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German Pages 218 [215] Year 2008
Erzählen, Erklären, Verstehen zur Wissenschaftstheorie und Historischen Kulturwissenschaften der
Beiträge Andreas
Methodologie
Frings und Johannes Marx (Hg.)
Beiträge zu den Historischen Kulturwissenschaften Bd. 3
Herausgegeben im Auftrag des
Historisch-Kulturwissenschaftlichen Forschungszentrums Mainz-Trier von Mechthild Dreyer, Claudine Moulin und Jörg Rogge
Erzählen, Erklären, Verstehen Beiträge zur Wissenschaftstheorie und Methodologie der Historischen Kulturwissenschaften
Herausgegeben von Andreas Frings und Johannes Marx
Akademie Verlag
Das Projekt wurde gefördert durch das Historisch-Kulturwissenschaftliche
Forschungszentrum Mainz-Trier.
Die Tagung, auf die dieser Band zurückgeht, wurde finanziell durch die Gerda Henkel Stiftung ermöglicht. Den Druck des vorliegenden Bandes haben die Johannes Gutenberg-Universität Mainz und das Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur des Landes Rheinland-Pfalz finanziert.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de
abrufbar.
ISBN 978-3-05-004397-5 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2008 Das
eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706.
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form durch Fotokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. -
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Druck und
Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza
Printed in the Federal
Republic of Germany
Inhaltsverzeichnis
Andreas
Frings, Johannes Marx Analytische Philosophie, Wissenschaftstheorie und die Methodologie (historischer) Kulturwissenschaften. Plädoyer für einen seltenen Dialog Hansjörg Siegenthaler
Theorienvielfalt in den Geschichtswissenschaften und die Heuristik der
Rationalitätspräsumption
.
Andreas Hütig Erkenntnisinteresse und Methodologie der Kulturwissenschaften
.
27
49
Rüdiger Graf
Geschichtswissenschaft zwischen Ironie und Bullshit. Pragmatische Überlegungen zum Dissidenzpotential historischer Wahrheit
.
71
Thomas
Spitzley Handlung, Rationalität, Bedeutung. Oliver Scholz Erkenntnis der Geschichte
eine Skizze
.
97
111
-
Andreas Frings Erklären und Erzählen. Narrative
Erklärungen historischer Sachverhalte.
129
Johannes Marx Kultur und Rationalität. Das ökonomische Forschungsprogramm als theoretische Grundlage einer kulturwissenschaftlich orientierten Sozialwissenschaft
165
Karl Acham Zur Komplementarität von Allgemeinem und Besonderem, Theorie und Erzählung.
191
Autoren
217
.
Vorwort
Die
Beiträge zu den Historischen Kulturwissenschaften präsentieren Forschungserträge zu aktuellen Sachthemen sowie zu methodologischen und wissenschaftstheoretischen Fragen der Historischen Kulturwissenschaften. Herausgeber der Reihe ist das im Jahr 2005 gegründete Historisch-Kulturwissenschaftliche Forschungszentrum (HKFZ) Mainz-Trier. Das Zentrum wird von den beiden Universitäten in Mainz und Trier getragen und aus Mitteln des Landes Rheinland-Pfalz finanziert. Dem Zentrum gehören auch Mitglieder außeruniversitärer wissenschaftlicher Einrichtungen beider Städte an. Hinzu kommen Kooperationspartner im Gegensatz zur übliaus dem In- und Ausland. Im Forschungszentrum werden chen universitären Struktur mit ihrer Vereinzelung von Fächern und Fachbereichen fächerübergreifende Fragestellungen der Historischen Kulturwissenschaften behandelt, deren Beantwortung nur inter- und transdisziplinär erfolgen kann. Mit den Beiträgen zu den Historischen Kulturwissenschaften bietet das HKFZ ein Forum für diese historisch und fachübergreifend angelegte Form der Forschung. Zur Diskussion gestellt werden Arbeiten, die sich mit kulturellen Erscheinungsformen und Symbolstrukturen in Sozialformationen in historischer Perspektive beschäftigen und unter Transdisziplinarität nicht eine additive Reihung von Disziplinen, sondern eine integrative Forschungshaltung verstehen. Ein weiteres zentrales Anliegen des HKFZ und dieser Reihe ist es, über die theoretischen Bedingungen und die methodischen Möglichkeiten der Historischen Kulturwissenschaften Rechenschaft abzulegen. Denn nur in der Reflexion auf ihr Tun können sie ihren Gegenstand letztlich einholen und ihre Arbeit entsprechend den wissenschaftlichen Standards argumentativ ausweisen. -
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Mechthild
Dreyer
Claudine Moulin
Jörg Rogge
Andreas Frings, Johannes Marx
Analytische Philosophie, Wissenschaftstheorie und die Methodologie (historischer) Kulturwissenschaften. Plädoyer für einen wertvollen Dialog
