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German Pages 393 [396] Year 2015
Silvan Wagner Erzählen im Raum
Trends in Medieval Philology
Edited by Ingrid Kasten, Niklaus Largier and Mireille Schnyder Editorial Board Ingrid Bennewitz, John Greenfield, Christian Kiening, Theo Kobusch, Peter von Moos, Uta Störmer-Caysa
Volume 28
Silvan Wagner
Erzählen im Raum
Die Erzeugung virtueller Räume im Erzählakt höfischer Epik
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
ISBN 978-3-11-043759-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-042810-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-042820-9 ISSN 1612-443X Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Michael Peschke, Berlin Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Die vorliegende Arbeit stellt die leicht überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift dar, die im Wintersemester 2013/2014 von der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften der Universität Bayreuth angenommen wurde. Mein Dank gilt zunächst meinen Gutachtern: Prof. Dr. Gerhard Wolf, Prof. Dr. Manuel Braun und PD Dr. Ralf Schlechtweg-Jahn begleiteten meine Arbeit kritisch und bestärkend, Prof. Dr. Cora Dietl gab mir insbesondere für die Drucklegung wertvolle Impulse. Dem Oberseminar der Älteren Deutschen Philologie der Universität Bayreuth danke ich für die kritische und kollegiale Diskussion v. a. meines theoretischen Ansatzes, der nicht zuletzt auf unserer gemeinsamen Arbeit aufbaut. Besonderer Dank gilt hier Dr. Susanne Knaeble, die mit ihren Studien zu Zeit komplementär zu meinen Studien zum Raum arbeitet und immer ein äußerst wertvoller Gesprächspartner ist. Für Inspirationen in meinen Lehrveranstaltungen zum Thema Raum bin ich auch meinen Studierenden dankbar, die sich oft weniger an überkommene Vorstellungen klammern als der fachwissenschaftliche Diskurs. Dr. Natalia Igl möchte ich für die inspirierende Zusammenarbeit am Thema „Erzähler“ danken, die mir – neben einer Menge fröhlicher Wissenschaft – wertvolle Einblicke in die Diskussion des Themas innerhalb der Neueren deutschen Literaturwissenschaft und der Linguistik bescherte. Prof. Dr. Sieglinde Hartmann danke ich für ihre tatkräftige Ermutigung, meine Überlegungen zum höfischen Erzähler auch in praktischen Aufführungsversuchen umzusetzen. Ich danke den Reihenherausgebern für die Aufnahme meiner Arbeit in der Reihe Trends in Medieval Philology und Dr. Nadine Hufnagel für ein umsichtiges Lektorat vor der Drucklegung. Meiner Frau Eva, meinen Eltern Erich und Vera und meinen Geschwistern Kersten, Priska und Frithwin danke ich für den sichersten Raum, um darin leben und arbeiten zu können. Ganz besonders aber danke ich meinen beiden Söhnen Amos und Ismael, die mir täglich zeigen, wie real ihre imaginären und (zunehmend) virtuellen Räume sind. Ihnen widme ich diese Arbeit, die vor und – virtualiter – doch auch mit ihnen entstanden ist.
Inhalt Vorwort 1
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Das Fenster zum Hof
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25 2 Virtuelle Räume und der kommunikative Akt des Erzählens 2.1 Annäherungen an den Begriff des virtuellen Raums 25 2.1.1 Annäherung über die virtual reality: Gefahren und Chancen 25 2.1.2 Virtualität als Begriff des mittelalterlichen Denkens 30 2.1.3 Annäherung über den Gegenbegriff: eine Sackgasse 32 2.1.4 Annäherung über den Dachbegriff: Virtueller Raum als spezifischer Raum 35 2.1.5 Virtuelle Räume, normale Räume und Institutionalisierung 46 2.2 Virtueller Raum und fiktionale Welten 52 2.2.1 Virtueller Raum und Identitätsverdoppelung 52 2.2.2 Identitätsverdoppelung im Erzählraum: das implizite Publikum 54 2.2.3 Virtuelle Räume innerhalb der Erzählung und ihre Bezüge zu den beiden virtuellen Haupträumen 62 64 3 Virtueller Raum im Hochmittelalter 3.1 Musik und virtueller Raum 71 3.1.1 Die kulturgeschichtlichen Grundlagen der Musik um 1200 als ars und usus 72 3.1.2 Die unterschiedliche Kommunikationszugänglichkeit musikalischer opera 79 3.1.3 Musik als imaginärer Weltenraum in der theoretischen Reflexion der artes 81 3.1.3.1 Platon (Calcidius): Timaios 81 3.1.3.2 Martianus Capella: De nuptiis Philologiae et Mercurii 84 3.1.3.3 Boethius: De institutione musica 87 3.1.4 Die Hör- und Sichtbarkeit des Denkbaren: Die Harmonielehre der ars als zwischen Imagination und Virtualität oszillierender Raum 90 3.1.5 Musik als virtueller Weltenraum in der Musikpraxis 95 3.1.6 Der virtuelle Tonraum der Musik in der höfischen Literatur 100 3.1.6.1 Herrschaft als virtueller Klangraum im Eneasroman 100 3.1.6.2 Der Kampf um Herrschaft als Kampf um den virtuellen Klangraum im Rolandslied 109 3.1.6.3 Zwischen ars und usus: Isoldes Ausbildung, Petitcreü und Minnegrotte 133
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Inhalt
3.1.7 Zusammenfassung 156 3.2 Erinnerung und virtueller Raum 159 3.2.1 Memoria zwischen Imagination und Virtualität 160 3.2.1.1 Erinnerung als Bibliothek 161 3.2.1.2 Erinnerung als eingerichteter Raum 172 3.2.1.3 Die mittelalterliche Virtualisierung des Memorialraumes 175 3.2.2 Der virtuelle Erinnerungsraum in der höfischen Literatur 194 3.2.2.1 Der Erzählraum als Erinnerungsraum: Kalogrenant, Iwein und die Quelle 194 3.2.2.2 Das ‚Torverlies‘ als Erinnerungs- und Erzählraum 207 3.2.2.3 Joie de la curt oder der Kampf gegen die Erinnerung 218 3.2.3 Zusammenfassung 239 4
Die virtuellen Haupträume und ihre Veränderung im Akt des Erzählens 242 4.1 Arbeit an Utopia: Der höfische Erzählraum des Gürtels 243 4.2 Im langen Schatten des Prologs: Mauricius von Craûn und der Verschleiß seiner erzählten Räume 275 4.3 Beobachten des erzählten Raumes im erzählten Raum und die umfassende Virtualisierung der Erzählwelt im Prosalancelot 291 4.3.1 Ein Berg als in die Erzählung gedoppelter Erzählraum 298 4.3.2 Ausblick I: Der Erzählraum im erzählten Raum 306 4.3.2.1 Die Dolorose Garde 309 4.3.2.2 Lancelots Bilderraum 316 4.3.2.3 Die Chronik des Artus 316 4.3.3 Ein virtueller See als Irritation des normalen Raumes der Erzählwelt 320 4.3.4 Ausblick II: Der Verschleiß des normalen Raums im Prosalancelot 335 5 Virtuelle Räume in höfischer Literatur 5.1 Zusammenfassung 340 5.2 Ausblick 350 Glossar der verwendeten Raumbegriffe Literaturverzeichnis Register
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1 Das Fenster zum Hof Nur Sterne, in der Schwärze verstreut – als sei die Windschutzscheibe des göttlichen Wagens zerbrochen, ohne daß sich der Schöpfer die Mühe machte, alle Splitter einzusammeln. Dies ist die Schlucht zwischen den Universen, das tiefe Nichts, das nur einige einsame Atome enthält, ein paar verirrte Kometen und … Halt. Moment mal. Eine dunkle Scheibe gleitet ein wenig zur Seite, und dadurch verschiebt sich der Blickwinkel. Was eben noch Teil des interstellaren Irgend Etwas zu sein schien, entpuppt sich jetzt als eine von Finsternis umhüllte Welt. Und tief unten – ja, genau dort – zeigen sich Dutzende, Hunderte von hellen Flecken. Nennen wir sie großzügig Lichter der Zivilisation. Es ist wirklich erstaunlich, nicht wahr? Während sich die Welt langsam dreht, offenbart sie ihre wahre Natur. Ganz deutlich sieht man eine Scheibe, rund und flach, und sie wird auf dem Rücken von vier Elefanten getragen, die wiederum auf Groß-A’Tuin stehen – der einzigen Schildkröte, die einen Platz im Hertzsprung-Russel-Diagramm gefunden hat. Sie ist zehntausend Meilen lang, und Meteoriten haben pockennarbige Krater in ihrem Panzer hinterlassen. […] Niemand weiß, warum die Himmelsschildkröte existiert und was sie (oder ihn; diese Frage ist noch nicht geklärt) dazu bewegt, vier Elefanten zu tragen, auf deren breiten Rücken die Scheibenwelt ruht. Wahrscheinlich hat es irgend etwas mit Quanten oder hyperphysikalischen Gesetzen zu tun, die das Gewicht von Wahrscheinlichkeit und Kausalität ausgleichen.1
Mit dieser atemberaubenden Gemengelage unvereinbarer philosophischer Positionen lässt Terry Pratchett den modernen Mythos der mittelalterlichen Weltwahrnehmung in seinem Scheibenweltroman Pyramiden in postmoderner Ironie literarische Realität werden. Das Mittelalterbild, das Pratchett dabei zitiert,2 scheint zunächst Lichtjahre entfernt von der mediävistischen Diskussion um den Raum und für die wissenschaftliche Auseinandersetzung gänzlich irrelevant zu sein: Dass Columbus nicht die Kugelgestalt der Erde entdeckt hat, ist hier altbekannt, und die Vieldimensionalität etwa der Ebstorfer Weltkarte verbietet es, die Vorstellung von der Welt als einer Scheibe für das Mittelalter abzuleiten. Dennoch arbeitet sich auch die Mediävistik bei der Diskussion mittelalterlicher Raumkonzepte an einem Paradigma ab, das mutatis mutandis ebenfalls die 1 Pratchett 1991, S. 8. 2 Freilich spielen Pratchetts Scheibenweltromane keineswegs im Mittelalter, sondern in einer deutlich konstruierten Phantasiewelt ohne direktes historisches Vorbild (im englischen Sprachraum als Neo-medievalism bezeichnet); wie jedoch im Genre üblich, bedient sich Pratchett intensiv am interdiskursiven „Wissen“ über das Mittelalter beim Aufbau seiner phantastischen Welt: Etwa der Glauben an die Scheibengestalt der Welt, an die Existenz von Hexen, Zauberern, Fabelwesen und typologischen Figuren wird bei Pratchett fiktionale Realität, aber auch soziale Systeme wie Gilde, Königshof und Dorf, die die Scheibenwelt bestimmen, sind dem interdiskursiven Mittelalterwissen entnommen.
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bei Pratchett zitierten interdiskursiven Vorurteile prägt: das Paradigma der Unzulänglichkeit mittelalterlicher Raumkonzepte gegenüber der neuzeitlichen Vorstellung von Raum. Pratchett freilich sitzt diesen Vorurteilen nicht auf, sondern er treibt ein ästhetisches Spiel in der Vermischung von modernem und ‚mittelalterlichem‘ Denken und Sprechen von Raum. Hier lässt sich eine weitere Parallele zur Raumdiskussion der Mediävistik ziehen: eine Durchmischung von mittelalterlichen und neuzeitlichen Raumvorstellungen, die in der Wissenschaft jedoch keinen ästhetischen Mehrwert produzieren kann, sondern lediglich die auf ihrer Basis gewonnenen Erkenntnisse in Frage stellt. Pratchetts chaotische Gemengelage ahistorischer philosophischer Positionen hält in gewisser Hinsicht der mediävistischen Raumdiskussion einen vergrößernden Zerrspiegel vor (sicherlich ohne dies zu intendieren). Gegenstand dieser Arbeit sollen nicht die mittelalterlichen Vorstellungen von Raum insgesamt sein, sondern lediglich ein spezifisches Raumkonzept der erzählenden Literatur: der virtuelle Raum. Das Erzählen von Raum aber – auch dies sollte der literarische Einstieg zeigen – ist nicht automatisch an eine konzise theoretische Raumkonzeption gebunden;3 Erzählen bedient sich an Vorstellungsmustern, um sie für sein eigenes Spiel nach eigenen Regeln einzusetzen. Ein Erzähler erzählt, er postuliert keine Theoreme. Ein klassischer Ort, an dem literarische Raumkonzepte des Mittelalters diskutiert wurden und werden, ist das sogenannte ‚Torverlies‘4 in dem höfischen Roman Iwein Hartmanns von Aue. Dieser umstrittene Raum, der im Text unterschiedlich aufgebaut und konnotiert wird, soll im Folgenden als Paradigma für Problemdarstellung, Forschungsdiskussion und Fragehorizont dieser Arbeit dienen.5 Genauere Forschungsreferate erfolgen dabei im Petit-Druck und können bei schneller Lektüre auch übersprungen werden; der Haupttext im Normaldruck enthält den zentralen Gedankengang dieser Arbeit. Worum geht es? Iwein verfolgt den fliehenden Askalon in dessen Burg und löst am Tor durch einen verborgenen Mechanismus zwei Fallgatter aus: Indem Iwein dem Burgherren eine tödliche Wunde zufügt, spaltet das eine Fallgatter 3 Vgl. grundsätzlich Dennerlein 2009, S. 67‒70. 4 Die aus der älteren Forschung übernommene Benennung ‚Torverlies‘ verweist auf die räumliche Irritation, da das Kompositum mit Tor(haus) und Verlies zwei architektonisch unvereinbare Räume miteinander verbindet (s. u.). In Ermangelung eines treffenderen, nicht paradoxen Begriffs – der notwendigerweise auf Elemente hochmittelalterlicher Architektur zurückgreifen müsste, die jedoch keinen entsprechenden Raum kennt (s. u.) – bleibe ich bei dem Begriff ‚Torverlies‘. 5 Ich verzichte dabei zunächst bewusst auf einen kritischen Einbezug der Iwein-Forschung: Hier geht es lediglich um die Darstellung grundsätzlicher Forschungsparadigmen zum Raum in mittelalterlicher Literatur anhand des Paradigmas ‚Torverlies‘. Eine Diskussion der für diese Stelle einschlägigen Iwein-Forschung wird in Kap. 3.2.2.2 erfolgen.
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Iweins Pferd in zwei Teile, während vor ihm das zweite Fallgatter den weiteren Weg versperrt; Iwein ist „zwischen disen porten zwein / beslozzen und gevangen“ (VV 1128f.; „zwischen diesen zwei Toren eingeschlossen und gefangen“6), ohne dass der damit entstehende Raum näher definiert würde. Trotz intensiven Suchens kann Iwein weder Fenster noch Tür finden (vgl. VV 1144f.). Nach kurzer Zeit öffnet sich aber eine kleine Tür (vgl. VV 1150f.), aus der die weinende Lunete tritt, den Tod Askalons beklagt und Iwein vor der Wut der aufgebrachten Burgbewohner warnt. Sie gibt Iwein zum Schutz einen Ring, der ihm Unsichtbarkeit verleiht. Nun berichtet der Erzähler von einem herrlichen Bett, das „dâ bî in“ steht (V 1212; „dort drinnen“) und auf das Lunete Iwein Platz nehmen lässt. Sie bringt ihm zu essen, und sie speisen gemeinsam (der Raum wird im Text an dieser Stelle nicht begrifflich bezeichnet, doch wird er durch Bett und Mahl zur möblierten und bewohnten Kammer). Nach dem Mahl erhebt sich großer Lärm an beiden Toren: Die aufgebrachten Burgbewohner entdecken das erschlagene Pferd und schließen daraus, dass der Mörder ihres Herren zwischen den beiden Toren gefangen sein muss. Sie öffnen beide Tore und durchsuchen die Kammer (hier als „hûs“ bezeichnet, vgl. V 1280), doch Iwein ist durch den Ring unsichtbar und bleibt auf dem Bett unentdeckt. Iwein beobachtet nun aus seiner Kammer heraus, wie die Burgherrin Laudine ihren toten Ehemann beweint und verfällt in Minne zu ihr. Als der Leichnam Askalons an ihm (durch die Kammer, die nun wieder Durchgangsraum zum Palas ist) vorbeigetragen wird, brechen die Wunden des Toten wieder auf, was Iweins Anwesenheit verrät. Wieder wird die Kammer gestürmt und durchsucht – diesmal wird sogar das Bett, auf dem Iwein liegt, mit Schwertern zerfetzt, ohne dass dieser allerdings zu Schaden kommt. Askalon wird schließlich begraben, und Iwein hört die Klagen der Burgbewohner „sam er under in wære“ (V 1430; „als ob er mitten unter ihnen wäre“). Er klagt Lunete, dass er die Trauernden nur hören und nicht auch sehen könne, und diese öffnet ein Fenster über ihm (vgl. V 1450), so dass er nun Laudine auch betrachten kann. Iwein will aus der Tür eilen, doch Lunete hält ihn zurück (vgl. V 1479). So beobachtet er die trauernde Laudine weiter, die schließlich durch seine Kammer direkt an ihm vorbei zurück in die Burg geht (vgl. VV 1700ff.). Die Tore werden verschlossen, doch der Erzähler betont, dass Iwein auch geblieben wäre, wenn sie beide weit geöffnet gewesen wären (vgl. VV 1710ff.). Im Folgenden vermittelt Lunete zwischen Iwein im ‚Torverlies‘ und Laudine in der Burg, bis Iwein schließlich von Lunete zu einer Unterredung geladen wird. Iwein „stuont […] ûf und gie dan / mit vreuden als ein sælec man“ (VV 2245f.; „stand auf und ging freudig weg wie ein glücklicher Mensch“). Das ‚Torverlies‘ taucht danach im Text nicht mehr auf.
6 Soweit nicht anders ausgewiesen, handelt es sich um eigene Übersetzungen.
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Vor allem bei der älteren Forschung hat diese Inszenierung des ‚Torverlieses‘ für nachhaltige Irritation gesorgt, da die unterschiedlichen Informationen über die Gestalt des Raumes inkohärent zu sein scheinen: Besitzt der Raum nun weder Tür noch Fenster, die Iwein zunächst vergeblich sucht, oder hat er lediglich eine Tür, durch die Lunete eintritt, oder besitzt er darüber hinaus auch ein Fenster, durch das Iwein Laudine beobachten kann? Und welche Räume der Burg verbindet bzw. trennt das ‚Torverlies‘, durch das der Trauerzug geführt wird? Für einen Raumbegriff, der Raum und Zeit als vorgegebenes Kontinuum ansieht, ist diese Schilderung des ‚Torverlieses‘ in der Tat eine Zumutung, die die ältere Forschung automatisch mit der Frage nach der Qualität der Dichtung verknüpft hat. Exemplarisch für diese Herangehensweise der älteren Forschung ist die Auseinandersetzung zwischen Rudolf Zenker und Hermann Schneider über das ‚Torverlies‘ in der kymrischen, französischen und deutschen Fassung des Stoffes: Auf Basis eines Vergleichs mit mittelalterlichen Burganlagen weist Zenker „die völlige unmöglichkeit der einer deutlichen anschauung entbehrenden localschilderung“7 bei Chrétien und Hartmann nach und kommt zu dem Fazit, dass „es ganz unglaublich [sei], dass man durch einen solchen saal, der nach Chr. auch als schlafraum verwendet wurde, den reit- und fahrweg hindurchgelegt haben sollte, und dass er als einziger eingang gedient haben sollte für alle welche in die innenburg bezw. in den hof des palasgebäudes gelangen wollten“.8 Grundsätzlich ist diese Herangehensweise und das Fazit einer architektonischen Unmöglichkeit auch für Schneider unstrittig, der Unterschied zwischen beiden Kontrahenten besteht lediglich in der Stellung zu der Frage nach dem „Original“ der unterschiedlichen Textfassungen: Während Schneider die architektonischen Unstimmigkeiten dem Märchencharakter der Szene zuschreibt, um damit an der Originalität Chrétiens festzuhalten, postuliert Zenker, dass die Darstellung im kymrischen Mabinogi „gegenüber der unverständlichen darstellung Chr.s und H.s vollkommen sachgemäß und verständlich“9 sei und sie deswegen dem „Original“ weitaus näher stünde; bei Chrétien setze eine Textverderbnis ein, die in Nachfolge Hartmann übernehme. Die Raumbetrachtung sowohl bei Zenker als auch bei Schneider (und stellvertretend für die gesamte ältere Forschung) setzt hier einen physischen Raumbegriff an, der Raum als eine statische Ordnungskategorie a priori im Sinne Descartes’ und Kants begreift:10 Realer Raum 7 Zenker 1925, S. 52. 8 Zenker 1925, S. 56. 9 Zenker 1925, S. 52. 10 René Descartes’ Raumbegriff ist für das Denken der Moderne grundlegend, da er in Unterscheidung von res cogitans und res extensa den für die antiken und mittelalterlichen Raumvorstellungen zentralen Gott „als die Ursache aller Naturvorgänge hinein in den Denkinnenraum [holt], wo dieser zunächst nur eine Vorstellung neben anderen ist“ (Günzel 2006, S. 22). In Folge postuliert Descartes, dass „die Natur der Materie, bzw. die Natur der im Universum vorfindlichen Körper […] ein in Länge, Breite und Tiefe ausgedehntes Ding ist“ (Descartes 2006, S. 44) und begreift damit Raum konsequent als physikalisch messbares Volumen, in Ausblendung aller anderen möglichen Raumkonstituenten. Das moderne Verständnis des cartesianischen Raumes ist darüber hinaus entscheidend von Immanuel Kant geprägt, der den Raum in seiner Kritik der reinen Vernunft in einer metaphysischen Erörterung als schlechthin vorgegeben begreift: „Der
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beansprucht absolute Kontinuität, wie sie Zenker im Übereinanderlegen der unterschiedlichen Raumschilderungen zu unterschiedlichen Zeiten der erzählten Zeit herzustellen versucht; im Scheitern dieses Versuchs diagnostiziert er Textverderbnis und nicht etwa eine fragwürdige Methode. Als ästhetisches Pendant zu dieser ahistorischen Rückprojektion eines modernen physikalischen Weltbildes projiziert die mediävistische Forschung bereits seit dem 19. Jahrhundert und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein den romantischen Landschaftsbegriff auf die mittelalterlichen Texte, deren Raumbeschreibungen unter dieser Perspektive als unästhetisch (Julius Böheim, Lina Kirchenbauer, Jean Isabel Hamilton und – noch 1958 – Manfred Gsteiger) oder doch zumindest als gewollt topisch (Hennig Brinkmann, Ernst Robert Curtius) interpretiert werden.11
Die mediävistische Forschung erkennt etwa seit den 1950er Jahren das Ansetzen eines neuzeitlichen Raumbegriffes an mittelalterliche Philosophie und Literatur als Sackgasse und hat alternative Modelle entwickelt, die einer mittelalterlichen Raumwahrnehmung Rechnung tragen.12 Vor allem die Beziehung von Person und Raum – operationalisiert über die Bewegung bzw. die Handlung des Helden – steht dabei im Mittelpunkt des Interesses. Die Arbeiten von Rainer Gruenter und Erwin Kobel können als direkte Reaktionen auf die Rückprojektionen moderner physikalischer und romantischer Raumvorstellungen verstanden werden: Rainer Gruenter kritisiert 1953 die romantische Verwendung des Landschaftsbegriffs,13 Erwin Kobel fordert im selben Jahr eine Distanzierung von einem mathematisch-physikalischen Raumbegriff und erarbeitet unter dem Dachbegriff des „gestimmten Raumes“ eine gattungstypologische Unterscheidung: Die Heldenepik präsentiere eine Räumlichkeit des bedrängten und Raum ist kein empirischer Begriff, der von äußeren Erfahrungen abgezogen worden. […] Der Raum ist eine nothwendige Vorstellung a priori, die allen äußeren Anschauungen zum Grunde liegt. […] Der Raum ist kein discursiver oder, wie man sagt, allgemeiner Begriff von Verhältnissen der Dinge überhaupt, sondern eine reine Anschauung. […] Der Raum wird als eine unendliche gegebene Größe vorgestellt“ (Kant 1995, S. 74f., Hervorhebungen durch Kant). Wenn im Folgenden vom cartesianischen Raumbegriff die Rede ist, so ist diese Zuspitzung Kants mit gemeint. 11 Vgl. Glaser 2004, S. 29‒35. 12 Eine klare und systematische Untersuchung moderner Räumlichkeit in ihrer literarischen Verwendung liegt mit der Dissertation Katrin Dennerleins, Narratologie des Raumes, vor (vgl. Dennerlein 2009). Dennerlein orientiert sich für ihren Gegenstandsbereich zu Recht an einem rezent-alltäglichen, cartesianischen Raumbegriff: „Der Raum ist ein wahrnehmungsunabhängig existierender Container mit Unterscheidung von innen und außen“ (Dennerlein 2009, S. 239). Für die literarische Verwendung des Raumes setzt sie die abstrakte Größe eines Modell-Lesers an, dessen Alltagserfahrung die Wahrnehmung auch von Räumen bestimmt. Sowohl diese Größe als auch der angesetzte cartesianische Raumbegriff allerdings verorten Dennerleins Überlegungen klar in der (jüngeren) Neuzeit und lassen eine Übertragung auf mittelalterliche Literatur als unfruchtbar erscheinen, ungeachtet der Qualität ihrer Ausführungen in Hinsicht auf moderne Literatur. 13 Vgl. Gruenter 1953, S. 114f.
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drängenden Daseins, Minnesang und Höfischer Roman eine Räumlichkeit des geläuterten Daseins und Mystik eine Räumlichkeit des innerlichen Daseins.14 Infolge dieses Paradigmenwechsels15 entstehen zwischen 1959 und 1979 sechs Monographien, die sich dem literarischen Raum der höfischen Epik über Bewegung (Diether Röth, Ingrid Hahn, Uwe Ruberg, Francis E. Keefes, Ernst Trachsler) bzw. Handlung (Joachim Schröder) des Personals annähern. Diether Röth setzt in seiner 1959 erschienenen Dissertation Dargestellte Wirklichkeit im frühneuhochdeutschen Prosaroman. Die Natur und ihre Verwendung im epischen Gefüge den Begriff der „durchwanderten Landschaft“ zentral und macht damit auf die fundamentale Bedeutung der Bewegung für mittelalterliche Raumvorstellung aufmerksam: Raum entsteht letztlich erst in und mit der Bewegung des Ritters. Eingebettet ist dieser Raumbegriff bei Röth in eine Wirklichkeitsdebatte: Die oft spärlichen und typenhaften „Schilderungen der Umwelt“ seien Folge der alteritären mittelalterlichen Wirklichkeitsauffassung. „Solange das Mittelalter noch unter dem Supremat eines ausschließlich geistlichen Weltbildes steht, kann ihm das sinnenhafte Erfaßbare, daher dem subjektiven Eindruck Unterworfene, nicht das eigentlich Wirkliche sein“.16 „Wirklicher Raum“17 entstehe erst durch die Verbindung von erzählter Zeit und der Bewegung des Helden. Die Bedeutung, die Röth der Bewegung des Helden beimisst, fußt damit letztlich auf einer mittlerweile überholten Sichtweise des Mittelalters als einer Epoche, die gänzlich von einem bestimmten christlich-geistlichen Weltbild beherrscht gewesen wäre, von der sich die höfische Kultur erst mühsam emanzipiert habe. Fragwürdig bleibt aber gerade auf dieser Basis die Qualifizierung des durchwanderten Raumes als wirklicher Raum gegenüber den topischen Idealräumen als unwirkliche Räume – folgt man Röth, so wären ja nach mittelalterlicher Auffassung gerade diese Räume wirklich. Der Ansatz über den Wirklichkeitsbegriff kann damit gerade in seiner angestrebten Historisierung nicht überzeugen. Besonders einflussreich ist die 1963 erschienene Dissertation Raum und Landschaft in Gottfrieds ‚Tristan‘ von Ingrid Hahn: Auch sie erachtet die Bewegung des Personals als zentrales Raumkonstituens eines im Übrigen ganz physisch begriffenen Raumes: „Wir beschäftigen uns hier ausschließlich mit dem äußeren, ‚tatsächlich‘ gegebenen Raum, der sich in der Horizontalen und Vertikalen konstituiert und die Dimension der Tiefe auf eine irgendwie geartete Weise in sich enthält. Wenn sich dabei ebenfalls ergibt, daß dieser äußere Raum nicht objektiv ist, sondern als
14 Vgl. Kobel 1951, S. 17‒20; 149‒152. 15 Einzig die Dissertation von Hiltrud Katharina Knoll, Studien zur realen und außerrealen Welt im deutschen Artusroman (Erec, Iwein, Lanzelet, Wigalois) von 1966, stellt hier eine grundsätzliche Ausnahme dar. Ohne Orientierung an dem Zusammenhang zwischen Mensch und Raum untersucht Knoll mit einem gänzlich dem cartesianischen Denken verpflichteten Raumund Wirklichkeitsbegriff die mittelalterlichen Texte, wobei sie ihre ahistorische Vorgehensweise selbst disqualifizierend auf den Punkt bringt: „Zur Klärung der in der Arbeit gebrauchten Ausdrücke ‚real‘ und ‚wunderbar‘ sei gesagt, daß beide Begriffe ohne Rücksicht auf die mittelalterliche Auslegung definiert wurden. Unter Realität sollen die sinnlich wahrnehmbaren und erkennbaren Dinge sowie die natürlich erklärbaren Ereignisse verstanden werden“ (Knoll 1966, S. 7). Folgerichtig weiß Knoll auch in Bezug auf das ‚Torverlies‘ im Iwein nichts Neues beizutragen und erzählt lediglich die Ausführungen Zenkers im Ton der Verwunderung über die „höchst unverständlich[e]“ Schilderung Hartmanns nach (vgl. Knoll 1966, S. 109‒111). 16 Röth 1959, S. 25. 17 Röth 1959, S. 212.
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Funktion der Person erst entsteht, so stoßen wir damit auf die anthropologische Wurzel. Diese aber heißt nicht ‚Gestimmtheit‘ [gegen Kobel], sondern ist ‚Bewegung‘ als adäquater Ausdruck einer Seinsweise, die sich nicht nach innen ausmißt, sondern in der Welt er-fährt“.18 Hahn differenziert mit Wald, Meer und schöner Naturort drei Großtypen von Landschaftselementen, die nicht zuletzt durch Stimmung gekennzeichnet sind. Die Dissertationen von Uwe Ruberg (Raum und Zeit im deutschen ‚Prosa-Lanzelot‘, 1965) und Francis E. Keefes (Landschaft und Raum in der ‚Crône‘ Heinrichs von dem Türlin, 1982) orientieren sich erweiternd an dieser Differenzierung Hahns.19 Ernst Trachsler fasst in seiner 1979 erschienenen Dissertation Der Weg im mittelhochdeutschen Artusroman: Untersuchung des symbolischen Gehaltes der Wegedarstellungen die Abkehr von einem cartesianischen Kontinuum (allerdings lediglich auf den Artusroman bezogen) zusammen und stellt erneut die Diskontinuität des in der dynamischen Bewegung des Ritters entstehenden Raumes in den Mittelpunkt: „Entscheidend ist die Tatsache, daß der Artusroman kein eigenständiges ‚Raumkontinuum‘ aufweist. Ein vorgegebenes Raumkontinuum, in dem sich die Handlung entfaltet, gibt es beispielsweise im Nibelungenlied, aber auch in Dantes ‚Comedia‘ […]. Im Artusroman ist der Raum eine Funktion der Handlung bzw. der handelnden Personen. Es ist die Bewegung des reitenden Helden, die den Raum konstituiert“.20 Joachim Schröder ersetzt in seiner 1972 erschienenen Dissertation Zur Darstellung und Funktion der Schauplätze in den Artusromanen Hartmanns von Aue den doch recht spezifischen Begriff der Bewegung durch den allgemeineren Begriff der Handlung: Raum entsteht als Schauplatz in der Handlung des Personals und dient ausschließlich dem Handlungsfortgang, was die spezifische Raumdynamik mittelalterlichen Erzählens erklärt. Dieses Theorem wendet Schröder auch auf das ‚Torverlies‘ im Iwein an, das er als Beispiel dafür anführt, dass „Schauplatzdetails, die in einer bestimmten Situation gar nicht vorhanden sein dürften, später einfach eingeführt werden, wenn sie gebraucht werden“.21 Zunächst „erfordert die Handlung, daß kein Fenster und keine Tür vorhanden sind“, um den Raum als Gefängnis zu zeichnen, später aber „muß Hartmann Tür und Fenster erwähnen, weil sie für die Handlung benötigt werden: Lunete braucht einen Zugang zu Iweins Gefängnis, und Iwein braucht ein Fenster, um Laudine beobachten zu können“.22 Zusammenfassend kommt er zu folgendem Fazit: „So wie die Details, so verändert Hartmann auch die Vorstellungen von dem Raum, in dem Iwein sich befindet, je nach Bedarf der Handlung. Von einer durchgängigen Folgerichtigkeit darf man also nicht ausgehen. Hartmann richtet seine Aufmerksamkeit offensichtlich weniger auf eine widerspruchsfreie Darstellung als auf die im Zuge der Handlung notwendigen oder nicht notwendigen Details“.23 Problematisch sind an Schröders Ansatz vor allem zwei Aspekte: Zum einen erklärt der Verweis auf die Handlung, der die Raumdarstellung dient, letztendlich nichts; wie bereits die ältere Forschung im Vergleich der unterschiedlichen Fassungen des Stoffes gezeigt hat, kann die Geschichte auch anders, „störungsfrei“, erzählt werden; damit bleibt die Frage, warum Hartmann hier Chrétien folgt und einen dynamischen Raum zeichnet. Vornehmlicher Unterschied zur älteren Forschung bleibt damit, dass die Störung des cartesianischen Raumes bei Hartmann nicht mehr negativ
18 Hahn 1963, S. 9, Hervorhebung und Trennung durch Hahn. 19 Vgl. Keefe 1982, S. 3f.; Ruberg 1965, S. 15; 102‒104. 20 Trachsler 1979, S. 137, Hervorhebung durch Trachsler. 21 Schröder 1972, S. 116f. 22 Schröder 1972, S. 118. 23 Schröder 1972, S. 120.
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bewertet wird – einen positiven Sinn bleibt aber auch der Verweis auf die Handlungsnotwendigkeit schuldig. Zum anderen ist bei Schröder implizit der statische, cartesianische Kosmos nach wie vor der Orientierungsmaßstab, auf dessen Basis „durchgängige Folgerichtigkeit“ und „widerspruchsfreie Darstellung“ als Kriterien an die mittelalterliche Literatur angesetzt werden, die diese allerdings nicht erfüllen kann.
Freilich bleibt das Interesse, das die Mediävistik mittelalterlichen Raumvorstellungen entgegenbringt, bis in die 1990er Jahre hinein beschränkt.24 Dieses Desinteresse stützt sich dabei gerade auf die erkannte Alterität mittelalterlicher Raumvorstellung, die zu dem Vorurteil verkrustet, „es gäbe in der narrativen Literatur wie auch in der Kunst des Mittelalters keinerlei räumliche Perspektive, die Raumdarstellung sei deshalb flächig bzw. zweidimensional.“25 Hervorzuheben sind in der jüngsten Forschung zum Raum in mittelhochdeutscher Epik vor allem die Publikationen von Hartmut Beck, Jan A. Aertsen/ Andreas Speer, Andrea Glaser und Uta Störmer-Caysa.26 Hartmut Beck greift in seiner 1994 erschienenen Dissertation Raum und Bewegung. Untersuchungen zu Richtungskonstruktion und vorgestellter Bewegung in der Sprache Wolframs von Eschenbach die vorausgehenden Ansätze einer Orientierung des Raumbegriffs am handelnden und sich bewegenden Helden auf und führt sie zu einem vorläufigen Ende. Dabei macht Beck eine folgenschwere Setzung: „Die Rede vom Raum sollte dort beginnen, wo er im philosophischen Nachdenken seinem Wesen nach angesiedelt ist: beim Verhältnis von Subjekt und Objekt“.27 Der auf dieser Basis entworfene Raumbegriff orientiert sich an Leibniz und dessen Entwurf eines relationalen Raumes in Abgrenzung zu Newtons absolutem Raum: „Raum soll als Medium begriffen werden, in dem sich Subjekt und Objekt treffen, dem sie beide unterworfen sind
24 Vgl. Aertsen 1998, S. VII. 25 Glaser 2004, S. 16. 26 Eine Diskussion der in der jüngsten mediävistischen Forschung erschienenen Arbeiten zum virtuellen Raum erfolgt im nächsten Kapitel. Nur am Rande erwähnt sei die 1994 erschienene Dissertation Symbolische Raumorientierung und kulturelle Identität. Leitlinien der Entwicklung in erzählenden Texten vom Mittelalter bis zur Neuzeit von Andreas Ramin, die einen Entwicklungsweg literarischer Räume vom Hochmittelalter bis zur Gegenwart nachzuzeichnen versucht; Ramin setzt dabei die Unterscheidung zwischen realem Raum und kognitiven Raum an, wobei er ersteren – trotz aller Beteuerungen, an neuesten Forschungsparadigmen anzusetzen – in Zitation einer Veröffentlichung aus dem Jahr 1950 durch vier Aspekte bestimmt, die deutlich cartesianisch orientiert sind: „1. Es gibt nur einen realen Raum. 2. Der reale Raum ist dreidimensional aufgebaut. 3. Der reale Raum an und für sich ist homogen. […] 4. Menschliche Kulturarbeit verändert den realen Raum“ (Ramin 1994, S. 10). Dass eine solche Herangehensweise mittelalterlichen Raumkonzepten nicht gerecht werden kann, hat bereits die mediävistische Forschung der 1950er Jahre festgestellt. 27 Beck 1994, S. 10.
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und wo sie sich gegenseitig in ihrem unterschiedlichen Sein verflechten: als strukturierendes Erkenntnisvermögen und als Weise sinnlich da zu sein. Raum ist nicht nur das Nebeneinander der Dinge, sondern die Ordnung dieses Nebeneinander – er ist immer Konstruktion“.28 Der Aspekt des Relationalen ist für das Mittelalter durchaus anschlussfähig und wird auch hier vertreten, doch gerade die Subjekt-Objekt-Trennung ist für mittelalterliches Denken nicht selbstverständlich anzusetzen; dies wäre beispielsweise mit den vielen sprachlichen Eigenheiten des Mittelhochdeutschen zu belegen, die sich einer eindeutigen Subjekt-Objekt-Einordnung entziehen. Beck betont zu Recht die Inhomogenität des ästhetischen Raumes,29 doch er nimmt mit der ausschließlichen Orientierung an „jene ursprünglichen Raum- und Richtungsmerkmale, die im sprachlichen Gestus allein dem Subjekt entspringen“30 (hier, da, dort) diese Inhomogenität und Vielfalt wieder zurück zugunsten einer Raumvorstellung, die gleichsam den cartesianischen Raum an das sich bewegende Subjekt – mehr noch: an den einen Helden des Textes – bindet und Raum tendenziell wieder auf physische Größen reduziert.
Bei dem von Jan A. Aertsen und Andreas Speer 1998 herausgegebenen Sammelband Raum und Raumvorstellungen im Mittelalter handelt es sich um die Veröffentlichung der Beiträge zur 30. Kölner Mediävistentagung von 1996. Der Sammelband setzt selbst keinen Raumbegriff als Leitbegriff dominant, sondern dient mit der Differenzierung des Problemfeldes Raum in die Bereiche Semantik, Naturphilosophie, Ontologie, Theologie und Philosophie der systematischen Entfaltung des Themas. Bei dieser gewollten Fokussierung auf die (im weiten Sinne) philosophische Dimension der mittelalterlichen Raumdiskussion nimmt es nicht Wunder, dass Untersuchungen zum Erzählen von Räumen denkbar kurz kommen (die notwendigerweise divergenten Überlegungen sollen im Hauptteil dieser Arbeit jeweils vor Ort diskutiert werden). Die Anlage des Sammelbandes legt überdies den problematischen Rückschluss von erzählten Räumen auf eine historische Wahrnehmung nahe.
Andrea Glaser stellt in ihrer 2004 erschienenen Dissertation Der Held und sein Raum. Die Konstruktion der erzählten Welt im mittelhochdeutschen Artusroman des 12. und 13. Jahrhunderts die grundsätzliche Frage: „Mit welchen sprachlichen Mitteln gelingt es den Dichtern, dass in der Fantasie des Rezipienten räumliche Vorstellungen entstehen?“.31 Glaser operationalisiert diesen kaum zu fassenden Vorstellungsbereich historischer Rezipienten über „Konstituenten und Strukturen, die in den markanten Raumvorstellungen der Artusromane immer 28 Beck 1994, S. 12. 29 Vgl. Beck 1994, S. 13f. 30 Beck 1994, S. 20. 31 Glaser 2004, S. 19. Einen ähnlichen, ganz auf den imaginären Raum konzentrierten Raumbegriff legt Staubach 2007 an, ohne dass dieser sich freilich durch den gesamten Sammelband kohärent durchziehen würde.
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wiederkehren“.32 Dabei unterscheidet sie – wieder in grundsätzlicher Koppelung von Raum und der Bewegung des Helden – zwei grundlegende Strukturen, nämlich Schwellenräume und Bewegungsräume, wobei in beiden Raumarten das Prinzip des Ordnungsraumes erkennbar sei.33 Ordnung entpuppt sich als Zentralbegriff bei Glaser, so dass sie diesen als allgemeinen Raumbegriff verwendet, der nur zwischenzeitig durch „Verrätselungen und semantische Verunsicherungen“34 in Frage gestellt wird, die vor allem den Schwellenraum auszeichnen. Diesen definiert Glaser als Wechsel von der Sphäre des Artushofes in „Gegenwelten […,] Sphären, in denen die Naturgesetze zumindest teilweise außer Kraft gesetzt sind“.35 Spätestens hier wird deutlich, dass Glaser letztlich immer noch mit einem neuzeitlichen Realitäts- und in Folge auch Raumbegriff operiert, vor dessen Folie alle Abweichungen als intendierte (und von einem mittelalterlichen Publikum wahrgenommene) Irritationen einer Normalität lesbar werden. Die daraus resultierende Gefahr einer falschen Schwerpunktsetzung wird gerade in Bezug auf die Torverliesszenerie im Iwein deutlich: Zwar behandelt Glaser das ‚Torverlies‘ selbst nicht, sie interpretiert aber den Brunnen als zentralen Schwellenraum, durch den Iwein in das Reich der „rätselhaften Herrin des Brunnens“36 gelangt; in einer merkwürdigen und sehr assoziativen Parallelisierung von Außenraum und (ahistorisch medizinisch verstandenem) psychischem Innenraum vergleicht sie den Zauberbrunnen mit Iweins Wahnsinn: „Während Hartmann am Brunnen eine Natur vorführt, die sich selbst zerstört, wird sich später in Iweins Gehirn ein – mikrokosmisches – ‚Gewitter‘ entwickeln, das für Iwein ähnlich selbstzerstörerische Folgen haben wird, wie es das Unwetter am Brunnen für die Natur hat“.37 Problematisch an dieser Lesart des Brunnenraums als „die wichtigste Raumvorstellung im ganzen ‚Iwein‘“38 ist, dass über ihn keineswegs ein Wechsel zwischen Artusraum und Andersraum erfolgt: Iwein kommt nach dem Brunnenabenteuer eben nicht schlicht im Laudinehof an, sondern vollzieht einen weiteren – und um einiges aufsehenserregenderen – Schwellenwechsel in die Unsichtbarkeit. Rätselhaft ist hierbei vor allem Iwein selbst (etwa für die suchenden Burgbewohner), vielleicht noch Lunete, nicht aber die topisch trauernde Witwe, die aber ursprünglich zu dem angeblich rätselhaften Raum gehört, zu dem die Quelle als Schwelle fungiere. Die Dominantsetzung des Schwellenraumes Quelle erscheint damit einigermaßen willkürlich (wieso sollte das Unwetter den – der Diskussion halber – angesetzten Naturgesetzen mehr trotzen als die Unsichtbarkeit Iweins?), was
32 Glaser 2004, S. 19. 33 Glaser 2004, S. 19. Auch die jüngst erschienene Dissertation von Kai Tino Lorenz, Raumstrukturen einer epischen Welt, stellt den Schwellenraum zentral, erweitert diesen Ansatz jedoch mit einer starken Orientierung an Victor Turner durch den heuristischen Begriff des Transitraumes. Lorenz konzentriert sich dabei wieder auf den Zusammenhang zwischen erzähltem Raum und Protagonisten: „Die strukturelle Analyse des Lanzelet geht von der Beziehung der Räume zur einzigen Konstante der Figurenebene aus – dem Protagonisten.“ (Lorenz 2009, S. 57). Zur Kritik an der Zentralisierung des Protagonisten vgl. unten. 34 Glaser 2004, S. 291. 35 Glaser 2004, S. 49. 36 Glaser 2004, S. 211. 37 Glaser 2004, S. 210. 38 Glaser 2004, S. 211.
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letztlich auf der Zentralsetzung des (naturwissenschaftlich definierten) Ordnungsraumes und in Folge der forcierten Auffälligkeit jeder Abweichung von diesem beruht.
Ausgehend von Michail Bachtins Begriff des Chronotopos untersucht Uta Störmer-Caysa in ihrer 2007 erschienenen Monographie Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman den Zusammenhang von Raum- und Zeitwahrnehmung in Philosophie und erzählender Literatur des Mittelalters. Fundierend auf der mittelalterlichen Rezeption von Augustinus und (erst später) Aristoteles arbeitet Störmer-Caysa zentrale Denkprobleme von Raum und Zeit heraus, allen voran das Kontinuitätsproblem, das am Wesen Gottes diskutiert wird. Die philosophische Raumdiskussion sucht Störmer-Caysa auch in der Romanliteratur des Hochmittelalters, wobei sie ebenfalls dem Paradigma der Orientierung des literarischen Raumes an der Bewegung des Helden folgt. Diese Interferenz zwischen theoretischem Denken und Literatur ist für Störmer-Caysa grundsätzliches Programm: „Wie Bachtin auf das Raumzeitproblem durch Einstein aufmerksam geworden ist und Goethe in den ‚Wahlverwandtschaften‘ naturwissenschaftliches Wissen verarbeitet, umgekehrt aber die Theorie der möglichen Welten eine Systematisierung von Dichterphantasien ist und die Urknalltheorie eine mythische Erzählung, so darf man annehmen, daß auch Erzähler früherer Epochen im Problemhorizont ihrer Zeit dichteten und daß umgekehrt Theoretiker von ihnen Welterklärungen und Konfliktherleitungen aufnahmen, an deren phantastischen Hypothesen sie sich abarbeiten konnten“.39 Für den Bereich des Raumes stellt Störmer-Caysa die Antikenrezeption des 12. und 13. Jahrhunderts wie folgt dar: Die im 12. Jahrhundert rezipierten Ausführungen von Platon zum Raum (chora) beschreiben diesen als ideelle Stelle für das Nichtsein, an dem Werden entsteht. Der Raum ist ewig und sinnlich nicht wahrnehmbar. Dies wird er erst, wenn er sich mit den Gestaltungen der Erde affiziert.40 Für Aristoteles dagegen ist Raum „immer gefüllter Raum, weshalb der Begriff der Grenze […] fest zu dem des Raumes gehört“.41 Auf diese unterschiedlichen Raumbegriffe aufbauend ergibt sich für das mittelalterliche Denken das zentrale Problem der Kontinuität: „Vom sich bewegenden Menschen aus läuft die Frage nach der Kontinuität des Raumes auf ein ähnliches Subjektivitätsproblem hinaus, wie die Augustinische Zeitauffassung es stellt: Gibt es Raum nur entlang der Bewegung der Körper, wo Lage sich ändert und erfahren wird, oder darf Raum auch noch in sehr weiter Entfernung – und wie weit eigentlich, ohne in das Leere zu münden? – von jedem Körper und jedem sich bewegenden Menschen angenommen werden?“42 Dieses Kontinuitätsproblem verschärft sich mit der Rezeption der aristotelischen Physik seit dem ersten Drittel des 13. Jahrhunderts noch, da hier das räumliche Kontinuum auf die Beziehung zwischen seienden Dingen (in mittelalterlicher Lesart: der Schöpfung) beschränkt wird, was Gott und die Engel raumlos machen würde.43
39 Störmer-Caysa 2007, S. 2f. 40 Vgl. Störmer-Caysa 2007, S. 23. 41 Störmer-Caysa 2007, S. 25. 42 Störmer-Caysa 2007, S. 28. 43 Störmer-Caysa 2007, S. 29.
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Dieses philosophisch-theologische Kontinuitätsproblem erkennt Störmer-Caysa auch in der epischen Literatur: „Hatten mittelalterliche Denker in ihrem Aristotelesverständnis die Möglichkeit eines für sich bestehenden Raumes angezweifelt, so setzt die Raumregie mittelalterlicher Romane keine objektive Landschaft voraus, und wo niemand ist, von dem erzählt wird, gibt es auch keine fiktionale Welt“.44 Diese Parallelisierung Störmer-Caysas ist freilich nicht unproblematisch: Das Kontinuitätsproblem wird im Bereich der mittelalterlichen Theologie heiß diskutiert, im Bereich der mittelalterlichen Epik ist es aber schlicht nicht vorhanden. Es ergibt sich hier erst als Problem, wenn man als Rezipient ein statisches Raumkontinuum erwartet, wenn also ein cartesianischer Raum angesetzt wird. Das Kontinuitätsproblem stellt sich für die theoretische Diskussion des Mittelalters in Bezug auf das Wesen Gottes, nicht aber in Bezug auf seine Schöpfung. Da sich die laikale Literatur des Mittelalters aber mit der Schöpfung beschäftigt und nicht das Wesen Gottes diskutiert, ergibt sich hier auch kein Kontinuitätsproblem. StörmerCaysa bleibt damit trotz der intensiven Auseinandersetzung mit mittelalterlicher Raumphilosophie gerade in der Anwendung auf Literatur dem cartesianischen Kosmos verpflichtet. Folglich geht auch Störmer-Caysas vorausgehende Interpretation des ‚Torverlieses‘ im Iwein nicht wesentlich über die vorherigen Interpretationen hinaus: Auch sie schildert zunächst die Diskontinuitäten der räumlichen Beschreibung (wie bereits Zenker im Übereinanderlegen der unterschiedlichen Raumschilderungen zu unterschiedlichen Zeiten der erzählten Zeit) und kommt in Anlehnung an Schröder zu dem Fazit: „Hier […] schnellen Raumelemente bei Bedarf plötzlich aus dem Text. Es sind die wichtigen Figuren, die diese Art der räumlichen Knospung anregen: Iweins Bewegungen bringen in der betrachteten Szene Raumelemente hervor, die Lunetes möglicherweise auch […], die der suchenden Burgbewohner keineswegs. In der Zuweisung von raumschaffenden Potenzen liegt offenbar ein Urteil des Textes über die Wichtigkeit seiner Protagonisten“.45 Tatsächlich neu ist hier lediglich die letzte Aussage, und sie ist letztlich zirkulär, da Störmer-Caysa (wie auch ihre Vorgänger) den Raum der Erzählung durchweg aus der Perspektive eben der Protagonisten beschreibt.
Stark vereinfacht formuliert löst die literaturwissenschaftliche Forschung der Mediävistik also in den 1950er Jahren einen Raumbegriff, der sich am cartesianischen Kontinuum orientiert, ab durch einen Raumbegriff, der sich am Leib des Helden orientiert. Dieser Schritt hin zu einer geistesgeschichtlich adäquateren Einordnung mittelalterlicher literarischer Raumkonzeptionen ist in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzen, er geht jedoch meines Erachtens noch nicht weit genug.
44 Störmer-Caysa 2007, S. 76. 45 Störmer-Caysa 2007, S. 71.
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Das Zielen auf den einen, allgemeingültigen Raumbegriff46 ist noch keine wirkliche Ablösung vom cartesianischen Denken;47 gerade die neue Orientierung am Helden bewahrt letztlich den cartesianischen Raum, indem sie ihn schlicht an das sich bewegende Subjekt bindet, das ihn gleichsam als statisches Ganzes mit sich trägt. Sei es über Handlung oder Bewegung, immer ist es der eine Held, dessen Beobachterposition absolut gesetzt wird, so dass die neue Dynamik des mediävistischen Raumbegriffs relativ zum immer zentralen, sich bewegenden Helden wieder statisch wird, analog zur Räumlichkeit von Computerspielen in der first-person view, die trotz ihrer offensichtlichen Dynamik durch die Bindung an einen einzigen Avatar letztendlich einen statischen, cartesianischen Raum aufbaut. Effekt dieser wie selbstverständlichen Verabsolutierung des einen Beobachterstandpunktes ist, dass nach wie vor die von einer eindeutigen Raumkonzeption abweichenden Textindizien tendenziell als Störung wahrgenommen werden (lediglich nicht mehr als Indiz schlechter Literatur, wie in der älteren Forschung), was jedoch für eine historische Literaturrezeption zu bezweifeln ist: Das Ringen um den einen, eindeutigen Raumbegriff ist der mittelalterlichen Metaphysik vorbehalten und hat das Wesen Gottes zum Gegenstand der Betrachtung, es liegt nicht im Interesse der laikalen Literatur, die alle Freiheiten der Erzählung genießt (gegen Aertsen/Speer und Störmer-Caysa):48 In rezenten Kinderer46 Am deutlichsten kommt diese Tendenz zu Vereindeutigung und Verallgemeinerung eines einzigen Raumbegriffes bei Beck zum Ausdruck: „Räumlichkeit entsteht durch diese einfachen Strukturen [deiktische Angaben wie hier, da, dort] auch in der Literatur und nicht dadurch, daß ein Leser sie empfindet oder die Beschreibungskunst des Dichters ihn einen Gegenstand räumlich vorstellen läßt […]: all dies ist zurückführbar auf die spezifische Räumlichkeitsvorstellung des Dichters, die wir gleichzeitig als Weltentwurf verstehen wollen und die faßbar wird in den einfachen Beziehungen eines Ordnungsraumes“ (Beck 1994, S. 19). 47 Der neuzeitliche Raumbegriff schlägt sich darüber hinaus auch noch in der tendenziellen Dominantsetzung physisch messbarer Größen der Raumkonstitution nieder; andere raumkonstituierende Größen – etwa soziale Semantik von Räumen – werden dabei oft marginalisiert. 48 Hubertus Fischer betont zu Recht gerade den Unterschied literarischer Raumkonzepte zu realgesellschaftlichen Vorlagen: „Wie das Artusepos durchgängig erkennen läßt, ist seine Grundstruktur die nach außen ‚abgelenkte‘ persönliche Gewalt, wodurch erst der Hof als Friedensbezirk gesichert erscheint. Und dort im Außen […] findet das gesellschaftliche Bewußtsein den Raum für die poetische Vorstellung, in dem es sich mit dem abenteuernden Helden ebenso unbeschränkt ergehen lassen kann. Hier öffnet sich der Vorstellung die Welt als eine endlos fortfließende Zufälligkeit, in der sich die individuelle Selbständigkeit frei entfalten kann. Allein, die Tatsache, daß in die absolute Realitätsferne ausgewichen werden muß, um überhaupt dem Helden Raum geben zu können, diese Selbständigkeit zu verwirklichen, ist schon ein deutliches Zeichen dafür, wie wenig die gesellschaftliche Wirklichkeit solche Möglichkeiten noch bietet. So ist bei den Anfängen von Staatlichkeit, die sich um diese Zeit ausbilden, der größeren Verflechtung von Stadt und Land, der wachsenden Abhängigkeit des Adels von Geld und Handel, den energischen Bestrebungen der Territorialherren, die feudale Anarchie einzudämmen […],
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zählungen beispielsweise können Räume plötzlich Fenster, Türen, Wände oder gänzlich anderes Interieur bekommen,49 ohne dass dies Ausdruck einer Metaphysik wäre, die sich am Kontinuitätsproblem des Raumes Gottes abarbeitet – bzw. als neuzeitliches Pendant Ausdruck der Irritation der newtonschen Physik durch Relativitäts- und Quantentheorie wäre; Terry Pratchetts kosmische Riesenschildkröte ist für die von ihm entworfene fiktionale Realität nicht weniger wirklich wie das Hertzsprung-Russel-Diagramm, nur weil sie nicht Teil der philosophischen oder physikalischen Raumdiskussion des 20. Jahrhunderts ist; und wenn Iweins ‚Torverlies‘ zunächst fenster- und türlos ist, später aber Fenster und Tür besitzt, so ist diese vermeintliche Spannung nicht durch eine philosophische ‚Komplettierung‘ oder ‚Verbesserung‘ der Stelle zu heilen, sondern zu akzeptieren und literaturwissenschaftlich zu interpretieren. Gegen die entsprechenden Tendenzen auch in der jüngsten Forschung möchte ich die Setzung tätigen, dass die in den mittelalterlichen Erzählungen vorkommenden Räume per se komplett sind und in keiner Weise einer grundsätzlichen Ergänzung bedürfen, nicht in Richtung philosophischer Raumkonzeptionen des Mittelalters und schon gar nicht in Richtung eines modernen cartesianischen Kontinuums, das unterschiedliche Raumschilderungen zu unterschiedlichen Erzählzeiten systematisieren möchte.50 Damit ist nicht gemeint, dass es keine Bezüge geben kann zwischen literarischen Raumentwürfen und philosophischen Raumkonzeptionen – sie aufzuzeigen ist u. a. Gegenstand dieser Arbeit; gemeint ist vielmehr, dass literarische Räume nicht im Unterschied zu philosoes nur mehr in den Abenteuern der Vorstellung möglich, die unbeschränkte Geltung der freien, ritterlichen Individualität zur Existenz zu bringen“ (Fischer 1983, S. 161). Hinsichtlich dieser Gegenüberstellung erscheint die Dominanz von mittelalterlicher Metaphysik bei Aertsen/Speer und Störmer-Caysa als durchaus problematische Voraussetzung einer Literaturinterpretation. 49 Mit diesem Beispiel soll nicht gesagt werden, dass mittelalterliches Erzählen kindlichem Erzählen ähnlich ist; das Argument bezieht sich lediglich negativ auf den Versuch, literarische Räume wie selbstverständlich an philosophischen oder naturwissenschaftlichen Raumkonzepten zu messen. 50 Dies wäre ähnlich sinnlos wie im Theater nach Diderot die sog. ‚vierte Wand‘ physisch zu vermissen bzw. sich über das Agieren der Darsteller stets in Richtung dieser nicht vorhandenen Wand zu wundern. Im Theater wird keine Welt beobachtet, sondern unmittelbar das Spiel von Darstellern; in mittelalterlichen Erzählungen wird keine Welt beobachtet, sondern unmittelbar das Erzählen des Erzählers. Mit Niklas Luhmann ist diese Mittelbarkeit der Weltbeobachtung als Wesen der Kunst begreifbar: Kunst macht nicht Welt beobachtbar, sondern Beobachtungen von Welt; Kunstrezeption ist damit per se eine Beobachtung zweiter Ordnung, also eine Beobachtung von Beobachtungen (vgl. Luhmann 1995; zur literaturwissenschaftlichen Anwendung des Luhmannschen Kunstbegriffs auf mittelalterliche Kunst vgl. Wagner 2009a, S. 47‒52, v. a. Anm. 106). Gerade in der mittelalterlichen Aufführungspraxis ist diese Mittelbarkeit offensichtlich: Das Publikum kann das Erzählte lediglich als Beobachtung des Erzählers beobachten.
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phischen Raumkonzepten ungenau, vorläufig und unvollständig, sondern im Akt der Erzählung aufgehoben und hier je schon abgeschlossen sind; und wenn sich der literarische Raum philosophischer Raumkonzepte bedient, so erfolgt dies aus literarischen Gründen und Zielsetzungen heraus – wie es auch das Eingangszitat Terry Pratchetts idealtypisch ausstellt. Auf dieser Basis möchte ich den literarischen Raum nicht vom cartesianischen Raum und ebenfalls nicht lediglich vom Leib des einen Helden, sondern von der Kommunikation aller am erzählerischen Akt Beteiligten aus denken; anstatt die Perspektive des Einen zentral zu setzen – die begriffliche Nähe zur neuzeitlichen Zentralperspektive51 ist hierbei durchaus entlarvend – lege ich damit einen multiperspektivischen Ansatz an, der immer nach Beobachtungsmöglichkeiten fragt und dabei neben dem einen Helden das gesamte Personal und auch die Rollen Erzähler und Publikum mit ihren jeweiligen Beobachterstandpunkten einbezieht; die Dominantsetzung des Beobachtungsstandpunktes des Helden unterschlägt nämlich auch, dass die Beobachtungsmöglichkeiten immer von einem Erzähler angeboten und von einem Publikum umgesetzt werden: In der Literatur liegen weder Bewegungen noch Handlungen schlicht vor, sondern es wird lediglich von solchen erzählt. Diese Mittelbarkeit darf nicht unterschlagen werden, will man nicht unter der Hand über realhistorische Raumkonstruktionen des Mittelalters schreiben.52 Ich möchte in der vorliegenden Arbeit diesen Gefahren begegnen, indem ich zum einen den Blick auf einen spezifischen Raum – den virtuellen Raum – richte, ohne damit zu beanspruchen, dass dieser das Grundmodell des 51 Erwin Panofsky betont in seinem klassisch gewordenen Aufsatz Die Perspektive als ‚symbolische Form‘ nicht nur die gänzlich unnatürliche, „überaus kühne Abstraktion von der Wirklichkeit“ (Panofsky 1974, S. 101), die mit dem Paradigma der Zentralperspektive einhergeht, sondern fordert auch eine grundsätzliche Historisierung des Redens von Perspektive, die in ihren vielfältigen Entwürfen keineswegs mit Zentralperspektive identifiziert werden darf: „es ist […] für die einzelnen Kunstepochen und Kunstgebiete wesensbedeutsam, nicht nur ob sie Perspektive haben, sondern auch welche Perspektive sie haben“ (ebd., S. 108). Dass eine Betrachtung des Raumes nur aus der Perspektive des Helden in diesem Sinne ungenügend ist, hat Gert Hübner am Eneasroman nachgewiesen, der makrostrukturell intensiv auf Eneas hin ausgerichtet ist, in seiner erzählerischen Repräsentation jedoch auch viele andere Perspektiven einnimmt. „Etwas plakativ ausgedrückt: Der Raumstruktur der Geschichte nach ist der Eneasroman eher ein Roman, zentriert auf einen Protagonisten; ihrer Repräsentation in der Erzählung nach ist er eher ein Heldenepos, das die Anführer von Sozialverbänden aufeinandertreffen läßt“ (Hübner 2003, S. 208, Hervorhebungen durch Hübner). 52 Dies betont auch Andrea Glaser im Vergleich mit modernen Romanen, die ebenfalls „hinsichtlich der Raumdarstellung sehr verschieden [sind]; selbst Autoren der gleichen Epoche unterscheiden sich bisweilen sehr stark in der Gestaltung der poetischen Räume“ (Glaser 2004, S. 17. Freilich reduziert auch Glaser später die literarischen Raumkonzepte mittelalterlicher Literatur auf letztlich einen einzigen Raum, s. u.).
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mittelalterlichen Raumdenkens insgesamt ist, und indem ich zum anderen bei der Betrachtung literarischer Räume den (im Hochmittelalter performativen) Akt des Erzählens zentral setze, um nicht literarische Raumkonzepte mit realhistorischen oder philosophischen Raumkonzepten zu identifizieren. Gerade in der Literatur des Mittelalters entsteht Raum in der Kommunikation zwischen Personen, wobei auch aus unterschiedlichen Perspektiven unterschiedliche Räume parallel kommuniziert werden können.53 Das mittelalterliche Erzählen von Raum zu untersuchen, bedarf damit einer Engführung mit einem narratologischen Ansatz. Dies soll nun am ‚Torverlies‘ des Iwein skizziert werden. Zunächst ist festzustellen, dass dieser Raum in der Tat ein besonderer Raum ist,54 dies aber nicht erst aus einer neuzeitlichen Perspektive und auf der Basis einer fehlenden Kontinuität, sondern durch die gezielte Inszenierung des mittelalterlichen Erzählers. Diesem passiert nämlich die Raumbeschreibung nicht einfach (etwa als sukzessive und unzusammenhängende Schilderung dessen, was die Handlung gerade benötigt), sondern sie wird in plakativer Unterbrechung der gerade überaus bewegten Handlung und in Hinwendung zum implizierten Publikum deutlich gesetzt: Ich wil iu von dem hûse sagen dâ er inne was beslagen. ez was, als er sît selbe jach, daz er sô schœnez nie gesach weder vor des noch sît, hôch vest unde wît, gemâlet gar von golde. swer darinne wesen solde âne vorhtlîche swære, den dûhtez vreudebære. (VV 1135‒1144)
Ich werde euch von der Burg erzählen, in der er gefangen war. Sie war, wie er selbst später sagte, so herrlich, wie er es noch nie gesehen hatte, weder zuvor noch später: Hoch, befestigt und geräumig, gänzlich mit Gold bemalt. Wer auch immer darin hätte sein können (ohne die Belastung der Furcht), dem erschiene sie als sehr erfreulich.
53 Dieser multiperspektivische Ansatz für eine Raumkonstruktion auf Textebene korrespondiert eng mit einer räumlichen Multiperspektivität, die Judith Klinger anhand von Handschriften illustrationen aus dem 13. Jahrhundert herausgearbeitet hat, die partiell dimensionale Gebäudeteile aufweisen: „Weder gehorcht dieses Darstellungsmuster den Konstruktionsprinzipien der Zentralperspektive, noch stellt sich ein Raumkiontinuum her, das von einem einzigen konsistenten Betrachterstandpunkt organisiert wird; vielmehr suggeriert die Blicklenkung auf Seitenansichten eine Beweglichkeit des Betrachters im Bildraum sowie variable Betrachterstandpunkte“ (Klinger 2004, S. 126). 54 Vgl. jüngst Morsch 2011, S. 174: „Während […] der Weg zum Tor und der tödliche Mechanismus der Fallgitter in der Genauigkeit und Plausibilität ihrer Schilderung (Iw. 1079‒1118) gleichsam kinästhetisch nachvollziehbar werden […], bleiben die Konsitenz der Räumlichkeit im Torbogen, die Einrichtung des Schauplatzes und seine Wirklichkeitsreferenz – offensichtlich systematisch – unsicher“.
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Freilich schildert der Erzähler einen Ort – die Burg („hûs“), die „hôch vest unde wît“ ist55 – in einem dauerhaften Zustand, doch zugleich wird zweimal betont, dass aus Iweins Perspektive diese wunderschöne und überaus große Burg noch nicht existent ist: Erst später wird Iwein die Beschreibung des Erzählers bestätigen, und das Epitheton „vreudebære“ kommt dem Ort nur aus der Perspektive eines Furchtlosen zu – Iwein hat im Moment aber allen Grund zur Furcht.56 Diese zeitliche Distanzierung zum herrlichen Ort schlägt sich auch räumlich nieder: Iwein ist eben noch nicht in der Burg (konkret: bei Laudine) angekommen, sondern noch im ‚Torverlies‘ gefangen („beslagen“); zunächst ist seine Lage im Wortsinne aussichtslos: dô suochter wider und vür und envant venster noch tür dâ er ûz möhte. nu gedâhter waz im töhte. (VV 1145‒1148)
Da suchte er vorne und hinten und fand weder ein Fenster noch eine Tür, durch die er hätte entkommen können. Da überlegte er, was im weiterhelfen könnte.
Genau hier, in diese Ratlosigkeit ob der ausweglosen Gefangenschaft, setzt der Erzähler die Irritation einer sich öffnenden Tür – nicht etwa einige hundert Verse später, als die beiläufige Charakterisierung des Raumes als tür- und fensterlos bereits vergessen hätte sein können: dô er mit selhen sorgen ranc, dô wart bî im niht über lanc ein türlîn ûf getân: dâ sach er zuo im ûz gân eine rîterlîche maget, enhete sî sich niht verclaget. (VV 1149‒1154)
Als er mit diesen Sorgen beschäftigt war, da wurde bei ihm kurze Zeit später eine kleine Tür aufgemacht: Da sah er eine Dame heraustreten, die herrlich ausgesehen hätte, wenn sie nicht völlig verheult gewesen wäre.
Iwein ist nach wie vor gefangen, und dies wird er noch lange bleiben; da er den Burgherren ermordet hat, ist ihm der Ausgang aus dem in dieser Hinsicht türund fensterlosen Raum in den herrlichen Burgraum bis auf weiteres vollständig unmöglich. Das „türlîn“ ist für ihn kein Ausweg aus dem ‚Torverlies‘, es ist eine 55 Die Verwirrung, die die Raumschilderung um das ‚Torverlies‘ auslöst, fundiert nicht zuletzt auf den Begriff „hûs“, den der Text sowohl für den Gesamtkomplex der Burg als auch für die spezifische Kammer, in der Iwein gefangen sitzt, anwendet (vgl. V 1280). Das ‚Torverlies‘ ist somit sowohl Teil des Burgkomplexes als auch der Raum, der Iwein von diesem Burgkomplex noch ausschließt. 56 Gemeint ist damit nicht die emotionale Haltung Angst, sondern die konkrete Erwartungshaltung des eigenen Todes (vgl. V 1149), die Iwein erst durch die Minne zu Laudine aufgibt (vgl. VV 1419‒1421).
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– bezeichnenderweise diminuierte – Zugangsmöglichkeit von außen, die eine Person benutzt, welche analog zur eigentlich wunderschönen Burg, aus der sie kommt, gezeichnet ist: Lunete ist eigentlich eine wunderschöne Dame, die aber im Moment aufgrund ihrer Totenklage entstellt ist; aus der Perspektive Iweins liegt ihre Schönheit wie auch die Schönheit der Burg noch in der Zukunft, zu der es noch kein Fenster, geschweige denn eine Tür gibt. Der Erzähler führt den Burgraum also ein als Raum, der eigentlich anders, positiv, sein müsste, wie auch Lunete eigentlich schön sein müsste – hierin ist die Störung des Raumes begründet, nicht in dem „türlîn“, dessen Erscheinen lediglich auf die Störung des Raumes aufmerksam macht. Die Grundlage für diese Störungen ist der Mord an Askalon, und die Trauer um dieses Geschehen bestimmt die Räumlichkeit des ‚Torverlieses‘ umfassend. Aus der Perspektive des Publikums freilich ist sowohl die Schönheit Lunetes als auch der Burg bereits sichtbar, dies allerdings erst für die Zukunft des gerade Erzählten. Aus dieser Perspektive mag das „türlîn“ – gerade durch seine unmittelbare Nennung nach der Schilderung des Raumes als türlos – als Hoffnungsschimmer erscheinen (und damit als Störung des ausweglosen ‚Torverlieses‘); aus der Perspektive Iweins jedoch gilt im Jetzt der Erzählung gerade das Gegenteil, denn was Lunete äußert, hat vorerst auch noch wenig Potenzial, die Furcht Iweins (und damit sein Hindernis die Schönheit der Burg zu erkennen) aufzulösen: diu sprach zem êrsten niht mê wan ‚ouwê, rîter, ouwê! daz ir her komen sît, daz ist iuwer jungestiu zît. ir habet mînen herrn erslagen. man mac sô jæmerlîchez clagen an mîner lieben vrouwen und an dem gesinde schouwen, und sô grimmeclîchen zorn, daz ir den lîp hânt verlorn.‘ (VV 1155‒1164)
Zunächst sagte sie nichts andere als: ‚Ach, Ritter! Dass Ihr hierher gekommen seid, das bedeutet Euer Ende. Ihr habt meinen Herrn erschlagen. Man kann meine liebe Herrin und das Gefolge in solcher schmerzlichen Klage und in so heftigem Zorn sehen, dass ihr Euer Leben verwirkt habt.‘
Diese jammernde Todesbotin aber entpuppt sich im weiteren Verlauf als tatkräftige Mittlerin, um den eingangs geschilderten, nur für Erzähler und Publikum einsehbaren, herrlichen Burgraum begehbare Realität für Iwein werden zu lassen; und dieser lange Prozess wird am Raum des ‚Torverlieses‘ ablesbar: Lunete schenkt Iwein den Ring, der ihm Unsichtbarkeit verleiht, und diese Gabe der minne – im weiten Begriffsverständnis – wird flankiert von zwei weiteren höfischen Minnehandlungen, dem Anbieten des herrschaftlichen Betts als Sitzgelegenheit für Iwein und dem gemeinsamen Mahl. Bett und Mahl überformen
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den Raum grundsätzlich: Lunete und Iwein performieren gleichsam eine Blase der minne, die das von Todesfurcht bestimmte ‚Torverlies‘ drastisch konterkariert. Noch drastischer allerdings wirkt der Ring: Er macht aus Iwein einen anwesenden Abwesenden, dessen Anwesenheit im ‚Torverlies‘ sowohl denknotwendig als auch unerreichbar ist; die Burgbewohner wissen, dass Iwein anwesend ist, doch sie können ihn bei zwei Gelegenheiten weder sehen noch verwunden oder töten. Das ‚Torverlies‘ zerfällt durch Lunete in zwei Räume: Der eine Raum ist nach wie vor das ‚Torverlies‘, aus dem es keinen Ausweg gibt und das von Todesfurcht gekennzeichnet ist. Dies ist der Raum, den alle Burgbewohner begehen können; der andere Raum ist ein Raum der höfischen minne, also ein Raum, der durch freundliche, regelhafte Interaktion höfischer Menschen gekennzeichnet ist. Dieser Raum kann nur von Iwein und Lunete begangen werden und schließt die Burgbewohner aus, die im Augenblick keineswegs minne kommunizieren. Beide Räume existieren gleichsam übereinander, und sie sind nicht absolut getrennt: Plakativer ist sicherlich zunächst der Übergriff des ‚Torverlieses‘ auf den Minneraum, als die Burgbewohner das Bett zerfetzen, auf dem der unsichtbare Iwein liegt; diesen können sie freilich nicht verletzen, doch zwischenzeitig wird der Minneraum erneut mit Todesfurcht angereichert. Letztendlich erfolgreich ist aber der Übergriff des Minneraums auf das ‚Torverlies‘. Iwein sieht die trauernde Burgherrin Laudine nämlich ausschließlich aus der Perspektive der minne, was ihn seine Todesfurcht vollständig vergessen macht: ouch enwas her Îwein niht verzaget: im hete diu minne einen muot gegeben, als sî manegem tuot, daz er den tôt niht entsaz. (VV 1418‒1421)
Doch verzagte Iwein nicht: Die Minne hatte ihn so vereinnahmt (wie sie es mit vielen macht), dass er den Tod nicht fürchtete.
Die Perspektive der minne überformt mehr und mehr den Raum des ‚Torverlieses‘: Lunete öffnet Iwein ein Fenster, durch das er Laudine beobachten kann (vgl. VV 1448), und gleich darauf will Iwein aus dem Raum stürmen, um Laudine von der exzessiven Totenklage abzuhalten – nur Lunete kann ihn zurückhalten (vgl. VV 1478‒1492). Als Minneraum ist der Raum des ‚Torverlieses‘ also nicht tür- und fensterlos, das blickhafte oder leibliche Überschreiten seiner Grenzen wird aber noch durch Lunete überwacht, die erst nach intensiver rhetorischer Vermittlung den Weg für Iwein in die dann tatsächlich herrliche Burg der Hochzeitsfeierlichkeiten freigibt. Bis dahin bleibt ihm ein Fenster zum Hof, genauer: ein Fenster auf die Burgherrin, deren herrschaftliche Schönheit ebenfalls nur durch die Totentrauer in Frage gestellt wird; an diesem Fenster zum Hof wird die Umformung des ‚Torverlieses‘ in einen Minneraum besonders deutlich:
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Her Îwein saz verborgen in vreuden unde in sorgen. im schuof daz venster guot gemach, des er genôz daz er sî sach: dâ wider vorhter den tôt. sus heter wünne unde nôt. […] die porte wurden zuo getân, dâ si durch was gegangen: und er was alsô gevangen daz im aber diu ûzvart anderstunt versperret wart. daz was im alsô mære, wan ob ietweder porte wære iedeclîchen ûf getân, […] sone stuont doch anders niht sîn muot niuwan ze belîbenne dâ. (VV 1691‒1717)
Herr Iwein saß im Verborgenen, von Freude und Sorge zugleich erfüllt. Das Fenster bereitete ihm große Freude, da es ihm ermöglichte sie zu sehen. Dann wieder fürchtete er den Tod. So fühlte er Glück und Leid. Das Tor wurde verschlossen, nachdem sie durchgegangen war. Und wieder war er auf diese Weise gefangen, so dass ihm zum zweiten Mal die Flucht verwehrt war. Das war ihm aber gleichgültig, denn wenn auch beide Tore weit offen gestanden hätten, so hätte er doch keinen anderen Wunsch gehabt als dazubleiben.
Hier tauchen die Aspekte Todesfurcht und Gefangenschaft, die das ‚Torverlies‘ kennzeichnen, auf, doch sind sie beide umgeformt: Der Todesfurcht ist die Minnefreude beigesellt (was den drohenden Tod als Minnesterben und damit tendenziell positiv lesbar macht), und die Gefangenschaft wird letztlich ganz auf die Macht der minne zurückgeführt, nicht aber auf die physischen Grenzen des Raumes. Das Fenster zum Hof lässt schließlich für Iwein den herrlichen Hof, den der Erzähler für die Zukunft angelegt hat, bereits Realität werden, bevor er es auch für das restliche Personal wird: „diu stat was im diu beste“ (V 1722; „die Stätte war ihm am liebsten“). Wie wird nun dieser besondere Minneraum modelliert, der zunächst eine Iwein und Lunete umfassende Blase im ‚Torverlies‘ bildet, um dieses schließlich mehr und mehr zu überformen? Iwein wird durch den Ring zu einem Beobachter, der selbst vom Personal der Erzählung nicht beobachtet werden kann, dafür aber auch in das von ihm beobachtete Geschehen nicht eingreifen kann. Diese Struktur spiegelt autopoietisch die Rolle des Publikums der Erzählung wider, was sich auch inhaltlich niederschlägt: Die Perspektive auf die herrliche Burg, die der Erzähler eingangs dem Publikum eröffnet, wird mit dem Fenster zum Hof57 zu Iweins Perspektive, und dies noch lange bevor sich seine Situation im ‚Torverlies‘ grundsätzlich geändert hätte.
57 Dieses Fenster zum Hof ist auch ein Bildmotiv des sog. „Iweinzimmers“ auf Burg Rodenegg: Das Fresko zeigt Iwein, der aus einem Turmfenster auf das Begräbnis Askalons und vor allem auf die trauernde Laudine blickt und von Lunete zurückgehalten werden muss (vgl. Schupp/ Szklenar 1996, S. 65 u. 72).
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Der Motor dieser Entwicklung und auch ihr Initiator aber ist Lunete: Sie öffnet Tür und Fenster,58 sie gibt Iwein den Ring und sie entschließt sich eingangs, dem Mörder ihres Herren zu helfen. Der Grund für dieses eigentlich unnachvollziehbare Verhalten ist in einem Geschehen zu finden, das Iwein und Lunete bereits in der Vergangenheit verbunden hat; gleich nach ihrem Eintreten in das ‚Torverlies‘ (das zu diesem Erzählpunkt noch gänzlich von Ausweglosigkeit und Todesangst bestimmt ist) erinnert sich Lunete an ihr erstes Aufeinandertreffen am Artushof, bei dem Iwein sie – trotz ihres ungebührlichen Verhaltens – freundlich grüßte (vgl. VV 1181‒1197). Abstrahierend gesprochen, gibt sie im Folgenden nur zurück, was Iwein ihr in der Vergangenheit bereits gegeben hat: minne trotz vorausgegangenen unhöfischen Verhaltens. Die gemeinsame Erinnerung an das Treffen am Artushof ist die Basis für das ungewöhnliche Verhalten Lunetes, für die Rettung Iweins und schließlich für seine Herrschaftsübernahme. Für die Raumdiskussion bedeutet dies, dass die Basis der Überformung des ‚Torverlieses‘ zum Minneraum eine weitere Raumart ist, die für das mittelalterliche Denken fundamental ist: ein Erinnerungsraum, hier konkret der Artushof der Vergangenheit, den Lunete und Iwein gemeinsam erinnern und zu dem nur diese beiden Zugang haben. An dieser Stelle muss nun vorerst abgebrochen werden: Die Rolle dieses Erinnerungsraumes näher auszuführen und vor allem seine Wirkmächtigkeit am für alle begehbaren Raum des ‚Torverlieses‘ aufzuzeigen, bedarf erst einer geistesgeschichtlichen Annäherung an das Phänomen Erinnerung und die Bedeutung des Raumes in diesem. Überhaupt bedient sich die literarische Raumkonstruktion mittelalterlicher Literatur offenbar an Modellen unterschiedlicher außerliterarischer Bereiche, allen voran Musik und Memoria, für den Aufbau von besonderen Räumen. Diese Interferenzen sollen im übernächsten, dritten Kapitel dieser Arbeit dargestellt und exemplarisch für die Literaturinterpretation angewandt werden. Das vierte Kapitel schließlich untersucht exemplarisch den Zusammenhang zwischen dem (ebenfalls räumlich bestimmten) Akt des Erzählens und dem Aufbau spezifischer Räume in der epischen Literatur des Hochmittelalters. Zunächst gilt es aber, diese gewissermaßen autopoietische Rolle des Erzählaktes bei der Generierung besonderer Räume – wie etwa den Minneraum im ‚Torverlies‘ – grundsätzlicher in den Blick zu nehmen: Es scheint sicherlich banal darauf zu verweisen, dass letztlich der Erzählakt erst die Räume der Erzählung entstehen lässt, doch diese grundsätzliche literarische Art der Raumgenese schlägt sich in einigen Räumen der Erzählung offenbar deutlicher nieder als in anderen. Diese in diesem Sinne autopoietischen Räume, die strukturell mit den spezifischen Räumlichkeiten korrespondieren, die der Akt des höfischen Erzählens in Auseinandersetzung zwischen Erzähler und Publikum schafft und für die das ‚Torverlies‘ bzw. 58 Gerade hier ist das auffällig: Wieso öffnet Iwein das Fenster nicht selbst?
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dessen Minneraum mit seinem Fenster zum Hof ein Beispiel ist, sind Gegenstand dieser Arbeit. Ich möchte diese Räume, die sich vor allem durch eine Begrenzung ihrer Zugangsmöglichkeiten auszeichnen, als virtuelle Räume begreifen, wohlwissend, dass es sich bei diesem Begriff um eine höchst umstrittene Kategorie handelt; vor allem die Anwendung auf mittelalterliche Literatur ist nicht selbstverständlich und soll zusammen mit grundsätzlichen analytischen Begriffen im nun folgenden, zweiten Kapitel diskutiert werden. Trotz aller Schwierigkeiten nämlich verspricht die Anwendung des Virtualitätsbegriffes auf die erzählende Literatur des Mittelalters einen enormen Mehrwert, um den in der Erzählung generierten Raum mit dem Akt des Erzählens in Verbindung zu bringen, ohne aber auf Spekulationen über die Art der Performanz dieses Erzählaktes angewiesen zu sein.59 59 Die Untersuchung der Performanz des Erzählaktes mittelalterlicher Epik hat ihren ursprünglichen Sitz in der oral-poetry-Forschung. Die Anwendung dieses Theorems auf die Mediävistik seit den 1950er Jahren beschäftigte sich vornehmlich mit Fragen der Tradierung der literarischen und musikalischen Formeln mündlichen Erzählens (vgl. die grundlegenden Aufsätze im Sammelband Voorwinden/de Haan 1979 [Hrsg.]. Eine Zusammenfassung der frühen Forschung liegt bei Curschmann 1967 vor), wobei schon früh die Forderung laut wurde, die Suche nach mündlichen Formeln mit anderen Fragestellungen zu verbinden, um der bloßen Bestätigung einer oralen Tradition zu entkommen (vgl. Curschmann 1967, S. 36). Eine solche Fragestellung – und derjenige Bereich der oral-poetry-Forschung, der für diese Arbeit von Interesse ist – stellt der Aspekt der Aufführung dar; die Frage nach der Aufführung ist auch für die mittelhochdeutsche Epik relevant, die selbst als bereits schriftlich mitkonzipiert streng genommen nicht mehr Gegenstand der oral-poetry-Forschung im eigentlichen Sinn sein kann (vgl. Haferland 2004, S. 10). Gemeinsam ist den meisten Ansätzen zur Aufführungsforschung, dass es immer die genauere Art und Weise des Vortrags ist, die im Zentrum des Interesses steht und auch Grundlage für Spekulation ist (vgl. exemplarisch Kuhn 1985). Vor diesem Fragehorizont kommt der Zusammenhang zwischen dem Akt des Erzählens und der Erzählung vor allem inhaltlich in den Blick: Inwieweit spiegeln autopoietische Stellen Aufführungssituationen (noch) wider (zum daraus resultierenden methodischen Grundproblem vgl. Müller 1996, S. XIVf.)? Obwohl auch eine spekulative Arbeit sinnvoll (und bei einem so wichtigen Bereich wie der Aufführungsforschung auch notwendig) sein kann, erscheinen doch sekundäre Überlegungen auf der Basis spekulativ gewonnener Ergebnisse umso problematischer, als sie das Methodenproblem potenzieren. Anstatt nach dem „Wie“ einer Aufführung zu fragen und den Zusammenhang zwischen Erzählen und Erzählung inhaltlich zu untersuchen, kann auch das „Dass“ der Aufführung als Grundlage für weitere Überlegungen genommen werden und etwa nach einer abstrakt-formalen Bezugsebene zwischen Erzählen und Erzählung gefragt werden (man könnte hier von formaler Autopoiesis sprechen). Dies möchte ich über den Raumbegriff leisten, also im Vergleich der grundsätzlichen räumlichen Spezifik des Erzählens mit den erzählten Räumen. Erzählen als Aufführung besitzt – jenseits der Frage nach der materiellen Vorlage (Gedächtnis oder schriftlicher Text), der akustischen Form (gesungen, gelesen oder rezitiert), der dramatischen Ausgestaltung (Einsatz von Mimik, Gestik, Kostüm, Maske, Requisiten und Bühnenbild) – zwei grundsätzliche Größen, die den Aufführungsraum als solchen erkennbar machen: Erzähler und Publikum. Dies ist die performative Setzung, auf deren Basis im Folgenden aufgebaut werden soll.
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Mit der Verknüpfung der Frage nach einer spezifischen Raumvorstellung einerseits und dem Akt des Erzählens im Mittelalter andererseits möchte ich letztlich auch auf einen Gegenstand zugreifen, der selbst kaum fassbar ist, der aber gleichwohl notwendigerweise für eine adäquate Interpretation mittelalterlicher Literatur mitzudenken ist: die Aufführung.60 Auch wenn der Zugriff über virtuelle Raumstrukturen sicherlich zusätzliche Fragen aufwirft und sehr mittelbar angelegt ist, erscheint mir dieses Vorgehen besser zu sein, als lediglich die Schwierigkeiten eines unspekulativen Zugriffs auf die Aufführung zu diagnostizieren und im Weiteren – methodisch sicherlich sauberer – mittelalterliche Literatur gleichsam als moderne Drucktexte der privaten Lektüre zu behandeln.61 Ein Ausklammern der Aufführung aus der Betrachtung mittelalterlicher Literatur erzeugt in dem Maße klare und für ein modernes Verständnis leicht nachvollziehbare Ergebnisse, wie es den eigentlichen Gegenstand der germanistischen Mediävistik aus dem Blick verliert. 60 Vgl. dazu die Fallstudie Reading the Medieval Book von Kathryn Starkey, die die „Große Bilderhandschrift“ des Willehalm als Kunstwerk liest, „[that] was compiled with both oral performance and the written medium in mind“ (Starkey 2004, S. 2). Matthias Däumer spricht zu Recht von einem dritten medialen Zustand, den die mittelalterliche Literatur in der Form der Aufführung annimmt und der weder der Oralität noch der Scripturalität entspricht: „Deshalb definiere ich ‚Performativität‘ als einen dritten medialen Zustand der höfischen Kultur, der sich darin äußert, dass mit der Aufführung von Texten eine zwar intermedial durchlässige, doch bezüglich ihrer Sinngenerierung autonome Sphäre gebildet wird, in der nach eigenen semiotischen Regeln Nachrichten übertragen werden. Es handelt sich – so meine Annahme – um einen (mindestens) ‚trimedialen‘ Charakter der höfischen Kultur: ‚Oralität‘ bezeichnet die Tradierung und Realisierung von Geschichten ausschließlich auf mündlichem Wege. […] ‚Skripuralität‘ beschreibt die schriftliche Komposition von Geschichten für einen Leser. Dieses Verfahren ist für das 12. und 13. Jahrhundert noch neu und führt zu einer starken autoreflexiven Auseinandersetzung mit seiner Bedeutung und dem Status von Dichter und Leser. ‚Performativität‘ meint die performative Realisierung schriftlich verfasster Geschichten in einer kommunikativen face-toface-Situation. Es handelt sich nicht nur um eine der möglichen Wechselwirkungen von Oralität und Skripturalität, sondern um einen eigenständigen medialen Zustand mit einer spezifischen Semiotik, welche dem Text genauso wie vom Körper des ihn Sprechenden mitbestimmt wird.“ (Däumer 2013, S. 31f.). Im Weiteren unternimmt Däumer den verdienstvollen Versuch, die Semiotik dieser als Medium verlorenen Performativität nachzuzeichnen. Die vorliegende Arbeit (die notwendigerweise in Unkenntnis der Arbeit Däumers konzipiert wurde) dagegen geht lediglich von der performativen Situation aus und fragt nach ihren Konsequenzen für den Entwurf virtueller Räume in der Epik. Mittelfristig erscheint freilich eine Zusammenführung beider Perspektiven wünschenswert, ist aber im Rahmen dieser Arbeit noch nicht leistbar. Ansätze dazu (und Weiterführungen des hier angelegten erzähltheoretischen Ansatzes) habe ich im Anschluss an diese Habilitationsarbeit bereits formuliert, vgl. Wagner 2015b und Wagner 2015d. 61 Die Monographie von Manfred Günter Scholz, Hören und Lesen (Scholz 1980), kann in diesem Zusammenhang als fragwürdiger Versuch verstanden werden, ein vollständiges Ausklammern des kaum greifbaren Aspektes Aufführung theoretisch und methodisch zu rechtfertigen. Zur Kritik an Scholz vgl. Green 1994, S. 10‒12; Knapp 2012, S. 23.
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Damit möchte diese Arbeit in der Verknüpfung von Raum und Aufführung auch einen Beitrag leisten zu einer historischen Narratologie höfischer Literatur. Der grundsätzliche Zusammenhang zwischen virtuellem Raum und dem Akt des Erzählens kann heuristisch folgendermaßen gefasst werden: Die höfische Erzählung ordnet ihr Geschehen nicht in einem physischen Raum a priori ein (dieser ist erst mit Descartes voraussetzbar), sondern erschafft ihre Räume in der Kommunikation des Personals; ein Vorbild dafür ist der performative Akt des Erzählens selbst, der je in einem physischen Raum einen eigenen Raum des Erzählens erschafft in der Kommunikation zwischen Erzähler und Rezipienten.62 Anders als neuzeitliche Literatur, die oftmals einen Raum a priori ansetzt, erscheint mittelalterliche Literatur als weitaus autopoietischer in ihrer Struktur angelegt, da die Raumkonstruktion des Erzählens sich immer wieder im Erzählten widerspiegelt. Dies gilt zwar grundsätzlich, schlägt sich aber unterschiedlich stark nieder: Manche Räume der erzählten Geschichten sind mehr als andere von der Dynamik, der Zwischenzeitlichkeit und nicht zuletzt der Zweifelhaftigkeit bestimmt, die dem im Akt des Erzählens geschaffenen (und mit ihm wieder vergehenden) Raum anhaftet. Diese Räume sind wir gewohnt als virtuelle Räume zu bezeichnen. Ihren Aufbau und ihre Struktur nachzuzeichnen, ihre Beziehungen zu dem Raum des Erzählens aufzudecken und diese für die jeweilige Textinterpretation fruchtbar zu machen, ist Ziel dieser Arbeit.
62 Vgl. auch Däumer 2013, S. 57: „Dem mittelalterlichen Rezipienten war der Raum weder extern noch fern, denn er befand sich just im Moment der performativen Realisierung des Textes in ihm. Für eine Analyse mittelalterlicher Kultur, in der Aufführung und Text koexistieren und sich gegenseitig bedingen, ist eine Distanzierung zum Raum nicht förderlich; vielmehr muss sie versuchen, sich dem räumlichen und zeitlichen Hier-und-Jetzt des mittelalterlichen Rezipienten anzunähern“. Dieses Hier-und-Jetzt geht aber nicht im konkreten, normalräumlichen „Aufführungsraum“ (ebd., S. 56) auf, sondern wird eigentlich erst über den virtuellen Erzählraum (der noch zu beschreiben sein wird) fassbar.
2 Virtuelle Räume und der kommunikative Akt des Erzählens 2.1 Annäherungen an den Begriff des virtuellen Raums 2.1.1 Annäherung über die virtual reality: Gefahren und Chancen Noch 1998 konstatierte Jan A. Aertsen ein grundsätzliches Forschungsdesiderat zum Thema Raum in der Mediävistik, dessen Aufarbeitung mit seinem umfangreichen Sammelband Raum und Raumvorstellung im Mittelalter ansetzt;1 diese Aufarbeitung hält seit nunmehr gut 15 Jahren unvermindert an und umfasst auch spezifische Raumkonzepte wie den virtuellen Raum und seine Verwendung in mittelalterlicher Kunst und Literatur. Freilich ist die mediävistische Literatur, die speziell das Konzept des virtuellen Raumes für mittelalterliche Kultur und Literatur anschlussfähig zu machen sucht, noch sehr übersichtlich: Haiko Wandhoffs Habilitationsschrift (2003), ein Sammelband von Lechtermann/Morsch (2004) nebst einer Monographie von Carsten Morsch (2011) und zwei Sammelbände von Elisabeth Vavra (2005 bzw. 2007) bilden die schmale Basis der wissenschaftlichen Diskussion. Kritisch darauf aufbauend soll im Folgenden ein Arbeitsbegriff des virtuellen Raumes im Allgemeinen und in Bezug auf mittelalterliche Literatur im Speziellen entwickelt werden. Eine Einordnung meines Ansatzes in die allgemein-philosophische Raumforschung erfolgt im Fußnotenapparat.
Verständlicherweise setzen dabei auch mediävistische Arbeiten am boomenden und veränderten gesellschaftlichen Interesse an virtuellen Realitäten der neuen Medien an:2 War in den 1990er Jahren die virtuelle Realität noch ein an teure Apparaturen gebundenes und solchermaßen elitäres Phänomen zwischen wissenschaftlichem Experiment und Zukunftsvision,3 so wandelt sich der Begriff in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts zu einer Beschreibungskategorie für eine
1 Vgl. Aertsen 1998, S. VII. 2 Vgl. z. B. Wandhoff 2003, S. 34f. u. S. 333‒342; Wandhoff 2004, S. 85‒89; Lechtermann 2005, S. 173; Schlechtweg-Jahn 2005, S. 70‒73; Ernst 2007, S. 155f. 3 Symptomatisch für dieses Verständnis von virtueller Realität, die aufgrund ihrer relativen Fremdheit auch einen unheimlichen Charakter gewann, ist auch die Verarbeitung in Film und Fernsehen: Das Holodeck in der Fernsehserie Star Trek – Next Generation (1987‒1994) stellt zwar vornehmlich ein Unterhaltungsmedium für die Raumschiffsbesatzung dar, gewinnt aber auch regelmäßig lebensbedrohliche Dimensionen; virtuelle Realität erlangt in Filmen wie Der Rasenmähermann (1992) oder Matrix (1999) den Status einer pandemischen Bedrohung der Menschheit. Einen historischen Abriss der Verwendung der virtual reality in Literatur und Film bietet Hink 2007.
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zunehmend als normal angesehenen Unterhaltungsdimension des Alltags.4 Die jüngste mediävistische Forschung bemüht sich in Folge um fruchtbare Anwendungsmöglichkeiten des Virtualitätsbegriffs – und speziell des virtuellen Raumes – auf mittelalterliche Literatur und Kultur. Haiko Wandhoff legt mit seiner 2003 erschienenen Habilitationsschrift Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters meines Wissens den Grundstein einer Anwendung des Virtualitätsbegriffs auf mittelalterliche Literatur. Wandhoff begreift den virtuellen Raum als einen „Suchbegriff“5 für literarisch generierte Räume, die sich durch interaktive Rezeptionsmöglichkeiten auszeichnen: „Eine Vielzahl gerade der mittelalterlichen Kunst- und Architekturbeschreibungen zeichnen sich […] durch eine dreidimensionale Räumlichkeit aus, die man in den Ekphrasen des antiken Epos vergeblich sucht. Da in diesen Bildnissen immer wieder zentrale Beobachtungspositionen freigelassen werden, hat es den Anschein, als seien die Hörer und Leser aufgefordert, sich imaginativ in diese Schauräume hinein zu bewegen, um im Angesicht der darin deponierten Bilder und Zeichen über die Bedeutungsdimensionen des jeweiligen Textes – nicht zuletzt im Hinblick auf ihr eigenes Leben – zu reflektieren“.6 Wandhoffs Virtualitätsbegriff ist durch die Dominanz der Interaktivität deutlich an demjenigen des virtual space orientiert; die behauptete Interaktivität muss jedoch aufgrund der fehlenden Rezeptionszeugnisse Spekulation bleiben, ebenso wie ein darauf aufbauender Vergleich virtueller Räume in mittelalterlicher Literatur und postmodernem Cyberspace. Dieser spekulative Aspekt ist bei Wandhoff gerade der Sinn des Virtualitätsbegriffs: „Gerade weil der Terminus ‚Virtualität‘ heute zu einem Schlüsselbegriff der computergesteuerten Medien geworden ist, dabei zugleich jedoch sehr weit gefaßt wird, kann seine metaphorische Unschärfe vielleicht dazu dienen, Ähnlichkeiten und Parallelen aufzudecken zwischen dem, was uns heute als das ganz Neue der Computertechnologie erscheint, und dem, was die Literatur mit ihren eigenen Mitteln bereits in der Vormoderne zu leisten vermochte“.7 Für Wandhoffs Frage nach mittelalterlicher Ekphrasis ist dieser heuristische Begriffsgebrauch sinnvoll und fruchtbar, für eine Arbeit wie die vorliegende, die zentral nach virtuellen Räumen fragt, ist dieser Begriff jedoch noch zu unscharf konturiert. Im Call for Papers für die von Christina Lechtermann und Carsten Morsch ausgerichtete Tagung Kunst der Bewegung. Kinästhetische Wahrnehmung und Probehandeln in virtuellen Räumen taucht der Virtualitätsbegriff lediglich im Titel auf und besitzt (zunächst ähnlich wie bei Wandhoff) eher assoziativ-inspirierenden Charakter.8 Auch in der Einführung in den 2004 erschienenen Tagungsband hat der Virtualitätsbegriff lediglich marginalen Charakter als Unterbegriff
4 Im Bereich der Computerspiele stehen mit Die Sims (2000), Second Live (2003) oder World of Warcraft (2004) allgemein zugängliche (Online-) Plattformen einer virtuellen Realität zur Verfügung; allein im Übergang 2009 zu 2010 kommen mit Avatar, Das Kabinett des Dr. Parnassus und Alice im Wunderland drei Filme in das deutsche Kino, die virtuelle Realitäten zentral setzen und die Grenze zwischen Realitätsebenen als fließend inszenieren. 5 Wandhoff 2003, S. 34. 6 Wandhoff 2003, S. 34. 7 Wandhoff 2003, S. 35. 8 Vgl. http://www2.hu-berlin.de/Literatur/KdB/html/programm/expose.htm, eingesehen am 24.05.2010.
Annäherungen an den Begriff des virtuellen Raums
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zu Kinästhesie, verstanden als von Medien angebotene Bewegungswahrnehmung und deren Aktualisierung durch die Rezipienten: „Um dieses je spezifische Zusammenspiel von Bewegungsangeboten und den damit eingeforderten Antwortbewegungen beschreibbar zu machen, das der doppelten Bestimmung von Wahrnehmung als Handeln und Erleiden korrespondiert, haben wir dem Titel des vorliegenden Bandes die Wendung auf die ‚virtuellen Welten‘ eingeschrieben“.9 Die Autoren betonen zu Recht die Gefahr einer einseitigen Orientierung des Virtualitätsbegriffs am Medium Computer und deuten eine Historisierung des Begriffs an: „Die neue Aufmerksamkeit für ‚virtuelle Realitäten‘ in der sog. Medien- und Informationsgesellschaft hat dazu geführt, daß der Begriff des Virtuellen konzeptuell immer einseitiger an den Computer als Ort und Medium einer technischen Wirklichkeitskonstruktion rückgebunden und dadurch – vor allem im alltäglichen Sprachgebrauch – ein Gegensatz zwischen Virtualität und Wirklichkeit aufgebaut wurde. Etymologisch dagegen reicht der Begriff auf lat. virtus zurück […] Im Mittellateinischen bezeichnet virtualis das, ‚was nach Anlage oder Vermögen der Möglichkeit nach vorhanden ist‘, also ‚mögliche Wirklichkeit‘ oder, vielleicht genauer, ‚mögliche Möglichkeit‘. Virtuell ist also etwas, das möglich, aber (noch) nicht aktualisiert ist. Das Virtuelle steht nicht dem Wirklichen, sondern dem Aktuellen gegenüber“.10 An diesem Ansatz erscheinen zwei Aspekte als problematisch: Zum einen heben Lechtermann/Morsch die heutige Gegenüberstellung von Virtualität und Realität nicht wirklich auf, sondern verschieben sie lediglich auf den Zeitaspekt: Als Gegenbegriff des Aktuellen ist das Virtuelle zumindest nie gegenwärtige Realität11 und bleibt damit tendenziell der Gegenbegriff zu real (das Verhältnis von virtuell und real soll weiter unten eingehend diskutiert werden). Zum anderen stützen sich Lechtermann/Morsch auf den oft herangezogenen Aufsatz Fiktion und Virtualität von Elena Esposito,12 marginalisieren dabei jedoch den bei Esposito zentral gesetzten Unterschied zwischen vorneuzeitlicher und neuzeitlicher Realitätskonstruktion: Während in vorneuzeitlichen Gesellschaften die Realität des Imaginären (und damit auch des Möglichen, bei Esposito des Virtuellen) grundsätzlich unvermittelt neben der Realität der Objekte bestand, erlangt erst in der Neuzeit „das Mögliche (zusammen mit dem ganzen Bereich des Imaginären) einen anderen Status. Das Mögliche wird zum Horizont des Realen, ihm kommt keine unabhängige ‚Realität‘ noch autonome Existenz zu: Ideen, Fiktionen und Immaginationen [sic] existieren nirgendwo, sondern wurden in den Köpfen der Subjekte konstruiert“.13 Espositos Begriff des Virtuellen als nicht Aktuellem ist damit bei ihr gänzlich in der Neuzeit verankert14 und kann nicht ohne weiteres auf das Mittelalter angewandt werden.
9 Lechtermann/Morsch 2004, S. VI. 10 Lechtermann/Morsch 2004, S. VIf. 11 Das widerspricht gerade dem Phänomen der sog. Echtzeit in der virtual reality, also der Gleichzeitigkeit von Interaktion des Nutzers und Niederschlag dieser Interaktion im virtuellen Raum. 12 Vgl. Esposito 1998. 13 Esposito 1998, S. 281. 14 Esposito ihrerseits stützt sich dabei auf Vilém Flusser: „Da mit dem Wort ‚virtueller Raum‘ so leichtsinnig umgegangen wird, ist es gut, sich seinen Ursprung ins Gedächtnis zu rufen: das Wort meint jenen Noch-nicht-Raum, in welchem Noch-nicht-Wirklichkeiten ihre Noch-nicht-Zeit verbringen“ (Flusser 2006, S. 277). Flusser betrachtet den virtuellen Raum zunächst als Raum des quantenphysikalischen Mikrokosmos’, der in Gleichungen beschrieben wird, „die raum- und zeitlos“ sind (vgl. ebd., S. 276); auf welcher Basis Flusser nun diesen algorithmischen Raum
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Die mittelalterliche Wahrnehmung zeichnet Esposito allerdings grundsätzlich unterkomplex, wenn sie (in extremisierender Lesart) mit Niklas Luhmann eine Beobachtung zweiter Ordnung, die also nicht einen Gegenstand, sondern die Beobachtung eines solchen durch einen anderen Beobachter in den Blick nimmt, auf die Neuzeit begrenzt und (bei schmaler Quellenbasis) dem mittelalterlichen Menschen gänzlich abspricht.15 Gerade die höfische, laikale Literatur des Mittelalters ist grundsätzlich gekennzeichnet von einem Angebot mehrerer paralleler Beobachtungen, die selbst Gegenstand der Rezeption (und damit der Beobachtung zweiter Ordnung) sind. Eine Vereinheitlichung der offensichtlich auf Divergenz ausgerichteten Beobachtungsmöglichkeiten einer Geschichte wird der Literatur des Mittelalters nicht gerecht.16 Die – trotz gegenläufiger Anstrengungen – fragwürdige Historisierbarkeit des Virtualitätsbegriffs von Lechtermann/Morsch schlägt sich auch tendenziell in den Aufsätzen des Sammelbandes nieder: Da Virtualität als Unterbegriff von Kinästhetik in den Blick kommt (analog zu Wandhoff, dort als Unterbegriff von Ekphrasis), wird er unter der Hand gleichbedeutend mit dem Übergang von Interaktion bei der Kunstrezeption zu Aktion nach der Kunstrezeption. „Die Frage nach der Virtualität von Medien zielt auf die Verfahren ab, durch die sie Interaktionsangebote aus dem Hier und Jetzt lösen und in Bereiche der Latenz transportieren, die ebenso die Erfahrung distanzierter Beobachtung ermöglichen, wie das Erlebnis aufgeschobenen Begehrens“.17 Entsprechend müssen sich vor allem die Beiträge von Wandhoff, Berns, Wenzel und Lechtermann der Spekulationskritik stellen, da die historische Aktion eines historischen Publikums letztlich nicht verifizierbar ist; hier laufen Lechtermann/Morsch Gefahr, in ihrem Virtualitätskonzept den in der virtual reality dominant gesetzten Aspekt der Interaktion ahistorisch zu stark zu gewichten und auf das Mittelalter zu projizieren. In seiner 2011 erschienenen Monographie Blickwendungen. Virtuelle Räume und Wahrnehmungserfahrungen in höfischen Erzählungen um 1200 greift Carsten Morsch den bereits im Sammelband vertretenen Ansatz wieder auf und verfolgt ihn auf breiterer textueller Basis, allerdings in thematischer Engführung auf die virtuellen Räume, „die die immer wieder mit Frauen verbundenen Kemenaten und Betten in den höfischen Texten eröffnen“18; die theoretische Fundierung ist ausgerechnet zeitlich als „noch nicht (oder schon nicht mehr) real“ (ebd., S. 277) definiert, bleibt unklar und ist keineswegs logisch notwendig, sondern vielmehr physikalisch paradox: Wenn für Quantenteilchen die gleichzeitige Anwesenheit an zwei Orten gilt (vgl. ebd., S. 276), so sprengt dies gerade die physikalische Logik, die Flusser wieder zur Beschreibung aufgreift; mehr noch: Die physikalisch fundierte Paradoxie eines gleichzeitig an zwei Orten anwesenden Teilchens wäre in der Gültigkeit des Gegensatzpaares „anwesend/abwesend“ in Worte übersetzbar, nicht aber in dem zeitlich bestimmten Gegensatzpaar „noch nicht/nicht mehr“, das eine Anwesenheit (die paradoxerweise an zwei Orten zugleich nachweisbar ist) ja gerade ausschließt. Mit der unbegründeten Ersetzung einer doppelt positiven Paradoxie (sowohl hier als auch dort) durch eine doppelt negative Paradoxie (weder hier noch dort) fundiert Flusser fragwürdig den Virtualitätsbegriff als Gegenbegriff zur Realität. 15 Vgl. Esposito 1998, S. 284‒289. 16 Vgl. dazu – in Anwendung Luhmanns – Wagner 2009a; Knaeble 2010. Carsten Morsch, der auf Esposito aufbaut, betont in seiner späteren Arbeit Blickwendungen selbst unter dem Paradigma des „double viewing“ eine grundsätzliche Mehrdimensionalität der historischen Rezeption mittelalterlicher Literatur, vgl. Morsch 2011, S. 25‒27. 17 Lechtermann/Morsch 2004, S. VIII. 18 Morsch 2011, S. 16f.
Annäherungen an den Begriff des virtuellen Raums
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jedoch identisch zum 2004 erschienenen Sammelband, stellenweise in wörtlicher Übernahme zentraler Formulierungen,19 so dass auch eine analoge Kritik anzusetzen ist. Darüber hinaus zeichnet Morsch in erster Linie Blickinszenierungen der Texte nach und verwendet die Begriffe Virtualität und Raum eher als heuristische Aufhänger denn als analytische Begriffe der Textinterpretation. Die vorerst breiteste Auseinandersetzung mit dem virtuellen Raum in der Mediävistik stellen die von Elisabeth Vavra herausgegebenen Sammelbände Virtuelle Räume (2005) und Imaginäre Räume (2007) dar, die zusammen die Beiträge des 10. Symposiums des Mediävistenverbandes in Krems 2003 präsentieren. Vavra definiert in den Vorworten den virtuellen Raum als „Raum, der immer dann entsteht, wenn reale topographische Koordinations- und Raumstiftungselemente durch Konstituenten anderer Kategorien überformt werden“.20 Was sich in der nicht weiter begründeten Varianz der Titelbegriffe virtuell und imaginär bereits andeutet,21 schlägt sich in dieser Definition theoretisch nieder: Wenn ein virtueller Raum durch jedwede Überformung „realer“ Räume durch andere Kategorien definiert ist, wird die Abgrenzung (aber auch Verbindung) zu imaginären Räumen fragwürdig. Virtueller Raum wird hier zu jedwedem besonderen, markierten Raum, wobei die Bestimmung gerade des topographischen Raumes als „real“ kaum für das Mittelalter und seine nicht-cartesianische Raumvorstellung anwendbar ist. Die einzelnen Beiträge der Bände sind freilich von dieser begrifflichen Schwäche nicht durchweg betroffen – vor allem der Beitrag von Ralf Schlechtweg-Jahn erweist sich als anschlussfähig zu meinen Überlegungen und soll im Folgenden genauer diskutiert werden – jedoch überwiegt ein eher assoziativer und wenig trennscharfer Virtualitätsbegriff; dies schlägt sich am deutlichsten im Beitrag von Götz Pochat nieder, der die Begriffe Fiktiver Rahmen, Virtualität, Bildraum (als Gegenbegriff zu Realraum), Illusion, imaginärer Raum und vager Raum in unklarer Abgrenzung und Füllung auf engstem Raum verwendet.22 Entsprechend kritisch wurde der Mehrwert des Virtualitätsbegriffs in seiner Verwendung in beiden Teilbänden auch gelesen: „Man kann als Ergebnis dieser im zweiten Band und nach vier Jahren vorgelegten Teilstudie resümieren, dass Literatur Imaginationen hervorruft, was aber sicher kein wesentlicher Erkenntnisgewinn sein dürfte. Die Frage, die aber im wahrsten Sinn im Raum bleibt, ist jene, was virtuelle Räume charakterisiert und ob sie doch nur Erfindung der Postmoderne sind“.23
Die rückblickende Annäherung an virtuelle Raumkonzepte mittelalterlicher Literatur ausgehend von rezenten, außerliterarischen Phänomenen birgt jedoch notwendigerweise drei problematische Tendenzen in sich, die bislang (trotz eines entsprechenden Problembewusstseins) noch nicht grundsätzlich aufgearbeitet wurden: Erstens läuft – aristotelisch formuliert – die Rückschau Gefahr, moderne Akzidenzien des (computergenerierten) virtuellen Raumes als dessen Substanz 19 Vgl. etwa Morsch 2011, S. 31, mit Lechtermann/Morsch 2004, S. VIf., wie oben zitiert. 20 Vavra [Hrsg.] 2005, S. IX., inhaltsgleich Vavra [Hrsg.] 2007, S. 13. 21 Vgl. Kerscher 2009: „Es ist schwer nachvollziehbar, warum die beiden Bände mit unterschiedlichen Titeln publiziert wurden und Band 1 (‚Virtuelle Räume‘) nicht-virtuelle Räume bzw. Band 2 (‚imaginäre räume‘) virtuelle Räume behandelt“. 22 Vgl. Pochat 2005, S. 142f. 23 Kerscher 2009; vgl. auch – fast gleichlautend – das Fazit Mattias Hardts zur ersten Teilveröffentlichung des Symposions, Hardt 2006, und Klippel 2006.
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Virtuelle Räume und der kommunikative Akt des Erzählens
misszuverstehen und auf mittelalterlicher Verhältnisse zu übertragen (Wandhoff 2003, Lechtermann/Morsch 2004); zweitens (und auf den sich daraus ergebenden Spannungen aufbauend) droht ein begriffliches Chaos, da der Virtualitätsbegriff – angewandt auf literarische Raumkonzeptionen – mit den für die Literatur zentralen Begriffen des Imaginativen und Fiktionalen in ein Verhältnis zu bringen ist (Vavra 2005, Vavra 2007); und drittens (und wiederum verwandt mit den beiden vorgenannten Gefahren) wird der Virtualitätsbegriff oftmals unscharf und assoziativ, wenn er den Vergleich von mittelalterlicher Literatur und modernem Cyberspace zum Ziel hat (Vavra 2005, Vavra 2007).
2.1.2 Virtualität als Begriff des mittelalterlichen Denkens Die rezente gesellschaftliche Präsenz des Virtualitätsbegriffs kann jedoch darüber hinwegtäuschen, dass Virtualität und entsprechende Konzepte von Realität und Räumen bereits mittelalterliches Denken prägten.24 Eine aussagekräftige Passage findet sich etwa in dem Musiktraktat des Pariser Musiktheoretikers Johannes de Grocheio aus dem späten 12. Jahrhundert, die auch für die nachfolgende Begriffsund Forschungsdiskussion die exemplarische Vergleichsgrundlage bildet. Johannes führt seine (ungewöhnlicherweise an der höfischen Musikpraxis orientierte) Musikeinteilung über eine Instrumentenlehre ein und eruiert sukzessive die Viella als exemplarisches Instrument für jedwede Art von Musik: Nos […] hic non intendimus instrumentorum compositionem vel divisionem nisi propter diversitatem formarum musicalium, quae in eis generantur. Inter quae instrumenta cum chordis principatum obtinent, cuiusmodi sunt psalterium, cithara, lyra, quitarra sarracenica et viella. In eis enim subtilior et melior soni discretio propter abbreviationem et elogationem chordarum. Et adhuc inter omnia instrumenta chordosa, visa a nobis, viella videtur praevelare. Quemadmodum enim anima intellectiva alias formas naturales in se virtualiter includit et tetragonum trigonum et
24 Vgl. Lechtermann/Morsch 2004, S. VIf.
Wir beabsichtigen hier, die Zusammensetzung oder Einteilung der Instrumente nur wegen der Verschiedenheit der musikalischen Formen, die auf ihnen hervorgebracht werden, bekannt zu machen. Unter ihnen behaupten die Instrumente mit Saiten den Vorrang, von welcher Art der Psalter, die Kithara, die Lyra, die sarazenische Guitarre und die Viella sind. Auf ihnen ist nämlich wegen der Verkürzung und Verlängerung der Saiten die Unterscheidung des Tones feiner und besser. Ferner scheint unter allen Saiteninstrumenten, die wir gesehen haben, die Viella voranzustehen.
Annäherungen an den Begriff des virtuellen Raums
maior numerus minorem, ita viella in se virtualiter alia continet instrumenta.25
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Wie nämlich die verständige Seele die anderen natürlichen Formen virtuell in sich einschließt und das Viereck das Dreieck und die größere Zahl die kleinere, so begreift die Viella die anderen Instrumente virtuell in sich ein.
Virtuell – kraft ihrer Qualität, so wäre begriffsnah zu übersetzen26 – beinhaltet die Viella alle anderen Saiteninstrumente. Johannes verwendet den Begriff virtualiter hier in einem Sinn, der durchaus vergleichbar ist mit der rezenten Begriffsdimension: Er schafft damit zum einen eine besondere, markierte Realität, denn normalerweise finden sich keine anderen Instrumente in der Viella; dies wird lediglich unter besonderen Voraussetzungen Realität (was ich mit dem Begriff der Markierung bezeichne), nämlich wenn die Viella als organologischer Ordnungsraum begriffen wird. Zum anderen ist diese markierte Realität räumlich formuliert: Mit der Viella sind nicht nur andere Instrumente mit gemeint, sie umschließt sie in der Formulierung Johannes’ räumlich (in se continet), wie das Viereck das Dreieck räumlich einschließt (in se includit). Freilich ist damit eine andere Raumart gemeint als eine, die mit physischen Mitteln messbar wäre; der Vergleich mit einem Zahlenraum und einem geometrischen Raum bestimmt den Raum der Viella als nicht-physische Raumart. Als dialektischer Raum ist diese Raumart in der philosophischen Diskussion des Mittelalters von zentralem Interesse und verknüpft in diesem Diskurs ganz regelmäßig mit der Formulierung continere virtualiter den Virtualitätsbegriff mit einer räumlichen Vorstellung.27 Vorerst28 kann also festgehalten werden, dass Virtualität als markierte Realität offenbar bereits ein Phänomen mittelalterlichen Denkens ist und dass dieses Phänomen räumlich kommuniziert werden kann: Die markierte Realität der Viella, auf die es Johannes ankommt, ist ihr virtuelles Einschließen, ihre räumliche Inklusion aller anderer Instrumente – freilich nicht in einem physischen Sinne. 25 Johannes de Grocheio 1973, S. 134‒136, Übersetzung nach Rohloff, Hervorhebungen durch mich. 26 Zur Semantik vgl. Georges 1998, Art. virtus, Bd. 2, S. 3514. Die Qualität beruht bei Johannes darin, dass mit der Viella im Unterschied zu anderen Instrumenten „omnes formae musicales subtilius discernuntur“ (Johannes de Grocheio 1973, S. 136. „dass bei ihr alle musikalischen Formen feinsinniger unterschieden werden“, Übersetzung nach Rohloff). Johannes verwendet den Begriff virtualiter hier im Zusammenhang mit einem rhetorischen locus, eine in der mittelalterlichen Philosophie gebräuchliche Verwendung (vgl. dazu ausführlich Kann 2005, zur Semantik v. a. S. 378). 27 Zum Virtualitätsbegriff in der mittelalterlichen philosophischen Diskussion grundsätzlich und auf breiter Textbasis vgl. Kann 2005. 28 Auf die Örtlichkeit der logischen Argumente, auf die Johannes hier zurückgreift, wird im Rahmen der Memoria noch genauer einzugehen sein, s. u., Kap. 3.2.1.3.
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Virtuelle Räume und der kommunikative Akt des Erzählens
2.1.3 Annäherung über den Gegenbegriff: eine Sackgasse Markiertheit und räumliche Organisation reichen freilich für eine trennscharfe Definition des virtuellen Raumes nicht aus, sie würde in dieser Form noch für jeden in irgendeiner Art und Weise besonderen Raum zutreffen. Präzisierung könnte eine Annäherung über den Gegenbegriff versprechen. Gerade hier aber besteht in der jüngeren Forschung Unklarheit; oftmals wird der reale Raum als Gegenbegriff zum virtuellen Raum verwandt, so etwa im Vorwort zu Elisabeth Vavras einschlägigem Sammelband Virtuelle Räume: Definiert wurde der ‚virtuelle‘ Raum als Raum, der immer dann entsteht, wenn reale topographische Koordinations- und Raumstiftungselemente durch Konstituenten anderer Kategorien überformt werden.29
Signalisieren bereits die einfachen Anführungszeichen eine verunklarende Distanzierung vom Virtualitätsbegriff, so taugt die Gegenüberstellung real – virtuell auch nicht für eine sinnvolle Begriffsbestimmung; wieso sollte gerade der topographische Raum real sein im Gegensatz zum virtuellen und notwendigerweise den Rahmen für diesen abgeben? Realitätsstiftend sind auch im naturwissenschaftlich geprägten Zeitalter der Neuzeit weniger topographische oder physikalische Konstituenten des Raumes, als vielmehr seine sozial erfahrbaren und kommunizierten Aspekte30 – die Grenzen des privaten Raumes beispielsweise 29 Vavra [Hrsg.] 2005, S. IX. Realer Raum als Gegenbegriff zu virtueller Raum verwenden auch Krapp/Wägenbaur 1997, S. 7f.; Jucker 2005, S. 13; Zettler 2005, S. 44; Kwastek 2005, S. 149; Pochat 2005, S. 142f.; Brinker-von der Heyde 2005, S. 211; Englisch 2007, S. 42f., 46; Ernst 2007, S. 158, 160. 30 Gerade der Raumbegriff Albert Einsteins ist hierfür beispielhaft, macht Einstein doch den (im weiteren Verlauf physikalisch beschriebenen) Raum von der sinnlich wahrnehmbaren Körperwelt einerseits und von einem kollektiv imaginierten Zentralkörper andererseits abhängig: „Ich kann Körper durch sinnliche Merkmale wiedererkennen, ohne sie bereits räumlich zu erfassen. Ist in solchem Sinne der Körperbegriff gebildet, so zwingt uns die sinnliche Erfahrung dazu, Lagen-Beziehungen zwischen den Körpern festzustellen, d. h. Relationen der gegenseitigen Berührung. Was wir als räumliche Beziehungen zwischen Körpern deuten ist nichts anderes. […] Wie kommt aber der Raumbegriff selbst zustande? Wenn ich die Körper allesamt weggenommen denke, bleibt doch wohl der leere Raum über? Soll etwa auch dieser vom Körperbegriff abhängig gemacht werden? Nach meiner Überzeugung ganz gewiß! Bei Betrachtung der Lagerungsbeziehungen der Körper gegeneinander empfindet es nämlich der menschliche Geist als das Einfachere, die Lagen aller Körper auf die eines einzigen zu beziehen, als die verwirrende Mannigfaltigkeit jedes Körpers gegen alle anderen geistig zu verwirklichen. Dieser eine Körper, der allgegenwärtig und für alle anderen durchdringlich sein müßte, um mit allen in Berührung zu sein, ist uns allerdings nicht sinnlich gegeben, aber wir fingieren ihn zur Bequemlichkeit unseres Denkens. In unserem praktischen Alltagsleben spielt die Oberfläche des Erdkörpers eine solche Rolle in der
Annäherungen an den Begriff des virtuellen Raums
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sind nicht auf die physischen Grenzen der Wohnungsmauern beschränkt31 oder aber von den topographischen Gegebenheiten der jeweiligen Heimat abhängig, dennoch kann dem privaten Raum Realität nicht abgesprochen werden. Der spatial turn verallgemeinert diese kulturelle Bestimmung des Raumes radikal: So sind fast alle Ansätze des spatial turn auf einen gemeinsamen Nenner bezogen, auf den Raumbegriff von Henri Lefebvre, einem marxistischen Klassiker der Raumtheorie. Er hat die Produktion von Raum in den Blick gerückt, seine unverzichtbare Verknüpfung mit sozialer Praxis. Die soziale Konstituierung des Räumlichen wird hier ebenso betont wie die Rolle des Raumes für die Herstellung sozialer Beziehungen. Es sind also die gelebten, sozialen Praktiken der Raumkonstitution, auch der Ein- und Ausgrenzungen, auf die hin die meisten raumbezogenen Untersuchungseinstellungen im Zuge der Raumwende ausgerichtet sind.32
Auffassung der räumlichen Beziehungen zwischen den Körpern, daß durch ihre Existenz die Bildung des so skizzierten Raumbegriffs sehr erleichtert worden sein mag“ (Einstein 2006, S. 94f.). 31 Hannah Ahrend führt dies am Beispiel der griechischen Polis aus: „Das griechische Gesetz war wirklich eine ‚Gesetzesmauer‘ und schuf als solche den Raum einer Polis; ohne diese Mauer konnte es zwar eine Stadt im Sinne einer Ansammlung von Häusern für das Zusammenleben von Menschen geben […, aber] keinen Stadtstaat als eine politische Gemeinschaft. […] Ohne die Mauer des Gesetzes konnte ein öffentlicher Raum so wenig existieren wie ein Stück Grundeigentum ohne den es einhegenden Zaun; jene umhegte und beherbergte das politische Leben der Stadt, wie dieser das ‚private‘ Leben ihrer Bewohner schirmte und schützte“ (Ahrend 2006, S. 430f.). Indem Ahrend die Gesetzesgrenze direkt mit der Zaungrenze auf eine Ebene stellt, wird offensichtlich, dass sie die Zaungrenze nicht in einem physischen, sondern vielmehr in einem semantischen Sinne verwendet. Zur mittelalterlichen Dialektik von Abhängigkeit und Unabhängigkeit des privaten Raumes von Architektur vgl. Strohschneider 2000, S. 32f.; Kern-Stähler 2005. 32 Bachmann-Medick 2009, S. 291. Im Ansatz führt Michael Jucker diese kulturelle Bestimmung von Räumen für die spätmittelalterliche Eidgenossenschaft in seinem Aufsatz Kommunikation schafft Räume in Anlehnung an Maresch/Werber 2002 aus: „Räume sind in ihrer Historizität vielfältig und werden durch kulturelle Codes und ‚Zuschreibungen kommunikativ erst erzeugt und hervorgebracht‘“ (Jucker 2005, S. 14). Im weiteren Verlauf arbeitet Jucker den Zusammenhang von Topographie und Imagination heraus, spricht allerdings – tendenziell gegen seinen am spatial turn orientierten Ansatz – dem kollektiv imaginierten Raum (in meinem Sinne damit virtuellen Raum, s. u.) der Schweiz tendenziell Realität ab: „Ausgangspunkt dieses Beitrages ist es, dieses Spannungsfeld von imaginierten Räumen einerseits und historisch feststellbaren, vielleicht etwas realer gearteten Raumstrukturen am Beispiel der Eidgenossenschaft zu erörtern“ (ebd.). Was Jucker jedoch aufzeigen kann, ist gerade das Gegenteil: „Imaginierte Räume vermischen sich […] zusammen mit Verfassungs- und Nationalgeschichte zu einem staatlichen, räumlich orientierten Konstrukt, das so nicht existiert hatte“ (ebd., S. 26), nichtsdestoweniger aber für das Selbstverständnis der Schweiz offenbar grundlegend war; paradox müsste man formulieren: Die historischen Realitäten konnten keine Realität ausbilden, diese wurde vielmehr auf der Basis kollektiver Imagination konstruiert. Gerade hier von einem höheren Realitätsgrad der historisch eruierbaren Raumstrukturen gegenüber den kollektiv imaginierten (in meinem Sinne virtuellen, s. u.) Raumstrukturen zu sprechen, erscheint fragwürdig.
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Virtuelle Räume und der kommunikative Akt des Erzählens
Ralf Schlechtweg-Jahn zieht aus dem kulturbestimmten Raumbegriff des spatial turn die Konsequenz für die höfische Kultur des Mittelalters, den virtuellen Raum nicht mehr als Gegensatz zum realen Raum, sondern als Bindeglied zum fiktionalen Raum der Literatur zu begreifen; symptomatisch ist es dabei der Begriff der Realität (nicht mehr wie bei Vavra der Begriff der Virtualität), der in distanzierenden Anführungszeichen steht: Mein Vorschlag ist es […], das ganze Verhältnis von ‚realem‘ und fiktionalem Hof im Rahmen eines Konzepts von virtuellem Raum neu zu denken. Ich gehe dabei grundsätzlich davon aus, das [sic] menschliche Handlungsräume soziale Konstrukte sind. Dabei ist eine Vielfalt von Raumtypen grundsätzlich denkbar, die mir den einfachen Gegensatz von ‚realem‘ und fiktiven Raum deutlich unterkomplex erscheinen lassen.33
Auf diesen Ansatz wird noch zurückzukommen sein. Vorerst aber ist zu konstatieren, dass die Annäherung über den Gegenbegriff zur Virtualität keine Klarheit verschafft: Meines Erachtens handelt es sich nicht um einen streng dualistischen Begriff, der im Rahmen eines Gegensatzpaares (etwa virtuell – real) existiert. Darauf weist bereits die moderne Begriffsverwendung hin, die von virtueller Realität spricht, Virtualität also als Näherbestimmung einer ontologischen Kategorie, nicht aber selbst als ontologische Kategorie verwendet. Dies kann auch für die mittelalterliche Begriffsverwendung von virtualiter in Bezug auf den locus dialecticus festgestellt werden, wie Christoph Kann anhand der Summe Metenses von Nicolaus Parisiensis und den Schriften Johannes’ Buridianus ausführt: „Zu registrieren ist hier eine terminologische Parallele, zugleich aber auch ein signifikanter sachlicher Unterschied zwischen der heute üblichen Rede von virtueller Realität, virtuellen Welten, virtuellem Raum usw. einerseits und dem, was ein locus dialecticus dem Vermögen nach bzw. virtuell enthält (continet virtualiter). So ist in Buridianus’ Ausführungen zum dialektischen Ort virtualiter nicht Gegenbegriff zu realiter in dem Sinne, in dem man etwa reale Räume von virtuellen Räumen dichotomisch unterscheidet, sondern […] zu quantitative. […] Beide [Adverbien] stehen für unterschiedliche Versionen des Beinhaltens, wobei die Weise des Beinhaltens von der Art des Inhalts bestimmt wird“.34 Auch im Mittelalter wird virtuell also nicht als ontologische Kategorie verwendet. In der Philosophie der Neuzeit fungiert Virtualität durchaus als ontologischer Begriff, sein Verhältnis zu Realität ist allerdings umstritten: Friedrich Bouterwek etwa begreift in seiner Idee einer Apodiktik von 1799 Realität ganz subjektorientiert als aus Kraft und Widerstand zusammengesetzt; die aus diesen relativen Größen zusammengesetzte, absolute Realität setzt er mit Virtualität gleich: „Kraft in uns oder außer uns ist relative Realität. Widerstand ist entgegen gesetzte, also auch relative Realität. Beyde vereinigt sind Virtualität. Durch Virtualität sind wir. Die absolute Realität ist nichts anderes als eben diese Virtualität, die in uns ist, wie wir in ihr sind“.35 Erst mit der Physik des frühen 20. Jahrhunderts geht die radikale, ontologische Umbewertung der Virtualität 33 Schlechtweg-Jahn 2005, S. 70. 34 Kann 2005, S. 377f. 35 Bouterwek 1799, S. 68.
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einher als „eine vorübergehende, quasi-irreale Seinsweise eines Objektes, das mit Kategorien der Vorhandenheit nicht zu fassen ist“.36
Die Annäherung an den Virtualitätsbegriff über seinen vermeintlichen dualistischen Gegenbegriff führt nicht weiter und entpuppt sich als Sackgasse.
2.1.4 Annäherung über den Dachbegriff: Virtueller Raum als spezifischer Raum Für unseren Zusammenhang fungiert der Virtualitätsbegriff in erster Linie als Näherbestimmung der ontologischen Kategorie Raum, so dass eine Annäherung an das Phänomen virtueller Raum über den Dachbegriff vielversprechend erscheint. Raum möchte ich vorerst heuristisch definieren als durch Ausdehnung und Inhalt bestimmte und begrenzte Entität. Mit Ausdehnung ist hier nicht automatisch eine physische Kategorie gemeint. Erst mit Descartes und seiner dualistischen Trennung zwischen res cogitans und res extensa geht die tendenzielle Identifizierung von Raum und Volumen, also physisch messbarer Ausdehnung, einher:37 „Das Cartesische Modell des Sehens ist das Tasten“.38 Für einen auf mittelalterliche Kultur und Literatur anwendbaren Raumbegriff wäre der cartesianische Dualismus eine unzulängliche Verkürzung; was nach Descartes als Dualismus zwischen einer physischen und einer psychischen Ausdehnung erscheint, liegt dem Denken des Mittelalters (und mutatis mutandis auch der Postmoderne) als Dialektik vor. Die Bestimmung des Raumes als begrenzte Entität erscheint für eine Anwendung auf das Mittelalter nicht problematisch: Zwar wurde die Idee eines unbegrenzten Raumes in der europäischen mittelalterlichen Philosophie durchaus in Anlehnung an arabische Aristoteleskommentatoren diskutiert, aber als Gottesattribut aus der geschaffenen Welt ausgelagert.39 Begrenztheit verstehe ich im Übrigen nicht notwendigerweise im Sinne einer Außengrenze (die etwa architektonische Räume formt), Raum kann auch von einem Zentrum bzw. seinem Inhalt aus begrenzt sein (wie z. B. psychische Räume geformt werden);40 das moderne Sprechen vom Weltraum als „der unendliche raum, in dem sich die weltkörper befinden“41 verweist darauf, dass die reine Ausdehnung ohne Inhalt kaum denkbar ist42 und demnach auch der unbegrenzte Raum letztlich von seinem Inhalt bestimmt und solchermaßen begrenzt wird.43 Moderner literarischer Niederschlag 36 Vaihinger 1997, S. 21; zur Begriffsgeschichte vgl. ebd. 37 Vgl. Günzel 2006, S. 22f.; Einstein 2006, S. 95. 38 Merleau-Ponty 2006, S. 180. 39 Vgl. Störmer-Caysa 2007, S. 31‒34. 40 Zur Historisierung dieser Grenzart vgl. Wagner 2015a. 41 Grimm/Grimm 2004, Art. Weltraum, Bd. 28, Sp. 1674‒1676, hier Sp. 1674. 42 Zur mittelalterlichen, neuplatonistischen Diskussion des inhaltlosen Raumes – der allerdings nicht wahrnehmbar ist – vgl. Störmer-Caysa 2007, S. 23‒26. 43 Auf die Geozentrik des nur scheinbar standpunktlosen, kopernikanischen Weltraums macht Edmund Husserl aufmerksam und proklamiert schließlich – als fragenden Ausblick – die „Ko-
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Virtuelle Räume und der kommunikative Akt des Erzählens
dieser Begrenzung eines unendlichen Raumes durch sein Zentrum sind die Grenzen von Phantasien in Michael Endes Die unendliche Geschichte; für ein mittelalterliches Weltverständnis ist die Begrenzung eines Raumes von seinem Zentrum her prädestiniert über den Herrschaftskörper, der den Repräsentationsraum „als Mittelpunkt eines dreistrahligen Koordinatensystems – also in Höhe, Breite und Tiefe – überhaupt erst bildet“.44 Jenseits der philosophischen Diskussion und hinsichtlich der erzählenden mittelalterlichen Literatur ist die Idee eines grenzenlosen oder leeren Raumes sowieso hinfällig: „Das sympathetische und nachvollziehbare Raumverhältnis ihrer Entstehungszeit ist den Wegeschilderungen der Romane für immer eingeschrieben. Sie kodieren eine archaische, aber radikale Subjektivität der Raumerfahrung, eine Bindung des räumlichen Weltabbildes an die Wahrnehmung des gehenden oder reitenden Menschen“.45
Raum ist in der denkbar weiten Definition als durch Ausdehnung und Inhalt bestimmte und begrenzte Entität noch kaum operational (will man nicht wieder auf physikalische Messverfahren zurückgreifen, die jedoch für literarische Räume gänzlich unbrauchbar wären, von ihrer historischen Fragwürdigkeit ganz zu schweigen); um einen operationalisierbaren Raumbegriff zu erarbeiten, möchte ich den Blick auf die Verben ‚bestimmen‘ und ‚begrenzen‘ lenken und die damit verbundenen, aktiven Handlungen. Raum ist als in diesem Sinne hergestellte Entität die Form, die durch Inklusion und Exklusion entsteht. Die ältesten Bedeutungsschichten des Raumbegriffes im germanischen Sprachraum führen vor allem Exklusion (und anschließende Inklusion) ganz praktisch mit sich: Das Grimmʼsche Wörterbuch führt auf der Basis eines diachronen Vergleichs aus, dass „alles […] auf raum als einen uralten ausdruck der ansiedler hin[weist], der zunächst die handlung des rodens und frei machen seines Siedelplatzes bezeichnete […], dann den so gewonnenen Siedelplatz selbst“.46 Sebastian Baier führt den Aufbau eines literarischen Raumes durch In- und Exklusion am Beispiel des Intimraumes im Tristanroman Gottfrieds vor: „Intime Räume werden […] durch die Handlungen einer Intimdyade erzeugt. Durch inkludieren-exkludierende Binnenkommunikation kann dann gar in einem öffentlichen Raum ein virtueller intimer Raum aufgespannt werden“.47 Ich denke allerdings, dass die Konstruktion eines Raumes durch In- und Exklusion nicht auf den Intimraum oder/und den virtuellen Raum beschränkt ist, sondern das Phänomen Raum selbst ausmacht.48 Hier liegt die Spezifik virtueller Räume noch nicht. pernikanische Umwendung der Kopernikanischen Umwendung“: „sie bewegt sich nicht?“ (Husserl 2006, S. 163); zur sprachlichen Geozentrik der Beschreibung des Weltraums vgl. Flusser 2006, S. 274f. 44 Lechtermann 2005, S. 176. 45 Störmer-Caysa 2007, S. 64. 46 Grimm/Grimm 2004, Bd. 14, Sp. 275‒283, hier Sp. 275. 47 Baier 2005, S. 193. 48 Ähnlich allgemein setzt Michel Foucault den Raumbegriff in Bezug auf die Konstitution von Gesellschaften an: „Nach Foucault konstituiert sich eine soziale Wissensordnung generell topologisch durch die Ausgrenzung eines – historisch veränderlichen – Anderen, d. h. durch etwas, das zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht diskursivierbar ist und damit zum ‚Außen des Denkens‘ wird“ (Dünne 2006, S. 292; vgl. auch Foucault 2006).
Annäherungen an den Begriff des virtuellen Raums
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Beim mittelalterlichen Beispiel der Viella schafft Johannes Raum, indem er alle Saiteninstrumente in die Viella inkludiert und im Umkehrschluss anschließend alle anderen Instrumente (und die ihnen zugeordnete Musik) exkludiert: Licet enim aliqua instrumenta suo sono magis moveant animos hominum, puta in festis, hastiludiis et torneamentis tympanum et tuba, in viella tamen omnes formae musicales subtilius discernuntur. Et ideo de his tantummodo nunc dicatur.49
Wenn auch manche Instrumente mit ihrem Klange die Gemüter der Menschen mehr bewegen, zum Beispiel bei Festen, Speerspielen und Turnieren die Pauke und die Trompete, so werden doch auf der Viella alle musikalischen Formen feinsinniger unterschieden. Deswegen möge jetzt nur von diesen gesprochen werden.
Inklusion und Exklusion erfolgen über Kommunikation. Die Raumdefinition ist (wie bereits skizziert) deswegen aus kulturwissenschaftlichem Blickwinkel um den Kommunikationsbegriff zu erweitern: Raum ist eine durch Ausdehnung und Inhalt bestimmte und begrenzte Entität, die im Einzelnen durch die Kommunikation kultureller Wahrnehmungs- und Handlungsmuster formiert wird. Peter Strohschneider führt dies am Beispiel der Kemenate aus und beschreibt explizit das Hoch- und frühe Spätmittelalter als Welt, „in welcher Kommunikation (selbst noch die schriftlich vermittelte) hauptsächlich Interaktion unter Anwesenden ist in Räumen körperlicher Kopräsenz, eine Welt, in welcher Kommunikation also selten entkoppelt wird vom Körper der Kommunizierenden und in welcher daher die Konstitution auch größerer sozialer Einheiten […] erst ansatzweise abstrahieren kann von deren Kommunikationslokalen und Orten. […] Nicht nur ist jede Raumordnung auch eine Kommunikationsanordnung, sondern es ist umgekehrt unter solchen Verhältnissen beinahe jede Kommunikationsordnung in einer sichtbaren räumlichen Ordnung konkretisiert. Die freilich muß keineswegs architektonisch strukturiert oder auch nur immobil sein“.50
Zu unterscheiden ist bei der kommunikativen Formierung des Raumes zwischen einer Kommunikation über die In- und Exklusion eines Raumes und einer Kommunikation auf der Basis der vorausgegangenen In- und Exklusion, die also nur von inkludierten Personen in dem bereits erzeugten Raum ausgeführt werden kann. Alle Einwohner einer Stadt etwa können darüber kommunizieren, wer im Raum des Bordells inkludiert ist, und diese Kommunikation über In- und Exklusion des Raumes Bordell formiert diesen bereits. Anschließend freilich können innerhalb des solchermaßen formierten Raumes ganz andere In- und Exklusionen kommuniziert werden, die den Raum zwar sicherlich verändern, nicht aber
49 Johannes de Grocheio 1973, S. 136, Übersetzung nach Rohloff. 50 Strohschneider 2000, S. 30.
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Virtuelle Räume und der kommunikative Akt des Erzählens
die formierende Kraft der externen Kommunikation über In- und Exklusion gänzlich verlassen. Im Falle der Viella erfolgt die raumerzeugende Kommunikation über Inund Exklusion in der traditionellen Form eines musiktheoretischen Traktates, das im Einzelnen auf überkommene kulturelle Wahrnehmungsmuster (etwa die verschiedenen musikalischen Formen) und Handlungsmuster (etwa die höhere Bewertung des Ganzen im Vergleich zu seinen Teilen) zurückgreift. Erschaffen wird der Raum der Viella bereits durch diese Kommunikation über In- und Exklusion, eine anschließende Kommunikation innerhalb des Raumes ist dafür nicht nötig (und wird bei Johannes auch nicht beschrieben). Dieses immer noch sehr weite Verständnis von Raum spiegelt sich in der sprachlichen Vielfältigkeit der Verwendung des Raumbegriffs wider, bedarf aber zusätzlicher Näherbestimmungen, um operational zu werden. Dabei möchte ich zwei grundsätzliche und einander ergänzende Kategorien der Näherbestimmung unterscheiden: Inhalt und Modus. Inhaltlich können Räume über das Was der In- und Exklusion unterschieden werden: Die In- und Exklusion von handelnden Personen etwa bildet soziale Räume,51 von empfundenen Gefühlen psychische Räume, von messbaren Körpern physische Räume;52 Johannes inkludiert in der Viella instrumentale Ordnungsbegriffe (nicht etwa einzelne Instrumente) und bildet so einen systematischen Raum. Alle diese inhaltlich differenzierten Raumarten sind aber vollgültig Raum im Sinne der Definition; der physische Raum ist ebenso wenig wirklicher, wie der soziale Raum metaphorischer zu verstehen wäre. Modal können Räume über das Wie der In- und Exklusion unterschieden werden: In- und Exklusion können beispielsweise im Modus der Kommunikationsdynamik betrachtet statisch (z. B. der architektonische Raum eines Fertighauses) oder dynamisch (z. B. der soziale Raum des Freundschaftskreises) erfolgen; sie können im Modus der Kommunikationskomplexität betrachtet vielfältig oder einfach erfolgen, sie können im Modus der Kommunikationsvarianz betrachtet stets identisch oder aber variabel erfolgen. Der virtuelle Raum nun bildet sich – so meine Arbeitsthese – vornehmlich über den Modus der Kommunikationszugänglichkeit aus: Die Kommunikation über In- und Exklusion kann nämlich selbst mehr oder weniger exklusiv erfolgen, also einem unterschiedlichen Grad der Zugänglichkeit unterworfen sein. 51 Zur Ausbildung sozialer Räume vgl. etwa Bourdieu 2006. 52 Descartes „Natur der Materie“, die „ein in Länge, Breite und Tiefe ausgedehntes Ding ist“ (Descartes 2006, S. 44), wäre demnach nicht die Grundlage für Raum, sondern lediglich die Grundlage für eine spezifische, eben physische Raumart, die vor allem für das Mittelalter keinesfalls als dominanter Raumbegriff angesetzt werden kann.
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Zunächst sind hier zwei idealtypische Pole zu unterscheiden: Gibt es nur einen einzigen Kommunikationsteilnehmer,53 erfolgt also die raumgenerierende Kommunikation ausschließlich mit sich selbst, so ist der Raum imaginär. Ein Kind etwa, das von der Schule träumt, imaginiert in diesem Traum einen (wie auch immer aufgebauten) Schulraum, dem nur für den Träumenden und für die Dauer des Traumes Existenz zukommt. Auf der anderen Seite gibt es Räume, die über Kommunikationen erzeugt werden, deren Zugänglichkeit für die gesamte Bezugsgesellschaft54 grundsätzlich offen ist. Dies heißt nicht, dass die gesamte Bezugsgesellschaft in diesen Räumen inkludiert ist, sondern lediglich, dass die gesamte Bezugsgesellschaft an der raumgenerierenden Kommunikation über Inund Exklusion teilnehmen kann. Die auf diese Weise erzeugten Räume möchte ich als normale Räume bezeichnen, da gerade im Begriff der Normalität zugleich 53 Dieser Entwurf einer Kommunikation mit nur einem einzigen Kommunikanten wirft die Frage auf, ob ein solchermaßen imaginärer Modus auch mit vormodernen Kommunikationsmodellen denkbar ist. Als philosophischen Beleg verweise ich auf den platonischen Dialog Theätet (einem für die hochmittelalterliche Gelehrsamkeit zentralen Text), in dem Sokrates den Begriff „Denken“ wie folgt definiert: „Ein Gespräch, welches die Seele mit sich selbst hält über den Gegenstand ihrer Untersuchung. […] Mir stellt sich die Sache nämlich so dar, als ob die Seele, wenn sie denkt, nichts anderes tut als daß sie redet, indem sie sich selbst fragt und die Frage beantwortet und bejaht und verneint“ (Platon 2004a, S. 108). Dass auch die mittelalterliche Epik die Kommunikation eines einzelnen Kommunikanten mit sich selbst kennt, belegt bereits die berühmte Frage Iweins „bistuz Îwein, ode wer?“ (Iwein, V 3509; „Bist du es, Iwein, oder wer?“), weitaus ausladender der Minne-‚Monolog‘ im Mauricius von Craûn, der formal ein Dialog mit sich selbst ist, in dessen Rahmen von Rede und Gegenrede Mauricius zwei gegensätzliche Positionen vertritt und sich selbst kommuniziert (vgl. Mauricius von Craûn, VV 426‒523). Joachim Bumke beschreibt das Sprechen mit sich selbst als grundsätzliches Charakteristikum Enites: „Die charakteristische Form für Enites Reden ist in Hartmanns Dichtung das Selbstgespräch, die Rede mit sich selbst, gelegentlich in der Form des laut gesprochenen Monologs, häufiger in Gestalt der lautlosen Rede, der Gedankenrede (locutio in mente), des inneren Wortes, das vom Mund des Herzens gesprochen wird“ (Bumke 2006, S. 121f. Zur Einbettung des literarischen Phänomens in die Philosophie des 12. Jahrhunderts vgl. ebd., S. 123f.). Man sieht, dass gerade für die mittelalterliche Epik (bedingt auch durch ihre Aufführung, wobei hier die Kommunikation mit sich selbst natürlich auch beobachtet und Teil einer größeren Kommunikation werden kann) das Sprechen mit sich selbst keine Ausnahme ist, sondern einen Normalfall neben anderen darstellt. Gert Hübner bezeichnet die Kommunikation mit nur einem Teilnehmer mit dem bereits bei Augustinus belegten Begriff Soliloquium: „Soliloquien sind, ob laut gesprochen oder gedacht, immer autokommunikativ“ (Hübner 2003, S. 49). 54 Ich wähle den Term „Bezugsgesellschaft“, da in Anwendung auf das Mittelalter nicht von einer miteinander kommunikativ verbundenen Gesamtgesellschaft im heutigen Sinne auszugehen ist, die mit dem Term „die Gesellschaft“ angesprochen wäre. Dagegen lassen sich Teilbereiche von Gesellschaft unterscheiden, etwa der Hof, der für die höfische Literatur die grundsätzliche Bezugsgesellschaft darstellt. Vgl. dazu auch die Ausführungen zu Diskurs und Interdiskurs in Kap. 3.
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die notwendige inhaltliche Unschärfe55 und der Aspekt der Unmarkiertheit zusammenfallen. Der Begriff „normal“ mag spontan als systematischer Begriff auf Ablehnung stoßen; meines Erachtens taugt er aber weitaus eher zur Bezeichnung eines allgemeinen, heuristischen Realitätsbegriffes mit breitester gesellschaftlicher Zustimmung als begriffliche Verrenkungen wie das Sprechen von „dem herkömmlichen Wirklichen“, der „traditionell als [gegebene] Wirklichkeit verstandene[n] Wirklichkeit“ oder gar dem Paradoxon „wirkliche Wirklichkeit“, wie sie Dirk Vaihinger auf engstem Raum ausführt.56 Zudem erscheint er auch der mittelalterlichen Denkweise zu entsprechen: Christoph Kann führt in Bezug auf die rhetorischen loci communes aus, dass in der mittelalterlichen Philosophie (im Unterschied zu der hellenistischen Diskussion) durchaus ein Bewusstsein für den Unterschied zwischen der eigentlichen Begriffsverwendung des locus-Begriffs (locus naturalis) und seiner uneigentlichen Verwendung (locus dialecticus) herrschte,57 dass aber in der Reflexion dieses Unterschiedes gerade der locus naturalis kaum explizit bestimmt wird: „Es wird also nicht ausdrücklich auf eine bestimmte philosophische Lehre oder Position, sondern – etwa in der Formulierung locus in communi sermone – scheinbar auf das Alltagsverständnis von locus Bezug genommen“.58 Dieser locus in communi sermone trägt in seiner Unbestimmtheit durchaus den Sinn eines normalen Raumes. Auf den im Begriff mitschwingenden Aspekt der Normativität werde ich im Zuge meiner Überlegungen zu Raum und Institutionalisierung gleich noch näher eingehen.
Ein normaler Raum in diesem Sinne wäre etwa der Schulraum, in dem nicht nur viele Kommunikationsteilnehmer in ihren Rollen als Schüler, Lehrpersonal, Verwaltung etc. interaktiv agieren, sondern über dessen Inklusion und Exklusion bereits davor von allen Mitgliedern der Bezugsgesellschaft gemeinsam kommuniziert wird: Erwachsene können Kleinkindern erklären, dass sie bald in die Schule kommen werden, dafür jetzt aber noch zu klein sind; zugleich wird im Rahmen dieser Kommunikation klar, dass Erwachsene selbst aus dem Schulraum exkludiert sind (solange sie nicht spezifische Rollen einnehmen) und lediglich früher inkludiert waren. Es sind diese Kommunikationen über In- und Exklusion, die dem normalen Schulraum im Unterschied zu einem imaginierten Schulraum Dauer auch über die konkrete (Inter-) Aktion „Unterricht“ hinaus geben, nicht
55 Normale Räume sind auch im modernen Begriffsverständnis keineswegs etwa inhaltlich auf architektonische oder geographische Räume beschränkt, wie die umgangssprachliche Verwendung des Raumbegriffes belegt (etwa Raum schaffen, etw. Raum geben, Intimraum etc.). Seit 1950 sind überdies Floskeln wie „etwas in den Raum stellen“, „im Raum stehen / schwimmen“ in breitem Gebrauch, die allesamt dezidiert auf Kommunikation verweisen, vgl. Küpper 1997. Viele Belege einer breiten Begriffsverwendung seit dem Althochdeutschen finden sich bei Grimm/ Grimm 2004. 56 Vgl. Vaihinger 1997, S. 21. 57 Vgl. Kann 2005, S. 375. 58 Vgl. Kann 2005, S. 376.
