichts passiert, 15 Pity the Black Hole Generation. The Namibian, 17. Januar 2014. 16 The Namibian, 2 December 2013.

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was ihre Lebensbedingungen verbessern würde. Darauf antwortete das – direkt vom Volk gewählte – Staatsoberhaupt beleidigt mit dem Hinweis, wenn Leute nicht wählen wollen können sie ja zu Hause bleiben. Nur kurz vorher hatten schon ungefähr 3.000 Bewohner einer informellen Siedlung in Swakopmund beschlossen, als Ausdruck des Protestes gegen ihre Behandlung die zur nächsten Parlaments- und Präsidentschaftswahl gegen Ende 201 4 berechtigenden Stimmkarten der Wahlkommission zurückzugeben. Während ein Editorial in einer lokalen Wochenzeitung dem Präsidenten bescheinigte, dass seine Unmutsäußerung ohne Zweifel eine Binsenweisheit ausdrücke, gab es zu bedenken: »This is perhaps where the crux of the problem lies. Maybe people feel that it makes no difference whether they vote or not because Government and poli­ ticians don't listen to them anyway. Maybe they feel that whether or not they vote, they do not benefit from Government because self­serving politicians and public servants are the only real beneficiaries of the system. They have maybe given up hope of ever having their voices heard and they simply want to send the politicians a clear message. The message is that if you refuse to address our problems we will take away that fat salary of yours, all your perks and that Mercedes Benz you drive around in at our expense and maybe, even do worse.«17

Eine andere Gruppe, die sich von der nachkolonialen Regierungsführung vernachlässigt fühlte, schloss sich in der Namibian Exile Kids Association (NEKA) zusammen. Deren Mitglieder fühlen sich dadurch benachteiligt, dass sie ohne gute Ausbildung im Exil aufgewachsen sind. Seit längerem forderten sie, mitunter lautstark und massiv, durch Arbeitsmöglichkeiten in die namibische Gesellschaft integriert zu werden. Als sie dazu übergingen, mit ihren ungehört verhallten Forderungen auch demonstrativ öffentlichen Raum zu besetzen, warnte sie Premierminister Hage Geingob vor einer Destabilisierung des Landes als willfährige Gehilfen eines von außen induzierten Regimewechsels.18 Angesichts der bereits präsentierten Daten zur Arbeitslosigkeit unter der jüngeren Bevölkerung bedarf es jedoch keiner externen Konspiration, um den sozialen 17 Just listen to us. Windhoek Observer, 19. Dezember 2013. 18 Forces at play to destabilise Namibia. By Selma Shipanga. The Namibian, 20 March 2013.

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Frieden und die gesellschaftliche Stabilität aufs Spiel zu setzen. Aber die Schuldigen und Sündenböcke immer woanders zu suchen hat unter der SWAPO-Regierung schon länger Methode. Ende August 201 4 eskalierte die Situation weiter. Eine Demonstration der NEKA-Aktivistinnen wurde vor dem SWAPO-Hauptquartier von der Polizei aufgelöst. Diese eröffnete das Feuer auf die Flüchtenden und tötete eine junge Mutter. Es bleibt abzuwarten, inwieweit die Woge der Empörung über diesen Gewaltakt das Wahlergebnis im November beeinflusst. Jugendproteste und Widerstand von unten haben in Namibia in jüngerer Zeit deutlich zugenommen. Als eine offizielle Delegation von 250 Teilnehmenden auf Kosten der Steuerzahler im Dezember 201 3 in einem gecharterten Großraumjet zu den Weltfestspielen der Jugend in Ecuador reiste, kam es auf dem Windhoeker Flughafen zu einer Protestkundgebung von etwa 60 Jugendlichen. Diese wurden von der Polizei mit Pfefferspray traktiert.19 Anfang Januar 201 4 enthüllte eine Zeitung, dass im Kabinett der Plan angenommen wurde, das bisherige Parlament (den aus der deutschen Kolonialzeit stammenden ›Tintenpalast‹) abzureißen und durch ein neues Gebäude zu ersetzen. Die geschätzten Baukosten sollten sich auf etwa N$ 700 Millionen belaufen.20 Die Nachricht verbreitete sich auch mittels der neuen sozialen Medien und es kam zu einer kurzfristig anberaumten Protestkundgebung, an der über hundert zumeist jugendliche Demonstranten teilnahmen, die unter anderem »my money, my choice« skandierten. Die Aktivisten erklärten: »Our money cannot be squandered like this. We have the right to a say«, und »We, as the youth, feel it is not the right time to spend such an amount of money when the country is faced with bigger problems such as youth unemployment and patients sleeping on hospital floors. We, therefore, urge our leaders to prioritise the nation’s needs.«21 Eine Flut von Unmutsäußerungen charakterisierte auch die »SMSes of the Day«, bei denen es unter anderem hieß:

19 Police assault demonstrating youths at airport. By Theresia Tjihenuna. The Namibian, 9. Dezember 2013. 20 N$ 700 for new parliament. By Shinovene Immanuel and Nomhle Kangootui. The

Namibian, 9. Januar 2014. 21 Youth protest proposed new parliament building. By Fikameni Mathias. The

Namibian, 14. Januar 2014.

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»*THE government has revealed its intentions to build a new parliament buil­ ding with a price­tag of N$ 700 million and the new building will be named ›Slumber Chambers‹ in slumber world. *N$ 700 MILLION for new a parliament building for the comrades to sleep and dodge the sessions? How many times was there a ›no quorum‹? The mo­ ney must be spent wisely instead; get your priorities right. President Hifike­ punye Pohamba, please wake up and Prime Minister Hage Geingob be on duty 24/7 please. *GOVERNMENT must reconsider its plans to spend N$ 700 million on a new parliament building. They should rather spend that money on a referral hos­ pital. *A NEW parliament building for the fat cats to sleep comfortably as they usually do in the current one. God have mercy on us ordinary people of this country. *Better spend the N$ 700 million on health and poverty alleviation.«22

Der Leserbrief eines Jugendlichen drückte die Frustration bereits vorher so aus: »Before independence, Namibia was oppressed by a handful white capitalists. Currently, Namibian (sic!) is economically oppressed by a handful of black capitalists, clapping their hands at our agony. The former colonisers stole for the rich, the current colonisers are stealing for the rich while the poor have the freedom to die from hunger and multiple stab wounds. […] We must know that since 1990 more than 400 000 youths failed Grade 10 and 12 and are now unemployed. Does the government know where they are and how they are faring? With the current status quo, I wonder what it is going to be like come elec­ tions next year. I wonder whose cries of pain will be the loudest in the air. Will it be from the poor youth or from those colonising us in our land with their misleading and manipulative false promises?«23

22 SMSes of the Day. The Namibian, 22. Januar 2014. 23 The Barren Life of Namibian Youth. By Pashu Shuudi. The Namibian, 15. November 2013.

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Vor der Unabhängigkeit lautete das Motto der SWAPO »Solidarity, Freedom, Justice«. Solche Schlagworte klingen heutzutage angesichts dieser Stimmungslage arg hohl. Nicht zuletzt wirken die hehren Worte auch dann fast wie Hohn, wenn die Diskussion um eine Sozialtransferleistung, den Basic Income Grant (BIG), verfolgt wird. Nachdem eine von der Regierung beauftragte Kommission 2002 ein bedingungsloses Grundeinkommen für Namibia empfohlen hatte, initiierte ein Zusammenschluss von nicht-staatlichen Akteuren 2005 ein BIG-Pilotprojekt. Beteiligt waren die evangelische Kirche, Gewerkschaften und andere NGOs. Die BIG-Koalition erhielt ihr Geld hauptsächlich von kirchlichen Organisationen in Deutschland. Sie startete ihr Projekt in dem Dorf Otjivero. 2008 und 2009 zahlte sie jedem Einwohner dort einen monatlichen Betrag von N$ 100 aus. Die BIG-Initiatoren hofften, durch ihre Initiative und deren Ergebnisse die Regierung zu überzeugen, dass BIG dazu beiträgt, die lokalen Gemeinschaften zu stärken. Ab 2009 tat sich die Initiative jedoch aufgrund der mangelnden Resonanz damit schwer, das nötige Geld zusammen zu bekommen, und reduzierte die Zahlungen. Nicht überraschend ist, dass die wohlhabenden Namibier der Idee, BIG landesweit einzuführen, skeptisch oder sogar offen feindselig gegenüber standen, während jene Armen, die in der Lage waren, ihre Meinung zu äußern, das Projekt unterstützten. Das Pilotprojekt wurde von international angesehenen Wissenschaftlern geprüft, doch deren Befund wurde kontrovers diskutiert. Als Befürworter des BIG wären sie nicht objektiv und hätten methodisch nachlässig gearbeitet, beanstandeten Kritiker. Der Prüf bericht wurde im April 2009 vorgelegt. Das Ergebnis war positiv. Die Gutachter räumten ein, dass die Kosten des BIG mit 2,2 bis 3 % der jährlichen volkswirtschaftlichen Leistung erheblich wären. Ihnen zufolge kann Namibia aber die nötigen Mittel bereitstellen, ohne seine fiskalische Stabilität zu gefährden. Dazu könnte eine moderate Anpassung der Mehrwert- und Einkommenssteuer führen, veränderte Lizenzgebühren auf Rohstoffe, Umschichtungen im Haushalt oder eine Kombination dieser Maßnahmen. Letztlich, so die Schlussfolgerung, sei dies eine Frage des politischen Willens.24 Dass dieser innerhalb der Regierung fast nicht existierte wurde deutlich, als Präsident Hifikepunye Pohamba den BIG 2010 ablehnte. Nachdem er seine Rede an die Nation 2010 im Parlament präsentierte, wurde 24 Haarmann et al (2009).

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er in der Fragestunde auch um seine Meinung zum BIG ersucht. Er lehnte dieses mit der Begründung ab, dass dies eine Form der Ausbeutung Derjenigen sei, die durch ihre Arbeit Geld verdienen und dafür Steuern bezahlten, da diese dann wiederum auf Jene verwendet würden, die nichts täten.25 Diese abweisende Haltung stieß selbst in regierungsfreundlichen Medien auf Unverständnis und Kritik. So titelte ein Editorial unter Verweis auf den Spruch von Marie Antoinette mit »Lasst sie Kuchen essen« und gab zu bedenken: »The significance of the controversy surrounding BIG is that it appears to show a gradual shift in Swapo's political orientation from the centre­left to the right. The only question that remains is how much further to the right of the political spectrum the party is prepared to go. […] The most worrisome aspect of the whole affair is that it provides more eviden­ ce that Government and Swapo have become insular and out of touch with sections of the Namibian population at the grassroots. They have developed a dangerous ›wasn't invented here‹ mentality. If an idea does not come from within Government, or Swapo, it is automatically viewed with suspicion, seen as not even worth considering and then ultimately dis­ missed with contempt. The main argument that Government has advanced against BIG is one of mo­ rality. Giving money to people for doing nothing, the argument goes, en­ courages laziness and a dependency syndrome. This argument might have had some validity if Government was not already giving away money to a whole host of special interest groups for doing nothing. It has created phantom jobs in the public service and the defence force, where people can stay away from work for weeks on end – with no questions asked – but still receive their salary at the end of the month. […] These days if you are a Swapo member, but dare to criticize certain Swapo po­ licies, the rabble of the party members automatically label you ›anti­Swapo‹. The more thoughtful and levelheaded members of the party are too frighte­ ned to speak out, because they fear the mob might turn against them. Our thinking has become muddled, irrational and sometimes even perverse.

25 BIG to­do over Pohamba snub. By Denver Kisting. The Namibian, 5. Mai 2010.

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Under apartheid people used to say, we live in an abnormal society. The fact is that we still live in an abnormal society!«26

Trotz zahlreicher Befürworter blieb die Initiative seither umstritten und weitgehend folgenlos. Trotzdem lassen sich aus den gemachten Erfahrungen interessante Erkenntnisse ableiten. Erklärtes Ziel war die Armut zu reduzieren und der lokalen Gemeinschaft neue Hoffnung zu geben. Dass dies im Rahmen der begrenzten Möglichkeiten durchaus erreicht wurde, darf aus sozialpolitischer Perspektive auch von den Regierenden nicht leichtfertig abgetan werden. BIG ist womöglich nicht die beste Lösung für die strukturell bedingte Ungleichheit und Armut. Aber es ist ein messbarer und sichtbarer Versuch, einen minimalen Lebensstandard zu schaffen. BIG sollte erreichen, dass die Marginalisierten und Ausgeschlossenen über ihr Leben mit einer gewissen Würde selbst bestimmen können. Es gibt Belege, dass das teilweise gelungen ist. Viele Vorbehalte, die gegen die BIG-Initiative vorgebracht wurden, sind Zahlenspiele ohne Moral und Ethik. Diese statistischen Manöver lenken von der eigentlichen Frage ab: nämlich ob und wie soziale Gerechtigkeit und Solidarität Leitprinzipien für eine fürsorgliche Gesellschaft sein können. Keiner der BIG-Kritiker hat in ähnlicher Form bemängelt, dass die Steuerpolitik der Regierung seit der Unabhängigkeit nur die Habenden weiter privilegierte. So wurde der Höchstsatz für individuelle Einkommenssteuer in den letzten 20 Jahren kontinuierlich gesenkt und das mit dem Höchstsatz zu besteuernde Einkommen gleichzeitig ebenso kontinuierlich angehoben. Seit dem Haushaltsjahr 201 3/1 4 wird ein Jahreseinkommen von über N$ 1 ,5 Millionen mit 37 % besteuert. Angesichts der Einkommensunterschiede und der sozialen Notlage eines Großteils der Bevölkerung grenzt dies an Verspottung der Armen, zumal wenn die Finanzministerin in ihrer Haushaltsrede als Motiv angibt, »to relieve the general tax burden on individuals and to assist our citizens in aff rding the basic amenities of life«.27 Die Debatte um Sozialtransferleistungen ist dabei nicht neu. Sie datiert wenigstens 200 Jahre zurück und findet ihren Ursprung in der Geschichte der Sozialphilosophie. Schon 1 797 sprach sich Thomas Paine 26 Let them eat cake. Windhoek Observer, 24 to 30 July 2010. 27 Saara Kuugongelwa­Amadhila: 2013/14 Budget Statement, 26. Februar 2013, S.

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in seiner Schrift Agrarian Justice für die Schaffung eines Nationalfonds aus, der jedem Bürger über 21 Jahren eine jährliche Summe auszahlen sollte, unabhängig von Einkommen und Besitz. Sein Vorschlag war nicht humanitär motiviert, sondern entstammte einem tiefen Gefühl von Gerechtigkeit: Armut wird von dem geschaffen, was man zivilisiertes Leben nennt, diagnostizierte er. Solcherart Zivilisation mache seiner Meinung nach einen Teil der Gesellschaft reicher und den anderen ärmer, als er im natürlichen Zustand gewesen wäre. Deshalb trat er nicht für Wohltätigkeit ein, sondern für Gerechtigkeit.28 Es wäre auch in Namibia viel erreicht, wenn sich die Regierenden von solchen Grundprinzipien der Empathie, Solidarität und sozialen Gerechtigkeit leiten ließen. Es bedarf dabei keinesfalls eines klassenkämpferischen Bewusstseins oder sozialistischen politischen Programmen, um sich für solche Ziele einer ›caring society‹ einzusetzen. Diese sind auch Teil der katholischen Soziallehre. Nach Ansicht des Päpstlichen Rats für Gerechtigkeit und Frieden, ist Solidarität kein entferntes Mitgefühl, sondern eine tiefe und beharrliche Entschlossenheit, sich für das Gemeinwohl zu engagieren.29 Eine Entschlossenheit, die derzeit unter den Regierenden und Habenden in Namibia schmerzlich vermisst wird. Für einen neuerlichen Aufschrei der Empörung sorgte angesichts dieser Verhältnisse die Ankündigung Ende März 201 4, dass die Parlamentarier eine weitere üppige Erhöhung ihrer Saläre erwarteten, um nicht darben zu müssen. Einige unter ihnen beklagten, dass sie mit etwa N$ 50.000 Grundgehalt im Monat (Zusatzleistungen nicht eingerechnet) nicht den Lebensstandard hätten, der ihnen qua Amt als VolksvertrerInnen zustünde. Außerdem wurde ein Kurs in diplomatischer Etikette und Benimmregeln gefordert. Beides zusammen führte zu einer Lawine an eingeschickten SMS-Kommentaren an nur einem Tag: »*MAY I please have my say about the increasing requests for Parliamenta­ rians: Albert Kawana, Parliamentarians are not squatting or live in shacks. They live comfortably. One can see that by judging the bodyweight of most of them. They are greedy. Let me come to show you what is squatting. I dare all Parliamentarians to prove to the Namibian people why they need increases while the majority of us are living in poverty at its worst. 28 Paine (1995). 29 Sirico/Zieba (2000).

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*PARLIAMENTARIANS want to be taught manners now. They all must be comedians really. Some have been in parliament for 24 years and still do not know protocol and are scared to be embarrassed? You are already an em­ barrassment for not doing your jobs. And asking for more money while the majority struggles just to live? Shame on you. Come out of your Mercedes Benzes and fancy suits and feel how we have to live. You should rather ask to be taught humility and get a course in service delivery. *COMRADES, it is great that you MPs want to be taught that it is uncool to take doggy bags from diplomatic banquets. Better would even be if you would ask for English, reading and basic mathematics classes, so you can un­ derstand our Constitution and the consequences of the national budget you theoretically represent? *WHAT? Albert Kawana commends Jerry Ekandjo's proposal to increase the salary of Parliamentarians, saying ›our honourable members are really suffe­ ring‹. Are you out of your mind? How can you suffer with an income of N$ 620 000 per year plus S&T and perks? Have you completely lost connection with your electorate, whose money you are wasting? Carry out an investigation on the average income of those people who are voting you into that comfortable post and make sure that there is no one of them who earns less than 10 % of your income. Then come back and talk about increases, just keep that ratio: the poorest may never earn less than 10 % of what you have. *TOMMY Nambahu is quoted as saying that the low salaries for Parliamenta­ rians do not attract ›quality people‹. He is right (in most cases). We can see that from the very poor results they can come up with after 24 years. So, send all of them home and let people, who are dedicated to the well­being of the nation, apply for the jobs. I am sure the quality of governance will improve immediately.‹«30

Wie diese Reaktionen dokumentieren, ist es um die Stimmung im Volk nicht sonderlich gut bestellt. Ein Vierteljahrhundert nach der Überwindung der institutionalisierten Rassendiskriminierung und des daraus resultierenden schreienden Unrechts ist die Enttäuschung und Verbitterung über die Grenzen der Befreiung deutlich zu spüren und das Land von sozialem Frieden nach wie vor weit entfernt:

30 SMSes of the Day. The Namibian, 31. März 2014.

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»The politicians must wake up to the reality that ordinary Namibians are fast losing trust in the institutions of the state, whether it is the security agencies such as police and army or education and health. Like in Orwell's Animal Farm, Namibia's democracy has become a sham. It is more a dictatorship built on personality cults, patronage and, sadly, in keeping the masses ignorant. But we must all be concerned that the facade will come undone at some point. Perhaps we should just pray that attempts to correct the wrongs being committed now will not take on another extreme primitive form whereby everything must be destroyed in order to build a new.«31

Literatur Central Bureau of Statistics / National Planning Commission (2008): A Review of Poverty and Inequality in Namibia. Windhoek Haarmann, Claudia et al (2009): Basic Income Grant Coalition, Making the difference! The BIG in Namibia. Basic Income Grant pilot project assessment report. Windhoek Human Development Report (201 3). The Rise of the South: Human progress in a Diverse World. New York: United Nations Development Programme Levine, Sebastian (2007): Trends in human development and human poverty in Namibia. Background paper to the Namibia Human Development Report. Windhoek: UNDP Melber, Henning (201 4): Understanding Namibia. The Trials of Independence. London: Hurst Paine, Thomas (1995): Agrarian Justice. In: Foner, Eric (ed.): Thomas Paine Collected Writings. New York: The Library of America Sirico, Robert A. / Zieba, Maciej (eds.) (2000): Pontifical Council for Justice and Peace, The Social Agenda. A collection of Magisterial texts. Vaticano: Libreria Editrice Vaticana

31 For How Long Will Namibia Be Feudal? The Namibian, 14. Februar 2014.

Politische Kultur und Zivilgesellschaft in Namibia Reinhart Kößler

Zivilgesellschaft, verstanden als ein Feld unterschiedlich organisierter Auseinandersetzung über Interessen und Anliegen, spiegelt in hohem Maße die gesellschaftlichen Machtverhältnisse und politischen Zustände in einem nationalstaatlich verfassten Zusammenhang, darüber hinaus aber auch in internationaler, transnationaler Perspektive. Freilich darf Widerspiegelung nicht als unmittelbare Abbildung missverstanden werden. Vielmehr sind Verschiebungen, auch Verzerrungen einzurechnen. Im konkreten Fall bilden sich Machtgefälle und Herrschaftsverhältnisse nicht unmittelbar in der Zivilgesellschaft ab, vielmehr lassen die ihr inhärenten hegemonialen Strukturen in aller Regel Raum für Gegen-Hegemonie und Widerständigkeit. Diese Ambivalenz ermöglicht die Artikulation auch subalterner Positionen, macht zugleich aber einen Teil der Elastizität und damit auch der Persistenz dessen aus, was zumal in einer Gramscianischen Sicht als ›Zivilgesellschaft‹ anzusprechen ist.1 Für Namibia ergibt sich unter Berücksichtigung der hier sehr knapp rekapitulierten Überlegungen eine vor allem auf zwei Dimensionen bezogene Grundproblematik: Sie betrifft zum einen die Stellung der regierenden Partei, zum anderen die Folgen aus der extremen sozialen Ungleichheit, die eine zentrale soziale Tatsache darstellt. Diese Punkte sind von entscheidender Bedeutung für die politische Kultur des Landes; ich möchte sie zunächst etwas erläutern, bevor ich auf die Zivilgesellschaft selbst eingehe.

1 Vgl. ausführlich Kößler/Melber (1993, Kap. 3).

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Staat, Partei und politische Kultur Wie dies auch für andere Staaten des Südlichen Afrika charakteristisch ist, ist das politische System Namibias durch die übermächtige Dominanz der regierenden Partei geprägt, die als bei weitem stärkste Kraft aus dem nationalen Befreiungskampf hervorgegangen ist. Die parlamentarische Mehrheit, die SWAPO seit der Unabhängigkeit 1990 noch weiter ausgebaut hat und die derzeit bei nahezu drei Vierteln der Sitze in der Nationalversammlung liegt, beruht auf Wahlen, die im Kern nicht angezweifelt wurden. Aufgrund des Wahlrechts, das für die Nationalversammlung Verhältniswahl ohne Sperrklausel nach für das gesamte Land einheitlichen Parteilisten vorsieht, bildet die Sitzverteilung die Stimmverhältnisse in optimaler Weise ab. Zugleich stabilisiert das Listensystem die Mehrheitsverhältnisse ebenso wie es den Parteiführungen durchgreifende Kontrollmöglichkeiten gewährt. Diese sind berechtigt, Abgeordnete zurückzuziehen und durch Nachrücker von der Liste zu ersetzen. Parteiaustritte oder -ausschlüsse haben somit den Mandatsverlust ebenso zur Folge, wie den Parteiführungen ein äußerst effektives Disziplinierungsmittel zur Verfügung steht. Nach dem Mehrheitsprinzip ist die dergestalt bewehrte Herrschaftsposition der SWAPO grundsätzlich legitim. Ihre Folgen sind nichtsdestotrotz gerade aus der Perspektive wünschbarer demokratischer Verhältnisse problematisch, zumal wenn man die Modalitäten der im Grundsatz legitimen Machtausübung betrachtet. Hier sind vor allem zwei Punkte hervorzuheben. Die parlamentarische Dominanz der SWAPO wird in ihren Folgen noch einmal durch die Verfassungsbestimmung verstärkt, dass alle Kabinettsmitglieder dem Parlament angehören müssen. Zwar stehen dafür neben den Mitgliedern der Nationalversammlung auch die Mitglieder des Nationalrates zur Verfügung, aber auch Vizeminister werden aus dem Parlament rekrutiert. Damit gehört ein erheblicher Teil, meist die Mehrheit, der Regierungsfraktion letztlich der Regierung an. Deren parlamentarische Kontrolle ist auf diese Weise empfindlich eingeschränkt. Neben einer weitgehend machtlosen parlamentarischen Opposition ist daher auch die Stellung des Parlaments insgesamt strukturell, d. h. aufgrund von Verfassungsbestimmungen, relativ schwach. Ein besonders bedenkliches Beispiel für die Machtposition der regierenden Partei ist die weitreichende Verfassungsänderung, die im August 201 4 im unmittelbaren Vorfeld turnusmäßiger Wahlen äußerst kurzfristig durchs Parlament gebracht wurde.

Politische Kultur und Zivilgesellschaft in Namibia

Besitzt demnach die Regierung ein deutliches Übergewicht gegenüber einem Parlament, das seinerseits von einer übermächtigen Regierungsmehrheit beherrscht wird, so muss konstatiert werden, dass die klassische Konstellation der checks and balances bestenfalls mit erheblichen Einschränkungen funktionieren kann. Dazu haben auch sukzessive, wenig erfolgreiche Versuche zum Auf bau effektiver politischer Alternativen nicht unwesentlich beigetragen. Hatte in der ersten Nationalversammlung die DTA, der als Regierungspartei während der gescheiterten internen Lösungen der 1980er Jahre der Ruch der Kollaboration anhaftete, noch ein Fünftel der Sitze, so ist die Opposition seither bei ungefähr gleichbleibendem Anteil aufgesplittert. Insbesondere erwiesen sich sukzessive Abspaltungen von SWAPO, vor allem CoD und RDP, als unfähig, die von manchen erwarteten Einbrüche in das Wählerpotential des Nordens, SWAPOs wichtigste Basis, zu realisieren. Sie bewirkten wenig mehr als eine Umverteilung der Gewichte innerhalb der diversen Oppositionsparteien. Wesentlich für die politische Kultur Namibias ist weiter die ideologische Gleichsetzung der SWAPO mit der Nation. Dies geht nicht allein auf die Rolle der heutigen Regierungspartei als beherrschende Organisation innerhalb der breiteren nationalen Befreiungsbewegung zurück; hinzu kommt die Anerkennung durch die OAU und wichtige Geberländer, die in Namibia im Unterschied etwa zu Zimbabwe, aber auch zu Südafrika, nur einer Organisation, eben der SWAPO, zuteilwurde. Die besondere staatsund völkerrechtliche Stellung Namibias als veruntreutes Völkerbundsmandat bzw. UN-Treuhandgebiet trug wesentlich dazu bei, dass SWAPO auch auf UN-Ebene als einzige legitime Vertretung des namibischen Volkes formell anerkannt und bis zu Beginn des Übergangsprozesses 1989 auch finanziell in beträchtlichem Maße gefördert wurde. Der Slogan »the nation is SWAPO and SWAPO is the nation« brachte den damit implizierten und zumindest vordergründig auch legitimierten Anspruch emphatisch zum Ausdruck. Diese Gleichsetzung hat weitreichende Konsequenzen für den Umgang mit oppositionellen Strömungen. In dem umrissenen Bezugsrahmen handelt es sich dabei eben nicht einfach um Konkurrenten im Rahmen eines legitimen politischen Wettbewerbs, sondern um Dissidenten, ja um Verräter an der Nation.2 Die Heftigkeit und Aggressivität, mit der Führung, aber auch mittlere Kader der SWAPO auf die erwähnten, offenkun2 Vgl. du Pisani (2010).

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dig in ihrer Tragweite bei weitem überschätzten Abspaltungen reagierten, dürfte nicht zuletzt in diesem Zusammenhang begründet sein. Diese Denkweise und Legitimationsstrategie bestimmt auch wesentlich eine zentrale Praxis, die auch andere Befreiungsbewegungen an der Macht im Südlichen Afrika auszeichnet: den Einsatz von zuverlässigen Parteimitgliedern nicht nur an strategischen Stellen im Regierungsapparat, sondern durchgängig in der Verwaltung ebenso wie in staatlichen Großorganisationen wie Polizei und Armee oder parastaatlichen Unternehmen und Einrichtungen.3 Auch hier verschränken sich unterschiedliche Interessenlagen und Motive. Nicht zu vernachlässigen sind die Folgen der Bestandsgarantie für den durch die südafrikanische Besatzung geprägten öffentlichen Dienst, die Bestandteil des für den Übergang in die Unabhängigkeit ausgehandelten historischen Kompromisses war. Diese Garantie stellte die neue Regierung vor das Problem, die Loyalität eines Apparates sicherzustellen, von dem zunächst einmal anzunehmen war, dass viele seiner Mitglieder ihm feindlich gesonnen seien. Das dafür wohl unumgängliche Einrücken verlässlicher Funktionsträger in den Regierungsapparat blähte diesen in wenigen Jahren nach der Unabhängigkeit auf etwa das Doppelte auf.4 Unweigerlich verschränkte sich mit diesem Bestreben zum Umbau der staatlichen und parastaatlichen Bürokratie jedoch die Erwartung vieler, für ihren Beitrag zum Befreiungskampf und die erlittenen Leiden und Entbehrungen angemessen belohnt zu werden. Dies war keineswegs immer der Fall, wie auch immer wieder vorgebrachte Forderungen von Veteranen unterstreichen, die häufig durch die Aufnahme in den Staatsdienst befriedigt wurden. Die damit verstärkte Erwartungs- und Anspruchshaltung wird seit einigen Jahren durch das Auftreten der struggle kids unterstrichen, die sich auf ihre Geburt im Exil und die Beteiligung ihrer Eltern am Befreiungskampf berufen. In dieser Weise verbinden sich Loyalität und ihre Belohnung, Anspruchsdenken und Maßnahmen zur Ruhigstellung von Konflikten. Dabei ist ein Hinweis von Southall zu beachten: Die Kommunistische Partei Chinas verbindet eine äußerlich zunächst ähnliche Strategie zur Sicherung eines loyalen Apparates mit der strikten Überprüfung der Leistung der so installierten Kader, die im Südlichen Afrika generell nicht anzutreffen ist.5 3 Vgl. Southall (2013, Kap. 6, 8). 4 Vgl. Melber (2000). 5 Vgl. Southall (2013, p. 136).

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Wie bereits angesprochen können diese Probleme und Ungleichgewichte die demokratische Legitimität der von der SWAPO gestellten Regierung schwerlich erschüttern. Sämtliche Wahlen seit der Unabhängigkeit sind ungeachtet diverser Kritikpunkte, die vor allem nach der Wahl 2009 vorgebracht wurden, generell als frei und fair bewertet worden. Wenn auch möglicherweise mit einer mit zunehmendem zeitlichen Abstand abnehmenden Intensität kommt weiter das historische Charisma der Vorkämpfer gegen die Kolonialherrschaft hinzu. Ferner hat SWAPO verschiedentlich gerade in Nord-Namibia auf die noch immer vorhandene Angst angespielt, der Kriegszustand der 1980er Jahre könne sich wiederholen. Diese Gefahr wurde mit dem Auftreten politischer Konkurrenz, zumal mit CoD und RDP, in Verbindung gebracht. Aus einer Reihe sehr unterschiedlicher Gründe ist demnach im vorhandenen staatlichen Institutionensystem die Kontrolle von Regierung und Verwaltung allenfalls mit großen Einschränkungen möglich. Seit nunmehr schon vielen Jahren fest etablierte Durchgriffe etwa auf die parastaatlichen audiovisuellen Medien, ebenso wie ein nicht unerhebliches Ausmaß an Korruption, unterstreichen, dass Namibia von den Prinzipien guter Regierungsführung in vieler Hinsicht weit entfernt ist. Gerade eine solche Diagnose wirft die Frage nach Formen gesellschaftlicher Kontrolle außerhalb des staatlichen Institutionengefüges auf, die das Fehlen von Kontrollen gegenüber staatlichem Handeln wenigstens teilweise kompensieren könnten. Zumindest da, wo ›Zivilgesellschaft‹ in höherem oder geringerem Maß in der Perspektive des Gegengewichts oder auch Widerlagers zum formellen Staatsapparat gesehen wird, käme ihr unter diesen Bedingungen eine potentiell große Bedeutung zu. Derartige Perspektiven erscheinen sogleich in einem problematischeren Licht, vergegenwärtigen wir uns Aspekte einer Debattenkultur, wie sie um die Jahreswende 2013/1 4 nicht zuletzt in Äußerungen wichtiger Vertreter von Staat und regierender Partei gegenüber Ansätzen gesellschaftlicher Opposition zum Ausdruck kamen. Diese Äußerungen waren durch eine Tendenz zum kategorischen Ausschluss jeglicher divergierender Meinungen, aber auch Sachverhalte wie etwa der Anlässe für Proteste, gekennzeichnet. Auf das demonstrative Verbrennen von Wahlausweisen durch Bewohnerinnen und Bewohnter von townships in Swakopmund und !Nami≠Nūs (Lüderitz) reagierte Präsident Pohamba mit dem öffentlichen Hinweis, SWAPO habe für die Stimmen dieser Leute sowieso keinen Bedarf. Aus Sicht des Präsidenten hatte demnach die Lage der Protestierenden, eben-

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so wie ihr Protest selbst, für die Aufrechterhaltung der Machtposition der regierenden Partei keine Bedeutung. Ähnlich reagierte SWAPO-Generalsekretär auf ein Protestbündnis, das sich in Katutura organisiert und eine Teilnahme an den kommenden Kommunalwahlen angekündigt hatte, mit der Erklärung, damit seien die Beteiligten aus der SWAPO ausgeschlossen. Abschließend möchte ich einen Blick auf die Ergebnisse der fünften Runde des Afrobarometer werfen, die im September 201 3 veröffentlicht wurden. Dabei richtet sich der Blick weniger auf das Angebot an Demokratie, als vielmehr auf die Intensität, mit der solche Angebote aufgegriffen und genutzt werden. Bill Lindeke resümierte, dass die etwas bösartige Redensart, in Namibia herrsche »Demokratie ohne Demokraten« zwar nicht überholt sei, aber nunmehr in geringerem Maße zutreffe als in früheren Afrobarometer-Runden. Er fügte jedoch hinzu, dass »eine schwache Nachfrage nach Demokratie fortbesteht«6. Die Diagnose im internationalen Vergleich fiel noch weniger schmeichelhaft aus: »Die Namibierinnen und Namibier stehen im Vergleich zu vergleichbaren afrikanischen Ländern noch vor dem entscheidenden Entwicklungsschritt«.7 Zudem sei die Jugend »sehr eindeutig an öffentlichen Angelegenheiten nicht interessiert«.8 Diese, ebenso wie die vorausgegangenen Feststellungen, lassen sich als deutliche Herausforderungen an ›politische Kultur‹ lesen, aber auch als Erwartungen an ›Zivilgesellschaft‹, zumal dann, wenn ihr, anders als in der eingangs versuchten Begriffsbestimmung, ein normativer, erzieherischer Gehalt zugesprochen wird.

Extreme soziale Ungleichheit und ihre Folgen Die zweite entscheidende Dimension, in der sich Zivilgesellschaft bewegt, ist die Sozialstruktur, die wesentlich Artikulationschancen und Organisationsmöglichkeiten mitbestimmt. Namibia befindet sich in einer nicht einzigartigen, aber doch herausgehobenen Position, die sich schlaglichtartig durch zwei Feststellungen charakterisieren lässt. Zum einen ist das Land aufgrund seines Pro-Kopf-Einkommens seit längerem 6 Lindeke (2013, S. 13). 7 Ebd. (S. 11). 8 Ebd. (S. 12).

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als upper middle income country einkategorisiert. Dem steht ein Ausmaß an Ungleichheit gegenüber, das zu den höchsten der Welt zählt. Dies gilt unabhängig von divergierenden Angaben über den Gini-Index, das am weitesten verbreitete Maß für Ungleichheit. Dieser Index setzt das oberste Einkommensquintil in Beziehung zum untersten. Ein Wert von 0,0 bedeutet absolute Gleichheit, wogegen 1 ,0 extreme Ungleichheit indiziert. Nach unterschiedlichen Angaben liegt der Index für Namibia zwischen 0,6 und 0,7; Deutschland kommt im Vergleich auf etwa 0,3, skandinavische Länder liegen noch deutlich darunter. Schockierend ist auch die Differenz zwischen dem Human Development Index (HDI) und dem nach Ungleichheit bereinigten HDI, die beide zwischen 0 und 1 ,0 berechnet werden: Erreicht Namibia bei der ersten Kennzahl beachtliche 0,688, so liegt die ungleichheitsbereinigte Zahl bei 0,344 – ein Absturz um 43,5%, was im globalen Maßstab einem Verlust von 16 Rangstufen gleichkommt – auch das ist Weltrekord.9 Wie die Ergebnisse des Afrobarometer10 unterstreichen, findet dieses Ausmaß an sozialer Ungleichheit auch seinen Niederschlag im öffentlichen Bewusstsein: Den Befragten erschienen Ungleichheit und Arbeitslosigkeit als vordringliche Probleme. Fragen wir nach den Konsequenzen dieser Befunde für die Zivilgesellschaft, so lohnt ein kurzer Blick auf die verfügbaren Daten zur sozialen Lage einzelner Sprachgruppen.11 Auch wenn diese Daten bereits etwas älter sind, beschreiben sie doch eine Lage, die auch der Augenschein bestätigt. Der HDI liegt demzufolge für die Deutschsprachigen knapp unter 1 ,0 und damit in Bereichen, die sich etwa mit Norwegen vergleichen lassen. Alle anderen Sprachgruppen fallen demgegenüber deutlich ab: Englisch liegt unter 0,9 Afrikaans um 0,8, Otjiherero knapp über 0,6 und Oshivambo bei 0,55. Diese Zahlen unterstreichen nicht nur das Ausmaß der Ungleichheit und das Gefälle vor allem innerhalb des obersten Einkommensquintils. Im Hinblick auf zivilgesellschaftliche Prozesse haben diese sozialen Unterschiede weitreichende Konsequenzen. Die Deutschsprachigen besitzen die Möglichkeit, für ihre zahlenmäßig sehr kleine Gruppe eine Tageszeitung, ein Fernsehprogramm und eine Rundfunkstation – die einzigen klar ethnisch zugeordneten Medien des Landes – ebenso zu unterhalten 9 HDR (2013, p. 154). 10 Vgl. Lindeke (2013, p. 13). 11 Vgl. ausführlicher Kößler (2005, S. 65 – 68); (2015, Kap. 1).