Das Problem Konzept der „Kulturwissenschaften" wird seit längerer Zeit als ein inter- und transdisziplinäres Forschungsunternehmen vorgestellt, das mit besonderem Nachdruck die wissenschaftstheoretische Reflexion in den Mittelpunkt rückt. Damit ist vor allem die Berücksichtigung der kulturellen Bedingtheiten auch der eigenen wissenschaftlichen Produktion gemeint, darüber hinaus aber auch ganz allgemein ein geschärftes Bewusstsein für wissenschaftstheoretische Grundfragen. Ein genauerer Blick zeigt jedoch, dass gerade das große Gebiet der philosophiDas
schen Wissenschaftstheorie in den Kulturwissenschaften kaum oder nur verzerrt rezipiert wird; methodologische und erkenntnistheoretische Fragen, die in der allgemeinen Wissenschaftstheorie eine große Rolle spielen, werden in den Kulturwissenschaften meist nicht berücksichtigt oder durch Sprachspiele überdeckt. Eine Wissenschaftstheorie der Kulturwissenschaften, die einen Konsens der kulturwissenschaftlich arbeitenden Forscher darstellen würde, existiert bisher allenfalls in Ansätzen. Häufig wird ein solcher Konsens sogar abgelehnt, etwa als Überwältigungsanspruch einer rein normativ oder gar willkürlich verfahrenden Wissenschaftstheorie. Das ist jedoch bestenfalls als voreilig zu kennzeichnen. Gerade angesichts der Tatsache, dass im Prozess inter- und transdisziplinären Arbeitens die gemeinsame Arbeit über Fächer- und Disziplinengrenzen hinweg etablierte Standards wie Theorien, Methoden und Konzepte der Einzelwissenschaften zunehmend in Frage stellt. Notwendig ist daher eine Verständigung über neue Standards und allgemeine Kriterien wissenschaftlichen Arbeitens, um überhaupt gewährleisten zu können, dass es bei dieser gemeinsamen Arbeit tatsächlich um einen gemeinsamen Erkenntnispround nicht bloß um gemeinsame Drittmittelakquise zur Förderung der je zess geht einzelnen Forschungsvorhaben. Soll kulturwissenschaftliche Arbeit nicht in Belie-
Andreas Frings, Johannes Marx
8
in das Feuilleton oder den belanglosen, detailverliebten Essay (häufige Vorwürfe zusammenfassend) abgleiten, so ist eine gemeinsame Basis kulturwissenschaftlichen Arbeitens notwendig, die ihre Wissenschaftlichkeit fundiert mithin eine Wissenschaftstheorie der Kulturwissenschaften, die eine Brücke zwischen der allgemeinen Wissenschaftstheorie und der Praxis der Kulturwissenschaften darstellen wird. Nun ist jedoch auch der Minimalkonsens der allgemeinen Wissenschaftstheorie zunächst nicht allzu voraussetzungsvoll, negativ gesprochen: Er ist recht dünn. Wolfgang Stegmüller hat ihn mit den Attributen der sprachlichen Präzision, der Intersubjektivität und der Begründbarkeit beschrieben.1 Diese wenigen Elemente garantieren zumindest, so Stegmüller, dass Wissenschaftler, wenn sie ihr Erkenntnisprojekt als dialogischen Prozess und das dabei erzeugte Wissen als Ergebnis kritischer Auseinandersetzung begreifen, das hierfür nötige Gespräch auch führen können, da sprachliche Präzision und der Gebrauch von Argumenten ein solches
bigkeit,
-
Gespräch überhaupt erst ermöglichen. Leider ist jedoch auch dieser Minimalkonsens in den Kulturwissenschaften nicht selbstverständlich, was sich leicht an Hand eines in den Kulturwissenschaften weiterhin sehr populären Konzeptes zeigen lässt: der Diskursanalyse im Anschluss an Michel Foucault. Häufig wird diese mit dem Literaturverweis auf Foucaults Werk „Archäologie des Wissens" belegt. Dort verwendet Foucault selbst jedoch gerade keinen präzisen Begriff des Diskurses. Im Gegenteil, im Laufe der Darstellung fällt ihm selbst sein wechselndes Begriffsverständnis auf: „Schließlich glaube ich, dass ich, statt allmählich die so schwimmende Bedeutung des Wortes 'Diskurs' verengt zu haben, seine Bedeutung vervielfacht habe: einmal
allgemeines Gebiet aller Aussagen, dann individualisierbare Gruppe von Aussagen, schließlich regulierte Praxis, die von einer bestimmten Zahl von Aussagen berichtet; und habe ich nicht das gleiche Wort Diskurs, das als Grenze und als Hülle für den Terminus Aussage hätte dienen sollen, variieren lassen, je nachdem
Das Kriterium der sprachlichen Präzision erfordert, dass wissenschaftliche Aussagen so formuliert sein müssen, dass sie klar, verständlich und widerspruchsfrei sind. Das Kriterium der Intersubjektivität verlangt, dass wissenschaftliche Ergebnisse für alle nachvollziehbar sein müssen, sofern sie die notwendigen methodischen Kenntnisse besitzen. Intersubjektivität postuliert die Angabe klarer Definitionen, der verwendeten Methoden und des Datenmaterials, mit denen man zu den wissenschaftlichen Ergebnissen gekommen ist. Begründbarkeit schließlich verlangt die Angabe von Argumenten und Daten, die für die Geltung der vertretenen Position sprechen: Vgl. Stegmüller, Wolfgang, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Band 4: Personelle und statistische Wahrscheinlichkeit, Halbband 1 : Personelle Wahrscheinlichkeit und rationale Entscheidung, Berlin/Heidelberg 1973, S. 5 f.