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etwa bereits die physische Präsenz des Schulgebäudes, das nur so lange Schulgebäude ist und den Schulraum physisch markiert, solange die betreffende Schule keine Umfunktionalisierung erfährt. Der virtuelle Raum nun scheint in der Grauzone zwischen dem imaginären und dem normalen Raum angesiedelt zu sein:59 Die Kommunikation seiner Inund Exklusion sind weder auf einen Einzigen beschränkt, noch umfasst sie die gesamte Bezugsgesellschaft; sie wird vielmehr von einem bestimmten Personenkreis ausgeführt, gleichsam gemeinsam imaginiert. Imagination, also die spezifische Vorstellung eines Menschen, ist als solche natürlich nicht kommunizierbar. Kollektive Imagination ist solchermaßen ein Paradoxon bzw. bezeichnet eigentlich die Kommunikation über verschiedene Imaginationen, nicht aber die Kommunikation von einer gemeinsamen Imagination. Die daraus ggf. entstehende, intersubjektive Realität oder Fiktion überschreitet bereits den imaginären Raum und öffnet sich dem virtuellen. Paradebeispiel für diesen Zusammenhang sind sicherlich Rollenspiele, bei denen die Phantasien der Mitspieler (deren Imaginationen) auf der Basis eines gemeinsamen Regelwerkes (die Spieloberfläche, die Konstruktionsbedingungen der Avatare) miteinander in Kommunikation treten können und damit einen virtuellen Raum schaffen.60 Implizit betont auch Haiko Wandhoff die Wichtigkeit der Gemeinsamkeit der Imagination Einzelner für einen virtuellen Raum am Beispiel des Palästinaliedes Walthers: „So wird das imaginäre Hineinversetzen in diesen geheiligten Raum [gemeint ist das im Palästinalied generierte Heilige Land] durch jeden einzelnen Hörer und Leser zu einem kollektiven – und vor allem äußerst performativen – ‚In-BesitzNehmen‘ desselben: Das ich-jetzt-hier (des Pilger-Erzählers) […] verwandelt sich durch den Nachvollzug des Publikums zu einem wir-jetzt-hier (der christlichen Gemeinschaft), dem dort, in einem Außenraum, die Anderen gegenüberstehen, die Heiden, die diesen Ort […] ebenfalls für sich beanspruchen“.61 Mit ‚gemeinsamer Imagination‘ ist im Folgenden also nicht die Imagination 59 Eine ähnliche Unterscheidung legt Gerrit Jasper Schenk an: Er unterscheidet zunächst einen intersubjektiv wahrnehmbaren realen Raum von einem „nur in der Vorstellungswelt existenten“ imaginären Raum und definiert den virtuellen Raum als „eine Interferenz oder Amalgamierung von – immer idealtypisch gesprochen – ‚realem‘ und ‚imaginärem Raum‘“ (Schenk 2005, S. 217). Die Wahl des Begriffes „realer Raum“ führt freilich auch hier zu ontologischen Spannungen, da Schenk einerseits „naturräumliche Gegebenheiten“ ansetzt, andererseits aber auch die kulturelle Prägung betont: „Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass die Konstituierung dieser ‚realen‘ Räume durch die Menschen sehr stark von Raumvorstellungen determiniert wird, die nicht mit den menschlichen Sinnen intersubjektiv wahrgenommen werden können, nämlich z. B. von menschlichen Ideen und Institutionen, von Vorstellungen aus dem Sprach-Raum, dem Denk-Raum oder aus dem Raum der (kollektiven) Erinnerung“ (ebd., S. 216). Gerade der Begriff der kollektiven Erinnerung verweist aber darauf, dass es gerade diese nichtphysischen Raumvorstellungen sind, die intersubjektiv wirksam sind (die genauen physikalischen Maße des Kölner Doms beispielsweise werden kaum intersubjektiv nachvollzogen, seine historische Dimension dagegen schon). Auch vor diesem Hintergrund scheint mir der Begriff „normaler Raum“ viel treffender als „realer Raum“ zu sein. 60 Vgl. dazu exemplarisch Schmitz 2007. 61 Wandhoff 2004, S. 84, Hervorhebungen durch Wandhoff.
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der selben Vorstellung gemeint, sondern die Imagination vergleichbarer Vorstellungen, die einen kommunikativen Konsens ausbilden können.62
Da dem virtuellen Raum die gesamtgesellschaftliche Bestätigung des normalen Raumes fehlt, ist er in seiner Existenz auf die Dauer der spezifischen Kommunikation beschränkt.63 Um im Beispiel zu bleiben: Spielen mehrere Kinder Schule, so entsteht der Schulraum virtuell in der gemeinsamen Kommunikation räumlicher Muster.64 Der Raum ist für alle Teilnehmer dieser Kommunikation existent, 62 Haiko Wandhoff historisiert diese Vorstellung einer gemeinsamen Imagination für das Mittelalter, speziell auch für das höfische Erzählen: „Die Existenz von ‚Bildern im Geiste‘ steht […] für die mittelalterliche Kultur außer Frage – und damit zugleich auch die Vorstellung, daß auch die Literatur letztendlich eine Art ‚Bildmedium‘ sei. Deshalb konnten die Dichter fraglos davon ausgehen, daß die poetischen Bildnisse, die sie zunächst in ihrer Imagination entwarfen, ehe sie sie aufs Pergament brachten, bei ihrem Publikum in ähnlicher Gestalt wieder abgerufen werden konnten.“ (Wandhoff 2003, S. 28). 63 Am deutlichsten wird dieses Phänomen sicherlich am Beispiel des Chats: Hier stellt der jeweilige Anbieter eine Plattform zur Verfügung, auf deren Oberfläche unterschiedliche Räume gebildet werden, die sich durch unterschiedliche Grade der Kommunikationsexklusivität unterscheiden: Der grundsätzliche, öffentliche Chatraum, ggf. nach Themen unterteilt, und private Chaträume mit Zugangsbeschränkung bis hin zu Chaträumen, die lediglich für zwei Teilnehmer zugänglich sind. Allen Chaträumen gemeinsam ist, dass sie existenziell von den in ihnen stattfindenden Kommunikationen abhängig sind. 64 Dirk Vaihinger begreift das Spiel als „das Herzstück der Virtualität“ (Vaihinger 1997, S. 25), ausgehend allerdings von einem sehr auf die virtuelle Realität des Cyberspace konzentrierten Virtualitätsbegriff; Spiel ist sicherlich eine Paradeform eines virtuellen Raumes, aber nicht jeder virtuelle Raum ist zugleich Spiel in einem engeren Begriffsverständnis. Ein eindrückliches Beispiel für einen virtuellen Raum jenseits des Spiels führt Kurt Lewin in seinem klassischen Aufsatz Kriegslandschaft aus: „Wenn man von der Etappe sich wieder der Front nähert, so erlebt man eine eigentümliche Umformung des Landschaftsbildes. Mag man auch schon weiter zurück hin und wieder auf […] Kriegsspuren gestoßen sein, so hatte man sich doch in gewissem Sinne in einer reinen Friedenslandschaft befunden: Die Gegend schien sich nach allen Seiten hin ungefähr gleichmäßig ins Unendliche zu erstrecken. […] Die Landschaft ist rund, ohne vorne und hinten. Nähert man sich jedoch der Frontzone, so gilt die Ausdehnung ins Unendliche nicht mehr unbedingt. Nach der Frontseite scheint die Gegend irgendwo aufzuhören; die Landschaft ist begrenzt“ (Lewin 2006, S. 130, Hervorhebungen durch Lewin). Im Folgenden differenziert Lewin die solchermaßen für die militärische Betrachtungsweise gerichtete Landschaft in „Gefahrzone“, „Stellung“ und „Gefechtsgebilde“ weiter aus (vgl. ebd., S. 131‒137), wobei die „Gefechtsgebilde“ am deutlichsten eine alles umfassende, virtuelle Räumlichkeit bezeichnen, die alles andere als irreal ist: „Was innerhalb der Gefechtszone liegt, gehört dem Soldaten als sein rechtmäßiger Besitz, nicht weil es erobert ist – denn auf dem hinter der Stellung liegenden eroberten Gebiete verhält es sich anders –, sondern weil es als Gefechtsgebilde ein militärisches Ding ist, das naturgemäß für den Soldaten da ist. Selbst etwas so Barbarisches wie das Verbrennen von Fußböden, Türen und Möbeln ist völlig unvergleichbar mit einem derartigen Verbrauch von Möbeln in einem Hause nach Friedensbegriffen. Denn wenn auch diese Dinge ihre Friedensmerkmale
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für Außenstehende oder neu Dazukommende jedoch nur, insoweit sie die spezifischen Kommunikationsmuster des kindlichen Spiels bedienen können.65 Die raumgenerierende Kommunikation über In- und Exklusion dieses Schulraumes erfolgt nur unter Beteiligung seiner Inkludierten (der Mitspieler). Wird das Spiel beendet, so endet die Existenz des virtuellen Raums Schule.66 Der virtuelle Raum ist kommunikativ markiert, die Bestimmung seiner In- und Exklusion (und nicht nur er selbst) ist nicht normal zugänglich. Hier deutet sich die Nähe des virtuellen Raumes zum geheimen Raum an, der sich ebenfalls durch eine Exklusivität der raumgenerierenden Kommunikation auszeichnet, wie Peter Strohschneider für die Kemenate ausführt: „In der höfischen Literatur bezeichnet ‚Kemenate‘ also vor allem anderen eine Grenze im Innern höfischer Kommunikation, sei sie nun architektonisch hochgezogen oder durch Kommunikationsformen, Gebärden, Gesten und Requisiten etabliert. Wenn aber diese Grenze entlang der Unterscheidung der Geschlechterrollen von Männern und
nicht ganz verloren zu haben pflegen, so tritt doch sehr viel stärker der ihnen als Kriegsding zukommende Charakter in den Vordergrund, der sie häufig unter ganz andre Begriffskategorien zu ordnen veranlasst“ (ebd., S. 135). Schließlich skizziert Lewin auch die Rücktransformation des eben nur zwischenzeitig, für die Dauer der konkreten Kommunikation Stellungskrieg existenten virtuellen Raumes in den normalen Raum: „Wird eine Stellung im Bewegungskriege abgebrochen, so verschiebt sich nicht nur die Grenze und der Gefahrzonencharakter wird aufgehoben, sondern: Mit Verwunderung nimmt man wahr, daß, wo eben noch Stellung war, nun Land ist. […] Was von der Stellung zurückbleibt, sind die künstlichen Bauten, die Infantriegräben und Artilleriedeckungen, die nun jedoch isoliert, ohne sinnvollen Zusammenhang mit der Umgebung dastehen. Damit verlieren sie ihre richtende Kraft für das Landschaftsbild und sinken zu bedeutungslosen oder direkt sinnlosen Gebilden ‚im Lande‘ herab“ (ebd., S. 137f.). Lewin stellt in diesem Beispiel nicht nur dar, dass der virtuelle Raum auf die Dauer seiner raumschaffenden Kommunikation beschränkt ist (nach der Kommunikation „Stellungsschlacht“ ist der virtuelle Raum „Gefechtsgebilde“ nicht mehr existent), sondern auch, dass er exklusiv auf bestimmte Kommunikanten beschränkt ist: Nur Soldaten mit militärischer Ausbildung können aus einem normalen Alltagsraum ein Gefechtsgebilde herstellen. 65 Da jeder Raum auf der Basis gesellschaftlicher Muster konstruierter Raum ist, trifft dies streng genommen auch auf jeden Raum zu. Unterschiede gibt es dennoch in der Kommunikationszugänglichkeit, die beim kindlichen Spiel etwa in der Regel auf Kinder beschränkt bleibt; beteiligen sich Erwachsene am kindlichen Spiel, so müssen diese in der Regel zuerst ein Kind spielen, um sich in Folge am kindlichen Spiel beteiligen zu können (eine frühe, jedoch gerade für den Raumbegriff immer noch lesenswerte empirische Studie zum Spiel- und Lebensraum des Kindes liegt bei Muchow/Muchow 1935 vor, die die hier vorgestellten Merkmale eines virtuellen Raumes u. a. am Beispiel eines als Spielplatz genutzten Löschplatzes in Barmbeck herausarbeiten, vgl. v. a. S. 40‒55). Im eben ausgeführten Beispiel von Kurt Lewins Kriegslandschaft (s. o., Kap. 2.1, Anm. 64) ist die Zugänglichkeit der raumgenerierenden Kommunikation streng auf Soldaten beschränkt, was u. a. den solchermaßen generierten Raum als virtuellen Raum begreifbar macht. 66 Freilich kann bei einem neuen Spiel der kommunikativ errichtete Raum Schule wieder besucht werden.
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Frauen verläuft, dann entsteht so etwas wie ein Frauenraum, und zumal auf seine Grenzen der Kommunikation und der Kommunizierbarkeit verweist der Ausdruck ‚Kemenate‘ gleichfalls“.67 Nicht jeder geheime Raum ist aber zugleich ein virtueller Raum; geheim ist ein Raum bereits, wenn seine Existenz nicht bekannt ist (etwa ein geheimes Verlies), virtuell wird er erst, wenn die Kommunikationsmuster seiner Konstruktion nicht allgemein zugänglich sind – wie dies bei der genderbestimmten Kemenate der Fall ist, die sich damit als Beispiel eines virtuellen Raumes entpuppt; Strohschneider begreift dies als doppeltes Geheimnis, wie er es am konkreten Text Arabel ausführt: „Die Sphäre der weiblichen Geheimnisse im zweiten Teil von Ulrichs ‚Arabel‘Roman ist nicht räumlich-architektonisch oder zeremoniell fest institutionalisiert. Das heißt, sie gewinnt im Evidenzraum der höfischen Öffentlichkeit keine symbolische Präsenz. Sie ist allein von einer von außen, vom Schauplatz höfischer Repräsentation her ihrerseits unsichtbaren Grenze der Kommunikation und Kommunizierbarkeit eingehegt. Man könnte sagen: Die textinterne Männerwelt kennt nicht nur die Geheimnisse nicht, sie weiß gar nicht, daß es welche gibt“.68
Aus der begrenzten Kommunikationszugänglichkeit erklärt sich die tendenzielle Identifikation des virtuellen Raumes mit der computergenerierten virtual reality in der Postmoderne: Nicht nur Besitz von, sondern vor allem Kenntnis des Umgangs mit der grundlegenden Technik erzwingt hier eine Vorauswahl der Gruppe derjeniger, die den jeweiligen virtuellen Raum über In- und Exklusion konstruieren können und für deren Dauer der Kommunikation er existent ist.69 67 Strohschneider 2000, S. 32f. 68 Strohschneider 2000, S. 38. 69 Für den postmodernen Cyberspace drückt Vilém Flusser diesen Aspekt der Vorauswahl der Kommunikationsteilnehmer kämpferisch aus: „Die alternativen Welten, die aus den Computern zu entstehen beginnen, sind Ausdruck einer Bewußtseinsebene, an der die meisten nicht teilnehmen können und daher meinen, daran auch nicht teilnehmen zu wollen“ (Flusser 1991, S. 151. Vgl. auch Vaihinger 1997, S. 33, der die immer wieder behauptete Immaterialität der neuen Medien auf Hardware und Energie zurückführt und ihren Realitätsanspruch damit in physikalischer Hinsicht untermauert). Die Konzentration auf den Cyberspace verdeckt jedoch leicht, dass der virtuelle Raum auch in der jüngeren Vergangenheit keineswegs auf das Medium Computer angewiesen ist, sondern mit jeder Erstarkung eines neuen Kommunikationsmediums verstärkt wahrgenommen wird, wie exemplarisch an der Einführung des Telefonnetzes um die Jahrhundertwende und seiner Weiterentwicklung zu zeigen ist: „Wiederum entwickelt sich mit der neuen Technologie eine völlig neue Form der Kommunikation. Nicht nur Worte und Inhalte, sondern auch Ton, Klang, Person werden durch den Draht mit übermittelt. Damit dringt etwas neues in die Wohnungen ein: ein Gast, der sich willkürlich einstellen kann, der den Dialog fordert, der den Tagesablauf, die Situation, die Stimmung verändern kann, auch wenn er gar nicht physisch, sondern nur akustisch da ist. […] Alfred Döblin jammert: ‚Telefon und Radio können nicht rasch genug von überall her berichten und das Draußen zu einem Hier machen. Jede Wohnung wird gesprengt, es wohnt niemand allein unter seinem Dach und in seinen vier Wänden‘“ (Kaschuba 2004, S. 152). Der auf die spezifische Kommunikation existenziell angewiesene virtuelle Raum des Telefonates wird hier noch als virtueller Raum wahrgenommen, der den normalen Raum (vor allem der Privatsphäre) überformt; dieses Irritationspotenzial hat das Telefon in der Postmoderne eingebüßt bzw. spezifischer an das Handy abgegeben, bei dessen Gebrauch in der Öffentlich-
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Von den weiteren Bestimmungen der virtual reality (vor allem Identitätsverdoppelung) und ihrem Stellenwert im Rahmen eines auf mittelalterliche Verhältnisse anwendbaren Virtualitätsbegriffs soll noch die Rede sein. Dieser Aufbau des virtuellen Raumes über den Modus der Kommunikationszugänglichkeit kennzeichnet auch das hochmittelalterliche Beispiel der virtuellen Viella des Johannes: Zunächst ist der Raum einer Viella, die alle anderen Saiteninstrumente in sich beinhaltet, lediglich imaginär, auf die Vorstellung des Autors beschränkt. Mit der Formulierung des Musiktraktates wird aus der Kommunikation mit sich selbst eine Kommunikation mit einer (mittelalterlichen) wissenschaftlichen Leserschaft, die bestimmten Lesetraditionen folgt: Johannes’ Ausführungen bauen auf Fachwissen auf, das von seiner Leserschaft kritisch überprüfbar ist, ebenso wie seine Argumentation,70 die Zustimmung erheischt. Stimmt man diesen Ausführungen zu (und kann man sie auf der Basis eigener Bildung überhaupt verstehen), so imaginiert der Leser den selben systematischen Raum einer Viella, die in sich alle anderen Saiteninstrumente beinhaltet; durch diese kommunikative Übereinstimmung wird aus dem imaginierten Raum des Johannes ein gemeinsam imaginierter Raum, über den weitere Kommunikation stattfinden kann: Ein virtueller Raum, der jedoch lediglich für die Dauer (bzw. Aktualisierung) dieser spezifischen Kommunikation existent ist.71 Um den Aspekt der Realität nochmals keit nach wie vor der Wechsel von Raummodi wahrgenommen werden kann und für Diskussionen im breiteren Rahmen sorgen kann. Tendenziell aber hat das aus dieser Perspektive normale Telefonat seinen Status als virtueller Raum verloren und ist dem normalen Raum einverleibt. 70 Christoph Kann führt am Beispiel Nicolaus Parisiensis aus, dass gerade im logischen Argument und seiner Verfügbarkeit für den Argumentierenden die Grundlage für den mittelalterlichen Virtualitätsbegriff gegeben ist: „Wie ein natürlicher Ort das an ihm Befindliche beinhaltet, so beinhaltet ein dialektischer Ort die ‚Kraft der Argumentation‘ (vis oder virtus argumentationis) bzw. das Argument“ (Kann 2005, S. 377). Hier betrachte ich freilich nicht in erster Linie den Ort des Argumentes selbst, sondern den darauf aufbauenden Raum der Viella Johannes’. 71 Pierre Bourdieu führt anhand des sozialen Raumes und des Phänomens Klasse aus, dass der virtuelle Raum keineswegs auf die Existenz physischer Räume angewiesen ist, sprich: dass Virtualität tatsächlich den Modus, nicht aber den Inhalt eines Raumes bezeichnet: „Es existieren keine sozialen Klassen. […] Was existiert, ist ein sozialer Raum, ein Raum von Unterschieden, in denen die Klassen gewissermaßen virtuell existieren, unterschwellig, nicht als gegebene, sondern als herzustellende“ (Bourdieu 2006, S. 365; Hervorhebung durch Bourdieu). Bourdieu verwendet hier zwar einen Virtualitätsbegriff, der den damit definierten Raum zeitlich als noch nicht aktualisiert markiert, führt aber bereits zuvor aus, dass dieser virtuelle Raum durchaus aktuell und damit real werden kann: „Die ‚reale‘ Klasse, sofern überhaupt jemals eine Klasse ‚real‘ existiert hat, ist immer nur die realisierte, das heißt mobilisierte Klasse, Ergebnis des Klassifizierungskampfs als eines genuin symbolischen (und politischen) Kampfs um die Durchsetzung einer Sicht der sozialen Welt oder besser einer Art und Weise ihrer Konstruktion in der Wahrnehmung und in der Realität und einer Konstruktion der Klassen, in die sie zu unterteilen ist“ (ebd., S. 364; Hervorhebung durch Bourdieu). Real wird der virtuelle Sozialraum Klasse damit – um
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am Beispiel der Viella zu diskutieren: als physisch messbarer Raum bildet eine Viella einen normalen Raum; als logischer Ordnungsraum, der exemplarisch alle anderen Saiteninstrumente mit enthält, ist die Viella ein virtueller Raum, dessen Existenz auf die Gebildeten beschränkt ist. Beide Räume sind aber gleichermaßen real für ihre Kommunikanten – für Musiktheoretiker allerdings ist die Viella als virtueller Raum weitaus wichtiger und wirkmächtiger denn als normaler Raum.
2.1.5 Virtuelle Räume, normale Räume und Institutionalisierung Während virtuelle Räume kommunikativ je neu konstruiert und installiert werden müssen, wenn sie wieder aufgesucht werden wollen, zeichnen sich normale Räume durch eine spezifische Kommunikationen überdauernde Existenzweise aus.72 Die Nähe dieses normalen Raumes zum Phänomen der Institution drängt sich auf, wie es Peter Berger und Thomas Luckmann (zunächst denkbar weit) definieren: Institutionalisierung findet statt, sobald habitualisierte Handlungen durch Typen von Handelnden reziprok typisiert werden. Jede Typisierung, die auf diese Weise vorgenommen wird, ist eine Institution. […] Wenn habitualisierte Handlungen Institutionen begründen, so sind die entsprechenden Typisierungen Allgemeingut. Sie sind für alle Mitglieder der jeweiligen Gruppe erreichbar. […] Institutionen setzen weiter Historizität und Kontrolle voraus. Wechselseitige Typisierungen von Handlungen kommen im Lauf einer gemeinsamen Geschichte zustande. […] Durch die bloße Tatsache ihres Vorhandenseins halten Institutionen menschliches Verhalten unter Kontrolle.73 es mit den hier vorgeschlagenen Begrifflichkeiten zu reformulieren – durch und für die Dauer der spezifischen Kommunikation Klassenkampf und dies auch in der markierten ontologischen Geltung, die Bourdieu mit dem in Anführungszeichen gesetzten Realitätsbegriff andeutet: Die Klasse ist als Raum zunächst nur für die Teilnehmer der spezifischen Kommunikation Klassenkampf existent, ihre Existenz kann jedoch von Außenstehenden bestritten werden. 72 Ein Kirchenraum etwa bleibt auch Kirche, wenn kein Gottesdienst stattfindet. Er muss aber auf der Basis von kulturell kodierten, physischen Merkmalen als solcher erkennbar sein (Altar, Kreuz, Kirchenbänke, Kanzel etc. Zur rituellen Erzeugung eines Kirchenraumes durch die Kirchweihe vgl. Neuheuser 2005). Dagegen kann auch theologisch vollwirksam eine Kirche im privaten Hausraum stattfinden, der dann für den Vorgang des Gottesdienstes Kirchenraum wird – es aber über diese spezifische Kommunikation hinaus nicht bleibt. Er konstituiert sich als virtueller Raum, der einen physischen Raum zwischenzeitig besetzt bzw. überschreibt. Hanns Peter Neuheuser deutet dies an, wenn er anknüpfend an Lk 19,5 die Übertragbarkeit der Heiligkeit des Kirchenraumes auch auf das Haus über das Motiv Christi als Gast anspricht: „Der Aspekt des Gaststatus – sowohl Christi als auch der Gemeinde der Glaubenden –, welcher eine ‚virtuelle Sakralität‘ potenzieller Sakralräume postuliert, bleibt hier unerörtert, gleichwohl aber angelegt“ (Neuheuser 2005, S. 277). 73 Berger/Luckmann 2004, S. 58, Hervorhebung durch Berger/Luckmann.
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„Habitualisierte Handlungen“ müssen als gesellschaftliche Muster über längere Zeit einigermaßen identisch kommuniziert („reziprok typisiert“) werden, um „Allgemeingut“ werden zu können.74 Abstrakter Inhalt dieser gesellschaftlichen Muster, die „Kontrolle“ ausüben und damit normativ gerichtet sind, ist In- und Exklusion von Verhaltensweisen,75 ihre Form ist damit als Raum beschreibbar. Da die Kommunikation von In- und Exklusion „für alle Mitglieder der jeweiligen Gruppe erreichbar“ ist (was nicht impliziert, dass sich alle immer an der Kommunikation beteiligen müssen), kann der daraus entstehende Raum spezifischer als normaler Raum (eben auch im normativen Sinne des Begriffs)76 definiert werden, oder anders ausgedrückt: Der normale Raum ist offenbar die Form, die das soziologische Phänomen Institution annimmt. Berger/Luckmann verwenden in ihren Ausführungen nicht den Raumbegriff, dafür aber setzen sie den Begriff „Welt“ zentral, der als Summe aller normalen Räume (als Summe aller Institutionen) begriffen werden kann.77 Martina Löw wendet die Überlegungen von Berger/ Luckmann explizit auf den Raumbegriff an und kommt zu ähnlichen Ergebnissen, wie sie hier unter dem Begriff normaler Raum zusammengefasst werden: „Institutionalisierte Räume sind demnach jene, bei denen die (An)Ordnung über das eigene Handeln hinaus wirksam bleibt und genormte Syntheseleistungen und Spacing nach sich zieht. Als institutionalisierte (An) Ordnung wird der Raum zur Objektivation, das bedeutet, daß er – ein Produkt menschlicher Tätigkeit – als gegenständlich erlebt wird“.78 Löw weist auch explizit auf die Dauerhaftigkeit solchermaßen institutionalisierter Räume hin: „Gesellschaftliche Institutionen verdanken ihr Bestehen der Reproduktion im alltäglichen Handeln. Sie bleiben jedoch bestehen, selbst wenn
74 Berger/Luckmann stellen im weiteren Verlauf die generationelle Weitergabe von habitualisierten Handlungen als Grundlage von Institutionalisierung heraus, die solchermaßen den Status einer objektiven, vorgefundenen Wirklichkeit erhält, vgl. Berger/Luckmann 2004, S. 62f. 75 Vgl. Berger/Luckmann 2004, S. 70: „Da dieses Wissen [gemeint ist das Wissen um den Inhalt institutioneller Verhaltensvorschriften] als Wissen gesellschaftlich objektiviert ist, das heißt, da es das Allgemeingut an gültigen Wahrheiten über die Wirklichkeit darstellt, muß jede radikale Abweichung von der institutionalen Ordnung als Ausscheren aus der Wirklichkeit erscheinen. Man kann derartige Abweichungen als moralische Verworfenheit, Geisteskrankheit oder bloße Ignoranz ansehen. […] So wird eine bestimmte gesellschaftliche Welt zur Welt schlechthin“ (Hervorhebungen durch Berger/Luckmann). 76 Diese Normativität wird freilich auch von Berger/Luckmann nicht primär kybernetisch, sondern eher in Sinne des Foucault’schen Machtbegriffes als diskursive Macht des Diskurses selbst verstanden: „Die Wirksamkeit solcher Kontrolle [gemeint sind institutionelle Sanktionsmechanismen] ist jedoch sekundär beziehungsweise nachträglich. Die primäre soziale Kontrolle ergibt sich, wie wir später noch sehen werden, durch die Existenz von Institutionen überhaupt. Wenn ein Bereich menschlicher Tätigkeit institutionalisiert ist, so bedeutet das eo ipso, daß er unter sozialer Kontrolle steht“ (Berger/Luckmann 2004, S. 59). 77 Vgl. etwa Berger/Luckmann 2004, S. 64. 78 Löw 2001, S. 164.
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gesellschaftliche Teilgruppen sie nicht reproduzieren. Hier spätestens muß nun die Konstitution von Raum im Handeln in Wechselwirkung zu gesellschaftlichen Strukturen gedacht werden“.79
Als einschlägiges Beispiel wäre hier der institutionelle (und damit normale) Rechtsraum anzuführen, zu dessen Kommunikation grundsätzlich alle Zugehörigen der entsprechenden Gesellschaft Zugang haben. Der rechtsfreie Raum dagegen ist im Rahmen eines Rechtsstaates positiv nicht vor seiner spezifischen Konstruktion zu beschreiben, er ist kein normaler Raum, sondern wird je und je als virtueller Raum konkret konstruiert und verhandelt (ein Beispiel wäre etwa die Kommunikation eines als rechtsfreier Raum begriffenen Internets). Das Beispiel Rechtsraum macht freilich gleichzeitig die Historizität der solchermaßen soziologisch bestimmten normalen Räume deutlich, denn gerade in Hinsicht der Kommunikationszugänglichkeit herrschen grundlegende Unterschiede zwischen einem mittelalterlichen und einem modernen Rechtsraum: Freilich sind Institutionen im weiten Sinne Begleitphänomene jedweder Gesellschaft, doch fasst man den Begriff etwas rigider als „eine Erwartung über die Einhaltung bestimmter Regeln, die verbindliche Geltung beanspruchen“,80 so zeichnet sich bekanntlich gerade das europäische Mittelalter als ein Bereich des allmählichen Entstehens und Werdens von Institutionen aus,81 die erst in der Moderne verbindliche Einrichtungen – oder anders formuliert: normale Räume geworden sind. Sicherlich übernimmt die Kirche im Hochmittelalter eine den Institutionen im modernen Sinne vergleichbare Funktion in der Bereitstellung allgemein kommunizierbarer, institutioneller Räume,82 doch ist diese Allgemeinheit auf der Basis des einen christlichen Glaubens eine Selbstbehauptung mittelalterlicher Geistlichkeit, deren Wirklichkeit gerade in jüngster Zeit zunehmend in die Krise gerät.83 Überdies ist gerade der Bereich des Hofes ein komplexes Sozialgefüge, das in seinen Strukturen (und vor allem in seiner Literatur) nur unzulänglich als kirchlich bestimmt beschreibbar ist. Um im Beispiel zu bleiben: Trotz der breiteren lateinischen Verschriftlichung von Gesetzessammlungen im 12. Jahrhundert und der beginnenden volkssprachlichen Verschriftlichung von Recht im 13. Jahrhundert kann von einem für alle gleichermaßen kommunizierbaren
79 Löw 2001, S. 166. 80 Esser 2000, S. 2. 81 Peter Strohschneider führt dies am Beispiel der Kemenate vor (vgl. Strohschneider 2000, S. 30‒32), betont aber auch die Möglichkeit der Literatur, Räume bereits als institutionalisiert darzustellen, bevor die historische Entwicklung den literarischen Entwurf einholt (vgl. ebd., S. 36). 82 Vgl. Marsch 1986. 83 Vgl. etwa Auffarth 2007.
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und überdauernden Rechtsraum im Hochmittelalter noch nicht die Rede sein,84 auch wenn gerade hier das klerikale Selbstverständnis eines allgemeinverbindlichen Rechtes auf der Basis des einen Gottes fester Topos ist. Auf dem Weg zur Institutionalisierung im engeren Sinne hat die einzelne, konkrete Kommunikation von In- und Exklusion noch weitaus größere Bedeutung für die Konstruktion beispielsweise des Rechtsraumes als in der Moderne, eine Gewichtung, die dem momentan entstehenden Raum einen Modus der Virtualität verleiht. Aus der Nähe der festen Institution zum normalen Raum und der beginnenden Institutionalisierung zum virtuellen Raum ergibt sich eine für das postmoderne Selbstverständnis vielleicht überraschende Konsequenz: Gerade in der stratifikatorisch ausdifferenzierten Gesellschaft des Mittelalters, die keine Gesamtgesellschaft ausbildet, dürften Räume sehr viel häufiger im virtuellen Modus aufgebaut werden, als dies in der Gegenwart der Fall ist.85 Für diese Arbeitsthese eines forcierten Gebrauchs virtueller Räume sprechen auch die gerade im Hochmittelalter ausdifferenzierten Konzepte virtueller Räume in unterschiedlichen Bereichen, wie noch gezeigt werden soll. Die Konzeption virtueller Räume ist also keineswegs eine Erfindung der Postmoderne oder technisch an den Cyberspace gebunden, sondern ist eine Grundlage gerade auch hochmittelalterlicher Realitätskonstruktion.86 Ausgehend von der postmoder84 Vgl. Kroeschell 2000. 85 Paradox wäre aus moderner Perspektive zu formulieren, dass der normale Raum im Mittelalter die Ausnahme ist; freilich trifft diese Aussage in erster Linie auf historisch rekonstruierbare Räume zu (und gewinnt auch hier nur Sinn im diachronen Vergleich und im Nachzeichnen eines Institutionalisierungsprozesses), die Selbstbehauptungen des Mittelalters (und damit die durchaus wirkmächtigen Selbstkonzepte) gehen von normalen Räumen aus, sei es im Bereich Recht, Religion oder Genealogie, und streben zumindest an, Räume von spezifische Kommunikationen überdauernden Charakter einzurichten. 86 Diese Einschätzung von Virtualität als Grundlage einer Weltwahrnehmung ist radikal als anthropologische Konstante bei Jacques Lacan ausformuliert: „So bildet das noch nicht der Sprache fähige Kind die erste Vorstellung von sich als körperlicher Ganzheit in der aktiven Betrachtung des eigenen Spiegelbildes aus, das ihm eine imaginäre Beherrschung des Raumes und des eigenen Körpers erlaubt, zu der es real noch nicht fähig ist. Das Ich entsteht, indem ein defizitärer, fragmentarischer Körper zu seinem ganzheitlichen virtuellen Spiegelbild in Beziehung gesetzt wird“ (Doetsch 2006, S. 200; vgl. Lacan 2006). Hermann Doetsch übernimmt diese Bedeutung des virtuellen Raumes für die Psychogenese in einer medienanalytischen Lesart für einen allgemeinen Raumbegriff: „Jeglicher Raum bildet die Aktualisierung einer virtuellen Räumlichkeit, jeder aktualisierte Raum enthält virtuelle Tendenzen einer Entgrenzung, die beispielsweise in der Telekommunikation erfahrbar wird. ‚Wo findet ein Telephongespräch statt?‘, fragt Michel Serres: in Paris, in Florenz, irgendwo dazwischen oder in einem virtuellen Raum, der ebenso gut dort wie auch anderswo ist. […] Nichts ist wirklicher als die Virtualität“ (Doetsch 2006, S. 209; zum Stellenwert des Telefonats als virtueller Raum s. o., Kap. 2.1, Anm. 69). So verführerisch diese Ausweitung der Lacanʼschen Psychogenese auch ist, es darf nicht übersehen
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nen virtual reality des Cyberspace kommt Schlechtweg-Jahn in seinem bereits zitierten Aufsatz zu ähnlichen Ergebnissen, wie dies hier am hochmittelalterlichen Beispiel der virtuellen Viella des Johannes herausgearbeitet wurde; auch er setzt dabei fehlende Dauerhaftigkeit zentral87 und führt dies auf den vorinstitutionalisierten Status der hochmittelalterlichen Gesellschaft zurück: Virtuell könnte man […] einen Handlungsraum nennen, der nur durch die Interaktion von Menschen entsteht, nur für die Dauer dieser Interaktion existiert, und während der Interaktion aufgrund einer virtuellen Verdoppelung von Identität eine gewisse Distanz zu Identitätsbildung außerhalb dieses Raumes ermöglicht bzw. erfordert. So ein virtueller Raum ist ‚real‘, insofern er vergesellschaftende Effekte auf die in ihm interagierenden Menschen ausübt, und zugleich imaginär, weil er nicht institutionalisiert ist, also nicht über die ihn schaffenden Interaktionen hinaus fortdauern kann. Der virtuelle Raum ist auch ‚real‘, weil reale Körper in einem realen Raum handeln, zugleich aber auch imaginär, weil diese Körper eine spezifische Identität annehmen, mit der sie im virtuellen Raum miteinander umgehen. Damit gilt umgekehrt auch, dass die Identität der Personen durch ihr gemeinsames Handeln im virtuellen Raum zeitweise neu bestimmt wird.88
Der Interaktionsbegriff Schlechtweg-Jahns entspricht in etwa dem hier angesetzten Kommunikationsbegriff;89 anstatt aber die Kommunikationszugänglich-
werden, dass die Modellanordnung Lacans überaus stark soziohistorisch geprägt ist, indem sie jedem Kind gleichsam als denknotwendigen Gegenstand einen Spiegel mit in die Wiege legt. Eine Beschäftigung mit historischen Virtualitätsentwürfen muss von entsprechenden Verallgemeinerungen und Rückprojektionen Abstand nehmen und hat im uns überkommenen Diskurs ihren Ausgangspunkt. 87 Vgl. auch Schenk 2005, S. 218. 88 Schlechtweg-Jahn 2005, S. 73. 89 Vgl. Schlechtweg-Jahn 2005, S. 74: „Der mittelalterliche Hof um 1200 ließe sich […] als virtueller Raum verstehen, der weder als fester Ort noch als gesicherte Institution existiert hat. Als virtueller Raum, so könnte man sagen, existiert der Hof nur im Moment der Kommunikation adliger Grundherren, die dabei die Identität von Hofleuten anzunehmen versuchen und sich als Hofgemeinschaft imaginieren“. Eine ähnliche Verknüpfung zwischen Interaktion und Kommunikation macht Sebastian Baier in Bezug auf die Intimkommunikation zwischen Tristan und Isolde, und er charakterisiert auf der Basis der Kommunikationszugänglichkeit den dadurch entstehenden Raum als virtuell: „Im Zwielicht des durch die Lauscher zunächst ent-intimisierten Raums zweideutiger Hofferne bleibt das Geheimnis der Liebe Tristans und Isoldes noch gewahrt: über die performative Kraft ihrer Interaktion bleibt den Liebenden der Baumgarten ein intimer Ort. Die vertrauliche Kommunikation funktionalisiert den boumgarten in einen Raum virtueller Intimität. Gottfried versteht es einmal mehr, durch die kunstvoll paradoxe Verbindung gleichzeitiger Bestätigung und Entbergung von intimen Geheimnissen dem Rezipienten die virtuellen Liebesräume besonders sinnfällig zu machen“ (Baier 2005, S. 199). Im Tristan nimmt damit die Konstruktion eines virtuellen Raumes die Sonderform eines Geheimnisses an und reduziert auf diese Weise die über In- und Exklusion des virtuellen Raumes Kommunizierenden.
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keit in den Blick zu nehmen, arbeitet sich Schlechtweg-Jahn am ontologischen Status des virtuellen Raumes ab und stellt hier einen Zwischenstatus des virtuellen Raumes fest, komplementär zu dem hier dargestellten Zwischenstatus des virtuellen Raumes hinsichtlich seiner Kommunikationszugänglichkeit: Dem kom munikativen Trikolon imaginär – virtuell – normal entspricht das ontologische Trikolon imaginär – virtuell – real, beide Male markiert der virtuelle Raum die Grauzone eines In-Between. Freilich wäre im Rahmen eines konstruktivistischen Ansatzes eine Zuweisung ontologischer Stadien ein Methodenfehler und, wie bereits ausgeführt, ist der virtuelle Raum keineswegs weniger real als der normale Raum – er wird lediglich von einer signifikanten Gruppe der Bezugsgesellschaft als weniger real wahrgenommen. Die Anführungszeichen, die bei Schlechtweg-Jahn schließlich auch auf den Begriff der Virtualität Anwendung finden, signalisieren genau diese Distanzierung von einer ontologischen Zuweisung hin zur Zitation ontologischer Zuweisungen. Jenseits philosophischer Grundsatzfragen erscheint mir ein konstruktivistischer Ansatz in Anwendung auf literarische Welten gerade des Mittelalters als notwendig: Hier können Fragen nach Realität immer nur auf Basis ihrer Wahrnehmung durch den Erzähler und die mittelalterliche Bezugsgesellschaft geklärt werden.
Im Akt der kollektiven Wahrnehmung spiegelt sich die unterschiedliche Kommunikationszugänglichkeit der drei Raumtypen wider: Normale Räume sind in der kollektiven Wahrnehmung in ihrer Realität unstrittig, imaginäre Räume werden meist sogar von ihren Konstrukteuren als irreal angesehen; virtuelle Räume sind umstritten hinsichtlich ihrer Realitätszuweisung – was bereits an ihrer oben skizzierten Verhandlung in der Forschung erkennbar ist.90 Als einen virtuellen Raum begreife ich damit im Folgenden eine durch Ausdehnung und Inhalt bestimmte und begrenzte Entität, deren In- und Exklusion im Modus mittlerer Kommunikationszugänglichkeit kommuniziert wird, deren Existenz auf die Dauer konkreter Kommunikationen beschränkt ist und die deswegen ontologisch markiert ist: Der Begriff virtueller Raum impliziert eine Personengruppe der Bezugsgesellschaft, die seine Existenz für fragwürdig hält. Über Größe und Struktur der Personengruppe, die einen virtuellen Raum kommuniziert, sind freilich keine allgemein gültigen Angaben zu machen. Normalität und Virtualität bleiben Verhandlungsgrößen, die je nach Beobachterstandpunkt und Schwerpunktsetzung unterschiedlich zugewiesen werden können, die Übergänge sind im Einzelfall sicherlich fließend. Auf dieser Basis 90 Vgl. o., Kap. 2.1, Anm. 30. Eine philosophische Auseinandersetzung mit dem Realitätsanspruch der virtual reality führt Vaihinger 1997, allerdings mit einem allzu selbstverständlichen Verständnis des Virtualitätsbegriffs als ontologischer Kategorie. Vaihinger bedient damit eher ein fragwürdiges Kritikparadigma des postmodernen Feuilletons, als dass er dazu in kritische Distanz gehen würde.
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ist es möglich, dass Gernot Kocher wie selbstverständlich transzendente Räume (Jüngstes Gericht, Himmel, Hölle) als virtuell erklärt.91 Diese Zuweisung könnte aber lediglich in Bezug auf eine moderne Gesellschaft überzeugen, in der der Glaube an die Existenz dieser Räume und ihre Kommunikation nicht mehr allgemeiner Diskurs ist. Für eine mittelalterliche Bezugsgesellschaft – etwa dem Klerus oder dem höfischen Adel – sind transzendentale Räume dagegen vielleicht als im hier vorgestellten Sinn normale Räume zu verstehen.
2.2 Virtueller Raum und fiktionale Welten 2.2.1 Virtueller Raum und Identitätsverdoppelung Ein Aspekt des Virtualitätsbegriffes von Schlechtweg-Jahn ist bislang unbeleuchtet geblieben und soll nun konkret in Bezug auf virtuelle Räume (in) der Literatur diskutiert werden: Der Aspekt der Identitätsverdoppelung im virtuellen Raum. Schlechtweg-Jahn abstrahiert diesen Aspekt von Beobachtungen am postmodernen Cyberspace: Virtuelle Realität meint zunächst recht einfach, dass Eingaben am Computer nicht mehr mit Tastatur oder Maus erfolgen, sondern mit allen, scheinbar ‚natürlichen‘ Körperaktivitäten, die mit Hilfe technischer Apparate digitalisiert werden. […] Der Köper wird also gleichsam digital verdoppelt, um dann in Kommunikation mit anderen, auf gleiche Weise verdoppelten Körpern einen virtuellen Raum zu schaffen. […] Virtueller Raum ist also geprägt durch eine virtuelle Verdoppelung und Präsenz, durch eine realkörperliche Distanz der Kommunizierenden bei gleichzeitiger realzeitlicher Kommunikation durch Körpereinsatz.92
Ein virtueller Raum in diesem Sinne ist nach Schlechtweg-Jahn der „mittelalterliche Hof um 1200 […], der weder als fester Ort nach als gesicherte Institution existiert hat“.93 Identitätsverdoppelung läge hier in dem Sinne vor, dass die Teilnehmer der höfischen Kommunikation normalerweise eine schlicht adelige Identität besitzen, die gleichsam im Rollenspiel Hof gegen eine vordefinierte Rolle eingetauscht wird. Der Wechsel in den virtuellen Raum Hof ist dabei gekennzeichnet durch eine Fülle von Aktionen wie Kleidungswechsel, die Einnahme neuer Körperhaltungen und -posen, wie auch einer angemessenen mentalen Haltung, einer spezifischen ‚Stimmung‘.94
91 Vgl. Kocher 2005, S. 1f. 92 Schlechtweg-Jahn 2005, S. 71. 93 Schlechtweg-Jahn 2005, S. 74. 94 Schlechtweg-Jahn 2005, S. 74f.
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Abstrahiert ausgedrückt, setzt Identitätsverdoppelung damit eine Grenzüberschreitung voraus, einen Wechsel zwischen einem normalen Raum (hier der normale Lebensraum eines Adeligen) und einem virtuellen Raum (hier der Raum des Hofes).95 Für eine zwischenzeitige Verdoppelung der Identität (im Unterschied zu einer Identitätsveränderung) ist dabei die Beteiligung eines normalen Raumes denknotwendig, der seine Form auch über ihre konkrete Kommunikation beibehält. Zunächst scheint diese Struktur bei dem Beispiel der virtuellen Viella nicht zu greifen: Niemand betritt hier den virtuellen Raum der Viella, er wird vielmehr distanziert beobachtet. Zugleich kann der virtuelle Raum aber nur von diesen Beobachtern kommuniziert und damit erst existent werden, denn diejenigen, die diesen Raum ‚begehen‘ bzw. ihn bilden, sind lediglich Musikinstrumente, die selbst keiner raumbildenden Kommunikation fähig sind. Für sie aber kann in der Tat eine Identitätsverdoppelung konstatiert werden (will man in diesem Fall von Identität reden): Die Viella und die in ihr beinhalteten Saiteninstrumente sind im Rahmen dieser Kommunikation keine normalen Musikinstrumente, wie sie für den normalen Raum musikalischer Kommunikation genutzt werden, sondern vielmehr platonische Ideen, die sie (zumindest in dieser spezifischen Anordnung) lediglich für die Dauer der musikwissenschaftlichen Kommunikation bleiben. Die Betreiber dieser musikwissenschaftlichen Kommunikation aber, die den virtuellen Raum dadurch erzeugen, erleben keine Identitätsverdoppelung in Bezug auf diesen virtuellen Raum, sie überschreiten die Grenze der virtuellen Viella nicht, befinden sich nicht innerhalb ihres virtuellen Corpus’. Ein virtueller Raum kann also auch in der Kommunikation über diesen Raum konstruiert werden,96 ohne dass der virtuelle Raum von den Kommunizierenden begangen werden muss, für die in diesem Fall eine Identitätsverdoppelung nicht notwendig ist. Diese Beobachtungen sind zugleich zu relativieren, denn trotz der Gültigkeit des eben Ausgeführten überschreiten die Kommunizierenden im Beispiel der vir95 In Anlehnung an Plessners Begriff der Exzentrizität als Konstante der menschlichen Beziehung zu seiner Umwelt führen Berger/Luckmann aus, dass eine Identitätsverdoppelung zum Menschsein notwendigerweise dazugehört: „Einerseits ist der Mensch sein Körper, ganz wie andere animalische Organismen. Andererseits hat er einen Körper. Das heißt, daß der Mensch sich selbst als Wesen erfährt, das mit seinem Körper nicht identisch ist, sondern dem vielmehr dieser sein Körper zur Verfügung steht. Die menschliche Selbsterfahrung schwebt also immer in der Balance zwischen Körper-Sein und Körper-Haben, einer Balance, die stets von neuem wiederhergestellt werden muß“ (Berger/Luckmann 2004, S. 53). Der virtuelle Raum scheint für dieses Austarieren prädestiniert zu sein. 96 Wie bereits ausgeführt ist für den Modus der Virtualität in erster Linie die relativ exklusive Kommunikation der In- und Exklusion des Raumes entscheidend, nicht die (erst dann mögliche) Kommunikation in diesem Raum.
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tuellen Viella sehr wohl eine Grenze zwischen einem normalen und einem virtuellen Raum und erleben damit eine Identitätsverdoppelung; freilich befinden sie sich nicht – wie die anderen Saiteninstrumente – in der Viella als Raum, doch sie beobachten von einem gleichsam größeren Raum aus, der die Viella als Ort enthält. Und in diesem Raum sind alle an der Kommunikation Beteiligten Musikwissenschaftler oder allgemeiner Philosophen, die der dialektischen Argumentation folgen und auf die Örtlichkeiten der Argumente, die dialektischen Topoi, zurückgreifen können. Dieser virtuelle Raum ermöglicht auch die Auseinandersetzung mit und zwischen bezüglich des normalen Raumes Abwesenden, ja sogar mit und zwischen Toten, die über ihre Schriften und vor allem den darin verwendeten Topoi auf gemeinsam verfügbare Orte in einem gemeinsamen Raum zugreifen können, der freilich in dieser Form nur für die Dauer der Auseinandersetzung über die Viella existiert. Den in dieser (musik-)philosophischen Auseinandersetzung verwendeten dialektischen Orten kommt niemals innerhalb eines normalen Raumes Existenz zu, sie überschreiten keine Grenze zwischen zwei Raummodi, sondern existieren lediglich in virtuellen Räumen – und dennoch existieren sie, dennoch können sie in jeder neuen philosophischen Diskussion wieder aufgegriffen werden.97 Als zweite Einschränkung der Identitätsverdoppelung muss damit (neben der Möglichkeit, virtuelle Räume lediglich distanziert zu betrachten) auch betont werden, dass es offenbar Entitäten gibt, denen nur innerhalb virtuellen Räumen Existenz zukommt, ohne dass dafür eine Grenzüberschreitung ihrerseits notwendig wäre.
2.2.2 Identitätsverdoppelung im Erzählraum: das implizite Publikum Sowohl Identitätsverdoppelung als auch der doppelten Einschränkung ihrer Gültigkeit kommt für eine Untersuchung virtueller Räume in hochmittelalterlicher Epik größte Bedeutung zu; die raumkonstruierende Kommunikation ist hier literarische Kommunikation im fiktionalen Rahmen, für die besondere Bedingungen gelten: das Spiel zwischen Distanz und Unmittelbarkeit im ‚Als-ob‘ der Fiktionalität.98 97 Vgl. dazu Kann 2005, S. 377‒381. 98 Das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft bestimmt Fiktion über das ‚so Tun bzw. so Sprechen als ob‘, wobei sich „das Fingieren auf das Dasein, das Sosein und (oder) die Präsentation beziehen [kann]: (1) Dasein: Jemand kann so sprechen, als ob er über bestimmte Personen und Objekte redet, obwohl diese gar nicht existieren. (2) Sosein: Jemand kann so sprechen, als ob ein bestimmter Sachverhalt (zwischen als existierend anerkannten Objekten) besteht, obwohl dieses gar nicht der Fall ist. (3) Präsentation: Jemand kann so sprechen, als ob er einen Sachverhalt in bestimmter Weise präsentiert (z. B. behauptet), obwohl er dieses gar nicht tut“ (Gabriel
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Von beiden Haltungen – Distanz und Unmittelbarkeit – ist die Virtualität der Fiktion bestimmt. Jedes Erzählen erzeugt (wenn es funktioniert) einen virtuellen Raum,99 da im Akt des Erzählens die an der Erzählung Teilnehmenden (seien es Erzähler oder Rezipienten) einen Raum gemeinsam imaginieren, also virtuell erzeugen,100 der nur für die Dauer seiner Kommunikation existiert. Diese Erzeugung eines virtuellen Raumes funktioniert aber bereits in einer Haltung der beobachtenden Distanz: Wie beim Beispiel der Viella wird der Raum der Erzählung als virtueller Raum in der Kommunikation über ihn erzeugt und beobachtet. Darin erfüllt sich die eine Seite des fiktionalen ‚Als-ob‘, die Distanz in der Rezeption. Schlechtweg-Jahn spricht in Hinsicht auf einen anderen virtuellen Raum – den Hof – von einer doppelten Distanzierung gleichsam nach zwei Seiten: „Im Moment des Vortrages ist der literarische Text Teil des virtuellen Raumes [Hof], zugleich aber erzählt er wiederholbar von Abwesendem und ermöglicht und erzwingt dabei eine Distanz sowohl zum Erzählten als auch zur aktuellen Vortragssituation“.101 Darüber hinaus betont er den Modus der Schriftlichkeit für die mit dem fiktionalen ‚Als-ob‘ einhergehenden Distanzierung: „Literatur vermag Identitätswandel und Distanzierungen des virtuellen Raumes aber noch einen Schritt weiter zu treiben [als ihre Rolle als Teilelement des virtuellen Raumes Hof], indem sie sie aufgrund ihrer Schriftlichkeit zu Fiktionalität transformieren kann. In der schriftlichen Form gerinnt Virtualität gleichsam und verliert damit die Möglichkeiten, aber eben auch die Zwänge der Realpräsenz der Körper im virtuellen 2007, S. 595). Rainer Warning hat die Spielsituation des Als-ob konsequent als historische Medienform der höfischen Epik herausgearbeitet, vgl. Warning 1983. 99 Der Raum der Erzählung ist keineswegs durch den normalen Raum einer Gesellschaft vorbestimmt: „Erzählte Geschichten haben keine natürliche Umgebung, sondern immer eine artifizielle. Offenkundig gehört der Raum, den ein Autor den Figuren und ihren Handlungen in ihrer fiktionalen Welt gibt, bereits zur Rede über diese Figuren und Handlungen“ (Störmer-Caysa, 2007, S. 34). 100 Deutlicher noch wird dies hinsichtlich der Zeit der Erzählung, die eng mit dem Raumphänomen verbunden ist: „[D]ie Zeitgestaltung im Erzählen ist darauf angelegt, sich in verschiedenen Köpfen zu einer annähernd übereinstimmenden tragenden Struktur zu entfalten, obgleich sie im literarischen Werk gepackt und gefaltet dargeboten wird“ (Störmer-Caysa 2007, S. 77). Ludger Lieb und Stephan Müller haben darauf aufmerksam gemacht, dass das höfische Erzählen an seinem Beginn im letzten Drittel des 12. Jahrhunderts noch keinen institutionalisierten Raum am Hof hat und sich diesen Raum erst selbst schaffen muss; in Bezug auf den Eingang von Konrad Flecks Flore und Blanschflur führen sie aus: „In der Imagination des Erzählortes am locus amoenus ist der Anspruch des Erzählers ausgedrückt, daß Erzählen einer eigenen Raumes bedürfe. Und in der Konstitution des Erzählortes durch mobile Wände aus aufgehängten Tüchern ist das Phantasma symbolisiert, daß das Erzählen sich diesen seinen eigenen Raum auch zu schaffen vermöge. Das Erzählen behauptet in der Imagination seinen Eigenraum und somit seine Geltung in der höfischen Literatur“ (Lieb/Müller 2004, S. 49, Hervorhebung durch Lieb/Müller). Bedenkt man die Möglichkeit, einen virtuellen Raum im normalen Raum zu schaffen, so ist diese Behauptung eines eigenen Raumes des Erzählens weniger ein Phantasma als eine – hier literarisch aufbereitete – Tatsache. 101 Schlechtweg-Jahn 2005, S. 78.
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Raum. […] Mündliche Literatur, die nicht schriftlich fixiert existiert, bleibt notwendigerweise eingebunden in den virtuellen Inszenierungszusammenhang, von dem sie abhängt, und mit dem sie vergeht. Schriftlich fixierte Literatur hingegen erlaubt eine weitere Stufe der Distanzierung über den virtuellen Raum hinaus und ermöglicht damit eine reflexive Haltung sowohl zum virtuellen wie auch zum literarischen Kommunikationsprozess“.102
Andererseits ist aber gerade beim mittelalterlichen Erzählen eine Grenzüberschreitung und damit einhergehend eine Identitätsverdoppelung der Rezipienten angelegt: Die in der höfischen Literatur sehr präsenten Rollenangebote Erzähler und Publikum erzeugen einen eigenen virtuellen Raum, der den Raum der Erzählung gleichsam umgibt; er kann im Unterschied zur Erzählung begangen werden, analog zum Raum der dialektischen Topoi, und wie dort erfolgt eine Identitätsverdoppelung durch die Übernahme einer vorgeformten Rolle. Darin erfüllt sich die andere Seite des fiktionalen ‚Als-ob‘, die Unmittelbarkeit in der Identifikation.103 Literarische Fiktionalität bildet damit offenbar zwei virtuelle Haupträume von relativ fester Struktur aus,104 die ich in Anlehnung an Günther Müllers Unterscheidung von erzählter Zeit und Erzählzeit als erzählten Raum und Erzählraum bezeichnen möchte.105 102 Schlechtweg-Jahn 2005, S. 75f. 103 Identifikation ist damit ein Effekt, der bei mittelalterlicher Literatur nicht auf das Personal abzielt und damit nicht einer fiktionalen Distanz entgegensteht. Maria Dobozy beschreibt die damit einhergehende Identitätsverdoppelung bereits räumlich: “When a theatrical event – an ‘as if for the first time but rehearsed’ – is being performed, the subjunctive situation opens up space. In this space new things can happen regardless of the pre-arranged performance script. The performer at work always experiences this transportation or indeterminancy, but if the performance is intense enough, it can transport the audience, too. Such transportation questions cultural norms, and once that happens in performance, a rearranging, or even complete restructuring of the normative system may occur. In this case, the performers are transformed and with them the audience. This potential transformation is responsible for both the attraction of the stage and its subversive power” (Dobozy 2005, S. 91). 104 Dies klingt auch bei der Dissertation Matthias Däumers an, der in Bezug auf den im Erzählakt entstehenden Raum von einer grundsätzlichen Zweiteilung spricht: „Einerseits entsteht die Fiktion, der vom Helden durchmessene und damit erst eröffnete Raum; andererseits bildet sich der Raum der Aufführung, der abgrenzbare Kommunikationsbereich, in dem die Vermittlung der Textes stattfindet. Der Ort ‚Realität‘ meint zum Beispiel den unbelebten Saal einer Burg oder aber einen Konferenzssaal [sic] an der Western Michigan University zu einem jeweils bestimmten Zeitpunkt; die ‚Aufführung‘ ist der Raum, der durch die performativen Praktiken und Sprechhandlungen des Rezitators und die Handlungen eines Publikums an diesem Ort geschaffen wird, um in einer gemeinsamen Imaginationsleistung die ‚Fiktion‘ entstehen zu lassen“ (Däumer 2013, S. 327). Zur zeit- und raumerzeugenden Kraft des (auch literarischen) Erzählens vgl. auch Kartschoke 2002, S. 31. 105 Schon Natascha Würzbach-Köln verwendet den Begriff „Erzählter Raum“ systematisch, allerdings in Hinblick auf die moderne Literatur und damit ohne das für das Mittelalter notwendige
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Müller bringt seine einflussreichen Überlegungen auf eine knappe Formel: „Im Bisherigen wurde bereits mehrmals das Erzählen vom Erzählten unterschieden. Darin ist die Beziehung von Erzählzeit und erzählter Zeit beschlossen“.106 Müller stellt direkt anschließend die enge Verknüpfung von Zeit und Raum zentral (ausgehend von der Bewegung des Uhrzeigers), um schließlich die Normseite als Maßstab für die Erzählzeit bei Druckwerken zu begreifen. In ihrer Arbeit Der Erzählraum als Reflexionsraum kommt Susanne Uhl bei der Untersuchung von Minnereden zu einer ähnlichen Differenzierung wie der hier vorgeschlagenen: „Die narrative Struktur, wie sie in sehr vielen Minnereden begegnet, kann stark vereinfacht so beschrieben werden: Einer sehr kurzen […] Einleitung (Exposition) durch ein in der Regel männliches Ich folgt sogleich die Überleitung in einen zweiten Erzählteil […]. Der erste Erzählteil liefert durch Hinweise auf die Befindlichkeit des Ichs oft die Voraussetzungen für das, was im zweiten Erzählteil narrativ […] ausgefaltet wird. Dieser andere Erzählraum, in den das Ich eintritt, ist sehr vielfältig gestaltet. […] Diesem Teil, auf dem deutlich der narrative Schwerpunkt liegt, folgt in der Regel ein zweiter Übergang zurück in den Raum, in dem sich das Ich zu Beginn des Textes präsentiert hat“.107 Uhl bezeichnet beide Räume als Erzählräume, eine strukturelle Gleichordnung,
Pendant des Erzählraums, vgl. Würzbach-Köln 2001. Carsten Morsch entwickelt in Abarbeitung an und Zitation von Alf Mentzer (der dem modernen Erzähler grundsätzlich keine eigene Räumlichkeit zugesteht), dass das mittelalterliche Erzählen tatsächlich im Unterschied zum modernen je eine eigene Räumlichkeit entwickelt, die den Erzähler beinhaltet (und die hier Erzählraum genannt wird): „Die Diskursinstanz/der Erzähler übernimmt in jedem durch Erzählung erzeugten Raum die Funktion einer ‚imaginären Hilfskonstruktion‘, die den ‚imaginären Fluchtpunkt der Vorstellungsrelation‘ zur Verfügung stellt. Dieser aber war im Mittelalter noch nicht der blinde Fleck einer zentralperspektivischen Konstruktion, sondern wohl vielmehr eine Position in einem sinnlich erlebten und kinästhetisch erfahrbaren Raum einer Imagination, die […] durch die Erfahrungen körperlicher Kopräsenz in den Interaktionsformen höfischer Repräsentation bestimmt war. ‚Das ‚Hier‘ der Erzählsituation hat‘ dann durchaus auch eine ‚existenziell-räumliche Dimension‘, weil es sich selbst, in einem Raum, der als ‚Wahrheit von Beziehungen‘ existiert/erzählt wird, ‚in Beziehung setzt‘“ (Morsch 2011, S. 149). Bezeichnend für diese grundlegende Differenz mittelalterlicher Räumlichkeit des Erzählens von moderner sind auch die systematischen Überlegungen Katrin Dennerleins zur Narratologie des Raumes, die ebenfalls zwischen Erzählräumen und erzählten Räumen unterscheidet: „Ereignisregionen haben die Gestalt von Räumen, weil sie eine Unterscheidung von innen und außen bzw. von innerhalb und außerhalb aufweisen, und weil sich in ihrem Inneren Menschen aufhalten können. Sie können auch dann bestimmt werden, wenn der Erzähl- bzw. Schreibakt eines Erzählers thematisiert wird. In diesem Fall ist von ‚Erzählräumen‘ die Rede, von denen diejenigen Ereignisregionen, in denen kein Erzählakt situiert wird, als ‚erzählte Räume‘ abgegrenzt wurden“ (Dennerlein 2009, S. 161). Dennerlein unterscheidet zwar vergleichbar zu dem hier vorgeschlagenen Begriffsverständnis, doch zugleich wird deutlich, dass in moderner Literatur (die ausschließlich der Gegenstandsbereich Dennerleins ist) jeweils entweder ein Erzählraum oder ein erzählter Raum durch die Erzählung entworfen wird, wobei der Erzählraum keine Dauer über die jeweilige autopoietische Passage hinaus besitzt; mittelalterliches Erzählen aber entwirft mit Erzählraum und erzähltem Raum zwei virtuelle Räume, die die gesamte Erzählung begleiten, wobei die relative Dauerhaftigkeit des Erzählraumes ihre Evidenz aus den erfahrbaren tatsächlichen Erzählräumen der mittelalterlichen Literaturpraxis gewinnen. 106 Müller 1947, S. 15. 107 Uhl 2010, S. 98.
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die bezogen auf Minnereden sinnvoll erscheint: Durch den Ich-Erzähler ist dieser zugleich Personal seiner Erzählung, in beiden Räumen erzählt und handelt der Erzähler, lediglich mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung. In Roman und Märe aber sind Erzähler und Personal radikal getrennt; in Folge können auch ihre jeweiligen Aktionsräume strukturell radikal getrennt werden, was hier durch die Begriffe Erzählraum und erzählter Raum erfolgen soll.
Der erzählte Raum wird im Akt des Erzählens gemeinsam imaginiert und wird damit virtuell, er wird aber nicht von den Kommunikationsteilnehmern begangen. Der Erzählraum dagegen ist mit seinem Rollenangebot von Erzähler und Rezipienten dazu prädestiniert begangen zu werden, und auch er bildet sich über die gemeinsame Imagination aus.108 Momentan wird die Fiktionalitätsfrage in Hinblick auf die höfische Literatur des Mittelalters wieder heiß diskutiert:109 Bekanntlich misst das Mittelalter auch Figuren wie etwa Artus durchaus historischen Charakter zu. Daraus ist freilich nicht zu schließen, dass dem Mittelalter ein Fiktionalitätsbewusstsein gänzlich abzusprechen sei110 – eher wäre zu erwägen, dass das fiktionale ‚Als-ob‘ auch historiographisches Erzählen bestimmen konnte. Für den Aufbau der beiden virtuellen Haupträume des Erzählens ist diese Debatte aber von eher untergeordneter Bedeutung: Für den Aufbau des virtuellen Erzählraumes mit seinem doppelten Rollenangebot ist es irrelevant, was der Inhalt der Erzählung ist; und für den Aufbau des virtuellen erzählten Raumes ist es zumindest nicht von zentraler Bedeutung, ob das Publikum die Referenz des Erzählten in der Realität vermutet oder im Reich der Fiktionalität ansiedelt: Der spezifische Raum, der im Akt der Erzählung entworfen wird, wird in beiden Fällen aktuell gemeinsam imaginiert und ist damit virtuell. Das fiktionale ‚Als-ob‘ des mittelalterlichen Erzählens hängt weniger von den erzählten Gegenständen als von seiner spezifischen Form ab: der Vermittlung durch einen Erzähler.
Beide virtuellen Haupträume des Erzählens sind aufgehoben in dem ‚Als-ob‘ der Fiktionalität: Der Akt des Erzählens präsentiert eine Fiktion, die in doppelter 108 Christina Lechtermann und Daniel Morsch meinen damit nur die eine Seite der Fiktionalität in Bezug auf den erzählten Raum: „Virtualität hat nichts mit Simulation zu tun, sie behauptet keine Wirklichkeit, hat keinen Anspruch auf Referentialität. Von der Fiktion unterscheidet sie sich dabei durch das wesentliche Merkmal, daß der Beobachter hier nicht ausgeschlossen oder auf einen bestimmten Punkt festgelegt von außen Einblick in eine fertige Welt nimmt, sondern selbst produktiv am Entstehen virtueller Welten beteiligt ist, sie durch seinen Respons verändert und überhaupt erst vollendet“ (Lechtermann/Morsch 2004, S. VII). Begreift man epische Fiktionalität wie hier vorgeschlagen als das Zusammenspiel zweier virtueller Räume, des erzählten Raumes und des Erzählraumes, so wird offensichtlich, dass die Entstehung des konkreten Erzählraumes trotz seiner Vorformung durch den Erzähler durchaus auch produktiv von den Rezipienten gebildet wird. Fiktionalität ist kein der Virtualität gegensätzliches Phänomen, sondern baut auf Virtualität auf, wobei es (vor allem im mittelalterlichen Vortrag höfischer Epik) Distanz und Unmittelbarkeit gleichermaßen erzwingt. 109 Einen kritischen Überblick über die Fiktionalitätsforschung bietet Braun 2015, S. 91–106. 110 Für ein hohes Fiktionalitätsbewusstsein im Artusroman plädiert etwa Przybilski 2015.
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Hinsicht virtuell werden kann, wenn die Erzählung funktioniert, d. h. wenn die Rollen von Erzähler und Rezipienten ausgefüllt werden. Die erzähltheoretische Größe des impliziten Lesers tritt in der höfischen Literatur damit vornehmlich in der Form des Rollenangebotes eines impliziten Publikums entgegen,111 die anzunehmen vom expliziten, historischen Publikum eine Identitätsverdoppelung für die Dauer des Erzählaktes abverlangt.112 Jens Bonnemann, der in seiner Monographie Die wirkungsästhetische Interaktion zwischen Text und Leser Wolfgang Isers erzähltheoretische Größe des impliziten Lesers in einer Anwendung auf das Herzmære Konrads von Würzburg erprobt, fasst in Zitation Isers dessen Ausführungen zusammen: „In den [erzählenden] Texten selbst ist eine Struktur angelegt, die Iser den impliziten Leser nennt. […] Der implizite Leser ist ein ‚Idealkonstrukt ohne reale Existenz‘, er ‚meint den im Text vorgezeichneten Aktcharakter des Lesens und nicht eine Typologie möglicher Leser‘. Der implizite Leser ‚verkörpert die Gesamtheit der Vororientierungen, die ein fiktionaler Text seinen möglichen Lesern als Rezeptionsbedingungen anbietet‘. […] Das Konzept des impliziten Lesers beschreibt eine Textstruktur, die die Aktstruktur intendiert bzw. eine Intention, die sich durch die Erfassungsakte des Lesers erfüllt: ‚Textstruktur und Aktstruktur verhalten sich zueinander wie Intention und Erfüllung‘“.113 Unverständlicherweise geht Bonnemann in seiner gesamten Untersuchung in keiner Weise auf die mittelalterliche Aufführungssituation ein; freilich ist der implizite Leser ein transzendentales Konstrukt, das sich jedoch in seiner Form an expliziten Rezipienten und deren Rezeptionshaltung (lesen) orientiert. Damit drängt es sich auf, dass die kritische Historisierung, die Bonnemann an Isers Theorem vorzunehmen beabsichtigt, vor allem am Begriff des Lesers anzusetzen wäre: Mittelalterliche Epik wird vor allem von einem Kollektiv hörend rezipiert, so dass schon aus dieser Perspektive von einem impliziten Publikum anstatt von einem impliziten Leser zu sprechen wäre. Und genau dieses schlägt sich auffällig in den Texten nieder: Das Publikum wird in Prologen, Epilogen und Erzählerkommentaren nicht nur als Rezeptionskollektiv angesprochen, sondern regelrecht ethisch konstruiert. Sowohl der ‚Aktcharakter‘ der Rezeption als auch die ‚Gesamtheit der Vororientierungen‘ (bei Iser die konkrete Füllung des impliziten Lesers) ist diesem impliziten Publikum also regelrecht eingeschrieben, und dies muss in vielen Fällen nicht mühsam aus dem sozialgeschichtlichen Umfeld erschlossen werden, wie dies Bonnemann am Herzmære ausführt, sondern wird dem impliziten Publikum vom Erzähler direkt zugewiesen (wie dies im Übrigen auch im Prolog des Herzmæres der Fall ist). Diese Kommunikation zwischen Erzählerrolle und implizitem Publikum erschafft den Erzählraum, der im Falle einer Identitätsverdoppelung (hier schlicht in Form einer Rollenübernahme) von einem tatsächlichen, historischen Publikum und einem tatsächlichen, historischen Erzähler begangen werden kann, ohne dass die grundsätzliche fiktionale Distanz aufgegeben wäre. In jüngster Zeit hat vor allem Sonja Glauch die Sinnhaftigkeit der Rede vom Erzähler in Bezug auf mittelalterliche Literatur hinterfragt. Glauch geht bei ihren kritischen Ausführungen aber gänzlich von der rein fiktiven, literaturtheoretischen Größe Erzähler aus und blendet den
111 Eine Ausnahme im 13. Jahrhundert scheint der Prosalancelot zu sein, vgl. Kap. 4.3. 112 Maria Dobozy arbeitet auf Basis des Minnesangs heraus, dass das höfische Publikum bereits zu Beginn der höfischen Epik gewöhnt daran und geübt darin war, das ‚Als-ob‘ der Erzählsituation zu erkennen und sich selbst entsprechend zu situieren, vgl. Dobozy 2005, S. 110. 113 Bonnemann 2008, S. 16.
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tatsächlichen, historischen Erzähler des Mittelalters völlig aus.114 Durch diese Ausblendung einer grundlegenden, realhistorischen Größe mittelalterlicher Literaturpraxis kann sie dafür plädieren, den Erzähler wieder mit dem Autor zu identifizieren.115 Geht man aber von einer relativen Verbreitung der höfischen Literatur durch Erzähler aus, so ist der Regelfall eben keine Autorenlesung, sondern ein Erzählervortrag, bei dem der (personell wechselnde) Erzähler unterschiedliche Rollen einnimmt, speziell unterschiedliche Erzählerrollen verkörpert. Dass diese Erzählerrollen bisweilen als Autoren (oder für den mittelalterlichen Gebrauch besser: als Dichter) stilisiert sind, nimmt nichts von der grundsätzlichen Distanz zwischen Autor und Erzähler bzw. der Gültigkeit der im Mittelalter nicht nur erzähltheoretischen, sondern zunächst erzählpraktischen Größe Erzähler. Glauchs problematische Ausblendung des historischen Erzählers wird bei ihrer Ablehnung des Begriffs „Erzählerrolle“ als ahistorisches Phänomen besonders deutlich: „Eine Rolle [gemeint ist hier speziell eine Erzählerrolle] muß mehrfach und von mehreren gespielt werden; ein einmaliger Handlungsakt ist keine Rolle. Zu Rollen im eigentlichen Sinn, die ein Dichter einnehmen kann, gehören sicher schon sehr früh die des Minnesängers und des Spruchdichters […;] dagegen erscheint es mir unratsam, schon Wolframs (oder auch Chrétiens, Hartmanns oder Gottfrieds) eigene Ich-Manifestation eine Rolle zu nennen – wo wäre diese Rolle denn einzuüben gewesen?“116 Diese rhetorische Frage Glauchs erweist sich als selbstentlarvend, denn blendet man die historischen Erzähler nicht aus, dann ist sie leicht positiv zu beantworten: Die Erzählerrolle Wolfram (oder auch Chrétien, Hartmann oder Gottfried) muss von jedem historischen Erzähler eingeübt werden, der sie in einem entsprechenden Vortrag überzeugend ausfüllen möchte.117 Ähnlich problematisch geht Gert Hübner in seiner Habilitationsschrift Erzählform im höfischen Roman vor, die sich explizit der Historisierung der vornehmlich am modernen Roman entwickelten Erzähltheorie auf mittelalterliche Epik widmet. Umso mehr erstaunt es, dass Hübner einen der grundlegendsten Unterschiede mittelalterlichen Erzählens ausblendet: den historischen Erzähler. Damit bleibt „der Erzähler“ bei Hübner eine rein strukturelle Größe, unverändert zu seiner Rolle in der überkommenen Erzähltheorie, ein „leeres Zentrum“ der Beobachtung; entsprechend unwichtig stuft er den Erzähler in Bezug auf die Raumgenese der Erzählung ein: „Erzähler ihrerseits gehen in der Welt der Geschichte freilich nirgendwo hin, und sie sehen auch nichts von ihr (es sei denn in der Gestalt eines leeren Zentrums). Sofern sie erzählen, was Figuren erleben und tun (und dies war zumindest in den guten alten Zeiten weithin der Fall), ist die Welt der Geschichte als Umwelt der Figuren strukturiert, in der diese sich bewegen; und die Erzählung folgt den Figuren in der Regel durch diese Welt. In diesem Sinn macht die Erzählung fast immer eine Figur zum räumlichen Zentrum der Geschichte“.118 Da Hübner den Erzähler tendenziell zum laplace’schen Dämon entleert, erscheint er für die Raumgenese der Erzählung ohne Bedeutung. Hübner verkürzt die Kommunikation des erzählten Raumes tendenziell wieder auf den einen Helden, aber – eine Wiederkehr des Verdrängten in veränderter Gestalt – personalisiert die Erzählung selbst, die anstelle des Erzählers zum bewegten Beweger wird. Hübner führt anhand der Burgbeschreibung der Joie de la curt-Episode aus, wie die Raumbeschreibung einer
114 Vgl. etwa ihre Auflistung von Bedeutungen des Begriffs „Erzähler“ in Bezug auf die mittelhochdeutsche Literatur, Glauch 2009, S. 78f. 115 Vgl. etwa Glauch 2009, S. 93 u.ö. 116 Glauch 2009, S. 105. 117 Vgl. auch Däumer 2013, S. 68‒71. 118 Hübner 2003, S. 58.
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Kamerafahrt (ohne Kameramann?) ähnelt: „Das leere Zentrum fährt umher wie eine Kamera. […] Der in dieser Passage benutzte Deixis-Typ entspricht einer expliziten Form von Bühlers ‚Deixis am Phantasma‘: Weder wird einfach erzählt, wie die Burg angelegt ist, noch wie eine (fiktionale) Figur die Burg (tatsächlich) sieht, sondern wie man sie sähe, stünde man an einem bestimmten Ort“.119 Betrachtet man, wie hier vorgeschlagen, den erzählten Raum als virtuellen Raum, der in der Kommunikation zwischen Erzähler und Publikum entsteht, dann ist der Konjunktiv Hübners aufzulösen: In der Identitätsverdoppelung, die die Rollen Erzähler und Publikum des virtuellen Erzählraumes bereit stellen, stehen sowohl der historische Erzähler (wie ich im Folgenden den die Erzählung im Mittelalter tatsächlich performierenden Menschen bezeichnen möchte) als auch das historische Publikum virtuell tatsächlich an dem bestimmten Ort und betrachten gemeinsam die geschilderte Burg. Matthias Däumer schlägt in seiner gerade erschienenen Dissertation den Begriff Rezitator vor, um der medialen Besonderheit der hochmittelalterlichen Epik gerecht zu werden: „‚Rezitator‘ meint also die Leerstelle, welche eine konkrete Person ausfüllt, die einen Roman vor einem Publikum vortrug (oder auch gegenwärtig vorträgt oder zukünftig noch vortragen wird)“.120 Er substituiert in Folge in Anlehnung an Glauch den Begriff des Erzählers: „Der ‚Erzähler‘ spaltet sich hinsichtlich der Aufführung in die heuristischen Größen der rollenspielerisch zu sprechenden ‚Autorfigur‘ und den ‚Rezitator‘, die Vorstellung eines Menschen, der vor einem Publikum erzählt“.121 Eine solche dichotomische Trennung erweist sich in der Arbeit Däumers als sinnvolle analytische Kategorisierung, um die historische Aufführung überhaupt in den Blick zu bekommen, ohne auf Spekulation angewiesen zu sein. Doch für eine Untersuchung des gleichermaßen durch die Performanz des Erzählens als auch durch die textanalytische Größe des Erzählers erzeugten virtuellen Raumes erscheint es mir nicht ratsam, dieser Unterscheidung (die in ihrer Dichotomie auch die Vielfalt der Erzählerentwürfe mittelalterlicher Epik wieder eher verdeckt)122 zu folgen. Ich bezeichne hier die konkrete Person, die das Erzählen übernimmt, als historischen Erzähler, die Gesamtheit aller Facetten der Erzählerfunktion123 aber nach wie vor als Erzähler, ein sicherlich unscharfer Begriff, der aber – und das sollte man nicht zugunsten begrifflicher Schärfe ausblenden – immerhin die zentrale diskursive Funktion der gesamten Epik
119 Hübner 2003, S. 60f. Zu meiner Interpretation der Szene s. u., Kap. 3.2.2.3. 120 Däumer 2013, S. 53. 121 Däumer 2013, S. 58. 122 Däumer untersucht lediglich den Artusroman; für die Heldenepik beispielsweise, die ohne Autorfunktion auskommt, wäre die dichotomische Unterscheidung zwischen Autorfigur und Rezitator äußerst problematisch. Auch ist es nicht nachvollziehbar, dass Däumer in Anlehnung an Glauch zum Autorbegriff zurückgeht, anstatt von einer Dichterfigur zu sprechen, die sicherlich ein wichtiges Rollenformat darstellt, das der historische Erzähler – neben allen Figuren, fingierten Zuhörern, Personalisierungen etc. – ausfüllen muss. 123 Es erscheint mir nicht nachvollziehbar, den Erzähler gerade in Hinsicht auf die Kommunikationssituation der Aufführung mittelalterlicher Epik als obsolet zu erklären: „Der Erzähler hat als ‚être de papier‘ keine Relevanz für die performative Kommunikation“ (Däumer 2013, S. 66). Im Anschluss an diese Operation wäre mit Wolfgang Kayser erneut zu fragen: „Wer erzählt den Roman? “ (vgl. Kayser 2000) – und hier lautet meine ebenso linguistisch banale als auch erzähltheoretisch offenbar strittige Antwort nach wie vor: „Ein Erzähler erzählt“ (so auch der ursprüngliche Arbeitstitel meiner Habilitationsarbeit).
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in all ihrer Diversität abdecken muss und nicht (vor allem nicht sauber trennbar) in Rezitatorrolle + Autorfigur aufgeht.124
2.2.3 Virtuelle Räume innerhalb der Erzählung und ihre Bezüge zu den beiden virtuellen Haupträumen Neben den beiden virtuellen Haupträumen der fiktionalen Literatur sind freilich auch virtuelle Räume innerhalb der Erzählung (also innerhalb des erzählten Raumes) vorzufinden: Räume, deren Existenz und in Folge deren Zugänglichkeit aus der Perspektive des Personals von spezifischen Kommunikationen abhängen. Bei diesen virtuellen Räumen innerhalb des erzählten Raumes kann Identitätsverdoppelung ein wichtiges Indiz sein; sie ist jedoch nicht für alle Kommunikationsteilnehmer zwingend notwendig, da innerhalb der fiktionalen Welt auch eine Existenz ausschließlich im virtuellen Raum denkbar ist, analog zur Existenz der dialektischen Topoi. Wie bereits skizziert, scheint sich in diesen virtuellen Räumen innerhalb der Erzählung häufig eine formale Autopoiesis niederzuschlagen, also eine strukturelle Orientierung an den beiden virtuellen Haupträumen der fiktionalen Literatur, die einhergeht mit spezifischen Beobachtungsmöglichkeiten, die eigentlich dem Erzählraum vorbehalten sind. Mit solchen virtuellen Räumen innerhalb der Erzählung werden die beiden virtuellen Haupträume der fiktionalen Literatur enggeführt, damit aber auch in besonderer Weise beobachtbar. Für die Untersuchung virtueller Räume in höfischen Erzählungen des Hochmittelalters legen diese Beobachtungen zweierlei nahe: Zu untersuchen sind einerseits Räume innerhalb des erzählten Raumes, deren Zugangsmöglichkeit und Existenz auf besondere Kommunikationen und bestimmte Kommunikationspartner angewiesen und beschränkt ist. Auf sie werden Virtualitätsentwürfe der mittelalterlichen Gesellschaft angewendet, doch auch an ihnen diskutiert und modifiziert, vor allem aber zur distanzierten Betrachtung dargeboten (vgl. Kapitel 3). Zu untersuchen sind andererseits Übergänge zwischen den beiden Haupträumen der Erzählung (vgl. Kapitel 4): Trotz der relativ festen Struktur, die ihnen der fiktionale Rahmen verleiht, bleiben diese Räume nach wie vor virtuell, sie zeichnen sich also gegenüber normalen Räumen durch eine weitaus höhere Flexibilität aus. Auch wenn im erzählten Raum über das Personal und im Erzählraum vor 124 Die narratologischen Implikationen, die ich hier in der Koppelung von Erzähltheorie und Raumphilosophie skizziere, mussten in dieser Arbeit, die auf den virtuellen Raum ausgerichtet ist, noch marginal bleiben. Diese Spur habe ich seit dem Abschluss der Habilitationsarbeit systematisch weiterverfolgt, vgl. Wagner 2015b, Wagner 2015d.
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allem über die Figur des Autorerzählers Identität und Stabilität behauptet wird, auch wenn die virtuellen Haupträume scheinbar immer zur Verfügung stehen, so ist ihre Dauerhaftigkeit – ihre Normalität – lediglich fiktional: Die virtuellen Haupträume der Erzählung erscheinen nur als ob sie normale Räume wären. Als virtuelle Räume müssen sie in jedem Fall kommunikativ erst generiert werden – und dies kann trotz der behaupteten Identität auch in veränderter Art und Weise geschehen.
3 Virtueller Raum im Hochmittelalter Die höfische Literatur kann beim Aufbau ihrer virtuellen Räume auf virtuelle Raumarten zurückgreifen, die für das Hochmittelalter spezifisch sind. Wie in der Postmoderne der Cyberspace das Paradigma für virtuelle Räume darstellt (ohne jedoch dafür Ausschließlichkeit beanspruchen zu können), gibt es auch im Hochmittelalter paradigmatische Diskurse für virtuelle Räume. In gewisser Hinsicht boomt um 1200 das Phänomen des virtuellen Raumes in den unterschiedlichsten Bereichen,1 doch erscheinen vor allem zwei Diskurse für ein historisches Verständnis des virtuellen Raumes paradigmatisch zu sein: Musik und Memoria.2 Der musikalische Diskurs ist mit seinen zentralen Größen Klang bzw. Zahl weit entfernt von einem physisch gefüllten Raumbegriff, wird aber im Hochmittelalter als raumbildend wahrgenommen: Harmonie ist die Grundlage der Schöpfung, so dass der gesamte Schöpfungsraum musikalisch bestimmt ist. Der musikalische Raum ist damit prädestiniert für eine Untersuchung virtueller Raumkonzepte, die sich nicht an physisch greifbaren Grenzen orientieren müssen. Der musikalische Diskurs gerade des Hochmittelalters entwickelt mit dem Tonraum ein Denk- und zunehmend auch Erlebensmuster,3 das sich im 12. und 13. Jahrhundert verfestigt und auch für musikalische virtuelle Räume in Erzählungen aufgegriffen wird. Der musikalische virtuelle Raum stellt ein wichtiges Paradigma für den erzählten Raum höfischer Literatur dar (was anhand des Eneasromans, des Rolands-
1 Man denke etwa an die Lichträume der gotischen Architektur, den exklusiven Gebetsraum der Mystik und den Raum der rhetorischen Topoi. 2 Musik und Erinnerung sind hierbei die Inhalte der Kommunikation, die eben auch raumschaffend genutzt wird. Entsprechend gibt es – wenn zusätzlich zum Inhalt auch die Kommunikationszugänglichkeit bestimmt wird – imaginäre und virtuelle musikalische Räume, ebenso wie imaginäre und virtuelle Erinnerungsräume. Zumindest in der Literatur kann die Kommunikationszugänglichkeit beider Raumarten auch insoweit ausgedehnt werden, dass tendenziell normale musikalische Räume bzw. normale Erinnerungsräume entstehen. Freilich bilden die Diskurse Musik und Erinnerung auch – wie für das Mittelalter kaum anders zu erwarten – eine große Schnittmenge: Musik bedient sich in Produktion, Reproduktion und Rezeption auf vielfältige Weise der ars memorativa, und Erinnerung formiert sich über Musik, vgl. dazu ausführlich Berger 2005. 3 Der Unterschied zwischen beiden Mustern liegt dabei in einer Ausweitung der Kommunikationsmöglichkeiten: Denkmuster sind zunächst auf die gelehrte Kommunikation der artes beschränkt, Erlebensmuster dagegen sind ohne weitere Bildungsvoraussetzung zugänglich. Die heute geläufige Wahrnehmung von Klängen als hoch bzw. tief beispielsweise ist grundsätzlich unabhängig von musikalischer Bildung, doch entwickelt sie sich erst im Hochmittelalter als solchermaßen erlebbares Wahrnehmungsmuster; zunächst liegt hier, wie noch zu zeigen sein wird, ein auf die artes beschränktes Denkmuster vor.
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liedes und des Tristanromans gezeigt werden soll), wobei gerade über Musik der erzählte Raum auch zum Erzählraum hin geöffnet werden kann. Parallel dazu entfaltet sich der Memorialdiskurs in Übernahme antiker Traditionen im Hochmittelalter nicht nur zu einer Fertigkeit der Gelehrten, sondern findet sich auch in vielfältigen Ausformungen im höfisch-laikalen Denken und Leben. Für die höfische Erzählung ist der virtuelle Memorialraum aufgrund ihrer Aufführungspraxis prädestiniert: Der historische Erzähler erinnert gemeinsam mit seinem Publikum das Erzählte, und dieses Erinnern formiert sich räumlich und schafft im Vollzug eben den Erzählraum, der etwa an den Prologen der Romane deutlich erkennbar wird.4 In autopoietischer Engführung findet sich der virtuelle Memorialraum über diese grundsätzliche Verwendung in mittelalterlicher Epik hinaus auch innerhalb des erzählten Raumes wieder (wie dies exemplarisch am Iwein- und Erecroman dargestellt werden soll), korrespondiert von hier aus aber auch stärker als der musikalische Raum mit dem Erzählraum. Die laikale Literatur des Mittelalters greift auf die Diskurse Musik und Erinnerung zu, um virtuelle Räume zu entwerfen; diesen Zugriff verstehe ich als interdiskursives Phänomen, wie es Jürgen Link und Ursula Link-Heer in ihrer Adaption des Foucault’schen Diskursbegriffs ausführen: Wir schlagen vor, jede historisch-spezifische ‚diskursive Formation‘ im Sinne Foucaults als ‚Spezialdiskurs‘ zu bezeichnen und dann alle interferierenden, koppelnden, integrierenden usw. Querbeziehungen zwischen mehreren Spezialdiskursen ‚interdiskursiv‘ zu nennen.5
Im Folgenden begreifen Link/Link-Heer Literatur als institutionalisierten Interdiskurs, also als relativ festes Gefüge von Bezugnahmen zu verschiedenen Spezialdiskursen: Auf der Basis der in allen modernen Kulturen zu beobachtenden spontanen Interdiskursivität können nun eigens und regelrecht institutionalisierte ‚Interdiskurse‘ entstehen. Deren kulturelle Funktion liegt eben in der (wenn auch stets partiellen und imaginären) Re-Integration (bis hin zur ‚Synthesis‘ und Totalisierung) des in den Spezialdiskursen sektoriell zerstreuten Wissens. Typische Beispiele in der Goethezeit waren Natur- und Geschichtsphilosophien, im 19. Jahrhundert Popularphilosophien und Weltanschauungen, heute wäre vor allem der Interdiskurs der Massenmedien zu nennen. Zu diesen gesondert institutionalisierten Interdiskursen ist nun unseres Erachtens auch die moderne Literatur zu zählen.6
4 Zur gemeinsamen Erinnerung durch Erzähler und Publikum vgl. ausführlich Dobozy 2005, die hier auch eine umfassende Studie zum historischen Erzähler vorlegt, die ihren Schwerpunkt auf die soziohistorische conditio des Erzählers setzt. Komplementär dazu soll hier die poetologische conditio des Erzählers im Mittelpunkt stehen. 5 Link/Link-Heer 1990, S. 93. 6 Link/Link-Heer 1990, S. 93.
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Link/Link-Heer sprechen hier freilich dezidiert von modernen Diskursformationen, setzen bei der Beschreibung des literarischen Diskurses als Interdiskurs aber bei einem Literaturbegriff an, der gerade für das Mittelalter anschlussfähig ist: Obwohl es vor der modernen Literatur, von der im folgenden ausschließlich die Rede ist, im strengen Sinne noch keine ‚Literatur‘ gab, gab es aber seit jeher Diskurse (allerdings stets in Symbiose mit anderen, vor allem religiösen Diskursen), die man wie folgt beschreiben könnte: in ihnen werden entsprechend einer dominanten ‚delectare‘- Funktion subjektive Situationen, Verwicklungen usw. (insbesondere Eros und Kampf) zur Unterhaltung eines Publikums durchgespielt. Alles Wissen wird darin subjektiviert und als eine Art Vor-Lust für (nicht-spezielle, lebensweltliche) subjektive Applikationen des Publikums parat gestellt. […] Diese bereits vormoderne fundamentale ‚literarische‘ Funktion wird auch von der […] modernen Literatur reproduziert, wobei sie in die neue, interdiskursive Grundstruktur integriert wird.7
Diese „interdiskursive Grundstruktur“ sehe ich gegen Link/Link-Heer bereits in Ansätzen in der mittelalterlichen Literatur verwirklicht,8 die freilich noch nicht in der Art und Weise institutionalisiert erscheint wie die Literatur der Neuzeit. Ein grundsätzlicher Unterschied ist, dass in der mittelalterlichen Kultur noch keine Gesamtgesellschaft vorliegt, deren Wissen in Spezialdiskurse organisiert und aufgeteilt wird, wobei dieses aufgeteilte Wissen in spezifischer Form über Interdiskurse wieder enggeführt werden könnte. Richtet man den Blick aber weg von einer der Neuzeit entsprechenden Gesamtgesellschaft und – gewissermaßen eine Kategorie niedriger – auf einen spezifischen, relativ festen Gesellschaftsausschnitt, so lassen sich durchaus diskursive Formationen und auch entsprechend interdiskursive Phänomene bereits im Mittelalter feststellen. Die höfische Gesellschaft als relativ feste Untergruppe einer vormodernen, stratifikatorisch ausdifferenzierten Gesellschaft etwa lässt unterschiedliche „historisch-spezifische diskursive Formationen“, also Spezialdiskurse, erkennen, allen voran die großen 7 Link/Link-Heer 1990, S. 93. 8 Dazu berechtigt auch, dass Ursula Link-Heer in einem späteren Aufsatz selbst die Übertragung der grundsätzlichen Größen der Diskurstheorie auf das Mittelalter vornimmt: „Die Frage stellt sich nun, ob es sinnvoll ist, von Spezialdiskursen vor der Neuzeit, also z. B. im Mittelalter, zu sprechen. Foucault hat sich hierzu meines Wissens nirgends klar geäußert, doch wenn man Disziplinen nicht aus Konstitutionskriterien funktional ausdifferenzierter Wissenschaften ableitet, sondern aus einer geregelten diskursiven Praxis, die ein Spezialwissen verwaltet und (re-) produziert, dann wäre es letztlich absurd, dem Mittelalter Spezialdiskurse abzusprechen. Die Disziplinen (artes liberales) des Trivium und des Quadrivium sind Spezialdiskurse“ (Link-Heer 1995, S. 29). Im Folgenden erarbeitet Link-Heer, dass sich viele freie interdiskursive Formationen durch diese Spezialdiskurse ziehen, „die allesamt die Grenzen zwischen Klerikerwissen und Laienwissen überschreiten“ (ebd., S. 33). Abschließend weist Link-Heer interdiskursive Phänomene in der Literatur des Mittelalters nach (vgl. ebd., S. 48‒53).
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Spezialdiskurse, die den Hof erst als Hof erkennbar machen: Recht, Feier und Fehde. Für die „kleine Gesellschaft“ des Hofes liegt mit der entstehenden, laikalen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts ein analoges Phänomen zur neuzeitlichen Literatur vor: Sie kann die Spezialdiskurse des Hofes interdiskursiv engführen, kann in der literarischen Adaption aber auch die Spezifika der Diskurse verändern, einzelne Aspekte auslassen, andere dominant setzen usw. Ansätze der Ausdifferenzierung von Spezialdiskursen im Hochmittelalter finden sich auch jenseits des Hofes, in den sieben freien Künsten etwa und den artes mechanicae; freilich sind diese Ausdifferenzierungen (ebenso wie die genannten höfischen Spezialdiskurse) hier noch mit der Einschränkung als Diskurse zu begreifen, dass sie grundlegend durch den umfassenden Interdiskurs des Hochmittelalters, Religion, miteinander verknüpft sind.9 Auch aus diesen nicht-höfischen Diskursen fließen Wissensbestände in die höfische Literatur des Hochmittelalters ein, wie die Forschung vielfältig herausgearbeitet hat. Grundlage für den interdiskursiven Charakter der laikalen Literatur sind hier die Dichter und Erzähler, die nicht selten (schon bedingt durch Schreib- und Lesefähigkeiten) Teil auch an artistischer Bildung haben. Mittelalterliche Literatur wird dadurch keineswegs zu einem gelehrten Glasperlenspiel – das in der Literatur enggeführte spezialdiskursive Wissen ist keineswegs die jeweilige Spitze des Diskurses, sondern viel eher seine Basis, eine Basis, die – modifiziert und in enger Auswahl – auch über die Kommunikationsgrenzen des jeweiligen Diskurses hinaus kommuniziert werden kann. Auch mittelalterliche Literatur ist kein Distributionsapparat für spezialdiskursives Wissen, kein hierarchisch untergeordnetes Sammelbecken von etwa wissenschaftlichen oder klerikalen Einflüssen.10 Wie auch die rezente Literatur Wissen aus psychologischen, physikalischen, biologischen, politischen, juristischen etc. Diskursen übernimmt, ohne aber dabei die jeweiligen Spezialdiskurse wirklich differenziert kennen zu müssen oder bisweilen auch ohne sie tatsächlich zu bedienen (man denke etwa an die vielen physikalischen Mythen, die die Science-Fiction-Literatur 9 Gerade in dieser Einschränkung kann aber auch eine Bestätigung der Anwendungsmöglichkeit der Diskurstheorie auf das Mittelalter gesehen werden: Die interdiskursive Engführung von Wissen bestätigt ja gerade auch die Ausdifferenzierung unterschiedlicher Wissensbereiche. 10 Zu Recht lehnt Tomas Tomasek die unter dem Paradigma der Einflussforschung immer wieder diskutierte Sichtweise ab, dass sich unter der Oberfläche der mittelhochdeutschen Literatur verborgene häretische Botschaften befänden – oder reformuliert in den Begrifflichkeiten Link/ Link-Heers: dass die literarischen Texte Teil eines Spezialdiskurses wären und nicht lediglich interdiskursive Bezugnahmen aufmachen würden: „Höfische Epiker wie Gottfried oder Wolfram von Eschenbach muten ihrem Publikum durchaus kühne Stellungnahmen und Entwürfe zu, doch sind weder programmatische Parteinahmen für eine philosophische Richtung noch verschlüsselte sektiererische Bekenntnisse von ihnen zu erwarten“ (Tomasek 2007, S. 41).
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fast zwingend begleiten), so greift die mittelalterliche Literatur Wissensmomente etwa aus Rhetorik,11 Arithmetik,12 Astronomie13 auf, aber auch aus Architektur,14 Jagd,15 Medizin16 oder bäuerlichem Ackerbau17 und städtischer Ökonomie,18 ohne 11 „Die höfischen Dichter haben ihr Laienpublikum mit komplizierten Reim- und Strophenformen bekannt gemacht, mit rhetorischen Ausdrucks- und Schmuckmitteln, die einer mündlich lebenden Gesellschaft nicht vertraut sein konnten. Dieser ästhetische Erziehungsprozeß […] ist so erfolgreich gewesen, daß nach kurzer Zeit das Laienpublikum begann, hohe Erwartungen und Ansprüche an die poetische Formgebung der Dichter zu stellen. Das wird erkennbar an der raschen Entwicklung der poetischen Technik, die sich seit etwa 1170 in Deutschland vollzog“ (Bumke 2002, S. 708f.). 12 Zu den Anfängen der literaturwissenschaftlichen Debatte um die Frage, inwieweit mittelalterliche Dichter arithmetische Operationen zur allegorischen Sinnerzeugung genutzt haben, vgl. Meyer 1975, S. 14‒19. Jenseits der Frage nach einem etwaigen allegorischen Sinngehalt ist die Bedeutung arithmetischer Verfahren zur Strukturbildung in der mittelhochdeutschen Dichtung allerdings unumstritten. 13 Man denke etwa an das astrologische Wissen, das in Wolframs Parzival eingeflossen ist, zusammen mit einem ganzen Kompendium spezialdiskursiver Wissensbestände: „Es ist erwiesen, daß Wolfram bis ins Detail gehende Fachkenntnisse auf den Gebieten der Medizin, der Kosmologie, Astronomie, Naturkunde und Geographie besaß. Die religiösen Belehrungen Trevrizents, das Gebet an die Trinität im ‚Willehalm‘-Prolog und Gyburgs Ausführungen über die Rettung der Heiden im ‚Willehalm‘ bezeugen ein genaues Verständnis schwieriger theologischer Fragen. Die arabischen Planetennamen im ‚Parzival‘ stammen wahrscheinlich aus einer lateinischen Übersetzung einer arabischen Quelle. Besonderes Gewicht haben die Nachweise, daß Wolfram eine größere Anzahl von Namen lateinischen Quellen entnommen hat. P. Kunitzsch hat nachgewiesen, daß 15 orientalische Ländernamen im 2. Buch des ‚Willehalm‘ (74,3ff.) aus der Klimatafel des arabischen Astronomen al-Fargani (9. Jh.) stammen, vermittelt durch die lateinische Übersetzung dieser Schrift von Gerhard von Cremona (‚Liber de aggregationibus scientie stellarum‘, 12. Jh.). A. Groos verdanken wir den Nachweis, daß Wolfram die meisten Schlangennamen, die Trevrizent im 9. Buch des ‚Parzival‘ aufzählt (481,8ff.), dem spätantiken lateinischen ‚Herbarium‘ des Pseudo-Apuleius entnommen hat. […] Auch der Katalog der Edelsteine im ‚Parzival‘ (791,1ff.) stammt sicherlich aus einem lateinischen Lapidarium, und zwar aus einer Tradition, die dem Steinbuch (‚De lapidibus‘) von Marbod von Rennes (11. Jh.) nahestand, wie G. Roethe nachgewiesen hat“ (Bumke 1997, S. 6f.). 14 Scott E. Pincikowski hat herausgearbeitet, dass etwa Hartmann von Aue in seinen Romanen architektonisches Wissen seiner Zeit rezipierte (vgl. Pincikowski 2008); darauf wird weiter unten im Zusammenhang mit Erinnerungsräumen noch genauer einzugehen sein, vgl. Kap. 3.2.2. 15 Man denke nur an die ausführliche Darstellung der „richtigen“ Art und Weise Wild zu zerlegen im Tristanroman, vgl. dazu ausführlich Kolb 1979. 16 Etwa in der Episode „Die Heilung der Kranken“ im Pfaffen Amis des Strickers nutzt der Pfaffe spezialdiskursives Wissen der Medizin, um seine Betrügerei im städtischen Krankenhaus durchzuführen (vgl. Der Stricker 1994, VV 799‒924). Zur interdiskursiven Fluktuation medizinischen Wissens vgl. Link-Heer 1995, S. 48f. 17 Rudimentäres Wissen über den Ackerbau fließt etwa in den Helmbrecht Wernhers des Gärtners ein, vgl. Wernher der Gärtner 1974, VV 247‒308 et passim. 18 Die innovative Anwendung ökonomischer Strukturen auf Beziehungsdarstellungen in Märentexten hat jüngst Susanne Reichlin herausgearbeitet, vgl. Reichlin 2009.
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indes die zitierten Spezialdiskurse wirklich beherrschen zu müssen oder vertiefte Kenntnisse beim Publikum voraussetzen zu müssen. Der historische Hof ist vor allem im 12. Jahrhundert freilich schwer zu greifen. Eine grundlegende Skizze der höfischen Kultur liegt nach wie vor in der gleichnamigen Studie von Joachim Bumke vor, der zur Frage der Zusammensetzung des Hofes (und damit auch des höfischen Publikums) exemplarisch die Raitbücher der Grafen von Tirol aus der Zeit um 1300 nennt, in denen durchaus das interdiskursive Potenzial eines mittelalterlichen Hofes erkennbar wird: „Genannt sind hier etwa fünfzig Personen, die, unterhalb der adligen Hofgesellschaft, zum Verwaltungspersonal beziehungsweise zur Dienerschaft der gräflichen Hauptburg Tirol gehörten: ein Kaplan, ein Lehrer, zwei Hofnarren […], Wächter und Pförtner, Schaffner, Weingärtner, Hirten, Förster, Müller, Schneider, Zimmerleute, ein Goldschmied, ferner Küchenpersonal und mehrere Knechte.“19 Paradebeispiel für diesen interdiskursiven Charakter des hochmittelalterlichen Herrscherhofes ist auch der Hof Heinrichs des Löwen (ca. 1130‒1195). Fester Bestandteil seiner Hofhaltung war „eine größere Gruppe von Geistlichen, die man mit Recht als seinen Verwaltungsklerus bezeichnet hat. Die Mehrzahl dieser Kleriker kam aus dem Braunschweiger Raum. Es waren Angehörige des Blasius- und des Cyriacusstifts, des Ägidienklosters in Braunschweig oder des Klosters Riddagshausen. Aber auch aus anderen Orten hat der Herzog Geistliche an seinen Hof gezogen. Diese Kleriker bekleideten in der Regel für einige Zeit das Amt eines Hofkaplans […]. Diese Kapläne bilde die Hofgeistlichkeit des Herzogs; einige von ihnen haben ihren Herrn auch auf dessen Feldzügen und Reisen ständig begleitet.“20 Diese hochdotierten Kleriker bringen fundierte Erfahrungen in Bezug auf das Wissen der artes dauerhaft in die Hofhaltung Heinrichs ein. Heinrichs Rolle als Mäzen höfischer Literatur21 und sein ausgeprägtes Bedürfnis zu künstlerischer Repräsentation sind hinlänglich bekannt,22 so dass hier alle Grundlagen am Hof zusammen kommen, um eine literarische Engführung spezialdiskursiver Wissensbestände zu gewährleisten. Zwar entstammt der Lucidarius (ein in volkssprachlicher Prosa verfasstes Kompendium vornehmlich theologischen Wissens) wahrscheinlich nicht der Hofhaltung Heinrichs, sondern derjenigen seines Sohnes;23 dennoch belegt das überaus erfolgreiche laienwissenschaftliche Werk24 das grundsätzliche Interesse des hochmittelalterlichen Adels auch an wissenschaftlicher Bildung.25 19 Bumke 2002, S. 701. 20 Jordan 1996, S. 146. 21 Das allzu glorifizierende Bild der jüngeren Forschung hat Kartschoke 2003 in einem umfangreichen Aufsatz relativiert und fasst zusammen: „Während Konrads ‚Rolandslied‘ als sicherer Besitz des Welfenhofes gelten darf, der ‚Lucidarius‘ nur mit Vorsicht (vielleicht auch gar nicht) auf das Interesse Heinrichs des Löwen zurückzuführen ist, sind die Meinungen hinsichtlich des Versromans von ‚Tristrand und Isalde‘ des Eilhard von Oberg seit je und bis heute geteilt“ (Kartschoke 2003, S. 102). Trotz dieser Relativierung zeichnet auch Kartschoke das Bild eines literarisch stark interessierten Hofs Heinrichs des Löwen, auch mit dem wichtigen Hinweis auf „alle Texte […], die am Hofe bekannt waren und rezipiert wurden“ (Kartschoke 2003, S. 124), auch über die belegbare Gönnerschaft hinaus. 22 Vgl. Jordan 1996, S. 245‒251; Bumke 1979, S. 143‒148. 23 Vgl. Hamm 2002b. 24 Zur literaturgeschichtlichen Bedeutung des Lucidarius vgl. Johnson 1999, S. 447‒450. 25 Zu den lateinischen Quellen des Lucidarius vgl. Hamm 2002a, S. 13‒23.
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In dieser interdiskursiven Art und Weise – als Engführung spezialdiskursiven Wissens, dabei aber auch enge Auswahl, Veränderung, vielleicht Missverstehen dieses Wissens – greifen, so möchte ich im Folgenden zeigen, die Dichter der höfischen Literatur auch auf die Spezialdiskurse Musik und Erinnerung zu und übernehmen verändernd Modelle virtueller Raumkommunikation; bei Musik etwa wird in der Literatur oftmals nur das „Dass“26 der Harmonie aufgegriffen, nicht aber die dahinterstehende Mathematik, die hochkomplex wäre; bei Memoria wird das grundlegende Muster eines mit prägnanten Bildern eingerichteten Memorialraumes aufgegriffen, ohne ausdifferenziertere Memorialtechniken zu rezipieren. Ähnlich wie in Bezug auf die Aufführung mittelalterlicher Literatur möchte ich damit über den virtuellen Raum mittelbar auf etwas letztlich nicht Fassbares zugreifen: der Kommunikation der Hofmitglieder untereinander und über spezialdiskursive Grenzen hinweg. Es wäre mehr als unwahrscheinlich, eine solche Kommunikation nicht anzunehmen, doch verifizierbar ist sie zumindest als mündliche interdiskursive Praxis nicht; uns überliefert ist lediglich ihr (wiederum nur mittelbarer) schriftlicher Niederschlag in Form der höfischen Literatur: eine interdiskursive Engführung spezialdiskursiver Wissensaspekte, die im Akt der Verschiebung ihrer systematischen Einordnung beraubt werden und neue Verknüpfungen aufbauen, neue Funktionen einnehmen können. Die so entstehenden virtuellen Räume erfüllen – um einem grundlegenden Ergebnis der Untersuchungen vorzugreifen – für die Epik eine spezifische Funktion: Die virtuellen Räumlichkeiten Musik und Erinnerung bieten die Möglichkeit, den normalen (erzählten) Raum zu flankieren, zu überlagern oder zu ersetzen, jedenfalls aber Bewegung in den tendenziell statischen normalen Raum zu bringen und schwierige bzw. unwahrscheinliche Veränderungen räumlich herbeizuführen. Wie dies im Einzelnen geschieht, soll nun exemplarisch gezeigt werden. Vorangestellt ist jeweils eine knappe Darstellung des jeweiligen Spezialdiskurses, eine notwendige Hürde, um sowohl der Alterität mittelalterlicher Musik als auch mittelalterlicher Erinnerung gerecht zu werden und die spärlichen Wissensbestände, die interdiskursiv verschoben werden, überhaupt als spezialdiskursives Wissen erkennen zu können. Zugleich wird damit deutlich, wie selektiv die höfische Literatur auf spezialdiskursives Wissen zugreift, wie wenige, rudimentäre Wissensaspekte (verändernd) interdiskursiv verschoben 26 Mit der Formulierung „das ‚Dass‘“ im Unterschied zu „das ‚Wie‘“ bezeichne ich die Verwendung eines komplexen Phänomens (hier: Harmonie) lediglich als Tatsache, nicht aber inklusive der Erklärung ihrer genauen Funktion. Die Formulierung „seine Stimme fügte sich harmonisch zu ihrer“ etwa greift nur auf das „Dass“ der Harmonie zurück, während die Formulierung „ihre beiden Stimmen klangen im Verhältnis 2 zu 1 zusammen“ auch das „Wie“ der Harmonie miteinbezieht.
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werden, kurz: wie eigenständig-unhierarchisch sich die höfische Literatur bereits des Hochmittelalters darstellt.27
3.1 Musik und virtueller Raum Das heutige Musikverständnis ist wie selbstverständlich durchsetzt mit räumlichen Vorstellungen. Die Rede vom Tonraum, den Stimme und Instrumente durchschreiten können, ist so stark fundiert, dass die räumliche Organisation von Musik oftmals zu deren überhistorisch konstanten Wesenszügen gezählt wird, wie dies etwa Hans Joachim Moser ausführt: Zweifellos haben die Menschen schon in früher Zeit gespürt, daß die Musik etwas Wunderbares sei, ein Göttliches, Himmelsgeborenes. Dies eigentlich unbegreiflich geheimnisvolle Wunder vollzieht sich dort, wo aus Einzelfrequenzen ein Akkord und aus mehreren solchen eine logische Harmoniewendung wird; wo aus dem Nacheinander mehrerer Töne eine Melodie, ein melodisches Gesicht wird: ein Ganzheitsphänomen, in welchem das Total mehr ist als die Summe seiner Bestandteile. Es entsteht ein geistiges Lebensphänomen, ein atemfähiger Organismus, der in einem vorgestellten mehrdimensionalen ‚Tonraum‘ sein eigenes Herzpochen spüren läßt. Hier entsteht ein vorgestelltes Schwergewicht, ein Oben und Unten, Links und Rechts, Vorn und Hinten je nach Tonhöhe, Tempo, Rhythmus, Dynamik, Klangfarben und so weiter.28
Ausgeformt wird dieser Tonraum einer „ganzheitliche[n] Organik“ laut Moser zwischen den Polen zahlenhafter Bestimmung und persönlicher Empfindung oder, wie er im weiteren Verlauf seiner Ausführungen in Hinblick auf den Kompositionsvorgang differenziert, zwischen objektiver und subjektiver Musik; dabei ordnet er die mittelalterliche Musik in ihrer transzendenten Begründung der objektiven Musik zu, die Musik der Renaissance dagegen in harter Abgrenzung der subjektiven Musik; die moderne Musik oszilliere zwischen diesen beiden Polen.29
27 Zu ähnlichen Ergebnissen gelangen die Bayreuther Arbeiten zur höfischen Laientheologie: Auch in Hinsicht des religiösen Diskurses bedient sich die höfische laikale Literatur mannigfaltig an interdiskursiv zur Verfügung stehenden Wissensmomenten, ohne dabei aber spezialdiskursiven Strukturen (etwa der Systematik der Scholastik oder der Frömmigkeit des monastischen Klerus’) verpflichtet zu sein. Stattdessen fügt die höfische Literatur die übernommenen Wissensmomente zu neuen, eigenständigen Konstellationen zusammen, die eine Art höfischer Laientheologie jenseits einer klerikal organisierten Theologie erkennen lassen (vgl. dazu ausführlich Wagner 2009a, Knaeble 2010, Knaeble/Wagner/Wittmann 2011). 28 Moser 1960, S. 255. 29 Vgl. Moser 1960, S. 255‒259.
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Moser historisiert grob mittels der neuzeitlichen, cartesianischen Unterscheidung zwischen objektiv und subjektiv; das Phänomen des Tonraums ist dabei so selbstverständlich der Musik zugehörig, dass es das übergreifende Phänomen darstellt, das sich historisch lediglich in seiner objektiven oder subjektiven Ausformung variiert. Doch ist, wie nun zu zeigen sein wird, die Vorstellung eines musikalischen Tonraumes historisch geworden (und dies gerade im Übergang zum Hochmittelalter) und nicht wesenhaft der Musik zugehörig.30 Auch die Größen objektiv und subjektiv sind in einer solchermaßen grundsätzlichen Bedeutung auf das Mittelalter nicht anwendbar,31 vielmehr differenziert sich der Tonraum hier aus in imaginäre und virtuelle Räume, je nach seiner Kommunikationszugänglichkeit.
3.1.1 Die kulturgeschichtlichen Grundlagen der Musik um 1200 als ars und usus Eine Annäherung an ein mittelalterliches Musikverständnis sieht sich zunächst der Schwierigkeit gegenübergestellt, dass der Musikbegriff im Umbruch zur Neuzeit – jenseits des Phänomens Tonraum – grundlegende Veränderungen erfahren hat; während Musik heute ein letztlich nicht mehr analysierbares Bedeutungsspektrum abdeckt, ist sie in der Zeitspanne zwischen Aristoteles und Leibniz32 einerseits ungewohnt präzise bestimmt als Reflexionsform, die sich von
30 Gegen Zaminer 1987, der das vertikale Empfinden von Tonhöhe zur anthropologischen Konstante erklärt. Zaminer missversteht die wirklichkeitsschaffende Kraft einer ursprünglich arbiträren Benennung grundsätzlich, wenn er angesichts zahlreicher Beispiele von einer Parallelisierung von Textinhalt und Melodieverlauf seit Palästrina (und damit denkbar spät!) betont, dass man diese Notenbeispiele „als selbständige Bestätigung der im Abendland entwickelten Auffassung vom Tonhöhenphänomen als einem musikalischen Raumphänomen werten [muss]. Es wäre unerträglich, darin nur den musikalischen Reflex einer fiktiven, rein sprachlich vermittelten Raumvorstellung sehen zu wollen“ (Zaminer 1987, S. 26). 31 Freilich wendet Moser den Begriff der Subjektivität nicht auf das Mittelalter an, doch kann vor einer Ausdifferenzierung von Objektivität und Subjektivität als grundlegende Denkparameter streng genommen auch nicht von Objektivität die Rede sein. 32 Mit Leibniz markiert Max Haas die philosophiegeschichtliche Grenze einer Denkausrichtung, die u. a. Musik in erster Linie als mathematisch-physikalische Disziplin in den Blick nimmt (vgl. Haas 2005, S. 2ff.). Musiktheoretisch sind freilich auch andere, frühere Grenzziehungen möglich, wie etwa die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts, für die Klaus Wolfgang Niemöller einen Paradigmenwechsel „in der Musikanschauung von einer numerologischen zu einer poetologischen Musikanschauung“ (Niemöller 1995, S. 187) nachweist. Eine Diskussion der unterschiedlichen Grenzziehungen und auch der sie überdauernden Traditionslinien wäre sicherlich spannend, ist für eine Betrachtung hochmittelalterlicher Ausdifferenzierungen des Musikbegriffs jedoch unnötig.
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antiken griechischen Quellen herleitet und sich mit dem „Nachdenken über die Relation zwischen ‚Zahl‘ (dem mathematischen Begriff) und ‚Ton‘ (dem physikalischen Term)“33 beschäftigt; dieser exakt abgrenzbare Musikbegriff bezieht sich jedoch lediglich auf das wissenschaftliche Fach Musik, dem die praktischmusikantische Beschäftigung mit Musik gegenüber gestellt ist: Vor allem vor der Zeit der artifiziellen Mehrstimmigkeit (in deren Entwicklung theoretische Musikreflexion und musikantische Musikpraxis zusammengeführt werden) ist Musik im Mittelalter andererseits die vorerst mündlich tradierte Praxis von Sängern und Instrumentalisten.34 Im Übergang zum Frühmittelalter schlägt sich diese mündliche Musik noch an prominenter Stelle, bei der Begriffsbestimmung des Wortes musica in Isidors Etymologiae, nieder: Quarum sonus, quia sensibilis res est, et praeterfluit in praeteritum tempus inprimiturque memoriae. […] Nisi enim ab homine memoria teneantur soni, pereunt, quia scribi non possunt.35
Weil der Ton der Musik eine fühlbare Sache ist, entschwindet er auch mit der vorübergehenden Zeit und wird nur in die Erinnerung eingeprägt. Wenn die Töne nämlich nicht von einem Menschen in Erinnerung gehalten werden, vergehen sie, weil sie nicht aufgeschrieben werden können.
Hans Robert Lug begreift diese Textstelle als Widerspiegelung des „Zustand[es] ungestörter Mündlichkeit der abendländischen Musik“,36 deren mündlich-musikantischen Charakter er als übergreifendes Merkmal der unterschiedlichsten Musikstile zwischen Spätantike und der karolingischen Renaissance versteht: Das betrifft die Welt der histriones und ioculatores, der in alle Himmelsrichtungen versprengten fahrenden Sänger, Spieler und Gaukler der untergehenden römischen Zirkuskultur ebenso wie ihre nordeuropäischen Kollegen, die kleinen Musikanten der Landstraße ebenso wie die Heldenlieder der Barden und die Gesänge der Mönche und Priester in den Kirchen, wo sich gerade regionale Liturgien etablieren.37
Dieser musikantisch-praktische Musikbegriff ist denkbar weit entfernt von dem Nachdenken über die reine Proportion, wie sie den theoretischen Musikbegriff des nach Boethius ausdifferenzierten mittelalterlichen Wissenschaftssystems 33 Haas 2005, S. 2. 34 Vgl. dazu grundsätzlich Lug 1983. 35 Isidor 1911, III, XV,2, Übersetzung nach Möller, vgl. Isidor 2008, S. 133. 36 Lug 1983, S. 245; auch wenn es sich bei dem Isidorzitat nicht um eine Aussage bezüglich der allgemeinen Notierbarkeit von Musik handelt (vgl. Haas 2005, S. 382) – auch die Spätantike kannte bereits Möglichkeiten der Aufzeichnung musikalischer Vorgänge – kann die Stelle sicherlich als Beleg einer primär mündlichen Musiktradition verstanden werden. 37 Lug 1983, S. 246.
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kennzeichnet.38 Gleichwohl setzt sich aber bereits der eigentliche Musikbegriff Isidors von diesem musikantischen Musikbegriff ab, wie an seiner vorausgehenden Definition von musica ablesbar ist: Musica est peritia modulationis sono cantuque consistens.39
Die Musik ist Kenntnis des Taktes, der in Ton und Gesang besteht.40
Musik ist nicht etwa selbst modulatio, sonus oder cantus, sondern mittelbar deren wissenschaftliche Kenntnis; zwar ist der Ton (sonus) sinnlich wahrnehmbar, die Musik als dessen Kenntnis ist es aber nicht. Isidor behandelt entsprechend die Musik auch im dritten Buch seiner Etymologiae neben Arithmetik, Geometrie und Astronomie und fundiert damit (neben Boethius41) gerade die Abschottung der mittelalterlichen, quadrivialen Wissenschaftsdisziplin Musik von der parallel stets existenten praktisch-musikantischen Musik. Das Mittelalter, um es holzschnittartig zu unterscheiden, übernimmt das spätantike Erbe Musik als denkbare Größe einerseits (ars, theoretisch ausgerichtet, schriftlich42 tradiert) und
38 Vgl. dazu ausführlich Haas 2005, S. 55‒86. 39 Isidor 1911, III, XV, 1, Übersetzung nach Möller, vgl. Isidor 2008, S. 133. 40 Möller übersetzt hier „Die Musik ist Kenntnis (peritia) des Taktes (modulatio ‒ Rhythmus), die in Ton (sonus) und Gesang (cantus) besteht“, sie bezieht also „consistens“ auf „peritia“. Meines Erachtens ist der Zusatz jedoch bereits aufgrund seiner räumlichen Stellung in direkter Nachbarschaft auf „modulationis“ zu beziehen; aber auch inhaltliche Gründe sprechen dafür: Es erscheint unsinnig, dass die Kenntnis aus sonus und cantus bestehen soll und nicht vielmehr sich darauf bezieht. Den Unterschied zwischen sonus und cantus führt Isidor im 10. Kapitel aus: „Cantus est inflexio vocis. Nam sonus directus est, praecedit autem sonus cantum“ („Der Gesang entsteht durch das Modulieren der Stimme. Der einzelne Ton ist jedoch gerade gerichtet. Er geht dem Gesang voran“. Übersetzung nach Gysin 1972, S. 13). Modulatio bestimmt er am Beginn des 10. Kapitels als Synonym zu harmonia und erklärt wenig später: „Harmonia est modulatio vocis et concordantia plurimorum sonorum, vel coaptatio.“ („Die Harmonie ist der Takt der Stimme und die Eintracht vieler Töne bzw. ihre Anpassung“. Übersetzung nach Möller, vgl. Isidor 2008, S. 135). Modulatio (zu dessen frühem Bedeutungsspek¬trum auch der rhythmische Aspekt gehörte, vgl. Gysin 1972, S. 47) ist damit als umfassende Organisationsform der Überbegriff für sonus (Einzelton) und cantus (Tonfolge) und in der Tat, wie Möller vorschlägt, mit Takt übersetzbar. Isidor führt so mit sonus, cantus und modulatio drei Abstraktionsstufen von Musik auf, die hierarchisch angeordnet sind: Cantus beinhaltet soni, modulatio beinhaltet canti (und damit auch soni); „consistens“ ist damit auf „modulationis“ zu beziehen, und die peritia als theoretische Kenntnis der Musik stellt in der Definition die höchste Abstraktionsstufe dar, die sich auf modulatio bezieht. 41 De institutione musica von Boethius ist noch im Hochmittelalter das zentrale Textbuch der artistischen Musikreflexion, vgl. Haas 2005, S. 96. 42 Es geht dabei um die Form der Wissenstradierung, unabhängig von dem dabei gebrauchten Zeichensatz, der aus einer Buchstabenschrift oder einer Notenschrift bestehen kann.
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hörbare Größe andererseits (usus, praktisch ausgerichtet, mündlich tradiert) in zunächst geradezu hermetischer Abgrenzung.43 Die gregorianische Liturgiereform des 9. Jahrhunderts stellt eine erste fundamentale Durchmischung von denkbarer und hörbarer Musik dar. Ihr geht eine hochproblematische Alteritätserfahrung im 8. Jahrhundert voran, die zwischen römischen und fränkischen Mönchen angesichts unterschiedlicher Aufführungsweisen des Kirchenchorals aufbricht und – freilich in diametral entgegengesetzter Sympathieverteilung – bei Johannes’ Diaconus Vita Gregorii und Notkers Balbulus Gesta Karoli gut belegt ist und noch Jahrhunderte später tradiert wird;44 Michael Walter fast den Kern des Geschehens in seiner römischen Version zusammen: Karl der Große habe in Rom zusammen mit dem Papst das Osterfest gefeiert. Während der Ostertage entstand ein Streit zwischen den römischen und fränkischen Sängern. Die Franken behaupteten, sie sängen besser und schöner als die Römer, diese wiederum behaupteten, sie trügen die ‚cantilenas eclesiasticas‘ in gelehrtester Weise vor, nämlich so wie sie vom Heiligen Geist gelehrt worden seien. Die ‚Gallier‘ hingegen sängen verderbt und würden den Gesang durch ‚Zerreißen‘ zerstören. […] Schließlich wurde der Streit Karl zu Entscheidung vorgelegt. Dieser fragte seine Sänger, was denn reiner sei, die Quelle oder das Bächlein, das schon eine lange Strecke geflossen sei? Die Sänger antworteten natürlich, die Quelle sei reiner, weil das Bächlein umso verschmutzter und verderbter würde, je weiter es von der Quelle entfernt sei.45
In dieser im Kern sicherlich historischen46 Begebenheit werden hörbare und denkbare Musik insofern enggeführt, als die Beteiligten hören, dass die denknotwendige Einheit der Kirche, die sich im gemeinsamen Gesang niederschlagen sollte, in Frage steht: Es handelt sich somit um eine doppele Alteritätserfahrung – Franken wie Römer nahmen die jeweils andere Gesangspraxis als falsch, d. h. der eigenen nicht kompatibel wahr –, die Symptom und Manifestation einer als dramatisch empfundenen kulturellen Grenze war, eines ‚musikalischen‘ Kulturschocks [,] der umso empfindlicher war, als er sich doch in kirchlichem Rahmen abspielt, jener Kirche, die nach Ansicht der Karolinger für die Einheit der Christenheit stand.47 43 Diese Abgrenzung betrifft freilich in erster Linie das berufliche Feld und damit einhergehend Betätigungsmodelle mit denkbar unterschiedlicher musikalischer Ausrichtung, die Abgrenzung trifft aber auf personaler Ebene nicht zu: Spielleute und Angehörige der Artistenfakultät definieren sich über ihr jeweiliges Tun, nicht aber als personal abgetrennte Personengruppen, vgl. Haas 2005, S. 97‒99. Zu der Dialektik von ars und usus vgl. auch Diehr 2000, S. 16‒20. 44 Vgl. dazu ausführlich Walter 1994, S. 7‒16; 51‒63. 45 Walter 1994, S. 8. 46 Vgl. Walter 1994, S. 9. 47 Walter 1994, S. 15. Eine literarische Fassung entsprechender musikalischer Alteritätserfahrung liegt im Nibelungenlied vor, als die Burgunder zusammen mit den Hunnen eine gemein-
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Die Folge dieser ersten intensiven Kollision von denkbarer und hörbarer mittelalterlicher Musik ist bekanntlich die Entwicklung einer spezifisch musikalischen Schriftlichkeit im 9. Jahrhundert, die nicht mehr Einheit und Kontinuität der ars Musik, sondern des usus Musik garantieren sollte: die Neumen. Freilich ist das Ziel der Neumierung des gregorianischen Kirchenchorals keineswegs die Aufzeichnung mündlicher Vielfalt, sondern umgekehrt die Normierung und Vereinheitlichung (oder drastischer ausgedrückt: die Auslöschung) einer solchen: [I]n ihrer Funktion als musikalischer Kanon einer auf Schrift gegründeten Religion ist die Schriftlichkeit der Musik mitnichten bloße Mündlichkeitsstütze, sondern wird selbst entwicklungszentral im Sinn einer ‚heiligen Schrift‘.48
Gleichwohl entsteht im Rahmen der karolingischen Renaissance eine klerikale Musikdidaktik, die zwischen den Polen hörbarer und denkbarer Musik angesiedelt ist und die artistische Musikreflexion der ars Musik durch eine Reflexion auch des usus Musik komplettiert. Diese klerikale Musikdidaktik stellt auch einen eigenständigen, anwachsenden Textkanon (beginnend mit der musica und scolica Enchiriadis im 9. Jahrhundert) einer praxisorientierten Musiklehre49 dem wissenschaftlichen Textkanon (vor allem Boethius, Martianus Capella, Platon und Aristoteles)50 zur Seite. Im 12. Jahrhundert gerät die Abgrenzung zwischen denkbarer und hörbarer Musik wieder – und diesmal mit dauerhaften Konsequenzen – in Bewegung; erstes Indiz hierfür ist eine musikhistorische Bemerkung im Didascalicon Hugos von St. Victor von ca. 1127, der einflussreichsten Studieneinführung und Wissenschaftslehre der Frühscholastik. Hugo führt für alle Fächer der artes aus, dass stets die jeweilige Praxis der wissenschaftlichen Beleuchtung voranging: Omnes […] scientiae prius erant in usu quam in arte.51
Alle Wissensbereiche bestanden zunächst in der praktischen Anwendung.
Er erklärt schließlich auch für die Musik im Speziellen:
same Messe feiern – und die Diskrepanz beider Gruppen, die Störung der höfischen Harmonie musikalisch erfahrbar wird: „Si sungen ungelîche, daz dâ vil wol schein, / kristen unde heiden, die wâren niht enein“ (Nibelungenlied 2002, VV 1851,1f. „Sie sangen unterschiedlich, denn hier wurde besonders deutlich, dass Christen und Heiden keine Einheit bildeten“). 48 Lug 1983, S. 247. 49 Vgl. dazu ausführlich Haas 2005, S. 114‒123; 279‒344. 50 Vgl. Haas 2005, S. 96‒99. 51 Hugo von St. Viktor 1997, S. 150, Übersetzung nach Offergeld.
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Priusquam esset musica, canebant.52
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Bevor es Musik als artistische Disziplin gab, haben sie gesungen.
Es ist bemerkenswert, dass bei Hugo die menschliche Praxis und nicht etwa Weisheit und Wahrheit Gottes die unmittelbaren Grundlagen der artistischen Reflexion sind. Hugo rückt damit den usus (im Falle der Musik: die praktisch-musikantische Musik) zumindest wieder in das Gesichtsfeld artistischer Reflexion. Auch die spezifischeren Ausführungen Hugos zum Fach Musik indizieren trotz aller Traditionalität eine zunehmende Inblicknahme des usus auch im Bereich der ars Musik: Bekanntlich differenziert Boethius im zweiten Buch seiner De institutione musica libri quinque vom Beginn des 6. Jahrhundert die Musik in drei Gattungen, die auf den ersten Blick scheinbar sowohl ars als auch usus abdecken: Sunt autem tria [genera musicae]. Et prima quidem mundana est, secunda vero humana, tertia, quae in quibusdam constituta est instrumentis, ut in cithara vel tibiis ceterisque, quae cantilenae famulantur.53
Es gibt nämlich drei Arten von Musik; und zwar ist die erste die Musik des Weltalls, die zweite aber die menschliche, die dritte aber die, welche in gewissen Instrumenten angelegt ist, wie in der Kithara oder in der Tibia, kurz in allen Instrumenten, auf denen man eine Melodie spielen kann.54
Wie die genaue Lektüre zeigt, ist mit Boethius’ dritter Musikart keineswegs schlicht Instrumentalmusik im heutigen Verständnis gemeint, die den usus der Musik in seinen Musikbegriff aufnehmen würde: ‚Musik‘ wird nicht dem Klang nach erfasst, sondern gewinnt ihre Untersuchbarkeit aufgrund der Befähigung ‚gewisser‘, nämlich stimmbarer Instrumente, Töne gemäss [sic] einer musikalischen Ordnung zu produzieren.55
Bei Boethius bleiben alle drei Gattungen seiner Differenzierung im abstrakten Ordnungsbereich der ars, der usus der Musik wird von seinem Musikbegriff nicht abgedeckt. Anders sieht dies bei Hugo von St. Victor im 12. Jahrhundert aus, der in seinem Didascalicon diese Stelle aus Boethius’ De institutione musica übernimmt, dabei jedoch gerade in Bezug auf die dritte Gattung signifikante Änderungen macht:
52 Hugo von St. Viktor 1997, S. 150, Übersetzung nach Offergeld. 53 Boethius 1867, S. 187. 54 Paul übersetzt „quae in quibusdam constitua est instrumentis“ ungenau mit „die auf gewissen Instrumenten ausgeübt wird“, vgl. Boethius 1985, S. 7. Haas paraphrasiert „constituta est“ mit Reckow richtig mit „angelegt, fest eingerichtet, vorhanden“, vgl. Haas 2005, S. 92. 55 Haas 2005, S. 92. Vgl. auch Diehr 2000, S. 30.
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Tres sunt musicae: mundana, humana, instrumentalis. […] Musica instrumentalis alia in pulsu, ut fit in tympanis et chordis, alia in flatu, ut in tibiis et organis, alia in voce, ut in carminibus et cantilensis.56
Es gibt drei Arten von Musik: die Musik des Universums, die des Menschen und die der Instrumente. Die Instrumentalmusik besteht teils im Schlagen, wie auf Trommeln und Saiten, teils im Blasen, wie von Flöten und Orgeln, und teils in der Stimme, wie bei Gesängen und Liedern.
Die dritte Gattung der Musik, die bei Boethius schon grammatikalisch nur mittelbar mit den Instrumenten verbunden war, wird bei Hugo schlicht zur musica instrumentalis, und sie existiert nicht in deren zugrunde liegender musikalischer Ordnung, sondern direkt im tonerzeugenden, hörbaren usus.57 Während sich die ars vorsichtig gegenüber dem usus Musik öffnet,58 sind im Bereich des usus für den hochhöfischen Zeitraum zwei sehr unterschiedliche Verhaltensweisen zu beobachten: Die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert zeigt uns ein bemerkenswertes Bild: Das Nebenund Ineinander einer nichtschriftlichen (weltlichen) Musikkultur in ihrer Hochblüte und einer (kirchlichen) Schriftkultur, die gerade die Tore zur mehrstimmigen Zukunft aufstößt.59
Gerade der hochmittelalterliche Herrscherhof, der Publikum und Aufführungsrahmen der hier behandelten Literatur stellt, ist das Sammelbecken, in dem diese unterschiedlichen Musikarten zusammentreffen: Mit der Hofkapelle besitzt der Herrscherhof eine Einrichtung, die artistische Bildungsträger und Mitglieder der klerikalen Gesangsgemeinschaft in seinem Zentrum dauerhaft präsent hält, und die höfische Festkultur bietet Höflingen und reisenden Berufsmusikern reiche Gelegenheit die nach wie vor mündlich tradierte Musik zu produzieren und zu 56 Hugo von St. Victor 1997, S. 176f., Übersetzung nach Offergeld. 57 Entsprechend zitiert Hugo anschließend Boethius’ Dreiteilung in Bezug auf Musiker (Liedermacher, Instrumentalisten, wissenschaftliche Kritiker), ohne aber dessen entschiedene Abwertung der beiden ersten, praktisch ausgerichteten Gruppen mit zu übernehmen (vgl. Boethius 1867, S. 223‒225). Die radikalste Hinwendung zum usus von Seiten der ars Musik vollzieht sicherlich (vorerst aber ohne Nachfolger) Johannes von Grocheio 150 Jahre später, der nach Ablehnung der überkommenen Einteilungen der Musik schlicht von der „musica, qua utuntur homines Parisiis“ (Musik, die die Menschen von Paris ausüben) (Johannes de Grocheio 1973, S. 124) ausgeht, die ars also deskriptiv dem usus beiordnet, anstatt diesen normativ zu bestimmen oder gar zu ignorieren. 58 Diese Öffnung darf nicht überbewertet werden: Selbst bei Johannes von Grocheio ist der Bezug zum usus auf wenige Bemerkungen oder Behauptungen beschränkt, der artistische Ordnungszwang greift auch hier letztlich auf überkommene musikalische und rhetorische Muster zurück, ohne die dabei tradierten Inhalte etwa an einer musikalischen Praxis zu überprüfen. 59 Lug 1983, S. 247. Vgl. auch ebd., S. 247‒251.
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rezipieren (auch hier erweist sich der Hof als Interdiskurs, der beide Spezialdiskurse der Musik zusammenführt). Auch wenn für den einzelnen Herrscher vielleicht keine umfassende musikalische Bildung vorauszusetzen ist, das höfische Publikum versammelt eine breite Bildungspalette, die ein grundlegendes Verständnis sowohl für ars als auch für (klerikalen wie laikalen) usus der Musik bereit hält.
3.1.2 Die unterschiedliche Kommunikationszugänglichkeit musikalischer opera Die Differenzierung zwischen dem jeweiligen Raumverständnis der ars und des usus Musik lässt sich auch fassen in der scholastischen Opuslehre des 13. Jahrhunderts und entpuppt sich dabei auch als historisierbarer Unterschied zwischen einem imaginären und einem virtuellen Kommunikationsmodus. Die Opuslehre des 13. Jahrhunderts differenziert drei unterschiedliche Arten von opera, ausgehend von den jeweiligen Zielen: Im ersten [Fall] geht es um Tätigkeiten, die in der Aussenwelt [sic] nicht sichtbar sind, also zum Beispiel um ‚nachdenken‘, ‚sehen‘ oder ‚wollen‘. Das Ziel der Tätigkeit ist mit deren Ende erreicht, wobei die Tätigkeit selber als opus gilt. […] Vergleichbar damit sind Tätigkeiten wie ‚singen‘ oder ‚die Kithara spielen‘. Auch hier ist das Ziel der Tätigkeit mit deren Ende erreicht und auch hier gilt die Tätigkeit selber als opus. Im Unterschied zum ersten Fall aber ist die Tätigkeit sinnlich wahrnehmbar. Der dritte Fall gleicht dem zweiten sehr weitgehend. Der Unterschied liegt darin, dass nach einer Tätigkeit wie ‚ein Haus bauen‘ oder ‚ein Gerät herstellen‘ das Haus oder das Gerät als opus in der Welt verbleiben, darum lautet eine typische mittelalterliche Formulierung von ‚Musik‘, sie sei die spezifische Tätigkeit, die kein bleibendes Werk (opus manens) hervorbringe.60
Sicherlich ist, wie dies Haas darstellt, der usus der Musik der zweiten opus-Art zuzuordnen, für die ars Musik gilt dies aber nicht: Das Nachdenken über die Proportionen ist nicht für die Außenwelt sichtbar, sein Ziel erschöpft sich in seinem Vollzug.61 Der musikalische Raum bestimmter Proportionen, der solcherart entworfen werden kann, ist zunächst von einer auf den Nachdenkenden selbst eingeschränkten Kommunikationszugänglichkeit, er ist vornehmlich imaginär 60 Haas 2005, S. 126. 61 Die notenschriftliche Fixierung musikalischer Proportionen kann dabei eine bleibende Hilfe sein für die Wiederholung einer Reflexion über bestimmte Proportionen, sie ersetzt aber keineswegs diese Reflexion. Sie birgt nur Zeichen, die auf einen musikalischen Raum der Proportion verweisen, sind aber als Zeichen nicht identisch mit diesem Raum, der entweder gehört (usus) oder aber gesehen oder gedacht (ars) werden muss.
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(seine raumschaffende Kommunikation ist nur einem einzigen Kommunikanten zugänglich; der räumliche Charakter soll in den nächsten beiden Unterkapiteln nachvollziehbar gemacht werden). Freilich bezieht sich dieses Nachdenken auf den von Gott im Schöpfungsakt in perfekten Proportionen erzeugten Raum, der als opus der dritten Art zuzurechnen ist, dem normalen, sinnlich von allen Teilnehmern der christlichen Gemeinschaft erfahrbaren Raum der Schöpfung; doch gerade deswegen ist es offensichtlich, dass Musik als ars diesen Raum nicht etwa ein zweites Mal erschafft (also keinen normalen Raum bildet), sondern lediglich seine Strukturen imaginieren lässt, sprich: die makrokosmische, normale Form im Mikrokosmos des menschlichen Geistes imaginär nachbildet (dieser Zusammenhang soll im folgenden Unterkapitel genauer ausgeführt werden). Der musikalische Raum des usus befindet sich zwischen diesen beiden Polen: Als Beispiel für die zweite opus-Art ist er virtuell, da er zeitlich beschränkt auf die Dauer der musikalischen Tätigkeit und personell beschränkt für die dabei Anwesenden existent wird. Diese Opuslehre entfaltet sich zwar explizit erst mit der Aristotelesrezeption im Zuge des 13. Jahrhunderts, die auf die Dauer des Klangs beschränkte Wirksamkeit der hörbaren Musik – ihr virtueller Charakter also – bestimmt jedoch schon das spätantike Erbe des Mittelalters, so dass das Bewusstsein unterschiedlicher opera schon weit vor dem 13. Jahrhundert anzusetzen ist; so heißt es etwa in Isidors Etymologiae: Quarum sonus, quia sensibilis res est, et praeterfluit in praeteritum tempus inprimiturque memoriae.62
Weil der Ton der Musik eine fühlbare Sache ist, entschwindet er auch mit der vorübergehenden Zeit und wird nur in die Erinnerung eingeprägt.
Deutlicher noch bringt Boethius den Gedanken zum Ausdruck, wenn er der personifizierten Philosophia nach einem ihrer tröstlichen Liedvorträge entgegnet: Speciosa quidem ista sunt, inquam, oblitaque rhetoricae et musicae melle dulcedinis tum tantum cum audiuntur oblectant, sed miseris malorum altior sensus est; itaque cum haec auribus insonare desierint insitus animum maeror praegrauat.63
Diese deine Worte sind zwar ansehnlich und, bestrichen mit dem süßen Honig der Redekunst und der Musik, ergötzen sie dann nur, wenn man sie hört. Aber bei den Unglücklichen sitzt das Gefühl ihrer Leiden tiefer; wenn sie daher aufgehört haben, in den Ohren zu klingen, drückt die tiefsitzende Trauer die Seele nieder.
62 Isidor 1911, III, XV, 2, Übersetzung nach Isidor 2008, S. 133. 63 Boethius 2005, 2, 3, 2 (S. 34), Übersetzung nach Boethius 1939, S. 30.
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Mit der Opuslehre kann die Einordnung der theoretischen Musikreflexion der ars als imaginär bzw. der praktisch-musikantischen Musik des usus als virtuell historisch begründet werden. Darauf aufbauend soll im Folgenden zunächst der vornehmlich imaginäre musikalische Raum der ars, dann der virtuelle musikalische Raum des usus dargestellt werden, um anschließend eine literarische Bezugnahme auf diese musikalischen Räume zu diskutieren.
3.1.3 Musik als imaginärer Weltenraum in der theoretischen Reflexion der artes Der vornehmlich imaginäre musikalische Raum der ars Musik ist gut greifbar über das textliche Curriculum der Scholastik, den textus: Idealtypisch gesagt, gibt es im Rahmen einer lernenden Gemeinschaft (Domschule, Kathedralschule, Universität) Pläne, was unterrichtet werden soll und auf welcher Basis, mit welchem textus, dies zu geschehen hat. Der Magister hält eine Vorlesung (lectio), indem er den vorgeschriebenen textus kommentiert.64
Im Falle der ars Musik besteht der textus für das Hochmittelalter vor allem aus De institutione musica und De consolatione Philosophiae von Boethius, De nuptiis Philologiae et Mercurii von Martianus Capella, Commentarium in somnium Scipionis von Macrobius und dem Timaios von Platon (in seiner lateinischen Übertragung durch Calcidius).65 Von diesen Texten sind vor allem Timaios, De nuptiis Philologiae et Mercurii und De institutione musica einschlägig für die spezifische Frage nach dem musikalischen Raum.
3.1.3.1 Platon (Calcidius): Timaios Im Dialog Timaios von Platon entfaltet der titelgebende Timaios eine umfassend angelegte Kosmologie, in der der Musik eine grundsätzliche Rolle zukommt: Sie ist als Proportion das wichtigste Instrument der Schöpfung, das Band, das die Schöpfungselemente Feuer, Erde, Wasser und Luft zusammenhält:66 Raum (χṓρα) 64 Haas 2005, S. 94f. 65 Die Wichtigkeit dieser Schriften ist durch mittelalterliche Kommentarliteratur schon ab dem 12. Jahrhundert belegt, vgl. Haas 1982, S. 339‒343. Die Rezeption des Timaios in der CalcidiusÜbersetzung erreicht um die Mitte des 12. Jahrhunderts einen ersten Höhepunkt, was sich an einer breiten Handschriftenüberlieferung und an einigen Musikkommentaren ablesen lässt (vgl. Speer 1998, S. 99f.). Auf einen Einbezug der Aristotelesschriften zur Musik sei hier verzichtet, da sie erst ab dem 13. Jahrhundert rezipiert und kommentiert wurden, vgl. Haas 1982, S. 342f. 66 Vgl. Calcidius 1975, S. 24‒26.
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ist als „Amme alles Werdens“ die Vermittlung von Idee und Physis.67 Diese Schöpfungsproportionen sind mathematisch messbar in absolut regelmäßigen, einfachen Zahlenverhältnissen, die der Schöpfer beim Schöpfungsakt anwendet: Unam sumpsit ex uniuerso primitus portionem, post quam duplicem eius quam sumpserat, tertiam uero sescuplam quidem secundae, triplam uero primitus sumptae, at uero quartam sumpsit duplicem secundae, quintam triplam tertiae, sexta fuit assumptio partibus septem quam prima propensior, septima sex et uiginti partibus quam prima maior. […]68
Zuerst nahm er einen Teil von dem Ganzen weg, dann nahm er nacheinander zunächst das Doppelte des ersten weg, dann das Anderthalbfache des zweiten, das zugleich auch das Dreifache des Ersten war, sodann viertens das Doppelte des zweiten, ferner fünftens das Dreifache des dritten, sechstens das Achtfache des ersten, siebtens dann das Siebenundzwanzigfache des ersten.
Entscheidend ist, dass Platon die mathematische Proportion als Grundlage von Raum an sich versteht: Zahlenproportionen sind in dieser Denktradition keine puren Abstracta (res cogitans nach Descartes), sondern als „Amme alles Werdens“ gerade zwischen abstrakt und konkret, zwischen Idee und Physis, angesiedelt (womit die Trennung von res cogitans und res extensa nach Descartes dialektisch zusammenfällt bzw. sich erneut als ahistorisches Verständnis entpuppt); die Zahl ist abstrakt, die Proportion aber – zwei Zahlen im Verhältnis zueinander – ist in platonischer Tradition die Einheit des Schöpfungsraumes. Die in Proportionen fassbare Schöpfungsordnung ist für den Menschen durch seine Sinne erkennbar und soll zur Abstimmung seiner seelischen Unordnung nach dem Vorbild der göttlichen Ordnung dienen – der menschliche Mikrokosmos soll dem göttlichen Makrokosmos angeglichen werden; diesem Zweck soll auch die Musik dienen: Eadem uocis quoque et auditus ratio est ad eosdem usus atque ad plenam uitae hominum instructionem datorum, siquidem propterea sermonis est ordinata communicatio, ut praesto forent mutuae uoluntatis indicia; quantumque per uocem utilitatis capitur ex musica, totum hoc constat hominum generi propter harmonium tributum.
Auch für die Stimme und das Gehör gilt denn der nämliche Spruch: sie sind uns zu dem nämlichen Zweck und in der nämlichen Absicht von den Göttern verliehen worden. Denn nicht nur die Sprache ist zu eben diesem Zwecke bestimmt und hat den stärksten Anteil dabei, sondern auch, was von der Musik durch den Schall nützlich ist
67 Vgl. Platon 2004b, Kap. 18; Kap. 19; vgl. auch Störmer-Caysa 2007, S. 23. 68 Calcidius 1975, S. 27, Übersetzung angelehnt an Platon 2004b, S. 53; ausführlich zum Zahlenaufbau vgl. ebd., Anm. 63. Diese Zahlenverhältnisse der Schöpfung, später als Timaios-Skala tradiert, nehmen beim Timaios-Kommentar Wilhelms von Conches aus dem 12. Jahrhundert eine zentrale Stellung ein, vgl. Speer 1998, S. 120‒122.
Musik und virtueller Raum
Harmonia uero, id est modulation, utpote intention modificata, cognatas et uelut consanguineas habens commotions animae nostrae circuitionibus, prudenter utentibus Musarum munere temperantiaeque causa potius quam oblectationis satis est commode, quipped quae discrepantes et inconsonantes animae commotions ad concentum exornationemque concordiae Musis auxiliantibus reuocet.69
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für das Gehör, ist uns der Harmonie wegen geschenkt worden. Die Harmonie aber, deren Bewegungen verwandt sind mit den Umläufen in unserer Seele, ist von den Musen dem, der in vernünftiger Weise den Dienst dieser Göttinnen in Anspruch nimmt, […] als Beihilfe gegen den unharmonischen Zustand unserer Seele gegeben worden, deren Umläufe dadurch zu geregelter Gestalt und zur Übereinstimmung mit sich selbst gebracht werden sollen.
Musikalischer Raum ist hier die von absolut harmonischen Proportionen bestimmte Form der In- und Exklusion. Dies geht weit über die sinnlich erfahrbare, physische Welt hinaus und inkludiert zum Beispiel auch sittliche Werte; im Mittelhochdeutschen zielt etwa der Begriff der mâze auf diese harmonische Wohlproportioniertheit, die sowohl die göttliche Schöpfung bestimmt als auch das Handeln des höfischen Menschen bestimmen sollte. Platons Begriff eines musikalischen Raumes ist damit nicht deskriptiv, sondern normativ: Musikalischer Raum ist als Proportion die „Amme alles Werdens“. Und die Erforschung der Harmonie (die auf denselben Proportionen beruht, die Gott bei der Schöpfung des Raumes verwandt hat) hat als Daseinsberechtigung die Aufgabe, durch Erkenntnis der Proportionen die verderbten Verhältnisse der menschlichen Seele wieder in Einklang mit der Schöpfung zu bringen.70 Die allumfassende Präsenz der Musik in der Schöpfung, die Vorstellung der festgesetzten Schwingungsverhältnisse der Himmelskörper selbst, die letztlich auf die pythagoräische Schule zurückgeht, kommt über den Commentarium in somnium Scipionis des Macrobius in ihrer konkretesten Ausformung in das christ-
69 Calcidius 1975, S. 44f., Übersetzung angelehnt an Platon 2004b, S. 71. Der Aspekt einer moralischen Orientierung des Mikrokosmos an der Harmonie des Makrokosmos’ wird auch im Boethius-Kommentar des Adelard von Bath (ca. 1080‒1152) dominant gesetzt, der hier indirekt den Timaios zitiert, vgl. Speer 1998, S. 102f. Auch der Timaios-Kommentar von Bernhard von Chartres (gest. ca. 1124) hebt diesen Zug hervor, vgl. ebd., S. 109f. 70 Vgl. Platon 2004b, Kap. 43. Dieser Teil ist zwar in der lateinischen Übertragung von Calcidius nicht überliefert, die Timaios-Kommentare des 12. Jahrhunderts aber setzen den moralischen Aspekt des kritischen Abgleichs zwischen seelischer Proportion und Schöpfungsproportion durchweg dominant, vgl. Speer 1998. Zur grundsätzlichen Bedeutung der Verbindung zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos über die Musik im Mittelalter vgl. Waesberghe o. J., S. 31f.; 41f.