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wie zwei ›Wissenschaftliche Gesellschaften‹, Museen und Bibliotheken sowie zahlreiche andere Formen der Organisation und Kommunikation. Dem steht die Abhängigkeit vieler anderer Sprachgruppen von der oralen Kommunikation, ergänzt durch die spezialisierten Sprachprogramme des NBC-Radios, gegenüber. Diese groben Hinweise belegen bereits den entscheidenden Sachverhalt: Es bestehen aufgrund der extremen sozialen Ungleichheit deutliche Unterschiede in den Chancen der Themensetzung für öffentlichen oder auch halböffentlichen Austausch, aber auch in den Chancen, sich Gehör zu verschaffen. Bedürftigkeit am unteren Ende der Skala verstärkt nicht nur die Abhängigkeit von unterschiedlichen Formen externer Ressourcenzufl sse, sondern vermindert auch die Ressourcen an Zeit und Energie, die für zivilgesellschaftliche Belange eventuell eingesetzt werden können. Insgesamt stehen zivilgesellschaftliche Prozesse, zu denen nicht zuletzt auch die Aufrechterhaltung bestehender oder der Auf bau neuer Organisationszusammenhänge gehört, in komplexen Zusammenhängen, die materielle Bedingungen unbedingt einschließen. Bürgerschaftliche Ethik und Engagement allein genügen nicht, diese Prozesse in Gang zu setzen, sie am Laufen zu halten oder auch, sie zu verstehen. In der aktuellen Situation Namibias hat dies unmittelbare Konsequenzen. Die Eingruppierung als Land mit mittlerem Einkommen hat den Rückzug wichtiger Geber nach sich gezogen. Zusammen mit dem Ende der massiven Finanzierung von Projekten im Bereich von HIV/AIDS, die vor allem von den USA geleistet wurde, hatte dieser Rückzug für Nichtregierungsorganisationen und damit auch für die Zivilgesellschaft generell massive Auswirkungen. Dabei geht es um mehr als bloße Überlebensfragen für NRO, an deren Fortbestehen nicht zuletzt auch die wirtschaftliche Existenz und die Lebensentwürfe der dort Beschäftigten gekoppelt sind – eine aus vielen anderen Ländern bekannte Problematik, die sich auch in hierarchischen Beziehungen zwischen Süd-NRO und ihren Partnern im Norden abbildet. Die angesprochene extreme soziale Ungleichheit ist nun ausweislich des vergleichsweise hohen Durchschnittseinkommens verbunden mit im Land selbst verfügbaren Ressourcen. Zu fragen ist daher, inwieweit die vorhandene, höchst problematische Sozialstruktur sich nicht auch in die Mobilisierung interner Ressourcen für zivilgesellschaftliche Belange umsetzen könnte. Damit ginge weniger eine reguläre materielle Umverteilung einher, als die Herausbildung klassischer Grundlagen von Zivil-

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gesellschaft. In bestimmten Bereichen ist dies auch bereits zu beobachten – nicht zufällig gehört das Sponsoring im Bereich des Sports eindeutig dazu. Zu denken ist auch an unterschiedliche Formen der Wohltätigkeit. Gerade hier reproduzieren sich freilich in besonderem Maß hierarchische Beziehungen, die unmittelbar auf Strukturen der Ungleichheit, auf dem offenen Gegensatz von Überfl ss und krasser Bedürftigkeit, aufruhen. Sehr viel schwieriger dürfte sich demgegenüber jedoch eine andere Form interner Ressourcenmobilisierung gestalten, die in Metropolitangesellschaften von größter Bedeutung ist – die sehr viel stärker im Modus der Gleichheit erfolgende Finanzierung durch Mitgliedsbeiträge. Diese Unterscheidungen lassen bereits erkennen, dass hier auch die Fähigkeit und Bereitschaft zu zivilgesellschaftlicher Intervention zur Debatte stehen. Diese sind an ein gewisses Maß an Unabhängigkeit gebunden, die bisher in Namibia, aber auch im Südlichen Afrika und in einigen anderen Regionen der Welt durch die Leistungen externer Geber weniger gewährleistet denn substituiert wurde. Zwar gewinnen Organisationen auf diese Weise ein gewisses Maß an Selbständigkeit im innergesellschaftlichen Kontext, doch sind die Konsequenzen externer Abhängigkeit nicht zuletzt in den Bereichen des agenda setting und generell der schnellen Adaption hegemonialer Diskurse wohlbekannt. Insgesamt sind zivilgesellschaftliche Initiativen, Prozesse und Strukturen daher unablösbar an die auf nationaler wie transnationaler Ebene bestehenden Machtverhältnisse rückgekoppelt. Das bedeutet wiederum keineswegs, dass diese Machtverhältnisse hier einen unmittelbaren Ausdruck finden. Vielmehr enthält Zivilgesellschaft immer auch Freiheitsgrade, die Chancen auch anti-hegemonialer Prozesse eröffnen. Die Prozesse der Selbstorganisation, die eine notwendige Bedingung zumindest einer lebhaften Zivilgesellschaft darstellen, sind auch mit Ausprobieren und Lernen verbunden. Dies macht solche Prozesse schwer berechenbar und verleiht ihnen auch immer wieder Sprengkraft.

Stand und Perspektiven der Zivilgesellschaft Diese Überlegungen verweisen nochmals zurück auf die eingangs skizzierte kurze Begriffsbestimmung. Sie soll hier noch durch die Erinnerung an andere Dimensionen ergänzt werden, die sich nicht notwendig gegenseitig ausschließen. Neben einem eher funktionalistischen Verständnis

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als Widerlager oder Korrektiv zum Staatsapparat ist vor allem die Gramscianische Konzeption vom erweiterten Staat zu nennen. Zivilgesellschaft meint damit in erster Linie die dem formalen Staat gleichsam vorgelagerten Bereiche. Die dort verankerten Institutionen und Prozesse sichern damit den Kern des Herrschaftsgefüges ab, sind ihm letztlich zuzurechnen. In zunächst irritierender militärischer Sprache spricht Gramsci von »Kasematten« zur Verteidigung bürgerlicher Herrschaft, die den schweren sozialen Auseinandersetzungen seiner Zeit in Westeuropa und besonders in Italien im Unterschied zu der einschneidenden Erfahrung der russischen Oktoberrevolution von 191 7 den Charakter eines Stellungskrieges gegenüber dem Bewegungskrieg verliehen, der die russische Revolution gekennzeichnet hatte. Wie leicht einzusehen ist, steht diese Perspektive der Betrachtung von Zivilgesellschaft unter funktionalistischen Gesichtspunkten nicht ernsthaft im Wege. Das gilt letztlich auch für die Überlegung, dass die Auseinandersetzung im Kontext von Zivilgesellschaft entscheidend um gesellschaftliche, auch kulturelle Hegemonie geführt wird – um Definitionsmacht und um den Konsens sowohl über die bestehenden Verhältnisse als auch über gesamtgesellschaftliche Zielsetzungen. Der Kampf um Hegemonie impliziert gegen-hegemoniale Konzepte, und die damit verbundenen Impulse der Innovation sind ehestens von Prozessen der Selbstorganisation zu erwarten. Ein Stillstellen dieser Dynamik würde auch schwerwiegende Verluste an Fähigkeiten zur Erneuerung und zur Anpassung an sich verändernde Gegebenheiten nach sich ziehen. Dies wiederum geht nicht ohne die Chance ab, dass Konsens und Hegemonie von mehr oder weniger relevanten gesellschaftlichen Gruppen auch in Frage gestellt und herausgefordert werden. Schließlich ist die eher an Toqueville angelehnte Perspektive Zivilgesellschaft als Unterfutter demokratisch-republikanischer Institutionen zu berücksichtigen. Zweifellos folgt allein schon aus den Anforderungen, die Gründung, Auf bau und Aufrechterhaltung von Organisationen an Gruppen wie Individuen stellen, die Notwendigkeit, spezifische Kompetenzen und Fertigkeiten, einen Habitus im Bourdieu'schen Sinne zu entwickeln. Es geht um Disziplin, Verbindlichkeit, um Formen der gruppeninternen Auseinandersetzung, ebenso wie derjenigen mit konkurrierenden oder komplementären Formationen, um Fertigkeiten und Bereitschaft auch zu bürokratischen Operationen wie der zentralen Verwaltung von Finanzen.12 12 Vgl. Kößler (1990, Teil II).

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Diese Überlegungen verweisen bereits auf eine zumindest potentiell normative Dimension. Sie lässt sich leicht durch verbreitete Bezugnahme auf ›bürgerliche Tugenden‹, wie gegenseitige Anerkennung oder zivilen, gewaltfreien Konfliktaustrag, und auch durch das Engagement für ›Gemeinschaft‹ ergänzen. Die Sicht auf Zivilgesellschaft, die dergestalt geradezu als ›Schule der Demokratie‹ erscheint, ist jedoch mindestens durch die Anerkennung der Möglichkeit dessen zu relativieren, was zuweilen als uncivil society 13 diskutiert wird. Die Artikulierung und Verfolgung von Interessen und Anliegen ist zunächst einmal normativ neutral. Verschiedene Erfahrungen mit der Verankerung militant islamistischer oder auch rechtsextremer Gruppen durch diverse Formen gemeindeorientierter Dienstleistungen oder auch der Wohltätigkeit lassen sich schwerlich allein aus normativen Gründen aus ›Zivilgesellschaft‹ hinausdefinieren. Allerdings sollte zugleich berücksichtigt werden, dass das Feld offener Auseinandersetzungen um Anliegen, Zielsetzungen und Interessen einschließlich ihrer organisatorischen Ausformungen, das vor diesem Hintergrund Zivilgesellschaft ehestens umreißt, keine Selbstverständlichkeit ist. Erfahrungen des 20. Jahrhunderts und auch der Gegenwart mit den Folgen einer Monopolisierung von Artikulations- und Organisationsmöglichkeiten durch Staats- und Parteiapparate belegen dies nachdrücklich. In Namibia lässt sich Zivilgesellschaft dementsprechend in einem durch die oben umrissenen Rahmenbedingungen bestimmten Spannungsverhältnis verstehen: Zum einen kann gefragt werden, ob Zivilgesellschaft unter den Bedingungen einer übermächtigen parlamentarischen Mehrheit der Regierungspartei und deren weitgehenden Durchdringung des Staatsapparates potentiell ein funktionaler Ersatz für eine nur eingeschränkt handlungsfähige oder überhaupt nicht vorhandene parlamentarische Opposition sein kann. Diese Perspektive einer außerparlamentarischen Opposition findet jedoch andererseits ihre, in den realen Konstitutionsbedingungen zivilgesellschaftlicher Akteure und den daraus folgenden Dynamiken, begründeten Grenzen. Gerade die deutlichen Veränderungen in den Möglichkeiten, den Fortbestand von Organisationen zu sichern, haben anscheinend auch dazu beigetragen, die Tätigkeitsbereiche mittlerer NRO zu verschieben, etwa von klaren Schwerpunkten im Bereich der Interessenvertretung (advocacy) hin zur Übernahme von Aufgaben in der Regierungsberatung. 13 Vgl. Glasius (2012, pp. 309f.).

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Vor diesem Hintergrund ist der in Namibia verbreitete Eindruck einer Austrocknung und Rückläufigkeit gerade einer kritischen Zivilgesellschaft nachvollziehbar. Die Problematik wird verstärkt, bedenkt man die Schwierigkeiten, denen sich offenkundig die Kirchen gegenübersehen, ihre während des Befreiungskampfes herausgehobene ›prophetische‹ Rolle auch da wieder zu gewinnen, wo dies Konflikt und auch Konfrontation mit der SWAPO und der von ihr gestellten Regierung bedeuten kann. Aus dieser Perspektive kann auch die ungewöhnlich vielfältige und insgesamt kritisch eingestellte Presselandschaft Namibias allenfalls punktuell Gegengewichte schaffen. Dennoch sollten auch Dimensionen berücksichtigt werden, in denen Ansatzpunkte neuerlicher, vielleicht auch neuartiger zivilgesellschaftlicher Aktivität zu erkennen sind. Dabei ist zu bedenken, dass Zivilgesellschaft keineswegs in Organisationen aufgeht, wie dies zumal im Hinblick auf NRO oft den Anschein hat. Auch weniger organisierte, formalisierte und konsolidierte Prozesse verdienen unsere Aufmerksamkeit. Das gilt für die bereits erwähnten Bewegungen, die sich in townships auch im Verhältnis zur formalen Politik sehr unterschiedlich artikuliert haben: einerseits für den Protest durch Verbrennen der Wählerausweise in Swakopmund und Nami≠Nūs, sowie andererseits für den Versuch, Unzufriedene in Katutura bis zu dem Punkt zu organisieren, der eine Teilnahme an den Kommunalwahlen möglich machen würde (One Katutura Community Association). Die Ablehnung – d. h. Delegitimierung – des Wahlprozesses einerseits und die Orientierung auf Wahlen, wenn auch auf lokaler Ebene andererseits, dürfte zugleich ein Hinweis auf die Bandbreite dieser Bewegungs- und Organisationsansätze und wohl auch auf ihre Selbstfindungsprozesse sein. Gerade angesichts immer wieder aufflammender inoffizieller Streiks verdienen auch Bestrebungen zur Verstärkung gewerkschaftlicher Organisation außerhalb des an SWAPO orientierten Dachverbandes NUNW Beachtung. Insbesondere wird von einer verstärkten Beteiligung von Frauen in diesem Bereich berichtet. Auch die Demonstration, mit der vor allem Jugendliche in Windhoek am 1 3. Januar 201 4 offenkundig spontan und kurzfristig auf den gleichsam am Ende der Sommerpause angekündigten Plan zu einem kostspieligen Parlamentsneubau reagierten, kann als Anzeichen für nicht offen zu Tage liegende, leicht übersehene Protestpotentiale verstanden werden. Gleichfalls ein nicht unerhebliches Potential für soziale Bewegungen bezieht sich nach wie vor auf die ungelöste Landfrage. Auch wenn schwer

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einzuschätzen ist, welches Gewicht solchen Hinweisen zukommt, sollten die in Meinungsäußerungen immer wieder auftretenden Verweise auf eine Vorbildfunktion Zimbabwes zusammen mit der gleichfalls rekursiven Sorge traditioneller Führer, jugendliche Mitglieder nicht mehr zurück halten zu können, nicht in den Wind geschlagen werden. Ob und in welcher Form aus einer solchen möglichen Bewegung organisatorische Initiativen entstehen können, muss ebenso offen bleiben wie die naheliegende Frage, ob sich diese Dynamik nicht in besonderem Maß auf der Ebene der stark vom Staat eingebundenen traditionellen Gemeinschaften, ihrer Führungsinstanzen und Behörden (authorities) niederschlagen könnte. Eine starke soziale Bewegung könnte die sehr weitgehende Kooptation traditioneller Führer durch Staat und Regierung in Frage stellen.14 Ebenfalls im Umfeld traditioneller, in diesem Fall auch ›betroffener‹ (affected) Gemeinschaften, haben sich seit 2004, als die Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag der Schlacht am Waterberg hierzu besondere Anstöße gaben, kleine Organisationskerne herausgebildet, die die Problematik des während des Namibischen Krieges von der deutschen Schutztruppe begangenen Völkermordes weiter verfolgen. Neben die übergreifenden Forderungen nach einer offiziellen Entschuldigung durch die deutsche Regierung und entsprechende Entschädigungen ist einige Jahre später das Thema der Rückführung deportierter menschlicher Überreste aus deutschen wissenschaftlichen Institutionen getreten. Es hat sich eine komplexe Akteurskonstellation gebildet.15 Die zweite Rückführungsaktion menschlicher Überreste aus Deutschland Anfang März 201 4 hat deutliche Spannungen in einem zuvor weitgehend einvernehmlich erscheinenden Verhältnis zwischen diesen Gruppen und der namibischen Regierung deutlich gemacht. Auch hier sind weiterreichende Dynamiken nicht auszuschließen, die sich durchaus mit der Landfrage verknüpfen könnten. Freilich bleibt in beiden Fällen zu berücksichtigen, dass solche Prozesse schwerlich viel Resonanz im Norden Namibias und damit bei der Mehrheit der namibischen Bevölkerung finden dürften. Es geht vielmehr um potentielle Mobilisierungs- und Organisationsprozesse unter allerdings sehr relevanten Minderheiten. In bescheidenem Ausmaß lassen sich so Tendenzen in Richtung auf die Herausbildung zivilgesellschaftlicher Zusammenhänge erkennen, 14 Vgl. Kößler (2011); (2012a). 15 Vgl. Kößler (2012b); (2015, Teil III).

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die durchaus als ›Widerlager‹ zum staatlichen Handeln, zumal zum Regierungshandeln, wirken könnten. Dabei ist festzuhalten, dass gerade NRO sich größtenteils nicht einfach nach advocacy oder Dienstleistung eindeutig eingruppieren lassen. Gerade in solchen Funktionsüberschneidungen und der Bereitschaft, neue Tätigkeitsfelder, aber auch Geldquellen zu erschließen, kann ein Grund für die Überlebensfähigkeit der meist als NRO bezeichneten Gruppen liegen. Eben dies begründet aber auch Bedenken hinsichtlich der Abhängigkeit von Gebern, der Unterwerfung unter externe thematische Vorgaben oder auch der Kooptation durch den Staat. Damit ist eine allgemeine Problematik von Süd-NRO angesprochen, die sich in Namibia verschärft stellt angesichts einer zunächst recht günstigen Lage, die nun vom Rückzug zahlreicher Geber aus dem als upper middle income country eingestuften Land kontrastiert wird. Doch besteht nach wie vor Bedarf an Dienstleistungen und auch an Wohltätigkeitsinitiativen, gerade angesichts der akuten sozialen Krisensituation. Die krasse soziale Ungleichheit im Land legt nachdrücklich die Frage nach einer Umstellung auf eine viel stärkere interne Finanzierung der sozialen Dienste, neben noch umfangreicheren Umverteilungsmaßnahmen, nahe. Letztere waren Ziel der vorerst gescheiterten Bestrebungen zur Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens (Basic Income Grant).16 Erstere müssten sich auf ein wesentlich systematischeres bürgerschaftliches Engagement der wohlhabenden Minderheit in Namibia stützen. Doch lässt sich sagen, dass in gewisser Weise erst so eine nachhaltige namibische Zivilgesellschaft entstehen könnte. Ironischerweise könnte dies aus Gramscianischer Perspektive gerade eine Stärkung der sozio-kulturellen Hegemonie des Blocks an der Macht, oder anders, des erweiterten Staates bedeuten. Dieser auf Konsens beruhende Herrschaftszusammenhang würde vielleicht sogar allererst effektiv konstituiert oder doch ganz neu begründet. Diese uneingeschränkt kontrafaktische Überlegung verweist auf innovative Perspektiven und kann zugleich zeigen, wie weit der Weg zu einer lebendigen Zivilgesellschaft nicht nur in Namibia ist.

16 Aktuell wird das Pilotprojekt in Otjivero/Omitara noch einmal für wenige Monate

und mit 80% der früheren monatlichen Pro Kopf­Summe weitergeführt, ebenfalls auf externer Finanzgrundlage.

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Literatur Du Pisani, André (2010): The discursive limits of SWAPO’s dominant discourses on anti-colonial Nationalism in postcolonial Namibia – a first exploration. In: du Pisani, André / Kößler, Reinhart / Lindeke, Bill (eds.): The Long Aftermath of War: Reconciliation in Namibia. Freiburg: Arnold Bergstraesser Institut, pp. 1 – 40 Glasius, Marlies (201 2): Civil Society. In: Kirloskar-Steinbach, Monika / Dharampal-Frick, Guta / Friele, Minou (Hg.): Die Interkulturalitätsdebatte – Leit- und Streitbegriffe / Intercultural Discourse – Key and Contested Concepts. Freiburg/München: Karl Alber Verlag, S. 305 – 31 3 HDR (201 3): Human Development Report 2013. New York, NY: UNDP Kößler, Reinhart (1990): Arbeitskultur im Industrialisierungsprozeß. Studien an englischen und sowjetrussischen Paradigmata. Münster: Westfälisches Dampf boot Kößler, Reinhart (2005): Im Schatten des Genozids. Erinnerungspolitik in einer extrem ungleichen Gesellschaft. In: Melber, Henning (Hg.): Genozid und Gedenken. Namibisch-deutsche Geschichte und Gegenwart. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel, S. 49 – 78 Kößler, Reinhart (201 1): Traditional Leadership, Local Control and the Rule of Law in Southern Africa. In: Klute, Georg / Embaló, Birgit (eds.): The Problem of Violence. Local Conflict Settlement in Contemporary Africa. Köln: Köppe Verlag, pp. 283 – 300 Kößler, Reinhart (201 2a): Ambivalences of Traditional Institutions in Southern Africa. In: Muchie, Mammo / Osha, Sany / Mathu, Matiotleng (eds.): The Africana World: From Fragmentation to Unity and Renaissance. Pretoria: Africa Institute of South Africa, pp. 239 – 262 Kößler, Reinhart (201 2b): Facing Postcolonial Entanglement and the Challenge of Responsibility: Actor Constellation between Namibia and Germany. In: Schwelling, Birgit (ed.): Reconciliation, Civil Society, and the Politics of Memory. Transnational Initiatives in the 20th and 21 st Century. Bielefeld: transcript Verlag, pp. 277 – 31 2 Kößler, Reinhart (2015): Namibia-Germany: Negotiating the Past. i.E. Kößler, Reinhart / Melber, Henning (1993): Chancen internationaler Zivilgesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag Lindeke, Bill (201 3): The Perils and Complexity of Democratic Values in Namibia, 1 3 Sep 201 3. Afrobarometer Briefing Paper, Round 5

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Melber, Henning (2000): Public Sector and Fiscal Policy. In: ders. (ed.): Namibia: A Decade of Independence, 1990 – 2000. Windhoek: NEPRU, pp. 87 – 108 Southall, Roger (201 3): Liberation Movements in Power. Party & State in Southern Africa. Woodbridge: Suffolk & Rochester, NY: James Curry/ Scottsville: University of KwaZulu / Natal Press

»If you have mahangu, you can look after your children.«1 Ernährungssicherung und bedrohte kleinbäuerliche Lebenswelt in Nordnamibia Jonas Metzger, Daniela Dohr und Philipp Kumria

Namibia hat in den letzten Jahren einen starken Urbanisierungsschub erfahren. Trotzdem lebt noch immer ein Großteil der Bevölkerung in den dicht besiedelten nördlich-zentral gelegenen Regionen Omusati, Ohangwena, Oshikoto und Oshana. Diese Regionen sind stark von einer kleinbäuerlichen, auf die eigene Ernährung ausgerichteten Landwirtschaft geprägt, die – trotz Urbanisierung – auch in Zukunft eine gewichtige Rolle für den Alltag und für den Lebensunterhalt der Menschen spielen wird. Während in den urbanen Gebieten alles, was zum Leben benötigt wird, Geld erfordert – wie Nahrung, Miete, Wasser, etc. – ist dies in den ländlichen Gebieten in einem beträchtlich geringeren Ausmaß der Fall. Deshalb wurde und wird bis heute der ländliche Raum in Nord-Zentral Namibia von vielen Haushalten als ein Rückzugsraum genutzt, der vor allem diejenigen beherbergt, die in den Städten noch nicht, oder nicht mehr, zu einem monetären Einkommen beitragen können. AIDS-Kranke, Alte, aber vor allem auch viele Kinder werden deshalb aus den Städten auf das Land geschickt und leben dort bei Großeltern, Tanten oder Onkeln. Die Aufnahme und die damit einhergehende Versorgung von Kindern in den ländlichen Gebieten ist dabei keineswegs nur ein einseitiger Vorteil der städtischen Haushalte, denn die ländlichen Haushalte profi ieren von den zusätzlichen Arbeitskräften, die zum Viehhüten, bei der Aussaat oder bei der Ernte dringend benötigt werden. Auch 1 mahangu = Hirse. Zitat einer Bäuerin in Nordnamibia, April 2014.

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für die Versorgung der in den urbanen Haushalten lebenden Kinder ist die kleinbäuerliche Landwirtschaft in Namibia eine wichtige Stütze: Viele ländliche Haushalte senden regelmäßig Nahrungsmittel – vor allem das für die verbreitete Speise oshifima (Hirsebrei) benötigte Hirsemehl – in die urbanen und semi-urbanen Gebiete und stellen so eine Grundversorgung, unabhängig von dem oft sehr prekären und unregelmäßigen Einkommen der Stadtbewohner, sicher. Im Gegenzug erhalten ländliche Haushalte Geldtransfer von ihren städtischen Verwandten.2 Dies zeigt, dass in Namibia gegenwärtig ein ausgeprägtes, gegenseitiges Austauschverhältnis von Stadt und Land besteht, dessen Wirkung nicht unterschätzt werden darf. Der für die Ernährungslage der Kinder wichtige und als Rückzugsmöglichkeit dienende ländliche Raum steht jedoch vor großen Herausforderungen, die mit einem starken Veränderungsdruck einhergehen. Im Folgenden sollen diese Veränderungen im ländlichen Raum genauer beleuchtet werden, um die spezifischen transformativen Prozesse herauszustellen, welche den ländlichen Raum in seiner Fähigkeit zur Sicherstellung der eigenen Ernährung, sowie in seiner Funktion als sozialer Rückzugsort für Kinder, sukzessive bedrohen. Die Ausführungen basieren auf den Beobachtungen und Erkenntnissen eines dreijährigen sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekts zum Thema »Saatgut und Sozialsystem – Ernährungssicherung in ländlichen Entwicklungsgebieten am Beispiel der Ruvuma Region in Tansania und der Oshana Region in Namibia« (gefördert von der Fritz Thyssen Stiftung). Die Untersuchung in Namibia fand in drei Wahlbezirken der Oshana Region (Okaku, Ondangwa und Ongwediva Constituency) statt. Hierzu wurden in einem sechsmonatigen Feldforschungsaufenthalt 22 semistrukturierte, biographisch-narrative Interviews mit kleinbäuerlichen Haushalten, 6 offen-narrative Interviews mit lokalen Autoritäten und auf das lokale Saatgutsystem Einfl ss nehmende Akteure sowie 8 Interviews mit nationalen und internationalen Entwicklungsexperten durchgeführt.

Ländliche Ernährungssituation in Namibia Die Welternährungskrise 2007/2008, welche durch einen erheblichen Preisanstieg bei Mais, Weizen, Roggen und anderen Grundnahrungs2 Vgl. Greiner (2009, p. 8).

Ernährungssicherung und bedrohte kleinbäuerliche Lebenswelt in Nordnamibia

mitteln an den internationalen Rohstoff börsen ausgelöst wurde, hat die Diskussion über die Zukunft der Welternährung neu entfacht. Zwar sank laut der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) die auf zwischenzeitig über eine Milliarde Menschen angestiegene Zahl der Hungernden wieder auf etwa 842 Millionen Menschen im Jahr 201 33 , doch paradoxerweise leben drei Viertel davon auf dem Land – die Hälfte als kleinbäuerliche Produzenten.4 Auch in Namibia ist die Ernährungslage vieler Menschen weiterhin problematisch. In Folge einer schweren Dürre in 201 3 wurde die Ernährungssituation von 780.000 Namibiern, das ist ein Drittel der gesamten Namibischen Bevölkerung, als unsicher eingestuft. Der größte Teil der Betroffenen lebt in ländlichen Gebieten des Nordens.5 Im Frühjahr 201 4 vernichteten Überflutungen dort erneut einen Großteil der Ernten. Harsche Umweltbedingungen, nährstoffarme Böden, geringer werdende Anbauflächen für die einzelnen Haushalte aufgrund des Bevölkerungswachstums, fehlender Marktzugang für landwirtschaftliche Produkte und die daraus folgende hohe Abhängigkeit von Geldeinkommen außerhalb der Landwirtschaft, führen in Nord-Zentral Namibia zu einer strukturellen Ernährungsunsicherheit. Trotz einer auf die Selbstversorgung ausgerichteten kleinbäuerlichen Landwirtschaft ist der Großteil der befragten Haushalte Netto-Käufer von Nahrungsmitteln. Hunger gehört zum Alltag der ländlichen Bevölkerung. 6.000 Todesfälle von Kindern können jedes Jahr laut der Namibia Alliance for Improved Nutrition (NAFIN) auf Mangel- und Unterernährung zurückgeführt werden.6 Die in den einzelnen Haushalten gelagerten Hirsebestände – das zentrale Grundnahrungsmittel – reichen selten bis zur nächsten Ernte. Bereits einige Monate nach der Ernte sind die Vorräte meist vollständig verzehrt, so dass die Haushalte auf Nahrungsmittelzukäufe, und immer öfter auf Nahrungsmittelhilfen der Regierung oder der NGOs, angewiesen sind. Die namibische Regierung reagierte auf diese dramatische Situation mit einem umfassenden food relief Programm. Besonders gefährdeten Haushalten wurde die Möglichkeit gegeben, über die zuständigen Bürgermeister und headmen direkte Nahrungsmittelhilfen zu beziehen. Um den 3 Vgl. FAO, IFAD, WFP (2013, p. 8). 4 Vgl. World Food Programme (2014). 5 Vgl. Assessment Capacities Project (2014, p. 55). 6 Vgl. NAFIN (2010).

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Kleinbäuerinnen und Kleinbauern einen Neuanfang der eigenen Landwirtschaft zu ermöglichen, verteilte die Regierung 201 2 und 201 3 zusätzlich kostenlos dürretolerantes Saatgut.

Gesellschaftlicher Wandel am Beispiel des Umgangs mit Saatgut Nimmt man die für die Bäuerinnen und Bauern elementare Ressource Saatgut in den Blick, können Veränderungsprozesse im ländlichen Raum besonders deutlich nachvollzogen werden. Noch immer greift die Mehrheit der Bauern auf lokales Saatgut und lokale Saatgutsysteme7 zurück. Das lokale Saatgut und die zur Reproduktion verwendeten Saatgutsysteme sind für die Ernährungssicherung unerlässlich und in ihrer soziokulturellen Bedeutung für die Lebenswelt der Kleinbäuerinnen und Kleinbauern ungebrochen hoch. In der Oshana Region wird lokales Saatgut allgemein als ombuto Oshivambo bezeichnet (dt: Oshivambo-Saatgut). Je nach Ort und Ethnie lautet die Bezeichnung entweder ombuto Oshindonga (Saatgut der Ndonga) oder ombuto Oshikwanyama (Saatgut der Kwanyama). Die Ndonga und die Kwanyama gehören zu der Ethnie der Ovambo, deren vornehmliches Siedlungsgebiet Nord-Zentral Namibia ist. Durch den Bezug zur eigenen Ethnie in der Bezeichnung des Saatguts wird bereits deutlich, dass das Saatgut mehr als nur eine wirtschaftliche Ressource ist, sondern bis heute auch eine identitätsstiftende Bedeutung für die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern besitzt.8 Diese Bedeutung wird z. B. daran ersichtlich, dass Saatgut bei Hochzeiten ein wichtiger Bestandteil der Brautgabe darstellt. Die Gabe des Saatguts durch die Braut-Mut-

7 Die Begriffe lokales, traditionelles und informelles Saatgutsystem werden in der

Literatur synonym verwendet und beschreiben die Tradition der Bäuerinnen und Bauern, einen Teil der letzten Ernte als Saatgut für die nächste Aussaat einzubehal­ ten und die Verbreitung lokal angepasster Sorten durch informelle Weitergabe über Saatgutaustauschbeziehungen zwischen den Bäuerinnen und Bauern zu sichern. Vgl. Bengtsson (2007); Mbwele et al. (2000). 8 Zum traditionellen Umgang mit Saatgut vgl. z. B. Dammann / Tirronen (1975,

Kapitel: Saattagskörner – Das »Hinausbringen« der Saat – Hackarbeit auf dem Acker – Neues Getreide – Das Essen von neuem Getreide); und vgl. Hiltunen (1993, Kap. Farming Magic).

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ter kann dabei als symbolischer und gemeinschaftlicher Segen für die Fruchtbarkeit und für den Neuanfang angesehen werden. Aufgrund seiner fundamentalen Bedeutung für die landwirtschaftliche Produktion wird das Saatgut von den Kleinbäuerinnen und Kleinbauern bewusst mit besonderer Sorgfalt behandelt. Engpässe ergeben sich vor allem durch überschwemmungs- oder dürrebedingte Ernteausfälle und durch Schädlingsbefall. Dass zu Beginn der Aussaat kein eigenes Saatgut mehr vorhanden ist, war traditionell bei den Kleinbäuerinnen und Kleinbauern ein seltener Extremfall, auch wenn der Verlust nicht sofort Ernährungsunsicherheit bedeuten musste. Denn für die in Nord-Zentral Namibia lebenden Menschen hat die Gemeinschaft in einem solchen Fall die Verpflichtung, den Betroffenen durch kostenlose Saatgutgaben einen Neuanfang zu ermöglichen. Traditionell gilt diese Verpflichtung gegenüber jedem, ohne Ansehen der persönlichen Beziehung zu dem Bittenden. Praktisch wird dies so gehandhabt, dass zuerst enge Familienmitglieder, dann entferntere Verwandte, Freunde und Nachbarn um Saatgut gebeten werden. Erst wenn diese Möglichkeiten ausgeschöpft sind, treten die Bäuerinnen und Bauern an Personen heran, zu denen sie in keiner direkten persönlichen Beziehung stehen, die aber dafür bekannt sind, viel oder besonders gutes Saatgut zu besitzen. Diese traditionelle Verpflichtung zur kostenlosen Saatgutgabe wird allerdings durch den sich erhöhenden Monetarisierungsdruck immer fragiler. Modernisierungsprozesse lassen auf der einen Seite einen erhöhten Geldbedarf entstehen, wie z. B. im Blick auf Schulgebühren, für medizinische Versorgung, Traktorpflugdienstleistungen etc. Auf der anderen Seite stärken sie den Individualismus, der immer mehr Kleinbäuerinnen und Kleinbauern aus den traditionellen Solidargemeinschaften ausbrechen lässt. Als Reaktion auf diese Modernisierungsprozesse sind Bäuerinnen und Bauern bisweilen dazu übergegangen, Saatgut zu verkaufen. Diese Ökonomisierung eines Teils der Saatgutaustauschbeziehungen9 trifft marginalisierte Haushalte besonders. ›Marginalisiert‹ bezieht sich dabei nicht allein auf den Mangel an ökonomischen Ressourcen, sondern vor allem auf den nicht vorhandenden Zugang zu familialen, nachbarschaftlichen oder kommunalen Netzwerken. Letztere sind für die soziale Absicherung ebenso bedeutend. Besonders marginalisiert sind geschiedene oder verwitwete Frauen und deren Kinder. 9 Zum gesellschaftlichen Tauschprinzip in Namibia vgl. Klocke­Daffa (2001).

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Die Feldforschungsaufenthalte machten überdies erkennbar, dass die kleinbäuerliche Landwirtschaft und die lokalen Saatgutsysteme durch externe Einflüsse immer stärker an ihre Leistungsgrenze stoßen. Gerade in Namibia werden gravierende Wetterveränderungen im Zuge des Klimawandels in allen Interviews thematisiert. Sintfl tartige Niederschläge führen zu immer wiederkehrenden Überfl tungen, die in der lokalen Sprache efundja genannt werden. Die wachsende Variabilität der Niederschläge stellt Bäuerinnen und Bauern in Nord-Zentral Namibia vor enorme Herausforderungen. Zudem häufen sich in den letzten Jahren andauernde Trockenperioden während der Regenzeit, die große Teile der Hirse auf dem Feld verdorren lassen. Die Einschätzung eines traditionellen Dorfvorstehers ist exemplarisch für die Befürchtungen der Menschen im ländlichen Namibia. Gefragt, wie er die Zukunft der Landwirtschaft sehe, antwortete er: »Looking ahead we are really scared because in these years there are things which we are facing which we did not really see before. If it continues like this, we do not have any hope that we will be okay. Because we hear even the scientists say that in the sky there is something not okay. Therefore, for the future, we are afraid a bit because we do not know if we will reach there in a good condition.« (Dorfvorsteher in Namibia)

Um auf diese neue Situation reagieren zu können haben viele Kleinbäuerinnen und Kleinbauern damit begonnen, modernes Saatgut – Saatgut, das einen systematischen Züchtungsprozess durchlaufen hat – in ihren Anbau mit einzubeziehen. Die Mehrzahl der Menschen verwendet modernes Saatgut in Kombination mit lokalem Saatgut, auch wenn die Verwendung und Bedeutung des modernen Saatguts noch deutlich geringer ist als die des lokalen Saatguts. Die modernen Sorten Okashana No1, Okashana No2 und Kangara wurden von dem International Crops Research Institute for the Semi-Arid Tropics (ICRISAT), in Zusammenarbeit mit Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, speziell für Dürreregionen gezüchtet (die Reifedauer wurde im Vergleich zu den lokalen Perlhirsesorten verkürzt). Die Verteilung des Saatguts erfolgt zu subventionierten Preisen durch staatliche Agrarberater. Vertrieben wird es aber auch durch private Akteure auf lokalen Märkten (beispielsweise auf dem Open Market in Ondangwa und Oshakati). Vor allem Okashana No2 erhöht die Resilienz gegen geringe Niederschlagsmengen und wird daher von fast allen Bäuerin-

Ernährungssicherung und bedrohte kleinbäuerliche Lebenswelt in Nordnamibia

Abbildung 1: Bäuerin mit ihrem Saatgut, Nordnamibia 2012 · Foto: Daniela Dohr

nen und Bauern verwendet. Der große Verbreitungserfolg von Okashana No2 erklärt sich auch aus der einfachen Integrierbarkeit in die traditionellen Anbausysteme. Das volle Ertragspotential kann diese moderne Sorte allerdings nur unter Einsatz von chemischem Dünger, Pestiziden und bei nur einmaliger Verwendung entfalten. Die für die Bäuerinnen und Bauern überlebenswichtige Eigenschaft der kürzeren Reifezeit kommt aber auch ohne die agrochemischen Inputs zum Tragen. Die Okashana No2Pflanzen haben im Vergleich zur lokalen Perlhirse eine deutlich geringere Wuchshöhe. So können beide Pflanzen zur Erntezeit unterschieden werden. Zudem wird bei einigen Bauern zur Erntezeit ein Teil der Okashana No2-Ernte als Saatgut für die kommende Aussaat einbehalten. Die Verwahrung und Behandlung erfolgt in der Regel separat von den lokalen Saatgutsorten. Aufgrund von Auskreuzung mit den lokalen Hirsesorten verringert sich jedoch die Eigenschaft einer kürzeren Reifezeit mit jeder neuen Aussaat. Deshalb kaufen die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern von Zeit zu Zeit (sehr unterschiedlich, zwischen zwei bis sechs Jahren)

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neues Okashana No2-Saatgut zu, um den eigenen Bestand aufzufrischen. Insofern wird das moderne Saatgut nach dem Kauf Bestandteil des lokalen Saatgutsystems. Gravierende Nachteile des modernen Saatgutes sehen die Bäuerinnen und Bauern hingegen in den folgenden Aspekten: Wegen der geringeren Wuchshöhe weist es eine geringere Multifunktionalität auf, da die wesentlich kleineren Pflanzenstiele sich nicht mehr für den Hausbau und für die bei den Ovambo typischen Palisadenzäune innerhalb und außerhalb des Gehöftes eignen. Darüber hinaus ist der Pflanzenstiel der modernen Sorten gegenüber den traditionellen Sorten deutlich dünner und schwächer ausgeprägt. Dies wiederum hat während der Regenzeit ein Umknicken der Hirsepflanzen zur Folge, wodurch die Pflanzen verderben oder die Hirsekörner auf Bodenhöhe von Tieren gefressen werden. Ein weiterer gravierender Nachteil des modernen Hirsesaatgutes besteht in der schlechten Lagerungsmöglichkeit sowohl des Saatgutes wie auch des Getreides. Das moderne Saatgut ist wesentlich anfälliger für Schädlinge, wodurch die Bauern sowohl Nachernteverluste als auch Saatgutverluste zu verzeichnen haben, wie ein Kleinbauer im folgenden Zitat schildert: »Okashana No2 is just for the pests. No, it does not take long to be attacked. That is why we cannot leave that one of ours [die traditionellen Sorten].« (76­jähriger Bauer aus Namibia)

Die Rolle von Frauen in der namibischen Landwirtschaft Im praktischen Umgang mit Saatgut – seiner Auswahl, Verwahrung und Verteilung – spiegeln sich soziale und familiale Strukturen der bäuerlichen Lebenswelt. Grundsätzlich liegt Saatgut im Verantwortungsbereich der Frauen. Die vom Weltagrarbericht thematisierte Feminisierung der Landwirtschaft10 bestätigt sich in Nord-Zentral Namibia und zeigt sich besonders am Thema Saatgut. In Oshana verlassen vornehmlich Männer, aufgrund der bis heute männlich dominierten Arbeitsmigration, die Landwirtschaft und den ländlichen Raum. Dies geschieht aber in erster Linie nicht, weil die Männer die Landwirtschaft generell nicht als ihre 10 Vgl. International Assessment of Agricultural Knowledge, Science and Technology

for Development (IAASTD) (2009, p. 52).

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Aufgabe sehen, sondern weil in der Landwirtschaft keine Möglichkeit besteht, ein monetäres Einkommen zu erwirtschaften, was nach wie vor als Domäne der Männer gilt, während die Hauptverantwortung der Frauen in der Landwirtschaft und in der Ernährung der Familie gesehen wird. Dabei ist die zentrale Rolle von Frauen in der kleinbäuerlichen Landwirtschaft und der Ernährungssicherung ein unübersehbarer Tatbestand. Frauen tragen die Hauptlast und -verantwortung in der Saatgutauswahl und der Ernährungssicherung. Diese Verantwortung wird von einer Bäuerin formuliert: »Meme [die Mutter] is the head of the house, you know, meme is the head of the food. She is the one who gives food in the house. She is the caretaker of the food.« (65­jährige Kleinbäuerin aus Namibia)

Darüber hinaus bestehen in der Oshana Region geschlechtsspezifische Unterschiede, was den Zugang zu Ressourcen (Frauen haben beschränkten Zugang zu Landrechten, monetärem Einkommen, Agrarberatung, Bildung) und den sozialen Status betrifft. Diese Phänomene sind historisch entstanden: In Namibia hat das in der Kolonialzeit eingeführte und während der Apartheid fortgesetzte Kontrakt-Arbeitersystem gravierende Veränderungen in den Geschlechterrollen und in der Sozialstruktur nach sich gezogen, die bis in die Gegenwart hinein existierten. Die traditionelle geschlechtsspezifische Aufgaben- und Rollenverteilung11 hat sich weitgehend aufgelöst. Bis heute sind es mehrheitlich die Männer, die versuchen, eine formale Beschäftigung außerhalb der kleinbäuerlichen Landwirtschaft in den Städten zu finden, um Geldeinkommen zu erwirtschaften. Die Folgen der HIV/AIDS Epidemie und der Verlust von männlichen Arbeitskräften in der Landwirtschaft durch Arbeitsmigration erhöhen den Druck auf Frauen, da sie die Hauptverantwortung für die kleinbäuerliche Landwirtschaft und die familiäre Versorgung (Kinderbetreuung, Pflege kranker Angehöriger etc.) übernehmen. Es ist davon auszugehen, dass das Auf brechen bzw. der Wandel traditioneller Familienstrukturen und des gemeinschaftlichen Wirtschaftens sich in Zukunft weiter verschärfen werden.