Analytische Philosophie, Wissenschaftstheorie und Methodologie ich meine Analyse oder ihren Anwendungspunkt aus dem Blick verlor?"2
9
verlagerte und die Aussage selbst
Es ist insofern nicht
verwunderlich, dass ein großer Teil kulturwissenschaftlicher der Rekonstruktion des Foucaultschen Diskursbegriffes gewidmet Theoriebildung ist. Dass die Theoriebildung dabei mit der Zeit weit über Foucault hinaus gegangen ist, ist selbstverständlich. Gleichzeitig wird jedoch die Exegese des Foucaultschen Diskurs-Œuvres weiter betrieben und meist kritisch überwacht.3 Im Ergebnis wird ein zentraler Begriff der jüngeren Kulturwissenschaften in äußerst heterogener Weise verwendet, was die wissenschaftliche Diskussion aus unserer Sicht eher erschwert. Auch wenn der jeweils verwendete Diskursbegriff in der einzelnen Studie durchaus fruchtbar zur Anwendung kommen mag, ist aus methodischer Perspektive unklar, ob es mehr Verbindendes zwischen den diskurstheoretischen Arbeiten gibt als den Rekurs auf einen unpräzise benutzten Diskursbegriff.4 Foucault, Michel, Archäologie des Wissens, Frankfurt/Main 1981, S. 116. Vgl. hierzu kritisch Megill, Alan, Foucault, structuralism, and the ends of history, in: The Journal of Modern History, Jg. 51 (1979), S. 451-503, vor allem S. 484-489. Siehe beispielsweise die kritische Rezension von EITLER, PASCAL, Rezension zu: Eder, Franz X./ Sieder, Reinhard (Hg.), Historische Diskursanalysen. Genealogie, Theorie, Anwendungen, Wiesbaden 2006, in: H-Soz-u-Kult, 21.02.2007, http://hsozkult.geschichte.huberlin.de/rezensionen/2007-1-124 (02.01.2008), in der der Rezensent wiederholt eine verfehlte Lektüre Foucaults in Beiträgen anprangert, die eigentlich systematischen Fragestellungen und eben nicht der Exegese Foucaults gewidmet sind. Es geht mithin auch nicht darum, an dieser Stelle einen „richtigen" Begriff des Diskurses einzufordern, und ebenso wenig darum, überhaupt die Vorstellung „richtiger" Begriffe gegen die kulturwissenschaftliche Praxis der begrifflichen Heterogenität zu verteidigen. „Richtige" Begriffe gibt es nicht. Stattdessen würden wir für die Verwendung von Nominaldefinitionen auch in den Kulturwissenschaften plädieren. Während Realdefinitionen den Versuch darstellen, das Wesen eines Dinges definitorisch einzufangen, was aus wissenschaftstheoretischer Perspektive ein hoffnungsloses Unterfangen ist, sind Nominaldefinitionen als Arbeitsdefinitionen zu verstehen, bei denen die Bedeutung eines Begriffs mit Verweis auf bekannte Begriffe festgelegt wird. Nominaldefinitionen können im Gegensatz zu Realdefinitionen nicht wahr oder falsch sein, sondern werden unter dem Aspekt der Zweckmäßigkeit beurteilt. An dieser Stelle sei lediglich festgehalten, dass das gemeinsame Gespräch über Diskurse oder andere Fragen eines gemeinsamen Begriffsverständnisses bedarf, wenn man nicht, ohne es vielleicht zu merken, über verschiedene Dinge sprechen will. Vgl. zu einem ausführlicheren Plädoyer für Nominaldefinitionen beispielsweise Frings, Andreas, Zwischen Ökonomie und Geschichte. Ein Plädoyer für den Dialog der Politikgeschichte mit der empirisch-analytischen Politikwissenschaft, in: Historical Social Research, Jg. 4 (2007) (Special Issue: New Political Economy in History, hrsg. von Marx, Johannes/ Frings, Andreas), S. 52-93, hier vor allem S. 58-60, sowie Frings, Andreas, Friendly Fire. A Critical Review of the New Imperial History of the Post-Soviet Space from an analytic-philosophical point of view, in: Ab Imperio (2006) 1, S. 329-352, hier vor allem S. 331-336.