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liche Mittelalter.71 Diese Vorstellung ist als Sphärenharmonie oder musica coelestis überaus anschlussfähig für eine christliche Interpretation:72 Die Tradierung der pythagoräischen Lehre von der Harmonie des Weltganzen fiel im Mittelalter um so leichter, als bereits die Kirchenväter sie mit der Weltordnung des Schöpfers in Verbindung brachten, so dass die Musik des Universums als die ‚urbildliche, wahre Musik‘ erschien (Gregor von Nyssa). Auch Ambrosius galt die Weltmusik mit ihrem süßen Klang voller Lieblichkeit, Kunst und angenehmer Melodik als Vorbild für die irdische Musik. […] Die Sphärenmusik […] der musica coelestis war sozusagen das ‚Paradigma‘ der spekulativen ‚musica theorica‘“.73
3.1.3.2 Martianus Capella: De nuptiis Philologiae et Mercurii De nuptiis Philologiae et Mercurii ist eine Einführung in die artes, die in die Geschichte der Brautsuche des Gottes Merkur eingebettet ist. Im Rahmen dieser Brautsuche will die personifizierte virtus den Rat Apollons einholen. Dabei kommt es – schon lange vor der eigentlichen Vorstellung der Musik durch die personifizierte harmonia – auf dem Parnassos zu einer eindrucksvollen Inszenierung der Sphärenharmonie: illic autem circumstabat in ordinem quicquid imminet saeculorum, Fortunae urbium nationumque, omnium regum ac totius populi. uidebantur aliae transacti cursus e meso fugientes; consistebant aliae sub conspectu, adueniebantque quamplures, atque ita nonnullis eminus uanescebat disparata prolixitas, ut uelut fumidae caligationis incredibilis haberetur aura. inter haec mira
Da stand, der Reihe nach so aufgestellt, um sie herum, was alles an Jahrhunderten und Geschick von Städten, Stämmen, allen Königen und des gesamten Volkes noch in der Zukunft steht. Da sah man die einen – sie hatten ihren Lauf beendet – aus dem sich verabschieden, was ihnen zugemessen war; andere fassten von den Augen Fuß, kamen in möglichst großer Vielzahl an; und
71 Die Idee des Sphärenharmonie wird prägnant in den Kapiteln 3,5 bis 5,3 ausgeführt: Im Traum wird Scipio von seinem Großvater in den Raum der erlösten Seelen, die Milchstraße, versetzt und kann so den Kosmos insgesamt betrachten. Er sieht die Erde im Zentrum von sieben konzentrisch kreisenden Planeten in der Reihenfolge Mond, Merkur, Venus, Sonne, Mars, Jupiter und Saturn. Je nach Rotationsgeschwindigkeit tönen die Planetensphären in unterschiedlichen Frequenzen, die vom Menschen allerdings aufgrund seiner Gewöhnung nicht mehr wahrgenommen werden können. Die Einzelfrequenzen umfassen insgesamt das Verhältnis einer Oktave und klingen in Harmonie zusammen (vgl. Macrobius 1990, S. 71‒74). Zur Verbindung zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos bei Macrobius vgl. Diehr 2000, S. 54‒56. 72 Die an Macrobius orientierte christliche Relektüre des Timaios kommt am deutlichsten im Kommentar des Wilhelm von Conches zum Ausdruck, vgl. Speer 1998, S. 113‒122. 73 Niemöller 1998, S. 708. Ausführlich zu proportio in der sinnlich erfahrbaren Welt vgl. Diehr 2000, S. 50‒91.
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spectacula Fortunarumque cursus [motus] nemorum etiam susurrantibus flabris canora modulatio melico quondam crepitabat appulsu. nam eminentiora prolixarum arborum culmina perindeque distenta acuto sonitu resultabant; quicquid uero terrae confine ac propinquum ramis acclinibus fuerat, grauitas rauca quatiebat. at media ratis per annexa succentibus duplis ac sesquialteris nec nun etiam sesquitertiis, sesquioctauis etiam sine discretione iuncturis, licet interuenirent limmata, concinebant. ita fiebat, ut nemus illud harmoniam totam superumque carmen modulationum congruentia personaret. […] Virtus edidicit etiam in caelo orbes parili ratione aut concentus edere aut succentibus conuenire.74
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so entschwand einigen in weiter Ferne die aus der Ordnung geratene Ausdehnung, so dass sie nur noch für einen trügerischen Hauch rauchiger Dunstung zu nehmen war. Unter diesen erstaunlichen Schaubildern vom Lauf der Schicksalwege wurden auch die Haine vom säuselnden Wehen melodisch angeregt und gaben dazu Begleitung wie bei einem Liede; die weiter aufragenden Wipfel der ausladenden Bäume, auf gleiche Weise angespannt, hallten mit spitzem Tone wider; was aber da an Boden in der Nähe und angrenzend zu herabgeneigten Zweigen war, gab rauen, schweren Ton von sich; und alles in der Mitte ertönte auch, in den sich anschließend genau ergebenden Begleittönen, den doppelten, den anderthalbfachen sowie auch denen im Verhältnis vier zu drei und neun zu acht, auch mit Verknüpfung ohne Unterscheidung, wenn denn noch Halbtöne dazwischenkamen. Und so ereignet‘ sich’s, dass jener Hain die ganze Harmonie und den Gesang der Himmlischen im gleichen Schritt der Takte ließ ertönen. Das jedenfalls lernte die Virtus hier […]: Daß auch am Himmel Kreise von entsprechenden Verhältnissen entweder Harmonien von sich geben oder in ihren Begleittönen sich treffen.75
Die Sphärenharmonie ist im Wald Apollons – also zwar auf der Erde, doch in einem geheiligten Bereich – erfahrbar. Sie umfasst sowohl räumlich als auch zeitlich die gesamte Schöpfung, oder besser: Die irdische Musik repräsentiert die himmlische Ordnung der Schöpfung und damit jeden Raum und jede Zeit. Die Unterscheidung acutus/gravis ist, wie die klingenden Bäume veranschaulichen, nicht einfach in die Unterscheidung hoch/tief zu überführen, sondern transpor-
74 Martianus Capella 1925, 11. 75 Martianus Capella 2005, S. 49, allerdings ohne die ahistorische Wiedergabe von acutus mit hoch und gravis mit tief mit zu übernehmen. Der Abschnitt bildet das 10. Kapitel des volkssprachlichen Martianus-Capella-Kommentars von Notker dem Deutschen, der in seiner Kommentierung die Fabel auf konkrete Zahlenverhältnisse bringt, vgl. Glauch 2000, S. 355‒363.
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tiert daneben auch die Bedeutungen fern und nah, vor allem aber qualitative Aspekte, die nicht gänzlich in einer räumlichen Logik aufgehen.76 Schließlich wird, am Ende der Schrift, der Auftritt der harmonia selbst angekündigt; dabei erklärt Jupiter, dass sie nur schwer auf der Erde zu finden und eher den himmlischen Gefilden zugehörig sei: […] aethera cantibus numerisque laetificans et nostra tantummodo cupit celebrare palatia exosa terrigenae stoliditatis ignaviam, quam melicorum indocilis auget sine fine mortalitas. denique iam pridem homines dirutaque gymnasia abscedens orbe terrisque damnavit […]77
Den Himmel macht sie froh mit ihren Melodien und Takten, und sie begehrt, nur unseren Palast stets zu besuchen, Abscheu empfindend vor der Trägheit erdentstammter Blödigkeit, die das sterbliche Wesen, unbelehrbar in den Dingen der Musik, ohn’ Ende nur vermehrt. Schließlich hat sie schon längst die Menschen und die verfallnen Bildungsstätten hinter sich gelassen und ist von Erd und Landen fortgegangen in Verbannung.
Die Beschreibung des prächtigen Auftritts der harmonia belegt, dass ihre Bewegung unvergleichlich ist und buchstäblich nicht von dieser Welt – selbst ihre Mutter Venus kann es ihrer Anmut nicht gleichtun: tandem inter Phoebum Pallademque media Harmonia sublimis ingreditur, cuius sonorum caput auri coruscantis bratteis comebatur, caeso etiam tenuatoque metallo rigens vestis, et omnibus ad motum gressumque rata congruentia temperatum blandis leniter crepitaculis tinniebat. cuius incessum mater Paphie, ut eam contigue sequebatur, licet pulchris rosea numeris ac libratis passibus moveretur, vix tamen poterat imitari.
Endlich schreitet, mitten zwischen Phoebus und Pallas, hochaufgerichtet Harmonia ein. Ihr tönendes Haupt war wohlgeschmückt mit gleißenden Plättchen Goldes, das Kleid strotzte von ausgestanztem, dünngeschlagenen Metalle, und auf wohlangemessen und in rechtem Takte ausgeführten Schritt und Bewegung hinklingelt und klirrt es leis, gefällig mit den Kinderklappern. Ihrem Auftritt konnte die
76 Die altdeutsche Übertragung von Notker dem Deutschen belegt ebenfalls, dass acutus und gravis nicht in erster Linie räumlich verstanden wurde: Er übersetzt „acuto sonitu resultabant“ mit „die súngen chlêinost“ (wobei chlêinost mit „am feinsten“ oder „am hellsten“ zu übersetzen ist und in seinem Bedeutungsspektrum sogar die Bedeutung tief beinhaltet, vgl. Köbler 1994, S. 201; Glauch 2000, S. 356, übersetzt wieder aus moderner Perspektive mit „am höchsten“) und „grauitas rauca quatiebat“ mit „das lûtta geróbo“ (wobei „geróbo“ die Wurzel „ro“, also rau, trägt, vgl. Köbler 1994, S. 265; auch hier überträgt Glauch aus moderner Perspektive mit „tief“), vgl. Notker 1979, S. 20. 77 Martianus Capella 1925, 899, Übersetzung nach Martianus Capella 2005, S. 301. Vgl. auch S. 309.
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[…] ipseque tunc Iuppiter caelestesque divi superioris melodiae agnita granditate, […] reveriti intimum patrimumque carmen paululum in venerationem extramundanae omnes intellegentiae surrexerunt.78
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Mutter Paphie (=Venus), die ihr denn auf dem Fuße folgte – und möchte sie auch rosenfarbig in schönem Takt und ausgewognen Schritten sich bewegen –, es doch kaum nachtun. […] Da taten Iupiter persönlich und die Himmlischen nun folgendes: In Anerkennung der Klanggewalt der überlegenen Melodie […] erhoben sie sich alle von den Plätzen in Hochachtung vor der außerweltlichen Vernunft.
Im Vergleich mit der musikalischen Repräsentation der Sphärenharmonie im Wald Apollons zu Beginn wird nun offensichtlich, dass der Tonraum der harmonia nicht schlicht sinnlich erfahren werden kann, sondern letztlich – wenn überhaupt – Gegenstand rein geistiger Erkenntnis ist.79 Entsprechend fällt der Tonraum schließlich mit dem arithmetisch berechenbaren geometrischen Raum der reinen Abstraktion zusammen: sonus quippe tanti apud nos loci est, quanti in geometricis signum, in arithmeticis singulum.80
Ton nimmt bei uns genau die Stelle ein, die in der Geometrie der Punkt hat, in der Arithmetik der Einser.
Trotz dieser radikalen Abstrahierung behält die Musik freilich als Zusammensetzung von Tönen vollgültig ihren Raumcharakter: Martianus parallelisiert den einzelnen Ton mit dem Punkt bzw. dem Einser; durch die Kombination aber von mehreren Tönen, mehreren Zahlen oder mehreren Punkten aber entstehen Proportionen und damit in platonischer Tradition Raum.
3.1.3.3 Boethius: De institutione musica Den sicherlich wichtigsten Text für die hochmittelalterliche ars Musik stellen die fünf Bücher De institutione musica von Boethius dar. Er löst darin die Verbindungen von Klang, Bewegung und Zahl aus dem mythischen Zusammenhang bei
78 Martianus Capella 1925, 909f., Übersetzung nach Martianus Capella 2005, S. 304f. 79 Durch die allegorische Figur der Harmonia erzählt der Text diesen Tonraum freilich als in Tanz und hörbarer Musik sinnlich erfahrbar, doch haben diese sinnlichen Eindrücke bestenfalls Verweischarakter: Der Tonraum selbst besteht jenseits der Allegorese aus puren Zahlenverhältnissen. 80 Martianus Capella 1925, 939, Übersetzung nach Martianus Capella 2005, S. 314. Entsprechend ordnet Martianus den Raum der Intervalle später auch rein nach einer arithmetischen Logik, vgl. ebd., S. 317.
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Plato und Martianus und entfaltet den musikalischen Raumbegriff der ars Musik in nüchternen, logischen Aussagen: Consonantia, quae omnem musicae modulationem regit, praeter sonum fieri non potest, sonus vero praeter quendam pulsum percussionemque non redditur, pulsus vero atque percussio nullo modo esse potest, nisi praecesserit motus. Si enim cuncta sint inmobilia, non poterit alterum alteri concurrere, ut alterum inpellatur ab altero, sed cunctis stantibus motuque carentibus nullum fieri necesse est sonum. Idcirco definitur sonus percussio aeris indissoluta usque ad auditum. Motuum vero alii sunt velociores, alii tardiores, eorundemque motuum alii rariores sunt alii spissiores. […] Et si tardus quidem fuerit ac rarior motus, graves necesse est sonos effici ipsa tarditate et raritate pellendi. Sin vero sint motus celeres ac spissi, acutos necesse est reddi sonos.81
Die Konsonanz, welche die ganze musikalische Modulation regiert, kann ohne Klang nicht vorhanden sein; der Klang aber wird ohne einen gewissen Schlag und Stoß nicht hervorgebracht. Der Schlag aber und der Stoß kann auf keine Weise da sein, wenn nicht eine Bewegung vorhergegangen ist. Denn wenn Alles unbeweglich ist, so wird Eins mit dem Andern nicht zusammenlaufen können, so dass das Eine von dem Andern angetrieben wird. Wenn nun Alles steht und ohne Bewegung ist, so kann notwendigerweise kein Klang vorhanden sein. Deswegen wird der Klang als ein unaufgelöster Luftstoß, welcher bis zum Gehör dringt, definiert. Einige von diesen Bewegungen sind schneller, andere langsamer, und von eben diesen Bewegungen sind einige seltener, andere dichter. […] Wenn nun die Bewegung langsam und zugleich seltener ist, so müssen durch eben diese Langsamkeit und Seltenheit des Stoßes schwere Töne erzeugt werden. Wenn aber die Bewegungen schnell und häufig sind, so müssen spitze Töne zum Vorschein kommen.
Musik ist bei Boethius substanziell Bewegung, also ein räumliches Phänomen auch im physischen Sinne. Da er Klang über seine Hörbarkeit definiert, ist dieser Raum auch stets begrenzt auf die Reichweite der Wahrnehmbarkeit des Klangs. Die physische Bestimmung trifft auch für die Ausdifferenzierung der Klänge zu: acutus/schwer und gravis/spitz sind damit lediglich die sinnlich wahrnehmbaren Eindrücke von langsamen/seltenen bzw. schnellen/häufigen Bewegungen82 (nicht aber etwa die Eindrücke tief und hoch, wie Friedlein ahistorisch
81 Boethius 1867, S. 189f., Übersetzung nach Boethius 1985, S. 9, allerdings ohne die ahistorische Wiedergabe von acutus mit hoch und gravis mit tief zu übernehmen. 82 Boethius kann hier auf platonische Ausführungen zurückgreifen, vgl. etwa Timaios, Kap. 29; Kap. 37.
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übersetzt).83 Eigentlich sind es diese Bewegungen selbst im Einzelnen, die musikalische Klänge darstellen: Neque enim quotiens chorda pellitur, unus edi tantum putandus est sonus aut unam in his esse percussionem, sed totiens aer feritur, quotiens eum chorda tremebunda percusserit. Sed quoniam iunctae sunt velocitates sonorum, nulla intercapedo sentitur auribus et unus sonus sensum pellit vel gravis vel acutus, quamvis uterque ex pluribus constet gravis quidem ex tardioribus et rarioribus acutus vero ex celeribus ac spissis.84
Nun muss man nicht glauben, dass nur eine einzige Schwingung (einer Saite) einen einzigen Klang hervorbringe, oder dass nur ein einziger Stoß in diesen Schwingungen sei, sondern die Luft wird eben so oft in Schwingung versetzt, als die zitternde Saite dieselbe stößt. Weil aber die Schnelligkeit der Klänge verbunden sind, so nimmt man mit den Ohren keine Unterbrechung wahr. Nur einen einzigen Klang vernimmt man, sei derselbe schwer oder spitz, obschon er in beiderlei Form aus mehreren Klängen besteht: der schwere Klang nämlich aus langsamen und selteneren, der spitze jedoch aus schnellen und dichten.
Folgerichtig ist letztlich doch nicht das Gehör, sondern die Berechnung die Grundlage der Erkenntnis des musikalischen Raumes als proportio.85 Der musikalische Raum kann also adäquat – trotz der zunächst erfolgten Koppelung an das Gehör – weniger sinnlich wahrgenommen als vielmehr abstrakt gedacht werden: Sed de his ita proponimus, ut non omne iudicium sensibus demus, quamquam a sensu aurium huiusce artis sumatur omne principium. […] postrema vero perfectio agnitionisque vis in ratione consistit, quae certis regulis sese tenens nunquam ullo errore prolabitur.86
Wir stellen nun die Meinung auf, dass man sein ganzes Urteil nicht dem Sinne überlassen müsse, obschon vom Gehörsinn der ganze Grund der Kunst hergenommen wird […]. Die letzte Vollendung also und die Macht der Erkenntnis besteht in der Berechnung, welche, sich auf gewisse Regeln stützend, niemals in einen Irrtum verfällt.
83 Gravis und acutus sind im Musikschrifttum bis zum 10. Jahrhundert nicht primär als räumliche Größen zu verstehen, sondern vielmehr als qualitative Bestimmungen der Tonfarbe, vgl. Berger 1998, S. 688f. 84 Boethius 1867, S. 190, Übersetzung nach Boethius 1985, S. 9. 85 Vgl. dazu ausführlich Walter 1998. 86 Boethius 1867, S. 195, Übersetzung nach Boethius 1985, S. 14. Entsprechend differenziert Boethius auch bewegliche und unbewegliche Klänge, je nachdem, ob sie enharmonisch verwechselt werden können (vgl. Buch 4, Kap. 12, S. 135), also aufgrund ihrer Bewegung im imaginären Raum der Benennung der Zahlenrelationen (nicht etwa des konkreten Ortes auf dem Monochord oder der physikalischen Bestimmung der Töne, die jeweils gleich bleiben würden); Bewegungen von
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Auf die Unsicherheit des Gehörs und den Vorrang der Erfassung des musikalischen Raumes durch Berechnung weist Boethius in der Folge noch mehrfach ausdrücklich hin.87
3.1.4 Die Hör- und Sichtbarkeit des Denkbaren: Die Harmonielehre der ars als zwischen Imagination und Virtualität oszillierender Raum Musik kann im Hochmittelalter artistisch-spekulativ also räumlich gedacht werden, und dies unabhängig vom erst entstehenden Phänomen Tonhöhe. Gemäß der boethianischen Unterscheidung lässt sich die musica mundana in der musica humana wieder finden, beide bestehen in einfachen Zahlenverhältnissen (proportio), die Gott bei der Schöpfung verwendet hat. Dieser musikalische Raum der ars Musik ist gekennzeichnet von absoluter Ordnung, die denkbar und berechenbar ist. Musik ist räumlich einerseits, insofern Zahlenverhältnisse einen Verweischarakter auf den Schöpfungsakt besitzen, bei dem konkreter Raum erst entstanden ist; andererseits ist Musik aber auch selbst räumlich, da sie in der Vorstellung der ars auf eben jene göttlichen Proportionen rückführbar ist: Raum im physischen Sinn und Klang sind über die proportio identisch. Als denkbarer musikalischer Raum handelt es sich dabei um einen imaginären Raum, dessen Kommunikationszugänglichkeit zunächst auf den Einzelnen beschränkt bleibt;88 eindrückliches Beispiel hierfür ist die Zahlenkontemplation, die Augustinus in dem ersten Buch seiner Schrift De musica libri sex anstellt: Im 13. Kapitel entfaltet er impliziert seine Gottes- und Schöpfungslehre über die Reflexion der Zahlen Eins bis Zehn und ihrer mathematischen Zusammenhänge, die er allesamt theologisch anschlussfähig macht. Augustinus imaginiert hier einen mathematisch organisierten Raum abstrakter Zusammenhänge,
Klängen bedeuten hier also nicht etwa Tonänderungen, sondern Umfunktionalisierung bzw. Umbenennung im arithmetischen Raum. 87 Vgl. I, 28; V, 1. Im Boethius-Kommentar der Handschrift St. Florian XI 282 um 1200 wird zu dieser Stelle erklärt, dass bis auf wenige Ausnahmen in der ars der Sinn der beurteilenden ratio vorausgeht, doch dass „in artifice e contrario precedit ratio, sequitur sensus“ (in der Kunst im Gegenteil die ratio vorausgeht, der der Sinn folgt. Rausch [Hrsg.] 2002, S. 46). Damit wird – aus der Perspektive der ars – gerade dem usus Musik eine rational-mathematische Steuerung unterstellt, die solcherart die Schöpfungsordnung nachvollzieht. 88 Freilich beansprucht die mittelalterliche Musiktheorie, den normalen Schöpfungsraum über die musikalischen Proportionen abzubilden. Diese Abbildung geschieht jedoch im menschlichen Geist und ist über das Medium Zahl auch nicht sinnlich von Mehreren erfahrbar, wie dies für den usus Musik gilt. Ohne weitere Hilfsmittel wie Verschriftlichung oder Unterricht bleibt der musikalische Raum der ars damit zunächst imaginär.
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der theologische Aussagen in musikalischen Orten manifestiert.89 Dieser imaginäre Raum Musik kann im Rahmen der Artistenfakultät auch durchaus virtuell werden in dem Sinne, wie es oben für die virtuelle Viella Johannes’ de Grocheio dargestellt wurde.90 Jedenfalls aber muss eine solche Kommunikation je erst aufgebaut werden91 – etwa im Rahmen einer artistischen lectio – sie kann keineswegs verallgemeinert werden, da so gut wie jede nähere örtliche Bestimmung der spekulativen Musiktheorie strittig ist.92 Der musikalische Raum der ars liegt damit nicht einfach als virtueller Raum vor – dafür fehlt ihm der Konsens einer Bezugsgruppe – sondern bildet sich in recht unterschiedlichen imaginären Entwürfen der Musiktheoretiker aus, die freilich durch ihre Schriften jeweils von einer Bezugsgruppe zum Aufbau von virtuellen musikalischen Räumen herangezogen werden können. Für eine solche, rein textbasierte Virtualisierung der zunächst imaginären musikalischen Räume der ars haben wir keine Belege; breit belegt aber ist ein anderer Weg der Virtualisierung: Im Unterschied zu den logischen Orten der Argumentation können die Orte der ars Musik auch dinglich fassbar bzw. ästhetisch erfahrbar werden und damit ihre Kommunikationszugänglichkeit zusätzlich erweitern. Zentrales Instrument hierfür ist der ebenfalls aus der Spätantike überkommene Monochord, ein Resonanzkasten mit einer darüber gespannten Saite, die mittels eines verschiebbaren Steges beliebig unterteilbar ist: Eine auf den Resonanzkasten gezeichnete Skala markiert die einzelnen Teilungspunkte für die klingende Darstellung der Intervalle. Angeblich von Pythagoras erfunden, war das M. seit der Antike vor allem zur mathematischen Bestimmung der mus. Tonverhältnisse als Demonstrations- und Kontrollwerkzeug von hervorragender Bedeutung […]. Während das frühe Mittelalter am M. als einem System die der Musica zugrunde liegenden Proportionen der Betrachtung zugänglich machte, wurde es seit dem 10. Jh. auch musikpädagogisch zur Veranschaulichung mus. Grundbegriffe und zum Erlernen von Gesängen herangezogen. Dabei garantierte die Saitenteilung, wenn fachgerecht vorgenommen, eine absolute 89 Ein Beispiel ist die Trinitätslehre: Augustinus imaginiert mit den Zahlen 1, 2 und 3 die drei einzigen Zahlen der Zahlenreihe, für die gilt, dass zwei benachbarte Zahlen in der Summe die nächstfolgende Zahl ergeben; damit erweist sich die Einzigartigkeit der drei Zahlen und ihre engste Verbindung (vgl. Augustinus 1962, S. 39f.) – die leicht als musikalischer Ort der Trinitätslehre lesbar ist. Zum theologischen Hintergrund der Zahlenmystik Augustinus’ vgl. Diehr 2000, S. 66‒80. 90 Vgl. Kap. 2. 91 Signifikanterweise imaginieren viele Traktate der spätantiken und mittelalterlichen artes durch die Dialogform mit Lehrer und Schüler gewissermaßen die Minimalbesetzung für den Aufbau eines virtuellen Raumes. 92 Ein Beispiel hierfür ist die Identifikation der sieben Töne des Tonsystems mit den sieben Planeten, eine konkrete Ausformung der musica mundana, die aber bereits bei Boethius in zwei widersprüchlichen Fassungen überliefert ist, vgl. dazu Niemöller 1998, S. 709f.
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mathematisch-akustische Exaktheit. Die Tonstufen wurden anhand der Proportionen 2:1 (Oktave), 3:2 (Quinte), 4:3 (Quarte) und 9:8 (Ganzton) gefunden.93
Mittels des Monochords kann beispielsweise das Zahlenverhältnis 2:1 nicht nur abstrakt gedacht werden, sondern zugleich konkret gehört (der Höreindruck einer Oktave) und gesehen werden: Der unterteilende Steg befindet sich genau in der Mitte des Monochords, die ganze Saite – 2 – steht im Verhältnis zu den zwei Saitenhälften – je 1. Besonders in der Ausbildungssituation mit mehreren Kommunikationsteilnehmern kann so der imaginäre Weltenraum der Musik virtuell werden.94 Darüber hinaus kann der absolut geordnete musikalische Raum der ars aber auch noch in einer Art und Weise virtuell werden, die dermaßen normal erscheint, dass ihr virtueller Charakter erst vor kurzem in den Blick der Forschung gerückt ist; die Rede ist von der geistlichen Architektur der Spätantike und des Mittelalters, deren musikalischer Grundlegung Werner Heinz 2005 eine erste Monographie gewidmet hat.95 Im spätantiken Textbuch der mittelalterlichen Architektur, De architectura libri decem aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert, fordert der Autor Vitruv eine musikalische Ausbildung des Architekten und parallelisiert die Musik mit der Astrologie.96 Vor allem im Kreis der Schule von Chartres im 12. Jahrhundert wird diese architektonische Engführung der platonischen Sphärenharmonie wieder angewendet; so schreibt etwa Alanus ab Insulis, dass Gott als Architekt die Welt mit Hilfe der musikalischen Harmonien geschaffen habe.97 In diesem Zusammenhang loben Musik und Architektur gleichermaßen über die proportio den Schöpfer: Die irdische Musik ist Abbild der himmlischen Musik, die Kathedrale Abbild des himmlischen Jerusalems, und dort musizieren unten die Chöre der Kleriker und oben die der Engel. Da schliesst [sic] sich der Kreis zwischen Musik und Architektur: Auch der Architekt – der mittelalterliche sapiens architectus – hat die Aufgabe, einen Bau zu schaffen, der den Schöpfer lobt, wie Alanus sagt.98
93 Dahlhaus/Eggebrecht/Oehl 1995. Zur Praxis des Monochords vgl. auch Waesberghe o. J., S. 32‒38. 94 Reiches Bildmaterial dazu liefert Waesberghe o. J., S. 82‒91. 95 Vgl. Heinz 2005. Harmonie als Grundlage der Architektur ist freilich bereits seit längerem im Blick der Forschung, allerdings oftmals in diachroner Perspektive, die historische Besonderheiten eher einebnet, vgl. etwa Naredi-Rainer 1982. 96 Vgl. Vitruv 2009, 1,1,8f. (S. 20‒22). Im vierten Kapitel des fünften Buches bietet Vitruv eine Harmonielehre. Ausführlich zu Vitruvs architektonischer Verwendung der Musik vgl. Heinz 2005, S. 43f. 97 Vgl. Alan of Lille 1980, S. 144f. 98 Heinz 2005, S. 60.
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Dies ist jedoch weit mehr als eine bloße Analogie: In spätantiker und mittelalterlicher Kirchenarchitektur finden sich in den überlieferten Bauplänen und auch in den tatsächlichen Bauwerken signifikant häufig spezifisch musikalische Proportionen, also einfache Zahlenverhältnisse etwa zwischen den Maßen von Länge und Breite, die den pythagoräischen Zahlenverhältnissen der Intervalle entsprechen. Die bei Augustinus‘ De Musica libri sex zentral gesetzte Oktave (s. o.) etwa bestimmt als Verhältnis 2:1 die burgundische Zisterzienserkirche Fontenay aus dem 12. Jahrhundert;99 am St. Gallner Klosterplan sind die Intervalle Oktave, kleine Sext und Quinte mit einer Fehlerabweichung von 0% nachweisbar, womit zu zeigen ist, „dass solche musikalischen Harmonien im Bauplan angelegt sind“.100 Darüber hinaus kann Heinz an den tatsächlichen Maßen zahlreicher früh-, hoch- und spätmittelalterlicher Kirchenbauten eine Vielzahl auch komplexerer Intervalle mit einer Fehlerabweichung von weniger als 0,5% (weniger als 50cm auf 100m) nachweisen.101 Klerikale Architektur schafft durch musikalische proportio auch einen musikalischen Raum, der nicht hörbar, wohl aber sichtbar, spürbar, begehbar und – über die Zahlenverhältnisse – denkbar ist.102 Dieser Raum ist ein virtueller Raum, der sich eines physischen Raumes bedient und mit ihm gerade in seinen Maßen deckungsgleich wird, ohne aber identisch zu werden: Es benötigt genaues Wissen der ars Musik und nicht zuletzt ein exaktes Messen, um den virtuellen Raum wahrnehmen und in Folge buchstäblich begehen zu können. Dieses Wissen aber ist nicht normalerweise vorauszusetzen, es beschränkt die Kommunikationszugänglichkeit des über Proportionen bestimmten musikalischen Kirchenraumes auf diejenigen, die in der ars Musik gebildet sind und zudem über Belehrung, Messen oder Einsicht in Pläne über die 99 Vgl. Heinz 2005, S. 22. 100 Heinz 2005, S. 123, Hervorhebungen durch Heinz. 101 Vgl. Heinz 2005, S. 112‒161. 102 Es hat den Anschein, dass die proportio im Hochmittelalter musikalisch nicht irrelevant wird und durch die Zahl abgelöst wird, wie dies Michael Walter propagiert (vgl. Walter 1998, v. a. S. 95), sondern dass sie sich lediglich auf den Bereich der Architektur verlagert, während die Position der proportio in der musikantisch-praktischen Musik allmählich durch das Phänomen der harmonia eingenommen wird. Walter konzentriert sich hier zu stark auf den Bereich der hörbaren Musik und vernachlässigt dabei den Bereich der denkbaren Musik, die in architektonischer Form auch sichtbar wird. Die musikantisch-praktische Musik des 13. und 14. Jahrhunderts wird mit ihrer Konzentration auf die zeitliche Organisation der Musik (Stichwort Modalnotation) eine weitere Verbindung zur Architektur – der Architektur der Gotik – eingehen: „Innerhalb jeder der Binarien des 1. Modus […; der erste Modus besteht aus lang – kurz – lang – kurz – lang etc.] läßt sich eine Bewegung nach vorne, hin zur langen Zeit erkennen. Die permanente Wiederholung dieses Ablaufs ähnelt dabei der Bewegungsdynamik einer gotischen Kathedrale: Dort verursacht die Alternation der Säulen, verstärkt noch durch die Kreuzrippen-Wölbung, einen Zug in die Tiefe des Raumes und richtet die Bewegung auf das Allerheiligste“ (Diehr 2000, S. 136).
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spezifischen Proportionen wissen – ein exklusiver, virtueller Kommunikationsmodus des Raumes. Für beide Beispiele einer sinnlichen Erfahrbarkeit des musikalischen Raumes – für den Monochord und die musikalischen Konzeptionen mittelalterlicher Architektur – gilt jedoch, dass die Kommunikationszugänglichkeit der jeweiligen Räume letztlich auf die artistisch Gebildeten beschränkt bleibt. Die spezifischen Voraussetzungen zur Teilnahme an der raumgenerierenden Kommunikation der ars Musik – das mathematische Wissen um komplexe Zahlenzusammenhänge, das theologische Wissen um Zahlenbedeutungen, das mythologische Wissen um spätantike Schöpfungsmodelle und ihre christliche Relektüre – sind für den hochmittelalterlichen Hof nicht verallgemeinerbar: Der gelehrte magister kann in der proportio 2:1 – angelehnt an Augustinus – die Einheit der Trinität erkennen, der gewöhnliche Höfling aber hört gegebenenfalls nur eine Oktave oder sieht eine in der Hälfte geteilte Strecke, er erkennt den musikalischen Ort nicht notwendigerweise. Deswegen wurde hier auch auf die genauere Darstellung des musikalischen Raumes der ars Musik verzichtet – die allgemeinen Bestimmungen musikalischer Räumlichkeit aber sind für den hochmittelalterlichen Hof durchaus vorauszusetzen: Der grundsätzliche Bezug von Proportion und göttlicher Schöpfungsordnung und die moralische Verknüpfung zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos über die (möglichst) identischen Verhältnisse – kurz: das Wissen um das „Dass“ der proportio ist (ohne das Wissen um das genaue „Wie“) auch höfisches Grundwissen und bedarf keiner spezifischen artistischen Ausbildung. Das höfische Pendant zur proportio der ars Musik ist dabei der Begriff der mâze, der in seinen beiden Bedeutungsvarianten musikalische Harmonie im artistischen Sinn in ein höfisches Verständnis überführt: 1. Eine ästhetisch relevante, quantifizierende Variante im Sinne von ‚messen‘, ‚(ab)wägen‘. Dieses Maß […] zeigt sich in Harmoniegedanke und Vollkommenheitsvorstellung, in Größenverhältnissen und Proportionsfolgen. Besonders leicht fasslich ist es in der Architektur, aber auch im ‚Bau‘ der Dichtung […]. 2. Eine ethisch relevante, qualitative Variante im Sinne sittlicher Mäßigung, Beherrschung von Leidenschaften und Affekten. Dieses ethische Maß setzte als Maß-Halten-Können, nachdem gemessen und ein Maß gesucht und gefunden wurde, die quantifizierende Messung voraus und ist von ihr nicht streng zu trennen.103
Wie eng höfische mâze auch als Kardinalstugend für den Herrscher musikalisch konnotiert ist, belegen die Ausführungen Johannes’ von Salisbury über das rechte
103 Ehrismann 1995, S. 128.
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Verhältnis von Strenge und Großzügigkeit des Herrschers in seinem Fürstenspiegel Policraticus von ca. 1159: Si enim citharoedus aliique fidicines multa diligentia procurant quomodo berrantis chordae compescant vitium et eadem aliis unanimem reddant aciantque dulcissimam dissidentium consonantiam, […] quanta sollicitudine oportet princpem moderari, nunc rigore iustitiae, nunc remissione clementiae, ut subditos faciat quasi unanimes esse in domo et quasi discordantium in ministerio pacis et caritatis operibus, unam faciat perfectam et maximam armoniam?104
Wenn nämlich (schon) der Kitharöde und die anderen Lautenspieler viel Sorgfalt und Mühe darauf verwenden, wie sie die Fehler einer verstimmten Saite ausgleichen, diese mit den anderen Saiten wieder in Harmonie bringen und den süßesten Zusammenklang der (in ihrer Stimmung) voneinander abweichenden Saiten herbeiführen können, […] mit welch großer Sorgfalt muss dann der Fürst seine Untertanen bald mit der Strenge der Gerechtigkeit, bald mit der Milde anleiten, um sie dazu zu veranlassen, im Inneren gleichsam einmütig zu sein und beim Dienst für den Frieden und bei den Werken der Liebe gewissermaßen einen einzigen, vollkommenen und größten Zusammenklang des nicht Übereinstimmenden zu bewirken?
Johannes kann davon ausgehen, dass das musikalische Beispiel am Hof verstanden wird; er verzichtet dabei vollständig auf eine konkrete Angabe musikalischer Orte, sondern betont vielmehr die grundsätzliche Notwendigkeit von Ordnung auf der Basis des rechten Maßes, eine Notwendigkeit sowohl für die Herrschaftsausübung als auch für die buchstäbliche Harmonie der vielen unterschiedlichen Höflinge:105 Das „Dass“ der Harmonie ist auch ohne Kenntnis ihres genauen „Wie“ kommunizierbar und für die Literatur interdiskursiv anschlussfähig.
3.1.5 Musik als virtueller Weltenraum in der Musikpraxis Johannes’ Zitat führt schon über zum musikalischen Raum des usus Musik, denn sein Beispiel baut auf den unmittelbaren ästhetischen Eindruck eines gut gestimmten Instrumentes auf. Quellen für den musikalischen Raum des usus sind die Musiklehren des Mittelalters, die als Schulen für Kinder und junge Erwach-
104 Johannes von Salisbury 2008, S. 124, Übersetzung nach Seit. 105 Für die deutsche Literatur ist die dezidierte Verwendung des kosmologischen, platonischen Harmoniegedankens der ars Musik für das 13. Jahrhundert im Lohengrin und bei Frauenlob nachweisbar, vgl. Diehr 2000, S. 57‒62.
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sene sowohl zwischen denkbarer und hörbarer Musik vermitteln als auch zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit.106 Anhand dieses Textcorpus’ hat Michael Walter die Entwicklung einer räumlichen Wahrnehmung der Musik im usus des Mittelalters bereits herausgearbeitet:107 Im ältesten erhaltenen Schulwerk, der scolica und musica enchiriadis aus der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts, fehlt trotz der ansetzenden Mehrstimmigkeit die Vorstellung eines musikalischen Raumes im Sinne von Intervallen noch völlig.108 Als spatium (Zwischenraum) wird nicht das akustische Intervall bezeichnet, sondern der Abstand zwischen zwei Linien der Dasia-Notation,109 die jeweils eine Monochordsaite symbolisieren; spatium ist damit „der Raum, der sich zwischen den Linien befindet, die die Saiten des Monochords und damit Töne repräsentieren, und den der Autor [der musica enchiriadis] auch als ‚paginula‘, d. h. den Ausschnitt der Pergamentseite zwischen den beiden Linien bezeichnet. Die Bezeichnung als ‚paginula‘ und damit mit einer nicht-musikalischen Vokabel zeigt, daß das ‚spatium‘ nicht als Bestandteil der Musik betrachtet wird“.110 Mit der Einführung der Liniennotation Guidos von Arezzo im 11. Jahrhundert ändert sich dies: Anders als bei der Dasia-Notation repräsentieren die verwendeten Linien ein vorgegebenes, immer identisches Relationssystem, dessen Abstände absolut111 und allgemein sind. Dadurch wird das Erlernen des Gesangs von einem Magister tendenziell unabhängig, die Musik wird durch die Notation rekonstruierbar und damit sehr viel stärker mit dem Notat identifiziert. Dies sind die Voraussetzungen dafür, dass in der Liniennotation Guidos bei der Differenzierung zwischen acutus und gravis die räumliche Bedeutung hoch/tief dominant
106 Vgl. Haas 2005, S. 121‒123; ausführlicher S. 279‒347. 107 Vgl. im Folgenden Walter 1994, S. 226‒303. 108 Gegen Zaminer 1987, S. 20; 23. 109 Die Dasia-Notation ist eine Musikschrift, die rein theoretisch ausgerichtet ist und damit nicht zur Aufgabe hat hörbare Musik abzubilden – diese wird parallel nach wie vor mündlich tradiert, sie löst sich durch die Schriftlichkeit der Dasia-Notation nicht vom ausführenden Sänger. Die Dasia-Notation verwendet neben den eigentlichen ‚Noten‘-Zeichen gelegentlich auch Linien, die jedoch mit Notenlinien im modernen Sinn (wie er bei Guido von Arezzo vorgeprägt werden wird) wenig zu tun haben: Die vier bis 20 Linien repräsentieren je eine Monochordsaite, der Zwischenraum ist musikalisch zunächst bedeutungslos und wird für Textnotation verwendet. Oftmals handelt es sich um jene Linien, die bei der Vorbereitung der Pergamentseite üblicherweise gezogen werden, vgl. Walter 1994, S. 239f. 110 Walter 1994, S. 245. 111 „Guidos System der Linienschrift zeichnet sich nicht durch den Gebrauch von Linien aus, sondern durch die exakte Verknüpfung von geometrischer Linie und musikalischer Tonhöhe und die dadurch geometrisch und musikalisch definitiv (und systemimmanent wiederholbare) wiedererkennbare Lage der Halbtöne im System“ (Walter 1994, S. 266).
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gesetzt wird und die tonqualitativen Seme (spitz/schwer etc.) verschwinden;112 die Musik wird – über ihren imaginierbaren Raumcharakter der proportio hinaus – räumlich: Im Moment der Niederschrift verschwindet […] die Grenze zwischen imaginiertem und realem Raum, denn die Linien stellen ein konkret-materielles Raumgerüst dann dar, wenn man von einer vertikalen Lage des Antiphonars ausgeht. Anderes war freilich schon im Mittelalter kaum vorstellbar, denn das Antiphonar befand sich beim Lesen immer in der Vertikalen, sei es indem man es in Händen hielt, oder indem es auf einem Pult stand. Insofern war im Akt der Niederschrift der imaginierte vom realen Raum bereits nicht mehr zu trennen.113
Der normale Raum der Buchseite mit seiner Dimensionalität von oben/unten und links/rechts repräsentiert die hörbare Musik, deren imaginierbare Räumlichkeit nun auch über den engeren Bereich der artes hinaus kommunizierbar ist – und damit virtuell wird: Es bedarf keiner artistischen Ausbildung mehr, um nachzuvollziehen, dass der spitzer klingende Ton weiter oben und der später klingende Ton weiter rechts notiert ist; in Notation und in Folge der Praxis der daran gebundenen Ausbildung auch in der Wahrnehmung kommt es zu einem Austausch der kleinsten Einheit des usus Musik: Nicht mehr die (letztlich nicht vom konkreten Akt zu trennende) Bewegung des Sängers stellt die Grundlage, sondern der Einzelton, der eine exakte Tonhöhe und Tonlage besitzt und darüber nicht nur räumlich bestimmbar ist, sondern auch räumliche Bezüge zu anderen Tönen aufbaut.114 Intervalle als musikalische Zwischenräume bilden damit die Grundlage der Musik, und der zeitliche Ablauf der Musik wird zunehmend als Weg beschrieben, den der Singende beschreitet.115 Johannes de Muris wird im 14.
112 „Bei aller Differenzierung von Neumen im Einzelnen ist anzunehmen, dass im Verlauf der Verschriftlichung dem grammatikalisch motivierten Wahrnehmungsfilter ‚Tonhöhe‘ das Primat zukommt. Das scheint uns aus unserer eigenen musikalischen Sozialisation selbstverständlich, ist es aber nicht. Parameter wie ‚Tonfarbe‘, ‚Klangqualität‘ oder ‚Textartikulation‘ waren in der mündlichen Überlieferung sicher wichtig, gingen aber […] durch die Verschriftlichung verloren“ (Haas 2005, S. 370; vgl. auch Walter 1994, S. 269). 113 Walter 1994, S. 264. 114 Vgl. Walter 1994, S. 269‒275. 115 Vgl. Diehr 2000, S. 132‒135. Diese räumliche Dimension der praktischen Musik wird auch heute zunehmend und selbstverständlich genutzt, allerdings auch dezidiert zur Erzeugung exklusiver imaginärer Räume: „Dank der Ubiquität von iPhone oder iPod und MP3-Playern wird die Erschaffung exklusiver Schallräume ermöglicht. Diese eröffnen dem hörenden Subjekt neue akustische Umfelder: Der tatsächliche Standort kann durch ein selbstgewähltes Anderswo ersetzt werden. So ist der Mensch mit Kopfhörern tatsächlich dazu imstande, sich von seiner Umgebung wegzuhören“ (Layher 2013, S. 9).
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Jahrhundert die akustische Räumlichkeit der Musik, die von jedem Hörer wahrgenommen werden kann, prägnant auf den Punkt bringen: Vox prolata certo tempore mensurata non solum se facit in aere secundum punktum aut lineam vel superficiem, sed corporaliter et sphaerice, ad instar sphaerae ut lumen in diaphano, quod patet per sex aures dispositas secundum sec differentias positionis.116
Die ausgedehnte Stimme mit genau abgemessener Dauer formt sich in der Luft nicht so sehr wie ein Punkt, eine Linie oder eine Oberfläche, sondern körperlich und kugelförmig – so wie eine Sphäre, wie Licht im leeren Raum – was für sechs Hörer offensichtlich ist, die an sechs unterschiedlichen Orten platziert werden.
Der musikalische Raum des usus Musik bildet das Komplement zum musikalischen Raum der ars Musik, der nicht etwa aufgegeben wird: Obwohl die artistisch-mathematischen Bestimmungen der proportio letztlich nicht bruchlos in die Praxis des usus überführbar sind,117 ist auch die hörbare Musik Niederschlag und Zeugnis der göttlichen Schöpfungsordnung (auch noch bei Johannes de Muris muss der hörbare Raum mit certe tempore mensurata – mit genau gemessener Dauer ausgeführt werden); die proportio der denkbaren Musik wird durch die harmonia der hörbaren Musik substituiert.118 Der abstrakte Raum der Musikspekulation (Musik ist Verhältnis) wird zu einem konkreten Raum, der Musik nicht mehr nur als Verhältnis von Größen, sondern selbst als aus räumlichen Größen (hoch, tief) zusammengesetzt wahrnimmt. Und dieser hybride Raum ist nicht mehr lediglich imaginär (bzw. nur im engen Rahmen der ars virtuell), sondern zunehmend ab dem 11. Jahrhundert in der hörbaren Musik virtuell erfahrbar und kommunizierbar:119 Begrenzt auf Zuhörer und Klangzeit – als opus der zweiten 116 Johannes de Muris 1972, S. 7, Übersetzung nach Diehr 2000, S. 142. 117 Vgl. Walter 1998, S. 76. 118 Bezeichnenderweise spielt dabei die Verschriftlichung der ehedem mündlich tradierten Musik des usus – also die erste Engführung von ars und usus im 11. Jahrhundert – eine entscheidende Rolle: „Unter der Bedingung fortschreitender Schriftlichkeit wächst den Tonbuchstaben eine generative Kraft zu; erst mit ihrer Hilfe kann jeder Ton eines jeden Gesanges richtig entziffert werden, die proportionale Positionierung der Buchstaben läßt förmlich die Konsonanzen entstehen. Dies affiziert auch den Zusammenhang zwischen Propotion und Konsonanz. Zwar ist nach wie vor die Proportion Ursache der Konsonanz, der Anwendungsbereich der Proportion aber ist hier in die Schriftlichkeit verschoben. Nicht etwa das Verhältnis von Zahlen an sich oder das von Himmelskörperumläufen wird thematisiert, sondern das Verhältnis der Abstände graphisch fixierter (Buchstaben-) Zeichen: Klang und Körper als versammeltes Total mutieren zu Funktionen der Schrift“ (Diehr 2000, S. 112). 119 Vor allem in der beginnenden Mehrstimmigkeit schlägt sich der hybride Raum zwischen ars und usus nieder: „Die Spannung zwischen diesen beiden konträren Vorstellungen vom Raum, hier der proportional errechnete Raum, der von den Konsonanten aufgespannt wird, dort der scalare Raum, der sich aus den elementaren Bausteinen der Melodiebildung zusammensetzt,
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Kategorie – kann die Musik des Hochmittelalters die Schöpfungsordnung räumlich hörbar machen, und die Voraussetzung zur Wahrnehmung dieses akustischen Raumes ist nicht mehr artistisches Spezialwissen, sondern die Wahrnehmungsfähigkeit musikalischer Harmonie – eine Wahrnehmungsfähigkeit, die für den fürstlichen Hof als Zentrum künstlerischer Betätigung auf jeden Fall vorausgesetzt werden kann. In der zweiten Engführung von ars und usus im Hochmittelalter entsteht damit eine virtuelle Raumart, die von einer spannungsreichen Dialektik gekennzeichnet ist: Einerseits ist der virtuelle Raum Musik strukturiert in absoluter Ordnung, die als Harmonie hörbar ist; andererseits aber ist die hörbare Musik im Gegensatz zur denkbaren Musik anfällig für ungewollte Störungen aller Art, die gerade die wahrnehmbare Harmonie in Frage stellen. Diese Gefährdung der Harmonie wird bereits in der scolica enchiriadis dominant gesetzt, wenn der Lehrer zu Beginn der Lehrschrift drei unterschiedliche Möglichkeiten differenziert, die zu Dissonanzen führen.120 In der Instrumentalmusik bleibt bis ins Spätmittelalter aufgrund instrumentenbaulicher Spezifikationen und der Anwendung unterschiedlicher, einander ausschließender Stimmungssysteme die Stimmung problematisch, was den akustischen Eindruck von Harmonie in Frage stellt.121 Auch wenn eine Übertragung moderner, durch Schnitttechnik, Instrumententechnik und Professionalisierung der kommerziellen Musik verwöhnter Hörerwartungen auf das Mittelalter ahistorisch wäre, so belegen schon die oben zitierten Ausführungen des Johannes von Salisbury im Policraticus zu den anstrengenden Bemühungen des Kitharöden ein Problembewusstsein im 12. Jahrhundert: Der absolut gegliederte Tonraum der Harmonie kann durch Gesang und Instrumente hörbar gemacht werden, doch steht der Erfolg des Aufbaus dieses virtuellen Raumes stets auch in Frage. Gerade diese Unsicherheit hinsichtlich des Erfolges macht den Weltenraum der Musikpraxis zu einem virtuellen Raum, dessen Existenz nicht selbstverständlich gegeben ist.
prägte von Anfang an die Praxis des mehrstimmigen Singens und Komponierens“ (Berger 1998, S. 692). Renate Hausner hat an den überlieferten mehrstimmigen Kompositionen von Oswald von Wolkenstein und dem Mönch von Salzburg für das 14. und 15. Jahrhundert eine differenzierte semantische Verwendung des musikalischen Raumes nachweisen können (vgl. Hausner 1984/1985, v. a. S. 61ff.); Achim Diehr hat an Frauenlobs Marienleich aus dem 13. Jahrhundert in seiner umfangreichen musikalischen Analyse auch eine grundlegende musikräumliche Struktur herausarbeiten können, die in Verbindung mit dem Text die Schöpfungsordnung repräsentiert (vgl. Diehr 2000, S. 267‒305), wodurch die sinnstiftende Verwendung musikalischer Proportionen für volkssprachliche Literatur auch im einstimmigen Bereich belegt ist. 120 Vgl. Torkewitz 1999, S. 34‒37. 121 Vgl. Waesberghe o. J., S. 32‒34.
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3.1.6 Der virtuelle Tonraum der Musik in der höfischen Literatur 3.1.6.1 Herrschaft als virtueller Klangraum im Eneasroman Der musikalische Tonraum des usus lässt die Ordnung der Schöpfung als virtuellen Raum erfahrbar werden. Ein höfisches Äquivalent für die Schöpfungsordnung – gleichsam eine immanente Allegorie für die transzendente Herrschaft Gottes – ist die funktionierende, hierarchische,122 gute Herrschaft des Kaisers, die sich episch vor allem im Bild des feiernden Hofes niederschlägt.123 Idealtypisch lässt sich die Inszenierung der funktionierenden, hierarchischen, guten Herrschaft in der Form eines musikalischen, virtuellen Raumes am Ende des Eneasromans Heinrichs von Veldeke finden, bei der Hochzeitsfeier von Eneas und Lavinia, deren Schilderung vorbildlich für die mittelhochdeutsche Epik werden sollte.124 Diese Hochzeitsfeier ist dabei nicht eine erzählte Feier unter anderen oder eine Zwischenstation des Romans – wie dies etwa die Hochzeit Erecs und Enites darstellt – sondern End- und Zielpunkt der gesamten Handlung: Der Roman setzt ein mit der Zerstörung Trojas und der Flucht Eneas’ aus seinem nunmehr dauerhaft verlorenen Herrschaftssitz. Noch vor der eigentlichen Flucht erzählt der Roman die Verheißung der Götter, dass Eneas in Italien eine neue Heimat finden wird (vgl. V 29). Zunächst aber scheint Eneas nach langer Irrfahrt in Karthago neue Heimat und Herrschaft zu finden, wo er die Königin Dido heiratet. Er verlässt diese jedoch, fährt nach Italien, besiegt dort seinen Widersa-
122 Vgl. Ubl 2008, S. 29: „Der Begriff Hierarchie (griech. für ‚heilige Herrschaft‘) steht im Mittelalter für eine von Gott festgelegte Ordnung, die sowohl die himmlischen Geistwesen (Engel) als auch die Menschen in ihren politischen Organisationsformen umfaßt.“ Zur musikalisch-räumlichen Bedeutung von Hierarchie im Mittelalter nimmt Nikolaus Staubach Stellung: „Da im Mittelalter das räumliche Vorstellungsmodell einer Himmel und Erde umfassenden hierarchischen Stufung zur Grundlage qualitativer Distinktion im kirchlichen und profanen Leben geworden ist, konnten sozusagen im Analogieschluß räumliche Arrangements in Liturgie und Zeremoniell, Herrschaftsrepräsentation und sozialer Interaktion zur Visualisierung oder Konstituierung von Rangverhältnissen benutzt werden“ (Staubach 2007, S. 8). 123 Vgl. grundsätzlich Haupt 1989. 124 Vgl. die literaturhistorische Würdigung bei Bodensohn: „In der Entwicklung der Festdarstellung ist er [gemeint ist Heinrich von Veldeke] ein bedeutsamer Markstein, weil bei ihm zum erstenmal der Inbegriff und tragende Grund höfischer Festlichkeit die Freude ist, die eine Festgesellschaft gemeinsam erlebt. Darüber hinaus weitet sich bei ihm zum erstenmal in der deutschen Dichtung eine Festdarstellung zu einer abgerundeten und künstlerisch eigenwertigen Einlage in dem Roman, indem jetzt auch die Festlichkeit selbst in größerer Breite geschildert wird“ (Bodensohn 1936, S. 9. Zur literaturgeschichtlichen Vorbildlichkeit der Festschilderung vgl. ebd., S. 12).
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cher Turnus und heiratet schließlich die Königstochter Lavinia,125 mit der zusammen er die Herrschaft antritt. Das abschließende Fest erlangt nicht nur aus dieser rückwärtigen Perspektive eine zentrale Stellung als Zielpunkt der Handlung, sondern auch in Hinblick auf die weitere (Heils-) Geschichte eine schöpfungsallegorische Bedeutung: Aus der Eheschließung des Eneas mit Lavine geht deren gemeinsamer Sohn Silvius hervor, in dem sich die trojanisch-italische Linie fortführt, welche sich mit der julisch-trojanischen Linie (über Askanius, den Sohn des Eneas aus erster Ehe) in Julius Caesar verbindet. Eneas und Lavine begründen somit das kunne der römischen Kaiser, unter denen Augustus nicht nur als Friedenskaiser (V. 13405) und weltlicher Schirmherr für witewen und weisen (V. 13406f.) hervorragt, sondern auch weil sich mit der Geburt Christi unter seiner Herrschaft Weltgeschichte und Heilsgeschichte berühren. Als Gründungsfest also ist diese Hochzeit in der Tat ein Neubeginn, denn das herrschaftliche kunne wird auf die Zukunft projiziert.126
Gerade diese Bedeutung des Festes, die im Roman erst im Ausblick dargestellt wird, aktualisiert sich bereits bei der eigentlichen Festschilderung in einem musikalischen virtuellen Raum, der nun nachgezeichnet werden soll. Die Schilderung der Hochzeitsfeier beginnt mit der Betonung der Vielzahl der hochherrschaftlichen Gäste: michel wart diu zûvart. dar quâmen in allen sîten die vorsten vile wîten in schiffen und an der strâzen und ritere ûzer mâzen. (VV 13102‒13106)
Der Zustrom war gewaltig: Auf jede erdenkliche Weise kamen die Fürsten von weither, in Schiffen und auf der Straße, dazu auch unzählige Ritter.
Diese Gäste repräsentieren die weitreichende Macht Eneas’: Nicht nur die Anzahl der Gäste ist groß, es sind Fürsten, die von weither und sogar von Übersee gekommen sind, und auch die gewalthafte Grundlage von Macht fehlt nicht, sondern ist in einer übergroßen Anzahl von Rittern vertreten. Unmittelbar im Anschluss daran nennt der Erzähler eine dritte Gruppe der Herrschaftsrepräsentation, die Spielleute:
125 Der Vergleich der beiden Hochzeiten belegt anschaulich die Zentralstellung der abschließenden Hochzeitsfeier: Bei der Hochzeit mit Dido erfolgt überhaupt keine Festschilderung (dies hat bereits Bodensohn 1936, S. 9, herausgearbeitet), was im Vergleich „die Krönung als Endgipfel des Ganzen“ (ebd., S. 10) herausstreicht. Die ausgedehnte Festschilderung ist bei Heinrich auch die „bedeutendste Neuerung“ (ebd.) gegenüber der französischen Vorlage (vgl. auch Haupt 1989, S. 105). 126 Haupt 1989, S. 118f.
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Die spilman und diu gerende diet die versûmden sich niet, die werltlîchen lûte. daz tâten sie noch hûte, dâ solîch hôchzît wâre: gefrieschen sie daz mâre, si zogen allenthalben zô. alsô tâten si ouch dô, die ez heten vernomen. sie mohten gerne dar komen und vil frôliche, wan si dâ worden rîche, alsô daz billîch was. dô wart der hêre Ênêas ze kunige gekrônet. (VV 13107‒13121)
Die Spielleute und die Lohnsänger verspäteten sich nicht, diese Weltmenschen. Das würden sie auch heute nicht tun, wo ein derartiges Fest wäre: Wenn sie davon erführen, dann würden sie von allen Seiten hinströmen. Genauso machten diejenigen es auch hier, die davon gehört hatten. Sie konnten natürlich gerne dahin kommen und in bester Laune, denn sie wurden dort reich, wie es sich auch gehörte. Dort wurde der Herrscher Eneas zum König gekrönt.
Dies ist weit mehr als eine beiläufige Erwähnung der Spielleute, die eben zu einem Fest dazu gehören: Die Fahrenden als Repräsentanten der höfischen Musik stellen hier nicht nur die Verbindung zwischen den Fürsten, Rittern und Eneas her, der erst in dem auch von den Spielleuten bevölkerten Raum zum Herrscher gekrönt wird, sondern auch die Verbindung zur Jetztzeit des implizierten Publikums. Über das Prinzip der milte werden die beiden Haupträume der Erzählung enggeführt, heute wie damals kommen die Musiker, um ihren Lohn zu erhalten.127 Doch nicht nur sie werden angemessen reich („rîche, / alsô daz billîch was“), sondern auch direkt danach der gekrönte König Eneas: dô wart im wol gelônet aller sîner arbeit mit schônem wîbe und rîcheit. (V 13122f.)
Da wurde er bestens für all seine Mühen mit einer schönen Frau und Reichtum belohnt.
Eneas wird für seine arbeit belohnt, wie die Spielleute für die ihre, die Zurechnung der Herrschaft entspricht der Zuwendung von milte, beides erfolgt angemessen und rechtens: eine harmonische Entsprechung, die über die Funktionsrolle der Spielleute aufgebaut wird. All dies ist in dieser ersten Aufführung der Spielleute angelegt, es wird aber im weiteren Verlauf der Hochzeitschilderung weiter ausgebaut und hier auch tatsächlich hörbar: Nach der Trauung folgt das Festessen, bei dem die Festgäste in
127 Vgl. dazu grundsätzlich Däumer 2013, S. 360‒398; Däumer bezeichnet das höfische Fest als „unspezifische Schnittstelle“ zwischen Erzählraum und erzähltem Raum.
Musik und virtueller Raum
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ihrer Herrschaftsordnung sitzen.128 Dieser geordnete Feierraum wird nun akustisch inszeniert: Dô si dô gesâzen und frôlîche gâzen vil wol nâch ir willen, dô was kleine stille, der schal was alsô grôz, daz es die bôsen bedrôz. dâ was spil unde sank, buhurt unde gedrank, phîfen unde springen, videlen unde singen, orgeln unde seitspil, maneger slahte froude vil. (VV 13153‒13164)
Als sie dort saßen und fröhlich speisten – das Allerbeste, ganz nach ihrem Geschmack – da gab es keine Ruhe: Der Klang war so gewaltig, dass es den Missgünstigen zu viel wurde. Da gab es Spiele und Rundgesang, Turnier und Gewimmel, Gepfeife und Tanz, Gefiedel und Gesang Orgel- und Saitenspiel, also alle Arten von Freude.
Betont wird hier vor allem die große Lautstärke der höfischen Musik und der höfischen Belustigungen, die einen ununterscheidbaren Klangraum schaffen, der von höfischer freude bestimmt ist.129 Der virtuelle Charakter dieses Klangraumes ist nicht nur in der Natur der hörbaren Musik begründet, deren Klangraum nur für die Dauer des Klangs existent ist, sondern – überdeutlich – auch in der verminderten Kommunikationszugänglichkeit: Dieser Klangraum der Herrschaft Eneas’ schließt die „bôsen“ aus,130 und zwar umfassend und automatisch. Die „bôsen“ fühlen sich von der großen Lautstärke des höfischen Klangs belästigt – also eben von der Grundbestimmung des Klangraumes –, so dass sie nicht zu dem Zustand der höfischen freude gelangen, also nicht an der Kommunikation teilnehmen können, die den höfischen Klangraum wiederum erschafft und aufrecht erhält. Der Klangraum der Herrschaft Eneas’ ist ein virtueller, musikalischer Raum, der durch seine Lautstärke einerseits eine große Kommunikationsreichweite besitzt (auf die noch zurückzukommen sein wird) und andererseits seine Kommunikationszugänglichkeit auf diejenigen beschränkt, die der höfischen freude fähig sind, und damit störende Elemente der Herrschaft exkludiert. 128 Vgl. VV 13136‒13139; „der kunich dô ze tische gienk / und die vorsten edele, / ir ieslîchen an sîn gesedele, / arme unde riche“ („Der König ging dort zu Tisch, ebenso die edlen Fürsten, jeder an seinen Platz, Arme wie Reiche“). 129 Die zentrale Rolle der Musik bemerkt schon Bodersohn 1936, S. 11, ohne dies allerdings weiter zu verfolgen. Vgl. ähnlich auch Haupt 1989, S. 111. 130 Vgl. Haupt 1989, S. 114; der Festlärm wird aber nicht nur „zum akustischen Zeichen von Zusammengehörigkeit, aus der die nicht Dazugehörigen, moralisch disqualifizierten, ausgegrenzt werden“ (ebd.), sondern er bewirkt diesen Ausschluss selbst, wie der Text deutlich erzählt und wie es vor dem Hintergrund der Sphärenharmonie auch einleuchtend ist.
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Virtueller Raum im Hochmittelalter
Die weitere Festschilderung bestätigt den höfischen Klangraum als Raum der Herrschaft Eneas’ wieder über die Figur des spilman und greift dabei das Motiv der milte wieder auf: der junge kunech Ênêas, der dâ brûtigome was, her bereite dô die spilman. der gâbe er selbe began, wander was der hêrste, von diu hûb herz alêrste, als ez kunege wol gezam. swer dâ sîne gâbe nam, dem ergiengez sâlichlîche, wander was des rîche sint unz an sîn ende und fromete sînem kinde die wîle daz ez mohte leben […]. Dar nâch die vorsten rîche gâben vollechlîche […] den spilmannen […]. (VV 13165‒13196)
Der junge König Eneas, der da der Bräutigam war, beschenkte dort die Spielleute. Er selbst begann mit dem Schenken, da er der Vornehmste war; deswegen begann er, als allererster, wie es einem König wohl anstand. Wer auch immer da sein Geschenk empfing, der wurde glückselig, denn er wurde dadurch reich bis an das Ende seines Lebens, und es nützte noch seinem Kind, solange es auch leben sollte. Danach gaben auch die reichen Fürsten in Fülle den Spielleuten.
Der Text legt großen Wert auf die Reihenfolge der milte gegenüber den spilman: Zuerst gibt der König, danach die Fürsten. Damit wird die Herrschaftsordnung mittels milte an eben den Personen ausgeübt, die die Ordnung des Klangraumes garantieren;131 wie bereits zu Beginn der Festschilderung erfüllen die spilman ihre Funktion als Bindeglied zwischen Herrscher und Fürsten: Die funktionierende, hierarchische, gute Herrschaft des Königs ist durch die spilman sowohl hörbar als auch an ihnen erfahrbar. Zugleich erfolgt auch hier wieder eine zeitliche Ausdehnung über die Figur des beschenkten spilman: Die Herrschaft des Eneas’, die sich in der milte niederschlägt, wirkt auch noch auf die Kinder der spilman, noch diese können bis zu ihrem Lebensende von Eneas’ Gabe leben und sind diesem damit verpflichtet. Der Text schildert auch noch den unmittelbaren Effekt der milte gegenüber den spilman, und in diesem Zusammenhang wird der virtuelle Klangraum der Herrschaft wieder hörbar:
131 Zum Zusammenhang von gabe und Herrschaft vgl. Haupt 1989, S. 113f. Haupt betont auch die „segensreiche, heilsähnliche Wirkung“ (ebd. S. 113) der milte gegenüber den Spielleuten, die vor dem Hintergrund der kosmisch-religiösen Dimension des musikalischen Raumes umso selbstverständlicher mit der milte gerade gegenüber den Spielleuten verknüpft ist.
Musik und virtueller Raum
herzogen unde grâven den spielmannen sie gâven grôzlîchen unde sô, daz si dannen schieden frô und lob dem kunege sungen ieslîch nâch sîner zungen. (VV 13195‒13200)
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Herzöge und Grafen beschenkten die Spielleute großzügig und derart, dass sie fröhlich weiterzogen und dem König lobsangen, ein jeder in seiner Sprache.
Der Zusammenhang zwischen milte und Herrschaft wird hier deutlich ausgestaltet: Die spilman verbreiten den Ruhm des Königs in der Haltung der freude in vielen Sprachen, was seine Herrschaft in der Form, die sie in der Hochzeitsfeier gewonnen hatte (lauter, freudiger Klang), weiter verbreitet, als dies durch die bloße Feier der Fall gewesen wäre.132 Die Lautstärke des höfischen Klangraumes gewinnt hier ihren Sinn: Die Herrschaft Eneas’ ist bereits auf der Feier weit hörbar – der virtuelle Herrschaftsraum entsprechend groß –, die Reisebewegung und Übersetzungsbewegung der spilman potenziert diese Reichweite noch. Direkter Auslöser dieser Herrschaftserweiterung ist nicht die gabe von Eneas selbst, sondern die der Fürsten – die sich damit faktisch als seine Vasallen erweisen, da sie durch den Einsatz eigener Mittel den Ruhm und die Herrschaft des Königs erweitern. Das Ende des Eneasromans entfaltet den Herrschaftsraum als virtuellen, musikalischen Raum, der sowohl hörbar im Sinne des usus Musik ist, als auch harmonisch strukturiert im Sinne der ars Musik. Der so entstehende Herrschaftsraum besitzt eine qualitative und quantitative Dimension, die freilich eng miteinander verbunden sind: Qualitativ ist der virtuelle Herrschaftsraum bestimmt von höfischer freude angesichts der Herrschaft Eneas’, was automatisch alle bôsen exkludiert, die diese Herrschaft in Frage stellen könnten. Über milte wird die Herrschaftshierarchie kommuniziert, wobei symptomatisch die spilman eine zentrale Rolle spielen und die gaben der milte wiederum in (sowohl eigene als auch fremde) freude verwandeln. Besonders deutlich ist in Bezug auf die qualitative Bestimmung des virtuellen Herrschaftsraums die mittlere Kommunikationszugänglichkeit zu beobachten: Wer an der Kommunikation teilnehmen möchte – sei es die lärmende freude oder die gabe – ist in jedem Fall tatkräftig auf Seiten Eneas’, ordnet sich seiner Herrschaft unter und bekräftigt sie zugleich. Wer dazu 132 Genau dies scheinen die Befürchtungen Eneas’ zu sein, der trotz der zahlreichen Gäste beklagt, „daz ir sô wênich dâ was, / die sînes gûtes gerden.“ (V 13204f.; „…dass nur so wenige da waren, die von ihm beschenkt werden wollten“). Gerade die musikalische Dimension des Herrschaftsraumes lassen diese Befürchtungen freilich als unbegründet erscheinen (vgl. dazu auch Dobozy 2006, S. 207, die herausarbeitet, dass die Funktion der Spielleute im Eneasroman nicht in Unterhaltung, sondern in Zeugenschaft aufgeht).
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Virtueller Raum im Hochmittelalter
nicht bereit ist – die bôsen, die der Text zumindest theoretisch anspricht –, ist automatisch von der raumschaffenden Kommunikation ausgeschlossen. Dies reicht jedoch noch nicht aus, um den virtuellen Herrschaftsraum zu beschreiben, es fehlt noch die quantitative Dimension, die sich in der außerordentlichen Lautstärke und Dauer der hörbaren Musik niederschlägt. Die große Lautstärke ist im Text zunächst mit der qualitativen Dimension verknüpft – die bôsen stören sich daran –, doch bedeutet eine große Lautstärke auch eine große Ausdehnung des virtuellen Klangraumes, der die Herrschaft Eneas’ beinhaltet: Eneas herrscht, wo der Klang seiner Feier gehört wird. Diese Ausdehnung auf der Basis von Lautstärke gewinnt eine Eigendynamik, die den virtuellen Herrschaftsraum in Umfang und – besonders ungewöhnlich für einen virtuellen Raum – Dauer ausweitet: Noch die Kinder der bei der Hochzeitsfeier anwesenden spilman sind Eneas verpflichtet und haben an seiner freude-auslösenden milte teil; daneben reisen die spilman und verbreiten Eneas’ Ruhm und Herrschaft in fremden Ländern und Sprachen. Doch nicht nur das: Schon eingangs der Festschilderung hat der Erzähler darauf aufmerksam gemacht, dass auch ‚heute‘ noch spilman gegen Lohn singen, und abschließend vergleicht er das erzählte Fest mit dem Mainzer Hoffest Friedrich Barbarossas, das seinem implizierten Publikum noch im Gedächtnis ist.133 Dabei thematisiert er den Akt des Erzählens: Dâ von sprach man dô wîten. ichn vernam von hôhzîte in allen wîlen mâre, diu alsô grôz wâre, alsam dô het Ênêas, wan diu ze Meginze dâ was, die wir selbe sâgen, desn dorfen wir niet frâgen, diu was betalle unmâzlîch, dâ der keiser Friderîch gab zwein sînen sunen swert, dâ manech tûsend marke wert verzeret wart und vergeben. […] dem keiser Frîderîche geschach sô manech êre, daz man iemer mêre wunder dâ von sagen mach unz an den jungisten tach, âne logene vor wâr. ez wirt noch uber hundert jâr
133 Vgl. VV 13227, 13234f., 13242f.
Davon erzählte man sich weithin. Ich habe noch nie von einer Feier gehört, die so groß gewesen wäre, wie diejenige, die Eneas abhielt – außer von der in Mainz, von der wir selbst erzählen (danach brauchen wir also nicht zu fragen). Die war völlig überragend, als der Kaiser Friedrich seinen zwei Söhnen das Schwert gab, als der Wert von vielen tausend Mark verprasst und verschenkt wurde. Kaiser Friedrich wurde dort viel Ehre zuteil, so dass man für alle Zeit Wunderbares davon erzählen kann, bis an den Jüngsten Tag, das ist gewiss wahr. Es wird noch über hundert Jahre lang
Musik und virtueller Raum
von ime gesaget und gescriben, daz noch allez ist beliben. (VV 13221‒13252)
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von ihm vorgetragen und aufgeschrieben werden, was bislang noch nicht erzählt wurde.
Der solchermaßen extrem dauerhafte virtuelle Raum wird damit tendenziell zum normalen Raum innerhalb der Erzählung. Der Bezug auf das Hoffest in Mainz ist nicht zufällig, sondern legt die literarische Quelle der Festbeschreibung der Hochzeit Eneas’ offen: Die Festbeschreibung bei Heinrich von Veldeke […] stimmt in zahlreichen Einzelzügen fast wörtlich mit der Darstellung des Mainzer Hoffestes Friedrich Barbarossa (1184) durch Gislebert de Mons überein; der Gegenwartsbezug V. 13221‒13252, d.i. die Erinnerung an das Hoffest von Mainz, unterstreicht die Ähnlichkeit von historischem Ereignis und dichterischer Gestaltung im Erleben der Zeitgenossen. Obgleich die Authentizität der eigentlichen Stauferpartie bezweifelt worden ist, gilt diese heute doch als integrierter Bestandteil der vollständigen thüringischen Textfassung; sie belegt zumindest einen (!) Aspekt historischaktueller Lebensbedeutsamkeit, den die ‚Gründungslegende‘ Roms gewinnen konnte: im Horizont einer imperialen Geschichtsauffassung, welche das staufische Reich Friedrich Barbarossa als Fortsetzung des römischen Reiches verstand.134
Diese realpolitische Dimension des Endes des Eneasromans wird in der zuletzt zitierten Passage durch den Akt des Erzählens umgesetzt, der den virtuellen Herrschaftsraum des erzählten Raumes tendenziell aus der Fiktionalität holt: Über das Erzählen kann die akustische Wahrnehmung der Feier – sei es die Feier Friedrichs oder Eneas’, die sich ja in nichts nachstehen – ultimativ zeitlich ausgedehnt werden; damit gewinnt aber auch der virtuelle Herrschaftsraum an Dauer und Beständigkeit und umfasst tendenziell beide virtuellen Haupträume der Erzählung: Im Akt des Erzählens des Eneasromans wird der erzählte virtuelle musikalische Raum auch im außerfiktionalen Sinne real;135 was im erzählten Raum durch 134 Haupt 1989, S. 105f. Vgl. auch – in konkreter Anwendung auf den Thüringer Hof – ebd., S. 118‒127 und Mohr 1968. 135 Auch Maria Dobozy betont die zentrale Rolle des Erzählers (den sie mit Heinrich von Veldeke gleichsetzt) für den Aufbau und die zeitliche Verlängerung des Herrschaftsraumes (ohne allerdings den räumlichen Aspekt mit in den Blick zu nehmen, der auch nicht ihr Fokus ist): “By adding his unique description of Eneas’s wedding, Heinrich defines what he and poet-minstrels have in common: they interpret historical events and establish the reputations of epoch-making rulers. He associates himself with poet-minstrels by defining their common role as guardians of historical memory. In carrying out this task himself, he presents Eneas not only as the heroic founder of an empire but also adds by way of comparison an excursus on Frederick Barbarossa’s grand feast. Heinrich had attended the feast in Mainz 1184 that celebrated the knighting of Frederick’s two sons. As an eyewitness he not only records the event as chroniclers do, but also interprets the event as seminal in the history of the empire. By juxtaposing these two great men, Eneas and Frederick, he demonstrates how minstrels are able to designate specific rulers and
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Virtueller Raum im Hochmittelalter
den Klang höfischer freude in Form von Musik und Feierlärm erzeugt wird – ein virtueller Herrschaftsraum – wird auch im Erzählraum durch den Klang höfischer freude in Form von Erzählen erzeugt.136 Wie weitreichend und dauerhaft der solchermaßen erzeugte virtuelle Herrschaftsraum ist, entzieht sich freilich dem Einfluss des Erzählers: Ohne weitere Verstärkung dauert dieser virtuelle Herrschaftsraum lediglich (und doch auch zumindest) für die Dauer des Erzählens an und inkludiert lediglich (und auch hier zumindest) alle Zuhörer. Doch auch hier gilt wie innerhalb der Erzählung: Wer an der höfischen Kommunikation teilnimmt und daran freude hat, der ordnet sich der Herrschaft unter, die nun freilich nicht mehr an die Person des Eneas gebunden ist, sondern offen wird für andere personelle Füllungen – offen letztlich für die translatio imperii. Dieser Befund korrespondiert stark mit der im Theoriekapitel dargestellten Nähe von normalem Raum und Institutionalisierung:137 In der Erzählung wird der Herrschaftsanspruch Eneas’ über die Feier mit demjenigen Friedrich Barbarossas parallelisiert und in Kontinuität gesetzt; Herrschaft wird damit tendenziell unabhängig von der konkreten Person des Herrschers und abhängig von einer Gesellschaftsform – der höfischen Feier – dargestellt. Sie wird zur Institution, deren Funktionsstelle „Herrscher“ von unterschiedlichen Personen ausgefüllt werden kann, ohne dass sich damit die Gesellschaftsform „Feier“ ändert. In räumlicher Hinsicht wird dieser Prozess der Institutionalisierung erkennbar als ein tendenzieller Übergang eines virtuellen Raumes der Feier (die in Reichweite und Dauer auf die spezifische Feierkommunikation beschränkt ist) in einen tendenziell normalen Raum der Feier (die in Reichweite und Dauer extrem ausgedehnt ist). Die spilman sind das Medium, mit dem sich dieser umfassende, institutionalisierte Herrschaftsanspruch Raum schafft. Die damit verbundene Dynamik in Dauer und Reichweite ist der Mehrwert des virtuellen Raumes gegenüber einem normalen Raum (etwa dem physischen Raum der Feier, der ja ebenfalls als Herrschaftsraum aufgebaut ist), der über die dynamischen Möglichkeiten nicht verfügen kann und schon gar nicht den Erzählraum mitumfassen könnte. Was für eine moderne Lektüre als bemühte semantische Verknüpfung erscheint (musikalische Harmonie und Herrschaftsordnung im virtuellen Klangraum), ist für ein mittelalterliches Publikum selbstverständlich: Herrschaftsrepräsentation
events as epoch-making. This encomiastic excursus on Frederick I includes a promise that once a person is praised, the reputation thus created will endure into the future.” (Dobozy 2005, S. 30). 136 Höfisches Erzählen – sei es gesungen, gespielt, rezitiert – ist in jedem Fall im mittelalterlichen Sinne als musikalische Aktion anzusehen, bedenkt man über den akustischen Aspekt auch die überaus starke strukturelle Durchformung mittelalterlicher Epik, die als sprachliche Umsetzung von Harmonie und Proportion zu begreifen ist. 137 Vgl. o., Kap. 2.
Musik und virtueller Raum
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über den Vortrag des spilman gehört nicht nur zur Erfahrungswelt des höfischen Publikums,138 sondern wird im Erzählen auch parallel aktualisiert.139
3.1.6.2 Der Kampf um Herrschaft als Kampf um den virtuellen Klangraum im Rolandslied Der musikalische, virtuelle Raum des Eneasromans inkludiert eine Herrschaft, die unstrittig und expandierend ist. Folgerichtig ist weniger die ästhetische Dimension betont, stattdessen spielen Lautstärke und Dauer eine herausragende Rolle im Aufbau des virtuellen Raumes. In anderen epischen Texten des Hochmittelalters, in denen sich musikalische, virtuelle Räume in der Auseinandersetzung um Herrschaft entfalten, kommt die ästhetische Dimension stärker zum Tragen. Beispielhaft dafür ist das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Im Rolandslied wird die kriegerische Auseinandersetzung zwischen den Christen und den Heiden, die den gesamten Text bestimmt, parallel auf dem normalen, physischen Raum Schlachtfeld und in einem virtuellen, musikalischen Raum geführt;140 während der physische Raum der Schlachten kaum differenziert wird, schlägt sich das Ringen um Herrschaft differenziert vor allem im musikalischen Raum nieder. Die Auseinandersetzung um diesen Raum soll im Folgenden primär interessieren, weniger die körperliche Auseinandersetzung zwischen Heiden und Christen im normalen Raum.141 138 Vgl. zu der politischen Dimension der fahrenden Sänger Mohr 1968, S. 46: „Sie werden mit gut beschenkt und sie spenden dafür ere; das kann bedeuten, daß sie die Ehre der Spender in Dank- und Preisliedern verkünden. Oder aber: Schon dadurch, daß sie durch ihre Kunst, Gesang, Instrumentalspiel und Vortrag von Geschichten, das Fest der großen Herren verschönern, machen sie ihnen Ehre und verdienen darum ihren Lohn“. 139 Heinrich von Veldeke sieht keinen grundsätzlichen (etwa ständischen) Unterschied zwischen sich als Autorerzähler und den spilman der Erzählung, vgl. Mohr 1968, S. 45. 140 Schon Erwin Kobel spricht die Möglichkeit eines Machtkampfes mittels Lautstärke u. a. in Anwendung auf das Rolandslied an: „Zur Raumweitung trägt nun auch der Schall Entscheidendes bei. […] Diesen Zusammenhang haben wir nicht nur in der Art aufzufassen, dass wir die Lautstärke der Stimme als Zeichen der Macht verstehen, nein, der Schall selbst ist diese Macht. Der Schall weitet den Eigenraum: er dringt vor und drängt Fremdes zurück.“ (Kobel 1951, S. 47). Auch William Layher erkennt diese gleichsam militärische Funktion der Musik, wendet sie allerdings lediglich auf das Horn Rolands an: „Das Schlachtfeld zu Roncesvalles ist deshalb mehr als ein mit Schwert und Lanze umkämpfter Ort. Er bildet gleichzeitig auch einen Schallraum, innerhalb dessen zwei unterschiedliche Hörgemeinschaften miteinander um die akustische (wie auch strategische) Überlegenheit kämpfen. […] So werden die Sarazenen im Rolandslied eigentlich zweimal geschlagen: zunächst auf akustische Weise, dann später – sobald die fränkische Verstärkung das Feld betritt, im Kampf“ (Layher 2013, S. 25). 141 Brigitte Uhde-Stahl kommt durch ihre Orientierung an einem neuzeitlichen Raum- und Zeitbegriff, also durch die bloße Orientierung am normalen Raum im Rolandslied und mit Aus-
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Virtueller Raum im Hochmittelalter
Gleich der erste Kampf um Tortolose – noch im Rahmen des Vorgeschehens – ist auch ein Ringen um die Vorherrschaft über den Klangraum. Den Beginn macht das Heerlager der Heiden, das jenseits der Garonne sich vor den Christen sicher fühlt und dies entsprechend inszeniert: Haiden, die tumben, bliesen ir trumben. tanz unde rîterscaft unt ander manige hôchvart – si fuorten grôz übermuot sô ie der unsaelige tuot. unz an der erde ende hêten si sich besendet ûz allen heidenisken rîchen. (VV 285‒294)
Die törichten Heiden bliesen ihre Trompeten. Tanz und Turnier und vielerlei anderes Geprotze – sie führten sich sehr hoffärtig auf, wie es der Gottlose seit jeher tut. Bis ans Ende der Welt hatten sie Truppen aus allen heidnischen Reichen erhoben.
Zunächst scheint der musikalische Raum, den die Heiden entfalten, analog zum virtuellen Herrschaftsraum am Ende des Eneasromans zu sein: Der Festklang manifestiert einen Herrschaftsanspruch, der umfassend ist – immerhin konnte der Heidenherrscher Marsilias Truppen aus allen heidnischen Reichen, noch vom Ende der Welt, zusammenziehen. Dieser virtuelle Herrschaftsraum allerdings steht grundsätzlich in Frage: Der Erzähler bezeichnet die Heiden gerade hier, schon vor der Entfaltung des musikalischen Raumes, als „die tumben“, eine Qualifizierung, die den musikalischen Raum in keiner Weise als von einer von Weisheit gezeichneten göttlichen Ordnung, von Harmonie, strukturiert erscheinen lassen. Entsprechend erfährt dieser grundsätzlich gestörte, virtuelle Klangraum der Herrschaft auch sofort eine Konkurrenz auf gleicher Ebene: Dô nam der helt Ruolant sîn horn in sîne hant. er blies ez mit vollen, daz dem got Apollen unt Machmet, sînem gesellen, geswaich ir ellen. sich verwandelet ir stimme.
Da nahm Roland, der Held, sein Horn in beide Hände. Er blies es mit voller Kraft, so dass dem Gott Apollo und Mohammed, seinem Verbündeten, der Mut verzagte. Ihre [der Heiden] Stimme veränderte sich:
blendung des musikalischen, virtuellen Raums, zu dem Schluss, dass dem Rolandslied überhaupt kein Zeit- und Raumgerüst zugrunde liegt: „Verfolgt man die Heeresbewegung unter Kaiser Karl, so wird deutlich, dass Entfernungen und ihre Überwindung bedeutungslos sind. Der Missachtung der tatsächlichen Zeit- und Raumverhältnisse entspricht die Spärlichkeit der Zeitangaben“ (Uhde-Stahl 1981, S. 321). Im Folgenden soll herausgearbeitet werden, dass das Rolandslied sehr wohl ein konzises Programm der Räumlichkeit verfolgt, das sich jedoch in der spannungsvollen Auseinandersetzung zwischen normalem und virtuellem Raum entfaltet.
Musik und virtueller Raum
ein vorchte wart dar inne. diu stain hûs irwageten. die heiden verzageten. diu erde erbibete. die viske die erspileten. die vogele scône sungen. die berge alle erclungen. (VV 305‒318)
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Furcht lag nun darin. Die Steinhäuser erzitterten, die Heiden verzweifelten. Die Erde erbebte. Die Fische begannen zu spielen142. Die Vögel sangen wunderschön. Die Berge klangen alle davon wider.
Roland besetzt mit einem Hornton den musikalischen, virtuellen Raum und holt damit bereits virtuell vorweg, was erst am Ende der Schlacht bzw. umfassend am Ende des Epos unstrittig ist: der Sieg über die Heiden. Die Wirkung des Horntones ist umfassend und setzt denkbar hoch an: Als erste Reaktion darauf verzagen die heidnischen Götter, zweitens verändert sich die gerade noch von Feierklang gekennzeichnete Stimme der Heiden, die sich nun in „michel jâmer“ (V 320; „großer Klage“) ergeht, drittens kommt Bewegung in den gesamten Raum, indem die Erde bebt. Doch der Klangraum Rolands wirkt sich nicht nur negativ in Bezug auf den zuvor entfalteten virtuellen Herrschaftsraum der Heiden aus, sondern auch positiv in Bezug auf die göttliche Schöpfung (und damit auf den Herrschaftsraum Gottes): Fische beginnen zu spielen, und im Singen der Vögel setzt sich der Klangraum des Hornes fort.143 Dabei erfährt er eine doppelte Erweiterung: Einmal ist der virtuelle Klangraum nun eindeutig qualitativ als schön bestimmt, zum anderen geht sein Wirkkreis weit über das Land hinaus und zeitigt Reaktionen auch im Wasser und in der Luft (also an allen drei grundlegenden Orten der Schöpfung nach dem biblischen Schöpfungsbericht). Vor allem Letzteres wird durch das Vogelsingen und das Widerhallen der Berge bekräftigt, und diese akustische Öffnung des virtuellen Raumes nach oben wird im weiteren Verlauf noch von größter Bedeutung sein. Wichtig hierbei ist, dass grammatikalisch nicht klar 142 „erspiln“ ist laut Lexer mit „anfangen zu spielen“ zu übersetzen (vgl. Lexer 1992, Band I, Sp. 673), was jedoch noch wenig über den gemeinten Sinngehalt aussagt. Pfeifer führt für den mittelhochdeutschen Sprachbereich das Bedeutungsspektrum „Scherz treiben, sich vergnügen (mit Leibesübungen, Kampfspiel, Brett- oder Würfelspiel), sich lebhaft bewegen, fröhlich sein, musizieren“ (Pfeifer 1989, S. 1673) auf; da die objektgebundene Bedeutungsebene im vorliegenden Fall ausfällt, bleibt ein Bedeutungsspektrum, das eine positive Grundstimmung, lebhafte Bewegung und sogar Musik umfasst. Letzteres erscheint zwar als Betätigung der Fische im Sinne eines usus Musik als unnachvollziehbar, nicht aber im Sinne der ars Musik, die ja auch in der Folgezeile semantisch dominant gesetzt ist. 143 Dieter Kartschoke übersetzt hier mit „Die Fische wurden unruhig. Die Vögel erhoben ihre Stimme.“ Er bleibt damit bei der negativen Tendenz, die der Hornklang Rolands für die Heiden bedeutet. Der mittelhochdeutsche Text bietet aber bei Fischen und Vögeln keinen Anlass für eine negative Tendenz, der Klang des Hornes repräsentiert vielmehr die positive Schöpfungsordnung, in die sich nun auch Fische und Vögel einfügen (vgl. bereits Kirchenbauer 1931, S. 41).
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Virtueller Raum im Hochmittelalter
wird, welcher Klang nun – Hornton oder Vogelsingen oder gar der Klang des Erdbebens – von den Bergen widerhallt; offensichtlich mischen sich alle Klänge zu einer gemeinsamen Klanglichkeit, zu einem die Schöpfung umfassenden Klangraum, der die Heiden zunächst noch ausschließt bzw. lediglich ihre Klage zulässt. Noch einmal versuchen die Heiden, ihren musikalischen Raum durchzusetzen und blasen die Kampfhörner (vgl. V 331), doch die Herrschaft Gottes, die im virtuellen Raum um Rolands Hornklang bereits verwirklicht wurde, setzt sich schon bald umfassend durch: vil manige heiden sâhen, daz die tiuvele dâ wâren. der sêle unterwunden si sich. daz was mînes trechtînes gerich. die heiden sich dô ergâben in des keiseres genâde. dô toufte si der biscof – so stât ez gescriben jenoch – ‚In nomine patris et filii et spiritus sancti.‘ […] beide wîp unde man, swaz in der creftigen stete was, si sungen alle: ‚deo gratias‘. (VV 345‒360)
Sehr viele Heiden sahen, dass da die Teufel waren. Sie nahmen die Seele in Besitz. Dies war das Gericht Gottes. Die Heiden ergaben sich daraufhin der Gnade des Kaisers. Dann taufte sie der Bischof – mit den Worten, wie es geschrieben steht: ‚In nomine patris et filii et spiritus sancti.‘ Frauen wie Männer, wer auch immer in der großen Stadt war, sie sangen alle: ‚Deo gratias‘.
Gott hält Gericht, und die Heiden ergeben sich in die Gnade des Kaisers – enger können Gott und Kaiser kaum geführt werden: Bei der Schlacht gegen die Heiden geht es nicht um die Herrschaft in einem bestimmten, umgrenzbaren Territorium, sondern um die Herrschaft Gottes über die gesamte Welt, die stellvertretend Kaiser Karl ausübt.144 Während im Klangraum von Rolands Horn die Schöpfungsordnung zitiert wurde, indem Fische, Vögel und Berge sich zu diesem Klang verhalten, zitiert der Ausgang der Schlacht um Tortolose das Eschaton:145 144 Bei Kaiser Karl geht es um einen die gesamte Welt umfassenden Herrschaftsanspruch, der gottanalog ist (vgl. VV 2232f., 2273, 2350). Vgl. auch Canisius-Loppnow 1992, S. 69: „Im Eingangsvers seines Kreuzzugsepos bezeichnet der Pfaffe Konrad Gott als den schephare allir dinge (Rl. 1). Er stellt damit programmatisch seine Vorstellung von Gott als dem Herrscher über die Welt an den Anfang seiner Dichtung. Auf Grund dieser Stellung und seiner Position als cheiser allir chûnige (Rl. 2) und als oberster trechtin (Rl. 182; 264) verfügt Gott über ein Gefolge, an dessen Spitze auf Erden Karl der Große steht.“ Zur Verbindung zwischen Gott und Karl grundsätzlich vgl. Ott-Meimberg 1980, S. 86‒116. 145 Diese anagogische Lesart bestimmt das gesamte Epos, vgl. etwa Haas 1989, S. 132: „Die Aktionen der Christen sind derart, daß sie in ihrer Kampfeswut (5948ff.) den Jüngsten Tag herbeischwören. Ihr Kampf ist eschatologisch und es geht um nichts weniger als um das Reich Gottes, das – mit dem biblischen Hinweis – als nahe erkannt wird (3905ff. die Worte des Bischofs Turpin).“
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Nach dem (letzten) Kampf146 hält Gott das (jüngste) Gericht,147 (weltweit) alle Heiden werden bekehrt,148 alle Gläubigen feiern in der (heiligen) Stadt im Angesicht des (himmlischen) Kaisers.149 Der gemeinsame Lobgesang auf Gott, in den abschließend alle mit einstimmen, macht diesen eschatologischen Raum von Gottes umfassender Herrschaft wieder hörbar.
Abbildung 1: Taufszene am Beginn des Rolandsliedes, cpg 112, 5r (Universitätsbibliothek Heidelberg)
146 Vgl. Offenbarung 20,7‒10. 147 Vgl. Offenbarung 20,11‒15. 148 Vgl. Matthäus 28,19f. 149 Vgl. Offenbarung 21,10‒22,5. Die biblische Neuschöpfung und das Dasein im Angesicht Gottes schlagen sich anagogisch am deutlichsten in der Hoflagerszene nieder, die sich an die Schlacht um Tortolose anschließt.
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Dieser virtuelle Klangraum der Herrschaft kommt in der Handschrift P des Rolandsliedes von ca. 1170 auch im Zusammenspiel von Text und Bild zum Ausdruck, wie Judith Klinger anhand der Abbildung der Heidentaufe herausgearbeitet hat: Oberhalb des Bildes befindet sich der Text: si sungen alle / deo gratias (v. 360), wobei gratias etwas unregelmäßig über die Zeile ausgedehnt wurde, so dass das ‚S‘ über dem Kopf des vordersten Taufpaten rechts im Bild steht. Nur im Fall dieser Zeichnung ist der Schreiber so verfahren, doch handelt es sich dabei sicher nicht um einen Zufall. Vielmehr kann die Ausdehnung der Buchstaben über die gesamte Zeile in Hinblick auf drei Bedeutungsdimensionen gelesen werden. Zum ersten handelt es sich um die sakrosankte Sprache des Lateinischen sowie eine rituelle Formel, die die sakramentale Verbindung zwischen Gott und Menschen bekräftigt: Mit der Buchstabendehnung wird die Gewichtigkeit des Vorgangs und des Worts visuell betont. Zum zweiten übergreift die Schrift alle am Taufritual Beteiligten und reicht vom Bischof über den Täufling bis zu seinen Paten: Die Dargestellten werden damit als Mitglieder einer Gemeinschaft inszeniert, wie sie auch in den Körpergesten – die Hände aller Beteiligten liegen auf den Schultern des Täuflings – zum Ausdruck kommt. Drittens ist diese Gemeinschaft zugleich eine stimmliche: Zum deo gratias tritt das alle sungen. Im Gesang stellt sich eine Gemeinschaft der Gläubigen her, und dieser Gesang erhebt sich als Schrifttext im Hintergrund der Szene (während die Dargestellten nicht singen). Zu Gotteswort und Heiliger Schrift […] tritt also der Stimmklang der Gemeinde.150
Freilich bleibt dieser absolute Herrschaftsraum Gottes bzw. in Stellvertretung des Kaisers, der in der Handschrift P auch visuell als Fermate gekennzeichnet ist, ein virtueller Raum, dessen Existenz auch nach dem Sieg über Tortolose strittig und umstritten ist: Das gesamte Epos, dessen Vorgeschehen gerade erst erzählt ist, beschäftigt sich mit der blutigen Durchsetzung der Kaiserherrschaft gegen äußere und innere Bedrohungen.151 Der virtuelle Herrschaftsraum Karls schlägt sich direkt nach dem ersten Sieg auch in einem physischen Raum nieder, doch kommt der virtuelle Charakter des Herrschaftsraumes auch hier deutlich zum Tragen: im Hoflager Karls (VV 625ff.). Dieses wird „durch die Augen der Boten“152 des Heidenherrschers Marsilias wahrgenommen, die zu Unterhandlungen gekommen sind, und das Hoflager erweist sich gerade dadurch als Raum mit begrenzter Kommunikationszugänglichkeit:
150 Klinger 2004, S. 111f. 151 Gleich nach dem Sieg über Tortolose schildert der Erzähler, wie der Heidenkönig die Stadt Sarraguz gegen die Angriffe Karls halten kann (vgl. VV 377ff.) und Angriffe gegen die Christen plant und ausführt, die schließlich das christliche Heer um Roland vollständig auslöschen können. Hinzu kommt die Bedrohung der Kaiserherrschaft von innen durch den Verräter Genelun. 152 Haupt 1989, S. 50.
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Die boten dô kêrten, dar man si lêrte, zuo der cristen lande mit vil hêrlîcheme gwande. die berge stigen si ze tale. si sâhen über al manigen helt küenen, manigen van grüenen, manigen rôten unde wîzen. diu velt sâhen si glîzen, sam siu waeren rôt guldîn. diu boten redeten under in, daz der keiser wole waere über alle diese werlt maere. wider sîner herscephte ne dörfte sich nieman behefte. (VV 625‒640)
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Die Boten brachen wie befohlen auf in Richtung des christlichen Herrschaftsbereichs in prachtvoller Aufmachung. Sie stiegen die Berge hinab ins Tal. Sie erblickten überall viele hervorragende Helden, viele Zelte in grüner, roter und weißer Farbe. Sie sahen das flache Land glitzern, als ob es aus rotem Gold wäre. Die Boten besprachen unter einander, dass der Kaiser sicherlich noch herrlicher als diese ganze Welt wäre. Gegen seine Herrschaft könne sich niemand auflehnen.
Die Begrenzung des Raumes scheint zunächst lediglich physischer Natur zu sein: Über die Berge müssen die heidnischen Boten, um das Lager Karls zu erreichen,153 das gut bewacht ist. Barbara Haupt spricht in diesem Zusammenhang sogar von einem utopischen Ort: Mit einer knappen, beinahe bühnentechnischen Angabe, es handle sich um einen boumgarten (V. 643), um eine parkähnliche Anlage also, wird die Vorstellung eines zivilisierten Bezirks entworfen, die dem Schauplatz des umkämpften spanischen Landes und der Situation des Unterwegs-Seins deutlich entrückt ist und geradezu utopische Züge besitzt. Denn dieser Baumgarten, der Ort der Versammlung des christlichen Heeres, ist schwer zugänglich.154
153 Die Berge dienen bereits zuvor als Trennungslinie zwischen den Christen und den Heiden, vgl. VV 417, 554. 154 Haupt 1989, S. 52. Haupt spricht damit implizit den virtuellen Charakter dieses Herrschaftsraumes an, der in der Tat nur von kurzer Dauer sein wird: „Im Inneren des befriedeten Raumes finden die [heidnischen] Boten […] eine frohe und offensichtlich in Harmonie lebende Gemeinschaft. Es ist dies beinahe so etwas wie die Entdeckung Eldorados, denn der abgesonderte Raum als Rahmen für ein glücklich-harmonisches Sozialgefüge gehört zu den Strukturmerkmalen der literarischen Utopien seit Thomas Morus“ (ebd., S. 52); nach dieser – gewollt ahistorischen – Einordnung arbeitet sich Haupt weiter an der Irritation ab, die von diesem Raum ausgeht: „Vornehmlich besitzt dieser Entwurf den exemplarischen Charakter des literarischen Festes als eines historisch-aktuellen Wunsch- und Idealbildes von Gemeinschaft. Gern hat man in der Forschung verwiesen auf die sogenannte ‚Ungereimtheit dieses Hofstaates im Feindesland […], der besser nach Aachen gepasst hätte‘. Die Szene wirkt eigentümlich irritierend“ (ebd., S. 53). Haupt sucht dieser Irritation, die vor allem am Aspekt des Friedensraumes mitten im Kriegsgebiet aufbricht, durch eine motivgeschichtliche Betrachtung zu begegnen, die diesen Raum tatsächlich zu einer Art Utopia macht; eine Betrachtung dieses Herrschaftsraumes als einen an dieser Stelle des Ro-
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Entscheidend für den Ausschluss der Heiden aus der raumschaffenden Kommunikation des Heerlagers ist jedoch die Pracht, die sich ihren Augen bietet: Waren sie prächtig gekleidet aufgebrochen, um bereits optisch in Unterhandlung zu treten und die von Marsilias für die Kapitulationsannahme in Aussicht gestellten Güter155 zu repräsentieren, so müssen sie bald einsehen, dass die farbenfrohe Pracht des christlichen Heerlagers nicht zu überbieten ist.156 Entsprechend scheitert auch diese Kommunikation völlig: Wortreich unterbreitet Blanscandiz, einer der Boten, das Unterwerfungsangebot Marsilias’ und offeriert Taufe der Heiden (vgl. VV 711‒730), unbegrenzte Güter als Zins (vgl. VV 733‒754) und Taufe und persönliche Unterwerfung Marsilias’ (vgl. VV 755‒770) – doch der Kaiser schweigt zweimal dazu (vgl. VV 731, 771f.), und seine ersten Worte sind schließlich eine Lobpreisung Gottes (vgl. VV 775‒782); erst danach wendet er sich an die Boten. Karl verweigert solange die verbale Kommunikation mit den Heiden, solange nicht die komplette Unterwerfung angeboten wird; die Pracht der Heiden ist nicht Teil der raumschaffenden Kommunikation der Christen, deren virtueller Herrschaftsraum157 lediglich für die vollständige Unterwerfung der Heiden anschlussfähig ist. Diese Exklusion schlägt sich auch optisch nieder: Die heidnischen Abgesandten können dem Kaiser kaum in die Augen sehen, da dieser weithin sichtbar und hell wie der Morgenstern glänzt.158 Neben der verbalen Kommunikation scheitert also auch die visuelle, die Heiden haben als Heiden nicht Teil an der raumschaffenden Kommunikation des Hoflagers. Barbara Haupt hat diesen Glanz des
landsliedes zeitlich und räumlich sehr begrenzten virtuellen Raum kann ihn wieder enger in das Geschehen einbinden und veranschaulicht vor allem seine Verbindung zu den vorgehenden und folgenden musikalisch-virtuellen Räumen des Rolandsliedes, das den Herrschaftsraum Karls schließlich in einen dauerhaften, normalen Raum umformt. 155 Vgl. VV 585‒624. 156 Zur Bildsymbolik der Hoflagerszene, die insgesamt auf die zentrale Herrscherfigur Karls verweist und dessen göttliche Ordnung sichtbar und hörbar macht, vgl. Wenzel 1995, S. 394‒400. 157 „herschapht ist das zentrale Thema der dreiteiligen Hoflagerszene (vgl. V 639 und 672), Karl der Große ist die Herrschergestalt, die exemplarisch ins Licht gerückt wird“ (Haupt 1989, S. 36). 158 Vgl. VV 683‒696. Armin Schulz liest den Glanz Karls ganz im Sinne des transzendentalen splendor imperii (vgl. Schulz 2008, S. 52‒63), übersieht dabei aber, dass der Glanz keineswegs zur dauerhaften und für alle sichtbaren Phänomenologie Karls gehört, sondern in der Hoflagerszene ausschließlich durch die Perspektive der Heiden betrachtet (oder besser gesagt: nicht betrachtet) wird. Der Glanz hat neben der Bedeutung des splendor imperii vor allem auch die Funktion, die Heiden kommunikativ auszuschließen. Diese Abhängigkeit von der heidnischen Perspektive wäre aber gerade für eine Untersuchung „schwierigen Erkennens“, wie sie Schulz in seiner Monographie vollzieht, von entscheidender Bedeutung.
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Herrschers herausgestellt und nimmt diesen visuellen Aspekt als Grundlage für den Aufbau des abgeschlossenen Herrschaftsraumes159 des Heerlagers: In allen drei Szenen des Hoflagers ist Karl der keiser gegenwärtig, obwohl die Herrscherfigur selbst erst in der dritten Szene präsentiert wird. Gegenwärtigkeit des Herrschers vermittelt sich über die Wahrnehmung und das Urteil der Boten sowie über den Erzähler als hermeneutische Instanz.160
Diese Wahrnehmung der Boten ist sicherlich auch visueller Natur, wie gezeigt wurde, doch entfaltet sich der virtuelle Herrschaftsraum des Hoflagers auch als musikalischer Raum:161 Bei ihrem Eintreffen hören die heidnischen Boten „sagen unde singen, / vil maniger slachte seitspil“ (VV 650f.; „Vortrag und Lieder und vielerlei Saitenmusik“). Liegt die akustische Dimension dieser Beobachtung noch in der Natur des Wahrgenommenen, so ist die akustische Wahrnehmung der Boten wenig später schon auffälliger: si hôrten die phaht lêren die edelen junchêrren unde schermen mit den schilten, wie die valken spilten unde ander manic vederspil. (VV 661‒665)
Sie hörten, wie den edlen Jünglingen das Recht und die Verteidigung mit dem Schild gelehrt wurde, wie die Falken jagten und auch viele andere edle Vögel.
Die Boten hören höfische Unterhaltung, Rechtslehre, Kampfausbildung und Jagd, ein volles Programm funktionierender Herrschaft, das die geordnete Herrschaft Karls auch hörbar macht.162 Entsprechend endet der Eingang der Hoflagerschilderung mit dem Verweis auf den zentralen Herrscher, noch bevor dieser selbst in Erscheinung tritt: „Karl was aller tugende ein hêrre“ (V 674; „Karl war der Herrscher all dieser Tugend“). Dass dieser Klangraum, der durch Lehre der Herrschaft Karls auch Dauer verleiht, von einer göttlichen Ordnung163 gekennzeichnet ist,
159 Ott-Meimberg verweist zu Recht auf einen vergleichbaren Lichteinsatz in der Baukunst der Gotik und bestätigt damit die räumliche Struktur der zentripetalen Inszenierung des Herrscherglanzes, vgl. Ott-Meimberg 1980, S. 95f. 160 Haupt 1989, S. 38. 161 Haupt hält „an einer grundsätzlichen Orientierung am Optischen fest“ (Haupt 1989, S. 51), übersieht dabei aber, dass dieser sicherlich auch sichtbare Raum ein im mittelalterlichen Sinn musikalischer Raum ist. 162 Zum Saitenspiel als Zeichen der Weltharmonie in Davidsanalogie vgl. Ott-Meimberg 1980, S. 94. 163 Zur ordo regni, die an Karl in diesen Szenen anschaulich wird, vgl. ausführlich Haupt 1989, S. 36‒49.
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belegt vor allem der Aspekt der Rechtslehre; die phaht, deren Lehre die Boten hören, ist zuvor direkt von Gott dem Kaiser gegeben worden: Diesem, seinem dinist man (Rl. 31; 55) übermittelt Gott unter anderem die phachte (Rl. 703), die – wie Konrad berichtet – der engel … imo [Karl] uore tichte (Rl. 704). Deutlich bringt der Dichter hier zum Ausdruck, daß das Recht göttlichen Ursprungs, die Rechtsordnung ein Teil der göttlichen Weltordnung ist.164
Freilich sind die heidnischen Boten auch in Bezug auf den (hörbaren und strukturellen) musikalischen Raum der Schöpfungsordnung lediglich Beobachter und haben nicht aktiv an der raumschaffenden Kommunikation teil; dies macht Karl ihnen gegenüber deutlich, indem er sowohl den hörbaren als auch den nicht hörbaren musikalischen Raum der Heiden in einem Bild engführt und gänzlich widerchristlich füllt: iuwer gote, die ir anebetet, Appollo unde Machmet, die sint vile boese. üppic ist ir gecôse, die tiuvele wonent dar inne: ir hoeret ir stimme. (VV 805‒810)
Eure Götter, die ihr anbetet, Apollo und Mohammed, die sind absolut böse. Ihr Geschwätz ist nichtig, die Teufel sind darin: Ihr hört deren Stimme.
Die Heiden hören die Rede anderer Götter, nicht das Recht Gottes, sie können damit nicht an der raumschaffenden Kommunikation der christlichen Herrschaft teilnehmen. In diesem virtuellen Raum, an dessen raumschaffender Kommunikation die Heiden keinen Anteil haben,165 ist die Herrschaft Karls „über alle diese werlt maere“ (V 638, s. o.), wie die Boten beim ersten Anblick des Heerlagers bekennen, tatsächlich real und unstrittig. Wie strittig die Herrschaft Karls außerhalb des Heerlagers, wie fragil sein virtueller Herrschaftsraum ist,166 zeigt der unmittelbare Anschluss an die Annahme der Unterwerfung der Heiden:
164 Canisius-Loppnow 1992, S. 69. 165 Dies klingt zunächst falsch, da die heidnischen Boten ja definitiv im Heerlager Karls sind, diesen Raum also betreten können. Sie können dies jedoch lediglich als vollständig Unterworfene, die die Macht Karls anerkennen, ihren Göttern abschwören und den christlichen Gott anerkennen – wodurch sie zumindest virtuell ihren Status als Heiden verlieren. 166 Vgl. auch Haupt 1989, S. 67: „Aus dem Kontext des Werkganzen läßt sich immerhin ermessen, daß die Hoflagerszene sehr anschaubar auch die Gefährdung registriert, die eine Integration von Herrschaft und Gemeinschaft beschädigen konnte: Die erste Teilszene dokumentiert im Bild auch die Notwendigkeit von Schutz gegen die potenzielle Bedrohung von außen, gegen die Heiden, die aber dann unter den Christen selbst in Judas-Genelun ein williges Werkzeug findet.“
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Under diu wart ein michel scal. die heiden wâfenten sich über al, ûz der burc si drungen, ir wîcliet si sungen. si kêrten über den burcgraben, dâ wart michel nôt erhaben. (VV 839‒844)
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Währenddessen erhob sich ein großer Lärm. Die Heiden bewaffneten sich überall, sie brachen aus der Burg und sangen ihre Schlachtenlieder. Sie setzten über den Befestigungsgraben, so dass ein gewaltiger Kampf entbrannte.
Gerade noch hat Kaiser Karl die letzten Worte seiner Kapitulationsannahme gesprochen und die Boten gesegnet (vgl. V 838), da entfaltet der Erzähler zum gleichen Zeitpunkt einen konkurrierenden Klangraum heidnischer Herrschaft; ohne dass ein Ortswechsel zunächst erkennbar ist, füllt sich der erzählte Raum mit dem Klang heidnischen Waffenlärms und Kriegsliedern: Der virtuelle Herrschaftsraum Karls ist in einem Zeilenwechsel abgelöst. Bezeichnend für den virtuellen Charakter des Herrschaftsraumes Karls ist dabei, dass diese Ablösung gerade dann erfolgt, als Karl die Kommunikation mit den heidnischen Boten eben erst eingegangen ist, als er sie hat teilnehmen lassen an der raumschaffenden Kommunikation seiner Herrschaft: Freilich behaupten die Heiden, dass sie zur absoluten Unterwerfung bereit sind, doch weiß das implizierte Publikum, dass dies nur eine Täuschung ist; da die Heiden aber lediglich als unterworfene und bekehrte Heiden einen Platz haben in dem virtuellen Herrschaftsraum Karls, bricht dieser virtuelle Raum in sich zusammen, sobald die Heiden als Heiden, als bleibende Gegner, Kommunikationspartner werden. So wenig auffällig der virtuelle musikalische Raum der Hoflagerszene auch für eine neuzeitliche Empfindung von Musik ist: Die von der Forschung immer wieder eher assoziativ diagnostizierte Harmonie167 dieser Szene ist im musikalischen Raum hörbar und vor allem als Struktur der Rechts- und Herrschaftsordnung tatsächlich vorhanden; zugleich ist diese Harmonie virtueller Natur und ihr Raum in Dauer und Kommunikationszugänglichkeit eng begrenzt. Die weitere Handlung zeigt mit dem Verrat Geneluns (der im Übrigen während der Hoflagerszene nicht auftaucht und den dortigen Aufbau des virtuellen Herrschaftsraumes auch nicht stören kann) zunächst die innere Bedrohung der Kaiserherrschaft. Diese steht in der zentralen Schlacht um Ronceval militärisch vor
167 Vgl. Haupt 1989, S. 52: „Im Inneren des befriedeten Raumes finden die Boten dann eine frohe und offensichtlich in Harmonie lebende Gemeinschaft“; Ott-Meimberg 1980, S. 86: „Der harmonische Weltzustand […] manifestiert sich […] in aller Breite in der Hoflagerszene“; ebd., S. 93: „Was sich den Heiden hier sukzessive erschließt, ist zunächst einmal das […] Bild vom harmonischen Weltzustand, zentriert um den Herrscher“; Ott-Meimberg arbeitet den Aspekt der Harmonie vor allem über die David-Christus-Analogie Karls heraus, die sich auch im Klangraum des Saitenspiels widerspiegelt, vgl. ebd.
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dem Aus, eine irdische Bedrohung, die im virtuellen, musikalischen Raum parallel dazu als Bedrohung der Herrschaft Gottes inszeniert wird. Dies beginnt direkt vor dem Aufbruch des heidnischen Heeres zur Schlacht, als die Heiden (wieder) einen eigenen virtuellen Herrschaftsraum aufbauen: Nu hoeren wir diu buoch sagen, ain antwerc hêten si erhaben alnâch der künige gebot. dâ wâren siben hundert apgot, Machmet was der hêrest unter in. der kêrten si allen ir sin. daz lob si im sungen. siben tûsend horn dâ vor klungen. siben tûsend golt vaz – zue êren buten si im daz –, diu lûchten tac unt nacht. der liute was sô grôziu craft, daz diu velt wâren bedecket, daz diu erde niene blecket […]. (VV 3489‒3502)
Nun berichten unsere Quellen, dass sie eine Maschinerie aufbauten nach dem Befehl der Könige. Es gab dort siebenhundert Abgötter, und Mohammed war der bedeutendste. Alle richteten ihren Willen auf sie aus. Sie sangen ihm Lob. Siebentausend Hörner erklangen davor. Siebentausend goldene Leuchter (Mohammed zu Ehren erbauten sie das alles), die leuchteten Tag und Nacht. Die Menschen waren so zahlreich, dass die Ebene bedeckt war, so dass nirgends die Erde durchblickte.
Der virtuelle Herrschaftsraum der Heiden ist physisch, akustisch und optisch fundiert und entfaltet sich als hierarchisch geordneter Raum: Nach dem Befehl der Könige wird die physische Grundlage für die Götterstatuen gebaut, deren Oberster Mohammed ist; dieser besitzt die ungeteilte Loyalität aller. In Gesang, Hornklang und andauerndem Leuchten breitet sich der virtuelle Herrschaftsraum hörbar und sichtbar aus und ist dabei streng harmonisch organisiert: 700 Götter werden durch 7000 Hörner und 7000 Goldlampen verehrt – ein perfekter musikalischer Raum der Herrschaft. Dieser gewinnt auch eine enorme Dichte: Die Heiden sind so zahlreich, dass sie die Erde vollständig bedecken, so dass diese – immerhin die Schöpfung Gottes – aus dem Blick des implizierten Publikums gerät. Dass diese (un-)heilsgeschichtliche Lesart keine bloße Assoziation ist, belegt die Schilderung des Aufbruchs des heidnischen Heeres wenige Verse später: Uz huoben sich die vaigen, die unsamfte wurden geschaiden. michel wart der herscal. si fulten berge unt tal unt al daz gevilde. die vogel unter dem himele muosen tôte nider vallen. von dem ummâzen scalle geswaich in daz gevidere. (VV 3531‒3539)
Die Todgeweihten machten sich auf, die nur schwer zu trennen waren. Gewaltig war ihr Kampflärm. Sie füllten Berg und Tal und die ganze Ebene. Die Vögel am Himmel fielen tot auf den Boden. Von dem außerordentlichen Lärm wurden ihnen die Flügel schwach.
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Der heidnische virtuelle Herrschaftsraum, der sich hier gänzlich als Klangraum entfaltet, verdrängt den Raum der göttlichen Schöpfung. Er ist damit ein direktes Gegenbild zu dem Klangraum, den Roland mittels seines Hornes gemeinsam mit der Schöpfung aufgebaut hatte (vgl. VV 303ff.): Der Klangraum der Heiden reicht zwar weit, er exkludiert aber die Vögel, die tot vom Himmel fallen. Dieser virtuelle Herrschaftsraum ist selbst zwar vielleicht lauter als das Horn Rolands, doch erfährt er weder Verstärkung durch die Schöpfung (das Echo der Berge), noch besitzt er dieselbe positive Verbindung zum Himmel, die der christliche Klangraum durch die Inklusion der Vögel hat. Diese Lesart bestätigt sich auch nach der Aufstellung der Heiden unter zwölf Heerführer (analog zu den zwölf Getreuen Rolands), beim eigentlichen Angriff der Heiden: siben tûsend horn dâ vore clungen. ir wîcliet si sungen. dâ wart alsô getân scal, sam berge unt diu tal allez enwage waere. (VV 3819‒3823)
Vorne erklangen 7000 Hörner. Sie sangen ihre Kampflieder. Da erhob sich ein solcher Lärm, als ob Berge und Täler in heftige Bewegung geraten wären.
Die Berge klingen nicht, wie vom Hornklang Rolands, wider, sondern sie geraten (wenn überhaupt, man bedenke die Vergleichsformulierung „sam“, die bei dem Hornklang Rolands fehlt), zusammen mit dem Tal, durch den Klang der 7000 Hörner und des Gesanges in Bewegung: Der Klangraum der Heidengötter tritt in Auseinandersetzung mit dem Schöpfungsraum Gottes und stellt diesen in Frage, noch bevor ein Christ gefallen ist. In der folgenden Schlacht verweigert Roland zunächst trotz des Drängens seines Freundes Oliviers das Blasen seines Hornes Olifant (vgl. VV 3864‒3898), er setzt dem Klangraum der Heiden also noch keinen eigenen Klangraum entgegen. Doch der erste Schlachterfolg der Christen (die körperlich-kämpferisch den Heiden grundsätzlich im gesamten Epos überlegen sind) schlägt sich trotzdem im musikalischen Raum nieder: Roland zerstört den Tempel und damit den Ausgangspunkt des heidnischen musikalischen Herrschaftsraumes. Ruolant unt die sîne kêrten mit mîcheleme nîde an der haiden betehûs. sîne blâsaere muosen dar ûz. si ersluogen si alle samt. dô sprach der helt Ruolant: ‚wâ bistu nû, Machmet? nû were dich hie ze stete. […] macht dûz nu rechen,
Roland und die Seinen wandten sich mit großem Zorn gegen den Tempel der Heiden. Die Tempelbläser wurden herausgetrieben: Sie erschlugen sie alle. Da sagte Roland, der Held: ‚Wo bist du nun, Mohammed? Wehre dich hier und jetzt. Kannst du nun für sie Rache nehmen,
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die dîne blâsaere? hiute waere dû vil maere, nû bistu worden stille‘. (VV 4167‒4181)
für deine Tempelbläser? Heute warst du in aller Munde, jetzt bist du still geworden.‘
Roland lässt die Bläser des Tempels töten und fordert damit Mohammed selbst heraus; dieser ist aber zusammen mit den Tempelbläsern verstummt und kann sich nicht (mehr) wehren – eine denkbar enge Verknüpfung von Dominanz im Klangraum und militärischer Potenz im physischen Raum.168 Entsprechend der hierarchischen Ordnung bringt das Verstummen der Vasallen auch den Herrn (vgl. VV 3492f.) zum Verstummen, und mit Mohammed verstummt auch sin geselle (vgl. V 309) Apollon: ienoch hêten si behalten ainen got alten, den si von Tortulose ernerten unt an in flîzeclîchen betten. Apollo hiez sîn name. den fuorten si unter vane. si genigen im alle vil tiefe, vil lûte si in an riefen, er hülfe in zuo ir willen. si swîcten sam die stummen. (VV 4680‒4688)
Sie hatten noch einen alten Gott behalten, den sie auf Tortulose retten konnten und zu den sie beständig beteten. Apollo war sein Name. Den trugen sie unter der Fahne voran. Sie verneigten sich alle sehr tief vor ihm und riefen ihn sehr laut an, dass er ihnen helfen solle. Sie [die Götter] schwiegen stumm.
Bezüglich des virtuellen Klangraums herrscht damit in der Schlacht von Ronceval grundsätzlich Gleichstand: Roland betätigt sein heilsgeschichtliches Horn nicht, dafür wird die Grundlage des unheilsgeschichtlichen Klangraums der Heiden zerstört. Die Heere sind in der Schlacht zunächst auf sich selbst angewiesen – und nutzen auch dabei nicht nur ihre Körperkraft, sondern auch den Klangraum: Die Christen benutzen den Schlachtruf ‚Monsoy‘, die Heiden setzen ihr ‚Fore valdant‘ dagegen; beide Schlachtrufe unterscheiden sich jedoch sowohl quanti168 Wie dürftig der erzählte Raum wirkt, wenn man nur den physischen, sichtbaren Raum in den Blick nimmt, belegen die Ausführungen Lina Kirchenbauers zum Raum im Rolandslied: „Als besonderes Symbol der Stadt als heidnische Stadt ist auf die mehrmalige Erwähnung der heidnischen Tempel hinzuweisen. […] Wer könnte sich aber […] vorstellen, wie ein solcher Tempel ausgesehen haben mag? […] Als Rl. 4166 die Christen in der Schlacht sich gegen dieses ‚bettehûs‘ der Heiden wenden, müssen die Bläser ‚dar ûz‘, und die ‚golde garwen dille‘ werden niedergerissen, man stößt Rl. 4189 an allen vier Enden die Wände zur Erde und hebt das Gold auf. Wieder sind nur Teile gegeben: die Bläser, die goltvaz, die vergoldeten Wände, während man nie bis zu einer Gesamtvorstellung gelangt“ (Kirchenbauer 1931, S. 27). Die „Gesamtvorstellung“ des Raumes ist eben nicht im Physisch-Architektonischen gegeben, sondern im KlanglichMusikalischen gegenwärtig bzw. wird hier von Roland zerstört.
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tativ als auch qualitativ signifikant: Die Christen rufen – vor allem in der ersten Hälfte der Schlacht recht dicht – insgesamt zwölfmal,169 die Heiden dagegen nur viermal.170 Doch nicht nur das, die Christen rufen ihren Schlachtruf in perfekter musikalischer Harmonie (im Verhältnis 1:1), die beim ersten Erklingen des Rufs vom Erzähler deutlich hervorgehoben wird: die Franken riefen alle samt, mit gelîcher stimme huoben si: ‚Monsoy! Monsoy!‘ daz was des kaiseres zaichen. (VV 4066‒4069)
Alle Franken riefen mit gleicher Stimme: ‚Monsoy! Monsoy!‘ Das war das Zeichen des Kaisers.
Einstimmig rufen die Christen das Zeichen ihres Herrschers, eine musikalische Qualität (Harmonie und Herrschaftsstruktur), die den Rufen der Heiden abgeht. Dieser qualitative Unterschied verstärkt sich noch, bezieht man den weiteren Schlachtenlärm mit ein, der von christlicher Seite qualitativ positiv, von heidnischer Seite qualitativ negativ konnotiert wird: diu swert hêrlîchen clungen. die haiden wê sungen, si grinen sam die hunde (VV 4835‒4837)
Die Schwerter erklangen herrlich. Die Heiden sangen ihre Klage, sie heulten wie die Hunde.
Der Schwertklang ist der christlichen Seite vorbehalten,171 und er klingt nicht nur hêrlîch im Gegensatz zum Hundejaulen der Heiden, sondern im Falle des Helden Samson sogar „vil süeze“ (V 5107; „äußerst lieblich“). Die musikalische Qualität des christlichen Klangraumes macht den irdischen Klangraum dem himmlischen Klangraum des Engelsgesanges ästhetisch analog, und diese Analogie ist die Grundlage der Korrespondenz zwischen beiden virtuellen Räumen, die das Schlachtgeschehen zunehmend begleitet: Unter dem Gesang der Engel werden die gefallenen Christen als Märtyrer in den Himmel aufgenommen (vgl. V 4945f.), ihr Blut schreit zum Himmel, so dass es Gott hört und darauf reagiert (vgl. V 4987f.); in seiner Rede verspricht der Bischof Turpin wieder die Aufnahme in den Himmel „mit dem engelsange“ (V 5274; „mit dem Engelsgesang“), wobei die christlichen Kämpfer sogar mit „gloria in excelsis deo“ (V 5278) in diesen einstimmen; der Erzähler verheißt den singenden Kämpfern die Aufnahme in den Chor der unschuldig gestorbenen Kinder (vgl. V 5755‒5774); Roland 169 Vgl. VV 4066ff., 4275, 4330, 4420, 4463, 4552, 4572, 4916, 5322, 6226, 6411, 8164. 170 Vgl. VV 4328, 4917ff., 5044, 5853ff. In der abschließenden Rabenschlacht ändert sich der heidnische Schlachtruf in ‚Preciosa‘ und ertönt noch zweimal, vgl. VV 8166, 8461. 171 Vgl. auch VV 5106f. 6258f.
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treibt seinen Vasallen Walter zur Eile an, um nicht „von dem engelsange“ (V 6579; „von dem Engelsgesang“) ausgeschlossen zu werden; die Engel führen den toten Bischof Turpin „zuo der martaere chôre“ (V 6767; „zum Chor der Märtyrer“), und der sterbende Roland kann schließlich einem Engel persönlich seinen Handschuh reichen und gelangt in die Gesellschaft der Erzengel (vgl. VV 6889‒6923). Was eingangs des Epos bereits mit dem Hornklang Rolands und mit dem göttlichen Recht Karls vorbereitet war – die Öffnung des musikalischen Raumes nach oben durch das Einstimmen der Vögel und Berge einerseits und durch die Weitergabe des durch den Engel diktierten Rechts andererseits – wird in der Schlacht um Ronceval heilsgeschichtlich entscheidend: So viele Christen auch immer fallen, sie sterben in das ewige Leben Gottes, sie bereichern den Engelschor, so dass der musikalische, virtuelle Herrschaftsraum Gottes durch die vielen Toten nicht geschwächt, sondern im Gegenteil sogar gestärkt wird. Diese Öffnung nach oben ist hier der entscheidende Mehrwert des virtuellen, musikalischen Raumes auf christlicher Seite.172
172 Hier stellt das Rolandslied offenbar keinen Einzelfall dar. John Greenfield hat bezüglich des musikalischen Raumes in Wolframs Willehalm ganz ähnliche Beobachtungen gemacht; er beobachtet die Schilderung von höfischem Schlachtenlärm, der auf christlicher Seite qualitativ sehr positiv konnotiert ist. Parallel dazu ertönt ein süezer Klang vom Himmel: „Es handelt sich eindeutig um den himmlischen Gesang der Engel, der als Belohnung für die Märtyrer der ersten Schlacht gewährleistet wird, wenn sie ins Paradies aufgenommen werden. Dadurch scheint sich der akustische Raum des Schlachtfeldes nach oben zu öffnen und eine klangliche Verbindung wird hergestellt zwischen dem von ritterlichen Schlachtlärm begleiteten irdischen Kampf und dem Himmel. […] Hier wird […] die akustische Verbindung zwischen dem ritterlichen und dem himmlischen Schallregister hergestellt: eine klangliche Beziehung zwischen dem Erklingen des Schwertes und dem Singen der Engel.“ (Greenfield 2004, S. 264f.). Eine Öffnung in die himmlische Sphäre mittels eines musikalischen Raumes kennzeichnet also gerade auch die erste Schlacht des Willehalm, die eine militärische Niederlage eines christlichen Heeres in Auseinandersetzung mit den Heiden zeigt, vgl. ebd., S. 265. Diese akustisch fundierte Öffnung des virtuellen Raumes nach oben ermöglicht im Rolandslied auch das Eingreifen Gottes in den normalen Raum der Schlacht: Dreimal hilft ein kühlender Wind bzw. ein Licht mit derselben Wirkung vom Himmel den christlichen Kämpfern, vgl. VV 4456‒4462, 5625‒5630, 8563‒8566. Almut Schneider hat Analoges in Bezug auf die Legenden Konrads von Würzburg und ihre süeze Klanglichkeit der Dichtungssprache herausgearbeitet: „Erzählen die Legenden Konrads von Würzburg eine Geschichte vom Hereintragen der Transzendenz in die Immanenz, so zeigt sich, in welcher Weise es spezifisch der Klang der Sprache ist, der den Raum öffnet, innerhalb dessen diese Grenzüberschreitung in beide Richtungen möglich wird: die Präsenz des Heiligen erweist sich im Klang der Sprache, und so bildet umgekehrt der Sprachklang ein zentrales Moment der Legitimation und Authentifizierung normativen Sprechens. Dabei ist es die Differenzierung der Sprache in Klang und Wort, die bei aller Zeichenhaftigkeit des Redens zugleich einen Anteil von Unmittelbarkeit bewahrt, die eine Einfallstelle für die Teilhabe an Heiligkeit bildet bzw. die Auszeichnung unmittelbarer Nähe zur Transzendenz ermöglicht“ (Schneider 2012, S. 215f.).
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Wie immer ist aber die Existenz des virtuellen Raumes umstritten: Während der virtuelle, musikalische Herrschaftsraum Gottes mit jedem toten Christen beständig wächst, schwindet der normale, militärische Herrschaftsraum Karls mit jedem toten Christen. Das Sterben Rolands schließlich kann zwar religiös verklärt werden, doch bedeutet es eigentlich die endgültige Niederlage Karls im normalen Raum. Sowohl diese fundamentale Bedrohung der Herrschaft Karls als auch die letztliche Abwendung der militärischen Niederlage schlägt sich ebenfalls im virtuellen, musikalischen Raum nieder: Dieser Raum, der einerseits über den Engelsgesang eine qualitative, vertikale Dimension in die Transzendenz besitzt, die, wie gerade skizziert wurde, nur den Christen zugänglich ist, breitet sich in der Immanenz vor allem quantitativ aus – und wird hier im zweiten Teil der Schlacht um Ronceval, als der Heidenkönig Marsilias selbst in den Kampf eingreift und Rolands Gefährten sterben, wieder von den Heiden dominiert: Roland kommentiert die bleibende Kampfkraft der Heiden mit den Worten: „ir gelph ist ienoch sô grôz“ (V 5241; „ihr Geschrei ist immer noch so laut“), die Hörner der Heiden erklingen (vgl. V 5279), sie sammeln sich unter Hornklang (vgl. V 5435), und Marsiliasʼ Eingriff in den Kampf ist gekennzeichnet durch den erneuten Einsatz der 7000 Hörner: Marsilie kam mir zorne. siben tûsent horne vor im clungen. (VV 5481‒5483)
Marsilias zog wütend heran. 7000 Hörner erklangen vor ihm.
Der physische Raum des Tempels, an dem die Grundlage des virtuellen Herrschaftsraumes der Heiden gesetzt wurde, konnte zwar zerstört werden, doch der virtuelle, musikalische Raum kann wieder aufgebaut werden. Trotz der zwischenzeitigen Erfolge der Christen können sich die Heiden unter Marsilias’ Führung zweimal musikalischen Raum schaffen,173 der die Christen zunehmend exkludiert, die nun zahlreich sterben und (wie skizziert) in die musikalische Transzendenz inkludiert werden. Der virtuelle, musikalische Raum zerfällt also zwischenzeitig in zwei Bereiche, die sich gänzlich unterschiedlich zum normalen Raum verhalten: In seiner vertikalen Erstreckung ist der musikalische Raum dem normalen Raum diametral entgegengesetzt (und dies tatsächlich im mathematischen Verhältnis: Die Exklusion eines Christen aus dem normalen Raum entspricht der Inklusion eines Christen in die vertikale Sphäre Gottes); in seiner horizontalen Erstreckung funktioniert der musikalische Raum wie der normale Raum und wird zunehmend von den Heiden dominiert. Erst das Blasen des Hornes Olifant durch Roland kann die Wendung bringen für einen transzendenten und immanenten Sieg der Christen, da in diesem Ins173 Vgl. auch VV 5853‒5856, 5871f.
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trument die Möglichkeit begründet liegt, alle Dimensionen des musikalischen Raumes zu füllen: Ruolant vie mit baiden hanten den guoten Olivanten sazt er ze munde, blâsen er begunde. der scal wart sô grôz – der tumel unter die haiden dôz –, daz niemen den anderen machte gehôren. si verscuben selbe ir ôren. diu hirnribe sich im entrante, dem küenen wîgante. sich verwandelôt allez, daz an im was, vil kûme er gesaz, sîn herze craht innen. die sîne kunden stimme vernâmen si alle samt. der scal fluoc in diu lant. Uil schiere kom ze hove maere, daz des kaiseres blâsaere bliesen al gelîche. dô wessen si waerlîche, daz die helde in noeten wâren. (VV 6053‒6073)
Roland umfasste den vortrefflichen Olifant mit beiden Händen und setzte ihn an; er begann hineinzublasen. Der Klang wurde so mächtig – der betäubende Lärm beschallte die Heiden –, dass niemand den Anderen hören konnte. Sie hielten sich die Ohren zu. Die Hirnschale brach ihm auf, dem tapferen Helden. Alles an ihm veränderte sich, er konnte sich kaum auf dem Pferd halten. Sein Herz sprang in ihm. Seine vertraute Stimme vernahmen sie alle. Der Schall flog über die Länder. Sehr schnell kam die Botschaft an den Hof, so dass die Bläser des Kaisers alle gemeinsam bliesen. Da wussten sie mit Sicherheit, dass die Helden in großer Not waren.
Die übergroße Lautstärke des Hornklangs verschafft sich umfassend Raum: Die Kommunikation der Heiden wird vollständig unterbunden, die damit keinen eigenen Klangraum entgegensetzen können, und stattdessen vernehmen alle die ‚Stimme‘ Rolands; der Klangraum des Horns füllt den Raum der Schlacht gänzlich aus, so dass für die Dauer des Klangs an Kämpfen nicht mehr zu denken ist, da alle – inklusive Roland! – damit vollauf beschäftigt sind den Klang zu überleben. Roland schafft mit dem Olifant eine Fermate, die trotz ihres virtuellen Modus’ den normalen Raum für die Dauer des Klangs vollständig überformen kann. Der Klangraum besitzt selbst darüber hinaus noch eine enorme Dynamik, er breitet sich aus, bis er das Lager Karls erreicht, und wird dort verstärkt; der Hornklang erfährt jedoch nicht wie im Vorgeschehen Verstärkung durch Vögel, die dem virtuellen Klangraum der Heiden wenig entgegenzusetzen hatten, sondern durch die Bläser des Kaisers: In dem hier entstehenden Klangraum mischen und verstärken sich zum ersten Mal die Kampfkraft Rolands und die des Kaisers, während die entsprechenden Truppen im normalen Raum nach wie vor weit getrennt voneinander sind. Der virtuelle Klangraum verwirklicht damit eine Möglichkeit, die im normalen Raum nicht mehr möglich ist, wie die unmittelbar vorangehende Aus-
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einandersetzung zwischen Olivier und Roland unzweifelhaft klar gemacht hat. Olivier wirft Roland vor, zu lange mit dem Blasen des Hornes gewartet zu haben, als dass militärische Hilfe noch zu erwarten wäre: niemer mêre geblâs dîn horn. der kaiser mac uns nicht ze helve komen. (VV 6017)
Blase dein Horn niemals wieder. Der Kaiser kann uns nicht mehr zu Hilfe kommen.
Olivier hat Recht und Unrecht zugleich: Der normale Raum zwischen ihnen und dem Kaiser ist nicht mehr zu überbrücken; doch der virtuelle Raum kann nicht nur überbrückt werden, sondern darüber hinaus in Form der Schlachthörner auch die Kampfeskraft vereinen. Rolands virtueller Klangraum setzt einen Raum militärischer Überlegenheit gegen einen normalen Raum, der sich zunehmend mit christlichen Leichen füllt. Dieser virtuelle Raum schlägt sich auch wieder in der Bebilderung der Handschrift P nieder, die an dieser Stelle Roland und Karl direkt nebeneinander stellt und damit zwischen beiden „einen leeren Raum [eröffnet], der erst von der Erzählung gefüllt werden muß“.174 Der virtuelle, musikalische Raum kann also den normalen Raum überformen und zwischenzeitig dessen Grenzen und Gesetze aufheben. Doch auch damit ist die Wirkkraft dieses virtuellen Raumes noch nicht erschöpfend beschrieben, da der qualitative Aspekt bislang unberücksichtigt blieb. Dieser äußert sich in der Durchsetzung des göttlichen Rechts: Der Kaiser reagiert mit starker Unruhe auf den Hornklang und versteht das Zeichen richtig als Hilferuf; der Verräter Genelun allerdings bemüht sich, wie bereits erfolgreich zuvor, die Bedrohung klein zu reden und bietet einen Bremsenstich oder eine Hasenjagd als eigentliche Ursache für das Blasen des Hornes an (vgl. VV 6081‒6089). Doch ohne jede weitere Begründung über die Wirkung des Hornklangs hinaus glaubt der Kaiser nun Genelun nicht mehr: Er verflucht Genelun, lässt ihn fesseln, kündigt seinen Prozess an und lässt ihn „wider über daz gebirge / gegen sînem hêrren Marsilien“ (V 6126f.; „zurück über das Gebirge zu seinem Herrn Marsilias“) bringen; der Hornklang Rolands lässt den Kaiser die Wahrheit erkennen, gerecht urteilen und vor allem den Verräter räumlich aus dem Hoflager entfernen – der Hornklang schafft im Hoflager einen virtuellen, musikalischen Raum der göttlichen Ordnung.175 174 Klinger 2004, S. 133. Klinger führt im Weiteren aus, dass diese Miniatur zwar keinen Klang raum zeigt, wohl aber auf diesen verweist: „Roland bläst in der Zeichnung nicht etwa in sein Horn, sondern hebt wie die Erzählerfiguren […] den Finger. Diese Kombination von hinweisender Redegeste und dem nicht tönenden Horn ruft erst die Erzählung vom Klang des Horns und seiner für die Handlung des Epos zentralen Bedeutung hervor“ (ebd.). 175 Vgl. Diehr 2000, S. 143f.: Langfristig stellt Rolands Horn die Ordnung des Kaisers wieder her.
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Abbildung 2: Roland mit dem Horn neben dem trauernden Karl, cpg 112, 84r (Universitätsbibliothek Heidelberg)
Das zweite Blasen des Hornes Olifant gegen Ende der Schlacht um Ronceval funktioniert analog, in überbietender Art und Weise: Die militärische Situation ist endgültig hoffnungslos, Olivier ist gefallen (vgl. V 6520), ebenso Walther, der Vasall Rolands (vgl. V 6590), Turpin ist tödlich verwundet (vgl. V 6604); der Erzähler lässt durch Rolands Augen einen trostlosen Kampfraum erblicken: Ruolant was dô aine. […] Ruolant sach in allenthalben sîn, wie Olivier unt Turpin unt ander sîne gesellen in bluote lâgen bewollen. (VV 6661‒6678)
Roland war allein. Roland sah rings um sich, wie Olivier und Turpin und weitere Freunde von ihm in ihrem Blut lagen.
Noch einmal erhebt sich Bischof Turpin, und parallel dazu bläst Roland zum zweiten Mal in dieser Schlacht sein Horn. Wieder setzt er einen virtuellen Klangraum dem offensichtlichen, normalen Raum entgegen, und wieder überformt der virtuelle Raum radikal den normalen Raum: Zunächst „durchrait [Roland] daz wal“ (V 6676; „überquerte Roland das Schlachtfeld“) und erschlägt viele Heiden, verschafft sich also ganz körperlich Raum; direkt danach aber entfaltet der sich
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nahende Kaiser einen Klangraum, der sich diesmal in umgekehrter Richtung bis zum Ort der Schlacht ausdehnt: unter diu wart ain michel scal, daz die berge über al erclungen unt erbibeten, sam si alle lebeten. sechzec tûsent horne bliesen si dâ vorne. der kaiser mante die sîne. (VV 6679‒6685)
Währenddessen erhob sich ein großer Lärm, so dass überall die Berge widerhallten und erbebten, als ob sie alle lebten. 60.000 Hörner bliesen sie an der Spitze. Der Kaiser trieb seine Getreuen an.
Die Heiden hören diesen Lärm und fliehen vor dem Kaiser und vor Roland (vgl. VV 6694‒6728), so dass diese beiden – obwohl im normalen Raum nach wie vor getrennt – ein erstes Mal gemeinsam im Kampf gegen die Heiden wirken können. Der Klangraum des Kaisers überbietet mit seinen 60.000 Hörnern auch jeden bislang da gewesenen Klangraum, was sich im Bild der belebten Berge niederschlägt.176 Entsprechend wird das Horn Rolands für diese Schlacht nicht mehr zum Aufbau eines Klangraums benötigt: Roland hört den Klang des Kaisers, beginnt zu sterben (vgl. VV 6748f.) und benutzt das Horn Olifant ein letztes Mal – um damit einen Heiden zu erschlagen, wobei das Horn zerstört wird: ‚Olifant ist zerclouben.‘ (V 6804)
‚Olifant ist zerbrochen.‘
Die Ankunft des kaiserlichen Heeres kann den christlichen Sieg vorerst entscheiden, doch Roland ist gestorben, sein Horn zerschlagen. Überdeutlich markiert der Text den Tod Rolands als ein Geschehen, das die gesamte Schöpfung in Aufruhr bringt und an den Jüngsten Tag erinnert (vgl. VV 6924‒6949).177 Erst die Rabenschlacht kann den endgültigen Sieg für die Christen bringen und damit die Schöpfungsordnung herstellen, auf die das Epos von Beginn an ausgerichtet war. Karl erreicht diesen Sieg im normalen Raum durch seine den Heiden überlegenen Kämpfer und schließlich durch seinen Sieg über König Paligan im Zweikampf, dem König Marsilias aus Gram nachstirbt (vgl. VV
176 Im Gegensatz zum Bewegen der Berge durch den heidnischen Klang (vgl. VV 3822f.) verhält sich das Beben der Berge durch den kaiserlichen Klang positiv zur Schöpfung, da es als gleichsam lebend beschrieben wird. 177 Dass der Tod Rolands in der Tat die gesamte Schöpfungsordnung in Frage stellt, arbeitet auch Ralf Schlechtweg-Jahn heraus, der im Rolandslied durchaus auch die Niederlage Gottes thematisiert sieht: „Die Transzendenz ist an den Erfolg ihrer Krieger in der Immanenz gebunden“ (Schlechtweg-Jahn 2011, S. 211).
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8570‒8586). Eingeleitet wird dieser Sieg in der Rabenschlacht aber mit dem Aufbau eines virtuellen Klangraumes, der etwas im normalen Raum Unmögliches inkludiert: Den gemeinsamen Kampf von Roland und dem Kaiser. Voraussetzung dafür ist, dass Kaiser Karl bei der Aufstellung des Heeres die zwei Krieger Winemann und Rapoto mit Rolands Schwert Durndart und seinem Horn Olifant ausstattet und beide dezidiert die Stelle Rolands einnehmen lässt (vgl. VV 7765‒7778). Nach einem Gebet des Kaisers brechen die Christen zur Schlacht auf, wobei sie den virtuellen Klangraum mit ihren Kriegshörnern aufbauen: ir horn bliesen sie alle. dô lûtte ûz dem scalle diu süeze Olivantes stimme. dô erwainten die Karlinge, si clageten Ruolanten harte. der kaiser hiez si ir barte ûz vorne ziehen. daz tet er in ze liebe, den Karlingen ze ainem zaichen, dô ez scain über ir gewâfen. (VV 7935‒7944)
Sie bliesen alle ihre Hörner. Da erschallte aus dem Klang die süße Stimme Olifants. Da begannen die Franken zu weinen, sie beklagten Roland heftig. Der Kaiser befahl ihnen, dass sie ihre Bärte aus der Rüstung herausziehen sollten. Das tat er ihnen zum Vorteil, um die Franken zu bezeichnen, wo es über ihrer Rüstung zu sehen war.
Im Hörnerklang mischen sich die Hörner des Kaisers mit dem süßen Klang Olifants, der in V 6066 als Stimme Rolands bezeichnet wurde. Roland ist nicht nur in der Klage der Memoria gegenwärtig, sondern auch im virtuellen Klangraum. Dieser Klangraum besitzt durch die Qualität des Klanges von Olifant wieder eine vertikale Dimension, eine Verbindung zum Himmel, in dem Roland mittlerweile im Engelschor aufgenommen ist.178 Diese Verbindung wird durch die unmittelbar einsetzende Memoria bekräftigt: Alle weinen um Roland, sobald sie das Horn 178 Herbert Backes hat (mit Rückgriff auf Forschungen von Werner Armknecht) herausgearbeitet, dass im Rolandslied der Begriff suoze erstmals auf irdische Personen angewendet wird und in der deutschen Fassung im Unterschied zur französischen „ein sehr wichtiges Element der Vergeistlichung [wird], die Konrad dem Stoff hat zuteil werden lassen“ (Backes 1968, S. 25). In der Formel „suoze Karlinge“, die sechsmal und ausschließlich in Zusammenhang mit dem Endkampf im Rolandslied fällt (vgl. ebd., S. 25f.), schlägt sich die enge Verbindung der als Märtyrer sterbenden mit der göttlichen Sphäre nieder, denn die Franken „prunnen warlichen inne / nach der gotes suoze“ (VV 3424f.; „verzehrten sich tatsächlich nach der Lieblichkeit Gottes“; vgl. auch ebd., S. 29). Backes’ Überlegungen, die sich auch auf zeitgenössische theologische Belege stützen können, überzeugen, doch übersieht er in seiner Zusammenstellung der Belege für suoze im Rolandslied (vgl. ebd.), dass der Begriff auch zweimal eine hörbare, akustische Qualität bezeichnet (der Klang von Samsons Schwert, der Klang Olifants), die eine Verbindung mit dem Himmel, wie gezeigt, schon vor dem Tod der Franken aufbauen kann. Zur zentralen Bedeutung des „süßen Gesangs“ für das Einstimmen der Kirche in den Gesang der Engel vgl. Angenendt 2000, S. 420, zur topischen literarischen Verwendung des Begriffs suoze als Qualifizierung von
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hören – das Horn, das immerhin zerclouben war und nun offensichtlich nicht nur wieder funktionstüchtig ist, sondern darüber hinaus süeze klingt.179 Das Horn Rolands, zerstört im Heidenkampf und wieder, noch besser, funktionstüchtig, steht in einem anagogischen Verweiszusammenhang mit Roland, der im Heidenkampf gestorben ist und in das ewige Leben eingegangen ist bzw. auferstehen wird. Dieses Geschehen ist im virtuellen, musikalischen Raum bereits präsent. Doch die Wirkung der Präsenz Rolands im virtuellen Raum erfolgt unmittelbar auch im normalen: Der Kaiser, der dem falschen Rat Geneluns gefolgt war und seine Kämpfer hatte aufreiben lassen, sorgt nun für die Sicherheit seiner Kämpfer, indem er befiehlt, die Bärte sichtbar außerhalb der Rüstung zu tragen, so dass die Franken während der Schlacht einander gut erkennen können. Symbolisch rettet er damit auch rückwirkend Roland selbst:180 Dieser war in der Schlacht um Ronceval versehentlich von dem erblindeten und totwunden Olivier mit dem Schwert „mitten ûf den helm“ (V 6474; „direkt auf den Helm“) geschlagen worden, der ihn nur noch an der Stimme erkennen konnte. Im musikalischen Raum, der sich zu Beginn der Rabenschlacht entfaltet, ist damit ein grundsätzliches Problem des Rolandsliedes aufgehoben: der nicht helfende Kaiser. Rolands Horn ist auch im musikalischen Raum der eigentlichen Schlacht ein entscheidender Vorteil, denn zwar entfalten die Heiden mit ihrem neuen Schlachtruf ‚Preciosa‘ unter König Paligan einen eigenen Klangraum (vgl. VV 7985‒8000), doch fühlt sich der Heidenkönig von Beginn der Schlacht an durch den Klang von Olifant gestört (vgl. VV 8011‒8016), der nun im Unterschied zur Schlacht um Ronceval offenbar dauerhaft zu hören ist. Olifant potenziert den christlichen Schlachtruf ‚Monsoy‘, so dass dieser nicht mehr nur häufiger als der heidnische Schlachtruf ertönt, sondern der christliche Klang den virtuellen Klangraum bestimmen kann und den Ausgang der Schlacht vorentscheidet: die christen huoben ‚Monsoy! Monsoy!‘ die haiden ir zaichen sâ: ‚Preciosâ! Preciosâ!‘ riefen di über al.
Die Christen riefen ‚Monsoy! Monsoy!‘, die Heiden dagegen ihren Erkennungsruf: ‚Preciosâ! Preciosâ‘ riefen sie überall.
Harfenklang (!) als „Bestandteil der idealen höfischen Welt“ vgl. Eitschberger 1999, S. 22f.; zur Bedeutung von suoze als Verweis auf die Gnade Gottes vgl. Bartels 1997, S. 385f. 179 Hier wird ein virtueller Memorialraum (dessen Strukturen im Kap. 3.2 ausgeführt werden sollen) mit dem virtuellen musikalischen Raum enggeführt, dessen Inklusionen und Exklusionen allerdings identisch sind: Auch in der Memoria an den Verstorbenen ist dieser für die Dauer der Kommunikation anwesend. 180 Diese Möglichkeit, auf zeitlich Zurückliegendes zugreifen zu können, ist eine Möglichkeit, die der virtuelle Memorialraum bieten kann, wie noch herauszuarbeiten ist (vgl. Kap. 3.2.2.3). Hier dürfte die Begründung davon liegen, dass an dieser Stelle der musikalische Raum mit einem Memorialraum enggeführt wird.
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des guoten Olivantes scal was der haiden ungemach. der künc vil dicke sprach, swer im daz benaeme, daz er im lande unde bürge gaebe unt al, daz er sînes wollte. er sprach, daz es menske nescolte niemer gefüeren. er mächt in übele gehoeren. (VV 8164‒8176)
Der Klang des vortrefflichen Olifant war den Heiden unangenehm. Der König sagte andauernd, dass er demjenigen, der ihn davon erlöse, Land und Städte schenken werde und überhaupt alles, was er von ihm wolle. Er sagte, dass das Horn niemand mehr benutzen solle. Er könne es kaum ertragen es zu hören.
Nach dem Tod der heidnischen Könige ist der militärische Sieg für Karl erreicht, nicht aber seine unstrittige Herrschaft, die im virtuellen Raum des Hoflagers präsentiert wurde; was noch fehlt, ist die endgültige Exkludierung des Verräters Genelun, der nach wie vor auf seinen Prozess wartet. Dieser wird in der Form eines Gerichtskampfes geführt, wodurch der Text das Ergebnis des Prozesses – Geneluns Kämpfer wird natürlich besiegt – als direkt von Gott durchgesetztes Recht inszeniert. Angesichts des abgeschlagenen Kopfes von Binabel, dem Kämpfer Geneluns, bauen die Christen einen harmonischen musikalischen Raum auf: dâ wart michel fröude unt lof. si lûten unt sungen. von allerslachte zungen lobeten si got alsus: ‚te deum laudamus.‘ (VV 8988‒8992)
Da erhob sich eine große Freude Lobpreis. Sie riefen und sangen. In allen Sprachen lobten sie Gott mit den Worten: ‚Te deum laudamus‘
Die Durchsetzung des göttlichen Rechts ermöglicht einen virtuellen Herrschaftsraum, der wieder die ganze Welt unter der Herrschaft Gottes vereint: In allen Sprachen singen die Anwesenden das Lob Gottes, ein Bild der umfassenden Mission, aufgehoben in der Paradoxie der vielsprachigen lateinischen Floskel. Und auch dieser virtuelle Raum zeitigt handfeste Konsequenzen im normalen Raum: Direkt anschließend hält der Kaiser Gericht und lässt auf den Rat der Fürsten, die „alle bî ainem munde“ (V 8999; „alle wie aus einem Mund“) sprechen, alle Geiseln und den Verräter Genelun töten (Vgl. VV 8993‒9016), woraufhin sich der Epilog anschließt. Das Ende der Erzählung überführt damit den virtuellen, musikalischen Raum der Harmonie, der Herrschaft und des Rechts in den normalen erzählten Raum: Was im Hoflager nach dem Sieg Rolands zeitlich und personell eng begrenzt war, bestimmt nun, nach dem Sieg Karls und Rolands, den gesamten erzählten Raum; es gibt schlicht keine Heiden oder Verräter mehr, die aus der raumschaffenden
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Kommunikation des Herrschaftsraumes Karls ausgeschlossen sind, der virtuelle Herrschaftsraum des Hoflagers ist zum normalen Raum geworden.181
3.1.6.3 Zwischen ars und usus: Isoldes Ausbildung, Petitcreü und Minnegrotte Sowohl im Eneasroman als auch im Rolandslied wird der virtuelle, musikalische Raum letztendlich dazu genutzt, um das Fremde, Störende und Deviante zu exkludieren und so zumindest zwischenzeitig einen idealen Hof-Raum zu erschaffen, der für die Dauer der raumschaffenden Kommunikation tendenziell den gesamten erzählten Raum umfasst. Im Rolandslied erfolgt gegenüber dem Eneasroman insofern bereits eine Ausdifferenzierung des musikalischen Raumes, als vor dem vereindeutigenden Ende zwei musikalische, virtuelle Räume in Konkurrenz stehen und sich gegenseitig Raum streitig machen. Diese Ausdifferenzierung des virtuellen, musikalischen Raumes ist im Tristan roman Gottfrieds von Straßburg noch weiter vorangeschritten:182 Der musikalische Raum gibt einerseits dem allgemeinen Hof Raum (und wird dabei tendenziell zum normalen Raum), andererseits aber gibt er – abgekapselt von dem allgemeinen Raum Hof – auch nur einem speziellen, geheimen Hof der edelen herzen Raum,
181 Die musikalische Seite des Rolandsliedes entpuppt sich dabei als eine Textstrategie der Vereindeutigung des Kampfes von Christen gegen Heiden als Kampf zwischen Gut und Böse. Der musikalische Raum ist somit Teil der Erzählstrategie des „gewalttätigen Erzählens“ (Feldmann/ Schlechtweg-Jahn 2013); doch es ist mit Schlechtweg-Jahn 2011 und Feldmann/Schlechtweg-Jahn 2013 zu betonen, dass das Rolandslied in dieser einfachen Lesart keineswegs aufgeht: Er liefert vor allem hinsichtlich des christlichen Lagers viele Ansatzpunkte, die diese einfache Dichotomie dekonstruieren. 182 Musik ist im Tristanroman natürlich ein ganz grundlegendes Phänomen, das jenseits der spezifischen Fragerichtung nach dem musikalischen Raum die Forschung immer wieder beschäftigt hat. Exemplarisch für die umfangreichen Untersuchungen zur Musik im Tristanroman seien Jackson 1973, Kästner 1981, van Schaik 1996, Sziráky 2003 und Schlechtweg-Jahn 2010 aufgeführt. In ihrer Arbeit zu Raum und Landschaft in Gottfrieds Tristan bemerkt Ingrid Hahn zwar die vielfältigen musikalischen Inszenierungen von Räumen im Tristanroman – allen voran die Minnegrotte –, doch bleibt es weitgehend bei der Diagnose ohne weitere Interpretation (vgl. Hahn 1963, S. 31‒33; 62; 119‒142). Dies liegt letztlich an dem romantisch-emphatischen Musikbegriff Hahns, der einerseits nur Hörbares als musikalischen Niederschlag erfasst und andererseits zur mystischen Chiffre gerinnt: „Wo Geistig-Innermenschliches (herze), Ästhetisches (ouge) und Physisches (lip) unauflöslich ineinandergreifen, wo jener rund geschlossene Kreis entsteht, da findet Gottfried ein unausdeutbares, von keiner inhaltlichen Aussage einseitig belastetes, abstraktes Symbol, die reine süße Figur der ineinanderklingenden Melodie“ (ebd., S. 129). Musik in einem mittelalterlichen Verständnis (und hier mit einem konkret-benennbaren Transzendenzbezug) bestimmt jedoch nicht zuletzt das Raumkonzept des Tristan zentral, wie auch Sziráky 2003 herausarbeiten konnte.