11 Vgl. z. B. Tönjes (1911) und Soiri (1996, pp. 18 – 25).

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Resümee Es ist unübersehbar, dass der ländliche Raum von einer besonderen Fragilität durch externe Einfl sse wie den Klimawandel, aber auch durch gesellschaftliche Modernisierungsprozesse, geprägt ist. Diese Einfl sse wirken sich auf die Ernährungssicherheit sowie auf die soziokulturelle Einbettung der Landwirtschaft aus. Altbewährte Methoden geraten heute immer mehr an ihre Grenzen. Die kleinbäuerliche Landwirtschaft kann ihrer Versorgungsfunktion für Kinder, Alte, Kranke und Schwache kaum noch gerecht werden. Vielmehr zeigt sich, dass in Nord-Zentral Namibia eine auf die eigene Ernährung ausgerichtete Landwirtschaft kaum noch möglich ist. Eine stärkere Marktorientierung, als Reaktion auf eine zunehmend monetarisierte Lebenswelt, ist unter den ökologisch harschen Bedingungen Nord-Zentral Namibias kein gangbarer Weg. Auch scheint nicht nur ein Rückzugsraum für besonders gefährdete Gruppen, wie Waisen, Alte und Kranke, verloren zu gehen, sondern auch eine Zukunftsperspektive für viele Kinder, die dort aufwachsen. Vermutlich wird eine rasante Urbanisierung die Folge sein. Die Krise der ländlichen Lebenswelt kann jedoch kaum durch Flucht in die städtische, formelle Ökonomie abgefedert werden. Denn diese bietet Bäuerinnen und Bauern nur wenig Perspektiven auf formale Beschäftigungsverhältnisse. Prekäre Lebensverhältnisse und Ernährungsunsicherheit im urbanen Kontext sind die Folge. Die schnell anwachsenden informellen Siedlungen der Hauptstadt Windhoek bezeugen diese Entwicklungen. Angesichts global stattfindender Urbanisierungsprozesse wird man sich auf eine weitere Verschlechterung der Lebensbedingungen gefasst machen und zugleich aufmerksam beobachten müssen, welche Antworten die Bäuerinnen und Bauern auf diese Krise finden.

Literatur Assessment Capacities Project (201 4): Global Emergency Overview Snapshot 2 – 8 July Bengtsson, Frida (2007): Review of Information Available on Seed Security and Seed Aid Interventions in Ethiopia, Eritrea, Mali and Sudan, [http://www.drylands-group.org/Articles/1 786.html]

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Dammann, Ernst / Tirronen, Toivo E. (1975): Ndonga-Anthologie. Afrika und Übersee, Beiheft 29. Berlin: Reimer Verlag FAO, IFAD, WFP (201 3): The State of Food Insecurity in the World 201 3. The multiple dimensions of food security. Rome, FAO Greiner, Clemens (2009): Beyond the Rural-Urban Divide: Migration in Post-Colonial Namibia. Working Paper, Basler Afrika Bibliographien Hiltunen, Maija (1993): Good Magic in Ovambo. Helsinki: The Finnish Anthropological Society/TAFAS 33 International Assessment of Agricultural Knowledge, Science and Technology for Development (IAASTD) (2009), Global Report: Agriculture at a Crossroads. Washington, D.C. Klocke-Daffa, Sabine (2001): »Wenn Du hast, musst Du geben.« Soziale Sicherung im Ritus und im Alltag bei den Nama von Berseba / Namibia. Münster: Lit Verlag Mbwele, A.A. / Lumbadia, M.Z. / Sichilima, N.P. (2000): Seed Production and Supply System in Tanzania. In: Monyo, E.S. / Lumbadia, M.Z. / Mgonja, M.A. / Saadan, H.M. / Mitawa, G.M. (eds.): Seed Systems for the New Millennium: An Action Plan for Tanzania. Proceedings of the Stakeholders’ Review and Planning Workshop 7 – 8 December 1999, Dar Es Salaam, Tanzania, SADC/ICRISAT NAFIN (2010): Malnutrition in Namibia. Namibia Alliance for Improved Nutrition (NAFIN), [http://de.slideshare.net/Unicef Namibia/malnutrition-in-namibia-summary] Soiri, Iina (1996): The Radical Motherhood. Namibian Women’s Independence Struggle. Nordiska Afrikainstitut, research report no. 99, Motala Grafiska, Motala, pp. 18 – 25, [http://www.diva-portal.org/smash/ get/diva2:277526/FULLTEXT01 .pdf] Tönjes, Hermann (191 1): Ovamboland. Land, Leute, Mission. Mit besonderer Berücksichtigung seines größten Stammes Oukuanjama. 1 . Auflage. Berlin: Verlag von Martin Warneck World Food Programme (201 4): Who are the hungry?, [http://www.wfp. org/hunger/who-are] (Zugriff uf die Internetquellen am 31 .07.201 4)

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4. Afrikas ›vulnerable children‹: Welche Hilfe wird gebraucht?

Ansätze zur Stärkung von Kindern im Südlichen Afrika, die von HIV und AIDS betroffen sind: das Beispiel ›terre des hommes‹ Claudia Berker

Die Arbeit von terre des hommes Deutschland terre des hommes Deutschland setzt sich als internationale Kinderhilfsorganisation seit mehr als 40 Jahren für die Verbesserung der Lebensumstände von Kindern und Jugendlichen in Afrika, Asien, Lateinamerika, aber auch Deutschland ein. Wir unterstützen einheimische Organisationen dabei, in ihrem Umfeld Projekte für Kinder und mit Kindern zu realisieren und damit zu der Verwirklichung ihrer Rechte beizutragen. Wie dieses Stichwort schon andeutet bildet die UN-Kinderrechtskonvention, die von fast allen Staaten der Welt ratifiziert wurde, den Bezugsrahmen der Arbeit von terre des hommes. Damit gilt, dass Kinder als eigene Persönlichkeiten betrachtet werden, denen Unterstützung nicht allein aus Solidarität und Mitgefühl zukommt, sondern weil sie ein Anrecht darauf haben. Dieser so genannte ›kinderrechtsbasierte Ansatz‹ soll Kinder zunehmend dazu befähigen, auch selbst aktiv zu werden und sich für ihre Rechte gegenüber Verantwortlichen, den so genannten Pflichtenträgern, einzusetzen. Dazu gehören Eltern, Lehrer, Behörden und andere staatliche Strukturen. So können aus Kindern Handelnde werden, anstatt nur verletztliche Opfer zu sein. Um diesen Ansatz wird es auch in den folgenden Beispielen aus der Arbeit von terre des hommes im Bereich HIV und AIDS gehen.

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Regionale Projektansätze zur Förderung von Waisen und anderen gefährdeten Kindern In der Region Südliches Afrika fördert terre des hommes rund 60 Projekte jährlich. Die meisten davon sind nicht als ›AIDS-Projekte‹ klassifiziert, dennoch spielt das Thema fast immer eine Rolle. Denn die Auswirkungen der Pandemie sind ein so fester Bestandteil des Alltags der Menschen geworden, dass es in den meisten Fällen ohnehin einen Bezug gibt. Eine Partnerorganisation etwa, die sich gegen Kinderarbeit einsetzt, findet unter den Ursachen für diesen Missstand beispielsweise die große Armut in den Familien, weil Ernährer und Haushaltsvorstände mit HIV infiziert oder an AIDS gestorben sind. In einem Jugend- und Bildungsprojekt behandeln die sogenannten life skills sessions Themen wie verantwortungsbewusstes Sexualverhalten, gesunder Lebensstil und Strategien, sich Gruppenzwang zu widersetzen – denn die Gruppe der 1 4- bis 24-Jährigen ist die am stärksten gefährdete, wenn es um das Risiko einer Infektion mit dem HI-Virus geht. Projekte, die sich ganz konkret auf die so genannten orphaned and vulnerable children (OVC) beziehen, fördert terre des hommes derzeit in Simbabwe, Sambia, Mosambik und Südafrika. Gemeinsames Merkmal fast aller Initiativen ist, dass es sich um gemeindebasierte Unterstützungsprogramme handelt, sie sind community and child centered. Dies ist die Voraussetzung dafür, tragfähige und idealerweise nachhaltige Strukturen zum Abfedern der Folgen von HIV und AIDS für Kinder aufzubauen. Die Aktivitäten der Partnerorganisationen in den genannten Ländern lassen sich in zwei ›Säulen‹ unterteilen: Zum einen geht es um klassische Schutz- und Betreuungssaufgaben, also der Sicherstellung des Grundlegenden, das zum Überleben wichtig ist. Dies bedeutet gleichzeitig, Haushalte und Gemeindestrukturen in die Lage zu versetzen, den Bedürfnissen der betroffenen Kinder besser begegnen zu können. Die zweite Säule sind Aktivitäten, die die eigenen Kräfte der Kinder stärken sollen, um sich trotz der krisenhaften Situation, in der sie aufwachsen, im Leben behaupten zu können. Dazu gehören praktische Angebote wie die Sicherung des Schulbesuchs und damit besserer Zukunftschancen, aber auch Aufklärungsprogramme zu Gesundheitsthemen, Trainings zu Kinderrechten und ihrer Realisierung auf lokaler Ebene, Einkommensinitiativen für Jugendliche oder psychologische Unterstützung.

Ansätze zur Stärkung von Kindern im Südlichen Afrika

Beide Ebenen müssen zusammenwirken: Wenn OVC insgesamt besser versorgt und geschützt sind, können sie von dieser Grundlage aus sich auch in anderen Bereichen entwickeln, sich entfalten und lernen – nicht allein im akademischen Sinne, sondern auch im Blick auf ihre sozialen Kompetenzen und ihre Persönlichkeit. Idealerweise können sie so ihr eigenes Leben, wie die Situation in ihrem sozialen Umfeld, positiv beeinflussen – und das ist letztlich das Ziel des kinderrechtsbasierten Ansatzes.

Quelle: terre des hommes

Das obige Schaubild soll das Zusammenspiel der einzelnen Elemente veranschaulichen. Diese bilden ein Paket aus Einzelmaßnahmen, die bewusst nicht hierarchisch angeordnet sind, da sie sich ergänzen und je nach Bedarf in der jeweiligen Situation des Kindes zum Tragen kommen. Im Folgenden sollen aus verschiedenen gemeindebasierten Projekten einzelne Ansätze herausgestellt werden, die sich besonders bewährt haben. Sie setzen bei verschiedenen Altersgruppen an mit dem Ziel, innerhalb des eigenen Umfeldes bestmögliche Voraussetzungen für ein gelingendes Leben auch unter schwierigen Umfeldbedingungen zu schaffen.

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Zimbabwe: Vom ›OVC‹ zum Kleinunternehmer Die terre des hommes-Partnerorganisation FOST (Farm Orphans Support Trust) war eine der ersten Organisationen in Simbabwe, die ein umfassendes Unterstützungsprogramm für Kinder und Familien, die von HIV und AIDS betroffen sind, gestartet hat. Schwerpunkt sind Farmgemeinden (Manicaland, Mashonaland Central), die von jeher in wirtschaftlich prekären Verhältnissen lebten. Mit der langjährigen Krise in Simbabwe verschärfte sich die Not seit Beginn des neuen Jahrtausends zusätzlich. Ein wichtiger Baustein des FOST-Programmes ist die Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen. In ihnen steckt ein großes Potential, doch die beruflichen Perspektiven sind angesichts teilweise unterbrochener Schulbildung, einer extrem hohen Arbeitslosigkeit und fehlender Mittel für tertiäre Bildung begrenzt. Daher hat der Partner ein lokal angepasstes berufspraktisches Training entwickelt, das Jugendliche befähigen soll, als eine Art Kleinstunternehmer ein Auskommen zu erwirtschaften. In der Ausbildung geht es neben dem Erwerb praktischer Fähigkeiten – wie Schneidern, Honigproduktion oder Gemüseanbau – auch darum, ein unternehmerisches Verständnis zu entwickeln. Für welche Produkte gibt es einen Bedarf, wie vermarkte ich sie, wie kontrolliere ich Einnahmen und Ausgaben? Ebenfalls entscheidend für eine erfolgreiche Umsetzung des Gelernten ist der psychologische Teil. Es werden die Stärken der teilnehmenden Jugendlichen identifiziert und betont, aber es wird auch intensiv an der richtigen Einstellung gearbeitet, einer winning attitude: Was kann und will ich erreichen, wie kann ich an mich glauben und Hindernisse überwinden, wie lasse ich mich auch von Fehlschlägen nicht entmutigen? Über die Jahre hat FOST so hunderte scheinbar chancenlose Jugendliche in die Lage versetzt, an der Verbesserung ihrer Situation aktiv mitzuwirken und unabhängig von Hilfsleistungen zu werden. Um den Ansatz weiterzuverbreiten und die Qualität derartiger Interventionen zu erhöhen hat die Organisation ein Trainingshandbuch erstellt, das die wichtigsten Erfahrungen in praktischen Schritten zusammenfasst. Die Jungunternehmer, wie auch zahlreiche andere Jugendliche im Zielgebiet der Organisation, sind außerdem Teil eines youth leadershipProgrammes, bei dem es darum geht, sie zu Mentoren für ihre Altersgenossen auszubilden. In vom Projekt initiierten Jugendclubs sprechen

Ansätze zur Stärkung von Kindern im Südlichen Afrika

sie über HIV-Prävention und andere jugendrelevante Themen und sind beispielsweise zuständig für die Verteilung von Kondomen. In Umsetzung ihres Mottos »Young people we care« leisten die Clubs auch Unterstützung für Nachbarn, die von HIV und AIDS betroffen sind, beraten Gleichaltrige in Problemsituationen und organisieren Sporttage oder Informationsveranstaltungen zu HIV auf Gemeindeebene. Jugendliche werden selbst für ihre Rechte aktiv und tragen ihre Anliegen auch lokalen Entscheidungsträgern gegenüber vor. Dabei handelt es sich nicht um einen abstrakten Protest, sondern um sehr konkrete Forderungen, etwa den besseren Zugang zu Geburtsurkunden, die Einrichtung eines Kinderschutzkomitees, ein Stück Land für einen Spielplatz oder den Bau eines Brunnens. Außerdem starten die Clubs eigene kleine Einkommensinitiativen, um eigene Aktionen zu finanzieren. Hauptsächlich wird mit einem lösungsorientierten Ansatz gearbeitet. Die Ausgangsfrage ist nicht, welche Schwierigkeiten existieren, sondern was sich verändern muss, damit ein bestimmtes Problem gelöst werden kann. So werden die Beteiligten motiviert, eigenständig nach Wegen zu suchen, die eigene Situation, trotz bestehender Grenzen, zu verbessern. Das Modell der Jugendclubs und die psychologische Stärkung ihrer Mitglieder auf der Basis erprobter Konzepte werden auch von anderen Partnerorganisationen in Simbabwe mit Erfolg angewandt.

Südafrika: Woz'obona – Frühförderung für alle Kinder Die südafrikanische Organisation Woz’obona arbeitet in Limpopo, einer der ärmsten Provinzen des Landes. Über die Jahre ist es der Organisation gelungen, ein so genanntes ›Sicherheitsnetz‹ für Waisen und andere vulnerable children im Projektgebiet zu knüpfen. Im Zentrum steht das Verständnis, dass, wenn die Widerstandkraft des Kindes gestärkt werden soll, es eine fördernde Umgebung braucht, die sich ebenfalls verändern muss. Dazu müssen alle relevanten Akteure auf Gemeindeebene eingebunden werden. Eine wichtige Masche dieses Netzes ist der Auf bau eines umfassenden Frühförderprogramms (Early Childhood Development Programmes) auf Nachbarschaftsebene. Im ländlichen Projektgebiet gibt es eine extreme Unterversorgung mit Kindergärten und ähnlichen Einrichtungen. Häufig werden die Kinder in privaten Horten zwar beaufsichtigt, aber

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es fehlt an qualifiziertem Personal, das Kinder so fördert, dass sie geistig und emotional angemessen auf den Schulbesuch vorbereitet werden. Denn nachgewiesenermaßen werden in den frühen und Vorschuljahren die wichtigsten Weichen für die weitere Entwicklung gestellt. Hier setzt daher die Arbeit zur Stärkung der Jungen und Mädchen aus Familien an, die von HIV und AIDS betroffen sind. Die Organisation hat daher fast 200 Laienbetreuerinnen und Kindergärtnerinnen nach einem eigens für ressourcenschwache Gemeinden entwickelten Trainingsprogramm ausgebildet und erreicht, dass sich die Versorgung mit qualifizierten Betreuungsstellen für OVC über offizielle Kindergärten hinaus signifikant verbessert hat. Dies ist die Basis dafür, dass auch Kinder, die in Armut und Marginalisierung aufwachsen, die Perspektive haben können, ungleiche Entwicklungs- und Lernchancen auszugleichen. Neben der lokalspezifischen Qualität des Trainings beruht der Erfolg auch darauf, dass es der Organisation gelungen ist, lokale Kräfte an der Basis – also Eltern und Nachbarn und andere relevante Gruppen – zu mobilisieren, Verantwortung bei der Unterstützung der OVC zu übernehmen. So sind sichere Räume entstanden, neighbourhood places of care, die auch Nachmittagsbetreuung einschließen. Kinder werden damit zudem vor Missbrauch und Vernachlässigung geschützt zu Zeiten, in denen die Eltern oder Betreuungspersonen sie sonst allein zuhause zurücklassen würden.

Spielend Kinder stark machen Abschließend sei noch ein Ansatz genannt, den terre des hommes und seine Partnerorganisationen in den letzten Jahren zunehmend in der Arbeit mit OVC oder anderen sozial benachteiligten Kindern nutzen, und zwar der Einsatz von Spiel und Sport. Gemäß der UN-Kinderrechtskonvention hat jedes Kind das Recht auf Spiel und eine altersgemäße Freizeitgestaltung. Dies ist kein Luxus angesichts vieler vermeintlich dringenderer Bedürfnisse, sondern gehört zu einem gesunden Aufwachsen ALLER Kinder gleichwertig dazu. Spiel leistet einen wichtigen Beitrag dazu, dass Jungen und Mädchen Herausforderungen in ihrem Lebensumfeld besser meistern: Spiel und Sport sind Türöffner, um über AIDS, Gewalt und andere relevante The-

Ansätze zur Stärkung von Kindern im Südlichen Afrika

men zu sprechen; sie vermitteln soziale Kompetenzen, zum Beispiel Konfliktlösung und fairplay. Kinder und Jugendliche, die Spiel- und Sportmöglichkeit haben, sind nicht nur gesünder, sie lernen auch nachweislich besser. Therapeutisch eingesetzt kann Spiel Jungen und Mädchen dabei helfen, traumatische Erfahrungen zu überwinden. Und nicht zuletzt geht es um die Möglichkeit, einfach einmal Kind sein zu können. Dies setzt wichtige positive Energie frei, die gebraucht wird, um das zu meistern, was schwer ist. Das Kind wird selbstbewusster und lernt, den Blick auf die eigenen Potentiale, nicht nur auf die Mängel in seinem Leben zu richten: »Wenn ich Fußball spiele, dann vergesse ich all die Probleme zuhause«, erzählte einmal ein Junge aus einem Armenviertel in Südafrika. »Ich fühle mich wie ein Superstar.« Wie er berichten viele Kinder, wie sich ihr Blick auf sich selbst und auf ihr Leben verändert habe. Es ist vor allem dieser Sichtwechsel, der von Bedeutung ist: Ein Kind ist nicht nur arm, verwundbar, hiv-positiv oder Missbrauchsopfer. Es hat auch Kraft, Kreativität, Talent und damit Gestaltungsspielraum; es kann Akteur sein und erleben, wie sich negative Einfl sse überwinden lassen. Diese Perspektive ist auch für die Arbeit mit Jungen und Mädchen, die von Armut, HIV und AIDS betroffen sind, sehr wichtig.

Fazit Die Stärkung von Kindern, die von HIV und AIDS betroffen sind, setzt in ihrem unmittelbaren Umfeld an. In den von terre des hommes geförderten Projekten hat Priorität, dass Waisen weiter in ihrer eigenen (Groß-) Familie leben können; wenn dies nicht geht, wird versucht, möglichst geeignete alternative Betreuungsstrukturen zu finden, die es den Kindern erlauben, in ihrer vertrauten sozialen Umgebung zu bleiben. Die Unterstützungsmaßnahmen nehmen idealerweise alle Bedürfnisse und Lebensbereiche des Kindes in den Blick und bestehen gemäß Bedarf aus einer Kombination von Leistungen. Ziel ist es, die Widerstandskräfte der Kinder zu stärken und ihnen konkrete Perspektiven für ihr Leben zu eröffnen, trotz schwierigster Ausgangsbedingungen. All dies muss lokal verankert sein und die Menschen, bzw. Verantwortungsträger, in den jeweiligen Gemeinden einbeziehen, um so tragfähige und nachhaltige Unterstützungsstrukturen auf bauen zu können.

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Die Herausforderungen in der Arbeit mit Waisen und anderen von HIV und AIDS betroffenen Kindern sind oft überwältigend. Armut, Hunger, Gewalt, Ausgrenzung – dies alles bedarf der Aufmerksamkeit und der Fürsorge, aber sollte nicht die ebenfalls vorhandenen Potentiale der Jungen und Mädchen überschatten. Der Fokus darf nicht allein auf ihrer Bedürftigkeit liegen. Denn dies würde bedeuten, die Kinder und Jugendlichen zu reduzieren und ihnen nicht gerecht zu werden. »Die Konzentration auf die Vulnerabilität ist ein Defizit-Ansatz«, hat einmal eine Mitarbeiterin eines südafrikanischen Projektträgers gesagt. Doch Kinder haben auch Kapazitäten: an Entscheidungen beteiligt zu werden, Schwierigkeiten zu überwinden und Missbrauch oder Gewalt zu trotzen. Dieser Blick verleugnet nicht die Probleme, aber kann zu einem konstruktiveren Ansatz führen, der die Kinder mitnimmt bei der Suche nach angemessenen Antworten auf ihre Bedürfnisse. Dann können – bei allen Grenzen, die es natürlich gibt – von AIDS betroffene Kinder und Jugendliche Teil der Lösungsstrategien sein.

Kinder und Jugendliche in Afrika: Die Arbeit von ›Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst‹ Karin Döhne

Der Anteil der Bevölkerung unter 15 Jahren in Afrika beträgt 40,3 % (201 2). In vielen Ländern haben wir es mit anhaltend hohen Geburtenraten zu tun (z. B. Nigeria 2,5 %, Äthiopien 2,1 % und DR Kongo 2,6 %). Die Stiftung Weltbevölkerung schätzt, dass die Bevölkerung Afrikas von heute 1 ,1 Milliarden Menschen bis zum Jahr 2100 auf etwa 4,2 Milliarden anwachsen und sich damit fast vervierfachen wird.1 Die Bevölkerungen afrikanischer Länder sind also sehr jung, ein enormes Potenzial für Kreativität und Entwicklung, wenn die erforderlichen Rahmenbedingungen so gestaltet werden können, dass diese Kinder heute, Jugendliche morgen und Erwachsene übermorgen, zur Gestaltung ihrer Gesellschaften und Gemeinschaften beitragen können. Dabei spielt Bildung eine große Rolle, aber es kommt auf die Art der Bildung an: Bildung, die befähigt, eigene Entscheidungen zu treffen und zu aktivieren, um an der Gestaltung von Gemeinschaft und Gesellschaft teilzunehmen. Rein demographisch gesehen ist Afrika nach wie vor der ›jüngste‹ Kontinent weltweit mit dem größten Nachholbedarf an Bildung.

1 Stiftung Weltbevölkerung (Infoblatt, S. 2): http://www.weltbevoelkerung.de/

uploads/tx_aedswpublication/FS_Entw_Projekt_web.pdf.

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Die aktuelle Bildungs- und Gesundheitssituation in Afrika südlich der Sahara2 Der Education for All (EFA) Development Index stellt ein weltweites Ranking von Ländern dar, über deren Bildungssituation Daten, bestehend aus 4 Komponenten, verfügbar sind: • Universelle Primarschulbildung (Einschulungsraten Primarschule) • Erwachsenenalphabetisierung (15 Jahre und älter) • Geschlechtergleichheit/Parität (Ausprägung der Raten bei Mädchen/ Frauen versus Jungen/Männer) • Qualität der Schulbildung Unter den 20 Schlusslichtern weltweit, zu denen zu allen 4 o.a. Komponenten Daten vorliegen, liegen 15 in Afrika südlich der Sahara: Niger, Burkina, Mali, Zentral Afrikanische Republik (ZAR), Äthiopien, Eritrea, Guinea, Gambia, Angola, Mozambique, Senegal, Nigeria, Mauretanien, Uganda, Ruanda.

Zur Bildungssituation einzelner Länder in Subsahara Afrika: • In Bezug auf Einschulung haben viele Länder im Zeitraum zwischen 1999 und 2010 in absoluten Zahlen große Sprünge gemacht; z. B. ist die Zahl der Einschulungen in Burkina Faso von 154.000 auf 445.000 gestiegen; in der DR Kongo von 767.000 auf 2.268.000; in Sierra Leone von 99.000 auf 218.000. Das bedeutet jedoch immense Herausforderungen für die Schulsysteme. • Insgesamt sind diese Einschulungsraten aber zu niedrig, um mit dem demographischen Wachstum Schritt zu halten, deshalb stagnieren die Zahlen nun oder sind in manchen Fällen rückläufig. In Tansania z. B. ist die Einschulungsrate mit 50 % wieder auf demselben Niveau wie 1999; in Kenia blieb sie im gesamten Zeiraum bei 49 %. • Insgesamt steigt die Zahl der nicht-eingeschulten Kinder wieder an. Von den insgesamt 31 Millionen Kindern, die in Subsahara Afrika nicht 2 Die hier genannten Daten zu Bildung sind dem Weltbildungsbericht der UNESCO

Education for All Global Monitoring Report 2012 entnommen.

Kinder und Jugendliche in Afrika: Die Arbeit von ›Brot für die Welt‹

eingeschult sind, leben die meisten in Nigeria. Dort leben weltweit überhaupt die meisten out-of-school children – insgesamt 10,5 Millionen Kinder. • Es gibt große Kompetenzdefizite: In Burundi, DR Kongo und Mozambique erreicht eins von drei Kindern nicht die vierte Klasse. Von denen, die die vierte Klasse erreichen, verfügen aber viele Kinder nicht über minimale Kompetenzen. Z. B. in Malawi weisen von diesen Kindern nur ca. 10 % minimale Lernergebnisse auf, in Uganda sind es 25 %, in der DR Kongo rund 30 %. Kinder und Jugendliche in Afrika leiden unter vermeidbaren Krankheiten sowie an Unter- und Mangelernährung: Zwar konnte die Weiterverbreitung von HIV und anderen Infektionskrankheiten, wie Malaria und Tbc, verlangsamt bzw. gestoppt werden; auch fiel die Kindersterblichkeit (Under Five Mortality) in Afrika von 1990 bis 201 1 um 47 %. In vielen Ländern ist sie aber noch immer erschreckend hoch. Beispiele sind: Nigeria: 157/100.000 (2008), Namibia 69 (2008), Zimbabwe 84 (201 1), DR Kongo 158 (2010), Benin 1 25 (2008). Hunger, Mangel- und Unterernährung sowie mangelnde Hygiene und Zugang zu sauberem Trinkwasser tragen wesentlich zur hohen Kindersterblichkeit bei. Studien zeigen, dass Ernährungssicherung nicht nur eine Frage der gesteigerten Produktion ist, sondern der Verteilung. Das Ausmaß von Vulnerabilität von Kindern und Jugendlichen in Afrika ist groß. Die Verletzbarkeit von Kindern kann viele Ursachen haben: Verlust der Eltern; Flucht und Vertreibung in Bürgerkriegen; Rekrutierung als Kindersoldaten; Gewalterfahrungen, auch in der Familie; Aufwachsen und Leben in benachteiligten Regionen. Um mit diesen Schwierigkeiten umzugehen, brauchen Kinder eine Bildung, die ihnen Wertschätzung, Akzeptanz und die Fähigkeit vermittelt, unter schwierigen Bedingungen ihr (Über-)Leben bewältigen zu können.

Schlussfolgerungen für die Förderung durch ›Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst‹ Um es gleich vorweg zu sagen: Vulnerabilität von Kindern zu reduzieren ist nicht als ein zentrales Ziel des Hilfswerks formuliert. Im Vordergrund stehen Programmschwerpunkte, wie Ernährungssicherung, Gemeinwe-

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senarbeit, Bildungsförderung, Stärkung der Zivilgesellschaft, gewaltfreier Umgang mit Konflikten und Friedensstärkung. Das jedoch hat alles mit der Lebenswelt von Kindern zentral zu tun, es beeinfl sst ihr Wohlergehen und trägt zur Minderung von Verletzbarkeit bei. Mit der Förderung von Bildungsinitiativen in Afrika, die in die Breite gehen, und die sich vor allem mit der Qualität von Bildung befassen, wird eine große Zahl von Kindern und Jugendlichen erreicht. Dies ist von besonderer Bedeutung in Nachkriegs- und Bürgerkriegsländern wie Ruanda und der Demokratischen Republik Kongo, in der viele Kinder (aber auch Lehrkräfte) vom Kriegsgeschehen und den Gewalterfahrungen des Genozids und den nachfolgenden Kriegen in der Kivu Region verletzt und beschädigt wurden. Viele verloren ihre Eltern, Angehörige und Geschwister. Der Schulalltag ist von psychischen und sozialen Auffälligkeiten geprägt, wie Angstzustände, Hassausbrüche und Konzentrationsstörungen. Der Anteil von kirchlichen Trägern von Schulen und Universitäten ist in diesen Ländern hoch: 40 % in Kamerun, 50 % in Ruanda und 60 % in der DR Kongo. Damit hat Brot für die Welt ein breites und starkes Partnerfeld. Im Sinne von Subsidiarität übernehmen kirchliche Einrichtungen die Erbringung öffentlicher Aufgaben im Bildungs- und Gesundheitssystem. Das soll den Staat jedoch nicht aus der Verantwortung entlassen, die WSK-Rechte (die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte) umzusetzen – aber angesichts fragiler Staatlichkeit wie etwa in der DR Kongo ist das eine schwierige Frage. In einem Land wie Ruanda ist der Staat in der Lage, die Rahmenbedingungen für Bildung zu gestalten. Die kirchlichen Schulen sind wichtige Impulsgeber und stoßen Reformen für strukturelle Veränderungen, z. B. für die Ausbildung von Lehrkräften, an. Die Lebenssituation von Kindern wird aber auch in und durch Gesundheitsprojekte – vor allem durch solche, die nach dem Primary Health Care Konzept arbeiten – verbessert. Die Projekte haben ebenfalls eine breite Wirkung in der Bevölkerung. Ohne Ernährungssicherung und dem Zugang zu guter Ernährung, also dem Recht auf Nahrung, ist jedoch die Eingrenzung von Unter- und Mangelernährung nicht möglich. Auch diese Fragen betreffen Kinder und ihre Entfaltungsmöglichkeiten unmittelbar. Durch Förderprogramme der Sozialen Grunddienste, Ernährungssicherung, Stärkung von Gemeinwesen und Zivilgesellschaft, werden Kinder und Jugendliche (sowie ihre Eltern und Familien) erreicht und Voraussetzungen geschaffen, um ihnen ein besseres Leben zu ermöglichen.

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Es gibt jedoch auch eine ganze Reihe von Projekten afrikanischer Partnerorganisationen, die Kinder und Jugendliche explizit in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen. Die folgenden Beispiele zeigen Bildungsprojekte in Zentralafrika, bei denen Kinder im Zentrum stehen.

Bildungsförderung in Zentralafrika Die Bildungssysteme in vielen afrikanischen Ländern stehen vor der großen Herausforderung, nicht nur quantitativ zu wachsen, sondern Kinder und Jugendliche zu befähigen, ihr eigenes Leben zu bewältigen und in die Hand zu nehmen. Hier setzt die Förderung an: Es geht nicht nur um die Bereitstellung finanzieller Mittel, sondern um die Qualifizierung und Beratung, damit kirchliche Träger in Afrika eigene Bildungskonzepte entwickeln können. Für Tausende von Lehrkräften und Schulleitungen von Primar- und Sekundarschulen in den drei Ländern Ruanda, DR Kongo und Kamerun werden Aus- und Fortbildungen durchgeführt und innovative pädagogische Ansätze schülerorientierter ›partizipativer, aktiver Pädagogik‹ erarbeitet und eingeführt. In mehreren dreiwöchigen Fortbildungen wurde tausenden Lehrkräften in Ruanda, in der DR Kongo und in Kamerun die Möglichkeiten zur Gestaltung eines aktivierenden Unterrichts (im Gegensatz zum gewohnten Frontalunterricht) vermittelt. Durch Gruppenarbeiten und Rollenspiele, auch in Fächern wie Mathematik, lernen die Kinder Aufgaben miteinander zu lösen. Jean Lutswamba, Leiter der Schulabteilung der baptistischen Kirche in der Region Nordkivu, DR Kongo, beschreibt die Ergebnisse wie folgt: »In unseren Schulen rücken das Kind und seine natürliche Neugierde ins Zentrum. Lehrer und Lehrerinnen lernen, sich den Kindern zuzuwenden und sie wertzuschätzen. Sie legen ihr autoritäres Verhalten ab und ermöglichen angstfreies Lernen. Wir haben kein Patentrezept für eine Unterrichtsstun­ de, aber es gibt ein Grundschema, nach dem Pädagogen vorgehen können. Zu Beginn des Unterrichts führen die Lehrer ein Thema ein und geben den Kindern eine Aufgabe. Dann schicken sie sie in Einzelarbeit. Nach einiger Zeit setzen sich die Schülerinnen und Schüler in Gruppen mit ihren Aufgaben aus­ einander und stellen ihre Ergebnisse in der Klasse vor. Abschließend bindet der Lehrer die Ergebnisse thematisch zusammen. Die praktischen Fortbil­ dungskurse werden kombiniert mit theoretischen Einheiten, die ein konstruk­

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tivistisches Verständnis von Lernen und Lehren vermitteln. Die Auswirkungen des Trainings auf die Lehrer sind sehr positiv. Sie legen Wert auf eine gute Verbindung zu Schülern und Eltern. Sie werden zu Vorbildern, die konstruktiv und demokratisch mit Konflikten umgehen. Sie lernen mit Störungen, auf­ grund von Traumatisierung, im Unterricht umzugehen.«

In einigen kirchlichen Universitäten werden nun Multiplikatoren und Erziehungswissenschaftler ausgebildet. Denn Bildung an sich bringt keinen gesellschaftlichen Fortschritt. Es geht um die Art und Weise von Bildung – und darum, in Zentralafrika Erziehungswissenschaft in eigener Gestaltung voranzubringen. In einer wissenschaftlichen Evaluierung, in Zusammenarbeit mit der deutschen Hochschule Nürnberg/Erlangen, konnte Folgendes nachgewiesen werden: In den Schulen, in denen die partizipative und aktivierende Pädagogik praktiziert wurde, ist der Frontalunterricht stark zurückgegangen und die Kinder werden seltener geschlagen. Die Lernergebnisse sind deutlich und messbar gestiegen. Das Selbstwertgefühl der Kinder und demokratische Verhaltensweisen haben zugenommen. Man muss sich immer vor Augen führen: Schlechte Bildung ist nicht nur fehlendes Lernen und Wissen, sie fügt Kindern unmittelbaren Schaden zu: Sie werden gedemütigt und eingeschränkt. Die Jahre in der Schule sind in diesem Fall verlorene Zeit; sie sind unproduktiv und verdummend, denn die Kinder sind vom Erfahrungsfeld ihrer Familien abgeschnitten.

Drei Projektbeispiele, bei denen Kinder im Mittelpunkt stehen: 1. SINANI, Südafrika: Förderung der Selbstorganisation von Post-Konflikt Gemeinden in KwaZulu-Natal Zum Hintergrund: Die Menschen in KwaZulu-Natal haben während der Apartheid ein hohes Maß an struktureller und physischer Gewalt erlebt. Mit dem Ende der Apartheid ist die Gewalt nicht verschwunden, sondern – im Gegenteil – weiter eskaliert. Die nach wie vor dramatisch schlechte sozio-ökonomische Situation, kombiniert mit nicht gehaltenen (Wahl-) Versprechen der politischen Parteien, führten bei den Menschen in Kwa-

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Zulu-Natal zu einem weit verbreiten Gefühl, dass sie auch nach dem Ende der Apartheid nicht gehört werden. Die sich daraus speisende Frustration zieht eine konstant hohe Gewaltbereitschaft nach sich. Soziale, politische und familiale Gewalt griffen und greifen noch immer ineinander und betreffen Kinder und Jugendliche unmittelbar. In den Gemeinden herrscht ein hohes Maß an Missbrauch und Vernachlässigung von Kindern, an häuslicher Gewalt und sexuellen Übergriffen. 39,5 % der Bevölkerung sind HIV-positiv, in der Gruppe junger Frauen im Alter von 19 bis 26 Jahren sogar 51 %. Für Lebensmittelhilfe, Schulbesuch, Pflege von Kranken und Betreuung von Waisen hat die Regierung zwar spezielle Programme geschaffen, aber die am stärksten Marginalisierten haben trotzdem keinen Zugang zu diesen Ressourcen, denn der hängt häufig von ›guten‹ Beziehungen ab. SINANI (das bedeutet »wir sind bei dir« in der Zulu Sprache) bearbeitet die Themenfelder: Armut und Arbeitslosigkeit, HIV/AIDS, soziale Zersplitterung in Folge der Apartheid, sexuelle und häusliche Gewalt. Was macht SINANI? • Einkommen schaffende Kleinprojekte, Berufsberatung für Jugendliche, psychosoziale Begleitung Jugendlicher; • Zirkus für Selbstvertrauen und Ausdauer; • Schulungen in den Gemeinden zur AIDS Prävention und Beistand bei Erkrankung und Tod von Familienmitgliedern und anderen Angehörigen; • Begleitung von 1 .200 AIDS-Waisen und ihre Pflegeeltern; • Abbau von Vorurteilen, gewaltfreie Konfliktbearbeitung, Beratung von Gewaltopfern. Wie wirkt sich diese Arbeit auf Kinder und Jugendliche aus? »Seit zehn Monaten besuche ich den Zirkus. Wir haben hier viel Spaß, und ich erfahre hier auch einiges über meinen Körper. Vor allem aber kann ich im Zirkus frei reden.« Nomfundo Buthelezi, 14 Jahre »Seit elf Monaten besuche ich den Zirkus. Ich lerne dort, dass ich mehr um mich kümmern soll. Nun frage ich mich öfters, was ich wirklich will und wie

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ich das schaffen könnte. Das habe ich vorher nicht gemacht.« Nobuhle Gcina, 11 Jahre

Der Leiter von SINANI beschreibt die Arbeit so: »Nun, wir arbeiten mit Kindern und Jugendlichen – die meisten sind traumati­ siert durch Gewalterfahrungen und Missbrauch, durch Vernachlässigung oder Stigmatisierung, weil sie mit HIV infiziert sind. Das verunsichert sie, macht sie schwach, und oft schlagen sie dann zurück, gehen einen Weg der Gewalt und der Kriminalität. […] Wir glauben nicht an den ewigen Kreislauf von Gewalt, Trauma und Gewalt. […] Wir leisten nichts für Menschen, sondern wollen gemeinsam mit ihnen ihr Selbstbewusstsein stärken, damit sie selbst ihre Pro­ bleme angehen.« Mdu Molefe, Direktor

2. AIDS Counselling Trust (ACT), Zimbabwe Zum Hintergrund: Simbabwe gehört zu den von der HIV/AIDS-Epidemie am stärksten betroffenen Ländern der Welt. Die HIV/AIDS Prävalenzrate von Erwachsenen ist jedoch in den letzten Jahren stark zurückgegangen (2001 : 23,7 %; 2010: 1 4,3 %). In der nach wie vor politisch, sozial und wirtschaftlich angespannten Lage in Simbabwe steigt die Zahl der Obdachlosen und Vertriebenen an. Es wird angenommen, dass diese Bevölkerungsgruppen, ebenso wie die hohe Zahl an AIDS-Toten und Migranten, aus der Statistik herausfallen und sie damit beschönigen. Da in erster Linie die 15 bis 40-Jährigen von der Ansteckung betroffen sind – und darunter insbesondere Mädchen – geraten gewachsene Bevölkerungsstrukturen und die Altersstruktur des Landes zunehmend aus den Fugen. In vielen Fällen zerbrechen Familien und hinterlassen die neue soziale Randgruppe der AIDS-Waisen, deren Zahl auf über eine Million geschätzt wird. Es wird davon ausgegangen, dass in Simbabwe die HIV/AIDS Prävalenz von Mädchen und Frauen im Alter von 15–49 Jahren dreimal höher liegt als bei Männern. Grund dafür ist, dass Werte und Traditionen, aber auch ökonomische und rechtliche Abhängigkeiten, verhindern, dass Frauen ihre (reproduktiven) Rechte wahrnehmen und sich vor Ansteckung oder Schwangerschaft schützen können. Ferner sorgt die nach wie vor starke Tabuisierung von Sexualität dafür, dass Mädchen häufig wenig

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aufgeklärt sind. Die Mädchen werden dazu erzogen, Entscheidungen, die die Sexualität betreffen, den Männern zu überlassen. Was macht ACT? • Arbeit in den Armenvierteln am Rand von Harare; • Kind-zu-Kind-Programme, psychologische Beratung von Waisen, Camps für Kinder, Stärkung ihrer Fähigkeit zur Selbsthilfe; • Sportangebote für Jugendliche, verbunden mit Aufklärung (Teen for Life); • Kredit- und Sparprogramm, Kleintierhaltung, Küchengärten, Häusliche Pflege. Was wird dadurch erreicht? Durch die Bewirtschaftung von Küchengärten werden 60–70 % der Frauen in die Lage versetzt, sich selbst und ihre Familien besser zu ernähren. Durch die intensive Zusammenarbeit mit Kindern und Jugendlichen wurde eine Sportliga gegründet, die Tausenden junger Menschen neben dem Sport eine Plattform für Informationen und persönlichen Austausch zu HIV/AIDS bietet. Insbesondere Mädchen konnten damit erreicht, aufgeklärt und in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt werden. Mittlerweile engagieren sich über ACT insgesamt 320 Jugendliche in diversen Gemeinde-Aktivitäten, darunter sind 56 % Mädchen. Durch Kind-zu-KindProgramme werden junge Menschen angeregt, sich zusammenzuschließen und sich gegenseitig zu unterstützen. Es werden Camps angeboten, in denen die Kinder beraten werden und eigene Selbsthilfegruppen gründen. Tausende Waisen und gefährdete Kinder und Jugendliche werden psychologisch betreut und beraten. Insbesondere junge Mädchen aus benachteiligten Familien werden zu sexueller und reproduktiver Gesundheit (Teen for Life) beraten und über ihre Rechte aufgeklärt. Seit vielen Jahren steht, nicht zuletzt auf Grundlage des christlichen Glaubens, ACT Menschen bei, die neben der psychologischen Krise (z. B. nach dem Verlust eines geliebten Menschen durch AIDS) Gefahr laufen, von Freunden, Verwandten und Kollegen gemieden zu werden. Für die Unterstützung dieser Menschen werden Freiwillige mobilisiert.