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Andreas Frings, Johannes Marx
Ähnlich unfruchtbar ist aus unserer Sicht der Verzicht auf ein gemeinsames Erklärungsverständnis. Selbst heute noch stehen erklärende, erzählende und verstehende Ansätze scheinbar unversöhnlich einander gegenüber. In den jüngeren Kulturwissenschaften ist die Suche nach nomologischen Erklärungen zwar weitgehend durch Varianten des deutenden Erzählens ersetzt worden: Möglich sei nur eine narrative Vorgehensweise, die sich den kulturellen und historischen Eigenheiten beschreibend annähere. Gleichzeitig existieren aber auch weiterhin erklärende Theorieverständnisse, die Kultur als Explanans oder als Explanandum konzipieren oder als Dachbegriff für verschiedene Formen von Explananda verwenden. In konkreten kulturwissenschaftlichen Arbeiten dürfte man in der Regel ohnehin eine Mischung der unterschiedlichen Erklärungsverständnisse ausgeführt finden. Und selbst die Betonung eines „erzählenden" Erklärungsverständnisses ist keineswegs eine eindeutigere Position, da hiermit wiederum ganz unterschiedliche, z.B. phänomenologische, hermeneutische oder dekonstruktivistische Verständnisse einhergehen. Die Verengung der Diskussion auf ein „narratives" Erklärungsverständnis impliziert bisher gerade keinen Konsens. Der damit erkaufte Verzicht auf einen klar benennbaren Erklärungsanspruch ist nicht nur unbefriedigend, sondern auch unnötig: Neuere Positionen u.a. aus der analytischen Philosophie versprechen, die Trenvon verstehenden und erklärenden Ansätzen zu überwinden.5 Bisher sind diese theoretischen Entwicklungen in den Sozialwissenschaften und der Geschichtswissenschaft aber bedauerlicherweise wenig bekannt.
nung
Das
Konzept
Die interdisziplinäre Tagung „Dichtung und Wahrheit. Zum Verhältnis von Narration und Erklärung in den Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften", die diesem Sammelband zu Grunde liegt, war insofern ein Projekt, das der Diskussion von Konzepten und Überlegungen, die kulturwissenschaftlich bisher kaum rezipiert werden, gewidmet war. Auf diese Weise sollte die methodologische Reflexion über die Rezeption kulturwissenschaftlicher Autoritäten6 hinaus ausgeweitet werden. Es ging jedoch nicht darum, den Kanon durch die Präsentation eigener Lieblingsautoren zu erweitern, sondern um einen systematischen Beitrag zu aus unserer Sicht wichtigen Fragen kulturwissenschaftlichen Arbeitens, die zugleich eine grundle5
6
zum immer noch aktuellen Konzept einer kausalen Erklärung auch in den Sozialwissenschaften zuletzt Bartelborth, Thomas, Erklären, Berlin/ New York 2007, S. 132-179. In den ersten Jahren der kulturwissenschaftlichen Diskussion beispielsweise vor allem Clifford Geertz, Michel Foucault, Jacques Derrida oder Pierre Bourdieu, in jüngerer Zeit auch Max Weber, Georg Simmel oder Ernst Cassirer. Diese Liste könnte ohne Schwierigkeiten erweitert werden.
Grundlegend
Analytische Philosophie, Wissenschaftstheorie und Methodologie
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gende Nähe kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschens aufzuzeigen vermögen.7 Grundlage für unsere Überlegungen war vor allem die Tatsache, dass sich das Projekt Kulturwissenschaften zwar unter anderem auch stark aus philosophischen Quellen speist, dabei aber nur einen eingeschränkten Blick auf die Philosophie des 20. Jahrhunderts hat: Wahrgenommen werden vor allem Philosophen, die der „kontinentalen" Philosophie des 20. Jahrhunderts zuzurechnen sind, während die analytische Philosophie des gleichen Zeitraumes so gut wie gar nicht berücksichtigt wird. Mit diesen Attributen verbinden wir jedoch keine geographische Zuordnung; unter der Sammelbezeichnung „kontinentale Philosophie" ließen sich ohne Schwierigkeiten auch nordamerikanische Philosophen (z.B. Judith Butler) finden, während es auch im „kontinentalen", d.h. europäischen Raum analytische Philosophen gibt, die die kulturwissenschaftliche Rezeption lohnen.8 Stattdessen ließe sich die analytische Philosophie, wie in jüngster Zeit immer wieder konstatiert wurde, eher durch einen anderen Stil und andere Grundüberzeugungen charakterisieren9:
Pointiert gesagt würde es aus unserer Sicht nicht darum gehen, diese oder jene Sozial- oder Geisteswissenschaft als Kulturwissenschaft neu zu begründen, sondern darum, alle Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften als Beitrag zu einem größeren Projekt zu verstehen: das des Verstehens und Erklärens menschlichen Handelns in seinem je historischen Kontext. Dabei fokussieren die Einzelwissenschaften auf jeweils unterschiedliche Aspekte menschlichen Handelns, und das auch abhängig davon, ob der Forscher sein Tun als sozial- oder kulturwissenschaftlich begreift. Es ist jedoch kein Wunder, dass Annäherungsprozesse von allen Seiten zunehmen: Quantitativ-empirisch orientierte Sozialwissenschaftler bemühen sich um eine Integration kultureller Faktoren in ihre Untersuchungen, Kulturwissenschaftler um die Integration politischer oder ökonomischer Kontexte. Gleichzeitig nehmen „klassische" Sozialwissenschaftler jedoch eher die Bemühungen der eigenen Kollegen wahr, ihre Menge möglicher Explananda um kulturelle Faktoren zu erweitern, während Kulturwissenschaftler eher die kulturwissenschaftlichen Bemühungen um die Erweiterung auf die Bereiche der Politik oder Ökonomie diskutieren. Der vorliegende Band ist eher der Versuch eines Gesprächsangebotes an Kulturwissenschaftler, sich auf Überlegungen aus ganz anderen Kontexten, nämlich der analytischen Philosophie oder den empirisch-analytischen Sozialwissenschaften, einzulassen. Neben den in diesem Band vertretenen Philosophen wäre hier etwa auch Ansgar Becker-
Bieri, Georg Meggle, Julian Nida-Rümelin, Hans Rott, Wolfgang Spohn oder Wolfgang Stegmüller zu nennen. Der unseres Wissens einzige kulturwissenschaftliche (genauer: kulturphilosophische) Lehrstuhl in Deutschland, der sich mit analytischer Philosophie mann, Peter
auseinandersetzt, ist der Lehrstuhl von Dariusz Aleksandrowicz in Frankfurt/Oder.
Eine lesenswerte Kritik an der hier im Folgenden skizzierten Charakteristik der analytischen Philosophie bietet Bieri, Peter, Was bleibt von der analytischen Philosophie?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 55 (2007), S. 333-344.
Andreas
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Frings, Johannes Marx
„Analytic philosophers, crudely speaking, aim for argumentative clarity and precision; draw freely on the tools of logic; and often identify, professionally and intellectually, more closely with the sciences and mathematics, than with the humanities."10
Möglicherweise ist es diese Nähe zur Denkweise der vermeintlich exakteren Wissenschaften, die die analytische Philosophie für die Kulturwissenschaften in mancherlei Hinsicht unattraktiv macht. Die Betonung logischer Strenge und argumentativer Klarheit schlägt viele Türen zu, die Kulturwissenschaftler sich möglicherweise
offenhalten möchten. Die zurückhaltende Rezeption analytisch-philosophischer Traditionen in den deutschsprachigen Kulturwissenschaften mag aber auch damit zusammenhängen, dass viele analytische Arbeiten als „unergiebig, unnötig kompliziert und formalistisch, in ihren Fragestellungen überholt und teilweise auch als inhaltlich bedrohlich eingeschätzt"11 werden. Das wird nicht nur dem Projekt der analytischen Philosophie nicht gerecht; die mangelnde Rezeption ist auch zur tatsächlichen Bedeutung der analytischen Philosophie innerhalb des Faches nicht adäquat: „Man dürfte mit der Vermutung nicht ganz falsch liegen, daß sich etwa die Hälfte der deutschsprachigen akademischen Berufsphilosophen als (im engeren oder weiteren Sinn) analytisch geprägt versteht"12, so Winfried Löffler, der die Gefahr einer mangelnden Rezeption der analytischen Philosophie vor allem für die Theologie beschreibt, die sich (so Löffler) damit wieder einmal von einer möglicherweise fruchtbaren Geistesströmung abkopple. Für die Kulturwissenschaften dürfte dies jedoch in ähnlicher Weise gelten: Während analytische Philosophen Themen behandelt haben und weiterhin behandeln, die für Kulturwissenschaftler große Bedeutung haben, interes-
10
Leiter, Brian, The Philosophical Gourmet Report 2006-2008, Blackwell Philosophical
Resources Homepage, http://www.philosophicalgourme.com/meaningof.asp (02.01.2008). Der mit der Vorliebe für die "exakten" Wissenschaften einhergehende Rückzug der analytischen Philosophie aus dem Gebiet der humanities ist sicher in nicht geringem Maße für die mangelnde Begeisterung vieler Geistes- und Kulturwissenschaftler für Fragen der analytischen Philosophie verantwortlich. Wieso soll sich ein Geistes- oder Kulturwissenschaftler mit einer Philosophie beschäftigen, die sich für ihn umgekehrt kaum interessiert? Gerade hier hat sich aber in den letzten Jahren vieles geändert. In Deutschland wird beispielsweise von ganz unterschiedlichen Philosophen wie Albrecht Wellmer oder Oliver Scholz über Verbindungen und Konfrontationen „analytischer" und „kontinentaler" Sprachphilosophie nachgedacht mit Ergebnissen, die für die Geistes- und Kulturwissenschaften durchaus bedeutsam sind. Löffler, Winfried, Wer hat Angst vor analytischer Philosophie? Zu einem immer noch getrübten Verhältnis, in: Stimmen der Zeit, H. 6 (2007), S. 375-388, hier S. 375. Löffler, Wer hat Angst vor analytischer Philosophie? (wie Anm. 9). -