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dessen Kommunikationszugänglichkeit eng begrenzt ist.183 Diese Überscheidung der unterschiedlichen Raumarten mag ein modernes Raumverständnis irritieren: Mit musikalischen Mitteln werden zwar zweierlei virtuelle Räume geschaffen, diese können sich aber zur selben Zeit und hinsichtlich des physischen Raumes am selben Ort entfalten, lediglich mit unterschiedlich beschränkter Kommunikationszugänglichkeit. Der Text nutzt dazu die Differenzierungsmöglichkeiten des musikalischen Raumes, die ars und usus der Musik bereitstellen. Im Folgenden soll diese Ausdifferenzierung des musikalischen Raumes anhand dreier einschlägiger Textpassagen dargestellt werden, die Räume ganz unterschiedlicher Kommunikationszugänglichkeit im Spannungsfeld zwischen imaginärem und normalem Raum aufbauen: Unterricht und Spiel Isoldes, Petitcreü und Minnegrotte. Besonders deutlich kann sich die Unterscheidung zwischen ars und usus der Musik naheliegenderweise in der Passage entfalten, die den musikalischen Unterricht von Isolde durch Tristan beschreibt und die bei Gottfried breit erzählt wird. Nachdem Isolde den im Moroldkampf vergifteten Tristan geheilt hat, unterrichtet dieser sie unerkannt als spilman Tantris: sît gie diu junge künigîn alle zît ze sîner lêre. an die sô leite er sêre sînen vlîz und sîne stunde. daz beste daz er kunde, sô schuollist, sô hantspil, daz ich niht sunder zalen will, daz leite er ir besunder vür, daz sî nâch ir selber kür ze lêre dar ûz naeme, swes sô sî gezaeme. (VV 7962‒7972)
Seitdem ging die junge Königin zu aller Zeit in seine Lehre. Er widmete ihr intensiv seine Energie und Zeit. Das Beste seiner Kunst, sei es Wissen, sei es Können, was ich nicht einzeln aufzählen möchte, das setzte er ihr Stück für Stück auseinander, damit sie sich nach eigener Wahl daraus bilde, wie es ihr angemessen wäre.
Tristan lehrt Musik in ihrem weiten, mittelalterlichen Sinn und bietet mit schuollist und hantspil einen umfassenden Einblick sowohl in ars als auch in usus der
183 Sebastian Baier untersucht die Intimräume des Tristanromans, die er aufgrund ihrer exklusiven Kommunikationszugänglichkeit – um es mit den hier verwendeten Begriffen zu reformulieren – als virtuelle Räume begreift (vgl. Baier 2005, S. 192‒194); er kann damit nachweisen, dass der Tristanroman insgesamt strukturiert ist von der Spannung zwischen öffentlichen (im hier gebrauchten Begriffssinn normalen) Räumen und virtuellen Räumen der Intimität. Diese Raumkonstruktion wäre einer eigenen, umfassenden Untersuchung wert, im Folgenden sollen jedoch lediglich exemplarisch musikalisch organisierte virtuelle Räume im Tristan in den Blick genommen werden.
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Musik.184 Harmonie ist dieser Lehre von Anfang an zentral eingeschrieben, da Isolde aufnimmt, „swez sô sî gezaeme“. Isolde ist nun eine äußerst höfische und wunderschöne Königstochter, so dass das ihr Angemessene der Lehre nur das Allerbeste sein kann: Îsôt diu schoene tete alsô: daz allerbeste, daz si dô under allen sînen listen vant, des underwant si sich zehant und was ouch vlîzec dar an, swes s‘in der werlde began. (VV 7973‒7978)
Die schöne Isolde handelte folgendermaßen: Das Allerbeste, das sie an all seiner Kunst finden konnte, das erlernte sie zügig und war darin fleißig, wie mit allem, was sie anfing.
Dass es hierbei um weitaus mehr geht als um einen einfachen Musikunterricht im Sinne des usus macht der Text in einer umfangreichen Beschreibung der Vorbildung Isoldes unzweifelhaft: Isolde ist bereits im höfischen Sinne kunstfertig „mit handen und mit munde“ (V 7983; „mit ihren Händen und ihrem Mund“) – also in Bezug auf Musik ganz im Bereich des usus, nicht der ars –, sie kann drei Sprachen,185 spielt Fiedel, Leier, Harfe und singt (vgl. VV 7979‒7999). Die hörbare Musik, die sie schon vor dem Unterricht Tristans produzieren kann, erzeugt bereits einen schönen, lauten (also weithin hörbaren) Tonraum mit großem Ambitus, dessen vertikale Bestimmung die Tonraumvorstellung des usus aufgreift: 184 Zwar fällt in dieser Passage der Begriff Musik nicht, so dass schuollist auch auf andere Abteilungen der artes bezogen sein könnte; doch erscheint diese Annahme durch die Paarung des Begriffs mit hantspil nicht sinnvoll, der sich definitiv auf Musik bezieht, die ja auch in den unterrichtsbezogenen Aktionen Isoldes dominant gesetzt ist. Auch Martin van Schaik begreift das Wortpaar als Verweis auf ars und usus der Musik: „Als Gegensatzpaar gefaßt, wäre schuollist dann als die theoretische Seite, und hantspil demgegenüber als die praktische Seite der mittelalterlichen ‚Ars musica‘ zu verstehen, und im hantspil insbesondere die Kunstübung auf dem Saiteninstrument zu vermuten“ (Van Schaik 1996, S. 1038; vgl. auch Linden 2009, S. 118). Van Schaik problematisiert jedoch dieses Verständnis: „Um 1200 galt noch nicht der Satz, daß es zwischen der Musiktheorie einerseits und der weltlichen Kunstmusik andererseits einen logischerweise notwendigen Zusammenhang gebe“ (ebd.). Das ist richtig (auch wenn die mittelalterliche Differenzierung in ars und usus besser gefasst erscheint als in Theorie und Praxis), doch benutzt Gottfried gerade die Differenz zwischen beiden Bereichen als Unterscheidungskriterium zwischen zwei unterschiedlichen virtuellen Räumen, wie noch zu zeigen sein wird, die aber beide gleichermaßen musikalisch aufgebaut sind. Tristan und – nach der Ausbildung – Isolde zeichnet in der Tat aus, dass sie über ars und usus verfügen können (diese differenzierte Rezeption des mittelalterlichen Phänomens Musik spricht gegen McMahon 1982/1983, S. 9, der Gottfried jedwede theoretische Bildung abspricht). 185 Diese Beherrschung von Fremdsprachen – darunter Latein und Französisch – ist allerdings eine wichtige Voraussetzung für die folgende Unterweisung in der ars Musik, vgl. Jackson 1973, S. 296f.; Sziráki 2003, S. 485.
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ir vingere die kunden, swenne sî‘s begunden, die lîren wol gerüeren und ûf der harpfen vüeren die doene mit gewalte. sie steigete unde valte die noten behendeclîche. (VV 7989‒7999)
Ihre Finger, die konnten, wann auch immer sie spielten, die Leier vortrefflich schlagen und auf der Harfe die Töne machtvoll führen. Sie erhöhte und erniedrigte den Klang virtuos.
Isolde ist also bereits eine Virtuosin des musikalischen usus, wenn der Unterricht durch ‚Tantris‘ beginnt – damit stellt sich die Frage, was ihr Tristan überhaupt noch beibringen kann. Der Text liefert darauf mit dem Begriff „morâliteit“ eine dezidierte Antwort, die aber auch Fragen aufwirft, da es sich um einen Neologismus Gottfrieds handelt:186 ir meister der spilman der bezzerte si sêre. under aller dirre lêre gab er ir eine unmüezekeit, die heizen wir morâliteit. diu kunst diu lêret schoene site. dâ solten alle vrouwen mite in ir jugent unmüezic wesen. morâliteit daz süeze lesen deist saelic unde reine. (VV 8000‒8009)
Ihr Meister, der Spielmann, der konnte ihr viel beibringen. Im Zentrum seiner gesamten Lehre brachte er ihr eine Beschäftigung nahe, die nennen wir „Moralität“. Diese Weisheit lehrt schönes Handeln und Erscheinen. Damit sollten sich alle Damen in ihrer Jugend beschäftigen. Moralität, diese süße Bildung, die ist segensreich und vollkommen.
Tristan wird hier als spilman und meister bezeichnet; während spilman ihn als Könner des usus ausweist, verweist meister hier auf die akademische Sphäre der artes, wie auch Siegfried Grosse in seiner differenzierenden Studie zum Bedeutungsspektrum des Begriffs im Tristanroman ausführt: „Hier kommt wohl die Bezeichnung meister dem Grad des Magisters am nächsten.“187 Die „Moralität“, 186 Vgl. Linden 2009, S. 123. 187 Grosse 1989a, S. 297. Henrike Lähnemann arbeitet heraus, dass Tristan nicht tatsächlich den Weg der artes durchlaufen hat, „sondern auf einer siebenjährigen Bildungsreise direkt vor Ort zusammen mit den Sprachen“ (Lähnemann 2007, S. 181) gelernt hat. Sie kommt zu der Anschauung, „dass Gottfried im ‚Tristan‘ systematisch die Musikpraxis von einer geistlichen Grundlegung der ars musica ablöst“ (ebd., S. 180). Dem ist nur bedingt zuzustimmen: Die Musik, die Tristan gelernt hat und die er lehrt, ist die Verbindung zwischen ars und usus, wobei erstere freilich nicht auf klassischem Wege gelernt wurde. Dies ist jedoch in erster Linie dem laikalen Umfeld der höfischen Literatur geschuldet, die sich allgemein bemüht, sich vor klerikaler Vorherrschaft freizuhalten (Lähnemanns Aufsatz leistet gerade für diesen laikalen Zug des Tristan gute Grundlagenarbeit; zur laikalen Musikauffassung im Tristan ausführlich vgl. Schlechtweg-Jahn 2010). Es
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die Tristan als meister lehrt, ist damit nichts anderes als die ethisch-ästhetische Dimension der Weltharmonie, die den zentralen Lehrgegenstand der ars Musik darstellt.188 Die Wirkung der „Moralität“ wird dementsprechend im weiteren Textverlauf als umfassende Harmonie beschrieben:189 ir lêre hât gemeine mit der werlde und mit gote. si lêret uns in ir gebote got unde der werlde gevallen. s‘ist edelen herzen allen ze einer ammen gegeben, daz sî ir lîpnar unde ir leben suochen in ir lêre. wan sîne hânt guot noch êre, ezn lêre sî morâliteit. (VV 8010‒8019)
Ihre Lehre steht im Einklang mit der Welt und Gott. Sie lehrt uns mit ihren Gesetzen Gott und der Welt zu gefallen. Sie ist allen edlen Herzen als Amme gegeben, damit sie ihre Nahrung und ihr Leben in ihrer Lehre suchen. Denn sie kommen weder zu Besitz noch zu Ansehen, es sei denn, die Moralität bringt es ihnen bei.
Auffällig ist hier zunächst die zweifache Betonung, dass die Moralität sich positiv zu Gott und der Welt verhält. Sandra Linden erkennt hierin das Prinzip der mâze: Das Verhalten in Einklang mit Gott und der Welt, mit Transzendenz und Immanenz, ist seit jeher ein Idealziel christlicher Ethik, eine diffizile Vermittlungsleistung, die häufig über die Zentraltugend der maze gelöst wird.190
bedeutet jedoch nicht einen Verzicht auf Musik als ars, als intellektuelle Lehre, wie auch Lähnemann beschreibt: „Mit dem Abschluss der Ausbildung Isoldes sind die beiden Protagonisten auf gleichem musikalischem Stande: sie verfügen über eine intellektuell fundierte, aber höfisch ausgeformte Sangeskunst“ (Lähnemann 2007, S. 183). Die Kombination aus ars und usus kennzeichnet, wie noch zu zeigen sein wird, den musikalischen Raum der edelen herzen des Tristan. 188 Vgl. Jackson 1973, S. 297‒299; Briški 1996, S. 22f.; Sziráki 2003, S. 376; 485f.; Linden 2009, S. 119f. Linden versteht diese ethische Dimension jedoch als der Musik vorlaufend: „Gottfried konzipiert mit der moraliteit keine gängige Benimmschule für höhere Töchter, sondern eine umfassende Ethik, die zugleich über die schœnen site eine faszinierende Kraft der Person entfaltet. Die moraliteit wird zwar in einem Bücherstudium vermittelt, erfährt aber durch die wiederholte Koppelung mit der musikalischen Ausbildung Isoldes eine Öffnung zum Ästhetischen“ (ebd., S. 123f.). Diese Koppelung ist jedoch vorausgehend: Die Musik wird nicht der moraliteit aufgestülpt, sondern diese ist vielmehr selbst durch und durch musikalisch als ars, zu der sich die Musik als usus notwendigerweise gesellt. 189 All dies und auch die positive Wertung der bereits vorauslaufenden Bildung Isoldes durch den Text widerspricht Lambertus Okkens Bewertung der Ausbildungsepisode: „Prinzessin Isolde wird falsch erzogen. Sie lernt eine die Sinne anstachelnde Musik pflegen und sie wird einer Gesellschaft ausgesetzt, die für eine solche Musik nur allzu empfänglich ist (8036‒8131). Und keiner scheint der Prinzessin gesagt zu haben, daß es ungehörig ist, mit umherschweifenden Blicken die Männer zu betören (10957‒10961; siehe auch 11845‒11847)“ (Okken 1996, S. 366). 190 Linden 2009, S. 122.
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Diese Verhältnismäßigkeit von Welt und Gott durch die Moralität stellt diese bereits in die Nähe der Musik im Sinne der ars, also der perfekten Schöpfungsordnung. Diese Tendenz verstärkt und bestätigt sich mit der Bezeichnung der Moralität als Amme der edlen Herzen: Lambertus Okken hat in diesem Bild ein Boethius-Zitat gesehen; in De consolatione Philosophiae wird die personifizierte Philosophie als Amme bezeichnet, von der der Philosoph aufgezogen und gestillt wurde.191 Dieser intertextuelle Verweis überzeugt zunächst, zumal auch bei Boethius das Stillen der Amme erwähnt wird. Doch irritiert etwas, dass Tristan Isolde nicht etwa einen Überblick über die Philosophie – also im mittelalterlichen Verständnis über die septem artes liberales – lehrt, sondern die für die ars der Musik typische Verbindung von Sittenlehre und Musik im engeren Sinne. Die Amme der edlen Herzen verweist aber auch über den Neuplatoniker Boethius hinaus auf Platon selbst und dessen berühmten Dialog Timaios, in dem, wie bereits ausgeführt (s. o., 3.1.3), der Raum selbst als „Amme alles Werdens“ bezeichnet wird. Platons Überlegungen zum Phänomen Raum sind mit die wichtigste Grundlage für die mittelalterliche Vorstellung eines musikalischen Ordnungsraumes, der Makro- und Mikrokosmos miteinander verbindet (und der damit der ars Musik die Rolle der Grundlage der Philosophie zuweist). Moralität, die Amme der edlen Herzen, die zwischen Gott und der Welt vermittelt, kann unter dieser Perspektive verstanden werden als ein Raum, der wie Platons „Amme alles Werdens“ die göttliche Harmonie in der menschlichen Harmonie erfahrbar macht und damit sittliche Vollkommenheit impliziert, ein Raum, der im Tristanroman aber lediglich den edlen Herzen vorbehalten ist.192 Isolde lernt durch Tristan die Beherrschung der Musik als ars – mit Betonung ihrer ethischen Implikationen –, die es ihr im Folgenden ermöglicht, diesen exklusiven virtuellen Raum aufzubauen. Zusammen mit ihrer bereits vorlaufenden musikalischen Bildung im Bereich des usus kann sie nun zwei Arten von Musik ausüben, die zwei unterschiedliche virtuelle Räume ausbilden. Der erzählte Raum wird entsprechend im weiteren Textverlauf, der Isoldes musikalische Kommunikation mit dem Hof zeigt, analog zur Differenzierung zwischen ars und usus zweigeteilt in einen öffentlichen und einen heimlichen Bereich, 191 Vgl. Okken 1996, S. 368‒371; vgl. auch Linden 2009, S. 128. 192 Linden begreift den Inhalt der Moralität als Propädeutikum vor der höchsten Bildungsstufe, die mit ethisch veredelter Romanlektüre gefüllt sei und schon in dieser Szene, vor allem aber in der Minnegrotte von Isolde erlernt und praktiziert werde (vgl. Linden 2009, v. a. S. 129). Moralität wird aber vom Text dezidiert als „daz allerbeste, daz si dô / under allen sînen listen vant“ (V 7974f.; „das Allerbeste, das sie an seiner ganzen Kunstfertigkeit finden konnte“) bezeichnet und ist damit kaum lediglich ein Vorstudium; Moralität ist nicht nur die Morallehre als Grundlehre vor der Lehre der fiktionalen Literatur, sondern die umfassende Ordnung des als usus und ars bestimmten musikalischen Raumes, der auch die Lektüre strukturierter Texte beinhaltet.
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wobei letzterer nur den edlen Herzen zugänglich ist, ersterer dem gesamten Hof. Die in usus und ars unterwiesene Isolde wird zum zentralen Kommunikator für beide virtuellen Räume und damit beide Hofarten, einem öffentlichen und einem heimlichen Hof. Zunächst stellt der Text heraus, dass Isolde von ihrem Vater häufig in den Palas gerufen wird, um mit „höfschlîcher liste und schoener site“ (V 8043; „höfischer Kunstfertigkeit und feinem Anstand“) alle Anwesenden höfisch zu unterhalten; sie kann damit mit ihren musikalischen Mitteln einen idealen Hofraum aufbauen, der alle umfasst: arme unde rîche sî haeten an ir beide eine saelige ougenweide, der ôren unde des herzen lust. ûzen und innerhalp der brust dâ was ir lust gemeine. (VV 8048‒8053)
Sowohl Abhängige als auch Freie genossen an ihr einen beglückenden Anblick, ein Fest für Ohren und Herzen. Ihre Lust umfasste sie außen und innen.
Umfangreich schildert der Text zunächst Isoldes musikalische Praxis des usus, die zur Freude aller vorträgt, singt und spielt (vgl. VV 8054‒8078). Soweit ist der musikalische, virtuelle Raum dem normalen Raum sehr ähnlich, da er unterschiedslos alle umfasst, die Isoldes Auftritt hören. Für die Dauer ihrer Musik entsteht ein idealer Hofraum (ähnlich wie bei der Feier am Ende des Eneasromans), der zunächst umfassend positiv bestimmt ist. Und hier setzt nun die Ausdifferenzierung des musikalischen Raumes an, die für den Tristanroman symptomatisch ist: eben nicht eine Exklusion der bôsen, wie im Eneasroman und im Rolandslied, sondern eine weitere Inklusion, die aber nur Wenige umfasst; in einer Erzählerrede wird Isoldes Bedeutung für den höfischen Raum und ihre zentripetale Wirkung im Bild der Sirene gefasst, die die Schiffe unweigerlich zu sich lenkt: Wem mag ich sî gelîchen die schoenen, saelderîchen wan den Syrênen eine, die mit dem agesteine die kiele ziehent ze sich? als zôch Îsôt, sô dunket mich, vil herzen unde gedanken în, die doch vil sicher wânden sîn von senedem ungemache. […] diu gevüege Îsôt, diu wîse, diu junge süeze künigîn alsô zôch sî gedanken în ûz maneges herzen arken, als der agestein die barken
Mit wem kann ich die vergleichen, die Schöne und Glückselige, als mit einer der Sirenen, die mit dem Magnetstein die Schiffe zu sich hinziehen? Genauso zog Isolde, so meine ich, viele Herzen und Gedanken an, die sich doch ganz sicher vor Sehnsuchtskummer meinten. Die kunstfertige und gelehrte Isolde, die junge und liebliche Königin sie zog die Gedanken an aus vielen Herzensschreinen, genauso wie der Magnetstein die Schiffe
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mit der Syrênen sange tuot. si sanc in maneges herzen muot offenlîchen unde tougen durch ôren und durch ougen. ir sanc, den s‘offenlîche tete beide anderswâ und an der stete, daz was ir süeze singen, ir senftez seiten clingen, daz lûte und offenlîche durch der ôren künicrîche hin nider in diu herzen clanc. sô was der tougenlîche sanc ir wunderlîchiu schoene, diu mit ir muotgedoene verholne unde tougen durch diu venster der ougen in vil manic edele herze sleich und daz zouber dar în streich, daz die gedanke zehant vienc unde vâhende bant mit sene und mit seneder nôt. (VV 8085‒8132)
mit dem Gesang der Sirenen anzieht. Sie sang in viele Herzen hinein, öffentlich und heimlich, durch Ohren und durch Augen. Ihre Musik, die sie öffentlich dort und anderswo machte, die bestand aus ihrem lieblichen Singen, ihr zartes Saitenspiel, das laut und öffentlich durch das Königreich der Ohren hinunter in die Herzen klang. Doch die heimliche Musik war ihre wunderbare Schönheit, die mit ihrem Geistesklang heimlich und verborgen durch die Fenster der Augen in sehr viele edlen Herzen schlich und darin den Zauber bewirkte, der sofort die Gedanken fing und fesselte mit Sehnsucht und Sehnsuchtskummer.
Mit dem Bild der Sirene definiert der Erzähler den virtuellen Raum Hof, den Isoldes Musik erzeugen kann, als einen Raum, der über sein Zentrum und nicht über seine Grenzen bestimmt ist:193 Einzig und allein die musikalische Aktion Isoldes ist die Kommunikation, die diesen Raum erzeugt, und er baut sich unabhängig vom normalen Raum immer wieder um Isolde auf – der Text legt Wert darauf, dass er nicht etwa auf den Palas des Königs beschränkt ist („beide anderswâ und an der stete“). Anders als in den bislang behandelten Texten baut sich der ideale, virtuelle Raum Hof nicht darüber auf, dass das Störende ausgegrenzt wird (aus diesem Grund benötigt der Raum auch keine äußeren Grenzen), sondern über die unwiderstehliche Zentripetalkraft von Isoldes Musik: Über die Ohren ist der höfische Raum zunächst allen zugänglich, die hören können; dieser virtuelle Raum des usus der Musik ist „lûte und offenlîche“, er inkludiert weithin hörbar den gesamten Hof. Daneben aber kann Isoldes Musik – nach der Unterweisung durch Tristan in der Moralität – auch einen virtuellen Raum eröffnen, der weitaus exklusiver in seiner Kommunikationszugänglichkeit ist: Während der virtuelle Raum Hof akustisch kommuniziert wird, wird der Raum der edlen Herzen visuell kommuniziert; auch die durch die Augen wahrgenommene „wunderlîchiu schoene“ Isoldes ist deutlich als Musik ausgewiesen („der tougenlîche sanc“), eine Bestimmung, die nicht mehr überraschen kann, 193 Zu Räumen mit inneren Grenzen im Hochmittelalter ausführlich vgl. Wagner 2015a.
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wenn man die Bestimmung der ars der Musik bedenkt: Isoldes wohlproportionierte Schönheit194 und die ethische Harmonie der Moralität, die zwischen Gott und der Welt vermittelt, verleiht der sichtbaren Musik Isoldes eine noch höhere Qualität als der hörbaren. Doch dieser virtuelle Raum, der mit dem Neologismus „muotgedoene“ (ich übersetze „Geistesklang“ – ein Klang, der der geistigen Dimension vorbehalten ist) sehr treffend als Raum der intellektuellen ars Musik bezeichnet ist, ist den edlen Herzen vorbehalten,195 die im allgemein zugänglichen Raum Hof einen eigenen, abgeschotteten Bereich gewinnen: einen virtuellen Raum Hof im virtuellen Raum Hof.196 Was im Prolog des Tristanromans als Gesellschaft in der Gesellschaft, als virtueller Raum Hof im virtuellen Raum Hof aufgemacht wurde (vgl. VV 45‒96), wird spätestens hier erkennbar als Ausdifferenzierung eines virtuellen, musikalischen Raumes, der als usus allgemein rezipierbar und kommunizierbar ist, der als ars aber kommunikativ auf die edlen Herzen beschränkt ist.197 Signifikant ist im Vergleich mit der Verwendung des musikalischen Raumes in den bislang behandelten Texten (und hierin liegt die schon oft beschriebene Eigenheit des Tristanromans, auch in musikalischer Hinsicht), dass dieser virtuelle Raum der edlen Herzen, der ars Musik, mit Leid affiziert ist – eine gebrochene Idealität des Hofes, die sich auch im Bild der Sirene niederschlägt.198 194 Vgl. auch Schlechtweg-Jahn 2010, S. 88, Anm. 68: Der (wunderschöne und damit wohlproportionierte) Körper Isoldes ist Teil der Musik. Schon W. T. H. Jackson hat diese Zweiteilung der Rezeption Isoldes herausgearbeitet: „Der offensichtlich gewaltige Eindruck erfolgt durch den Klang der Musik, die geheime Wirkung dagegen liegt in Isoldens Anwesenheit selbst. Der erste Eindruck trifft die Sinne, der zweite das Denken“ (Jackson 1973, S. 296). Der Text koppelt jedoch auch den Bereich des Denkens an eine ästhetische Größe – sehen – rück: Sowohl die öffentliche als auch die geheime Wirkung von Isolde ist Musik, unterscheidbar am besten in usus und ars. 195 Wie schon zuvor bei Tristan, vgl. Sziráki 2003, S. 490f. Doch gegen Sziráki geht es hier nicht um Synästhesie (vgl. ebd., S. 491, Anm. 859, und S. 502), sondern um zwei getrennte Wahrnehmungsmuster, von denen der optische Weg die Musik als ars erkennbar macht und von der hörbaren Musik des usus trennt; diese trennende Potenz der Musik übersieht Sziráki. 196 Schlechtweg-Jahn arbeitet eine ähnliche Dialektik der Musik in Bezug auf Tristan heraus, wie sie hier in der Form von zwei virtuellen Räumen dargestellt wurde: „Zusammenfassend kann man also sagen, dass Musik – nicht nur, aber wesentlich – Tristans Integration am Markehof bewirkt, zugleich jedoch auch seine herausgehobene Stellung markiert und ihn von den anderen isoliert“ (Schlechtweg-Jahn 2010, S. 90). Im musikalischen Raum des usus ist der gesamte Hof inkludiert, was Tristan integriert, im musikalischen Raum der ars aber sind lediglich die edelen herzen inkludiert, was Tristan als edeles herze aus dem gesamten Markehof exkludiert. 197 Damit entpuppt sich diese Szene als für den Roman durchaus zentral, wenngleich diese Schaustellung von Kunstfertigkeit ausnahmsweise „keine entscheidende Wende im weiteren Verlauf der Geschehnisse herbeiführt“ (Briški 1996, S. 16). 198 Dieses Bild der Sirene darf allerdings nicht überbewertet werden als moralische Kritik an Isolde (gegen die Tendenz, die bei Okken 1996, S. 277‒287 und 373‒377, anklingt): Die Ausdeu-
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Der Raum der edlen Herzen, der virtuelle Raum im virtuellen Raum, wird nun immer wieder im Romangeschehen aufgemacht, im Vergleich mit dieser zentralen Szene aber mit viel beschränkterer Kommunikationszugänglichkeit – bei Isoldes musikalischen Auftritten am Hof ihres Vaters scheint die Zahl der anwesenden edlen Herzen nicht allzu gering zu sein. Besonders zwei markante Textstellen bauen den exklusiven Raum der edlen Herzen noch mit musikalischen Mitteln auf und führen seine Möglichkeiten in unterschiedliche Extreme: Zum einen Petitcreü, dessen Glöckchen einen Raum aufbaut, dessen Kommunikationszugänglichkeit eigentlich auf Isolde beschränkt ist und der damit zum imaginären Raum wird, und zum anderen die Minnegrotte, deren Kommunikationszugänglichkeit zunächst auf Tristan und Isolde beschränkt ist, sich aber auch unversehens auf den Erzählraum ausdehnt. Tristan trennt sich nach dem Gottesurteil vom Markehof und von Isolde und reist an den Hof Herzog Gilans. Dieser lässt dem trauernden Tristan den Wunderhund Petitcreü bringen, der optisch durch sein wunderfarbiges Fell und akustisch durch eine Glocke bestimmt ist, die er um den Hals trägt: im gienc umbe sîn cregelîn ein ketene, diu was guldîn. dar an sô hienc ein schelle sô süeze und sô helle, dô ez sich rüeren began, der trûraere Tristan daz er sîner âventiure an sorge unde an triure ledic und âne gesaz unde des leides gâr vergaz, daz in durch Isôte twanc. sô süeze was der schellen clanc, daz si nieman gehôrte, sine benaeme im und zestôrte sîne sorge und al sîn ungemach. Tristan der hôrte unde sach daz wunderlîche wunder an. hunt unde schellen er began
Um seinen Hals ging ihm eine Kette, die war aus Gold. Daran hing ein Glöckchen, das so lieblich und klar klang, als es läutete, dass der traurige Tristan in Bezug auf sein Schicksal sorglos und ohne Trauer frei dasaß und seinen Schmerz vollkommen vergaß, der ihn wegen Isolde erdrückt hatte. Der Klang des Glöckchens war so lieblich, dass es jedem, der es hörte, all seine Sorgen und Nöte vollständig ausmerzt. Tristan hörte und sah das bewunderungswürdige Mirakel an. Hündchen und Glöckchen
tung bei Gottfried legt das Augenmerk ganz auf das Schiff des Bildes, nicht aber auf Isolde als Sirene, vgl. VV 8094‒8105. Freilich bleibt der Aspekt des Unterganges auch bei dieser Schwerpunktsetzung erhalten, so dass an dem Text sehr wohl eine Kritisierung der zentripetalen Kraft des usus Musik festgemacht werden kann. Die Bestimmung des Hofraumes durch den Einzelnen ist für den Tristanroman keine positive Vorstellung, wie sich etwa auch an der Kritik der Höflinge Markes an Tristan erkennen lässt – eine Kritik, die mit dem mittlerweile moralisch disqualifizierten Begriff des Neides nur unzureichend erfasst werden kann.
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bemerken unde betrahten, ietwederz sunder ahten, den hunt und sîne vremede hût, die schellen unde ir süezen lût. (VV 15845‒15866)
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untersuchte und betrachtete er, jedes für sich, den Hund und sein ungewöhnliches Fell, das Glöckchen und ihr liebliches Tönen.
Das Glöckchen Petitcreüs erinnert von seiner Form199 – vor allem aber wegen seines absolut harmonischen Klangs und seiner Wirkung – stark an das Realsymbol der ars Musik schlechthin: Die Glocke ist der mythische Klangkörper des Pythagoras, der anhand ihres Klanges basale Harmonieverhältnisse untersucht haben soll. Auf zahllosen Illustrationen des Mittelalters wird Pythagoras oder zumindest ein Musikschüler zusammen mit einer Reihe von Glöckchen abgebildet, die die Verhältnisse der musikalischen Harmonie repräsentieren.200 Den reinen Klang des Glöckchens stört der Hund auch nicht durch andere Geräusche, worauf der Text deutlich hinweist.201 Auch optisch bietet Petitcreü ein Bild der Harmonie, trägt er doch alle Farben gleichzeitig, die zusammen „ein mixtûre / 199 Schellen existieren im Mittelalter in zwei Formen, als Miniaturglocke in Glockenform und als Gefäßrassel (vgl. Eitschberger 1999, S. 133). Eitschberger führt zwar aus, dass die Gefäßrassel wohl die weitaus häufigere Form darstellt, betont aber, dass in den literarischen Belegstellen, die der Schelle melodischen Klang zusprechen, wahrscheinlich ein Instrument in Glockenform bezeichnet wurde: „Möglicherweise handelt es sich in solchen Fällen um Glöckchen mit einer präzisen Tonhöhe […]. Besonders die schelle des Hündchens Petitcreiu (TrG 15849 ff.) zeigt eine stark musikalische Komponente, die in ihrer Wirkung Tristans Harfenspiel in nichts nachsteht“ (ebd., S. 135). 200 Vgl. dazu mit zahlreichen Bildbeispielen Waesberghe (o. J.). 201 Vgl. VV 15886f. Aaron Wright macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass nach Isidor von Sevilla das Bellen zur Natur des Hundes gehört (vgl. Wright 1992, S. 114), so dass der Verweis auf die Lautlosigkeit des Tieres im Text umso gewichtiger ist. Schon zuvor erzählt der Tristanstoff von einem lautlosen Hund, wie Herbert Kolb in einer vergleichenden Lektüre herausarbeitet: Bei Berol wird detailliert von Tristans Abrichtung seines Hundes Husdent erzählt, dem er das Bellen auf der Jagd gegen seine Natur abgewöhnt (vgl. Kolb 1979, S. 176f.); bei Gottfried ist der Hund (unter dem Namen Hiudan) bei der Grottenepisode mit dabei, und Tristan lehrt ihm hier die lautlose Jagd: „in haete Tristan aber dô / gelêret harte schiere / nâch dem hirze und nâch dem tiere, / nâch aller slahte wilde / durch walt und durch gevilde / ze wunsche loufen ûf der vart, / sô daz er niemer lût wart“ (VV 17254‒17260; „Sehr bald lehrte ihm Tristan dort, wie er hinter Hirschen und anderen Tieren, also nach allen Arten von Wild, durch Wald und Feld wunschgemäß nachhetzen konnte auf der Jagd, und zwar so, dass er niemals Laut gab“). Kolb wertet diese veränderte Aufnahme des alten Erzählzuges dahingehend, dass „der Erzähler […] keine rechte Verwendung mehr für den Hund“ habe (ebd., S. 180); ich denke dagegen, dass auch der artistisch stumme Hund (Kolb arbeitet die Bedeutung der ars venandi heraus, die Tristan hier anwendet) der Grottenepisode gezielt eingesetzt wird: Auch hier verweist der Erzähler dezidiert darauf (wie auch bei Petitcreü), dass der Raum der musikalischen Harmonie nicht durch Hundegebell gestört wird. Zum musikalischen Raum der Minnegrotte vgl. u.
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gemischet alsô schône in ein“ (VV 15830f.; „eine Vielfalt, vollkommen vermischt zu einer Einheit“) ergeben. Der Hund repräsentiert damit eine umfassende Harmonie, die vollständig zu erkennen die menschliche Weisheit offenbar übersteigt (vgl. VV 15838‒15841) – analog zu den Grenzen menschlicher Erkenntnis in Bezug auf die Sphärenharmonie der ars (s. o. 3.1.3). Petitcreü ist Zentrum eines musikalischen Raumes vollständiger Harmonie, der Leid absolut exkludiert; seine Reinheit hat allerdings einen Preis, der sich systemisch aus dem imaginären Modus des musikalischen Weltenraumes der ars erklären kann: Petitcreüs Harmonie kann stets nur Raum für einen einzigen Menschen gleichzeitig bieten, seine Kommunikationszugänglichkeit ist absolut beschränkt und macht ihn zu einem imaginären Raum. Weder bei Tristan noch später bei Isolde wird geschildert, dass mehr als ein Rezipient zur gleichen Zeit den Hund hört und sieht, selbst als Isolde den Hund auch öffentlich mit sich führt (vgl. VV 16344‒16367) – ein markanter Befund, bedenkt man die dezidiert kollektive Rezeption von Musik, die den Roman bislang bestimmt hat.202 Dieser imaginäre musikalische Raum absoluter Harmonie (die sich auch in der jeweiligen Einzahl der möglichen Inkludierten widerspiegelt) ist höchst fragil, streng von der Anwesenheit des Hundes abhängig und bricht sofort in sich zusammen, wird dieser entfernt: Nu daz ez dannen wart getragen, Tristandes trûren und sîn clagen daz was aber vrisch als ê (VV 15891‒15893)
Als der Hund weggetragen worden war, wurde Tristans Trauern und Klagen so stark wie zuvor.
Tristan kann das Hündchen von seinem Gastgeber gewinnen und sendet es signifikanterweise durch einen „spilman / gevüegen unde wîsen“ (VV 16272f.; „kunstfertigen und gebildeten Spielmann“) zu Isolde, durch einen spilman also, der für eine intellektuelle Unterweisung in der ars der Musik anschlussfähig ist. Tristan unterrichtet ihn auch im weiteren Verlauf, wie er das Hündchen zu Isolde bringen kann (vgl. VV 16274‒16278) – und diese Sendung ist in der Tat ein musikräumliches Kabinettstück, denn Tristan verbirgt das Hündchen in dem Instrument des spilman:
202 Freilich zeigt der Text auch des Öfteren, dass das Hündlein verborgen wird. Auch das Personal des Textes sorgt also dafür, dass der musikalische Raum um Petitcreü exklusiv bleibt. Doch handelt es sich nicht einfach um einen verborgenen Raum, sondern um einen imaginären Raum, wie die absolute Exklusivität gerade seiner akustischen Dimension belegt, die ansonsten im Tristanroman durchweg für eine Kommunikationszugänglichkeit all derjenigen sorgt, die in Hörweite sind: Petitcreüs Glöckchen wird stets nur von einem einzigen Rezipienten wahrgenommen, auch wenn Isolde sich in der Öffentlichkeit befindet.
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er verband ez dem Gâlotten wîslîche in sîner rotten. (VV 16279f.)
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Er verbarg es dem Waliser weise in seiner Rotte.
Diese Stelle ist in ihren Lesarten durchaus strittig und stellt in der Tat auch ein Verständnisproblem dar: Auf welche Art und Weise sollte der Vorgang des Verbergens des Hundes im Klangkörper eines Instrumentes verstanden werden? Aaron E. Wright fasst den handschriftlichen Befund zusammen: In fact, the banal verb – verbandez, ‘concealed it’ – so plainly preferred by the editors is found in only a third of the eleven manuscripts that preserve these lines. Fully seven of them offer, on the contrary, verlimdez, ‘pasted it’, which, as both majority reading and lectio difficilior, clearly deserves less summary treatment than it has hitherto been granted.203
Wright versteht den Sinn der (nach seiner Lesart verderbten) Lesart „verbandez“ darin, dass mit der Rotte in dieser Textstelle kein wirkliches Instrument, sondern ein getarnter Transportbehälter für den Hund gemeint sei;204 die eigentliche, ursprüngliche Bedeutung der Stelle mit der Lesart „verlimdez“ aber orientiere sich an der Irrealität des ‚Hundes‘ Petitcreü: Dieser sei durch den Aspekt der Farbe und das Verb „limen“ genauso bestimmt wie Gottfrieds Dichtungssprache: Thus the same qualities that make Petitcreiu so remarkable are those Gottfried praises most highly in literary works. Gottfried’s great predecessors are to be admired for the ‘color’ of their compositions; […] they are mixed and blended in a process much like that Gottfried describes for the manufacture of Petitcreiu. Like the strange ‘dog’, worthwhile poems are created as if by magic (4699‒4704), and their rhymes are generated by a procedure Gottfried calls limen (4716), an early step, it will be recalled, in Petitcreiu’s journey to Cornwall.205
Wright schließt daraus, dass Petitcreü ein Lied ist, das Tristan in Form einer Pergamentschrift in der Rotte verbirgt und so an Isolde sendet: Not even the most tractable hound would suffer itself to be glued into a viol, but pasting is no more and no less than the expected technique for secreting a leaf of parchment inside a hollow wooden body.206
Der Ansatz Wrights ist durchaus spannend, kann jedoch gerade bei der Deutung des Verbs „limen“ nicht überzeugen: In Bezug auf die Dichtersprache bezeichnet es die Verbindung von Reimen, also Einheiten dieser Sprache, in Bezug auf 203 Wright 1992, S. 112. 204 Vgl. Wright 1992, S. 113. 205 Wright 1992, S. 115. 206 Wright 1992, S. 116.
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den Hund bezeichnet es jedoch den Vorgang des Einschließens, nicht aber die Verbindung der Elemente des Hundes. Wright begreift den Hund meines Erachtens zu normalräumlich, selbst bei der Lesart als Lied, das er als auf Pergament geschriebene Notation oder Schrift versteht, die in das Instrument verleimt wird. Tristan verbirgt den Hund wîslîchen im Instrument, eine Näherbestimmung, die auf seine artistische Bildung verweist – im Zusammenhang mit dem die musikalische Harmonie verkörpernden Hund und der Rotte auf seine musikalische Meisterschaft. Ob „limen“ oder „binden“, Tristan kombiniert Petitcreü mit der Rotte, was im virtuellen Raum der geordneten, harmonischen Musik auch kein Problem darstellt. Petitcreü ist im virtuellen Raum der Musik aufgehoben und kann deswegen mit dem Instrument transportiert werden. Die beiden Lesarten setzen bei der Beschreibung dieses hochabstrakten Vorgangs jeweils an einer normalräumlichen Seite an: „limen“ setzt beim Instrument an, das normalerweise zur Fixierung verleimt wird, „binden“ setzt beim Hund an, der normalerweise zur Fixierung festgebunden wird. Der solchermaßen im virtuellen Raum der Musik transportierte Hund kommt zu Isolde, die es so einrichtet, dass Petitcreü immer vor ihren Augen ist, eine optische Rezeption, die der Text gleich dreimal auf engen Raum betont (Vgl. VV 16345‒16351). Isolde nutzt damit auch den Kanal, der in ihrer Ausbildungsphase dezidiert mit dem virtuellen Raum der edlen Herzen verknüpft wurde und der sich der musikalischen ars bedient. Auch bei ihr kann sich ein musikalischer Raum durch das Glöckchen Petitcreüs aufbauen, und auch bei ihr wird dieser Raum als imaginärer Raum bestimmt: Der Text legt auch hier großen Wert darauf, dass immer nur Isolde als Rezipient des Hundes geschildert wird, auch wenn er „offenlîchen unde tougen“ (V 16345; „öffentlich und heimlich“) vor ihren Augen ist; es befinden sich zwar viele höfische Menschen im normalen Raum Hof, doch im imaginären Raum ist Isolde alleine.207 Die Grundlage für diese Trennung gibt die Unterscheidung ab, die bei den Auftritten Isoldes differenziert wurde: Nur die edlen Herzen können Musik auch über das Auge und nicht nur über das Ohr wahrnehmen, und nur sie sind damit Kommunikanten eines musikalischen 207 Silke Philipowski irrt hier, wenn sie schreibt, dass der Hund „seine Zauberkraft bei Isolde nicht entfalten“ kann (Philipowski 1998, S. 29). Der Text schreibt deutlich, dass auch Isolde zwischenzeitig ihre Trauer vergisst, solange sie die schellen vernimmt (VV 16362f.). Dass bei Isolde der imaginäre musikalische Raum sehr kurzfristig existiert, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass er existiert. Die Interpretation Philipowskis, dass der Hund Isolde eher von Tristan trennt, ist dagegen richtig: „Der Zauberhund symbolisiert für sie nicht die Nähe zu ihm, sondern die schmerzhafte Trennung, die Unerreichbarkeit Tristans, nicht seine Person, sondern seine Abwesenheit“ (ebd., S. 30). Das liegt daran, dass der musikalische Raum nur imaginär ist und nicht virtuell – im Unterschied etwa zu dem Klangraum des Horns Rolands hat er nur einen Kommunikanten.
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Raumes der ars. Hier ist Isolde offensichtlich das einzige edle Herz im erzählten Raum, so dass sie – wie zuvor Tristan – einen imaginären Raum kommuniziert. Im Unterschied zu dem tatsächlich virtuellen Raum, der sich für die edlen Herzen bei Isoldes Auftritten hatte aufbauen können, ist dieser imaginäre Raum der ungestörten Harmonie aber komplett frei von Leid. Er exkludiert als imaginärer Raum jeden Zweiten, damit auch selbst den Gedanken an den Minnepartner; der dauerhafte Aufenthalt im absolut harmonischen, leidfreien imaginären Raum Petitcreüs würde Tristan dauerhaft exkludieren – Isolde entscheidet sich, das Glöckchen abzureißen und damit den imaginären Raum zu verlassen.208 Der musikalische Raum Petitcreüs bietet zwar einen perfekt harmonischen Raum, der (im Unterschied zum virtuellen Raum der Musik Isoldes) jede Trauer exkludiert, doch kennzeichnet ihn der Text durchweg als imaginären Raum mit jeweils nur einem einzigen Bewohner (im Unterschied etwa zum virtuellen Klangraum von Rolands Horn, der auch normalräumlich getrennte Personen zusammenbringen kann) – und ein Leben in einem auch leidfreien imaginären Raum ist für den Text offensichtlich keine Lösung, so dass er diese Möglichkeit dauerhaft (und damit auch für das implizierte Publikum) ausmerzt, was auffällig betont wird: hie verlôs ouch diu schelle van al ir reht und al ir craft. sine was nie mêre lûthaft reht in ir tugende als ê. man saget, daz sî niemer mê erlaschte noch zerstôrte, swie vil man sî gehôrte, dekeines herzen swaere. (VV 16390‒16397)
Von da an verlor das Glöckchen all sein Vermögen und seine ganze Kraft. Es läutete niemals wieder genauso perfekt wie zuvor. Man erzählt sich, dass es niemals wieder irgend ein Herzensleid löschte oder erstickte, wie oft man sie auch noch hörte.
Der Text macht hier deutlich, dass das Glöckchen selbst nicht etwa zerstört wird: Durch das Abreißen des Glöckchens von der Kette zerstört Isolde das harmonische Gesamtkonzept des Hundes, so dass die Glocke zwar weiter klingen kann, doch dieser Klang – der an keiner Stelle als akustisch beeinträchtigt geschildert wird – seine harmonische Kraft nicht mehr entfalten kann. Der Tristanroman bietet jedoch wenig später zumindest einen virtuellen Raum, der edle Herzen inkludiert und den normalen Hof exkludiert – und um den keine Untersuchung zum Raum im Tristanroman herumkommt: die Minnegrotte. Deutlich ist der Raum der Minnegrotte als markierter Raum gekennzeichnet: Zwei Tagesreisen durch Wildnis und ein Wald trennen „der minnenden hol“ (V 16701; 208 Vgl. VV 16359‒16366 und 16388‒16391.
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Virtueller Raum im Hochmittelalter
„die Minnegrotte“) rigoros vom normalen höfischen Raum ab.209 Der Raum der Minnegrotte erweist sich durch seine strikt beschränkte Kommunikationszugänglichkeit auf zwei Kommunikationspartner der erzählten Welt (die zugleich Minnepartner sind) als virtueller Raum, der zudem umfassend musikalisch bestimmt ist: [Gottfried] nimmt an der Gestaltung des Raumes und der Tätigkeit des Paares besonders akustisch teil: nicht nur das Paar hört zu (loseten), sondern auch der Erzähler. Er macht seine Beschreibungen so zu einem Klangerlebnis für die Rezipienten, die ebenfalls gezwungen werden, die Landschaftsschilderungen sozusagen mit einem sehenden Ohr in sich aufzunehmen.210
Der Raum der Minnegrotte wird akustisch und harmonisch bestimmt und bedient so von Anfang an sowohl usus als auch ars der Musik: ouch vant man dâ ze sîner zît daz schoene vogelgedoene. daz gedoene was sô schoene und schoener dâ dan anderswâ. ouge und ôre haeten dâ weide unde wunne beide. daz ouge sîne weide, daz ôre sîne wunne. (VV 16750‒16757)
Auch konnte man dort seinerzeit den herrlichen Vogelklang wahrnehmen. Der Klang war so herrlich und herrlicher noch dort als woanders. Auge und Ohr hatten da sowohl Speise als auch Lust. Das Auge hatte seine Speise, das Ohr seine Lust.
Mit der musikalischen Rezeption durch ouge und ôre ist die Differenzierung in Bezug auf ars und usus aufgegriffen, die schon die Rezeption der Musik Isoldes prägte (die durch Klang hörbare Musik des usus gelangt durch die Ohren, die durch Proportionen sichtbare Musik der ars gelangt durch die Augen in den Rezipienten). Die Minnegrotte bestimmt solchermaßen ihre Bewohner als edle 209 Wenzel 1986 arbeitet die dialektische Verbindung der Antithesen Wald und Hof intertextuell heraus. Vgl. auch ausführlich Kolerus 2006, S. 83‒204. Problematisch erscheint mir hier jedoch die Konzeption eines „seelischen Innenraumes“, der für die Minnegrotte Pate gestanden habe. Der Raum der Minnegrotte ist genauso konkreter Handlungsraum wie etwa der Hof Markes, seine Besonderheit ist mit dem Virtualitätsbegriff besser zu fassen, der auf die Exklusivität der möglichen Handelnden verweist. Herbert Kolb hat bereits 1962 darauf hingewiesen, dass im Gegensatz zur französischen Vorlage der Raum der Minnegrotte bei Gottfried aus physischem Material zusammengesetzt geschildert und erst in einem zweiten Schritt allegorisch ausgedeutet werde: „Er beschreibt die stofflichen Elemente der Grotte, ohne zunächst ahnen zu lassen, daß es ihm mit ihrer Materialität nicht genug sein wird“ (Kolb 1973, S. 316). Der Charakter der Minnegrotte Gottfrieds auch als Handlungsraum droht bei Kolerus verloren zu gehen, der die Minnegrotte allzu schnell als bloß metaphorischen Raum versteht. 210 Sziráki 2003, S. 506, die im Folgenden die musikalische Qualität vor allem der sprachlichformalen Präsentation der Minnegrotte herausarbeitet.
Musik und virtueller Raum
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Herzen: Die Rezeption der Musik über Auge und Ohr durchzieht die gesamte Episode,211 „und so breitet sich das Reich der Minne ungestört im Raume aus“.212 Die Beschreibung der harmonischen Qualität des Raumes, der zunächst nur sporadisch geschildert wird, fängt mit seinen beiden einzigen Bewohnern an, mit Tristan und Isolde: si haeten eine gerade schar: dane was niuwan ein und ein. haeten s’ieman zuo z’in zwein an die geraden schar gelesen, sô waere ir ungerade gewesen und waeren mit dem ungeraden sêre überlestet und überladen. ir zweier geselleschaft diu was in zwein sô herehaft, daz der saelige Artûs nie in dekeinem sînem hûs sô grôze hôhgezît gewan, dâ mêre ir lîbe lustes van und wunne waere enstanden. (VV 16852‒16865)
Sie waren eine geradzahlige Gesellschaft: Dort war niemand als eins und eins. Hätten sie irgendjemanden zu ihnen zweien, zur geradzahligen Gesellschaft, dazugenommen, dann wäre sie ungerade geworden und sie wären mit dem Ungeraden äußerst überlastet und überladen gewesen. Ihre Zweiergesellschaft schien ihnen beiden wie ein ganzes Heer, so dass der glückliche König Artus niemals, in keiner seiner Burgen, ein derartig riesiges Fest abhielt, an dem sie mehr Vergnügen und Lust empfunden hätten.
Die Kommunikationszugänglichkeit der Minnegrotte ist ganz von der Minne bestimmt und begrenzt die gleichzeitig213 Anwesenden auf zwei Personen, eben das Minnepaar. Der Text stellt jedoch zugleich klar, dass trotz dieser radikalen Beschränkung die Inkludierten keine Gesellschaft vermissen, sondern sich selbst im Wortsinne genug sind: Sie sind im Verhältnis eins zu eins, musikalisch formuliert: im Verhältnis einer Prime, des Gleichklangs, der idealen Harmonie, die durch jede
211 Vgl. VV 16885‒16890; 17096‒17098. 212 Hahn 1963, S. 140. Hahn führt aus, dass erst hier die Liebe zwischen Tristan und Isolde bei Tage stattfindet, so dass ein tatsächlich auch alle Tageszeiten umfassender Minneraum entsteht. Vgl. dazu auch Wenzel 1988, S. 348‒350. 213 Wie im Theoriekapitel ausgeführt, sind sowohl imaginäre als auch virtuelle Räume in ihrer Existenz zeitgebunden und auf die Dauer der Kommunikation beschränkt, die sie erzeugt. In diesem Sinne sind in dem virtuellen Raum Minnegrotte während einer Periode seiner Existenz höchstens zwei Kommunikanten anwesend, ungeachtet der Tatsache, dass auch schon andere Personen diesen virtuellen Raum allein oder zu zweit betreten haben (was noch ausgeführt werden soll). Durchaus vergleichbar ist diese Exklusivität des virtuellen Raumes mit einem Privatchat, der ebenfalls nur jeweils höchstens zwei Kommunikanten in einem Chatroom erlaubt, jedoch – etwa unter gleicher Topik – immer wieder und von unterschiedlichen Personen erzeugt und besucht werden kann.
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Virtueller Raum im Hochmittelalter
Hinzufügung von Kommunikationspartnern nur an Harmonie verlieren würde.214 Nach dieser harmonischen Initialisierung des Raumes über seine Kommunikanten deutet Gottfried den gesamten Raum akribisch im allegorischen Sinn aus, so dass ein differenzierter Minneraum aufgebaut wird.215 Auch dieser Raum ist durch sein Zentrum bestimmt, weniger durch seine Grenzen:216 Im Zentrum der Grotte steht das Minnebett (vgl. V 16977), so dass das Minnepaar in seinem idealen Verhältnis von 1:1 dauerhaft als Zentrum des Raumes repräsentiert wird. Dadurch bleiben die Minnenden beweglich, bilden aber zugleich immer statisch die Grundlage eines um sie aufgebauten Minneraumes. Die Wände der Grotte bilden eine runde Kuppel (vgl. VV 16928‒16932), die mehrmals mit dem Begriff „einvalte“ bezeichnet wird und darüber als Sinnbild der ebenfalls „einvalten“ Minne allegorisiert wird: einvalte zimet der minne wol, diu âne winkel wesen sol. (VV 16933f.)
Einfachheit schickt sich für die Minne, die ohne Winkel sein soll.
Diese Allegorisierung ist kein Plädoyer für Ehrlichkeit und Reinheit der Liebe,217 sondern greift exakt die zahlenmäßige Bestimmung der musikalischen Harmonie des Raumes auf: Das Verhältnis der Minnenden muss ein-fach sein, also in der Bestimmung 1:1, wie sie zu Beginn an Tristan und Isolde festgemacht wurde. Die sich daraus in der Summe ergebende Zahl 2 muss gerade sein, nicht ungerade – eben ohne Winkel. Die Kuppelarchitektonik spiegelt diese Forderung wider: zwei beliebige Punkte auf der Kuppel sind stets in Bezug auf das zentrale Minnebett im Verhältnis 1:1, es kann kein anderes harmonisches Verhältnis in diesem Kuppelbau erkannt werden.218 214 Das deutet bereits Vlastimil Vrablik an, der allerdings nur den Aspekt heraushebt, „daß die Liebenden eine gerade Zahl bilden“. Der psychologischen Ausdeutung Vrabliks folge ich nicht, die die Schilderung der Minnegrotte letztlich auf die Erfahrung des Autors zurückführt (Vrablik 1989, S. 185). Stattdessen entwirft Gottfried hier einen virtuellen Raum der Harmonie in Rückgriff auf kollektiv nachvollziehbare Erfahrungswerte. 215 Vgl. dazu grundsätzlich Tomasek 2007, S. 155‒160, mit Zusammenfassung der einschlägigen Forschung zur Grottenallegorese. 216 Zwar werden die Wände und auch das Schloss der Minnegrotte beschrieben, doch bewegt sich das Minnepaar auch außerhalb dieser Grenzen, ohne dabei ihren virtuellen Minneraum zu verlassen. Dieser Raum ist durch sein Zentrum bestimmt, nicht durch seine Wände. Katrin Dennerlein spricht in diesem Zusammenhang von Objektsregion (vgl. Dennerlein 2009, S. 122‒127), d. h. „derjenige räumliche Bereich, den die typischen Interaktionen mit einem Objekt kennzeichnen“ (ebd., S. 124). Im vorliegenden Fall ist das Minnebett das Objektzentrum eines Raumes, der gänzlich von der Interaktion Minne bestimmt ist. Er kann sich damit – anders als die bei Dennerlein exemplarisch aufgeführten Objekträume – sehr weit von seinem Zentrum ausdehnen. 217 Vgl. Tomasek 2007, S. 155. 218 Die aus der runden Kuppel resultierende Harmonie deutet auch Pincikowski 2008, S. 224, an.
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Alle Aktionen und Kommunikationen der Bewohner des Minneraumes sind musikalisch bestimmt. Tristan und Isolde halten den exklusiven virtuellen Raum durch musikalische Kommunikation aufrecht, wobei Isolde umfassend das anwenden kann, was sie bei Tristan gelernt hat: Sie hören dem Raumklang zu (VV 17155ff.), erzählen sich Geschichten (VV 17183ff.) und machen Musik im Sinne des usus (VV 17205ff.). Interessant ist der Inhalt der Geschichten, die als höfische Erzählungen in eben der formalen Gestalt vorzustellen sind, in der der Tristanroman selbst gefasst ist: Sie handeln ausschließlich von Minnepaaren, die „von sene verdorben wâren“ (V 17186; „die an Minneleid gestorben waren“), von Phyllis und Kanake, Byblis und Dido. Das Erzählen und gleichzeitige Hören dieser Geschichten bringen mittelbar das Leid in den Minneraum, das den Raum der edlen Herzen im gesamten Roman auszeichnet. Dies ist ein im Vergleich signifikanter Befund: Anders als der nur imaginäre Raum um Petitcreü inkludiert dieser Raum auch Minneleiden, doch dieses Minneleiden ist ausschließlich erzähltes Leiden; der erzählte Raum wird in der Minnegrotte zugleich zum Erzählraum,219 in dem Tristan und Isolde – wie zugleich auch das implizierte Publikum in dem Erzählraum, den der Erzähler aufbaut – Geschichten von Minneleiden rezipieren und – in der bleibenden fiktionalen Distanz als Publikum – mitleiden: si beredeten unde besageten, si betrûreten unde beclageten, daz Villîse von Trâze, daz der arme Canâze in der minnen namen geschach. (VV 17187‒17191)
Sie erzählten sich gegenseitig und beurteilten, sie betrauerten und beklagten, was Phyllis von Thrakien, was der armen Kanake im Namen der Minne geschehen war.
Die Öffnung des virtuellen, musikalischen Raumes zum Erzählraum wird bereits vorher vorbereitet: Während hier die Anschlussstelle der Korrespondenz zwischen Erzählraum und erzähltem Raum in letzteren platziert wird, setzt der Erzähler bereits vorher eine Anschlussstelle im Erzählraum, wenn er berichtet, selbst bereits in der Minnegrotte gewesen zu sein und alle ihre Einrichtungen aus eigener Erfahrung – allerdings allein, ohne Minnedame (vgl. VV 17100‒17138) – zu kennen: ich hân die fossiure erkant sît mînen eilif jâren ie und enkam ze Curnevâle nie. (VV 17136‒17138)
Ich kenne die Grotte durchgehend seit meinem elften Lebensjahr, und kam doch nie nach Cornwall.
219 „Der Lektürevorgang wird im Roman auf der Figurenebene gespiegelt, indem die edelen herzen Tristan und Isolde in der Grotte genau die reflektierende Literaturrezeption umsetzen, die Gottfried im Prolog von seinem Publikum fordert, und erneut begegnet wie in Isoldes Unterricht die Musik als weiterer Schwerpunkt neben der Buchlektüre“ (Linden 2009, S. 127).
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Virtueller Raum im Hochmittelalter
Gottfried trennt mit dieser Erzählerrede den virtuellen Raum der Minnegrotte dezidiert vom normalen Raum ab, indem er die Paradoxie betont, dass er auch außerhalb Cornwalls Zugang zur Minnegrotte hatte. Die Altersbenennung von elf Jahren ist kein biographisches Geständnis, sondern eine zahlenallegorische Widerspiegelung des 1:1-Verhältnisses, das die Kommunikationszugänglichkeit zur Minnegrotte gewährt. Der Erzähler mindert hier etwas die Spannung, die daraus resultiert, dass er allein, nicht zu zweit, in der Minnegrotte war. Effekt ist, dass der virtuelle Raum der Minnegrotte zwar seine Kommunikationszugänglichkeit einerseits extrem beschränkt (auf zeitgleich höchstens zwei Insassen), andererseits aber (und im eklatanten Unterschied zum imaginären Raum Petitcreüs) für alle edlen Herzen aus den Reihen der Rezipienten öffnet: Es gibt, neben dem eigenen Erleben, einen zweiten Zugang zur Minnegrotte durch die produktive – und rezeptive – Teilhabe an der literarischen Kommunikation, durch die ästhetische Erfahrung. Als Erzähler war er in Tristans und Isoldes Innenweltgrotte, und wir mit ihm. Nur die Dichtung kann, was sonst allein die Liebe vermag; als Erzähler – und als Rezipient – der Liebesgeschichte sind wir Liebende.220
Diese Erweiterung der Kommunikationszugänglichkeit des virtuellen Raumes wird auch innerhalb des erzählten Raumes angedeutet: Obwohl einerseits die Minnegrotte radikal vom normalen Hofraum abgetrennt ist, präsentiert der Roman mit Kurneval eine Figur, die sich zwischen dem normalen Hofraum und dem virtuellen Minneraum bewegen kann (nicht aber in ihm).221 Das Bekenntnis des Erzählers, selbst im Minneraum gewesen zu sein, das Erzählen trauriger Minnegeschichten durch Tristan und Isolde und die Rolle des wegkundigen Kurnevals sind drei Aspekte des virtuellen, musikalischen Minneraumes, die zusammen einem allzu rigiden Verständnis seiner exklusiven Kommunikationszugänglichkeit entgegen stehen: Dieser Raum inkludiert potenziell alle edlen Herzen, doch er beschränkt seine gleichzeitig anwesenden Insassen auf die Zweiheit eines Minnepaares oder aber auf die Einsamkeit eines Abgewiesenen. Mit der Jagd des Minnepaares im die Grotte umgebenden Wald erweitert sich der virtuelle Minneraum über die eigentliche Minnegrotte und deren unmittelbare Umgebung hinaus.222 Die Jagd, die einerseits im übertragenen Sinn Minnemeta220 Hübner 2003, S. 364. 221 „Kurneval ist hier ganz auf die Funktion eines Scout zurückgeschnitten: Er weiß später den Weg aus der Minnegrotte zum Hof Markes zurück und kann, wiederum später, Markes Rückkehrbotschaft in die Grotte überbringen“ (Röll 2000, S. 199). 222 Der Raum der Minnegrotte ist damit ein Paradebeispiel für einen mittelalterlichen Raum, der weniger von außen begrenzt, als vielmehr von seinem Zentrum aus bestimmt ist (s. o. Kap. 2.1, d.): dem Bett in der Mitte der Minnegrotte. Es würde aber sehr schwer fallen, die äußeren Grenzen fest zu machen.
Musik und virtueller Raum
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pher ist, andererseits im buchstäblichen Sinn normale höfische Beschäftigung,223 bietet die Grundlage dafür, dass der virtuelle Minneraum mit dem normalen Hofraum interferieren kann: [Tristan und Isolde] reiten – wie Gottfried hervorhebt – ouch zeteslichen tagen zur Jagd auf Hirsch und Hinde durch walt und durch gevilde und erreichen damit die äußerste Zone der dreifach gegliederten Topographie der Grotte. Die Jagd aus kurzewile (vgl. 17264) und durch ir herzen gelust (17268) öffnet so gleichsam den Weg von der Grotteneinsamkeit zum Wald bi Tintajel. Dieses gewiß bewußt gestaltete und der Schilderung des Auszugs vom Hofe gegenläufige ‚Erreiten‘ der verschiedenen Landschaftszonen während des Jagens erscheint – wenigstens retrospektiv – wie eine erste Andeutung kommender […] Rückkehr an den Hof.224
Signifikanterweise kündigt sich die Störung der Zweisamkeit des Minneraumes und die Auflösung des virtuellen Raumes akustisch an: nu haete ouch Tristan unde Îsôt den tac allen wol vernomen den schal, der in den walt was komen von gehürne und ouch von hunden und dâhten an den stunden, daz ez niuwan Marke waere. des wart ir herze swaere. (VV 17318‒17324)
Nun hatten auch Tristan und Isolde schon den ganzen Tag über den Klang von Hornsignalen und Hunden gut hören können, der in den Wald hineingekommen war, und sie dachten sofort, das es niemand als Marke allein sein könnte; darüber wurde ihnen das Herz schwer.
Nach dieser Ankündigung bietet der auf den Wald ausgedehnte virtuelle Minneraum noch einmal musikalisch alles auf, was er zu bieten hat: Die Vögel singen „vil suoze in ir latîne“ (V 17361), wobei der Text Wert auf die kunstvolle Ausgestaltung der Vogelgesänge im Sinne des usus Musik legt (vgl. VV 17362‒17373); eine Quelle erfreut Auge und Ohr (vgl. VV 17374‒17380), ebenso ein süezer Wind (vgl. VV 17381‒17384). Noch ein letztes Mal kann sich der virtuelle Raum der Grotte behaupten und dem Minnepaar einen harmonischen Lebensort geben (hier kommuniziert der Text eine angedeutete Auseinandersetzung zweier Räume auf virtueller Ebene wie im Rolandslied). Doch zurück in der Minnegrotte löst das Min-
223 Zentrales Moment für diese doppelte Anschlussfähigkeit ist der Hirsch, der bei Gottfried der Minnegrotte zugeordnet ist: „von ihr kommt er, zu ihr flieht er wieder zurück“ (Rathofer 1973, S. 377), und er ist – wie auch die Minnegrotte – „auf allegorische Ausdeutung hin angelegt“ (ebd., S. 378). 224 Rathofer 1973, S. 379. Rathofer führt im Weiteren vor, wie eng Hirsch und Minnepaar vor allem hinsichtlich ihrer von den Jägern Markes gelesenen Spuren miteinander verschränkt sind, so dass über den fliehenden Hirschen die beiden bislang absolut getrennten Räume Hof und Minnegrotte zusammengeführt werden.
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nepaar selbst die Einheit seiner Zweiheit im Minnebett auf und zerstört damit die Grundlage des virtuellen musikalischen Raumes: si giengen an ir bette wider und leiten sich dâ wider nider von ein ander wol hin dan reht alse man unde man, niht alse man unde wîp. dâ lac lîp unde lîp in vremeder gelegenheit. ouch haete Tristan geleit sîn swert bar enzwischen sî. hin dan lac er, her dan lac sî. si lâgen sunder, ein und ein. alsus entsliefen s’under in zwein. (VV 17405‒17414)
Sie gingen zurück zu ihrem Bett und legten sich dort wieder hin, weit voneinander entfernt, genauso wie zwei Männer, nicht aber wie Mann und Frau. Da lagen die beiden Körper in ungewohnter Lage. Tristan hatte zudem sein blankes Schwert zwischen sich gelegt. Dort lag er, hier lag sie. Sie lagen getrennt, einer und einer. So schliefen sie beide ein.
Zwar sind hier immer noch zwei Einheiten im Zentrum des Raumes, die bleiben aber vereinzelt, ohne dass sie ein Verhältnis von 1:1 eingehen würden: Die für den musikalischen Raum grundlegende Harmonie ist aufgelöst. Damit sind die Voraussetzungen dafür gegeben, dass die Grotte von einem Uneingeweihten – einem Jäger Markes – gefunden werden kann; was er findet, ist aber eben nicht mehr der virtuelle Minneraum, der von einer idealen Harmonie gekennzeichnet ist, sondern ein normaler Raum: Während der virtuelle Raum zwar auch eine komplexe (und allegorisch ausgedeutete) Tür besaß, welche aber ausdrücklich als nicht ausschließend geschildert wurde (vgl. VV 16985‒17057), versperrt die Tür nun dem Jäger den Zugang in die Grotte (vgl. VV 17427‒17429) – der Raum, in dem sich Tristan und Isolde aufhalten, besitzt nun eine genau definierte äußere Grenze;225 der Jäger findet nur ein Fenster (vgl. V 17435), während der virtuelle Raum Licht aus drei (wieder allegorisch ausgedeuteten) Fenstern erhalten hatte (vgl. VV 17058‒17070); der dazukommende Marke verdeckt noch dazu dieses eine Fenster (vgl. V 17614), so dass Tristan und Isolde nunmehr Licht aus zwei von ehemals drei Fenster empfangen (vgl. VV 17629‒17635). Mit dem dritten Beobachter ist der Minneraum zudem nicht mehr tougenlîche, womit der grundlegende Charakter des virtuellen Raumes der edlen Herzen verloren ist. Der normale Raum, den der Jäger und später auch Marke sieht, präsentiert zwar 225 Okken 1996, S. 609‒614, versucht eine technische Skizze des Türverschlusses der Minnegrotte, der seiner Ansicht nach ein komplexes Geheimschloss ist. Dies wird meines Erachtens dem Text nicht gerecht, der die Wirkung des Schließmechanismus’ von der Absicht des Einlass Begehrenden abhängig macht. Es gibt keine normalräumliche, physische Kohärenz des Türverschlusses, er öffnet einen virtuellen Raum der edlen Herzen und schließt ein normalräumliches Versteck Ausgestoßener ab.
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immer noch Frau und Mann, doch schreckt der Jäger vor dem blanken Schwert zurück, das beide voneinander trennt (vgl. V 17446‒17448) – auf engem Raum betont der Text gleich viermal die Furcht, die der Anblick in dem Beobachter auslöst (vgl. VV 17436‒17457): Dieser Raum ist nicht mehr im geringsten von dem optischen Eindruck der Harmonie gekennzeichnet, der zuvor den virtuellen Minneraum, den Raum der ars und der edlen Herzen, bestimmte. Gottfried gibt in der Minnegrottenepisode der Kommunikationsgemeinschaft der edlen Herzen einen konkreten virtuellen Raum, der latent den gesamten Roman durchzieht und der in seiner Mischung von ars und usus – im Gegensatz zu dem imaginären Raum Petitcreü – auch tendenziell dem Publikum zugänglich ist: So ist die Interpretation grundsätzlich möglich als eine Deutung von ‚innen‘ (aus der Sicht der Liebenden) und von ‚außen‘ (aus der Sicht des Hofes). Der ‚Tristan‘ besitzt derart eine Doppelstruktur, die schon den zeitgenössischen Lesern oder Hörern verschiedene Modi der Lektüre möglich macht. Dem entspricht auch die Einschätzung Gottfrieds, der sich im Prolog selbst dahingehend äußert, daß al die werlde sein Werk anders deuten werde als die edelen herzen.226
Die virtuellen musikalischen Räume des Tristanromans bieten damit in den drei vorgestellten Szenen vier unterschiedliche Kommunikationszugänglichkeiten eines virtuellen, musikalischen Raumes an: Zunächst der Raum des usus, der von allen höfischen Menschen kommuniziert werden kann und der tendenziell (zumindest für die Höfe) zum normalen Raum wird. Daneben gibt es – zwar immer vermischt mit dem usus, doch nur von einigen wahrnehmbar und begehbar – den Raum der ars bzw. besser Räume der ars mit unterschiedlicher Kommunikationszugänglichkeit: Am Hof Isoldes kann ihre Person über den optischen Kanal das Zentrum eines Raumes werden, der die edlen Herzen in sich birgt und so einen geheimen Hof im öffentlichen Hof aufmacht.227 Sehr viel exklusiver ist der Zweierraum der Minnegrotte, der schon durch einen dritten Kommunikationspartner zerstört wird. Dieser virtuelle Raum ist kein Raum im allgemeinen, höfischen Raum, sondern eine Parallelwelt, die freilich auch andere edle Herzen inkludieren kann – nur nicht zeitgleich. Und am exklusivsten ist der musikalische 226 Wenzel 1988, S. 350. 227 „Im“ ist eigentlich eine falsche räumliche Bestimmung: Der virtuelle Charakter der höfischen Räume erlaubt hier eine paradoxe Konzeption, denn einerseits bevölkern die edlen Herzen natürlich den normalen Raum Hof, andererseits bilden sie aber auch – und dies gleichzeitig – einen Hof aus, der alle exkludiert, die nicht edle herzen sind, und die z. B. lediglich den usus Musik akustisch rezipieren können. Der Begriff tougen kittet diese Paradoxie notdürftig auf logischer Ebene, wie die Musik sie auf ästhetischer Ebene kittet (vgl. dazu ausführlich Schlechtweg-Jahn 2010).
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Raum, der durch Petitcreü erzeugt wird: Er ist ein imaginärer Raum mit nur einem einzigen Kommunikationsteilnehmer, der auch nur für sehr kurze Zeit existiert. Je exklusiver der virtuelle, musikalische Raum ist, desto mehr schließt er das Leiden aus und ist von absoluter Harmonie erfüllt. Vom Text wird dies allerdings nicht als Lösung angeboten, der absolut leidfreie imaginäre Raum wird von Isolde selbst zerstört. Dauerhafter sind nur die virtuellen Räume, die mehreren edlen Herzen zugänglich sind – diese Räume aber sind mit Leid erfüllt (und sei es lediglich das indirekte Leiden durch die Rezeption trauriger Minneerzählungen). Der Tristanroman arbeitet sich ab an der Spannung zwischen den Ansprüchen höfischer Kleingruppen und den Ansprüchen der gesamten höfischen Gesellschaft, und er propagiert weder Gesellschaftsflucht noch die Aufgabe differierender Ansprüche – eine Spannung, die offenbar nur im virtuellen Raum zwischenzeitig notdürftig aufgehoben sein kann. Doch wird auch deutlich, dass solchermaßen exklusive Räume und ihre fundierende musikalische Harmonie im Tristanroman gerade nicht die Lösung des Problems sind: Im Unterschied etwa zum Rolandslied oder zum Eneasroman wird der virtuelle Raum nicht tendenziell in einen normalen Raum überführt, der eine bestimmte gesellschaftliche Konstellation verdauern würde (aus dem allgemein zugänglichen musikalischen Raum des usus etwa ist die minne zu Tristan ausgeschlossen); statt dessen betont der Text stets die Fragilität der imaginären und virtuellen Räume der Harmonie, die immer wieder zugunsten des normalen, unidealen Hofraumes aufgegeben oder gar zerstört werden. Gerade in der Rezeption absoluter musikalischer Harmonie führt der Tristanroman vor, dass absolute Harmonie keine funktionierende Grundlage einer höfischen Gesellschaft sein kann.
3.1.7 Zusammenfassung Musik stellt für den Aufbau virtueller Räume im erzählten Raum ein wichtiges Paradigma dar, da anhand seiner akustischen und harmonischen Qualifizierungen Kommunikationszugänglichkeiten unterschiedlicher Exklusivität erzeugt werden können, die die gesamte Bandbreite zwischen imaginären und normalen Räumen abdecken können: Die exklusivste Kommunikationszugänglichkeit weist in den behandelten Texten der Raum um Petitcreü auf, dessen Musik in einem bestimmten Zeitraum nur von einem Kommunikanten wahrgenommen wird;228 er stellt sich damit als imaginärer Raum dar, der selbst den Minnepartner exkludiert. Der kleinste vir228 Zur Historisierbarkeit der Vorstellung einer Kommunikation mit sich selbst (also der Grundlage eines imaginären Raumes nach meinem Verständnis) s. o., Kap. 2.
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tuelle, musikalische Raum wird mit der Minnegrotte entfaltet, deren Raum stets nur höchstens zwei Kommunikationspartner zugleich inkludiert. Andere virtuelle, musikalische Räume aber können eine große Kommunikationszugänglichkeit aufweisen (etwa der Tonraum der Musik Isoldes, der grundsätzlich alle am Hof inkludiert), und vor allem akustisch wahrnehmbare Tonräume sind darüber hinaus von einer großen Dynamik gekennzeichnet: Mittels Lautstärke und Dauer können virtuelle Tonräume ihre Kommunikationszugänglichkeit und damit ihre Ausmaße ausdehnen, wie dies sowohl die Feier des Eneasromans als auch den Hornklang des Rolandsliedes kennzeichnet. In beiden Texten kann im Erzählungsausgang der virtuelle musikalische Raum fast deckungsgleich zum normalen Raum des erzählten Raumes werden. Die höfische Literatur nutzt virtuelle musikalische Räume einerseits zum Aufbau von absolut geordneten Räumen, deren Ordnung andererseits aber auch höchst fragil ist. Sie übernimmt damit die Spannung zwischen himmlischer Harmonie und irdischer Störung, die im musikalischen Diskurs des Hochmittelalters zwischen ars und usus ausdifferenziert ist: Der Klangraum etwa kann zwar von christlicher Harmonie (süeze) erfüllt sein, doch tritt im Rolandslied ein anderer, unharmonischer Klangraum in Konkurrenz mit ihm, was auch die christliche Harmonie und den mit ihr einhergehenden Herrschaftsanspruch zumindest in Frage stellt. Musikalisch wird hierbei im virtuellen Raum die Auseinandersetzung zwischen Christen und Heiden als Auseinandersetzung der Schöpfungsordnung mit deren Störung umgesetzt. Der virtuelle Raum der edlen Herzen im Tristanroman ist zwar von Harmonie gekennzeichnet (wie sie sich etwa im Minneraum der Minnegrotte deutlich niederschlägt), doch inkludiert er auch das Leiden, er bleibt also auch nicht ohne Störung. Der Raum der Minnegrotte wird bereits durch einen zusätzlichen Kommunikationspartner als virtueller Raum zerstört, was sich auch architektonisch niederschlägt. Der absolut ungestörte, harmonische Raum um Petitcreü schließlich wird von Isolde zerstört, wodurch seine Fragilität deutlich vorgeführt wird. Im Vergleich ergibt sich daraus, dass die Texte vor allem das Störungspotenzial des musikalischen Raumes ernst nehmen: Die höfische Literatur kann offensichtlich mit dem absolut geordneten musikalischen Raum dauerhaft kaum etwas anfangen; im Rolandslied und im Eneasroman kennzeichnet er lediglich den Ausblick der Erzählung und bietet keinen eigentlichen Handlungsraum, und im Tristanroman wird innerhalb des absolut harmonischen Raumes um Petitcreü auch alle Handlung stillgestellt, so dass seine Zerstörung nur konsequent im Sinne des Erzählens ist. Ein Handlungsraum von einiger Dauer kann ein virtueller musikalischer Raum offenbar nur dann werden, wenn er auch Störungen der Harmonie inkludiert bzw. solange er sich an exkludierten Störungen abarbeitet.
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Die musikalische Art und Weise, Kommunikationszugänglichkeit zu generieren, ermöglicht es auch, den erzählten Raum zwischenzeitig auf den Erzählraum auszudehnen. Der damit entstehende Raum ist – für einen virtuellen Raum typisch – zwar nur von kurzer Dauer, doch ermöglicht er eine Überschreitung einer Grenze, die eigentlich per definitionem nicht überschritten werden kann, oder anders ausgedrückt: Der virtuelle musikalische Raum kann sich zwischenzeitig in einer Dimensionalität entfalten, die völlig unabhängig von den Grenzen des normalen Raumes funktioniert. Auch hierbei zeigt sich ein dynamisches Potenzial des musikalischen Raumes, das bei der Korrespondenz zwischen Erzählraum und erzähltem Raum allerdings nicht auf der Basis von Lautstärke fundiert (deren Wirkung auf den erzählten Raum beschränkt bleibt), sondern auf dem eher der ars der Musik zugeordneten Phänomen der Harmonie: Der Herrschaftsraum Eneas’ (der in den Herrschaftsraum der Staufer überführt wird) erstreckt sich mit der Tradierung seiner Erzählung durch die spilman bis hinein in den Erzählraum (ein akustisch vermittelter Herrschaftsraum, der aber der Harmonie der höfischen Feier bedarf), und der akustisch und optisch kommunizierte Raum der edlen Herzen im Tristanroman kann sich über die Erfahrung der Harmonie der Minne (das Verhältnis 1:1, die Prim) bis auf den Erzählraum erstrecken. In Rückschau auf die Skizzierung des musikalischen Spezialdiskurses wird auch deutlich, wie die höfische Literatur interdiskursiv mit spezialdiskursivem Wissen verfährt: Einzelne Wissensmomente werden übernommen wie Ordnung, Harmonie (zusammen mit ihren jeweiligen Störungen Unordnung und Disharmonie), Ästhetik, Lautstärke und die direkte gegenseitige Abhängigkeit von Mikro- und Makrokosmos; was so gut wie völlig außen vor bleibt, ist die musikalische Mathematik, die die genannten Größen im Spezialdiskurs überhaupt erst begründet.229 Ebenfalls fehlt jede spezialdiskursive Systematisierung von Musik wie etwa ihre Rolle als Bindglied zwischen Trivium und Quadrivium in den artes. Hinzu kommt, dass mit der interdiskursiven Verschiebung dieser Wissensbestände auch eine Veränderung einhergeht: Die übernommenen Wissensaspekte werden allesamt höfisch resemantisiert; die höfischen Erzählungen dienen nicht dem Spezialdiskurs Musik als Distributionsapparat, sondern bedienen sich
229 Dies ist durchaus vergleichbar mit dem postmodernen Interdiskurs des Privatfernsehens, der in Castingshows wie Deutschland sucht den Superstar und Popstars einerseits spezialdiskurives musikalisches Wissen aufnimmt – vor allem die romantische Idee des direkten Zusammenhangs zwischen persönlicher Verfassung und musikalischem Ausdruck –, andererseits aber grundsätzliche Aspekte des Spezialdiskurses völlig ausblendet (etwa Stimmbildung, musikalische Technik, Übeformen oder aber auch schon alternative Modelle zur – spezialdiskursiv völlig überholten – Genieästhetik).
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eigenständig und assimilierend am Spezialdiskurs, der als solcher kein Mitspracherecht besitzt, keinen Einfluss auf die Verwendung seines Wissens ausüben kann.
3.2 Erinnerung und virtueller Raum Das moderne Verständnis des Phänomens Erinnerung unterscheidet sich grundsätzlich vom mittelalterlichen Verständnis: Erinnerung ist in der Moderne in erster Linie ein individuelles Vermögen – ausgerichtet auf individuelle Eindrücke –, dem grundsätzlich mit Skepsis zu begegnen ist; Mark Twain bringt dieses moderne Verständnis in der Vorbemerkung zu seiner Autobiographie prägnant auf den Punkt: Als ich jünger war, konnte ich mich an alles erinnern, egal ob es wirklich passiert war oder nicht, aber ich werde alt und bald kann ich mich nur noch an das Letztere erinnern.230
Der lateinische Begriff Memoria scheint auf den ersten Blick besser dazu geeignet zu sein, das mittelalterliche, überindividuelle Äquivalent zur modernen Erinnerung zu bezeichnen, doch ist er in der Forschung allzu sehr auf den Bereich der Totenmemoria festgelegt, die gänzlich in einer kollektiven Praxis aufzugehen scheint: Im sozialen Sinn ist Memoria Ausdruck einer religiös begründeten Ethik des ‚AneinanderDenkens‘ und ‚Füreinander-Handelns‘ (Jan Assmann), in der auch den Toten der Status von Rechtssubjekten und Subjekten gesellschaftlicher Beziehungen zugewiesen ist. Zur Memoria gehört auch das Sich-Erinnern der Nachwelt im profanen Sinn, der Ruhm (fama, nomen).231
Die Annäherung an das mittelalterliche Phänomen entpuppt sich also zunächst als semantisches Problem: Erinnerung ist in seinem modernen Verständnis ein zu unverbindlicher Begriff, Memoria gerade in der Forschung ein zu spezifischer Begriff für das mittelalterliche Verständnis von Erfassen, Codieren, Wiederaufrufen und Performieren von Eindrücken.232 Im Folgenden werde ich deswegen die 230 “When I was younger I could remember anything, whether it happened or not; but my faculties are decaying, now, & soon I shall be so I cannot remember any but the latter.” (Twain 1998, S. 176). 231 Oexle 1999, S. 297. 232 Auch im Englischen liegt dieses Begriffsproblem mutatis mutandis vor. Mary Carruthers differenziert den Begriff „memory“ in 1. Ursprung der erinnerten Information, 2. Codierung der Information, 3. Heuristische Vorgehensweise des Wiederfindens der erinnerten Information (vgl.
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beiden Begriffe Erinnerung und Memoria synonym verwenden, um das Spektrum des mittelalterlichen Gedächtnisses zwischen einem persönlichen Vermögen und einer kollektiven Performanz bezeichnen zu können; Erinnerung/Memoria oszilliert, wie zu zeigen sein wird, zwischen den beiden Polen einer imaginären und einer normalen Kommunikationszugänglichkeit, es ist im Mittelalter ein in erster Linie virtuelles Phänomen. Im Hochmittelalter stellt Erinnerung/Memoria eine überaus wichtige religiöse und soziale Praxis, grundlegende artistische Fertigkeit und auch durch die aufkommende Schriftlichkeit nicht obsolete Basis des höfischen Erzählens dar.233 Vor allem aber – und dies ist entscheidend für die zentrale Behandlung der Memoria im Rahmen dieser Arbeit – bildet Erinnerung – gerade in ihrem Gebrauch im Rahmen höfischen Erzählens – virtuelle Räume aus, mit denen umzugehen zur Grundausstattung hochmittelalterlicher Kultur gehörte, die nicht nur einer geistigen Elite vorbehalten war.
3.2.1 Memoria zwischen Imagination und Virtualität Mary Carruthers hat in ihren wegweisenden Studien zur mittelalterlichen Memorialkultur die Übernahme antiker Traditionen sowie mittelalterliche Spezifika umfassend herausgearbeitet. Ein zentraler Aspekt ist hierbei, dass Gedächtnis und Erinnern im Mittelalter grundsätzlich räumlich gedacht und kommuniziert wurde: In addition to demonstrating that pre-modern scholars thought of remembering as a process of mentally visualizing signs both for sense objects and objects of thought, this metaphor also shows that the ancients and their medieval heirs thought that each ‘bit’ of knowledge was remembered in a particular place in the memory, which it occupied as a letter occupies space on a writing surface. The words topos, sedes, and locus, used in writings on logic and rhetoric as well as on mnemonics, refer fundamentally to locations in the brain, which are made accessible by means of an ordering system that functions somewhat like the routing systems used by programs to retrieve, merge, and distinguish the information in a computer’s ‘memory’, and also postal addresses or library shelf-marks.234
Carruthers 2008, S. 19f.), Bedeutungsebenen, die in der modernen Sprache ununterschieden in „to memorize“ aufgehen. 233 Waltraud Fritsch-Rössler führt die enge Bindung auch der schriftlich konzipierten Epik des Mittelalters an die ars memorativa exemplarisch anhand des Tristanromans vor, vgl. Fritsch-Rössler 2003. Ich lese den Tristanroman allerdings vornehmlich unter den Aspekten des musikalischen Raumes (s. o., Kap. 3.1.6.3.), was freilich Fritsch-Rösslers Ausführungen nicht obsolet macht. 234 Carruthers 2008, S. 33.
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Die Bezeichnung der grundsätzlichen Organisationseinheiten der Erinnerung als Topoi, als Orte, deren strukturierte Gesamtheit den Erinnerungsraum eines Menschen bildet, ist jedoch weitaus mehr als nur eine Metapher, wie Carruthers sowohl für hochmittelalterlich-neuplatonische als auch für spätmittelalterlicharistotelische Erinnerungsmodelle feststellt:235 For whatever memory holds occupies a topos or place, by the very nature of what it is, and these topica, like bins in a storehouse, have both contents and structure. Every topic is in this sense a mnemonic, a structure of memory recollection.236
Die räumliche Organisation von Erinnerungen in Topoi ist im Mittelalter nicht nur eine medizinische Vorstellung, die lediglich den Mikrokosmos des menschlichen Geistes betrifft; sie weitet sich auch auf den Makrokosmos des Weltenraumes aus (vergleichbar mit der Harmonie der Musik, jedoch gleichsam in umgekehrter Hierarchie).237 Diese Korrespondenz von mikrokosmischem und makrokosmischem Erinnerungsraum ist die Grundlage dafür, dass der mittelalterliche Erinnerungsraum über einen bloß imaginären Kommunikationsmodus hinaus wirkmächtig werden und zum virtuellen Raum werden kann. Diese Ausweitung der Kommunikationszugänglichkeit des Erinnerungsraumes lässt sich an den beiden zentralen hochmittelalterlichen Modellen des Erinnerungsraumes nachzeichnen: Erinnerung als Bibliothek und Erinnerung als mit Bildern eingerichteter Raum.
3.2.1.1 Erinnerung als Bibliothek Eines der verbreitetsten Memorialmodelle der Antike ist die Vorstellung von Erinnerung als beschriebene Wachstafel, in der die einzelnen Erinnerungsbilder eingedrückt werden. Erinnern ist damit ein räumliches Phänomen, da die Symbole der einzelnen Erinnerungen (imagines) an einem bestimmten Platz auf der Wachstafel eingegraben werden und auch dort wiedergefunden werden
235 Überhaupt betont Carruthers, dass die aristotelische Renaissance im 13. Jahrhundert für die Memorialtheorie und -praxis keine entscheidende Wende darstellt, vgl. Carruthers 2008, S. 15. 236 Carruthers 2008, S. 40. 237 Vgl. dazu 3.1. Der musikalische Raum existiert nach mittelalterlicher Vorstellung zuerst im Makrokosmos der Schöpfung Gottes und spiegelt sich auch im Mikrokosmos der menschlichen Seele wider, der Erinnerungsraum dagegen setzt am Mikrokosmos des menschlichen Geistes an und kann sich im Makrokosmos widerspiegeln, wie noch zu zeigen sein wird. Der musikalische Raum setzt am normalen Raum an und weitet sich auf den imaginären Raum aus, der Erinnerungsraum setzt dagegen am imaginären Raum an und kann sich auf den normalen Raum ausweiten.
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können.238 Das Speichern der Memoria wird als Akt des Schreibens, das Wiederaufrufen der Memoria als Akt des Lesens verstanden, und dies auch durch das gesamte Mittelalter: It has been remarkable to me […], that none of the texts I have encountered makes the slightest distinction in kind between writing on the memory and writing on some other surface.239
Im Mittelalter trennt sich diese Memorialvorstellung von der Materialität der Wachstafel und setzt an diese Stelle das Manuskript, das beschriebene Pergament bzw. das beschriebene Buch. Die kleinste graphische Einheit der Sprache, der Buchstabe, wird damit zur kleinsten Einheit der Erinnerung, wie dies etwa Isidor von Sevilla in seinen Etymologiae als Grundlage der Grammatik und damit der gesamten artes beschreibt: Vsus litterarum repertus propter memorian rerum. Nam ne oblivione fugiant, litteris alligantur. In tanta enim rerum varietate nec disci audiendo poterant omnia, nec memoria contineri. Litterae autem dictae quasi legiterae, quod iter legentibus praestent, vel quod in legendo iterentur.240
Der Gebrauch der Buchstaben ist um der Erinnerung an die Dinge willen erfunden worden. Damit sie nämlich nicht durch Vergesslichkeit entfliehen, werden sie an Buchstaben angebunden. Bei einer so großen Vielfalt der Dinge kann nämlich weder alles durch Hören gelernt werden, noch in Erinnerung behalten werden. Die besagten Buchstaben aber sind gleichsam Lesewege, weil sie den Lesenden den Weg bereithalten bzw. weil sie wieder begangen werden.
Deutlich wird hier nicht nur die Medialisierung der Erinnerung durch die Schrift,241 sondern auch die Verräumlichung der Erinnerung durch Schrift: Der Erinnernde kann über die Buchstaben dauerhafte Wege durch den Raum seiner Erinnerung anlegen und benutzen. Auf diese Vorstellung des Wandelns durch die eigene Erinnerung auf durch Schrift bestimmten Wegen wird noch zurückzukommen sein. Schrift als Erinnerungsmedium kommt hier zunächst als bloßes Grundmaterial der Erinnerung in den Blick, als bereits in Alphabeten geordnete Buchstabenreihen, die zum Einprägen beliebiger Inhalte genutzt werden können:
238 Vgl. Carruthers 2008, S. 32. 239 Carruthers 2008, S. 34. 240 Isidor 1911, Liber I, III 3‒4. Übersetzung nach Isidor 2008, S. 20. 241 Vgl. Carruthers 2008, S. 139.
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Isidore’s understanding of a […] letter is not the same as our own […]. In modern linguistic theory, graphemes (‘letters’) represent one or more phonemes, the units of meaningful sound that convey sense in any language […]. But a mnemonic cue does not represent anything necessarily. Its effectiveness resides entirely in its satisfactory performance as a mental marker, a reminder.242
Heute ist dieser mnemotechnische Gebrauch der geordneten Buchstabenreihe als alphabetisches Register selbstverständlich, allerdings auch gänzlich auf die Schriftlichkeit ausgelagert, die das Gedächtnis des Lesers gleichsam externalisiert. Im Hochmittelalter allerdings ordnet die Buchstabenreihe in erster Linie das imaginäre, trainierte Gedächtnis von Scholaren und wird dazu genutzt, mentale Wege durch umfangreiche, bereits memorierte Textmassen wie etwa den Psalter oder die gesamte Bibel anzulegen.243 Mittels des ABC wird die Erinnerung an lange Texte damit imaginär verräumlicht, indem durch eine Ordnungsstruktur bestimmte Begriffe als imaginäre Orte markiert und miteinander verbunden werden, obwohl sie weiterhin durch unterschiedlich lange Textpassagen voneinander getrennt bleiben: Ein mentales Wegenetz entsteht, eine Text-Landkarte mit alphabetisch geordneter Legende, die die mental gespeicherten Manuskriptseiten244 weiter strukturiert. Schriftlich schlägt sich diese Memorialtechnik im Spätmittelalter zunehmend in Form der Abecedarien nieder, sei es als Memorialhilfe vor allem deutscher Rechtsbücher,245 sei es Memorialhilfe von Psalmen und Marienlob;246 doch auch die künstlerisch-freieren Akrosticha mittelalterlicher Literatur – man denke an das Abecedarium Meißners oder auch das Akrostichon Gottfrieds im Tristanroman – können als literarisches Spiel mit der Memorialtechnik der Strukturierung eines Textes durch eine Buchstabenreihe verstanden werden: Kenntnis und Umgang mit dieser Memorialtechnik ist schon im Hochmittelalter keineswegs auf den artistischen Bereich der Universitäten oder auf die monastische Praxis beschränkt. Die Frühscholastik des 12. Jahrhunderts konzentriert sich parallel dazu auch stark auf das Buch als größere Einheit der Erinnerung: Hugo von St. Viktor stellt 242 Carruthers 2008, S. 140. 243 Vgl. dazu ausführlich Carruthers 2008, S. 143‒152. 244 Carruthers weist nach, dass das Memorieren von Textpassagen sich im Hochmittelalter tatsächlich an der Handschrift orientiert: Zusammen mit dem reinen Text werden auch die räumliche Organisation des Textes auf der Manuskriptseite und graphische Markierungen (farbige Initialen, Miniaturen) eingespeichert, vgl. Carruthers 2008, S. 118‒122. 245 Vgl. Stobbe 1860, § 45, S. 443‒446. Der weit verbreitete Schlüssel des Landrechts beispielsweise stellt die alphabetische Neuordnung des Kaiserrechts deutlich als räumliches Phänomen dar: Der unbekannte Verfasser nennt „sein Werk Schlüssel des Landrechts, weil es mit Leichtigkeit den Kasten, in welchem Kaiserrecht und Sachsenspiegel wie ein Schatz und in Unordnung liege, öffne und herausnehmen lasse, was man bedarf.“ (ebd., S. 444). 246 Vgl. Palmer 2007.
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in seinem Didascalicon das Auswendiglernen von Büchern zentral, so dass das trainierte Gedächtnis eines Gelehrten die Form einer wohlsortierten Bibliothek annimmt, deren Bücher identische Abbilder ihrer physischen Vorbilder sind. Hugo führt dies im Rahmen einer laudatio temporis acti bei der Einführung der septem artes liberales aus: Has septem tanto studio quidam didicisse leguntur, ut plane omnes ita in memoria tenerent, ut, quascunque scripturas deinde ad manum sumpsissent, quascumque quaestiones solvendas aut comprobandas proposuissent, ex his regulas et rationes ad definiendum id de quo ambigeretur folia librorum revolendo non quaerent, sed statim singula corde parata haberent.247
Manche sollen diese sieben Wissenschaften mit solchem Eifer gelernt haben, dass sie dieselben vollständig im Gedächtnis hatten. Auf diese Weise brauchten sie nie, welche Schriften auch immer sie zur Lösung oder zur Bestätigung sich vorlegten, in den Büchern hin und her zu blättern, um nach den Regeln und Gründen zur Erklärung des umstrittenen Themas zu suchen, sondern hatten jeden Punkt sofort auswendig bereit.
Das Erlernen und Erinnern der Wissenschaften aber – das in memoria tenere –, das Hugo auch seinen aktuellen Studenten ans Herz legt, erfolgt über das Auswendiglernen von bestimmten Büchern, die er im Didascalicon grundsätzlich ausdifferenziert: Sed quia non omnes hanc discretionem habere possunt, ut intelligant quid sibi expediat, idcirco, quae scripturae mihi utiliores videantur, lectori breviter demonstrabo, ac deinde de modo quoque discendi pauca adnectam. Duo sunt genera scripturarum. Primum genus est earum quae propriae artes appellantur. Secundum est earum quae sunt appendicia artium.248
Da jedoch nicht alle genügend Urteilskraft besitzen können, um einzusehen, was ihnen nützt, werde ich nun für den Studenten in knapper Form darlegen, welche Schriften meiner Meinung nach die nützlicheren sind, und anschließend werde ich noch einige Worte über die Methode beim Studieren hinzufügen. Es gibt zwei Arten von Schriften. Die erste umfasst das, was man im engeren Sinne Wissenschaften nennt; die zweite aber das, was als Anhang zu den Wissenschaften gilt.
Die Auseinandersetzung mit diesen Schriften, das Studieren der artes also, besteht, wie Hugo deutlich ausführt, ausschließlich in „lectio et meditatio“,249 in Lesen und Meditieren über das Gelesene; und es ist symptomatisch, dass Hugo nach Aus247 Hugo von St. Viktor 1997, S. 228‒230, Übersetzung nach Offergeld. 248 Hugo von St. Viktor 1997, S. 230, Übersetzung nach Offergeld. 249 Hugo von St. Viktor 1997, S. 240.
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führungen zum Lesen und zum Meditieren mit Ausführungen zum Gedächtnis schließt, denn Lesen, Meditieren und Erinnern gehören engstens zusammen: Das Lesen (unterteilt in die drei Arten des Vorlesens, des Zuhörens und des Für-sich-Lesens)250 macht den Schüler zunächst mit den Inhalten der zu lernenden Bücher bekannt; schon hier kann das Einprägen und Erinnern im modernen Sinne ansetzen, ein Erinnern allerdings, das auf das Auswendiglernen von Textpassagen beschränkt bleibt und es nur erlaubt, den Text in seiner gesamten Länge und immer in derselben Reihenfolge aufzusagen – gleichsam ohne eine mentale Text-Landkarte, die eine Navigation jenseits des bloßen Textablaufs erlaubt. Die Meditation als zweiter Schritt ergründet das Gelesene und verknüpft es an einzelnen Punkten (wobei hier die Räumlichkeit der Schilderung dieser Verknüpfung signifikant ist): Meditatio est cogitatio frequens cum consilio, quae causam et originem, modum et utilitatem uniuscuiusque rei prudenter investigat. Meditatio principium sumit a lectione, nullis tamen stringitur regulis aut praeceptis lectionis. Delectatur enim quodam aperto decurrere spatio, ubi liberam contemplandae veritati aciem affigat, et nunc has, nunc illas rerum causas perstringere, nunc autem profunda quaeque penetrare nihil anceps, nihil obscurum relingquere. Principium ergo doctrinae est in lectione, consummation in meditatione […].251
Meditation ist wohlüberlegtes und anhaltendes Nachdenken, das auf verständige Weise den Grund, den Ursprung, die Art und den Nutzen jeder Sache erforscht. Die Meditation nimmt ihren Anfang mit dem Lesen, doch bindet sie sich keineswegs an die Regeln und Vorschriften des Lesens. Vielmehr freut sie sich daran, durch offenen Raum zu eilen, wo sie nach freiem Ermessen ihren Blick auf die Betrachtung der Wahrheit richtet, sie freut sich, bald diese, bald jene Ursachen der Dinge zu erforschen, dann aber ins Tiefgründige vorzudringen und nichts zweifelhaft, nichts unklar zu lassen. Seinen Anfang nimmt das Studium also im Lesen, seine Vollendung aber liegt in der Meditation.
Hier erfolgt die Kartographierung der erinnerten Textmassen, eine imaginäre Glossierung auf der Basis eines Begriffsindex’, der wiederum nach der eingangs dargestellten Methode der alphabetischen Buchstabenreihe angeordnet werden kann. Es ist die Voraussetzung dafür, dass in der Erinnerung an unterschiedliche, bezogen auf den Textablauf weit voneinander entfernte Orte gesprungen werden kann, bzw. dass der Schüler einen Text nicht nur in einer Richtung aufsagen, sondern beliebig einsteigen kann. 250 „Trimodum est lectionis genus: docentis, discentis, vel per se inspicientis“ („Es gibt drei Arten des Lesens: das des Lehrenden, das des Lernenden und das des für sich Lesenden“, Hugo von St. Viktor 1997, S. 240, Übersetzung nach Offergeld). 251 Hugo von St. Victor 1997, S. 244‒246, Übersetzung nach Offergeld.
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Was damit entsteht, ist die „arcula memoriae“ des trainierten Schülers als letzter Schritt der Textarbeit und Ziel seiner Bildung: Alles Gelesene ist in indizierenden Themen-Einheiten im imaginären Gedächtnisraum des Schülers geordnet abgelegt, so dass jeder Inhalt an seinem bestimmten Ort wiedergefunden werden kann – so dass der Schüler wie die Alten der laudatio temporis acti die gesamten artes – alle relevanten Bücher also – aus dem Gedächtnis aufrufen kann Debemus ergo in omni doctrina breve aliquid et certum colligere, quod in arcula memoriae recondatur, unde postmodum, cum res exigit, reliqua deriventur. […] Unde rogo te, o lector, ne nimium laertis si multa legeris, sed si multa intellexeris nec tantum intellexeris sed retinere potueris. Alioquin nec legere multum prodest, nec intelligere. Quare superius me dixisse secolo eos qui doctrinae operam dant ingenio et memoria indigere.252
Wir sollten deshalb bei jeder Unterweisung etwas kurz und verlässlich zusammenfassen, um es in dem kleinen Kasten des Gedächtnisses abzulegen, so dass wir später, wenn es die Sache erfordert, alles Weitere wieder daraus entwickeln können. […] Deshalb fordere ich dich, mein Student, auf, dich nicht so sehr zu freuen, wenn du vieles gelesen hast, sondern wenn du vieles behalten hast. Denn sonst nützt das viele Lesen nichts, und auch nicht das Verstehen. Deshalb wiederhole ich, was ich oben gesagt habe, dass nämlich diejenigen, die sich um die Wissenschaft bemühen, Auffassungsgabe und Gedächtniskraft brauchen.
Carruthers warnt vor dem Missverständnis der Ausführungen Hugos, „that one should retain only a compact summary of what one has read; what he means is that one schould break prolixity, a long text, into a number of short, securely retained segments which can be gathered in the memory“.253 Dieses Aufteilen von Textmassen in kleine Einheiten ist auch der modernen Gedächtnisforschung und -kunst bestens bekannt unter dem Begriff des Chunkings: This principle of grouping or ‚gathering‘ respects the limits of working memory. It is called ‘chunking’ in neuropsychology now. While the storage capacity of memory is virtually limit less, the amount of information that can be focused upon and comprehended at one time is definitely limited, to a number of units somewhere between five and nine; some psychologists express it as a law of ‘Seven plus-or-minus two’.254
252 Hugo von St. Victor 1997, S. 248, Übersetzung nach Offergeld. 253 Carruthers 2008, S. 105. 254 Carruthers 2008, S. 105. Zum Chunking in moderner Memorialforschung vgl. Klingberg 2008, S. 57‒69.
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Das trainierte Gedächtnis des Schülers wird im Zuge dieser Ausbildung zu einer mentalen Bibliothek,255 die alle gelesenen, meditierten und memorierten Bücher gleichsam imaginär glossiert zitationsbereit hat. Mary Carruthers hat nachgewiesen, dass dieses Memorialmodell im Hoch- und Spätmittelalter überaus verlässlich funktioniert hat;256 sie betont darüber hinaus auch die wichtige mnemotechnische Rolle, die hier die Buchtitel der solchermaßen gespeicherten Bücher einnehmen: The mnemonic requirement for a firm starting-point also gives a practical context for the critical importance given in medieval commentary to the title of a work […]. Mnemonically speaking, the starting-point of a text is its title; everything else in both the text itself and its accompanying commentary will be linked in an order from this point.257
Die Buchtitel übernehmen hier die Aufgabe der Buchstaben bei Isidor: Sie markieren den mentalen Ort, an dem ein bestimmter zu erinnernder Inhalt aufzufinden ist; diese Inhalte sind bei dem wohltrainierten Schüler freilich nicht mehr einfache Begrifflichkeiten, sondern komplette Bücher: Der menschliche Geist wird zu einer imaginären, wohlsortierten Bibliothek. Das mittelalterliche trainierte Gedächtnis funktioniert also selbst schriftlich: Beliebig große Textmassen können – in viele kleine Einheiten aufgeteilt und etwa durch Buchstaben markiert – verlässlich im Gedächtnis eingelagert und über ihre Titel in große Einheiten – Bücher – organisiert werden, so dass eine imaginäre Bibliothek entsteht, deren Texte willkürlich aufgerufen werden können. Genau dies aber sind die Anforderungen, die sich an das Gedächtnis eines mittelalterlichen Erzählers stellen. Und die uns überkommenen Handschriften der Erzähltexte des späten Hochmittelalters scheinen zunehmend durch ihr System aufsteigender Organisationseinheiten großer Textmassen auch gerade auf ein leichtes Memorieren durchaus im scholastischen Sinne ausgerichtet zu 255 Hugo legt auch großen Wert auf die Anordnung der gelesenen und memorierten Bücher, vgl. Hugo von St. Victor 1997, S. 242f. 256 Vgl. Carruthers 2008, S. 196‒202. Carruthers beschreibt hier auch anhand von Richard de Bury das faszinierende Phänomen der oralen Weitergabe gesamter Bücher aus einem Gedächtnis in dasjenige eines anderen: “These two passages demonstrate clearly that oral transmission from one memory to another was still an important and respected aspect of the dissemination of learning in academic and administrative circles during Bury’s time. Books can stay physically on their shelves in Paris and yet move to the centers of England and Rome, if they have been transmitted by one who […] consumes (memorizes) their contents. Everything from authoritative canons to the latest controversy is reported directly to him orally, memory to memory – not having to go through the unreliable medium of scribal copying.” (Carruthers 2008, S. 201f.). In der direkten und identischen Weitergabe wird aus dem imaginären Abbild des Buches im Gedächtnis ein virtuelles Buch. 257 Carruthers 2008, S. 109.
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sein: Der Text wird durch die Versform in kleine Textabschnitte untergliedert, die grundsätzlich die sieben plus/minus zwei Wörter enthalten, die für eine Erinnerungseinheit noch von dem modernen Chunking empfohlen werden. Markiert werden diese Memorialeinheiten durch Endreim, der in der Romanepik stets zwei Memorialeinheiten miteinander verbindet. Initialen können farblich markierte, mittlere Organisationseinheiten bilden,258 entweder als selbst sinnlose Buchstabenreihe oder aber als zusätzliche Sinneinheit, etwa im Fall der Tristanhandschriften.259 Die größten Organisationseinheiten, die die einzelnen ‚Bücher‘ der imaginären Bibliothek des Erzählers markieren und ordnen, können sehr kurze Einleitungen übernehmen, die deutlich nicht zur Erzählung oder ihrem Prolog gehören, sondern die Funktion eines Titels haben. Die spätmittelalterlichen Märenhandschrift Codex Vindobonensis 2885 etwa leitet ihre einzelnen Texte – imaginäre Bücher im Gedächtnis der Erzähler – deutlich mit Titeln ein, so dass die Texte (nicht nur schriftlich-lesend) schnell gefunden werden können: Hye hebt sich An die gut geselschaft Hie hebtet an div helbert witz Daz ist daz hertz mere Daz mer von dem chotzen260
Doch auch die Großepen können Titel erhalten, wie etwa der Willehalm Wolframs im Codex Vindobonensis 2670. Die mittelalterliche Handschrift besitzt damit die eigentümliche Form der Erinnerung als eingerichtete Bibliothek und ist in gewisser Weise ein uns überkommenes Abbild der Erinnerung des Erzählers,261 wie sie im klerikalen Bereich das Abbild des Gedächtnisses des Schülers darstellt: 258 Vgl. Starkey 2004, S. 12. Die rot und blau abwechselnden Initialen organisieren auch die Psalmen – die in der monastischen und scholastischen Tradition zuerst auswendig zu lernenden Texte der Bibel –, die ab dem 13. Jahrhundert nicht mehr in Versform geschrieben werden; Initialen übernehmen in der Prosaform die Aufgabe, die kleinen Memorialeinheiten weniger Worte zu markieren, unterteilen aber auch die nächstgrößere Einheit der Psalmgrenzen: “[I]n these later Bibles the verse divisions are indicated by colored initial, alternately red and blue. Each psalm begins with a large colored initial, sometimes fully decorated, other times just drawn large, red or blue alternately” (Carruthers 2008, S. 121). Zur mnemonischen Funktion von Metrum, Vers und Reim grundsätzlich vgl. Ernst 1993, S. 76‒80. 259 Vgl. grundlegend und ausführlich Scholte 1973. Zur mnemotischen Funktion von Buchstabenreihen in der mittelalterlichen Literatur grundsätzlich vgl. Ernst 1993, S. 81‒85. 260 Codex Vindobonensis 2885 1985, S. 33, 45, 65, 77. Wichtig für unseren Zusammenhang ist auch die Ortsangabe „Hye hebt sich …“, die noch öfter in der Märensammlung gebraucht wird. 261 Das Verständnis der Handschrift als Abbild der Erinnerung impliziert nicht zwangsläufig, dass die Handschrift stets sekundär ist. Ich möchte damit lediglich betonen, dass dem schriftlichen Medium der Handschrift das schriftliche Medium des Gedächtnisses des historischen Erzählers entspricht, denn auch der abgelesene Vortrag muss auf dem Gedächtnis des Erzählers fundieren,
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The images of written text are impressed also as they appear in the particular codex from which they were first memorized, including their location on the page (recto, verso, top, middle, bottom), the shapes and colors of the letters themselves, and the appearance of each page including marginalia and illuminations, to make a clear visual experience.262
Vor allem auch die Abspeicherung mittlerer Organisationseinheiten wie etwa Initialen ist für die hochmittelalterliche Erzählerpraxis von größter Bedeutung, denn wie auch im klerikalen Bereich kann sich Memorieren hier nicht im Auswendig-Hersagen-Können eines Textes erschöpfen: Wie auch immer der Erzählervortrag im Einzelnen ausgesehen haben mag, auf keinen Fall können die größeren Erzählungen und vor allem Romane des Hochmittelalters vorgetragen werden, ohne an vielen (nicht da eine artistisch hochwertige Umsetzung eines literarischen Textes ohne dessen intime Kenntnis (und dies bedeutet nach mittelalterlicher Auffassung: ohne den Text gelesen, meditiert und memoriert zu haben) nicht vorstellbar ist. In diesem Fall stellt die Erinnerung des Erzählers ein Abbild der Handschrift dar, das Abbildungsverhältnis bleibt jedoch unabhängig von seiner Ausrichtung bestehen. Allerdings hat Christine Putzo nachgewiesen, dass die räumlichen Gliederungsmöglichkeiten einer grundsätzlich linearen Erzählung durch die beschriebenen Layoutverfahren erst ab dem zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts die Handschriften höfischer Literatur zunehmend bestimmen – die frühen Handschriften verzichten weitestgehend darauf (vgl. Putzo 2012, S. 284‒297). Die Schlüsse Putzos freilich sind nicht ohne weiteres nachzuvollziehen; so interpretiert sie das Fehlen räumlicher Struktur in den frühen Handschriften als Konsequenz einer fehlenden Räumlichkeit mündlichen Erzählens: „Die räumliche Nulldimension mündlichen Erzählens findet in der (linearen) Eindimensionalität schriftlichen Erzählens eine fast exakte funktionale Äquivalenz“ (ebd., S. 297). Wie gezeigt, ist aber bereits das durch Vers und Metrum gegliederte höfische Erzählen in seiner Erinnerungsform räumlich strukturiert. Das (weitgehende) Fehlen optischer räumlicher Strukturmuster in den frühen Handschriften ließe sich vor dem dargestellten mnemotechnischen Hintergrund eher dadurch erklären, dass in diesem Zeitraum die Abbildung einer bestimmten mnemotechnischen Aufbereitung eines Textes weder notwendig noch hilfreich war: Notwendig deswegen nicht, weil in der Zeit vor 1220 die mündliche Repräsentierung der höfischen Literatur (und damit ihre mnemotechnische Aufbereitung durch bestimmte historische Erzähler) auf jeden Fall die Regel war (vgl. ebd., S. 290), und hilfreich deswegen nicht, weil davon auszugehen ist, dass im Gedächtnis jedes u. a. auf einen bestimmten Text spezialisierten historischen Erzählers sicherlich ein imaginärer (und damit nicht einfach übertragbarer) Erinnerungsraum eingeprägt war. Mit den layouttechnisch stark ausdifferenzierten und entsprechend mnemotechnisch aufbereiteten Handschriften nach 1220 lägen dann Abbildungen bestimmter Erinnerungsräume vor: Das schriftliche Buch repräsentiert nun auch die Erinnerungsfunktion, die ehemals ausschließlich der spezialisierte historische Erzähler innehatte (dies impliziert nicht eine Ablösung des historischen Erzählers durch das Buch, sondern macht lediglich private Lektüre – oder vorsichtiger: private Orientierung – als parallele Rezeptionsweise möglich, indem der Erzähler in die Handschrift projiziert wird – noch für die „Große Bilderhandschrift“ des Willehalm von ca. 1270 diagnostiziert Starkey “a complex multimedia experience that places this manuscript sqarely between written and oral culture”, Starkey 2004, S. 5). Insofern ist in einem weiteren historischen Fokus die Handschrift in der Tat eine spätere Abbildung der Erinnerung des Erzählers. 262 Carruthers 2008, S. 100.
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von der Erzählung, sondern von äußeren Umständen bestimmten) Stellen unterbrochen und zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgenommen zu werden. Wie auch beim Memorieren des Psalters für den wissenschaftlichen Gebrauch muss der höfische Erzähler seine Texte also an beliebigen imaginären Orten beginnen können.263 Wie architektonisch-räumlich die Gliederungssignale des literarischen Textes gedacht werden konnten, belegt das Vorwort zum fünften Buch von Vitruvs De architectura libri decem, einer wichtigen Grundlage mittelalterlicher Baukunst,264 in dem Vitruv sprachliche Gliederungsabschnitte der Dichtung direkt mit Steinquadern der Baukunst parallelisiert: Pythagorae quique eius haeresim fuerunt secuti placuit cybicis rationibus praecepta in voluminibus scribere, constitueruntque cybum CCXVI versus eosque non plus tres in una conscriptione oportere esse putaverunt. Cubus autem est corpus ex lateribus aequali latitudine planitiarum perquadratum. Is cum est iactus, quam in partem incubuit dum est intactus immotam habet stabilitatem, uti sunt etiam tesserae quas in alveolo ludentes iaciunt. Hanc autem similitudinem ex eo sumpsisse videntur quod is numerus versuum uti cybus in quemcumque sensum insederit, immotam efficiat ibi memoriae stabilitatem. Graeci quoque poetae comici interponentes e coro canticum diviserunt spatia fabularum. Ita partes cybia ratione facientes intercapedinibus levant actorum pronuntiationes.265
Pythagoras und die Jünger seiner Schule hielten es für passend, ihre Lehren in Büchern nach kubischen Verhältnissen aufzuzeichnen, und bestimmten 216 Verse als Kubus, und nahmen an, dass von solchen Kuben nicht mehr als 3 in einem Schriftstück enthalten sein dürften. Ein Kubus aber ist ein Körper aus 6 Seiten von gleichbreiten quadratischen Flächen gebildet; wenn man einen solchen geworfen hat, so bleibt er, so lange er unberührt ist, in unbeweglicher Beständigkeit auf der Seite liegen, auf welche er gefallen ist. Die genannte ähnliche Einrichtung aber scheinen sie daher genommen zu haben, weil jene Verszahl, wenn sie einmal wie ein Kubus in dem Geist des Menschen sich festgesetzt hat, dort in unwandelbarer Gedächtnisbeständigkeit haften bleibt. Auch die griechischen Komödiendichter schieden die Akte ihrer Stücke durch Einschiebung des Chorgesangs voneinander, und indem sie so nach kubischen Verhältnis Abteilungen machen, erleichtern sie durch die Unterbrechungen den Vortrag der Schauspieler.
263 Dafür spricht gerade, dass in den frühesten Handschriften keine autorintendierte Vortragsgliederung nachzuweisen ist, ungeachtet der vielen Gliederungsmöglichkeiten, die ein Erzähler aufgreifen kann: „Eine Vortragsgliederung ist in keinem Epos der höfischen Zeit mit Sicherheit nachzuweisen. Wahrscheinlich ist überhaupt nicht mit einer vom Autor gesetzten Vortragsnorm zu rechnen. Gerade beim Vortrag auf Hoffesten wurde die Dauer der Veranstaltung wahrscheinlich weniger durch den Gliederungswillen des Autors als durch die jeweiligen Umstände der Rezeption bestimmt“ (Bumke 2000, S. 48). 264 Vgl. Haage/Wegner 2007, S. 102f. 265 Vitruv 2009, S. 212, Übersetzung nach Reber.
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Die physische Konstanz des materiellen Kubus oder Würfels ist für Vitruv der Garant für die Exaktheit der Erinnerung an Texte, die nach Zahlenverhältnissen untergliedert sind. Die Erinnerung an literarische Texte funktioniert hier analog zur architektonischen Planung, so dass sich der Erinnernde (Schauspieler bei Vitruv, Erzähler im Hochmittelalter) anhand der regelmäßigen Gliederungsmerkmale der Texte räumlich erinnert, wie ein Architekt Zahlenverhältnisse in räumliche Vorstellung umformt. Mit der auf Pergament geschriebenen Handschrift des späten Hochmittelalters kann der imaginäre Erinnerungsraum eines Erzählers virtuell werden. Dies ist jedoch auf die Gruppe der Erzähler beschränkt, die anhand einer Handschrift den Text memorieren: Sie speichern gemäß des mittelalterlichen Memorialmodells „Gedächtnis als Bibliothek“ die Handschrift als identisches Abbild der physischen Vorlage in ihrem Gedächtnisraum, so dass die Kommunikation des Raumes – in diesem Fall der Vortrag – immer wieder und von unterschiedlichen Kommunikanten identisch ausgeführt, der Gedächtnisraum „Buch“ immer wieder identisch aufgebaut werden kann. Dabei ist es nur von sehr untergeordneter Bedeutung, ob der Erzähler seinen Vortrag des Textes abliest oder aber auswendig rezitiert266 – was auch der Hauptthese von Mary Carruthers entspricht: Entgegen der gängigen Forschungsmeinung, die einen überaus großen Wert auf den sogenannten „Medienwechsel“ von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit legt, schließen sich Literarizität und Memoria eben nicht aus, sondern gehen grundsätzlich Hand in Hand;267 Gedächtnistraining ist nach hochmittelalterlichem Verständnis substanziell für das abschließende Verständnis gerade gelesener Texte,268 und auch rein mündlich weitergegebene Inhalte werden im Gedächtnis 266 Vgl. auch Ernst 1993, S. 74: „Für die Tradition orale war es von vornherein relevant, daß die Dichtung so gestaltet wurde, daß sie sich sowohl dem Vortragenden, etwa dem Rhapsoden, wie auch den Hörern leicht einprägen konnte; aber auch Autoren, die sich an ein Lesepublikum wandten, mußten daran interessiert sein, daß ihre Werke nicht als toter Schatz in Codices oder Büchern schlummerten, sondern als abrufbares Wissen im Gedächtnis der Rezipienten lebendig blieben“. Vgl. auch Glauch 2009, S. 67: „Geschriebene Reimpaarverse im 13. Jahrhundert machten noch viel interpretierende, Stimme restituierende Lesearbeit nötig. Das schließt Selbstlektüre nicht aus! Aber Selbstlektüre erfordert vom Leser, daß er den Text möglichst gut kannte, daß er also die Partitur schon so oft durchgearbeitet hatte, daß er letztlich (für sich selbst oder für andere) zum kundigen, professionellen Vorleser wurde“. 267 Kathryn Starkey legt mit ihrer Arbeit zur „Großen Bilderhandschrift“ des Willehalm eine Fallstudie dieses Phänomens vor: “This study challenges the assumption that there exists a strict dichotomy between oral performance and writing, suggesting instead that the introduction of writing as a means for transmitting courtly texts gave rise to a dynamic and discursive period during which authors, artists, and audiences reflected on medium, on literature, and on the storytelling process” (Starkey 2004, S. 3). 268 Vgl. Carruthers 2008, S. 12 et passim.
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gleichsam schriftlich medialisiert, abgespeichert und lesend aufgerufen. Durch den imaginären Memorialraum des trainierten mittelalterlichen Gedächtnisses, der in Form der Handschriften virtuell werden kann, ist Vorlesen im Hochmittelalter nichts grundsätzlich Anderes als auswendiges Rezitieren, oder anders ausgedrückt: Der Vorleser, der sich intensiv mit dem Text auseinandergesetzt hat, ist im Hochmittelalter nichts wesentlich Anderes als der Erzähler, der seinen Text auswendig rezitiert.269
3.2.1.2 Erinnerung als eingerichteter Raum Das Memorialmodell der Erinnerung als Bibliothek bildet in erster Linie imaginäre Erinnerungsräume aus, die mittels der Handschrift (und damit beschränkt auf die Gruppe der Lesenden) virtuell werden können. Mit der Vorstellung der Erinnerung als mit Bildern eingerichteter Raum ist ein zweites (freilich mit dem ersten Memorialmodell eng verwandtes)270 Memorialmodell im Hochmittelalter präsent, das aber an normalen Räumen ansetzt. Idealtypisch wird dieses Memorialmodell in der Rhetorica ad Herennium ausgeführt, ein im Mittelalter breit überliefertes271 und fälschlicherweise Cicero zugeschriebenes Lehrbuch der Rhetorik, dem nicht zuletzt wegen dieser Zuweisung große Autorität zugesprochen wurde. Deswegen soll im Folgenden dennoch von ‚Cicero‘ gesprochen werden, wenn der anonyme Autor der Rhetorica gemeint ist.
269 Das widerspricht auch der Hauptthese von Sonja Glauchs Habilitationsschrift, die im Übergang von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit zunächst das Verschwinden des Erzählers sieht und in der verschriftlichten, hochmittelalterlichen Epik den Autor als Identität der Ich-Aussagen restituieren will: „Daß der Gedanke an eine poetische Eigen- und Individualleistung aufzukommen beginnt, ist […] gleichbedeutend mit dem Ende der epischen Mündlichkeitskultur. Überdies ruiniert die Verschriftung der heroischen Epik die Logik der pronominalen Leerstelle: einem Vorleser paßt das als Kettenglied des memorialen Kreislaufs stilisierte ich nicht mehr; sein Wissen ist in ein Buch ausgelagert. An diesem Punkt setzt die Auflösung des Erzähler-ich ein.“ (Glauch 2009, S. 47, Hervorhebungen durch Glauch). 270 Die Verwandtschaft und gleichzeitige Distinktion der beiden Memorialmodelle kann man für unseren Gebrauch in Bezug auf die mhd. Epik auch mit Carruthers’ Unterscheidung von Erinnerung von verba und res erfassen: Erinnerung als Bibliothek ist Erinnerung nach verba (Ziel: wortgenaues Erinnern), Erinnerung als eingerichteter Raum ist Erinnerung nach res (Ziel: Erinnern an komplexe Zusammenhänge). Zwar spricht ‚Cicero‘ auch in seinem Modell das Erinnern von verba an, doch stellt er es zugleich als eigentlich zu umständlich für diese Methode (die damit eher eine Methode zum Erinnern von res ist) dar (vgl. Carruthers 2008, S. 91). 271 Die Überlieferung der Rhetorica ist paradoxerweise aufgrund der “innumerable (or at least unnumbered) complete manuscripts dating from the tenth century onwards” (Winterbottom 1983, S. 99) nach wie vor unübersichtlich (zum Überblick der Hauptzweige der Überlieferung vgl. Hafner 1989).
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‚Cicero‘ beschreibt den Aufbau eines künstlichen Erinnerungsvermögens, das er vom untrainierten, natürlichen unterscheidet, als das Ausstatten eines Ortes mit Bildern: Constat igitur artificiosa memoria locis et imaginibus. Locos appellamus eos, qui breviter, perfecte, insignite aut natura aut manu sunt absolute, ut eos facile naturali memoria conprehendere et amplecti queamus: ut aedes, intercolumnium, angulum, fornicem et alia, quae his similia sunt. Imagines sunt formae quaedam et notae et simulacra eius rei, quam meminisse volumus; quod genus equi, leonis, aquilae memoriam si volemus habere, imagines eorum in locis certis conlocare nos oportebit.272
Das künstlich erworbene Sicheinprägen beruht also auf Orten und Bildern. Orte nennen wir etwas, was kurz, vollkommen, auffallend entweder von der Natur oder von Hand vollendet wurde, so dass wir es leicht durch das nützliche Sicheinprägen erfassen und behalten können: z. B. ein Gebäude, den Raum zwischen zwei Säulen, einen Winkel, ein Gewölbe und anderes diesen ähnliches. Bilder sind gewisse Formen, Merkmale und Abbilder des Gegenstandes, an den wir uns erinnern wollen; wenn wir beispielsweise die Erinnerung an ein Pferd, einen Löwen, einen Adler festhalten wollen, müssen wir die Bilder von diesen an bestimmte Orte festsetzen.
Es wird deutlich: Orte sind hier zunächst physische, normale Räume, die im Gedächtnis repliziert werden.273 ‚Cicero‘ setzt zwar Gebäude dominant, grundsätzlich können aber alle physischen Räume – natürlich oder künstlich entstanden – die Grundlage der Erinnerung bilden. Dies gilt umso mehr für die hochmittelalterliche Rezeption dieses Erinnerungsmodells: Hier gerät das erinnernde Subjekt in Bewegung, so dass die imaginierte Bildergalerie – sei sie in einem Zimmer, einem Gebäude, einem Garten oder an einer Straße aufgebaut – gleichsam auf unterschiedlichen Wegen durchwandert werden kann.274 Im Weiteren führt die Rhetorica das Memorialmodell Erinnerung als eingerichteter Raum sehr eng an das oben beschriebene Memorialmodell der Erinnerung als Bibliothek275 – was rückblickend nochmals deren räumlichen Charakter bestätigt: 272 Rhetorica ad Herennium 1994, S. 166, Übersetzung nach Nüßlein. 273 ‚Cicero‘ spricht später freilich auch davon, dass die Erinnerungsorte bisweilen aus Ermangelung passender normaler Räume auch imaginär erschaffen werden können (vgl. Rhetorica ad Herennium 1994, S. 171). 274 Vgl. Carruthers 1998, S. 223; Carruthers 2008, S. 90f.; Wandhoff 2003, S. 330 et passim. 275 Dass ‚Cicero‘ hier mit dem Vergleich tatsächlich zumindest auch auf ein Erinnerungsmodell und nicht nur auf das physische Schreiben abzielt, belegt seine Bemerkung zur Flüchtigkeit beider Erinnerungsmedien: „Locos, quos sumpserimus, egregie commeditari oportebit, ut perpetuo nobis haerere possint; nam imagines, sicuti litterae, delentur, ubi nihil utimur.“ („Die Orte, die wir
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Quemadmodum igitur qui litteras sciunt, possunt id, quod dictatum est, eis scribere et recitare, quod scripserunt, item qui nemonica didicerunt, possunt, quod audierunt, in locis conlocare et ex his memoriter pronuntiare. Nam loci cerae aut cartae simillimi sunt, imagines litteris, dispositio et conlocatio imaginum scripturae, pronuntiatio lectioni.276
Wie also diejenigen, welche die Buchstaben kennen, das, was vorgesprochen wurde, mit ihrer Hilfe niederschreiben und vorlesen können, was sie niedergeschrieben haben, so können ebenso diejenigen, welche die Regeln der Gedächtniskunst gelernt haben, das, was sie gehört haben, an Orte festsetzen und von diesen Orten her aus dem Gedächtnis vortragen. Denn die Orte sind einer Wachstafel und einem Blatt Papier sehr ähnlich, die Bilder den Buchstaben, die Einteilung und Anordnung der Bilder der Schrift, der Vortrag dem Lesen.
Nach einer genauen Beschreibung passender Orte für das Einstellen von Erinnerungsbildern277 geht ‚Cicero‘ genauer auf die Beschaffenheit der einzustellenden Bilder ein und gibt ein anschauliches Beispiel für ein Erinnerungsbild für einen juristischen Vorgang: Rei totius memoriam saepe una nota et imagine simplici conprehendimus, hoc modo, ut si accusator dixerit ab reo hominem veneno necatum et hereditatis causa factum arguerit et eius rei multos dixerit testes et conscios esse; si hoc primum, ut ad defendendum nobis expeditum sit, meminisse volemus, in primo loco rei totius imaginem conformabimus: aegrotum in lecto cubatem faciemus ipsum illum, de quo agetur, so formam eius detinebimus; si eum non agnoverimus, aliquem aegrotum non de minimo loco sumemus, ut cito in mentem venire possit, et reum ad lectum eius adstituemus, dextera poculum, sinistra tabulas, medico testiculos arietinos tenentem. Hoc modo et testium et hereditatis et veneno necati memoriam habere
Die Erinnerung an den ganzen Vorgang halten wir oft durch ein einziges Kennzeichen und ein einfaches Bild fest, z. B. auf folgende Weise, wenn der Ankläger sagt, von dem Angeklagten sei ein Mensch mit Gift getötet worden, und ihn beschuldigt, die Tat sei um einer Erbschaft willen begangen worden, und weiterhin sagt, dafür gebe es viele Zeugen und Mitwisser. Wenn wir uns daran zuerst erinnern wollen, damit es uns für die Verteidigung dienlich sei, werden wir am ersten Ort ein Bild des ganzen Vorganges gestalten; wir werden den Menschen selbst, um den es geht, uns krank im Bett liegend vorstellen, wenn wir sein Aussehen festhalten; wenn wir ihn nicht kennen, werden wir irgendeinen Kranken,
genommen haben, müssen wir uns ganz besonders einprägen, damit sie uns für immer im Gedächtnis haften können; denn die Bilder werden wie die Buchstaben zerstört, sobald wir keinen Gebrauch davon machen.“ Rhetorica ad Herennium 1994, S. 168, Übersetzung nach Nüßlein). 276 Rhetorica ad Herennium 1994, S. 166. Übersetzung nach Nüßlein. 277 Dabei kommt noch einmal die physische Natur der Erinnerungsorte zum Tragen: ‚Cicero‘ macht Angaben zur passenden Beleuchtung der Orte, macht Abgaben für ihre idealen Abmessungen und empfiehlt auch, nicht allzu überlaufene Orte zu wählen, vgl. Rhetorica ad Herennium 1994, S. 168f.
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poterimus. Item deinceps cetera crimina ex ordine in locis ponemus; et, quotiescumque rem meminisse volemus, si formarum dispositione et imaginum diligenti notatione utemur, facile ea, quae volemus, memoria consequemur.278
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und zwar nicht aus dem niedrigsten Stande, nehmen, damit er uns schnell in den Sinn kommen kann, und wir werden den Angeklagten an sein Bett stellen, wie er in der Rechten den Giftbecher, in der Linken das Testament und am Ringfinger die Hoden eines Widders hält. Auf diese Weise können wir die Erinnerung an Zeugen, die Erbschaft und den durch Gift Getöteten behalten. Ebenso werden wir die übrigen Beschuldigungen nacheinander der Reihe nach an ihre Orte stellen; und sooft wir uns an einen Vorgang erinnern wollen, werden wir, wenn wir eine sorgfältige Einteilung der Gestalten und Kennzeichnung der Bilder vornehmen, leicht das, was wir wollen, in der Erinnerung wiedererlangen.
Die sinnstiftende Bedeutung der einzelnen Bildelemente – der Ringfinger als Verweis auf das Herz, die Widderhoden als Geldbeutel und damit Verweis auf die Bestechung279 – dürften freilich nicht erst heute, sondern bereits im Mittelalter zumindest auf Verständnisschwierigkeiten gestoßen sein; und hierin liegt auch der Grund, warum auch die Memorialräume, die mittels dieser Methode entworfen werden, zunächst rein imaginär sind, obwohl sie ihre Orte vom normalen Raum entlehnen: Die eingestellten Bilder sind jeweils individuell, je nachdem, wie der Erinnernde am besten eine sinnhafte Verknüpfung vom Bild zum Erinnerungsgegenstand aufbauen kann; dies betont auch die Rhetorica ad Herennium.280
3.2.1.3 Die mittelalterliche Virtualisierung des Memorialraumes Das Hochmittelalter erweitert die aus der Antike übernommenen Memorialmodelle insofern, als es starken Wert auf kollektive Erinnerungsräume legt: In den unterschiedlichsten Bereichen werden Erinnerungsformen praktiziert, die die Kommunikationszugänglichkeit von Erinnerungsräumen über den Einzelnen hinaus auf ein Kollektiv erweitern, das damit einen virtuellen Memorialraum ausbilden kann. Diese virtuellen Memorialräume beschränken sich dabei keineswegs auf die Scholastik, sondern bestimmen gerade auch die höfische Kultur
278 Rhetorica ad Herennium 1994, S. 170f.. Übersetzung nach Nüßlein. 279 Vgl. Rhetorica ad Herennium 1994, S. 379, Anm. 83 und 84. 280 Vgl. Rhetorica ad Herennium 1994, S. 178.
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grundsätzlich.281 Anhand des Memorialmodells Erinnerung als Bibliothek konnte dies bereits rudimentär anhand der Handschrift aufgezeigt werden, bleibt hier aber noch auf die kleine Gruppe derer beschränkt, die sich intensiv mit dem Text einer Handschrift lesend, meditierend und memorierend auseinandersetzen. Im Folgenden sollen nun einige virtuelle Memorialraummodelle des Hochmittelalters aufgezeigt werden, die auch für die höfische Epik von Interesse sind und dort – variiert – Verwendung finden.
3.2.1.3.1 loci communes: Alle Kommunikanten wissen dieselbe Ordnung Die Toposlehre der mittelalterlichen Scholastik greift auf die aristotelische Verwendung von Erinnerungsorten zurück, wie sie in dem für Dialektik und Rhetorik gleichermaßen grundlegendem Werk Topica ausgeführt wird: Für die Topik ist charakteristisch, daß sie einerseits im Gegensatz zur demonstrativen Syllogistik nicht von bewiesenen bzw. notwendigen Prämissen, sondern von wahrscheinlichen Sätzen ausgeht und andererseits nicht immer vollständige Syllogismen im Sinne der Analytik, sondern oft Schlußfolgerungen mit nur einer Prämisse […] bildet. Die Funktion der topoi bzw. loci ist es, eine Schlußfolgerung zu gewährleisten bzw. abzusichern, indem diese gleichsam unter einen allgemeinen Gesichtspunkt gebracht wird […].282
Da die Überzeugungskraft dieser Argumentation davon abhängt, dass die zu überzeugenden Kommunikationspartner den „allgemeinen Gesichtspunkt“ kennen,
281 Ein erster Hinweis darauf ergibt sich, wenn man in der Memorialkultur der Scholastik die Rolle vorgegebener Erinnerungssysteme (die damit virtuelle werden können) im Vergleich zu der Empfehlung je individueller Erinnerungssysteme (die damit imaginär bleiben) in den Blick nimmt: Mary Carruthers hat nachgewiesen, dass vorgegebene Erinnerungssysteme, etwa in Form der Florilegien, für die Anfänger gedacht waren, während den fortgeschrittenen Scholaren je eigene Erinnerungssysteme empfohlen werden (vgl. Carruthers/Ziolkowski 2004, S. 220f.). Damit ist gerade die virtuelle Memorialtechnik nicht auf die Spitze der Scholastik beschränkt, sondern wird auch denen bekannt, die sich nur rudimentär mit den artes auseinandergesetzt haben. Es ist naheliegend, dass der Bereich der höfischen Literatur eher virtuelle Memorialmodelle übernimmt, die virtuelle Memorialräume ausbilden können. Gesine Mierke untersucht in ihrer Dissertation den altsächsischen Heliand und arbeitet dabei heraus, dass bereits in dieser Bibeldichtung des 9. Jahrhunderts sich die antike Memorialtechnik, christlich überformt, fundamental in der Volkssprache niederschlägt (vgl. Mierke 2008, S. 330‒334). Alexander Kolerus macht anhand des Memorialraumes augustinischer Prägung plausibel, dass dessen Gedächtnismodell „prinzipiell auch unabhängig von einer bestimmten theologischen Dogmatik zur Anwendung gelangen kann […] und dem nur einigermaßen gebildeten Zeitgenossen in seinen Grundzügen vertraut sein musste“ (Kolerus 2006, S. 16f.). 282 Kann 1998, S. 403.
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muss die räumliche Bestimmung der Argumente – ihre loci bzw. topoi – allgemein bekannt und auffindbar sein: Wie ein natürlicher Ort dem an ihm Befindlichen eine feste Position gibt, so gibt ein dialektischer Ort der ‚Kraft der Argumentation‘ bzw. dem Argument eine feste Position; hier wie dort fungiert ‚locus‘ als ein Sicherungsbegriff.283
Die allgemein verfügbaren Orte der Argumentation – etwa der Ort aus der Definition, der Ort aus konträr Entgegengesetztem, der Ort aus Zusammengehörigem284 – müssen loci communes, Gemeinplätze sein;285 dann können sie die verwendeten Argumente „continere virtualiter“, wie es nicht nur in der eingangs zitierten Formulierung von Johannes de Grocheio heißt, sondern wie die spezifische Raumart des Raumes der logischen Argumente grundsätzlich benannt wird.286 Die ‚Kraft der Argumentation‘ – also ihre Potenz zu Überzeugen – hängt tatsächlich am virtuellen Modus ihres Raumes. Der Memorialraum kann nur dann seine Argumente „continere virtualiter“, wenn seine Orte im virtuellen Modus für alle an der Kommunikation Beteiligten verfügbar sind.287 Die Kenntnis dieser Gemeinplätze (also die scholastische Grundausbildung) vorausgesetzt, kann der virtuelle Raum der logischen Argumente von allen Kommunikanten genutzt werden, alle Eingeweihten wissen dieselbe Ordnung:
283 Kann 1998, S. 408. 284 Vgl. Kann 1998, S. 404: „Wie haben wir uns den Rückgriff auf dialektische topoi bzw. loci im Rahmen einer Schlußfolgerung vorzustellen? Ich gebe drei Beispiele […]: (1) Die Folgerung ‚Socrates est animal rationale mortale; ergo Socrates est homo‘ enthält ihre Gültigkeit aufgrund des Ortes aus der Definition, wonach gilt, daß von dem, wovon eine Definition ausgesagt wird, auch das Definierte ausgesagt wird. […] (2) Die Folgerung ‚Socrates est albus; ergo Sokrates non est niger‘ enthält ihre Gültigkeit aufgrund des Ortes aus konträr Entgegengesetztem, wonach gilt, daß, wenn von etwas ein Konträres ausgesagt wird, das andere nicht ausgesagt wird. (3) Die Folgerung ‚Iustus est bous; ergo iustitia est bona‘ erhält ihre Gültigkeit aufgrund des Ortes aus Zusammengehörigem, wonach gilt, daß, wenn von einem Zusammengehörigen etwas ausgesagt wird, wen dem anderen dasselbe ausgesagt wird.“ 285 Ich verwende den Begriff „Gemeinplatz“ in diesem Sinne, nicht in der ebenfalls scholastischen Begriffsverwendung als Bezeichnung eines dialektischen Ortes, der mehr als nur ein einziges Argument beinhalten kann, vgl. Kann 2005, S. 384f. 286 Vgl. Kann 1998, S. 408. 287 Kann diskutiert hierbei die Unterschiede im rhetorisch-mittelalterlichen und aktuellen Begriffsgebrauch von „virtuell“ und betont, dass nach mittelalterlichem Verständnis der Virtualitätsbegriff kein Gegenbegriff zu Realität war: Der dialektische Ort enthält seine Argumentationskraft nicht scheinbar, sondern tatsächlich (vgl. Kann 2005, S. 378). Dies entspricht jedoch genau dem hier verwendeten Begriffsverständnis von „virtuell“.
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Das Repertoire der gleichsam katalogisierten Örter ist endlich und strukturiert. Es ermöglicht bzw. erleichtert das Auffinden von Argumenten und den passenden Zugriff auf sie. Ein […] Effekt dürfte darin bestehen, dass der kognitive Zugriff von verschiedenen Disputierenden auf ein und dasselbe mnemotechnisch fixierte Repertoire von Argumentationsörtern oder -schemata das Erinnern und das Auffinden einzelner Argumente und damit auch den Disputationsvorgang insgesamt reguliert und stabilisiert.288
Im Hochmittelalter wurde das enge Verständnis der dialektischen Orte als bloßer Sitz von Argumentationsweisen erweitert durch die sogenannte materiale Topik, eine Sammlung allgemein akzeptierter (also allgemein verortbarer) Sentenzen, wie sie etwa im Sentenzenbuch des Petrus Lombardus im 12. Jahrhundert vorliegen.289 Und in diesem Verständnis kann der virtuelle Raum der dialektischen Orte auch über den engeren scholastischen Rahmen hinaus kommunizierbar werden, wie Mary Carruthers anhand einer bei Abaelard überlieferten Anekdote über Heloisas Klostereintritt nachweist: Heloisa hatte […] bereitwillig den Schleier genommen und war ins Kloster gegangen. […] Aus Mitleid mit ihrer Jugend versuchte man sie vom Joch der Klosterregeln wie vor einer unerträglichen Strafe abzuschrecken. Vergebens: unter Tränen schluchzend brach sie in jene Klage der Cornelia aus: ‚O herrlicher Gatte, Besseren Ehbetts wert! So wuchtig durfte das Schicksal Treffen ein solches Haupt? Ach mußt’ ich darum dich freien, Daß dein Unstern ich würd’? – Doch nun empfange mein Opfer, freudig bring ich es dir –‘ Mit diesem Worte eilte sie vor den Altar, empfing aus der Hand des Bischofs den geweihten Schleier und legte vor dem ganzen Konvent das Klostergelübde ab.290
Heloisa kommuniziert ihr aktuelles Schicksal mittels eines Zitates aus Marcus Annaeus Lukanus’ Pharsalia, um die gesamte Zuhörerschaft durch die Zitation eines literarischen Gemeinplatzes gleichsam in einen gemeinsamen Erinnerungsraum zu zwingen: What is so striking […] in Heloise’s action is her articulation of her own present dilemma and decision by means of her memory of a text in the public domain (as we would say). She re-presents Cornelia in her own present situation; the text from Lucan provides a temporal and spatial meeting-ground, a common place, between a public memory and her personal situation, and gives her a way of talking about herself in the present. […] And the mediator of the action is a piece of a literary text. Why? Because it is that which is common to both the subject and the audience, a piece of their common memorial florilegium.291
288 Kann 2005, S. 380. 289 Vgl. Kühlmann/Schmidt-Biggemann 2007, S. 647. 290 Abaelard 1989, S. 25f. 291 Carruthers 2008, S. 225f.
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Die Eigenheit der Inanspruchnahme von literarischen Gemeinplätzen im Unterschied zu scholastischen loci communes besteht darin, dass es sich nicht um einfach auf einen Fall anzuwendende Gesetzmäßigkeiten handelt, sondern um interpretationsnotwendige Gegenstände; literarische Erinnerungsorte „require not to be applied (like a theorem) but to be read, interpreted“.292 Carruthers deutet abschließend an, dass diese Form einer ethischen Diskussion über kollektiv erinnerte Literatur letztlich für die gesamte mittelalterliche Literaturpraxis zu veranschlagen ist: Thus, the entire ethical situation in Abelard’s account is socially and rhetorically conceived: it requires a recollecting subject, a remembered text, and a remembering audience. These, of course, are also the ingredients found in virtually all medieval narrative literature.293
Vor allem in Hinblick auf die deutschsprachige Epik des Hochmittelalters, die ja grundsätzlich bereits bekannte Stoffe verarbeitet und dabei auch nicht mit Binnenverweisen spart, bedeutet dies, dass der virtuelle Erzählraum auch als virtueller Memorialraum bestimmbar ist, den der Erzähler (mit seinem Text) und das Publikum (mit seinem Wissen) gemeinsam kommunizieren.294
3.2.1.3.2 Memorialgebäude und -bilder: Alle Kommunikanten sehen dieselbe Ordnung Das wichtigste Memorialgebäude der mittelalterlichen Gesellschaft, das auf eine kollektive Memoria ausgelegt ist, stellt sicherlich das Kirchengebäude dar. Schon in seiner grundsätzlichen Anlage repräsentiert der Kirchenraum den Himmelsraum, der für die Dauer der religiösen Kommunikation als virtueller Raum zwischenzeitig besucht werden kann: Die Gotteshäuser überstiegen in ihrem Erscheinungsbild die alltägliche Erfahrung – sie waren überdimensioniert, in der Länge reich gegliedert, in der Höhe vergleichsweise fast unermeßlich aufsteigend, durch farbige Fenster das Tageslicht verwandelnd, feierlich erhöht durch Bilder und Figuren an den Eingängen und im Bereich des Altares, dem sakralen Tisch des Hauses. So stellten sich die Menschen auch den Himmel vor: in vielen Sphären hinter- und übereinander aufsteigend, im allerhöchsten Himmel, im epyreum, dem Lichthimmel, wußten sie Gott thronend. […] Beides ist literarisch reich belegt: die innere Verbindung von Kirchenraum und Himmelsraum und die Beglückung, die der Kirchenraum dem
292 Carruthers 2008, S. 226. 293 Carruthers 2008, S. 227. 294 Vgl. dazu grundsätzlich Pincikowski 2008, S. 227‒234, der in Hartmanns Romanen dezidiert eine Anwendung der ars memoria gerade auch im architektonischen Sinne erkennt.
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Virtueller Raum im Hochmittelalter
Gläubigen gewährt – der sakrale Raum als Stätte des Übergangs vom Erdenleben zur jenseitigen Existenz.295
Dieser virtuelle Kirchenraum kann in der religiösen Kommunikation inmitten des normalen Raumes aufgebaut werden, doch darüber hinaus schlägt sich die architektonische Dimension des virtuellen Kirchenraumes auch dauerhaft im normalen Raum nieder: Die Bindung des Gotteshauses an die Gnadenwelt des architektonisch-räumlich aufgefassten Himmels fand seinen anschaulichsten […] Ausdruck in der ‚Orientation‘, der Ausrichtung der Hauptachse des Kirchengebäudes auf die Bahn, die die Sonne täglich vom Aufgang bis zum Untergang am Himmel beschreibt.296
Freilich setzt die Wahrnehmung dieser Orientation ein minimales Wissen voraus, doch dürfte dieses Wissen für die mittelalterliche Kultur grundsätzlich anzusetzen sein – der virtuelle Raum wird hier fast zum normalen Raum. Ganz anders verhält es sich dagegen mit den genauen und spezifischen architektonischen Gegebenheiten des mittelalterlichen Kirchenbaus, die, wie bereits im Musikkapitel ausgeführt, in ihren exakten Abmessungen und Verhältnissen musikalische Proportionen ausbilden können, deren Kommunikationszugänglichkeit eng begrenzt auf einen kleinen Kreis der Wissenden ist.297 In dieser Dimension ist der Kirchenraum ein recht exklusiver virtueller Raum. Durch seine vielfältigen Bezüge zur Bibel ist der Kirchenraum grundsätzlich als heilsgeschichtlicher Memorialraum bestimmt298 und erhält gerade im staufischen Hochmittelalter „Denkmalcharakter“299. Für die höfische Epik ist der Memorialcharakter von Bauwerken zentral:300 Wenn Bauwerke beschrieben werden, so geschieht dies in der Regel in der Form 295 Möbius 1993, S. 189. Zur engen Verbindung gerade der staufischen Kirchenkunst an die Literatur vgl. auch Bandmann 1986. 296 Möbius 1993, S. 190. 297 Vgl. Kap. 3.1.4. 298 Das Zentrum der kirchlichen Memoria ist dabei die Eucharistie, die bereits in ihrer biblischen Einsetzung als Memoria bestimmt ist: „Und er nahm das Brot, dankte und brach’s und gab’s ihnen und sprach: Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird; das tut zu meinem Gedächtnis“ (Lk 22, 19). Gesine Mierke hat herausgearbeitet, dass bereits im altsächsischen Heliand der Abendmahlsbericht als spezifisch christliche Memoria in der Volkssprache aufbereitet wurde, vgl. Mierke 2008, S. 331f. 299 Bandmann 1986, Sp. 1360. 300 Die höfische Epik greift damit der Philosophie vor, die erst im 13. Jahrhundert wieder Erinnerung anhand von eingerichteten Räumen breiter praktiziert (vgl. Carruthers 2008, S. 153ff.). Die Rhetorica ad Herennium ist besonders anschlussfähig für die erzählerische Performanz der
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einer Ekphrasis, die einen virtuellen Memorialraum aufmacht, der, wie Haiko Wandhoff grundlegend dargestellt hat, erzählten Raum und Erzählraum miteinander verbindet: In den Schauräumen der mittelalterlichen Kunst- und Architekturbeschreibungen findet man mehrschichtige Ensembles von Bildern, Gegenständen und Inschriften, in denen sich die Bedeutungsdimensionen von Figuren und Episoden des eigenen Textes ebenso spiegeln wie die Erinnerung an andere, vorbildhafte Werke und Gattungen. Hier treffen Hörer und Leser auf mikrokosmische Reflexionen des göttlich durchwirkten Universums, dreidimensionale epische Welt-Bilder, die die Verortung des ‚kleinen‘ Textes in der alles umgreifenden Meta-Erzählung der Heilsgeschichte anschaulich erfahrbar werden lassen.301
Die höfische Epik übernimmt bei ihren Memorialräumen (die neben den beschriebenen Bauwerken auch über Bildbeschreibungen aufgemacht werden)302 damit einerseits die heilsgeschichtliche Ausrichtung des Kirchenraumes, andererseits aber orientiert sie sich inhaltlich an einem selbstgesetzten, profanen Vorbild, nämlich an Troja: Der trojanische Krieg mit all seinen Folgen, wie er auf den Elfenbeinsätteln der Erecromane zu sehen ist, bildet fraglos das historische Motiv, welches im Mittelalter am häufigsten in Form einer Ekphrasis dargestellt wird. Von Homer in seiner ‚Ilias‘ beispielhaft beschrieben, von Vergil dann auf dem Juno-Tempel in Karthago als visuelles Kunstwerk verewigt, von den volkssprachigen Eneasromanen ‚vergessen‘ und im Artusroman schließlich wiederentdeckt, nimmt das Troja-Bilddenkmal seit dem 12. Jahrhundert einen zentralen Platz in den episch inszenierten Welt-Bildern der mittelalterlichen Literatur ein, und zwar in den lateinischen ebenso wie in den volkssprachigen Epen und Romanen.303
Die höfische Epik übernimmt und verändert den Memorialraum Kirche als virtuellen Raum, sie entwirft in den Ekphrasen mit dem Fokus auf Troja virtuelle Memorialräume, die „als Monumente kollektiver memoria fungieren“;304 der
Epik, da sie zentral auch auf Fragen der angemessenen Vortragsgestaltung eingeht (v. a. in Buch III). Nicht von ungefähr schreibt Albertus Magnus im 13. Jhd., als er auf die Rhetorica ad Herennium zurückgreift, dass gerade Fiktionalität besonders gut erinnert werden kann (vgl. Carruthers 2008, S. 176); doch schon im frühen 12. Jahrhundert wird die Rhetorica ad Herennium durch den verbreiteten Pariser Alanus-Kommentar rezipiert (vgl. ebd., S. 154), als ars wird die Erinnerungskunst nach ihrem Vorbild allerdings erst im 13. Jahrhundert an den Universitäten gelehrt (vgl. ebd., S. 181). 301 Wandhoff 2003, S. 325. 302 Hierbei sind die scholastischen Memorialbilder ein Vorbild, wie sie etwa von Alanus ab Insulis verwendet wurden, vgl. etwa Carruthers/Ziolkowski 2004, S. 83ff. 303 Wandhoff 2003, S. 183. 304 Wandhoff 2003, S. 32.