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3. Cercle international pour la promotion de la creature (CIPCRE), Benin und Kamerun Das semi-aride Savannenklima im Projektgebiet mit nur einer Regenzeit pro Jahr, die Folgen des Klimawandels, ungeklärte Bodennutzungsrechte, der Bevölkerungsdruck sowie geringe Erwerbsmöglichkeiten, begünstigen die zeitweilige oder definitive Migration eines Teils der Bevölkerung, darunter sind viele Jugendliche. Zielorte der Migranten/innen sind die Kapitale des Südens (Cotonou, Porto Novo etc.), die Nachbarländer (Niger, Nigeria, Ghana). Jugendliche und junge Erwachsenen organisieren ihre Migration teilweise selbstbestimmt. Es gibt auch eine Tradition, bei der Kinder und Jugendliche eine Zeit lang innerhalb der Verwandtschaft, zwecks Arbeit sowie um Schulbesuch und Ausbildung zu ermöglichen, weggegeben werden. Es findet aber auch zunehmend ein organisierter Handel statt, bei dem Zwischenhändler den Eltern ihre Kinder quasi abkaufen. Dies geht mit unrealistischen Versprechungen von einer besseren Zukunft und vermeintlich hohen Verdienstmöglichkeiten im Süden oder den Nachbarländern einher. Die Ausbeutung der Arbeitskraft der Kinder wird nicht selten von sexueller Ausbeutung begleitet. Die Kinder stammen i.d.R. aus sehr armen und bildungsfernen Schichten. Mädchen finden sich häufig als Hausmädchen in reicheren Haushalten oder als billige Arbeitskraft in Lokalen wieder. Gewalt und Missbrauch (insbesondere sexueller Missbrauch) vor allem an Frauen und Mädchen werden nicht offen ausgesprochen: »Das Schlimmste ist das Gesetz des Schweigens, das es nicht erlaubt, solche Taten in der traditionellen Gesellschaft Benins zu denunzieren – und selbst wenn einer NRO, die sich für Kinderrechte einsetzt, ein Fall zu Ohren kommt, dann sind es die Opfer selbst, die nicht wollen, dass die Schuldigen bestraft werden. Die Probleme der Gewalt in Familien stellen also eine Herausforde­ rung für unsere Gesellschaft dar. Es geht für uns darum, Mittel und Wege zu finden, um uns diesem Problem zu stellen bzw. diesen Brauch abzuschwächen und aufzulösen.«

So beschreibt es ein Vertreter der Organisation vor Ort. Eine 2009 durchgeführte Studie hat die Relevanz des Themas bestätigt. Auf bauend auf den Ergebnissen der Studie sensibilisiert CIPCRE die Bevölkerung im

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Projektgebiet sowie die dortigen staatlichen Stellen für die Ursachen und Folgen sexuellen Missbrauchs und Mädchenhandels. Die Aufklärungsarbeit wird in Schulen, aber auch mit Jugendgruppen durchgeführt. Sie richtet sich nicht nur an die Jugendlichen selbst, sondern an Eltern, Lehrer, lokale Gruppen und Vereine. Eine wichtige Projektkomponente stellt die Ausbildung und Begleitung von Multiplikatoren sowie die Ausbildung von Ombudspersonen für Kinderrechte dar.

Literatur Berner-Rodoreda, Astrid / Of, Renate (201 3): Hiv-positiv … und wie damit leben? Erfahrungen und Reflektionen über die Kraft der Solidarität. Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst (Hg.). Frankfurt: Brandes und Apsel Verlag Stiftung Weltbevölkerung (Hg.): Entwicklung und Projektionen – Wie viele Menschen werden in Zukunft auf der Erde leben? (Infoblatt), http://www.weltbevoelkerung.de/uploads/tx_aedswpublication/FS_ Entw_Projekt_web.pdf UNESCO (ed.) (2012): Education for All Global Monitoring Report 2012 – Youth and skills: Putting education to work

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Kindersoldaten und AIDS-Waisen – sind traumatherapeutische Konzepte hilfreich? Klaus-Dieter Grothe

Aus europäischer Sicht ist Kindheit in Afrika schnell mit zwei Schreckensszenarien assoziiert: Kindersoldaten und AIDS-Waisen. Und Kinder mit solchen Erlebnissen und Biografien sind natürlich auch ›traumatisiert‹. Die Frage ist: Hilft das Konzept ›Trauma‹ dem Verständnis und damit der Hilfe für diese Kinder?

Zwei Fallbeispiele: Peter lebt in Parabongo, einem Flüchtlingslager ca. 1 ½ Autostunden nördlich von Gulu, Uganda. Er ist 18 Jahre alt. Im gesamten Verlauf des Gesprächs macht Peter einen traurigen und bedrückten Eindruck. Wenn die anderen zum Fluss gehen und Fische fangen oder Honig von wilden Bienen suchen, was neben Fußball die einzigen Freizeitbeschäftigungen sind, geht er nicht mit. Seitdem er von den Rebellen entführt worden sei, traue er sich nicht mehr aus dem Lager heraus; er sagt, er habe zu große Angst, das würde ihm alles keinen Spaß mehr machen. Außerdem habe er den Eindruck, dass die anderen Jungen mit ihm auch nicht viel zu tun haben wollten, weil sie wüssten, dass er zu den Entführten (abducted) gehörte. Es gäbe zwar andere Jungen, die auch entführt worden seien, die würden auch darüber sprechen, ja teilweise sogar damit angeben, aber er könnte das nicht, er sei dann ganz still. Er gehe auch Mädchen aus dem Weg, er habe keinen Kontakt, er traue sich nicht, er wolle auch keine Beziehung zu Mädchen. Die Familie sei schon 1996 vom Dorf in das Lager gezogen, aus Angst vor den Rebellen und vor Entführungen, aber auch im Lager hier sei

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man nie sicher gewesen; so sei er 1996 zum ersten Mal entführt worden, aber die Rebellen hätten ihn am selben Tag wieder nach Hause gehen lassen, weil er zu klein war. 1999, mit 9 Jahren, sei eine Rebellengruppe aber wieder durchs Lager gezogen und hätte ihn und ca. zehn andere Kinder mitgenommen. Fünf Wochen sei er mit den Rebellen gezogen, hätte Sachen für sie tragen müssen, dann sei ihm die Flucht gelungen. Er habe mit ansehen müssen, wie einige entführte Kinder schon zu Beginn erschlagen worden seien – als Abschreckung für sie, ja nicht zu fliehen. Er habe auch mit ansehen müssen, wie Hütten geplündert und die Menschen getötet wurden. Einmal seien sie an Toten vorbeigekommen, die hätten ganz schrecklich gerochen. Das Schlimmste für ihn sei aber gewesen, dass er gezwungen wurde, auf ein Mädchen mit einem Stock zu schlagen, bis es ohnmächtig liegengeblieben sei. Es habe geblutet. Er wisse nicht, ob er es getötet habe, aber als sie drei Tage später wieder an der Stelle vorbeigekommen seien, habe es tot dagelegen. Er träume heute noch fast jede Nacht davon. Er habe schreckliche Schuldgefühle, er werde das nicht los. Er habe auch mit dem Pastor seiner Gemeinde gesprochen, der habe mit ihm gebetet, aber es sei nicht besser geworden. Seitdem er aus dem Busch zurückgekommen sei, würden ihn seine Eltern auch anders behandeln. Sie würden ihm nicht mehr trauen. Sie würden nicht fragen und sie hätten auch nie gefragt, was er im Busch erlebt habe. Man würde nicht darüber sprechen, aber jeder wüsste ja, was da passiert ist und auch die Eltern würden wahrscheinlich denken, dass er jemanden umgebracht habe. Deshalb würden seine Eltern ihn auch nie alleine mit seinen jüngeren Geschwistern lassen, aus Angst, dass er ihnen etwas antun würde. Deshalb habe er nicht mehr dasselbe Gefühl zu seinen Eltern wie früher; er glaube zwar, dass sie ihn noch lieben würden, aber das Verhältnis sei nicht mehr so eng. Sie würden ihm einfach nicht mehr vertrauen. Dabei habe er gar keine schlimmen Gedanken. Er würde auch nicht böse werden. Er habe nie den Wunsch jemanden zu schlagen – auch nicht wenn er mitbekommen würde wie der Vater, wenn er betrunken sei, die Mutter schlagen würde. Er würde sich dann in seine Hütte zurückziehen. Er fühle sich auch in seiner Familie einsam. Er habe jetzt die Elementarschule (primary school) nach sieben Schuljahren beendet und er habe die Berechtigung, auf die weiterführende Schule (secondary school ) zu gehen, aber sein Vater habe noch nicht entschieden, ob er die highschool besuchen dürfe, ob er sie bezahlen wollen würde und könne. Peter würde gerne die weiterführende Schule besu-

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chen. Wenn er die Schule nicht weiter besuchen dürfe, wisse er nicht, was er tun solle, dann sehe er überhaupt keinen Sinn mehr in seinem Leben. Er habe dann keine Hoffnung mehr. Nein, er habe noch nie an Selbstmord gedacht, aber Hoffnung habe er nur, wenn er weiter auf die Schule gehen könne.1 Lovisa, 1 2 Jahre alt, lebt in Namibia und berichtet: »Im Jahr 2000, als mein Vater krank war, sind wir nach Karas gegangen. Mein Vater ist 2002 gestorben, als ich zwei Jahre alt war. Ich habe meine Mutter immer gefragt, wann Papa zurückkommt, aber sie sagte immer nur, Papa sei in den Norden gegangen. 2004 sind wir in den Norden zu Großmutter gefahren. Großmutter hat mir gesagt, dass mein Vater tot ist. Ich wusste nicht was tot ist und habe Groß­ mutter immer wieder Fragen gestellt – ›was ist tot?‹ – bis sie es leid war und mir gesagt hat, ich solle aufhören zu fragen. 2005 sind wir nach Windhoek gegangen. Meine Mutter hat dort Arbeit ge­ sucht. Sie hat eine Arbeit als Wachpersonal angenommen. Sie hat meiner Tan­ te gesagt, sie soll sich um mich kümmern. Meine Tante hat mir immer erzählt, dass sie krank ist und sie hat mir von HIV erzählt. Ich habe dann angefangen, meiner Tante Fragen zu stellen, während meine Mutter dabei war, aber meine Tante hat mir nicht geantwortet. Meine Mama hat das gehört und wurde böse. Sie hat dann meine Tante gewarnt und gesagt, sie muss aufhören, mir von ihrer Krankheit zu erzählen. 2006 ist meine Tante an HIV gestorben und dann war niemand da, der sich um mich kümmern konnte. Meine Mutter hat mich dann nach Katima Mulilo zu ihrem Cousin gebracht. [ … ] Der Cousin meiner Mutter hat mich schlecht behandelt. 2007 bin ich zurück nach Windhoek gekommen. [ … ] Im Februar 2007 hat meine Mutter ihre Arbeit verloren und sie musste wieder kämpfen und nach Arbeit suchen. [ … ] Im August hat meine Mutter einen kleinen Jungen be­ kommen. Ich war sehr böse, weil ich die Erstgeborene war und gut behandelt wurde, aber als mein Bruder zur Welt kam, wurde ich nicht mehr gut behan­ delt. 2008 ist das erstgeborene Kind des Cousins meiner Mutter gestorben. Als wir bei der Beerdigung waren, haben die Leute geweint und ich habe mich gefragt, warum sie weinen, wo das Kind sich doch nur ausruht. Ich habe das 1 Grothe (2008).

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gedacht, weil mir meine Tante immer gesagt hat, mein Vater ruht sich nur aus. Meine Mutter hat mir dann vom Tod erzählt bis ich verstanden habe, was der Tod ist. Ich habe dann verstanden, dass mein Vater auch tot ist. Ich habe in meinem Zimmer gesessen und die Fotos von meinem Vater betrachtet und geweint, weil mein Vater nie mehr zurückkommen wird. [ … ] 2009 ist die Mutter von meinem Freund gestorben. Als ich das meiner Mutter erzählt habe, hat sie mir wieder erklärt, was der Tod ist, bis ich es verstanden habe. Meine Mutter und mein Stiefvater streiten nachts immer. Im März hat meine Mutter die Beziehung zu meinem Stiefvater beendet. Meine Mutter hat ihre Arbeit im Juni verloren. 2011 hat meine Mutter eine Arbeit bei einer Kredit­Firma gefunden. Meine Mutter hat hart dafür gekämpft, uns versorgen zu können. Bis heute ist meine Mutter diejenige, die sich um mich kümmert.«2

Trauma-Konzepte Beide Kinder sind sicher hoch psychisch belastet, das eine durch das Erleben und Ausüben schrecklicher Grausamkeiten; das andere durch das Erleben von Verlust und ständiger Auseinandersetzung mit drohendem Verlust von Eltern und nahestehenden Bezugspersonen. Beides sind Erfahrungen, die die kindliche Psyche überfordern können und denen damit eine ›traumatische‹ Qualität zukommt, wenn wir Trauma als eine Verletzung der Seele verstehen, die die psychischen Bewältigungsmöglichkeiten überfordert bzw. überfordern kann. Das vorherrschende Trauma-Modell der westlichen Psychiatrie (genauer: dessen Rezeption in der medialen Öffentlichkeit) setzt nun an dieser Stelle an: Das Ereignis führt zu einer spezifischen Form der psychischen Bewältigung im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), die gekennzeichnet ist durch eine spezifische Psychopathologie: emotionale Abstumpfung mit sozialem Rückzug, unwillkürliche Beschäftigung mit dem traumatischen Ereignis ( flash-backs, Albträume), starke Schlafstörungen, erhöhte Reizbarkeit, Schreckhaftigkeit, Vigilanzsteigerung (›immer auf dem Sprung‹), das Vermeiden von allen Reizen, die an das traumatische Ereignis erinnern. Für diese definierte und anerkannte Störung werden dann auch standardisierte traumatherapeutische Methoden empfohlen, wie z. B. EMDR (Eye Movement Densitization and 2 Gronemeyer/Fink (2013).

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Reprocessing)3 , NET (Narrative Expositionstherapie)4 oder Imaginationsmethoden5 . Grundlage dieser Methoden ist 1 . die Erkenntnis, dass Symptome der PTBS mit spezifischen neurobiologischen Befunden (z. B. konstant erhöhte Aktivität des Mandelkerns (Corpora amygdala) sowie einer Verkleinerung des Hippocampus einhergehen6; und 2. die Annahme, dass das Gespräch, bzw. das bewusste Erinnern des traumatischen Ereignisses, die Symptomatik verbessert und die unkontrollierte Überfl tung mit ›traumatischen‹ Bildern und Affekten verringert. Das war jetzt eine sehr verkürzte Fassung des Trauma-Konzepts – natürlich sind die Dinge komplexer und auch die aktualisierten Leitlinien der wissenschaftlichen Fachgesellschaften äußern sich (inzwischen) differenzierter. Das Hauptproblem aus meiner Sicht ist jedoch, dass dieses zugespitzte und komplexitätsreduzierte Trauma-Konzept Eingang gefunden hat in viele populärpsychologische Veröffentlichungen und Argumentationen sowie auch in Arbeitsweisen diverser NGOs in Kriegsgebieten. Überall ist dann die Rede von traumatisierten Menschen, denen man doch mit psychologischer Hilfe beistehen müsse – westliche Experten werden eingeflogen in die Krisengebiete der Welt, sobald die militärischen Kampfhandlungen beendet sind. Ich habe als Berater selbst erlebt, wie solche traumatherapeutischen Konzepte in die Arbeit in Nachkriegsgebieten in Bosnien, Kosovo oder Norduganda eingeflossen sind.

Kritik des Trauma-Konzeptes Recht früh ist diese Trauma-Arbeit in Nachkriegsgebieten auch stark kritisiert worden, z. B. in dem vorzüglichen Sammelband »Schnelle Eingreiftruppe Seele« von medico international.7 Auch aus dem Kreis derjenigen, die sich in Deutschland mit den psychischen Störungen von Flüchtlingen auseinandersetzen, ist Kritik an

3 Vgl. z. B. Hensel (2007). 4 Schauer/Neuner/Elbert (2005). 5 Reddemann (2005). 6 Van der Kolk (2000). 7 Medico international (1997/2000).

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diesem verkürzten Modell, auch der PTBS allgemein, geäußert worden.8 Interessanterweise hat dies wenig Eingang gefunden in die engere wissenschaftliche oder fachgesellschaftliche Diskussion von psychischen Störungen nach Trauma. Die Kritik kann in den folgenden Punkten zusammengefasst werden: 1 . Die Auswirkungen von traumatischen, existentiell bedrohlichen Erfahrungen, sind nicht statisch, sondern dynamisch, sie entwickeln und verändern sich. Hans Keilson hat schon in seinen Untersuchungen zu überlebenden jüdischen Waisen des Nationalsozialismus dargestellt, dass es sinnvoll ist, verschiedene Stadien der traumatischen Situation zu unterscheiden. Er prägte den Begriff der ›sequentiellen‹ Traumatisierung. In seinen Arbeiten konnte er aufzeigen, und dies kann durch vielfältige tägliche klinische Praxis und Erfahrung bestätigt werden, dass für die dauerhafte psychische Entwicklung nach einem Trauma nicht die Art und Stärke des Traumas entscheidend ist, sondern die posttraumatische Sequenz: In welchen sozialen Kontexten, in welcher Umgebung findet das weitere Leben statt?9 2. Die psychischen Auswirkungen eines traumatischen Erlebens sind abhängig vom sozialen Kontext: Wird das Trauma als solches anerkannt? Gibt es hinterher eine friedliche Situation? Kann das Leben wieder aufgebaut werden oder ist der Betroffene weiterhin bedroht, muss in Unsicherheit und Angst leben? Dazu zwei Beispiele: Ich arbeite seit 20 Jahren in ambulanter Praxis als Psychotherapeut und Kinder- und Jugendpsychiater mit psychisch beeinträchtigen Flüchtlingen. Regelmäßig konnte ich bei Erwachsenen beobachten, wie die traumatischen Erfahrungen – sei es im bosnischen, kosovarischen oder türkisch-kurdischem Bürgerkrieg – nicht verblassen bzw. integriert werden konnten, weil die Situation der Hilfesuchenden über viele Jahre hinweg von rechtlicher und sozialer Unsicherheit und von der Unmöglichkeit weiterer Lebensplanung geprägt war. Dies hat bei den Allermeisten zu schwerwiegender Chronifizierung der Symptomatik und zu dauerhafter psychischer Beeinträchtigung geführt. Erst mit Aner8 Z.B. Becker (2000). 9 Keilson (1979/2001).

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kennung einer zumindest rechtlichen Sicherheit (Aufenthaltsrecht) kam es zu einer seelischen Beruhigung – aber oft erst nach Jahren, und die Chronifizierung war nicht mehr aufzuhalten. Besonders litten diese Menschen darunter, dass sie die mangelnde Anerkennung als Asylberechtigte oder Flüchtlinge mit sicherem Aufenthaltsstatus durch staatliche Behörden als Verleugnung ihrer traumatischen Erfahrung erlebten, was sie als zusätzliche – und meist noch schwerwiegendere – seelische Verletzung empfanden: eine Situation, ähnlich wie die einer vergewaltigten Frau oder einem Missbrauchten, dem niemand glaubt. Manche Flüchtlinge fanden es dann doppelt erniedrigend, dass sie erst dann ein Aufenthaltsrecht zugesprochen bekamen, nachdem ihnen psychiatrischerseits eine entsprechende Erkrankung, eine posttraumatische Belastungsstörung, bescheinigt wurde. D.h. ihnen wurde eine Krankheit geglaubt, aber nicht der Grund und das Erleben, das dazu führte. Aus einem gesellschaftlichen Problem (dem Krieg und seinen psychischen Folgen für das Individuum) wurde damit ein individualisiertes – eine (anerkannte) Krankheit. Ich kenne Klienten, die in einer solchen Situation auf ihr Aufenhaltsrecht verzichtet haben. Demgegenüber konnte ich in den letzten Jahren ganz andere Erfahrungen mit minderjährigen Flüchtlingen machen. In dem Bundesland, in dem ich lebe (Hessen), werden minderjährige Flüchtlinge, die ohne erwachsene Bezugspersonen nach Deutschland kommen (unbegleitete minderjährige Flüchtligen, umF), vorzüglich behandelt. Sie bekommen innerhalb kurzer Zeit ein Aufenthaltsrecht (die genauere Überprüfung ihres Asylgrundes erfolgt erst ab dem 18. Lebensjahr); sie werden in speziellen Einrichtungen betreut, in denen für 7 – 8 Jugendliche stets ein bis zwei ausgebildete Erzieher zur Verfügung stehen; es gibt spezielle Deutschkurse, Einführungsklassen in den allgemeinbildenden Schulen, schulische Unterstützung (Nachhilfeunterricht), später Hilfe bei Wohnungssuche und Ausbildungsplatz, sowie psychiatrisch-psycho-therapeutische Begleitung. Es handelt sich dabei z. B. um Jugendliche aus Eritrea und Somalia, die in ihrem Heimatland, bei ihrer Flucht durch die Sahara, die arabischen Staaten und das Mittelmeer, mannigfache traumatische Erfahrungen gemacht haben und die nach üblicher Lesart zu 100 % eine PTBS entwickeln müssten. Die Erfahrung zeigt aber, dass unter den o. g. Bedingungen mehr als 90 % der Betroffenen nach 6 – 1 2 Monaten keine psychische Beeinträchtigung, keine Symptome einer Traumafolgestö-

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rung (wie Schlafstörungen, Schreckhaftigkeit, Reizbarkeit, depressive Verstimmungen) mehr aufweisen und sogar innerhalb von zwei Jahren einen deutschen Schulabschluss machen! Der ugandische Psychologe David Olema hat dazu beeindruckende Befunde aus anderen kulturellen Kontexten vorgelegt. In einer Untersuchung der Entwicklung von ehemaligen Kindersoldaten im Norden Ugandas konnte er zeigen, dass deren psychische Beeinträchtigung ca. drei Jahre nach ihren Erfahrungen als Kindersoldaten (Fallbeispiel s. o.) nicht von der Art, Schwere und Dauer ihrer Erfahrungen als Kindersoldaten abhängig waren (obwohl die Grausamkeit ihrer Erfahrungen kaum wiederzugeben ist), sondern primär von den aktuellen innerfamiliären Beziehungen, hauptsächlich von elterlicher Gewalt.10 3. Die Zunahme innerfamiliärer Gewalt in nachkriegerischen Kontexten (ein Tatbestand, der nicht nur für afrikanische Gesellschaften, sondern z. B. auch für Afghanistan nachgewiesen worden ist) und das Leiden der Kinder darunter, weist darauf hin, dass traumatische Erfahrungen niemals nur ein individuelles Erleben sind, sondern verbunden sind mit der Zerstörung sozialer und gesellschaftlicher Strukturen. Schon die Erfahrung eines sexuellen Missbrauchs in der Kindheit ist ja nicht nur ein individuelles Schicksal, sondern ist verbunden mit dem Versagen der Schutzfunktion von Familie und Gesellschaft! Wie viel mehr gilt das für traumatische Erfahrungen im Rahmen von Krieg und Bürgerkrieg (z. B. Uganda) oder dem sozialen Zerfall nachkolonialer Gesellschaften (z. B. Namibia). Traumatische Erfahrungen weisen immer auf das Versagen gesellschaftlicher und sozialer Prozesse hin, in denen die Eindämmung von Gewalt und damit die Schutzfunktion einer Gemeinschaft nicht mehr gewährleistet werden kann. Das gilt ganz besonders für die sogenannten ›neuen Kriege‹, die sich durch exzessive persönliche Gewalt, Terrorisierung der Zivilbevölkerung und Einsatz von Kindersoldaten auszeichnen: »Sicherlich gilt für nahezu alle Kriege, dass sie auf Kosten der Zukunft ge­ führt werden. In den zwischenstaatlichen Kriegen sind dies die Kredite und Schulden, für die spätere Generationen aufzukommen haben; in den neuen

10 Olema (2014).

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Kriegen hingegen ist es die Möglichkeit eines friedlichen Lebens überhaupt, die dauerhaft ruiniert wird.«11

4. Jenseits der Popularisierung von ›Traumatisierung‹ und der Anwendung des Trauma-Begriffs auf fast alltägliche und zum Leben dazugehörige schwere Belastungen gibt es im Rahmen psychiatrischer Krankheitsbegriffe eine konkretere Definition. Im ICD (International Classification of Diseases) werden die Voraussetzungen für eine posttraumatische Belastungsstörung folgendermaßen definiert: »[Eine PTBS ist] [ … ] ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenar­ tigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde.«

Häufig wird jedoch übersehen, dass es zwischen Kindern und Erwachsenen einen gravierenden Unterschied im psychischen Erleben gibt: Für Kinder ist der Verlust oder die Verletzung der Eltern oder anderer wichtiger erwachsener Bezugsperson viel ›traumatischer‹ als z. B. Krieg. Kinder erleben den Verlust von Bezugspersonen als existenziell bedrohlich, viel mehr als direkte physische Gewalt. Ein Beispiel kann das illustrieren: Im London der 1940er Jahre fiel auf, dass die Kinder, die während der Luftangriffe bei ihren Eltern geblieben waren, weniger psychisch beeinträchtigt waren als diejenigen, die aufs Land verschickt und damit von ihren Eltern getrennt wurden (dieser Befund war Ausgangspunkt für eine in der Geschichte der Psychoanalyse wichtige Kontroverse – der Zusammenhang zwischen der Anwesenheit oder Abwesenheit von Eltern und dem traumatischen Erleben wurde aber erst später deutlich). Eines der ersten Kinder, die durch Kriegserfahrungen eine starke psychische Störung entwickelt hatten und die ich behandelt habe, war ein bosnischer Junge im Alter von 7 Jahren aus Sarajevo. Im Verlauf der therapeutischen Arbeit mit dem Jungen und dessen Familie wurde deutlich, dass er zunächst während des Krieges recht unauffällig gewesen war. Sogar den verheerenden Angriff auf den Markt von Sarajevo, bei dem Granaten die Hälfte seiner Schulkameraden vor seinen Augen in die Luft sprengte, führte nicht zu einer erkennbaren und länger anhaltenden psychischen Störung. Erst als die ganze Familie wieder einmal im Bunker 11 Münkler (2004).

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saß und eine Granate das Haus über dem Bunker erwischt hatte, die Mutter aus Panik den Keller verlassen wollte und dabei den Jungen in die Ecke schleuderte, brach dieser zusammen. Es zeigte sich in meiner therapeutischen Arbeit immer wieder, dass viele Kinder, die sogar die Konzentrationslager in Bosnien erlebt und überlebt hatten, ganz selten psychische Störungen entwickelten. Es war den Eltern oder anderen wichtigen Bezugspersonen immer gelungen, den Kindern als Schutz- und Vertrauenspersonen zur Verfügung zu stehen. So ist auch erklärbar, dass Misshandlung, Missbrauch und Gewalt in der Familie langfristig einen erheblich stärkeren schädigenden Einfl ss auf die menschliche Psyche haben als traumatische Erfahrungen im Erwachsenenalter (soweit die posttraumatische Sequenz einigermaßen gut verlaufen kann). David Olema hat in der schon oben erwähnten Arbeit auch meine alltägliche klinische Erfahrung empirisch untermauert. Olemas Arbeiten weisen darauf hin, dass das Erleben von häuslicher und familialer Gewalt einen stärkeren negativen Einfl ss auf die seelische Entwicklung hat als die Erfahrung der schrecklichen Grausamkeiten, die die Kindersoldaten in Norduganda gemacht haben.12 In der Debatte des Trauma-Konzeptes wird häufig neuro- und verhaltensbiologisch argumentiert, indem die traumatische Reaktion auf lebensbedrohliche Ereignisse als universales menschliches Grundmuster interpretiert und dargestellt wird. Diesen Befund möchte ich auch gar nicht in Frage stellen. Die Erfahrungen, gerade mit Kindern, lassen aber auch andere verhaltensbiologische und ethologische Aspekte wichtig werden: Zwar hinterlässt das Erleben von existentiell bedrohlichen Situationen spezifische Reaktionsmuster in den Hirnfunktionen. Gleichzeitig ist und war es aber in der Entwicklung der Menschheit, als einer bedrohten Art der Evolution, so ubiquitär und alltäglich, dass diese Erfahrungen keine bleibenden Schäden hinterlassen, wenn denn sichergestellt ist, was das Erleben der Art des homo sapiens gesichert hat: seine Sozialität und Bindungsfähigkeit. Der Mensch ist vor allem ein soziales Wesen und auf soziale Beziehungen so angewiesen wie keine andere Art.13 Werden aber diese, für das psychische Funktionieren wichtigsten Bedingungen, die menschliche Beziehungs- und Gruppenfähigkeit, von früh auf gestört durch den Verlust 12 Olema (2014). 13 Eibl Eibesfeldt (1997); de Waal (2000).

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an Sicherheit, Vertrauen und sinnstiftenden menschlichen Beziehungen, so hat dies auf Dauer einen destruktiveren Einfl ss auf die Seele als das Erleben einmaliger oder mehrfacher existenziell bedrohlicher Erlebnisse.

Wie wir Peter und Lovisa helfen könnten Wenden wir nun das oben Dargestellte auf unsere zwei Fallbeispiele vom Anfang an: Zwar sind beide Kinder auch mit den Erfahrungen der Vergangenheit beschäftigt: Peter mit der Erfahrung als Kindersoldat und Lovisa mit dem Verlust ihres Vaters und der Tante. Bei beiden ist es aber auch die gegenwärtige bedrückende familiäre Situation, die die Kinder nicht zur Ruhe kommen lässt. Bei Peter ist es das ständige Misstrauen der Eltern ihm gegenüber – sie wissen oder ahnen, was er im Busch machen musste und sie vertrauen ihm nicht mehr, was seine Erinnerungen in jedem Moment der Begegnung mit ihnen wieder wach werden lässt, so dass er eine typische posttraumatische Belastungsstörung entwickelt hat. Im selben Lager, sozusagen in der Hütte nebenan, habe ich andere Jugendliche getroffen, denen die Eltern wieder vertrauten, die Anschluss finden konnten an die früheren Beziehungen zu den Eltern, zu ihrer Familie, und die zum damaligen Zeitpunkt – bei ähnlich belastenden Erfahrungen wie Peter – keine psychischen Störungen aufwiesen. Bei Lovisa ist es, neben erlebten Verlusterfahrungen, die unsichere Situation der Mutter, die sie beschäftigt – die musste mehrfach ihre Arbeit wechseln. Lovisa bestätigt zwar, dass die Mutter immer für sie da war und ist, aber aus ihren Worten sprechen auch ihre Ängste: Wird das immer so sein? Wer wird für mich da sein, wenn vielleicht auch die Mutter einmal nicht mehr lebt? Wird die Mutter immer eine Arbeit haben und sich um die Tochter kümmern können? Offensichtlich ist, dass man beiden Kindern, bzw. Jugendlichen, nicht wirklich weiterhelfen können wird, wenn man die familiäre Situation, die Situation der Eltern, außer Acht lässt. Deren Stabilität und psychische Situation hat entscheidenden Einfl ss auf die Kinder. Das erscheint zwar inzwischen, so allgemein gesprochen, zumindest in Mitteleuropa, wie eine Binsenweisheit, muss aber im Zeichen der Trauma-Debatte immer wieder deutlich gemacht werden.

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Es müsste also gefragt werden: Was können wir für die Familien tun? Wie können wir die Eltern dabei unterstützen, weniger Angst vor Peter zu haben? Wie kann die Mutter von Lovisa unterstützt werden? Darüber hinaus geht es aber auch um die Zukunft, was in den Aussagen von Peter deutlich wird: Welche Entwicklungsmöglichkeiten, welche schulischen Perspektiven, habe ich? Für die Kinder und Jugendlichen ist das Trauma der Vergangenheit nicht das Entscheidende, sondern die gegenwärtige Erfahrung tragfähiger, Schutz, Sicherheit und Vertrauen vermittelnder erwachsener Bezugspersonen sowie eine Zukunft und die Aussicht auf ein eigenes Leben in Würde und Selbstentfaltung. Ich plädiere also sehr dafür, den Ausbildungs- und Gestaltungsmöglichkeiten der Kinder und Jugendlichen Raum zu geben, bevor mit spezifischen psychotherapeutisch-psychologischen Konzepten gearbeitet wird. Bei Kindern und Jugendlichen, wahrscheinlich noch mehr als bei Erwachsenen, ist der Bezug auf die traumatische Erfahrung der Vergangenheit, sofern er als etwas vom gegenwärtigen sozialen Kontext Losgelöstes gesehen wird (und nicht als hermeneutische Grundlage für die gegenwärtige Situation), medizinisch gesprochen ein ›Kunstfehler‹ – und die entsprechende Therapie verfehlt ihren Zweck. Wichtig ist die Hilfe bei der Herstellung und Sicherung aktueller tragender und vertrauensvoller Beziehungen sowie der Versuch, Bedingungen zu schaffen, bei denen sich junge Menschen mit ihren Bedürfnissen nach Bildung, nach Autonomie und sozialer Bindung (inklusive sexueller Entwicklungsmöglichkeiten) entfalten können. Wenn dies unter ›Trauma-Arbeit‹ verstanden wird, dann soll mir der Rückgriff auf ein ›Trauma-Konzept‹ Recht sein. Wenn das Trauma-Konzept jedoch verstanden wird als individualisierte Therapieform zur Bearbeitung existenziell bedrohlicher Erfahrungen der Vergangenheit, dann halte ich dies für nicht hilfreich – nicht im europäischen und erst Recht nicht im afrikanischen Kontext, in dem Krankheit und Heilung immer in einem sozialen Zusammenhang gedeutet werden.

Literatur AWMF online: Leitlinie zu posttraumatischer Belastungsstörung, [http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/051 – 010 .html]

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Becker, David (1997/2000): Prüfstempel PTSD – Einwände gegen das herrschende Trauma-Konzept. In: medico international (Hg.): Schnelle Eingreiftruppe Seele. Frankfurt a. M.: medico international de Waal, Frans (2000): Der gute Affe. Der Ursprung von Recht und Unrecht bei Menschen und anderen Tieren. München: DTV Eibl-Eibesfeldt, Irenäus (1997): Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriß der Humanethologie. 4. Auflage, München: Piper Verlag Gronemeyer, Reimer / Fink, Michaela (201 3): Baby Haven. Zufl chtsort für Waisen und gefährdete Kinder. In: Die Hospiz-Zeitschrift 1/201 3, S. 16 – 21 Grothe, Klaus-Dieter (2008): Trauma, Kultur und Familie. Erfahrungen aus Norduganda. Zum Verständnis von Trauma und Entwicklung. In: Psychoanalytische Familientherapie. Zeitschrift für Paar-, Familienund Sozialtherapie, Nr. 16, 9, Jahrgang, 2008, Heft 1 . Gießen: Psychosozial-Verlag, S. 67 – 84 Hensel, Thomas (Hg.) (2007): EMDR mit Kindern und Jugendlichen. Göttingen: Hogreve, Verlag für Psychologie Keilson, Hans (2001): Sequentielle Traumatisierung. Deskriptiv-klinische und quantifizierend-statistische follow-up Untersuchung zum Schicksal der jüdischen Kriegswaisen in den Niederlanden. Gießen: Psychosozial-Verlag (Erstauflage Stuttgart: Enke Verlag 1979) medico international (Hg.) (1997/2000): Schnelle Eingreiftruppe »Seele«. Frankfurt a. M.: medico international Münkler, Herfried (2004): Die neuen Kriege, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag Olema, David Kani / Catani, C. / Ertl., V. / Saile, R. / Neuner, F. (201 4): The Hidden Effects of Child Maltreatment in a War Region: Correlates of Psychopathology in Two Generations Living in Northern Uganda. In: Journal of Traumatic Stress. 201 4 Feb, 27(1), pp. 35 – 41 Reddemann, Luise (2005): Imagination als heilsame Kraft – Zur Behandlung von Traumafolgen mit ressourcenorientierten Verfahren. Stuttgart: Klett-Kotta Verlag Schauer, Maggie / Neuner, Fank / Elbert, Thomas (2005): Narrative Exposure Therapy: A Short-Term Intervention für Traumatic Stress Disorders after War, Terror, or Torture. Göttingen: Hogrefe & Huber Publishers Van der Kolk, Bessel (ed.) (2000): Traumatic Stress. Grundlagen und Behandlungsansätze. Theorie, Praxis, Forschung zu posttraumatischem Stress und Traumatherapie. Paderborn: Junfermann Verlag

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Forschungsgegenstand Der Forschungsgegenstand des nachfolgenden Beitrags sind Waisen, das heißt Heranwachsende unter 18 Jahren, die ein oder beide Elternteile verloren haben. Da die Forschung bereits 2007 durchgeführt wurde, beziehen sich alle Daten auf diesen Zeitraum. Die Situation in Tansania hat sich jedoch in den letzten Jahren nur wenig gewandelt. Im Jahr 2007, zum Zeitpunkt des Forschungsaufenthaltes, lebten in Tansania 2,6 Millionen Waisen. Jedes achte Kind im Land hatte den Vater, die Mutter oder beide Elternteile verloren.1 Trotz der Bedeutung von HIV für die Zunahme der Waisen in Tansania stellt AIDS nicht die einzige Ursache für die Verwaisung dar. Nur bei circa 40 % aller betroffenen Kinder lässt sich die Verwaisung auf eine HIV-Infektion der Eltern zurückführen.2 Dessen ungeachtet gilt die Epidemie als Auslöser der Waisenkrise, da sie nicht nur die Zahl der Waisen rapide ansteigen ließ, sondern gleichzeitig die Zahl bzw. die Kapazitäten potenzieller Pflegeeltern innerhalb der Großfamilie dramatisch reduzierte. Die AIDS-Epidemie bringt eine ökonomische Überlastung der privaten Haushalte mit sich, da diese für die Kosten der medizinischen Versorgung und der Beerdigungen aufkommen müssen, die Pflege ihrer Angehörigen übernehmen und unter den Verdienstausfällen kranker Haushaltsmitglieder leiden. Dementsprechend sind die Kräfte der Haus1 UNAIDS/UNICEF/WHO/UNDF (2009, p. 40). 2 Ebd.