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12
Analytische Philosophie, Wissenschaftstheorie und Methodologie
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sieren sich die meisten Kulturwissenschaftler kaum für diese Arbeiten oder rezipieren sie höchst selektiv.13 Gleichzeitig betonen die Kulturwissenschaften jedoch stärker als das Projekt Geisteswissenschaften zuvor, sich philosophisch auszurichten und theoriegeleitet Wissenschaft zu betreiben, was sie grundsätzlich näher auch an die analytische Philosophie bringen musste. Philosophie ist jedoch eben keine freie Spekulation über die Welt im Ganzen, keine Menge an Lehrsätzen oder Schlussfolgerungen, „nicht ein Bündel bestimmter inhaltlicher Positionen"14, sondern eine Klärung des Denkens und Argumentierens: both as product and as activity, lies in the detailed posing of questions15, the clarification of meaning, the development and criticism of argument, the working out of ideas and points of view. It resides in the angles, nuances, styles, struggles, and revisions of individual authors [.. .]."16
„Philosophy,
Genau in dieser Hinsicht sieht sich die analytische Philosophie und Wissenschaftstheorie einer kritischen Aufklärung verpflichtet, die sowohl die impliziten Annahmen einer fachwissenschaftlichen Forschung herauszuarbeiten in der Lage ist als auch diese in ihren implizit und explizit enthaltenen Widersprüchen zu kritisieren vermag. Hier liegt die besondere Stärke eines genuin philosophischen Ansatzes 13
14 15
So sind
beispielsweise die Arbeiten von Nelson Goodman kulturwissenschaftlich durchaus wahrgenommen und diskutiert worden. Löffler, Wer hat Angst vor analytischer Philosophie? (wie Anm. 9), S. 375. Vgl. exakt hierzu den ironischen Einstieg des Mitgründers der Gesellschaft für Analytische Philosophie, Georg Meggle: „Die Analytische Philosophie beginnt mit der Idee, daß vor der Beantwortung von Fragen deren Bedeutung klar sein sollte. Gibt es Grunchies wirklich? Darf man sie tröffein? Sind sie nicht grummlig? Bei diesen Fragen herrscht, wie jeder sieht, Klärungsbedarf." MEGGLE, Georg, Analytische Philosophie, in: Enzyklopädie Philosophie, hrsg. von Sandkühler, Hans Jörg, Hamburg 1999 S. 624 f.; hier zitiert aus der leicht geänderten Fassung auf http://www.uni-leipzig.de/~philos/meggle/&publikationen/1999f.pdf (02.01.2008). BÜRGE, Tyler, Philosophy of Language and Mind: 1950-1990, in: Philosophical Review 101 (1992), S. 51. Ähnlich auch LÖFFLER, Wer hat Angst vor analytischer Philosophie? (wie Anm. 9), S. 386: „Am ehesten könnte man analytische Philosophie also als einen Stil des Philosophierens charakterisieren, der besonderen Wert auf die Offenlegung argumentativer Strukturen legt und dabei besonders auf sprachliche Präzisierung achtet." Ergänzend Ansgar Beckermann, der die analytische Philosophie als einen Stil charakterisiert, „der durch begriffliche Klarheit, Genauigkeit und argumentative Strenge ausgezeichnet ist", und als ihr Charakteristikum benennt: „Begriffliche Implikationen und argumentative Zusammenhänge so klar wie möglich herauszuarbeiten, ist also ein wesentliches Merkmal des Analytischen Philosophierens." (Beckermann, Ansgar: Einleitung, in: Grundbegriffe der analytischen Philosophie, hrsg. von Prechtl, Peter. Stuttgart/ Weimar 2004, S. 1-12, hier S. 7.) Zu ergänzen wäre, dass begriffliche Präzision und argumentative Klarheit in guter analytischer Philosophie keinen Selbstzweck bilden, sondern dem Dialog dienen. ,
16
Andreas
14
gegenüber dem auch in den Kulturwissenschaften Rezipierens philosophischer Ideen:
Frings, Johannes Marx
nicht seltenen, oberflächlichen
to the sophomoric nonsense that passes for 'philosophizing' in the broader academic culture often in fields like English, Law, Political Science, and sometimes History one can only have the highest respect for the intellectual rigor and specialization of analytic philosophers"17,
„When compared