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räumliche Charakter ist dabei auch für Wandhoff, der einen sehr engen, physischen Raumbegriff ansetzt, signifikant: [Es] konnte gezeigt werden, daß sich die Kunstbeschreibungen des Mittelalters […] von den flachen Ekphrasen des antiken Epos durch eine nicht selten architektonisch realisierte Räumlichkeit unterscheiden. Das Betrachten dieser Bild- und Bauwerke ist als ein imaginativ zu vollziehendes Durchwandern dreidimensionaler Schauräume konzipiert, bei dem die Bewegungen des Geistes in Analogie zu den motorisch vertrauten Bewegungen des Körpers konzipiert werden. Nicht mehr die Bilder sind hier in Bewegung, wie etwa noch in den kinetisch aufgeladenen Ekphrasen Vergils, sondern der Leser ist nun selbst aufgefordert, vermittels einer leib- und bewegungsorientierten Perzeption in die ekphratischen Bild-Räume einzutreten und die dort zu findenden Bilder und Zeichen sinnerzeugend zusammenzulegen. In Weiterentwicklung der antiken Gedächtniskunst knüpft die mittelalterliche Literatur damit an vor- und außerliterarische Bewegungsroutinen an, die als wirksame Techniken zur Aneignung, Verarbeitung und Speicherung von Wissen kulturell eingeübt sind, um diese zu virtualisieren und damit zugleich auch zu überbieten.305
In dieser Zusammenfassung bleibt Wandhoff freilich mit seinem Rückgriff auf die Imagination des Lesers hinter einem seiner eigenen Ergebnisse zurück: Die Memorialräume der Epik stellen Möglichkeiten kollektiver Memoria zur Verfügung, die eine individuelle Imagination überbieten und einen virtuellen Kommunikationsmodus nicht nur ermöglichen, sondern geradezu erzwingen: Der erzählte Memorialraum stellt für die Erinnerung nicht nur Orte, sondern zugleich auch die dort eingestellten Bilder zur Verfügung, so dass die Memorialtechnik ‚Erinnerung als eingerichteter Raum‘ umfassend durch den Erzähler vorgegeben wird; eine individuelle Einrichtung der Memorialräume, wie in der Scholastik üblich, ist somit gar nicht möglich, die Erinnerung – etwa an den Trojanischen Krieg – erfolgt kollektiv identisch, der dabei kommunizierte Raum ist virtuell. Mit den durch den Erzähler vorgegebenen Bildern sehen alle Kommunikanten dieselbe räumliche Anordnung in je ihrem Gedächtnis (ungeachtet individueller Ausgestaltungen der einzelnen Orte).306
305 Wandhoff 2003, S. 325f., Hervorhebungen durch Wandhoff. 306 Wandhoff erkennt auch einen weiteren Aspekt dieses virtuellen Raumes, die Möglichkeit, ihn zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufzusuchen: „Haben die Textbenutzer diese virtuellen Wissensräume einmal in ihrem Gedächtnis installiert, dann können sie sie zur wiederholten Bedeutungsauffindung auch unabhängig von der Lektüre durchstreifen. Die kognitiven Funktionen dieser pictura erreichen daher im Prinzip Leser und Hörer gleichermaßen“ (Wandhoff 2003, S. 326). Wichtig wäre freilich auch hier zu betonen, dass der in der persönlichen Erinnerung „durchstreifte“ Raum dahingehend virtuell ist, dass er ebenso auch in anderen Gedächtnissen verankert ist.
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3.2.1.3.3 Totenmemoria: Alle Kommunikanten performieren dieselbe Ordnung Wie auch in der rhetorischen und dialektischen Theorie der Gedächtniskunst, so übernimmt auch die mittelalterliche Praxis des Totengedenkens antike Traditionen: Geläufige Ausdrucksform des Totenkults in der christlichen wie in der heidnischen Antike war das […] von Verwandten, Freunden und von der Familie des Toten am Grab begangene Totenmahl, in dem der Tote als wirklicher Teilnehmer erlebt wurde.307
In der Performanz des gemeinsamen Gedenkens entsteht ein Memorialraum, der die Anwesenheit des im normalen Raum Absenten erlaubt. Diese Anwesenheit ist auf die Zeit der gemeinsamen Kommunikation der Feiernden beschränkt und wird für alle Kommunikanten Wirklichkeit, obwohl der Tote weiterhin aus dem normalen Raum exkludiert bleibt, es handelt sich also um einen virtuellen Raum. Die mittelalterliche Kirche versucht die Praxis zu unterbinden zugunsten der einen Totenfeier, der Eucharistie, in deren Rahmen der gestorbene und auferstandene Christus anwesend ist; die entsprechenden Anstrengungen sind jedoch nicht wirklich erfolgreich: Dies bewirkte eine Zurückdrängung des Totenmahls und seine Eliminierung aus dem kirchlichen Bereich, führte allerdings nie zu seiner völligen Verdrängung.308
Stattdessen ergeben sich Verbundmodelle aus klerikalen und profanen Praxen, so dass aus „der Liturgie der eucharistischen Mahlfeier mit ihrer Kommemoration der Toten und der abwesenden Lebenden […] die frühmittelalterliche Memoria“309 entsteht. Besonders für den adeligen Bereich ist die Totenmemoria von zentraler Bedeutung, da über Abstammung auch Macht und Herrschaft legitimiert werden. Die dabei auch juristisch wirksame Anwesenheit der Verstorbenen wird über die Nennung des Namens erreicht, die dem im virtuellen Memorialraum anwesenden Verstorbenen „einen rechtlichen und sozialen Status unter den Lebenden“310 verleiht.
307 Oexle 1999, S. 306. 308 Oexle 1999, S. 307. 309 Oexle 1999, S. 307. 310 Oexle 1999, S. 309.
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Totenmemoria in der Form von Namenslisten,311 Namensnennungen312 und chronikalen und legendarischen Erzählung313 steht in einem engen Zusammenhang mit höfischer Literatur, wie Friedrich Ohly in seiner Abschiedsvorlesung dargestellt hat. Doch auch jenseits dieser grundsätzlichen Bedeutung von höfischer Literatur für eine außerliterarische Memorialpraxis werden innerhalb des erzählten Raumes virtuelle Memorialräume über die kulturellen Praxen der Totenmemoria in der höfischen Literatur des Hochmittelalters aufgebaut. Besonders deutlich – und eigenwillig – geschieht dies im Märe Die Rittertreue314 aus dem 13. Jahrhundert: Die Geschichte handelt von dem verarmten Ritter Willekin, der in einer fremden Stadt auf einem Turnier die Hand der Fürstin gewinnen will. Dazu muss er sich zunächst in einer Herberge der Stadt einmieten, deren Wirt auf den Ritterstand überhaupt nicht gut zu sprechen ist: Ein ehemaliger Mieter aus dem Ritterstand starb unvermutet, ohne dass dessen Familie die offene Rechnung von 70 Mark beglichen hätte; der Wirt verscharrte den toten Ritter aus Rache im Mist, wo er noch liegt. Willekin löst nun den Ritter aus und lässt ihn in einer großen, öffentlichen Feier standesgemäß beerdigen, er verschafft dem toten Ritter eine öffentliche Totenmemoria: der tôte wart her ûz genomen, ein niuwer sarc wart im gemacht, des nahtes wart er wol bewacht. von des edelen hêren wegen mouste man der lîche pflegen als er sîn vater waere, alsô saget uns diz maere. vruo man in zer kirchen truoc […]. mit einer wunneclîchen schar volgete im der hêre dar. (VV 378‒388)
Der Verstorbene wurde herausgenommen, und ein neuer Sarg wurde für ihn angefertigt; Nachts wurde am Sarg Wache gehalten. Auf Befehl des edlen Herrn sollte der Leichnam behandelt werden, als ob er sein Vater wäre, so überliefert uns die Geschichte. Frühmorgens trug man ihn zur Kirche. Mit einem prächtigen Trauerzug folgte ihm der Herr dorthin.
311 „Der Name ist ein Anruf an das Gedächtnis Gottes, die Person aus seinem Wissen zu ergänzen“ (Ohly 1982, S. 15). 312 Dies gilt vor allem für die Autorfürbitten, die nach monastischem Vorbild eine Totenmemoria gleichsam vorwegholen – in Form der Handschrift aber auch tatsächlich auch nach dem Tod des Autors stattfinden kann: „Die Autorbitte um Fürbitte der Empfänger, Hörer oder Leser seines Werks hat einen ihrer Ursprünge offenbar im Kloster, dem das Gebetsgedenken von Bruderschaft zu Bruderschaft vertraut war“ (Ohly 1982, S. 19). Performativ spannend in diesem Zusammenhang ist, dass in der Aufführung der Literatur gerade durch Erzähler, die nicht mit den Autoren identisch sind, die virtuelle Gegenwärtigkeit des Autors in der kollektiven Erinnerung der Erzählung durch die teilweise ausgefeilten Autorenrollen, die die Texte anbieten, gegeben ist. 313 Vgl. Ohly 1982, S. 44‒48. 314 Die Rittertreue 1969. Zu meiner Interpretation ausführlich vgl. Wagner 2009a, S. 77‒123.
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Der nackt im Mist begrabene Ritter wird in dieser Totenfeier so prachtvoll inszeniert, wie er erinnert werden soll, und die an das Begräbnis anschließende Totenfeier (vgl. VV 397‒434) ist vor allem von umfangreichen und teuren Geschenken gekennzeichnet: Willekin erweist in der von ihm initiierten Totenmemoria Treue gegenüber dem Standesgenossen und große milte. Der Erinnerungsraum, der dabei inszeniert wird, überdauert jedoch die eigentliche Totenfeier und verschafft dem Toten zwischenzeitig buchstäblich Raum, um wieder in der Immanenz zu agieren: Der tote Ritter erscheint in der Stadt und verhilft Willekin zum Turniersieg und damit zur Hochzeit mit der Fürstin, um schließlich als Engel wieder aus dem Erzählraum zu verschwinden. Signifikant dabei ist, dass der tote Ritter eben in der Form erscheint, in der er bei der Totenfeier kollektiv erinnert wurde, nämlich als freigiebiger, prächtig gestalteter, treuer Standesgenosse im besten Alter und nicht etwa als der nackte, verarmte, von seiner Familie verlassene, tote Ritter im Mist. Schon der erste Auftritt des toten Ritters legt den Schwerpunkt auf dessen standesgemäße Pracht: dô quam ein ritter her geriten, der haete ein guot ors überschriten und vuorte kleider selpvar. […] der ritter was ze mâzen alt, daz ors ze wunsche wol gestalt. (VV 455‒460)
Da kam ein Ritter herangeritten, der hatte ein außergewöhnliches Pferd und trug ungefärbte Kleider. Der Ritter war im besten Alter, das Pferd war, wie man es sich nur wünschen konnte.
In der prachtvollen Totenmemoria kommuniziert Willekin ein Erinnerungsbild eines prächtigen Ritters, er schafft – durchaus auch mit seinem eigenen freigiebig und treu agierenden Leib – einen Gedächtnisort, den der Tote in Folge einnehmen kann. Beschränkt ist die Kommunikationszugänglichkeit des Gedächtnisraumes, in dem sich der Tote zwischenzeitig bewegen kann, allerdings auf Willekin und ihn selbst, keine andere Person der Erzählung kommuniziert mit dem Toten. Und dieser Gedächtnisraum, in dem der Tote anwesend ist, hat, wie auch in der realgesellschaftlichen Totenmemoria, rechtliche Konsequenzen: Der Tote schließt mit Willekin einen Vertrag, er überlässt dem Brautwerber sein prächtiges Pferd für das Turnier mit der Auflage, dass er von allem, was auf dem Rücken des Pferdes gewonnen werden würde, die Hälfte bekommen solle. Willekin gewinnt das Turnier und damit auch die Hand der Fürstin, doch nach der Hochzeit fordert der Tote sein vertragliches Recht an der Ehefrau. Hierbei wird die auf Willekin und dem Toten beschränkte Kommunikationszugänglichkeit des Erinnerungsraumes besonders deutlich: Der Tote erscheint im Schlafzimmer, das eben noch neben Willekin die Fürstin und die Bediensteten inkludiert hat – und von seinem Erscheinen an
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werden nur noch Willekin und der Tote als Kommunikanten gezeigt;315 offensichtlich bekommt die Fürstin von der folgenden ausführlichen Auseinandersetzung in der Kemenate neben dem Ehebett nichts mit, obwohl es gerade um sie geht. Die Auseinandersetzung zwischen Willekin und dem Toten findet eben nicht im normalen Raum der Kemenate statt, sondern im auf Willekin und dem Toten beschränkten virtuellen Memorialraum, der die Form der Kemenate übernimmt. Als Willekin sich schließlich für die Vertragstreue gegenüber dem Toten entscheidet, gibt dieser sich als Engel zu erkennen und verzichtet auf sein Vertragsrecht, um anschließend in den Himmel zu fahren und damit den virtuellen Memorialraum aufzulösen. Der virtuelle Raum, der zunächst als Rechtsraum des Toten fungiert, der darin mit Willekin einen Vertrag abschließt und diesen Vertrag einfordert, verändert schließlich den normalen erzählten Raum nachhaltig: Willekin ist auf der Basis des Geschenks des Toten schließlich dauerhaft ein freigiebiger, treuer, prächtiger Ritter; er erhält also genau die Gestalt des Memorialbildes der Totenmemoria, oder anders ausgedrückt: Willekin nimmt den Ort des prächtigen, treuen, freigiebigen Ritters ein, der in der Totenfeier memoriert wurde und der danach zunächst im virtuellen Memorialraum von dem Toten selbst eingenommen wurde; Willekin aber kann schließlich dauerhaft und für alle sichtbar seine milte und triuwe kommunizieren,316 er überführt das virtuelle Memorialbild des freigiebigen, treuen, prächtigen Ritters in den normalen Raum der Erzählung.
3.2.1.3.4 Höfische Erzählungen: Alle Kommunikanten hören dieselbe Ordnung Auch über die bereits skizzierten imaginären und virtuellen Erinnerungsräume hinaus bildet die höfische Erzählung in ihrem Vollzug einen virtuellen Memorialraum aus, da alle Kommunikanten (also Erzähler und Publikum) dieselbe Ordnung hören. Die Grundlage dieses grundsätzlichen virtuellen Memorialrau-
315 Willekin hat freilich gerade die Bediensteten aus dem Raum gewiesen und die Tür geschlossen, doch begreife ich dies als Vorbereitung des virtuellen Raumes, der nun erst in der Kommunikation zwischen Willekin und dem Toten aufgebaut werden kann – und auch die im normalen Raum noch anwesende Fürstin exkludiert. Zur Kemenate als Raum der Begegnung von Immanenz und Transzendenz vgl. Wagner 2009a, S. 112f. 316 Milte und triuwe werden im Ende der Erzählung dominant gesetzt: „Alsus nam ez ein ende. / nâch dem wirte begunde sende / der vil tugentlîche gast. / er gap im silbers eine last / als ez ein starker suomer truoc. von sîner schult erz niht versluoc. / daz sult ir merken ebene, / er gapz im al vergebene / wan er haete milten muot. sus dô galt er im sîn guot.“ (VV 847‒846; „So ging die Geschichte aus. Der tugendreiche Gast schickte nach dem Wirt. Er schenkte ihm eine große Menge an Silber, wie sie ein Saumpferd tragen konnte. Er verrechnete seine Schulden nicht damit. Merkt Euch das gut: Er gab ihm alles umsonst, denn er hatte einen freigibigen Sinn. So vergalt er ihm seine Güte“).
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mes der höfischen Erzählung bilden nicht die Buchstaben oder optischen Gliederungssignale der Handschrift und auch weniger die Memorialmittel Reim und Metrum,317 sondern vielmehr die im Ablauf der Erzählung aneinandergereihten res: Das mittelhochdeutsche Epos, der Roman, das Märe, die Legende etc. zeichnen sich dadurch aus, dass sie distinkte Erzähleinheiten aneinanderreihen, die als res (nicht als verba!) dem Publikum grundsätzlich bereits bekannt sind.318 Damit erinnert das Publikum die rezipierte Erzählung kollektiv, indem die zeitliche Reihung von Erzähleinheiten der räumlichen Reihung von Memorialbildern im Memorialgebäude entspricht. Und Memoria ist die mittelhochdeutsche Erzählung ja grundsätzlich, die stets im Präteritum erzählt wird und das Geschehen gerne in eine unbestimmte historische Vergangenheit verortet.319 Speziell für Hartmann hat Scott E. Pincikowski diese memorative Funktion der erzählten Räume für den Erzählraum betont: Hartmann schafft, was Carruthers als ‚Gedächtnisräume‘ bezeichnet, jene pictura, textliche Bilder, die ‚die assoziativen Vorgänge des Erinnerns‘ in Bewegung setzen […]. Der Zweck dieser Assoziationen ist nicht memoria verborum, das Auswendiglernen von Wörtern, sondern die memoria rerum, das Auswendiglernen von Ideen […]. Der Dichter, als ‚Baumeister‘ tätig, entwickelt Gedächtnisräume, architektonische Motive wie Burgen, Mauern und Tore, um Räume zu schaffen, in die er Ideen und Lektionen einsetzen kann, welche die soziale und kulturelle Identität des Adels erkunden. Es ist innerhalb dieser dem Adel bekannten Räume, wo ein Austausch zwischen dem Gedächtnis des Dichters und dem des Zuhörers stattfindet […].320
Die Räumlichkeit der erinnerten Erzählung kommt im Hochmittelalter in zweifacher Art und Weise plakativ zum Ausdruck, zum einen extradiegetisch (also vom Beobachterstandpunkt einer Person aus, die nicht Teil der erinnerten Erzählung ist), zum anderen intradiegetisch (also vom Beobachterstandpunkt einer in die gerade erinnerte Geschichte integrierten Person). Berühmtes Beispiel für die extra diegetische Räumlichkeit der Erinnerung einer Erzählung ist das Iwein-Zimmer auf Burg Rodenegg: Mit einer umlaufenden Bildergalerie von ursprünglich wahr-
317 Hier verschiebt Fritsch-Rössler die Schwerpunkte zu stark, wenn sie – unter Ausblendung des Erzählers – schreibt: „Der Nutzen der (vom Produzenten angewendeten) Mnemotechnik (in Form von Metrum, Vers, Reim, Akrostichon, Emblem, Figurengedicht u. a. m.) liegt auf Seiten des Hörers resp. Lesers“ (Fritsch-Rössler 2003, S. 163). 318 Dies gilt speziell für die deutschsprachige höfische Dichtung zwischen 1150 und 1220, die im Zuge der allgemeinen Vorbildfunktion der französischen Hofkultur auch die – damit bereits bekannten – literarischen Stoffe der französischen Dichtung adaptiert, vgl. Bumke 2002, S. 120f. 319 Vgl. dazu auch Ohly 1982, S. 47‒68. 320 Pincikowski 2008, S. 227. Putzo 2012, S. 299‒301, interpretiert die Sigune-Figur im Parzival als gezielt für mnemotechnische Effekte eingestellte Erinnerungsfigur im Roman.
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scheinlich zwölf Szenen bildet der Raum den ersten Handlungsteil des Iweinromans ab (Abschied Iweins von der gastlichen Burg – Waldmann – Wunderquelle – Speerkampf – Schwertkampf – Falltor – Tod Askalons – Lunetes Hilfe – Askalons Beerdigung – Suche nach dem unsichtbaren Iwein – Unterwerfung Iweins vor Laudine – Hochzeit),321 so dass derjenige, der den Raum betritt, durch einen Rundgang sich mit den einzelnen Memorialbildern den gesamten Erzählabschnitt in Erinnerung rufen kann;322 das Memorialmodell des mit Bildern eingerichteten Raumes funktioniert hier buchstäblich und schlägt sich durch die Bilder im normalen Raum nieder. Dennoch bleibt das Iwein-Zimmer ein virtueller Raum: Zwar sehen alle Kommunikanten dieselbe Ordnung, doch ist der Kreis der Inkludierten beschränkt auf diejenigen, die die Geschichte von Iwein kennen. Alle anderen sehen in den Bildern entweder lediglich eine unzusammenhängende Abfolge von Personen- und Dingkonstellationen oder entwerfen gar einen vollständig anders gefüllten Memorialraum, wie etwa Joseph Garber, der in einer der ersten kunsthistorischen Beschreibungen den Raum als Schlosskapelle interpretiert und anhand der Bilder eine Kreuzigungsszene erinnert: Alle vier Wände der Kapelle weisen Spuren von romanischer Malerei auf […]. Das größte Gemälde befindet sich auf der Südwand gegenüber dem Eingang. Es wird oben durch die Gewölbe halbkreisförmig überschnitten. Wahrscheinlich stellte es eine Kreuzigung Christi dar. Rechts sieht man noch als den deutlichsten Teil von einem schwarzen Pferde den Kopf und die zwei vorderen Füße; auf dem Pferde ein Reiter, von dem noch ein roter Mantel erkennbar ist. In der Mitte des Bildes ist ein senkrechter Streifen von gelber Farbe außen und grauer innen erkennbar, den man als Kreuzstamm ansehen möchte. Daneben steht links eine trauernde weibliche Gestalt, mit der Hand auf der Brust (Maria?), dahinter ein Kopf, der sich ihr im Profil zudreht. Auf dem Boden ist eine kniende Figur gemalt, von der eine emporgestreckte Hand sichtbar wird (Magdalena?). In der linken Bildseite ist ein zweiter senkrechter Streifen (gelb, mit roten und grauen Feldern) sichtbar (Balken des zweiten Kreuzes?). So auffallend die Anordnung und der Reichtum der Figuren für das ikonographische Schema romanischer Kreuzigungsbilder ist, die gewöhnlich neben dem Kreuze Christi nur Maria und Johannes enthalten, scheinen die Spuren doch am ehesten noch für ein Kreuzigungsbild zu sprechen.323
321 Vgl. Schupp/Szklenar 1996, S. 81‒105. Ellen Strittmatter erwägt in ihrer Dissertation überzeugend, dass durch eine Technik der Verdichtung von Bildmotiven eigentlich der gesamte Roman in den zwölf Szenen abgebildet ist, vgl. Strittmatter 2013, S. 309‒346. 322 Der epische Charakter einer fortlaufenden Erzählung bestimmt dabei auch die Bildgestaltung: „Die horizontale Gliederung der Wände ist sinnvollerweise kaum in Maßen wiederzugeben. Ein Blick auf die Tafeln lehrt, daß die einzelnen Szenen als solche zwar eindeutig bestimmbar sind, daß sie aber […] auf eine die Bilderzählung merklich stimulierende Weise ineinander übergehen“ (Schupp/Szklenar 1996, S. 54). Strittmatter 2013, S. 309-346, verfolgt diesen Ansatz systematisch weiter. 323 Garber 1928, S. 109.
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Auch Garber kommuniziert einen virtuellen Raum, den weitere Kommunikanten anhand seiner Beschreibung und Deutung betreten können; doch dieser virtuelle Raum ist gänzlich verschieden von dem virtuellen Iwein-Zimmer des 13. Jahrhunderts, obwohl die physischen Bestimmungen des Raumes grundsätzlich gleich geblieben sind. Ein ganz ähnlicher, im gewissen Sinne extradiegetischer Memorialraum auf der Basis von Wandbildern taucht auch innerhalb eines erzählten Raumes der höfischen Epik auf; die Rede ist von dem Gedächtnisraum im Prosalancelot, den Lanzelot selbst auf Basis seiner Erinnerungen anfertigt: Lancelot, der sich in der Gefangenschaft von Morgane befindet, kann aus seinem Gefängnis durch ein Fenster die Entstehung eines Eneas-Bilderzyklus’ betrachten (er sieht also die Entstehung eines virtuellen Memorialraumes); dies inspiriert ihn, „im Innern des Raumes seine eigene, biographische Memoria in Form einer Bilderzählung zu inszenieren. Mit den Resten der Farbe des Troja-Malers ausgestattet, beginnt er, seinen Weg an den Artushof und vor allem seine heimliche Liebe zur Königin Ginevra in einer Serie von Bildern darzustellen“.324 Lancelot erinnert also seine eigene Geschichte anhand eines Zyklus von Memorialbildern,325 die wie im IweinZyklus Szenenbilder seines Lebens aneinanderreihen: Da hub er zum ersten an zu maln wie yn die fraw vom Lac in konig Artus hoff gebracht hatt ritter zu werden, und wie er geyn Camalot geritten were, und wie er erschrack von der schonheit syner frauwen der konigin als er sie von erst ane sah, auch wie er von ir urlaub nam als er reyt zur herczoginn von Noans sie zu entretten. Diß macht er alles des ersten tags;326
So begann er als erstes zu malen, wie die Frau vom See ihn an den Hof von König Artus gebracht hatte, damit er zum Ritter geschlagen würde, und wie er nach Camelot geritten war; wie er vor der Schönheit der Königin erschrocken war, als er sie zum erstenmal sah, und wie er Abschied von ihr genommen hatte, als er zur Herzogin von Noaus ritt, um ihr zu helfen. Dies alles malte er am ersten Tag.
Wie ein hochmittelalterlicher Erzähler ‚erzählt‘ Lancelot seine bisherige Lebensgeschichte aber nicht an einem Tag, sondern unterteilt sein Malen auf mehrere Tage; dabei tritt er auch in Interaktion mit dem Erinnerten, er schafft sich mit dem Bilderraum einen Memorialraum, der ihm, dem Gefangenen, eine parallele Existenz in Freiheit und Liebeserfüllung ermöglicht:327 324 Wandhoff 2003, S. 284. 325 Vgl. dazu auch ausführlich Merveldt 2004, S. 88‒95. 326 Prosalancelot IV, S. 46, 27‒33. Übersetzung nach Steinhoff. 327 Wenzel spricht hier von einem „Gedächtnisraum für die Geschichte seiner Liebe, die doch nicht ‚Geschichte‘ ist. Gedächtnis will hier nicht Erinnerung schaffen, sondern Gegenwart – Gemeinschaft und Teilhabe“ (Wenzel 1995, S. 306). Genau dies ist aber Erinnerung nach dem
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Und des morgens, als er uff stund, spart er die fenster uff gegen dem bangarten. Er sah das bild syner frauwen an, er neygt sich vor im und grůßt es, darnach umbfing er es und kust es vor den můnt als inniglich als er eyner frauwen gethun möcht dann syner frauwen. Da hub er an zu maln wie es im ging da er zu Dolorosegarte yn fůr und wie er die burg gewann durch syn frůmkeit. Er malet denselben tag wie er gethan hett biß an den tag des thorneys, und in welcher maßen er die grunen wapen furt an dem tag da der konig herab kam von dem sale und brisete yn fur alle die ritter. Und darnach von tag zu tag malet er all hystorye von im besunder und nit von den andern.328
Am Morgen, als er aufgestanden war, öffnete Lancelot die Fenster zum Baumgarten. Er betrachtete das Bild seiner Königin, verneigte sich vor ihm und grüßte es, dann umfing er es und küßte es so innig auf den Mund, wie er außer seiner Königin keine andere Frau küssen würde. Dann begann er zu malen, wie es ihm ergangen war, als er in die Dolorose Garde eingeritten war, und wie er die Burg mit seiner Tapferkeit erobert hatte. Er malte an diesem Tag, wie es ihm bis zum Tag des Turniers ergangen war und wie er die rote Rüstung getragen hatte an dem Tag, da der König vom Saal zu ihm heruntergestiegen war und ihn höher als alle anderen Ritter gerühmt hatte. Und dann malte er Tag für Tag seine ganze Geschichte, aber nur seine eigene und nicht die der anderen.
Es wäre naheliegend, dass dieser Memorialraum, den Lancelot hinter verschlossenen Türen malt und der auch inhaltlich auf seine Geschichte beschränkt ist, ein imaginärer Memorialraum ist, dessen Kommunikationszugänglichkeit auf Lancelot selbst beschränkt ist; doch der Text hebt hervor, dass auch andere die in der Bilderfolge räumlich erinnerte und erzählte Geschichte rezipieren können. Zunächst ist dies Morgane, die des Nachts heimlich die Bilder betrachtet und einer Begleiterin erklärt: Sie wißte die jungfrauw die bild und sagt ir von yglichem die betútung, „das ist Lancelot und da die koniginn und hie ist konig Artus“, das sie wol wúst was yglichs bedút. Da sprach Morgane: „Ich wil inn keyn wyse laßen, ich behalt dißen maler so lang biß diße kamer all zumal gemalet wurt, dann ich wol weiß das er die hystorien von im und der konigin alle malen wirt. Und hett er es gancz uß gemacht, so wolt ich so viel thůn das konig
Sie [Morgane] zeigte ihr die Bilder und was jedes davon bedeutete: „Das ist Lancelot und das die Königin und hier König Artus,“ denn sie wußte genau, wen jedes darstellte. Dann sagte Morgane: „Ich werde mich auf keinen Fall davon abbringen lassen, diesen Maler so lange festzuhalten, bis der ganze Raum ausgemalt ist, denn ich weiß, daß er die ganze Geschichte von sich und der Königin malen wird. Und wenn er vollendet
mittelalterlichen Modell räumlicher Memoria: Erinnerung, die nicht ein bloß geistiger Akt ist, sondern einen Raum schafft, der dem Erinnernden Interaktion mit den vergegenwärtigten Erinnerungsgegenständen erlaubt. 328 Prosalancelot IV, S. 48,28‒50,4. Übersetzung nach Steinhoff.
Erinnerung und virtueller Raum
Artus herre komen must, das ich im zu erkennen geb die warheit von syner frauwen und Lanceloten.“329
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hat, werde ich dafür sorgen, daß König Artus herkommt, damit ich ihm die Wahrheit über seine Frau und Lancelot entdecken kann.“
Morgane ist sich sicher, dass Lancelot seine am ersten Tag begonnene Geschichte mit den Bildern „weitererzählt“, und sie rechnet auch fest damit, dass Artus später die verräumlichte Erinnerung ebenfalls lesen kann. Dies geschieht schließlich auch – zeitlich weit entfernt im letzten Teil des Prosalancelot –, wobei hier der Bilderraum stark verschriftlicht ist, so dass Artus die Geschichte auch als Text lesen kann. Der Memorialraum, den Lancelot anfertigt, hat also virtuelle Kommunikationszugänglichkeit: Ohne seinen Willen erzählt Lancelot Morgane und Artus dieselbe Geschichte. Es hat den Anschein, dass der spätmittelalterliche Abschluss des Prosalancelot mit dem bebilderten Memorialraum innerhalb der Erzählung den virtuellen Erzählraum des Hochmittelalters reflektiert: Gemeinsam erinnern Morgane und Artus das vergangene Geschehen um Lancelot und Ginover als res, das Lancelot auf mehrere Tage aufgeteilt ‚erzählt‘; der Prosaroman – selbst wahrscheinlich lesend rezipiert330 – modifiziert freilich das überkommene Modell der Echtzeiterzählung durch den Zeitaspekt: Sowohl Morgane als auch Artus können die verbildlichte und verschriftlichte Erzählung noch lange Zeit nach der Aktion Lancelots als ‚Erzähler‘ rezipieren, Artus selbst liest eher einen schriftlichen Text, als dass er Bilder betrachtet: Da begunde der konig zu sehen umb sich und sah das gedichte das Lanczlot hett gemacht die wyl das er da gefangen was gewest. Und der konig kůnd als viel der schrifft das er das wol laß und verstund. Und da er die buchstaben gesach die da bezeichent die gescheffniß von den bilden, da begunde er sie zu lesen als vil das er schinbarlich erkant das die kammer gemalt was von Lanczlot und von der biederbekeyt die er der zu den geziten da er nůwelich ritter was worden. Und da gesah der konig nye keyn ding, er bekante wol das es war were, umb die meren die da alle tag kamen zu hoff von
Der König [Artus] sah sich um und erblickte die Gemälde und die Geschichte, die Lancelot geschaffen hatte, als er dort gefangen gewesen war. Der König konnte genug lesen, um alles zu entziffern und zu verstehen. Als er die Inschriften sah, welche den Inhalt der Bilder benannten, begann er sie zu lesen, so daß er in aller Klarheit erkannte, daß das Zimmer mit Bildern von Lancelot und den Taten ausgemalt war, die er seit der Zeit vollbracht hatte, da er eben erst Ritter geworden war. Da sah der König nichts, wovon er nicht gewußt hätte, daß es wahr war, weil die Berichte darüber von
329 Prosalancelot IV, S. 48, 18‒27. Übersetzung nach Steinhoff. 330 Vgl. dazu ausführlich Kap. 4.4.
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Virtueller Raum im Hochmittelalter
synen rittern als bald als die hetten keyn byderbkeit gethan von ritterschafft. Also begunde der konig lesen die schrifft von Lanczelots biederbekeit und von synen wercken an den bilden die er gemalet hett, und er besah die bilde, die bewyseten das angebinde von Galaat. Der wunderte er sich sere und begunde diß zu sehen und sprach zu imselber als gútlich: „Off myn trúwe, ist diß bedútniß ware von dißer schrifft, so hatt mich Lanczlot geschant mit der konigin, wann ich sehen schinbarlich das er by ir geschlaffen hat. Und ist es ware als diße buchstaben bezugent, das ist ein ding das mich bringet in großen ruwen dar ich ye in kam, das mich Lanczlot nit anders kunde geschenden dann mit mynem wybe.“331
seinen Rittern jeden Tag an den Hof gemeldet wurden, sobald sie eine große Rittertat vollbracht hatten. So begann der König in den Gemälden, die Lancelot gemalt hatte, von seiner Tapferkeit und seinen Taten zu lesen, und er betrachtete die Bilder, die den Anfang mit Galahot darstellten. Er wunderte sich, sah es sich näher an und sagte gefaßt zu sich selbst: „Auf mein Wort, wenn es wahr ist, was diese Schrift besagt, dann hat mich Lancelot mit der Königin geschändet, denn ich sehe ganz deutlich, daß er mit ihr geschlafen hat. Und wenn es wahr ist, was diese Buchstaben bezeugen, dann muß mich das in tieferes Leid stürzen, als ich jemals zu erdulden hatte, weil Lancelot mir mit nichts anderem Schande zufügen könnte als mit meiner Frau.“
Der virtuelle Erinnerungsraum wird auch von Artus (auf der Basis seiner eigenen Erinnerung) aufgebaut, und er ist identisch mit dem Erinnerungsraum Lancelots und Morganes, bei allen drei steht das Verhältnis von Lancelot zu Ginover im Mittelpunkt – freilich mit unterschiedlichen Auswirkungen auf die Erinnernden. Der ausgemalte Raum bietet dem Prosalancelot die Möglichkeit einen virtuellen Erzählraum zu entwerfen, der jedoch nicht zeitlich auf die Aktion des Erzählers beschränkt ist; der Prosaroman reflektiert damit auch die eigene mediale Form als Handschrift und die spätestens im 15. Jahrhundert grundsätzlich veränderten Rezeptionsform höfischer Literatur,332 die private Lektüre, die wie der Erzählervortrag eine identische Erinnerung vieler Rezipienten erlaubt, darüber hinaus aber zeitlich unabhängig von der Aktion eines Erzählers ist.333 Der räumliche Charakter der Erinnerung einer Erzählung schlägt sich aber auch intradiegetisch jenseits der plakativen Beispiele von Erinnerungsräumen in der Epik nieder: In jeder hochmittelalterlichen, höfischen Erzählung kann das Publikum einen Beobachter beobachten, der auf seinem Weg nach dem Memorialmodell „Erinnerung als eingerichteter Raum“ eine gleichsam vorgeordnete 331 Prosalancelot V, S. 642, 8‒30. Übersetzung nach Steinhoff. 332 Der deutsche Prosalancelot hat bekanntlich eine komplizierte Entstehungsgeschichte: Während der Kernroman – also die Geschichte um Lancelot und Ginover – bereits um 1230 ins Mittelhochdeutsche übertragen wurde (das älteste überlieferte Fragment stammt aus der Mitte des 13. Jahrhunderts), taucht die erste vollständige Handschrift (die auch Gralssuche und Tod von Artus enthält) erst um 1475 auf (vgl. Prosalancelot II, S. 764). 333 Vgl. dazu ausführlicher Kap. 4.4.
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Reihe von Memorialbildern aufsucht und betrachtet. Der Unterschied zu dem Memorialmodell der Rhetorica ad Herennium ist dabei zum einen, dass der intradiegetische Beobachter in Interaktion mit diesen Erinnerungsbildern am Weg tritt – sie werden dadurch zu Aventiuren. Der umherreitende Ritter, der auf seinem Weg Aventiuren besteht, ist der im virtuellen Memorialraum umherwandelnde Beobachter, der in der Epik einen aktionsfähigen Leib gewinnt und damit selbst Teil des erinnerten Bilderraumes wird.334 Zum anderen ist es nicht der intradiegetische Beobachter, der sich erinnert, sondern anhand seiner Figur erinnert der Erzähler und mit ihm zusammen das Publikum den Aventiureweg (der damit entstehende virtuelle Raum ist eben nicht nur durch den einen zentralen Helden bestimmt); der umherreitende Ritter hat dabei die Funktion eines Avatars, der den Erinnernden zwischenzeitig seinen virtuellen Körper leiht, damit diese gemeinsam denselben Erinnerungsraum durchschreiten und dieselben Erinnerungsbilder betrachten können. Der intradiegetische Memorialraum des Aventiureweges ist damit tatsächlich an den sich bewegenden Beobachter und Akteur als seinen Mittelpunkt gekoppelt, und da dieser oftmals mit dem Helden einer Erzählung identisch ist, ist es nachvollziehbar, dass die Forschung häufig grundsätzlich den erzählten Raum mit dem Raum des Helden identifiziert hat.335 Der virtuelle Memorialraum des Aventiureweges ist jedoch nicht die einzige Raumart der höfischen Erzählung, und er ist auch nicht stets an den Helden gekoppelt; auch Nebenfiguren können die Funktion des im Memorialraum umhergehenden Beobachters übernehmen, wie nun anhand von Kalogrenant gezeigt werden soll.
334 Dies klingt bereits bei Wandhoff an, wobei er das tatsächliche Durchwandern des Textes durch Figuren allerdings nicht in den Blick nimmt: „Die Rede vom Durchwandern des Textes ist […] keine nur modernistische, etwa der Raummetaphorik des Cyberspace entliehene Bildlichkeit […]. Sie findet sich vielmehr im Denken der Zeit selbst. Der Benediktiner Peter von Celle etwa beschreibt in seinem Traktat ‚De afflictione et lectione‘ das vorbildliche Lesen der Heiligen Schrift im 12. Jahrhundert als ein eben solches ‚Wandern‘ durch die ‚Orte‘ ihrer Handlung“ (Wandhoff 2003, S. 147). Die Epik orientiert sich offensichtlich nicht an dem Trend der artistischen Memorialtechnik, die eher auf einen fixen Blickwinkel ausgerichtet bleibt im Unterschied zur Rhetorica ad Herennium, vgl. Carruthers 2008, S. 163ff. 335 Vgl. oben, Kap. 1.
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3.2.2 Der virtuelle Erinnerungsraum in der höfischen Literatur 3.2.2.1 Der Erzählraum als Erinnerungsraum: Kalogrenant, Iwein und die Quelle Zu Beginn des Iweinromans führt Hartmann in der Erzählung Kalogrenants idealtypisch die Nähe von Erzählen und Erinnern räumlich vor Augen.336 Kalogrenant erzählt einen Aventiureweg, der wie ein Memorialraum aus prägnanten Bildern aufgebaut ist. Freilich kann dieser Raum offenbar im weiteren Verlauf von jedem begangen werden – der gesamte Artushof findet sich schließlich am Ziel des Weges Kalogrenants, am Brunnen, wieder –, es handelt sich also für die erzählte Welt letztlich nicht um einen virtuellen Raum, sondern um einen normalen Raum; doch spiegelt die raumgenerierende Kommunikation Kalogrenants autopoietisch die Virtualität jedweden erzählten Raumes wider: Er entwirft erinnernd einen Raum markanter Wegstationen, der zunächst von einem seiner Zuhörer – von Iwein – erinnernd begangen werden kann.337 Später kann der gesamte Artushof den Weg beschreiten, so dass die Erzählung Kalogrenants – zeitlich versetzt – einen Raum von imaginärer, virtueller und schließlich normaler Kommunikationszugänglichkeit generiert.338 Hartmann setzt damit an den 336 Auf diesen Zusammenhang hat bereits Anette Sosna hingewiesen, die grundsätzlich „Erinnerung und Gedächtnis zu wesentlichen Themen der Erzählung“ (Sosna 2003, S. 101) rechnet: „Kalogrenants Erzählung […] schafft […] ein komplexes Netz von Gedächtnisstrukturen, in dem vergangenes, gegenwärtiges und antizipiertes Erleben miteinander verknüpft wird“ (ebd., S. 106). Bei Sosna bleibt jedoch der Raumaspekt ausgeklammert, den ich mit Scott E. Pincikowski als fundamental für diese Verknüpfung von Erzählen und Erinnern ansehe: „Höfische Literatur ist eine Literatur des Erinnerns, mit einem sich erinnernden Erzähler, einem erinnernden Text und einem sich erinnernden Publikum. Dieses Erinnern kann innerhalb des Rahmens der Geschichte stattfinden, wie bei Kalogrenants Erzählung von seinem Abenteuer vor dem Hof in Hartmanns Iwein. Er fordert sein Publikum auf, nicht nur mit den Ohren zu hören, sondern auch mit dem Herzen, ein typischer mittelalterlicher Ausdruck dafür, etwas dem Gedächtnis einzuprägen […]. Darüber hinaus deutet die Häufigkeit architektonischer Tropen auf den kollektiven Prozess des Erinnerns hin, was der monastischen Tradition verwandt ist, aber unzweideutig in höfischer Form“ (Pincikowski 2008, S. 227f.). 337 Hier orientiert sich Gert Hübner etwas zu stark an der Protagonistenfunktion Iweins, wenn er die Raumgenerierung der Erzählung Kalogrenants an der Person Iweins festmacht: „Der Protagonist dient im ‚Iwein‘ ziemlich offensichtlich als Raumfilter. Das gilt bereits für Kalogrenants Erzählung, weil Iwein zu den Zuhörern zählt; allerdings wird es, zusammen mit der Aktantenrolle, erst im Rückblick deutlich“ (Hübner 2003, S. 123). Ich verstehe die Kalogrenanterzählung als Vorführung der Genese eines virtuellen Raumes, für den eben wichtig ist, dass er nacheinander oder zeitgleich von mehreren unterschiedlichen Personen erfahren werden kann. 338 Andreas Hammer begreift den Quellenraum im Zuge seiner Analyse mythischer Erzählelemente grundsätzlich als „einen sehr deutlich ausgegrenzten und nur schwer zugänglichen Sonderraum“ (Hammer 2007, S. 233). Dies stimmt aber nur bedingt für den Roman, der letztendlich gerade diesen Raum zum meistbegangenen Raum überhaupt macht. Zu Beginn freilich
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Beginn seines Iweinromans eine auffällige Binnenerzählung, die in ihrer Generierung eines Erinnerungsraumes wegweisend für die Interpretation sein kann. Kalogrenant erzählt seinem aus Dodines, Gawan, Segremors, Iwein, Keie und schließlich der Königin Ginover bestehendem Publikum, dass er vor „zehen jâr […] ze Breziljân in den walt […] nâch âventiure reit“ (VV 260‒263; „zehn Jahren nach Brezaljan in den Wald auf der Suche nach Aventiure ritt“) – damit ist die nun folgende Erzählung zeitlich als Erinnerung gekennzeichnet, deren Thema aventiure und deren Raum Brezaljan ist. In diesen Raum, der eine unübersichtliche Wegestruktur hat („dâ wârn die wege manecvalt“, V 264; „da gab es sehr viele Wege“), zeichnet Kalogrenant nun einen Erinnerungsweg ein, der markante Erinnerungsbilder als Orte in den Raum Brezaljan einstellt und eine Reihenfolge vorgibt.339 Er kommuniziert damit einen ehemals imaginären Raum (bislang bestand die Anordnung markanter Wegepunkte nur im Kopf Kalogrenants), der im Akt der Erzählung virtuell wird. Der in der Fassung Kalogrenants insgesamt aus drei eingestellten Memorialbildern bestehende Memorialraum Brezaljan ist wie die dargestellten Memorialräume der mittelalterlichen Wissenschaft aufgebaut – räumlich in einer festen Reihenfolge angeordnete Bilder werden mit dem zu erinnernden Inhalt verknüpft –, jedoch mit einem signifikanten Unterschied: Die Sinnzuweisung erfolgt nicht im Akt einer Allegorese (wie etwa in der Minnegrotte des Tristanromans), sondern dadurch, dass das erinnernde Subjekt in Interaktion mit dem Erinnerungsbild tritt. Daraus resultieren zwei Eigenheiten des epischen Gebrauchs von Memorialräumen: Einerseits kann der Memorialraum so zum epischen Handlungsraum werden, andererseits aber geraten die zu erinnernden Inhalte in Bewegung, die Erinnerung selbst wird unscharf, dynamisch und komplex.340 Dieser Prozess der epischen Sinngebung eines Memorialraums wird von Kalogrenant stets gleich strukturiert vorgeführt: Zunächst präsentiert er ein optisch eindrückliches (und statisches) Memorialbild, das er als erinnernder Erzähler betrachtet, dann füllt er dieses Bild als interagierende Person seiner Erzählung – für Kalogrenant und Iwein – gilt diese Sonderstellung des Quellenraumes, die sich aber meines Erachtens mehr aus seiner Kommunikationszugänglichkeit (zunächst imaginär, dann virtuell) erklärt denn aus einem mythischen Charakter. 339 Mireille Schnyder hat in ihrem grundlegenden Aufsatz zur Literarizität des Waldes die Beziehung von Erzählen und (räumlichen) Gliedern gerade des an sich chaotischen Raumes Wald als einen Grundzug der literarischen Verwendung des Waldes herausgearbeitet: „Der Wald ist, gerade im Artusroman, die Materie, aus der sich die Geschichten bilden. Der Wald ist der Einstieg in die âventiure-Suche und wird insofern zum Raum von Erzählungen, als das ordnende Reden die Unordnung des Waldes gliedert, darüber lesbar und die im Wald verborgenen Mythen über das Erzählen sichtbar macht und in die höfische Kultur integriert“ (Schnyder 2008, S. 135). 340 Vgl. dazu ausführlich Wagner 2013.
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mit Handlung, versieht es so mit Sinn und bringt das statische Erinnerungsbild zugleich in Bewegung.341 Das erste in den Memorialraum eingestellte Erinnerungsbild der „Stationen reihe“342 baut Kalogrenant auf einem freien Feld (vgl. V 276) auf, auf das ihn sein Weg durch den Wald gebracht hat: dem volget ich eine wîle, […] unz ich eine burc ersach. […] ich reit gegen dem bürgetor: dâ stuont ein rîter vor. er hete, den ich dâ stânde vant, einen mûzerhabech ûf der hant: diz was des hûses herre. (VV 277‒285)
Ich folgte dem Weg einige Zeit, bis ich eine Burg sah. Ich ritt auf das Tor zu: Da stand ein Ritter davor. Den ich dort stehen sah, der hatte einen Jagdhabicht auf der Hand sitzen: Er war der Burgherr.
Das Memorialbild besteht aus einer Burg, vor dessen Tor ein Ritter steht, der einen Habicht auf seiner Hand hält. Allegorisiert wird dieses Bild nicht, stattdessen tritt der erinnernde Erzähler Kalogrenant in Interaktion: Der Burgherr hilft ihm selbst aus dem Sattel und sorgt umfassend für das Wohl des fremden Gastes; zudem erscheint seine wunderschöne Tochter, die Kalogrenant nicht nur aus der Rüstung hilft, sondern während des ganzen Abends bei ihm bleibt, explizit ohne dass der Vater sie zu irgend einer Zeit von dem Ritter trennte. Abgeschlossen wird die Episode damit, dass der Burgherr angibt, noch nie etwas von aventiure gehört zu haben (vgl. VV 286‒382). Das gesamte Geschehen ist von der Handlung minne bestimmt: der Pferdedienst, das Bedienen und Entkleiden des Gastes, die Konversation mit der schönen Tochter, die nicht durch eine huote gestört wird. Das Verhältnis Kalogrenants zu seiner Umgebung kann als gemach bestimmt werden: Der Weg hat ihn dezidiert aus der unwirtlichen wilde des Waldes geführt (vgl. V 275), und die Burg bietet ausschließlich Annehmlichkeiten, ohne dass ihre Bewohner je etwas von aventiure gehört haben. In diesem Zusammenhang erinnert das Bild des Ritters vor dem Burgeingang mit dem Habicht in der Hand an gemach/minne, wozu sich vor allem das Requisit des Habichts (der für die Hand341 Als Bestätigung dieser Interpretation der Szenenfolge im Iweinroman als Abfolge von Memorialbildern kann der Iwein-Zyklus auf Burg Rodenegg dienen, der in seinen ersten drei Bildmotiven eben die drei Memorialbilder skizziert, die ich zunächst rein auf Textbasis herausgearbeitet habe, vgl. Schupp/Szklenar 1996. Eine anregende Interpretation des gesamten Bilderzyklus’, die durchaus kompatibel zu einem mnemotechnischen Interpretationsansatz erscheint, liefert Strittmatter 2013, S. 309‒346. 342 Sosna 2003, S. 104. Sosna unterscheidet ebenfalls die hier aufgeführten Erinnerungsbilder als distinkte und eindrückliche Stationen, ohne allerdings die Brücke zur spezifisch mittelalterlichen Memorialtechnik zu schlagen.
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lung völlig irrelevant ist) assoziativ fügt: Der Habicht repräsentiert als Jagdvogel einerseits eine für den Ritter gefahrlose Jagdform, bei der er selbst weitgehend gewaltlos bleiben kann, andererseits eine verbreitete Metapher für die Minne.343 Das zweite Memorialbild auf Kalogrenants Weg wird wieder auf freiem Feld aufgebaut (vgl. V 401), diesmal jedoch dezidiert innerhalb, nicht außerhalb der wilde (vgl. V 398). Kalogrenant sieht kämpfende wilde Tiere und inmitten dieser einen überaus hässlichen wilden Mann, der mit Keule und selbstgebalgten Tierfellen ausgestattet ist (vgl. VV 418‒470). Die umfangreiche Unterhaltung mit dem wilden Mann, die sich dem Bildaufbau des Memorialbildes anschließt, bestätigt seinen bereits offensichtlichen Memorialinhalt: Auch der wilde Mann hat noch nichts von aventiure gehört (vgl. V 257), doch er betont mehrmals seine Gewalt über die kämpfenden Tiere, so dass Kalogrenant zwischen der Angst vor dem Gewaltpotenzial der Tiere und des wilden Mannes oszilliert; das Memorialbild des wilden Mannes inmitten kämpfender Tiere erinnert gewalt in einer von wilde bestimmten Umgebung. Kalogrenant hat also auf seinem Weg zur aventiure zwei antithetische Memorialbilder abgeschritten344 – gemach/minne und wilde/gewalt –, die beide in ihrer nachgefügten Handlung deutlich nicht mit aventiure (dem Ziel des Weges und dem Thema der gesamten Erinnerung) verknüpft werden. Erst das dritte Memorialbild, das Kalogrenant aufsucht, wird dezidiert als Memorialbild der aventiure kommuniziert. Dieses dritte Memorialbild ist in mehrfacher Hinsicht besonders: Es ist wieder mit dem Akt des Erzählens verknüpft, da das Memorialbild zuerst von dem wilden Mann kommuniziert wird als Erzählung in der Erzählung in der Erzählung;345 sodann ist dieses Memorialbild weitaus komplexer als die beiden 343 Hartmann selbst vergleicht im Erecroman das Begehren zwischen Erec und Enite auf dem Weg zum Artushof mit dem Bild eines Habichts, der seine Beute schlagen will: „diu Minne rîchsete under in / und vuocte in grôzen ungemach. / dô einz daz ander ane sach, / dô enwas in beiden niht baz / dan einem habeche, der im sîn maz / von geschihte zougen bringet / sô in der hunger twinget“ (Erec VV 1859‒1865; „Die Minne herrschte über sie und bedrückte sie sehr. Als einer den anderen ansah, da erging es beiden nicht besser, als einem Habicht, der seine Beute vor den Augen hat, wenn er hungrig ist“). 344 Bruno Quast begreift den Wilden Mann gar als „Alter Ego des Ritters, auf dessen Burg Kalogrenant auf dem Weg zum Brunnenabenteuer übernachtet“ (Quast 2001, S. 121). 345 Sonja Glauch attestiert dem hochmittelalterlichen Erzählen kaum Komplexität auf Erzählerebene und folgert aus einer fehlenden Charakterzeichnung intradiegetischer Erzähler deren grundsätzliche Irrelevanz in erzähltheoretischer Hinsicht zugunsten einer Identifikation des Erzählers mit dem Autor: „Wenn es für den Hörer tatsächlich in jedem Moment wichtig wäre, aus wessen Mund die Erzählung jeweils kommt, könnten dazwischengeschaltete Erzähler nicht so einfach aus dem Hörerbewußtsein gleiten. Der ‚fiktive Erzähler‘ agiert nicht in derselben Gewichtsklasse und nicht als Konkurrent zum eigentlichen Erzähler, dem Autor“ (Glauch 2009, S. 88). Dem ist entgegenzuhalten, dass etwa in der behandelten Stelle aus dem Iwein sehr wohl ein
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vorausgehenden Memorialbilder; und schließlich ist es dieses Memorialbild, dessen Raumstelle im weiteren Romanverlauf immer wieder aufgesucht werden wird, das also immer wieder in der Performanz der Figuren (durch Blicken und Erkennen, v. a. aber durch das Begießen des Steines und Kämpfen) erinnert werden wird. Der wilde Mann baut das Memorialbild der aventiure folgendermaßen auf: Drei Meilen entfernt ist eine Quelle (VV 553f.), in deren Nähe eine Kapelle steht (V 566) und die von einer Linde überdacht ist (V 572); oberhalb der Quelle steht eine Edelsteinwanne auf einem Marmorsockel in der Gestalt von vier Tieren (VV 581‒585), darüber hängt von einem Ast (der Linde) an einer silbernen Kette ein goldenes Becken herab (VV 586f.). Auch dieses Memorialbild wird nicht statisch mit Sinn versehen, sondern dynamisch mit Handlung gefüllt: Kalogrenant hört herrlichen Vogelgesang von der Linde, die gänzlich mit Vögeln bedeckt ist (VV 604‒614). Auch musikalisch wird durch den vielstimmigen Gesang der Vögel, von dem der Wald widerhallt, ein virtueller Raum aufgemacht, der eine ideale Harmonie repräsentiert, „daz ander paradîse“ (V 687; „das zweite Paradies“), wie Kalogrenant ihn rückblickend qualifiziert. Er beschreibt sodann die herrliche Edelsteinwanne und die goldene Schale darüber, mit der er den Stein mit Wasser begießt (VV 623‒637). Sofort zieht ein Unwetter auf, das das Licht verdunkelt, alle Vögel tötet und die Bäume umlegt bzw. entlaubt; der ehemals harmonische musikalische Raum wird nicht nur zerstört, sondern neu gefüllt mit Donnerschlägen, so dass Kalogrenant um sein Leben fürchtet (VV 638‒672). Schließlich wird der Ausgangszustand der Harmonie wieder hergestellt: Die Vögel kommen zurück, ersetzen das Laub der Linde und singen noch schöner als zuvor (VV 673‒687). Diese dynamische Füllung der Memorialorte (wobei die Kapelle hier ausgespart bleibt, die erst im weiteren Verlauf mit Sinn versehen wird) macht das dritte Memorialbild zur dialektischen Synthese der beiden als These und Antithese vorhergehenden Memorialbilder: Das Bild der Quelle repräsentiert mit dem lebensbedrohlichem Unwetter das Motiv wilde/gewalt, zeitlich eingerahmt von dem wunderschönen locus amoenus aber ebenfalls gemach/minne. Tendenziell ist dabei die Linde Erinnerungsbild für gemach/minne,346 der tierbildliche
hochkomplexes Spiel mit unterschiedlichen Erzählerebenen vorliegt. Freilich ist es nicht deren Aufgabe, auf psychologischer Ebene den jeweiligen Erzähler zu charakterisieren; stattdessen liegt hier ein Spiel mit der Struktur des Erzählens vor, eine mehrfache Verdoppelung der erzählerischen Distanz (einer Distanz auch zum Autor, der gerade für die von Glauch herangezogenen Hörer keineswegs identisch mit dem historischen Erzähler ist), die den Akt des Erzählens selbst in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt. 346 Vgl. Okken 1993, S. 271.
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Stein und das Becken aber Erinnerungsbild für wilde/gewalt,347 paradox angereichert allerdings mit der höfischen Pracht der edlen Materialien Marmor, Edelstein, Silber und Gold. Die Dynamik erzählerischer Memorialbilder kommt an den Vögeln und der Linde besonders gut zum Ausdruck: Die Linde ist belaubt Memorialbild der minne, entlaubt aber Memorialbild der gewalt, ebenso wie die lebenden, singenden Vögel Memorialbild für minne sind, tot aber Memorialbild der gewalt. Die Spannung zwischen wilde/gewalt und gemach/minne bestimmt auch die unmittelbar folgende Handlung: Kalogrenant muss sich Askalon stellen und unterliegt, anschließend geht er zum ersten Memorialbild der Minneburg zurück, um sich – ungerüstet und gewaltlos – trösten zu lassen (VV 780‒794). Iwein, der die gesamte Erzählung Kalogrenants gehört hat, kann nun in diesen virtuellen Erinnerungsraum eintreten und den erzählten Weg Kalogrenants nachvollziehen. Dies macht er signifikanterweise zunächst lediglich im imaginären Raum seiner Vorstellung:348 wan ich sol in disen drin tagen des endes varn, und niemen sagen, in den walt ze Breziljân, suochen unz ich vunden hân den stîc den Kâlogrenant sô engen und sô rûhen vant. und dâ nâch sol ich schouwen die schœnen juncvrouwen,
Denn ich werde innerhalb dreier Tage dorthin in den Wald von Breziljan reiten, ohne es jemandem zu sagen, und den Weg suchen, den Kalogrenant schmal und unwegsam vorgefunden hatte, bis ich ihn gefunden habe. Und dann werde ich die schöne Dame sehen,
347 Die Tiere erinnern intratextuell zunächst die wilden Tiere um den wilden Mann des zweiten Erinnerungsbildes. Diese Verknüpfung des kostbaren Steines mit wilde klingt auch bei Andrea Glaser an: „In jedem Fall […] verweisen auch die in kostbaren Stein gehauenen Tiere auf eine doppeldeutige Natur, die ebenso animalisch wie künstlich ist“ (Glaser 2004, S. 200). 348 Vgl. Sosna 2003, S. 107: „Iweins Plan wird […] aus der Innenperspektive in Form eines Gedankenmonologs geschildert (VV 911‒944), in dem der Protagonist die einzelnen Stationen von Kalogrenants Erzählung rekapitulieren und sich als Stationen seines eigenen, noch vor ihm liegenden Weges vergegenwärtigt“. Sosna weist zu Recht darauf hin, dass an dieser Stelle eine auffällige Engführung von Erinnern und Erzählen stattfindet: „Iweins innerer Monolog stellt den vorläufigen Höhepunkt einer Schachtelung von Gedächtnis- und Erzählprozessen dar, die in der Artushof-Szene entfaltet werden. Sie hat ihren Anfang bereits innerhalb von Kalogrenants Erzählung, als diesem vom Waldmann die vor ihm liegenden Stationen des Brunnenabenteuers geschildert werden (VV 552‒597). Die Erinnerung an die Quelle und die daraus resultierende Erzählung des Waldmannes dienen Kalogrenant als Orientierung, ähnlich wie Kalogrenants Erzählung von der âventiure Iwein wiederum als Orientierung dient. Diese Schachtelung auf der Handlungsebene reicht letztlich bis zur Ebene des Erzählers, der auf den Zusammenhang zwischen maere und werc und die grundlegende Bedeutung des maere als Erinnerungskonstrukt hinweist [vgl. VV 54‒58]“ (ebd., S. 108).
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des êrbæren wirtes kint, diu beidiu alsô hövesch sint. so gesihe ich, swenne ich scheide dan, den vil ungetânen man der dâ pfliget der tiere. dar nâch sô sihe ich schiere den stein und den brunnen. (VV 923‒937)
das Kind des ehrenwerten Burgherren, die beide derartig höfisch sind. Dann werde ich, wenn ich mich verabschiedet habe, den wilden Mann sehen, der die Tiere hütet. Danach werde ich bald den Stein und den Brunnen sehen.
Auch sein tatsächlicher Weg ist als Abreiten genau dieser Bilderfolge erzählt:349 Er reitet nicht direkt zur Brunnenaventiure, auch wenn diese sein dezidiertes Ziel ist, um die Niederlage des Verwandten zu rächen, sondern bleibt wie dieser zunächst für eine Nacht in der Minneburg, wo er „gemach“ erfährt (V 978), um sich danach von dem wilden Menschen, der „bî sînem wilde“ (V 982; „bei seinen wilden Tieren“) steht, den Weg zum Brunnen weisen zu lassen. Dort sieht Iwein „den boum, den brunnen, den stein“ (V 990; „den Baum, die Quelle und den Stein“) und benutzt Becken und Wanne. Iwein erreitet denselben Memorialraum wie Kalogrenant (indem er dessen Orte in derselben Reihenfolge besucht), und er ruft dabei denselben dialektischen Erinnerungsinhalt von These – Antithese – Synthese (minne – gewalt – minne/gewalt) auf wie Kalogrenant. Im Unterschied zu diesem aber kehrt Iwein nicht abschließend zum ersten Memorialbild minne/gemach zurück, sondern vollführt die gesamte weitere Handlung im Spannungsfeld des dritten Memorialbildes, zwischen minne und gewalt bzw. zwischen gemach und wilde. Dafür sorgt auch Gawan, symptomatisch auch er durch ein Erinnerungsbild und Erzählung. Er erinnert zuerst an Erec und warnt vor einem Verbleiben in gemach: kêrt ez niht allez an gemach: als dem hern Êrecke geschach, der sich ouch alsô manegen tac durch vrouwen Êniten verlac. (VV 2791‒2794)
Gebt Euch nicht der Trägheit hin, wie es Herrn Erec wiederfuhr, der sich auch viele Tage lang wegen der Dame Enite ‚verlag‘.
349 Der Roman präsentiert damit Erinnerung als tatsächliches Abschreiten von einem mit Bildern eingerichteten physischen Raum, gemäß dem Vorbild der Mnemotechnik (s. o. Kap. 3.2.1). Vor diesem Hintergrund erscheint die Fokussierung von Ernst Trachsler auf die Bewegung des Helden als fragwürdige Perspektivierung: „Entscheidend ist die Tatsache, daß der Artusroman kein eigenständiges ‚Raumkontinuum‘ aufweist. […] Es ist die Bewegung des reitenden Helden, die den Raum konstituiert. […] Die Vorstellung des Weges entsteht durch Addition einzelner Wegstrecken, die der Held zurücklegt“ (Trachsler 1979, S. 137f., Hervorhebung nach Trachsler). Meines Erachtens schlägt sich im Artusroman in erster Linie die Erinnerung des Erzählers im mentalen Abschreiten von mit prägnanten Bildern eingerichteten Räumen nieder; diese Räume werden zwar konkret vom Personal der Erzählung besucht, aber dessen Bewegung ist lediglich sekundär und besitzt keinen Selbstwert.
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Nach dieser Warnung vor minne/gemach zeichnet Gawan ausführlich das prägnante Erinnerungsbild des ‚Krautjunkers‘, das wenig mit Erec zu tun hat, dafür aber der Warnung vor minne/gemach eine konkrete Gestalt – ein Erinnerungsbild – verleiht. Iwein handelt nach der Empfehlung Gawans – und bleibt, da er seine Minnedame Laudine verliert und auf einem Aventiureweg wiedererlangen möchte, für den gesamten Roman im Spannungsfeld von minne/gemach und gewalt/wilde. Das dritte Memorialbild der Quelle wird dadurch rückblickend seinerseits zum mit Bildern angefüllten Memorialraum, der als Gedächtnisspeicher der gesamten Handlung fungiert. Einerseits ist auch der Gesamtroman von der Abfolge minne – gewalt – minne bestimmt,350 andererseits können die einzelnen Memorialbilder des Quellenraumes (Kapelle, Linde, Stein, Becken) auch differenziert aufgerufen, differenziert erinnert werden. Die Räumlichkeit des Gedächtnisspeichers Quelle ist dabei grundlegend, da er immer wieder vom Personal leiblich aufgesucht und zur (je unterschiedlich akzentuierten) Erinnerung verwendet werden kann: Der zweimalige, in seiner Stationenfolge identisch wiederholte Weg zur Quelle durch Kalogrenant und Iwein ist nur der – auffällig inszenierte – Auftakt zu insgesamt sechs Besuchen der Quelle und damit des zentralen Memorialraums des Romans.351 350 Bruno Quast sieht die grundsätzliche Spannung des Romans zwischen den Polen hövesch und wilde, die im hybriden Helden zusammenfallen: „Wildheit in Hartmanns Iwein ist weit davon entfernt, allein ein Gegenbild höfischer Kultur zu spiegeln. Sie figuriert aber auch nicht schlicht als das Andere höfischer Rationalität […], sondern […] als konstitutive Bedingung, als integrativer Faktor höfischer Kultur“ (Quast 2001, S. 121). „Durch die Identifizierung mit dem Tier bleibt Iwein bis zur finalen Wiederbegegnung mit Laudine als liminaler Held ausgewiesen. Seine Identität oszilliert zwischen Wildem und Höfischem“ (ebd., S. 123). Grundsätzlich sind die Ausführungen Quasts analog strukturiert zu der hier vorgeschlagenen Lesart des Romans, doch dürften der Pol gemach/minne präziser dasjenige fassen, was Quast pauschal unter hövesch bezeichnet: Nicht nur die Minneburg setzt diese höfischen Aspekte dominant, sondern bereits der Artushof am Eingang des Romans, der das Königspaar „durch geselleschaft“ (V 83) schlafend zeigt. 351 Karl Bertau nimmt den mehrmaligen Quellenbesuch in den Blick, sieht darin aber nur verkürzend und fragwürdig psychologisierend den Weg zu Laudine über die mehrfache (symbolische) Tötung Askalons (vgl. Bertau 1994, S. 293f.). Auch Siegfried Grosse bemerkt die ungewöhnliche Häufung der Erwähnung und des Besuchs des Quellenraumes (Grosse 1989b, S. 84f.), stellt aber lediglich eine Verknüpfung der auffälligen Wiederholung zur Erinnerung des historischen Erzählers her, nicht aber die Verbindung mit Memoria im erzählten Raum: „Die mehrfache Erwähnung des Weges zum Brunnen könnte eventuell ein Hinweis auf Spuren einer oralen Vortragsweise sein; auf Gedächtnisstützen für den Vorleser oder Rezitator und auf Vorausdeutungen und Rückverweise, die dem Hörenden den Zusammenhang lebendig machen, der vielleicht durch Pausen unterbrochen gewesen ist“ (ebd., S. 87). Franziska Wenzel blendet den Aspekt der Erinnerung völlig aus und erklärt den mehrfachen Quellenbesuch gänzlich aus einer
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Der dritte Quellenbesuch wird durch den gesamten Artushof vollzogen. Der Text nennt neben der Quelle (die bei jedem Besuch des Raumes aufgezählt wird und damit tendenziell zur Bezeichnung des Raumes selbst wird)352 noch das Becken (V 2530) und den Stein (V 2536); Artus erinnert die Erzählung Kalogrenants, da er den Stein begießt, um herauszufinden, „ob daz selbe mære / wâr ode gelogen wære“ (VV 2533f.; „ob diese Geschichte wahr oder gelogen sei“); entsprechend der Dominantsetzung des Steins als Erinnerungsort ist im Folgenden gewalt/wilde aktualisiert: Die Ritter befürchten im Unwetter zu sterben (VV 2540f.), und Iwein kann Keie im Kampf „sîn ungefüegez schelten / und sînen tägelîchen spot“ (VV 2562f. „sein unhöfisches Schimpfen und seine ständige Häme“) heimzahlen. Ganz anders stellt der vierte Quellenbesuch den Erinnerungsraum zusammen. Iwein kommt ungewollt als Löwenritter wieder an die Quelle, und der Erzähler erinnert dezidiert seine eigene Erzählung:
naiven Rezipientenhaltung der Zuhörer Kalogrenants: „Zu Beobachtern zweiter Ordnung werden sie nicht. Genau aus diesem Grunde wiederholen zuerst Iwein und hernach die versammelten Artusritter unter ihrem König die Aventiure Kalogrenants […]“ (Wenzel 2002, S. 99). Die Begründung, wieso eine naive Rezipientenhaltung automatisch zum Nachvollzug zwingen sollte, bleibt Wenzel aber schuldig. Uta Störmer-Caysa hebt dagegen vor allem die memoriale Funktion des Quellenraumes heraus und begreift ihn als „Merkpunkt“ für das Publikum angesichts der ansonsten sehr beweglichen erzählten Welt: „Die Gattung Artusroman, in dem Artus einen personalen Fixpunkt bildet, scheint ein Bedürfnis hervorzubringen, dem beweglichen Zentrum Artus ortsfeste Merkpunkte in der fiktionalen Welt entgegenzusetzen […]. Für den Hörer oder Leser sind Orte, die er als Schauplätze schon erzählter Begebenheiten wiedererkennt, Fixpunkte der Orientierung in der Raumstruktur und der Möglichkeit nach auch in der Bedeutungsstruktur des Werkes“ (Störmer-Caysa 2007, S. 51). Darüber hinausgehend möchte ich auch die memorative Funktion des Memorialraumes Quelle für die erzählte Welt betonen. 352 Artus zieht „zuo dem brunnen mit her“ (V 2449; „zur Quelle mit einem Heer“), Iwein stößt auf „den selben brunnen […], von dem im was geschehen […] grôz heil und michel ungemach“ (VV 3926‒3929; „eben die Quelle, von der ihm großes Glück und großes Unglück widerfahren war“), der unglückliche Burgherr bittet Iwein wieder zurückzukommen, „swenn er zuo dem brunnen gestrite“ (V 5129; „wenn er bei der Quelle gekämpft hätte“), Iwein beschließt schließlich „zuo dem brunnen“ (V 7795; „zur Quelle“) zu reiten, um Laudine zurückzugewinnen – stets ist die Quelle ein allgemeiner Raumverweis und wird nicht als distinkter Ort Teil der Handlung. Dies spricht dafür, die Quelle als Bezeichnung des Memorialraumes zu verstehen und nicht als dort eingestelltes Memorialbild. Memorialbild ist die Quelle in Bezug auf den Wald Breziljan, der aber nach der Reise Iweins nicht mehr als Raum Verwendung findet. Auch Andrea Glaser bemerkt (ohne weitere Deutung), dass bereits in der ersten Beschreibung durch den wilden Mann die Quelle selbst ausgespart bleibt: „Paradoxerweise wird der Brunnen selbst allerdings nicht beschrieben; aus dem Text geht nicht hervor, ob es sich um einen (befestigten) Brunnen oder nur um eine Quelle handelt. Außerdem wird der Brunnen selbst nicht lokalisiert“ (Glaser 2004, S. 199).
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Dô truoc in diu geschiht (wande ern versach sichs niht) vil rehte an sîner vrouwen lant, dâ er den selben brunnen vant, von dem im was geschehen, als ich iu ê hân verjehen, grôz heil und michel ungemach. (VV 3923‒3929)
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Da führte ihn die Geschichte (denn er selbst war unaufmerksam) gerade in das Land seiner Herrin, wo er genau die Quelle fand, von der ihm, wie ich euch zuvor erzählt habe, viel Glück und Unglück zuteil geworden war.
Solchermaßen bereits für das Publikum mit Erinnerung verknüpft, bietet der Quellenbesuch auch für Iwein Anlass für – äußert intensive – Erinnerung: als er die linden drobe sach, und dô im dâ zuo vor erschein diu kapelle und der stein, dô wart sîn herze des ermant wie er sîn êre und sîn lant hete verlorn und sîn wîp. (VV 3930‒3935)
Als er oben die Linde sah und noch dazu vor ihm die Kapelle und der Stein auftauchten, da wurde sein Herz daran erinnert, wie er seine Ehre, sein Land und seine Frau verloren hatte.
Der Anblick von Linde, Kapelle und Stein bringt Iwein die Erinnerung dermaßen intensiv (was auch durch den Sitz der Erinnerung, „sîn herze“, gemäß der Memorialkunst betont wird), dass er fast wahnsinnig wird, wie tot vom Pferd fällt und sich dabei an seinem Schwert gefährlich am Hals verletzt (vgl. VV 3936‒3949). Diese Erinnerung spielt sich im Spannungsfeld von minne/gemach und wilde/kampf ab:353 Iwein erinnert das verlorene Minneglück und die erreichten Annehmlichkeiten, was zum Bild der Linde passt; er wird fast wahnsinnig 353 Vgl. auch Sosna 2003, S. 134f. Sosna bemerkt, dass diese „Erinnerung […] jedoch nicht wie zuvor von Iwein als Traum identifiziert [wird]. Er begreift sie vielmehr als Realität, als Teil seines tatsächlichen Erfahrungshorizonts“ (ebd., S. 134). Grundlage für diese unterschiedliche Wirkung der Erinnerung ist meines Erachtens der Raum, in dem Iwein sich nun befindet: Er steht unmittelbar im virtuellen Erinnerungsraum, so dass die entsprechende Erinnerung, die aufgerufen wird, nicht mehr von seinem Leib getrennt gedacht werden kann, wie dies in der Waldepisode noch möglich war, in der Iwein die Erinnerung an sein früheres Leben als Traum einschätzte. Aus der Räumlichkeit ist auch zu erklären, was Sosna in Bezug auf die Interaktion zwischen Iwein und Lunete bemerkt: „Nicht die Erinnerung an die frühere Pracht steht länger im Vordergrund – wie noch kurz nach der Heilung durch die Salbe –, sondern die Erinnerung an inter-individuelles Verhalten und an frühere Beziehungen wie die zu Lunete oder auch Laudine“ (ebd., S. 237). Diese unterschiedliche Erinnerung ist jedoch nicht aus einer persönlichen Entwicklung Iweins oder einer nun erfolgenden Schuldeinsicht heraus zu erklären, wie es für ein modernes Empfinden nahe liegend wäre, sondern schlicht aus der Räumlichkeit: Iwein erinnert seine problematischen Beziehungen zu Lunete und Laudine, weil er im Quellenraum steht und Linde, Kapelle und Stein vor Augen hat.
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„als ê“ (V 3937; „wie zuvor“), also wie in der wilde des Waldes, in den er als Wahnsinniger geflüchtet war, und wird wie im kampf vom Pferd geholt und durch das Schwert verletzt, was zum Bild des Steines passt. Fragwürdig bleibt hier vorerst die Funktion der Kapelle, die zuvor noch nicht mit einem Erinnerungsinhalt verknüpft wurde. Meines Erachtens erinnert die Kapelle Gott selbst (wie sich noch im nächsten Quellenbesuch tendenziell bestätigen wird), der als Garant der unwahrscheinlichen Verbindung zwischen Laudine und Iwein von diesem selbst nach der Heiratseinwilligung der Landesherrin angerufen wurde: der liebste tac den ich ie gewan, der ist mir hiute widervarn. got geruoche mir daz heil bewarn, daz wir gesellen müezen sîn. (VV 2336‒2339)
Der schönste Tag, den ich jemals erleben durfte, der ist mir heute geschehen. Gott bewahre mein Heil, auf dass wir Gefährten bleiben.
Und auch die Vornehmen des Landes stimmen mit entsprechendem Gottesbezug der Verbindung von Laudine und Iwein zu: wer brâhte disen rîter her? ob got wil, ez ist der den mîn vrouwe nemen sol. (VV 2381‒2383)
Wer führte diesen Ritter her? Wenn es Gott will, so ist er derjenige, den meine Herrin heiraten soll.
Iwein erinnert mit der Kapelle diese transzendentale Fundierung seiner Verbindung mit Laudine, die nun aber aufgelöst ist. Seine Verzweiflung, die ihn fast in den Selbstmord treibt (vgl. VV 3994‒4000), ist vor diesem Hintergrund die topische Verzweiflung des von Gott verlassenen Verräters, und folgerichtig ist es auch seine Untreue gegenüber Laudine, die Iwein in seinem Klagemonolog am meisten betrauert (vgl. VV 4001‒4010); bezeichnenderweise ist wieder die Kapelle der Ort, von dem her Iwein in dieser ausweglosen Situation Hilfe zukommt: Die in der Kapelle gefangene Lunete hört den Trauernden und gibt ihm Gelegenheit, seine Treue wieder unter Beweis zu stellen, indem er im Ordalkampf rechtzeitig die Ehre der spiegelbildlichen „verrâtærinne“ (V 4048; „Verräterin“) wieder herstellt. Die Kapelle erinnert Gott, der paradoxerweise zugleich Garant der Treue als auch Anlass der Verzweiflung des Verräters ist. Diese Assoziation der Kapelle mit Gott bestätigt sich beim fünften Besuch der Quelle, bei dem lediglich die Kapelle als Memorialbild aktualisiert wird (V 5147): Iwein kämpft und siegt hier für Lunete gegen ihre Ankläger im Ordalkampf, er führt also den Willen Gottes aus und sorgt für dessen Gerechtigkeit.354 Dabei kann 354 Rüdiger Schnell betont den Transzendenzbezug dieses Ordalkampfes und bestätigt damit indirekt die Dominantsetzung des Memorialbildes Kapelle: „Hartmann von Aue tut alles, um den
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er auch seine Treue unter Beweis stellen, die seit seinem Zeitversäumnis grundsätzlich in Frage steht. Treue und ihr Garant Gott sind im dritten und vierten Quellenbesuch dominant gesetzt, so dass anhand des Quellenraumes ein zentrales Thema des Romans erinnert werden kann. Der sechste und letzte Quellenbesuch erfolgt durch Iwein nach seiner Restituierung als Artusritter und bleibt bis auf die Nennung der Quelle (V 7795) unbestimmt in seinen Erinnerungsbildern. Dies ist kein Zufall, denn der Quellenraum kommt hier wieder als Ganzes zum Tragen, als Erinnerungsort von minne/gemach und zugleich gewalt/wilde, wie Iweins Gedanken um Laudine belegen: ich trîbez kurz ode lanc, sone weiz ich wiech ir minne iemer gewinne, wan daz ich zuo dem brunnen var und gieze dar und aber dar. gewinne ich kumber dâ von, sô bin ich kumbers wol gewon und lîd in gerner kurzer tage danne ich iemer kumber trage. doch lîd ich kumber iemer mê, irn getuo der kumber ouch sô wê daz ich noch ir minne mit gewalt gewinne. (VV 7792‒7804)
Ich kann machen, was ich will, ich weiß doch noch nicht, wie ich ihre Minne jemals wieder gewinnen soll – außer dass ich zu der Quelle reite und begieße sie immer wieder. Erwächst mir daraus Leid, so bin ich an Leid ja schon gewöhnt und leide lieber eine kurze Zeit, als dass ich für immer leiden soll. Doch werde ich für immer leiden müssen, es sei denn, dass auch sie das Leid so schmerzt, dass ich doch ihre Minne mittels Gewalt gewinnen kann.
Iweins ‚Plan‘ funktioniert letztlich zwar (vor allem durch die erneute Vermittlung durch Lunete), kann aber nicht als angewendete List gewertet werden, sondern ist vielmehr eine Performanz der Paradoxie des Quellenraumes: Das Erringen der minne mit gewalt führt zwei höfisch eigentlich unvereinbare Aspekte zusammen, und das Begießen des Steines aktualisiert das dynamische Erinnerungsbild, das exakt dieser Paradoxie einen Raum gibt: Das Zusammenfallen von gewalt und minne an einem begehbaren Ort, der Quelle. Hier wird der gesamte Roman enggeführt, und Iwein kann in der performativen, räumlichen Erinnerung die Zeit gleichsam zurückdrehen: Er löst wie zu Beginn das Unwetter aus und bringt großes Leid über die Burg, und wie zu Beginn kann er gerade durch diese aggressive Tat gegen Eindruck zu erwecken, der Gerichtskampf sei tatsächlich durch Gottes Eingreifen entschieden worden, folglich als Gottesurteil zu bewerten: Iwein hat nicht nur gegen einen Gegner, sondern gleichzeitig gegen drei Kläger zu kämpfen; diese gelten als überaus starke Kämpfer (V 4085f.); Iwein selbst vertraut darauf, dass Gott und Lunetes Unschuld ihn den Kampf gewinnen lassen (V 5168‒71); viele Edelfräulein bitten Gott, er möge Lunetes Sache zum Sieg verhelfen (V 5205‒08, 5351‒56); auch Lunete tut es (V 5233‒39); Iwein weiß Gott und die Wahrheit auf seiner Seite, so dass er selbst wie seine Gegner als dreifache Person antritt (V 5275‒80)“ (Schnell 2011, S. 25).
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die Burg (und damit gegen Laudine) der Verteidiger der Burg (und der Ehemann Laudines) werden. Und auch die Unterhandlung Lunetes ist ein Zitat ihres ersten Ratschlages und führt zum selben Ergebnis: Der Verbindung von Laudine mit dem ursprünglich verhassten Gegner Iwein durch List. Iwein erinnert seine Geschichte anhand des Quellenraums, und anhand des Quellenraums kann er seine aktuelle Existenz mit seiner vergangenen Existenz austauschen. Mit der berühmten Frage „bistûz Îwein, ode wer?“ (V 3509; „bist du es, Iwein, oder wer?“) formuliert Iwein eines der zentralen Themen des Romans, Identität und Veränderung;355 Raum gewinnt dieses Thema aber konkret anhand des Quellenraumes. Hier kann Iwein in seinen insgesamt fünf Besuchen die unterschiedlichen Facetten oder Momentaufnahmen seiner Identität einschreiben: Zunächst Iwein als der nach Aventiure Suchende, Iwein als der Quellenritter, Iwein als der vor Leid Wahnsinnige, Iwein als der Löwenritter und schließlich Iwein als die Gesamtheit aller dieser Identifikationen. Entscheidend für diese Funktion des Memorialraumes Quelle ist, dass seine Erinnerungsorte unterschiedlich kombiniert werden können. Nur auf diese Weise kann der Quellenraum als dynamisches Gedächtnis des Textes dienen, nur auf diese Weise kann andererseits der Roman bleibende Identität bei wechselnder Füllung plausibilisieren.356 Der ganze Roman spiegelt sich so im Mikrokosmos des Quellenraums wider.357 Was mit der Erzählung Kalogrenants entworfen wurde – ein virtueller Memorialraum, anhand dessen Bildern zentrale Elemente höfischer Aventiure erinnert werden können – wird – konzentriert im Quellenbild, das zum Quellenraum ausdifferenziert wird – für das Personal tendenziell zum normalen Raum, der immer wieder aufgesucht werden kann und keine personale Exklusion ansetzt; parallel dazu aber fungiert der Quellenraum (in erster Linie für Iwein, in zweiter Linie 355 Auch hier bestätigt sich übrigens das Spannungsfeld zwischen minne/gemach und gewalt/ wilde: Der in die wilde geflohene Iwein, der mit seinem rûchen Leib dem wilden Mann gleicht (vgl. V 3557), wird direkt vor dieser Frage nach der eigenen Identität von einer höfischen Dame am ganzen Körper gesalbt. 356 Diese Art und Weise einen Memorialraum immer wieder unterschiedlich akzentuiert aufzubauen und zusammenzusetzen ist offenbar eine Eigenheit der laikalen Literatur im Unterschied zu klerikalen Memorialräumen, die den vornehmlichen Sinn haben, identisch und vollständig zu erinnern, vgl. Wagner 2013. 357 Bereits Peter Kern kommt zu einem ähnlichen Ergebnis, wobei er allerdings die Struktur der Wiederholung dominant setzt: „Was beim Vergleich der Geschichte Iweins mit der Kalogrenants deutlich wird – Gleichlauf bis zu einem bestimmten Punkt (dem Zweikampf), dann aber unterschiedlicher Verlauf, Wiederholung (mit Variation) und Umkehrung – läßt sich meines Erachtens als Grundmuster für die formale Organisation des ganzen Romans erweisen“ (Kern 1973, S. 339). Kerns Beobachtungen (die Parallelisierung der Episoden des zweiten Teils mit den Stationen des Erinnerungsweges Kalogrenants) ergänzen die hier dargestellte Memorialfunktion des Erinnerungswegs und des Quellenraumes um die strukturelle Ebene.
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auch für das Publikum) weiterhin als virtueller Memorialraum, anhand dessen Bildern Erzähltes erinnert und aktualisiert werden kann. Das Phänomen des Erinnerungsraumes im Iweinroman geht jedoch nicht im Quellenraum auf: Bereits der Prolog setzt den ganzen Roman unter die Topik der Erinnerung an Artus; jedoch auffälliger noch mit räumlichen Phänomenen ist Erinnerung im ‚Torverlies‘ verknüpft. Ich komme damit zurück zu den einleitenden Ausführungen zu diesem umstrittenen Raum im Iweinroman, den ich im Folgenden als Erinnerungs- und Erzählraum in den Blick nehmen möchte.
3.2.2.2 Das ‚Torverlies‘ als Erinnerungs- und Erzählraum Wie bereits herausgearbeitet, findet sich Iwein im ‚Torverlies‘ zwischen zwei dichotomischen Raumfüllungen wieder, die miteinander in Konkurrenz treten und sich den Raum buchstäblich streitig machen: Der schöne Hof, der aber noch der Zukunft zugeordnet ist, und der in seiner Schönheit gestörte Hof der Gegenwart. In Lunete schlägt sich diese Spannung leiblich nieder: Sie ist eigentlich wunderschön, momentan aber durch ihre Trauer entstellt. Lunete offeriert Iwein drei Gaben der Minne – den unsichtbar machenden Ring, das Bett und das gemeinsame Mahl – und dadurch, so die Arbeitsthese des ersten Kapitels, zerfällt das ‚Torverlies‘ in zwei Räume: Den Raum der Todesfurcht vor der gewalt der Ritter Askalons auf der einen Seite, der Raum der höfischen Minne auf der anderen Seite. Unschwer sind auch hier die Pole erkennbar, die die räumliche Spannung des Quellenraumes bestimmen: gewalt/wilde358 und minne/gemach. Der auf Iwein und Lunete beschränkte Raum der höfischen Minne schützt einerseits Iwein vor den Angriffen der Ritter, andererseits holt er in die eigentlich von gewalt bestimmte Gegenwart die von minne bestimmte Zukunft Iweins vorweg. Dies erfolgt – wie bereits beim Quellenraum – in der Form eines virtuellen Raumes, der als Erinnerungsraum aufgebaut ist: Lunete erinnert eine Situation der minne, die Iwein ihr gegenüber am Artushof gezeigt hat, während alle anderen aufgrund ihres Verhaltens ihr feindlich gegenüberstanden – sie erinnert in der Kommunikation mit Iwein die analoge Situation, in der Iwein gerade steckt, und aktualisiert damit die erinnerte Situation räumlich, die mit vertauschten Rollen gefüllt wird. Direkt an die Erinnerung an die Situation am Artushof überreicht Lunete den Ring, der Iwein unsichtbar 358 Die gewalt, die Iwein droht, ist keine höfische Gewalt nach höfischen Regeln, sondern die Ritter agieren gezielt als Mörder, die ausschließlich die Tötung des Feindes als Ziel haben. Besonders interessant in diesem Zusammenhang sind die entsprechenden Darstellungen bei den Iwein-Fresken auf Schloss Rodenegg: Hier tragen die um sich schlagenden Ritter in dieser Szene – und nur in dieser – die entstellten Gesichtszüge, die auch den wilden Mann kennzeichnen.
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für seine Feinde machen kann und diese damit aus dem virtuellen Minneraum exkludiert. Der Text zeichnet mit dem Ring, dem Bett und dem gemeinsamen Mahl wieder ein prägnantes Erinnerungsbild von minne/gemach, dessen Räumlichkeit konkret den Schutzbereich für Iwein stellt: Auf dem Bett sitzend nimmt Iwein das Mahl ein (vgl. VV 1212‒1223), auf dem Bett sitzend359 umschließt Iwein den Zauberring und bleibt zweimal bei der Durchsuchung des ‚Torverlieses‘ unentdeckt und unverwundet. Dieser Erinnerungsraum ist auf Iwein und Lunete beschränkt, weil sie beide die einzigen sind, die an der raumschaffenden Kommunikation – der Erinnerung Lunetes an die Begebenheit am Artushof – beteiligt sein können. Dieses Errichten eines virtuellen Memorialraumes, der Iwein schützen kann, funktioniert jedoch nicht problemlos: Der normale Raum, der von gewalt gekennzeichnet ist,360 kann den virtuellen Erinnerungsraum fast zerstören. Der Text stellt dadurch die Fragwürdigkeit der Existenz des virtuellen Raumes deutlich heraus, indem bei der zweiten Durchsuchung des ‚Torverlieses‘ das Bett als wohl prägnantestes Memorialbild der Minne zerfetzt wird, Iwein aber, der sich immer noch unsichtbar darauf befindet, unverletzt bleibt: daz bette wart vil dicke wunt, und durch den kulter, der dâ lac, gie manec stich unde slac: ouch muoser dicke wenken. (VV 1372‒1375)
Das Bett wurde völlig zerstört, und durch die Überdecke, die darauf lag, gingen viele Stiche und Schläge: Deswegen musste er oftmals ausweichen.
Uta Störmer-Caysa arbeitet die räumliche Fragwürdigkeit dieser Beschreibung heraus und grenzt dabei die Szene von ‚üblichen‘ Wunderszenerien ab: Man muß das er von muoser in dieser Szene wohl aus inhaltlichen Gründen auf Iwein beziehen, der hin und her rollt oder rutscht. Dann bleibt es seltsam, daß die Häscher das nicht wahrnehmen können, denn die Veränderungen am Bett, zum Beispiel eingedrückte Kissen oder ein Schwerpunkt, müßten eigentlich sichtbar sein, sind es aber nicht. Es ist auch nicht etwa ein Geräusch zu hören. Die Unsichtbarkeit des Mannes umfaßt alles, was dazu beiträgt, daß er nicht gefunden wird; er ist gewissermaßen ein magisch Nicht-zu-Findender. Aber in eine gleichzeitige parallele Welt entrückt wird er nicht, denn in diesem Fall müßte er den Stichen der Lanzen und Spieße nicht mühselig ausweichen. Hier ist das Wunder 359 Lunete weist ihn ausdrücklich dazu an, das Bett nicht zu verlassen: „sî suochent iuch, nû volget mir / und enkumt niht ab dem bette.“ (VV 1230f.; „‚Sie suchen Euch, deswegen folgt mir und bleibt auf dem Bett‘“). 360 Als normalen Raum bezeichne ich hier den Hof Laudines, der (im Gegensatz etwa zum beweglichen Artushof) aufgrund des landesherrschaftlichen Selbstverständnisses mit der Burg deckungsgleich wird. Normal ist dieser Raum, da jeder der Bezugsgesellschaft an der raumschaffenden Kommunikation Teil haben kann – lediglich Iwein ist akut ausgeschlossen, was jedoch nicht bedeutet, dass er die höfische Kommunikation nicht grundsätzlich beherrscht.
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raumzeitlich mitten in der fiktionalen Welt, an einen ganz gewöhnlichen Schauplatz und in der ganz gewöhnlichen Zeitrechnung verrechenbar.361
Iwein ist potenziell Teil des normalen Raumes, und er ist zugleich in eine andere Räumlichkeit inkludiert, die seine Verfolger exkludiert.362 Die Interferenzen des normalen Raumes mit dem virtuellen Erinnerungsraum, der Iwein schützend einschließt, sind denkbar stark; am Minnememorialbild Bett werden die Pole minne/ gemach und wilde/gewalt (vor allem zeitlich) enger noch zusammengeführt, als dies beim Quellenraum der Fall war. Der virtuelle Erinnerungsraum der Minne kann Iwein zwar auch dieses zweite Mal retten, doch die Zerstörung des Bettes im normalen Raum setzt an einer Grundlage des Erinnerungsraumes an, der in Folge nicht mehr aufgebaut wird. Stattdessen entsteht ein neuer virtueller Raum, der wieder lediglich Iwein und Lunete inkludiert; auch dieser Raum ist von Minne geprägt, allerdings nicht mehr von der (freundschaftlichen, gegenseitigen) Minne zwischen Iwein und Lunete, sondern von der (erotischen, einseitigen) Minne Iweins zu Laudine, deren Schönheit er im ‚Torverlies‘ bewundern konnte: Er sach zuo im gebâret tragen den wirt den er dâ hete erslagen, und nâch der bâre gienc ein wîp, daz er nie wîbes lîp alsô schœnen gesach. von jâmer sî vürder brach ir hâr und diu cleider. […] swâ ir der lîp blôzer schein, da ersach sî der her Îwein: dâ war ir hâr und ir lîch sô gar dem wunsche gelîch daz im ir minne verkêrten die sinne, daz er sîn selbes gar vergaz und daz vil kûme versaz sô sî sich roufte unde sluoc.
Iwein sah, wie man den aufgebahrten Burgherrn, den er dort erschlagen hatte, in seine Richtung trug, und hinter der Bahre her ging eine Frau, wie er noch niemals eine schönere gesehen hatte. Aus Trauer riss sie ihre Haare aus und die Kleider entzwei. Wo immer ihr der Leib nackt durchschimmerte, da sah sie Herr Iwein an: Dort war ihr Haar und ihre Gestalt dermaßen vollkommen, dass ihm ihre Minne den Verstand raubte, so dass er sich selbst vollständig vergaß und es kaum sitzend aushalten konnte, wie sie sich zerraufte und schlug.
361 Störmer-Caysa 2007, S. 200. 362 Ähnlich sieht dies auch Hildegard Elisabeth Keller, wenn sie „die in dieser Szene erlebbare Paradoxie“ aus der Sicht Iweins betont: „absolut (tödlich!) ‚gemeint‘ zu sein, mitten im Brennpunkt der Handlung sich zu befinden und doch in keiner Weise ‚sich zeigen‘, wahrnehmbar und somit belangbar sein zu müssen. Menschen – und das weiß auch Iwein – ist dies normalerweise nicht vergönnt“ (Keller 2004, S. 117). Einen ästhetischen Genuss Iweins an der sich ihm darbietenden Szene, der damit zu einer Identifikationsfigur der impliziten Publikums wird (vgl. ebd.), kann ich freilich im Text nicht erkennen.
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vil ungerne er ir daz vertruoc: sô wolder dar gâhen und ir die hende vâhen, daz sî sich niht enslüege mê. (VV 1305‒1343)
Er wollte das auf gar keinen Fall mit ihr geschehen lassen: Deswegen wollte er hin eilen und ihre Hände greifen, so dass sie sich nicht mehr schlagen könnte.
Die Zeichen der Trauer, die bei Lunete noch eine Beeinträchtigung ihrer Schönheit waren,363 wirken bei Laudine gerade gegenteilig als Offenbarung ihrer Schönheit. Iwein hat damit schon ein Stück weit Teil an der höfischen Pracht der Burg, aus der er jedoch immer noch exkludiert ist. Vor allem aber das hier vorgestellte Motiv des Beobachters, der in das von ihm Beobachtete eingreifen will, ohne eingreifen zu können, wird noch wichtig werden. Nach der Zerstörung des Bettes und damit einer Grundlage des Memorialraumes entsteht nun in der Kommunikation zwischen Iwein und Lunete der neue virtuelle Raum, der konsequent als Beobachterraum ausgebildet wird: Er gedâhte ‚wie gesihe ich sî?‘ nû was im sô nâhen bî diu stat dâ man in leite daz er sam gereite hôrte alle ir swære sam er under in wære. […] nû buozte si im den ungemach, wande dî nâch sîner bete ein venster ob im ûf tete, und liez si in wol beschouwen. (VV 1425‒1451)
Iwein dachte: ‚Wie kann ich sie sehen?‘ Nun war die Stelle, wo man den Burgherrn aufgebahrt hatte, so nahe, dass er mit Leichtigkeit all ihr Klagen hörte, als ob er mitten unter ihnen wäre. Da half ihm Lunete, indem sie gemäß seiner Bitte ein Fenster über ihm aufmachte und ihn Laudine anschauen ließ.
Der normale Raum, in dem sich Laudine aufhält, und der Raum, in dem sich Iwein und Lunete aufhalten, fallen fast zusammen; auch hier ist Iwein zugleich als anwesend und abwesend geschildert, wenn er der Trauerzeremonie akustisch folgen kann „sam er under in wære“. Mit dem Fenster, das Lunete öffnet, ergibt sich die Möglichkeit, dass Iwein Laudine auch optisch wahrnehmen kann, wodurch die beiden Räume fast ineinander übergehen.364 Erneut will Iwein eingreifen in die selbstverletzende Trauer Laudines, doch Lunete hindert ihn, die Räume zu wechseln: ir jâmer was sô veste daz sî sich roufte und zebrach. dô daz her Îwein ersach, dô lief er gegen der tür,
Sie trauerte so intensiv, dass sich selbst zerraufte und schlug. Als das Herr Iwein sah, rannte er an die Tür,
363 Vgl. o., Kap. 1. 364 Zum Fenster als Motiv zwischen Innen- und Außernraum vgl. Jackson 2008, zum Iwein v. a. S. 62‒65.
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als er vil gerne hin vür zuo ir wolde gâhen und ir die hende vâhen. Dô daz diu juncvrouwe ersach, sî zôch in wider […]. (1476‒1484)
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weil er unbedingt hinaus zu ihr eilen und ihr die Hände festhalten wollte. Als das Lunete sah, hielt sie ihn zurück.
Die Struktur, nach der das ‚Torverlies‘ hier kommuniziert wird, ist derjenigen des virtuellen Erzählraumes analog: Iwein kann das erzählte Geschehen hören, als sei er unter dem Personal, er kann es auch sehen und mitfühlen mit der Protagonistin – aber er kann nicht eingreifen. Das Fenster zum Hof, das Lunete für Iwein öffnet, kennzeichnet Iwein als unbeobachteten Beobachter eines intimen Geschehens, der nicht nur die öffentliche Klage Laudines beobachten kann (vgl. 1454‒1477), sondern auch ihr einsames Leiden: Dô man den wirt begruop, dô schiet sich diu riuwige diet. leien unde pfaffen die vuoren ir dinc schaffen: diu vrouwe beleip mit ungehabe alters eine bî dem grabe. dô sî her Îwein eine ersach […] dô minnet er sî deste mê. (VV 1593‒1605)
Als man den Burgherrn begraben hatte, ging die Trauergemeinde auseinander. Laien und Kleriker gingen ihrer Beschäftigung nach: Die Dame blieb klagend ganz allein bei dem Grab. Als Herr Iwein nur sie sah, da minnte er sie umso mehr.
In einer autopoietischen Spiegelung wird das ‚Torverlies‘ wie der virtuelle Erzählraum gestaltet, dessen einziger Rezipient Iwein ist; zwar kommt die Analogie zum Erzählraum an ihre Grenzen, wenn Laudine wieder über den Palas zurück in die Burg geht (vgl. V 1699), doch dehnt der Text die Beobachtungsmöglichkeiten Iweins tendenziell auch über die physischen Grenzen des ‚Torverlieses‘ aus: sîn herze stuont niender anderswar niuwan dâ er sî weste: diu stat was im diu beste. (VV 1720‒1722)
Sein Herz blieb nirgends sonst, als wo er sie wusste: Der Ort war ihm der beste.
Der Raum, in dem sich Iwein befindet, ist nach wie vor auch der normale Raum des ‚Torverlieses‘, doch ist dieser zugleich konsequent überformt durch einen virtuellen Raum, der als Erzählraum konzipiert und inhaltlich auf Laudine als Minneraum ausgerichtet ist: Iwein ist nach wie vor gefangen im ‚Torverlies‘, doch der Erzähler betont, dass er nun auch bei offenen Toren aufgrund der Minne bleiben würde (vgl. VV 1704‒1719). Nicht mehr die physischen Grenzen des ‚Torverlieses‘ halten ihn zurück, sondern die Grenzen des virtuellen Minneraumes um Laudine,
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der sein „herze“ über physische Grenzen hinweg folgen kann. Die anfängliche komplette Exklusion Iweins aus dem Hof ist relativiert: Er hat zwar einerseits den normalen Raum des ‚Torverlieses‘ nicht verlassen, andererseits aber baut sich der virtuelle Minneraum, in dem er sich ebenfalls befindet, um Laudine auf und erstreckt sich damit tendenziell auch auf das Innere der Burg. Lunete, die das Fenster zum Hof für Iwein öffnen muss, nimmt im virtuellen Minneraum, der dem Erzählraum nachgebildet ist, die Funktion des Erzählers ein: Sie zeigt dem Rezipienten das Geschehen; doch nicht nur das: Sie kann sich zwischen den unterschiedlichen Räumen bewegen, kann sowohl im virtuellen als auch im normalen Raum präsent sein. Diese Möglichkeit nutzt der externe Erzähler auch intensiv, um Iwein nach und nach aus dem ‚Torverlies‘ in den Hof zu überführen: Nachdem Lunete von der Minne Iweins zu Laudine erfahren hat, bringt sie ihn in einem ersten Schritt in einen anderen Raum, der signifikanterweise ganz von gemach geprägt ist und somit einen starken Gegenpol zu dem ursprünglich durch gewalt geprägten Raum des ‚Torverlieses‘ darstellt: ‚mîn her Îwein, nû gât dan dâ iuwer gewarheit bezzer sî.‘ und vuorte in nâhen dâ bî dâ im allez guot geschach. sî schuof im allen den gemach des im zem libe nôt was. (VV 1776‒1781)
‚Mein Herr Iwein, geht nun dorthin, wo man besser für Euch sorgen kann.‘ Und sie führte ihn in einen Raum in der Nähe, wo er bestens versorgt wurde. Sie sorgte dafür, dass er alles hatte, was er brauchte, um sich zu erholen.
Iwein wird bis zu seinem Treffen mit Laudine in diesem lediglich durch gemach inhaltlich bestimmten Raum bleiben. In ihren weiteren Unterhandlungen mit Laudine im normalen Raum der Burg kann Lunete Iwein regelrecht nach und nach herbeireden; in der ersten Unterredung mit Laudine bereitet Lunete die Ersetzung Askalons durch einen anonymen Ritter vor: ‚uns ist ein vrumer herre erslagen: nû mac iuch got wol stuiren mit einem alsô tiuren.‘ ‚meinstuz sô?‘ ‚vrouwe, jâ.‘ ‚wâ wære der?‘ ‚etewâ.‘ (VV 1803‒1806)
‚Ein tapferer Herr wurde uns erschlagen: Jetzt kann euch Gott mit einem genauso vorbildlichen aushelfen.‘ ‚Meinst du wirklich?‘ ‚Ja, Herrin.‘ ‚Wo wäre der zu finden?‘ ‚Irgendwo.‘
Laudine verortet den noch anonymen Ritter hier noch im Irgendwo. In der zweiten Unterredung grenzt sie den neuen Heiratskandidaten im Rahmen einer logischen Deduktion auf den Mörder Askalons als besseren Kämpfer ein (vgl. VV 1917‒1992), bleibt ansonsten aber noch unverbindlich. Erst bei der dritten Unterredung (und am dritten Tag) gibt Lunete den Namen Iweins preis, der als „sun des
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künec Urjênes“ (V 2111; „Sohn von König Uriens“) auch Laudine sehr genehm ist; um die räumliche Distanz zu Iwein zu plausibilisieren – aber auch zugleich um Iwein in den normalen Raum der Burg überführen zu können – setzt Laudine eine Vier-Tages-Frist an, bis Iwein ankommen würde. In einer äußerst umständlich ausgeführten und erzählten List365 kommuniziert Laudine eine große normalräumliche Distanz zu Iwein, indem sie künstlich einen großen Zeitraum erzeugt. Die dadurch entstehende Zwischenzeit von zwei Tagen wird dazu genutzt, um Iwein so vorzubereiten, dass er in der Tat die Raumstelle Askalons im normalen Raum an der Seite Laudines einnehmen kann: Iwein wird gewaschen und kostbar eingekleidet,366 Laudine vorgestellt und schließlich an deren Seite dem gesamten Hof als neuer Herrscher präsentiert: Do si sich ze handen viengen und in daz palas giengen, und sî den hern Îwein sâhen, benamen sî des jâhen, sin gesæhen nie sô schœnen man. […] si besâhen in als ein wunder und sprâchen alle besunder ‚wer brâhte disen rîter her? ob got wil, ez ist der den mîn vrouwe nemen sol.‘ in behaget nie rîter alsô wol. alsus vuorten sî in durch die liute enmitten hin, und gesâzen beide an einer stat. (VV 2371‒2387)
Als sie sich an den Händen nahmen und in den Palas gingen und die Vasallen Herrn Iwein sahen, da sagten sie wahrhaftig, dass sie noch nie einen so schönen Mann gesehen hätten. Sie bestaunten ihn wie ein Wunder, und ein jeder sagte: ‚Wer führte diesen Ritter her? Wenn es Gott will, so ist er derjenige, den meine Herrin heiraten soll.‘ Ihnen hatte noch nie ein Ritter so gut gefallen. Solchermaßen führten sie ihn durch die Vasallen in die Mitte und setzten beide an dieselbe Stelle.
Die Räumlichkeit der Inszenierung Iweins als neuer Herrscher ist signifikant: An der Hand Lunetes gelangt er in den Palas, den er bislang lediglich aus der Perspektive des ‚Torverlieses‘ einsehen konnte; er wird von allen Vasallen bestaunt, die in ihrer Kommunikation auch die Räumlichkeit des Geschehens hervorheben; schließlich wird er in der Mitte des nicht weiter beschriebenen normalen Raumes des Hofs an der Seite Laudines inthronisiert. Iwein ist nun tatsächlich normalräumlich in der Burg angekommen, die zu Beginn der ‚Torverliesszene‘ lediglich als Ausblick in die Zukunft für das Publikum erkennbar war.367 Die Zeit der zwei Tage, mit der Lunete die normalräumliche Überführung Iweins inszenierte, ist zwar nicht notwendig gewesen, um eine normalräumliche Distanz zu überbrü365 Vgl. VV 2118‒2176. 366 Vgl. VV 2185‒2199. 367 Vgl. oben, Kap. 1.
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cken, aber um Iwein an die Stelle Askalons im normalen Raum zu stellen war sie entscheidend: Die Schönheit und Pracht Iweins, die erst im Baden und Ankleiden erreicht werden konnte, spielt eine grundsätzliche Rolle in seiner Akzeptanz als neuer Herrscher. Diese Ersetzung des Herrschers geht in der Tat auf Kosten Askalons, der durch Iwein nicht nur aus dem normalen Raum verdrängt wird,368 sondern zugleich auch aus dem virtuellen Raum der Totenmemoria fällt:369 des tôten ist vergezzen: der lebende hât besezzen beidiu sîn êre und sîn lant. (VV 2435‒2437)
Der Tote ist vergessen: Der Lebende hat sowohl seine Ehre als auch sein Land besetzt.
Es stellt sich nach all diesen Beobachtungen die Frage, warum der Erzähler diese komplexe Gemengelage virtueller Räume über den normalen Raum seiner Erzählung legt, was also durch den Aufbau virtueller Räume im normalen Raum erreicht wird. Die Antwort liegt in dem Skandalon des Geschehens begründet, dessen Plausibilisierung offenbar einigen Aufwand erfordert: Der Erzähler löst durch die virtuellen Räume das Problem, wie der vom gesamten Hof gehasste Mörder des Burgherrn dessen Stelle einnehmen kann und vom ganzen Hof geliebt wird, wie die Ambivalenz von gewalt und minne auch angesichts der Tötung Askalons aufrecht erhalten bleiben kann, wie also aus einem von gewalt/ wilde geprägten normalen Raum ein von minne/gemach geprägter normaler Raum werden kann.370 Dazu werden zwei virtuelle Räume genutzt, die beide 368 Vgl. auch VV 1899‒1903. 369 Anette Sosna sieht im Vergessen Askalons lediglich die Voraussetzung für die Ausblendung der Schuld Iweins (vgl. Sosna 2003, S. 115). Ich denke, dass das Vergessen Askalons (durchaus im Sinne Sosnas) weiter gedacht werden kann als Negierung eines virtuellen Raumes (derjenige der Totenmemoria), dessen Anerkennung und Aktualisierung es für Iwein unmöglich machen würde, die Stelle Askalons im normalen Raum einzunehmen. 370 Interessant in diesem Zusammenhang sind die Ergebnisse Tobias Zimmermanns zum Argumentationsverlauf im Dialog zwischen Lunete und Laudine: „Wie kann ein derart unmöglicher Vorschlag wie jener, den Mörder des Gatten zu heiraten, schließlich zur besten Lösung werden? Dies wird möglich, indem in der Diegesis zwei verschiedene Ebenen verwoben werden: Jene der erzählten Welt und jene der erzählerischen Konstruiertheit. Denn während der Vorschlag, den Gattenmörder zu heiraten, in der erzählten Welt eigentlich ein unmöglicher ist, ist die ganze erzählerische Konstruktion darauf angelegt, diesen Vorschlag zu legitimieren. […] Durch den Verlauf des Dialoges, der sich durch Lunetes Syllogismus gänzlich auf Iwein konzentriert, gerät außer Acht, dass dieser ja durchaus nicht der einzige taugliche Ritter wäre. Vielmehr ist er einfach der Einzige, an dem sich der Syllogismus erfolgreich durchführen lässt – ein Umstand, den die geschickte Inszenierung des Dialoges dem Leser vorzuenthalten versucht. So wird also dank der erzählerischen Konstruktion – und nicht etwa weil die von den Figuren auf der Ebene der erzählten Welt geäußerten Argumente sich als vollumfänglich überzeugend herausstellen wür-
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auf minne/gemach ausgerichtet sind und zunächst nur fragile Blasen in einer von gewalt/wilde bestimmten Umgebung darstellen, die aber – vor allem durch die Kommunikation Lunetes – nach und nach den normalen Raum überformen bzw. in diesen übergehen können. Dies geschieht nicht etwa in einer sukzessiven Entwicklung des Verhältnisses Iweins zu den Burgbewohnern, sondern in der Abfolge von Räumen, die Iwein in- bzw. exkludieren: Zunächst findet sich Iwein im ‚Torverlies‘ in der totalen Exklusion wieder: Er ist vom prächtigen Laudinehof ausgeschlossen, dessen Pracht noch in der Zukunft und nur für das implizierte Publikum erkennbar ist, dazu aber auch vom Artushof, den er heimlich verlassen hat und dessen spitzzüngigen Sachverwalter der êre, Keie, er im Moment nichts entgegenzusetzen hat.371 Der räumliche Niederschlag dieser totalen Exklusion ist signifikanterweise ein an sich schon fragwürdiger Zwischenraum zwischen den Fallgittern, der weder Hof noch wilde ist;372 er ist damit schon als normaler Raum nicht prädisponiert für eine der Seiten von gewalt bzw. minne, so dass er im Weiteren für alle möglichen Füllungen offen ist. Der nun entstehende virtuelle Memorialraum inkludiert Iwein und Lunete in einem Minneraum (relativiert also
den – ein in der erzählten Welt ursprünglich unmöglicher Vorschlag auf der Ebene der erzählerischen Konstruiertheit zur einzig möglichen Lösung“ (Zimmermann 2007, S. 221f.). Nicht die Argumentation selbst kann also überzeugen (und sie überzeugt ja auch Laudine nicht), sondern vielmehr die Einpassung Iweins in eine allgemeine logische Operation. Und diese Einpassung erfolgt buchstäblich räumlich, über die virtuellen Räume in den normalen Raum des Hofes; bezeichnend dafür ist die oben dargestellte räumliche Unspezifik Lunetes zu Beginn ihrer Auseinandersetzung mit Laudine, die den noch anonymen Ritter im Irgendwo (‚etewâ‘) verortet. Nach und nach (über die zeitliche und räumliche Distanz des Artushofes) wird aus diesem Irgendwo das Hier und Jetzt, in dem Iwein eingeordnet wird. Die erzählerische Konstruiertheit, von der Zimmermann spricht, wirkt vor allem auf Ebene des Raumes. 371 Dieses Thema bleibt durchweg präsent: Iwein fürchtet auch später noch, dass er keinen Beweis für seinen Sieg über Iders und damit keine Grundlage für eine Ehrzuweisung hat, vgl. VV 1519‒1533, 1726‒1730. 372 Vgl. Hammer 2007, S. 235: „Tatsächlich kann man in Iweins Situation einen liminalen Zustand erkennen, denn er befindet sich weder innerhalb noch außerhalb des Burgbereiches“. Hammer arbeitet sich im Folgenden an den widersprüchlichen Bestimmungen des Torverlieses ab: „Möglicherweise ist diese scheinbar widersinnige Ausstattung ein Anzeichen des ‚Sowohl – als auch‘: Der Zugang zur Burg ist sowohl Toreinfahrt als auch Kammer, der Raum ist sowohl innerhalb als auch außerhalb der Burg, ein liminaler ‚Zwischen-Raum‘. […] Den liminalen Zustand könnte man zuletzt auch darin verdeutlicht sehen, daß Iwein (mit Hilfe eines Ringes) unsichtbar wird, damit ihn die Burgbewohner nicht finden können“ (ebd., S. 236, Hervorhebungen nach Hammer). Hammer belässt es jedoch bei diesen Beobachtungen, ohne sie weiter zu deuten. Sein Ansatz des „Sowohl – als auch“ fügt sich gut zu dem hier vorgestellten Ansatz einer Überlagerung von zwei Räumen (einem normalen und einem virtuellen), doch über Hammers Ausführungen hinaus lässt sich damit auch die Dynamik der Räumlichkeit erklären, die sich mit Hammers eher statischem Modell eines liminalen Zwischen-Raumes nicht erklären lässt.
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bereits die radikale Exklusion Iweins) und exkludiert den ganz auf gewalt ausgerichteten Hof. Freilich kann der von gewalt gekennzeichnete normale Raum den virtuellen Raum fast zerstören, weshalb ein virtueller Minneraum auf neuer Basis aufgebaut wird: Der nach dem Muster Erzählraum ausgebildete virtuelle Raum inkludiert wieder Iwein und Lunete, doch er exkludiert in erster Linie Laudine, die als zunächst unerreichbare Minnedame zwar den Erzählraum auf sich hin ausrichtet, die aber selbst als beobachtetes Personal nicht Teil hat an der raumschaffenden Kommunikation, die lediglich Iwein und Lunete betreiben. Diese Ersetzung des ersten virtuellen Raums durch den zweiten zieht seinen Mehrwert aus dem Austauschen des Exkludierten: Während es keine Möglichkeit der Kommunikation mit dem gewaltbereiten Hof für Iwein gibt, gibt es sehr wohl eine Möglichkeit der Kommunikation mit der Minnedame Laudine: die kuppelnde Vermittlung durch Lunete. Während diese schon zuvor zwischen dem virtuellen Raum des ‚Torverlieses‘ und dem normalen Raum des Hofes hin und herwechseln konnte, kann diese Beweglichkeit nun dazu genutzt werden, Iwein selbst in den normalen Raum zu überführen. Die Fragwürdigkeit und stark begrenzte Dauerhaftigkeit virtueller Räume wird vom Roman positiv genutzt: Weder der Memorialraum noch der Erzählraum sind auf Dauer ausgelegt, was sich auch darin niederschlägt, dass Lunete zu Beginn ihrer Unterhandlungen mit Laudine Iwein bereits in den nicht näher bestimmbaren Raum führt, aus dem er dann – höfisch aufgemacht – schließlich in den normalen Raum des Hofes treten kann. Über den Umweg des Memorialraumes (der Iwein zunächst einmal schlicht am Leben gehalten hat) und des Erzählraumes (der Laudine als exkludiertes Personal einsetzt, mit dem aber mittelbar kommuniziert werden kann) kann Iwein so schließlich im normalen Raum des Hofes die Stelle Askalons einnehmen, ein Geschehen, das in seiner Drastik ohne diesen Umweg über virtuelle Räume nicht vorstellbar ist:373 Der gesamte Hof, der Askalons Totenmemoria in Trauer vollzogen hat und dem Mörder den Tod schwört, macht eben diesen Mörder zum Mittelpunkt seines Raumes und setzt an Stelle der trauernden Totenmemoria die feiernde Memoria des lebenden Sohns „des künec Urjênes“. Oder anders ausgedrückt: Die beiden virtuellen Räume setzen so lange minne dem durch gewalt definierten normalen Raum entgegen, bis auch dieser gänzlich durch minne überformt ist. 373 Auch Hildegart Elisabeth Keller betont diese Irritation: „Nach dem vergleichsweise komfortablen Entrinnen aus der Todesgefahr bleibt der Mörder in der Burg versteckt, weiterhin in unmittelbarer Nähe zur Witwe seines Opfers. Rund 1000 Verse später schon ist er ihr mit hoföffentlicher Akklamation frisch angetrauter Ehemann“ (Keller 2004, S. 123). Diese unwahrscheinliche ‚Verräumlichung‘ Iweins an der Stelle Askalons innerhalb kürzester Zeit setzt Keller aber lediglich assoziativ in Beziehung zu biologischen Modellen des Mimikry, sie blendet die komplexe Erzeugung von Räumlichkeiten aus, die meines Erachtens nach die eigentliche Grundlage dafür bietet, dass Hartmann das gänzlich unwahrscheinliche Geschehen plausibilisieren kann.
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Umgesetzt ist damit allerdings erst das halbe Programm des rahmengebenden Quellenraums, der ja die Dialektik von gewalt/wilde und minne/gemach dominant setzte; umgesetzt ist auch erst die eine Inklusion Iweins in den Laudinehof, seine Inklusion in den Artushof (von dem sich Iwein selbst durch seinen heimlichen Aufbruch exkludiert hat) fehlt noch. Und diese Inklusion in den Artushof erfolgt signifikanterweise über einen Akt der gewalt, in Form des dezidiert als Bestrafung ausgewiesenen und sehr schmerzhaften Sieges über Keie.374 Direkt anschließend kommt es zu einer räumlichen Inszenierung Iweins an der Seite König Artus’, die analog zu der räumlichen Zentralisierung Iweins im Laudinehof angelegt ist: Er nam daz ors, dô erz gewan, und vuortez vür den künec dan. […] er sprach: ‚wer sît ir, herre?‘ ‚ich bin ez Îwein‘ ‚nû durch got.‘ ‚herre, ich bin ez sunder spot.‘ nû saget er im mære wie er worden wære herre dâ ze lande. sîner êrn und Keiî schande vreuten sî sich alle dô. (VV 2601‒2617)
Er nahm das Ross, als er es gewonnen hatte, und führte es daraufhin vor den König. Artus sagte: ‚Wer seid Ihr, Herr?‘ ‚Ich bin es, Iwein‘ ‚Bei Gott!‘ ‚Herr, ich bin es im Ernst.‘ Dann erzählte er ihm die Geschichte, wie er dort der Landesherr geworden war. Über seine Ehre und die Schande Keies freuten sich dort alle.
Auch hier ist Iwein wieder an der Seite des Herrschers des Hofes, während alle Kommunikanten des Hofes ihn wahrnehmen. Und hier, neben Artus, wird sein Name mit der Erzählung seines Erfolgs am Laudinehof verknüpft und als Folge mit der êre belohnt, die nicht zurückzubekommen Iwein im ‚Torverlies‘ immer wieder gefürchtet hatte. Das Ende dieses ersten Romanabschnittes zeigt Iwein also zugleich im Mittelpunkt des (örtlich festen) Laudinehofes und des (örtlich beweglichen) Artushofes, und mit der Feier, die sich dem Kampf gegen Keie anschließt, zeigt die erzählte Welt denjenigen wieder maximal in den höfischen Raum inkludiert, der sich durch den heimlichen Aufbruch vom Artushof und durch den Mord an Askalon vom Laudinehof zunächst exkludiert hatte. Und dieser höfische Raum hält zu dieser Stelle des Romans die Balance zwischen gewalt und minne, wie sie der Memorialraum der Quelle dominant gesetzt hatte. Erst mit dem Rat Gawans gerät diese Balance wieder in Ungleichgewicht, was sofort die räumliche Isolation und Exklusion Iweins zu Folge hat: Mit dem virtuellen Raum der Quelle und vor allem mit der Assimilation des normalen Burgraums durch die virtuellen Minneräume hat der Roman einen höfischen Raum erzeugt, dessen Kommunikanten sich sowohl mit minne/gemach als auch mit gewalt/wilde auseinandersetzen müssen, wollen sie nicht exkludiert werden. Der Raum, den Iwein im übertreffenden Nach374 Vgl. VV 2547‒2600.
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vollzug Kalogrenants miterzeugt, ist damit ein deutlicher Gegenpol zu dem höfischen Raum, den der Artushof zu Beginn des Romans repräsentiert: spannungsgeladener, paradox – und doch, wie das weitere Romangeschehen zeigt, die einzig dauerhafte Aufenthaltsmöglichkeit für den höfischen Ritter.
3.2.2.3 Joie de la curt oder der Kampf gegen die Erinnerung Doch nicht nur im Iweinroman spielen Erinnerung und entsprechende Raummodelle eine grundsätzliche Rolle: Auch der Erecroman besitzt einen für das Handlungsgefüge fundamentalen Memorialraum, der allerdings nicht zu Beginn des Romans gesetzt und regelmäßig aufgesucht wird, sondern der erst gegen Ende des Romans aufgebaut wird, um baldmöglichst wieder aufgelöst zu werden; die Rede ist vom Minnegarten Joie de la curt, einer sehr breit erforschten Passage des Artusromans, die nichtsdestoweniger nach wie vor Fragen aufgibt. Zunächst sollen die signifikanten Handlungsmomente der Episode in Erinnerung gerufen werden, um sie anschließend – aufbauend auf bisheriger Forschung, doch weiterführend – in Bezug auf den Memorialraum zu interpretieren. Erec und Enite, die in Begleitung von König Guivreiz auf dem Weg zu König Artus sind, kommen an eine Wegscheide und nehmen den linken, bequemeren Weg. Sie sehen wenig später eine Burg in der Ferne, deren Pracht und Wehrhaftigkeit ausführlich geschildert wird. Guivreiz erkennt die Burg Brandigan und warnt Erec vor der dort zu erwartenden, gefährlichen Aventiure Joie de la curt, dem Kampf gegen Mabonagrin, den Neffen des Burgherrn, im Garten vor der Burg. Erec aber besteht darauf, die Aventiure zu bestreiten. Bei ihrer Ankunft in Brandigan klagen die Burgbewohner über Enite, die sie als baldige Witwe sehen. In der Burg sitzen bereits die 80 trauernden, wunderschönen Witwen, deren Männer Mabonagrin erschlagen hat. Der Burgherr Ivreins rät Erec ebenfalls von der Aventiure ab, erklärt ihm aber auch die Einzelheiten: In einem durch eine magische Grenze abgeschotteten Garten wohnt ein Ritter mit seiner Dame, der jeden eindringenden Ritter erschlägt. Erec erklärt, dass seine bisherige Ehre klein im Vergleich zu der hier zu erwartenden sei und bekräftigt seinen Willen zu kämpfen. Am nächsten Tag bricht Erec mit Enite, Guivreiz, Ivreins und den Burgbewohnern zum Garten auf, vor einem verborgenen Tor aber bleiben letztere zurück. Vor einem inneren Kreis aus Pfählen, auf denen die Köpfe der Besiegten aufgespießt sind, müssen auch Enite, Ivreins und Guivreiz zurückbleiben, und Erec reitet alleine weiter. In der Mitte des Gartens kommt er zu einem Zelt, vor dem eine wunderschöne Dame sitzt, die ihn vor ihrem Freund Mabonagrin warnt. Dieser kommt und kämpft mit Erec auf Leben und Tod, kann aber schließlich besiegt werden. Alle können nun den Park betreten und Erec als Sieger feiern; schließlich verlassen alle – inklusive Mabonagrin und seine Dame – den Garten.
Über die grundsätzliche Bedeutung dieser letzten Aventiure für den Roman herrscht Konsens in der Forschung;375 der Kern dabei ist die frappante Ähnlich375 Vgl. etwa Ehrismann 1989, S. 119; Sosna 2003, S. 96f.
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keit zwischen dem Paar im Garten und Erec und Enite in Karnant,376 die Hugo Kuhn in seinem epochemachenden Aufsatz zum Erec als allegorisches Verhältnis verstanden hat.377 Bei der Interpretation dieser Ähnlichkeit und vor allem ihrer Bedeutung für Erec gibt es freilich nach wie vor sehr unterschiedliche Ansätze; meines Erachtens hat die Ähnlichkeit der beiden Paare nicht in erster Linie den Sinn, dass –– Erec durch den Sieg den ordo Gottes wiederherstellt, den er selbst analog zu Mabonagrin verletzt hatte,378 –– Erec als Repräsentant des Guten in Mabonagrin das Böse besiegt,379 –– Erec hier seiner selbst als Individuum bewusst wird,380 –– Erec seine frühere Minneauffassung im Sieg gegen Mabonagrin widerlegt,381 –– Erec symbolisch sich selbst und Enite befreit,382 –– Erec seine nunmehr erlangte Integrität demonstrieren kann,383 sondern dass im Garten ein virtueller Erinnerungsraum geschaffen wird, anhand dessen Erec seine eigene Vergangenheit virtuell verändern kann384 – was in Folge auch den normalen Raum verändert, da er danach zusammen mit Enite in Karnant wieder die Herrschaft übernehmen kann, als ob nichts geschehen und dort keine (herrschaftsfreie) Zeit vergangen wäre.
376 Eine Ausnahme in der jüngeren Forschungslandschaft stellt lediglich Silvia Ranawake dar, die Mabonagrin und seine Dame als Parallele zu Iders und seiner Dame liest (vgl. Ranawake 1988, S. 110). Dabei blendet sie jedoch die Minnethematik und das Kommunikationsproblem der Paare aus, beides zentrale Vergleichspunkte zwischen Erec und Mabonagrin, wobei Iders hier gänzlich unbestimmt bleibt. 377 „Was sich in Joie de la curt allegorisch spiegelt, ist des Paares eigener Weg: Zerstörung und Wiedergewinn der Minne und damit der höfischen Freude. Wie das andere Paar im Freudegarten, so standen Erec und Enite am Schluß von Teil I als Musterliebespaar vor uns. Wie jene, so haben auch sie diesen Zustand verdorben: weil sie sich im Besitzgenuß ihrer Liebe abschlossen wie jene im Freudegarten.“ (Kuhn 1969, S. 145). 378 Vgl. Cramer 1972, S. 111; den Ausführungen Cramers, dass Enites Schuld darin läge, dass sie als verarmte Adelige keine angemessene Partnerin für Erec gewesen sei und dieser damit den ordo Gottes verletzt habe (vgl. ebd., S. 99‒105), kann ich freilich nicht folgen. 379 Vgl. Tax 1973, S. 297. 380 Vgl. Trachsler 1979, S. 201 und 206ff. 381 Vgl. Cormeau 1979, S. 199, mit Ruh und Wünsch. 382 Vgl. Haug 1985, S. 96. Haug arbeitet dies allerdings in erster Linie für die französische Vorlage heraus. 383 Vgl. Sosna 2003, S. 97. 384 Diese Interpretation schließt freilich keine der vorher genannten Interpretationen aus, ich denke jedoch, dass die genannten Interpretationsansätze ggf. der Funktion der Episode als Erinnerungsraum untergeordnet sind.
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Der Erinnerungsraum Joie de la curt wird vorbereitet und flankiert durch drei Momente der Erinnerung: „sîn hof wart aller vreuden bar“ (V 2989; „sein Hof war ohne jede Freude“) erklärt der Erzähler nach der Diagnose des verligens in Karnant, was im Namen der Aventiure Joie de la curt wörtlich aufgegriffen und in genau der gestörten Art und Weise wie in Karnant erinnert wird;385 zweitens erinnert Erec sich an der Wegscheide „[i]m Unterschied zur Versöhnungsszene, in der [er] lediglich sein Verhalten gegenüber Enite während der Ausfahrt begründet, […] an den Grund seines Aufbruchs“;386 und drittens spricht Erec in der Unterhaltung mit Mabonagrin nach deren Kampf nochmals die Ursache seines Aufbruchs von Karnant an:387 ich hân ez ûz ir munde heimlîchen vernomen daz hin varn und wider komen âne ir haz mac geschehen. (VV 9425‒9428)
Ich habe es heimlich aus ihrem Mund gehört, dass Ausfahrt und Wiederkommen mit ihrem Einverständnis geschehen kann.
Eingebettet in diese drei Erinnerungsmomente, die zumindest auf Personalebene außergewöhnlich sind (Erec erinnert an keiner anderen Stelle den Aufbruch aus Karnant und damit den Beginn seines Aventiurenweges), ist die umfangreiche und ungewöhnlich detaillierte Beschreibung der Burg Brandigan, die selbst bereits Aspekte des Memorialraumes verwendet, wie Scott E. Pincikowski herausgearbeitet hat. Er erkennt gerade bei Hartmann und speziell in der Burgbeschreibung den Aufbau einer memorativen Räumlichkeit, die der Dichter in didaktischer Absicht benutzt, um seinem Publikum ein höfisches Ideal näher zu bringen: Die zweite Hälfte dieser Studie stützt sich auf die ‚materiellen‘ Belege und zeigt, dass sich Hartmann der Architektur bedient, um eine didaktische Vorstellung einer möglichen Zivilisation zu ‚bauen‘ und die dazu gehörigen Probleme für den Adel zu explorieren. Es ist Hartmann möglich, eine solche schwierige Aufgabe zu erfüllen, indem er die ars memoria rezipiert, […] die auf den mnemonischen und didaktischen Funktionen von architektonischen Tropen beruht (Carruthers 2004). Hartmann versucht das kollektive Gedächtnis des höfischen Publikums zu beeinflussen, wenn er dessen Vorkenntnisse der Repräsentationsfunktion der materiellen Welt mit der didaktischen Funktion von Architekturbeschreibungen verbindet. Er schafft ‚suggestive kulturelle Erinnerungen‘, die in denselben Orten vorkommen, die das höfische Publikum besetzt, damit es lernt, wie es dem literarischen Idealbild des Hofes in der Wirklichkeit zumindest näherkommen kann.388 385 Vgl. Ehrismann 1989, S. 119, Bumke 2006, S. 66. 386 Sosna 2003, S. 94; vgl. VV 8521‒8526. 387 Vgl. Kuhn 1969, S. 145. 388 Pincikowski 2008, S. 215.
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Was Pincikowski beschreibt, ist ein virtueller Memorialraum auf Ebene des Erzählraumes, also ein Raum, der in der Kommunikation zwischen Erzähler und Publikum aufgebaut wird, nicht aber in der Kommunikation des Personals der Erzählung. Als erzählter Raum ist die Burg Brandigan tendenziell ein normaler Raum, will man die Zufälligkeit ihrer Erreichbarkeit nicht als Indiz für eine nur mittlere Kommunikationszugänglichkeit werten; darüber schweigt sich aber der Text weitgehend aus. Auf die Memorialfunktion Brandigans für den Erzählraum wird noch zurückzukommen sein, zunächst aber soll der Raum analysiert werden, der dezidiert auch für das Personal des Romans einen virtuellen Memorialraum darstellt: der Minnegarten. Der Garten, in dem sich Mabonagrin und seine Dame aufhalten, ist durch seinen Inhalt und durch seine Grenzen als virtueller Memorialraum aufgebaut.389 Inhaltlich ist der Garten durch seine topischen Elemente (Obstbäume, Vögel, Blumen) grundsätzlich als locus amoenus bestimmt390 und als solcher „der ideale Schauplatz für erotisches Vergnügen“.391 Darüber hinaus ist dieser Raum auf ein Zentrum ausgerichtet,392 einem aus Zelt, Dame und Bett aufgebauten Memorialbild der Minne:393
389 Zur Geschichte des Gartens als virtueller Memorialraum vgl. Ernst 2007, S. 158‒169. Ernst sieht etwa in der Erinnerung des Odysseus an den Garten seiner Kindheit bei seiner Rückkehr in die Heimat einen virtuellen Memorialraum: „Schließlich gibt sich Odysseus zu erkennen, indem er als Gnorisma eine dem Vater bekannte Narbe vorweist und zur weiteren Beglaubigung alle Bäume aufzählt, die ihm Laertes in seiner Kindheit geschenkt hat: 13 mit Birnen, 10 mit Äpfeln, 40 mit Feigen und 50 mit Reben. So erweist sich die Rückkehr des Odysseus in die Heimat zugleich als eine Zeitreise in die Kindheit, bei welcher der Garten als memorialer Raum fungiert“ (ebd., S. 159f.). 390 Vgl. Glaser 2004, S. 62; grundlegend zum locus amoenus vgl. Gruenter 1961. 391 Schröder 1972, S. 303. 392 Vgl. Schröder 1972, S. 303, Ernst 2007, S. 176. 393 Kuhns Deutung des Gartens als Allegorie (vgl. Kuhn 1969, S. 144), die umstritten ist (vgl. Cormeau 1979, S. 200; Haug 2000, S. 288f.), verweist bereits in diese Richtung, da Kuhn in den Elementen des Gartens in erster Linie einen übertragenen Sinn erkennt. Es handelt sich dabei aber in der Tat nicht um eine Allegorie, sondern um ein Memorialbild, das im Unterschied zu artistischen Memorialbildern in der höfischen Epik mit Handlung gefüllt wird; in Cormeaus Worten: „Die Joie de la curt-Episode unterscheidet sich von den Aventiuren des Romans durch die intensivere Inanspruchnahme dieser binnenhistorischen ‚zweiten‘ Bedeutungsebene. Diese Bedeutungsschicht ist aber genauso wie die erste an Aktion geheftet, von Handlung nicht abzutrennen […]. Die fiktionale Realität konstituiert Aktion nicht ohne Sinn, ist aber nicht allegorisch, und auch Joie de la curt ist nicht Allegorie, sondern nur komprimierte Vergegenwärtigung synchroner und diachroner Bedeutungssetzung“ (Cormeau 1979, S. 200).
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nû sach er vor im dort eine parvelûne stân, rîch unde wol getân, beide hôch unde wît, zweier slahte samît, von strîchen swarz unde wîz und gemâl en allen vlîz. dâ stuonden entworfen an beidiu wîp unde man, und die vogele sam si vlügen, doch si die liute dar an trügen, diu tier wilde unde zam, ob iegelîchem sîn nam, diu bilde von golde. daz der knoph wesen solde, daz was ein wol geworht ar, von golde durchslagen gar. si was gespannen überz gras. an dirre pavelûne was êre und gevüere. dise zeltsnüere wâren sîdîn garwe und niht von einer varwe, rôt grüene wîz gel brûn, geworht sinewel. hie under er gesitzen sach ein wîp, als im sîn herze jach, daz er bî sînen zîten âne vrouwen Ênîten nie dehein schœner hete gesehen. […] daz bette dâ si ûfe saz, wol erziuget was daz: die stollen grôz silberîn, von guotem gewürhte der schîn. (VV 8901‒8957)
Nun sah er dort vor sich ein Zelt stehen, wertvoll und hervorragend gefertigt, sowohl hoch als auch breit, aus zweierlei Sorten Samt, scharz-weiß getreift und mit großer Sorgfalt bemalt. Darauf waren Frauen und Männer gemalt und Vögel, als ob sie flögen (womit sie aber die Menschen täuschten), auch wilde und zahme Tiere, darüber der jeweilige Name, die Bilder aus Gold. Wo eigentlich der Knauf sein sollte, war ein herrlich gearbeiteter Adler, der ganz und gar mit Gold besetzt war. Das Zelt war über dem Gras aufgespannt. Das Zelt war bestimmt von Ehre und Gewinn. Die Zeltschnüre waren gänzlich aus Seide und nicht etwa einfarbig, sondern rot, grün, weiß, gelb, braun zusammengedreht. Darunter sah er eine Dame sitzen, von der ihm sein Herz eingab, dass er in seinem ganzen Leben außer die Dame Enite noch nie eine schönere gesehen hatte. Das Bett, auf dem sie saß, war vortrefflich gestaltet: Das große Gestell war aus Silber und wunderbar gearbeitet.
Das kostbare Zelt gehört als Topos nicht nur „in den Zusammenhang von Weltmittelpunkts- und Paradiesschilderungen“,394 sondern erinnert sehr viel präziser (und vor allem im Zusammenhang mit Bett und Dame) die Minne: Das Zelt ist der typische Ort, an dem die exklusive Kommunikation zwischen Dame und Ritter stattfindet, in den Minnereden später oftmals auch der Sitz der Frau Minne
394 Haug 2000, S. 277.
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selbst.395 Zu dieser Assoziation, die auch die Irritation Ulrich Ernsts über das Zelt auflösen kann,396 passt auch die nähere Beschreibung des Zeltes: Das Zelt vereint mit seinen Farben schwarz und weiß, den Bildern von wilden und zahmen Tieren und schließlich auch von Mann und Frau Gegensätze, die Farben der Seidenschnüre präsentieren mit rot, grün, weiß, gelb, braun typische Farben der Minne,397 und die abgebildeten Vögel gehören (wie bereits im Brunnenraum des Iwein)398 zum topischen Repertoire des amoenen Lustortes. Andrea Glaser interpretiert das Trompe l’œil des Zeltes als Hinweis auf die Künstlichkeit der Minnebeziehung zwischen Mabonagrin und seiner Dame: So erscheint das Zelt als illusorischer Raum, in oder auf dem die illusorische Bewegung der Vögel stattfindet. Dem Künstler, der die Wände des Zeltes bemalt hat, gelang es offensichtlich, durch die realistische Abbildung der im Flug befindlichen Vögel die Räumlichkeit der Fläche vorzutäuschen. Das Geschehen auf dem Zelt stellt eine Welt der Kunst dar, [die] ähnlich wie auch der Baumgarten eine – wenn auch sehr ästhetische – Kunstwelt ist. Indem der Erzähler die Bewegung der Vögel auf dem Zelt so explizit negiert, verweist er implizit auf die Statik, die das Innere des Baumgartens beherrscht und die sich auch in der festgefahrenen Beziehung zwischen Mabonagrin und seiner Freundin manifestiert.399
395 Vgl. Klingner 2013, der das Zelt der Dame Mabonagrins ebenfalls in den Kontext der Minnezelte einordnet (vgl. ebd, S. 228). Auch Rüdiger Schnell zieht dezidiert die Verbindung zwischen Minnereden und dem Baumgarten im Erec und betont die besondere Räumlichkeit: „In zahlreichen mittelalterlichen Dichtungen wird das Reich der Liebe in einen separaten Raum bzw. eine abgesonderte Landschaft verlegt. […] Die Literaturgattung der Minnereden und Minneallegorien steht paradigmatisch für diese geographische und poetologische ‚Auslagerung‘ des Themas Liebe aus der ‚normalen‘ Welt der an sich doch auch schon fiktiven Welt der Erzählung: Ein Ritter wird in eine fremde, jenseitige Welt entführt und etwa der Frau Venus vorgeführt, worauf dann ein lehrhaftes Gespräch über die Liebe sich entspinnt. Die Auslagerung der Thematisierung von Liebe kann vielerlei Gestalt annehmen. So hält sich z. B. Mabonagrin mit seiner Freundin in einem paradiesähnlichen Baumgarten auf. Hartmann beschreibt diesen Ort als einen locus amoenus […], so dass alles, was in diesem Baumgarten geschieht, in gewisser Weise ‚entrückt‘ ist“ (Schnell 2011, S. 32). 396 „Das permanente Wohnen in einem Zelt, gewöhnlich einer provisorischen Unterkunft im Krieg oder auf Reisen, kollidiert mit zwei von der damaligen Geschlechter- und Standesordnung vorgegebenen höfischen Lebensformen: zum einen mit der Queste des Mannes nach ritterlichen Abenteuern, die ein Ausreiten voraussetzt, zum anderen mit dem dauerhaften Aufenthalt der höfischen Dame in ummauerten Räumen, insbesondere in der Kemenate am Hof“ (Ernst 2007, S. 176). Ernst erkennt daran lediglich eine Störung der Integration des Minnepaares im Garten, übersieht aber, dass das Zelt auch topischer Ort der Minne selbst ist, die damit im Garten memoriert wird. 397 Vgl. Brügel 2008. Glaser begreift die Farbenvielfalt lediglich unspezifisch als Hinweis auf die Wichtigkeit des Visuellen, vgl. Glaser 2004, S. 67f. 398 Vgl. 3.2.2.2. 399 Glaser 2004, S. 66f.
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Meines Erachtens ist das Trompe l’œil weniger als eine verborgene Kritik an Mabonagrin und seiner Dame zu verstehen als vielmehr als ein deutlicher Hinweis auf die Bildhaftigkeit des gesamten Gartens, der die Minne Erecs und Enites inklusive ihrer Isolationsproblematik memoriert: Wie der Aufenthalt des Paares im Wundergarten (mit silbernem Bett in prächtigem Zelt!), so bedeutet die selbstverlorene Minnegemeinschaft Erecs und Enites in Karnant Verlust der hoves vreude. Die Parallele geht bis in den Wortlaut: sîn (Erecs) hof wart aller vreuden bar (2989); (Joie de la curt) was et schœner vreuden bar (9595).400
Der durch Bett, Dame und Zelt aufgebaute Gartenraum ist zusätzlich als Erinnerungsraum prädestiniert durch seine Zeitenthobenheit,401 die sich in dem auffälligen Bild der Obstbäume niederschlägt, die zugleich Blüten und Früchte tragen (vgl. VV 8719‒8722). Die Virtualität des Gartens ist auch durch seine äußeren Grenzen indiziert, die den Raum fragwürdig machen und seine Kommunikationszugänglichkeit letztlich auf zwei Kommunikanten beschränkt; die Grenzen des Gartens werden zunächst von Ivreins erklärt, der paradox von einer starken Befestigung des Gartens, doch ohne Mauer spricht und erklärt, dass jeweils nur ein einziger Ritter durch ein Wort Zugang durch ein Tor gewinnen könne, das sich sofort hinter ihm wieder verschließe (vgl. VV 8468‒8493): Es sind also zwei verschiedene semantische Verunsicherungen, die in ihrem Zusammenspiel die Begrenzung des Baumgartens charakterisieren: einerseits die paradoxe Zugangsbedingung (gleichzeitig nicht-materiell und schwer zu durchdringen), andererseits der Zauber-Mechanismus der sich selbsttätig schließenden Tür, der den Baumgarten zur Falle und damit fast schon zum aktiven Raum werden lässt. Insgesamt fällt an Ivreins’ Worten auf, dass er den Baumgarten räumlich nur in seiner Begrenzung charakterisiert, nicht aber in seiner Gesamtstruktur. Über die räumliche Struktur des Inneren des Baumgartens verliert Ivreins kein Wort, sie wird auch im weiteren Verlauf der Handlung nur sehr schemenhaft dargestellt. Bereits an dieser Stelle zeigt sich, dass die rätselhafte Begrenzung das wichtigste räumliche Merkmal des Baumgartens ist.402
Glaser blendet bei ihrer abschließenden Bewertung den später dargestellten prägnanten Inhalt des Gartens aus, der keineswegs schemenhaft dargestellt ist, sondern buchstäblich in den buntesten Farben geschildert wird; Ivreins Schweigen über die inhaltlichen Bestimmungen des Raumes (Zelt, Bett, Dame) ist vielmehr so zu verstehen, dass er von der raumschaffenden Kommunikation 400 Ruh 1977, S. 138. 401 Vgl. Glaser 2004, S. 62; Nitsche 2006, S. 68, Störmer-Caysa 2007, S. 104. 402 Glaser 2004, S. 60.
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dieses Minneraumes ausgeschlossen ist, wie er ja auch vom Besuch des Raumes ausgeschlossen ist, und folglich in seiner Erklärung gegenüber Erec die räumlichen Elemente des Minneraumes Garten auch nicht weiterkommunizieren kann. Richtig sind freilich Glasers Ausführungen zu der Fragwürdigkeit des (virtuellen) Raumes, die mit der zweiten Beschreibung durch den Erzähler noch intensiviert wird (vgl. VV 8703‒8714): Wie vorher Ivreins, so legt nun der Erzähler den Schwerpunkt zunächst auf die Begrenzung des Baumgartens. Er liefert eine negative Definition dieser Grenze, indem er aufzählt, was sie alles nicht ist: Sie besteht weder aus einer Mauer, einem Graben oder einem Zaun (von Menschen geschaffene Begrenzungen), noch aus Wasser oder einer Hecke (natürliche Begrenzungen). […] Die Begrenzung besteht aus nichts Greifbarem, hat also nicht-materiellen – und damit auch nicht-visuellen – Charakter. Allerdings ersetzt der Erzähler diese negative Definition zunächst nicht durch eine positive, so dass sich der Rezipient überhaupt keine Vorstellung von der Begrenzung des Baumgartens machen kann.403
Der Erzähler weigert sich zunächst404 die Grenzen des Gartens zu kommunizieren und leistet so seiner Virtualisierung (auch auf Erzählerebene!) Vorschub. Dieser virtuelle Charakter des Raumes schlägt sich in der Erzählung dadurch nieder, dass auf dem Weg zum Inneren des Gartens stufenweise immer mehr Begleiter Erecs zurückbleiben müssen, bis schließlich Erec alleine weiterreiten muss.405 Die letzte Grenze ist der grausige Ring aus Pfählen, auf denen die Köpfe der von Mabonagrin Getöteten stecken, und auch Erec erlangt zunächst nur Zugang zum Garten, um durch seinen Kopf diese Grenze zu vervollständigen, wie die Erklärung Ivreins nahe legt (vgl. VV 8765‒8792); hier erweist sich, dass selbst die extrem beschränkte Zugangsmöglichkeit zum virtuellen Raum Garten letztlich nur dazu dient, ihn nach außen abzugrenzen und seine Exklusivität aufrechtzuerhalten: Die zwischenzeitige Inklusion jeweils eines Ritters dient nur der umso radikaleren Exklusion aller potenzieller Kommunikanten bis auf zwei: Mabonagrin und seine Dame. Der damit aufrechterhaltene, radikale Intimraum der Minne wird noch durch einen zusätzlichen Kniff des Erzählers in seiner Exklusivität bestärkt: Der Erzähler erklärt bei der Beschreibung der Dame auf eine imaginäre Publikumsanfrage hin, dass er selbst nicht wisse, wie das Gewand der Dame unter ihrem langen Mantel aussehe:
403 Glaser 2004, S. 61., Hervorhebung nach Glaser. 404 Später berichtet der Erzähler auf eine fingierte Publikumsnachfrage, dass der Garten von einer zauberhaften Wolke umgeben sei (vgl. V 8751); diese Begrenzung ist nicht nur nachgereicht, sondern bleibt auch in ihrer positiven Bestimmung höchst fragwürdig. 405 Vgl. Trachsler 1979, S. 201f.
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welh ir roc wære? des vrâget ir kamerære: ich gesach weizgot nie, wan ich niht dicke vür si engie, ouch enmohtez Êrec niht gesehen: daz muoste dâ von geschehen daz dâ vor alumbe hie der mantel dâ si sich in vie. (VV 8946‒8953)
Wie ihr Kleid aussah? Danach befragt ihre Kammerdiener: Ich habe es weißgott nicht gesehen, da ich nicht gerade oft vor sie getreten bin, und auch Erec konnte es nicht sehen. Das war deswegen so, weil der Mantel, in den sie sich gehüllt hatte, die gesamte Gestalt umgab.
Durch diese Inszenierung einer Verweigerung der Kommunikation eines raumschaffenden Elementes (und nicht zufälligerweise eines intimen Elementes) grenzt der Erzähler auch nach dem Eindringen Erecs diesen und mit ihm auch sich selbst und das Publikum aus dem intimen Minneraum aus, dessen Inklusion auf Mabonagrin und seine Dame beschränkt bleibt.406 Der Erzähler betreibt also einen überaus großen Aufwand, um die nachhaltige Beschränkung des Gartens auf zwei Kommunikanten zu verdeutlichen. Der damit entstehende virtuelle Raum erinnert gerade durch seine radikal beschränkte Kommunikationszugänglichkeit über seine äußeren Grenzen auch formal (nicht nur inhaltlich, wie oben dargestellt) das Problem von Erec und Enite in Karnant: Abgeschottet vom normalen Raum Hof und doch auch diesem eigentlich zugehörig407 kommunizieren sowohl Erec und Enite als auch Mabonagrin und seine Dame einen Raum von radikaler Exklusivität; in Karnant schaffen Erec und Enite eine künstliche Beschränkung der Kommunikationszugänglichkeit im Minneraum, im Garten wird der Minneraum als virtueller Raum manifest, dessen Kommunikationszugänglichkeit durch Waffengewalt auf das Minnepaar beschränkt bleiben soll und der zudem durch eine magische Grenze alle anderen ausschließt. In der beschränkten Kommunikationszugänglichkeit, die den virtuellen Raum auszeichnet, aber auch durch seine stillgestellte Zeit, erinnert der Minnegarten das Problem Erecs und Enites.408 Das berühmte „bî den liuten“ (V 9438; „in Gesellschaft“) verweist in diesem Zusammenhang auf den normalen Raum der allgemeinen Kommunikations-
406 Ich erachte den Hinweis des Erzählers auf die kamerære als ironische Replik, da von solchen ansonsten keine Rede im Text ist und ihre Anwesenheit auch die dyadische Logik der Minnebeziehung empfindlich stören würde. 407 Vgl. Czerwinski 1989, S. 434. 408 Schon die allegorische Ausdeutung Kuhns geht in diese Richtung, vgl. auch Kuhn 1969, S. 144: Der Garten bedeutet höfische Freude, allen offen und doch nur auf besondere Weise zugänglich. Das allegorische Liebespaar verkörpert die vollkommene Freude, die aber verschlossen und unwirksam ist.