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halte in der Regel bereits geschwächt, wenn die ersten Kinder ihre Eltern aufgrund von AIDS verlieren.3 Dennoch bewies das Verwandtschaftssystem, welches traditionell die Verantwortung für die Versorgung der Waisen trägt, im Verlauf der Waisenkrise in Tansania eine enorme Widerstandsfähigkeit. Der Großteil der Waisen findet weiterhin Aufnahme bei Angehörigen, auch wenn die Belastung zunehmend auf den Schultern der Älteren, häufig der Großeltern, und der Jüngeren, beispielsweise der Geschwister, liegt.4

Problemstellung Die Tradition der familiären Verantwortung stellt dementsprechend das wichtigste Sicherungsnetz für Waisen dar, doch die Großfamilie erreicht immer häufiger die Grenze der Belastbarkeit. Den Betreuern fehlen zunehmend die Kapazitäten, die materiellen und psychosozialen Bedürfnisse der aufgenommenen Kinder angemessen zu erfüllen.5 In den Bereichen, in denen das familiäre Auffangnetz versagt, gelingt es häufig dem sozialen Umfeld, den betroffenen Kindern punktuell oder langfristig zu helfen. Aber auch das kommunale Sicherungsnetz der community ist aufgrund zunehmender sozialer Probleme und dem Bedeutungsverlust traditioneller Normen und Lebensstile nicht mehr in der Lage, überforderte Haushalte angemessen zu unterstützen.6 Kinder, die durch beide Sicherungsnetze fallen, bzw. von diesen nicht ausreichend versorgt werden können, gehören einer oder mehrerer Risikogruppen an. Einige verwaiste Heranwachsende wählen den Weg auf die Straße, um einem Alltag zu entgehen, der von Armut oder Missbrauch geprägt ist. Andere Kinder sind darauf angewiesen, in der Landwirtschaft oder mit einer Erwerbsarbeit ein eigenes Einkommen zu erwirtschaften, um zum Haushaltseinkommen beizutragen und die Grundversorgung zu sichern. Und zunehmend bleiben Kinder auch ohne erwachsene Angehörige zurück und versorgen sich selbst in Kinderhaushalten.

3 Brizay (2011, S. 77f). 4 Brizay (2011, S. 87); UNICEF (2003, p. 21); Weinreich/Benn (2003, S. 50). 5 Brizay (2011, S. 89). 6 Brizay (2011, S.101); Axios International (2002, p. 20ff); UNICEF (2003, p. 21).

Waisenhilfe in Tansania – Was wir von Afrika lernen können

Auf zwei Fragestellungen, die ich in meiner Studie untersucht habe, möchte ich im Folgenden näher eingehen: • Welche Hilfsangebote sind im Zuge der Waisenkrise entstanden? • Welche Hilfsangebote sind am besten geeignet, Waisen zu helfen und ihren unterschiedlichen Problemlagen effektiv zu begegnen?

Theoretische Grundlagen Meiner Arbeit lag das Konzept der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit von Thiersch zugrunde, welches sowohl die inhaltliche als auch die methodische Ausgestaltung der Arbeit bestimmte. Das Ziel der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit besteht in der Schaffung eines gelingenderen Alltags, in dem sich der Mensch als Subjekt seiner Lebenswelt empfindet.7 Ein Mangel an theoretischen Grundlagen der Sozialen Arbeit, die in und für Tansania entwickelt wurden, führte in meiner Arbeit zur Notwendigkeit, auf eine kulturfremde Theorie zurückzugreifen. Die Theorie der Lebensweltorientierung erhebt den Anspruch, den Menschen in seinem Alltag zu sehen und zu verstehen.8 Aufgrund dieser individualisierten Sichtweise und der Betonung der individuellen Deutungs- und Handlungsmuster zeigt die Theorie der Lebensweltorientierung, die sich gegen vorgefertigte Lösungen für Standardprobleme ausspricht, eine besondere Eignung für interkulturelle Analysen.

Forschungsdesign Insgesamt besuchte ich zwischen Februar und Juli 2007 sieben Regionen in Tansania. Das Ziel der Feldforschung bestand im Sammeln von Daten zur Situation der Waisen und zur Bewältigung der Waisenkrise. Die Besuche bei Organisationen der Waisenhilfe und die Befragung der Mitarbeiter spielten für die Forschung eine bedeutende Rolle, denn sie ermöglichten einerseits das Sammeln von Informationen über die Arbeit der unterschiedlichen Programme und gaben andererseits einen Einblick 7 Thiersch (2002, S. 35 und 38ff.). 8 Ebd. (S. 161).

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in die Lebenswelt der Waisen. Zu den teilnehmenden Projekten gehörten unter anderem verschiedene Initiativen ambulanter Hilfen, Waisenhäuser, Kinderdörfer, Straßenkindprojekte, ein Projekt für Kinder mit Behinderungen, Kindergärten, eine Adoptionsgesellschaft und Pflegekindprogramme. Die Intensität der Kontakte zu den Informanten variierte: Mit einigen Projekten wurde nur ein leitfadengestütztes Interview geführt und/oder der entsprechende Fragebogen ausgefüllt; bei anderen Organisationen bestand die Möglichkeit zur teilnehmenden Beobachtung, das heißt die Programme konnten wiederholt besucht und die Mitarbeiter bei ihren Aufgaben begleitet werden. Neben den Organisationen der Waisenhilfe konnte ich 22 stakeholder zur Waisenkrise und zu entstandenen Bewältigungsstrategien mit Hilfe von Fragebögen oder Interviews befragen. Bei den Interviews, die in der Forschung zur Anwendung kamen, handelte es sich um teilstandarisierte Interviews mit offenen Fragstellungen; die Fragebögen hingegen beinhalteten sowohl offene als auch geschlossene Fragen. Die Gruppe der befragten stakeholder setzte sich unter anderem aus Vertretern der Regierung, Mitarbeitern internationaler Hilfsorganisationen und Informanten aus dem Bildungssektor zusammen. Fragebögen in Kisuaheli ermöglichten mir die Befragung von 1 28 Waisen und 64 Nichtwaisen. Um einen besseren Einblick in die Lebenswelt der Kinder zu erhalten, begleitete ich Mitarbeiter ambulanter Waisenprojekte in allen sieben Regionen bei Hausbesuchen.

Ergebnisse

1. Lebenswelt der Waisen Sozioökonomische Faktoren Die Verwaisung bringt für jedes einzelne Kind in Tansania verschiedene Konsequenzen mit sich, denn nicht jedes Kind profi iert von den gleichen Ressourcen und ist mit den gleichen Problemlagen konfrontiert – einige Kinder finden Aufnahme bei wohlhabenden Verwandten und können Privatschulen besuchen, andere Kinder gehen nach dem Tod der Eltern

Waisenhilfe in Tansania – Was wir von Afrika lernen können

auf die Straße und verlieren dadurch den Zugang zu Bildungsangeboten, medizinischer Betreuung und ausreichender Versorgung. Aus diesem Grund lassen sich keine pauschalen Aussagen zur Lebenssituation von Waisen in Tansania treffen. Dennoch können Tendenzen für die besondere Gefährdung von Waisen identifiziert werden. Da es in Tansania nur ein unzureichendes staatliches Sozialversicherungssystem gibt, müssen in der Regel die Betreuer der Waisen die gesamten Kosten der Versorgung tragen. Eine zusätzliche Belastung durch die Aufnahme von Waisen lässt sich dabei häufig nicht durch eine Erhöhung des Einkommens der Betreuer ausgleichen. Deshalb teilen die Haushaltsmitglieder nach der Aufnahme von Waisen ein unverändertes Haushaltseinkommen und für jedes einzelne Haushaltsmitglied stehen weniger Ressourcen zur Verfügung.9 In der Folge sind Waisen, aber auch Kinder, die mit Waisen im selben Haushalt leben, stärker gefährdet, eine unzureichende Grundversorgung zu erhalten. Verwaiste Kinder weisen dementsprechend ein deutlich höheres Risiko für Untergewicht und Wachstumsverzögerung auf 10, sie erfahren im Bildungsbereich verschiedene Benachteiligungen11 , sie leben häufiger in einer Unterkunft mit schlechter Wohnqualität und geringer Ausstattung12 und sie sind bei schweren Formen der Kinderarbeit und in der Population der Straßenkinder überrepräsentiert13 . In den letzten Jahren lassen sich bei der Befriedigung einzelner Bedürfnisse von Waisen im Vergleich zu Nichtwaisen positive Tendenzen feststellen. Beispielsweise erreicht die Schulrate von 10- bis 1 4-jährigen Waisen fast das Niveau von Nichtwaisen.14 Die potenzielle Gefährdung der Waisen im sozioökonomischen Bereich wird durch verschiedene Risiko- und Schutzfaktoren verstärkt bzw. abgeschwächt: Vor allem der Verlust der Mutter und ein geringes Alter des Kindes zum Zeitpunkt der Verwaisung steigern die Risiken der betroffenen Kinder; während der Zugang zu externen Unterstützungsan-

9 Brizay (2011, S. 136); UNICEF (2003, p. 17). 10 Ainsworth/Semali (2000, pp. 19ff.); Beegle/DeWeerd/Dercon (2005, S. 15f). 11 Brizay (2011, S. 152); Beegle/DeWeerdt/Dercon (2005, pp. 6ff). 12 Brizay (2011, S. 142ff). 13 Kadonya/Madihi/Mtwana (2002, p. 52); Rau (2002, p. 1); UNICEF (2003, p. 6). 14 Measure DHS (2006, pp. 35f).

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geboten und ein sicheres ökonomisches Umfeld die Negativeffekte von Verwaisung ausgleichen können.15 Psychosoziale Faktoren Neben den sozioökonomischen Aspekten prägen psychosoziale Faktoren die Lebenswelt der Waisen. Psychosoziale Probleme von Waisen wurden lange Zeit in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Waisenkrise, aber auch in den Hilfsprogrammen, übersehen, da die akuten materiellen Bedürfnisse zu groß und dringend erschienen und somit im Vordergrund standen. Die psychosozialen Aspekte der Verwaisung lassen sich in drei große Bereiche gliedern: zum einen der Umgang mit der Trauer, dann die Stigmatisierung und Diskriminierung von Waisen und schließlich das Risiko für Gewalt, Missbrauch und Ausbeutung. Waisen müssen nach dem Tod eines oder beider Elternteile zuallererst einmal mit dem Verlust umzugehen lernen. Dabei besteht, aufgrund der AIDS-Epidemie und der Überalterung der Betreuungspersonen von Waisen, die Gefahr, dass sie wiederholte Verlusterfahrungen machen und in kurzen Abständen beide Elternteile, aber auch jüngere Geschwister oder ältere Betreuer verlieren. Gelingt ihnen der Trauerprozess nicht, können die betroffenen Kinder gestörte Varianten der Trauer entwickeln. Interview partner aus den Hilfsprogrammen für Waisen berichten beispielsweise, dass die Waisen unter Ängsten, depressiven Zuständen und Schuldgefühlen leiden und dass sie ein destruktives Verhalten oder aber eine zwanghafte Fürsorge und Selbstgenügsamkeit an den Tag legen.16 Im Bereich der Stigmatisierung und Diskriminierung von Waisen lässt sich in den vergangenen Jahren durch die Ausbreitung der AIDS-Epidemie und durch die Aufklärungsarbeit von Hilfsprogrammen eine rückläufige Tendenz feststellen.17 Alle Heranwachsenden in Tansania verfügen über ein potentielles Risiko für Kindesmisshandlung. Die Verwaisung eines Kindes erhöht allerdings die Gefährdung, da sie einen zusätzlichen Risikofaktor darstellt. Die mit dem Tod der Eltern verbundenen Konsequenzen, beispiels15 Brizay (2011, S. 172). 16 Brizay (2011, S. 178ff.). 17 Ebd. (S. 206f.).

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weise die Aufnahme bei Verwandten, der Gang auf die Straße oder der Verlust des elterlichen Schutzes, steigern die Vulnerabilität der Waisen. Vieles deutet jedoch darauf hin, dass die Gewalt gegen Waisen nur eine Minderheit dieser Kinder betrifft. In der Regel berichten auch Befragte, die schwere Formen von Kindesmisshandlung schildern, dass diese Vorkommnisse Einzelfälle darstellen.18 Ebenso wie im sozioökonomischen Bereich können verschiedene Risiko- und Schutzfaktoren die potenzielle Gefährdung der Waisen beeinflussen: Einerseits steigern die materielle bzw. emotionale Überforderung der Betreuungsperson(en), aber auch die Anwesenheit einer Stiefmutter oder leiblicher Kinder des Haushaltsvorstandes, die Risiken der betroffenen Kinder;19 andererseits können externe Unterstützungsangebote im materiellen und psychosozialen Bereich (beispielsweise Erziehungsberatung) und die Anwesenheit einer erwachsenen Vertrauensperson, die den Kindern Zuwendung und Schutz bietet, die Gefährdung der Waisen abschwächen.20

2. Hilfsangebote für Waisen In den 90er Jahren kam es zu einem Gründungsboom von Hilfsprojekten, die auf unterschiedlichen Wegen Waisen unterstützen. Insgesamt lassen sich vier grundsätzliche Bewältigungsstrategien unterscheiden: Programme der ambulante Waisenhilfe, Möglichkeiten der Adoption und der formellen Pflege, Einrichtungen der stationären Betreuung und Projekte für Straßenkinder. Ambulante Waisenhilfe Die ambulante Waisenhilfe bietet Haushalten, in denen Waisen leben, Unterstützung, ohne die Kinder aus ihrem familiären Umfeld zu entfernen. Die Maßnahmen verfolgen ein quasi kompensatorisches Ziel und versuchen, die Bereiche abzudecken, in denen die Familien mit Waisen alleine überfordert sind. Ein wichtiges organisatorisches Merkmal ambu18 Brizay (2011, S. 207ff.). 19 Brizay (2011, S. 213f.); Whitehouse (2002, pp. 30f.). 20 Brizay (2011, S.226).

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lanter Hilfsprogramme in Tansania stellt der Einsatz lokaler Volontäre dar. Die Quantität und Qualität der Hilfe variiert zwischen den einzelnen Projekten entsprechend der Ressourcen, der methodischen Vorgehensweise und der Qualifizierung der Mitarbeiter. Je nach Angebotspalette der Organisation deckt die Hilfe einen oder mehrere der folgenden fünf Unterstützungsbereiche ab: materielle und praktische Hilfe, Bildungsförderung, medizinische Versorgung, psychosoziale Unterstützung und Programme zur Einkommenssteigerung.21 Nur ein Bruchteil (2003/4 4 – 6 %) aller Haushalte mit verwaisten Kindern erhalten ambulante Unterstützung.22

Formelle Pflege und Adoption In Tansania finden die meisten Waisen Aufnahme in informellen Pflegeverhältnissen bei Verwandten. Die formelle Pflege unterscheidet sich von informellen Pflegeverhältnissen in erster Linie dadurch, dass öffentliche Stellen über den Zeitpunkt und die Dauer der Unterbringung verfügen. Die formelle Pflege tritt in Tansania in der Regel als Vorstufe der Adoption auf.23 Aus diesem Grund existieren keine staatlichen Pflegekindprogramme wie in Deutschland, welche die formelle Pflege von Kindern regulieren und die Pflegeeltern auf ihre Aufgabe vorbereiten und sie für den Aufwand entschädigen. Es entstehen aber zunehmend nichtstaatliche Organisationen, die versuchen, Pflegekind-Programme aufzubauen, indem sie potenzielle Pflegeeltern mobilisieren, diese weiterbilden und sie bei der materiellen Versorgung der aufgenommenen Pflegekinder unterstützen. Der Bedarf für formelle Pflegeverhältnisse und Adoptionen stieg in den letzten Jahrzehnten im Zuge der Waisenkrise und aufgrund einer Zunahme ausgesetzter Säuglinge an. Bis heute verhindern aber strukturelle Probleme, wie die geringe personelle und materielle Ausstattung der zuständigen Wohlfahrtsämter, sowie eine fehlende traditionelle Verankerung, den Ausbau dieser Praxis. Potentielle Pflege- und Adoptiveltern erfüllen darüber hinaus häufig nicht die Ansprüche der Adoptionsrichtlinien hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Situation. Dazu kommt, dass viele Familien aufgrund der Waisenkrise bereits unter einer Überlastung durch informelle 21 Brizay (2011, S. 234ff.). 22 United Republic of Tanzania – TACAIDS (o.J., p. 16). 23 Johnson (2005, pp. 5ff.).

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Pflegeverhältnisse leiden und aus diesem Grund nicht über die notwendigen Kapazitäten zur Aufnahme von zusätzlichen Kindern verfügen.24 Stationäre Betreuung Stationäre Betreuungseinrichtungen zeichnen sich durch eine vollständige pädagogische Betreuung und Versorgung der Kinder außerhalb ihrer familiären Umgebung aus, das heißt die Kinder leben Tag und Nacht in der Einrichtung und erhalten Unterkunft, Verpflegung, Kleidung, medizinische Versorgung und Bildung. Obwohl die ersten Waisenheime bereits in den 50er Jahren von Missionaren für die Versorgung von Säuglingen gegründet wurden, kam es erst Anfang der 90er Jahre im Zuge der Waisenkrise zu einem Gründungsboom stationärer Einrichtungen, der bis heute anhält: Einheimische nahmen Kinder bei sich auf und vergrößerten ihre Initiative nach und nach; religiöse Gemeinschaften gründeten Heime und Ausländer kamen nach Tansania mit dem Ziel, verwaisten Kindern ein neues Zuhause zu geben. Die Qualität der Versorgung in den Einrichtungen in Tansania unterliegt einer immensen Bandbreite: Einige Einrichtungen leiden unter einer geringen baulichen Qualität und Versorgungsengpässen, welche für die gesunde Entwicklung der Kinder eine Gefahr darstellen. Viele andere Heime, vor allem Einrichtungen unter ausländischer Leitung oder mit Zugang zu ausländischen Spendengeldern, bieten den Kindern einen Lebensstandard, der weit über dem tansanischen Durchschnitt liegt. Es lassen sich grundsätzlich fünf unterschiedliche Kategorien der stationären Betreuung unterscheiden, die für Waisen in Frage kommen: ›klassische‹ Kinderheime, in den Kinder aller Altersstufen, in der Regel in großen Gruppen und ohne Bezugsbetreuersystem, zusammenleben; Kleinstheime mit einer geringen Kinderzahl und einem familialen Rahmen; Kinderdörfer; Säuglingsheime für Waisen und Findelkinder im Alter von 0 bis 3 Jahren; und Auffangheime für Straßenkinder.25 Straßenkindprojekte Straßenkindprojekte definieren sich über die Zielgruppe ihrer Arbeit, das bedeutet sie bieten ambulante und/oder stationäre Angebote für Kinder, 24 Brizay (2011, S. 256ff.); Johnson (2005, p. 20). 25 Brizay (2011, S. 274ff.).

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die auf der Straße leben, bzw. gelebt haben. In den meisten größeren Städten Tansanias existieren inzwischen Einrichtungen für Straßenkinder, die in der Qualität ihrer Arbeit und ihrer konzeptuellen Ausrichtung stark differieren. Für Kinder, die auf der Straße leben, ermöglichen streetworker im Rahmen der aufsuchenden Straßensozialarbeit häufig den ersten Kontakt zu sozialen Hilfsangeboten. Das Ziel der teilstationären Angebote, sogenannte drop-in center, ist in erster Linie die Verbesserung der Lebenssituation von Kindern auf der Straße durch die Erfüllung der Grundbedürfnisse. Im Gegensatz dazu zielen stationäre Straßenkindprojekte auf den langfristigen Ausstieg der Heranwachsenden aus dem Straßenmilieu; durch die Projekte soll den Straßenkindern langfristig ein neues Zuhause und eine umfangreiche Versorgung geboten werden. Die Voraussetzung dafür besteht in der Regel aus der Bereitschaft der Kinder, sich von der Lebenswelt ›Straße‹ zu trennen und sich auf ein Leben in der Einrichtung einzulassen. Die Erfahrungen mit der stationären Unterbringung von Straßenkindern zeigen, dass junge Menschen die gesellschaftliche Integration oft nicht schaffen und zur Abhängigkeit von Hilfe erzogen werden. Aus diesem Grund streben Straßenkindprojekte zunehmend die zeitnahe Reintegration der Kinder in ihr familiäres Umfeld an. Grundlage einer gelungenen Wiedereingliederung in die Herkunftsfamilie stellt die Beseitigung der Ursachen für den Gang auf die Straße, sowie eine Vermittlung zwischen Kind und Betreuer, dar. Die Lösung muss immer eine individuelle sein, denn sowohl die Gründe, die dazu geführt haben, dass ein Kind auf die Straße geht, als auch die Bedingungen für eine Rückkehr, unterscheiden sich von Kind zu Kind.26

3. Evaluationsstudie Zielführend für meine Untersuchung war die Frage nach geeigneten Strategien zur Unterstützung von Waisen in Tansania. Gerade in Tansania, einem Land, in dem sich Hilfsangebote für Kinder und Jugendliche noch im Auf bau befinden, besteht ein Bedarf für eine Analyse, die darüber Auskunft gibt, welche Form von Unterstützung bei der Ausweitung der Angebote Priorität erhalten sollte.

26 Brizay (2011, S. 296ff.).

Waisenhilfe in Tansania – Was wir von Afrika lernen können

Langfristig könnte die Evaluation von Programmen zu einer nachhaltigen Verbesserung der Situation von allen Kindern in Tansania beitragen. Die Schaffung eines sicheren Auffangnetzes für die bedürftigsten Kinder, welches heute in erster Linie den Waisen zugutekommt, wird in Zukunft möglicherweise anderen, neuen Zielgruppen dienen. Der erste Teil der Evaluationsstudie stellt ambulante und stationäre Unterstützungsangebote gegenüber. Im Folgenden wird eine Auswahl von Evaluationskriterien, die in der Studie untersucht wurden, dargestellt. Die folgenden Betrachtungen sind eine verkürzte Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse, welche sich detailliert in der Originalveröffentlichung nachlesen lassen.27 Evaluationskriterium: Schaffung eines gelingenderen Alltags Die Bestimmung der Zielsetzung im Hilfeprozess, das heißt die Definition eines gelingenderen Alltags für den jeweiligen Fall, lässt sich nur in einem Aushandlungsprozess erreichen. Trotz dieser individuellen Unterschiede erweisen sich einige Aspekte, zum Beispiel Erfüllung materieller und emotionaler Bedürfnisse und Hilfe zur Selbsthilfe, als Voraussetzung, damit die Unterstützung zu einem gelingenderen Alltag beiträgt. Ambulante Maßnahmen bieten in der Regel eine individualisierte Hilfe, die bei den Problemen der Familien ansetzt und die vorhandenen Ressourcen nutzt. Die spezifischen psychosozialen Probleme von Waisen und ihren Betreuern werden, neben den materiellen Bedürfnissen, wahrgenommen und bearbeitet. Allerdings scheitern die Organisationen aufgrund begrenzter materieller und personeller Kapazitäten häufig an ihrem eigenen Anspruch. Oft reicht die Angebotspalette des einzelnen Projektes nicht aus, um alle Bedürfnisse abzudecken. Die Ausprägung der Angebotspalette bestimmt dementsprechend den Umfang, in dem ein gelingenderer Alltag erreicht wird. Stationären Einrichtungen gelingt es im materiellen Bereich in der Regel besser als ambulanten Programmen, durch eine gute Versorgung spezifische Probleme von Waisen zu bearbeiten. Der hohe Lebensstandard in den Einrichtungen entspricht allerdings nicht den lokalen Bedingungen. Des Weiteren negieren Mitarbeiter in den Einrichtungen häufig

27 Brizay (2011, S. 315 – 424).

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die spezifischen psychosozialen Bedürfnisse von Waisen und entsprechende Unterstützungsangebote fehlen. Ambulante Hilfsprogramme belassen die Verantwortung für die verwaisten Kinder bei ihren Angehörigen und versetzen sie durch materielle und psychosoziale Unterstützung in die Lage, selbstständig für die Kinder zu sorgen. Dies allein lässt sich als Unterstützung von Selbsthilfe verstehen und ermöglicht einen gelingenderen Alltag der Betroffenen. Allerdings schafft punktuelle Hilfe in Notlagen langfristig Abhängigkeit; weniger als die Hälfte der befragten Projekte setzen daher einkommenschaffende Maßnahmen ein, um die wirtschaftliche Selbstständigkeit der Haushalte langfristig zu sichern. Stationäre Betreuungseinrichtungen betrachten die Heranwachsenden in der Regel losgelöst von ihrem verwandtschaftlichen Sicherungsnetz. Das Ziel besteht demnach nicht darin, die Haushalte zu befähigen, die Versorgung der Kinder im materiellen und psychosozialen Bereich eigenständig zu übernehmen. Ausnahmen bilden Säuglingsheime und Straßenkindprojekte, die die familiäre Reintegration anstreben. Evaluationskriterium: Kontinuität der Hilfe Unterstützungsprogramme müssen in der Lage sein, kontinuierliche Hilfe zu leisten. Die Kontinuität bezieht sich nicht auf unbegrenzte Förderung, sondern auf die Sicherheit für die Klienten, geplante Vorhaben umzusetzen und vereinbarte Unterstützungsangebote wahrnehmen zu können. Je umfangreicher und langfristiger die Förderung angelegt ist, desto schwerwiegender sind die Folgen, die eine Unterbrechung der Kontinuität der Hilfe mit sich bringt. Leben Kinder nach dem Tod eines oder beider Elternteile in Institutionen, hängen sie zu 100 % von der Organisation ab; nicht nur die gesamte Versorgung wird durch die Einrichtung geleistet, die Helfer ersetzen überdies zum großen Teil die sozialen Beziehungen der Kinder zu ihren Verwandten. Aber auch in ambulanten Programmen besteht die Gefahr, dass zu umfangreiche Hilfe zu einer Abhängigkeit der Klienten von der Organisation führt und der Abbruch der Hilfe existenzbedrohende Krisen nach sich zieht. Grundsätzlich bestimmen zwei Faktoren die Kontinuität von Programmen. Zum einen spielt die wirtschaftliche Sicherheit der Organisation eine wesentliche Rolle, da die Finanzierung über den Auf bau und die

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Weiterführung von Programmen entscheidet, und zum anderen bildet das Vermögen der Projekte, Mitarbeiter zu akquirieren und Fluktuation zu verhindern, eine Komponente von Kontinuität. Im Kontext der Finanzierung weisen stationäre Betreuungsangebote einen deutlichen Vorteil bei der Akquirierung von Projektgeldern aus dem Ausland auf. Ambulanten Hilfsprogrammen, vor allem kleinen lokalen Projekten, fällt es deutlich schwerer, ausländische Geldgeber zu lokalisieren und Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Andererseits gelingt es Organisationen der ambulanten Hilfe, diesen Nachteil durch die Mobilisierung von lokalen Ressourcen zum Teil wieder auszugleichen. Sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich nutzen die Organisationen Einkommensprojekte, beispielsweise eine eigene Landwirtschaft, und Möglichkeiten der Kostensenkung, wie die Mitarbeit von unbezahlten Hilfskräften, um sich von den Zuwendungen Dritter unabhängiger zu machen. Insgesamt sind die Kosten der institutionellen Erziehung aber bedeutend höher als die der ambulanten Versorgung. Im personellen Bereich greifen stationäre Betreuungseinrichtungen in einem größeren Umfang auf fest angestellte und bezahlte Arbeitskräfte zurück als ambulante Projekte. Im Kontext der Kontinuität der Arbeit spielen in Tansania aber vor allem ehrenamtliche Mitarbeiter eine entscheidende Rolle, denn die Arbeit der Programme ließe sich vor allem im ambulanten Bereich nicht ohne das Engagement ehrenamtlicher Hilfskräfte in der gegebenen Qualität und Quantität aufrechterhalten. Alle befragten Organisationen im ambulanten Bereich bauen dementsprechend auf Volontäre, die in erster Linie aus dem unmittelbaren Umfeld der Organisation rekrutiert werden und die Kontinuität der Programme sichern. Ausländische Hilfskräfte kommen im ambulanten Bereich hingegen nur vereinzelt zum Einsatz. Auch stationäre Betreuungseinrichtungen profitieren vom Engagement ehrenamtlicher Mitarbeiter, allerdings kehrt sich das Verhältnis zwischen ausländischen und einheimischen Volontären im stationären Bereich um. Nur wenige Einrichtungen nutzen Freiwillige aus der Umgebung in der Betreuung und Versorgung ihrer Zöglinge, während in fast allen besuchten Einrichtungen der institutionellen Erziehung ausländische Volontäre arbeiten. Die hohe Fluktuation der ausländischen Hilfskräfte, die zum großen Teil nur zwischen wenigen Tagen und Monaten in der Einrichtung bleiben, führt bei den betreuten Waisen, die in ihrem Leben bereits vielfältige Verlusterfahrungen gemacht haben, zu wiederholten Beziehungsabbrüchen und steht im deutlichen Gegensatz

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zur erforderlichen Kontinuität der Hilfe, die unter anderem auch eine Kontinuität von Beziehungen bedeutet. Evaluationskriterium: Wirkungskreis Das Kriterium Wirkungskreis bezieht sich in diesem Zusammenhang nicht auf den räumlichen Einzugsbereich, sondern auf das Vermögen der Organisation, einen möglichst großen Anteil der Kinder mit einem entsprechenden Unterstützungsbedarf in ihrem Aktionsradius zu erreichen. Aufgrund der geringen materiellen Ressourcen in Tansania und des großen Ausmaßes der Waisenkrise besteht die Notwendigkeit, mit wenigen finanziellen Mitteln eine möglichst große Zahl von Waisen angemessen zu versorgen. Dabei sollte jedes Kind einen Lebensstandard erreichen, der den lokalen Gegebenheiten entspricht und der die gesunde Entwicklung nicht gefährdet. Je höher also die durchschnittlichen Kosten pro Kind und je geringer die materiellen Einkünfte der Organisation sind, desto niedriger ist der Wirkungskreis der Arbeit. Im ambulanten Bereich bleibt die Hauptverantwortung für die Versorgung der verwaisten Kinder bei den Familien. Dies wirkt sich positiv auf die Ausgaben der Organisation aus und ermöglicht die Arbeit mit einer entsprechend höheren Anzahl an bedürftigen Kindern. Die Kinder und ihre Familien müssen ausschließlich in den Bereichen unterstützt werden, in denen sie selbst die Versorgung nicht sicherstellen können. Die Pro-Kopf-Ausgaben in den stationären Betreuungseinrichtungen, die mit durchschnittlich 841 € pro Jahr das Zehnfache der Kosten im ambulanten Bereich betragen, ergeben sich aus der vollständigen Verantwortungsübernahme für die Versorgung der betreuten Zöglinge sowie durch den überdurchschnittlichen Lebensstandard in vielen Einrichtungen. Den Einrichtungen gelingt es trotz ihrer besseren Einnahmesituation nicht, den gleichen Wirkungskreis zu erreichen, wie ambulante Projekte. Die Bildungskosten stationärer Einrichtungen bilden ein anschauliches Beispiel: Von dem Geld, das einige Heime für den Platz in einer Privatschule ausgeben, könnten in Tansania 100 Kinder mit einer Schuluniform ausgestattet werden, die ihnen den Besuch in einer staatlichen Grundschule erlauben würde. Darüber hinaus eignen sich ambulante Hilfsprogramme aufgrund ihrer Organisationsstruktur besser als stationäre Einrichtungen zur Identifizierung der bedürftigen Kinder in ihrem Einzugsbereich und dies stellt

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eine wesentliche Voraussetzung dafür dar, einen möglichst großen Anteil der Kinder mit einem entsprechenden Unterstützungsbedarf zu erreichen. Durch das dichte Netz von Volontären sowie durch die Zusammenarbeit mit MVC-Komitees, bzw. mit der lokalen Verwaltung, befinden sie sich nahe an der Lebenswelt der Kinder. Sie gehen bei der Lokalisierung von bedürftigen Heranwachsenden in der Regel strukturierter vor und können dadurch genau definierte Gebiete abdecken. Organisationen im stationären Bereich vertrauen, anders als ambulante Organisationen, in erster Linie auf Eigenmeldungen der betroffenen Kinder und Familien und/oder auf die Entscheidungen der Wohlfahrtsbehörde. Dies verhindert, dass alle Kinder im Einzugsgebiet einer Einrichtung der institutionellen Erziehung, die aufgrund mangelnder Versorgung, Misshandlung oder Vernachlässigung einen reellen Bedarf für eine stationäre Unterbringung aufweisen, fremdplatziert werden. Evaluationskriterium: Vorbereitung auf eine unabhängige Zukunft Damit sich Heranwachsende langfristig in der Lage befinden, ihre biografischen Herausforderungen zu bewältigen und sich in die Gesellschaft zu integrieren, benötigen sie verschiedene Kapazitäten. Stationäre Betreuungsangebote bieten ihren Zöglingen in der Regel bessere Chancen im Bereich der formellen Bildung als Organisationen der ambulanten Hilfe. Die betreuten Kinder erhalten in vielen Einrichtungen nicht nur eine Ausbildung, die ihren kognitiven Kapazitäten entspricht, sondern auch eine qualitativ hochwertige Ausbildung in Privatschulen. In den anderen Bereichen (praktische Lebensfertigkeiten, Integration in soziale Sicherungsnetze und Eingliederungsfähigkeit) unterliegen die stationären Angebote allerdings den ambulanten Maßnahmen. Die vollständige Versorgung der Kinder in den stationären Einrichtungen behindert die Vermittlung von Eigenverantwortung und praktischen Lebensfertigkeiten. Zunehmend erkennen die Verantwortlichen diesen Mangel und schaffen künstliche Situationen, um den Kindern praktisches Wissen beizubringen. Beispielsweise waschen in einigen Einrichtungen die Kinder ihre Schulkleidung mit der Hand, obwohl es ausreichend Waschmaschinen gibt. Ambulante Hilfsprojekte profi ieren vom Verbleib der Kinder in ihren sozialen Netzwerken. Das Aufwachsen in der Familie und der Gemeinde stellt sicher, dass die Heranwachsenden die notwendigen praktischen Le-

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bensfertigkeiten vermittelt bekommen. Diese Fertigkeiten, die sich Kinder in Familien nebenbei durch die alltägliche Mithilfe im Haushalt und in der Landwirtschaft aneignen, sind für ein Leben und Überleben im agrarisch geprägten Tansania zentral. Neben dem Erlernen alltäglicher Fertigkeiten ermöglicht das Aufwachsen in der Familie auch die Entwicklung einer familiären und kulturellen Identität. Indem die Kinder, anders als Heranwachsende in Institutionen, Teil der Familie und Gemeinschaft bleiben und nicht aus ihr herausgenommen werden, können sie sich auch mit den kulturellen Praktiken vertraut machen und sich innerhalb der Gruppe bewegen, ohne kulturelle oder gesamtgesellschaftliche Werte zu verletzen. Darüber hinaus bleibt Kindern in Familien das familiale Sicherungsnetz erhalten, welches ihnen auch im Erwachsenenalter Schutz bietet. Es entspricht in Tansania der Tradition, Verwandten in persönlichen Zwangslagen, wie beispielsweise Krankheit oder Arbeitslosigkeit, Unterstützung zu geben. Einrichtungen der institutionellen Fürsorge befinden sich hingegen nicht in der Lage, die gesellschaftlichen Aufgaben des familialen Auffangnetzes vollständig zu erfüllen. Stationäre Erziehung bleibt immer beschränkt auf eine temporäre Zugehörigkeit. Dies wird am Prozess der gesellschaftlichen Eingliederung deutlich, der sich in Familien und Institutionen unterscheidet: Wachsen Kinder in einer Familie auf, findet die Loslösung in einem langsamen Prozess statt. Dieser Prozess zielt nicht auf die endgültige Trennung von der Familie, sondern auf die wirtschaftliche Selbstständigkeit und die Übernahme von Verantwortung innerhalb der Familie. Die gesellschaftliche Eingliederung am Ende der stationären Betreuung stellt hingegen eine endgültige Separation dar. Die jungen Menschen treten von der Lebenswelt der Einrichtung, welche von spezifischen Regeln und Werten geprägt wird, in die tansanische Gesellschaft über. Den jungen Menschen wird durch ihre gesellschaftliche Eingliederung ein ungekanntes Maß an Autonomie geschenkt. Dies kann als Zugewinn an Freiheit oder als Verlust an Orientierung erlebt werden. In beiden Fällen müssen die jungen Erwachsenen Wege finden, damit umzugehen, um die Möglichkeiten der Selbstbestimmung sinnvoll zu nutzen.

Schlussfolgerungen Die beschriebenen Ergebnisse meiner Studie ergeben Implikationen für die praktische Arbeit und zeichnen einen Bedarf für weiterführende Forschungsprojekte auf:

Waisenhilfe in Tansania – Was wir von Afrika lernen können

Implikationen für die praktische Arbeit: • Bedarfsdeckende Ausweitung geeigneter Programme • Qualitätssteigerung der Hilfsprogramme • Integrationsfördernde Hilfe statt Ausgrenzung durch Hilfe

Empfehlung für weitere Forschung mit stärkerer Einbindung tansanischer Wissenschaftler: • Grundlagenforschung • Programmevaluation

Exkurs: Was wir von Afrika lernen können Die nachfolgenden Ausführungen sind Auszüge eines Aufsatzes der erstmals im Band 3 der Reihe »Sozialarbeit des Südens, Kindheiten und Kinderrechte«, erschienen ist.28 Erschließung neuer Bevölkerungsgruppen für zivilgesellschaftliches Engagement In der Waisenhilfe in Tansania zeigt sich deutlich, dass zivilgesellschaftliches Engagement der Sensibilisierung, Mobilisierung und Aufrechterhaltung bedarf. Die offensive Vorgehensweise, bei der geeignete Personen und Gruppen direkt aufgefordert werden, sich für eine Sache einzusetzen, unterscheidet sich grundlegend vom fördernden Ansatz in Deutschland. Dieser verfolgt das Ziel, Engagement zu ermöglichen, das heißt förderliche Rahmenbedingungen für freiwillige Einsätze und Spenden entsprechend der individuellen Interessen und Möglichkeiten zu schaffen. Auf diese Weise lassen sich ausschließlich Personen erreichen, die bereits über Wissen hinsichtlich der Möglichkeit von ehrenamtlicher Arbeit verfügen und eine hohe Eigenmotivation mitbringen. Dementsprechend rekrutiert sich ein Großteil der Ehrenamtlichen aus der sogenannten Mittelschicht mit mittleren bis hohen Bildungsabschlüssen, während Arbeiter oder Personen, die sich außerhalb der Arbeitswelt befinden, 28 Brizay in Liebel/Lutz (2010, S. 391ff.).