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so resümierte Brian Leiter, der Verfasser des Philosophical Gourmet Report, die besondere Stärke philosophischer Zugriffe. Bei aller Betonung der Vorzüge der analytischen Philosophie im allgemeinen soll jedoch nicht verschwiegen werden, dass sich die Grenzen zwischen analytischer und kontinentaler Philosophie, die vordem insbesondere diskursive Zusammenhänge voneinander schieden, zunehmend aufgelöst haben. Dokumentiert sind diese Versuche der gegenseitigen Vermittlung, der Integration und der kritischen Aufnahme etwa in den diskussionsartig aufeinander bezogenen Artikeln über Wahrheit von Donald Davidson und Richard Rorty18, in sprachphilosophischen Überblicken19, in Brücken bauenden Sammelwerken20 oder in Davidsons überraschter Feststellung, dass er doch einige Überzeugungen etwa mit Hans-Georg Gadamer teile, den er lange Zeit kaum gekannt habe. Davidson spricht sogar davon, dass er das Werk „Wahrheit und Methode" von Gadamer bewundere und darin „ziemlich offensichtliche Ähnlichkeiten" zu seinem Werk erkenne.21 Der Brückenbau erfolgt von beiden Ufern gleichzeitig und wird auch dadurch begünstigt, dass insbesondere analytische Philosophen frühere Ressentiments überwunden haben. Die analytische Philosophie gilt in dieser Hinsicht inzwischen nicht mehr als hermetisch geschlossen und unzugänglich, im Gegenteil:
17 18
Leiter, Brian, The Philosophical Gourmet Report 2006-2008 (wie Anm. 10). Auf deutsch gesammelt bei Sandbothe, Mike (Hg.), Wozu Wahrheit? Eine Debatte, Frankfurt/Main 2005. Ergänzend dazu Sandbothe, Mike, Davidson and Rorty on Truth, in: A House Divided. Comparing Analytic and Continental Philosophers, hrsg. von Prado, Carlos G., Amherst (N.Y.) 2003, S. 235-258. Donald Davidson nimmt in einigen Beiträgen des
vorliegenden Bandes einen prominenten Platz ein. 19
Vorlesung, hrsg. 20
21
Überblick bei Wellmer, Albrecht, Sprachphilosophie. Eine Hoffmann, Thomas/ Rebentisch, Juliane/ Sonderegger, Ruth,
Etwa der beeindruckende von
Frankfurt/Main 2004. Vgl. etwa den Themenband
„Bridging
the
Analytic-Continental Divide", in:
International
Journal of Philosophical Studies, Jg. 9, 3 (2001) oder die Zielsetzung des „European Journal of Philosophy" sowie der Zeitschrift „Philosophiegeschichte und logische Analyse". Davidson, David, Bezüge und Übergänge, Ein Interview mit Donald Davidson, in: Glüer, Kathrin, Donald Davidson zur Einführung, Hamburg 1993, S. 158. Vgl. dazu auch das vierte Kapitel aus TlETZ, Udo, Sprache und Verstehen in Analytischer und Hermeneutischer Sicht, Berlin 1995, S. 133 f. mit dem Titel „Die analytische Philosophie auf dem Weg zur
Hermeneutik
Donald Davidson".
-
Analytische Philosophie, Wissenschaftstheorie und Methodologie
15
„If there is now a sealed and hermetic culture, it is on the extreme continental side, where word games and poetic conceits replace argument and clarity, where the text
replaces reality, and where the pursuit of truth takes a back seat. Now it is no longer analysts who are blinkered and unresponsive; it is Theory, the darling of literary criticism, which sees no need to answer to extra-textual tests."22 Die Brücken zwischen kontinentaler und analytischer Philosophie sind sachlich begründet und in vielerlei Hinsicht fruchtbar und förderlich; sie sollten jedoch nicht übersehen lassen, dass ihre Rezeption in den Kulturwissenschaften erst beginnen kann, wenn eine solide und gründliche Aufnahme des analytischen Denkens eingesetzt hat. Die Vorzüge analytischer Philosophie gerade auf Gebieten, die für kulturwissenschaftliches Arbeiten besonders charakteristisch sind, sind aus unserer Sicht kaum zu übersehen. Das betrifft beispielsweise die Sprachphilosophie.23 Ohne einen kurzen Rekurs auf die sprachliche Verfasstheit kulturwissenschaftlichen Arbeitens etwa wird kaum ein kulturwissenschaftliches Lehrbuch beginnen. Dies wird als Konsequenz einer linguistischen Wende verstanden, deren Beginn einige mit Wittgenstein, viele jedoch vor allem mit Michel Foucault, Jacques Derrida, Richard Rorty oder gar Hayden White ansetzen. Die wohl radikalste sprachliche Wende des 20. Jahrhunderts dürfte aber Willard Van Orman Quine deutlich vor Michel Foucault und Jacques Derrida vollzogen haben, deren bahnbrechende Studien in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre erschienen, während Quine seine sprachphilosophisch begründete Überwindung einiger Grundannahmen der analytischen Philosophie der Vorkriegszeit 1951 und seine umfangreiche Studie „Word and Object" 1960 veröf-