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zugänglichkeit des Hofes,409 in den sowohl Erec und Enite in Karnant als auch Mabonagrin und seine Dame in Brandigan offensichtlich zurückgeführt werden müssen. Der für die Minne ideale Raum, der im virtuellen Memorialraum Baumgarten aufgebaut wird, kann ähnlich wie die absolut harmonischen virtuellen Räume der Musik410 in der höfischen Welt keinen Bestand haben, da Handlung in ihnen stillgestellt ist. Die Überführung und die damit verbundene Auflösung des virtuellen Raumes erfolgt in zwei Stufen: Zuerst öffnet sich nach dem Sieg Erecs der virtuelle Raum nach und nach für alle (er wird also sukzessive zu einem normalen Raum, vgl. VV 9645‒9660), anschließend verlassen alle den Raum (vgl. VV 9746f.); ähnlich wie bereits im Iweinroman erfolgt die Überführung von Personen aus einem virtuellen Raum in einen normalen Raum auch hier mittels eines weiteren virtuellen Raumes, der hier mit musikalischen Mitteln aufgebaut wird: Erec stößt dreimal in das Horn, und der Klang kann mühelos die Grenzen des Minnegartens überwinden und mit allen Exkludierten kommunizieren.411 Als Reaktion auf den Hornklang erfolgt sofort die Aufhebung der Begrenzung des Gartens von der anderen Seite aus: vil michel wart der horndôz, wan ez was lanc unde grôz. die vor dem boumgarten des siges solden warten, nû sâhen si alle ein ander an, wan dâ enwas dehein man, der des hete deheinen wân daz ez sus wære ergân daz der ritter Mâbonagrîn solde überwunden sîn, und rieten die burgære daz ez ein trüge wære, unz inz Êrec anderstunt mit dem horne tete kunt, und dô zem dritten mâle.
Der Hornklang war gewaltig, denn er dauerte lang und war laut. Diejenigen, die vor dem Baumgarten auf den Ausgang des Kampfes warten sollten, sahen sich nun gegenseitig an, denn es gab niemanden, der daran glaubte, dass das Ganze so ausgegangen sei, dass der Ritter Mabonagrin besiegt worden sei. Und die Burgbewohner dachten, dass es eine Täuschung sei, bis ihnen Erec zum zweiten Mal mit dem Horn Nachricht gab und dann zum dritten Mal.
409 Gegen Bayer 1979, der in der Formulierung „bî den liuten“ die religiöse Lebensform der vita communis der Humiliaten bezeichnet sieht und den Roman damit als „vom zuweilen pietistischempfindsam anmutenden Geist der Humiliaten beseelt“ versteht. Zu meiner Kritik am religiösen Einflussparadigma grundsätzlich vgl. Wagner 2008a. 410 Vgl. o., Kap. 3.1.7. 411 „Der Schall dient in diesem Fall als akustisches Mittel, die starke Begrenzung des Baumgartens zu überwinden; er stellt eine auditive Verbindung zwischen dem Inneren und dem Äußeren des Baumgartens her“ (Glaser 2004, S. 64); Ulrich Ernst betont, dass das raumüberbrückende akustische Signal des Hornes indiziert, dass sich hinter der gesellschaftlichen Abkapselung ein Kommunikationsproblem verbirgt (vgl. Ernst 2007, S. 177).
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nû wart âne twâle wider dem alten site getân. der künec Îvreins von Brandigân der nam vrouwen Ênîten und vuorte si besîten ze jenem boumgarten in. daz enweste niemen dâ âne in wâ man in solde komen, daz geleite enwære von im genomen. nû îlten si alle mit vrœlîchem schalle dâ si die herren sâhen an. (VV 9626‒9654)
Daraufhin wurde ohne zu zögern gegen den bisherigen Brauch gehandelt. Der König Ivreins von Brandigan nahm die Dame Enite und führte sie an seiner Seite in jenen Baumgarten hinein. Dort wusste niemand außer ihm, wo man hineinkommen konnte, wenn er keine Führung hatte. Nun eilten sie alle mit fröhlichem Lärmen dorthin, wo sie die Herren sahen.
Der Erzähler betont noch einmal die Begrenzung des Raumes (die nun allerdings offensichtlich keine magische Grenze mehr darstellt), nur um sie im nächsten Verspaar völlig aufzulösen: Alle eilen zu Erec und Mabonagrin und verlängern durch ihren freudigen Lärm den musikalischen Raum, der alle vereint. Die anhaltenden musikalischen Ereignisse füllen den Gartenraum, der ehedem ausschließlich durch Minne gefüllt war (Gewalt diente lediglich der Aufrechterhaltung der äußeren Grenzen), auch inhaltlich neu: hie wurden dise zwêne man, Êrec und Mâbonagrîn, von aller dirre menigîn schône gesalutieret und der tac gezieret mit vrôem wîcsange. (VV 9655‒9660)
Dort wurden diese zwei, Erec und Mabonagrin, von der ganzen Menge fröhlich begrüßt und der Tag mit frohen Kampfliedern gefeiert.
Der „wîcsange“ schafft einen Raum der Ritterschaft, und folgerichtig werden auch beide Ritter, die gleichermaßen tapfer gekämpft haben, „schône gesalutieret“, nicht nur Erec. Mabonagrin ist kein endlich besiegter Teufel (vgl. V 9197) mehr, sondern beide Kontrahenten werden als höfische Ritter gefeiert, die sich einen vortrefflichen Kampf geliefert haben. Parallel dazu kann Enite durch ihren Gruß (vgl. V 9705) und ihre Unterhaltung der Dame Mabonagrins gegenüber Minne erweisen und eine verwandtschaftliche Verbindung herstellen, die sofort öffentlich verkündet werden muss (vgl. VV 9735‒9738). Im diametralen Unterschied zu Karnant kann Erec also Aventiure ausüben und Enite Minne gegenüber Dritten erweisen; der unmittelbare Effekt ist beide Male die Erzeugung einer öffentlichen, höfischen Einheitlichkeit, die im musikalischen Raum durch einstimmiges Sprechen hergestellt wird, sei es in Bezug auf Erecs Aventiure:
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si riefen dâ ze stunde mit gelîchem munde beide man unde wîp: ‚ritter, gêret sî dîn lîp!‘ (VV 9665‒9669)
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Sie riefen alle da wie aus einem Mund, Männer wie Frauen: ‚Ritter, gepriesen seist du!‘
oder in Bezug auf Enites Herstellung von Verwandtschaft: nâch disen niuwen mæren jâhen si alle gelîche daz si got wunderlîche zesamene hæte gesant in ein alsô vremdez lant. (VV 9739‒9743)
Nach diesen Neuigkeiten sagten sie alle, dass Gott sie wundersam in einem so fremden Land zusammengeführt hätte.
Die Harmonie, die durch die Formel des einstimmigen Sprechens indiziert wird, korrespondiert auch hier mit der göttlichen Harmonie,412 wie der Verweis auf den verborgenen Plan Gottes belegt. Beim anschließenden, endgültigen Verlassen des Gartens werden die aufgespießten Köpfe der Ritter in deren Heimat versendet und dort begraben (vgl. VV 9746‒9752); dadurch wird der virtuelle Raum buchstäblich entgrenzt, seine ehemaligen Grenzmarkierungen werden in alle Himmelsrichtungen versendet, und die Grenze, die vordem nur Erec passieren konnte, existiert nicht mehr. Mit dieser Grenze aber hört auch der virtuelle Raum auf zu existieren. Auch hier stellt sich die Frage, warum dieser hohe Aufwand an Aufbau und Auflösung virtueller Räume betrieben wird, und auch hier – ähnlich wie im Iweinroman – ist die Antwort, dass der Erzähler auf diese Weise ein fast unmögliches Geschehen ermöglicht; war es im Iweinroman die Überführung des Mörders an die Seite der Witwe, so ist es im Erecroman die Restituierung des gescheiterten Herrschers in seine Herrschaft. Im virtuellen Erinnerungsraum des Gartens kann Erec Aventiure und Minne zusammenführen, was im normalen Raum seines Hofes nicht möglich war (hier bestand nur die Möglichkeit den Raum zu verlassen und auf Aventiurefahrt zu gehen). Die Lösung des in Karnat aufbrechenden Problems Erecs liegt nicht in einer Entwicklung Erecs,413 sondern in einer Erinnerungsinszenierung im Memorialraum, mit der interagiert werden kann, um etwas wieder gut zu machen, was bereits geschehen ist. Der Sinn einer literarischen Inszenierung eines Memorialraumes liegt hier (wie schon im Iwein) in seiner Veränderbarkeit: Die Erzählung nutzt die Fragwürdigkeit und Dynamik des virtuel412 Vgl. o., Kap. 3.1.6.1. 413 Gegen Cormeau 1979, S. 190; Sosna 2003, S. 93.
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len Raumes, um den normalen Raum zu verändern. Im Unterschied zum Iwein ist freilich das Geschehen im Erec mit der Auflösung des virtuellen Raumes im normalen Raum noch nicht abgeschlossen, da der normale Raum, in dem Erec und Enite als ein vorbildliches und eine einheitliche Öffentlichkeit schaffendes Herrschaftspaar restituiert werden, noch nicht Karnant ist. Im virtuellen musikalischen Raum, der im Garten zwischenzeitig aufgebaut werden kann, wird wiederum zeitlich vorweggenommen, was erst am Ende des Romans in Karnant selbst realisiert werden kann: Erec und Enite als Herrscherpaar, das durch Minne und Ritterschaft eine einheitliche Öffentlichkeit herstellen kann. Ausgehend von dieser grundsätzlichen Lesart des Minnegartens als virtuellen Erinnerungsraum an Karnant kann nun noch versucht werden, drei Auffälligkeiten und hartmannsche Eigenheiten der Episode zu erklären und interpretieren, die der Forschung bislang Schwierigkeiten bereitet haben: Die Wegscheide vor der Joie de la curt, die umfangreiche Architekturschilderung der Burg und die 80 trauernden Witwen. Die Beschreibung des Weges Erecs und seiner Begleiter zur Joie de la curt ist von Anfang an von einer auffälligen Rauminszenierung gekennzeichnet. Auf der Suche nach König Artus und ohne genau zu wissen, wo dieser sich aufhält, kommt die Gruppe um Erec mittags an eine Wegkreuzung – „das erste und einzige Mal im Laufe des Romans“:414 sus riten si nâch wâne, und doch der gewisheit âne, unz hin umbe mitten tac. nû truoc si der huofslac ûf einer schœnen heide an eine wegescheide: welh ze Britanje in daz lant gienge, daz was in unerkant. die rehten strâze si vermiten: die baz gebûwen si riten. (VV 7808‒7817)
Nun ritten sie aufs Geradewohl und planlos bis Mittag. Ihre Pferde führten sie auf einer schönen Wiese an eine Wegkreuzung: Welcher Weg nach Britanje führte, das wussten sie nicht. Sie wählten nicht die rechte Straße, sondern ritten die besser gebaute.
Kurze Zeit später erkennt Guivreiz schaudernd die Burg Brandigan und bedauert, den falschen, linken Weg gewählt zu haben (vgl. VV 7995f.). Erec und seine Gruppe wählen den linken, besser angelegten Weg der Wegscheide, die als bivium-Motiv415 stark heilsgeschichtlich aufgeladen ist; sie 414 Glaser 2004, S. 52, vgl. auch Haug 2000, S. 272, der zudem die Eigenständigkeit der deutschen Fassung an dieser Stelle und die zusätzliche Irritation betont, die sich daraus ergibt, dass für Guivreiz so nahe vor seiner eigenen Burg eigentlich eine bessere Ortskenntnis anzunehmen wäre. 415 Zum bivium-Motiv ausführlich vgl. Trachsler 1979, S. 209‒224.
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wählen damit den heilsgeschichtlich falschen Weg, was die Aussage Guivreiz’ noch bestätigt. Irritierend ist hier vor allem, „daß Erec auf dem nach christlicher Tradition eindeutig falschen Weg – und nur auf diesem! – geradewegs seinen ‚saelden wec‘ findet“.416 Ernst Trachsler deutet diese Irritation als Indiz für die Eigenständigkeit der arturischen Raumstruktur: Die Vertauschung der signifikanten Wegattribute verstehe ich als Hinweis darauf, daß die gängige christliche Auffassung vom richtigen und falschen Weg für den Artusritter nicht ohne weiteres verbindlich ist. Der Abenteuerweg hat seine eigenen, nicht von vornherein erkennbaren Gesetze.417
In eine ähnliche Richtung zielen die knappen Ausführungen Walter Haugs, der die Irritation der Stelle als Hinweis auf die strukturierte Einbindung des Zufalls in die höfische Epik versteht.418 Andrea Glaser schließlich liest die Stelle nicht in der biblischen Tradition,419 sondern versteht den „Umstand, dass gerade der besser ausgebaute Weg zur Burg Brandigan führt, […] als ein ‚Lockmittel‘ der Burg […] – so als ob die Burgbewohner durch diesen leicht zu reitenden Weg vorbeiziehende Ritter in die Burg locken möchten“.420 Gemeinsam ist den drei Interpretationen, dass sie tendenziell die heilsgeschichtliche Lesart des linken, gut ausgebauten Weges als Weg des Unheils abschwächen, die ja in der Tat die Grundlage für die Irritation dieser Raumkommunikation bildet. Meines Erachtens aber ist der Text hier gerade in seiner religiösen Konnotation ernst zu nehmen, wie ja schon die Reflexion von Guivreiz belegt: Die Reisenden haben sich auf dem Weg zu Artus verirrt und wählen den falschen, linken, gut ausgebauten Weg zum Verderben – Guivreiz und später
416 Trachsler 1979, S. 215. 417 Trachsler 1979, S. 216. 418 „Das Motiv der zufällig falschen Entscheidung an der Weggabelung, die die Aufmerksamkeit auf sich zieht, weil sie nicht recht plausibel erscheint, verweist auf die besondere Logik der Handlungsführung in diesem Romantyp, die sich in der Art und Weise zeigt, wie mit dem Zufall umgegangen wird: das Zufällige auf der Erzählebene ist nicht ein sinnlos Zufälliges, sondern es steht im Dienst der Konstruktion, der der Dichter die Vorgänge unterworfen hat und die den Sinn trägt. In Hartmanns Änderung steckt zumindest ansatzweise eine poetologische Reflexion“ (Haug 2000, S. 271f.). 419 „Die Verwendung des Begriffes ‚Weg‘ kontrastiert hier zur biblischen Tradition, die den Weg zum Leben als schmal und nur wenig begangen kennzeichnet. Hartmann verweigert an dieser Stelle deutlich einen symbolisch geprägten Gebrauch des Begriffs ‚Weg‘ (vielleicht erschien ihm ein solcher Gebrauch bereits zu abgenutzt) und wählt stattdessen eine konkrete Verwendung“ (Glaser 2004, S. 52). 420 Glaser 2004, S. 53.
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Ivreins werden nicht müde, Letzteres zu unterstreichen, und mit Mabonagrin als „vil michel vâlant“ (V 9197) mündet dieser falsche Weg vorerst auch beim Teufel.421 Dieser Aspekt der Verirrung und falschen Entscheidung kann weder durch eine Eigengesätzlichkeit der arturischen Raumstruktur erklärt werden, noch durch gezielte Einbindung des Zufalls oder durch eine Lockwirkung der Burg. Die Wahl des falschen Weges ist vielmehr der Beginn einer Erinnerungsarbeit Erecs, die im Memorialraum Minnegarten kulminieren wird. Im Unterschied zu Iwein ist Erec bislang keinen Erinnerungsweg gegangen – wie bereits ausgeführt, wird er sich erst jetzt zum ersten Mal an den Aufbruch aus Karnant erinnern – und deutet in diesem Zuge das Einschlagen des linken, falschen Weges als „rehten“ (im Sinne von richtigen, wobei aber auch die Richtungsangabe rechts mitschwingt) Weg der sælde: ‚ich weste wol, der Sælden wec gienge in der werlde eteswâ, rehte enweste ich aber wâ, wan daz ich in suochende reit in grôzer ungewisheit, unz daz ich nû vunden hân.‘ (VV 8521‒8526)
Ich habe genau gewusst, dass der Heilsweg irgendwo in der Welt entlangführt, wo genau wusste ich aber nicht, weshalb ich auch in großer Ungewissheit auf die Suche ausritt, bis ich ihn nun gefunden habe.
Aufgearbeitet ist bislang lediglich das Ehe-Minne-Verhältnis zu Enite (nach dem Scheintod Erecs und dem Treueerweis Enites), nicht aber das verligen und seine verheerenden Folgen für die Herrschaft des Paares in Karnant. Die paradoxe Umdeutung des falschen Weges zum richtigen funktioniert über die einsetzende Erinnerung Erecs: Erinnerung ist in der mittelalterlichen Epik nicht in erster Linie ein persönlicher, abstrakter Vorgang, sondern ein konkretes, oft räumliches Phänomen, das auch kollektiv vollzogen werden kann. Erec beschreitet den falschen, linken Weg und erinnert damit – bereits vor seiner persönlichen Erinnerung – zusammen mit seinen Gefährten ganz konkret und räumlich den falschen Weg, den er mit Enite in Karnant eingeschlagen hatte. Der Erzähler weist darauf hin, indem er Erec und Enite „umbe mitten tac“ (V 7810; „zur Mitte des Tages“) an die Wegscheide kommen lässt, wie sie zuvor in Karnant „umbe einen mitten tac“ (V 3014; „zur Mitte des Tages“) im Ehebett ‚verliegen‘ und kurz danach aufbre421 Tendenziell zustimmen möchte ich Elisabeth Schmids Interpretation der Stelle, die zwar zunächst ebenfalls eine einfache Zuordnung von rechts=heilsgeschichtlich richtig und links=heilsgeschichtlich falsch in Frage stellt, schließlich aber die Irritationen dieser Lesart im Erec als „genuine[] Zeichen der dem Artusroman eigenen Arbeit am Mythos“ (Schmid 2011, S. 131) interpretiert: Sicherlich liegt hier ein aktives Spiel Hartmanns mit den überkommenen Richtungsbedeutungen vor, dessen Irritation aber in einer memorialtechnischen Lesart durchaus aufgelöst werden kann, wie im Folgenden ausgeführt werden soll.
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chen. Um die Vergangenheit aufzuarbeiten, setzen Erec und Enite nochmals an der Vergangenheit an und schlagen nochmals den falschen, aber bequemen Weg ein; es muss der falsche Weg sein vom Beginn an betrachtet, damit er sich im Ausgang als richtiger Weg erweisen kann: An der Wegscheide beginnt ein Erinnerungsweg, der im virtuellen Erinnerungsraum Minnegarten münden wird, der ein ganz konkretes Wiedergutmachen der Vergangenheit erlaubt. Nur deswegen kann Erec diese letzte Aventiure als alle bisherigen Aventiuren weit übertreffend verstehen,422 obwohl sie ja eigentlich nur ein Kampf gegen einen einzigen, höfischen Gegner ist, durchaus positiv vergleichbar mit den beiden Kämpfen gegen Guivreiz:423 Das Entscheidende an dieser letzten Aventiure ist ihr Erinnerungscharakter bezüglich Karnant, der an der Wegscheide gerade durch das (erneute) Einschlagen des falschen Weges begründet wird.424 Die zweite Auffälligkeit wird vom Erzähler direkt nach der Wegscheide inszeniert: Auf das Erschrecken Guivreiz’ hin, der nach dem Einschlagen des linken Weges die Burg Brandigan erkennt, setzt der Erzähler zunächst eine fingierte Publikumsfrage nach dem Grund der Reaktion des Zwerges. Der Erzähler vertröstet auf später (vgl. VV 7826‒7830) und schließt statt einer Antwort eine umfangreiche Burgbeschreibung an (vgl. VV 7831‒7893), ein „ungewöhnlich breit ausgeführter Burgtopos“.425 Andrea Glaser liest die Beschreibung der Burg als Spiel zwischen visueller Anziehungskraft und Abstoßung der Burg426 und versteht sie im Rahmen einer grundsätzlichen Stimmungsgenerierung auf Erzählerebene. Darüber hinaus aber erfüllt die Burgschilderung noch eine weitere Funktion für den Erzählraum, den 422 Vgl. VV 8520‒8575. Erec legt hier das Gewicht ganz auf die zu erwartende Ehre aus dem Sieg gegen Mabonagrin und relativiert diesbezüglich alle seine bisherigen Leistungen. Quantitativ ist diese ‚Rechnung‘ kaum nachvollziehbar, doch qualitativ unterscheidet sich die letzte Aventiure tatsächlich grundsätzlich von allen anderen durch ihre Memorialbedeutung; deswegen wiegt die hier zu gewinnende Ehre tatsächlich die in Karnant erlittene Unehre wieder auf, anders als alle bisherigen Aventiuren. 423 Erec selbst relativiert deutlich die Gefährlichkeit Mabonagrins und damit die Gefährlichkeit der Aventiure, vgl. VV 8030‒8042. 424 Damit relativiert sich in gewisser Hinsicht die argumentative Reihenfolge der Argumentation Haugs, der die Verfehlung des Helden bereits vor Brandigan als überwunden ansieht und im Sieg Erecs „gewissermaßen eine narrative Bestätigung dafür [sieht], daß der Held seine eigene Verfehlung überwunden hat: er darf Mabonagrin befreien, weil er selbst sich aus einem ähnlichen Zustand befreit hat“ (Haug 2000, S. 288); statt dessen wäre zu formulieren, dass Erec seine Verfehlung überwindet, indem er Mabonagrin besiegt – nicht weil Mabonagrin sein Spiegelbild ist, sondern weil Erec in Kampf und Sieg seine eigene Vergangenheit und damit seine Verfehlung relativiert. 425 Schröder 1972, S. 298. 426 Vgl. Glaser 2004, S. 53‒58.
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der Erzähler durch die fingierte Publikumsfrage deutlich kommuniziert hat: Sie ordnet den späteren Handlungsraum vor, indem sie eindrückliche und anschauliche Bilder in einen vordem unbestimmten Raum einstellt. Das erste und ausführlichste Bild ist die Burg selbst, die in Burgberg, Burgmauer, Türmen und Wohngebäuden ausdifferenziert wird (vgl. VV 7834‒7873) und dessen wichtigste Elemente Pracht und Festigkeit sind.427 Die visuelle Kommunikation der Burg reicht weit in die Umgebung hinaus, und zusammen mit der Pracht und Festigkeit ergibt diese Burg damit ein eindrückliches Memorialbild428 der Herrschaft:429 die türne gezieret obene mit goldes knophen rôt, der iegelîcher verre bôt in daz lant sînen glast. daz bewîste den gast dem dar ze varne geschach, daz er den schîn verre sach und er des hûses ûf der vart des tages niht verirret wart. (VV 7865‒7873)
Die Türme waren an der Spitze mit einem Knauf aus rotem Gold geschmückt, der nach allen Richtungen weit in das Land hinaus leuchtete. Das gab dem Fremden Orientierung, der in der Gegend auf Reisen war, indem er schon aus der Ferne den Schein sah und er auf seiner Reise den ganzen Tag lang die Burg nicht aus dem Blick verlor.
Auf die eine Seite neben die Burg setzt der Erzähler das zweite Bild ein, eine tiefe Schlucht, durch die ein tosendes Wasser fließt und deren schwindelerregenden Anblick den Betrachter von der Burgmauer aus in die als „helle“ (V 7881; „Hölle“) bezeichnete Tiefe zu ziehen droht. Auf der anderen Seite der Burg setzt der Erzähler zunächst das Bild einer wohlhabenden und reich bevölkerten Stadt (vgl. VV 427 Vgl. Schröder 1972, S. 298. 428 Zur Nähe der Schilderung bei Hartmann zu den Strategien mittelalterlicher Memorialkunst vgl. Pincikowski 2008, S. 227‒233, v. a. S. 229f. 429 Dieser Eindruck wird auch durch eine mögliche zahlenallegorische Deutung unterstützt: Der Standort der Burg ist 12 Hufen groß (V 7837), wobei 12 als Zahl der Apostel und als Produkt der Zahlen 3 und 4 die Verbreitung des Glaubens in der gesamten Welt bedeutet (vgl. Meyer 1975, S. 146f.); die Quader der Burg sind „ie drie unde drie / nâhen zesamene gesat“ (VV 7855f.; „je drei und drei dicht zusammengefügt“), wobei die Summe 6 an das Schöpfungswerk Gottes erinnert und zusammen mit der Bedeutung der 6 Zeitalter die gesamte Schöpfung räumlich und zeitlich repräsentiert (vgl. ebd., S. 129f.); 30 Türme flankieren die Burg (V 7863), wobei 30 als Produkt von 3 und 10 die Trinität und das Handeln nach den Geboten repräsentiert (vgl. ebd., S. 155f.); die Burg selbst ist viereckig (V 7864), wobei 4 wieder die Schöpfung in ihren vier Elementen, Himmelsrichtungen, Jahreszeiten und Weltreichen repräsentiert (vgl. ebd, S. 123f.). Das Bild, das der Erzähler mit der Burg zeichnet, schließt also an überkommene Sinnsysteme der Memorialkunst an und wählt dabei Zahlenelemente aus, die das Erinnerungsbild mit der gerechten Herrschaft Gottes über die gesamte Schöpfung assoziieren lassen. Damit ist umfassende Herrschaft auf allegorischer Ebene dominant gesetzt, wie sie – in stark abgeschwächter Form und wie eine weltliche Präfiguration – auch die visuelle Wirkung der weithin sichtbaren Burg kennzeichnet.
Erinnerung und virtueller Raum
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7884‒7888), um schließlich als letztes Bild daneben einen wunderschönen Park einzustellen (vgl. VV 7889‒7892). Schon Rainer Gruenter hat herausgearbeitet, dass mit der Schlucht und dem Garten der Kontrast zwischen wilde und minne symbolisiert wird,430 die beiden Bilder also eben die Pole erinnern, die Erecs und Enites bisherigen Weg spiegeln und auch im Iweinroman den Memorialraum Kalogrenants grundlegend strukturieren. Die wohlhabende Stadt neben der Burg erinnert mit ihren vielen Wohngebäuden das Zusammenleben, die Gemeinschaft, oder in Erecs Worten den Zustand „bî den liuten“, der in Karnant verloren gegangen war. Der Erzähler schafft mit den vier eingestellten Memorialbildern einen assoziativen Memorialraum für das Publikum (also im Erzählraum, nicht im erzählten Raum), wie dies Scott E. Pincikowski beschrieben hat: Hartmanns Beschreibung der Stadt Brandigan ist stellvertretend für den Prozess des ortsgebundenen Gedächtnisses und die Mehrdeutigkeit von Architekturbeschreibungen. […] Hartmann [gestaltet] seinen Text mit ‚Verzierung‘, dem rhetorischen Prinzip des ornatus folgend […]. Wie der Baumeister, der einen Bau sowohl außen als auch innen gestaltet, gelingt es Hartmann, einen ähnlichen Prozess mit Hilfe von ‚wörtlichen Bausteinen‘ auszuführen. […] Die Bedeutung von Verzierungen für ortsgebundene Gedächtnisse darf nicht unterschätzt werden; sie setzt den assoziativen Prozess des Erinnerns in Bewegung. […] Verzierung steuert das Publikum durch den Text von einem assoziativen Bild zum anderen: von Brandigan aus der Ferne zur schwindelerregenden Höhe der Burg, durch die Straßen der Stadt, bis zum Palast und zum Garten. […] Der Erzähler beabsichtigt mit Verzierung, die Gedanken des Publikums zu beschäftigen. […] Er fügt Ereignisse in diese Gedächtnisräume ein, die dem Idealbild der höfischen Gesellschaft widersprechen und die für das Publikum beunruhigend sind: die abweisenden Warnungen der Bürger, die 80 Witwen und das schockierende Bild der abgeschlagenen Köpfe im Garten. […] Die Dissonanz, die sich aus diesen Gegensätzen ergibt, ist bedeutsam, denn sie zeigt an, dass Hartmann den Zuhörer auffordert, Erinnerungen zu schaffen. Er propagiert nicht nur den Adel mit architektonischen Tropen, sondern er benutzt sie auch dazu, die Aufmerksamkeit des Publikums auf das Problem der adeligen Selbstbehauptung zu lenken. […] Der Zuhörer, wie auch Erec, lernt, dass er seine gesellschaftlichen Rollen aktiv füllen muss, um das durch die Burg symbolisierte Ideal der höfischen Gesellschaft zu verwirklichen.431
Meines Erachtens zielt die memoriale Funktion Brandigans jedoch weniger auf eine Belehrung des Publikums ab als vielmehr auf die im Iweinroman ähnlich angebotene Möglichkeit, in einem distinkten Raum der Erzählung die gesamte Erzählung repräsentiert und enggeführt zu haben. Die eingestellten Erinnerungsbilder sind jedoch auch ein Stück weit konkreter in ihrer Assoziation, als dies Pincikowski ausführt: Umfassende Herrschaft – wilde – Gesellschaft – minne sind die vorgeprägten Erinnerungsinhalte, an denen sich freilich beliebige weitere 430 Vgl. Gruenter 1961, S. 382f. 431 Pincikowski 2008, S. 229‒231.
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Virtueller Raum im Hochmittelalter
Inhalte – letztendlich der gesamte Roman – ansetzen lassen. Wie schon beim Erinnerungsraum Kalogrenants wird das letzte Bild dieses Erinnerungsraumes – hier der Minnegarten – später selbst zu einem eigenen Memorialraum mit eingestellten Memorialbildern ausdifferenziert, der hier aber auch für das Personal einen virtuellen Erinnerungsraum darstellt. Mit Brandigan liegt für den Erzählraum ein virtueller Erinnerungsraum vor, der dem virtuellen Erinnerungsraum des erzählten Raumes – dem Minnegarten – vorgeschaltet ist; gerade die auffällig konkrete Architektur- und Raumbeschreibung der Burg ist damit ein Hinweis für das zuvor vom Erzähler in Szene gesetzte Publikum, auf Memorialräume zu achten, nicht aber etwa ein seltener Niederschlag ‚realistischer‘ Raumschilderung in höfischer Romanepik. Die dritte Auffälligkeit sind schließlich die 80 trauernden Witwen, die wieder eine Zutat Hartmanns zur Geschichte darstellen und die Forschung vor Schwierigkeiten gestellt haben.432 Ihre Trauer um ihre erschlagenen Ritter wird durch den Sieg Erecs über Mabonagrin und durch das Auflösen des virtuellen Raumes Minnegarten eben nicht aufgelöst; die Trauer der Witwen bleibt vorerst als Störung des höfischen Raumes bestehen, und vor allem Erecs Mitleid und sein Mit-Trauern trotz des freudigen Festes auf der Burg Brandigan unterstreichen diese bleibende Störung der höfischen Idealität (vgl. VV 9782‒9825): Trotz des Bestehens der Aventiure Joie de la curt ist „des hoves vreude“ noch nicht hergestellt. Die 80 trauernden Witwen, die als eindrückliches und breit geschildertes Erinnerungsbild in ihrer Kemenate die Burg Brandigan eingestellt worden waren (vgl. VV 8198‒8357), erinnern die zweite große Gefahr der Minne-Ehe neben dem verligen, die der Roman behandelt: Die Gefahr, dass eine in der Treue der Minne vollständig auf ihren Ritter fixierte Dame nach dessen Tod gesellschaftlich völlig isoliert ist.433 Die 80 trauernden Damen erinnern konkret ein zwar nur virtuelles, aber umso exorbitantes Geschehen in der Vergangenheit der erzählten Zeit, nämlich den Tod Erecs in Limors (vgl. VV 5730ff.). Virtuell ist dieses Geschehen, weil Gott, der Erzähler und das Publikum wissen, dass Erec nicht wirklich verstorben ist und die Kommunikation seines Todes und der Folgen nur von Einigen betrieben wird; exorbitant ist dieses Geschehen, weil Enite in ihrer übermäßigen Trauer selbst Gott anklagt (VV 5774ff.) und der Erzähler mit einer Möglichkeit spielt, die für das hochmittelalterliche Erzählen fast undenkbar ist: Scheitern und Tod des Helden. Schon mit der Dame Mabonagrins, die in ihrer Minnebeziehung ebenfalls radikal abhängig von ihrem Ritter ist, da sie aufgrund der Ent432 „Die achtig schwarzbekleideten Witwen haben in der Forschung bislang wenig Beachtung gefunden, was aber gerade als Symptom für ihr (am besten zu verdrängendes) Irritationspotenzial gelesen werden kann“ (Kaminski 2008, S. 245). 433 Vgl., auf die Untersuchungen René Pérennecs aufbauend, Kaminski 2008, S. 248f.
Erinnerung und virtueller Raum
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führung keine Beziehungen mehr zu ihrer Verwandtschaft besitzt, wird ein analoges Problem aufgegriffen, das ebenfalls an die Situation Enites erinnert. Dieses Problem kann durch Enite selbst gelöst werden, die ihre verwandtschaftliche Verbindung mit Mabonagrins Freundin entdeckt (vgl. VV 9716f.) – doch offensichtlich reicht diese stellvertretende Aufarbeitung des Problems noch nicht aus und muss durch eine Abarbeitung an der Trauer der 80 Witwen komplettiert werden. Diese repräsentieren übersteigend Enites virtuelle Existenz in vollkommener Isolation, was auch durch die wiederholte Befürchtung unterstrichen wird, dass Enite bei dem Tod Erecs die 81. Witwe werden wird: Schon die Stadtbewohner betrauern Enite, die sie als baldige Witwe sehen (vgl. VV 8076‒8114), Guivreiz stellt in Aussicht, dass Enite sich bald zu den trauernden Witwen gesellen muss (vgl. VV 8324‒8333), woran auch die Damen selbst keinen Zweifel haben (vgl. VV 8343‒8349) und was selbst Erec befürchtet (vgl. VV 8350‒8355); und schließlich sind die Damen aufgrund ihrer auch den Tod ihrer Ritter überdauernden Treue so übermäßig schön geblieben (vgl. VV 8340f.), was sie zu einem wunderschönen Erinnerungsbild der Minnetreue für den Erzählraum434 macht, die auch für Enite beinahe die völlige gesellschaftliche Isolation bedeutet hätte. Dieses Erinnerungsbild bleibt wie gesagt auch nach der Auflösung des Minnegartens als Störung bestehen, was Erec die Gelegenheit bietet, in einer sehr auffälligen und einprägsamen Aktion (dem Zug der Witwen zum Artushof) eben dieses Erinnerungsbild räumlich zu bewegen und damit die höfische Störung aus Brandigan zu entfernen und in den Artushof zu überführen – eine äußerst plakative, räumliche Aufarbeitung des zweiten zentralen Minneproblems des Romans. Entscheidend ist auch hier wieder die Dynamik von räumlicher Erinnerung in der Epik, die sich diesmal nicht in einer inhaltlichen Veränderung niederschlägt, sondern in der Möglichkeit eines Erinnerungsbildes, sich durch den normalen erzählten Raum zu bewegen: Aus der Perspektive des Erzählraumes, für den Brandigan einen virtuellen Memorialraum darstellt, entfernt Erec ein Memorialbild aus diesem Memorialraum und überführt es in einen anderen Raum (Artushof), in den das Memorialbild aufgelöst wird.435 Die Erinnerung an 434 Die 80 Witwen sind als Erinnerungsbild Teil des virtuellen Erinnerungsraumes Brandigan, der jedoch lediglich aus der Perspektive des Erzählraumes ein virtueller Erinnerungsraum ist; es gibt auch in Bezug auf die 80 Witwen kein Textindiz, dass sich eine Figur des Romans anhand ihrer an die Verzweiflung Enites erinnern würde. 435 Vgl. VV 9919‒9962. Signifikanterweise wird dieses Überführen eines Erinnerungsbildes in den normalen Raum wieder durch den Aufbau eines virtuellen Raumes ermöglicht, der in der Beobachtung König Artus’ entsteht: Artus hilft zusammen mit Erec, Walwan und Guivreiz den Witwen in der Kemenate zu trauern, und in dieser Kommunikation entsteht ein harmonischer Raum der Trauer, der schließlich in eine harmonische Gemeinschaftlichkeit aller mündet: „und als si der künec ersach /lîden umbe ir ungemach / gelîche klage, gelîche riuwe, / gelîcher stæte, gelîcher
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die Beinahekatastrophe von Erecs Tod und Enites kompletter Isolation in Minnetreue wird auf diesem Wege buchstäblich räumlich436 aufgearbeitet und nicht nur aus dem Memorialraum Brandigan entfernt, sondern auch als Memorialbild zerstört437 und somit gewissermaßen aktiv vergessen. Erst jetzt, nach der Auflösung des virtuellen Memorialraumes Minnegarten und nach der Auflösung des Memorialbildes der 80 trauernden Witwen, kann Erec seine Herrschaft in Karnant wieder aufnehmen, als ob nichts geschehen wäre,438 da er einerseits im virtuellen Memorialraum, andererseits im normalen Raum der Erzählung die zwei zentralen Minneproblematiken der Vergangenheit im Wortsinn, nicht im psychologischen Sinn, aufarbeiten konnte. Joie de la curt ist damit mehr noch als eine Allegorie Karnants und nachvollziehbarerweise die triuwe, / gelîcher schœne, gelîcher jugent, / gelîcher zuht, gelîcher tugent, / gelîcher wæte, gelîcher güete, / gelîcher ahte, gelîcher gemüete, / diz dûhte in wîplîch und guot / und bewegete im den muot / und muoste im wol gevallen. / er sprach vor in allen: / ‚Êrec, lieber neve mîn, / dû solt von schulden immer sîn / geprîset unde gêret, / wan dû hâst wol gemêret / unsers hoves wünne. / swer dir niht guotes engünne, / der enwerde nimmer mêre vrô.‘ / ‚âmen‘ jahen si alle dô“ (VV 9932‒9951; „Und als der König sie an ihrem Unglück leiden sah, in gleicher Klage, gleichem Schmerz, gleicher Beständigkeit, gleicher Treue, gleicher Schönheit, gleicher Jugend, gleicher Wohlerzogenheit, gleicher Tugendhaftigkeit, gleicher Kleidung, gleicher Güte, gleichem Stand, gleicher Meinung, das erschien ihm als weiblich und vortrefflich und berührte ihn und gefiel ihm sehr. Er sagte in aller Öffentlichkeit: ‚Mein lieber Neffe Erec, aus gutem Grund sollst du immer geehrt und gepriesen werden, denn du hast die Herrlichkeit unseres Hofes sehr gesteigert. Wer dir nicht das Beste wünscht, der soll selbst nicht mehr froh werden‘. ‚Amen‘ sagten sie alle“). Die Trauer der Damen äußert sich in einer idealen Harmonie (alle Damen sind einander in jeder Hinsicht gleich vollkommen), als deren Urheber Artus Erec bezeichnet, was wiederum zu einer umfassenden Harmonie aller führt, die gemeinsam mit „amen“ zustimmen (vgl. 3.1.6). 436 Es ist signifikant, dass der gerade im Erecroman hochbewegliche Artushof am Ende des Romans räumlich festgesetzt ist und nicht etwa (wie im Iweinroman) zur Klärung eines Problems an einen anderen Hof (hier Brandigan) reist; dadurch ermöglicht der Erzähler den plakativen räumlichen Umzug der Damen, der zugleich das Entfernen eines eingestellten Memorialbildes aus einem Memorialraum bedeutet. 437 Diese aggressive Bezeichnung des Geschehens hinterlässt auch auf Handlungsebene seine Spuren, wie Kaminski herausgearbeitet hat: Die Überführung der Damen aus ihrer Trauer in höfische Freude geschieht gegen ihren Willen, Erec handelt hier tendenziell gewalttätig (vgl. Kaminski 2008, S. 246). 438 Erec bekommt einen überaus prächtigen Empfang von den Edelsten seines Landes, die ihn bereitwillig als Herrscher empfangen (vgl. VV 10005ff.), als ob Erec als Herrscher nicht versagt hätte und der Hof nicht zusammengebrochen wäre (vgl. VV 2974‒2998). Peter Czerwinski betont nachhaltig, dass Erec die gewaltlose Aktivität an seinem Hof, die er zerstört hat, „unter rätselhafter Verschiebung der Orte“ in Joie de la curt durch Gewalt zurückholen muss (Czerwinski 1989, S. 433, vgl. auch S. 444, 449); diese Verschiebung erscheint weniger rätselhaft als vielmehr notwendig, wenn man Joie de la curt als Erinnerungsraum begreift, der gerade an anderem Ort und zu anderer Zeit das Geschehen in Karnant gleichsam ungeschehen machen kann.
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einzigartige Aventiure mit herausragender Bedeutung für Erec: Joie de la curt repräsentiert im virtuellen Erinnerungsraum sowohl des Personals als auch des Publikums die unverarbeiteten Probleme Erecs und Enites, die im Erinnerungsraum gleichsam rückwirkend aufgelöst werden können.
3.2.3 Zusammenfassung Der Erinnerungsraum, ein dem Akt des Erzählens bereits inhärentes Phänomen, eignet sich gut, um den Modus der Kommunikationszugänglichkeit nochmals anhand der literarischen Anwendung durchzudenken: Zum Aufbau literarischer Erinnerungsräume wird die Technik des Einstellens von signifikanten Bildern an Orten übernommen, Orte allerdings, die ebenfalls Teil des normalen Raumes der Erzählung sein können. Kalogrenants Erinnerungsweg etwa zeigt idealtypisch die Spannbreite ein- und desselben Raums zwischen imaginärer, virtueller und normaler Kommunikationszugänglichkeit, je nachdem, ob nur einer, einige oder alle Personen einer Bezugsgesellschaft Kenntnis und Zugang zu bestimmten OrtReihen mit jeweils entsprechend eingestellten Erinnerungsbildern haben. Diese Nähe des Erinnerungsraumes zum normalen (erzählten) Raum über gemeinsame Orte439 unterscheidet diese Raumart vom musikalischen Raum, der zwar auch tendenziell normaler Raum werden kann, diese Möglichkeit aber oft von der Quantität der Musik abhängig machen muss (im Sinne von Dauer und/oder Lautstärke). Beim Erinnerungsraum wird sehr viel deutlicher, dass nicht ontologisch zwischen imaginärer, virtueller und normaler Kommunikationszugänglichkeit unterschieden werden kann, sondern stets nur kontext- und beobachterabhängig. Die Nähe des virtuellen Memorialraums zum (erzählten) normalen Raum schlägt sich in vielen Eigenheiten dieser virtuellen Raumart nieder. Zunächst ist eine epische Eigenheit der literarischen Adaption des Erinnerungsraumes aus der mittelalterlichen Memorialkunst auffällig, dass das erinnernde Personal, das sich anhand von eingerichteten Bilderräumen erinnert, sich buchstäblich und nicht nur in übertragener Bedeutung im Memorialraum bewegen kann. Dabei kann es aber auch zu einer Interaktion mit den eingestellten Bildern kommen, die sich in Folge verändern können. Die epische Adaption des Erinnerungsraumes legt großen Wert auf den bereits angelegten Aspekt der Veränderbarkeit, der zwar für ein identisches Erinnern problematisch sein kann (etwa bei der auf Exakt439 Dies schlägt sich auch darin nieder, dass die Beobachtermöglichkeiten des Personals im virtuellen Memorialraum denen des Publikums im Erzählraum zum Verwechseln ähnlich werden können, wie sich etwa am Iwein im ‚Torverlies‘ zeigt.
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heit ausgerichteten Erinnerung an verba), für das Erzählen aber große Vorteile bietet. So kann anhand des virtuellen Memorialraumes Quelle im Iweinroman ein Fortschreiben der Erinnerung an die eigene Vergangenheit erzählt werden, indem Iwein bei seinen wiederholten Besuchen einerseits unterschiedliche Erinnerungsbilder aktualisiert, diese andererseits aber auch neu füllen kann. Die Dynamik des Erinnerungsraumes spiegelt (und speichert) hier die Dynamik der Verfassung Iweins. Im Erecroman dagegen bietet der virtuelle Memorialraum Minnegarten die Möglichkeit, dass Erec sich buchstäblich an der räumlich vergegenwärtigten Vergangenheit abarbeiten und die eigene Vergangenheit in der Gegenwart verändern kann. Damit kann der Memorialraum – naheliegenderweise – auch den Zeitaspekt dominant setzen: Im Memorialraum kann Vergangenes räumlich vergegenwärtigt werden (wie im Minnegarten oder im Quellenraum), was noch fast selbstverständlich wäre; doch auch Zukünftiges kann schon im Hier und Jetzt vorweggeholt werden, wie etwa im ‚Torverlies‘ des Iweinromans, um aus dem virtuellen Raum allmählich in den normalen Raum überführt werden zu können. Diese Funktion besitzt auch der musikalische Raum, wie gezeigt werden konnte. Es zeigt sich jedoch auch ein wichtiger Unterschied: Der tendenziell normale musikalische Raum (etwa der immer weiter tradierte Klangraum der Herrschaft Eneasʼ am Ende des Romans) bleibt weiterhin abhängig von der Musik (entweder als Klang oder als Harmonie), während der Erinnerungsraum in den normalen Raum aufgehen bzw. in diesen überführt werden kann und nicht mehr von immer aktualisierter Erinnerung abhängig bleibt: Die im Erinnerungsraum Minnegarten herbeigeführten Veränderungen werden nach Karnant überführt (analog zu den Witwen, die aus dem virtuellen Erinnerungsraum Brandigan zum Artushof überführt werden), Iwein wird als Geminnter (der er nur im virtuellen Erinnerungsraum ‚Torverlies‘ werden konnte) in den normalen Raum Hof überführt. Etwas überzeichnet ließen sich musikalischer Raum und Memorialraum in ihrer epischen Adaption dahingehend differenzieren, dass der musikalische Raum Dynamik und Fragilität dominant setzt, während der Memorialraum Dynamik und Wiederholbarkeit der raumschaffenden Kommunikation dominant setzt: Der Memorialraum kann – wie vor allem im Iweinroman deutlich wird – immer wieder aufgebaut werden, und er bleibt spezifisch und identisch trotz wechselnder Füllung. Des Weiteren scheint sich die Nähe des Memorialraumes zum normalen (erzählten) Raum auch inhaltlich niederzuschlagen: Während der musikalische Raum oftmals genutzt wird, um einen harmonischen, idealen Gegenpol zur Erzählung zu entwerfen, ist der Memorialraum (zumindest bei Hartmann) grundsätzlich nicht harmonisch gefüllt, sondern – wie die Geschichte selbst – von Gegensätzen bestimmt, die im Iweinroman wie im Erecroman als
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minne/gemach auf der einen Seite und gewalt/wilde auf der anderen Seite identifiziert werden können. Schließlich zeigt sich die Nähe von virtuellem Memorialraum und dem normalen (erzählten) Raum auch darin, dass ein Memorialraum des erzählten Raumes (der also vom Personal zur Erinnerung genutzt wird) auch dem Erzählraum als Memorialraum dienen kann,440 wobei freilich eine unterschiedliche Semantisierung der eingestellten Memorialbilder möglich ist. Brunnenraum oder Minnegarten können so zum (dynamischen und veränderbaren) Speicher des gesamten jeweiligen Romans werden, entweder als Engführung am Ende im Erecroman oder begleitend immer wieder im Iweinroman. Die Interdiskursivität des literarischen Zugriffs auf spezialdiskursives Wissen wird gerade beim Memorialdiskurs offensichtlich: Obwohl die Praxis des hochmittelalterlichen Erzählens mit dem historischen Erzähler sicherlich auf intime Kenntnisse des Memorialdiskurses zurückgreifen muss – vor allem im Bereich der exakten Erinnerung nach verba, die auch die formal-ästhetische Seite der Handschiften kennzeichnet –, werden diese Kenntnisse nicht in ihrer spezialdiskursiven Form dem Publikum zugemutet. Stattdessen greift die Literatur inhaltlich lediglich auf einen Aspekt zurück: Erinnern durch Einstellen von Bildern an Orten, Erinnerung also nach res. Auch dies wird für den Aufbau virtueller Räume nicht unverändert übernommen, vielmehr verstärkt die laikale Literatur den Aspekt der Veränderlichkeit der eingestellten Bilder, wie er im Spezialdiskurs zugunsten einer möglichst exakten Erinnerung eher marginalisiert wird. Die so entstehenden Erinnerungsräume der erzählten Welt nehmen in gewisser Hinsicht die Stelle ein, die in moderner Literatur die (im Vergleich zur mittelalterlichen Literatur weitaus häufigeren) Vor- und Rückblicke einnehmen, ohne dabei aber die grundsätzlich lineare Erzählweise verletzten zu müssen. Mehr noch: Der virtuelle Memorialraum ermöglicht in der Literatur eine bedingte Interaktion mit dem Erinnerten jenseits einer historischen Logik, jenseits einer statischen Anordnung von Ursache und Wirkung. Diese faszinierende Möglichkeit ist neuzeitlichem Erzählen verloren gegangen. 440 Carsten Morsch arbeitet (aufbauend auf Alexandra Stein) am Herzog Ernst einen vergleichbaren Memorialraum heraus, der durch die Monstren als signifikante Memorialbilder für das Publikum (und in gewisser Hinsicht auch für das Personal, also auch hier wieder tendenziell für Erzählraum und erzähltem Raum) aufgebaut wird: „Dem Publikum dieser mittelalterlichen Dichtung wird in der er- und abzählbaren Revue der Monstra ein Parcours durch das gefährdete, aber harmonisierbar vorgestellte Weltbild der adligen Führungsschicht an die Hand gegeben, den es sich zu Herzen zu nehmen und im Gedächtnis zu bewahren hat. […] Als Mittel des Erzählens funktionieren die Monstra dabei zugleich als Memorialzeichen und als Zeiger für und auf die literarische Möglichkeit, Evidenz, und das heißt, hier im umfassenden Sinne, Verbindlichkeit herzustellen.“ (Morsch 2011, S. 84).
4 Die virtuellen Haupträume und ihre Veränderung im Akt des Erzählens Nachdem bislang sehr spezifische virtuelle Räume in der Literatur des Hochmittelalters vorgestellt wurden, die allesamt nach den beiden Paradigmen musikalischer Raum und Memorialraum aufgebaut waren, geht es in diesem Kapitel um den grundsätzlichen virtuellen Charakter des Erzählens: Die beiden Haupträume des Erzählens – Erzählraum und erzählter Raum – sind jeweils für sich bereits virtuell,1 und diese grundsätzliche Virtualität spiegelt sich mannigfaltig in einzelnen virtuellen Räumen der Erzählungen wider und wird differenziert für literarische Sinnerzeugung genutzt. Bei der Betrachtung der Korrespondenz der virtuellen Haupträume der Erzählung ist vor allem zu beachten, dass Virtualität keine ontologische Qualität ist, sondern jeweils nur aus einem bestimmten Beobachterstandpunkt heraus zugewiesen werden kann. Aus der Perspektive des Personals teilt sich der erzählte Raum in einzelne Räume auf, die teils virtuell, teils normal sind (wobei auch hierbei, wie gezeigt wurde, Übergänge vorkommen); aus der Perspektive des Erzählraums ist aber der gesamte erzählte Raum virtuell – wie auch aus einer Perspektive außerhalb des Erzählraumes dieser sich wiederum als virtuell entpuppt. Besonders deutlich wird dieses Spiel der Virtualität hochmittelalterlichen Erzählens zwischen Erzählraum und erzähltem Raum in der Märendichtung, der die ersten beiden Unterkapitel gewidmet sind: In dieser Spielform der Kurzepik wird zum einen vor allem in den Prologen und Epilogen oftmals ein prägnanter Erzählraum aufgebaut, zum anderen ist der Gesamttext im Unterschied zum Roman so kurz, dass ein historischer Erzähler ihn bequem am Stück einem historischen Publikum vortragen kann,2 so dass der im Prolog entfaltete Erzählraum über die gesamte Erzählung hinweg präsent sein und wirkmächtig werden kann. Das erste Beispiel, das Märe Der Gürtel von Dietrich von der Glezze, entwirft etwa idealtypisch einen virtuellen Erzählraum über In- und Exklusion von Kommunikationsteilnehmern der folgenden Geschichte, wird aber gerade von dieser Inund Exklusion in seinem Aufbau wiederum in Frage gestellt. Der Mauricius von 1 Vgl. Kap. 2. 2 Dieser Aspekt ersetzt in meiner Märendefinition die umstrittene Umfangsangabe von 150 bis 2000 Versen bei Hanns Fischers Märendefinition, vgl. Wagner 2009a, S. 70f. Der mittelhochdeutsche Roman dagegen kann aufgrund seines Umfangs nicht an einem Stück aufgeführt worden sein: Hier ist eine Aufführungspraxis anzusetzen, die den Romantext in Abschnitten präsentiert, die wahrscheinlich immer einen eher improvisierten Aufbau des Erzählraumes vom historischen Erzähler verlangen (vgl. dazu grundlegend Linke 1968).
Arbeit an Utopia: Der höfische Erzählraum des Gürtels
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Craûn setzt dieses Spiel zwischen Erzählraum und erzähltem Raum noch sehr viel dominanter und nutzt damit vor allem die Fragwürdigkeit des virtuellen Raumes für das Erzeugen von literarischem Sinn. Gewissermaßen einen Lackmustest für die Anwendungsfähigkeit des Modells der virtuellen Haupträume des Erzählens stellt der Prosalancelot dar, mit dessen Untersuchung die Arbeit abgeschlossen werden soll: Im Prosalancelot liegt ein grundsätzlich anderer Fall vor als bei allen bislang dargestellten epischen Texten, weil die Vortragssituation bei der mittelalterlichen Rezeption aller Wahrscheinlichkeit nach wegfällt; als für die lesende Rezeption konzipierter Text verliert der Prosalancelot tendenziell den für ein historisches Publikum unmittelbar erfahrbaren Erzählraum, was fundamentale Auswirkungen haben müsste auf den Ausbau der beiden literarischen Haupträume. Und tatsächlich entwirft der Prosalancelot auf der einen Seite nur einen völlig rudimentären Erzählraum, der aufgrund seiner fehlenden Kommunikation als virtueller Raum verloren zu gehen droht; auf der (buchstäblich) anderen Seite aber werden zahlreiche virtuelle Räume im erzählten Raum aufgebaut, die stellenweise die Funktionen des verlorenen Erzählraumes innerhalb der Erzählung übernehmen. Dies zeigt, dass die Konzeption eines virtuellen Raumes mit dem unmittelbar erfahrbaren Erzählraum nicht etwa aus der Literatur verschwindet, sondern sich zunächst lediglich zu verlagern scheint.
4.1 Arbeit an Utopia: Der höfische Erzählraum des Gürtels Der Erzähler des Märes Der Gürtel3 kommuniziert zusammen mit seinem impliziten Publikum idealtypisch einen Erzählraum über Inklusion und Exklusion von Personen: Der Erzähler (wenn man von der historischen Realität einer Aufführung ausgeht) bzw. die Erzählung selbst (wenn man das Rollenangebot des Textes ernst nimmt) erklärt, wem die folgende Kommunikation der Geschichte zugänglich sein wird und wem nicht. Diese Kommunikation, die die ersten 10 Verse des Märes bilden, liest sich zunächst normativ: Ich bin der Borte genant, hubschen luten sol ich sin bekant, den argen sol ich vremde sin, si sullen immer liden pin
Ich werde ‚Der Gürtel‘ genannt und soll gesitteten Menschen bekannt sein. Den Nichtswürdigen soll ich unbekannt sein, sie sollen ewig leiden
3 Das Märe stammt wahrscheinlich aus der Zeit zwischen 1270 und 1290 (vgl. Rosenfeld 1980, Sp. 138) und ist in drei Handschriften überliefert (HS H: cpg 341; HS K: Kalocsaer Codex; HS A: cpg 4).
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Die virtuellen Haupträume und ihre Veränderung im Akt des Erzählens
durch ir missewende unz an ir bitter ende. man sol mich hubschen luten lesen, di sullen mit mir vrolich wesen durch ir tugent manicfalt, wan nieman siner tugent engalt. (VV 1‒10)
um ihrer Schande willen bis an ihr bitteres Ende. Man soll mich gesitteten Menschen vorlesen, die sollen mit mir zusammen fröhlich sein wegen ihrer vielfältigen Vorzüge, denn niemandem gereicht seine Tugend zum Nachteil.
Die normative Lesart wird in der sehr freien Übersetzung durch Wolfgang Spiewok noch radikalisiert: Ich heiße ‚Der Siegesgürtel‘ und bin für ein gebildetes, ehrbares Publikum bestimmt, nicht für rüde Bösewichte. Diesen möge ihre Bosheit übel bekommen und sie plagen bis an ihr gallebitteres Ende. Nur verständigen und ehrsamen Leuten soll man mich vorlesen, um sie so für ihre Tugendhaftigkeit mit fröhlicher Unterhaltung zu belohnen.4
In dieser Lesart entwirft der Gürtel-Prolog seinen virtuellen Erzählraum auf moralischer Basis: Nur (im höfischen Sinne) gute Menschen sollen die Geschichte hören, böse Menschen sollen von der Kommunikation ausgeschlossen werden – in diesem Verständnis erlauben die mittelhochdeutschen Begriffe hubsch/arc keine spezifischere Füllung als gut/böse.5 Diese normative Lesart baut in erster Linie auf der normativen Bedeutung des Verbs sullen auf, das in den zehn Versen fünfmal vorkommt und überhaupt das einzige finite Verb ist, das mit In- und Exkludierten verknüpft ist. Sullen besitzt jedoch noch eine zweite Bedeutungsebene: In Verbindung mit einem Infinitiv – und im Prolog des Gürtels wird sullen ausschließlich in dieser syntaktischen Verbindung gebraucht – kann sullen auch das Futur umschreiben;6 beide Bedeutungsebenen sind grammatikalisch nicht unterscheidbar:
4 Altdeutsches Decamerone 1982, S. 510. 5 Zur Topik der Exklusion unliebsamer Rezipienten im Prolog von Mären vgl. Schirmer 1969, S. 61, Anm. 14. 6 Sonja Zeman hat jüngst zu Recht problematisiert, dass es sich hierbei um eine verkürzende Rede handelt: Die Form suln + Infinitiv bezeichnet nicht primär ein zukünftiges Ereignis, sondern bereits im Hochmittelalter (neben der modalen Bedeutung, wie ausgeführt) liegt der Fokus auf der in der Jetztzeit des Sprechers erfolgenden Projektion, die über das dann auch hier modal gebrauchte Verb suln erfolgt: „Zeitlich verortet wird nicht das Ereignis selbst, sondern die Zeit, zu der die Proposition gültig ist“ (Zeman 2013, S. 236). Freilich bleibt auch hier das projizierte Ereignis in der Zukunft verortet (grammatikalisch der Infinitiv), nur der Fokus liegt auf der in der Gegenwart getätigten Proposition. Genau diesen Fokus auf eine im Hier und Jetzt erfolgende, sichere Proposition auf ein (auch zukünftiges) Ereignis meine ich hier mit der Bezeichnung „deskriptive Lesart“.
Arbeit an Utopia: Der höfische Erzählraum des Gürtels
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Die Modalitäten, die durch sol, wil, muoz mit Infinitiv bezeichnet werden, setzen den Verbalvorgang in Beziehung zu dem Willen des Sprechenden und verleihen ihm zugleich den Charakter des Zukünftigen. Wie stark die modale Bedeutungskomponente in diesen periphrastischen Bildungen noch ist und wie stark die temporale, ist in jedem einzelnen Fall zu bedenken. Innerhalb des selben Textes können in kürzestem Abstand überwiegend modale und überwiegend temporale Bedeutung wechseln.7
Interpretiert man die ersten beiden Verszeilen unter diesem Licht, so ergibt sich anstatt einer normativen Lesart eine deskriptive („ich werde gesitteten Menschen bekannt werden“), eine Aussage, die angesichts des unmittelbar bevorstehenden Erzählaktes schlicht Beschreibung der für das historische Publikum erfahrbaren Realität ist. Dieser deskriptiven Lesart entspricht auch die vornehmliche Bedeutung des Wortes hubsch bzw. hovisch,8 nämlich „zu einem Hofe gehörend“9 – und selbstverständlich sind die Rezipienten einer höfischen Aufführung des Märes in diesem Sinne höfisch. Begreift man aber hubsch nicht als primär moralisch bestimmt, so ist es auch naheliegend, die argen weniger moralisch zu interpretieren: Neben der Bedeutung „nichtswürdig, böse“ kann arc auch „karg, geizig“ bedeuten.10 Freilich bleibt auch hier eine negative Bewertung, doch ist die exkludierte Gruppe nun eher dadurch bestimmt, dass sie nicht im höfischen Sinne tugendhaft ist, unhöfisch ist – nicht dem Hofe zugehörig, vor dem der (historische) Erzähler gerade das Märe performiert. In dieser Lesart entwirft der Prolog einen Erzählraum, der eigentlich nur das Offensichtliche diagnostiziert – der anwesende Hof wird das nach dem Prolog folgende Märe hören: Ich bin der Borte genant, hubschen luten sol ich sin bekant, den argen sol ich vremde sin, si sullen immer liden pin durch ir missewende unz an ir bitter ende. man sol mich hubschen luten lesen,
Ich werde ‚Der Gürtel‘ genannt und werde höfischen Menschen bekannt werden. Den Geizigen werde ich unbekannt bleiben, sie werden ewig leiden um ihrer Schande willen bis an ihr bitteres Ende. Man wird mich vor höfischen Menschen lesen,
7 Paul u. a. 1998, S. 295; vgl. auch ebd., §315. 8 So die überwiegende Überlieferung der Handschriften P und K. 9 Lexer 1992, Art. hövesch hövisch höfisch, Bd. 1, Sp. 1367. 10 Vgl. Lexer 1992, Art. arc, Bd. 1, Sp. 98; Bennecke/Müller/Zarncke 1854‒1861, Art. arc, Bd. 1, S. 54f. Auch im Herzmaere Konrads von Würzburg wird der Begriff im Epilog (und auch hier in Bezug auf die minne) zumindest doppeldeutig verwendet: „nu hât verkêret sich ir art / und ist sô cranc ir orden, / daz si wol veile ist worden / den argen umbe ein cleinez guot“ (VV 560‒563; „Heute hat sich ihre Natur verkehrt, und ihre Ordnung ist so durcheinander geraten, dass sie käuflich für die Geizigen/Bösen geworden ist“).
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Die virtuellen Haupträume und ihre Veränderung im Akt des Erzählens
di sullen mit mir vrolich wesen durch ir tugent manicfalt, wan nieman siner tugent engalt. (VV 1‒10)
die werden mit mir zusammen fröhlich sein wegen ihrer vielfältigen Vorzüge, denn niemandem gereicht seine Tugend zum Nachteil.
Der virtuelle Charakter des Erzählraumes wird gerade in dieser deskriptiven Lesart des Prologs deutlich: Hier stellt der Erzähler sein Publikum nicht vor eine moralische Entscheidung, sondern er definiert die Publikumsrolle, die einzunehmen die Voraussetzung für die Teilnahme an der folgenden Erzählkommunikation darstellt. Oder in anderer Richtung formuliert: Alle Anwesenden sind automatisch als positiv-höfisch konnotiert, wenn sie der folgenden Erzählung beiwohnen.11 Die Grundlage für diesen Automatismus gibt die virtuelle Identitätsverdoppelung: Mit der Publikumsrolle entwirft der Erzähler die einzige Identität, die ein historisches Publikum einnehmen kann, um die Erzählung zu rezipieren; alle Anwesenden – gleichgültig ihrer moralischen Ausrichtung – können an der Kommunikation des Märes nur als höfische Menschen teilnehmen. Der Erzählraum entfaltet sich in der deskriptiven Lesart als Raum, der nicht nur Manche ausschließt (wie man bei einer normativen Lesart den Prolog unterkomplex als konkrete Handlungsanweisung für den normalen Raum missverstehen könnte: Alle moralisch fragwürdigen Personen müssen den Raum verlassen, damit weitererzählt werden kann), sondern dessen raumschaffende Kommunikation nur Manchen zugänglich ist, und dies in ähnlich unhintergehbarer Weise, wie es auch im erzählten Raum des Hochzeitsfestes im Eneas der Fall ist (dort übrigens auch über den spilman/Erzähler erzeugt).12 Dieser gleichsam automatische Aufbau eines virtuellen Erzählraumes durch Inklusion der höfischen und Exklusion der unhöfischen Menschen ist kein Einzelfall. Im Prolog des Lanzelet von Ulrich von Zatzikhoven etwa entfaltet der 11 Dass sich bei näherem Besehen scheinbar belehrende bzw. moralische Passagen der mittelhochdeutschen Epik als Automatismen entpuppen, habe ich auf textlich breiterer Basis vor dem Hintergrund von Robert Pfallers Interpassivitäts-Theorem herausgearbeitet, vgl. Wagner 2015c. 12 Vgl. Kap. 3.1.6.1. Däumer liest den Gürtel-Prolog nochmals anders, nämlich als Ansprache des Autors an den jeweiligen Rezitator, sozusagen als Gebrauchsanweisung für den Vortrag. Diese Lesart ist freilich möglich (und erweitert damit die angebotenen Interpretationsmöglichkeiten), ist jedoch keineswegs so selbstverständlich, wie dies Däumer im Vergleich mit dem Wigalois darstellt: „Auch in diesen Versen spricht […] das Buch mit jemandem – und im Gegensatz zum Wigalois-Prolog steht hier völlig außer Frage, dass es sich bei dem Angesprochenen um den Rezitator handelt.“ (Däumer 2013, S. 167). Gerade in der Aufführungssituation, die Däumer eigentlich ebenfalls dominant setzt, ist das historisch anwesende Publikum zumindest mit angesprochen (und dies in der dargestellten Ambiguität), wenn diese Verse vorgetragen werden, die ja nicht nur die Funktion (oder gar die äußere Form) einer Gebrauchsanweisung aufweisen.
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Erzähler einen ähnlichen Automatismus, der im Vergleich mit dem Gürtel-Prolog gewissermaßen dessen normative und deskriptive Lesart zusammenführt: ez ist mîn bet und ouch mîn rât, daz hübsche liut mich vernemen, den lop und êre sol gezemen. der hulde wil ich behalten und wil hi fürder schalten di bœsen nîdære. den fremde got ditz mære, des ich hie wil beginnen. si gânt doch schiere hinnen, swenne si daz liet hœrent sagen; si mügen kûme vertragen, daz eim ritter wol gelanc, der ie nâch stæten tugenden ranc. (VV 14‒26)
Es ist meine Bitte und auch mein Rat, dass höfische Leute mich anhören, denen Lob und Ehre gut anstehen sollen. Deren Gunst will ich dauerhaft erwerben und ich will weiterhin die bösen Neider schelten. Denen soll Gott die Erzählung vorenthalten, mit der ich hier beginnen will. Sie entfernen sich ohnedies sogleich, wenn sie das Lied vortragen hören; sie können es kaum ertragen, dass ein Ritter guten Erfolg hatte, der immer nach beständiger Tugend rang.13
Was der Gürtel-Prolog als zwei Lesarten bereitstellt, schaltet der Lanzelet-Prolog hintereinander: zunächst eine normative Gottesanrufung (Gott soll die Bösen von der Geschichte fern halten), dann das deskriptive Aufzeigen eines Automatismus (die Bösen gehen selbständig, weil sie die Kommunikation der Erzählung nicht ertragen). Ungewöhnlich sind also beide Lesarten nicht, doch der Gürtel-Prolog bietet die Möglichkeit, jeweils eine Ausrichtung – normativ bzw. deskriptiv – in einer Aufführung dominant zu setzen. Neben der normativen und deskriptiven Lesart legt der Gürtel-Prolog noch eine dritte Lesart nahe, die als eine insinuierende Lesart bezeichnet werden könnte: Betont man den Begriff „arc“ und versteht ihn als Gegenbegriff zur höfischen milte,14 so lässt sich die vom Erzähler vorbereitete Publikumsrolle auch spezifischer auf den Herrscher des Hofes anwenden, an dem die jeweilige Aufführung des Märes stattfindet; sowohl in deskriptivem als auch in normativem Verständnis kann die Exklusion der „argen“ vom Hof als implizite Forderung nach milte und damit als eine freche Lohnheische verstanden werden: Der Erzähler fordert implizit vom Herrscher des Hofes eine reiche Entlohnung für seine Dienste, indem er den „argen“ ein schlimmes Ende prophezeit, ihre tugent negiert bzw. sie automatisch aus dem Kreis der Rezipienten der Erzählung ausschließt. Bei dieser insinuierenden Lesart wird die Virtualität des Erzählraumes ebenso deutlich wie in der deskriptiven Lesart, wenn auch in anderer Hinsicht: Der kommunikativ erzeugte Erzählraum stellt für den Herrscher die Rolle eines von milte
13 Übersetzung nach Florian Kragl (lediglich die meines Erachtens unpassende Übersetzung für „bœse“ durch „schwach“ wurde zugunsten „böse“ verändert). 14 Vgl. Benecke/Müller/Zarncke 1854‒1861, Art. arc, Bd. 1, S. 54.
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bestimmten Herrschers zur Verfügung – und durch den Automatismus der Exklusion der „argen“ nur diese eine –, die der konkrete Herrscher in einer virtuellen Identitätsverdoppelung einnehmen kann. Dass der damit kommunizierte Raum nicht identisch mit dem normalen Raum des Hofes ist (auch hier mit Betonung auf Norm und Institutionalität),15 sondern virtuelles Spiel, indiziert die Umdrehung der normalen Machtverhältnisse: Der Herrscher ist in seiner Identitätsverdoppelung des gezwungenermaßen milten Herrschers der Unterworfene eines Subalternen, des Erzählers. Normative, deskriptive und insinuierende Lesart sind die im überlieferten Text selbst festgeschriebenen grundsätzlichen Bedeutungsmodi des GürtelPrologs, philologisch und soziohistorisch eruierbar vor einer Spekulation über eine konkrete Realisierung des Märes an einem hochmittelalterlichen Hof. Für eine Untersuchung des Erzählens im Mittelalter und seiner räumlichen Aspekte kann der Bereich des Spekulativen nicht völlig außen vor bleiben, wenngleich er auch keine Interpretationsgrundlage, sondern höchstens Ausblick sein kann. Ich verstehe aber das bislang Dargestellte noch nicht als Spekulation über konkrete Aufführungen; vielmehr handelt es sich bei den drei skizzierten Lesarten um ein schriftlich vorgegebenes Spektrum an Performanz-Möglichkeiten, die einem historischen Erzähler zur prosodischen und mimisch-gestischen Realisierung der Partitur des Märes zur Verfügung stehen, wie auch immer dieser sich diesbezüglich entscheiden mag.16 Daneben aber ist jede Aufführung auch bestimmt von einem nicht im Text festgeschriebenen Spektrum traditioneller oder spontaner Performanz-Möglichkeiten, die ein historischer Erzähler zur Realisierung nutzen kann.17 Der schmale Grat zwischen schriftlich vorgegebenen und traditionellen oder spontanen Performanz-Möglichkeiten lässt sich gut am klassischen Aufsatz von Hugo Kuhn zum Minnesang als Aufführungsform darstellen: Kuhn arbeitet am Text des Kreuzzugsliedes Hartmanns heraus, dass das Lied mit Kreuzzugsaufforderung und Minnereflexion zwei sehr unterschiedliche Gattungstypen engführt und fragt anschließend nach der konkreten performativen Umsetzung:
15 Vgl. Kap. 2.1. 16 Es ist freilich unklar, für welche der skizzierten Lesarten sich ein historischer Erzähler entscheidet und ob er nicht etwa Mischungen vornimmt; ebenso unklar ist, wie die konkret gewählte Lesart genau prosodisch und mimisch-gestisch ausgedrückt wird. Ein Blick auf rezente Erzähltraditionen – etwa Cabaret oder Comedy – zeigt aber, dass innerhalb der Codierung einer Bezugsgesellschaft Aussagemodi über prosodische und mimisch-gestische Elemente eindeutig kommuniziert werden können. 17 Zum Aufführungsbegriff, der Aufführung als jeweils spezifisches Ereignis zwischen Darsteller und Publikum versteht, vgl. Fischer-Lichte 2004, S. 42‒57.
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Wie wird sie [die Spannung zwischen den beiden Gattungstypen] den Zuhörern deutlich? Nicht durch Liedform und Liedtext direkt. Sie gewinnt ihren Anspielungs- und Bedeutungsreichtum erst durch die Rückbeziehung der ausgesprochenen ‚weltlichen‘ Minnethematik zur unausgesprochenen ‚religiösen‘ Kreuzzugsthematik. Diese muß also schon in der Situation, im Auftritt des Sängers sichtbar sein und während des ganzen Vortrags ungesagt mitspielen. Das ist Sinn und Funktion der ‚Ich var‘-Rolle; und sie muß, noch genauer, sich selbst als Abschied vor der Kreuzfahrt darstellen: warum nicht durch das Kreuz auf dem Gewand des Ausfahrenden, sichtbares Zeichen seiner religiösen Verpflichtung?18
Dieses Kreuzzugshemd, das Kuhn im Weiteren als Interpretationsgrundlage nutzt, ist jedoch entweder eine spontane Requisite eines historischen Erzählers oder aber Bestandteil einer Aufführungstradition, die uns verloren gegangen ist; es in die Interpretation mit einzubeziehen ist so reizvoll wie spekulativ. Nicht spekulativ aber sind die beiden Gattungstypen, die Kuhn am Text selbst festmachen kann und die für das Kreuzzugslied ein ähnliches schriftlich vorgegebenes Spek trum an Performanz-Möglichkeiten darstellen, wie dies auch bei den drei Lesarten des Gürtel-Prologs der Fall ist. Die mittelalterliche Handschrift – Liedhandschrift wie Epenhandschrift – wird dadurch vergleichbar mit einer Partitur klassischer Musik, die dem Interpreten bestimmte Aspekte der Interpretation vorgibt, andere aber (in einem mehr oder weniger traditionellen Rahmen von Möglichkeiten) dem Interpreten überlässt, wobei aber letztendlich erst im Zusammenfallen aller unwägbarer Gegebenheiten der konkreten Aufführung die Musik entsteht. Mittelalterliches Erzählen hat mit dem modernen Konzert in der Tat mehr gemein als mit dem modernen Literaturbetrieb: Ein mittelalterliches Publikum rezipiert kollektiv die Interpretation eines Interpreten eines (Noten-)Textes, nicht aber den (Noten-)Text selbst. Der Vergleich hinkt natürlich auch, und dies gerade in Bezug auf die Virtualität des mittelalterlichen Erzählraumes: Heute ist der Konzertbetrieb so gut wie vollständig institutionalisiert, und der Konzertsaal wird tendenziell zum normalen Raum, der weiterexistiert, auch wenn in ihm keine Musik erklingt, kein Konzert kommuniziert wird. Die Kölner Philharmonie etwa bleibt mit ihren konzentrisch auf die Mittelfläche ausgerichteten Klappstuhlreihen, den Emporen, den Orgelwerken, den fest installierten Mikrophonen und Lautsprechern auch dann ein Konzertsaal, wenn die konkrete Kommunikation vor Ort nicht Beethovens Neunte ist, sondern die Säuberungsaktion der Putzkolonne. Der mittelalterliche Erzählraum ist aber in seiner Existenz auf die Dauer der konkreten Kommunikation der jeweiligen Erzählung beschränkt; die an dieser Kommunikation Beteiligten können und müssen den Erzählraum durch ihr Verhalten sehr viel direkter und dynamischer mitgestalten, als dies beim modernen, institutionalisierten und damit formal stillgestellten Konzertsaal der Fall ist. Deswegen ist für das 18 Kuhn 1985, S. 230.
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mittelalterliche Erzählen auch ein sehr viel größerer Ambitus an Aufführungsmöglichkeiten zu veranschlagen als bei dem Vergleichspunkt modernes Konzert. Wie bereits ausgeführt, sind uns von der Fülle der denkbaren (und historisch notwendigerweise zu veranschlagenden) Realisierungsmöglichkeiten des mittelalterlichen Erzählervortrags lediglich die textuell gebundenen überliefert. Es ist aber signifikant, dass schon hierbei offenbar mehr Wert gelegt wird auf die Präsentation eines Spektrums an Möglichkeiten anstatt auf Vereindeutigung des Erzählraumes: Der Gürtel-Prolog bietet einem historischen Erzähler eine uneindeutige Partitur, die gezielt divergente Möglichkeiten eröffnet, um in unterschiedlichen Aufführungssituationen, gemeinsam mit einem jeweils anders zusammengesetzten und reagierenden Publikum und zusammen mit weiteren traditionellen und spontanen Performanz-Möglichkeiten zu einer nicht identisch wiederholbaren Textinterpretation zu gelangen. Die Identität des mittelhochdeutschen Gedichts besteht nicht in der einen richtigen Interpretation seines Textes, sondern in der seriellen Gesamtheit aller realisierten und aller auch nur möglichen Aufführungen. Diese bereits in der Partitur der einzelnen Handschrift angelegte Offenheit mittelhochdeutscher Literatur stellt ein positives künstlerisches Kriterium für eine Zeit dar, deren Unterhaltungsmedien in ihrer Menge stark begrenzt sind: Jeder einzelne literarische Text bildet, wie exemplarisch am Prolog des Gürtels gezeigt werden sollte, eine eigene Serie konkret zu realisierender Fassungen aus, die darauf ausgelegt ist, dass jede Wiederaufführung eine Variante sein kann und keine identische Wiederholung ist. Dieser literarische Befund deckt sich mit dem musikalischen Befund, dass in den hochmittelalterlichen Musiknotationen viele der später schriftlich fixierbaren musikalischen Parameter noch nicht zu verschriftlichen und vom jeweiligen Interpreten zu konkretisieren waren, wobei durch Tradition von ars und usus der Musik eine begrenzte Anzahl an Möglichkeiten zur Verfügung standen; das Palästinalied Walthers von der Vogelweide etwa bildet selbst durch die Möglichkeiten der Modalrhythmik eine Serie an Performanz-Möglichkeiten aus, deren Konkretion dem Interpreten überlassen bleibt.19 Die mediävistische Forschung geht fehl, wenn sie auf der Suche nach der einen,
19 Schon die Melodie des Palästinaliedes ist selbst eine Variante von mehreren weitgehend baugleichen Melodieformen (vgl. dazu Walther von der Vogelweide 1977, S. 54‒56; 81‒85). Zur Schwierigkeit der rhythmischen Interpretation modal notierter Musik grundsätzlich vgl. Haines 2001. Ich lese die Schwierigkeit der Suche nach der einen, richtigen Interpretation der Modalnotation in der Moderne als Indiz für einen veränderten Werkbegriff: Die Modalnotation eröffnet dem historischen Interpreten mehrere Möglichkeiten auch der rhythmisch-metrischen Ausführung, sie möchte aber nicht – wie die moderne Lesart projiziert – das eine Kunstwerk seines Schöpfers möglichst exakt abbilden.
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richtigen Lesart eines Textes divergierende Lesarten spekulativ zusammenführt20 oder als Indiz für die schlechte Qualität des Primärtextes versteht.21 ‚Der Erzählraum‘, wie er im Text selbst in der Form von virtuellen Rollenangeboten kommuniziert wird, ist also einerseits nicht eindeutig angelegt (wobei diese gezielte Uneindeutigkeit keinesfalls mit Beliebigkeit verwechselt werden darf, sondern in einer bestimmbaren Menge unterschiedlicher sinnvoller Lesarten besteht) und ist lediglich die schriftliche Seite einer in ihrer historischen Form mündlich-performativen Kommunikation; damit kann lediglich eine Annäherung erfolgen an historische Erzählräume, deren Kommunikation zusätzlich von spontanen und traditionellen Performanz-Möglichkeiten sowohl des Publikums als auch des Erzählers bestimmt ist, die sich im Text selbst nicht niederschlagen. Ausgehend von den drei Lesarten des Prologs sollen nun drei idealtypische Erzählräume des Gürtels entworfen werden, wobei hierbei auch marginal spekulative Aspekte mit einbezogen werden sollen, um sich im Gedankenspiel tatsächlichen virtuellen Erzählräumen des Hochmittelalters anzunähern. Bei normativer Lesart kann ein moralischer Erzählraum entstehen, der Inklusion und Exklusion des Hofes vorführt und alle Kommunikanten auf ein höfisches Verhalten in Abgrenzung zu unhöfischem Verhalten verpflichtet. Da die Vorführung von In- und Exklusion am besten über konkretes Verhalten erfolgen kann, setzt der moralische Erzählraum zuht dominant, die von den Teilnehmern der Kommunikation entweder positiv eingehalten oder aber verletzt wird. Eine moralische Durchsetzung angemessenen Verhaltens kann von Seiten des Erzählers beispielsweise über eine Aufmerksamkeitsheische angesichts eines eher lauten, unaufmerksamen Publikums erfolgen, eine sowohl spontan als auch traditionell bestimmte Performanz-Möglichkeit, die im Gürtel-Prolog selbst nicht angelegt ist, jedoch im Prolog ihren topischen Platz hat, so dass alle Kommunikanten eine entsprechende Haltung des Erzählers leicht einordnen können:
20 Dies macht Hugo Kuhn in seiner Interpretation des Kreuzzugsliedes, wenn er zwei antithetische Lesarten durch die spekulative Dominantsetzung einer möglichen Aufführungsform dialektisch zusammenführt. Statt dessen wäre festzuhalten, dass auch die ‚Partitur‘ des Kreuzzugsliedes offenbar sehr unterschiedliche Performanz-Möglichkeiten zur Verfügung stellt, zwischen denen sich ein historischer Interpret verorten kann – sicherlich auch in der bei Kuhn skizzierten Art und Weise. 21 So die Interpretation des Mauricius von Craûn von Sonja Glauch in ihrer Habilitationsschrift, die eine Vereindeutigung über eine Rückkehr zum Autor anstrebt – und deren Scheitern auf die schlechte Qualität der Erzählung zurückführt: „In der Forschung wurde der Text auffällig oft geradezu konträr gedeutet. Das dokumentiert vor allem eins: die Ambiguitäten dieses in jeder Hinsicht historisch isolierten Irrläufers sind zu groß, als daß man begründet entscheiden könnte, was dem Autor eigentlich vorgeschwebt sei. [… E]in gut gebauter und luzider Text wäre kaum von der Forschung so diametral beurteilt worden“ (Glauch 2009, S. 266).
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Bei einigermaßen lautem Publikum und einer zornigen Prosodie des Erzählers in Richtung der Störenden kann die moralische Dichotomie des Prologs von hubsch und arc leicht auf zuhtvoll-leise Rezipienten und zuhtlos laute Rezipienten projiziert werden. Werden die Störenfriede zum Schweigen gebracht (und die Topik der Aufmerksamkeitsheische stellt dem Hof entsprechende Handlungsskripte zur Verfügung), so performiert der Hof in der Tat die Herstellung eines moralisch bestimmten Erzählraumes, der sich deutlich als virtueller Raum darstellt, indem er über die Kommunikation aller Kommunikanten erst mühsam erzeugt werden muss und weiterhin für (Zer-)Störung anfällig bleibt.22 Bei deskriptiver Lesart kann ein höfischer Erzählraum entstehen, der Inund Exklusion als gottgegeben und automatisch bereits vollzogen vorführt. Die Erzählsituation selbst bestätigt bereits die erfolgte Abtrennung eines höfischen von einem unhöfischen Bereich und belegt damit zugleich den virtuellen Charakter des Erzählraumes, dessen Kommunikation nur für manche zugänglich ist. Der höfische Erzählraum setzt die Affirmation des Hofes auf der Basis von tugent dominant, was besonders gut mit einem leisen bzw. nicht störenden Publikum funktioniert, das sich selbst von Beginn an (und vielleicht schon vor dem Beginn) als höfisch inszeniert, und einem Erzähler, der sich diesem Publikum mit freundlicher Prosodie zuwendet und die argen nüchtern oder mitleidig beschreibt. Bei insinuierender Lesart kann ein Erzählraum entstehen, der zugleich ein Herrschaftsraum ist. Aus den traditionellen Performanz-Möglichkeiten der Prolog-Topik greift der Erzähler hier nicht auf Aufmerksamkeitsheische, sondern auf Lohnheische zurück, im Text zumindest implizit angelegt im Begriff arc als Gegenbegriff zu milte. Entscheidend für den Aufbau eines solchermaßen als Herrschaftsraum aufgebauten Erzählraumes ist die (am besten hierarchisch hervorgehobene) Anwesenheit des Herrschers, der als Adressat einer Lohnheische des Erzählers und ggf. als Initiator und Ausrichter der aktuellen höfischen Feierlichkeit, in deren Rahmen die Erzählung stattfindet, sich als freigebiger und damit guter Herrscher erweisen und bestätigen kann. Ähnlich etwa zur Feier am Ende des Eneasromans23 kann der Erzähler zwischen hier und dort die Differenz zwischen einem höfischen Raum der Feier und Freigebigkeit und einem unhöfischen Raum der Kargheit aufmachen, vielleicht mit Zeigegesten, die einerseits auf den hubschen Herrscher verweisen, andererseits in Richtung etwa einer Kon22 Die Hörspielumsetzung des Märes der Theatergruppe Bumerang in Zusammenarbeit mit der Älteren Deutschen Philologie der Universität Bayreuth wählt diese – spekulative – Version des Entwurfs eines Erzählraumes: Die Sprecherin Eva Wagner diszipliniert in der Rolle des Erzählers einen lautstarken Hof und formt den höfischen Erzählraum über zuht, vgl. Der Borte. Dietrich von der Glezze. Ein mittelhochdeutsches Hörspiel (2011), Track 2. 23 Vgl. Kap. 3.1.6.1.
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kurrenzherrschaft in der Nachbarschaft, die dann als Raum der argen diskreditiert werden würde. Soweit die spekulative Rekonstruktion einiger möglicher Erzählräume, die anhand der Partitur des Gürtel-Prologs virtuell aufgebaut werden können. Wie auch immer aber der Erzählraum im Prolog aufgebaut wird, er wird spätestens im umfangreichen Epilog wieder kommuniziert – der den Möglichkeiten des virtuellen Raumes Rechnung trägt: Einerseits kann der Raum des Epilogs leicht identifiziert werden mit dem Raum des Prologs (und dies, wie zu zeigen sein wird, gerade rücksichtlich der drei unterschiedlichen Lesarten), andererseits aber nutzt der Epilog auch die Fragilität und Dynamik des virtuellen Raumes für eine Umakzentuierung seiner Kommunikation. Der Epilog beginnt damit, dass er die außergewöhnliche und auffällige Erzählerrolle des Prologs wieder aufgreift: die Inszenierung des Erzählers als Erzählung selbst. Von der Glezze Ditrich hat mit sinen sinnen mich hubschen luten getihtet, ertrahtet unde berihtet so er beste kunde. (VV 827‒831)
Dietrich von der Glezze hat mich mit seiner ganzen Kunstfertigkeit für höfische Menschen gedichtet, ausgesonnen und erzählt, so gut, wie er konnte.
Durch diese Reminiszenz an den Prolog wird nicht nur der Wechsel aus dem erzählten Raum in den Erzählraum markiert,24 der Erzähler kommuniziert zugleich, dass es sich um denselben Raum handelt, der im Prolog kommuniziert wurde. Gleichwohl setzt der Epilog auch neue Akzente: Nach einer kurzen captatio benevolentiae (VV 831‒835) führt der Erzähler auf das für den Epilog zentrale Thema Frauendienst über; nach einer Gegenwartsschelte (der Sinn steht nicht mehr nach minne, sondern nach guot, vgl. VV 840‒848) setzt er ein Minnelob (VV 849‒878), das vor allem eine feste Rollenverteilung von Mann und Frau aufmacht: ir man, ich wil uch leren: vrouwen sult ir eren und sult in undertenic sin, wande ire roten mundelin und ir wizzen wengelin di bringent uch von grozzer pin. (VV 869‒874)
24 Vgl. Reichlin 2008, S. 195.
Ihr Herren, ich möchte euch unterweisen: Ihr sollt Damen ehren und sollt ihnen untertänig sein, denn ihre roten Mündlein und weißen Wänglein führen euch aus großem Leid.
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Der Epilog schließt ab mit einem Lob des Auftraggebers Wilhelm Punzinger von Widena, der als Frauendiener dargestellt wird (VV 879‒888).25 Mit diesem Epilog kann der historische Erzähler jede der drei Lesarten des Prologs wieder aufgreifen und so einen konzisen Erzählraum erneut aufbauen, wie auch immer er die Akzente im Prolog gesetzt hat: Die insinuierende Lesart des Prologs findet im Lob des Auftraggebers des Epilogs ihr Gegenstück, so dass der Erzählraum als Herrschaftsraum wieder aufgebaut werden kann; die normative Lesart wird im Minnelob bestätigt, das mit den Hilfsverben wellen und suln normativ als Belehrung eines Erzählers an sein Publikum gelesen werden kann, wie die obige Übersetzung zeigt; hier präsentiert der Text aber eine grammatikalisch analoge Doppeldeutigkeit wie im Prolog, denn auch wellen kann wie suln eine Futurumschreibung darstellen. In dieser Lesart, die das „Ich“ des Textes konsequent mit der Geschichte selbst identifiziert, wird das Minnelob zu einer Verheißung, die die höfische Gegenwart durch die Erzählung zum Besseren verwandelt:26 ir man, ich wil uch leren: vrouwen sult ir eren und sult in undertenic sin … (VV 869‒871)
Ihr Herren, ihr werdet folgende Einsicht durch mich gewinnen: Ihr werdet Damen ehren und werdet ihnen untertänig sein …
25 Friedrich Heinrich von der Hagen liest den Namen Punzinger als Namenszusatz für den Auftraggeber Wilhelm (vgl. Gesamtabenteuer 1961, S. CL). Otto Richard Meyer versteht Prolog und Epilog als späteren Zusatz durch einen Dichter namens Punzinger, kann dafür aber letztlich nur eine fragwürdige Deutung der Schlussverse ins Feld führen: „Die Verse [VV 886‒888] enthalten eine ganz persönliche Bitte, deren Ton es als das natürlichste erscheinen läßt, daß sie von keinem andern verfaßt sind, als eben dem Punzinger, für den der trost erfleht wird“ (Dietrich von der Glezze 1915, S. 69). Meyers Lesart wird von Dietrich von Kralich aufgenommen und zu einem romantischen, biographischen Mythos ausgebaut, der schließlich in der Verderbnisthese mündet, „dass der autor der rahmenverse, der Punzinger, es war, der in stümperhafter und tendenziöser weise die dichtung Dietrichs vergewaltigt hat“ (Kralik 1923, S. 154). Julius Schwietering weist auf die unnachvollziehbaren Implikationen der These einer Autorschaft Punzingers hin (vgl. Schwietering 1921, S. 49f.), und Hanns Fischer versteht Punzinger als „einen (vielleicht familiären) Beinamen des Auftraggebers Wilhelm, des Sohns des Weidenauer Vogts […]. Nur ein adeliger Herr wie er konnte mit einem ganz im Tenor des Frauendienstes gehaltenen Widmungsepilog huldigend einer Dame gegenübertreten“ (Fischer 1983, S. 199). Es bleibt sicherlich letztlich unklar, wie genau der Name Punzinger zu beziehen ist, doch kann ich der Autorthese, die auf vollständig überholte Paradigmen aufbaut, nicht folgen, sondern sehe in Punzinger entweder eine weitere Bezeichnung Wilhelms oder aber die Bezeichnung einer dem Auftraggeber sehr nahe stehenden, adeligen Persönlichkeit. 26 Diese Struktur ist für den Gürtel nicht einzigartig. Auch im Prolog des Herzmaere verspricht der Erzähler einer Verbesserung des Minnens des Publikums, wenn es die Erzählung hört: „diu rede ist âne lougen: / er minnet iemer deste baz / swer von minnen etewas / hoeret singen oder lesen“ (VV 19‒21; „Diese Sentenz ist wahr: Wer auch immer von der Minne etwas vorgesungen oder -gelesen hört, der minnt stets umso besser“).
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Im Epilog wird die räumliche Zweiteilung des Prologs auf der Basis der Unterscheidung von höfisch und unhöfisch als zeitliche Zweiteilung neu gefasst, überraschenderweise aber zunächst mit einem für den aktuellen Hof (und damit für den Erzählraum) negativen Ergebnis: Die hubscheit eben des Raumes steht in Frage, der im Prolog als Raum ausschließlich der hubschen kommuniziert wurde.27 Der Epilog stellt damit zunächst einmal die Fragilität des virtuellen Raumes eindrücklich vor Augen: Er eröffnet den gleichen Raum – und stellt zugleich seine Grundlagen, Inklusion des Höfischen und Exklusion des Unhöfischen, in Frage. Eine Lösung dieses problematischen Endes, eine Neuformation des höfischen Erzählraumes verspricht nur (bei normativer Lesart) der Erzähler durch seine Lehre oder (bei deskriptiver Lesart) die Erzählung mit der Verheißung ihrer eigenen Wirkung. Anstelle der Differenzierung höfisch/unhöfisch, die im Epilog nicht mehr zur Begrenzung des höfischen Erzählraums genutzt werden kann (dieser wurde ja bereits als höfischer Erzählraum kommuniziert und etabliert), rückt die Differenzierung Mann/Frau, die freilich eine ganz andere Art der Begrenzung erlaubt: Nicht mehr äußere Grenzen bestimmen den höfischen Erzählraum (diese sind in seiner Zeitlichkeit aufgelöst), sondern innere Grenzen bzw. sein Zentrum, das nach außen hin immer schwächer ausstrahlt, ohne eine genaue Grenzlinie zu bilden.28 Der höfische Minnediener – vorbildhaft der Auftraggeber Wilhelm – und die höfische Minneherrin – andeutungsweise semantisiert in Maria, die den Minnelohn in ewiges Heil überhöht (vgl. V 887) – sind die Rollen, die der Erzählraum im Epilog als doppeltes Zentrum bereit stellt. Die Fragwürdigkeit des virtuellen Raumes und seine Dynamik wären damit bereits eindrücklich durch Prolog und Epilog des Märes beobachtbar gemacht – wäre da nicht noch die Erzählung und ihr virtueller Raum, der bislang noch überhaupt nicht in den Blick geraten ist. Ein vortrefflicher Ritter Konrad hat eine sehr schöne Ehefrau. Nach dem Liebesspiel kündigt er an, auf Turnierfahrt ausreiten zu wollen, um seine Ehre zu mehren, und nimmt nach 14 Tagen Abschied. Eines Nachmittags kommt ein fremder Ritter, der neben seinem Pferd noch einen Habicht, zwei Windhunde und einen edelsteinbesetzten Gürtel mit sich führt, an dem Garten vorbeigeritten, in dem sich die Ehefrau ausruht. Er entbrennt in Minne und bietet der Ehefrau nacheinander seine höfischen Tiere an, um ihren Minnelohn zu erhalten. Die Ehefrau gewährt ihm jedoch erst seine Bitte, als er auch noch den (wie man nun erfährt: magischen) Gürtel dazu gibt. Nach dem Beischlaf, der die Natur in Aufregung versetzt, verlacht die Ehefrau den Ritter 27 Dieses Ergebnis der laudatio temporis acti im Epilog ist umso überraschender, da sie gewissermaßen am falschen Ort ist: Üblicherweise erfolgt die Gegenwartsschelte und das damit verbundene Vergangenheitslob im Prolog, um so die nachfolgende Geschichte als didaktisch wirksam, das Publikum bessernd erscheinen zu lassen, vgl. Schirmer 1969, S. 66. 28 Vgl. Kap. 2.1.
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wegen seines schlechten Handels, und der Ritter verabschiedet sich, zufrieden und traurig zugleich. Durch einen Lauscher erfährt der Ehemann Konrad von der Untreue seiner Frau und reist betroffen nach Brabant, um dort zu bleiben. Nachdem die Ehefrau zwei Jahre lang vergebens auf ihren Mann gewartet hat, bricht sie auf, um ihn zu suchen. In einer prächtigen Stadt logiert sie bei einem Wirt, dem sie erklärt, dass sie eigentlich ein Ritter sei, der sich auf der Flucht als Frau verkleidet habe. Sie lässt sich Diener beschaffen, kleidet sich ritterlich an, schneidet die Haare ab, legt den magischen Gürtel um und reist nach Brabant, wo sie am Hof vor allem wegen ihres Gürtels großes Aufsehen erregt. Beim herrschaftlichen Mahl kommt sie neben ihrem Mann zu sitzen, der sie jedoch nicht erkennt und dem sie sich als „Ritter Heinrich“ vorstellt. Beide schließen Freundschaft. Nach dem Essen richtet der Herzog von Brabant eine Jagd aus, bei der sich nacheinander die höfischen Tiere ‚Ritter Heinrichs‘ hervortun. Der Herzog möchte ‚Heinrich‘ die Windhunde, den Habicht und das Pferd abkaufen, was dieser aber verweigert. Bei einem anschließenden Turnier taucht ein ganz in Rot gekleideter Brite auf, der Konrad besiegt. ‚Ritter Heinrich‘ rüstet sich daraufhin, legt sich den Gürtel um und besiegt den Briten nach hartem Kampf. Wenig später reiten Konrad und ‚Heinrich‘ im Rahmen eines Kriegszuges des Herzogs auf einen Erkundungsritt, und Konrad bittet eindringlich darum, die höfischen Tiere kaufen zu dürfen. ‚Heinrich‘ lässt erkennen, dass er Männer liebe und bietet Konrad die Hunde und den Habicht als Minnelohn an. Konrad willigt ein, und ‚Heinrich‘ überredet ihn bzw. wirft ihn auf den Rücken – der Text lässt hier beide Lesarten zu, s. u. ‚Heinrich‘ enttarnt sich und beschimpft – nun wieder als Ehefrau Konrads – ihren Ehemann, dass er gerade bereit war, eine schwere Sünde lediglich für den Gegenwert eines Habichts und zweier Hunde zu begehen, während sie damals nur „menschlich“ gehandelt habe – und darüber hinaus noch Pferd und Gürtel erhalten habe. Sie erklärt nun auch, die höfischen Tiere und den magischen Gürtel nur für ihren Ehemann erworben zu haben. Konrad leistet Abbitte, bekommt alle Gaben und reist zusammen mit seiner Ehefrau glücklich heim nach Schwaben, wo sie noch 100 Jahre glücklich leben.
Die Erzählung präsentiert einen erzählten Raum, der eine ähnliche Dynamik aufweist wie der Erzählraum in der Spannung zwischen Prolog und Epilog. Der erzählte Raum teilt sich auf in zwei Haupträume, Schwaben (die Heimat von Konrad und deiner Ehefrau) und Brabant (der Handlungsraum von ‚Heinrich‘).29 Schwaben präsentiert sich zunächst als idealer höfischer Raum, der sich aber auflöst; Brabant wird mit seinen Sozialformen Festmahl, Jagd, Turnier und Fehde deutlich als höfischer Raum kommuniziert, weist aber auch empfindliche Störun29 Die nicht näher bezeichnete große Stadt, in der die reisende Ehefrau zunächst absteigt, ist deutlich als Übergangsraum zwischen beiden Haupträumen dargestellt: Hier kommt die Ehefrau zusammen mit zehn Dienern von Schwaben aus an, schickt diese Diener wieder heim und stattet sich mit zwölf neuen Dienern aus; hier verwandelt sich die Dame in den Ritter ‚Heinrich‘ und bricht mit neuer Identität nach Brabant auf: „do di vrowe wol getan / bereit wart und ir har ab geschrit, / mit den knehten si do schit / von dem wirte in mannes wat: / we wi wol ir das stat! si reit hin gegen Pravant“ (VV 492‒497; „Als die wunderschöne Dame sich bereit gemacht und ihr Haar abgeschnitten hatte, verließ sie zusammen mit den Dienern den Wirt in männlicher Aufmachung: Hei, wie gut ihr das stand! Sie ritt nach Brabant“).
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gen auf; und die Rückkehr nach Schwaben präsentiert sich zwar als Wiederaufbau des vollkommenen, höfischen Raumes vom Anfang der Erzählung, setzt aber auch ein starkes Ironiesignal (die 100 Jahre glücklichen Zusammenlebens). Auch der erzählte Raum präsentiert also den Aufbau höfischer Räume als fragwürdig, bedroht, zwischenzeitig und dynamisch, sprich: als virtuell. Dieser wiederholte Aufbau höfischer Räume, ihre Störungen, Zerstörungen und ihr (veränderter) Wiederaufbau soll nun im Einzelnen dargestellt werden. Der erzählte Raum „Schwaben“30 teilt sich weiter auf in zwei Haupträume, die beide in gewisser Hinsicht einen idealen höfischen Raum darstellen: das Ehebett und der Minnegarten. Der Raum „Ehebett“ führt die beiden Hauptpersonen eng, die in der Personeneinführung zuvor als Memorialbilder höfischer Vortrefflichkeit vorgestellt werden. Die Personeneinführung beginnt mit Konrad: Ez was ein ritter lobelich, mit hubscheit tugende rich, der was Conrat genant, in alten ziten wol erkant von rittern und von vrowen. man mohte in dicke schowen zu hove mit den besten; dem gesinde und den gesten tet er dicke libes vil. dar umbe ich von im schriben wil. (VV 11‒20)
Es gab einmal einen preisenswerten Ritter, der voller höfischer Tugendhaftigkeit war und der Konrad genannt wurde. Er war in alten Zeiten bestens bekannt bei Rittern und Damen und man konnte ihn oft am Hof mit den Vortrefflichen sehen. Dem Hofgesinde und den Fremden war er ein guter Freund. Deswegen werde ich von ihm erzählen.
Mit den Begriffen „hubscheit“ und „tugent“ wird Konrad schon im zweiten Vers mit den beiden zentralen höfischen Begriffen des Prologs verknüpft, die „alten ziten“, in die er historisch verortet wird, greifen der laudatio temporis acti des Epilogs vorweg und machen Konrad auch in dessen Licht zu einer ungetrübt positiven höfischen Figur. Auch inhaltlich bestätigt sich dieses Bild: Konrad ist „zu hove“ bestens bekannt, und seine soziale Stellung wird vom Erzähler (der hier in der Rolle des Dichters spricht) als Begründung angeführt, sich seiner zu erinnern. In der weiteren Personeneinführung des Ritters wird diese Erinnerungsfunktion der Figur weiter ausgebaut, und der höfische Raum wird mit seinen zentralen Momenten Frauendienst, Ehre, Kampf und Turnier an den lip der Erinnerungsfigur gebunden:
30 Der Raum des ersten Handlungsteils kann erst aus der Retrospektive so benannt werden (vgl. V 541, V 818), er bleibt zu Beginn anonym.
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er hete einen stolzen site, daz lop behilt er da mite. er bancte dicke den lip durch rum und durch schone wip. man mohte in dicke schowen, stechen unde howen, uf dem plan schalliren, ritterlich turniren durch der eren gitikeit: er was ein ritter vil gemeit. (VV 21‒30)
Er hatte eine herrschaftliche Art, wodurch er seinen Ruhm festigte. Er trainierte seinen Körper hart um Ansehen und um der schönen Damen willen. Man konnte ihn sehr oft beim Hauen und Stechen sehen, wie er sich auf dem Platz produzierte und beim ritterlichen Turnier im Streben nach Ehre: Er war ein vortrefflicher Ritter.
Mit dieser Personeneinführung erscheint Konrad als umfassend ehrenvoller Ritter, dessen männliche höfescheit für alle Personen des Hofes sichtbar ist an seinem lip, ein Memorialbild männlicher Vollkommenheit nach den Kategorien sowohl des Prologs als auch des Epilogs. Die anschließende, noch sehr viel umfangreichere Einführung der Ehefrau Konrads verfährt nach analogem Muster: Ihr lip wird umfassend in seinen Einzelteilen geschildert und mit höfischer Bedeutung aufgeladen; dies erfolgt inhaltlich freilich topisch31 – doch topisch auch im Wortsinne: Der lip der höfischen Dame, die, wie auch der Ritter, einführend „mit ganzen tugenden“ (V 32; „mit allen Tugenden“) verknüpft wird, wird in Orte aufgeteilt, die – teils mehrfach und wiederholend – mit Motiven und Bedeutungen versehen werden (der Übersicht halber fasse ich anstelle der Übersetzung diese Codierung zusammen): we wi stolz was ir lip, ir houpt, dar uf gelwez har, stolz ir wengel rosenvar und lilienwiz darunder! mich nimet michel wunder, daz ir ougen sint so clar: si sihet reht sam ein adelar. ir wol geschaffen nasebein was zu groß noch zu clein, ir munt dar under rosenrot, (wi selic, dem si ir kussen bot!)
Körper: stolz Kopf mit gelbem Haar: stolz rot-weiße Wangenpartie: stolz, Rose, Lilie
glänzende Augen: Adler Nase: mâze roter Mund: Küsse, Rose
31 Vgl. Tax 2005, S. 50: „Es handelt sich bei dieser descriptio pulchritudinis um den Typ ‚vom Scheitel bis zur Sohle‘“. Vgl. auch Schirmer 1969, S. 16, der den weiblichen Schönheitspreis im Gürtel mit der Frauentreue vergleicht: „Es ist eine starre, unbewegliche Schönheit, die etwas Statuenhaftes an sich hat. Die Schablonenhaftigkeit der Zeichnung äußert sich vor allem da, daß die einzelnen Partien des Gesichts und des Körpers, dazu die Gliedmaßen, in bestimmter Reihenfolge aufgezählt, mit den gleichen Epitheta und nur wenig variierten Metaphern belegt werden“.
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ir kinne wiz sinewel, ir kel was ein luter vel, da durch sach man des wines swanc, swenne di schone vrowe tranc. ir zene sam ein helfenbein, ir zunge sam ein guldin zein, ir achsel vil suberlich, ir hende, ir arm ritterlich stunden ir zu wunsche wol. ir herze daz was tugende vol. swer ir an ir ougen sach, dem tet ir minne ungemach. ir lip der was gewollen zu wunsche wol envollen. (VV 36‒60)
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weißes Kinn: rund Kehle mit durchsichtiger Haut: Weintrinken
Zähne: Elfenbein Zunge: goldener Pfeil32 Schultern: sûber Hände und Arme: was einem Ritter zukommt Herz: tugent Augen: Minneleid Körper: vollkommen wunschgemäß
Der solchermaßen als Memorialbild aufbereitete lip33 dient jedoch nicht der Erinnerung an viele, schwer zu behaltende Inhalte – auch hier wieder bedient sich die höfische Dichtung nur sporadisch aus dem Memorialdiskurs, ohne auch grundsätzliche Prinzipien mit übernehmen zu müssen –, sondern bietet eine Erinnerungsfigur, die einzig die höfische Minne in ihren Facetten repräsentiert: Gewalthafte Assoziationen der Minne wie der Pfeil, Jagd (Adler) und (über die Augen damit eng verbunden) Minneleid stehen neben höfischen Werten und geselligen Assoziationen wie Küsse, die wunschgemäßen Hände und Arme und das Weintrinken, das die Ehefrau wenig später mit dem Minneritter praktizieren wird (vgl. VV 173‒181). Auch die Farbgebung der Ehefrau gestaltet sie als Memorialfigur der Minne: Weiß, die Farbe der Hoffnung auf Minne und der (durch die Lilie evozierten) Jungfräulichkeit, ist bei ihr dominant gesetzt, freilich dicht gefolgt von der roten Farbe der Minneglut; eingerahmt ist die Farbenschilderung der Dame von Gelb bzw. Gold, was Minnelohn verspricht.34
Jungfräulichkeit wird noch durch einen „stein / der was clar unde rein“ (VV 61f.; „Stein, der glänzend und ungetrübt war“) unterhalb ihres Gürtels dominant gesetzt, wonach noch eine Schilderung ihrer hovelichen Beine und Füße und ihre ritterlichen Schuhe den Schönheitspreis – eigentlich – abschließt (VV 66‒68). Doch der Erzähler überbietet dies noch – bei der topischen Knappheit der Mären erstaunlich genug – und verleiht dem weiblichen Minnekörper eine räumlich 32 Vgl. Art. zein. In: Lexer (1992), Bd. III, Sp. 1050. 33 Zur Topik der Schönheitsschilderung vgl. Tervooren 1988. 34 Wagner 2011, S. 552.
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weit ausgreifende Wirkung, die das Potenzial hat, tendenziell die gesamte Schöpfung höfisch zu verwandeln: daz hus, da si inne lac, daz schein des nahtes als der tac. noch enwil ich niht verdagen, ich enwelle von ir gute sagen: ir gute was so suzze, und weren ir die fuzze komen in des meres flut, daz mer daz were worden gut von iren fuzzen reinen unde von ir wizzen beinen. wir suln der fuzze swigen, ir gute solde nigen beide vogel unde tir, berc, walt sol nigen ir. (VV 69‒82)
Das Haus, in dem sie lag, das erstrahlte in der Nacht wie am hellen Tage. Ich möchte noch nicht schweigen, bevor ich nicht von ihrer Gutheit gesprochen habe: Ihre Gutheit war dermaßen süß, dass, wenn ihre Füße in das Meer gelangt wären, das Meer süß geworden wäre durch ihre reinen Füße und durch ihre weißen Beine. Wir werden von ihren Füßen schweigen. Vor ihrer Gutheit sollen sich sowohl Vögel als auch Tiere verneigen, auch Berg und Wald sollen sich verneigen.
Die Verwandlungskraft der Dame beginnt bei dem Haus, das sie beherbergt – signifikanterweise liegt sie: die Dame fungiert konsequent als Minnememorandum. Ihre Füße verwandeln das Meer in Süßwasser, und Vögel, Getier, Berg und Wald sollen sich vor ihrer Vortrefflichkeit verneigen; angesichts des Körpers der Dame wird gerade auch der Raum höfisiert, der als topisch unhöfisch, als wilde konnotiert ist. Mit dem zweiten Teil der Personeneinführung erscheint die Dame als umfassend minneclîche Dame, deren weibliche höfescheit für tendenziell die gesamte Schöpfung an ihrem lîp wirkmächtig ist, ein Memorialbild weiblicher Vollkommenheit. Mit der Personeneinführung werden Ritter und Dame also als komplementäre Memorialbilder aufbereitet (nicht im Sinne der ars memorativa differenziert, aber mit ihren Mitteln intensiviert), die die höfische Norm bzw. Beschreibung des Prologs erfüllen und deren Rollenaufteilung die höfische Differenzierung des Epilogs vorwegnimmt. Der Erzähler legt nun anschließend, zum Beginn der eigentlichen Handlung, gleichsam diese beiden Memorialbilder nebeneinander in das Ehebett (im memorativen Sinn der Einstellung signifikanter Bildmotive in einen Raum) und komponiert so den ersten Handlungsraum der ersten Texthälfte: In den meien wunneclich, do di vogel vrolich sungen mit der nahtigal, do lac di vrowe in einem sal bi dem ritter lobelich,
Im Wonnemonat Mai, als die Vögel zusammen mit der Nachtigall fröhlich sangen, da lag die Dame in einem Saal neben dem vortrefflichen Ritter
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den si hete elich, gegen tage nach ir minne. er nam si bi ir kinne unde kuste si an iren munt. (VV 93‒101)
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(mit dem sie verheiratet war) bei Tagesanbruch nach ihrem Liebesspiel. Er nahm sie bei ihrem Kinn und küsste sie auf ihren Mund.
Bedenkt man die potenziell die gesamte Schöpfung vereinnahmende höfescheit vor allem der Dame, so bildet der Erzähler hier einen Memorialraum höfischer Vortrefflichkeit, der über sein Zentrum – das Ehebett, in dem Ritter neben Dame abgelegt sind – bestimmt ist und nicht über äußere Grenzen. Für die erzählte Welt ist dieser höfische Raum umfassend, im Gegensatz zum deutlich über Exklusion erzeugten höfischen Raum des Prologs wenige Verse zuvor. Die Erzählung setzt damit eine Utopie eines höfischen Raumes an ihren Anfang, der zugleich (potenziell) allumfassend ist als auch an einer Raumstelle enggeführt werden kann. Doch auch diese Dichtung ist offensichtlich nicht an dem Aufbau dauerhafter, idealer Räume interessiert: Der potenziell allumfassende, höfische Raum des Ehebetts, der in seiner Rollenverteilung den Epilog vorwegholt, entpuppt sich als virtueller Raum, dessen Existenz auf die Anwesenheit seiner Kommunikanten und auf die Dauer von deren Liebeskommunikation (Minnen, Nebeneinanderliegen, Küssen) beschränkt ist. Schon das am Liebesakt anschließende Gespräch läutet die Auflösung des virtuellen Raumes ein, denn Konrad beklagt sich darüber, dass er zwar in der Fremde, nicht aber in der Nähe Ehre erlangt hätte: ich bin hugelich gevaren durch manic rich, daz ich pris han bejaget. in disem lande niman saget, daz ich si vermezzen, min ist hi gar vergezzen. durch daz so wil ich schire hi haben di turnire nahen in zwein milen: dar zu so wil ich ilen. (VV 111‒120)
Ich bin fröhlich durch viele Reiche gereist und habe dort Ruhm errungen. In diesem Land aber sagt niemand, dass ich kühn bin, ich bin hier überhaupt nicht berühmt. Deswegen möchte ich möglichst bald hier, innerhalb von zwei Meilen, Turniere bestreiten: Dorthin werde ich eilen.
Gerade „hi“ besitzt Konrad keine Ehre, und der höfische Raum, der eben noch durch sein gedoppeltes Zentrum positiv bestimmt war (und über den Körper der Dame sogar eine zentripetale, höfisierende Kraft besaß), ist in seinem Zentrum höfisch fragwürdig geworden: Konrad ist zwar nach wie vor ein vortrefflicher Ritter, aber nur in der Peripherie, nicht „hier“. Mit der Abreise Konrads, räumlich markiert mit dem Vers „hin wec so reit der degen“ (V 132; „der Krieger ritt fort“), ist der Raum „Ehebett“ nicht mehr existent.
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Abgelöst wird der Raum „Ehebett“ durch den Raum „Minnegarten“,35 der ab der nächsten Zeile kommuniziert wird: Als des tages veste was an der sunnen gleste halber vergangen, di vrowe was gegangen in einen garten durch gemach. durch den zun si gesach einen ritter der da fur reit. der was stolz und gemeit (VV 133‒140)
Als der Tag mit seinem Sonnenschein halb vergangen war, hatte sich die Dame in einen Garten begeben um zu ruhen. Durch den Zaun sah sie einen Ritter, der heranritt. Der war stattlich und schön.
Der fremde Ritter erhält mit den Begriffen „stolz“ und „gemeit“ die exakt gleichen Epitheta wie Konrad bei seiner Personeneinführung und nimmt damit die Leerstelle ein, die Konrads Wegreiten hinterlassen hat. Der Minnegarten ist sowohl durch seine äußeren Grenzen – den Zaun – als auch durch sein Zentrum – das Minnepaar – bestimmt, und der Text nimmt sich viel Zeit, den Raum aufzubauen. Der Zaun trennt den Ritter noch von der Dame, als er sie sieht und in Minne zu ihr entbrennt und in einer ausführlichen Choreographie langsam mit ihr räumlich zusammengeführt wird: er enbrante an ir minne […]. in sin ors sluc er di sporn. er ilte gegen des gartens tur. do er do komen was dar fur, zu der erde er do spranc, daz ors er mit dem zoume twanc an eines boumes veste. da bi an zwene este bant er di wintstricke. er ginc zu einem ricke in den garten wol gemut: dar uf warf er den habich gut. di vrowe im engegen ginc, gutlich si in enpfinc. (VV 151‒165)
Er entbrannte an ihrer Minne. Er schlug seinen Sporen in sein Pferd. Er eilte zur Gartentür. Als er dorthin gekommen war, sprang er auf den Boden und band das Ross am Zaumzeug an einen Baumstamm. Daneben band er die Windhunde an zwei Äste. Er ging fröhlich zu einem Jagdvogelgestell im Garten: Darauf setzte er den vortrefflichen Habicht. Die Dame ging ihm entgegen und empfing ihn freundlich.
Nach der recht aufwändigen Inszenierung der Grenzüberschreitung wird der Minnegarten mit den höfischen Tieren36 höfisch eingerichtet, wobei der Ritter 35 Zur Topik des Minnegartens in der Märendichtung vgl. Schirmer 1969, S. 253. Zur Tageliedsituation der Szene vgl. Ortmann/Ragotzky 1999, S. 75. 36 Vgl. Ortmann/Ragotzky 1999, S. 72.
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sowohl den Tieren als auch der Natur gegenüber zuht ausübt: Das Ross wird an einen Baumstamm angebunden, die Windhunde an Äste desselben Baumes, der Habicht in ein dafür bereitstehendes Gestell gesetzt; die Zusammenführung der beiden Körper auf halbem Wege schließt den Aufbau des Raumes ab. Sein Zentrum – das Minnepaar im Liebesakt – überschreibt nicht nur das Memorialbild des Raumes „Ehebett“, sondern wird darüber hinaus auch auffällig als musikalischer Raum inszeniert: di boum begonden krachen, di rosen sere lachen, di voglin von den sachen begonden done machen, do di vrowe nider seic und der ritter nach neic. von der rehten minne gruz wart dem ritter sorgen buz. vil rosen uz dem grase ginc, do lip mit armen lip enpfinc. do daz spil ergangen was, do lahten blumen unde gras. (VV 345‒356)
Die Bäume krachten, die Rosen lachten heftig, die Vögel lärmten wegen dieser Geschehnisse, als die Dame niedersank und der Ritter sich über sie beugte. Vom Gruß der richtigen Minne wurde der Ritter sorgenfrei. Viele Rosen gingen37 aus dem Rasen, als Leib und Leib sich umarmten. Als das Spiel zu Ende war, da lachten Blumen und Gras.
Es drängt sich die Frage auf, ob dieser musikalische Raum harmonisch oder unharmonisch aufgebaut wird, ob er also die göttliche Schöpfungsordnung positiv oder negativ spiegelt. Text („krachen“ neben „lachen“) und Tradition (Minne neben Ehe)38 geben Ansatzpunkte für beide Lesarten, wie auch die Forschung widerspiegelt; so schreiben Christa Ortmann und Hedda Ragotzky: Der Garten wird zum paradiesischen Ort, an dem Blumen, Bäume und Vögel als Repräsentanten der Schöpfung bestätigen, daß hier der rehten minne gruz (351) ergeht. Die Schöpfung verneigt sich vor diesem Geschehen wie vor der gute der Dame.39
37 Ich wähle den offenen Ausdruck „aus dem Gras gehen“, da damit sowohl ein gewaltsamer Akt (ausreißen) als auch ein natürlicher Vorgang (wachsen) bezeichnet sein kann – zwei Lesarten, die der Text auch hier wieder der Ausgestaltung durch einen historischen Erzähler anbietet, vgl. auch u., Anm. 43. 38 Vgl. zu dieser Spannung des Märes grundsätzlich Ortmann/Ragotzky 1999. 39 Ortmann/Ragotzky 1999, S. 76, vgl. auch Klingner 2012, S. 178. Etwas bodenständiger, doch im Grundverständnis gleich, fasst die Übersetzung Wolfgang Spiewoks den Zusammenhang zwischen Natur und Minnepaar: „Der Ritter reichte ihr den Gürtel, und dann – ihr könnt’s glauben oder nicht – ließ sich die Burgherrin auf den Rasen sinken und zog den Ritter zu sich herab, während die Bäume kräftig rauschten, die Rosen frohlockten und die Vöglein einen fröhlichen Sang anstimmten. Als die schöne Frau den Ritter mit ihrer Liebe beglückte, erhoben sich ringsum aus dem Rasen rote Rosen, um die Liebenden vor Späherblicken zu schützen, und als
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In einer früheren Untersuchung zum Gürtel habe ich dieser Lesart widersprochen, „da sich Blumen, Bäume und Vögel nicht etwa als Repräsentanten der Schöpfung vor der Minnehandlung verneigen, sondern durch die Intensität des Geschehens entwurzelt oder doch zum Wanken gebracht werden bzw. lauthals lamentieren; wo die Dame minnt, wächst kein Gras mehr“.40 Der Text selbst ermöglicht aber beide Lesarten, da er zum einen die „done“ der Vögel auffallend ohne Epitheton lässt – sie machen nicht etwa sueze done, auch wenn alle bisherigen Übersetzer des Textes die done mehr oder weniger emphatisch positiv qualifizieren;41 zum anderen ist das Lachen der Rosen und des Grases mehrdeutig, eine von der Haltung nicht näher bestimmte autopoietische Spiegelung möglicher Publikumsreaktionen: Wird fröhlich gelacht angesichts der höfescheit der Minneszenerie? Wird gelacht angesichts der Umschreibung des Sexualaktes? Wird über den gehörnten Ehemann gelacht? Oder über den doch noch erfolgreichen Minnehandel, über die Käuflichkeit der Ehefrau? Schließlich ist auch unklar, ob die Rosen angesichts des Minneaktes einen plötzlichen Wachstumsschub erhalten oder aber von dem kopulierenden Paar schlicht ausgerissen werden.42 Für einen historischen Erzähler ergibt sich hier die Möglichkeit, einen idealen Minneraum zu erzeugen (wenn das Publikum mitspielt), aber auch die Möglichkeit, diese Idealität ironisch zu brechen. Doch wie auch immer er diesen zweiten Raum „Minnegarten“ aufbaut, analog zum Raum „Ehebett“ kündigt sich schon in der nächsten Zeile nach dem Beischlaf die Auflösung des Raumes an („Do der ritter urloup nam“, V 357; „als der Ritter sich verabschiedet hatte“), und der Ritter verlässt analog zum Ehemann die Dame: di vrowe kuste in minneclich: do schit er dannen truriclich. (VV 377f.)
Die Dame küsste ihn minnevoll: Da ritt er traurig weg.
Auch wenn trotz aller Störungen ein Minneraum hätte aufgebaut werden können, der in seiner idealen Rollenverteilung den idealen höfischen Raum des Epilogs vorweggenommen hätte, spätestens hier entpuppt sich die Idealität als trügerisch, und auch der Minnegarten präsentiert sich dem Publikum (wie zuvor der zwischenzeitig ideale Raum „Ehebett“) in virtueller Fragwürdigkeit: Der Minneder Liebessturm verrauscht war, hörte man Blumen und Grashalme fröhlich kichern“ (Altdeutsches Decamerone 1982, S. 515). 40 Wagner 2008b, S. 152. 41 „Die Nachtigall sang ihre schönsten Lieder zu dieser Trauung als Choral“ (Zoozmann 1921, S. 18); „alles Waldgefieder sang fröhlich süße Lieder“ (Altdeutsche Minnemären 1924, S. 39); „die Vöglein [stimmten] einen fröhlichen Sang [an]“ (Altdeutsches Decamerone 1982, S. 515). 42 ûz gân kann ausgehen oder herausgehen bedeuten, vgl. dazu die Bedeutungsmöglichkeiten von gân in Benecke/Müller/Zarncke 1854‒1861, Art. gange, Bd. 1, S. 462‒468, v. a. S. 468.
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ritter verabschiedet sich „truriclich“ von der Dame, die ihm gerade den Minnelohn gewährt hat – von den an den Minnelohn gebundenen Glücksversprechungen des Epilogs ist hier nichts zu spüren. In dem ersten Hauptraum der Erzählung Schwaben werden damit nacheinander zwei Räume kommuniziert, die die Virtualität des erzählten Raumes deutlich vorführen: Beide Räume könnten nach den Kategorien des Erzählraumes, die in Prolog und Epilog ausgeführt werden, ideale höfische Räume sein, doch beide Räume erweisen sich als defizitär; mehr noch: beide Räume werden aufgelöst, direkt nachdem in ihrem jeweiligen Zentrum ein Memorialbild höfischer Idealität geschaffen wurde; und diese Auflösung ist beide Male nicht durch einen Eingriff von außen bedingt, sondern wird von den Kommunikanten des jeweiligen Raumes selbst ausgeführt. Das Aufbrechen von Unidealität in den potenziell idealen höfischen Raum (Konrad kommuniziert, dass er gerade hier keine Ehre besitzt, der Minneritter kommuniziert, dass er durch den Minnelohn keinen hohen muot erlangt hat) wird komplettiert durch die Abreise des jeweiligen Kommunikationspartners der Dame. Effekt ist, dass die Dame für zwei Jahre alleine in Schwaben zurückbleibt, eine bemerkenswerte Fermate des zu gänzlicher Unidealität verwandelten defizitären Memorialbildes: Di vrowe di was zwei jar an iren herren, daz ist war (VV 413f.)
Die Dame war zwei Jahre lang ohne ihren Herrn, das ist wahr.
Mit dem Aufbruch der Dame ist der höfische Raum „Schwaben“ entleert und – vorerst – nicht mehr existent. Mit dem defizitären Memorialbild „Dame“ aber geschieht nun etwas Ähnliches, wie mit den 80 trauernden Witwen im Erec: Es wird zu einem beweglichen Memorialbild, das nicht in den erzählten Raum eingestellt wird, sondern diesen durchwandern kann.43 Zu diesem Zweck wird das Bild der Dame angereichert mit den höfischen Tieren und dem Gürtel: do do zu der selben vart di vrowe gar bereit wart, den habich nam si uf di hant, di winde an zwei wintbant, den borten gurte si umbe sich, ir ros truc si vrolich.
Als sich die Dame zu dieser Reise vollständig vorbereitet hatte, nahm sie den Habicht auf die Hand und die Windhunde an zwei Hundeleinen, den Gürtel band sie sich um und ihr Ross trug sie mit Freuden.
43 Schon seit dem 10. Jahrhundert dient der menschliche Köper als Memorialbild für etwa Verwandtschaftsverhältnisse (vgl. Bogen 2006, S. 63). Katharina Philipowski führt anhand des Willehalm vor, wie epische Figuren zu Memorialbildern werden, die die mit ihnen transportierte Erinnerung durch den erzählten Raum bewegen können, vgl. Philipowski 2003, S. 149f.
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mit zehen knehten si do reit von huse, si was wol gemeit. (VV 435‒442)
Mit zehn Dienern ritt sie von zu Hause fort und war dabei sehr vergnügt.
Aus dem Erinnerungsträger „Dame“ wird mit Habicht, Hunden, Gürtel und Pferd ein komplexes Memorialbild, das assoziativ und facettiert höfescheit erinnert (etwa: Habicht=Beizjagd, Windhunde=Wildjagd, Gürtel=Minne,44 Pferd=Ritterschaft, Diener=Herrschaft), eine höfescheit, die in Schwaben weder in der Form herrschaftlicher Ehe noch höfischer Minne mehr existent ist. Doch nicht nur das: Der Leib der Dame wird allmählich überformt in den Ritter Heinrich,45 so dass sie im Weiteren nicht nur die fragwürdig gewordene höfescheit an ihrem Leib bindet und erinnert, sondern auch die komplementäre Einheit von Mann und Frau, die mit den beiden Räumen Schwabens aufgelöst worden war und die im Epilog die Grundlage für die Verheißung eines höfischen Raumes werden wird. Das wandelnde Memorialbild „Dame“ hält die Erinnerung an den idealen höfischen Raum „Schwaben“ aufrecht, bis dieser wieder ganz am Ende des Märes hergestellt werden wird. Es bleibt dabei nicht bei den vagen, assoziativen Bedeutungen der einzelnen Motive, sondern diese werden am höfischen Raum „Brabant“ (der sich in die höfischen Räume Festmahl, Jagd und Turnier aufteilt) differenziert mit Bedeutung aufgeladen bzw. in ihrer Bedeutungsfunktion bestätigt: Beim Festmahl tritt „di vrowe in ritters wat“ (V 519; „die Dame im ritterlichen Gewand“) mit ihrem Gefolge bestimmend in den Raum („Di burc wart uf geslozzen, / si quamen in gedozzen“, VV 517f.; „die Burg wurde geöffnet, da kamen sie her44 In einer vorausgehenden Studie habe ich den Gürtel auf seine vor allem auf Farb- und Zahlensymbolik beruhende Bedeutung untersucht und ihn als Realsymbol der Minne in ihrer ganzen Bedeutungsvielfalt begriffen (vgl. Wagner 2011). Die von mir herausgearbeitete Polysemantik im Bedeutungsfeld minne ist dabei durchaus kompatibel mit Susanne Reichlins Ansicht, dass der Gürtel zunehmend als Bedeutungsträger einer bestimmten Bedeutung dysfunktional wird (vgl. Reichlin 2008, S. 188f.). Reichlin berücksichtigt allerdings lediglich den Gebrauch der Requisite im Text, nicht aber ihren symbolischen Aufbau, der ihn als Minnesymbol ausweist. 45 Susanne Reichlin hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass der Leib der Dame mit einer ausführlichen descriptio be-schrieben wird, die sich formal am Leib „Ritter Heinrichs“ wiederholt; dabei präsentiert der Text eine doppelte Lesart des Figurenkörpers, die eine hintereinander geschaltete Analogie zu den hier aufgeführten mehrfachen Lesarten darstellt: „Aber diese eher traditionelle Erzählerrolle, nämlich die des begehrenden Mannes, verändert sich im zweiten Teil des Märes entscheidend: Denn nun beschreibt der Erzähler nicht mehr eine Frau, sondern einen Mann bzw. eine als Mann verkleidete Frau. Er wiederholt dabei fast wörtlich die Erzählereinwürfe, die innerhalb der ersten Schönheitsbeschreibung als topische Bekundungen eines heterosexuellen Begehrens erschienen. Im zweiten Teil verweisen diese Erzählereinwürfe nicht auf ein homosexuelles Begehren, sondern machen die Interdependenz von Beschriebenem und Beschreibendem sichtbar. Während die Figur Ehefrau/Heinrich immer wieder neu entworfen wird, ‚refiguriert‘ sich auch die entwerfende Erzählerstimme“ (Reichlin 2008, S. 188).
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eingerauscht“), der aber trotz ihrer prächtigen Gesamtaufmachung in erster Linie von ihrem Gürtel erfüllt wird: dannoch gap der borte schin den si furte umbe sich. […] si mohte in der ritter schar schinen mit den besten. (VV 524‒529)
Dennoch glänzte der Gürtel, den sie um hatte. Sie konnte in der Schar der Ritter mit den Besten erstrahlen.
Der dominant gesetzte Gürtel wird insofern seiner Erinnerungsfunktion an einen breiten Minnebegriff gerecht, als beim Festmahl die Dame in der Gestalt ‚Heinrichs‘ mit Konrad ein Treuebündnis eingeht, das in Schwaben aufgelöst worden war; die Erinnerung an den Raum „Schwaben“46 wird in der Kommunikation zwischen Konrad und ‚Heinrich‘ engstens an das (neue) Treuebündnis gekoppelt, der verlassene und verlorene Raum ist geradezu die Grundlage der neuen minne, wie der Verweis Konrads auf die gemeinsame Existenz in der vremde belegt: si wart gesetzet zu ir man. si erkande in, er sach si an, er sprach: herre, saget mir, von welchem lande komet ir? si sprach: ich kom von Swabenlant. […] do sprach her Conrat: ir und ich sin hi vremde geste; wir sullen machen veste unser zweier vruntschaft: daz hilft uns an der ritterschaft. Her Heinrich sprach: daz sol sin, liber geselle min. sint mahten si nuwe ir vil alte truwe. (VV 537‒554)
Sie wurde neben ihren Mann gesetzt. Sie erkannte ihn, er sah sie an und sprach: Herr, sagt mir, woher kommt Ihr? Sie sagte: Ich komme aus Schwaben. Da sagte Herr Konrad: Ihr und ich sind hier beide fremd. Wir sollten unsere Freundschaft festigen: Das wird unserer Ritterschaft zum Vorteil gereichen. Herr Heinrich sagte: So soll es sein, mein lieber Freund. Daraufhin erneuerten sie ihre sehr alte Treue.
Bei der direkt anschließenden Jagd – der zweite der höfischen Räume Brabants – werden nacheinander die Windhunde bei der Bärenjagd, der Habicht bei der Vogeljagd und das Pferd beim herrschaftlichen Heimritt als unübertreffliche, höfische Tiere vorgeführt, für die der Herzog von Brabant vergeblich große Geldsummen bietet. Beim Turnier wird das Memorialbild „Dame“ als Ganzes bestätigt und ‚Heinrich‘ kann im Sieg über den Briten nicht nur ‚seine‘ Ritterlichkeit und ‚seine‘ 46 Erst hier, in der Erinnerung an den verlorenen Raum, wird dieser als Schwaben bezeichnet und gewinnt seine Identität.
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Die virtuellen Haupträume und ihre Veränderung im Akt des Erzählens
(Minne-)Treue gegenüber Konrad unter Beweis stellen,47 sondern ‚er‘ erlangt auch dasjenige, was im scheinbar idealen höfischen Raum Schwaben als Defizit aufgebrochen war: das Erringen von Ehre im Turnier. Das komplexe Memorialbild „Dame“ wird mit den Erinnerungsinhalten, die es in der Engführung mit Brabant bestätigen und neu erhalten kann, zunehmend zu einem Idealmodell des verlassenen höfischen Raumes „Schwaben“ und zugleich zu einer Vorwegnahme des scheinbar idealen höfischen Raumes „Schwaben“, der am Ende des Märes im Ausblick wieder kommuniziert wird. Das Memorialbild „Dame“ weist damit Analogien zu den virtuellen Gedächtnisräumen im Iwein auf: Wie der Quellenraum48 dient das Memorialbild „Dame“ auch als Gedächtnisspeicher für die gesamte Geschichte (vor allem auch über den Gürtel, den sie trägt);49 doch es muss nicht immer wieder von Personen aufgesucht werden, sondern bewegt sich in der Form einer Person selbst durch das Geschehen und schreibt sich mehr und mehr Handlungsmomente ein. Und wie beim Torverlies50 kann das Memorialbild „Dame“ nicht nur Vergangenes, sondern auch Zukünftiges vergegenwärtigen. Konkret ist dieses Zukünftige das Schwaben des Endes der Erzählung. Nach der Versöhnung (auf deren merkwürdige Raumstruktur noch eingegangen werden wird) stattet die Dame ihren Ehemann mit allem aus, was sie als wandelndes Memorialbild an Bedeutung aufgesammelt hat: nu nim den habich und daz ros, du enwirdest nimmer sigelos, den borten und di hunde. zu der selben stunde furen si vil vrolich hin heim in Swabenrich. si pflagen zuht und ere liplich immer mere, si lebten an alle sorgen, beide abent unde morgen, unz an ir beider ende an alle missewende dar nach wol hundert jar: daz ist sicherlichen war. (VV 813‒826)
Nun nimm den Habicht und das Ross (du wirst niemals wieder unterliegen), den Gürtel und die Hunde. Zu dieser Stunde reisten sie sehr fröhlich wieder heim ins Reich der Schwaben. Sie lebten anständig und ehrenvoll ihr Leben lang, sie lebten ohne jede Sorge die ganze Zeit bis an ihr gemeinsames Ende, sie lebten ohne Unglück danach wohl noch hundert Jahre weiter: Das ist mit Sicherheit wahr.
47 Der Gürtel kommt hier zumindest implizit in ähnlicher Ausrichtung im Vergleich zur Ausstattung des Briten symbolisch zum Tragen, vgl. Wagner 2011, S. 557. 48 Vgl. Kap. 3.2.2.1. 49 Vgl. dazu ausführlich Wagner 2011. 50 Vgl. Kap. 3.2.2.2.
Arbeit an Utopia: Der höfische Erzählraum des Gürtels
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In gewisser Hinsicht ist auch der Sieg, den die Dame als ‚Heinrich‘ über den Briten errungen hat, Teil der Gaben an Konrad, wie die Verheißung der siegreichen Zukunft Konrads belegt. Wie zu Beginn der Erzählung werden die Dame und der Ritter wieder zusammengefügt und in Schwaben verortet, nur dass das neu entstehende Memorialbild nun noch zusätzlich mit den höfischen Tieren, dem Gürtel und der Verheißung des Turniersieges ausgestattet ist. Der hier neu entstehende Raum Schwaben wird als idealer höfischer Raum im Sinne des Erzählraumes kommuniziert: „an alle missewende“ lebt das Ehepaar, womit der Erzähler den Zentralbegriff des Prologs aufgreift und im identischen Reimwort das „ende“ des Ehepaares dem „bitter ende“ der aus dem Erzählraum Exkludierten diametral gegenüberstellt. Die Partitur des Textes gibt dem Erzähler darüber hinaus die Möglichkeit, sowohl an einer normativen als auch einer deskriptiven Lesart des Prologs anzuknüpfen: Die zuht des Ehepaares schließt an der entsprechenden impliziten Forderung des Prologs an, während der lange Ausblick auf ihre Zukunft der Zukunftsfunktion der deskriptiven Lesart des Prologs entspricht. Man könnte sagen, dass im erzählten Raum gelingt, was im Erzählraum stets in Frage steht: Der Aufbau eines idealen höfischen Raumes, wenn auch erst im Ausblick der Geschichte. Doch das Ironiesignal der letzten Verse straft diese Lesart Lügen: Gerade die Wahrheitsbeteuerung nach der Behauptung, dass das Ehepaar „wol hundert jar“ durchweg sorgenlos und glücklich gelebt habe, markiert deutlich die Absurdität dieser utopischen Aufblähung eines perfekten höfischen Raumes; dieser kann im erzählten Raum des Gürtels genauso wenig dauerhaft aufrecht erhalten werden wie im Erec oder Tristan,51 und das Märe führt diese Virtualität des höfischen Raumes gerade in der ironischen Emphase seiner Dauerhaftigkeit vor. Die inhaltliche Begründung für dieses ironische Ende der Erzählung findet sich in der insgesamt dritten Kommunikation des zentralen Memorialraumes nach dem Modell Ritter/Dame, der sexuellen Vereinigung von ‚Heinrich‘ und Konrad, analog zum Aufbau der schwäbischen Räume „Ehebett“ und „Minnegarten“: her Heinrich sprach: vil liber man, […] wilt du tun, daz ich wil, ich gibe dir daz vederspil. her Conrat sprach: waz were daz? her Heinrich sprach: nu merket baz. du must dich nider zu mir legen, so wil ich mit dir pflegen aller der minne, der ich von minem sinne
51 Vgl. Kap. 3.7.1. bzw. 3.2.3.
Herr Heinrich sagte: Liebster Mann wenn du das tun willst, was ich will, dann überlasse ich dir den Jagdvogel. Herr Konrad sagte: Was genau wäre das? Herr Heinrich sagte: Passt gut auf: Du musst dich neben mir auf den Boden legen, dann werde ich mit dir alle die Minne treiben,
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Die virtuellen Haupträume und ihre Veränderung im Akt des Erzählens
gedenken und ertrahten kan, darzu, swes ein iglich man mit siner vrowen pfligt, swenne er nahtes bi ir ligt. […] her Heinze hern Conrat uberreit, daz er sich an den rucke leit. (VV 749‒774)
die ich mir nur vorstellen kann, darüber hinaus noch, was auch immer jeder Mann mit seiner Frau macht, wenn er in der Nacht bei ihr liegt. Herr Heinrich ritt Herrn Konrad nieder / überredete ihn, dass er sich auf den Rücken legte.
Der Neuaufbau des zentralen Memorialraumes der Geschichte, der aus den beiden komplementären Erinnerungsbildern Dame und Ritter zusammengesetzt ist, wird signifikanterweise im räumlich nicht näher bestimmten Anderswo, außerhalb des Brabanter Hofes, kommuniziert,52 um letztendlich wieder in Schwaben verortet werden zu können. Dieser Neuaufbau des zentralen Memorialraumes enthält Momente beider Räume Schwabens: Die Handelslogik (Minne gegen ein höfisches Tier) erinnert an den Minnegarten, das Zusammenlegen des Ehepaares an das Ehebett; entsprechend kommuniziert ‚Heinrich‘ den unmittelbar bevorstehenden Beischlaf auch differenziert zunächst als minne, dann aber (deutlich als zweites angehängt durch den Konnektor „darzu“) als dasjenige, „swes ein iglich man / mit siner vrowen pfligt, / swenne er nahtes bi ir ligt“, eine auf eine dauerhafte Ehe-Beziehung verweisende Formulierung. Diese Zusammenführung von Minne- und Ehelogik hätte das Potenzial einer idealen höfischen Utopie (wie sie etwa in den Hartmann’schen Romanen in der Zusammenführung von Ehe und Minne angestrebt wird), doch weist diese Utopie im Gürtel eine zentrale Störung auf: die Minnedame ‚Heinrich‘. Die Dame ist im Laufe der Geschichte zu einem hochkomplexen Erinnerungsbild geworden, das nun einerseits ein vergangenes „Schwaben“ in seiner Doppeldeutigkeit als Minne- und Eheraum erinnert, andererseits auch ein Memorialbild des neuen Raumes „Schwaben“ wird. Der Ort, der Topos des tapferen, ehrenvollen Ritters ist aber damit doppelt besetzt, einerseits durch Konrad, der mit der Übergabe der höfischen Tiere und des Gürtels zumindest in Zukunft vortrefflich sein wird, andererseits aber durch ‚Heinrich‘. Die Behauptung eines idealen höfischen Raumes ist auf dieser Basis nur noch ironisch aussagbar. Auch die Kommunikation dieses virtuellen Raumes offeriert eine mehrfache Lesart, an der sich eine einigermaßen hitzige Forschungsdebatte entzündet hat: die beiden Verse „her Heinze hern Conrat uberreit, / daz er sich an den
52 Die einzige räumliche Bestimmung verweist auf einen unbestimmten Ort in der Nähe einer Stadt: „dar nach niht lange wart, / der herzoge ein hervart / fur gegen einer stat. / her Heinrich und her Conrat / uf eine warte riten“ (VV 705‒709; „Wenig später führte der Herzog einen Kriegszug gegen eine Stadt. Herr Heinrich und Herr Konrad ritten gemeinsam auf einen Erkundungsritt“).
Arbeit an Utopia: Der höfische Erzählraum des Gürtels
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rucke leit.“. Ortmann/Ragotzky verstehen die Szene so, dass ‚Heinrich‘ Konrad niederreitet,53 was Petrus W. Tax kritisiert: Die Form uberreit wird von Ortmann und Ragotzky offensichtlich von uberrîten abgeleitet. Aber wie die mhd. Wörterbücher lehren, bedeutet dieses Zeitwort nicht ‚nieder reiten‘, sondern vielmehr: ‚mit Kavallerie angreifen; nicht wie nhd. zu Boden reiten‘ […]. Es bleibt nicht viel anderes übrig, als die Form uberreit auch als aus uberred(i)t(e) bzw. uberred(e)t(e) zusammengezogen aufzufassen […]. So hat schon die Hs. A es verstanden; über redt (vgl. den Apparat zu v. 773). Die korrekte Übersetzung der Verse 773f. muss also lauten: ‚Herr Heinze (Heinrich) überredete Herrn Konrad dazu, dass er sich auf den Rücken legte‘.54
Im weiteren Verlauf führt Tax aus, dass die Stelle in seiner Lesart als „kleine Parodie der Situation im Buche ‚Genesis‘ [zu verstehen ist], wo Eva Adam zum Essen der Frucht (des Apfels) verleitet; ‚Heinrich‘ erscheint also gewissermaßen als (neue) Eva“.55 Doch die Stelle ist weit entfernt von grammatikalischer und semantischer Eindeutigkeit: Tax unterschlägt schlicht, dass etwa das BMZ unter dem Stichwort „überrîte“ – neben der von Tax aufgeführten Bedeutung56 – auch noch „besiege reitend, besiege im kriege, im kampfe“ und (für die vorliegende Stelle grammatikalisch besonders relevant) „mit acc. d. raumes: drüber hin reiten“57 aufführt; und im Prosalancelot heißt es beim Zweikampf (!) zwischen 53 Vgl. Ortmann/Ragotzky 1999, S. 78. 54 Tax 2005, S. 59. Was bei Tax eher ein Vorschlag ist (er negiert die Möglichkeit einer Herleitung vom Verb uberrîten nicht grundsätzlich), verkrustet sich in der Forschungsdiskussion zunehmend äußerst unschön zu einer scheinbar unumstößlichen Tatsache, die regelmäßig in beleidigender Art und Weise eingesetzt wird. So krönt Eva Willms ihren Verriss des Tagungsbandes „Manlîchiu wîp, wîplîch man“ mit der Kritik: „Wenn es dann noch an Mhd.-Kenntnissen mangelt (uberreit = uberredete; bei Ortmann/Ragotzky ‚niedergeritten‘ als Beleg für ritterliche Überlegenheit der Frau), ist der fachspezifische Beitrag fast schon peinlich“ (Willms 2002, S. 244). Ähnlich aggressiv formuliert Andreas Kirchhoff: „Christa Ortmanns und Hedda Ragotzkys in der Tat katastrophale Übersetzung der präteritalen Verbform überreit als Ableitung vom stv. überrîten (und nicht korrekt swv. überreden) brandmarkt Tax auf S. 59 berechtigterweise, wird doch bei Ortmann/ Ragotzky (S. 78) der Mann dadurch nicht – wie dem Sinn der Geschichte einzig angemessen – von seiner als Ritter Heinrich verkleideten Frau überredet, daz er sich an den rucke leit (V 774), sondern überritten, also quasi niedergemäht!“ (Kirchhoff 2013, S. 423). Denselben Tenor legt auch Classen 2012 an, der insofern das radikalste Beispiel dieser Tradition darstellt, als er sich in seiner Rezension in vielfacher Hinsicht vom Primärtext vollständig verabschiedet und entweder auf sein eigenes, eigenwilliges Gedächtnisexemplar oder auf scheinbare Fakten der Forschung aufbaut, die aber eher durch Emphase als durch Argumente erhärtet werden. 55 Tax 2005, S. 59. 56 Tax zitiert im Übrigen nicht aus den einschlägigen mittelhochdeutschen Wörterbüchern, auf die er nur pauschal verweist, sondern bezieht sich auf „die unmissverständliche Erläuterung von Bartsch-Marti zu ‚Parzival‘, v. 101,27“ (Tax 2005, S. 59). 57 Bennecke/Müller/Zarncke 1854‒1861, Bd. 2, S. 737.
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Die virtuellen Haupträume und ihre Veränderung im Akt des Erzählens
Claudas und Lambegus „er reit uber yn, das er ein lang wil nit wúst wie im geschehen was, ee dann er wúst wie im geschehen were“58, ein klarer Beleg, dass die Formulierung auch in Bezug auf den ritterlichen Zweikampf ohne Kavallerie gebraucht wurde. Der Text bietet meines Erachtens auch hier gezielt eine doppelte Lesart an: Entweder umschreiben die beiden Verse den Sexualakt im homoerotischen und aggressiven Bild eines Ritters, der einen anderen Ritter niederreitet, oder aber sie schildern die an Eva erinnernde Überredungskunst ‚Heinrichs‘, mit anderen Worten: Entweder unterstreichen die Verse die männliche oder aber die weibliche Seite der schillernden Figur ‚Heinrich‘. Auch hier ist es für den historischen Erzähler notwendig, sich zu entscheiden und die gewählte Lesart durch Prosodie und ähnliche Mittel umzusetzen; eine wissenschaftliche Interpretation des Textes kann jedoch herausarbeiten, dass sich in der Doppeldeutigkeit der Stelle, die die Figur ‚Heinrich‘ in diametral unterschiedlichen Lesarten gendert, die Doppelbestimmung der Figur widerspiegelt, und dies gerade an der Stelle, an der ‚Heinrich‘ in die Ehefrau Konrads zurückverwandelt wird (vgl. V 780): Sowohl Ortmann/Ragotzky als auch Tax übersetzen korrekt, gerade weil sie diametral auseinander liegen, ein Paradoxon, das lediglich der Paradoxie der überladenen Memorialfigur Dame/Heinrich entspricht.59
58 Prosalancelot I, S. 284; Hans-Hugo Steinhoff übersetzt: „Claudas überritt ihn, daß er lange nicht wußte, wie ihm geschehen war, ehe er wieder zu sich kam“. Die Formulierung „reit uber yn“ taucht im Prosalancelot noch an zahlreichen weiteren Stellen auf, regelmäßig im Rahmen eines Zweikampfes (vgl. etwa Prosalancelot II, S. 90, Z. 4: „Er reit uber“; Z. 29: „Lancelot reit úber yn“). 59 In letzter Zeit ist das Märe vor allem unter Fragestellungen der Gender- und Queer-Forschung beleuchtet worden. Zentrale Frage hierbei ist, ob es sich bei der Veränderung des Dame zu ‚Heinrich‘ um ein crossdressing oder um ein gendercrossing handelt (zur Diskussion vgl. Blum 1998, Krass 2003, grundsätzlich kritisch Kirchhoff 2013). Ich stimme hierbei Susanne Reichlin zu, die ausführt, dass die Frage, ob die Dame das Geschlecht wechselt, auf Textbasis gerade nicht entschieden wird, sondern auch hier wieder mehrere Lesarten angeboten werden: „Wenn die als Heinrich auftretende Ehefrau in direkter Rede spricht, dann sind ihre auf sie selbst verweisenden Deiktika vieldeutig: Sie verweisen sowohl auf die Figur des Heinrich als auch auf die verkleidete Ehefrau. Besonders deutlich wird dies in den Aussagen, in denen es um das Begehren des/der Sprechenden geht: ich minne gerne di man, / ni dehein wip ich gewan […]. Die Aussage legitimiert […] das Sprechen über Homosexualität, weil die Aussage nur problematisch ist, solange sie von einem Mann geäußert wird. Dabei wird die deiktische Referenz auf etwas Singuläres pluralisiert, so dass sie über die Handlungswelt hinausweist. Denn in der Handlungswelt hat der Rezipient zwei Möglichkeiten: Er kann das ich – je nachdem, ob er die Täuschung durchschaut oder nicht – auf eine Frau oder einen Mann beziehen. Auf der Erzählerebene dagegen entsteht aufgrund der pluralen Deixis nicht nur eine Figurenidentität in ihrem raumzeitlichen Kontext, sondern ein Nebeneinander mehrerer möglicher Gestalten; ‚Figuren‘, die sich je nach dem unterstellten Rezipienten verändern. Dadurch entwirft das Personalpronomen (ich) nicht eine in sich geschlossene
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Mann/Frau, die Differenzierung, die für den Epilog das Zentrum des höfischen Erzählraumes bestimmt, fällt in dem Superzeichen „Heinrich“ zusammen, der/die in gewisser Hinsicht für sich selbst Minnedienst leistet,60 und auch die Differenzierungen des Prologs drohen sich in ihr/ihm aufzulösen: Anstatt wie im Prolog (bei normativer Lesart) eine klare Unterscheidung zwischen Guten und Bösen zu treffen und die Bösen aus dem höfischen Raum auszuschließen, argumentiert ‚Heinrich‘ in der Auseinandersetzung mit Konrad mit der Fehlbarkeit beider;61 der neue höfische Raum „Schwaben“ inkludiert damit gerade die Bösen, freilich in hierarchischer Abstufung: ir habt uch selben geschant! daz ich tet, daz was menschlich; so woldet ir unkristenlich vil gerne haben nu getan. ir sit ein unreiner man, daz ir durch di minsten gabe zwo uwer ere woldet also haben gar verlorn. (VV 794‒801)
Ihr habt Schande über Euch gebracht! Was ich getan habe, das war menschlich; Ihr aber wolltet gerade äußerst unchristlich handeln. Ihr seid ein unkeuscher Mensch, dass Ihr Eure Ehre wegen zweier geringer Geschenke verletzen wolltet.