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unterrepräsentiert sind. Das Potenzial der unterrepräsentierten Gruppen liegt brach, da es sich durch die herkömmlichen Rekrutierungsmethoden nicht mobilisieren lässt.29 Um neue Bevölkerungsgruppen für zivilgesellschaftliches Engagement zu gewinnen, besteht die Notwendigkeit für Mobilisierungskampagnen. Wie in den afrikanischen Staaten lassen sich auch in Deutschland Personen und Gruppen direkt ansprechen, für soziale Problemlagen sensibilisieren und über die Möglichkeit des eigenen persönlichen, bzw. materiellen Engagements, aufklären. Beispielsweise könnten Schulen oder soziale Einrichtungen in Deutschland Kontakt zu Seniorengruppen aufnehmen, um Lesepaten für Schüler mit Lernschwierigkeiten zu gewinnen bzw. um finanzielle Förderung für ihre Programme zu aktivieren. In einem Treffen könnten die Senioren Informationen über die Bedeutung von Lese- und Schreibfähigkeiten für die Bildungs- und Berufschancen der Kinder und über das Konzept der Lesepatenschaften erhalten. Auf diese Weise würden den Senioren konkrete Möglichkeiten (Übernahme einer Lesepatenschaft oder Bücherspenden, je nach Bedarf der Programme) aufgezeigt werden, um selbst aktiv zu werden. Nutzung der Potentiale benachteiligter Bevölkerungsgruppen als Akteure in eigener Sache Neben der Mobilisierung von bisher unbeteiligten Personen gelten in den afrikanischen Staaten auch sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen als Akteure in eigener Sache. Beispielsweise erhalten Waisen eine Ausbildung zum peer counsellor und beraten andere verwaiste Heranwachsende; in Spargruppen kommen Witwen zusammen und entwickeln wirtschaftliche Projekte zur Verbesserung ihres Haushaltseinkommens und verwaiste Jugendliche engagieren sich in Präventionsprogrammen, um vor den Gefahren von AIDS zu warnen. In Deutschland dagegen wird sozial Benachteiligten in der Regel die Rolle des Adressaten von Hilfsprogrammen zugewiesen. Zivilgesellschaftliches Engagement von Vertretern marginalisierter Gruppen erfolgt im Verborgenen und erhält im Allgemeinen weder die Anerkennung noch die Förderung, die notwendig wären,

29 Anheier/Toepler (2003, S. 26); Beher/Liebig/Rauschenbach (2000, S. 119);

Munsch (2003, S. 8).

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um dieses Potenzial voll auszuschöpfen.30 Nur in wenigen Ausnahmen, beispielsweise in Selbsthilfegruppen, werden aus den Hilfeempfängern Subjekte im Hilfeprozess. Die Möglichkeiten des Engagements sollten aber nicht allein auf die Form der Selbsthilfe beschränkt bleiben, sondern auch anderen Personen in vergleichbaren Situationen dienen. Einige Initiativen zeigen schon heute was möglich sein kann: Arbeitslose helfen einander bei Behördengängen, erfahrene Mütter leisten in sogenannten wellcome-teams praktische Unterstützung für junge Familien nach der Geburt, und Migranten erleichtern Neuankömmlingen das Zurechtfinden in der deutschen Gesellschaft. Diese Initiativen müssen weiter ausgebaut und auf andere soziale Bereiche übertragen werden, denn die persönlichen Erfahrungen, welche die Betroffenen mitbringen und weitergeben können, lassen sich durch professionelle Hilfe nicht ersetzen, sondern nur ergänzen. In Tansania zeigte sich darüber hinaus, dass das zivilgesellschaftliche Engagement von Betroffenen für Betroffene bei den Akteuren ein neues Selbstbewusstsein schafft und Kräfte freisetzt, die letztendlich zur Überwindung der eigenen Probleme beitragen. Förderung und Anerkennung von informellem zivilgesellschaftlichem Engagement Die Waisenhilfe in Tansania strebt, neben der Mobilisierung von personellen und materiellen Ressourcen für die Arbeit der jeweiligen Organisation, auch die Aktivierung von informellem zivilgesellschaftlichen Engagement an. Die Qualität und Quantität dieses zwischenmenschlichen Handelns lässt sich nur schwer evaluieren, da es aus der grundsätzlichen Haltung, bei Problemen zuzupacken und nicht wegzusehen, besteht. In Tansania zeigt sich diese Haltung im Kontext der Waisenkrise beispielsweise darin, dass Nachbarn verwaiste Kinder zum Essen einladen, Eltern ihre eigenen Kinder anhalten, Waisen nicht auszugrenzen und Menschen im Falle von Vernachlässigung oder Missbrauch einschreiten. Diese Maßnahmen haben in Tansania die Verelendung einer verwaisten Generation verhindert und deren soziale Integration gesichert. Das zivilgesellschaftliche Engagement für die Sache der Waisen entstand nicht von allein, vielmehr gab es zu Beginn der Waisenkrise ein großes Problem der sozialen Diskriminierung und Vernachlässigung aus Angst vor AIDS und der 30 Munsch (2003, S. 7).

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materiellen Bürde, welche die Versorgung von Waisen mit sich bringt. Es bedurfte vielzähliger öffentlicher Aufklärungskampagnen und persönlicher Gespräche, um informelles zivilgesellschaftliches Engagement in der Bevölkerung zu ermöglichen. Auch in Deutschland besteht der Bedarf und existiert das Potenzial für informelles zivilgesellschaftliches Handeln. Der Aufruf dazu könnte auch Personen ansprechen, die sich nicht in die Strukturen bereits bestehender Organisationen und Programme integrieren wollen. Bürokratisierung und Professionalisierung in der sozialen Arbeit lassen in Deutschland häufig wenig Platz für freiwilliges Engagement und bilden eine Hürde bei der Aufnahme einer ehrenamtlichen Tätigkeit.31 Informelles zivilgesellschaftliches Handeln beinhaltet die Chance der Entbürokratisierung – der Einsatz für Andere sollte kein zeitlich begrenztes ›Hobby‹, sondern eine Lebenseinstellung bilden. Die Erfahrungen in Tansania zeigen, dass es dafür – ebenso wie bei Tätigkeiten oder materiellen Zuwendungen innerhalb bestehender Strukturen – der Sensibilisierung und Aktivierung bedarf. Die Bevölkerung muss Informationen über soziale Notlagen und über konkrete Möglichkeiten des Helfens erhalten.

Literatur Ainsworth, Martha / Semali, Innocent (2000): The Impact of Adult Deaths on Children’s Health in Northwestern Tanzania. Washington: World Bank Anheier, Hemut K. / Toepler, Stefan (2003): Bürgerschaftliches Engagement zur Stärkung der Zivilgesellschaft im internationalen Vergleich. In: Enquete-Kommission »Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements« – Deutscher Bundestag (Hg.): Bürgerschaftliches Engagement im internationalen Vergleich. Opladen: Leske und Budrich Axios International (ed.) (2002): Designing Programs for Orphans and Vulnerable Children in AIDS affected areas. Report of a Needs Assessment in Mbeya Municipality, Tanzania. Dublin: Axios International Beegle, Kathleen / De Weerdt, Joachim / Dercon, Stefan (2005): Orphanhood and the long-run impact on children. Washington: World Bank

31 Enquete­Kommission »Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements« (2002, S. 273).

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Beher, Karin / Liebig, Reinhard / Rauschenbach, Thomas (2000): Strukturwandel des Ehrenamtes. Gemeinwohlorientierung im Modernisierungsprozess. Weinheim und München: Juventa Verlag Brizay, Ulrike (2010): Was wir von Afrika lernen können: Zivilgesellschaftliches Engagement in der Sozialen Arbeit. In: Liebel, Manfred / Lutz, Ronald (Hg.): Sozialarbeit des Südens, Bd. 3 – Kindheiten und Kinderrechte. Oldenburg: Paulo Freire Verlag Brizay, Ulrike (201 1): Bewältigungsstrategien für die Waisenkrise in Tansania. Lebensweltorientierte Unterstützungsangebote für Waisen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften Enquete-Kommission »Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements« – Deutscher Bundestag (Hg.) (2002): Bürgerschaftliches Engagement: auf dem Weg in eine zukunftsfähige Bürgergesellschaft. Berlin: Deutscher Bundestag Johnson, Hannah (2005): Literature Review of Foster Care. Moshi: Mkombozi Kadonya, Charles / Madihi, Mlwande / Mtwana, Suleiman (2002): Tanzania: Child labour in the Informal Sector. A Rapid Assessment. Genf: ILO Measure DHS (ed.) (2006): HIV/AIDS Indicators Country Report: Tanzania 19 92 – 2004. Calverton: Measure DHS Munsch, Chantal (Hg.) (2003): Sozial Benachteiligte engagieren sich doch. Weinheim und München: Juventa Verlag Rau, Bill (2002): Combating Child Labour and HIV/AIDS in sub-Saharan Africa: A review of policies, programmes, and projection South Africa, the United Republic of Tanzania and Zambia to identify good practices. Genf: ILO Thiersch, Hans (2002): Positionsbestimmungen der Sozialen Arbeit. Gesellschaftspolitik, Theorie und Ausbildung. Weinheim/München: Juventa Verlag UNAIDS, UNICEF, WHO und UNPF (eds.) (2009): Children and AIDS: Fourth Stocktaking Report 2009. New York: UNICEF UNICEF (ed.) (2003): Africa’s orphaned generations. New York: UNICEF Weinreich, Sonja / Benn, Christoph (2003): AIDS- eine Krankheit verändert die Welt, Daten-Fakten-Hintergründe. Frankfurt a. M.: Lembeck Whitehouse, Anna (2002): A situation analysis of orphans and other vulnerable children in Mwanza Region, Tanzania. Dar es Salaam: Catholic Relief Services Tanzania

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5. Auszüge aus den Diskussionen

»Who Takes Care?«1

1. Diskussion zum Vortrag von M. Fink und R. Gronemeyer Child welfare grant und school dropouts Teilnehmerin: »Was passiert eigentlich mit den Kindern, die aus dem Kindesalter herauswachsen und erwachsen werden, aber trotzdem noch in einer schwierigen Lage sind, aber dann ja von der Regierung nicht mehr unterstützt werden können. Was passiert mit denen? Habt ihr dazu Erfahrungen gemacht?« M. Fink: »Ja, das ist eine schwierige Situation. Die staatliche Unterstützung endet mit dem 18. Lebensjahr, aber das Problem besteht eigentlich noch weiter davor: Es gibt sehr viele school dropouts, d. h. etwa 50 % der Kinder machen keinen Abschluss und in dem Moment, in dem sie die Schule verlassen,

1 Die Diskussionen, die sich bei der Tagung »Who takes care? Waisen und vulnerable

children im Subsaharischen Afrika« (Rauischholzhausen, Januar 2014) an die jeweili­ gen Vorträge anschlossen, wurden für diesen Band transkribiert, zusammengefasst und aufbereitet von Julia Erb. Die Struktur der Diskussionen ist dadurch gekennzeich­ net, dass Fragen zunächst gesammelt und anschließend diskutiert wurden. Die Mode­ ration hatte Cornelia Wilß, Buch+Passage, Frankfurt. Die in diesem Band versammelten Beiträge basieren auf den bei der Tagung gehalte­ nen Vorträgen, sind aber nicht mit diesen identisch, sondern wurden von den Auto­ rInnen fort­ und umgeschrieben. Daher ist eine Relation zwischen den Vortragsdis­ kussionen und den hier veröffentlichten Beiträgen nicht im Eins­zu­eins­Verhältnis gegeben. (Die Diskussion zum Vortrag von U. Brizay musste aus Gründen der Zeit­ knappheit bei der Tagung entfallen.)

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Auszüge aus den Diskussionen

stoppt offensichtlich die staatliche Unterstützung. Viele der Kinder, die zur Schule gehen, kommen am Ende nicht bis zur 10. Klasse und zum Examen – einerseits, weil ab der secondary school Gebühren anfallen und auch weil man für das Examen die entsprechenden Dokumente (Geburtsurkunde, ID) braucht, genauso wie für den grant. Wer die nicht hat, kann den Abschluss nicht machen.«

NGOs und staatliche Programme H. Melber: »Eine Frage zum NGO-Sektor: Ich kann mich wage erinnern, ohne dass ich die Details noch parat habe, dass vor ungefähr zwei Jahren erhebliche Summen von USAID und anderen gestoppt wurden, weil auf der Ebene der an staatliche Programme angedockten NGOs sehr viel Geld verschwunden war. Habt ihr in eurem Projekt, das ja hauptsächlich auf der grassroot Ebene angelegt ist, etwas darüber gehört? Es gibt offensichtlich die Ebene der sehr gut ausgestatteten HIV/AIDS-Programme, die scheinbar nicht direkt mit den grassroot NGOs verzahnt sind. Wie beurteilt ihr das aus euren Erfahrungen von unten? Wo sind die Lücken in der Verzahnung, die es offensichtlich gibt?« M. Fink: »Zum Thema Verzahnung wurde immer wieder gesagt oder bedauert, dass die NGO-Ebene und die staatliche Ebene eigentlich getrennte Bereiche sind und dass es wenig Verbindung gibt. Es wurde auch als Wunsch formuliert, dass da etwas passieren muss. Für die NGOs auf der grassroot Ebene war das Thema Korruption und die Frage danach, wie man Vertrauen gewinnen kann, sehr präsent.« R. Gronemeyer: »Ich glaube es gehört einfach dazu, was Du, Henning, ja auch immer wieder betonst und akzentuierst, dass das Auseinanderklaffen von Reich und Arm in Namibia ein dramatisches Ausmaß angenommen hat. Was wir erfahren, ist, dass sich das auch auf der NGO-Ebene deutlich widerspiegelt. Die neue Elite interessiert sich offensichtlich überhaupt nicht für das, was ›da unten‹ passiert. In den kleinen Initiativen in Ondangwa oder Katutura wird eigentlich immer um den Dollar gekämpft und es ist von ›da oben‹ nicht erkennbar etwas angekommen. Es gibt die großen Wai-

Auszüge aus den Diskussionen

senhäuser, wo es etwas anders zu sein scheint, aber alles, was Initiative ist, hat offensichtlich keinen Anschluss an diese internationalen Gelder.« K.-D. Grothe: »Was Sie schildern sind aus meiner Sicht so etwas wie gesellschaftliche Auflösungserscheinungen, d. h. die traditionellen Muster der Fürsorge, wie die extended familiy, sind in Auflösung begriffen und mich würde interessieren, inwieweit hängen aktuelle, politische Strukturen – Herr Gronemeyer hat es gesagt – damit zusammen? Aber wie ist auch der Zusammenhang zwischen der Kolonialgeschichte und dem strukturellen Rassismus und den aktuellen verstärkten Auflösungserscheinungen in einer Gesellschaft zu verstehen, in der sich die Menschen immer weniger umeinander kümmern? Also ich kann aufgrund persönlicher Erfahrungen sagen, dass es in Uganda noch mehr so etwas wie ein Zusammengehörigkeitsgefühl gibt – und was Sie schildern ist sozusagen der Übergang zu lateinamerikanischen Ländern, zu einer Situation, wo es das praktisch nicht mehr gibt, dass sich Familien umeinander kümmern und die Situation von Straßenkindern geprägt ist.« U. Brizay: »Ich möchte Bezug nehmen auf das Interview mit der Dame, Rosa Namises, die sagte, dass nur jene Projekte ausländische Unterstützung bekommen, in denen jemand sitzt, der ›weiß‹ ist, weil das vertrauensbildend wirke. Ich habe das in Tanzania ähnlich erlebt: Gerade die lokalen Projekte, die aus lokalen Notlagen entstanden sind und die eigentlich nur sehr wenig finanzielle Unterstützung brauchen, um ihre Projekte aufrecht zu erhalten, sind nicht an die ausländischen Fördermittel gekommen. Konnten Sie das auch feststellen? Welche Rolle spielen die Ideen und Vorstellungen ausländischer Geldgeber? Wie wirken die sich vor Ort aus?« C. Wilß: »Gibt es von der Zivilgesellschaft Ansätze, einen Druck auf die Regierung aufzubauen? Ist da etwas in Bewegung geraten, oder nicht?« R. Kößler: »Ich glaube durchaus, dass diese Problematik, die Rosa Namises angesprochen hat, besteht. Aber es gibt natürlich auch Probleme des Zugangs zu Informationen darüber, wo ich eigentlich hingehen muss, um an Gel-

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Auszüge aus den Diskussionen

der zu kommen. Was auch eine wichtige Rolle spielt, ist die Frage der Buchhaltung und Abrechnung. Dass also bestimmte Standards – und hier kann man viel darüber nachdenken, was das mit Korruption zu tun hat, mit Disziplinierung, mit dem Aufzwingen von Standards, mit dem Ignorieren von Kontexten – eingehalten werden sollen. Wenn ich also gerade Geld habe und irgendwo ist eine Notlage, dann mache ich etwas, das in dieser Buchhaltungslogik nicht enthalten ist.« U. Brizay: »Ich denke es sind nicht nur die Standards, sondern es spielt auch eine Rolle, dass es sich für große Hilfsorganisationen gar nicht lohnt, ein Projekt mit 500 € zu unterstützen. Der Aufwand lohnt sich nicht, bzw. der Verwaltungskostenaufwand ist zu hoch, so dass die Spender sich beschweren.« C. Wilß: »Reinhart Kößler hat betont, dass es eben auch eine Frage des Zugangs ist. Also es gibt beide Seiten: Die Problematik der Verteilung und des Zugangs. Jetzt wäre es gut, wenn wir dazu Stellung nehmen könnten zu diesem Aspekt der Zivilgesellschaft und der Förderung.« M. Fink: »Ja, also das war einmal die Frage: Wo kommt das Geld im Wesentlichen her für die Waiseninitiativen, Waisenhäuser, NGOs. Also, was wir sagen können ist, dass die großen Geldgeberorganisationen UNICEF, USAID, Global Fund usw. Geld geben direkt an NGOs aber auch jahrelang Geld gegeben haben an NANASO, die Dachorganisation aller AIDS-Organisationen in Namibia, aber die Förderung ist inzwischen deutlich herunter gefahren worden. Die Einrichtungen und Initiativen werden in erster Linie von ausländischen, europäischen oder amerikanischen Spendern unterstützt – von Privatpersonen, Kirchengemeinden, Vereinen. Einrichtungen, in denen Kinder leben, erhalten den child welfare grant von der Regierung, das sind 10 Namib-Dollar pro Tag und Kind. Aber das bekommen dann auch wieder nicht alle Kinder, weil die Beantragung des grants langwierig und komplex ist.« G. Gronemeyer: »Vielleicht kann man noch hinzufügen, dass wir natürlich den Versuch machen von unserer grassroot Betrachtung zu so etwas wie einer Theorie

Auszüge aus den Diskussionen

der namibischen Gesellschaft zu kommen; jedenfalls versuchen wir das, was wir sehen, von gesamtgesellschaftlichen Prozessen her zu erklären. Wobei für mich nach wie vor eigentlich unklar ist: Haben wir es mit Modernisierungsprozessen zu tun, hat es etwas mit den Folgen des Befreiungskrieges zu tun, ist es etwas, was gewissermaßen ein globaler Prozess ist, bei dem der Konsumismus gewissermaßen alles andere ohnehin beseitigt oder sind es eher lokale Prozesse, die wir anschauen? Ich würde an das, was Herr Grothe gesagt hat, anknüpfen: die Frage nach Auflösungserscheinungen. Ich habe nicht das richtige Wort, aber wenn ich es an einem Beispiel versuchen darf deutlich zu machen: Was für mich so eindrücklich ist, wenn man in Ondangwa ist und da ist Shoprite und all die malls, die inzwischen da sind, in denen man alles bekommen kann – und wenn man fünf Kilometer weiter im Busch ist, dann ist das eine völlig andere Lebenswelt und 100 Namibia-Dollar auf der Ebene von Shoprite sind eine ganz andere Währung als 100 Namib-Dollar im egumbo irgendwo auf dem Dorf. Es sind im Moment zwei Welten, es entstehen Disparitäten vor Ort, die ungeheuerliche Dimensionen haben.«

Präsenz des Staates und Forderungen der Zivilgesellschaft H. Melber: »In wie weit ist der Staat dort, in dieser Lebenswelt, auf die ihr schaut, noch in anderer Form präsent als durch das Waisengeld? Generell kann man ja für Namibia sagen, im Vergleich zu anderen afrikanischen Gesellschaften ist der Staat relativ präsent. Aber wie präsent ist er auf der Ebene, die ihr beschreibt? Gibt es da irgendwelche Beamten, die da mal gucken? Gibt es da irgendwelche Repräsentanz staatlicher Fürsorge? Irgendwelche Formen auf der Ebene von Lokalverwaltungen oder vom Ministry of Health oder anderen, irgendjemand, der den Staat personifiziert? Weil in dem, was ihr bisher gezeigt habt, war nix! Gibt’s nix.« C. Berker: »Ich glaube, dass es ganz wichtig ist, dass die Veränderung auch wirklich von innen passiert. Es gibt nationale Aktionspläne zu allen möglichen Themen und im Zuge dessen kommt es, so mangelhaft sie auch sein mag, zu einer Zusammenarbeit, in der die NGOs oder die Zivilgesellschaft mithelfen, diese Aktionspläne umzusetzen. Sich aber darauf zu verlassen, dass das Geld von den internationalen donors schon irgendwie

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Auszüge aus den Diskussionen

weiter kommen wird, ist ein Trugschluss. Es gibt Trends, und so bitter das ist: OVC sind nicht mehr im Trend, es sind jetzt andere Themen vorrangig. Ich glaube die Stärkung der Zivilgesellschaft, dass die Leute von ihrer eigenen Regierung Antworten einfordern, daran führt letztlich kein Weg vorbei, wenn sich nachhaltig etwas verändern soll.« R. Gronemeyer: »Zu dem von Henning Melber angesprochenen Thema: Einerseits hören wir ja in vielen Interviews von den Kindern oder auch von Initiativen und Frauen: ›Government‹ – die Regierung muss da was machen! Es entsteht da für mich immer so das Bild eines ungreif baren Leviathan. Also es gibt die gewissermaßen bäuerliche Lebenswelt und darüber wölbt sich jetzt mit einem Mal eine fast anonyme und eine nicht präsente Instanz, an die Forderungen gerichtet werden: ›Die müssen was machen!‹ Dazwischen ist ein riesiges Nichts, ist mein Eindruck.« C. Wilß: »Es gibt also keine proklamierten Forderungen der Zivilgesellschaft?« R. Gronemeyer: »Es ist zwar eine mit dem Wort government versehene Wut an vielen Stellen da, aber sie setzt sich nicht, soweit ich das sehe, in konkrete Forderungen um. Und die Präsenz der Regierung ist eigentlich… es gibt eine funktionierende Bürokratie, aber die organisiert das Funktionieren der Bürokratie und ist nicht vor Ort.« H. Melber: »Gibt es denn in euren Interviews außer dem Referenzpunkt government auch den Referenzpunkt SWAPO?« R. Gronemeyer: »Also nach unserer Erfahrung sehr, sehr selten. Also von Kindern schon mal gar nicht und von Frauen, die diese Initiativen machen, nur ausnahmsweise.« U. Brizay: »Dass die Leute sagen, die Regierung muss etwas machen, darüber bin ich ganz überrascht: In Tanzania gibt es keine staatliche Unterstützung –

Auszüge aus den Diskussionen

weder für Alte, noch für Kranke, noch für Waisen. Da bin ich überrascht, was es in Namibia alles gibt. Die Projekte machen was, indem sie Decken bringen und Essen und Suppenküchen usw. Aber was wird gemacht, um den Familien zu helfen, selbständig zu sein? Gibt es Initiativen, die darauf zielen, dass die Familien langfristig selbständig leben können und eben nicht vom Staat oder von Initiativen abhängig sind?« M. Fink: »Es gibt income-generating Projekte. Beispielsweise werden Gärten in den communities initiiert, um die Menschen im Blick auf die Ernährung unabhängiger zu machen.«

Die Rolle der Kirchen H. Dietz: »Ich komme vom Kindermisssionswerk ›Die Sternsinger‹. Wir sind ja eine katholische Kinderhilfsorganisation und insofern würde mich natürlich auch interessieren, wie das denn mit der Kirche in Namibia ist, wie Sie das erlebt haben, welche Initiativen es da gibt, wie die Zusammenarbeit evtl. mit den grassroot Initiativen aussieht, die Sie besucht haben, ob man das vergleichen kann mit dem Engagement der Kirche in West- und Ostafrika, was ja ganz stark auch in dem Bereich ist.« M. Fink: »Es gibt Catholic AIDS Action. Es gibt eine große NGO in Namibia, die CAFO, Church Alliance for Orphans, die in fast allen Regionen tätig ist und sehr viel tut. Aber wir haben immer wieder auch den Satz gehört ›nowadays the church is also needy‹ – also die haben nichts, wobei auf der anderen Seite jeder Gottesdienst mit einer Kollekte endet bzw. mit einer Versteigerungsaktion zugunsten Bedürftiger in der Gemeinde oder etwa für die Kirchenrenovierung. Viele Kirchengemeinden bieten Suppenküchen für Bedürftige an oder finanzieren Schulspeisungen.«

Die Namensvetterin als soziale Mutter J. Martin: »Ich habe eine Frage zu einem ethnographischen Detail, das mich interessieren würde, nämlich zur lokalen Praxis der Kindspflegschaft in

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Namibia und dieser Rolle einer bestimmten Frau, der Namensgeberin des Kindes, die Sie erwähnten. Wissen Sie welche verwandtschaftliche Position diese Person hat, wer das ist, wer diese Rolle übernimmt und welche Rechte und Pflichten die Person möglicherweise gegenüber ihren Pflegekindern hat?« M. Fink: »Also sie muss gar nicht verwandt sein, es können auch Freundinnen, Nachbarinnen sein. Ich kann jetzt nicht unbedingt sagen, dass es mehrheitlich die Tanten sind, aber es sind sicher Frauen. Vielleicht kann Rauna Shimbode dazu etwas mehr sagen. ›Rauna, the namesake in the Ovambo tradition, the mbushe, who is it normally? Is it aunty or can it be a friend or a neighbor?‹« R. Shimbode: »Any person can be a namesake. Some are familiy and some are friends.« M. Fink: »And the namesake is responsible for the child in which respect?« R. Shimbode: »Mostly they are responsible for the child, let me say, there is a namesake who is rich, then sometimes she takes the child away, or sometimes she takes care, if the child has a problem with school and you say ›go to your namesake‹, or when the child has some needs, you say ›go to your namesake‹, or the namesake can say ›you are free to come and get whatever you want‹. For holidays the child is going there and when the child gets married, it will ask the namesake to organize the wedding.«

Statistiken J. Pauli: »Was mir aufgefallen ist, Sie haben diese Zahlen, wo die OVC leben, erwähnt, und ich habe selbst sehr viele Zensusdaten erhoben auf der Mikroebene und weiß, dass das sehr problematisch ist mit diesen Zahlen zu argumentieren, wenn man eine Bevölkerung hat, die hoch mobil ist, weil Sie immer nur snapshots kriegen, die Sie verallgemeinern, und da wäre ich etwas vorsichtiger, denn das sind ja immer Momentaufnahmen in einem

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System hoher Mobilität und Migration. Mit solchen Zahlen würde ich raten, etwas vorsichtiger zu sein. Das ist aber nur eine kleine Anmerkung.« R. Gronemeyer: »Es ist uns völlig klar, dass alle diese gouvernementalen Zahlen in höchstem Maße schwammig sind. Es sind sozusagen Referenzrahmen, unsere Aussagen beziehen sich auf unsere Interviews und das, was wir dort hören. Wenn Leute sagen, ja in der Schule sind es 30 – 40 % Waisen, dann verstehen wir das nicht als faktische Zahl, sondern vielmehr als Ausdruck einer Wahrnehmung. Also ich würde mich nicht darauf verlassen, dass das etwas aussagt über das Zählbare, sondern es sagt etwas aus darüber, wie das Thema wahrgenommen wird. Also auch die Zahlen der HIV-Infizierten etc., das ist alles höchst vage, was man dazu sagen oder hören kann.«

2. Diskussion zum Vortrag von J. Martin Kinderheimboom H. Dietz: »Als ich vor Kurzem für das Kindermissionswerk in Nordbenin war wurde mir von Partnern gesagt, dass es mittlerweile eine sehr große Anzahl an Waisenheimen gibt, die auch recht überfüllt sind. Meine Gesprächspartner haben dies mit dem Phänomen der sogenannten Hexenkinder in Verbindung gebracht – also mit Kindern, die aus ihrer Gemeinschaft ausgestoßen wurden und nun in Heimen leben müssen. Was glauben Sie welche Perspektive die Kinder dort haben? Welche Rolle kommt Kinderheimen heute zu? Denn eigentlich sind es ja Kinderheime, keine Waisenhäuser.« J. Martin: »Ich beobachte das Anwachsen der Anzahl von Kinderheimen auch. Das ist, glaube ich, die neueste Tendenz einer Institutionalisierung von Kindheit. Ich habe mir einmal die Mühe gemacht im Internet zu recherchieren, welche Institutionen in Benin vertreten sind und haben festgestellt, dass in den letzten 10 bis 15 Jahren über 20 Waisenheime gegründet wurden, die sich auch im Netz häufig mit ausländischen Partnern präsentieren. Aus theoretischer Perspektive sehe ich das auch als eine neue Form

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sozialer Elternschaft, wo Elternrollen übertragen werden und wo anders über die Zugehörigkeit dieser Kinder verhandelt wird, wo Staat, NGOs und Familien interagieren. Das ist ein sehr spannendes Feld. Was die Rolle die Hexenkinder betrifft bin ich mir nicht so sicher inwieweit das nicht auch ein NGO-Diskurs ist, der auch dazu genutzt wird, um Mittel zu akquirieren. Das Thema Hexenkinder ist sehr publik gemacht worden und hat dazu geführt, dass es sehr schwer geworden ist, mit Leuten darüber überhaupt noch zu reden. Es gibt immer noch Heiler, die auf die Behandlung solcher Kinder spezialisiert sind. Tötungen finden nach Angaben von Leuten, mit denen ich gesprochen habe, noch statt, aber im Verborgenen. Es gibt eine Art soziales Kontrollnetz von NGOs, in dem Leute dafür eingespannt werden, Organisationen und Waisenheime zu informieren, wenn sie von einem solchen Fall hören, in dem ein Kind aus der Verwandtschaft eliminiert werden soll. Es ist ein kontroverses Thema und immer noch relevant, auch wenn die Zahl der Hexenkinder sehr stark abgenommen hat.« U. Brizay: »Dieselbe Entwicklung, also der Boom in der Heimerziehung, ist in Tanzania zu beobachten und dort gibt es keine Hexenkinder. Das Angebot bestimmt meiner Meinung nach in diesem Fall die Nachfrage: Je mehr Heimplätze da sind, desto mehr Leute nehmen sie in Anspruch, weil es eine gute Möglichkeit ist, kostenlos Bildung und Wohnung für die Kinder sicherzustellen.«

Soziale Elternschaft und ›Rechte an Personen‹ S. Klocke-Daffa: »Sie sagen ja, wenn man Kinder abgibt, dann übernimmt man sozusagen alle Erziehungsfunktionen und damit auch die Rechte über die Kinder. Und das passiert nicht immer nur aus ökonomischen Gründen, sondern z. B. auch, um soziale Beziehungen aufrechtzuerhalten. Und da hat ja die Vater-Schwester eine starke Stellung, die holt sich auch hin und wieder ein Kind ihrer Brüder. Trotzdem wollte ich noch mal fragen: Sie haben das jetzt als nicht weiter hinterfragbare Ursache hingestellt, es liegt an der Übertragungsoder Verfügungsgewalt über Personen. Haben Sie mal recherchiert, ob es da noch weitere Gründe gibt? Wieso ist es so ein kulturelles Muster, dass

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über Personen verfügt werden kann, unter anderem über Kinder? Auch bei Frauen, die z. B. verheiratet werden, also in die Ehe gegeben werden, auch da wird über Personen verfügt. Und es trifft nicht nur Frauen, es war ja auch mit den Jungs der Fall.« J. Martin: »Die Übertragung von Rechten ist eine theoretische Perspektive auf das, was da passiert. Ich finde das hilfreich, weil man dadurch gezwungen ist, sich von seinen eigenen Vorstellungen von Kindheit ein Stück weit zu entfernen und anders darauf zu schauen. Aber es ist eben auch eine problematische Perspektive, weil sie vor allem die Seite der Rechte betrachtet und man dabei nicht viel darüber erfährt, was diese Praktiken im Alltag bedeuten und wie Kinder das sehen, wie das ausgehandelt wird und welche Konflikte es gibt. Aber diese grundsätzliche normative Vorstellung, ›ich hole mir mein Kind‹ und die Betonung liegt auf ›mein‹ Kind, also das Kind meines Bruders, das sagt etwas über verwandtschaftliche Organisation aus, darüber, wie Verwandtschaft gedacht wird, und das ist eben etwas anderes als extended family.« K.-D. Grothe: »Ich bin aufgrund meiner Beschäftigung mit Ugandas ehemaligen Kindersoldaten auf das Phänomen der sozialen Elternschaft gestoßen. Mein Eindruck als Psychologe war, dass der Vorteil für die Kinder und für die Gesellschaft darin bestand, dass sich mehr Menschen als nur die Eltern verantwortlich fühlen für die Kinder; dass es im Alltag etwas bedeutet hat, dass sich jeder Erwachsene dieser Nachkriegsgesellschaft für die Kinder verantwortlich fühlte, sie zum Beispiel gemaßregelt hat, wenn sie entgegen der kulturellen Normen gehandelt haben; dass man sich also als Fremder, auch unabhängig von verwandtschaftlichen Beziehungen, verantwortlich für Kinder fühlt. Mein Eindruck war, dass dies den Kindern das Gefühl gibt, dass sie nicht nur von einer Person allein abhängig sind. Mich würde interessieren, ob es dieses Phänomen auch in Benin gibt? Könnte die soziale Elternschaft und die damit zusammenhängenden Austauschprozesse diesen psychologischen Effekt ebenfalls haben?« J. Martin: »Ich würde es eher nicht als einen psychologischen Effekt beschreiben, sondern als Ausdruck von sozialen Strukturen, wie Seniorität, also der

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normativen Vorstellung, dass Kinder Älteren gegenüber Respekt zeigen müssen. Die sind auch in Westafrika sehr ausgeprägt. Es sind zentrale Wertevorstellungen, dass Kinder vor allem den Verwandten, aber auch Nicht-Verwandten gegenüber, in allererster Linie Respekt zeigen sollten. Das Thema ist in den Gesprächen immer wieder aufgetaucht, was auch dazu führt, dass Kinder wenig ermuntert werden, selbst zu sprechen in der Gegenwart von Erwachsenen. Kommunikation verläuft dort viel stärker in der gleichen Altersgruppe.« C. Wilß: »Das rights of person-Konzept hat damit nichts zu tun, würden Sie sagen?« J. Martin: »Doch, das halte ich für sehr eng miteinander verknüpft. Also der, der von mir abhängt ist, derjenige den ich ernähre, der muss mir auch Respekt erweisen.«

3. Diskussion zum Vortrag von S. Klocke-Daffa Folgen von Säkularisierung und Individualisierung R. Gronemeyer: »Mir scheint es so, dass diese religiöse Dimension – die Beziehung auf den Herrn, auf Gott – ja doch in erster Linie eine Sache der Großmütter ist. Ich glaube, dass ein Prozess der Säkularisierung und Individualisierung gleichzeitig einsetzt, der eigentlich im Kern dieses Geben-und-Nehmen-Konzept aus der Mitte heraus zerstört. Das verschärft im Grunde genommen noch einmal, glaube ich, das, was Sie beschrieben haben, weil nicht nur die sozialen Bedingungen sich ändern, sondern gewissermaßen auch die ideologisch-religiösen Grundlagen hinweg fallen. Und es ist nicht nur die Individualisierung der Jüngeren, die jetzt mit einem Mal sagen: ›Wir wollen auch etwas für uns behalten‹, sondern es ist auch deren Abstand zu dieser religiösen Kategorie. Ist das so?« S. Klocke-Daffa: »Ja das könnte sein, aber manchmal ist es ja so, dass religiöse Werte sich auch dann noch halten, wenn die Religion gar nicht mehr so eine große

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Rolle im Leben spielt. Wir kennen das von der protestantischen Ethik, da gibt es ja auch viele Leute, die sich an die protestantische Ethik halten, obwohl sie nicht besonders protestantisch sind. Wertesysteme sind sehr langlebig. Die Referenz auf das Wertesystem des Teilens, Gebens und Nehmens habe ich auch von vielen jüngeren Leuten gehört. Es gibt sehr viele Leute, die sich diesen Werten verpflichtet fühlen. Aber es ist natürlich verlockend, das eine zu haben und das andere nicht zu lassen. Also das, was die Moderne bietet, haben zu wollen, aber auf das alte Wertesystem zu rekurrieren. Ich will den modernen Konsum haben und die moderne Individualität, aber dann muss ich mich auch um meine eigenen Kinder kümmern. Aber das können sie auf diese Weise dann beides haben. Und es sind ja oft ältere Personen, vor allem ältere Frauen, die die Kinder nehmen, die das auch wollen. Sie wollen ja nicht, dass ihnen die Kinder weggenommen werden, da sie sich über die Versorgung der Kinder definieren als ältere Personen. Aber sie wollen auch nicht, dass sie die Kinder immer haben, dass die da hingeschickt werden und zwangsweise bei den Großeltern untergebracht werden.« R. Gronemeyer: »Das Geben und Nehmen, was mir sehr einleuchtet und was ich glaube auch selbst oft so wahrgenommen habe, das ist aber – ich weiß nicht ob Sie dem zustimmen – kein Utilitarismus, keine Tauschbeziehung in Äquivalenten, sondern es ist etwas kulturell völlig anderes, weil es eben auch religiös unterfüttert ist. Wenn da der religiöse Rahmen wegfällt, dann wird es eine kalte Sache.«

Urbanisierung und soziale Krisen R. Kößler: »Ich finde, Sabine, Du hast sehr gut herausgearbeitet in welcher sozialen Krise sich Namibia befindet und dass das System an die Grenze seiner Absorptionsfähigkeit gekommen ist. Das heißt für mich, dass die Notwendigkeit einer grundlegenden Umverteilung gegeben ist und gerade deswegen ist es sehr bedauerlich, dass die Sache mit dem Basic Income Grant gescheitert ist. Ich habe noch eine Anmerkung zum Effekt der Urbanisierung in der Gegend, die uns ja beiden geläufig ist. Im Grunde genommen kann man ja sagen, dass die communal areas im Süden (in anderen Gegenden ist es, glau-

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be ich, nicht so viel anders) das sind, was die Reservate einmal sein sollten – also die Abladestelle für Problemfälle: Alle, die irgendwie aktiv sind, sind in Windhoek oder Walvis Bay, und die Frauen, die keinen Job haben, bleiben in den communal areas, kümmern sich um die Kinder und um die Alten. Wenn man mal einen Strich unter das macht, was wir heute gehört haben, dann sind die Probleme so unterschiedlich nicht: Also wenn Kinder verliehen, verschickt oder übernommen werden aus irgendwelchen Gründen – das Problem, wie sie in dem Haushalt, in dem sie leben, zurechtkommen sollen und wie diejenigen, die für sie sorgen, zurechtkommen sollen, das ist immer identisch. Und da ist es dann wichtig, eine flexible und nicht überbürokratisierte Fürsorge zu schaffen.« S. Klocke-Daffa: »Ja, das stimmt sicherlich, aber interessanterweise hatte ich den Eindruck, weil ich das jetzt aus dieser Distanz von über vielen Jahren sehen kann, dass die Stimmung und die Situation in den Reservaten sich besser darstellt als in den townships der Städte. Auf dem Land sind noch mehr Ressourcen, mehr soziale Netzwerke und soziale Beziehungen vorhanden, man kann bei den Nachbarn nach Hilfe fragen und bei jemandem, der noch Vieh hat. In den Slums der Städte ist niemand, der irgendetwas zu geben hätte. Mein Argument ist ja, dass dies auf kulturellen Grundlagen basiert, und die müsste man stärken, anstatt mehr Waisenhäuser zu bauen und die Kinder aus ihren sozialen Kontexten herauszuholen. Das ist für mich keine Lösung des Ganzen.«

Großmachkinder Teilnehmerin: »Sie sagten ja, dass nicht danach gefragt wird, wie diese dynamischen Familienverhältnisse von den Kindern empfunden werden. Ein nigerianischer Freund von mir, der als ›Großmachkind‹ aufgewachsen ist, spricht viel darüber, dass er das als extrem traumatisch empfunden hat, als etwas, das sein Leben negativ beeinfl sst hat. Er hatte das Gefühl hin- und hergeschoben und nie gewollt zu sein. Wie weit reicht dieses dynamische Konzept historisch zurück? Ist es etwas, das erst in dieser Form in der Apartheidsgesellschaft aufgekommen ist – durch die Arbeitsverhältnisse, die Familien auseinander gerissen haben – oder ist das schon viel älter und kulturell verankert?«

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S. Klocke-Daffa: »Ethnologisch können wir nicht weit genug historisch in die Tiefe gehen. Ich denke, dass es viel älter ist als das Apartheidsregime und dass es nicht nur ein Notsystem war, sondern, dass es schon seit sehr langer Zeit ein Teil dieser kulturellen Grundlagen ist. Ich glaube, dass Kinder dieser Situation ausgesetzt werden, hat damit zu tun, dass dieser gesamte Austausch die Gesellschaft aufrecht erhält. Das ist ein Sicherungs- und Ordnungsprinzip und das erfordert Opfer. Das ist der Preis dafür, der von jedem einzelnen gefordert wird – so wie gezahlt werden muss, wenn irgendjemand etwas braucht aus der Familie, z. B. für eine Hochzeit oder eine Beerdigung. Und Kinder müssen eben diesen Preis auch schon bezahlen. Das könnte ein Grund sein, aber ich möchte auch nicht zu viel spekulieren. Ich glaube nur, dass es nichts mit Apartheid zu tun hat. Ich denke, dass das viel älter ist.«

Das kulturelle Austauschsystem F. Krüger: »Ihr Vortrag und auch die Diskussion zeigen ja, dass dieses Reziprozitätssystem, oder wie man das nennen möchte, sehr komplex ist. Sie haben die religiöse Komponente in den Vordergrund gerückt. Mich würde interessieren, gerade im namibischen Kontext, welche Rolle spielt sie wirklich. Mich hat die religiöse Bedeutung ein bisschen überrascht, allerdings mag das ja auch gute Gründe haben. Ich habe generell im Südlichen Afrika den Eindruck, dass dieses Wertesystem auch auf vielen anderen Zusammenhängen fußt, die ich nicht unbedingt als religiös bezeichnen würde. Vielleicht als spirituell. Wie würden Sie den Stellenwert einschätzen? Ist es nicht eben dann doch auch ein sehr stark kolonialgeschichtlich beeinfl sster Stellenwert, speziell in Namibia, den diese Triade hier zeigt?« S. Klocke-Daffa: »Sie können diese Triade, also die obere Instanz – das Rätsel der dritten Person – so hat es mal ein Ethnologe genannt, wahlweise durch etwas anderes ersetzen, z. B. durch Glück oder Schicksal. Wenn Sie so ein triadisches Modell haben, können Sie das auch wahlweise durch den Staat, durch government ersetzen – neuerdings soll ja immer alles das government machen, nur leider macht government in Namibia nicht alles, wie der Herr das macht.

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Aber diese Vorstellung erklärt, warum diese besondere Form von generalisierter Reziprozität dann funktioniert. Wenn Sie sich den oberen Teil wegdenken, dann haben Sie nur ein dyadisches Modell: Sie geben mir und dann erwarten Sie natürlich, dass ich das Ihnen im selben Wert irgendwann zurückgebe, sonst ist diese Beziehung unterbrochen. Wenn Sie das aber triadisch sehen, dann ist es egal, ob Sie das von mir oder von jemand anderem zurückerhalten. Dann gibt es einen Gesamtaustausch. Das hat nichts mit Apartheid zu tun, meine ich. Es hat vielleicht irgendetwas mit vorkolonialen Strukturen zu tun, Organisationsstrukturen. Ich kann leider nicht weit genug in der Geschichte zurückgehen, um zu sehen, ob es dieses religiöse System schon Jahrhunderte lang gegeben hat.« F. Krüger : »Ich will das gar nicht wegnehmen, im Gegenteil, ich würde es deutlich ergänzen: Natürlich kommt da der Staat rein, da kommen vielleicht Ahnenstrukturen rein, da kommen andere spirituelle Motive rein. Ich würde sagen, der analytische Reiz, hier weiter zu arbeiten, besteht darin, dieses Modell zu verkomplizieren. Mir greift es ein bisschen zu kurz wenn wir Moderne und Geschichte gegenüberstellen. Das Entscheidende ist, glaube ich, dass es durch die Komplexität vielleicht überhaupt erst erklärbar wird.«

4. Diskussion zum Vortrag von J. Pauli Waisen als Konstrukt der Hilfsindustrie M. Fink: »Inwieweit war bei Ihren Untersuchungen das Waisenthema etwas, das diskutiert wurde?« J. Pauli: »Hier stellt sich wieder die Frage danach, was genau Waisen sind. Dass Kinder in komplexen Beziehungen leben, das ist immer auch ein Thema des Alltags, darüber wird verhandelt. AIDS-Waisen wurden durchaus zunehmend ein Thema, aber das hängt meiner Meinung nach auch stark mit der Veränderung des institutionellen Rahmens zusammen, damit, dass diese Kinder als Kategorie entstanden sind und das baut durchaus auch

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auf den Auseinandersetzungen zum Thema ›maintenance‹ auf. Denn natürlich sind Kinder, wenn sie dann in diesen Status ›Waisen‹ kommen auch ein potenzieller Zugewinn für Haushalte und dann stellt sich die Frage, ab wann man welcher Kategorie angehört und was sie impliziert. Es gibt also eine Diskursebene und ich glaube, dass die sehr ausgeprägt ist und dass sie auch beeinfl sst wird von verschiedenen Institutionen. Gleichzeitig gibt es die Ebene der eigenen Erfahrungen.« Mobilität und Ethnizität in Fransfontein H. Melber: »Es ist interessant zu sehen, wie unterschiedlich die lokalen Realitäten sind. Also Fransfontein im Vergleich zu Berseba und im Vergleich zu den O-Regionen in Namibia. Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass Fransfontein eigentlich immer multi-ethnisch geprägt war. Mich würde interessieren, inwieweit sich das heute in diesen Kindergruppen manifestiert. Sind die ethnisch homogen oder interethnisch zusammengesetzt?« J. Pauli: »Fransfontein hat auch eine Schule und ein Internat. Das ist ja auch ein Faktor. Bei der Mobilität der Kinder spielt das Schulsystem eine große Rolle. Je nachdem wann man z. B. den Zensus erhebt, kommt man zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. In Abhängigkeit davon, ob die Kinder gerade schulfrei haben oder in der Schule sind, haben sie ganz unterschiedliche Haushaltszusammensetzungen. Die Kindergruppen sind eigentlich interethnisch. Damara und Nama sind die größten ethnischen Gruppen dort. Es gibt sehr heftige politische Auseinandersetzungen in Fransfontein, bei denen stark in ethnischer Abgrenzung argumentiert wird. Auf der anderen Seite ist die Alltagsebene, wenn sie Interaktion von Kindern oder auch Heiraten anschauen, doch recht interethnisch. Auch die Heiratspraktiken sind eine Mischung aus verschiedenen Traditionen (Afrikaans, Herero, Nama/Damara).«

Souveränität der Kinder R. Gronemeyer: »Es ist eher eine etwas leichtsinnige Erwägung, die ich jetzt formuliere. Aber wir haben uns ja schon gestern ein bisschen darüber unterhalten,

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dass wir eigentlich nicht wissen, was sich in den Kindern abspielt und vielleicht ist es auch ganz gut, dass wir es nicht wissen. Aber was mich so anwehte war der Gedanke, dass sich die Kleinfamilie in Mitteleuropa ja offensichtlich in einer solchen Krise befindet, dass sie immer mehr gestörte Kinder aus sich heraussetzt. Und was Sie, Frau Pauli, beschrieben haben, klingt nach einem sehr entlastenden Modell, in dem vieles möglich ist und in dem gewissermaßen auch der Souveränität der Kinder eine große Rolle zukommt. Und eine Frage, die Sie auch gar nicht beantworten müssen: Wie hat das ihre Tochter, die ja die Forschungszeit in Fransfontein mit Ihnen verbracht hat, erlebt?« J. Pauli: »Ja da stimme ich Ihnen zu. Ich glaube, dass man kulturelle Systeme immer sehr unterschiedlich betrachten kann und zu unterschiedlichen Interpretationen kommen kann. Meine Rolle war es hier darauf hinzuweisen, dass auch Chancen und Flexibilisierung in diesem System stecken. Die Verteilung der Kinder hat auch gewisse Vorteile für alle Beteiligten in diesem System. Ich muss ehrlich sagen, meine Tochter ist mit diesem System fantastisch klar gekommen und profi iert davon bis heute. Die Probleme hatte ich. Denn ich war da ja als Mutter mit dem ganzen Ballast, den man so mitbringt, dort und hatte sehr große Schwierigkeiten, Kindern so viel an Eigenständigkeit zuzugestehen.«

Zirkulation von Kindern als Ressource S. Klocke-Daffa: »Du hattest ja am Anfang gesagt, dass diese vielen Kinder mal zusammen wohnen, mal wieder nicht, aber auf diese Weise haben sie aufgrund des klassifi atorischen Verwandtschaftssystems ja nicht nur viele Mütter, viele Väter und viele Großmütter, sondern auch viele Brüder und Schwestern. Ist das nicht so etwas wie eine Ressource, die den Kindern mitgegeben wird? Diese sozialen Beziehungen kann man von seinen Eltern erben und so wie bei jeder Ressource, die man erbt oder übernimmt, kann man etwas daraus machen oder auch nicht. Das kann eine Verpflichtung sein, weil man sich unter Umständen um all diese Leute kümmern muss. Irgendeiner kommt immer mit ›wir sind doch zusammen groß geworden

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und du musst mir jetzt mal Geld für die Schulgebühren meiner Kinder geben …‹ Es kann aber auch eine Chance sein. Ich meine aber, dass man sie pflegen muss und das ist dem Individuum überlassen. Ich habe viele Leute getroffen, die gesagt haben: ›Ich bin mit dem und dem groß geworden, aber mit dem will ich gar nichts mehr zu tun haben, der kümmert sich auch nicht um mich, ich gehe da jetzt auch nicht mehr hin.‹ Das heißt man muss sich kümmern in diesen Beziehungen, aber sie sind eine Sicherheitsressource sowie eine soziale Ressource, die den Kinder schon mitgegeben ist, die sie selbst auch mit konstruieren.« J. Pauli: »Das kann ich nur unterstreichen. Besonders interessant ist das in einem sehr tragischen Kontext: Die Leute bitten inzwischen um Kooperation bei Beerdigungen (da die Todesfälle durch HIV/AIDS sehr stark gestiegen sind) und da kommen diese kai//are Beziehungen sehr zum Tragen. Es wird nicht immer ›ja‹ gesagt, mit der Begründung: ›Du hast dich nicht gekümmert, wir sind nicht zusammen aufgewachsen, und Du bist von meines Vaters Seite.‹ Kinder gehen viel häufiger zu den Schwestern der Mutter oder überhaupt mehr zur mütterlichen Seite als zur väterlichen. Es gibt viele Versuche, die väterliche Seite dann in diesen Krisensituationen, wie Beerdigungen, zu aktivieren und es gibt dann durchaus auch Ablehnungen. Aber es ist genau so: Es ist eine Ressource, die sich entwickelt.«

Beziehungskontinuität vs. Mobilität? R. Kößler: »Ich sehe jetzt zwei Pole: Einerseits diese langanhaltenden Beziehungen aus der Kindheit und andererseits die Mobilität. Es gibt eine Studie über Uis [Ort in Namibia] von Anke Kuper mit dem wunderbaren Titel ›Auskommen ohne Einkommen‹, in der sehr schön beschrieben wird, wie Kinder in den Norden und in andere Gegenden geschickt werden, einfach als Strategie, um ihnen überhaupt dieses Auskommen ohne Einkommen zu ermöglichen. Mich würde interessieren, wie sich diese sehr enge und kontinuierliche Beziehung zu dieser Mobilität verhält.«

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J. Pauli: »Sie steht in einem Spannungsverhältnis. Ich habe mir das vor allem biographisch angeschaut: Diese nahen kai//are Beziehungen hat man mit eher wenigen Menschen, das ist also kein riesiger Pool. Also diese nahen Bezugspersonen, zu denen ich kommen kann und die mir dann wirklich helfen und ein Leben lang bestehen, das sind sehr wenige. Was man in diesen Biographien sehr schön sehen kann ist, dass es dann immer wieder Phasen der Überschneidung von Lebensläufen gibt, trotz der hohen Mobilität. (Deshalb glaube ich, dass gerade für hoch mobile Gesellschaften biographische Daten der wichtigste Zugang zum Verständnis sind.) Es gibt aber auch Fälle, wo sich die Beziehung verläuft und nicht wieder erneuert wird. Es sind, glaube ich, bestimmte Momente im Lebenszyklus, besonders in der Phase der Adoleszenz, die dazu führen, dass diese Nähe entsteht.«

5. Diskussion zum Vortrag von R. Kößler Zivilgesellschaft Teilnehmerin: »Ich habe eine Frage zum Begriff der Zivilgesellschaft. Ich befasse mich nicht mit Afrika, ich befasse mich mit der deutschen Zivilgesellschaft in Bezug auf die Versorgung von Menschen mit Demenz. So wie ich Sie verstanden habe, bedeutet Zivilgesellschaft in Namibia eigentlich ein Bereich, der politisch organisiert ist, der aber nicht Regierung ist. Ist das richtig?« R. Kößler: »Nicht nur. Die Frage ist, was wir unter Politik verstehen wollen. Aber ich würde davor warnen, das alles allzu unpolitisch zu sehen. Im deutschen Kontext würde ich sagen, auch der Kaninchenzüchter-Verein hat durchaus Konsequenzen: Er übt bestimmte Praktiken ein, z. B. organisatorische Praktiken, Disziplin und Routine. Wenn es lokale Initiativen gibt oder lokale Netzwerke, die sich aktivieren, dann verändern sich diese Netzwerke und es verstärken sich auch unter Umständen nicht nur Kooperationen, sondern auch das Machtgefälle. Ich würde niemals behaupten wollen, ganz im Gegenteil, dass Zivilgesellschaft sich auf NGOs reduzieren lässt, was ja gern gemacht wird.«

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Teilnehmerin: »Ich frage mich, inwieweit ist dieser Begriff Zivilgesellschaft ausdehnbar? In Deutschland, oder überhaupt in Europa, sieht man sehr gut wie weit der Begriff mittlerweile ausgedehnt worden ist, um ihn auch als eine Regierungstechnik zu verwenden, um Sozialstaat abzubauen und auf die Zivilgesellschaft zu setzen. Wenn wir uns heute Diskurse in Europa anschauen zum Thema Pflege, dann sehen wir sehr deutlich: Es soll die Zivilgesellschaft richten und der Staat zieht sich zunehmend zurück. Meine Frage wäre daher, kann man so etwas in einer ähnlichen Richtung in Namibia beobachten, dass mit der Zivilgesellschaft auch ein Stück weit politisch kalkuliert wird?« R. Kößler: »Im Moment sehe ich das nicht, weil wir eine andere Situation haben: Wir haben einen Rückzug der Geber und die Frage ist, ob es andere Möglichkeiten der Finanzierung gibt.« J. Pauli: »Inwieweit könnten die aufstrebenden Mittelklassen hier eine Rolle spielen? Spielen sie im Diskurs überhaupt eine Rolle? Da Namibia in gewisser Weise ja schizophren ist, also diese wahnsinnigen Differenzen hat, die der Gini-Index und andere Indikatoren festhalten, und auf der anderen Seite ist es ein upper middle income country. Und dann fragt man sich, wer kriegt denn diese incomes, wenn es diese Differenzen gibt, und wie ist das verknüpft mit den Diskursen über die aufstrebenden Mittelklassen?« R. Kößler: »Das Wenige, das ich über die Initiativen gehört habe, bezog sich mehr darauf, dass man sagt, ›o.k., ihr Unternehmen, ihr sponsert Sportveranstaltungen, ihr könntet aber doch auch einmal etwas für die AIDS-Hilfe tun‹, also eine Alternative zu sonstigen Sponsorenaktivitäten, die ja durchaus mit publicity zu tun haben. Inwieweit man diese Unternehmer als Mittelschicht ansprechen kann, der Terminus ist sowieso schwierig, und inwieweit das tatsächlich auf eine Spendenkultur oder so etwas hinaus laufen könnte, das, muss ich sagen, sehe ich nicht so richtig. Ich denke, das sind Dinge, die auch Sabine Klocke-Daffa angesprochen hat: Die Leute sehen sich der Gefahr des Abfl sses von Ressourcen in alle möglichen Netzwerke, Familiennetzwerke etwa, gegenüber.

Auszüge aus den Diskussionen

Wenn wir uns diese 400.000 im obersten Quintil noch einmal vergegenwärtigen: Da sind ja Leute dabei, die sind kleine Angestellte, es sind viele dabei, die nicht wahnsinnig viel Geld haben und an denen hängen oft auch noch andere Personen dran. Ich kann mir auch vorstellen, dass, wenn ich mich von diesen familären Zwängen, die ich erlebe, bewusst abkoppele, dann werde ich vielleicht nicht gleich bereit sein, mich auf der anderen Seite wieder zu engagieren und zu sagen, ›o. k., ich gebe zwar nicht meinen Verwandten irgendwo auf dem Land etwas ab, aber spende irgendwo‹.« S. Klocke-Daffa: »Ich habe eine Frage zu den Medien: In Namibia finden ja viele Diskussionen in und über die Zeitung statt und besonders gerne über die Leserbriefe in den Zeitungen und noch lieber über die sms-Leserbriefe. Welchen Einfl ss haben die zivilgesellschaftlichen Organisationen auf die Medien?« R. Kößler: »Ich glaube, dass die Medien sehr wichtig sind. Es ist auch beeindruckend, wo etwa der Namibian überall zu kriegen ist. Auch das Radio spielt eine große Rolle, vor allem die Programme in den Vernakulärsprachen. Die Printmedien entwickeln eher die kritischen Perspektiven und da spielen sicherlich auch die sms-Diskussionen eine Rolle. Inwieweit diese jetzt durchschlagen oder als relevant in der Politik wahrgenommen werden, das kann ich nicht sagen.« K.-D. Grothe: »Wenn wir uns über die Entwicklung von zivilgesellschaftlichen Organisationen und einer aufkommenden Mittelschicht unterhalten, muss man sich in heutigen Zeiten ja auch über Internetversorgung und den Zugang zu sozialen Netzwerken, die, wie wir wissen, z. B. in Nordafrika eine zentrale Rolle spielten, Gedanken machen. Wie ist das in Namibia?« R. Kößler: »Von meiner eigenen Erfahrung her würde ich sagen, so lange ich in der Stadt bin, ist Internetversorgung kein wirkliches Problem. Auf dem Land funktioniert das Mobiltelefon, aber der Internetzugang ist keineswegs flächendeckend. Der kommerzielle Farmer, der es sich leisten kann, kriegt

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es irgendwie hin, das Internet ist langsam, aber irgendwie kommt er damit zu Recht. Viele können sich das aber nicht leisten.«

Rückzug der Geber Teilnehmerin: »Wenn ich Sie richtig verstanden habe sehen Sie in dem Rückzug der Geberorganisationen auch Chancen. Wie sieht es mit den internationalen NGOs aus? Für mich scheint es einleuchtend, dass die ggf. einen problematischen, bzw. einen unterwandernden Faktor darstellen, was die Auswirkungen auf nationale Zivilgesellschaftsformen betrifft. Lässt sich denn ein Rückzug von internationalen NGOs beobachten?« R. Kößler: »Ja, ich denke schon. Bei diesem Rückzug handelt es sich beispielsweise auch um den Rückzug von staatlicher Entwicklungszusammenarbeit. Die skandinavischen Länder haben, glaube ich, bereits alle Botschafter zurückgezogen.« H. Melber: »Es gab in den letzten Jahren keinen einzigen Botschafter aus den nordischen Ländern. Finnland hat jetzt wieder einen neuen Botschafter in Namibia.« R. Kößler: »Das ist nur ein Beispiel und es ist historisch bedingt, denn die skandinavischen Länder waren zentrale Partner für die SWAPO und für Namibia in den ersten Jahren der Unabhängigkeit. Man kann also sagen, da tut sich etwas, und man sieht eine zum Teil verzweifelte Argumentation der Regierung, die sagt, ›wir sind zwar ein upper middle income country, aber aufgrund der sozialen Situation müssen wir den Status eines lower income country erhalten‹. Da gibt es schon Ansatzpunkte. Nur stellt sich dann wieder die Frage der internen Ressourcenverteilung.« Teilnehmerin: »Und Sie sehen das als Chance?«

Auszüge aus den Diskussionen

R. Kößler: »Ich sehe das als Zwang, bzw. als eine dringliche Fragestellung.« C. Berker: »In der Diskussion der international arbeitenden NGOs geht es oft darum, dass man sich Länder unter dem Gesichtspunkt anschaut: Können sie es auch (in Anführungsstrichen) ohne uns schaffen? Und sollten sie es nicht ohne externe Hilfe schaffen? Die Diskussion wird für Indien, Brasilien etc. geführt, und in afrikanischen Ländern ist man schnell bei Südafrika und Namibia. Es geht immer mehr auch um den Druck, eine Wirkung zu demonstrieren und eben um accountability. Auch für Organisationen, die Spenden- oder Regierungsgelder weiterleiten, sind die Anforderungen sehr hoch, was dann schnell den Druck auf kleinere Initiativen, eben diesen Standards entsprechen zu sollen, erhöht. Eine inhaltliche Beeinfl ssung durch NGOs entsteht meiner Meinung nach weniger. Da ist die Entwicklung schon sehr weit, man spricht von Partnerschaft und Augenhöhe. Natürlich wissen wir alle, dass das in der Praxis nicht immer so ist. Aber ich glaube schon, dass auf Nichtregierungsebene weniger die Gefahr besteht, etwas zu dominieren. Wenn wir vom Verhältnis Zivilgesellschaft und Staat sprechen, haben wir oft das Gefühl, dass die kleinen Organisationen, die zivilgesellschaftlichen Organisationen, NGOs oder Community Based Organizations die ganze Arbeit machen und der Staat angeklagt wird, nichts zu tun. Aber der ist ja doch noch irgendwie da. Worum es geht, und so verstehe ich auch Ihren Vorstoß, ist, zu sagen: Es gibt Geld, auch die Regierung hat Einkommen und Mittel, und wir brauchen gar nicht über die vielen Ressourcen und nationalen Rohstoffe etc. zu sprechen, die es in vielen Ländern gibt. Es gibt also ein Budget, und es gibt auch Mittel von außen, um diese Budgets zu stärken, aber wie wird dieses Geld eingesetzt? Ich glaube, man muss daran arbeiten, wie man die Initiativen, die es bereits gibt, stärken kann. Und diese Stärkung kann wirklich von innen erfolgen, mit den Mitteln, die vorhanden sind. Das heißt nicht, dass der Staat Beamte losschickt, die keine Ahnung haben von dem, was an der Basis passiert, sondern dass den zivilgesellschaftlichen Akteuren oder Initiativen, die es gibt, die die Expertise und Verbindungen haben, die den lokalen Kontext kennen, dass ihnen Dieses und Jenes einfacher gemacht wird: beispielsweise dadurch, dass eine Ser-

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Auszüge aus den Diskussionen

viceleistung mit Geld erbracht wird, das aus Namibia oder auch von der Regierung selbst kommt, aus den entsprechenden Töpfen, die es ja gibt. Der Punkt ist also, dass nicht die Regierung alles machen soll, sondern es geht um die Frage: Wie setzt man Mittel ein und wie versetzt man die Leute, die die Arbeit bereits machen, in die Lage, diese Arbeit besser und qualitativ hochwertiger zu machen?«

6. Diskussion zum Vortrag von H. Melber: Abhängigkeit und Eigenkräfte U. Brizay: »Ich wundere mich immer wieder wie über Namibia geredet wird, wo der Staat dort so viel aktiver ist als z. B. in Tansania. Für mich ist das nicht nur eine Frage des Geldes, es ist eine Frage des Bewusstseins. Ich denke z. B. an Sanitäranlagen: In Tansania macht man ein Loch, legt ein paar Bretter drauf, baut eine Lehmwand rundherum, ein paar Palmenblätter und dann hat man eine Toilette.« H. Melber: »Das ist ein interessanter Punkt! Und natürlich kommt da wieder die Apartheid ins Spiel, die Abhängigkeitsstrukturen geschaffen hat und in der der Staat eben nicht zur Selbsthilfe motiviert hat. Unter der Apartheid wurden Menschen dafür bestraft, wenn sie Initiative ergriffen. Der Staat hat alles geregelt: der paternalistische Staat, der abgestraft hat, der aber auch minimale Absicherungen geschaffen hat, der ein Schulsystem eingeführt hat, Renten, der Häuser gebaut hat, so dass zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit vor 23 Jahren – verstärkt durch den Anspruch der SWAPO: ›Wir sind die Nation und wir sind die Regierung und wir sind der Staat‹ – weiter dieses Abhängigkeitssyndrom kultiviert wurde. Es wurde nicht gesagt: ›Jetzt müssen wir alle die Ärmel hochkrempeln und zeigen, dass wir ein Selbstbestimmungsrecht haben‹, sondern es wurde weiterhin so getan als ob die Menschen, wenn sie etwas wollen, sich an die SWAPO oder an den Staat wenden müssen. Und ich glaube, dass das durchaus auch eine Rolle spielt. Der Staat schreibt – als Teil dieser Aneignungsstrategie – große Angebote aus, z. B. zu Sanitationsprojekten für den Norden. Da sind dann vierhundert Millionen Namibia-Dollar ausge-

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geben worden, um 3.000 pit latrines zu bauen, aber die gibt es dann am Ende nicht. Neben fatcats gibt es auch den Begriff der tenderpreneurs, der die neue Klasse in Namibia bezeichnet, die – außerhalb der politischen Klasse, aber in enger Zusammenarbeit mit dieser – das Geld dadurch rafft, dass sie diese staatlichen Angebote bekommt, aber nichts dafür tut – aber auch nicht abgestraft wird, weil nämlich diejenigen, die die Angebote vergeben, sehr oft stille Teilhaber in diesen Projekten sind.«

Die Elite J. Pauli: »Ich habe eine Frage bezüglich dieser neuen Elite: Inwieweit ist diese verbunden mit anderen Bevölkerungsgruppen, also verbunden aufgrund von Familienbeziehungen mit ärmeren Bevölkerungsschichten? Oder ist das eine Elite, die wirklich weitgehend losgelöst vom Rest der Bevölkerung agiert? In seinem Buch ›Kollaps‹ stellt Jared Diamond die These auf, dass Gesellschaften in dem Augenblick kollabieren, in dem die Elite keinen Rückbezug mehr zur Bevölkerung hat. Und das Bild, das Sie zeichnen, hat ja sehr stark dieses Moment der Abschottung und des Nicht-mehrverbunden-seins mit dem Rest der Bevölkerung. Oder ist das zu drastisch formuliert?« H. Melber: »Es sieht so aus, dass zwar immer noch Netzwerke bestehen, die werden aber hauptsächlich dazu benutzt, um zu kooptieren und abzusichern, also aus zweckrationalen und weniger aus familiären, moralischen oder sozialen Gründen. Es dreht sich eher um die Frage, wer hilft mir wo, und was investiere ich? Wenn man sich z. B. den vielbeschworenen Respekt gegenüber den Alten in der Realität einmal anschaut, so werden – soweit ich das beurteilen kann – die Alten bestenfalls ›respektiert‹, weil sie sechshundert Namibia-Dollar im Monat an Rente bringen und man diese dringend braucht. Es gibt nicht mehr das, was es einmal in der traditionellen Hierarchie gegeben hat, in der Alter und Weisheit respektiert wurden. In isolierten Kontexten der Politik, wo die sich die alten Muster zu eigen macht, sind diese erhalten worden. Deswegen haben wir in Namibia eine Gerontokratie – und wehe dem, der diese Alten herausfordert!«

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Die Ökonomie K.-D. Grothe: »Wie sieht es denn mit dem Auf bau einer eigenständigen Ökonomie jenseits von landwirtschaftlicher Subsistenzwirtschaft und Ausfuhr von Rohstoffen aus? Gibt es da irgendwelche Entwicklungen in Namibia? Oder wird das auch unterbunden? Gibt es eine ökonomisch aktive Mittelschicht?« H. Melber: »Relativ wenig, denn es wird genau über diesen Rentenkapitalismus Geld appropriiert. Man hat z. B. in der Fischerei-Industrie gesagt: ›Wir namibianisieren die Fischfang-Quoten und das Ergebnis war, dass man den Genossen einzeln, aufgrund ihrer politischen Verdienste, die Quoten für den jährlichen Fischfang zugeteilt hat und das war dann die Namibianisierung. Das Ergebnis war, dass die Quotenempfänger die Quoten an genau die gleichen internationalen Fischfangbetriebe verkauft haben, die sie vorher direkt bekommen und das Geld konsumptiv verwendet haben, nämlich Häuser gebaut, neue Autos gekauft, Goldkettchen getragen haben, etc. Jetzt, 20 Jahre später, ist der Fischbestand gefährdet und für das Geld, das ›namibianisiert‹, sprich privatisiert wurde, wurde überhaupt nichts Produktives geschaffen. In der Minenindustrie war man überhaupt noch nicht soweit. Die ist bis heute von ausländischen Interessen dominiert. Bis jetzt mangelt es an dem, was man früher vielleicht ›patriotische Bourgeoisie‹ hätte nennen können: nämlich Leute, die das Geld, das sie erwirtschaften, in die eigene Ökonomie investieren, Arbeitsplätze schaffen, natürlich mit dem legitimen Interesse, selber Profit zu erwirtschaften, aber eben auch Beschäftigung zu schaffen. In Namibia hat es – mit Ausnahme eines Jahres seit der Unabhängigkeit – immer einen Netto-Kapital-Export gegeben: D. h. jedes Jahr geht mehr Kapital aus dem Land hinaus als Investitionen und Zuwendungen aus der Entwicklungszusammenarbeit o. Ä. in das Land hereinkommen. Also die Antwort lautet: Da ist herzlich wenig passiert, obwohl jetzt ein Handelsminister im Amt ist, der erstaunlich klar die Herausforderungen benennt. Die Frage ist nur, inwieweit das dann ernsthaft angegangen wird.«

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Zerstörung von Subsistenz R. Gronemeyer: »Vielen Dank für diese beklemmende Zuspitzung. Das Beispiel Namibia ist ja gewissermaßen symbolisch für das, was global passiert. Ich denke, wenn man auch mit bedenkt, was wir in unserem Saatgut-Projekt gehört haben, dann besteht für mich die Beklemmung darin – und das setzt sich auf das, was Du gesagt hast, drauf – dass gegenwärtig weltweit ein Prozess stattfindet, der dafür sorgt, dass die Möglichkeiten der Unabhängigkeit im Kleinbäuerlichen systematisch beseitigt werden. Dem versagenden Staat kann nicht einmal mehr eine kleinbäuerliche Subsistenz entgegengesetzt werden, weil deren Basis durch Monsanto und andere Einfl sse systematisch ruiniert wird. Ich glaube, das ist etwas, was den Schrecken, den Du beschreibst, noch einmal auch als einen globalen wahrzunehmen erlaubt. Wenn man fragt, woher könnten denn die Kräfte des Eigenen, der Unabhängigkeit gegenüber einem Staat, der versagt, kommen, dann wäre es von dort – und das ist es, was gegenwärtig gerade vor unseren Augen zerstört wird.« H. Melber: »Es gibt viele, die zu mir sagen: ›Du bist immer so negativ, guck’‹ doch mal was anderswo auf dem Kontinent passiert, da ist doch Namibia viel besser dran.‹ Und klar, ich könnte, wenn ich wollte, genauso gut eine halbe Stunde euphorisch über Namibia sprechen und es wäre nicht gelogen. Dann verschiebe ich die Akzente ein bisschen und sage: ›Wir haben die Freiheit usw.‹ Aber die Menschen in Namibia hatten das Recht darauf, etwas anderes zu erwarten mit der Unabhängigkeit!«

7. Diskussion zum Vortrag von C. Berker Kinder-Projekte und soziales Umfeld U. Brizay: »Zum Projekt der Schulförderung möchte ich hinzufügen, dass dies nicht nur positiv für die Entwicklung des Kindes ist, sondern auch bei den Betreuern viele Kapazitäten frei werden: Die Großmutter, die zwei, drei, vier Kinder hat, die noch nicht in die Schule gehen, und die ihre ganze Zeit

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damit verbringt, die Kinder zu betreuen, kann nicht auf dem Feld arbeiten. Ich weiß aus Tanzania, dass es leider noch nicht viele Projekte gibt, die das anbieten, aber wenn Kinder tagsüber für ein paar Stunden betreut sind, verändert das auch die gesamte Lebenssituation des Kindes zu Hause. Die Versorgung läuft besser, weil vorher der Erwerbsarbeit nachgegangen werden kann und Familien auf dem Feld arbeiten können.« C. Berker: »Das ist richtig. Ein weiterer zusätzlicher Aspekt wäre die Qualifizierung der Menschen, also neben der Arbeitsentlastung auch das, was die community über die Bedürfnisse der Kinder lernt.«

Unterschiedliche Kindheitsvorstellungen J. Martin: »Mir ist nochmal deutlich geworden, dass all diese Maßnahmen gewissermaßen auf einem Bild von Kindern basieren, das diese als persons of rights betrachtet, also Kinder haben Rechte. Dieser normative Ansatz ist gewissermaßen das diametral Entgegengesetzte zu dem, was ich gestern versucht habe darzustellen: die rigths in persons, bei denen Erwachsene über Rechte an Kindern oder an anderen Personen verfügen. Das ist, glaube ich, genau das Spannungsfeld, in dem wir alle – und auch die Kinder, Eltern, Verwandten und Organisationen – uns bewegen. Sich über diese unterschiedlichen Kindheitsbilder bewusst zu werden, die ja auch im Alltag immer wieder aufeinanderprallen, und wie Menschen diese normativen Konzepte aushandeln (es sind ja beides normative Konzepte!), das ist, glaube ich, die spannende Frage – und auch wie Kinder und Jugendliche mit diesen ganz unterschiedlichen normativen Modellen von Kindheit, Menschwerdung, Erwachsenwerden, umgehen. Was mir auch außerdem deutlich geworden ist, ist die Machtentwicklung psychologischer Diskurse. Ich weiß nicht ob Sie den Aufsatz von Paul Riesman kennen: ›Stimmt Freud in Afrika?‹ Es ist ein alter Aufsatz, aber ein interessanter Gedanke: Können wir die entwicklungspsychologischen Grundannahmen, von denen wir ganz natürlich ausgehen – Grundannahmen darüber, was gut ist für die Entwicklung eines Kindes – so unhinterfragt auf andere Gesellschaften übertragen? Ich finde es lohnenswert, darüber nachzudenken.«

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C. Berker: »Ich glaube, dass die Organisationen, die damit arbeiten, sehr sensibel mit diesem Thema umgehen. In afrikanischen Ländern ist es zum Beispiel so, dass nie nur von der Rechtsperspektive angegangen wird. Es geht immer um rights a n d responsibilities. Die responsibilities werden immer mit einbezogen. Die Kinder haben gegenüber ihren Eltern, bzw. ihrer Gemeinschaft, Verpflichtungen. Es ist auch nicht Selbstzweck, dass man ein neues Konzept, einen normativen Ansatz erfindet. Wenn man es weiter denkt, ist es im Endeffekt auch ein Mittel zur Demokratieförderung, weil Leute dadurch verstehen, dass sie etwas einfordern können, so limitiert die Möglichkeiten vielleicht auch sind. Das fängt vielleicht beim traditional leader, headman oder chief, an, zu dem man sagt: ›Gebt uns z. B. ein Spielfeld oder ein Stück Land, das wir nutzen können für unsere Aktivitäten.‹ Ich glaube so muss man das verstehen. Es ist ein Prozess, durch den Menschen den Blick auf sich selbst und auf ihre Situation verändern können.« K.-D. Grothe: »So wie ich das verstanden habe, geht es in dem Ubuntu-Projekt um… eigentlich ist es ein guter Kindergarten mit Entwicklungsförderung. Die deutsche Frühförderung hat lange ein ressourcenorientiertes Konzept angewandt. Das kann ein guter Ansatz sein. Ein weiterer Ansatz, zu dem inzwischen in deutschen Kommunen übergegangen wird – gerade bei unseren vulnerable children, die es ja auch genügend gibt – ist es, die Kitas so auszustatten, dass die entwicklungsfördernden Maßnahmen in der Kita stattfinden und gleichzeitig auch für Erwachsene in der Kita Angebote gemacht werden, so dass sich die Kitas zu Familienzentren weiterentwickeln und die Familien auf diese Weise mit einbezogen werden. Das können ganz unterschiedliche Angebote sein: z. B. die Schuldnerberatung in der Kita. Das sind vielversprechende Ansätze und es wäre ein Gedanke, das weiter zu verfolgen, also nicht ausschließlich kindzentriert zu arbeiten. Eine kleine Bemerkung zur Frage ›stimmt Freud in Afrika?‹ Natürlich kommt es immer darauf an zu fragen: welcher Freud? Und wie verstehe ich Freud? Wenn ich das klassische Konzept des Ödipus-Konflikts anschaue, kann ich sagen, dass es vor einem bestimmten kulturellen Hintergrund gewachsen ist, der heute hier in unserem Gesellschaftssystem nicht mehr stimmt, sondern vor hundert Jahren in Wien stimmte. Lassen

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Sie es mich an einem anderen Beispiel deutlich machen: Ich glaube, dass es wichtig ist und es ein Grundbedürfnis ist, dass das Kind einen bedeutungsvollen Anderen hat, der seine Nöte und seine Emotionen teilt. Wie wir gehört haben sind das in diesem Kontext meistens nicht die Eltern, weil man mit Eltern nicht über emotionale Vorgänge spricht, das wäre ein völlig ungewöhnliches Vorgehen. Aber Sie haben gezeigt, dass die Geschwistergruppe – und das macht die Bedeutung dieser Geschwister aus – zuhört. Mit ihnen kann man Emotionen teilen. Deshalb glaube ich, dass bestimmte Grundannahmen schon stimmen, aber dass man sie natürlich sehr genau anschauen muss und nicht selbstverständlich davon ausgehen kann, dass es z. B. die Mama ist, die zuhört und Zeit hat. Aber das Prinzip, dass es wichtig ist, dass auch Kinder jemanden haben, der ihnen zuhört, bei dem sie ihren Platz und einen Raum für Emotionen haben, das, glaube ich, stimmt schon.«

8. Diskussion zum Vortrag von K. Döhne Krisen als Ausgangspunkt für die Implementierung von universalen Kinderrechten? F. Krüger: »Ich möchte etwas Grundsätzliches anmerken, das sich in den letzten Vorträgen seit gestern für mich herauskristallisiert hat. Ich habe das Gefühl, dass auch die Projektbeispiele, die Sie vorgestellt haben – die sehr kreative, sehr gute, auf Nachhaltigkeit angelegte Arbeit machen – dass das alles Beispiele für diese Singularitäten sind, die ich versucht habe, darzustellen. Wir stoßen offenbar immer wieder darauf, dass diese Arbeit wenig in den Staat – in dessen Mächtigkeit und Komplexität – eingebunden ist; dass diese Arbeit am Staat vorbei Verantwortung übernimmt, da wo sich der Staat drückt oder der Staat anderes tut oder gar nichts tut oder nichts tun kann usw. Bzgl. der Stärkung der Kinderrechte, die wir vorhin diskutiert haben, habe ich mich gefragt, ob es eigentlich dieser Ausnahmesituationen bedarf. Es ist paradox, es sind fast gar keine Ausnahmesituationen mehr bei der großen Zahl an betroffenen Kindern über die wir sprechen. Aber sie werden nach wie vor als Ausnahmesituation interpretiert. Bedarf es etwa der Krisensituation, bedarf es gar einer Katastrophensituation, um

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diese als Vehikel zu verwenden, um Kinderrechte einzufordern und zu stärken? Ich sage jetzt mal ganz platt und banal: In der normalen, nicht von Katastrophen betroffenen Familien- und Lebenssituation ist es selbstverständlich so, dass Kinder keine Rechte haben nach unseren Maßstäben. Kinderrechte bestehen zunächst in den Hilfsprojekten.« K. Döhne: »Das ist in der Tat eine Frage mit der wir uns ständig herumschlagen. Machen wir Einzelprojekte, die dann für sich stehen bleiben und wo bleibt die langfristige Wirkung und die Wirkung in die Breite? Ich habe kein Patentrezept dafür, aber ich meine, dass Ansätze für die Breitenwirkung dann gegeben sind, wenn man einerseits schaut, welche Rolle die Zivilgesellschaft insgesamt in dieser Auseinandersetzung Staat/ Gesellschaft spielt und spielen kann; und andererseits, wenn man Projekte anbietet, die Perspektiven und Türen aufmachen. Was ich für uns als großes kirchliches Hilfswerk in Anspruch nehmen kann, ist, dass die Bildungsprojekte bereits sehr in die Breite wirken und auch auf die Staaten. Beispielsweise wird in bestimmten afrikanischen Ländern ein Großteil der Bildungsarbeit von kirchlicher Hand durchgeführt und die Lehrer, die dort ausgebildet werden, finden sich dann auch in staatlichen Schulen wieder. Da gibt es dann auch heftige Debatten darum, was partizipative aktive Pädagogik heißt und was es für die Kinder bedeutet, wenn sie nach Hause kommen und ihren Eltern widersprechen. Das wäre ein schönes Feld für Sozialwissenschaftler, dem eimal in ein paar Jahren nachzugehen und zu schauen ob sich das dann auch gesellschaftlich auswirkt und nicht nur punktuell in der Einzelfamilie.« C. Wilß: »Brot für die Welt, das ist mir zumindest aufgefallen, arbeitet ja auch politisch und versucht auf Unrecht, Ungerechtigkeit, Ungleichheit, politische Korruption, auf all diese Dinge, die die Entwicklung mit verhindern, aufmerksam zu machen und auch permanent in unsere deutsche Öffentlichkeit zu bringen. Das eine ist das Spendenprofil, mit dem für Bildungsprojekte geworben wird, und das andere ist ein immanent politisches Denken, die Zivilgesellschaft in den Ländern des Südens so zu stärken, dass sie selbst aktiv und tätig wird – nicht indem man sie bevormundet, sondern indem man

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Austauschmöglichkeiten bietet. Dann geht es nach vorn, hat man zumindest den Eindruck, so dass die Leute viel selbstbewusster auftreten.« Langzeitwirkung der Hilfsprojekte U. Brizay: »Ich habe immer wieder beobachtet, dass Projekte, die Zugang zu Geldgebern, wie Brot für die Welt oder terre des hommes, haben, wirklich tolle Programme aufgebaut haben, die dann aber wegbrachen, wenn die Spenden nicht mehr kamen. Wie lange unterstützen Sie ein Projekt oder gibt es eine Exit-Strategie, in der man versucht, die Organisationen so zu stärken, dass sie die Programme aufrecht erhalten können, auch wenn es dann keine Gelder mehr gibt? Verfolgen Sie die Projektentwicklung auch wenn die Partnerschaft beendet wurde?« K. Döhne: »Ja, das tun wir. Wir haben Projekte, die relativ kurz gefördert werden, da muss man dann schauen, dass es in sich abgeschlossene Maßnahmen sind, die man dann auch wieder gehen lassen kann. Aber viele Programme zielen ja auf gesellschaftliche Veränderungen ab, auch mit einer politischen Wirkung, und da muss man einen langen Atem haben, das ist mit fünf Jahren nicht getan. Die Arbeit im Bildungsbereich, aber auch in der Ernährungssicherung, erstreckt sich manchmal über 15, 20 Jahre. Und dann ist man ja immer auch mit der Frage konfrontiert: Wir haben jetzt hunderte von Lehrern ausgebildet, wie geht das nun in einheimische Hände über? Da muss ich sagen: Ja es geht in einheimische Hände über, weil in der Zwischenzeit dann auch das Niveau von Qualifikation angestiegen ist. Vor 15 Jahren gab es wahrscheinlich noch nicht viele Erziehungswissenschaftler, die einen Masterabschluss oder eine Promotion hatten, aber mittlerweile gibt es die. Und da kann man auch den entsprechenden Fortschritt beobachten. Ein großes Problem ist immer die laufende Kostenfinanzierung, da halten wir uns von vorneherein zurück. Wir steigen nicht in die laufende Kostenfinanzierung von Lehrern, Gebäudeinstandhaltung, Schulmaterialien oder Ähnlichem ein, nur in Ausnahmefällen. Denn da ist genau der Moment, in dem dann die Dinge zusammenbrechen, da muss der Staat rein kommen, der muss auch in kirchlichen

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Schulen die Gehälter von Lehrern mitfinanzieren und tut es dann auch auf die eine oder andere Weise. Oder wir haben die Schwierigkeit mit den Schulgebühren. Das wiederum können wir als Brot für die Welt nicht auflösen. Das sind Widersprüche, die bestehen bleiben.«

Kinder als Wanderarbeiter J. Martin: »Eine kleine Ergänzung zu dem, was Sie zu Ihrem Projekt CIPCRE (Cercle International Pour La Promotion De La Creation, in Benin und Kamerun tätige Organisation) erwähnt haben: Sie sprachen von diesem Phänomen der Mädchen, die in Haushalte geschickt werden, um dort als Hausmädchen zu arbeiten. Ich wollte nur ergänzen, dass es ethnologische Arbeiten gibt, die aus einer anderen Perspektive auf diese Phänomen schauen. Sie zeigen auf, dass es häufig eine sehr selbstbestimmte Migrationsform von Permanenz ist. Also in bestimmten Regionen im Atacora sind es ganze Generationen von Mädchen, die abhauen, um ein paar Jahre in der Stadt zu leben und in Haushalten zu arbeiten. Das widerspricht ein bisschen der Darstellung, die Eltern würden sie wegschicken. Diese Erfahrung in der Stadt hat sich sozusagen zu einem Teil der Jugend entwickelt, der auch als wichtig empfunden wird und als eine Möglichkeit, etwas zu erwirtschaften, um später heiraten zu können, sich also eine Aussteuer zu erarbeiten. Das steht im Widerspruch zur Viktimisierung der Kinder und beschreibt eigentlich eine sehr selbstbestimmte Form der Lebensgestaltung.« K. Döhne: »Ja, das stimmt. Ich habe das sehr aus der Perspektive der Eltern dargestellt und nicht aus der Perspektive der Jugendlichen, die das für sich entscheiden. Aber ich denke der Kinderhandel knüpft genau daran an, dass es dieses Phänomen bereits gibt, das sich dann zunutze gemacht wird.« J. Martin: »Ich persönlich wäre ein bisschen vorsichtig mit einer sozusagen evolutionistischen Deutung dieser Phänomene. Ich glaube, dass es diese Arten von Kommerzialisierung gibt, aber das würde ich jetzt nicht linear beschreiben (das eine führt zu dem anderen), sondern eher so, dass es immer auch viele Formen der Kinderarbeit nebeneinander gibt.