Auch die Differenzierung milte/arc fällt hier in sich zusammen: Das ökonomische Argument ‚Heinrichs‘, quasi der bessere Händler als Konrad zu sein, ist im höfischen Sinne durchaus problematisch und entspricht dem Handeln der argen des Prologs bei insinuierender Lesart. Gleichzeitig aber behauptet ‚Heinrich‘ in ‚seiner‘ Schimpfrede, den Tausch minne gegen die höfischen Gaben nur ‚ihres‘ Mannes wegen eingegangen zu sein: einen ritter ich kuste und liz in bi mir slafen, daz ir mit dem wafen weret mit des borten kraft werder in der ritterschaft. (VV 784‒790)
Ich habe einen Ritter geküsst und ließ ihn mit mir schlafen, damit Ihr durch der Kraft des Gürtels im Turnier würdiger in der Ritterschaft werden würdet.
Damit wäre das Vorgehen ‚Heinrichs‘ wiederum gleichsam als milte lesbar, da der Tausch nur mit dem Ziel einer Gabe für den Ehemann erfolgt wäre. Der Text lässt
Handlungswelt, sondern ein Nebeneinander mehrerer möglicher Handlungswelten“ (Reichlin 2008, S. 191f.). 60 Betont man die Zeichenebene, so gehen die mittels der höfisch-magischen Gaben erlangten Verdienste auf Konrad über, doch tatsächlich hat ‚Heinrich‘ das Turnier gewonnen. Zum Rollentausch und dem damit einhergehenden „Subversionspotenzial“ der Dame vgl. Feistner 1997, S. 256‒258; Krass 2003, S. 284. 61 Zu der Argumentationsstruktur ausführlich vgl. Wagner 2008b.
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Die virtuellen Haupträume und ihre Veränderung im Akt des Erzählens
auch hier wieder beide Lesarten in der Schwebe, da ein entsprechender Hinweis auf die Intention der Dame bei der Minnegartenszene fehlt und erst hier nachgereicht wird. Die deskriptive Lesart des Prologs (die Verheißung eines höfischen Raumes für die Zukunft) wird am Ende der Erzählung freilich scheinbar erfüllt – wenn man über die Ironie der 100 Jahre hinwegsehen kann.62 Blickt man von diesem Befund auf die vielen unterschiedlichen Lesarten des Textes, auf die vielen Entscheidungsnotwendigkeiten der Partitur für einen historischen Erzähler, so bestätigt sich einmal mehr deren intendierte Existenz: Es gibt keine richtige, konzise Lesart des Textes, der Text entscheidet sich nicht selbst, sondern er bietet Entscheidungen an; ein historischer Erzähler kann damit in einem fest abgrenzbaren Rahmen viele unterschiedliche Wege durch den Text ziehen, viele Interpretationen anbieten, die sich allesamt an der Utopie des Aufbaus eines idealen höfischen Raumes abarbeiten. Das Märe erweist sich bis ins sprachliche Detail als „schwankende Form“63 im Sinne Hans-Jürgen Scheuers, der die am Gürtel exemplarisch gezeigte Charakteristik einer gezielten Unklarheit jenseits von Beliebigkeit als Spezifikum für die sogenannten „Kleinen Formen“ herausarbeitet: Sie sind Modi exemplarischer Rede, das heißt: nicht selbst schon Gedanke, Argument oder Perspektive eines bestimmten Diskurses oder Subjekts, sondern auf elementare Unterscheidungen reduzierte, vielfältig anwendbare Kalküle, durch die Argumente, Diskurse, Wertungen wie durch ein Prisma gebrochen und beobachtet werden können. So fein vermögen sie durch ihre Einfachheit das scheinbar Evidente und doch undurchsichtig Gegebene und Gebräuchliche aufzufächern und aufzulösen, daß sich selbst aus dem Kleinsten und Unbedeutendsten die Nuance herausschmecken läßt, die auf verdeckte, hoch signifikante Veränderungen im großen Ganzen hindeuten kann […].64
62 Eine entsprechende Interpretation legt Jacob Klingner vor, der im Vergleich mit der biblischen Sündenfallgeschichte auch eine unironische Lesart der 100 Jahre plausibel macht: „Statt zum entscheidenden Moment für die Vertreibung aus dem Paradies wird die Gabe der Frau am Ende zum Schlüssel für die Rückkehr zum ursprünglichen Zustand. Das auf die Weitergabe folgende Glücksleben des Paares changiert mit seinen wol hundert jar (v. 825) zwischen klar begrenzter Zeitlichkeit und transzendierender Ewigkeit. Es bedeutet für die beiden mithin eine innerweltliche Rückkehr ins Paradies“ (Klingner 2012, S. 178f.). 63 Hans Jürgen Scheuer hat in Bezug auf die religiöse Kommunikation exemplarischer Mären (wobei er programmatisch den Begriff „Schwänke“ bevorzugt) das dialektische Schwanken zwischen eigentlich dualistischen Größen als Eigenheit der Textsorte herausgearbeitet: „Mit Blick auf religiöse Kommunikation decken seine Operationen Elemente einer Formenlehre des Religiösen auf, indem sie die Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz nicht binär, sondern – wie auf einem Möbiusband – in ein und derselben Dimension abbilden“ (Scheuer 2009, S. 742). Dieses Schwanken dürfte, wie der Gürtel zeigt, nicht nur in Bezug auf die religiösen Grundgrößen Immanenz und Transzendenz zu einer Grundbestimmung der Textgattung gehören. 64 Scheuer 2008, S. 133f.
Im langen Schatten des Prologs: Mauricius von Craûn
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Der vorhergehenden Analyse des (höfischen) Erzählraumes und des (höfischen) erzählten Raumes entspricht zum einen die konzipierte Vielfältigkeit der „Kalküle, durch die Argumente, Diskurse, Wertungen wie durch ein Prisma gebrochen und beobachtet werden können“ – wobei die Interpretation des historischen Erzählers das Prisma darstellt; zum anderen aber zeigt die Analyse auch, dass gerade die hohe Varianz möglicher Lesarten, möglicher Aufführungen keine thematische Beliebigkeit bedeutet, sondern das zentrale Thema des Textes im Gegenteil nur deutlicher macht: die Fragwürdigkeit des höfischen Raumes. Höchste Varianz bei gleichbleibendem Zentrum – dafür schöpft der Text die Möglichkeiten der virtuellen Haupträume der Erzählung voll aus, die jeweils als höfische Räume (sicherlich mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung) mit festen Grenzen (Erzählraum) oder einem stabilen Zentrum (erzählter Raum „Schwaben“) kommuniziert werden – nur um im Textverlauf und im Verlauf der Performanz des Erzählers schnell fragwürdig zu werden oder gar zu zerbrechen, um freilich auch wieder neu aufgebaut werden zu können. Die grundsätzliche Funktion des Märes ist es also (unabhängig von der spezifischen Interpretation des Erzählers), den virtuellen Charakter, der jedem höfischem Raum anhaftet, zu veranschaulichen und seine Fragwürdigkeit, seine auf Dauer und Teilnehmer der höfischen Kommunikation begrenzte Existenz beobachtbar zu machen.65
4.2 Im langen Schatten des Prologs: Mauricius von Craûn und der Verschleiß seiner erzählten Räume Mit dem Mauricius von Craûn66 liegt auf den ersten Blick scheinbar ein ganz anders gelagerter Fall vor als im Gürtel: Der Erzähler verzichtet zunächst auf den differenzierten Aufbau eines Erzählraums, obwohl der eigentlichen Erzählung ein Prolog von exorbitanter Länge vorangestellt ist. Doch bei näherem Besehen ergeben sich auch deutliche Parallelen vor allem in Hinsicht auf den virtuellen Raum: Auch der Erzählung Mauricius von Craûn ist der Entwurf eines virtuellen Raumes vorangestellt – weitaus deutlicher noch als im Gürtel –, der fundamen65 Vgl. dazu Kap. 2.1; Schlechtweg-Jahn 2005. 66 Der Mauricius von Craûn ist unikal im Ambraser Heldenbuch überliefert; die Datierung des Gedichts stand lange Zeit, „vielleicht über Gebühr, im Mittelpunkt der Diskussion“ (Ziegeler 1987, Sp. 693) und hat mit Frühdatierung um 1180 und Spätdatierung um 1230 eine ungewöhnlich große Datierungsunsicherheit von 50 Jahren. Fischers Ausführungen zu dem wahrscheinlichen Vorbild für das Turnierschiff, den Schiffswagen, mit denen Isabella von England 1235 auf ihrem Brautzug nach Köln gebracht wurde (vgl. Fischer 2006, S. 106‒116), machen sogar eine Entstehung erst nach 1235 wahrscheinlich; die Datierungsfrage muss jedoch für die hier untersuchten Zusammenhänge nicht geklärt werden.
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Die virtuellen Haupträume und ihre Veränderung im Akt des Erzählens
tale Auswirkungen auf den Aufbau des erzählten Raumes hat; und auch im Mauricius von Craûn zwingt der Text den historischen Erzähler zu Entscheidungen der Inszenierung, die er selbst nicht abnimmt. Im Unterschied zum Gürtel aber liefert hier die Partitur des Textes keine Vorlage für mehrere kohärente Inszenierungen, sondern zieht ihren Reiz und Unterhaltungswert gerade daraus, dass sie keine einzige kohärente Inszenierung ermöglicht. Dieser Zusammenhang zwischen dem Raumentwurf des Prologs, des erzählten Raumes und der Inszenierungsmöglichkeiten des Erzählers soll im Folgenden skizziert werden, wobei glücklicherweise auf einen für die Märendichtung67 außergewöhnlich guten Forschungsstand68 zurückgegriffen werden kann. Der Prolog, der sich inhaltlich vor allem der Entstehung und der Reise der Ritterschaft, später einer ausgedehnten Minnereflexion widmet und insgesamt die ersten 416 Verse umfasst, ist durch seine relative Länge (der Gesamttext hat nur 1784 Verse) und inhaltlich eine große Irritation im Vergleich zur Erzählung, was sich in einer Forschungskontroverse mit langer Tradition niederschlägt69 und eine Herausforderung für die Interpretation des Gesamttextes darstellt: For however hard we try to match the two parts of the poem together they cannot be made to fit smoothly in such a way as to provide a coherent sequence of theory and example. The problem of the historical prologue and of its function within the framework of the whole continues to be a stumbling-block for every student of the text.70
Doch schon vor der Irritation, die der Prolog im Vergleich mit der eigentlichen Erzählung entfaltet, besitzt er ein ebenso starkes Irritationspotenzial in sich
67 Freilich ist die Zuordnung des Textes zur Märendichtung strittig. Schon aufgrund seiner Länge steht der Text zwischen Märe und (Kurz-)Roman; den jüngsten Beitrag zur Gattungsdiskussion auf inhaltlicher Basis leistet Glauch 2009, S. 265‒325. 68 Eine ausführliche, interpretationsbegleitende Forschungsdiskussion leistet Fischer 2006, der freilich weiten Teilen der Forschung kritisch gegenübersteht. Fischer deckt viele (auch auf Textkonjekturen beruhende) Irrtümer auf und leistet selbst den bislang engagiertesten Beitrag zur Mauricius-Forschung, ohne aber alle Fragen klären zu können, da auch er – wie fast alle Beiträger vor ihm – letztlich auf eine Interpretation der altfranzösischen Vorlage der mittelhochdeutschen Version abzielt. Für die hier vorgeschlagene Lesart soll dagegen ausschließlich der deutsche Text Untersuchungsgegenstand sein. 69 Vgl. für die ältere Forschung zusammenfassend Harvey 1961, S. 63: “No part of Moriz von Craûn has been the subject of so much controversy as the long prologue”; die jüngste Stimme in dieser Tradition stellt Sonja Glauch dar, die für den ersten Prologteil (VV 1‒262) formuliert: „Schon sein Umfang überschreitet jedes Maß“ (Glauch 2009, S. 276); „Die Mauricius-Erzählung könnte ohne weiteres mit V. 263 beginnen, und nie wäre einem Leser eingefallen, hier könnte etwas fehlen“ (ebd., S. 285). 70 Harvey 1961, S. 63.
Im langen Schatten des Prologs: Mauricius von Craûn
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selbst, da seine Grenzen, sein Aufbau, ja seine Identität als Prolog (in Abgrenzung zur Erzählung) in Frage stehen. Ich begreife hier heuristisch den gesamten Abschnitt vor dem Einsatz der sukzessiv erzählten Haupthandlung als Prolog im Wortsinne, als zuvor Gesagtes. Der Inhalt dieses Textabschnitts sei kurz zusammengefasst: Der Erzähler erinnert daran, dass die Ritterschaft bei den Griechen entstand, wo sie später auch zerstört wurde. Er erzählt vom Trojanischen Krieg, der hervorragende Ritter präsentiert, solange Hector lebt; nach dessen Tod aber wird Troja schließlich eingenommen und die Ritterschaft verlässt den Ort, an dem sie nun nicht mehr geminnt wird. Nachdem Griechenland von Alexander eingenommen wurde, wird in Rom die Ritterschaft eingeführt, die mit Caesar ihren perfekten Vertreter hat, der sich alle Länder unterwirft. Die Ehre Roms geht allerdings mit Neros Herrschaft verloren, der sich wie eine Frau behandeln lässt und mit Männern schläft; aus Neugierde lässt er sich zunächst von einem Arzt eine Kröte in den Bauch einpflanzen, um zu erfahren, wie eine Schwangerschaft funktioniert; später schneidet er seine Mutter auf, um zu erfahren, wie er mit seinem mächtigen Körperbau in ihrem Bauch Platz gefunden hatte. Schließlich lässt er – um den Untergang Trojas zu vergegenwärtigen – Rom anzünden, was nicht nur den Tod Vieler zur Folge hat, sondern auch die Tatsache, dass es bis heute keinen ganzen Mann in Rom gebe. Die Ritterschaft muss weiterziehen und kommt schließlich im Kerlingen Karls des Großen unter, der zusammen mit Olivier und Roland die Länder unterwirft. In Kerlingen ist die Ritterschaft auch deswegen vortrefflich, weil man dort von Damen besseren Lohn um Dienst als anderswo erhält. Dort lebt auch der vortreffliche Ritter Mauricius von Craûn, der die Gräfin von Beamunt minnt. Der Erzähler resümiert ausführlich über die Natur der Minne, über falsches und richtiges Minnen und die Kraft der Hoffnung.71
Beide Irritationen des Prologs (die Spannungen zwischen Prolog und Erzählung und die fragwürdige Identität des Prologs selbst) haben gemeinsam, dass sie auf die grundsätzliche Fragwürdigkeit des virtuellen Raumes verweisen bzw. diese dem Publikum vorführen, und beide Irritationen sind meines Erachtens als bleibende, unauflösbare Irritationen die Grundlage für ein hochkomplexes Spiel mit dem virtuellen Raum, das der Mauricius von Craûn entfaltet. Ich denke nicht, mit der nun anschließenden, räumlichen Analyse und Interpretation der beiden Irritationen die nach wie vor bestehenden Forschungsprobleme abschließend klären zu können; hier geht es vielmehr darum, den Aufbau des Prologs selbst und seinen Zusammenhang mit der Erzählung in Hinsicht auf den virtuellen Raum darzustellen und damit eine Lesart zu offerieren, die die oft dargestellten Spannungen des Textes nicht als Anzeichen einer unfertigen Literatur begreifen muss,72 sondern als Beispiel einer erzählerischen Hochkultur des Hochmittelalters. Zunächst zum Irritationspotenzial des Prologs in sich: Schon die Grenze zwischen Prolog und Geschichte ist fragwürdig; so lässt Ruth Harvey den Prolog 71 Vgl. dazu ausführlich Fischer 2006, S. 15‒84; zur Struktur der Minnelehre vgl. Wagner 2008b. 72 So wieder jüngst und bislang am ausführlichsten Glauch 2009, S. 265‒325.
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Die virtuellen Haupträume und ihre Veränderung im Akt des Erzählens
bereits bei Vers 262 enden,73 Günther Gerlitzki erachtet Vers 288 als Ende des Prologs,74 während Hans-Joachim Ziegeler von zwei Prologen spricht, die sich insgesamt bis Vers 416 erstrecken.75 Alle Einteilungen können gute Gründe für sich beanspruchen, wie die Strukturierung der ersten 416 Verse auf der Grundlage der beiden Haupträume der Erzählung veranschaulichen soll: Die ersten 12 Verse entfalten einen rudimentären Erzählraum, indem der Erzähler mit dem ersten Vers sein Publikum direkt anspricht und das Thema seiner Dichtung entfaltet: Ir habet dicke vernomen und ist iu mit rede für komen von wârlîchem mære, daz ritterschaft ie wære wert und müeze immer wesen. wir hœren an den buochen lesen wâ man in von êrste began und wâ si sider hin bequan. Kriechen heizet daz lant dâ man den list alrêste vant der ze ritterschaft gehœret: dâ wart sie dô zerstœret. (VV 1‒12)
Ihr habt schon oft gehört, und es ist euch als wahre Geschichte erzählt worden, dass Ritterschaft immer wertgeschätzt wurde und werden wird. Uns wird aus den Büchern vorgelesen, wo man sie zuerst betrieb und wo sie seither hingekommen ist. Griechenland heißt das Land, wo man die Kunst zuerst entdeckte, die zur Ritterschaft gehört: Dort wurde sie dann zugrunde gerichtet.
Schon über die Strukturanalyse hinausgehend ist festzuhalten, dass der Erzählraum über das gemeinsame Wissen des Erzählers und des Publikums über die notwendige Wertschätzung der Ritterschaft, ihrer Herkunft und – dies ist entscheidend – ihrer räumlichen Dynamik („wâ si sider hin bequan“) und Fragilität aufgebaut wird. Die Verse 13‒262 kommunizieren nun – und dies verdeckt die gängige Bezeichnung „Prolog“ gerade für diesen Abschnitt – einen ersten erzählten Raum, der sich mit seinen ersten Versen weniger an den vorhergehenden Abschnitt anschließt (den sie inhaltlich wiederholen), als sich vielmehr deutlich als Beginn einer Erzählung von ihm absetzt: ze Kriechen huop sich ritterschaft dô sie Troie mit kraft besâzen durch ein frouwen. (VV 13‒15)
Bei den Griechen entstand die Ritterschaft, als sie Troja machtvoll belagerten wegen einer Dame.
73 Vgl. Harvey 1961, S. 63; vgl. auch z. B. Fischer 2006, S. 49; Glauch 2009, S. 276. 74 Vgl. Gerlitzki 1970, S. 30. 75 Vgl. Ziegeler 1987, Sp. 693.
Im langen Schatten des Prologs: Mauricius von Craûn
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Im weiteren Verlauf dieser ersten Erzählung wird die Wanderschaft76 der Ritterschaft von den Griechen über Rom hin nach Kerlingen erzählt, wobei der räumliche Aufenthalt der Ritterschaft davon abhängt, ob sie vor Ort geminnt wird (vgl. VV 77‒81), d. h. ob ihr Wertschätzung entgegengebracht wird. Damit aber wird die Ritterschaft zu einem räumlichen Phänomen, das von seiner Anlage einer Personifikation nahekommt:77 Sie kann nur an einem Ort zugleich sein (sie kommt erst nach Rom bzw. Kerlingen, nachdem sie von den Griechen bzw. Römern vertrieben wurde), bewegt sich selbst fort und kann geminnt werden. Auch wenn der Text den Schritt zur im Hochmittelalter beliebten Form der allegorischen Personifikation nicht vollzieht: Die Ritterschaft ist im Mauricis von Craûn nach genau diesem Muster konstruiert. Bei der Schilderung der Wanderschaft der Ritterschaft unterbricht der Erzähler immer wieder seine Erzählung und wechselt mit poetologischen Aussagen oder allgemeinen moralischen Betrachtungen zurück in den Erzählraum. Diese Wechsel sind dabei nicht beliebig verteilt, sondern unterbrechen die erste Erzählung von der Wanderschaft der Ritterschaft ausschließlich an Stellen, an denen entweder eine Umbewertung der Ritterschaft erfolgt (sie also nicht mehr geminnt wird) oder an denen der Handlungsraum mit einer Bewegung der Ritterschaft wechselt.78 Die Binnenwechsel zwischen erzähltem Raum und Erzählraum in diesem Abschnitt (der weiter unten noch genauer untersucht werden soll) markieren also durchweg die Bewegung der Ritterschaft bzw. deren Vorbereitung, sie unterteilen damit den ersten erzählten Raum in insgesamt drei Handlungsräume (ze kriechen, ze rôme, ze kerlingen, s. u.). Diesem ersten erzählten Raum folgt der Aufbau eines zweiten erzählten Raumes in den Versen 263‒306, der die Hauptpersonen der Haupthandlung vorstellt. Verortet werden Mauricius und die Gräfin von Beamunt in Kerlingen, der
76 Hubertus Fischer hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Ritterschaft im Mauricius von Craûn weniger das Programm einer translatio imperii ausführt (wie dies etwa Thomas 1987 herausarbeitet), als vielmehr eine Wanderschaft, eine peregrinatio darstellt (vgl. Fischer 2006, S. 18‒20). 77 Der Text entwirft eine bewegliche Ritterschaft, “which he [der Autor] personifies as a noble lady who wanders from one country to another, sometimes received as an honoured guest, sometimes spurned or driven into exile” (Harvey 1961, S. 75). 78 VV 33‒41 (der Erzähler erklärt dem Publikum, dass selbst Dares nicht alles von Troja erzählen kann) grenzen die geminnte Ritterschaft bei den Griechen von der ungeminnten Ritterschaft ab; VV 71‒102 (Bescheidenheitstopos und Ritterschaftsreflexion) grenzen den erzählten Raum I.1 (ze kriechen) von dem erzählten Raum I.2 (ze rôme) ab, VV 123‒132 (Gegenwartsschelte) grenzen die geminnte Ritterschaft in Rom (Cäsar) von der ungeminnten Ritterschaft ab (Nero); VV 222‒229 (Gegenwartsschelte Roms) grenzen den erzählten Raum I.2 (ze rôme) von dem erzählten Raum I.3 (ze kerlingen) ab; VV 251‒262 (Gegenwartslob Kerlingens) beschließen die erste Erzählung und leiten zur zweiten über.
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Die virtuellen Haupträume und ihre Veränderung im Akt des Erzählens
letzten Station des ersten erzählten Raumes, doch ist dieser zweite erzählte Raum durch die zeitliche Dimension differenziert: Dâ was ein ritter, deist niht lanc (V 263)
Dort gab es einen Ritter vor nicht allzu langer Zeit …
Doch wieder verlässt der Erzähler den erzählten Raum und bewegt sich in den Versen 307‒396 mit einer komplexen Minnereflexion im Erzählraum. Erst in Vers 398‒402 erzählt der Erzähler wieder von Mauricius, wechselt also in den erzählten Raum, nur um in den Versen 403‒416 noch einmal in die Minnereflexion und damit in den (durch die Zeitform Präsens markierten) Erzählraum zurückzugreifen. Erst dann ist der Erzähler grundsätzlich im erzählten Raum angekommen und bleibt dort bis zum Epilog. Die Irritation des Prologs in sich, die Unsicherheit ob seiner Grenzen und die Fragwürdigkeit seiner Länge hat ihren Grund in seiner komplexen virtuell-räumlichen Struktur, die der Übersicht halber nochmals zusammengefasst werden soll: Verse
Erzählraum
1‒12
Thema der Dichtung I.1: ze kriechen: Hector
13‒32 33‒41
Unsagbarkeitstopos in Bezug auf Troja I.1: ze kriechen: Hectors Tod
42‒70 71‒102
Bescheidenheitstopos in Bezug auf Troja und Ritterschaftsreflexion I.2: ze rôme: Cäsar
103‒122 123‒132
Gegenwartsschelte I.2: ze rôme: Nero
133‒221 222‒229
Gegenwartsschelte Roms I.3: ze kerlingen a: Karl, Olivier, Roland
230‒250 251‒262
Gegenwartslob Kerlingens II: ze kerlingen b: Personeneinführung
263‒306 307‒397
Minnereflexion II: ze kerlingen b: Mauricius als Minneritter
398‒402 403‒416
erzählter Raum
Minnereflexion
Im langen Schatten des Prologs: Mauricius von Craûn
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Wie das Strukturschema veranschaulicht, präsentiert der gesamte Prolog im Mauricius von Craûn nicht (wie etwa im Gürtel) schlicht einen Erzählraum, sondern wechselt kontinuierlich zwischen den beiden virtuellen Haupträumen der Erzählung hin und her. Eine solch komplexe Gemengelage von Erzählraum und erzähltem Raum im Prolog ist weder der Märendichtung auch nur annähernd eigen (hier zählt die Zweiteilung in prologus paeter rem und prologus ante rem bereits zu den elaborierteren Formen in raumstruktureller Hinsicht), noch findet sie sich in den Romanen (will man den Mauricius diesen zuordnen) wieder:79 Hinsichtlich der Raumwechsel erscheinen etwa selbst der Parzival- bzw. der Tristan-Prolog gegenüber dem des Mauricius als geradezu schlicht, und die Romane wären eher über ihre Elternvorgeschichten mit ihm vergleichbar (wie ja auch der Werdegang der Ritterschaft in gewisser Hinsicht eine Vorgeschichte zur Geschichte Mauricius’ darstellt). Die beständigen Wechsel zwischen Erzählraum und erzähltem Raum machen die Abgrenzung der beiden Haupträume der Erzählung selbst fragwürdig, zumal die räumliche Dynamik des erzählten Raumes – ze kriechen, ze rôme, ze kerlingen – grundsätzlich auch den Erzählraum bestimmt: Unsagbarkeitsund Bescheidenheitstopos des Erzählers beziehen sich auf Troja, über das auch erzählt wird, nach den Nero-Episoden bezieht sich die Gegenwartsschelte auf Rom, das Gegenwartslob nach der Nennung Karls auf Kerlingen: Zusammen mit seinem Publikum blickt der Erzähler bei seinen Wechseln in den Erzählraum auf die eben erzählten Räume, jedoch jeweils in der Gegenwart. Der jeweils erzählte Raum überformt den Erzählraum, und dies bereits innerhalb des Prologs, der keine klare Abtrennung zur Geschichte mehr aufweist. Diese räumliche Dynamik in doppelter Hinsicht und die Unsicherheit, die mit der Vermischung von Erzählraum und erzähltem Raum einhergeht, spiegelt die Unsicherheit des virtuellen Raumes wider, die geradezu das Programm der Erzählung abgeben wird. Die Betonung der Unsicherheit des virtuellen Raumes ist nicht nur auf Strukturebene, sondern auch auf inhaltlicher Ebene des Prologs und im Vergleich mit der Erzählung zu beobachten, womit ich zum zweiten Irritationsaspekt des Prologs komme. Zunächst ist bemerkenswert, dass – analog zu der eben dargestellten Bewegung zwischen den virtuellen Haupträumen der Erzählung – auch der erste erzählte Raum des Prologs grundsätzlich von Bewegung bestimmt ist: Es ist die Bewegung der wie eine Person reisenden Ritterschaft, von der die Existenz der Räume I.1 bis I.3 des Prologs in gewisser Weise abhängig ist. Als vielleicht nicht höfische, doch zumindest archaisch-ritterliche Räume, die durch Kampf um Land und Dame gekennzeichnet sind,80 existieren sie nur für die Dauer der 79 Vgl. zur Prologstruktur von Roman und Märe ausführlich Schirmer 1969, 59‒73. 80 Diese inhaltliche Füllung der erzählten Räume des Prologs (und damit das Verständnis des Ritterschaftsbegriffs) verlangt eine genauere Diskussion: Unstrittig ist der Aspekt der dauerhaf-
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Anwesenheit der Ritterschaft in ihnen. Nur für diese Dauer werden sie durch die Erzählung des Erzählers kommuniziert, und die von der Ritterschaft verlassenen Räume sind wüst und leer – zerstört im Wortsinne, sei es Troja, das „swachet allen tac / unz sie wüeste gelac“ (VV 69f. „jeden Tag mehr aufgerieben wurde, bis es völlig zerstört dalag“), sei es Rom, das „wart wüeste durch nôt“ (V 221; „unter Schrecknissen zerstört wurde“). Der Prolog ist inhaltlich bestimmt von einem (auf Strukturebene bestätigtem und verstärktem) „Programm der Destruktion: Auf eine Phase des Fortschritts, in der Ritterschaft im Dienst der Minne und/oder zu Ruhmeszwecken eingesetzt wird, folgt nach einem kurzen Höhepunkt, symbolisiert durch die Person eines oder mehrerer legendärer Helden, der Zerfall des Wertesystems von Minne und Ritterschaft, was als letzte Konsequenz den Zerfall der Weltreiche zur Folge hat“.81 Diese existenzielle Bedrohung der Weltreiche durch falsches Verhalten und ihre Abhängigkeit von richtigem Verhalten, kurz: die Fragwürdigkeit und Dynamik des archaisch-ritterlichen Raumes gestaltet der Prolog des Mauricius von Craûn in der Form des virtuellen Raumes, dessen Virtualität durch den ständigen Wechsel von erzähltem Raum und Erzählraum deutlich vorgeführt wird: Der Erzähler veranschaulicht die inhaltliche Fragwürdigkeit ten Gewalt, die den Ritterschaftsbegriff des Prologs bestimmt (vgl. Harvey 1961, S. 75; Fischer 2006, S. 23; Wagner 2009b, S. 355) und damit ein eher archaisches denn höfisches Bild abgeben (vgl. Fischer 2006, S. 18). Umstritten ist allerdings, ob Minne bereits zu diesem Ritterschaftsbegriff gehört. Ruth Harvey bestreitet dies vehement: “Nor there is the slightest hint of either Minnedienst or Frauendienst in the careers of Alexander, Caesar, Charlemagne, Roland, Olivier” (Harvey 1961, S. 79; vgl. auch Thomas 1987, S. 341). Minnedienst ist sicherlich nicht Bestandteil der erzählten Räume des Prologs, bis der Erzähler Kerlingen dezidiert mit Minnedienst in Verbindung bringt (vgl. VV 259‒262), und auch dann ist nicht der Minnedienst des hohen Minnesangs gemeint (wie dies etwa Klein 1998 propagiert), sondern das „Modell […] Frauendienst als gelohnter Dienst“ (Fischer 2006, S. 49), was ebenfalls einem eher archaischen Ritterbild entspricht. Minne ist aber, losgelöst vom Dienstgedanken, doch durchweg in allen erzählten Räumen des Prologs präsent: Als Kampf um Troja, der ursächlich mit der Dame Helena verknüpft ist (vgl. Wagner 2009b, S. 355), in Rom ex negativo durch Nero, der als negative Exempelfigur durch seine Homosexualität und durch das Aufschneiden seiner Mutter für die Minne dysfunktional ist (vgl. Fischer 2006, S. 39), in Kerlingen durch die Verknüpfung des Erzählers mit Minnedienst (s. o.). Inhaltlich bleibt die Minne im Prolog marginal (vgl. Wagner 2009b, S. 355), doch schafft der Erzähler mit einer systemischen Engführung letztendlich die dauerhafte und durchgehende Bindung von Ritterschaft und Minne, indem er die Ritterschaft selbst gleichsam als minnebedürftige Dame inszeniert, deren Bleiben damit von der Minne abhängig ist: „Ritterschaft mac ze merken sîn / (daz wart zuo den Kriechen schîn) / was dâ man sie minnet: / der sie vêhen beginnet, / den fliuhet ouch sie zehant“ (VV 77‒81; „Ritterschaft ist dort vorzufinden (und das wurde bei den Griechen offensichtlich), wo man sie minnt: Wer sie anfeindet, den verlässt sie umgehend“). Der virtuelle Raum der archaischen Ritterschaft ist damit auch grundsätzlich von Minne bestimmt, auch wenn diese in der Prologhandlung marginalisiert ist. 81 Jehly 2002, S. 72.
Im langen Schatten des Prologs: Mauricius von Craûn
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des archaisch-ritterlichen Raumes durch die poetologische Fragwürdigkeit des erzählten Raumes.82 Wendet man diese Logik des Prologs auf die eigentliche Erzählung an,83 so wird, wie bereits Heimo Reinitzer, Heinz Thomas und Nicole Jehly herausgearbeitet haben, zweierlei deutlich: Erstens legt die Struktur nahe, dass mit Mauricius von Craûn ein negativer ‚Held‘ nach den positiven Helden Karl, Olivier und Roland präsentiert wird, der den Niedergang der Ritterschaft einleitet, die schließlich auch Kerlingen verlassen wird;84 zweitens aber – und dies ist der Grund für die nachhaltige Irritation des Prologs in Anwendung auf die Erzählung – entwirft der Erzähler eine auf knapp 1400 Verse ausgedehnte Leerstelle, da er (in merkwürdiger Zurückhaltung im Vergleich zum Prolog) an keiner Stelle Mauricius direkt negativ bewertet85 und das Konstrukt der reisenden Ritterschaft völlig fallen lässt. Parallelen und Leerstellen seien noch einmal anhand eines vereinfachten Strukturmodells veranschaulicht: ze kriechen86
mit Hector
ritterschaft kommt
Kampf um Land und Dame
ohne Hector
ritterschaft geht
Herrschertod, Landesverwüstung
ze rôme
Cäsar
ritterschaft kommt
Kampf um Land
Nero
ritterschaft geht
Homosexualität, Landesverwüstung
ze kerlingen
Karl
ritterschaft kommt
Kampf um Land, guter Minnelohn
Mauricius
?
Kampf? Minnelohn?
82 Eine ähnliche Beobachtung macht Jehly 2002, S. 79: „Indem der Erzähler so mit bekannten Topoi ‚spielt‘, verweist er deutlich auf die Inszenierung und thematisiert geschickt den Kontrast zwischen literarisches Utopie und Realität. Die solcherart inszenierte Fiktionalität bricht zumindest partiell den im Prolog durch den biographisch-historischen Hintergrund inszenierten Realitätsanspruch“. 83 Diese Anwendung ist im Text angelegt, da (wie gezeigt) unklar ist, wo die ‚eigentliche‘ Erzählung beginnt; entsprechend macht auch die Inhaltsangabe des Textes im Ambraser Heldenbuch keinen Unterschied zwischen Prolog und Erzählung: „Von kuͣnig Nero einem Wuͣettrich · der auch wie ein fraw Swannger wolt ʃein · Vnnd ʃein Mueter aufʃchneiden lieʃs · vmb ʃeins furwitz willen etc. Auch Wie Er Rom Zerʃtoͣret · Wie Karolus nach Erstoͤrung Rom die Lannd betzwungen · Dartzuͦ wie Olifer vnd Ruͦlannd ʃich Ritterlich gehalten haben · Vnnd wie Mauritius von krawͣn · liebet die Graͣfin von Beamundt ·“. 84 Vgl. Reinitzer 1977, S. 16; Thomas 1987, S. 346; Jehly 2002, S. 72f. 85 Vgl. Jehly 2002, S. 73. 86 Bezeichnend hierbei ist, dass mit „ze kriechen“ nicht ein Volk gemeint ist, sondern der Ort, an dem sich die Griechen gerade aufhalten, also vor Troja (vgl. Wagner 2009b, S. 354, Anm. 9).
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Die virtuellen Haupträume und ihre Veränderung im Akt des Erzählens
Der Erzähler regt durch ambivalente Handlungsaspekte und durch ebenso ambivalente Bilder zur Füllung dieser Leerstellen an – doch er löst die Fragen, die er dem Publikum (und auch der Forschung) damit stellt, an keiner Stelle selbst auf (und eine solche Auflösung, eine solche Vereindeutigung etwa über Prosodie, dürfte auch einem historischen Erzähler im Gegensatz zum Gürtel schwer fallen). Die andauernde Forschungsdiskussion um ‚richtige‘ Lesarten des Mauricius von Craûn – Hubertus Fischer etwa versteht Mauricius, gut und eng am Text begründet, durchweg als positive Figur87 – ist dafür ein eindrücklicher Beleg. Eine erneute Zusammenfassung der Aporien und Ambivalenzen des Mauricius soll an dieser Stelle nicht erfolgen; entsprechende Auflistungen finden sich bei Kokott 1988, S. 369–374 und Bulang 2001. Sonja Glauch komplettiert diese Zusammenfassungen der Textambivalenzen durch eine Auflistung der Forschungsambivalenzen: „Man kann den Text kaum anders als ‚janusgesichtig‘ (Harvey, S. 306) wahrnehmen. ‚Seine Minnedarstellung bewegt sich merkwürdig zwielichtig zwischen Doktrin und Schwank.‘ Die Interpretationen neigen aus verständlichen Gründen dazu, sich nur einem der beiden Gesichter zuzuwenden. Offensichtlich sinnt der Text durch explizite Signale ebenso deutlich bestimmte Lektüren an, wie er umgekehrt durch die Isoliertheit und Diskontinuität dieser Signale jegliche Sicherheit raubt, welche Richtung die Lektüre denn nun eigentlich zu nehmen habe. Es sind nicht zu wenige, sondern zu viele Lektüre-Wegweiser da – anders wäre wohl kaum zu erklären, warum dieser kleine Text […] inzwischen wohl auf jede Weise gedeutet worden ist, die überhaupt möglich ist: als pro-angevinische, Craunesische Hausdichtung und als anti-angevinische Verhöhnung; als amüsante Abendunterhaltung, als minnekasuistische Diskussionsgrundlage, als casus einer Theorie herrschaftsbezogener stæticlîcher minne und als Warnung vor dem Handlungsmodell minne; Mauritius als Inkarnation mustergültiger Ritterschaft und als abschreckendes Exemplum, als Zeuge für deren Verfall. Jeweils eine Position dieser Deutungsdubletten muß falsch sein, sofern man nicht den Verfasser für vollkommen unfähig – nämlich unfähig, einen Gedanken über 1700 Verse festzuhalten – oder für den denkbar genialsten Doppelsatiriker zu halten geneigt ist“.88 Glauch tendiert stark zu ersterem ‚Lösungsvorschlag‘: „Statt […] auf angreifbare Deutungen von Erzähldetails den Finger zu legen, scheint es mir ertragreicher, in der Machart des Textes nach dem Grund zu suchen, der eine derartig krasse Mehrdeutigkeit erlaubt: Daß Mauritius es keinem recht machen kann – dem einen Interpreten fährt er zu viel auf, dem anderen zu wenig –, liegt letztlich an der Unentschiedenheit des Verfassers, sich einem narrativen Stil anzuschließen und entweder hyperbolischmärchenhaft oder realistisch-nüchtern zu erzählen“.89 Die hier gezeigten, in Struktur und Inhalt kohärent laufenden Wechsel zwischen den beiden virtuellen Haupträumen der Erzählung im Prolog, die aufmerksamkeitsheischende Einleitung und Grundlage der „krasse[n] Mehrdeutigkeit“ sind, können aber niemals auf eine bloße „Unentschiedenheit des Verfassers“ zurückgeführt werden, und man muss diesen Verfasser auch nicht gleich – rhetorisch hyperbolisierend – zum „denkbar genialsten Doppelsatiriker“ erklären, um ihm ein dialektisches Verständnis von ritterschaft und minne zuzugestehen; ein solches ist gerade für die umfangreichere Märendichtung nichts Ungewöhnliches, wie schon der Blick auf den Gürtel zeigt. 87 Vgl. Fischer 2006, passim. 88 Glauch 2009, S. 274. 89 Glauch 2009, S. 304f.
Im langen Schatten des Prologs: Mauricius von Craûn
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Für unseren Zusammenhang seien nur zwei aporetische Aspekte des Textes kurz skizziert, die, wie in der obigen Skizze ersichtlich, die Leerstellen der Erzählung in Bezug auf die Bewertung des Geschehens stellen: Kampf und Minnelohn. Beide Handlungen wären aus der Perspektive des Prologs sichere Indizien für einen positiv gefüllten archaisch-ritterlichen Raum, der die Ritterschaft halten kann – und bei beiden Handlungen ist es fraglich, ob sie in der Erzählung um Mauricius überhaupt erfolgen. Auf der einen Seite findet sicherlich eine Art Turnier statt, das (wenn es überhaupt als Turnier verstanden werden kann) im Einzelnen aber zunehmend eher einer ungeordneten Rauferei ähnelt, bei der Mauricius schließlich auch gegen eigene Verbündete vorgeht; auf der anderen Seite aber findet der mehrmals unmittelbar bevorstehende Kampf zwischen Mauricius und dem Grafen von Beamunt niemals statt, sondern löst sich entweder im Bildhaften (etwa durch den Seeräubervergleich, V 870) oder im Grotesken (der Graf stößt sich derartig das Schienbein, dass er ohnmächtig wird, VV 1578‒1580) auf.90 Für den Minnelohn gilt Analoges: Unstrittig ist auf der einen Seite, dass der Sexualakt zwischen Mauricius und der Gräfin im Ehebett vollzogen wird, auf der anderen Seite ist durch die merkwürdige Inszenierung der Szene – Mauricius verschafft sich gewaltsam Eintritt, legt sich neben die Gräfin, wo er aber aktionslos bleibt, bis diese ihn umarmt (vgl. VV 1581‒1519) – verunklart, ob es sich dabei um den Minnelohn als Gabe der Gräfin oder aber schlicht um eine von Mauricius erzwungene Vergewaltigung handelt. Fischer kritisiert die fraglose Deutung der Szene als Minnelohn durch Gerlitzki, Fritsch-Rössler und Klein, vereindeutigt in diesem Zuge aber zu sehr: „Angesichts der sprechenden Schilderung ist unerfindlich, wie man diesen Beischlaf als ‚lôn‘ im Sinne der Minnedoktrin interpretieren kann“.91 Katharina Philipowski macht an dieser Szene eine für die Raumdiskussion hochinteressante Beobachtung, die darauf aufbaut, dass Minnezimmer und Ehezimmer unmittelbar nebeneinander angelegt sind: „Die Begegnung zwischen Mauritius und der Gräfin wird so zum profanen Geschlechtsverkehr erniedrigt, weil beide es nicht vermocht haben, minne dort zu vollziehen, wo sie ihren rechtmäßigen Ort hat: In jener prunkvollen, geschmückten, ausgemalten und aufs kostbarste ausgestatteten ‚kemenâten, / die si tougenlîche hâten / zuo ir heimlîcheit erwelt‘. (v. 1097‒1099) Weil dort, wo die minne stattfinden soll, geschlafen wird, muss sie dort, wo geschlafen werden soll, vollzogen werden – und damit an einem verkehrten Ort, der die minne denn auch zutiefst profaniert“.92 Diese mikroskopische Beobachtung bestätigt sich auch in makroskopischer Perspektive: Die Räume des Mauricius von Craûn werden vom Erzähler fragwürdig gestaltet, ihre Identität, ihre Füllung und schließlich ihre Existenz ist grundsätzlich unsicher.
Die Ambivalenz der Bewertung Mauricius’ und – in Folge – Kerlingens als Raum der Ritterschaft wird noch dadurch unterstützt, dass im mittleren erzählten Raum rôm die Zuordnung von gut und schlecht eindeutig war, da mit Cäsar und Nero je eine eindeutige Orientierungsfigur präsentiert wird, doch in den beiden flankierenden Räumen jeweils Gruppen präsentiert werden, deren Zuordnung wechseln kann93 bzw. deren Grenzen unklar sind: Gehört Mauricius noch zu Karl, Olivier 90 Ausführlich vgl. Wagner 2009b. 91 Fischer 2006, S. 215. 92 Philipowski 2009, S. 236f. 93 Dies ist bei den Griechen und Trojanern der Fall, die zunächst (gleichermaßen!) positiv gewertet werden, eine Wertung, die sich nach dem Tode Hectors aber zunehmend zuungunsten der
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und Roland?94 Diese Unsicherheit wird, wie bereits ausgeführt, noch dadurch unterstützt, dass ein Zeitsprung und auch die poetologische Topik von Prolog und Erzählung Kerlingen auch als in zwei durch Zeit distinkte Räume unterteilt lesbar macht; die Deutung des Gesamttextes hängt damit nicht zuletzt davon ab, ob man das Kerlingen des Mauricius als grundlegend vom Prolog unterscheidbaren erzählten Raum II begreift, oder ob man den gesamten erzählten Raum bereits im Prolog durch die Dreiteilung ze kriechen, ze rôme und ze kerlingen entfaltet sieht – in einem Prolog, der dann allerdings kein Prolog mehr wäre,95 sondern Vorgeschichte, die die Haupthandlung ähnlich vorformt und bestimmt, wie etwa die Elternvorgeschichte im Tristanroman. Aufgrund seiner Anlage und seiner erzählerischen Ausführung zwingt der Mauricius seinem Erzähler und seinem Publikum Unsicherheit auf – und präsentiert genau damit den Raum der archaischen Ritterschaft als virtuellen, als grundsätzlich fragwürdigen und von konkreten Kommunikationen abhängigen Raum, nicht aber als einen Raum, dessen Grenzen und Dauer eindeutig bestimmbar oder auch nur dem Erzähler genau bekannt wären. Diese spezifische Räumlichkeit ist der Erzählung nicht nur durch den Prolog eigen, in dessen langen Schatten sie sich entfaltet, sondern die schlägt sich auch in einem zentralen Memorialbild innerhalb der Erzählung nieder: Im Schiff, mit dem Mauricius über Land nach Beamunt fährt. Nachdem die Gräfin von Mauricius ein Turnier in Beamunt als Minnegabe gefordert hat, lässt dieser ein Schiff aus kostbaren Materialien und geschmückt mit seinen Wappenfarben bauen, das auf Land fahren kann: Versteckt im Inneren des Schiffbauches befinden sich Pferde, die das Schiff auf ebenfalls verborgenen Rädern über Land ziehen. Schon beim Bau erregt das Schiff Aufsehen: Das Schiff auf trockenem Land wird als „verloren guot“ (V 691; „Verschwendung“) erachtet und Mauricius scherzhaft mit Noah verglichen. Mauricius reist auf diesem Schiff querfeldein nach Beamunt und erregt weiterhin großes Aufsehen: Wie einem Brautzug (V 748) folgt ihm eine große Menschenmenge. Am Turnierort angekommen schlägt Mauricius ein prachtvolles Zelt auf und lässt sich von der herbeiströmenden Menschenmenge „als ein wildez tier“ (V 772; „wie ein wildes Tier“) bewundern. Er bewirtet seine Gäste und richtet einen Gottesdienst aus. Danach rüstet sich Mauricius zum Turnier, versteckt sein Streitross im Schiffsinneren und fährt mit dem Schiff lärmend bis vor die Burg, wo er Anker wirft. Die Gräfin von Beamunt, die Zeuge dieser Ankunft wird, vermutet entweder den heiligen Brandan oder den Antichristen auf dem Schiff. Alle Ritter stürmen auf den Turnierplatz, wodurch ein solches Gedränge entsteht, dass der Graf von Beamunt einen Ritter versehentlich mit der Lanze ersticht – eine „sünde“, für die der Erzähler den „schifman“ (VV 918f.; „Schiffer“) verantwortlich macht. Weinend zieht sich der Graf mit seiner Frau vom Turnier zurück, doch Mauricius bewegt die anderen Ritter das Turnier Griechen verschiebt, vgl. Wagner 2009b, S. 357f. 94 Vgl. – mit negativer Antwort – Reinitzer 1977, S. 16. 95 In diesem Fall wären nur die ersten 12 Verse des Mauricius’ als Prolog zu identifizieren, ein wiederum für die Märendichtung typischer Umfang.
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fortzusetzen. Die Kämpfe beginnen, und Mauricius lässt sein Schiff in den größten Kampflärm steuern, um dort aus einer extra dafür angefertigten Luke strahlend ins Turniergeschehen auftreten zu können. Er kann sehr viele Gegner besiegen – darunter auch eigene Verbündete. Nach dem Kampf verschenkt der Sieger Mauricius einen Tag lang seine gesamte Habe, allem voran sein Schiff, das dabei vollständig zerstört wird.
Susanne Plaumann hat das Schiff als theatrale Inszenierung von Macht und Herrschaft ausführlich gewürdigt und ihm als eine der ersten damit eine zen trale und nicht nur schmückende Bedeutung in der Erzählung zuerkannt.96 Doch geht das Schiff in seiner Bedeutung als Repräsentationsobjekt noch nicht auf: Ich begreife das Schiff auch als Memorialraum, der den archaisch-ritterlichen Raum des Prologs innerhalb der Erzählung vergegenwärtigt und das Pendant zu dessen langem Schatten darstellt. Dies hat grundsätzlich schon Kurt Ruh erkannt: Das Thema des Prologs ist ritterschaft umbe êre / diu muoz kosten sêre (V 85f.) […]. Dann kommt eine Minnehandlung in Gang. Ihr Thema ist Frauendienst um Lohn […]. Das Turnierschiff verbindet nun beides: Es demonstriert den Anspruch auf ritterschaft umbe êre, und diese um einer frouwe willen, um deren Lohn und Besitz es geht. Deshalb der überraschende galiotten-(‚Seeräuber‘)-Vergleich (V. 807ff.) und die ‚Landung‘ vor der Burg der Dame (V. 891ff.): zeichenhafte Darstellung der Besitznahme.97
Was Ruh als neue Verbindung zweier Aspekte ansieht, ist freilich bereits im Prolog miteinander verwoben: Das Thema Frauendienst um Lohn wird nicht erst in der Minnehandlung entfaltet, sondern in der Minnereflexion des Erzählers, die ich zum Prolog rechne; und der Ursprung der ritterschaft ist bereits mit Minne98 verbunden, die beiden Aspekte Kampf um Land und Minne durchziehen (positiv oder, wie bei Nero, negativ ausgeführt) den gesamten Prolog und ergeben somit gemeinsam die inhaltliche Füllung des archaisch-ritterlichen Raumes. Auch die Farben, die das Schiff trägt, entsprechen dieser Verknüpfung; einerseits repräsentiert das Schiff vielfach die Wappenfarben des Mauricius’99 (und erinnert damit metonymisch an die Ritterschaft), andererseits ist es gänzlich in Scharlachtuche gehüllt: Mit diesem überaus feinen, weichen Tuch, das selbst dem edelsten Körper schmeichelte, wird nun der Schiffsleib eingeschlagen; er erhält dadurch einen seidenähnlichen, intensiven roten Glanz. Das leuchtende Rot mag andeuten, welches Ziel die Reise hat. Auf ihm
96 Vgl. Plaumann 2003, S. 31‒34. 97 Ruh 1983, S. 152. 98 Freilich nicht immer mit Minnedienst, doch nimmt auch der Aspekt Kampf um Land ze kriechen, ze rôme und ze kerlingen durchaus unterschiedliche Formen an, ohne aber seine Identität zu verlieren. 99 Vgl. Tomasek 1986, S. 268f.
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werden später die Wappen angebracht, so daß das Haus ‚Craûn‘ in eine sichtbare Verbindung mit der causa amoris tritt.100
Doch damit nicht genug, noch in zwei weiteren, räumlichen Aspekten, die der Text durchweg als Faszinosum dominant setzt, erinnert das Schiff den Prolog: Zum einen ist es ebenso beweglich wie die Ritterschaft, da es wie diese den gesamten erzählten Raum des Prologs den gesamten erzählten Raum der Erzählung durchreist; und die verborgene Grundlage dieser wunderbaren Beweglichkeit wird vom Erzähler umfangreich geschildert (vgl. VV 635‒656, 723‒726). Zum anderen vermischt das Schiff mit Land und Wasser zwei Räume, die normalerweise streng voneinander getrennt sind – analog zum Prolog, der Erzählraum und erzählten Raum vermischt und damit auch die Grenzen zwischen Prolog und Erzählung veruneindeutigt. Die Vermischung der beiden unvermischbaren Räume bestimmt die Schiffsbeschreibung von Beginn an und durchgehend und ist Grundlage des wunders: er hiez ein schif machen von wunderlîchen sachen, daz sollte gân âne were über velt als ufem mere. daz wart durch wunder getân. (VV 627‒631)
Er befahl ein Schiff zu bauen aus erstaunlichen Materialien, das sollte ungehindert über freies Feld wie auf dem Meer fahren. Das wurde gemacht, um Erstaunen zu erregen.
Auf diese Paradoxie spielen Erzähler und Personal noch vielfach, bis zur vollständigen Zerstörung des Schiffes, an,101 und zu dieser Paradoxie gehören auch die wiederholte Bezeichnung Mauricius’ als Schiffmann im Turnier (vgl. VV 919, 1007) und die Interpretation der Gräfin, dass entweder der heilige Brandan oder der Anti100 Fischer 2006, S. 124f. Die Erinnerungsfunktion an Minne hat auch bereits Tomasek herausgearbeitet: „Es handelt sich beim Schiffsvergleich also um ein lyrisches Motiv, ein Bild, das Morisses selbst in seinen Liedern (etwa in der Weise Girauts) verwendet haben kann und das vom Verfasser der afrz. Morisses-Dichtung als Sinnbild eingesetzt wurde. Das zweifelnde Schwanken stellt diejenige Seelenlage dar, in der sich Mauricius zu Beginn der Dichtung befindet (417‒523). Wenn der afrz. Dichter die Turnierfahrt also unter das Signum des Schiffes stellt, so macht er damit im Sinne des trobadoresken Schiffsmotives kenntlich, daß diese aventiure einen von Leid, aber auch von Hoffnung geprägten Minnedienst eines von der Liebe überwältigten Mannes darstellt. Zugleich aber wird hiermit deutlich gemacht, daß auch bei der Turnierfahrt ein gutes Ende keineswegs gesichert ist, sondern, wie es Gotfried von Straßburg im ‚Tristan‘ formuliert, das Schiff als Sinnbild des ungewissen minnen muotes in eine durchaus ungewisse habe steuert“ (Tomasek 1986, S. 273). Tomaseks Vergleichspunkt für diese sehr spezifische Deutung ist vor allem die altfranzösische Troubadours-Lyrik, so dass seine intertextuellen Bezüge vielleicht für die altfranzösische Vorlage überzeugen, für den mittelhochdeutschen Mauricius von Craûn aber kaum gleiche Relevanz haben; hier repräsentiert das Schiff nicht in erster Linie Mauricius’ Befindlichkeit, sondern Minne und Ritterschaft allgemein. 101 Vgl. VV 667, 676‒679, 683f., 687‒694, 750‒754, 762f., 893f., 926, 973, 1040f., 1058‒1060.
Im langen Schatten des Prologs: Mauricius von Craûn
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christ mit diesem Schiff ankomme (vgl. VV 882‒890): Der Text stellt anhand des Schiffes Extreme gegenüber, ohne vermittelnde Übergänge zu schaffen. Inhaltlich wie strukturell erinnert das Schiff den Prolog, und als Memorialraum präsentiert es die fragwürdige Einheit von Ritterschaft und Minne, erinnert die ersten Verse des ersten erzählten Raumes „ze Kriechen huop sich ritterschaft / dô sie Troie mit kraft / besâzen durch ein frouwen“ (VV 13–15; „Bei den Griechen entstand die Ritterschaft, als sie Troja kraftvoll beglagerten um einer Dame willen“), konfrontiert die Erzählung mit dem virtuellen, archaisch-ritterlichen Raum. Für die Dauer der Existenz des Schiffes wird der erzählte Raum durch diesen virtuellen Raum überformt, wobei der materielle Körper des Schiffs das Zentrum, nicht aber die äußeren Grenzen des erinnerten und aktualisierten archaisch-ritterlichen Raumes ist: Die Erzählung über das Schiff hat sich bereits den Raum erobert, bevor es auch nur einen Meter weit gefahren ist.102
Nur für die Dauer der Existenz des Schiffes zeigt der erzählte Raum überhaupt Ansätze einer gewalthaften Auseinandersetzung um eine Frau, Ansätze einer Belagerung,103 was sich nach Zerstörung des Schiffes in einer „Schlafkammerburleske“104 auflöst. Freilich ist die Identität des solchermaßen überformten erzählten Raumes höchst fragwürdig, von seiner Dauer ganz zu schweigen: Das Schiff führt als Pendant des Prologs die Virtualität des archaisch-ritterlichen Raumes durch seine hohe Dynamik (Beweglichkeit), seine Uneindeutigkeit (räumlich und interpretativ) und seine begrenzte Dauer (Zerstörung nach Beendigung (!) des Turniers) innerhalb der Erzählung deutlich vor Augen. Das Schiff – begriffen als Memorialraum der archaischen Ritterschaft des Prologs – komplettiert die Struktur, die der Prolog angelegt hat: Der Raum der Ritterschaft ist selbst beweglich geworden und am Ende seiner Reise zerstört. Diese räumliche Dimension der Dichtung und die virtuelle Fragwürdigkeit, die sie transportiert, wurde bislang von der Forschung nur marginal wahrgenommen; so liest man etwa bei Sonja Glauch in einer Anmerkung zum Stellenwert des Höfischen im Mauricius von Craûn: Die Repräsentationskultur – Paraden, Empfänge, Gastmahle, Feste, Turniere –, die sonst in der höfischen Literatur immer den Glanz eines fürstlichen Hofes propagiert, ist im ‚Mauritius von Craûn‘ eine gänzlich mobile: Wagenumzug und Turnier scheinen von nirgendwoher zu kommen und lösen sich ebenso wieder – in einen Trümmerhaufen – auf.105
102 Plaumann 2003, S. 31. 103 Vgl. dazu ausführlich Wagner 2009b. 104 Vgl. Fischer 2006, S. 201‒222; 105 Glauch 2009, S. 275.
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Die virtuellen Haupträume und ihre Veränderung im Akt des Erzählens
Glauch problematisiert damit die Interpretation Tobias Bulangs, der die Dichtung als Vorführung von „Aporien und Grenzen höfischer Interaktion“106 versteht, also in eine ganz ähnliche Richtung geht wie die vorliegende Studie. Inwieweit die fragwürdige Welt eine höfische ist, kann rücksichtlich des eher archaischen Ritterschafts- und Minnebegriffs tatsächlich hinterfragt werden (wobei der Text aber auch viele höfische Züge präsentiert, allen voran eine durchaus komplexe Verhandlung von Minnelohn),107 doch Glauch bemerkt nicht, dass sie mit ihrer Entgegnung eher den Aspekt der Fragwürdigkeit bestätigt, der den Text in der Lesart Bulangs und auch nach der hier vorgeschlagenen Interpretation gezielt dominant setzt: Die fragwürdige Räumlichkeit, die Glauch durchaus treffend markiert, ist diejenige des virtuellen Raumes, den der Text umfassend und durchgehend nutzt, um auf vielen Ebenen die Fragwürdigkeit seiner gesamten erzählten Welt – sei sie ze kriechen, ze rôme oder ze kerlingen – vorzuführen. Da der Text für diesen Zweck fundamental die Virtualität der Haupträume der Erzählung nutzt, präsentiert er in meiner Lesart nicht zuletzt ein komplexes, autopoietisches Spiel mit den mittelalterlichen Bedingungen des Erzählens108 – also gerade das Gegenteil von dem, was Glauch in ihm sieht: Der Mauricius von Craûn ist meines Erachtens ein Beispiel einer erzählerischen Hochkultur, nicht aber ein mehr oder weniger missglückter Versuch im Selbstfindungsprozess „an der Schwelle zur Literatur“.109 Noch deutlicher als im Gürtel wirkt sich im Mauricius von Craûn der – anfangs rudimentäre – Erzählraum auf den erzählten Raum aus, doch werden hier mit den Grenzen auch die Wirkrichtungen uneindeutig und fließend: Im Unterschied zum Gürtel liegt für den historischen Erzähler nicht ein einfacher Entscheidungsfall vor, nach dem er konsequent unterschiedliche Geschichten erzählen kann, sondern er ist ständig vor Entscheidungen gestellt, wie er durch seine Darbietung das Geschehen bewertet, ohne dass es eine einzige Möglichkeit gäbe, durchgehend Kohärenz herzustellen; genau dies aber ist das Programm der Dichtung in der uns überlieferten Form,110 die ein virtuoses Spiel mit dem virtuellen Raum präsentiert.
106 Vgl. Bulang 2001. 107 Vgl. dazu ausführlich Wagner 2008a. 108 Hierzu passen auch die Ausführungen Jehlys, die die vielen unterschiedlichen Perspektiven und Fehldeutungen aufdeckt, die die Erzählung präsentiert, vgl. Jehly 2002. 109 So der Titel der Habilitationsschrift Glauchs, vgl. Glauch 2009. Gegen Glauchs Grundthese eines eher unterkomplexen höfischen Erzählers vgl. auch Laude 2008. 110 Dies jenseits der Frage nach der eigenständigen Leistung des deutschen Dichters und der Identität der verlorenen französischen Vorlage.
Beobachten des erzählten Raumes im erzählten Raum
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4.3 Beobachten des erzählten Raumes im erzählten Raum und die umfassende Virtualisierung der Erzählwelt im Prosalancelot Eine Arbeit über den virtuellen Raum in der Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts kann bei der Fülle der Gegenstände nicht komplett sein; sie wäre jedoch in keiner Weise hinreichend, würde nicht auch der Prosalancelot behandelt werden: Dieser Prosaroman nutzt den virtuellen Raum exorbitant und so vielfältig, dass es hier nur exemplarisch behandelt werden kann. Zugleich aber stellt der Prosalancelot eine Ausnahme gerade in Bezug auf den virtuellen Raum dar, was den Text grundsätzlich von den bislang behandelten Texten unterscheidet und ihn zu einer äußerst vielversprechenden Vergleichsfolie macht: Der Prosalancelot besitzt keinen Erzählraum, und der Wegfall eines der beiden (für mittelhochdeutsche Texte typischen) virtuellen Haupträume der Erzählung hat weitreichende Konsequenzen für die Raumkonzeption des Romans. Dies mag verwundern, wartet der Prosalancelot doch mit einem Erzähler auf, der seine Geschichte in der Technik des Entrelacement111 auch deutlich zu untergliedern und zusammenzufügen scheint; doch fehlt dem Roman die reale Grundlage des fiktiven virtuellen Erzählraums: die historische Aufführungssituation. Schon Rudolf Brummer, der tendenziell die gesamte Prosadichtung als für die private Lektüre konzipiert begreift, schließt explizit für den Prosalancelot eine Aufführungssituation aus: Im Gegensatz zu den Versdichtungen wollten die Werke in der neuen Gestalt nicht vorgetragen, sondern selbst gelesen werden. Wohl darf angenommen werden, daß man sich anfangs auch bei den Prosawerken mit Vorlesen behalf, aber als solche große Romane wie der mehrere Bände umfassende Gral-Lancelot-Zyklus erschienen, konnte man es dabei nicht mehr bewenden lassen.112
Dies bestätigt für den Prosalancelot auch Manfred Günter Scholz, der gleichzeitig zu Recht vor einer einfachen Differenzierung Vers=Vortrag, Prosa=Privatlektüre warnt und fordert, dass „jedes einzelne Prosawerk […] auf die ihm innewohnenden Rezeptionsindizien hin untersucht werden“113 müsse. Und gerade hier liefert der Prosalancelot eine Menge an Indizien, die eine private Lektüre als Erstrezeption für gesichert erscheinen lassen: Zunächst beginnt das äußerst umfangreiche Werk medias in res, der Erzähler kommuniziert nicht, 111 Zur durchgehenden Erzähltechnik des Entrelacement, also der Schachtelung parallel laufender Handlungsstränge, vgl. Ruberg 1965, S. 129‒135. 112 Brummer 1948, S. 22. Vgl. dazu auch Klinger 2001, S. 53, Anm. 4. 113 Scholz 1980, S. 185.
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wie in den Prologen der Versromane üblich, einen virtuellen Raum, der neben ihm selbst ein Publikum inkludiert. Auch nach in diesem Sinne autopoietischen Stellen – nach fingierten Auseinandersetzungen mit einem Zuhörer wie im Erec etwa oder nach poetologischen Ausführungen zur richtigen Art des Erzählens wie im Tristan und Parzival – sucht man im Prosalancelot vergebens; statt dessen verknüpft der Erzähler regelmäßig seine Erzählstränge miteinander und kommuniziert dabei einen ‚Erzählraum‘, der bei näherem Besehen eher als ‚Leseraum‘ bezeichnet werden müsste, wie die entsprechenden Stellen aus der ClaudasHandlung exemplarisch zeigen. So kommuniziert der Erzähler bereits ganz zu Beginn der Handlung, bei der Personeneinführung König Bans und seines Sohnes Lancelot, der jedoch auf dem Namen Galaad getauft wurde, einen virtuellen Raum, der ihn gemeinsam mit dem Leser oder den Lesern als ununterschiedenes „wir“ dem Buch gegenüberstellt: und wie er ward geheißen Lancelot, das sol das buch vil wol hernach gesagen, wann wir haben es yczo keyn stadt, wann wir múßen nuͦ volgen der gerechten zal als wir begunnen han. Sie spricht das der konig Ban hett ein nachgebur […].114
Wie er aber den Namen Lancelot bekommen hat, wird dies Buch später berichten, denn jetzt haben wir dazu keine Gelegenheit, weil wir dem geraden Gang der Erzählung folgen müssen, wie wir es115 begonnen haben. Er116 berichtet, dass König Ban einen Grenznachbarn hatte […].
Dies ist nicht das „wir“ etwa der ersten Strophe des Nibelungenliedes, das sich auf gemeinsames Wissen aus der Vergangenheit bezieht, nur um sich in der letzten Verszeile in ein „ihr“ und ein impliziertes Erzähler-Ich aufzulösen;117 diejenigen, die in dieses „wir“ inkludiert sind, stehen gleichermaßen einer Quelle gegenüber, die im Hier und Jetzt des ‚Erzählraumes‘ bereits fertig vorliegt: dem Buch. Dies bemerkt schon Ruberg:
114 Prosalancelot I, S. 10,11‒14; Übersetzung hier und im Folgenden nach Hans-Hugo Steinhoff. 115 Steinhoff übersetzt hier „… wie wir sie begonnen haben“ und bezieht die Aussage damit auf das Erzählen der Erzählung, was jedoch der mittelhochdeutsche Text nicht ergibt. 116 Steinhoff übersetzt hier „Sie berichtet…“ und bezieht den Bericht damit auf die Erzählung, die jedoch im mittelhochdeutschen Text überhaupt nicht vorkommt. Stattdessen bezieht sich das „Sie“ auf die „gerechte zal“, übertragen als „gerader Gang der Erzählung“. 117 Vgl. Nibelungenlied, 1,1: „Uns ist in alten mæren wunders vil geseit / von helden lobebæren, von grôzer arebeit / von fröuden, hôchgezîten, von weinen und von klagen, / von küener recken strîten muget ir nu wunder hoeren sagen.“; „Uns ist in alten Erzählungen viel Wunderbares erzählt worden von hervorragenden Helden, von großen Mühen, von Herrlichkeiten, Festen, von Klagen und Trauern; von den Kämpfen tapferer Helden könnt ihr nun erstaunliche Geschichten hören“.
Beobachten des erzählten Raumes im erzählten Raum
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Vom Beginn an wird kein Zweifel daran gelassen, daß das buͦch die lenkende Kraft ist, die keine großen Abschweifungen zuläßt und die Erzählung sicher einem Ziel zuführen wird. Der Leser darf sich getrost ihrer Führung anvertrauen, weil sie über das Geheimnis der gerechten zal verfügt. Der Erzähler steht selbst unter der Autorität der historia und sieht sich nur als ihren Mittler an.118
Der Rezipient verändert sich dadurch im Vergleich zum Versroman, er „wird zum Leser (nicht mehr zum Hörer) einer historischen Quelle, die sich selbst zu erzählen scheint“.119 Diese Präexistenz des Buches und damit der Erzählung und des Gangs der Erzählung bereits vor dem ‚Erzähler‘ zeigt sich regelmäßig in den weiteren autopoietischen Stellen,120 bei denen der ‚Erzähler‘ die Verschachtelung der bereits fest vorliegenden Erzählung stets lediglich diagnostiziert und sich nicht – wie etwa der Erzähler des Parzival – wiederum erzählend zum „hakenschlagenden“ Gang einer lebendigen Erzählung verhält.121 Bisweilen scheint in den Formulierungen noch das überkommene Erbe eines Erzählers aufzublitzen, der einem Publikum etwas vorträgt: Nu mußen wir laßen beliben die rede von dem konig und sprechen furbas von dem truchseßen, wie er dethe.122
Nun wollen wir die Geschichte des Königs lassen und weiter davon erzählen, wie sich der Truchsess verhielt.
Doch direkt anschließend wird der Akt des Sprechens auf „die rede“ bezogen („Also spricht die rede furbas“123), womit das „wir“ als ununterschiedene Einheit von ‚Erzähler‘ und Leser der Schrift gewordenen Erzählung gegenübersteht. Deutlicher noch wird dies in der analog angelegten, nächsten Stelle, in der der ‚Erzäh118 Ruberg 1965, S. 134f. 119 Merveldt 2004, S. 31. 120 Vgl. Prosalancelot I, S. 26,2ff.; S. 38,28ff.; S. 50,33ff.; S. 56,29ff.; S. 58,34ff.; S. 78,8ff.; S. 86,15; S. 100,7ff. et passim. 121 Vgl. etwa Parzival 3,25‒4,8: „Solt ich nu wîp unde man / ze rehte prüeven als ich kan, / dâ vüere ein langez maere mite. / nu hoert dirre âventiure site. / diu lât iuch wizzen beide / von liebe und von leide: / vröude und angest vert dâ bî. / nu lât mîn eines wesen drî, der ieslîcher sunder pflege / daz mîner künste widerwege: dar zuo gehôrte wilder vunt, / ob si iu gerne taeten kunt / daz ich iu eine künden wil. / si heten arbeite vil.“; „Wollte ich nun Mann und Frau genau betrachten, wie ich es könnte, so wäre eine lange Geschichte nötig. Hört nun, worum es in unserer Erzählung geht: Sie berichtet euch sowohl von Lust als auch von Leid, Freude und Sorge ist auch dabei. Auch wenn es mich statt einmal gleich in drei Ausführungen gäbe, von denen jede von sich aus das leisten würde, was meiner Kunst entspricht – selbst dann würde außerordentliche dichterische Phantasie nötig sein, wenn sie euch das erzählen wollen würden, was ich euch jetzt ganz alleine erzählen will; die Aufgabe wäre zu groß für sie“. Zum Parzival-Prolog und seinem Erzähler ausführlich vgl. Knaeble 2010, S. 99‒167. 122 Prosalancelot I, S. 26,2‒4. 123 Prosalancelot I, S. 26,5; „Folgendes wird weiter berichtet“.
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ler‘ kommuniziert, dass „Diße rede spricht“,124 also auf eine Quelle verweist, die im Hier und Jetzt unmittelbar vorliegt – das Buch, das der Leser in seinen Händen hält. Und auch die vermeintliche Reminiszenz an einen tatsächlichen Erzählervortrag – indiziert über das immer wieder verwendete Verb „sprechen“ – ist letztlich ein modernes Missverständnis: Gemeint ist hier, dass der „Erzähler […] zu einem Leser [spricht], der nach alter Weise laut vorliest, also zugleich zuhört“.125 Nur in dieser Lesart wird kohärent, dass das „wir“ der Erzählung ‚Erzähler‘ wie Leser inkludiert, die beide ununterschieden sprechen126 – nämlich eine Erzählung, die in schriftlicher Form als Buch beiden gleichermaßen vorliegt und die der ‚Erzähler‘ nicht mehr als Vorleser, sondern als Vor-Leser vermittelt.127 Die Technik des Ent-
124 Prosalancelot I, S. 38,32; „die Geschichte berichtet“, vgl. auch ebd., S. 56,32.; S. 60,1 et passim. 125 Scholz 1980, S. 107. Dafür spricht auch, dass alle Beispiele, die Green für die Bedeutung von „sprechen“ als Indiz für einen mündlichen Vortrag anführt, sich stets auf einen bestimmten Sprecher beziehen, niemals aber auf ein ununterschiedenes „wir“, wie es regelmäßig im Prosalancelot der Fall ist. 126 Diese Einheit ist nur sehr selten aufgelöst, und auch dann dient die Auflösung lediglich dem Verweis auf die „gerechte zal“, deren Reihenfolge Leser wie ‚Erzähler‘ unterworfen ist: „Die Aufteilung des wir in ein ir und ich, in Hörer- bzw. Leseranrede und Selbstrede des Erzählers, ist äußerst selten. Ab und an wird der Leser in den Schaltsätzen ausdrücklich auf das Kommende und seine rechte Abfolge hingewiesen“ (Ruberg 1965, S. 135). 127 Frank Brandsma hat vergleichend herausgearbeitet, dass in der französischen Vorlage neben dem Verweis auf li contes vermehrt ein „Ich“ zu Wort kommt, das er aber – selbst bei einer traditionellen Rezeptionsweise, dem Vortrag vor einem hörenden Publikum – bereits als Bezeichnung eines Lesers versteht: “When the prose ‘Lancelot’ text was read aloud to a listening audience, the ‘I’ may have been interpreted as the narrator, but perhaps it is even more probable that the ‘I’ was understood as being the reader, the oral deliverer of the Text, who is of course going to give his listeners an explanation or has just spoken to them about a certain event or character.” (Brandsma 2007, S. 127). Der deutsche Text setzt aber signifikant häufig ein „wir“ ein: “In three quarters of the formulas the German text refers to wir and/or uns, where the French text has li contes. A far more personalised narrative agent comes forward here, in phrases which also seem to include the audience. Given the way the translation follows the original faithfully everywhere else, this is a serious deviation, which must be the result of a well-considered decision of the translator” (ebd., S. 129f.). Brandsma kommt dann allerdings zu einem etwas anderen Fazit als dem hier vorgestellten: “The predominance of the wir/uns format is striking. The translator has systematically chosen to combine the li contes references with a more personal form of communication with the audience at the transitions in the interlace structure, which are crucial if the listeners are to keep track of the complicated narrative” (ebd., S. 130). Brandsma geht grundsätzlich von der kollektiven Rezeption des Prosaromans aus, was ich auch nicht gänzlich ausschließen möchte; doch wäre zu bedenken, dass die unkünstlerische Prosa-Form und die exorbitante Länge einen herkömmlichen Erzählervortrag nicht begünstigt und – wie Brandsma ja auch für die französische Rezeption veranschlagt – selbst im Fall eines Vortrags vor einem Kollektiv der Erzähler als Vor-Leser erscheint. Das „wir“ des deutschen Prosalancelot aber kann genausogut auf die Zweiheit ‚Erzähler‘-Leser bezogen werden.
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relacements wird nicht (wie etwa im Parzival) dazu genutzt, den Erzähler greifbar zu machen und einem Publikum gegenüberzustellen; es zeigt sich vielmehr, dass „der Erzähler den Eindruck vermeiden will, durch die ständige Schachtelungsinterruption eigenmächtig die Einheit der Geschehensabläufe zu zerstückeln. Er gibt zu verstehen, daß die Führung und erzählerische Zuordnung des Geschehens nicht in seiner Hand liegt, sondern in der ‚historia‘ vorgegeben ist […]: Artus selbst habe seine Schreiber beauftragt, die Berichte, die die Ritter vor der Tafelrunde erstatten, schriftlich niederzulegen. Der Erzähler versäumt nicht, solche Szenen der protokollarischen Fixierung in die Wiedergabe des Gesamtgeschehens aufzunehmen.“128 Freilich wird in dieser Konzeption der Erzählung trotzdem erzählt, doch paradoxerweise ist es fragwürdig, ob das Erzählen noch vom ‚Erzähler‘ übernommen wird oder vielmehr von der Schrift, die bis zur Erzählung selbst zurück- und aus ihr hervorgeht.129 Diese grundlegende Rolle der Schrift für den Prosalancelot, der seine Figuren Lancelot und Artus auch lesend einführt,130 hat Haiko Wandhoff herausgearbeitet, der tendenziell den gesamten Romanzyklus als Epitaph der Artuswelt begreift: Im Gegensatz zum höfischen Versroman „maskiert sich der ‚Prosa-Lancelot‘ selbst als eine der Grabinschrift analoge, nur noch auf die Vergangenheit orientierte Erzählform, in der die ‚tötende‘ Schrift des Epitaphiums auf die Schriftlichkeit des Romans übergreift“.131 In medialer Hinsicht ist Wandhoff zuzustimmen, in literaturgeschichtlicher dagegen nicht: In der Tat setzt der Prosalancelot die Schrift und das Buch dominant und sichert die Tradierung der eigenen Geschichte schon im erzählten Raum systematisch in schriftlicher Art und Weise ab; doch literaturgeschichtlich ist der Prosaroman weder ein „Epitaph der Artuswelt“, die auch noch im Spätmittelalter sich größter Beliebtheit erfreut, 128 Ruberg 1965, S. 134. 129 Dieses Zurücktreten des Erzählers spiegelt sich auch in der im Vergleich zum höfischen Versroman bescheidenerem Dichterkonzeption: „Der deutsche ‚Prosa-L.‘ ist, anders als die höfischen Versromane, nicht von einem sich selbst nennenden Autor verantwortete Neugestaltung nach einem frz. Versroman, sondern die im Prinzip (unbeschadet gelegentlich spürbarer Selbständigkeit im Detail) genaue Vorlagentreue anstrebende Übersetzung eines ursprünglich afrz. Prosaromans“ (Ruberg 1985, Sp. 531). Der Prosaroman besitzt über die genannten formalen Indizien hinaus auch eine fingierte Überlieferungskette, „über die die erzählte Geschichte sich selbst authentifiziert. Die Autorfigur fungiert allerdings nicht zugleich auch als vermittelnder und disponierender Erzähler, sondern muß sich dem contes unterordnen, einer Instanz, die die Beglaubigungsstrategie des Textes dadurch fortsetzt, daß sie dem Rezipienten – und insbesondere einem lesenden – eine unvermittelte Begegnung mit der Quelle suggeriert. Die doppelnde Spiegelung der höfisch-öffentlichen Aufführungssituation durch eine im Text formulierte Kommunikation zwischen dem Autor und seinem Publikum, die in vorgängiger Artusepik das Erzählen grundlegend determiniert hatte, ist dabei fast völlig vermieden“ (Waltenberger 1999, S. 13). 130 Vgl. Brummer 1948, S. 22. 131 Wandhoff 2003, S. 323.
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noch etwa ein Abgesang des Versromans und seiner virtuellen Haupträume. Der Prosalancelot ist ein erster Versuch einer rein schriftlich konzipierten Erzählform im deutschen Sprachraum des 13. Jahrhunderts, der hier noch keine Tradition ausbilden kann und damit das schriftlich-mündliche Medium des höfischen Erzählens in keiner Weise ablöst. Nichtsdestoweniger sind die Veränderungen in narratologischer wie in raumtheoretischer Hinsicht innerhalb des Prosalancelot fundamental. Auf Basis der dominanten Rolle der Schrift und ihrer Organisationsform Buch soll im Folgenden nur noch vom ‚Erzähler‘ die Rede sein, da dieser ohne Aufführungssituation als historische Person nicht mehr vorhanden ist und seine Funktion – das Erzählen – tendenziell an die auch ihm vorliegende Schrift abgibt.132 Der damit entstehende virtuelle Erzählraum kann vergleichsweise sehr klein werden: Als Raum, der ‚Erzähler‘ und (den einzelnen) Leser als „wir“ inkludiert, stellt er die kleinstmögliche Kommunikationsform des virtuellen Raumes dar, der fast in einen imaginären Raum übergeht. Der erzählte Raum ist im Prosalancelot nicht mehr selbstverständlich und offensichtlich gegeben, wie dies bei den Versepen der Fall ist, deren Erzählraum im performativen Akt des Erzählens unmittelbar kommuniziert wird und sich in den Erzählerkommentaren und Publikumsansprachen der Texte mittelbar niederschlägt. Bislang war die historische Aufführungssituation stets mitzudenken, wenn es um die beiden virtuellen Haupträume der Erzählung ging; denn die der höfischen Versepik eigene Kommunikationssituation zwischen einem historischen Erzähler und einem historischen Publikum ist die unmittelbar erlebbare, faktuale Grundlage der fiktionalen, virtuellen Räume Erzählraum und erzählter Raum.133 Die diese Arbeit abschließende, exemplarische Untersuchung dieser virtuellen Haupträume im Prosalancelot anhand der ersten beiden Bücher (Die schmerzenreiche Königin, Lancelots Kindheit) soll zeigen, welche Auswirkungen auf die virtuellen Haupträume der Erzählung der Wegfall der historischen Erzählsituation zeitigt. Darüber hinaus stellt dieses letzte interpretative Kapitel natürlich auch eine Arbeit zum Raum im Prosalancelot dar und ist damit auch eine kritische Revision der grundlegenden Arbeit Uwe Rubergs. Ruberg veröffentlichte 1965 seine Monographie über Raum und Zeit im Prosa-Lancelot, in der er – v. a. gegen Dieter Röth – für den Prosaroman ein Raumkontinuum veranschlagt: Die
132 Waltenberger spricht von „der generellen Absenz einer personalen Erzählerstimme“ (Waltenberger 1999, S. 43). Damit ist auch klar, dass der Prosalancelot nicht etwa der erste neuzeitliche Roman ist, da sich in diesem der Erzähler mehr und mehr als Herr seiner Geschichte geriert. Es handelt sich beim Prosalancelot vielmehr um einen zum Versroman parallelen Entwurf literarischer Räumlichkeit. Zu meiner systematsichen Weiterentwicklung der hier begonnenen Überlegungen zu einer historischen Narratologie vgl. ausführlich Wagner 2015b und Wagner 2015d. 133 Vgl. dazu ausführlich oben, Kap. 2.2.
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Landschaftselemente würden nicht von der Handlung absorbiert werden (wie dies die Forschung der 1960er Jahre für die höfische Epik behauptet),134 sondern bildeten „ein eigenes Raumkontinuum, dem auf weite Strecken die Kraft eignet, die Handlung entscheidend mitzuprägen“.135 Diesem Raumkontinuum unterstünden auch ehemals freie Räume wie der magische Raum: „Alle verzauberten, märchenhaften Landschaften erscheinen im Prosa-Lancelot im Stadium der Auflösung. Wo der Dichter sie nicht selbst rational faßbar macht, werden sie durch die ritterliche Leistung, durch das Ergreifen einer verborgenen Wahrheit, als Welt bösen Scheins entlarvt und in das Raumkontinuum zurückgeführt“.136 Obwohl Ruberg mit der Tendenz zur Stabilisierung des Raumes einen wichtigen Punkt in der Raumkommunikation des Prosalancelot erkennt, ist seine Einstufung des Raums im Prosaroman als gleichsam modernes Raumkontinuum letztendlich ahistorisch, „denn zwar zeichnet sich das raumzeitliche Gefüge des Romans durch einen deutlich erhöhten Grad an Komplexität, Reflektiertheit und narrativer Funktionalität aus, eine Kontinuität, die im modernen, physikalisch-rationalistischen Sinne von den Ereignissen abstrahierbar und ihnen vorgeordnet wäre, läßt sich ihm noch kaum unterstellen“.137 Wie zu zeigen sein wird, ist die Raumkommunikation des Prosalancelot in der Tat nicht der Beginn einer modernen Raumvorstellungen, denn parallel zu der Tendenz der Verfestigung des normalen Raumes ist der Prosalancelot zugleich von einem forcierten Einsatz des virtuellen Raumes bestimmt, so dass sich der Roman in einem grundsätzlichen Spannungsverhältnis von normalem und virtuellem Raum entfaltet. Die Forschung zum Eingang des Prosalancelot (also zu den ersten beiden, hier vornehmlich behandelten Büchern des Lancelot propre) ist trotz seiner Beliebtheit in letzter Zeit kaum befriedigend, was seine Einordnung in den Gesamtzusammenhang betrifft; dies liegt vor allem an der inhaltlichen Isolation dieses Beginns: „Es gibt […] im weiteren Verlauf des LancelotRomans offenbar nicht allzu viele Rückgriffe auf dessen Vorgeschichte, also die Bücher Die schmerzensreiche Königin und Lancelots Kindheit; die Vorgeschichte scheint seltsam separiert vom eigentlich für wichtig gehaltenen erzählten Geschehen, der Lancelot-Ginover-Liebe, der Grals-Queste sowie dem Tod des Königs Artus und dem Ende seiner Herrschaft“.138 Hans Joachim Ziegeler hat die darauf basierende Sichtweise der Forschung jüngst zusammengefasst: Der Eingang des Prosalancelot sei „erzählstrukturell […] nicht gelungen, viel Aufwand für ein minimales Ergebnis, für das man sich verschiedene andere Möglichkeiten ausdenken kann und auf das in späteren Versionen des Romans gern und leicht verzichtet werden konnte“.139 Ziegeler sieht die Bedeutung der ersten beiden Bücher des Prosalancelot statt dessen in der Vorführung mannigfaltiger kasuistischer Konstellationen des Treue-Verhältnisses zwischen Herrscher und Vasall, eine Interpretationsmöglichkeit, die sicherlich auf Handlungsebene überzeugen kann, handelt doch der gesamte Prosaroman von dem (literarisch) bislang unvorstellbaren Zerfall der Artusherrschaft.140 Hier soll diese inhaltliche Interpretation um eine raum- und erzähltheoretische Interpretation erweitert werden, die den Beginn des Prosalancelot als ein programmatisches Ringen um den verlorenen Erzählraum begreift, analog zum inhaltlichen Ringen um den Herrschaftsraum in den Grenzmarken des Artusreiches.
134 Vgl. Kap. 1. 135 Ruberg 1965, S. 42. 136 Ruberg 1965, S. 45. 137 Waltenberger 1999, S. 39f. 138 Ziegeler 2012, S. 173. 139 Ziegeler 2012, S. 176. 140 Ziegeler 2012, S. 196f.
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4.3.1 Ein Berg als in die Erzählung gedoppelter Erzählraum Der für die literarische Kultur des 13. Jahrhunderts sehr ungewöhnliche Erzählraum und die Konsequenzen seiner Ortlosigkeit im unmittelbaren Erfahrungsbereich der Rezipienten schlägt sich – so die Leitthese dieses ersten Unterkapitels zum Prosalancelot – programmatisch in der Inszenierung der ersten beiden Erzählsprünge des Prosaromans nieder, also gerade in der Einführung der in dieser Form neuen Erzählweise des Entrelacements. Kurz zum Handlungsbeginn: König Ban wird in seiner eigentlich uneinnehmbaren Burg Trebe von König Claudas belagert. Dieser erwirkt ein heimliches Bündnis mit dem verräterischen Truchsess Bans. Ban beschließt parallel dazu, selbst bei seinem Lehnsherren König Artus um Hilfe anzufragen und verlässt in der Nacht zusammen mit seiner Frau, ihrem Kind Galaad/Lancelot und wenigen Bediensteten heimlich die Burg Trebe. Bei Tagesanbruch erreicht die kleine Reisegruppe ihre erste Raststelle, die auffällig umständlich räumlich inszeniert wird: und so lang rytten sie das sie kamen uß dem gebrúche und kamen in eynen walt. Da sie wol zwo myln in den walt hetten geritten, da kamen sie in ein schön lant, da hien der konig dick komen was. So ferre reyt der konig und sin gesellschafft das er kam off einen lac, der stund an dem ingange von dem lande an eim hohen reyn, daroff man alles das lant mocht beschauwen; da was es schön tag an der morgenstunde. Da sprach der konig, er wolt alda beyten biß das der tag liechter wurd. Da erbeizt er von sym pferd und ging den berg oben schauwen ob er von dannen kúnde syn burgk gesehen, die er mynnete vor all syn ander burg. Auch ducht yn das in aller der welt kein so guͦte enwere. So lang beytet der konig das der tag clare wart, und saß off syn roß und ließ die koniginn und ir geselschafft uff dem lac, der vil groß was.141
Sie ritten so lange, bis sie aus dem Sumpfgebiet in einen Wald kamen. Als sie zwei Meilen durch den Wald geritten waren, erreichten sie eine schöne Heidelandschaft die der König oft aufgesucht hatte. Der König und seine Begleiter ritten weiter, bis die an einen See kamen, der bei einer Anhöhe am Ende des Heidegebietes lag, von der aus man das ganze Land überschauen konnte. Es war noch früh am Morgen und begann eben zu tagen. Da sagte der König, er wolle hier warten, bis der Tag heller würde. Er saß ab und ging, um zu sehen, ob er oben von der Anhöhe seine Burg erblicken könne, die ihm vor allen anderen lieb war. Er glaubte nicht, dass es auf der ganzen Welt eine bessere gäbe. Der König wartete, bis es ganz hell wurde, dann bestieg er sein Streitpferd. Die Königin und ihre Begleitung ließ er an dem See zurück, der sehr groß war.
Es folgt noch eine Beschreibung des Sees, die später noch behandelt und interpretiert werden soll; damit hat der ‚Erzähler‘ hier in aller Breite drei Orte im erzählten Raum kommuniziert, von denen zwei – Berg und See – anwesend sind 141 Prosalancelot I, S. 24,11‒25.
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und einer – die Burg Trebe – abwesend ist. An dieser Stelle ist nur der abwesende Ort mit konkreter Bedeutung versehen, nicht aber die beiden Orte Berg und See, die durch die auffällige Raumkommunikation in keiner Weise in ihrer vorgeschobenen Bedeutung „Rastplatz“ aufgehen, sondern nach weiterer Semantisierung verlangen – und in dieser unbefriedigenden, spannungsgeladenen Raumkommunikation142 schaltet der ‚Erzähler‘ den ersten Erzählbruch ein, nachdem er erneut auf die Blickverbindung zwischen Berg und Burg hingewiesen hat: Der konig Ban was off den bergk gestanden, wann er begeret sere die burgk zu sehen die im als lieb was. – Nu mußen wir laßen beliben die rede von dem konig und sprechen furbas von dem truchseßen, wie er dethe. Also spricht die rede furbas: als schier als der konig Ban gescheiden was von syner burg zu Trebem dem truchseßsen was nit vergeßsen wie er und Claudas gelobet hetten.143
Der König Ban hatte den Berg erstiegen, denn er wünschte sich sehr, die Burg zu sehen, die ihm so lieb war. – Nun wollen wir die Geschichte des Königs lassen und weiter davon erzählen, wie sich der Truchsess verhielt. Folgendes wird weiter berichtet. Sobald König Ban seine Burg zu Trebe verlassen hatte, dachte der Truchsess daran, was er mit Claudas verabredet hatte.
Erzählt wird nun die Handlung in Trebe ab der heimlichen Abreise König Bans: Wie der verräterische Truchsess die Burg Trebe König Claudas öffnet und dessen Ritter Feuer in der Burg legen, wie das Patenkind König Bans, Ritter Banin, den Hauptturm der Burg erbittert gegen Claudas verteidigt und schließlich aufgeben muss, und wie Banin den untreuen Truchsess schließlich erschlägt.144 An dieser Stelle erfolgt der zweite Erzählsprung in Raum und Zeit, und die Handlung um König Ban wird wieder aufgegriffen: Alhie laßen wir die rede von Banin und von hern Claudas verliben und sprechen fúrter von dem konig Ban und von der koniginne sim wybe, der wir lang geschwiegen hann. Nuͦ wollen wir sagen wie im geschah. Diße rede spricht das der konig Ban ist off eynen hohen felß gegangen zu sehen syne burgk die im so lieb was; und der tag begunde sere zu lúchten, so dah er die mure wiß blicken
Hier lassen wir die Geschichte von Banin und von Claudas und erzählen weiter von König Ban und seiner Frau, der Königin, von denen wir lange geschwiegen haben. Jetzt werden wir erzählen, wie es ihm ergangen ist. Die Geschichte berichtet, dass König Ban die Anhöhe erstiegen hat, um seine Burg zu sehen, die ihm so lieb war. Der Tag begann hell zu leuchten, so sah er
142 Der Abbruch des Geschehens vor einem wichtigen Ereignis – hier dem Wahrnehmen der brennenden Burg – ist symptomatisch für die Schachtelungstechnik im gesamten Prosalancelot (vgl. Ruberg 1965, S. 20), was dieser ersten Schachtelung programmatische Bedeutung verleiht. 143 Prosalancelot I, S. 24,35‒S. 26,7. 144 Vgl. Prosalancelot I, S. 26‒38.
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und den hohen thurn und das lant allumb. Da er ein kleyn wil dar gesah, da sah er ein starcken rauch in der burg off geen, und in eyner kurczen wil sah er die flammen allenthalben usß schlahen, und uber ein cleyn wil sah er die großen säle darnyder fallen und die kirchen und alles das groß gestifft und sah die flammen ferischlich gein hymel schlagen, das der lufft und die wolcken rot wurden als ein flamme und das lant allumb erlúcht von dem fure.145
die Mauern weiß blitzen und den hohen Turm und das Land ringsum. Als er eine kleine Weile hingesehen hatte, sah er in der Burg dichten Rauch aufsteigen, und nach einer kurzen Weile sah er überall Flammen herausschlagen, und etwas später sah er die großen Hallen niederstürzen und die Kirchen und das ganze mächtige Münster, und er sah die Flammen furchtbar zum Himmel schlagen, dass die Luft und die Wolken rot wurden wie eine einzige Flamme und das Land ringsum vom Feuer erleuchtet wurde.
Uwe Ruberg hat dieser Passage in seiner grundlegenden Monographie zu Raum und Zeit im Prosalancelot eine Einzelanalyse gewidmet und verankert hier Grundzüge seiner Gesamtdeutung: Das Gerüst ist das Verb sehen. Achtmal begegnet es auf engstem Raum, es schafft das Kontinuum. Das Progressive liegt in dem dreimaligen ein kleyn wil – in eyner kurczen wil – uber ein cleyn wil und in den wechselnden Schauspielen, die sich seinen Augen darbieten. Zuerst ist es der vertraute Anblick der Burg, die unangetastet weiß herüberglänzt. Nicht von ungefähr wird als Einzelheit gerade der Turm herausgehoben, nicht nur, weil er am weitesten sichtbar ist, sondern auch, weil er beim Kampf um die Burg, der in dem eingeschobenen Teil berichtet wurde, die Schlüsselposition der Verteidiger darstellte. Rauch und Flammen bringen eine plötzliche Aufwärtsbewegung (off geen, usß schlahen), der Einsturz von Palast und Gotteshäusern eine Abwärtsbewegung (darnyder fallen) und die verstärkten Flammen (freischlich) eine neue Aufwärtsbewegung (gein hymel schlagen). Der Blick verharrt dann bei dem Schauspiel in der Höhe: Das Feuerrot der Luft und der Wolken hat das Weiß verschwinden lassen. Die Beschreibung der brennenden Burg endet wie die vorausgehende der unversehrten mit der Ausweisung und das lant allumb. Man denkt dabei an den erhöhten Standort des Betrachters wie auch an die außerordentliche Bedeutung dieser letzten Feste für das ganze vom Feind bestürmte Land. Nach der optischen Aufnahme des Bildes folgt die Besinnung über die Tragweite des Geschehens. Die Bewegung verlagert sich von der heimgesuchten Burg auf den heimgesuchten König, seine innere Bewegung wird äußerlich sichtbar.146
Ruberg arbeitet sowohl die Dominanz des Sehens als auch die einzelnen erblickten Motive heraus, die der gerade erzählten Handlung analog angeordnet sind. Doch seine Orientierung an einem Raumkontinuum einerseits und am Landschaftsbegriff (zusammen mit seiner romantischen Assoziation der Widerspiegelung innerer Vorgänge) andererseits verdecken auch die autopoietische Dimen145 Prosalancelot I, S. 38,28‒S. 40,7. 146 Ruberg 1965, S. 22f.
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sion der Szene: Was Ban sieht, ist das zuvor geschilderte Geschehen, das er als Abwesender eigentlich nicht sehen kann, mehr noch: das gerade seine Abwesenheit erfordert: die Einnahme der Burg mittels Verrat, indiziert durch das von den Rittern Claudas’ gelegte Feuer. Er sieht von der erhöhten Position des Berges aus das Geschehen, das erst mit dem Erzähleinschub auch ‚Erzähler‘ und Rezipient gerade ‚gesehen‘ haben. Dieser Akt des Sehens vom erhöhten Standpunkt aus ist nicht nur die einzige, ständig wiederholte Aktion Bans, sondern wird zudem vom ‚Erzähler‘ insgesamt viermal angekündigt und dabei stets mit den Erzählsprüngen des Entrelacements verknüpft. Diese Engführung von – erhöhter – Figurenperspektive und Erzählerperspektive füllt die umständliche Raumkommunikation von Berg und See mit Sinn: Zwischenzeitig wird Ban auf dem Berg zum puren Beobachter, und er zeigt während dieses Beobachtens, das immerhin die Zeitspanne von Feuerausbruch bis hin zum Gebäudeeinsturz dauert (was der Text in seiner Zeitinszenierung auch deutlich macht), keine einzige Gefühlsregung; dies ist jedoch mehr als ungewöhnlich im Prosalancelot, in dem das Personal regelmäßig von überaus starken Gefühlsäußerungen bestimmt ist.147 Erst im Anschluss an das von Ban beobachtete Bild vom feuerleuchtenden Land (von seiner verlorenen Herrschaft also) wird dieser urplötzlich von solch starken Gefühlen heimgesucht, dass er vom Pferd fällt und schließlich stirbt. Erst hier wird Ban wieder zu einer Figur der Erzählung – während seiner Beobachtung ist er gleichsam auf der gleichen Ebene wie der ‚Erzähler‘ und der Rezipient:148 auf Ebene des Erzählraums, aus dem heraus alles Geschehen in Distanz beobachtet werden kann. Der Berg ist in funktionaler Hinsicht der in den erzählten Raum hinein kopierte und gedoppelte Erzählraum, von dem aus die Beobachtung der Handlung in Distanz und jenseits von räumlichen oder zeitlichen Schranken möglich ist.149 Diese Beobachtungsmöglichkeit des ‚Erzählers‘ beschreibt Ruberg als ein grundlegendes Raumkonzept des Prosalancelot: Großräumige Landschaften, die sich nicht von den handelnden Personen überblicken lassen, können vom überlegenen Standpunkt der allwissenden Überschau des Erzählers dargestellt werden.150 147 Zu der fundamentalen Bedeutung von Affekten für den Prosalancelot vgl. Hirschberg 1986; Waltenberger 1999, S. 59‒81. 148 Auch Waltenberger beobachtet „eine besondere Nähe des Rezipienten zur erzählten Welt“ (Waltenberger 1999, S. 144) trotz der Authentifizierungsstrategie des Romans über die Quellenfiktion. 149 Aufgrund seiner mythischen Semantisierung als Ort zwischen Immanenz und Transzendenz (vgl. dazu im Überblick Lecouteux 2008) ist der Berg prädestiniert als Verschmelzungsort zwischen erzähltem Raum und Erzählraum. 150 Ruberg 1965, S. 37. Grundsätzlich zur Semantik von oben und unten in der mittelhochdeutschen Epik vgl. Störmer-Caysa 2007, S. 53‒63. Ruberg hat herausgearbeitet, dass die ‚symbo-
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Diese Beobachtungsmöglichkeit trifft hier aber in gewisser Hinsicht auch auf die Figur Ban zu, der nicht nur das gerade Erzählte – den Sturz der Burg Trebe – beobachten kann, sondern in seinem anschließenden Gebet auch die Erzählzukunft thematisiert, deren Handlungsraum am Ufer des Sees am Fuße des Berges auf der anderen Seite einsehbar ist: Herre vatter von hymelrich, erbarme dich uber myn armes wip, die von hohem geschlecht komen ist, die ir verordent hett in das rych der aventúren, uff das uwer name darmit solt werden gehohet. Herre nu beratent die armen unberaten Aleine, die ye und ye uwer geburt so sere hat gemynnet und uwern heiligen namen und uwer gebot hatt so wol behalten zu allen zyten. Gedencke, herre, mynes armen kindes, das so frü ein weise muß werden, wann du bist der weysen vatter!151
Herr, Vater im Himmelreich, erbarme dich über meine arme Frau, die aus edlem Geschlecht stammt und die du ins Land der Aventüren geschickt hast, damit dein Name dadurch erhöht werde. Herr, nun hilf der armen, hilflosen Alene, die deine Menschwerdung und deinen heiligen Namen immerdar so geliebt und die deine Gebote allzeit so fest gehalten hat. Gedenke, Herr, meines armen Kindes, das so früh Waise werden muss, denn du bist den Waisen ein Vater.
Diese letzten Worte König Bans greifen der Handlung voraus und nehmen die unmittelbare Erzählzukunft vorweg: Das „rych der aventúren“ beginnt offenbar am Fuß des Berges, denn während Alene ihren toten Ehemann auf dem Berg betrauert, fällt ihr ein, Galaad allein am See zurückgelassen zu haben; sie eilt voll Sorge zu ihrem Sohn, der jedoch gerade von einer Dame getragen wird, die zusammen mit ihm im See verschwindet152 – die Aventiure hat begonnen. Der Waise Galaad wird von der geheimnisvollen Dame in den See entrückt und kann dort wohlbehütet aufwachsen. Und die überaus fromme Alene wird sofort nach der Entführung ihres Sohnes auf dem Berg, auf dem Ban gestorben ist, in ein Kloster eintreten,153 das sich einerseits unter ihrer Führung zum Mutterkloster entwickelt154 und damit der Ehre Gottes dient, das andererseits aber auch dezidiert vor dem Zugriff Claudasʼ schützen kann.155 Was Ban auf dem Berg kommuniziert, ist also die unmittelbare Erzählzukunft, ein Wissen, das – ebenso wie das weit entfernte Geschehen in Trebe – eigentlich dem virtuellen Erzählraum vorbehalten wäre. lische Landschaft‘ im Prosalancelot grundsätzlich von Abwärtsbewegungen gekennzeichnet ist (vgl. Ruberg 1965, S. 50f., vgl. auch S. 78; 91), was diese auffällige Aufwärtsbewegung Bans umso signifikanter macht. 151 Prosalancelot I, S. 42,10‒18. 152 Vgl. Prosalancelot I, S. 44,22‒37. 153 Vgl. Prosalancelot I, S. 50,9f. 154 Vgl. Prosalancelot I, S. 124,13‒21. 155 Vgl. Prosalancelot I. S. 58,30‒34.
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Der Berg wird dadurch (noch) kein virtueller Raum für die erzählte Welt, aber er spiegelt gerade an den ersten beiden Bruchstellen des Entrelacements den virtuellen Erzählraum im erzählten Raum. Pointiert ausgedrückt, bietet der Berg im erzählten Raum zu Beginn des Romans einen Beobachtungsort für ‚Erzähler‘ und Leser, der nicht mehr in der historischen Aufführungssituation erfahrbar ist: Mit dem Berg bekommt die Perspektive des „wir“ (die Einheit von ‚Erzähler‘ und Leser, die gleichermaßen der Handlung ausgeliefert im Erzählmodell des Entrelacements ständig auf andere Räume und andere Zeiten schauen) einen konkreten Ort in der Erzählung, da außerhalb der Erzählung keiner mehr zur Verfügung steht.156 Diese Konsequenz aus dem Wegfall der historischen Aufführungssituation und damit des unmittelbar erfahrbaren virtuellen Erzählraumes zeigt sich auch wenig später, als der Berg selbst für den erzählten Raum schließlich zu einem virtuellen Raum wird: Die Kirche, die die Witwe Bans auf dem Berg bauen lässt, ist der Memoria Bans gewidmet,157 und der Leichnam des Königs wird in sie überführt, sobald sie fertig gestellt ist; Alene memoriert darüber hinaus tagtäglich ihren doppelten Verlust am Seeufer und überformt damit Berg und See als virtuellen Memorialraum für Ban und Galaad/Lancelot.158 an derselben statt da er dot bleib wart zuhant ein herlich kirch gemacht für sin sele, darinn manig schön dinst wart gethan unserem herren von hymelrich. Da die kirch wart gewihet, da trug man den konig aldar; und die koniginn fur aldar selb dritte nunnen und zwen cappellan und zwen bruder. Die koniginn hett einen sitten: wann sie off den
Wo er gestorben war, wurde eine prächtige Kirche für sein Seelenheil errichtet, in der unserm Herrn im Himmelreich viele heilige Messen gefeiert wurden. Als die Kirche geweiht worden war, trug man den König hinein, und die Königin zog dorthin mit zwei Mönchen. Die Königin machte es sich zur Gewohnheit, wenn sie aus der Kirche kam
156 Aus der Bergperspektive kann Ban für einen Moment am „Effekt der Simultaneität“ (Waltenberger 1999, S. 41) teilhaben, den die Technik des Entrelacements eigentlich nur für ‚Erzähler‘ und Leser mit sich bringt. 157 Grundsätzlich zur Rolle der Memoria im Prosalancelot vgl. Wandhoff 2003, S. 321‒323; Merfeldt 2004; Kolerus 2006, S. 205‒308. 158 Den Zusammenhang vom Sterben Bans und seiner Überführung in den (virtuellen) Raum der Totenmemoria, der symptomatisch in der Eröffnungsminiatur der Handschrift M 805‒806 das Bildprogramm bestimmt, nimmt Nikola von Merveldt zu Recht zum Anlass, um auf die grundlegende Rolle der Memoria im Prosalancelot aufmerksam zu machen, der ihre gesamte Monographie Translatio und Memoria gewidmet ist: „Das symbolträchtige Bild des Anfangs trägt weniger das zerstörerische Ende des arthurischen Romans in sich, als das Potential seiner neuen erzählerischen Möglichkeiten, die in ‚Formen memorialen Denkens‘ und ‚persönlicher‘ Erinnerung begründet sind“ (Merfeldt 2004, S. 15). Dieses Kapitel versteht sich mitunter auch als Ergänzung der Untersuchungen der „neuen erzählerischen Möglichkeiten“ des Prosalancelot in räumlicher Hinsicht.
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lac da zugegen kam und meß was gesungen, so ging sie off den lac da zugegen da die jungfrauw innsprang mit irm kinde, dahien ging sie siczen yren salter lesen und sprach da manch gut gebet fur yrs kindes sele und weynt vil sere.159
und die Messe beendet war, an die Stelle am See zu gehen, wo die junge Frau mit ihrem Kind hineingesprungen war. Dorthin setzte sie sich, um im Psalter zu lesen, und sprach viele fromme Gebete für die Seele ihres Kindes und weinte.
Die Erinnerung an die traurigen Ereignisse – also die gesamte bisherige Erzählung des Prosalancelot – wird aber bereits zuvor noch in anderer Form an die Person der Alene gebunden und mit ihr auf dem Berg und am See verortet: Die lautstark um ihren toten Ehemann trauernde Alene wird von der Äbtissin des benachbarten Klosters auf dem Berg vorgefunden, die Alene als ihre Herrin erkennt; auf die entsprechende Frage benennt sich Alene um – und benennt damit zugleich den ersten Erzählabschnitt der Geschichte, wie der ‚Erzähler‘ erklärt: da sprach die ebtißinn: „Durch gott, frauw, enhelet mirs nit, wann ich wol weiß das irs myn frauw die koniginn sint!“ „Werlich das ist war, liebe frauw, das ich wol mag heißen die Ruwig Koniginn.“ Dannen von, das sie irselber dißen namen gab, ist diß mere geheißen an dem anegenge „das mere von der koniginne mit den Großen Ruwen“.160
Da sagte die Äbtissin: „Um Gottes willen, verbergt es mir nicht, ich weiß genau, Ihr seid unsere Königin.“ „Es ist vielmehr so, Ehrwürdige Mutter, dass ich die traurige Königin heißen sollte.“ (Und davon, dass sie selbst sich diesen Namen hab, heißt der Anfang dieser Geschichte ‚Die Geschichte von der Königin mit der tiefen Trauer‘.)
Der ‚Erzähler‘ überlässt es nicht nur der Figur, die eigene Geschichte zu benennen, er überlässt es ihr gleich darauf sogar, die eigene Geschichte zu erzählen. Und in der Interaktion zwischen Erzähler und Zuhörer – zwischen Alene und der Äbtissin – entfaltet sich alles Bisherige, auch über die eigentlich begrenzte Figurenperspektive der Königin hinaus: Sa saget ir die koniginne was ir wiedderfarn was, von dem anbeginne biß an das end, wie sie ir lant verlorn hatte und ir herre der konig tot lege uff der höhe, und wie der tufel komen were in einer jungfrauwen glichniß und sprung nir yrme kinde in den lac. Da begund die ebtißin fragen wie der konig tot verlibe. Da sprach die frauw, si enwúst es selbs nit wie. Da sprach die ebtißinn: „Ich wene, liebe frauwe, das er vor leide dot sy,
Da erzählte ihr die Königin vom Anfang bis zum Ende, was ihr zugestoßen war, wie sie ihr Land verloren hatte, dass der König tot auf dem Berg liege und wie der Teufel in Gestalt einer jungen Frau gekommen und mit ihrem Kind in der See gesprungen sei. Die Äbtissin fragte, warum der König gestorben sei. Die Königin sagte, sie wisse es selbst nicht. Da sagte die Äbtissin: „Ich glaube, er ist vor Schmerz gestorben, weil seine feste
159 Prosalancelot I, S. 50,18‒27. Diese Gewohnheit der doppelten Memoria setzt Alene weiter fort, wie später betont wird, vgl. ebd., S. 124,21‒32. 160 Prosalancelot I, S. 48,1‒6.
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wann sin gute burg Trebe verbrant ist.“ „Oi liebe frauw, ist Trebe verbrant?“ „Ja es ist werlich, frauwe, ich wonde das irs wol westet.“ „Neyn ich, vil liebn, ich enwúst es nit. Nu weiß ich wol das er vor leide starb da er sie brinnen sah.“161
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Burg Trebe verbrannt ist.“ „Weh, Ehrwürdige Mutter, ist Trebe verbrannt?“ „Ja, so ist es, ich dachte, Ihr wüsstet es wohl.“ „Nein, Liebe, ich wusste es nicht. Jetzt aber weiß ich, dass er vor Schmerz gestorben ist, als er sie brennen sah.“
Direkt anschließend gibt die Königin den Auftrag, an genau diesem Ort die als Königsmünster bezeichnete Kirche zur Memoria ihres Mannes bauen zu lassen. Die bisherige Geschichte, das erste Großkapitel des Prosalancelot, hat seinen Erzählraum im erzählten Raum selbst gefunden und ist dort konkret im virtuellen Erinnerungsraum zwischen Berg und Seeufer verortet.162 Mit der Königin Evaine, der Schwester Alenes, wird gleich darauf noch eine weitere Figur in das Königsmünster auf dem Berg eingestellt, der gerade ihre beiden Söhne Lionel und Bohort entführt wurden und die sich ganz der trauernden Memoria der beiden widmet, die neben Lancelot die Hauptpersonen der folgenden Erzählabschnitte sein werden.163 Die Erinnerung an Erzählvergangenheit und Erzählzukunft wird so über die beiden trauernden Königinnen konkret auf dem Berg innerhalb der Erzählung verortet. Der für den historischen Leser nicht mehr unmittelbar erfahrbare Erzählraum schafft sich damit in gewisser Weise seinerseits wieder einen virtuellen Avatar im erzählten Raum, der sich dahingehend radikal von den bislang dargestellten virtuellen Erzählräumen unterscheidet, als er das Personal der Erzählung zusammen mit dem Leser und dem ‚Erzähler‘ inkludiert.
161 Prosalancelot I, S. 48,11‒22. 162 Vgl. auch Merveldt 2004, S. 327f. Mit der Mutter besitzt dieser Memorialraum freilich auch ein nach wie vor bewegliches Memorialbild, wie ein Blick auf das Ende der Königin Alene belegt: Nach dem Sieg über Claudas am Ende der Gralserzählung – und damit nach vielen tausenden Buchseiten völlig ohne einen erzählerischen Einbezug der Figur Alenes – taucht die Königin noch einmal auf, nur um direkt danach in ihrem Kloster zu sterben und damit in ihrer Funktion als Memorialfigur die gesamte Claudas-Handlung abzuschließen: „Und des dritten tags kam Lancelots muter mit ir gesellschafft, und Lancelot enpfing sie mit großen freuden und wirden, des glichen konig Artus, Bohort und Lyonel, die ir alle taten und erboten die gröst freud und ere der welt. Und des andern tags schied sie von dannen mit yrer gesellschaft, das waren nonnen und jungfrauwen, und reyt wiedder inn ir closter, darinn sie darnach des achten tags starb“ (Prosalancelot IV, S. 616,4-11; „Am dritten Tag kam Lancelots Mutter mit ihrer Begleitung. Lancelot empfing sie mit großer Freude und Ehre und ebenso König Artus, Bohort und Lionel, die ihr alle mit der größten Freude begegneten und ihr alle Ehre der Welt erwiesen. Am nächsten Tag brach sie mit ihrem Gefolge aus Nonnen und jungen Edelfrauen wieder auf und ritt in ihr Kloster zurück, in dem sie acht Tage später starb“). 163 Vgl. Prosalancelot I, S. 52‒58.
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4.3.2 Ausblick I: Der Erzählraum im erzählten Raum Freilich ist diese Kommunikation der Berges als virtueller Erzählraum eher eine Momentaufnahme: Der Berg innerhalb der Erzählung kann die Funktionen des Erzählraumes nicht dauerhaft übernehmen, schon gar nicht für den gesamten Prosalancelot. Zwar können die Schauplätze der folgenden Handlungsabschnitte vom Berg aus eingesehen werden, von dem aus man ja „alles das lant […] beschauwen“164 kann, doch zugleich ist auch klar, dass der genaue Ort dieses Berges und die spezifische Perspektive, die von ihm ausgeht, für die Geschichte keine Rolle spielt. Der konkrete Berg dient lediglich zu Beginn des Prosaromans und zwischenzeitig als Ort, an dem das Motiv der Umschau haltenden Figur mit der Erzählerperspektive enggeführt werden kann. Ein bislang noch nicht behandeltes Indiz für diese symbolische und nicht praktische Bedeutung des Berges (und des darauf gebauten Königsmünsters) als erzählraumanaloge Beobachterplattform ist die Vision Königin Evaines kurz vor ihrem Tod im Königsmünster: Sie lag zu eim mal alsus in irm gebetir ir geist uß irm lib gezuckt, und ducht sie wie sie einen ferren wegk wurd gefúret in eim ende von eim dicken walde. Da stund ein schön baumgarte, der breyt und lang was. In dem baumgarten stunden schöne huß und riliche, daruß sah sie gan dru vil schöne kint. Darnach kamen dru, die mochten wol herren wesen uber die anderen allesampt, des ducht sie wol das ein von den dryn was vil mere und viel schöner dann die andern zwey, und ging zwuschen den andern zweyn. By den zweyn gingen zwen man die ir huͦten. Sie besah sie wol und bekant Pharien und Lambegusen, das sieß waren; zu den zyten lebte Phariens. Sie gedacht wol das es ir zwey kint weren, wann des dritten bekante sie nicht, wann es vil mere was dann die zwey. Da kam ein man und nam sie mit der hant und leit sie zu irm closter wert.165
Einmal lag sie so im Gebet, da wurde ihr Geist entrückt, und es schien ihr, sie werde einen weiten Weg bis ans Ende eines tiefen Waldes geführt. Dort lag ein schöner großer Baumgarten. In ihm standen schöne, vornehme Häuser, aus denen sah sie drei wunderschöne Kinder kommen. Dann kamen drei, die hätten wohl Herr über alle die andern sein können, und es kam ihr vor, als ob einer der drei größer und noch schöner sei als die beiden anderen, und er ging zwischen ihnen. Neben den beiden gingen zwei Männer, die sie behüteten. Sie sah sie näher an und erkannte, dass es Phariens und Lambegus waren – damals lebte Phariens noch. Sie dachte wohl, dass es ihre beiden Kinder waren, aber das dritte kannte sie nicht, denn es war viel größer als die beiden. Da kam ein Mann und nahm sie bei der Hand und führte sie wieder zu ihrem Kloster.
Hier wird zunächst ein imaginärer Raum kommuniziert, dessen Kommunikationszugänglichkeit auf Königin Evaine beschränkt ist. Die genauere räumliche 164 Prosalancelot I, S. 24,17; „das ganze Land überschauen“. 165 Prosalancelot I, S. 312,33‒314,11.
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Inszenierung aber entstammt der ersten Schilderung des verzauberten ‚Sees‘ aus der Perspektive des ‚Erzählers‘, der zusammen mit dem Leser hinter den Zauber und in das Reich der Fee sehen kann, in dem sich Phariens, Lambegus, Bohort, Lionel und Lancelot tatsächlich aufhalten: Die frauw die yn zoh die enwonte nyrgent dann in eym großen tieffen walde, darinn was ir wandelung alle tag. […] An der selben stat da man wonde das der lac stunde, hett die jungfrauw manig schön huß stan […].166
Die edle Frau, die ihn aufzog, wohnte nirgends anders als in einem dichten, tiefen Wald, in dem sie sich alle Tage aufhielt. An der Stelle, wo man den See zu sehen meinte, hatte die junge Frau viele schöne Häuser stehen.
Evaine kann also in ihrer Vision – die im erzählten Raum im Königsmünster auf dem Berg stattfindet – an einer Beobachterperspektive teilhaben, die zuvor dem ‚Erzähler‘ und dem Leser vorbehalten war. Sie sieht in diesem in gewissem Sinne virtuellen Erzählraum weitaus mehr als Königin Alene, die zwar tagtäglich auf den ‚See‘ sieht, aber nicht hinter den Zauber blicken kann: Evaine kann den großgewachsenen und wunderschönen Lancelot sehen, wie er zuvor lediglich durch den ‚Erzähler‘ unter Berufung auf die schriftliche Quelle geschildert worden war: Das saget uns die hystoria das er der schonst jungeling was den man gesehen hatt, beide von wolgethone und von libe; synes anczliczes wollen wir auch nit vergeßsen als uns die hystoria gebútet.167
Die Historie erzählt uns, dass er von Wuchs und Gebaren – und, so erinnert sie uns, nicht zu vergessen von Angesicht – der schönste junge Herr war, den man je gesehen hat.
Mit den Personen Phariens, Lambegus, Bohort, Lionel und Lancelot sieht Evaine die Träger der Handlung, die eben erst erzählt worden war: die Wiedervereinigung ihrer entführten Kinder mit deren Lehrmeistern im ‚See‘.168 Noch einmal wird der Berg im erzählten Raum mit dem Erzählraum enggeführt bzw. bietet diesem einen konkreten Ort innerhalb der Erzählung, doch zugleich ist dieser Ort nur noch mittelbar der Standpunkt der erzählergleichen Beobachtung einer Figur. Dafür kommt nun ein weiteres Substitut des Erzählraumes ins Spiel – Schrift: Sie kam zu irselber und wond geschlaffen han. Ir wart we von dem zorn den sie ducht das sie gehabt hett. Sie besah ir rechten hant und fand dry namen darinn geschriben: Lancelot,
166 Prosalancelot I, S. 64,7‒14. 167 Prosalancelot I, S. 102,29‒32. 168 Vgl. Prosalancelot I. S. 306,28‒310,19.
Sie kam wieder zu sich und glaubte, geschlafen zu haben. Von der Unruhe, die sie gespürt hatte, war ihr ganz unwohl. Sie betrachtete ihre rechte Hand und fand drei
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Lyonel und Bohort. Sie wart wunderlichen fro und begund sere zu weynen von freuden.169
Namen hineingeschrieben: Lancelot, Lionel und Bohort. Da wurde sie wunderbar froh und fing vor Freude an zu weinen.
Mit der Schrift wird Evaine noch die letzte Information gegeben, die ihr in der Vision selbst gefehlt hat: die Identität des schönen Knaben. Für die beiden um ihre Söhne trauernden Witwen ist damit unweigerlich klar, dass ihre Kinder noch am Leben sind170 (womit sich auch die Memorialfunktion des Berges und des Königsmünsters tendenziell überholt hat: Der Berg als Memorialsitz der Erzählung verliert an Bedeutung). Die Verlässlichkeit der Schrift, die auch für ‚Erzähler‘ und Leser der einzige und unhintergehbare Orientierungsmaßstab ist, erlangt hier eine analoge Gültigkeit innerhalb des erzählten Raumes.171 Evaine hat durch das Eingreifen Gottes Teil an einer Sicherheit um Wahrheit, die bislang ‚Erzähler‘ und Leser vorbehalten geblieben war, sie wird schließlich selbst zum Leser, ja in gewisser Weise selbst zur Handschrift kurz vor ihrem Tod. Dieses Sterben einer Figur direkt nach der Einnahme der Perspektive des Erzählraumes kennzeichnete bereits Bans Blick auf das Geschehen in seiner weit entfernten Burg: Beide Male sterben die Figuren unmittelbar danach einen heiligen Tod, offenbar der Preis, der für den erzählraumanalogen Blick zu zahlen ist. Dies ist nicht überraschend, da der Erzähler für die Literatur eine analoge Funktion erfüllt, wie Gott für das religiöse System, wie Susanne Knaeble in Anwendung der Systemtheorie Niklas Luhmanns ausführt: Der auktoriale Erzähler ist für den Text […] nicht greifbar. Dementsprechend verfügt er in der Literatur wie Gott im religiösen System über alle gesetzten Unterscheidungen, kann zugleich auf beiden Seiten der Unterscheidung operieren und damit sämtliche Grenzen mehrfach kreuzen – und letztlich garantiert auch er [wie Gott] den Fortgang der Geschichte. […] Die Operationen […] des auktorialen Erzählers sind aus der Beobachterperspektive des Textes ebenso wenig verständlich, wie es die Operationen Gottes im religiösen System sind.172
169 Prosalancelot I, S. 314,13‒18. 170 Vgl. Prosalancelot I, S. 314,18‒27. 171 Dies gilt freilich nicht für die gesamte Schriftlichkeit im Prosaroman, die durchaus ambivalent gezeichnet ist hinsichtlich ihres Wahrheitsgehaltes, vgl. dazu ausführlich Waltenberger 1999, S. 144‒153 und Raumann 2010, S. 187‒220. Ziegeler weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass „am Ende auch die Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen des eigenen Mediums, die Konstituenten von ‚Roman‘ und ‚Geschichte‘ reflektiert werden“ (Ziegeler 1998, S. 203). Die letztendliche Fragwürdigkeit der Schrift korrespondiert mit der Tendenz des Prosalancelot, seine gesamte Welt zu virtualisieren (vgl. u.). 172 Knaeble 2010, S. 93.
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Die Erzählerebene – der Erzählraum – steht der ‚Welt‘ der Erzählung – dem erzählten Raum – analog transzendent gegenüber wie die Sphäre Gottes der Immanenz der Welt.173 Es ist vor diesem Hintergrund nicht nur konsequent, sondern notwendig, dass die Figuren nach ihrem Einblick in die Beobachtungsmöglichkeiten des Erzählraumes (was bei Königin Evaine als Vision, also als Beobachtungsmöglichkeit Gottes semantisiert ist) in die Transzendenz verschoben werden, deren Blickwinkel sie gerade eingenommen haben: Die Figuren sterben in eine Transzendenz, deren Beobachtungsmöglichkeit sie für einen Moment innerhalb des erzählten Raumes verwirklicht haben – eine Beobachtungsmöglichkeit, die schon erzähltheoretisch nicht dauerhaft für das Personal bereitgestellt werden kann, da ansonsten die episch fundamentale Differenzierung zwischen Erzählraum und erzähltem Raum gänzlich zusammenbrechen würde. Entsprechend können die Substitute des Erzählraumes im erzählten Raum immer nur momentan wirksam sein – die beschriebene Hand der Königin Evaine ist nur bis zu ihrem Tod wirksam als Wahrheitsgarant. Da jedoch ein Erzählraum außerhalb des Textes nicht mehr zur Verfügung steht, auf dessen fiktionale Inszenierung etwa der ‚Erzähler‘ zurückgreifen könnte, müssen – so scheint es – immer wieder neue Substitute des Erzählraums in der Erzählung aufgebaut werden, die allesamt nur zwischenzeitig als Beobachtungsräume der Geschichte wirksam sind.174 Dafür nutzt der Posalancelot vornehmlich das Medium der Schrift und knüpft damit an die Handschrift an, die dem historischen Leser vorliegt und den einzigen unmittelbar erfahrbaren Erzählraum darstellt.
4.3.2.1 Die Dolorose Garde Ein erstes Beispiel hierfür ist die Dolorose Garde, also die Aventiure um die verzauberte Burg gleichen Namens, die das dritte Buch des Prosalancelot bestimmt. Diese Burg stellt selbst bereits einen virtuellen Raum dar: Ähnlich wie Joie de la curt175 ist der Raum der Burg hermetisch abgeschlossen – sowohl von natürlichen als auch von übernatürlichen Begrenzungen176 – und wird von zwei Burgmauern
173 Vgl. detailliert Wagner 2009, S. 24‒35. 174 Merveldt begreift diese Räume analog als Gedächtnisorte innerhalb der Erzählung, die notwendig werden, da der Prosaroman auf einen Prolog verzichtet, der die Erinnerung bei einem Erzähler, einem Auftraggeber und einem Publikum (nach meiner Nomenklatur: im Erzählraum) verorten würde, vgl. Merveldt 2004, S. 25‒147, v. a. S. 31‒34. 175 Vgl. 3.2.3. 176 Die Burg liegt auf einem hohen Felsen und wird von zwei Seiten von einem Fluss begrenzt (vgl. Prosalancelot I, S. 424,31‒426,3). Ein magisch errichteter Ritter aus Kupfer bewacht den innersten Eingang zur Burg (vgl. ebd., S. 426,25‒34).
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umgeben, die von jeweils zehn kampffähigen Rittern verteidigt werden.177 Deswegen ist der Raum der Burg schon über ihren sprechenden Namen zwar für einzelne Ritter zugänglich, die aber ihr Wissen über das Innere der Burg nicht nach außen tragen können: Die burg was geheißen die Dolorose Garde, darumb das kein ritter dar enkame, er stúrbe zuhant oder er múst zuhant gefangen werden, wann er uberwunden wart. Diß geschah allen den die dar kamen, wann nymant mit den wapen halb als viel mocht gethun als im da geburt zu thun.178
Die Burg hieß Dolorose Garde, weil jeder Ritter, der dort hinkam, entweder sterben musste oder gefangengenommen wurde, sobald er besiegt war. Das widerfuhr allen, die dort hinkamen, denn niemand konnte mit den Waffen soviel ausrichten, wie da von ihm verlangt wurde.
Entsprechend ist die Kommunikationszugänglichkeit dieses Raumes verborgen für die Allgemeinheit – er ist kein normaler Raum – solange kein Ritter beide Burgmauern durchdrungen hat und der magische Ritter aus Kupfer gefallen ist, der das innere Tor bewacht:179 Und alle die zeuberey die in der burg were solt alles offenbare werden und entdecket, so das es allemenglich solt erkennen und bloß sehen alles das zaubers das darinn was. Wann der ritter der die burgk solt gewinnen muͦst vierczig tag darinn bliben, so das er kein wiß daruß nit enkeme. Anders mocht die zaubery nicht betalleclichen alles in der burg verschmelczt werden.180
Dann würde alles Blendwerk, das über der Burg lag, offenbar und es würde aufgedeckt werden, und jedermann könnte es offen und frei von dem Zauber sehen, den es dort gab. Der Ritter, der sie erobern sollte, müsste aber vierzig Tage in der Burg bleiben und dürfte sie keinesfalls verlassen. Sonst könnte der Zauber in der Burg nicht ohne Rest aufgelöst werden.
Mit dieser Bedingung ist sichergestellt, dass – anders als bei Joie de la curt – der virtuelle Raum doch nicht umgehend dem normalen Raum eingegliedert wird, wenn ein Ritter die Aventiure besteht, sondern noch für 40 Tage darüber hinaus fragwürdig bleibt. Diese magisch bedingte Fragwürdigkeit wird inhaltlich dadurch unterstützt, dass der Burgherr vor Lancelot fliehen wird und damit nicht von ihm im Zweikampf besiegt werden kann. Die daraus resultierende Uneindeu-
177 Vgl. Prosalancelot I, S. 426,11‒24. 178 Prosalancelot I, S. 426,6‒10. 179 Das Durchdringen beider Mauern ist auch der Inhalt des Berichts des Knappen am Artushof über das erfolgreiche Absolvieren der Aventiure Dolorose Garde: „ich sah es mit beiden mynen augen das ein ritter alleyn durch beide porten reyt“ (Prosalancelot I, S. 456,21f., wörtlich wiederholt ebd., 35f.). 180 Prosalancelot I, S. 426,34‒428,3.
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tigkeit des Sieges – trotz des Sturzes des magischen Kupferritters – ist für alle Beteiligten unbefriedigend, wie der Text deutlich macht.181 Eingebettet in diese vorerst bleibende Fragwürdigkeit des Raumes Dolorose Garde182 führen die Bürger Lancelot in einen räumlich sehr merkwürdig inszenierten Binnenraum: Die burger […] namen den ritter und leyten yn in einen kirchoff, der fast wunderlich was und was zwúschen den zweyn muren fast selczene gemacht; und der ritter wundert sich fast sere was das wer. Der kirchoff was mit einer muren umbschloßen, die was kleyn gezinnet, eine fast an der andern. Uff eim teil zinnen steckten heubt mit den helmen also als sie den rittern weren abgeschlagen die die abentur da hetten gesucht. Gegen dem heubt stunt ye ein grab, da der ritter inne lag des das heubt was. Yetschlichs grab was mit eim steyn bedackt; uff dem steyn was des ritters nam geschrieben der in dem grab lag.183
Die Bürger […] führten den Ritter auf einen sonderbaren Friedhof. Er war sehr merkwürdig zwischen den beiden Burgmauern angelegt, und der Ritter fragte sich verwundert, was es damit für eine Bewandtnis habe. Der Friedhof war von einer Mauer umschlossen, die trug eng nebeneinander schmale Zinnen. Auf einigen Zinnen steckten behelmte Köpfe, die waren den Rittern abgeschlagen worden, die dort Aventüre gesucht hatten. Jedem Kopf gegenüber befand sich ein Grab, in dem lag der Ritter, dem der Kopf gehörte. Jedes Grab war von einer Steinplatte bedeckt, darauf stand der Name des Ritters, der dort begraben war.
Der Kirchhof erinnert in seiner örtlichen Lage an das Torverlies im Iweinroman,184 und im Prosalancelot stellt der Text die Sonderbarkeit dieser Lage „zwúschen den zweyn muren“ deutlich heraus. Der „fast wunderliche“ Raum ist mit einer Mauer umschlossen, die wiederum Ähnlichkeiten mit dem Garten in Joie de la curt aufweist: Die Köpfe der Erschlagenen sind ringsum aufgesteckt, hier noch flankiert von ihren Gräbern. Diese Ähnlichkeiten in Lage und Umgrenzung zu den beiden virtuellen Räumen in Iwein und Erec untermauern die Lesart des Friedhofs als vir181 Vgl. Prosalancelot I, S. 450,29‒452,2. Auch die merkwürdige Auseinandersetzung mit dem Artushof, der zur Burg angereist kommt, macht den vorerst bleibenden virtuellen Charakter der Burg deutlich: Artus kann selbst das äußere Tor nicht durchdringen und ist darüber bekümmert, da er nichts über das Schicksal seines Neffen Gawan weiß. Der Torhüter aber verweigert Artus sowohl Auskunft als auch Einlass und bittet ihn stattdessen, jede Betstunde einen Ritter mit der – vergeblichen – Bitte um Einlass zu schicken, was auch erfolgt (vgl. Prosalancelot I, S. 468,9‒470,15); nachdem der Artushof schließlich durch das Eingreifen Lancelots durch das erste Tor gekommen ist, erfolgt dasselbe Verfahren in Bezug auf das zweite Tor (vgl. ebd., S. 486,35f.). Der Artushof ist damit nicht nur normalräumlich aus dem Burgraum exkludiert, sondern hat auch keinen Teil an der raumgenerierenden Kommunikation: Es ist völlig unklar, wie die Burg mittlerweile bestimmt ist, ob die Aventiure gelöst ist, ob Gawan lebt etc. 182 Erst sehr viel später wird der virtuelle Raum der Dolorose Garde entzaubert und wird sich zu einem normalen Raum verändern, was mit der Umbenennung zur Joieusen Garde einhergeht (vgl. Prosalancelot I, 582,1‒3) – wieder analog zu Joie de la curt im Erec, die schließlich ihren sprechenden Namen wieder zu Recht trägt. 183 Prosalancelot I, S. 452,1‒12. 184 Vgl. Kap. 1.
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tuellen Raum. Und analog zu den dortigen virtuellen Räumen ist auch der Friedhof im Prosalancelot inhaltlich von Memoria bestimmt und erhält letztlich daher seine Virtualität. Die Grabplatten verzeichnen den Namen des toten Ritters, doch nicht nur diejenigen der bereits Gestorbenen, sondern auch diejenigen der erst in Zukunft Sterbenden: Gegen yetlicher zynnen da kein heubt off stack stunt auch ein grab, und off dem steyn was geschriben: ‚In dißem grab sol der ligen, und in dißem der‘. Da was manig gut ritter geschriben ußer des konig Artus hoff und von sym lande und von andern landen, al die besten die allsampt noch lebeten.185
Auch bei den Zinnen, auf denen kein Kopf steckte, stand ein Grab, und auf der Steinplatte war zu lesen: ‚In diesem Grab wird der und der liegen, in jenem der und der.‘ Da waren viele edle Ritter verzeichnet, vom Hof des Königs Artus und aus seinem Land und aus anderen Ländern, die besten, die damals lebten.
Nicht nur die Vergangenheit wird im Akt der Memoria – hier gleichbedeutend mit dem Akt des Lesens – vergegenwärtigt, sondern auch die Zukunft. Lancelot, der zu diesem Zeitpunkt seine Identität noch nicht kennt, entdeckt schließlich sein eigenes Grab und liest darauf (nachdem der Text noch einmal deutlich auf seine Lesefähigkeit hingewiesen hat):186 ‚In dißem grab sol Lacelot ligen von dem Lacke, des kóniges Banes son von Bonewig und Alenen synes wibes.‘ Er leyt den sargk wiedder nyder und wust wol das das syn name was den er funden hett.187
‚In diesem Grab wird liegen Lancelot vom See, der Sohn König Bans von Bonewig und seiner Ehefrau Alene.‘ Er setzte den Sarg wieder ab und wusste, dass es sein eigener Name war, den er da gefunden hatte.
Lancelot erlangt in diesem Moment – durch seine Lesefähigkeit – einen Einblick in das Wissen des Erzählraumes: Er weiß sofort – nach all der vorgehenden diesbezüglichen Unsicherheit – um seine Identität, ein unhinterfragbares Wissen, dass auf der Basis nur des Erzählten nicht nachvollziehbar ist. Lancelot hat für einen Moment Teil an der diesbezüglichen Sicherheit des Erzählraumes, und spannenderweise ist auch dieser Blick aus dem Erzählraum auf die eigene Erzählung flankiert mit dem Tod der betreffenden Figur. Doch anders als Ban und Evaine muss Lancelot nicht sofort anschließend sterben, vielmehr ist sein Tod im virtuellen Raum Friedhof vorweggenommen präsent: Ganz am Ende des Prosalancelot-Zyklus wird Lancelot sterben und noch vor seinem im Übrigen ebenso heiligen Tod wie derjenige Bans und Evaines verfügen, in diesem Friedhof bei185 Prosalancelot I, S. 452,14‒19. 186 Vgl. Prosalancelot I, S. 452,33f. 187 Prosalancelot I, S. 454,4‒7.
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gesetzt zu werden.188 Und aktuell ist Lancelot in seiner Performanz tatsächlich wie tot, da er beim Akt des Lesens unter seiner eigenen Grabplatte situiert wird, die er mit beiden Händen über seinen Kopf hebt.189 Im virtuellen Memorialraum Friedhof ist für Lancelot das Wissen um die eigene Identität unhinterfragbar verfügbar und Erzählvergangenheit wie -zukunft gegenwärtig,190 so dass auch der Friedhof eine Projektion des Erzählraumes in den erzählten Raum darstellt; und bezeichnenderweise nimmt auch hier wieder das Medium der Schrift eine entscheidende Rolle ein, ganz nach dem Vorbild des virtuell gedoppelten Erzählraums, der selbst in der Schrift aufgeht. Doch dieser virtuelle Raum behält auch seinen fragwürdigen Charakter, er verleiht den Inkludierten nicht schlicht die Sichtweise des Erzählraumes, wie seine Rolle bei der Ankunft des Artushofes zeigt:191 Die Bürger ‚fälschen‘ die Memoria des Friedhofs, indem sie auch Namen von Artusrittern eintragen, die 188 Vgl. Prosalancelot V, S. 1024,24‒32. 189 Vgl. Prosalancelot I, S. 454,1f. 190 Vgl. Merveldt 2004, S. 79: „Auf dem Friedhof der Dolorose Garde treffen die drei zentralen Themen der Identität, des Todes und der Memoria aufeinander“. 191 Dies gilt letztendlich schon für das Begräbnis Lancelots, das zwar auf dem Friedhof in dem für ihn bestimmten Grab stattfinden wird, in dem jedoch bereits Galahod liegt; zudem erhält die Grabplatte eine abweichende Inschrift (vgl. Prosalancelot V, S. 1028,2‒8). Allerdings hat das Grab Lancelots offenbar schon zuvor – beim Besuch des Artushofes – seine Inschrift verändert und verweist – aktualisiert – auf den Ritter, „der die Dolorosen Garden gewunnen hett“ (Prosalancelot I, S. 486,25f.; „der die Dolorose Garde bezwungen habe“). Parallel dazu wartet der Friedhof nun mit (gefälschten) Gräbern für den nunmehr gefangenen Gawan und seine Artusritter auf (vgl. ebd., S. 486,12‒20). Der vorab erinnernde Memorialraum der Schrift ist offensichtlich flexibel und nicht buchstäblich in Stein gemeißelt, was der Text mit dem Zauber erklärt, der über dem Ort nach wie vor waltet (vgl. ebd., S. 560,13‒18), vgl. ausführlich Klinger 2001, S. 482‒489. Klinger betont hier vor allem den unzuverlässigen und immer wieder veränderbaren Status der Schrift im Prosalancelot und widerspricht hier scheinbar der These einer virtuellen Repräsentation des Erzählraumes im erzählten Raum über das Medium der Schrift: „Der schriftliche Text verfügt weder über die Autorität einer atemporalen Wahrheit noch über eine Festigkeit, die außerhalb des Zeitkontinuums angesiedelt wäre“ (ebd., S. 487). Zugleich bindet Klinger aber diese Variabilität, diese Unsicherheit der Schrift wieder rück an entsprechende Tendenzen der Identität Lancelots: „Die Veränderung der Inschrift setzt […] ein Zeichen für Veränderung von Identität im Verlauf der linearen Zeit: Lancelot ist am Ende nicht derselbe, der er am Anfang war. Von ‚Entwicklung‘ als Paradigma personaler Identität ist hier nicht zu sprechen, denn dieser Begriff setzt eine gänzlich in der Person verankerte Logik voraus, die zur Kontinuität auf der Basis von Psychologie führt. Im Prosa-Lancelot ist die Identität des Helden dagegen geprägt von harten Brüchen. […] Kontinuierlich kann alles, was einmal gesagt oder aufgeschrieben worden ist, umgeschrieben werden, bis das Ende der Erzählung erreicht ist“ (ebd., S. 488). Gerade die Unsicherheit und Virtualität der Schriftlichkeit im Prosalancelot, die stets nur aus einer bestimmten Figurenperspektive unhinterfragbar sind (vgl. ebd., S. 483f.), spiegelt die ungerichtete und nur durch den Tod bestimmte Identität des Personals, allen voran Lancelots.
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lediglich gefangen genommen wurden und noch leben;192 entsprechend trauert Gawan ununterschieden um zu diesem Zeitpunkt noch Lebende und um Gestorbene, wie auf Erzählerebene – nun wieder in Distanz zum erzählten Raum – durchschaut werden kann: Der pfaff der mit hern Gawan komen was begunde zu lesen allenthalben off jhenen sercken, das der in dem grab lege und das das sin heubt were das off der zinnen da entgegen steckete. Also lase er an maniger statt und nant gnuͦng ritter ußer des konig Artus hof und ußer sym lande. Da myn herre Gawan hort das sie also dot waren, da begunde er großen jamer zu machen umb syn gesellen, und die mit im waren daten alsam. Sie wonden das es alles ware wewe. Es was ware von ettlichen, und von ettlichen was es gelogen under denselben die die burger des andern tags da vor geschriben hetten.193
Der Geistliche, der mit Gawan gekommen war, begann überall auf den Särgen zu lesen, dass der und der in dem Grab liege und dass es sein Haupt sei, das da auf der Zinne gegenüber stecke. So las er an vielen Stellen und nannte viele Ritter von des Königs Artus Hof und Land. Als Gawan hörte, dass sie alle tot seien, trauerte er um seine Gefährten, und seine Begleiter ebenso. Sie glaubten, es sei alles wahr. Es war auch bei manchen wahr, bei anderen, bei denen es sie aus der Stadt erst tags zuvor hingeschrieben hatten, war es gelogen.
Das trauernde Gedenken, vermittelt über die Inschriften, bestätigt den virtuellen Charakter des Friedhofs, der wieder die erzählte Zukunft vorwegnimmt: Zwar sind im Moment viele der Grabinschriften gefälscht, und die entsprechende Trauer bezieht sich nicht auf eine Realität (insofern ist der virtuelle Raum der Memoria fragwürdig) – aber andererseits ist die umfassende Trauer hinsichtlich des künftigen Geschehens angemessen, und die Trauer bezieht sich auf eine zukünftige Realität: dem Untergang des Artushofes, wie er im Prosalancelot V – Der Tod des Königs Artus Realität werden wird. Der von Trauer gekennzeichnete virtuelle Raum des Friedhofs ist nicht schlicht unreal, er ist virtuell in dem Sinne, dass er die Zukunft vorwegnimmt und wie real werden lässt. Paradoxerweise kann so der Artushof seinen eigenen Untergang betrauern,194 Lancelot seinen eigenen Tod sehen. Dieses Vorwegholen und Betrauern eines negativen Ausgangs kennt auch die für den Erzähler- bzw. Sängervortrag bestimmte Versepik, doch der exemplarische Vergleich etwa mit der ersten Aventiure des Nibelungenliedes zeigt, dass dort das Wissen um die erzählte Zukunft und die entsprechende Trauer der Erzählerebene vorbehalten ist und im Erzählraum stattfindet:
192 Vgl. Prosalancelot I, S. 462,3‒7. 193 Prosalancelot I, S. 462,15‒25. 194 Die Trauer wird sich bald auf den gesamten Artushof ausweiten, den Gawan informiert, vgl. Prosalancelot I, S. 466,2‒5; 486,11‒31.
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Ze Wormez bî dem Rîne / si wonten mit ir kraft. in diente von ir landen / vil stolziu ritterscaft mit lobelîchen êren / unz an ir endes zît. si sturben sît jæmerlîche / von zweier edẹlen frouwen nît.195
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In Worms am Rhein hielten sie [die Burgunden] prächtig Hof. Die stolze Ritterschaft des Landes diente ihnen ehrenvoll bis zu ihrem Tod. Später starben sie beklagenswert am Hass zweier Königinnen.
Freilich dringt das Wissen des Erzählraumes auch mittelbar in Form eines Traumes in den erzählten Raum ein – der Falkentraum Kriemhilds – wozu sich die Figuren im erzählten Raum jedoch deutend verhalten müssen und damit keineswegs an der unhinterfragbaren Klarheit des Erzählraumes Teil haben.196 Die Erkenntnis und die Trauer um den Untergang der Burgunden und damit um das Ende der Erzählung sind im Nibelungenlied auch nach dem Falkentraum dem Erzählraum vorbehalten: sît wart si mit êren / eins vil küenen recken wîp. Der was der selbe valke, / den s’in ir troume sach, den ir besciet ir muoter. / wie sêre si daz rach an ir næhsten mâgen, / die in sluogen sint! durch sîn eines sterben / starp vil manẹger muoter kint.197
Später wurde Kriemhild die Ehefrau eines vortrefflichen Helden. Dieser war der Falke, den sie in ihrem Traum gesehen hatte und den ihr ihre Mutter ausdeutete. Wie furchtbar sie das später an ihren nächsten Verwandten, die ihn erschlagen sollten, rächte! Durch seinen Tod starben die Söhne unzähliger Mütter.
Der Prosalancelot stellt für ein analoges Trauern dagegen einen virtuellen Avatar des (rein schriftlichen) Erzählraumes in Form des beschrifteten Friedhofs zur Verfügung, so dass dieses Trauern um den Untergang des zentralen Hofes im erzählten Raum virtuell möglich wird. Entsprechend sterben Lancelot und die Artusritter nicht tatsächlich im normalen Raum, sondern virtuell in den virtuellen Raum der Schrift.
195 Nibelungenlied 6,1‒4. 196 Solche Träume, die mittelbar und deutungsnotwendig Wissen über die erzählte Zukunft im erzählten Raum präsentieren, kennt der Prosalancelot auch, betont aber zugleich die Fragwürdigkeit des aus ihnen zu ermittelnden Wissens (man denke etwa an die drei Träume Königs Artus und die Fragwürdigkeit ihrer Ausdeutung, vgl. Prosalancelot I, S. 604,1‒608,31, v. a. S. 608,5‒8 u. 19‒23). Die Unhinterfragbarkeit des Wissens Lancelots um seine Identität angesichts der Schrift seines Grabes hebt sich gerade gegen die Unsicherheit der auszudeutenden Träume umso deutlicher ab (zur grundsätzlichen Fragwürdigkeit der Träume im Prosalancelot vgl. Fuchs-Jolie 2003). 197 Nibelungenlied 18,4‒19,4.
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4.3.2.2 Lancelots Bilderraum Der Bilderraum Lancelots – seine beschrifteten Malereien an den Wänden seines Gefängnisses bei Morgana, die diese und schließlich auch Artus betrachten und lesen – wurde bereits dargestellt und als Gedächtnisraum interpretiert.198 Dieser Gedächtnisraum stellt wieder eine virtuelle Kopie des verloren gegangenen Erzählraumes außerhalb des Textes dar, wie schon Wandhoff andeutet: Daß auch im Medium des Bilderzyklus indes der Charakter der Erzählung nicht verloren geht, macht der Text […] dadurch deutlich, daß er die Bilderfolgen immer wieder als schrifft bezeichnet und hervorhebt, daß Lancelot sie getihtet habe. Durch die Betrachtung der Eneas-Bilder wird der Protagonist also zum malenden Dichter.199
Vergegenwärtigt wird im Bilderraum die bisherige Geschichte: Lancelots Imagination seiner eigenen Geschichte, angefangen mit Jugend und Ankunft am Artushof, versetzt […] zugleich den Leser zurück an den Anfang des Romans.200
Dieser Leser ist einerseits sicherlich schlicht der textexterne Leser des Erzählraums, andererseits aber mit Morgana und später Artus auch das Personal der Erzählung selbst: Wieder bietet der erzählte Raum einen virtuellen Raum, in dem die Perspektive des Erzählraumes eingenommen werden kann – wieder verbunden mit der Herstellung unhinterfragbarer Wahrheit,201 diesmal jedoch lediglich in die Erzählvergangenheit gerichtet, weshalb bei diesem virtuellen Erzählraum innerhalb des erzählten Raumes auch der Aspekt des Sterbens als Preis für die Einnahme der Beobachtungsmöglichkeiten des Erzählraumes wegfällt.
4.3.2.3 Die Chronik des Artus Die Wichtigkeit des Mediums Schrift und auch ihr Konnex zu Tod und Memoria ist in der Forschung (vor allem von Wandhoff, Klinger und Merveldt) bereits erkannt und beschrieben worden, ohne dass aber die poetologische Verknüpfung mit der grundsätzlich veränderten Rezeptionsform des Prosaromans und des damit einhergehenden Wegfalls des Erzählraums dominant gesetzt wurde.202 198 Vgl. Kap. 3.2.1.3. 199 Wandhoff 2003, S. 28f. 200 Wandhoff 2003, S. 292. 201 Vgl. Prosalancelot IV, S. 48. 202 Dieser Zusammenhang klingt an bei Merveldt 2004, S. 31‒34, bleibt aber in ihrem Entwurf einer „Poetik der Memoria“ ganz auf den Aspekt der Memoria beschränkt, ohne die Veränderungen in der virtuellen Raumkonzeption (die freilich mit der Memoria in engem Verhältnis steht) mit in den Blick zu nehmen, vgl. ebd., S. 124‒126.
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Wandhoff etwa begreift den Prosalancelot mit seinen vielfältigen Grabinschriften als Rückkehr zu einer antiken Ekphrasis, wie sie etwa bei Vergil vorliegt: Erst im ‚Prosa-Lancelot‘, diesem monumentalen Romanzyklus, der nicht nur das Leben seines Protagonisten Lancelot von der Geburt bis zum Tod verfolgt, sondern zugleich auch einen Abgesang auf die gesamte Gattung des Artusromans darstellt, verbindet sich die Schriftlichkeit des epischen Textes (wieder) mit der Schriftlichkeit von in Stein oder andere haltbare Materialien gegrabenen Buchstaben. [… Es] finden sich hier zahlreiche Inschriften, die parallel zu den Ekphrasen den Handlungsverlauf kommentierend begleiten. ‚Gesammelt‘ und architektonisch ausgestellt werden sie schließlich im Münster zu Camelot. Hier läßt nicht nur Artus seine Untergangsvision an die Wände malen, sondern hier werden auch die toten Artusritter beigesetzt, deren gesammelte Epitaphien, so Judith Klinger, geradezu die Gestalt eines ‚Nekrologs der Artusgesellschaft‘ annehmen.203
Auch in diesen Epitaphien wird – analog zum Friedhof in der Dolorose Garde – wieder in gewissem Sinne die Erzählzukunft in der Erzählgegenwart vorweggenommen, auch sie repräsentieren den Erzählraum im erzählten Raum: Indem sie von den zukünftigen Toten noch zu Lebzeiten selbst auf den Grabplatten angebracht werden, fallen am Ende die prospektive und die retrospektive Dimension der Inschrift im Zeichen des Todes zusammen.204
Und auch hier ist der Tod engstens verbunden mit dem Einblick in die Erzählzukunft, allerdings wieder in der Form eines aufgeschobenen Sterbens, eines Sterbens in den Text des Epitaphs. Diese enge und offenbar auch kohärente Verbindung von Text und Tod205 – die Konsequenz aus der Teilhabe an einem Wissen, das dem Erzählraum und Gott vorbehalten ist – kennzeichnet auch die Chronik des Artus: Auffällig ist im ‚Prosa-Lancelot‘ aber auch die von Artus geradezu manisch betriebene chronikalische Aufzeichnung aller Aventiuren seiner Ritter, deren er habhaft werden kann. Auch diese Form der Verschriftlichung hängt eng mit der Erwartung des nahenden Todes zusammen, denn es geht dem König explizit darum, ein Andenken an diese große Zeit zu bewahren, die ansonsten, nach ihrem Vergehen, niemand mehr kennen würde. […] Das Medium der Schrift wird hier als ein Archiv verstanden, das das Wissen um die großen
203 Wandhoff 2003, S. 321. Wandhoffs Interpretation der engsten Verknüpfung von Schrift und Tod überzeugt für den Prosalancelot, seine literaturgeschichtliche Einordnung dagegen überzeugt nicht: Die Verknüpfung bestimmt bereits den Lancelot propre, der aber als Romanteil des 13. Jahrhunderts in keiner Weise ein „Abgesang auf die gesamte Gattung des Artusromans“ sein kann. 204 Wandhoff 2003, S. 322. 205 Vgl. ausführlich Klinger 2001, S. 476‒491.
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Taten der Artusritter für die Nachwelt bewahrt, um diese an das vergangene, abgestorbene Zeitalter zu erinnern.206
Hier liegt vielleicht der deutlichste Avatar des Erzählraumes vor, der auch dem historischen Rezipienten nunmehr in der schriftlichen Form des Codex gegeben ist. Schon der Lancelot propre wartet mit dieser direkten Verbindung zwischen Erzählung und dem Akt des (schriftlichen) Erzählens, mit dieser Engführung von erzähltem Raum und Erzählraum auf. Nach der ausgedehnten Suche Gawans nach Lancelot werden Lancelot, Galahot und Hector in die Tafelrunde aufgenommen, und Artus lässt zum feierlichen Anlass die Geschichte seiner Ritter verschriftlichen – ein erster, markanter Aufbau der Chronik in der Chronik, die den gesamten Prosalancelot begleiten wird:207 Und der konig gebot vier schribern die darzu gesaczt warn, das sie all die abentur schriben die in sim hofe geschehen. Der ein was Arodion genant von Koln, und der ander was genant Tantamides von Vernaus und der dritt Thomas von Dolete, der vierd was Sapiens genant von Budas. Diße vier schrieben die abentur in des konigs Artus hof. Min herre Gawan must zu allererst sagen, wann er heubt was an der suchung, und darnach Hestor und darnach myns herren Gawans gesellen die mit im an der suchung waren. Was sie sagten das wart alles geschriben.208
Und der König ließ vier Schreiber rufen, die dazu bestellt waren, alle Aventüren aufzuschreiben, die da an seinem Hof geschahen. Der eine hieß Arodion von Köln, der andere Tantamides von Vernaus, der dritte Thomas von Toledo, und der vierte hieß Sapiens von Budas. Diese vier schrieben die Aventüren am Artushof auf. Zuerst musste Gawan berichten, denn er war das Haupt der Suche, dann Hector und dann Gawans Gefährten, die mit ihm auf der Suche gewesen waren. Alles, was sie erzählten, wurde aufgeschrieben.