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Ich glaube auch, dass vor allem offen mit den Mädchen und Jungen, die da migrieren, gesprochen werden muss, dass man sich auf sie konzentrieren muss, sie begleiten, mit ihnen reden und sie fragen sollte, warum sie das eigentlich machen. Es ist ja kein Einzelphänomen, sondern es sind ganze Kohorten in den Dörfern, die für ein paar Jahre nach Nigeria auf ’s Feld verschwinden und dann als 1 4jährige mit einem Moped zurückkommen und dadurch ihren Status im Dorf erhöhen.«

9. Diskussion zum Vortrag von K.-D. Grothe Trauma-Diskurs C. Wilß: »Ich gehöre zu der Spezies von Journalisten und Publizisten, die weiß, dass wir in der Beschreibung, wenn wir solche Themen aufgreifen, ständig zu Verallgemeinerungen und Vereinfachungen neigen. Wir befinden uns in der ständigen Gefahr, Klischees zu produzieren. Auch wenn man sich dessen bewusst ist, passiert es in der Praxis – der Notwendigkeit, auch aufgrund der medialen Situation, schnell schreiben zu müssen, den Kick heraus arbeiten zu wollen – oft leider genau so. Was raten Sie? Was schreibe ich, wenn ich das, was ich immer meinte, was traumatisierte Kinder sind, differenzierter formulieren möchte?« K.-D. Grothe: »Das Hauptthema des Trauma-Diskurses ist, dass nicht mehr unterschieden wird zwischen dem Erleben einer existenziell lebensbedrohlichen Erfahrung, die mit Hilflosigkeit verbunden war und Auslöser einer entsprechenden typischen psychischen Störung sein kann, und der Vernachlässigung, dem Missbrauch und der Gewalt im frühen Kindesalter, die sich negativ auf die Entwicklung auswirken. Bei beidem sprechen wir von Traumatisierungen, aber es ist etwas völlig Verschiedenes. Nehmen wir einmal diesen proaktiven Resilienz-Ansatz. Natürlich ist das genau das, womit ich mich in der klinischen Praxis seit dreißig Jahren beschäftige, dass einzelne Kinder, trotz Gewalterfahrungen, Vernachlässigung und Missbrauch, in der Familie gedeihen. Typisch ist, dass Sie das, was wir Kliniker eigentlich wissen, nicht in der Forschung finden. Sie werden in der Forschung beschrieben finden,

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dass das, was Kinder resilient macht in der Entwicklung, Faktoren sind, wie körperliche Gesundheit, gute biologische Entwicklung und Intelligenz, denn das kann man, auf Individuen bezogen, sehr gut beforschen. Als Kliniker wissen wir, dass das zwar sein mag, dass aber die Wichtigkeit sozialer tragfähiger Beziehungen und eines vertrauensvollen Anderen viel wichtiger sind. Das werden Sie aber nicht als Forschungsprojekt finden, weil es schwieriger zu beforschen ist.« C. Berker: »Wir sind ja tatsächlich oft diesem Zwang ausgesetzt, Dinge sehr verkürzt darstellen zu müssen. Auch im Blick auf Kinder, die in schwierigen Situationen leben, ist eine differenzierte Sprache wichtig. Ich bin sehr froh (Frau Fink hat das auch am ersten Tag schon gesagt), dass eine Entwicklung weg von diesem Begriff AIDS-Waisen stattgefunden hat, mit dem ich persönlich wirklich große Schwierigkeiten habe – zumal er auch so klingt als hätte das Kind AIDS und man sich die Frage stellt, ob es schlimmer ist, ein AIDS-Waisenkind zu sein oder ein anderes Waisenkind. Ich glaube es ist wichtig, sich auch immer wieder klar zu machen, wie Sprache dazu beiträgt, entweder zu viktimisieren oder eben auch die Dinge sehr zu verkürzen. Gerade auch Wissenschaftler arbeiten in einem Zusammenhang, in dem mehr Differenzierung möglich ist, und vielleicht müssten wir uns anmahnen, immer darauf hinzuweisen und genau zu beschreiben, weil auch das letztlich ein anderes Bewusstsein schafft.« K.-D. Grothe: »Ein weiterer Aspekt zum Thema: Ein ugandischer Kollege hat 150 Familien mit ehemaligen Kindersoldaten untersucht, ein paar Jahre nachdem diese aus dem Busch gekommen waren. Er hat das unter einem streng empirischen und behavioristischen Ansatz gemacht und kam zu einem interessanten Ergebnis. Er konnte empirisch nachweisen, dass es 3 – 4 Jahre nachdem die Kinder aus dem Busch kamen, nur eine signifikante Korrelation über deren psychisches Wohlergehen gab – gemessen an schwerer Depression und Suizidalität. Diese waren nicht korreliert mit der Dauer der Entführung, nicht mit der Schwere der erlebten traumatischen Ereignisse, sondern mit der aktuellen Gewalt in der Familie. Das waren Kinder, die alle von der Rebellengruppe LRA entführt worden waren, über Monate oder über Jahre, und alle haben schwerwiegende traumatisierende Erfahrungen gemacht: Sie mussten Freunde, Eltern und andere Perso-

Auszüge aus den Diskussionen

nen umbringen. Das aktuelle psychische Befinden der Jugendlichen und Kinder war aber nicht korreliert mit der Vergangenheit, sondern in erster Linie mit der aktuellen gewaltbesetzten Familiensituation. Das zeigt umgekehrt auch was Kinder, die in der Vergangenheit etwas Schlimmes erlebt haben, brauchen, um wieder einen Platz in der Gemeinschaft finden und Sicherheit erfahren zu können.« J. Pauli: »Das finde ich wirklich höchst interessant. Es gibt eine sehr spannende Studie zur Situation in Guatemala – ebenfalls eine sehr durch Konflikte und Bürgerkriege geprägte Gesellschaft. Die Familie als sozialer Ort ist dort systematisch zerstört worden, mit der Folge, dass sie nicht mehr der Ort sein konnte, an dem Menschen sozial verbunden sind. Stattdessen haben sich z. B. die Pfingstkirchen wahnsinnig schnell verbreitet, weil es dort die Möglichkeit gab, Sozialität zu erleben, jenseits von Familie.« K.-D. Grothe: »Wenn ich in Bezug auf die Situation in Norduganda von Familie spreche, dann meine Familie im afrikanischen Sinn. Zum großen Teil waren die Eltern umgekommen, das heißt wir sprechen von der extended family. Der Vorteil, der sich in Uganda zeigt, ist, dass es noch familiale, soziale Strukturen gibt. Wäre der Krieg dort so weit gegangen wie in Guatemala, wo es das Ziel war, die kommunalen und sozialen Strukturen zu zerstören, dann gäbe es wahrscheinlich auch in Uganda für die Kinder keine Andockstelle mehr. Und das ist ja das Wesen moderner Kriege: die Zerstörung sozialer und kommunaler Strukturen und das hat den stärksten Einfl ss auf die Seele der Kinder und Erwachsenen, das wirkt sich stärker aus als die direkte Gewalt.«

10. Schlussdiskussion Versagen des Staates H. Melber: »Ich möchte gerne einen Perspektivwechsel anstoßen, bevor wir aufhören und zwar in Richtung ›staatliche Verantwortung‹. Ich möchte die Fra-

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ge stellen: Ein Land höheren mittleren Einkommens, wie Namibia, und die Geber und Hilfsorganisationen ziehen sich zurück – ist das eigentlich schlimm? Ein bisschen provokativ könnte ich sagen: Nein, das ist eine Notwendigkeit. Wenn zum Beispiel in der Bundesrepublik Deutschland, in einem Land oder in einer Stadt, wie z. B. Bremen, ein unglaubliches Maß an Armut unter Jugendlichen herrscht, dann kommen wir nicht auf die Idee zu sagen, UNICEF oder USAID sollen uns bitte dabei helfen, sondern dann sind die Adressaten die Bundesregierung und die Länderverwaltungen und die Kommunen. Das ist eine ganz logische Reaktion. Im Blick auf Namibia würde ich sagen: Warum sollen Brot für die Welt oder terre des hommes das machen, wenn doch die Verhältnisse so sind, wie ich sie gestern mit einiger Empathie vorgetragen habe, dass es nicht daran liegt, dass Namibia ein total verarmtes Land ist, das nicht selbst die Ressourcen hätte, um Abhilfe zu schaffen? Was ist eigentlich die Aufgabe eines Staates, der auch für das Gemeinwohl zuständig sein soll, dem aber nicht nachkommt? Das, finde ich, sollten wir jetzt in den noch verbleibenden Minuten der Diskussion berücksichtigen. Ich polemisiere, um zu ergänzen, nicht um den anderen Perspektiven zu widersprechen.«

Education R. Gronemeyer: »Solch eine Tagung ist lang und doch viel zu kurz. Mir wird jetzt deutlich wohin sich das für mich öffnen müsste. Ich gebe Dir völlig Recht, Henning, in dem was Du sagst. Für mich ist aber – auch wenn ich auf diese wirklich anregenden Referate schaue – etwas noch gar nicht vorgekommen. Nämlich die Frage, die mit dem was Du sagst zusammenhängt, aber die gleichzeitig für mich eine andere Tür öffnet. Ich versuche es so zu sagen: Es gibt gewissermaßen eine Einmütigkeit über die heilige Kuh education. Für mich ist die Frage: Was ist denn damit eigentlich gemeint? Ich karikiere jetzt etwas, der Knappheit der Zeit wegen. Wollen wir eigentlich, dass am Ende überall auf der Welt deutsche Abiturientinnen und deutsche Abiturienten herauskommen – die übrigens überhaupt nichts mehr können? Sie können eine Doppelhelix drehen, aber eine Geranie von einer Rose nicht unterscheiden. Der Verlust von Kompetenzen, der durch education stattfindet, auch in diesen Ländern, macht in einer für meine Begriffe besinnungslosen Weise die Menschen unfähig, ihren Alltag zu regeln. Ganz abgesehen davon, dass (ich kom-

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me aus der Schule von Ivan Illich) natürlich die Schulen dazu da sind, dropouts zu produzieren – bei uns und dort. Kann überhaupt noch gefragt werden, wohin das Ganze gehen soll, wohin diese Kinder denn eigentlich sollen, was wir uns da vorstellen? Und das ist in diesen Gesprächen mit Kindern für mich auch etwas, das mich vor ein wirkliches Rätsel stellt, dass ja die education praktisch das, was früher einmal der liebe Gott war, abgelöst hat. Education ist unhinterfragbar und lockt die Menschen für meine Begriffe oft in eine völlig falsche Richtung. Aber an education, an der Schule, zu zweifeln ist sozusagen, wie im 19. Jahrhundert an der Existenz Gottes zu zweifeln, das ist eine unmittelbare Parallelität und die Missionare der education sind genauso selbstsicher wie es die Missionare der Kirchen im 19. Jahrhundert waren. Das ist diese schwierige Brücke zu dem, was Du gesagt hast, aber ich denke, dass sie ungeheuer wichtig ist. Es geht für meine Begriffe nicht nur darum, den Staat an seine Verantwortung zu erinnern – völlig richtig und ohne Frage. Aber es müsste auch mehr darüber geredet werden können, wohin es denn gehen soll. Und ich glaube, das was man weltweit verhandelt (das ist ein großes Wort, aber es ist das, was man sehen kann) unter dem Diktat von education, ist die Beseitigung von Kompetenzen. Und das ist, glaube ich, das, was die Sache ungeheuer schwierig und ungeheuer strittig macht.« H. Melber: »Das ist überhaupt gar kein Widerspruch, sondern die Frage ist: Wie definiert sich Gemeinwohl und wie definiert sich die Verantwortung derjenigen, die darüber die Entscheidungsbefugnis haben, wie Gemeinwohl gesichert wird. Wenn die Eliten ihre Kinder auf Privatschulen schicken und dann auf Universitäten nach Europa, dann ist das ein Bildungsbegriff, der in Zusammenhang mit der realen Situation in der Gesellschaft nicht mit einem Gemeinwohl korrespondiert. Denn Gemeinwohl in einer solchen Gesellschaft muss sich eigentlich anders definieren und damit muss auch der Bildungsbegriff anders inhaltlich gefüllt werden. Die Frage aus der Perspektive einer namibischen Gesellschaft an die Regierenden – Warum tut ihr eigentlich nicht mehr für das Gemeinwohl? – hinterfragt also auch den dominanten Bildungsbegriff, weil dieser auch nicht dem Gemeinwohl entspricht. Die Frage ist also absolut grundsätzlich und geht auch in Bereiche, wie den der Gesundheitsfürsorge. Es ist ein umfassender

Auszüge aus den Diskussionen

Begriff von gesellschaftlicher Entwicklung in einer Gesellschaft, die von Anomie geprägt ist, in der alles auseinanderfällt.« C. Berker: »Zum Stichwort education: Wir stellen uns die Frage: Welche Art von Bildung wollen wir, und welche Bildung wird gebraucht? Und es ist wichtig, das weiter zu thematisieren und Antworten zu finden. Ich möchte unterstützen, was Herr Melber über die Rolle des Staates gesagt hat und ich habe ja auch versucht, das einzubringen: Das Ziel ist sicherlich nicht, Hilfe so lange wie möglich aufrechtzuerhalten, im Gegenteil. Ich glaube, wer verantwortungsvolle Entwicklungszusammenarbeit macht, ist eigentlich bestrebt, sich überfl ssig zu machen. Die Arbeit vor Ort ist immer wieder der Versuch, die Menschen so zu stärken – auch über soziales Lernen, andere Kompetenzen und rechtsbasierte Arbeit – dass sie das vom Staat einfordern, was meist internationale Akteure einfordern. Aber letztendlich kann das nur von der eigenen Gesellschaft kommen.« K.-D. Grothe: »Mir ist in Uganda sehr aufgefallen, dass es ja auch eine staatliche Zielrichtung ist, welche education verfolgt wird. Uganda ist ein extrem fruchtbares Land. Es gehört zu den fruchtbarsten Ländern weltweit, aber, und das fällt auf, an der Universität Kampala werden jährlich 5.000 Informatiker entlassen, aber keine Landwirtschaftsstudenten. Es gibt aus meiner Sicht ein klares Interesse, die bäuerliche Bevölkerung nicht über den Wert ihres Landes aufzuklären, damit es leichter an ausländische Investoren verkauft werden kann. In so einer Nachkriegsgesellschaft, würde ich sagen, braucht es jede Menge Bauern- und Puddingschulen. Genau das wird aber nicht gemacht und ich denke da steckt ein politisches Interesse dahinter.«

Unterschiedliche kulturelle Vorstellungen S. Klocke-Daffa: »Da möchte ich gerne anknüpfen, weil ich das auch immer wieder erfahre. Ich glaube an dieser Stelle fehlen uns einfach Wissen und Analysen. Es geht mir immer wieder darum, zu fragen, welches Verständnis von Staat haben die Menschen eigentlich?

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Auszüge aus den Diskussionen

Wir haben ein bestimmtes Verständnis von education, von Gesundheit und davon, was Kind ist, und wie man anständig lebt – und wir kommen immer wieder mit unseren Konzepten und versuchen unbedingt in diese Richtung zu lenken, nehmen es aber nicht zur Kenntnis, dass unter Umständen in anderen Kulturen ein völlig anderes Verständnis dieser Dinge da ist. Das mag uns nicht gefallen und man kann dann ja überlegen, wie man da weiterkommt und fragen: Warum funktioniert das nicht, warum machen die Leute dies und jenes nicht, warum kümmern sie sich nicht um die Gemeinde? Sie finden gar nicht, dass das ihre Aufgabe ist! Wenn die Europäer meinen, dass sie das machen wollen – ›aber klar!‹ – dann sind die nett und großzügig. Sollen sie kommen und das machen – eine Gabe unter anderen Gaben, die man gerne nimmt. Wenn die Menschen es gar nicht als ihre Aufgabe ansehen, dann gehen wir von völlig falschen Voraussetzungen aus. Wenn man sagt education ist da, wo Leute für das IT business und -management ausgebildet werden, aber nicht für Landwirtschaft, dann fangen wir an und arbeiten an etwas, was es gar nicht gibt! Etwas, das gar nicht erst da ist. Wir müssten uns viel stärker mit diesen unterschiedlichen Konzepten auseinandersetzen und eruieren: Was bedeutet es denn, wenn wir mit unseren Konzepten dort ankommen und dort arbeiten und Geld da rein pumpen? Wie viele Tausend NGOs arbeiten inzwischen in Namibia? Zwei Welten existieren nebeneinander her. Deswegen würde ich fragen, und da geht es natürlich auch um vulnerable children, welche Konzepte haben die Menschen denn selber? Dann können wir diskutieren, wo wir uns treffen könnten. Oder fragen: Haben wir da überhaupt etwas zu suchen? Können wir da eigentlich etwas machen? Dann sieht man natürlich die Kinder und dann sagen wir: Rausziehen kann ich mich jetzt aber auch nicht. Diese Kinder kann ich doch nicht in den Haushalten lassen. Aber ich meine immer noch, wenn es geändert werden muss, dann müssen es die Leute selbst machen. Wenn sie es nicht selbst machen, macht es keiner, das ist leider so, Herr Melber. Wenn sie es nicht selbst machen, dann wird ihnen niemand in der Welt helfen können, da kann man noch so viele NGOs hinschicken. Und da frage ich mich: Wo können wir uns denn da treffen?« H. Melber: »Das ist eine interessante Debatte, weil mein Gegenargument jetzt spontan wäre: Die Leute in Namibia haben ja etwas geändert, deswegen haben

Auszüge aus den Diskussionen

wir ja die Apartheid überwunden. Wir haben ja gegen einen Unrechtsstaat gekämpft, einen Übermächtigen, und das mit Erfolg und mit dem Anspruch, Staatsgewalt zu erobern, um es besser zu machen. Stattdessen sind wir nach 23 Jahren an einem Punkt, wo Leute, die im Kampf gegen diese alte Staatsgewalt beteiligt waren, so verzweifelt und enttäuscht sind, dass sie heute sagen: ›In der Apartheidszeit war es besser‹. Die eine Wahrheit ist, dass man sich fragen kann: Warum kommt von den Leuten nicht mehr? Das will ich gar nicht wegwischen, aber es gibt die andere Seite, die ich, der auch in soziale Kämpfe verwickelt war, im Blick habe, die Frage: Warum machen wir (die SWAPO) das nicht? Wir sind doch angetreten, um zu sagen, den Leuten soll es besser gehen. Und wenn es den Leuten heute nicht besser geht, sollen wir dann sagen: ›Das ist die Schuld der Leute selbst, weil sie sich nicht wehren?‹ Das ist mir auch zu einfach. Bezüglich der Hilfe von außen: In Namibia besteht ja die schizophrene Situation, dass die Regierenden sagen: ›Wir sind ein wunderbares Investitionsland. Wir sind kein Dritte-Welt-Land. Kommt alle und investiert.‹ Gleichzeitig sagen dieselben Leute an die UNO gerichtet: ›Wir sollten ein least developed country sein, weil die Ungleichheitsstruktur so groß ist, dass wir eigentlich Zugang zu dieser Präferenz mit Krediten haben sollten.‹ Es sind die gleichen Leute, die einerseits sagen: ›Wir sind ein Mercedes country‹ und anderseits sagen ›wir sind ein least developed country‹. Da finde ich es zu einfach, die politischen Führer aus der Verantwortung zu nehmen.« S. Klocke-Daffa: »Das habe ich nicht so gemeint! Nur glaube ich, dass wir sie nicht verstehen und da könnte man ansetzten. Wir verstehen sie einfach nicht, weil wir sie auch nicht verstehen wollen! Wir verstehen nicht, was sie eigentlich machen wollen und welches Verständnis von Staat dem Ganzen zugrunde liegt.«

Abschlussworte R. Gronemeyer: »Jetzt fängt die Tagung an. Spannend, wunderbar! Also jenseits jeder rhetorischen Floskel, ich gehe stark bereichert, wenn auch in tiefen Fragen

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Auszüge aus den Diskussionen

versinkend, wieder nach Hause. Ich würde zum Abschluss gerne ein Zitat aus Dostojewskis ›Idioten‹ vorlesen, das beschreibt, wie Fürst Myschkin mit Kindern umgeht. Ich finde, das Zitat ist etwas, das einerseits heimlich als Motto über dieser Tagung gestanden haben könnte und anderseits für mich immer wieder eine Erinnerung daran ist, dass der Blick auf Kinder ein ganz schwieriger ist: ›Fürst Mischgin, der Idiot, sagt, man kann einem Kind alles sagen, gerade zu alles. Mich hat oft die Wahrnehmung überrascht, wie schlecht die Erwachsenen die Kinder kennen, sogar die Väter und Mütter ihre eigenen Kinder. Man darf den Kindern nichts unter dem Vorwand verheimlichen, sie seien noch zu klein und es sei für sie noch zu früh dies und jenes zu wissen. Die Erwachsenen wissen nicht, dass die Kinder selbst in den schwierigsten Angelegenheiten oft einen sehr guten Rat geben können. Ich habe mich gewundert, dass die Kinder bei mir, so sagt er, der ihnen etwas beigebracht hat, alles begriffen und bei Ihnen, dem Lehrer fast nichts begriffen haben. Und durch den Umgang mit Kindern aber, so sagt der Idiot, wird die Seele gesund.‹«

Autorinnen und Autoren

Claudia Berker ›terre des hommes‹ Deutschland, Osnabrück Claudia Berker arbeitet seit mehr als zehn Jahren beim entwicklungspolitischen Kinderhilfswerk terre des hommes Deutschland (Osnabrück) und ist dort zuständig für die Programmkoordination zu Afrika. Zuvor hat sie mehrere Jahre im Südlichen Afrika, hauptsächlich Südafrika, gearbeitet und dort unter anderem ein Pro­ gramm zur Förderung von Jungen und Mädchen in Armenvierteln aufgebaut. Zuvor war die gelernte Journalistin in der Presse­ und Öffentlichkeitsarbeit tätig und bei terre des hommes unter anderem verantwortlich für eine internationale Kampagne gegen Kinderhandel. Dr. Ulrike Brizay International AIDS Society, Schweiz Ulrike Brizay beschäftigt sich seit ihrem Aufenthalt in einem Waisenheim in Tansania 2001/2 mit der Situation von Waisen und den sozialen Folgen der AIDS­Epidemie auf dem afrikanischen Kontinent. 2010 promovierte sie zur Thematik »Bewältigungs­ strategien für die Waisenkrise in Tansania« an der Leuphana Universität in Lüne­ burg. Seit 2011 arbeitet sie für die International AIDS Society (IAS) in Genf als Research Promotion Officer. Die IAS ist die bedeutendste Mitgliedsorganisation für Beschäftigte im HIV­Bereich und organisiert die größten internationalen Kon­ ferenzen zur Thematik, die »International AIDS Conference«. Zusätzlich unter­ richtet Ulrike Brizay als Honorardozentin Masterstudenten der Internationalen Sozialen Arbeit an der FH Erfurt und publiziert wissenschaftliche Beiträge.

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Afrikanische Kindheiten

Karin Döhne Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst, Berlin Karin Döhne leitet seit 2012 die Afrika Abteilung von Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst. Davor war sie Referatsleiterin für West­ und Zentralafrika sowie Horn von Afrika. Auf Reisen hat sie viele afrikanische Länder kennengelernt. Längere Auslandserfahrung hat Karin Döhne in Asien von 1986 bis 1996 gesammelt, als sie mit ihrer Familie in Nepal gearbeitet hat. Sie hat einen Masters of Business Aministration Abschluss der Lancaster University und verfügt über Erfahrung vor allem in der Basisge­ sundheitsversorgung und der ländlichen Entwicklung. Daniela Dohr, Dipl.-Päd. Universität Gießen Daniela Dohr ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Universität Gießen in dem von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten Forschungsprojekt »Saatgut und Sozialsystem – Ernährungssicherung in ländlichen Entwicklungs­ gebieten am Beispiel der Ruvuma­Region in Tansania und der Oshana­Region in Namibia« (2012 – 2014, Leitung: Prof. Reimer Gronemeyer). Seit 2009 ist sie Vorstandsmitglied in dem gemeinnützigen Verein »Pallium – Forschung und Hilfe für soziale e.V.« Der in Gießen ansässige Verein unterstützt Menschen in Afrika, die – insbesondere durch Krankheit – in eine Notlage geraten sind. Dr. Michaela Fink Universität Gießen Michaela Fink ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Universität Gießen in dem DFG­Projekt »AIDS­Waisen im Südlichen Afrika (Namibia): Soziale Krisen und soziale Kräfte« (2012 – 2015, Leitung: Prof. Reimer Gronemeyer). Zuvor Mitarbeiterin in Forschungsprojekten zum Thema Hospiz und Palliative Care (Leitung: Prof. Reimer Gronemeyer); Promotion in 2011 an der Universität Klagen­

Autorinnen und Autoren

furt in Wien zum Thema »Von der Initiative zur Institution – die Hospizbewegung zwischen lebendiger Begegnung und standardisierter Dienstleistung«; seit 2004 (Gründungs­ u.) Vorstandsmitglied in dem gemeinnützigen Verein »Pallium – For­ schung und Hilfe für soziale e.V.«. Der in Gießen ansässige Verein unterstützt Men­ schen in Afrika, die – insbesondere durch Krankheit – in eine Notlage geraten sind. Prof. Dr. Reimer Gronemeyer Universität Gießen Reimer Gronemeyer, Dr. theol. und Dr. rer. soc., ist Buchautor und Professor für Soziologie an der Ju­ stus­Liebig­Universität Gießen. Dort leitet er zur­ zeit zwei Afrika­Forschungsprojekte (DFG­Projekt »AIDS­Waisen«, Thyssen­Projekt »Saatgut und So­ zialsystem«). Weitere Forschungsschwerpunkte: Hospiz und Palliative Care, de­ mographische Entwicklung, Demenz. Seit 2004 ist Reimer Gronemeyer 1. Vors. des von ihm mit gegründeten gemeinnützigen Vereins »Pallium – Forschung und Hilfe für soziale e.V.«. Der in Gießen ansässige Verein unterstützt Menschen in Afrika, die – insbesondere durch Krankheit – in eine Notlage geraten sind; des Weiteren ist er 1. Vors. der bundesweiten Initiative »Aktion Demenz e.V.« (geför­ dert von der Robert Bosch Stiftung). Dr. med. Klaus-Dieter Grothe Hüttenberg Klaus­Dieter Grothe ist Facharzt für Kinder­ und Jugendpsychiatrie und ­psychotherapie sowie Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psy­ chotherapie. Er ist seit 1980 auf diesem Gebiet tätig und verfügt über Aus­ und Weiterbildungen im Bereich der analytischen und tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie, analytischer Paar­, Familien­ und Sozialtherapie, konzentrativer Bewegungsthe­ rapie (KBT), Gewaltberatung/ Gewaltpädagogik sowie verschiedenen traumathe­ rapeutischen Verfahren. Er hat neben seiner praktischen Arbeit auch gelegentlich in der Fachliteratur Artikel zu Themen wie Trauma und ADHS veröffentlicht.

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Afrikanische Kindheiten

Dr. Sabine Klocke-Daffa Universität Tübingen Sabine Klocke­Daffa studierte Ethnologie, Sozi­ alwissenschaften und Romanische Philologie in Münster; 2004 – 2006 Vertretungsprofessorin am Institut für Ethnologie der Universität Münster; 2008 – 2010 Vertretungsprofessorin am Asien­ Orient­Institut/Abt. Ethnologie der Universität Tübingen; seit 2010 hauptberuf­ liche Dozentin der Universität Tübingen, Sprecherin des Promotionsverbundes »Soziale Netzwerke und Ressourcenkomplexe« des Sonderforschungsbereichs 1070 »RessourcenKulturen«. Regionale Forschungsschwerpunkte: Afrika, Euro­ pa. Forschungsbereiche: Religionsethnologie, Sozialanthropologie, Angewandte Ethnologie. Neueste Publikationen zum Modellprojekt »Basiseinkommen in Na­ mibia« und zu formellen Sozialversicherungen in Afrika. Prof. Dr. Reinhart Kößler Universität Freiburg Reinhart Kößler studierte Soziologie, Osteuropä­ ische Geschichte, Ethnologie und Chinakunde in Heidelberg, Leeds (GB) und Münster; MA in Hei­ delberg 1972, Promotion in Münster 1978, Habi­ litation in Münster 1987; Lehre u.a. an den Uni­ versitäten Münster, Frankfurt am Main, Bayreuth, Ritsumeikan (Kyoto, Japan), Freiburg i.B. Er ist Direktor des Arnold Bergstraesser­Instituts und apl. Prof. am Seminar für Wissenschaftliche Politik der Universität Freiburg. Forschungsschwerpunkte: Ge­ sellschafts­ und Entwicklungstheorie, Politische Soziologie, Ethnizität, Erinne­ rungspolitik; Regionalschwerpunkt Südliches Afrika. Publikationen u. a.: In Search for Survival and Dignity. Two Traditional Communi­ ties in Southern Namibia under South African Rule (2005/06); The Long After­ math of War. Reconciliation and Transition in Namibia (2010; hg. mit André du Pisani und William A. Lindeke); Gesellschaft bei Marx (2. Aufl. 2013; mit Hanns Wienold); Namibia­Germany: Negotiating the Past (in Vorbereitung).

Autorinnen und Autoren

Philipp Kumria, Dipl.-Soz.-Wiss. Universität Gießen Philipp Kumria ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Universität Gießen in dem von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten Forschungsprojekt »Saatgut und Sozialsystem – Ernährungssicherung in ländlichen Entwicklungs­ gebieten am Beispiel der Ruvuma­Region in Tansania und der Oshana­Region in Namibia« (2012 – 2014, Leitung: Prof. Reimer Gronemeyer). Seit 2009 ist er Mitglied in dem gemeinnützigen Verein »Pallium – Forschung und Hilfe für so­ ziale e.V.« Der in Gießen ansässige Verein unterstützt Menschen in Afrika, die – insbesondere durch Krankheit – in eine Notlage geraten sind. Dr. Jeannett Martin Universität Bayreuth Jeannett Martin ist Sozialanthropologin. Ihre In­ teressenfelder sind Kindheit, Verwandtschaft und Ethnizität; der regionale Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt in Westafrika (Benin, Ghana). Sie leitet das von der DFG geförderte und am Lehrstuhl Sozial­ anthropologie der Universität Bayreuth angegliederte Forschungsprojekt »Kinds­ pflegschaften im Kontext interethnischer Beziehungen, Borgu (Republik Benin)« und ist Mitherausgeberin des 2013 erschienenen Sammelbandes »Child Fostering in West Africa«. Prof. Dr. Henning Melber Dag Hammarskjöld Stiftung Henning Melber ist Direktor emeritus der Dag Hammarskjöld Stiftung, Uppsala/Schweden, und Extraordinary Professor am Department of Politi­ cal Sciences der Universität Pretoria und am Center for Africa Studies der University of the Free State in Bloemfontein. 1974 trat er als Sohn deutscher Einwanderer in Namibia der SWAPO (South West Africa People's Organisation) bei, die seit der Unabhängig­ keit Namibias 1990 die Regierung bildet. Zugleich ist er ein scharfer Kritiker der

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Afrikanische Kindheiten

SWAPO­Politik. Melber ist Autor zahlreicher Aufsätze, Presseartikel, anderer Bei­ träge und Bücher über die Politik, jüngere Geschichte und Gesellschaft Namibias. Jonas Metzger, Dipl.-Soz.-Wiss. Universität Gießen Jonas Metzger ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Universität Gießen in dem von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten Forschungsprojekt »Saatgut und Sozialsystem – Ernährungssicherung in ländlichen Entwicklungs­ gebieten am Beispiel der Ruvuma­Region in Tansania und der Oshana­Region in Namibia« (2012 – 2014, Leitung: Prof. Reimer Gronemeyer). Seit 2009 ist er Mitglied in dem gemeinnützigen Verein »Pallium – Forschung und Hilfe für soziale e.V.« Der in Gießen ansässige Verein unterstützt Menschen in Afrika, die – insbe­ sondere durch Krankheit – in eine Notlage geraten sind; des Weiteren organisert er im Rahmen des entwicklungspolitischen Freiwilligendienstes weltwärts Zwi­ schenseminare für den Verein Amani Kinderdorf e.V. in Tansania. Prof. Dr. Julia Pauli Universität Hamburg Julia Pauli ist Professorin für Ethnologie am Insti­ tut für Ethnologie der Universität Hamburg. Sie studierte Ethnologie, Germanistik, Theaterwis­ senschaften und Psychologie an der Universität zu Köln. In mehreren langjährigen Feldforschungsauf­ enthalten in Namibia und Mexiko hat sie zu den Themen Verwandtschaft, Gender, Migration, Transnationalismus, Klassen und Eliten gearbeitet. Zurzeit untersucht sie die Lebenswelten älterer MigrantInnen in Hamburg, Mexiko und den USA so­ wie die Entstehung neuer Mittelklasse­Lebensstile im Südlichen Afrika.

Global Studies Philipp Casula Hegemonie und Populismus in Putins Russland Eine Analyse des russischen politischen Diskurses 2012, 350 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2105-1

Jörg Gertel, Sandra Calkins (Hg.) Nomaden in unserer Welt Die Vorreiter der Globalisierung: Von Mobilität und Handel, Herrschaft und Widerstand 2011, 304 Seiten, Hardcover, durchgehend vierfarbig bebildert, 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1697-2

Georg Glasze Politische Räume Die diskursive Konstitution eines »geokulturellen Raums« – die Frankophonie 2013, 272 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1232-5

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Global Studies Fernand Kreff, Eva-Maria Knoll, Andre Gingrich (Hg.) Lexikon der Globalisierung 2011, 536 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1822-8

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Global Studies Philipp Altmann Die Indigenenbewegung in Ecuador Diskurs und Dekolonialität 2013, 352 Seiten, kart., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-2570-7

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Heiko Grünwedel Schamanismus zwischen Sibirien und Deutschland Kulturelle Austauschprozesse in globalen religiösen Diskursfeldern 2013, 364 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2046-7

Ernst Halbmayer, Sylvia Karl (Hg.) Die erinnerte Gewalt Postkonfliktdynamiken in Lateinamerika 2012, 340 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1858-7

Sylvia Karl Kampf um Rehumanisierung Die Verschwundenen des Schmutzigen Krieges in Mexiko Oktober 2014, 516 Seiten, kart., zahlr. Abb., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-2827-2

Roman Loimeier Eine Zeitlandschaft in der Globalisierung Das islamische Sansibar im 19. und 20. Jahrhundert 2012, 216 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1903-4

Aldo Mascareño Die Moderne Lateinamerikas Weltgesellschaft, Region und funktionale Differenzierung 2012, 260 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1971-3

Cornelia Reiher Lokale Identität und ländliche Revitalisierung Die japanische Keramikstadt Arita und die Grenzen der Globalisierung März 2014, 298 Seiten, kart., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2596-7

Holger Rossow Globalismus und New Labour Zur diskursiven Konstruktion von Globalisierungsprozessen im Großbritannien der Blair-Ära 2011, 364 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1784-9

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