Die ausführliche Würdigung der Niederschrift an dieser ihrer ersten Erwähnung markiert deutlich die Wichtigkeit, die sie für den Text einnimmt: Die Vierzahl der Schreiber erinnert, wie Steinhoff im Kommentar seiner Ausgabe zur Diskussion stellt, an die Vierzahl der Evangelisten,209 ein assoziativer Wahrheitsgarant der schriftlichen Überlieferung. Die Schreiber erhalten Namen, obwohl sie als Personal nicht wieder auftauchen werden, und sie werden räumlich mit Köln, Vernaus, Toldeo und Budas verknüpft, repräsentieren also einen weitgesteckten Raum, der in der Chronik enggeführt wird.
206 Wandhoff 2003, S. 322. Vgl. dazu auch Merveldt 2004, S. 34‒49. 207 Vgl. auch Prosalancelot II, S. 484,20‒22; S. 726,21‒25; III, S. 808,30‒33; S. 812, 21‒23; IV, S. 434,14‒16; S. 462,15‒18; V, S. 540,21‒29; 544,20‒22. Zu dieser autopoietischen Quellenfiktion ausführlich vgl. Raumann 2010, S. 176‒180. 208 Prosalancelot I, S. 1288,22‒32. 209 Vgl. Prosalancelot II, S. 961.
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In der zweiten Erwähnung der Chronik erfolgt auch eine deutliche Verknüpfung mit dem Tod des Königspaares und damit des Artushofes: Unnd der könig unnd die königinn die höretenn solchs sehr gernn unnd der könig ließe die uffschreibenn, damitt sie nach irem todt an tag kemenn.210
Der König und die Königin hörten gern davon, und der König ließ sie aufschreiben, damit sie nach ihrem Tod an den Tag kämen.
Spätestens damit ist mit der Verknüpfung von Tod und Schriftlichkeit auch die Verknüpfung mit der Gegenwart des Erzählraumes gegeben: So entpuppt sich die Prosa-Erzählung von Lancelot als Übertragung genau jener auf Augenzeugenberichten basierenden und ursprünglich in lateinischer Sprache abgefaßten Chronik der Ereignisse, die Artus selbst an seinem Hof einst anfertigen ließ, um der Nachwelt ein Andenken an sein untergegangenes Reich zu ermöglichen.211
Sicherlich ist der Tod im Prosalancelot mit Judith Klinger lesbar als das letztlich arbiträre Ende einer offenen Veränderung (in erster Linie Lancelots), die sich auch in der Unsicherheit und Variabilität der zahlreichen Epitaphien widerspiegelt; sicherlich ist die Verknüpfung von Tod und Schrift mit Haiko Wandhoff lesbar als Rückkehr zu einem antiken Erzählmodell der Ekphrasis; sicherlich auch ist die Verbindung zwischen Tod und Memoria mit Nikola von Merveldt lesbar als Aufhebung der Sterblichkeit der fiktionalen Figuren in die historiographische Erinnerungskultur;212 meines Erachtens aber schlägt sich hierin auch (und sehr viel unmittelbarer) die fundamentale Veränderung des Erzählens nieder, die den Prosalancelot grundsätzlich von den Versepen des 13. Jahrhunderts abhebt: Der Wegfall des unmittelbar erfahrbaren Erzählraums und das offensichtliche Ringen des Prosalancelot, immer wieder virtuelle Avatare des Erzählraums im erzählten Raum aufzubauen.213 Der Tod ist dabei lediglich die Konsequenz der virtuellen Inklusion des Personals in den Erzählraum: Die Trennung von Erzählraum und erzähltem Raum ist fundamental für die Performanz des Erzählens; die Perspektive des Erzählraums darf vom Personal nicht eingenommen werden, da sonst keine Beobachtung einer Beobachtung mehr möglich wäre und literarisches Erzählen in sich zusammenbrechen würde; der Tod der entsprechenden Figuren 210 Prosalancelot II, S. 484,20‒22. 211 Wandhoff 2003, S. 323. 212 Vgl. Merveldt 2004, S. 34‒49. 213 Diese autopoietische Deutung der Quellenfiktion der ‚Augenzeugenberichte‘ ist eine Interpretation jenseits der Frage nach Fiktionalität oder Historizität des Prosalancelot, die die Diskussion der Quellenfiktion in der Forschung bislang bestimmt, vgl. dazu zusammenfassend Raumann 2010, S. 178‒180.
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ist entsprechend eigentlich die notwendige Konsequenz, wie das Sterben Bans und Evaines zeigt. Doch stattdessen hält der Prosalancelot oftmals einen Ausweg bereit: das virtuelle Sterben in die Schrift.214 Dieser Ausweg ist notwendig, um überhaupt weiter erzählen zu können und nicht binnen kurzer Zeit das gesamte Personal zu verschleißen, denn offenbar ist der Wegfall des eigentlichen Erzählraums nur durch eine schier inflationäre Vielfalt virtueller Avatare des Erzählraums im erzählten Raum kompensierbar, die freilich jeweils auch Personal inkludieren und eigentlich dem Tode weihen. In der Bemühung um Verankerung des Erzählraumes im erzählten Raum und schließlich in der Schrift selbst versucht der Prosalancelot das Vakuum zu füllen, das der Wegfall des unmittelbar erfahrbaren Erzählraumes hinterlassen hat. Dieses Ringen um einen Raum der Sicherheit, zugleich aber auch die Unsicherheit, die mit der inflationären Verwendung vielfältiger virtueller Kopien des Erzählraumes einhergeht, schlägt sich aber nicht nur in der Rolle der Schriftlichkeit nieder, sondern auch in der gesamten Raumkommunikation des erzählten Raumes. Dies soll abschließend nochmals am Eingang des gigantischen Roman entwurfs gezeigt werden, der auch als Auseinandersetzung zwischen virtuellem und normalem Raum im erzählten Raum lesbar ist.
4.3.3 Ein virtueller See als Irritation des normalen Raumes der Erzählwelt Wie das Verschwinden des Erzählraumes bzw. sein Verschieben in den erzählten Raum diesen gleichsam von außen irritiert, erfährt der erzählte Raum auch von Beginn an eine dauerhafte Irritation von innen; und es erscheint nicht als Zufall, dass diese Irritation des normalen Raumes – der See – parallel zu der ersten Kopie des Erzählraumes im erzählten Raum eingeführt wird: Eingebettet in 214 Dieses virtuelle Sterben in die Schrift hat sein Pendant in dem Phänomen, dass im Prosalancelot viele tatsächlich Gestorbenen noch in gewisser Weise Handelnde im erzählten Raum bleiben, wobei wiederum die Schrift eine zentrale Rolle spielt: „Nach ihrem Tod geraten im Prosa-Lancelot die Körper einer ganzen Reihe von männlichen wie weiblichen Figuren in Bewegung. Sie zirkulieren so lange im Romangeschehen, bis sie eine vorerst letzte Ruhestätte gefunden haben, bis sie auf ihren Fahrten Sinnangebote konstituieren oder Sinnzusammenhänge knüpfen, die sie als Lebende kaum in Gang setzen konnten. […] Körper im Stadium von Tod und Nachtod kommunizieren objekthaft durch ihre Materialität, ihre bloße Fleischlichkeit; sie kommunizieren aber auch über Schrift, über den Toten beigegebene Briefe, die diese z.T. selbst verfasst haben und die im Roman so vorgetragen werden, als wären ihre ‚Autoren‘ noch am Leben“ (Baisch/Meyer 2007, S. 383). Bereits Nicola von Merveldt hat erkannt, dass der Prosalancelot nicht primär den Untergang des Artusreiches erzählt, sondern mit seiner in die Erzählung hinein verlagerten Memoria – nicht zuletzt durch Schrift – Auswege aus dem Sterben sucht und ein „Erzählen gegen den Tod“ (Merveldt 2004, S. 25) praktiziert.
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den Bergaufstieg König Bans wird die Geschichte des Sees erzählt, der zu diesem Zeitpunkt der Geschichte noch nicht als magischer Ort markiert ist; doch bereits diese erste Einführung bereitet die Virtualität des Sees vor: Der lack was von heidenischen zytten geheißen Dyanen Lak. Dyana was koniginn zu Sicilien by Virgilius gezyten, der guͦt auctor was. Da hielten sie die ungleubigen lut fur ein göttin. Es enwart nye frauw die also sere mynnet gejegcz zu wald als sie det. Der walt ging vor all die felde von Gaune, und all tag wolt sie darinn jagen; darumb hießen sie die unglaubigen die göttin von dem Walde.215
Der See hatte seit heidnischer Zeit Dianensee geheißen. Diana war in den Tagen des berühmten Dichters Vergil Königin von Sizilien. Die Ungläubigen hielten sie für eine Göttin. Nie hatte es eine Frau gegeben, die die Jagd im Wald so sehr liebte wie sie. Der Wald erstreckte sich vor den Gefilden von Gaune, und sie wollte jeden Tag darin jagen. Deshalb nannten die Heiden sie die Göttin des Waldes.
Der ‚Erzähler‘ kommuniziert deutlich, dass der Glaube der Heiden an eine Göttin Diana in die Irre geht; der See ist also von Beginn an mit dem Namen „Dianensee“ als fragwürdig gekennzeichnet, er wird als von irrgläubigen Heiden fälschlich kommuniziert eingeführt. Auch die Engführung von Diana mit dem Dichter Vergil – einem der vorbildhaftesten Dichter für die Epik des Mittelalters216 – virtualisiert den Raum See in gewisser Weise bereits, da seine Existenz in die Zeit des Dichters, des auctor, fällt, der seinerseits als Erzähler der Aeneis dem mittelalterlichen Leser präsent ist; der See wird zwar nicht als Erzählung Vergils ausgewiesen, doch er wird mit dem Erzähler Vergil semantisch verknüpft. Die Virtualität des Sees wird aber erst nach dem Tod Bans und der Entführung Lancelots deutlich kommuniziert – und korrespondiert mit einer grundsätzlichen Virtualität Lancelots, die diese Figur über weite Strecken des Lancelot propre beibehält: der lac da die junge frauw inn sprang mit dem kinde enwas nit anders dann gauckelig. […] An derselben stat da man wonde das der lac stunde, hett die jungfrauw manig schön huß stan, und alle die welt hett wol geschworn, es wer ein mere groß und tieff. […] Der jungfrauwen wonung was so bedecket mit dem lac, wann es alle die welt ducht, es were ein tieff mere, das nymand so listig was der keyn hus da mocht finden dann Merlin alleyn.217 215 Prosalancelot I, S. 24,26‒32. 216 Vgl. dazu Wandhoff 2003 passim. 217 Prosalancelot I, S. 64,9‒19.
Der See, in den sie mit dem Kind gesprungen war, war nur vorgespiegelt. An der Stelle, wo man den See zu sehen meinte, hatte die junge Frau viele schöne Häuser stehen, und alle Welt hätte doch geschworen, es wäre ein weites, tiefes Meer. […] So war ihr Reich mit dem See bedeckt, denn aller Welt schien es, da sei ein tiefes Meer, und niemand war imstande, ein Haus dort zu entdecken, außer Merlin allein.
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Die Magie des Ortes schafft gleich zwei virtuelle Räume: „Alle die welt“ sieht einen See, nur Merlin und die Einwohner des Feenreiches sehen die prächtigen Häuser. Beide Räume sind für die jeweiligen Kommunikanten real, und der ‚Erzähler‘ kommuniziert auch beide Realitäten – was für die Interpretation Rubergs eine starke Irritation darstellt: Ruberg begreift die Irritation des normalen Raumes durch die „märchenhafte, verzauberte Landschaft“ als lediglich scheinbar, da der Verfasser des Prosalancelots zwar einerseits die „drohende, dämonisierte Wirklichkeit“ der Umwelt des Artushofes aus der Tradition übernehme, jedoch Umformungen vornehme, „die deutlich einen verwandelnden, rational denkenden und schauenden Geist erkennen lassen“.218 Als Paradigma dafür dient Uwe Ruberg gerade der See, in dem Lancelot aufwächst: Sah es anfangs so aus, als wollte der Verfasser des Prosa-Lancelot die Zauberkräfte der Fee, der Lancelot-Tradition folgend, für ein Leben auf dem Grunde des Sees oder auf einer märchenhaften Insel in Anspruch nehmen, so leitet er jetzt diese Kräfte dahin ab, daß dieser See durch ihre Zauberformeln nur als eine Täuschung vorgespiegelt ist; in Wirklichkeit handle es sich um einen Wald am Fuße eines Hügels. Der Dichter trennt sich zwar nicht ganz von dem Walten magischer Kräfte, wohl aber von der Vorstellung, Lancelot in einer märchenhaften Feenwelt aufwachsen zu lassen.219
Doch der Text geht in dieser Lesart nicht auf, wie Ruberg zugeben muss:220 Diese Umformung des Überlieferten wird jedoch nicht konsequent durchgeführt. Der See erscheint zum Beispiel als real, wenn es heißt: Er reit all tag umb den lack (entour le lac Q) und ein knapp mit im da er ryten begund (I 34,21). Märchenhafte Gestalten verlieren alles Phantastische. Die Frau vom Lack als Fee denkt und handelt wie eine Dame des Hofes, außergewöhnlich ist nur ihr Einblick in die Zukunft. […] Das Motiv der Kindesentführung hat keinen erkennbaren Sinn mehr.221
Dieses Verständnis ist insofern unbefriedigend, als es den Prosalancelot zu einem Übergangstext macht, zu einem missing link zwischen dem phantastischen Raum der „ursprünglichen Lancelotfabel“222 und dem modernen Raumkontinuum. 218 Ruberg 1965, S. 42. 219 Ruberg 1965, S. 42f. 220 Ähnlich spannungsgeladen sind noch die Ausführungen Raumanns, die einerseits (wie ein Großteil der Forschung) der Rationalisierungsthese Rubergs folgt, andererseits aber auch den bleibenden märchenhaften Aspekt des Sees herausstreicht (vgl. Raumann 2010, S. 241f.). Die Differenzierung zwischen rational und märchenhaft ist jedoch für ein Erfassen des merkwürdigen Sees im Prosalancelot wenig hilfreich, stattdessen erscheint die Unterscheidung zweier Beobachtermöglichkeiten vielversprechend, die den ‚See‘ als virtuellen Raum beschreibbar machen. 221 Ruberg 1965, S. 43. 222 Ruberg 1965, S. 42.
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Begreift man stattdessen den Prosalancelot als Text mit einem fertigen, abgeschlossenen Raumkonzept, so ist zu akzeptieren, dass der ‚Erzähler‘ sowohl den See als auch den Hof der Dame vom See als mögliche reale Räume kommuniziert, die ein und denselben Ort einnehmen. Die Fixierung auf den emphatischen Landschaftsbegriff, den Ruberg ansetzt, verdeckt den Blick auf die Struktur und Funktion dieser paradoxen Raumkommunikation: Der doppelte virtuelle Raum Hof/See ist nach dem Vorbild des virtuellen Raumpaares Erzählraum/erzählter Raum gestaltet. Der Hof ist aus der Perspektive des Personals (zunächst) nicht einsehbar und betretbar, das an Stelle des Hofes lediglich das ganz Andere der höfischen Welt, „ein mere groß und tieff“, sieht, wie etwa Königin Alene, die täglich betend auf den See in Erinnerung an ihren verlorenen Sohn blickt und an der anderen Realität, die sich eigentlich direkt vor ihren Augen abspielt, keinen Anteil hat.223 Der Hof von Ninienne, der Dame vom See, andererseits kann sehr wohl den normalen Raum der Erzählung einsehen, und nicht nur das: Wie Ruberg irritiert bemerkt, hat die Dame vom See Einblick in die Erzählzukunft, wie es eigentlich dem Erzählraum vorbehalten ist.224 Der Zauber, der diese Wahrnehmungsdiskrepanz ermöglicht, ist schließlich wieder – analog zur neuen medialen Form des Erzählraumes – an Schriftlichkeit gebunden, denn die Dame vom See hat die Zauberformeln, die auf Merlin zurückgehen, aufgeschrieben;225 und dieser Zauber ist dezidiert als Herrschaft über In- und Exklusion von Räumen semantisiert, wie die entsprechende Bitte Niniennes an Merlin deutlich macht: ‚So bitt ich uch‘, sprach sie, ‚wie man allerhand schloß entschließ und beschließ mit worten, das nymand daruß mög komen dann mit myme willen, und das ich mög
‚So bitte ich Euch‘, sagte sie, ‚mir zu zeigen, wie man allerlei Schlösser so mit Worten auf- und zusperren kann, dass niemand zu entkommen vermag, wenn ich es
223 Vgl. Prosalancelot I, S. 50,23‒27. 224 Dies erkennt auch Raumann, wenn sie den ‚See‘ beschreibt „als eine Fiktion, ein ‚Alsob‘, das zu durchschauen lediglich eine exklusive Gruppe der erzählten Welt imstande ist. Es ist jedoch bedeutsam, daß diese Fiktion sich auf die Ebene der narratio beschränkt und den Rezipienten eigens vom Erzähler erläutert wird. D. h., Erzähler und Rezipient teilen gegenüber der in der Erzählwelt verbreiteten Meinung, der See existiere tatsächlich, einen Wissens- bzw. Erkenntnisvorsprung, da sie die Täuschung zu durchschauen vermögen: Als (erfundenes) Trugbild erscheint der See also ausschließlich in der Erzählwelt selbst, während diese Täuschung auf der Ebene des discours entlarvt und für die Rezipienten erkennbar wird“ (Raumann 2010, S. 241). Es ist nur ein kleiner Schritt (den Raumann allerdings nicht geht) auf der Basis dieser Ausführungen den Hof, der der See für seine Einwohner ist, als virtuellen Raum zu beschreiben, in dem „eine exklusive Gruppe der erzählten Welt“ und „Erzähler und Rezipient“ gemeinsam inkludiert sind. 225 Vgl. Prosalancelot I, S. 62,22f.
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Die virtuellen Haupträume und ihre Veränderung im Akt des Erzählens
thun was ich wölle mit beschwern und mit gauckel‘.226
nicht will, und mich zu lehren, wie ich mit Beschwörung und Zauber alles tun kann, was ich möchte‘.
Und noch in einem weiteren Punkt ist der virtuelle Raum See nach dem Vorbild des Erzählraumes gestaltet und erweist sich als ein zweiter Avatar des Erzählraumes im erzählten Raum neben dem Berg: in seiner Affinität zum Tod. Beim Übertreten der Grenze zwischen normalem Raum und dem virtuellen Raum See stirbt Lancelot aus Sicht des normalen Raums. Fragwürdiger noch als die Identität Lancelots, zu der Judith Klinger umfassend gearbeitet hat, ist für lange Zeit die Existenz Lancelots: Dieses Wissen ist zunächst ‚Erzähler‘, Leser und der Dame vom See vorbehalten, die sich so einmal mehr als Teilhaber an der Kommunikation des Erzählraumes erweist. Mit der Entführung in den ‚See‘ wird Lancelot, der Sohn König Bans und legitimer König Bonewigs, zwischenzeitig wie ein Toter aus dem normalen Raum des erzählten Raumes genommen, was die Grundlage seiner weitgehenden Virtualisierung ist: Der See, Lancelots vorübergehende Zuflucht, erscheint als Niemandsland zwischen Bonewig, dem verlorenen Ort einer ererbten Landesherrschaft, und dem Artusreich, innerhalb dessen Lancelot seinen Ort als Ritter erst noch einzunehmen hat, entgrenzt von den Herrschaftsterritorien des Romans. Dennoch wird gerade dieser Ort später mit dem Zusatz von dem Lacke Bestandteil von Lancelots Namen (erstmals I 165, 34‒36). Damit erscheint der ursprüngliche Verlust – des Taufnamens und des Status als Königssohn – aufgehoben und konserviert zugleich. […] Aus dem Kontext der politischen Problematik, die sich im Wechselspiel zwischen Artus- und Claudashof entfaltet, bleibt der magische Bezirk des Sees gänzlich ausgespart.227
Freilich ist der ‚See‘ bzw. der Hof der Dame vom See nicht der Erzählraum und kann damit nicht gänzlich und dauerhaft an dessen Wissen teilhaben. Der Prosalancelot löst das Paradoxon, dass die Erzählraumperspektive einen virtuellen Ort im erzählten Raum gewinnt, damit, dass einerseits die Dame vom See von ihrem Wissen kaum Gebrauch macht, über die Identität Lancelots schweigt und auch nur sporadisch und indirekt Einblick in die Erzählzukunft gewährt, und dass andererseits der Hof Niniennes ebenso wie der normale Raum der Erzählung unsicher über die Identität Lancelots ist: Der keyner wúst aber synen namen, und gaben im manigen namen. Etschlich nanten yn ‚der schön júngling‘, die andern nanten yn 226 Prosalancelot I, S. 62,16‒19. 227 Klinger 2001, S. 54f.
Niemand von ihnen aber kannte seinen Namen, und so legten sie ihm viele Namen zu: manche nannten ihn ‚schöner Knabe‘,
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‚des konihes suͦn‘. Also hieß yn die jungfrauw manige stunt, und underwilen hett sie yn so: lieb, schöne, rich weyse.228
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andere nannten ihn ‚Königssohn‘. Auch die junge Frau nannte ihn oft so, und bisweilen ‚liebes, schönes, edles Waisenkind‘.
Ninienne selbst spielt dieses Spiel mit und kommuniziert die Identität Lancelots als fragwürdig, so dass diese in mehrere virtuelle Identitäten zerfällt, die jeweils nur zwischenzeitig und für bestimmte Kommunikanten Gültigkeit besitzen; dies trifft auch grundsätzlich für Lancelot zu: So wird er bereits ganz zu Beginn des Prosaromans mit zwei Namen versehen („und was geheißen Lancelot syn zuname, wann er was getauffet Galaad“)229 und wird – vom Personal wie vom ‚Erzähler‘ – als „knapp […,] ritter mit den wißen wapen“230, „ritter mit den roten wapen“231 und „ritter mit dem schwarczen schilt“232 bezeichnet. Diese Reihe der Ersatznamen oder Pseudonyme setzt sich dann bis weit über Lancelots Ritterschlag und erste Aventiure fort, bleibt jedoch stets einem nur vorübergehenden, äußeren Erscheinungsbild verhaftet.233
Diese Dynamik einer virtuellen Identität Lancelots234 kommt erst in der GalahotHandlung zu einem vorläufigen Abschluss und gerinnt zu einer normalen Identität, die von allen Kommunikanten kommuniziert wird. In den langwierigen Auseinandersetzungen zwischen dem gewaltigen Heerführer Galahot und dem militärisch unterlegenen Artus nimmt Lancelot eine merkwürdige Zwischenstellung ein, da er zwar als unvergleichlicher und unbesiegbarer Ritter an den Kämpfen teilnimmt, doch es lange Zeit unklar bleibt, auf wessen Seite er ist; im Gespräch zwischen Artus und Galahot wird diese merkwürdige Unbestimmtheit als räumliche Unbestimmtheit kommuniziert: ‚Wie‘, sprach der konig, ‚bekennet ir des ritters nit mit den schwarczen wapen? Ich wonde das er von uwerm land were.‘ ‚Er ist von mym lande nicht, herre‘, sprach er. ‚Also
‚Wie‘, sagte der König, ‚Ihr wisst nicht, wer der Ritter mit der schwarzen Rüstung ist? Ich habe geglaubt, er stamme aus Eurem Land.‘ ‚Er stammt nicht aus meinem Land,
228 Prosalancelot I, S. 62,34‒64,2. 229 Prosalancelot I, S. 10,9‒11; „der den Beinamen Lancelot trug, doch getauft war er auf Galaad“. 230 Prosalancelot I, S. 402,28–30; „Knappe, den Ritter mit der weißen Rüstung“. 231 Prosalancelot I, S. 650,13; „Ritter mit dem roten Wappen“. 232 Prosalancelot I, S. 716,12f.; „Ritter mit dem schwarzen Schild“. 233 Klinger 2001, S. 53. Zu den ‚Masken‘ Lancelots, die er mit seiner Rüstung anlegt, vgl. Schonert 2005. 234 Vgl. dazu Klinger 2001, v. a. Kap. 1.2‒1.3 (S. 75‒135).
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enist er auch von dem mynen‘, sprache der konig, ‚als ich wenen wil.‘ Sie retten alsus lang von dem schwarczen ritter und das sie synen namen gern hetten gewust.235
Herr.‘ ‚Und aus meinem genausowenig‘, sagte der König, ‚das glaube ich jedenfalls nicht.‘ So sprachen sie lange über den schwarzen Ritter und dass sie gern seinen Namen gewusst hätten.
Galahot wird Artus zwar besiegen, doch sich diesem aufgrund eines Versprechens an den geliebten Lancelot unterwerfen.236 Lancelot nutzt also seine Treuebindungen gegenüber beiden Seiten (seine Identität als Artusritter, seine Identität als Galahots geliebter Freund), um den Krieg zu beenden, und Galahot wird Artusritter. Parallel dazu kommt es nach und nach zur Aufdeckung des Namens Lancelots: Bei dem von Galahot organisierten Treffen von Lancelot und Ginover erfragt die Königin von Lancelot – der selbst nicht um seine Identität weiß237 – seine bisherigen Aventiuren und erkennt ihn schließlich an den Erzählungen als Lancelot vom See.238 Daraufhin enthüllt sie auch Galahot die Identität Lancelots.239 Lancelots Identität ist also engstens mit dem Erzählen seiner Geschichte verknüpft, sie ist in dem Sinne virtuell, dass auch das Personal der Erzählung wie die Leser die Aventiuren Lancelots rezipieren müssen, um ihn zu identifizieren. Diese fragwürdige, zwischenzeitige, stets nur auf wenige Kommunikanten beschränkte, an das Erzählen seiner Geschichte gebundene – sprich: virtuelle Identität Lancelots hat ihre räumliche Grundlage im virtuellen ‚See‘, den er gerade in seinem schließlich allgemein kommunizierten Namen mit sich trägt. Der gedoppelte virtuelle Raum See/Hof besitzt durch seine Struktur, die den beiden virtuellen Haupträumen der Erzählung analog gestaltet ist, eine Besonderheit, die ihn vor allen anderen Avataren des Erzählraumes auszeichnet: eine Dauerhaftigkeit, die ähnlich umfassend ist wie die Dauerhaftigkeit der erzählten Welt selbst. Der gedoppelte virtuelle Raum See/Hof kann so eine dauerhafte Irritation des normalen Raumes der erzählten Welt im Prosalancelot darstellen. Schon Ruberg begreift neben dem Artushof den ‚See‘ als „ein zweites Zentrum des Buches“,240 das immer wieder den normalen Raum irritiert.241 Dieser normale 235 Prosalancelot I, S. 768,34‒770,4. 236 Vgl. Prosalancelot I, S. 756,31‒36. 237 Vgl. Prosalancelot I, S. 784,30. 238 Vgl. Prosalancelot I. S. 790,35‒792,1 239 Vgl. Prosalancelot I, S. 802,16‒25. 240 Ruberg 1965, S. 57; vgl. auch ebd., S. 99: „Alle Bewegungen werden von drei Kraftzentren hervorgebracht und gelenkt: vom Fixpunkt des Lack, von dem sich öffentlich und stetig von Ort zu Ort bewegenden Artushof und von dem verborgen das Land durchstreifenden Lancelot“. 241 Vgl. etwa Ruberg 1965, S. 57: „Mehrfach schickt die Frau vom Lack Botinnen zu Lancelot aus, die ihm mit Zauberkräften zur Seite stehen“. Störmer-Caysa begreift den See als „Anderwelt“ und betont ebenfalls den Irritationsfaktor: „Die Anderwelten stellen […] die Regeln in der
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Raum der Erzählung ist tendenziell bestimmt als das Herrschaftsgebiet König Artusʼ, und der reisende Artushof definiert die inneren Grenzen dieses Raumes: Das Zentrum und die Verkörperung dieser menschlichen Kulturwelt, der Artushof, ist beweglich und berührt wechselweise die verschiedenen Residenzstädte im Herrschaftsgebiet.242
Dieses Herrschaftsgebiet aber – wie jedes im Prosaroman vorkommende Herrschaftsgebiet – ist keineswegs unzweifelhaft, wie gerade der Anfang des Lancelot propre in der (indirekten) Auseinandersetzung von Claudas und Artus deutlich macht: Mit der Gegenüberstellung des britannischen Artushofs und des französischen Claudashofs bietet der Roman zwei Beispiele adliger Herrschaftsausübung, die sich in beiden Fällen erst noch durchsetzen muß. Anders als die Versromane führt der Prosa-Lancelot den Artushof nämlich nicht als stabile und zentrale Institution ein, von der jedwede Handlung ihren Ausgang nimmt und zu der sie zuletzt zurückkehrt. Die Welt dieses Romans ist nicht die eines einheitlichen, arthurischen Reichs, sondern das kartographierte Universum miteinander konkurrierender Mächte.243
Schon die ersten Zeilen des Prosaromans kommunizieren diese Fragwürdigkeit, indem sie als ersten Ort der Erzählung ein Dazwischen, eine Grenze wählen:244
fiktionalen Welt in Frage, sie eröffnen die Möglichkeit, fundamentale Wechselwirkungen der Figuren mit ihrer alltäglichen fiktiven Umgebung (die solche der Menschen abbilden: gerichtete Zeit, Liebe, Tod) experimentell und begrenzt aus den Handlungs- und Denkvoraussetzungen auszuschließen“ (Störmer-Caysa 2007, S. 204f.). Zu Recht widerspricht Raumann deswegen der Interpretation Burrichters, dass der ‚See‘ eine „Dependance der Artuswelt“ (Burrichter 2002, S. 295) sei, „denn eine räumliche Integration der Fee Ninienne in die Artuswelt wird im ‚Prosa-Lancelot‘ nicht suggeriert. Ninienne selbst erscheint am Artushof niemals (lediglich ihre Gaben an Lancelot oder Ginover verbinden sie punktuell mit der Artuswelt), und außer Lancelot, Bohort und Lyonel hält sich kein Artusritter jemals im Reich der Fee auf. Vielmehr macht gerade die erste Begegnung zwischen Artus und Ninienne […] deutlich, daß das Artusreich und das Feen- bzw. Seereich zwei voneinander getrennte ‚Welten‘ darstellen“ (Raumann 2010, S. 243f.). Zu einer Interpretation des ‚Sees‘ als letztendlich normalem Raum der erzählten Welt kann es nur kommen, wenn die Beobachtung von der Differenz märchenhaft/rational bestimmt ist, die spätestens seit Ruberg aber ein Großteil der Forschung – einschließlich Raumann – ansetzt. Sie wird aber, wie gezeigt, stets irritiert durch die Tatsache, dass durchaus auch der ‚Erzähler‘ den ‚See‘ unrelativiert kommuniziert. 242 Ruberg 1965, S. 71. 243 Klinger 2001, S. 56. 244 Vgl. Ziegeler 2012, S. 182. 245 Prosalancelot I, S. 10,1f.
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In der marcken von Galla und von der Mynnren Brytanien warn zwen konig by alten zyten […].245
Im Grenzland von Gallien und der Bretagne lebten in alter Zeit zwei Könige […].
Wie Hans-Joachim Ziegeler detailliert ausgeführt hat, präsentiert der Beginn des Lancelot propre in einer Abfolge unterschiedlicher exemplarischer Fälle das Hauptthema des gesamten Prosaromans, nämlich das „Verhältnis von Herrschaft und Vasallität“,246 das grundsätzlich als problematisch und bedroht dargestellt wird. Diese Funktion des inhaltlich zum restlichen Roman nur schwer in Verbindung zu bringenden Eingangs247 kann nun durch eine raumstrukturelle Interpretation ergänzt werden: Der Eingang des Prosalancelot präsentiert mit dem Berg Bans und dem ‚See‘ der Dame gleich zwei virtuelle Räume, die nach dem Vorbild des virtuellen Erzählraumes gestaltet sind. Beide virtuelle Räume sind semantisch engstens mit Herrschaft verknüpft, und beide Räume führen auf je eigene Art und Weise die Virtualität von Herrschaft vor:248 Der Berg, von dem aus König Ban seine brennende Burg sehen kann, gibt dem Herrschaftsverlust einen konkreten Ort innerhalb des erzählten Raumes, der ‚See‘, in dem Lancelot zum höfischen Ritter erzogen wird, verleiht der potenziellen Herrschaftsrückgewinnung Raum. Vor allem der ‚See‘, der den gesamten Roman begleitet, offenbart immer wieder die Virtualität des Herrschaftsraumes und irritiert solchermaßen den normalen erzählten Raum, der durchgehend als Herrschaftsraum überformt ist.249 Da 246 Ziegeler 2012, S. 187. 247 Vgl. Ziegeler 2012, S. 176f. 248 Vgl. dazu schon Haug 1995, S. 288: „Es gibt Anfänge, die in bestimmter Weise auch schon das Ende in sich tragen. Am Beginn des Prosalancelot steht ein symbolträchtiges Bild: die brennende Burg Bans, eines Vasallen des Königs Artus. […] Auf dem Weg [zu Artus] blickt er von einer Anhöhe aus nocheinmal zurück, und da sieht er sie in Flammen stehen. Der Truchseß hat ihn verraten, Ban bricht tot zusammen. Der Verrat am rechtmäßigen Herrn und die Unfähigkeit des Königs, seine Vasallen zu schützen: das ist die Thematik, mit der die große arthurische Trilogie des Prosalancelot vom Beginn des 13. Jahrhunderts einsetzt. Sie weist voraus auf sein Ende, auf den dritten Teil, die ‚Mort Artu‘, die vom endgültigen Zusammenbruch der arthurischen Welt durch Schwäche und Verrat handelt. Aus dem düsteren Auftakt erwächst jedoch zunächst nochmals eine Hoffnung. Das Kind Bans – es ist Lancelot – wird von einer zauberkundigen Frau, der Dame del Lac, geraubt und damit gerettet. Sie verschwindet mit ihm in einem See, der jedoch nur eine magische Täuschung ist; sie gibt Lancelot eine vorzügliche höfische Erziehung, und sie bringt ihn […] zum Artushof. Ist er der Held, der die arthurische Welt gegen alles, was gegen ihre Idealität steht, nocheinmal zu retten vermöchte?“ 249 Die genauen Ortsangaben im Prosalancelot sind, wie bereits der zitierte Beginn zeigt, nirgends Selbstzweck oder rein ‚geographische‘ Daten, sondern bezeichnen mit Burgen und Städten die inneren Grenzen der Herrschaftsräume einer an Landesherrschaft und darauf aufbauenden vasallitischen Feudalherrschaft orientierten Herrschaftsform.
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der ‚See‘ ein fixierter Raum ist, geschieht diese Irritation des normalen Raumes vor allem über Boten, die das Wissen des Erzählraumes und Zauber anwenden können. Paradigmatisch für diese Virtualisierung des normalen Raumes durch den ‚See‘ ist wieder die Claudas-Handlung, genauer: die Befreiung Lionels und Bohorts. Als die Dame vom See von der Gefangenschaft Lionels und Bohorts in Gaune – eigentlich dem Stammsitz ihrer rechtmäßig ererbten Herrschaft – erfährt, plant sie, gegen Claudas vorzugehen und die beiden Cousins Lancelots zu befreien: Sie det manigen gauckel und versucht wie sie ir dingk mocht angevahen, und erfriesch mit ir behendigkeit das der konig Claudas solt ein großen hoff haben kurczlich und began das jargezytt als herlich als denselbentag da er gekrönt wart. […] An Sant Marie Magdalenen abent rief die jungfrauwe von dem Lac einer jungen frauwen zu ir, die fast schone was und wise von maniger behendikeit und was genant Sarayde. […] Da lerte sie alles das sie thun solt, wie und wann sieß thun solt, als wir fúrter vernemen sollen, und gab ir alles das sie darzu bedorfft.250
Sie versuchte mancherlei Zauberkünste und überlegte, wie sie die Sache anfangen könne; dank ihrer heimlichen Fertigkeiten erfuhr sie, dass König Claudas in Kürze einen großen Hoftag halten und den Jahrestag seiner Krönung so glänzend feiern werde wie den Tag der Krönung selbst. […] Am Abend vor Maria Magdalena rief die Frau vom See eine junge Frau zu sich, die war sehr schön und verstand sich auf allerhand verborgene Künste. Sie hieß Saraide. […] Dann erklärte sie ihr alles, was sie tun sollte und wie und warum sie es tun sollte, wie wir noch hören werden, und rüstete sie mit allem aus, was sie dazu brauchte.
Ninienne passt gezielt den Jahrestag der Krönung Claudasʼ ab, um auch in zeitlicher Hinsicht im Zentrum der Herrschaftsrepräsentation des unrechtmäßigen Herrschers über Gaune einzugreifen und solchermaßen dessen Herrschaftsraum möglichst effektiv zu irritieren. Sie kann dabei wieder ihr Wissen nutzen, das dem Wissen des Erzählraumes analog ist, und im kurzen Erzählervorgriff inszeniert der ‚Erzähler‘ Ninienne als Herrin der Erzählzukunft: Ihre Planung (von der sogar das „wir“ von ‚Erzähler‘ und Leser noch ausgeschlossen ist) wird die Erzählzukunft bestimmen und sich dort verwirklichen. Saraide, die Botin Niniennes, spricht am Hof in Gaune „so lut das es alle die horten die in dem sale waren“251 König Claudas zunächst alle Ehre ab, da er die 250 Prosalancelot I, S. 146,7‒23. 251 Prosalancelot I, S. 148,20f.; „so laut, dass alle im Saal es hörten“. Kurz zuvor ist auch die Herrschaft von König Artus in genau derselben rhetorischen Form durch den Schwarzen Mönch in Frage gestellt worden, da Artus seiner Verpflichtung zur Hilfe für Ban bislang noch nicht nachgekommen ist (vgl. Prosalancelot I, S. 138,11‒33). Auch dieser Mönch ist dem Seeraum zuzuordnen, da er zuvor Alene über das tatsächliche Schicksal Lancelots aufklären konnte (vgl. ebd., S. 128f.). Wieder bestätigt sich die Funktion des ‚Sees‘, den normalen Herrschaftsraum in Frage
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rechtmäßigen Herrscher von Gaune gefangen halte. Nach dieser empfindlichen Infragestellung des Herrschaftsanspruchs Claudas’ – die dieser nicht relativiert – werden die beiden Gefangenen Lionel und Bohort geholt, und es folgt eine aufwändig inszenierte Konstruktion des Herrschaftsraumes252 Claudas’, gefolgt von einer konsequenten Destruktion dieses Raumes: Der konig saß zu eyner hohen tafeln herlich und rylich, als konig zu recht sollen siczen da sie hoff halten. Sin kron stund vor im uff eim stantharte, der was silberin, und da by ein gut schwert, des knopff was offrecht und das ort recht nyderwert by der kron, und ein scepter da by, das was hoch offgesaczt und was guldinn und mit herlichen steynan alles beleyt, die luchten uber alle den pallast. Er saß off eim herlichen seßel, der was gevalten und was aller mit gold gemacht, und aß in synen koniglichen cleydern da er inn zu konig wart gemacht und gewihet.253
Der König saß mächtig und glanzvoll an einer erhöhten Tafel, wie es Königen ansteht, wenn sie Hof halten. Die Krone lag vor ihm auf einem silbernen Aufsatz, daneben lehnte ein kostbares Schwert, der Knauf nach oben und die Spitze abwärts, dicht bei der Krone, und neben ihr war ein goldenes Szepter senkrecht aufgerichtet, das war vollständig mit kostbaren Steinen besetzt, die durch den ganzen Palas strahlten. Claudas saß auf einem kostbaren Faltstuhl aus Gold und tafelte in der Königsrobe, in der er zum König erklärt und geweiht worden war.
Kommuniziert wird hier das Zentrum des Herrschaftsraumes: der erhöht sitzende König im Krönungsmantel, die Machtinsignien Krone, Szepter und Schwert vor sich senkrecht aufgestellt, alles in glänzenden Materialien, wobei die Edelsteine des Szepters „uber alle den pallast“ leuchten und damit die inneren Grenzen des Herrschaftsraumes sichtbar machen. Claudas bietet den Kindern, die vor ihn geführt werden, einen goldenen Becher zum Trunk an – eine Ehrung der Königskinder, die, wie Saraide zuvor ausgeführt hatte, auch dem König selbst zur Ehre gereichen würde und vor allem die eigentlichen Thronerben in den Herrschaftsraum Claudas’ einordnen würde. Hier greift nun Saraide ein und schafft mit einem Zauber die Grundlage für die folgende Destruktion des eben aufgebauten Herrschaftsraumes:
zu stellen. Anhand dieser Episode arbeitet Katharina Philipowski die Vergesslichkeit Königs Artus als Grundproblem des Romanzyklus heraus, was wiederum die grundlegende Rolle der Memoria für den Prosalancelot bestätigt, vgl. Philipowski 2003, S. 141f. 252 Dieser steht freilich schon von Beginn an in Frage, da viele der anwesenden Ritter angesichts ihrer rechtmäßigen Herren, wie der Text betont, weinen (vgl. Prosalancelot I, S. 164,3‒12). Die Kommunikation des Herrschaftsraumes Claudas’ ist also bereits von Beginn an gestört, allerdings auch hier schon initiiert durch die Dame vom See, deren Vorwurf gegen Claudas die Vorführung der Königssöhne erst erzwungen hat. 253 Prosalancelot I, S. 164,16‒25. 254 Prosalancelot I, S. 166,5‒23.
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Da ging die jungfrauw von dem Lac zu Lyonel und ließ beid ir hende uber syn heubt geen und uber syn augen und sprach: ‚Nempt den kopff, schönes koniges kint, und trinckent!‘ und saczt im ein schones bluͦmenschappel off syn heubt und gab im ein hafft fur yn an synen rock, die guldin was und was wol erleyt mit herlichem gesteyn. Alsam det sie sim bruder Bohort und sprach zu Lyonel: ‚Nu mogent ir wol mit eren drincken, edeler koniges sun, ich han uch wol gelonet zu einem mal zu trincken!‘ Lyonel was zornig und antwuͦrt der jungfrauwen: ‚Ich wil trincken, ein ander muß es aber gelten!‘ Da wart Lyonel so zornig das er nit wúst wie im was, und Bohort sym bruder alsam, und hetten freischlich gern gestritten. Das gemachen alles die steyn die in den hafften waren. Es enwart nye kein man, und hett man der hafft eynen fur yne gespannen, er wer zornig worden und girig zu stryt; die großen krafft hetten die steyn die darinn stuͦnden. Welch man sie ob im hett, alle die welt enhett im einen blutstropffen mit angewuͦnnen, noch wunden geschlagen, noch beyn zurbrochen.254
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Da trat die junge Frau vom See zu Lionel, strich ihm mit beiden Händen über Kopf und Augen und sagte: ‚Nehmt den Becher, schönes Königskind, und trinkt!‘ Sie setzte ihm einen schönen Blumenkranz auf und heftete ihm eine goldene, mit Edelsteinen reich besetzte Spange vorn an die Kotte. Ebenso machte sie es mit seinem Bruder Bohort und sagte zu Lionel: ‚Jetzt könnt Ihr wohl in Ehren trinken, edler Königssohn; um einmal zu trinken, habe ich euch reich genug belohnt.‘ Lionel wurde zornig und antwortete ihr: ‚Ich will trinken, aber bezahlen muss dafür ein anderer.‘ Er wurde so zornig, dass er außer sich geriet, und sein Bruder ebenso, und sie hätten schrecklich gern gekämpft. Das bewirkten die Steine in den Spangen. Jeder, dem man eine dieser Spangen angelegt hätte, wäre zornig und kampfbegierig geworden: so große Wirkung hatten die Steine, die daran waren. Wer sie an sich trug, dem hätte niemand auf der Welt einen Blutstropfen rauben, eine Wunde schlagen oder einen Knochen brechen können.
Die Frau vom See schmückt die Kinder und gleicht sie damit tendenziell der Pracht Claudas’ an; das Streichen über den Kopf und die Augen, das Aufsetzen des Blumenkranzes deuten Salbung und Krönung an, und spätestens mit dem wiederholten Ansprechen der Kinder als Königssöhne kommuniziert Saraide einen konkurrierenden Herrschaftsraum. Ihr Zauber schafft mit Zorn und Unverwundbarkeit die Grundlage dafür, dass in Folge auch die beiden Königskinder diesen konkurrierenden Herrschaftsraum konsequent weiterkommunizieren: Lyonel […] nam den kopff mit beyden henden und hub yn so hoh off das im der win wol halber off syn cleyder fur, und schlug den konig mit aller syner macht mit dem kopff an syn antlicz, das im das bort von dem kopff das fleisch schneyt biß off das beyn. Und der win der im kopff bliben was fur dem konig under die augen und in den munt und in die nasen, das er nahelich ersticket was. Er zuckt die krone so ser hien nach im das das zepter nyder vil und zurbrach, er trat mit dem fuß
Lionel ergriff den Becher mit beiden Händen, hob ihn so hoch, dass dem König die Hälfte des Weins auf die Kleider spritzte, und schlug ihn mit aller Kraft ins Gesicht, dass ihm der Becherrand das Fleisch bis auf den Knochen durchschnitt. Der Wein, der noch im Becher war, drang dem König in Augen, Mund und Nase, dass er fast erstickte. Lionel riss die Krone so ungestüm an sich, dass das Szepter herabfiel und zerbrach. Er trat mit Füßen in sie hinein und
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dryn und zurreyß sie mit all. Lyonel ergreif das schwert da die kron off was gestanden, und Bohort ergreiff ein stuck von dem scepter mit beyden handen. Das geschrey wart groß in dem pallast. Und die ritter sprungen allesament off, ein teyl die kint zu behalten, da warn auch gnung die sie beschúten wolten und helffen das sie hinweg kemen. Der konig lag nyder off der erden […]. Lyonel werte sich mit dem schwerte, das er in der hant hett, und Bohort mit dem szepter, das yn nymand gevahen kunde.255
zerfetzte sie vollständig. Er ergriff das Schwert, neben dem die Krone gelegen hatte, und Bohort nahm mit beiden Händen ein Stück des Szepters. Im Palast erhob sich lautes Kriegsgeschrei. Die Ritter sprangen alle auf, ein Teil wollte die Kinder festhalten, doch waren da auch viele, die sie befreien und ihnen helfen wollten zu entkommen. Der König lag auf der Erde. Lionel wehrte sich mit dem Schwert, das er in der Hand hielt, und Bohort mit dem Szepter, so dass niemand sie fassen konnte.
Lionel nutzt den eigentlich als Friedensgabe gedachten Becher Wein, um Claudas’ prächtige Erscheinung empfindlich zu stören (Wein auf dem Krönungsmantel) und die Performanz des Zutrinkens als Gewaltakt zu resemantisieren: Der Becherrand berührt nicht nur die Lippen des Königs, sondern zerschneidet sein Gesicht, der Wein gelangt nicht nur in seinen Mund, sondern erstickt ihn fast. Der eben noch erhöht sitzende König kommt auf der Erde zu liegen, ebenso werden die vertikal aufgestellten Herrschaftsinsignien auf die Erde geworfen und weitgehend zerstört, Schwert und Szepter werden von Bohort und Lionel zu Waffen umfunktionalisiert. Mit dem Schwert erschlägt Lionel schließlich noch Dorin, den Sohn Claudas’.256 Mit der Tötung des potenziellen Thronfolgers ist der Herrschaft Claudas’ bereits die Zukunft genommen, doch die Zerstörung bzw. Umfunktionalisierung der raumschaffenden Konstituenten des Herrschaftsraumes Claudas’ zeitigt bereits im Jetzt eine destruierende Wirkung: Die anwesenden Ritter spalten sich auf in Anhänger Claudas’ einerseits und Verteidiger der rechtmäßigen Herrscher Gaunes andererseits. Der normale Raum der Erzählung – hier die Burg Gaune – wird als Herrschaftsraum zunehmend virtualisiert bzw. der Zauber des ‚Sees‘ macht die grundlegende Virtualität des Herrschaftsraumes offenbar, dessen Existenz und Bestimmung stets von seiner Kommunikation abhängig sind. Die Dame vom See nutzt ihren Zauber nicht schlicht dafür, die Kinder in Sicherheit zu bringen oder aber Claudas zu töten bzw. als Herrscher abzusetzen,257 sondern sie sorgt dafür, dass der Herrschaftsraum Claudas’ nachhaltig fragwürdig wird. Diese Fragwürdigkeit 255 Prosalancelot I, S. 166,25‒168,2. 256 Vgl. Prosalancelot I, S. 168,14‒26. 257 Auch Klinger weist auf diese bleibende Spannung hin: „Sarayde flieht nun mit den Kindern zur Frau vom See, bei der sie fortan – gemeinsam mit Lancelot – aufwachsen. Allein: Claudas bleibt im Besitz von Bonewig und Gaune, das Problem der Ehre (und der Identität) bleibt für Artus und Lionel gleichermaßen unbewältigt“ (Klinger 2001, S. 64).
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des Herrschaftsraumes und seiner Kommunikation herauszustellen ist auch der Effekt der nächsten magischen Handlung Saraides im Auftrag der Dame vom See: Um mit den Kindern fliehen zu können, lässt sie für die Verfolger Lionel und Bohort als Windhunde erscheinen, während zwei tatsächliche Windhunde die Gestalt der Kinder annehmen. Claudas verfolgt und fängt daraufhin die beiden verwandelten Windhunde, während Saraide die Kinder in den ‚See‘ in Sicherheit bringen kann.258 Der gesamte, lange auserzählte Kampf um die ‚Kinder‘, der daraufhin in Gaune entbrennt und anhand dessen in erster Linie der Treuekonflikt Phariens verhandelt wird,259 ist also letztendlich eine virtuelle Auseinandersetzung um die Herrschaft in Gaune, da die rechtmäßigen Thronfolger nur für eine begrenzte Kommunikationsgemeinschaft Geiseln Claudas’ sind bzw. in blutigen Kämpfen und zähen Verhandlungen von Phariens und seinen Anhängern im großen Turm der Burg Gaune ausgelöst und verteidigt werden, wie ihre Rückverwandlung veranschaulicht:260 Anderhalb was Phariens und sin gesellschafft im thorne und machten groß freude umb das sie ir herren beid mit yn wonden haben. Da die jungfrauw von dem Lack die kint beide zu herberg bracht und ir zauberey wiedder deth: das wund waren gewesen das wurden kint, und das kint waren gewesen das wurden wind, – da das Phariens ersah, da erschrack er fast sere und alle die im thurn waren. Diß geschah da die jungfrauw des ersten nachtes mit den kinden zu herberg kam und den kinden zu eßsen solt geben; da widder det sie ir zauberey das man die kint wol bekant, also der man auch die winde zu Gaune in dem thorne. Zu derselben stunt da wurden alle die in dem thorn waren by Phariens so zornig das sie nit wusten, was sie thun solten, und Phariens selber
Auf der anderen Seite freuten sich Phariens und seine Gefährten im Turm, weil sie ihre beiden Herren bei sich zu haben glaubten. Als aber die Botin vom See die beiden Kinder in die Unterkunft gebracht hatte und den Zauber aufhob, da wurden die Windspiele zu Kindern, und die Kinder wurden zu Windspielen. Als Phariens das sah, erschrak er zutiefst, und alle im Turm mit ihm. Es geschah am ersten Abend, da die junge Frau mit den Kindern eingekehrt war und ihnen zu essen geben wollte: da löste sie den Zauber, so dass man die Kinder erkannte, und ebenso erkannte man im Turm zu Gaune die Windhunde. Sogleich wurden alle, die im Turm waren, so wütend, dass sie nicht wussten, was sie tun sollten, und Phariens am allermeisten.
258 Vgl. Prosalancelot I, S. 168‒174. 259 Vgl. Prosalancelot I, S. 174‒236. 260 Vgl. dazu auch Raumann, die mit dem Begriff „wint“ neben der Bedeutung „Windhund“ auch die Bedeutung „nichts“ im mittelhochdeutschen Text als präsent erachtet, „so daß in der ganzen Episode deutlich wird, daß Claudas tatsächlich kein politisch wirksames Druckmittel (die Kinder Bohorts) in Händen hält, sondern eben ‚etwas, das ohne Wirkung bleibt‘, nämlich zwei Windhunde“ (Raumann 2010, S. 250); relativierend muss freilich hinzugefügt werden, dass zwischenzeitig – für die Dauer und für die Teilnehmer der Kommunikation, die die Windhunde als Kinder erkennt, im virtuellen Raum also, den der Zauber des ‚Sees‘ schafft – die Windhunde de facto ein politisch wirksames Druckmittel sind.
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allermeist. Sie rieffen alle mit eyner stym das sie Claudas allererst wolten döten. Phariens wart ser unfro umb syne herren, die wonde er verlorn han, da aller syn trost anstunt […]. Er wond das sie Claudas getötet hett und das er yn die wind fur die kint gegeben hett […].261
Sie riefen wie aus einem Munde, nun wollten sie Claudas töten. Phariens trauerte um seine Herren, die er verloren glaubte und auf denen doch all seine Zuversicht geruht hatte. Er glaubte, Claudas habe sie umgebracht und ihnen statt der Kinder die Hunde gegeben.
Der ‚See‘ ist zwar ein räumlicher Fixpunkt in der erzählten Welt, doch er wirkt durch seine Magie in Echtzeit im gesamten erzählten Raum. Mit der Auflösung des Zaubers wird aber keineswegs die virtuelle Auseinandersetzung um die Herrschaft in Gaune beendet, sondern lediglich auf eine neue Ebene verlagert: Die Existenz und das Schicksal der Thronfolger steht nun in Frage, und aus dem Kampf um den rechten Herrscher wird ein Rachekampf für die virtuell von Claudas getöteten Königskinder – ein Schicksal, dass Claudas den Kindern in der Tat zugedacht hatte und das nun – wieder durch das Wirken des ‚Sees‘ – virtuell durchgespielt werden kann, ohne dass die Königskinder tatsächlich sterben müssen; stattdessen sind auch sie, analog zu Lancelot, im ‚See‘ aufgehoben, während sie im (restlichen) erzählten Raum als gestorben kommuniziert werden: Wieder ist der Wechsel in den virtuellen Raum ‚See‘ verknüpft mit einem virtuellen Sterben, und wieder wird deutlich, dass die Außenwirkung des ‚Sees‘ nicht auf Konfliktlösung oder Vereindeutigung von Herrschaft abzielt – die Auseinandersetzung um die virtuell verstorbenen Kinder wird noch lange andauern, Claudas wird sich schließlich mit den Baronen von Gaune versöhnen, ohne die Herrschaft abzugeben;262 der virtuelle Raum ‚See‘ irritiert vielmehr die institutionelle Normierung des normalen Raumes, die behauptete und beanspruchte Dauerhaftigkeit seiner Herrschaftskonstellationen, und führt damit die Virtualität des Herrschaftsraumes vor.263
261 Vgl. Prosalancelot I, S. 196,32‒198,14. 262 Vgl. Prosalancelot I, S. 306. 263 Dies gilt auch für die Episode Dolorose Garde, bei der wieder eine Botin Niniennes eine bedeutende Rolle spielt, indem sie Lancelot aufsucht, um „ihm die Wunderschilde [zu] überreichen, die Lancelot letztlich in die Lage versetzen, sich Einlaß in die Dolorose Garde zu verschaffen“ (Raumann 2010, S. 252). Der ‚See‘ virtualisiert hier den normalen Raum der erzählten Welt insofern, als er einen virtuellen Raum gleichsam aufschließt und begehbar macht (was den normalen Raum nachhaltig virtualisiert, s. o., Kap. 4.3.2) – und auch hier liegt das Hauptaugenmerk offenbar eben nicht auf der Herstellung eines eindeutigen Herrschaftsraumes: Wie dargestellt, ist Lancelot mit der bestandenen Aventiure keineswegs der Herrscher der Dolorose Garde, die nach wie vor verzaubert ist und ihren (ehemaligen?) Burgherren noch lange Zeit streitlustig in der nächsten Umgebung weiß.
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4.3.4 Ausblick II: Der Verschleiß des normalen Raums im Prosalancelot Diese Irritation des normalen Raumes durch den virtuellen Raum ist über den gesamten Prosaroman hinweg zu beobachten. Sie ist keineswegs auf den ‚See‘ beschränkt, sondern, wie exemplarisch gezeigt wurde, auch ein Grundmuster der fast inflationären Vielfalt an virtuellen Räumen, die der Prosalancelot präsentiert. Das Ergebnis erscheint zunächst paradox: Da der gesamte normale Raum im Prosalancelot als Herrschaftsraum semantisiert ist, Herrschaft aber immer wieder als nur zwischenzeitiges Ergebnis entsprechender Kommunikation gezeigt wird, entpuppt sich der gesamte normale Raum letztendlich als virtuell; hier ist jedoch daran zu erinnern, dass jeder normale Raum letztendlich ein virtueller Raum ist, dessen Abhängigkeit von der raumschaffenden Kommunikation aber der Kommunikationsgemeinschaft nicht bewusst ist.264 Die vielen kleinen virtuellen Räume des Prosalancelot machen lediglich die Virtualität des gesamten normalen Raumes über den Herrschaftsraum anschaulich. Dies gilt in besonderer Weise für Artus und dessen Herrschaftsraum, wie der Vergleich mit den Versromanen zeigt: Während dort die Artusherrschaft grundsätzlich etabliert, unantastbar und bleibend gültig kommuniziert wird und sich der Herrschaftsraum Artus’ entsprechend als ein normaler, institutioneller, statischer Raum darstellt,265 entfaltet sich die Artusherrschaft im Prosalancelot anfangs als noch nicht etabliert, zwischenzeitig als existenziell bedroht und schließlich als vollständig vernichtet, der Herrschaftsraum entsprechend als virtueller, zwischenzeitiger und dynamischer Raum. Wie gezeigt wurde, wird der Artushof im Prosalancelot zunehmend in die Schrift virtualisiert, er stirbt gewissermaßen in die Schrift, ist in ihr aber auch der dauerhaften Memoria anheimgegeben und ähnlich aufgehoben, wie Lancelot, Lionel und Bohort im virtuellen Raum ‚See‘ und Ban im virtuellen Raum Berg. So nimmt es nicht weiter Wunder, dass Berg und ‚See‘ am Ende der Artusherrschaft, beim Tod des Königs selbst, noch einmal auftauchen um ihre Funktion als virtuelle Räume, als der Erzählwelt enthobene Räume im erzählten Raum, ein letztes Mal zur Verfügung zu stellen: Da rieff er Giflet und sprach: ‚Geent an den berg, da sollent ir finden einen see, und als ir den hant funden, so werffent diß schwert darinn, wann ich wil nit das es in dißem riche belib, das die boßwichter die in dißem
Er [der sterbende Artus] rief Giflet zu sich und sagte: ‚Geht zu dem Berg da, dort werdet Ihr einen See finden; werft dieses Schwert hinein, wenn Ihr ihn gefunden habt, denn ich will nicht, dass es hier in
264 Vgl. Kap. 2.1. 265 Der konkrete Artushof ist freilich ein äußerst dynamisches Pendant zu der Stasis seiner Herrschaft, vgl. Wagner 2013.
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land blibent ein als gut schwert haben solten als diß ist!‘266
diesem Königreich bleibt und die Schurken, die in diesem Land überdauern, ein so edles Schwert besitzen wie dieses!‘
Freilich sind Berg und See nicht näher definiert, und es bleibt geographisch unklar, ob es sich um die Orte des Lancelot propre handelt; die Situierung des sterbenden Artus am Meeresufer machen eine geographische Identität eher unwahrscheinlich; doch folgt der Prosalancelot eben nicht in erster Linie einer geographischen Raumlogik: Virtuell handelt es sich um die selben Orte, wie schon die unmittelbar vorausfolgende Kommunikation Artus’ belegt, der sein Schwert Lancelot zueignet: ‚Ach Escalibort, du gutes schwert und schön, das best, sunder das mit dem fremden gehencke, das ye in das konigrich von Logres kam, nu verlúsest di dynen meister! Wo möchtest du finden eynen man, an dem du als wol bestat werest als du an mir hast gewest, herre Lanczelot hett dich dann in syner hant!‘267
‚Ach, Escalibur, treffliches, schönes Schwert, das beste außer dem Schwert mit dem seltsamen Gehenk, das je ins Königreich Logres gelangt ist, nun verlierst du deinen Meister! Wo könntest du jemanden finden, bei dem du so gut aufgehoben wärest, wie du es bei mir gewesen bist, außer in Lancelots Hand?‘
Der Ritter Giflet wirft das Schwert schließlich in den See, von dem aus eine Hand nach dem Schwert greift und es dreimal schwingt, bevor sie wieder in den See verschwindet; der Text weist noch darauf hin, dass Giflet den zugehörigen Körper nicht sehen kann.268 Alles weitere lässt der Text offen, doch die Verbindung zwischen dem Wunsch König Artusʼ, dass das Schwert in Lancelots Hand kommen möge, und der Hand, die aus dem See aufsteigt, der eine magische Doppelnatur besitzt und in sich eine uneinsehbare Welt verbirgt, ist offensichtlich: It is impossible not to hear in the king’s words, ‘Lors la lance el lac!’ (192:80‒81), the name of the sword’s true addressee, Lancelot du Lac.269
Im virtuellen Raum ‚See‘, nicht im normalen erzählten Raum, erhält Lancelot das Schwert aus der Hand des sterbenden Königs, und das Schwert – das Herrschaftssymbol der Artusherrschaft – wird damit zugleich aus der erzählten Welt genommen, wie es Artus gewünscht hatte, um das Land vor unrechter Herrschaft zu schützen. In gewisser Weise ist die Artusherrschaft am Ende des Mort Artu damit ähnlich wie der Herrschaftsanspruch Lancelots, Lionels und Bohorts im 266 Prosalancelot V, S. 1002,30‒36. 267 Prosalancelot V, S. 1002,21‒26. 268 Vgl. Prosalancelot V, S. 1004,29‒1006,8. 269 Méla 1988, S. 12.
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Lancelot propre im virtuellen Raum ‚See‘ aufgehoben, wieder dient der virtuelle Raum dazu, Herrschaftsräume als fragwürdig darzustellen – nicht aber dazu, sie aufzulösen und damit zu vereindeutigen. Dass diese Virtualisierung des Herrschaftsraumes in der Spannung zwischen Irritation und Bewahrung ein zentrales Programm des Prosalancelot ist, belegt zuletzt der schmale Epilog des monumentalen Prosaromans: Und nu saget uns Meyster Gacziers Map nit men von Lanczlots leben, wann er hatt es alles wol zu ende erzalt nach dem das es geschah. Und hie nÿmet syn buch ein ende also mit all, wann nach dem kúnde nÿmant nicht erzelen, er must zu mal daran liegen. Hie hatt ein ende das letste buch von hern Lanczlot und von konig Artus tode und von Hector und herrn Gawin und von allen den es sagt und sagt nit men da von. Darumb sy der gebenedit der da lebet und herschet úmmer ewiglichen. Amen.270
Und nun berichtet uns Meister Walter Map nichts mehr von Lancelots Leben, denn er hat alles sorgfältig zu Ende erzählt, so wie es geschehen ist. So nimmt sein Buch hier ein Ende, denn hiernach könnte niemand mehr etwas erzählen, wenn er nicht lügen wollte. Hier endet das letzte Buch von Lancelot und vom Tod des Königs Artus, von Hector und Gawan und von allen denen, über die es berichtet hat, und es spricht nicht länger davon. Darum sei der gepriesen, der da lebt und herrscht in Ewigkeit. Amen.
Das umfassende Sterben des Personals, das Aussterben des Artushofes ist hier kein Anlass mehr für Trauer, sondern Beleg für die Komplettheit der vorliegenden Chronik.271 Hier spiegelt sich die Memorialfunktion der vielen Grabinschriften innerhalb des erzählten Raumes im einzig noch existenten Erzählraum: dem Buch. Sterben in die Schrift bedeutet für die hier genannten und ungenannten Helden des Artushofes, dass ihre Geschichte nun in Buchform komplett vorliegt und sie im virtuellen Erzählraum Schrift über ihren erzählten Tod hinaus weiterexistieren.272 Auch hier weist der ‚Erzähler‘ nochmals dezidiert darauf hin, dass er 270 Prosalancelot V, S. 1028,31‒1030,3. 271 Parallel dazu sind in Bezug auf die Semantik des Sterbens zwei gegenläufige Bewegungen im letzten Teil des Romanzyklus’ zu erkennen: „Auf der einen Seite besiegelt der katastrophale, selbstzerstörerische Krieg den Untergang der Artuswelt, auf der anderen aber bildet erst Lancelots Eremitage, sein Tod und die Traumvision seiner ‚Himmelfahrt‘ die letzte Grenze, über die hinaus nichts weiter erzählt werden kann (III 787.2ff.). Während die ‚historische‘ Handlungslinie in die erwartbare Katastrophe führt, mündet die ‚biographische‘ in die Erlösung des Helden“ (Waltenberger 1999, S. 142). 272 Auch der Versroman kennt dieses Weiterexistieren in der Erzählung, doch ist es hier der unmittelbar erfahrbare Erzählraum der kollektiven Geschichtenrezeption, der der Erinnerung an Artus Raum gibt und ihn gleichsam am Leben erhält, vgl. etwa den Prolog des Iweinromans. Darüber hinaus betont die Forschung in letzter Zeit zu Recht, dass das eigentliche Sterben von Artus im Prosalancelot nicht erzählt wird und statt dessen lediglich eine bei näherer Betrachtung zweifelhafte Interpretation von Indizien durch eine Figur vorliegt, die Raum für Zweifel und Spe-
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nicht selbst erzählt, sondern lediglich das vorliegende Buch mitliest. Der Erzählraum – im Versroman noch unmittelbar gesellschaftlich erfahrbar für ein historisches Publikum – liegt hier nur noch mittelbar als Buch vor, eine Einschränkung, der der ‚Erzähler‘ im Epilog noch einmal mit der Beteuerung begegnen will, dass das Buch komplett, unveränderbar und wahr sei. Unschwer ist darin die Bemühung um eine Verortung und Fixierung des verlorenen Erzählraumes zu erkennen, die in den vielfältigen virtuellen Avataren des Erzählraumes im erzählten Raum ihr Pendant hat. Uwe Ruberg erfasst die Raumkonzeption des Prosalancelot als Sieg des (guten) normalen Raums über den (bösen) virtuellen Raum: Alle verzauberten, märchenhaften Landschaften erscheinen im Prosa-Lancelot im Stadium der Auflösung. Wo der Dichter sie nicht selbst rational faßbar macht, werden sie durch die ritterliche Leistung, durch das Ergreifen einer verborgenen Wahrheit, als Welt bösen Scheins entlarvt und in das Raumkontinuum zurückgeführt.273
Dieses Fazit ist auf der Basis des Dargestellten gerade umzukehren: Der Prosalancelot erzählt nicht die Rückführung des Unsicheren, Fragwürdigen, Virtuellen in den normalen Raum,274 sondern dessen zunehmende Irritation, Auflösung und kulationen über das Schicksal Artus’ lässt (vgl. exemplarisch, mit der Aufführung weiterer Stimmen, Biesterfeld 2004, S. 142f., und Raumann 2010, S. 211‒220). Diese gezielte Verunsicherung leistet dem Sterben Artus’ in den virtuellen Raum der erzählenden Schrift Vorschub, indem sie die Faktualität des Todes als fragwürdig erscheinen lässt. 273 Ruberg 1965, S. 45. Vgl. auch S. 102f. 274 Dagegen spricht auch, dass der Prosalancelot inhaltlich durchgehend von Unsicherem, Fragwürdigem und Widersprüchlichem erzählt, wie eine heuristische Sichtung des ersten Bandes des Lancelot propre belegt: Die Königinnen trauern und freuen sich bei ihrem Wiedersehen gleichzeitig (Prosalancelot I, S. 58), Merlin ist vom bösen und guten Geist bestimmt (ebd., S. 60), Claudas ist zugleich gut und böse (ebd., S. 10; 78; 192), Lancelot ist schön und hässlich (ebd., S. 104f.), die Königinnen sind zugleich traurig und froh bei der Nachricht, dass Lancelot noch lebt (ebd., S. 134), Artus ist zugleich tapfer und untreu (ebd., S. 138), die Ritter in der belagerten Stadt sind zugleich unfroh und froh über das Friedensangebot Claudas’ (ebd., S. 290), Phariens ist traurig und froh zugleich über die Entscheidung seines Neffen Lambegus, sich in die Hände von Claudas zu begeben (ebd., S. 296), Artus hat mit seinem Nachsinnen und Weinen recht und unrecht gehandelt (ebd., S. 322), ein Ritter muss zwei Herzen haben, ein sanftes und ein hartes (Ritterlehre der Dame vom See, ebd., S. 338), die Bewohner der Dolorose Garde sind nach dem Sieg Lancelots zugleich traurig und froh (ebd., S. 454), das Treffen Lancelots mit Ginover ist Anlass zu großem Leid und großer Freude (ebd., S. 776), die Dame von Hector ist freudig und traurig zugleich über den Abschied Hectors (ebd., S. 1060), Ladomasens Vater ist beim Wiedersehen mit seinem totgeglaubten Sohn traurig und froh (ebd., S. 1074). Diese Kombination widersprüchlicher Aspekte betrifft auch die Figurenzeichnung grundsätzlich: „Die Homogenität des Körpers selbst bricht durch die kontrastive Kombination positiver mit negativen Attributen auf. Dieser ungewöhnlich differenzierte Blick auf die Physis wird darüber hinaus, alten rhetorischen Konventionen folgend
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Aufhebung in den virtuellen Raum, der keineswegs moralisch negativ bestimmt sein muss: Etwa im ‚See‘ oder im Berg, aber auch in den Grabinschriften und der Chronik des Artus liegen Avatare des Erzählraumes im erzählten Raum vor, die als Memorialorte auch das im normalen Raum Bedrohte (wie Herrschaft) bzw. Verlorene (wie Verstorbene) zwischenzeitig in sich aufnehmen können. Der Prosalancelot erzählt unter räumlicher Perspektive eben nicht den ersten Entwurf eines modernen Raumkontinuums, sondern, im Gegenteil, den Verschleiß des normalen, institutionellen Raumes und sein tendenzielles Aufgehen im virtuellen Raum. Grundlage für dieses Erzählen räumlicher Unsicherheit ist aber die Unsicherheit, die mit dem Wegfall des unmittelbar erfahrbaren Erzählraumes einhergeht: Der Erzählraum des zum privaten Lesen bestimmten Prosalancelot ist nur noch in der Fiktion vorhanden oder aber in Form des Buches greifbar, er ist aber nicht mehr der im Erzählakt unhinterfragbar vorhandene virtuelle Großraum der Erzählung, in dessen Rahmen der erzählte Raum als sekundärer virtueller Großraum entfaltet werden kann. Die oft beschriebene, geradezu kartographische Festigkeit des Raumes im Prosalancelot erscheint vor diesem Hintergrund weniger als Vorweggriff moderner Raummodi der Epik, als vielmehr als der Versuch, der mit dem Verlust des Erzählraumes einhergehenden räumlichen Unsicherheit zu begegnen. Dass ein modernes Raumkontinuum aber keineswegs das Ziel der Raumkommunikation des Prosalancelot ist, belegen die vielen virtuellen Räume und die Tendenz der Virtualisierung des normalen Raumes im Romanzyklus.
(die allerdings in der höfischen Literatur zuvor kaum wirksam geworden sind), mit einer ebenso detaillierten Charakterzeichnung verknüpft“ (Waltenberger 1999, S. 45).
5 Virtuelle Räume in höfischer Literatur 5.1 Zusammenfassung Die Untersuchung des virtuellen Raumes von den Prämissen des postmodernen Cyberspace zu emanzipieren; den Konnex zwischen dem performativen Akt des mittelalterlichen Erzählens und dem Entwurf fiktionaler Räume nachzuzeichnen; einen heute verlorenen und deswegen nur schwer erkennbaren Raumaspekt höfischer Literatur aufzudecken: Dies waren die vornehmlichen Ziele dieser Arbeit. Zugunsten dieser Ziele wurde bei der Analyse und Interpretation der behandelten Texte das Augenmerk ganz auf den Modus der Kommunikationszugänglichkeit von Raumkommunikationen gelegt, andere Modi der literarischen Raumerzeugung weitgehend ausgeblendet. Entsprechend stellen die Untersuchungen auch nur bedingt einen Beitrag zum übergeordneten Thema Raum in der höfischen Literatur dar. Nichtsdestoweniger erscheint mir eine solche systematische Fokussierung notwendig, da der virtuelle Raum bislang in der mediävistischen Raumforschung marginalisiert wurde und unter dem Generalverdacht einer ahistorischen Projektion postmoderner Erfahrungsmodelle auf das Mittelalter stand. Doch scheint es sich beim virtuellen Raum um ein Phänomen zu handeln, das gerade in Hinsicht auf mittelalterliche Raumkonzepte von zentraler Bedeutung ist und dem dementsprechend verstärkt Aufmerksamkeit zukommen sollte: Der virtuelle Raum ist sicherlich nur ein Baustein neben anderen für eine historisierende Erzähltheorie – aber er ist ein unverzichtbarer Bestandteil, will man den Eigenheiten hochmittelalterlichen Erzählens gerecht werden. Um dies zu plausibilisieren und um eine schnelle Orientierung zu erleichtern, seien nochmals die zentralen Argumentationsgänge der vorherigen Kapitel zusammenfassend in Erinnerung gerufen: [1] Anhand des ‚Torverlieses‘ des Iweinromans kann die Problematik einer Untersuchung mittelalterlicher, literarischer Raumkonzepte veranschaulicht werden: Ein modernes Raumkonzept, das auf einen präexistenten, kohärenten Raum aufbaut, wird von der mittelalterlichen Literatur nachhaltig irritiert, entsprechende (ältere) Forschung (v. a. auch romantisch überformt durch den emphatischen Begriff der Landschaft) wird kaum fündig. Aber auch die Herangehensweise der jüngeren Forschung, über den einen zentralen Helden und seine Bewegung bzw. Handlung den Raum der Epik zu begreifen, ist problematisch, da sie andere raumschaffende Konstituenten und Kommunikanten tendenziell aus dem Blick verliert. Stattdessen setzt die Arbeit einen multiperspektivischen Ansatz an: Raum wird im Rahmen der Erzählung von allen an dieser Kommunikation Beteiligten und unter Einbezug ihrer jeweiligen Beobachtungsmöglichkei-
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ten gebildet. Entsprechend ist literarischer Raum als kommunikative Größe sehr unterschiedlicher Beobachter (Personal, Erzähler, Publikum) notwendigerweise divergent und nicht auf eine Perspektive, auf einen Raumentwurf kürzbar. Auf Basis dieses multiperspektivischen Ansatzes liest sich das ‚Torverlies‘ als Auseinandersetzung zwischen zwei konkurrierenden Raumkonzepten am gleichen Ort: Ein allgemein zugänglicher und von Todesfurcht und -drohung gekennzeichneter Raum wird allmählich überformt von einem Minneraum, zu dem nur Iwein und Lunete Zugang haben. Die Perspektive, die den besonderen Minneraum im Iwein entstehen lässt, entpuppt sich als Kopie der Perspektive des Publikums der höfischen Erzählung; die dadurch entstehenden Räume sind nur einigen Teilnehmern der literarischen Kommunikation zugänglich und existieren nur für die Dauer der Kommunikation, und eben diese solchermaßen zugangsbeschränkten Räume sind als virtuelle Räume Gegenstand der Arbeit. [2] Virtueller Raum in Anwendung auf mittelalterliche Literatur wurde bislang vor allem am Paradigma des Cyberspace entworfen, was die Gefahr ahistorischer Übertragung spezifisch postmoderner Muster auf das Mittelalter in sich birgt. Es kann jedoch auch im Mittelalter ein Ansatzpunkt für das Phänomen virtueller Raum gefunden werden: Im Bereich der logischen Argumente wird der lateinische Begriff virtualiter räumlich gebraucht und für eine markierte Realität verwendet, die sich von alltäglicher Erfahrung unterscheidet. Nichtsdestoweniger ist eine Annäherung an den Virtualitätsbegriff schwierig. Eine Annäherung etwa über den Gegenbegriff erweist sich als Sackgasse, da bei näherer Betrachtung Virtualität kein schlicht dualistischer Gegenbegriff etwa zu Realität zu sein scheint. Eine Annäherung über den übergeordneten Begriff Raum dagegen, zu dem virtuell das Verhältnis einer Näherbestimmung einnimmt, ist erfolgreicher: Raum wird dabei – der kulturwissenschaftlichen Orientierung des spacial turns folgend – als eine durch Ausdehnung und Inhalt bestimmte und begrenzte Entität verstanden, die im Einzelnen durch die Kommunikation kultureller Wahrnehmungs- und Handlungsmuster formiert wird; Raum ist die Form, die In- und Exklusion in der Kommunikation annehmen. Dabei formt bereits die Kommunikation über einen Raum dessen Identität. Virtualität ist dabei eine Näherbestimmung eines Modus dieser kommunikativen Raumgenese: der Kommunikationszugänglichkeit. An einer raumgenerierenden Kommunikation können entweder grundsätzlich alle Angehörige einer Bezugsgesellschaft teilnehmen, was einen normalen Raum erzeugt, oder aber die Kommunikation ist auf einen einzigen Kommunikanten beschränkt, was einen imaginären Raum hervorbringt. Ein virtueller Raum besitzt dabei offenbar einen Zwischenstatus: Seine raumgenerierende Kommunikation ist nur einigen Personen einer Bezugsgesellschaft zugänglich, weshalb für die restlichen, von dieser Kommunikation exkludierten Personen die Existenz des virtuellen Raumes fragwürdig ist. Die Existenz des virtuellen Raumes ist damit auf die
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Kommunikanten und auf die Dauer seiner raumgenerierenden Kommunikation beschränkt. Da sich in diesem Verständnis normale Räume vor allem dadurch auszeichnen, dass sie auch über spezifische Kommunikationen hinaus von einer kompletten Bezugsgesellschaft als existent erachtet werden, rücken sie eng an das soziologische Phänomen der Institution: Der normale Raum ist die raumzeitliche Form der Institution. Da das Hochmittelalter dauerhafte und verlässliche Institutionen erst auszubilden beginnt, ist zu erwarten, dass für diese Zeit der virtuelle Raum eine sehr viel größere Rolle spielt als in der (Post-)Moderne, in der der Institutionalisierungsprozess weitestgehend abgeschlossen ist. Für eine Gesellschaft, deren Institutionalisierungsprozess gerade beginnt, bietet der virtuelle Raum die idealen Bedingungen, um Möglichkeiten, Chancen und Gefahren von Institutionen auszutesten, und die virtuellen Räume der Literatur scheinen hierbei eine nicht unwichtige Rolle zu spielen: Literarische Fiktionalität bildet nämlich zwei virtuelle Haupträume von relativ fester Struktur aus, die als erzählter Raum und Erzählraum bezeichnet werden können. Der erzählte Raum entsteht in der Kommunikation zwischen Erzähler und Publikum, wobei die fiktionale Distanz grundsätzlich gewahrt bleibt: Alle Kommunikanten dieses virtuellen Raumes kommunizieren lediglich über den Raum, sie begehen ihn nicht; der Erzählraum bietet dagegen mit seinen Rollen Erzähler und Publikum Identifikationsmodelle für seine Kommunikanten an, die eingenommen werden können – und in gewisser Weise werden müssen, soll die Erzählung funktionieren. Die kommunikative Erzeugung beider virtueller Haupträume der Erzählung bedeutet in der mittelalterlichen Aufführungssituation damit sowohl Unmittelbarkeit als auch bleibende Distanzierung. Die Struktur dieser beiden virtuellen Haupträume der Erzählung bildet auch das Vorbild für viele virtuelle Räume, die innerhalb des erzählten Raumes, also auf Basis der Kommunikation des Personals, ausgebildet werden. Das Untersuchungsprogramm der Arbeit bezieht sich entsprechend sowohl auf virtuelle Räume innerhalb des erzählten Raumes als auch auf die Interferenzen zwischen den beiden virtuellen Haupträumen der Erzählung. [3] Beim Aufbau der virtuellen Räume kann die Literatur des Mittelalters zurückgreifen auf außerliterarische virtuelle Raumarten, die in der adeligen Gesellschaft um 1200 zu boomen scheinen, allen voran auf den musikalischen Raum und den Memorialraum. Auch mittelalterliche Literatur erweist sich damit als Interdiskurs im Sinne Link/Link-Heers, der auf (artistische) Spezialdiskurse – hier Musik und Memoria – zurückgreift und deren Elemente (auswählend, variierend, verändernd) für eigene Zwecke nutzen und miteinander verknüpfen kann. Die Bezugsgesellschaft dieses literarischen Interdiskurses kann in der stratifikatorisch ausdifferenzierten Gesellschaft des Mittelalters keine Gesamtgesellschaft sein, sondern – eine Abstraktionsstufe tiefer – ein bestimmter Gesellschaftsausschnitt, hier die höfische Gesellschaft. Literatur wird damit keineswegs zu einem
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gelehrten Glasperlenspiel, dessen Verständnis nur wenigen Gelehrten zugänglich ist; vielmehr werden aus den artistischen Spezialdiskursen vornehmlich ganz grundsätzliche Wissensbestände (teilweise modifiziert) übernommen, die auch dem heutigen Forscher bereits bei einer oberflächlichen Betrachtung des Spezialdiskurses zugänglich sind – umso mehr aber den schriftlich organisierten Dichtern und Erzählern des Mittelalters, deren Lesefähigkeit eine grundsätzliche Bildung voraussetzt. [3.1] Der Tonraum als erstes Beispiel eines speziell mittelalterlichen virtuellen Raumkonzeptes entfaltet sich gerade im Hochmittelalter als ein Paradigma des virtuellen Raumes. [3.1.1] Der Musikbegriff des Mittelalters unterscheidet sich grundsätzlich von einem modernen Musikbegriff. Einerseits wird Musik mit der hier zentralen Größe Zahl als ars betrieben, anderseits mit der dort zentralen Größe Klang als usus. Musik bildet damit im Hochmittelalter eigentlich zwei Spezialdiskurse aus, die nur zögerlich miteinander vernetzt werden. Doch gerade der hochmittelalterliche Hof stellt ein Sammelbecken dar, in dem beide Musikbegriffe aufeinandertreffen und interdiskursive Beziehungen eingehen können: Die artistisch gebildete Hofkapelle einerseits und die Musikantenkultur des höfischen Festes andererseits halten Musik (und damit auch grundsätzliches musikalisches Wissen) am Hof dauerhaft präsent. [3.1.2] Die ars Musik bildet zunächst einen lediglich imaginären Raum mit je nur einem Kommunikanten aus, der usus Musik hingegen einen virtuellen Raum, dessen Kommunikationszugänglichkeit nicht auf den Erzeuger beschränkt bleibt, sondern alle Zuhörer mit einschließt. [3.1.3] Der im Hochmittelalter rezipierte textus der Musik entwirft einen denkbaren, absolut geordneten Schöpfungsraum: Nach Platon ist der musikalische Raum als Proportion die „Amme alles Werdens“ und umfasst auch eine sittlichmoralische Dimension. Macrobius prägt die Vorstellung der Sphärenharmonie, also der klanglichen Wohlorganisation der in perfekten Proportionen geschaffenen Schöpfung. Die Ausführungen Martianus Capellas zeigen, dass dieser räumliche Charakter der musica coelestis sich nicht automatisch in einer hoch-tiefDifferenzierung einzelner Töne niederschlägt. Der Raum der harmonia ist kein Teil der sinnlich erfahrbaren Welt, sondern höchstens im Geiste arithmetisch berechenbar: geometrischer Raum der reinen Abstraktion. Boethius schließlich mathematisiert den Musikbegriff radikal und begreift Klang als akustische Wahrnehmung von Bewegung. Der damit entstehende musikalische Raum kann aber letztlich nur arithmetisch-denkend, nicht hörend erfasst werden. [3.1.4] Die ars Musik entwirft damit für das Hochmittelalter einen Musikbegriff, der über das berechenbare Phänomen der proportio mit dem Schöpfungsakt verbunden ist und dessen Raum denkbar macht. Dieser denkbare Raum kann
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etwa mittels des Monochords für alle Anwesenden sichtbar und hörbar, mittels der geistlichen Architektur sogar begehbar gemacht werden, so dass in der Rezeption der Teilungsverhältnisse ein virtueller Raum entstehen kann, dessen Kommunikation für die Gebildeten zugänglich ist. Über das höfische Konzept der mâze ist die Kommunikation des absolut geordneten musikalischen Raumes tendenziell auch dem gesamten Hof zugänglich und kann einen virtuellen Ordnungsraum ausbauen, ohne dabei allerdings die genaueren arithmetischen Operationen des artistischen musikalischen Raumes der ars zu verwenden. [3.1.5] Der usus der Musik bildet mit der Neumennotation ein Modell aus, das letztendlich zu einer grundsätzlich räumlich organisierten Musikästhetik führt: Töne werden – und dies im Zuge des Hochmittelalters auch jenseits artistischer Spezialbildung – zunehmend als hoch oder tief empfunden, so dass die hörbare Musik des usus für alle Hörer einen virtuellen Raum herstellt, der für die Dauer der Musik existiert. Dabei ersetzt das unmittelbar sinnlich wahrnehmbare Prinzip der harmonia die errechenbare proportio der ars Musik: Über Harmonie hat auch der virtuelle musikalische Raum des usus Teil an der Schöpfungsordnung Gottes. Im Hochmittelalter nun entsteht in der Engführung von ars und usus der Musik eine paradigmatische virtuelle Raumart, die von einer spannungsreichen Dialektik gekennzeichnet ist: Einerseits ist der virtuelle Raum Musik strukturiert in absoluter Ordnung, die als Harmonie auch hörbar ist, andererseits aber ist die hörbare Musik im Gegensatz zur denkbaren Musik anfällig für ungewollte Störungen aller Art, die gerade die wahrnehmbare Harmonie in Frage stellen. [3.1.6] Der virtuelle musikalische Raum hält mit seiner stets bedrohten Ordnung Einzug in die Epik des Hochmittelalters, und dies in steigernder Komplexität: Im Eneasroman wird der kaiserliche Herrschaftsraum als musikalischer Klangraum entfaltet, im Rolandslied kommt es zur Auseinandersetzung zweier virtueller Klangräume, und im Tristanroman dient der musikalische Raum zum Aufbau eines virtuellen Raumes im normalen Raum. [3.1.6.1] Ein höfisches Äquivalent für die in der harmonischen Musik repräsentierte Schöpfungsordnung ist in der höfischen Epik die funktionierende, hierarchische, gute Herrschaft des Kaisers, die sich episch vor allem im Bild des feiernden Hofes niederschlägt. Die Krönungsfeier am Ende des Eneasromans schafft einen Klangraum, der die bôsen ausschließt und alle Anwesenden als Vasallen einordnet; der Herrschaftsraum Eneas wird als Klangraum entfaltet, der eine qualitative und quantitative Funktion hat: Qualitativ wird vreude und eine auf den einen König ausgerichtete Herrschaftsordnung erzeugt und der Ausschluss der bôsen automatisch hergestellt – der fiktionale Einsatz des Klangraums kann dabei auf den Aspekt der musikalischen Harmonie zurückgreifen –, quantitativ erwirkt die Lautstärke und die Tradierung durch die spilman bis in die Jetztzeit eine zeitliche Ausdehnung des Herrschaftsraumes bis in raumzeitliche Gegen-
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wart des Erzählraumes. In der Fiktion des Eneasromans wird so gerade über den dynamischen, virtuellen Raum tendenziell ein personenunabhängiger, überdauernder, normaler Raum der institutionalisierten Kaiserherrschaft geschaffen, der sich der Spezifika des musikalischen Raumes bedient. [3.1.6.2] Im Rolandslied wird die kriegerische Auseinandersetzung zwischen den Christen und den Heiden parallel auf dem normalen Raum Schlachtfeld und in einem virtuellen, musikalischen Raum geführt. In Bezug auf Lautstärke sind sich heidnischer und christlicher Klangraum lange Zeit ebenbürtig, doch es zeichnen sich regelmäßig qualitative Unterschiede ab: Der christliche Klangraum ist schön und hat damit Teil an dem harmonischen Schöpfungsraum Gottes; entsprechend wird er auch von der Schöpfung in Lautstärke unterstützt und erhält vor allem eine vertikale Öffnung in die himmlische Transzendenz. Das Rolandslied entwirft den Herrschaftsraum Karls immer wieder als virtuellen, musikalischen Raum, der einerseits von Fragilität gekennzeichnet ist (so unstrittig seine Existenz zwischenzeitig erscheint, so fragwürdig ist die Dauerhaftigkeit dieses Raumes, der immer wieder vom gleichermaßen musikalisch organisierten, heidnischen Herrschaftsraum überlagert und so in Frage gestellt wird), andererseits aber über die Dimension der Lautstärke auch eine im normalen Raum nicht mögliche Inklusionsweite annehmen kann, mittels derer auch der bereits gefallene Roland am abschließenden Kampf gegen die Heiden virtuell (und wirkmächtig) teilnehmen kann. [3.1.6.3] Im Tristanroman ist die Unterscheidung zwischen einem Musikbegriff der ars und des usus überaus wichtig: Der höfische Raum des erzählten Raumes wird grundsätzlich in einen öffentlichen und einen heimlichen Bereich geteilt, wobei beide Bereiche denselben physischen Ort einnehmen können; in Isoldes musikalischer Ausbildung durch Tristan wird deutlich: Die hörbare Musik des usus vereint alle Hörer in einem idealen Hofraum, die sichtbare Musik der ars aber separiert darin nochmals einen virtuellen Raum, dessen Kommunikationszugänglichkeit auf die edelen herzen beschränkt ist. Auch das Feenhündchen Petitcreü baut akustisch und visuell einen musikalischen Raum auf, der aber stets nur auf einen Kommunikanten beschränkt ist und damit einen imaginären Raum darstellt. Die Minnegrotte schließlich wird als absolut harmonischer musikalischer Raum kommuniziert, bei dessen virtueller Struktur Gottfried auch auf genauere arithmetische Bestimmungen der ars Musik eingeht und auch den kommunikativen Aufbau des Erzählraumes nutzt. Schon durch die Betrachtung der Liebenden durch Dritte – also durch die Ausweitung der Kommunikationszugänglichkeit des rigoros auf zwei Kommunikanten beschränkten Raumes – wird der virtuelle Raum zerstört. Der Tristanroman entfaltet seine virtuellen, musikalischen Räume in einer denkbar großen Bandbreite an Kommunikationszugänglichkeit: Petitcreü erzeugt einen imaginären Raum der Musik mit nur einem
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Kommunikanten, der usus von Isoldes Musik dagegen erzeugt einen tendenziell normalen Raum, der alle Anwesenden automatisch inkludiert. Je exklusiver ein virtueller Raum, desto mehr exkludiert er das Leid – was jedoch offensichtlich für den Roman keine Lösung darstellt, der vielmehr eine Existenz in der Spannung zwischen Ansprüchen höfischer Kleingruppen und den Ansprüchen der gesamten höfischen Gesellschaft in virtuellen Räumen präferiert. [3.2] Der Memorialraum stellt neben dem musikalischen Raum das zweite grundlegende Paradigma für den virtuellen Raum im Hochmittelalter. Im Gegensatz zur imaginären neuzeitlichen Erinnerung haben mittelalterliche Memorialräume vor allem einen virtuellen Kommunikationsmodus. [3.2.1] Erinnerung ist im Mittelalter ein grundsätzlich räumliches Phänomen, was sich an den beiden vornehmlichen Vorstellungsmodellen der Memoria im Mittelalter zeigt: Bibliothek und Bilderraum. [3.2.1.1] Die artistische Organisation von Erinnerung als Bibliothek ist offensichtlich nicht auf den scholastischen Bereich beschränkt: Die mittelalterliche Dichtungsart und auch die Struktur der Handschriften sind wie geschaffen für eine artistische – räumliche – Erinnerungsstruktur. Gleichwohl bildet die je persönliche Erinnerungsmethode zunächst einen imaginären Memorialraum aus, dessen Kommunikationszugänglichkeit auf eine Person beschränkt ist. [3.2.1.2] Ebenfalls aus der Antike überkommen ist die Erinnerungsmethode über an Orten eingestellte Memorialbilder, die allerdings zunächst auch lediglich einen imaginären Memorialraum ausbauen kann. [3.2.1.3] Im Mittelalter werden die imaginären Memorialräume der Antike jedoch virtuell: Gerade die Kultur des Hochmittelalters legt offenbar großen Wert auf Memorialräume, die kollektiv kommuniziert werden können. In der Toposlehre der Scholastik etwa wissen alle Kommunikanten dieselbe Ordnung, mittels derer die logischen Topoi räumlich angeordnet sind. In Memorialgebäuden – etwa dem Kirchenraum, aber auch in den Ekphrasen der Literatur – kann dieselbe räumliche Ordnung von allen Kommunikanten gesehen werden. In der Totenmemoria wird ein kollektiver, virtueller Erinnerungsraum geschaffen (alle Kommunikanten performieren dieselbe Ordnung), der auch den Toten inkludiert und in eine virtuelle Gemeinschaft mit den Lebenden bringt. Am Märe Die Rittertreue schlägt sich diese virtuelle Gegenwart des Verstorbenen in der Memoria ganz plakativ nieder. In der Performanz der hochmittelalterlichen Erzählung durch einen Erzähler schließlich entsteht ebenfalls ein virtueller Erinnerungsraum, da alle Kommunikanten dieselbe Ordnung hören. Kollektiv erinnert werden hier die res der Geschichte, die aneinandergereihten Geschehensmomente, die dem Publikum in der Regel bereits bekannt sind. [3.2.2; 3.2.2.1] Der Memorialraum steht als zweites zentrales Paradigma des virtuellen Raumes im Mittelalter Pate etwa für Kalogrenants Brunnenaventiure
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im Iwein: In seiner Erzählung entfaltet Kalogrenant einen Aventiurenweg als mit Bildern eingerichteten Memorialraum, der aventiure im semantischen Spannungsfeld von gewalt/wilde und gemach/minne erinnert. Die letzte Station dieses Memorialraumes, die Quelle, wird selbst zu einem mit Bildern eingerichteten Memorialraum ausgebaut und erhält als virtueller Erinnerungsraum zentrale Bedeutung: Iwein kann bei seinen zahlreichen Besuchen der Quelle Facetten seiner Identität im Quellenraum einschreiben. Der gesamte Roman wird so im Quellenraum als dynamisches Gedächtnis des Textes enggeführt und dort gespeichert. [3.2.2.2] Das ‚Torverlies‘ im Iwein nutzt eine ganze Reihe virtueller Räume, um das völlig unwahrscheinliche Geschehen – die Ersetzung des Herrschers durch seinen Mörder innerhalb kürzester Zeit – plausibel zu machen: Iwein wird zunächst in einem Memorialraum, den die gemeinsame Erinnerung mit Lunete aufbaut, vor den Angreifern geschützt. Abgelöst wird dieser fragile und schnell verbrauchte Raum von einem virtuellen Minneraum nach dem strukturellen Vorbild des Erzählraumes, der Iwein schon tendenziell in den Hofraum inkludiert. Es folgt die Inklusion Iweins in einen weiteren, nicht näher bestimmten virtuellen Raum, bis schließlich die normalräumliche Situierung an die Seite Laudines erfolgen kann. Der Text nutzt die Dynamik und stark begrenzte Dauerhaftigkeit des virtuellen Raumes, um Iwein Schritt für Schritt in den normalen Raum zu überführen, was letztlich wieder nach dem Paradigma des Memorialraumes funktioniert: Iwein nimmt als lebender Herrscher eben die räumliche Stelle ein, die Askalon als toter Herrscher in der Totenmemoria einnehmen würde. [3.2.2.3] Auch der Erecroman baut einen Memorialraum auf, der zentrale Aspekte des Romans erinnert: den Garten Joie de la curt. Mit diesem Garten wird ein virtueller Erinnerungsraum geschaffen, anhand dessen Erec seine eigene Vergangenheit virtuell verändern und entsprechend seine Herrschaft in Karnant wieder aufnehmen kann. Hartmann reichert mit drei signifikanten Erweiterungen seiner Vorlage diesen Memorialraum Joie de la curt an und unterstützt dessen Wirkung: die Wegscheide, die Burgschilderung und der Zug der 80 trauernden Witwen, allesamt Memorialorte, die zentrale Probleme des Romans in Erinnerung rufen, in die Gegenwart holen und wieder interaktiv verhandelbar machen. [4.] Über den virtuellen Raum kann auch eine Korrespondenz zwischen der eigentlich nicht überbrückbaren erzählerischen Grenze stattfinden: Erzählraum und erzählter Raum sind analog als virtuelle Räume strukturiert, so dass sie in hochmittelalterlicher Epik vielfältige Interferenzen eingehen, wobei sich beide Räume verändern. [4.1] Prolog und Epilog des Märes Der Gürtel bieten drei Entwürfe eines Erzählraumes mit unterschiedlichen Rollenformaten an: Ein historischer Erzähler kann zwischen einer normativen, einer deskriptiven und einer insinuieren-
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den Interpretation wählen und seine Umsetzung entsprechend gestalten. Diese gezielte Veruneindeutigung durchzieht den gesamten Text, auch auf Ebene des erzählten Raumes. Einerseits stellt der Text damit eine erst noch zu interpretierende Partitur für den historischen Erzähler, der auf der einen Textbasis sehr unterschiedliche Aufführungen produzieren kann; andererseits aber nutzt der Text – und dies in der gesamten Bandbreite der angelegten Interpretationen – die Fragilität des virtuellen Raumes, um die Fragilität des höfischen Raumes vorzuführen. Im erzählten Raum präsentiert der Text mit der Dame ‚Heinrich‘ ein wandelndes Memorialbild, das die ideale höfische Eingangs- und Ausgangssituation erinnert, auch insgesamt die Erzählung repräsentiert und vor allem die einander diametral widersprechenden Lesarten des Textes engführt. [4.2] Im Mauricius von Craûn durchmischen sich im ‚Prolog‘ systematisch Erzählraum und erzählter Raum, so dass die Grenze zwischen beiden virtuellen Haupträumen fraglich wird. Die inhaltliche Fragwürdigkeit des archaisch-ritterlichen Raumes, den der Prolog kommuniziert, korrespondiert so mit der strukturellen Fragwürdigkeit der virtuellen Haupträume. Innerhalb der Erzählung schlägt sich diese Fragwürdigkeit in der grundsätzlich ambivalenten Hauptfigur Mauricius und vor allem in dem über Land fahrenden Schiff nieder, das als wandelndes Memorialbild der Erzählung die bereits im Prolog präsentierte fragwürdige Einheit von Ritterschaft und Minne erinnert. Das Schiff komplettiert damit den Prolog, indem es den Raum der Ritterschaft als beweglich und fragil bis zur vollständigen Zerstörung repräsentiert, zuvor aber tendenziell den gesamten erzählten Raum virtualisiert. Das Märe wird damit lesbar als gezielte Inszenierung der Fragwürdigkeit des archaisch-ritterlichen Raumes, wozu Prolog und Erzählung die Möglichkeiten des virtuellen Raumes intensiv nutzen. [4.3] Der Prosalancelot besitzt im Unterschied zu den anderen behandelten epischen Texten keinen Erzählraum, was darauf zurückzuführen ist, dass er für die private Lektüre konzipiert wurde und damit keinen unmittelbar erfahrbaren Erzählraum mehr ausbildet. Nichtsdestoweniger nutzt der Prosalancelot den virtuellen Raum exorbitant innerhalb des erzählten Raumes, was letztendlich dieselbe Ursache zu haben scheint. Der Prosaroman besitzt ohne Erzählraum auch keinen Erzähler im hochmittelalterlichen Sinne, keinen Vortragenden, sondern vielmehr einen Vor-Leser, der als „wir“ ununterschieden zum Leser dem Text in der Form des Buches gegenübersteht. [4.3.1] Symptomatisch schlägt sich die merkwürdige Ortlosigkeit des Erzählraums im Prosalancelot gleich zu Beginn in dem Aufbau eines virtuellen Avatars des für den Rezipienten nicht mehr unmittelbar erfahrbaren Erzählraums im erzählten Raum nieder: Der Berg, auf den König Ban stirbt, ist in funktionaler Hinsicht der in den erzählten Raum hinein kopierte und gedoppelte Erzählraum, von dem aus die Beobachtung der Handlung in Distanz und jenseits von räum-
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lichen oder zeitlichen Schranken möglich ist. Mit dem Berg bekommt die Perspektive des „wir“ (die Einheit von ‚Erzähler‘ und Leser) einen konkreten Ort in der Erzählung, da außerhalb der Erzählung keiner mehr zur Verfügung steht. Zusätzlich bildet das Königsmünster, das auf dem Berg erbaut wird, einen auch aus Perspektive des erzählten Raumes virtuellen Erinnerungsraum, der Erzählvergangenheit und -zukunft präsentiert. [4.3.2] Da der unmittelbar erfahrbare Erzählraum außerhalb des Textes (und damit auch der fiktionale Erzählraum des Textes) nicht mehr vorhanden ist, muss der Prosalancelot durch den gesamten riesigen Roman hindurch immer wieder Substitute des Erzählraums im erzählten Raum aufbauen. Das Personal kann damit, wenn es diese Avatare des Erzählraumes begeht, eine Perspektive einnehmen, die eigentlich Erzähler und Rezipienten vorbehalten ist und die auch Einblick in die Erzählzukunft ermöglicht. Der Preis dafür ist grundsätzlich der Tod für das Personal, da dauerhaft die Perspektive des Erzählraumes nicht im erzählten Raum eingenommen werden darf, weil in diesem Fall die grundlegende Bestimmung der Epik – beobachtbar Machen einer Beobachtung – in sich zusammenfallen würde. Vor allem die Schrift – die in der Form des Buchs den einzigen dem Rezipienten noch verbliebenen Erzählraum bildet – dient als Medium für die Avatare des Erzählraumes im erzählten Raum, wie am Kirchhof der Dolorose Garde, an Lancelots Bilderraum und an der Chronik des Artus offensichtlich wird. Die Schrift bietet innerhalb des erzählten Raumes auch die Möglichkeit, dass das Personal, das zwischenzeitig an der Perspektive des Erzählraumes teilhat, nicht unmittelbar, sondern lediglich virtuell in die Schrift sterben kann, ein Sterben, das spätestens mit dem Ende des Prosalancelot auch im normalen Raum erfolgt. [4.3.3] Ein virtueller Raum begleitet allerdings den gesamten Prosalancelot: der verzauberte See. Die Dame vom See hat aus ihrem aus dem restlichen erzählten Raum nicht einsehbaren Reich Einblick in die Erzählzukunft, die sie regelmäßig durch Boteneingriffe in den erzählten Raum auch bestimmt. Der in seiner Identität fragwürdige See bzw. Hof der Fee korrespondiert mit dem in seiner Identität fragwürdigen Lancelot: Beide besitzen eine virtuelle Identität, die stets nur für bestimmte Personengruppen und für eine bestimmte Zeit Geltung besitzt. Darüber hinaus erfolgt ausgehend vom See eine Virtualisierung des normalen erzählten Raumes: In der Befreiung Lionels und Bohorts etwa macht der Zauber des Sees die latente Virtualität des Herrschaftsraumes Claudasʼ offenbar und reichert den normalen Raum mit virtuellen Elementen an. [4.3.4] Der gesamte normale Raum im Prosalancelot ist als Herrschaftsraum bestimmt. Mittels der vielen virtuellen Räume wird jedoch immer wieder offenbart, dass Herrschaft lediglich das zwischenzeitige Ergebnis entsprechender Kommunikation ist – wodurch sich letztlich der gesamte erzählte Raum als virtuell entpuppt bzw. seine Virtualität sichtbar wird. Dies gilt insbesondere für
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den Herrschaftsraum des Artushofes, der zunehmend in die Schrift virtualisiert wird und in gewisser Weise in diese hinein stirbt, wodurch sein Ende aber auch wieder in der Schwebe gehalten wird. Der Prosalancelot erzählt damit nicht, wie Ruberg ausführt, die Rückführung des Unsicheren, Fragwürdigen, Virtuellen in den normalen Raum, sondern im Gegenteil die zunehmende Irritation des normalen Raumes durch den virtuellen Raum, bis schließlich die Grenzen zwischen beiden Kommunikationsmodi verschwimmen und der gesamte erzählte Raum auf seine virtuelle Grundbestimmung zurückgeführt wird.
5.2 Ausblick Raum ist die Form, die Inklusion und Exklusion annimmt – dies ist die grundsätzliche Definition von Raum, von der hier ausgegangen wurde. Raum ist damit eine Dimension, der gerade am hochmittelalterlichen Hof auf seinem Weg zur Institution höchstes Interesse zukommt. Dies schlägt sich – entgegen der älteren Forschungsmeinung – auch in der höfischen Epik nieder, nur gerade nicht in der Betonung eines festen, präexistenten, institutionalisierten Raumes, sondern in Betonung des Raumes, dessen Inklusion und Exklusion in Verhandlung steht: des virtuellen Raumes. Virtueller Raum – aufbauend auf eine raumschaffende Kommunikation einiger, nicht aller – scheint im Mittelalter prädestiniert dazu zu sein, zentrale höfische In- und Exklusionen zu verhandeln bzw. entsprechende Verhandlungen der literarischen Betrachtung zuzuführen: Ordenunge, mâze, herschaft werden in den behandelten Erzählungen vornehmlich im virtuellen Raum verhandelt. Dies ist naheliegend, betrachtet man die beiden hauptsächlichen Paradigmen des mittelalterlichen virtuellen Raumes: Der musikalische Raum ist grundsätzlich von den Themen ordenunge, mâze, herschaft bestimmt, und der Memorialraum bringt die zeitlichen Möglichkeiten mit sich, Geschehen wieder zu vergegenwärtigen, vorwegzuholen und zu verewigen. Dabei nutzt die Epik den Zwischenstatus des virtuellen Modus zwischen imaginärem und normalem Modus in der gesamten Bandbreite: Die Dynamik des virtuellen Raumes verschafft der Epik die Möglichkeit, die Utopie einer Überführung von ordenunge, mâze, herschaft in den normalen Raum zu formulieren und ihre Institutionalisierung vorauszudenken; zugleich aber nutzt die Epik auch verstärkt die Fragilität des virtuellen Raumes, um eben diese Größen als fragwürdig und existenziell bedroht zu kommunizieren. Es ist offensichtlich eine der vornehmlichen Aufgaben höfischer Literatur im Mittelalter, virtuelle Räume der Verhandlung von Inklusion und Exklusion zu kommunizieren und ordenunge, mâze, herschaft nicht einfach als gesetzt vorzuführen, sondern (beschränkte, falsche, fragwürdige wie auch ‚normale‘, wahre,
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erfolgreiche) Perspektiven auf ihre Formierung beobachtbar zu machen, die von einem historischen Publikum im ‚Als-ob‘ der literarischen Performanz ebenso virtuell ausprobiert und konsequenzvermindert kommuniziert werden können. Grundlage dafür ist die doppelte Virtualität der höfischen Literatur, die in der Aufführungssituation, im Erzählen des Erzählers, Erzählraum und erzählten Raum als virtuelle Haupträume entstehen lässt. Der virtuelle Raum ist über die Aufführungssituation fundamental mit dem Erzählen im Hochmittelalter verbunden, bereits vor der Kommunikation einzelner virtueller Räume innerhalb des erzählten Raumes. Der Prosalancelot reagiert auf den Verlust der Aufführungssituation entsprechend mit einem forcierten Einsatz virtueller Räume im erzählten Raum, die nicht zuletzt den weggefallenen Erzählraum substituieren sollen. Es bleibt zu fragen, was mit dem virtuellen Raum der Epik geschieht, wenn diese nicht mehr nur als Ausnahme (wie im Prosalancelot), sondern – in der Moderne – grundsätzlich der privaten Lektüre übergeben wird, wenn also der unmittelbar erfahrbare Erzählraum nicht mehr existiert und kein Interpretament der Epik mehr darstellt. Dies zu untersuchen kann nicht mehr Aufgabe dieser Arbeit sein, ein kleiner Ausblick muss daher genügen. Mit dem Wegfall des unmittelbar erfahrbaren Erzählraumes und der kollektiven Literaturrezeption, mit der Reduktion des ehemals virtuellen erzählten Raumes zu imaginären erzählten Räumen verliert der virtuelle Raum seine grundsätzliche Bedeutung für die Epik; er bleibt freilich eine Möglichkeit der Raumkommunikation, ist jedoch nicht mehr systemisch verankert. In der modernen Literatur ist der virtuelle Raum dann gleichsam gezähmt in einer genrehaften Topik und dem normalen Raum jedenfalls untergeordnet: Narnia, Nimmerland und Phantasien sind als phantastische Welten der Kinder und Jugendlichen zwar virtuelle Räume, doch sie werden gezähmt durch ihre genaue Abgrenzung zum normalen Raum (der Erwachsenen), mit dem sie kaum in Verbindung treten; das Traumland Kadath, die Welt der Großen Alten oder der Einflussbereich Cthulhus – allesamt Schöpfungen Howard Phillips Lovecrafts – irritieren zwar den normalen Raum nachhaltig, dies jedoch streng gezähmt im extra zu diesem Zweck entstandenen Genre der Horrorliteratur;1 Paralleluniversen, Zeitreisen und Computerwelten lassen in der Science-Fiction-Literatur zwar den gesamten erzählten Raum als virtuell erscheinen, werden in ihrer Wirkweise aber gezähmt durch die feste Topik des Aufbaus und der Benutzung der Räume im Genre. Der virtuelle Raum ist in seiner literarischen Verwendung berechenbar und erwartbar gewor1 Ein zusätzlicher ‚Schutz‘ des normalen Raumes in Lovecrafts Entwürfen (und denjenigen seiner Nachfolger) besteht darin, dass Personen, die die virtuellen Räume des Grauens begehen, in der Regel wahnsinnig werden und mit der einmaligen Grenzüberschreitung nicht mehr Teil des normalen Raumes werden können.
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den, er steht nicht mehr frei zur Verfügung, um die Institutionalität des normalen Raumes zu relativieren und damit erst verhandelbar zu machen. Auch die Tatsache, dass virtuelle Räume heute vornehmlich als virtuelle Welten in Erscheinung treten – in sich komplett, abgeschlossen, ein Alternativmodell zum normalen Raum, der aber von dieser Alternative kaum mehr durchsetzt wird – ist letztlich eine Zähmung des virtuellen Raumes. Nur noch sehr selten begegnet der virtuelle Raum in der modernen Literatur ‚ungezähmt‘, als fragwürdige, von nur einigen betriebene, aber hochdynamische Raumkommunikation außerhalb fester Genretopoi. Ein faszinierendes Beispiel ist die Erzählung Das Aleph von Jorge Luis Borges, das – komplementär zum Beginn mit Terry Pratchett – die Arbeit beschließen soll. Die Erzählung setzt ein mit der Trauer des Ich-Erzählers um den Tod seiner aus der Ferne geliebten Beatriz Viterbo. Der Erzähler – der sich später selbst als „Borges“ bezeichnet2 – besucht seitdem an jedem Todestag den Vetter von Beatriz, Carlos Argentino Viterbo. Dieser arbeitet seit Jahren an einem monströsen, allumfassenden Gedicht mit dem Titel Die Erde, aus dem er dem Erzähler schwärmerisch vorträgt, der das Gedicht jedoch furchtbar findet: Ich begriff, daß die Arbeit des Dichters nicht im Dichten bestand, sondern im Erfinden von Gründen, die Dichtung herrlich zu finden.3
Eines Tages eröffnet Carlos, dass seine Vermieter Zunino und Zungri planten, sein Haus abzureißen, was jedoch für den Fortgang seiner Dichtung verheerend sei, „denn in einem Winkel des Kellergeschosses befinde sich ein Aleph. Er erklärte, ein Aleph sei einer jener Punkte im Raum, die alle Punkte in sich enthalten“.4 Dieser Ort, der den gesamten Welten-Raum enthält, wird zunächst entfaltet als imaginärer Ort eines Wahnsinnigen, wenn der Erzähler seine Figur Carlos erklären lässt: Es ist im Keller unter dem Eßzimmer […]. Es gehört mir: Ich habe es entdeckt, als ich noch ein Kind war, bevor ich in die Schule kam. Die Kellertreppe ist steil, Onkel und Tante hatten mir streng verboten, hinunterzugehen, aber jemand hatte behauptet, im Keller gäbe es eine Welt. Später habe ich begriffen, daß er einen Reisekoffer meinte; ich habe aber angenommen, da wäre wirklich eine Welt. Ich bin heimlich hinuntergegangen, auf der verbotenen Treppe ausgerutscht und hingefallen. Als ich die Augen öffnete, habe ich das Aleph gesehen.5 2 Vgl. Borges 1999, S. 141: „Beatriz, Beatriz Elena, Beatriz Elena Viterbo, geliebte Beatriz, für immer verlorene Beatriz, ich bin es, Borges.“ Diese Anrufung der toten Geliebten ist zugleich eine Liebeserklärung an Dantes Vita Nova, die mit Beatrice die sprichwörtlich ferne Geliebte besingt. 3 Borges 1999, S. 135. 4 Borges 1999, S. 140. 5 Borges 1999, S. 140.
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Die Banalität des Ortes, die Verortung seiner Entdeckung in der vorschulischen Kindheit, die Anonymisierung der Quelle, das Missverständnis der metaphorischen Rede und schließlich der Unfall lassen den Ort bzw. Raum Aleph als Hirngespinst eines Wahnsinnigen erscheinen, was der Erzähler auch deutlich herausstellt, bevor er zu dem Haus von Carlos geht, um dem Mythos seine nüchterne Empirie entgegenzuhalten.6 Der Erzähler steigt in den Keller, angewiesen von Carlos, und führt noch einmal den Wahnsinn Carlos’ und damit auch den imaginären Status der Raumes Aleph auf: Ich stieg rasch hinunter, überdrüssig seines dämlichen Geredes. […] Ich gehorchte seinen lächerlichen Anweisungen. Behutsam schloß er die Falltür. […] Auf einmal begriff ich die Gefahr, in der ich schwebte; von einem Wahnsinnigen hatte ich mich lebendig begraben lassen, nachdem er mir Gift verabreicht hatte. […] Ich empfand ein dumpfes Unbehagen, das ich auf meine Steifheit, nicht auf die Wirkung eines Narkotikums zurückzuführen versuchte. Ich schloß die Augen, öffnete sie wieder. Da sah ich das Aleph.7
Völlig überraschend wird der Erzähler auch zum Kommunikanten des Raumes Aleph, wodurch dieser von einem imaginären zu einem virtuellen Raum wird. Fragwürdig allerdings bleibt der Raum, und dies nicht nur aufgrund seiner Unvorstellbarkeit angesichts eines modernen Raumkontinuums, sondern auch angesichts der Inszenierung des Erzählers als paranoid, dem durch das Augenschließen semantisierten Wahrnehmungswechsel und nicht zuletzt der mit einem klassischen Unsagbarkeitstopos begonnenen, ausgedehnten Beschreibung des Alephs durch den Erzähler: Nun komme ich zum unsagbaren Mittelpunkt meines Berichts; hier beginnt meine Verzweiflung als Schriftsteller. Alle Sprache ist ein Alphabet aus Symbolen, deren Anwendung eine den Gesprächspartnern gemeinsame Vergangenheit voraussetzt; wie soll ich anderen das unendliche Aleph mitteilen, das mein furchtsames Gedächtnis kaum erfaßt? Die Mystiker helfen sich in einer ähnlichen Klemme mit einer Fülle von Emblemen: um die Gottheit zu bezeichnen, spricht ein Perser von einem Vogel, der irgendwie alle Vögel ist; Alanus ab Insulis von einem Kreis, dessen Mittelpunkt überall, dessen Umfang aber nirgendwo ist; Ezechiel von einem Engel mit vier Gesichtern, der sich gleichzeitig nach Osten und Westen, nach Norden und Süden wendet. (Nicht umsonst erinnere ich an diese unbegreiflichen Analogien; sie stehen mit dem Aleph in einer gewissen Beziehung.)8
Der Erzähler kommuniziert den Raum Aleph, indem er zunächst seine NichtKommunizierbarkeit betont – er schließt damit in gewisser Weise seinen Leser 6 Vgl. Borges 1999, S. 141. 7 Borges 1999, S. 142f. 8 Borges 1999, S. 143.
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(zunächst) aus der raumerzeugenden Kommunikation aus, die damit in einem virtuellen Status verbleibt. Doch am Ende einer zweiseitigen Satzreihe, die in der rhetorischen Form einer Reihung eine Auswahl der unendlichen Eindrücke des Erzählers beschreibt, lässt der Erzähler diesen virtuellen Raum auch die Welt diesseits der Fiktion umfassen: [Ich sah] das Aleph aus allen Richtungen zugleich, sah im Aleph die Erde und in der Erde abermals das Aleph und im Aleph die Erde, sah mein Gesicht und meine Eingeweide, sah dein Gesicht und fühlte Schwindel und weinte, weil meine Augen diesen geheimen und gemutmaßten Gegenstand erschaut hatten, dessen Namen die Menschen in Beschlag nehmen, den aber kein Mensch je erblickt hat: das unfaßliche Universum.9
Es ist auch denkbar, dass mit „dein Gesicht“ auch das Gesicht der verstorbenen Geliebten gemeint ist, die zuvor thematisiert worden war, dies allerdings so intensiv (und grammatikalisch in dritter Person), dass es als unwahrscheinlich erscheint, dass hier lediglich noch ein weiterer Verweis auf ihr Bildnis erfolgt, noch dazu in einer Erzählerrede, die zuvor die direkte Ansprache der toten Geliebten vermieden hat und lediglich einmal im Zitat der Figur Borges Beatriz direkt apostrophiert. Auch erscheint der Abschluss der Reihung mit seiner Öffnung auf das gesamte Universum den Schluss nahe zu legen, dass ‚Borges‘ hier eine fundamentale Grenzüberschreitung kommuniziert – die Überschreitung der Grenze zwischen Text und Leser. Im Anschluss an diese Leseransprache, die den Leser in das Aleph hinein versetzt und die Kommunikationszugänglichkeit auf ihn erweitert (plötzlich droht das Aleph zum normalen Raum zu werden), zementiert der Erzähler den virtuellen Charakter des Alephs, indem er die Kommunikation über diesen Raum wiederum mit Carlos vollständig verweigert; das Haus wird abgerissen, das Aleph zerstört, wie der Erzähler in einem Nachtrag mitteilt. Und in diesem Nachtrag zweifelt der Erzähler selbst die Existenz dieses Alephs an, indem er es einer Reihe literarischer Alephs an die Seite stellt (u. a. Merlins Weltenspiegel)10 und damit tendenziell als fiktional erklärt. Borges greift in seiner Erzählung inhaltlich und strukturell auf mittelalterliche Epik zurück. Die rhetorische Stilisierung (Unsagbarkeitstopos, Reihung), die poetologische Reflexion innerhalb der Dichtung (die sowohl Carlos als auch ‚Borges‘ eigen ist und überhaupt den Hauptinhalt der Kurzgeschichte ausmacht) und vor allem die verspielt-symbolistische Verarbeitung des Werkes von Dante Alighieri in Namen, Zahlen und Motiven sind für den implizierten (und bei Borges stets höchst belesenen) Leser überdeutliche Hinweise auf eine Adaptation mittelalterlicher Literatur: 9 Borges 1999, S. 145. 10 Vgl. Borges 1999, S. 147.
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Daneri ist ein defekter Führer durch die Unterwelt, zusammengesetzt aus Dante Alighieri; Beatriz verweist natürlich auf Beatrice. Das Aleph findet sich auf der 19. Stufe der Kellertreppe […]. Dantes Gedicht enthält in allen drei Teilen jeweils im 19. Canto eine Art Aleph, z. B. den Adler, der aus allen Adlern besteht, sowie Verweise auf die Stadt Viterbo, hier der Name der Angebeteten. Carlos Argentino Daneri und Beatriz Elena bergen die ersten fünf Buchstaben des Alphabets, das vom Aleph dominiert wird, dessen Ende die Herren Zunino und Zungri bewirken.11
Konkret scheint für die Gesamtanlage der Kurzgeschichte die Vita Nuova Dantes Pate gestanden zu haben, in der es zentral um die unerreichbare Geliebte Beatrice geht, deren Tod der Dichter zwar zentral setzt, aber auffällig ausspart (während Borges mit dem Tod der Geliebten Beatriz beginnt), und das ebenfalls literarischstilistische Reflexion dominant setzt. Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht als zufällig, dass Borges in Das Aleph auch mutatis mutandis den virtuellen Raum in mittelalterlicher Manier verwendet: Der virtuelle Raum, auf den Borges für die Konstruktion des Alephs zurückgreift, kann freilich nicht mehr der Erzählraum sein; statt eines mittelalterlichen Erzählers, der ein Rollenangebot für einen tatsächlich lebenden Menschen liefert, der die Erzählerfunktion in der für die Rezipienten unmittelbar erfahrbaren Gegenwart übernimmt, bietet Borges’ Kurzgeschichte einen postmodernen Autor, der ein Rollenangebot für den tatsächlich lebenden Borges liefert, der die Autorfunktion in der für die Leser unmittelbar erfahrbaren Gegenwart übernimmt. Der auf dieser Basis kommunizierbare virtuelle Raum, der ‚Autor‘ und Leser inkludiert, ist der Raum der umfassenden literarischen Kenntnis, analog zu dem virtuellen Raum, den Heloise im 12. Jahrhundert mit ihren literarischen Anspielungen kommuniziert.12 Innerhalb der Erzählung, im erzählten Raum, spiegelt sich dieses postmoderne Äquivalent des hochmittelalterlichen Erzählraumes im virtuellen Raum Aleph, der damit wie im Prosalancelot einen Avatar des ‚Erzählraumes‘ (oder besser: des postmodernen Autorraumes) darstellt: Anhand des Alephs kann der Leser buchstäblich die Beobachtung der Welt beobachten, nach Niklas Luhmann die grundsätzliche Funktion von Kunst im Allgemeinen und von Literatur im Besonderen.13 Entsprechend behandelt auch das monströse Gedicht Carlos Danieris die gesamte Welt, also alles, was er anhand des Alephs beobachten kann; das Aleph wird damit zu einer Chiffre von Literatur selbst,14 eine ideale Kopie des virtuellen Raumes des umfassenden literarischen Wissens, der ‚Autor‘ und Leser (und darüber hinaus im Aleph auch das gesamte Personal der Erzählung) inkludiert. Auch das anhand dieses virtuel11 Karl August Horst und Gisbert Haefs in den Anmerkungen zu Borges 1999, S. 166f. 12 Vgl. Kap. 3.2.1.3. 13 Vgl. oben, Anmerkung 42. 14 Vgl. dazu auch Mansbrügge 2002, S. 78‒84.
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len Raumes verhandelte Thema gemahnt an ein spezifisch mittelalterliches Paradigma des virtuellen Raumes: Erinnerung.15 Schon der Eingang der Erzählung thematisiert (Toten-)Memoria anhand assoziativer literarischer Zitation, wenn der Erzähler den Topos vom schönen Sterben der gänzlich unliterarischen Zigarettenreklame gegenüberstellt: An jenem strahlenden Februarmorgen, als Beatriz Viterbo starb, nach einem herrscherlichen Todeskampf, der sich keinen Augenblick zu Sentimentalität oder Furcht hinabließ, stellte ich fest, daß die Plakatwände an der Plaza Constitución die Reklame für irgendeine Sorte blonder Zigaretten erneuert hatte; das schmerzte mich, da ich begriff, daß das rastlose und weiträumige Universum bereits von ihr abrückte, und daß dieser Wandel der erste einer endlosen Reihe war.16
Der Erzähler verweigert sich im Folgenden dem Vergessen und arbeitet stets an einer – durch assoziative literarische Zitationen unterstützte – Vergegenwärtigung der verstorbenen Geliebten, der Memoria, die bei der Betrachtung eines Bildes der Verstorbenen mit der Autorrolle enggeführt wird: Beatriz, Beatriz Elena, Beatriz Viterbo, geliebte Beatriz, für immer verlorene Beatriz, ich bin es, Borges.17
Im Aleph schließlich sieht ‚Borges‘ freilich die ganze Welt, vor allem aber Beatriz – das Aleph ist auch konkret der Raum der Totenmemoria, die die Erinnerte vergegenwärtigt. Ein im Vergleich mit den mittelalterlichen Erzählungen interessantes Detail ist, dass die Figur ‚Borges‘ in diesem virtuellen Raum auch Teil an einer unhinterfragbaren Wahrheit hat, die keineswegs den Wünschen der Figur entspricht und die ihm ein Wissen offenbart, das der belesene implizite Leser aus seiner literarisch gebildeten Perspektive längst hatte – das Liebesverhältnis zwischen Beatrice und Dante, das sich im Liebesverhältnis zwischen Beatriz und Danieri spiegelt: [Ich] sah in einer Schublade des Schreibtischs (und beim Anblick der Handschrift erbebte ich) obszöne, unglaubliche, eindeutige Briefe, die Beatriz an Carlos Argentino geschrieben hatte18
Was im Prosalancelot über das (wenn auch teilweise nur virtuelle) Sterben der Figuren gelöst wurde – das Paradoxon der Einnahme der Erzählerperspektive 15 Auch Mansbrügge 2002 begreift Gedächtnis als das grundlegende Thema in Das Aleph. 16 Borges 1999, S. 131. 17 Borges 1999, S. 141. 18 Borges 1999, S. 145.
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durch eine Figur, das Zusammenfallen von Erzählraum und erzähltem Raum – bedroht im Aleph den Autor und die Autorschaft als postmodernes Pendant des Erzählraumes: Der Einfluss des Alephs auf Wahrnehmung, Erinnerung und Schreiben ist […] gravierend. Die unendliche Wahrnehmungsfülle, das Fantasma eines Schriftstellers, das unendliche Produktivität und Beschreibungsvielfalt versprechen mag, kippt bei der Begegnung mit dem Aleph in sein Gegenbild: Es wird zur Ohnmacht der Kreativität gegenüber der Wahrnehmungsfülle, wo nur das Vergessen einen Ausweg anbietet.19
‚Borges‘ begreift sein Vergessen nach einigen schlaflosen Nächten als Entlastung von der Allerkenntnis des Alephs, auf deren Basis alles nur noch Zitat ist,20 und er kleidet Danieris nun einsetzenden Erfolg als Schriftsteller in dem Bild der „glückliche[n] Feder (der jetzt kein Aleph mehr im Wege steht)“.21 Der Nachtrag der Figur ‚Borges‘, der das Aleph – wieder im belesenen Verweis auf viele andere fiktionale ‚Alephs‘ – als falsches Aleph darstellen möchte,22 kann interpretiert werden nicht nur als ein Wehren gegen die unliebsame Wahrheit um die inzestuöse Liaison seiner Angebeteten, sondern auch poetologisch als Rückkehr der Figur ‚Borges‘ in den ihm angemessenen Bereich des erzählten Raumes, der nicht unmittelbar am Wissen des Lesers Teil hat. Denn die Parallelen der eigenen Geschichte mit dem Werk Dantes bleiben ‚Borges‘ verschlossen. Borges adaptiert den mittelalterlichen literarischen Gebrauch des virtuellen Raumes ‚ungezähmt‘, als Irritation des normalen Raumes und als Spielmöglichkeit mit den medialen Bedingungen der Literatur, als wirkmächtigen, realen Raum, der gleichwohl höchst fragil und dynamisch ist. Wie bewusst diese Anleihen erfolgen, belegt das Eingangsmotto der Erzählung Das Aleph, das auch bestens geeignet ist, die vorliegende Arbeit zu beschließen: O God, I could be bounded in a nutshell and count myself a King of infinite space. Hamlet, II, 223
19 Mansbrügge 2002, S. 79. 20 Vgl. Borges 1999, S. 146. 21 Borges 1999, S. 146. Vgl. dazu auch Mansbrügge 2002, S. 79, Anm. 31 und 32. 22 Er macht den Raum des Alephs damit nachhaltig fragwürdig und bestätigt seinen virtuellen Status, vgl. auch Müller 2011, S. 279f. 23 Borges 1999, S. 131.
Glossar der verwendeten Raumbegriffe Erzählter Raum: der virtuelle Raum, über den erzählt wird; er inkludiert das Personal und die Dinge, von denen erzählt wird. Erzählraum: der virtuelle Raum, in dem erzählt wird; er inkludiert Erzähler und implizites Publikum als miteinander kommunizierende Rollenangebote, die von expliziten Erzählern und explizitem Publikum angenommen werden können. Imaginärer Raum: Raum, dessen Kommunikationszugänglichkeit auf einen einzigen Kommunikanten beschränkt ist. Inhalt des Raumes: das Was der In- und Exklusion; die In- und Exklusion von handelnden Personen etwa bildet soziale Räume, von empfundenen Gefühlen psychische Räume, von messbaren Körpern physische Räume. Normaler Raum: Raum, dessen Kommunikationszugänglichkeit für alle Kommunikanten einer Bezugsgesellschaft offen ist. Dies heißt nicht, dass die gesamte Bezugsgesellschaft in den so entstehenden Raum inkludiert ist, sondern lediglich, dass die gesamte Bezugsgesellschaft an der raumgenerierenden Kommunikation über In- und Exklusion teilnehmen kann. Normale Räume überdauern die spezifischen Kommunikationen, die sie konstruieren; sie gewinnen dadurch institutionellen Charakter. Modus des Raumes: das Wie der In- und Exklusion; Modi der Raumkommunikation sind beispielsweise Kommunikationsdynamik (statisch – dynamisch), Kommunikationskomplexität (vielfältig – einfach), Kommunikationsvarianz (identisch – variabel), Kommunikationszugänglichkeit (imaginär – virtuell – normal). Raum: eine durch Ausdehnung und Inhalt bestimmte und begrenzte Entität, die im Einzelnen durch die Kommunikation kultureller Wahrnehmungs- und Handlungsmuster formiert wird; Raum ist damit die Form, die durch In- und Exklusion entsteht. Virtuelle Haupträume des Erzählens: erzählter Raum und Erzählraum Virtueller Raum: Raum, dessen Kommunikationszugänglichkeit auf einige Kommunikanten einer Bezugsgesellschaft beschränkt ist. Virtuelle Räume sind nur für die Dauer und für die Beteiligten ihrer spezifischen, raumschaffenden Kommunikation existent, können aber auch wieder durch Wiederholung der Kommunikation konstruiert werden. Sie besitzen jedoch keinen verlässlichen, institutionellen Charakter wie normale Räume und sind demnach von einer weitaus größeren Dynamik bestimmt. Virtuelle Räume sind ontologisch markiert: Ihre Existenz ist für aus der raumschaffenden Kommunikation Exkludierte zumindest fragwürdig.
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Register Aufführung s. Performanz Aufführungsraum s. Raum, Aufführungsraum Autor 15, 45, 55, 60–62, 92, 96, 150, 170–172, 184, 197f., 246, 251, 254, 279, 295, 320, 355–357 Autorerzähler 63, 139 Avatar 13, 26, 41, 193, 305, 315, 318–320, 324, 326, 338f., 348f., 355 Beteiligte der Kommunikation s. Kommunikanten Bewegung 5–13, 15f., 26, 27, 43, 57, 60, 70, 76, 83, 86–89, 93, 97, 105, 110f., 121, 129, 150, 152, 170, 173, 182, 185, 187, 193, 195f., 200, 202, 208, 212, 216f., 223, 235, 237–239, 258, 265, 268, 279, 280f., 284, 286, 288f., 300, 302, 305, 320, 326f., 337, 340, 343, 348 Bezugsgesellschaft 39–41, 51f., 208, 239, 248, 341f. Cyberspace s. Raum, Cyberspace Dauer 17, 39f., 42–47, 49–51, 53–55, 57, 59, 63, 69, 72, 76, 78, 80, 98, 100, 103, 106–109, 115–117, 119f., 126, 131–133, 139, 147, 149f., 156–158, 162, 170, 179f., 185f., 216, 218, 223, 227, 237, 239, 247, 249, 261, 269, 270, 275, 281f., 284, 286, 289, 301, 306, 309, 320, 324, 326, 333–336, 341–345, 347, 349 Dichter 9, 11, 13, 23, 42, 60f., 67f., 70, 107, 118, 145, 187, 220, 231, 254, 257, 288, 290, 293, 295, 297, 316, 321f., 338, 343, 352, 355 Disharmonie s. Harmonie/Disharmonie Diskurs 1f., 31, 36, 39, 47, 50, 52, 57, 61, 64–71, 79, 95, 157–159, 241, 259, 274f., 342f. Dynamik 7, 13, 24, 38, 71, 93, 106, 108, 126, 157f., 171, 195, 198f., 205f., 215, 229, 237, 240f., 249, 253, 255–257, 278, 281f., 289, 325, 335, 345, 347, 350, 352, 357 Entrelacement 291, 298, 301, 303 Erinnerung s. Memoria Erzählakt s. Performanz
Erzähler 2f., 11, 14–18, 20–22, 24, 41, 51, 55–62, 65, 67, 101, 106–110, 114, 117, 119, 123, 127f., 139f., 143, 148, 151f., 167–172, 179f., 182, 184, 186f., 189, 191–202, 211f., 214f., 220f., 223, 225f., 228f., 232–236, 238, 241–243, 245–255, 257, 259–261, 263f., 266, 269, 272, 274–288, 290–296, 298f., 301, 303–309, 314, 321–325, 327, 329, 337f., 341–343, 346–349, 351–356 Erzählerebene 197f., 225, 233, 272, 309, 314 Erzählervortrag s. Performanz Exklusion s. Inklusion/Exklusion Figur s. Personal Fiktionalität 54–56, 58, 107, 181, 283, 319, 342 Fragilität 118, 144, 156f., 215, 240, 253, 255, 278, 345, 347f., 350, 357 Gedächtnis s. Memoria Gedächtnisraum s. Raum, Gedächtnisraum Gegenwart 27, 32, 61, 107, 117, 122, 130, 184, 189f., 194, 199, 207, 221, 240, 244, 253–255, 268, 277, 279, 280f., 287, 312f., 316f., 319, 346f., 350, 355f. Gemeinschaft 33, 41, 50, 78, 80f., 109, 114f., 118f., 155, 189, 224, 235, 237, 333, 335, 346 Grenze 8, 11, 19f., 22, 26, 28f., 32f., 35–37, 42–44, 49, 51, 53f., 56f., 64, 66f., 70–73, 75f., 85, 88, 97f., 103, 112, 114–116, 119, 124, 127, 132, 134, 140, 144, 149, 150, 152, 154, 158, 168, 180, 194, 208, 211f., 216, 218, 221, 224–229, 250f., 255, 261f., 274f., 277, 279–281, 285f., 288–290, 292, 297, 304, 308f., 311, 324, 327f., 330, 333, 337, 341, 347f., 350f., 354 Harmonie/Disharmonie 64, 70f., 74, 76, 83–85, 87, 92–95, 99, 103, 108, 110, 115, 117, 119, 123, 132, 135, 137f., 141, 143f., 146f., 149f., 154–158, 161, 198, 229, 238, 240, 249, 343f. Held 5–13, 15, 56, 60, 193, 200f., 233, 236, 282f., 313, 328, 337, 340
382
Register
Identität 45, 50, 52–56, 59, 61–63, 172, 187, 201, 206, 246, 248, 250, 256, 267, 272, 277, 285, 287, 289, 290, 308, 312f., 315, 324–326, 332, 341, 347, 349 Inklusion/Exklusion 31, 36–40, 43f., 47, 49–51, 53, 83, 103, 105f., 108f., 116, 121, 124f., 130–133, 139–141, 144, 147, 149, 151f., 155–157, 183, 185f., 188, 206, 208–210, 212, 215–217, 225–227, 242–248, 251f., 255, 261, 269, 273, 292, 294, 296, 305, 311, 313, 319, 320, 323, 329, 341, 245–347, 350, 355 Imagination 26f., 29f., 32f., 39, 41f., 49f., 55–58, 65, 80, 91, 163, 165, 167f., 182, 225, 316 [s. a. Raum, imaginärer Raum] Institution 40f., 44, 46–50, 52, 55, 65f., 108, 248f., 327, 334f., 339, 342, 345, 350, 352 Interaktion 19, 26–28, 37, 40, 50, 57, 100, 150, 189f., 193, 195f., 203, 239, 241, 290, 304, 347 irreal s. real/irreal Klang s. Musik Kommunikation – Allgemein 15, 23, 31, 37–41, 43, 45, 47, 50, 53, 56, 61, 67, 70, 95, 97f., 105, 116, 119, 126, 138, 148, 151–153, 160, 178, 180, 185f., 197, 207, 211, 216, 219, 227, 234, 236, 244, 246f., 249, 251, 265, 270, 274, 294f., 302, 320–322, 325f., 327, 334, 336, 354 – Kommunikant 37, 39f., 42, 44, 46–48, 50–52, 54, 58, 62, 80, 103, 105, 108, 119, 148–150, 155–157, 176f., 182f., 186, 188f., 217, 224–226, 242, 249, 251f., 261, 265, 275, 322, 324–326, 333, 340–343, 345f., 353, – Kommunikationsdauer 44–46, 49, 51, 53, 55, 108, 131, 133, 149, 179, 183, 261f., 275, 282, 333, 341f. [s. a. Dauer] – Kommunikationsexklusivität s. – Kommunikation, Kommunikationszugänglichkeit – Kommunikationskomplexität 38 – Kommunikationsmodus 38f., 45, 49, 51, 53, 55, 79, 94, 126, 144, 161, 177, 182, 239, 340f., 346, 350
– Kommunikationspartner s. Kommunikation, Kommunikant – Kommunikationsreichweite 88, 103, 105, 108 – Kommunikationsteilnehmer s. Kommunikation, Kommunikant – Kommunikationsvarianz 38 – Kommunikationszugänglichkeit 38, 42–45, 48, 50f., 62, 64, 72, 79, 90–94, 103, 105, 114, 119, 134, 140, 142, 144, 146, 148f., 152, 155–158, 160f., 180, 185, 190f., 194f., 221f., 224, 226f., 239, 306, 310, 340, 341, 343, 345f., 354 – raumschaffende Kommunikation 16, 19, 24, 32f., 36–44, 46–49, 52–55, 59–64, 70, 80, 91, 94, 106, 116, 118f., 133, 139–141, 146f., 155, 158, 171, 175, 178f., 182, 186, 189, 194f., 208, 210, 213, 215f., 221, 224–227, 231, 237, 240, 243, 246–248, 251–253, 255f., 262, 265, 267–270, 275, 278, 286, 291f., 296–299, 301, 306, 311, 320, 323–325, 327, 330–333, 335, 339–342, 344–346, 348–355 Kontinuum/Kontinuität 4f., 7, 11f., 14, 16, 76, 108, 200, 281, 284, 296f., 300, 313, 322, 338f., 353 Lautstärke 3, 103, 105f. 108f., 119–126, 129, 135, 140, 143, 157f., 227f., 239, 249, 251f., 263f., 286f., 304, 329, 332, 344f. Lesen 22, 59, 97, 153, 162, 164–169, 171f., 174, 176, 191–193, 243–245, 254, 278, 291, 295, 304, 312–314, 316, 339 Medium 23, 25, 27, 42, 44, 90, 108, 162, 167f., 171, 296, 308f., 313, 316f., 349 Memoria – Allgemein 21, 31, 41, 64f., 70, 73, 80, 107, 129, 130f., 143, 159–176, 178–185, 187–208, 218, 220–222, 226, 232–237, 239–241, 257, 259, 265–268, 270, 272, 277, 287–289, 303–305, 308f., 311–313, 316, 318f., 323, 330, 335, 337, 340, 342, 346–348, 353, 356f. – Memorialbild 70, 161, 174, 181, 185–189, 193, 195–202, 204f., 208, 221, 234–241, 257–260, 263, 265–270, 286, 305, 346, 348 – Memorialfigur 187, 257, 259, 272, 305
Register
– Memorialgebäude 179, 187, 346 – Memorialmodell 70, 161, 163, 166f., 171–173, 175f., 182, 188, 192f., 196, 232, 346 – Memorialraum s. Raum, Memorialraum – Mnemotechnik s. Memoria, Memorialmodell – Totenmemoria 159, 183–186, 214, 216, 303, 305, 313, 316, 319f., 337, 346f., 356 Mündlichkeit 22f., 56, 68, 70, 73, 75f., 78, 96–98, 169, 171f., 251, 294, 296 Musik – Allgemein 21f., 30f., 37f., 44–46, 53f., 64f., 70–99, 102f., 105f., 108–112, 114, 117, 119–127, 129–137, 139–143, 145–151, 153, 156–158, 161, 180, 198, 227f., 239, 240, 249f., 342–345 – ars der Musik 38, 45f., 53f., 73–81, 87f., 90f., 93–96, 98f., 105, 111, 134–138, 141, 143f., 146–149, 158, 250, 343–345 – denkbare Musik s. Musik, ars der Musik – hörbare Musik s. Musik, usus der Musik – musikalischer Raum s. Raum, musikalischer Raum – sichtbare Musik s. Musik, ars der Musik – usus des Musik 30, 73–81, 90, 93, 95–100, 103, 105f., 111, 134–142, 146, 148f., 151, 153, 155f., 250, 343–346 Ordnung 4, 9–11, 13, 31, 36–38, 43, 46f., 53, 70f., 74, 77f., 82, 84f., 90, 92, 94f., 98–100, 103–105, 108, 110–112, 116–120, 122, 127, 129, 138, 146, 157f., 162f., 165–168, 174, 177, 182, 186, 188, 192, 195, 223, 232, 234, 241, 245, 263, 285, 295, 330, 343f., 346, Oralität s. Mündlichkeit oral poetry 22 Ort 2, 7, 17, 27f., 31, 34, 37, 41, 45, 49, 50, 52, 54–56, 61f., 64, 69, 89, 91, 94f., 97f., 109, 111, 115, 119, 129, 134, 153, 160f., 163, 165–168, 170, 173–179, 181f., 185f., 193, 195, 198, 200, 202, 204–206, 211f., 215, 217, 220, 222f., 233–235, 238f., 241, 244, 249, 251, 255, 257f., 263, 269, 270, 277, 279–281, 283, 285f., 298–301, 303, 304–307, 309, 311f., 321–324, 326–328, 336, 338f., 341, 345–349, 352–354, 356
383
Performanz 14, 16, 21–24, 39, 41, 50, 55–61, 65, 70, 75, 78, 102, 109, 117, 139, 160, 163, 168–171, 174, 180f., 183f., 192, 198, 201, 205, 242f., 245–252, 275, 291, 293–296, 303, 313f., 319, 332, 338–340, 342, 346, 348, 351f. Person, Personal 1, 5–7, 10, 12f., 15f., 18, 20, 24, 37f., 40f., 44, 50f., 54–56, 58, 60–63, 69, 75, 80, 84, 87, 104, 108, 116f., 127, 130, 132, 137f., 144, 146f., 149, 151f., 155, 158, 181, 184f., 187f., 193–195, 198, 200–202, 205f., 209, 211, 214, 216, 220f., 227, 236f., 239, 241–243, 246, 257–259, 260, 262, 265f., 268, 272, 279, 280–282, 284f., 288, 292, 294–296, 301f., 304–309, 312f., 315f., 318–321, 323, 325–327, 337f., 341f., 345, 346, 348f., 351f., 354f. Perspektive 5, 8, 12, 15–20, 23, 45, 49, 57, 59, 62, 86, 90, 92, 101, 116, 138, 199f., 213, 237, 242, 274, 285, 290, 301, 303f., 306–308, 313, 316, 319, 323f., 339–341, 349, 351, 356f. Proportion 73, 79–84, 87, 89–94, 97–99, 108, 141, 148, 180, 343f. Publikum 9f., 12, 14–16, 18, 20–22, 24, 27f., 41f., 50, 55f., 58f., 61, 65–69, 78f., 102, 106, 108f., 119f., 144, 146–148, 151f., 155, 171, 179, 186f., 192–195, 202f., 207, 209, 211–213, 215, 220f., 225f., 233–236, 239, 241–252, 254f., 264, 272, 277–279, 281, 284, 286, 292–296, 298, 301, 309, 318, 323, 338, 341f., 346, 348f., 351, 355 Raum – Allgemein 1–26, 29–53, 56–58, 60, 64f., 71f., 74, 78–81, 84–90, 92, 94, 96–101, 103–111, 113–122, 126–128, 132–134, 138–140, 142, 146–163, 165, 169–171, 173, 177, 179–182, 185–190, 192, 194f., 198, 200–203, 205–213, 215–217, 221, 223–232, 234, 236–242, 246, 248, 253, 255–257, 259, 261–272, 276–279, 281–283, 285–291, 296–301, 303, 306, 309–311, 316, 318, 320, 322f., 325–330, 332, 334–350, 352–355, 357
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Register
– Argumente, Raum der s. dialektischer Raum – Aufführungsraum 22, 24, 56 – cartesianischer Raum 4, 5, 12f., 15, 24 – Cyberspace 26, 30, 42, 44, 49f., 52, 64, 193, 340f. – dialektischer Raum 31, 34, 45, 54, 56, 62, 91, 177f., 341 – Erinnerungsraum s. Raum, Memorialraum – Erzählraum 24, 56–59, 61f., 65, 102, 107f., 142, 151, 158, 179, 181, 185, 187, 191f., 207, 211f., 216, 221, 230, 233, 235–237, 239, 241–247, 249–257, 265, 269, 273, 275, 278–282, 284, 288, 290–292, 296–298, 301–303, 305–309, 312–320, 323f., 326, 328f., 337–339, 342, 345, 347–349, 351, 355, 357 – erzählter Raum 9, 22, 24, 55–58, 60–62, 64f., 102, 107, 119, 122, 132f., 138, 147, 151f., 156–158, 181f., 184, 186f., 189, 193f., 201, 221, 235–237, 239–243, 246f., 253, 256f., 265, 269, 275f., 278–286, 288–291, 295f., 298, 301, 303, 305, 307–309, 313–320, 323f., 326–328, 334–339, 342, 345, 347–351, 355, 357 – Gedächtnisraum s. Raum, Memorialraum – Handlungsraum 34, 50, 148, 157, 195, 234, 256, 260, 279, 302 – Herrschaftsraum 103–121, 124f., 132f., 158, 240, 252, 254, 297, 324, 327–335, 337, 344f., 349f. – Hofraum 53, 140, 142, 152f., 156, 215–217, 248, 256f., 261, 265, 269, 273, 275, 345, 347 – imaginärer Raum 9, 29, 33, 39–41, 45, 49, 51, 55, 89–91, 97, 134, 142, 144, 147, 151f., 155f., 161, 163, 172f., 175, 186, 190, 194f., 199, 239, 296, 306, 341, 343, 345f. – Klangraum s. Raum, musikalischer Raum – Memorialraum 21, 64f., 68, 70, 131, 161f., 166, 169, 171–173, 175–196, 199–203, 205–210, 215–221, 224, 227, 229, 232f., 235–242, 261, 268–270, 287, 289, 303, 305, 312–314, 316, 342, 346f., 34f., 356 – Minneraum 19–22, 149–155, 157, 207f., 211f., 215–217, 225f., 264, 341, 347
– musikalischer Raum 64f., 70, 72, 79–81, 83, 88–96, 98, 101, 104f., 107–112, 114, 116–135, 137–139, 141, 143f., 146–152, 154–158, 160f., 198, 227f., 230, 237, 239f., 242, 263, 342–346, 350 – normaler Raum 24, 39–49, 51–55, 62f., 70, 80, 90, 97, 99f., 103–105, 107–109, 116, 124–130, 132–134, 139f., 146–148, 152–158, 161, 172f., 175, 180, 183, 186, 188, 194, 206, 208–217, 219, 221, 226f., 229f., 237, 238–241, 246, 248f., 297, 310f., 315, 320, 322, 324, 326f., 329, 332, 334–336, 338f., 341f., 344–347, 349–352, 354, 357 – physischer Raum 24, 31, 38, 41, 45f., 64, 88, 90, 93, 108f., 114f., 122, 125, 134, 154, 173, 182, 189, 200 – virtueller Raum 2, 15, 22–29, 32–36, 38, 41–46, 48–58, 61–65, 70, 72, 91, 93f., 99–101, 103–105, 107–112, 114, 116, 118, 119–121, 123–128, 130–135, 138–142, 146–158, 160f., 175–184, 186, 188f., 191–194, 198f., 203, 207–212, 214–217, 221, 225f., 227, 229f., 233, 236–244, 246f., 252f., 255, 261, 265, 270, 275, 277, 280–282, 286, 289–292, 296f., 302f., 306f., 309–316, 321–324, 326, 328, 333–357 real/irreal 1, 4, 6, 8, 10, 13–16, 18, 20, 23–35, 40–42, 44–46, 49–52, 55f., 58–60, 97, 107, 118, 143, 145, 177, 182, 185, 203, 221, 223, 230, 236, 243, 245, 248, 250, 266, 283f., 291, 314, 322f., 341, 357 Reichweite 88, 103, 105, 108 Rezipient s. Publikum Rolle 15, 20f., 40f., 43, 52, 55f., 58–61, 69, 102, 152, 184, 194, 207, 235, 243, 246f., 249, 251–253, 255, 257, 260f., 264, 266, 273, 342, 347, 355f. Schriftlichkeit 22f., 37, 48, 54, 55f., 70, 74, 76, 78f., 89f., 96–98, 145f., 160, 162f., 167–169, 171f., 181, 184, 191, 248–251, 293–296, 307–309, 313–320, 323, 335, 337–339, 343, 346, 349f., 356 spatial turn 33f.
Register
spilman 102, 104–106, 108f., 134, 136, 144, 158, 246, 344 Statik 4, 8, 12f., 38, 70, 150, 195f., 198, 215, 223, 241, 335 Topos s. Ort Vergangenheit 21, 187, 191, 194, 206, 219, 233, 236, 238, 240, 255, 262, 268, 270, 292, 295, 305, 312f., 316, 318, 347, 349, 353 Virtualität 22, 26–32, 34f., 42, 45, 49–53, 55, 58, 62, 148, 177, 194, 224, 242, 247, 249, 265, 269, 282, 289, 290, 312f., 321, 328, 332, 334f., 341, 349, 351 [s. a. Raum, virtueller Raum] virtual reality 25, 27f., 44f., 50f. virtuelle Haupträume des Erzählens s. Raum, Erzählraum bzw. Raum, erzählter Raum
385
Vortrag s. Performanz Zeit 4–6, 11f., 14, 17, 24, 27f., 36, 43, 45–47, 50, 52f., 55–57, 73, 80, 85, 93, 97f., 102, 104, 106., 109f., 116, 119, 131f., 134, 143f., 149, 151f., 155f., 170, 182f., 187, 191–194, 196, 198, 204f., 208f., 213, 215f., 219, 221, 224, 226, 230, 234, 236, 238, 240, 244, 250, 255, 257, 262, 264, 271f., 274, 280, 286, 297, 299–301, 303, 312–314, 317f., 320f., 324f., 327–329, 334, 338, 342, 344f., 347, 349–351, 353 Zentralperspektive 15f., 57 Zukunft 18, 20, 25, 61, 78, 84, 101, 207, 213, 215, 240, 244f., 268–270, 274, 302, 305, 312–315, 317, 322–324, 329, 332, 349