SiMONS, PETER, Whose fault? The origins and evitability of the analytic-continental rift, in: International Journal of Philosophical Studies, Jg. 9 (2001), S. 295-311, hier S. 307. Auch wenn hier nur kurz auf die Sprachphilosophie eingegangen wird, sollte doch nicht verschwiegen werden, dass in der analytischen Philosophie inzwischen andere Arbeitsgebiete wie etwa die Philosophie des Geistes einen höheren Stellenwert genießen. Für grundlegende Fragen auch dieses Bandes, etwa das Konzept der subjektiven Handlungsrationalität, wären diese Forschungsdebatten parallel zu lesen. Das gilt insbesondere für die Überwindung des „Primates der Sprache" und der damit verbundenen Annahme des erkenntnistheoretischen Vorrangs der Sprache vor dem Denken. Vgl. hierzu eingängig beispielsweise Löffler, Winfried, Analytische Philosophie als rationales Verfahren, in: Salzburger Jahrbuch für Philosophie, Jg. 39 (1994), S. 77-92, hier S. 83; Nida-Rümelin, Julian, Die Grenzen der Sprache, in: Von der Logik zur Sprache. Stuttgarter Hegel-Kongreß 2005, hrsg. von Bubner, Rüdiger/ Hindrichs, Gunnar, Stuttgart 2007, S. 43-66. Gleichzeitig wäre die Bedeutung gegenwärtig expandierender analytisch-philosophischer Forschungsdiskussionen für die historisch-kulturwissenschaftliche Forschung eine eigene Auseinandersetzung wert. Schließlich hat die analytische Philosophie sogar ehemals gemiedene Felder wie die Ontologie, die Ethik, die Metaphysik oder gar die Religionsphilosophie schon vor längerem wieder entdeckt. All das kann hier nicht weiter ausgeführt werden.
Andreas Frings, Johannes Marx
16
fentlichte.24 Dass ein großer Teil der modernen Sprachphilosophie aus analytischer Feder stammt, wird selten gesehen, auch wenn analytische Philosophen mit Stolz auf diese Genese verweisen: „Es kann z.B. gar kein Zweifel daran bestehen, dass die Sprachphilosophie ohne die Beiträge von Frege, Wittgenstein, Austin, Quine, Kripke, Davidson und Kaplan heute sehr viel ärmer wäre. Und von wie vielen Beiträgen außerhalb der Analytischen Philosophie im 20. Jahrhundert kann man wohl Ähnliches
behaupten?"25 Auch in anderer Hinsicht dürften die Kulturwissenschaften von der analytischen Philosophie lernen können: im Hinblick auf das oft beschworene selbstreflexive Potential des Projektes Kulturwissenschaften. Selbstreflexion ist mehr als die Offenlegung des eigenen, historischen Standpunktes; es bezieht auch die Bereitschaft mit ein, die eigene wissenschaftliche Position dort, wo es im Laufe des Fortganges der Reflexion geboten erscheint, zu destruieren und neu zu formulieren, und das nicht nur im Sinne eines steten Positionswechsels, wie ihn beispielsweise Michel Foucault fortlaufend vorgenommen hat, sondern auch und gerade im Hinblick auf die explizite Widerlegung des eigenen Standpunktes. Dies geht allerdings nur, wenn dieser Standpunkt zuvor in eine widerlegbare Form gebracht wurde. So hat der auch in den historischen Kulturwissenschaften häufig zitierte Philosoph Arthur C. Danto wohl zu Recht darauf hingewiesen, dass Carl G. Hempel 1946 zeigen konnte, dass bestimmte, in seiner Logik mögliche Schlüsse der logischen Intuition widersprachen, mithin Grundpfeiler des wissenschaftlichen Programms, dem Hempel selbst sich verpflichtet sah, durch Hempel niedergerissen worden waren.26 Danto bemerkte hierzu wohl zu Recht:
„Es handelte sich
um philosophische Kritiken von einer fast atemberaubenden die eines Eintrags in die Enzyklopädie der Widerlegung würdig Scharfsinnigkeit, wären Wenn die Dekonstruktion als philosophische Position auch nur gewesen [...]. einen einzigen so starken Beitrag leisten würde wie eine dieser Kritiken, würde jeder analytische Philosoph der Welt die Dekonstruktion ernst nehmen; doch im Gegensatz zu Hempels Argumenten ist so etwas wie der gegen Husserl erhobene
Quine, Willard van Orman, Two Dogmas of Empiricism, in: The Philosophical Review, Jg. 60 (1951), S. 20-43; ders., From a Logical Point of View (9 Logico-Philosophical Essays), Cambridge 1953; ders., Word and Object, New York 1960. Beckermann, Einleitung (wie Anm. 14), S. 8. Diese Liste könnte im Übrigen um weitere Autoren wie etwa Paul Grice oder John Searle ergänzt werden. Es handelt sich dabei um die Aufsätze: Hempel, Carl G., A note on the paradoxes of confirmation, in: Mind, Jg. 55 (1946), S. 79-82; ders., The theoretician's dilemma, in: Minnesota Studies in the Philosophy of Science, Vol. 2, hrsg. von Feigl, Herbert/ Scriven, Michael/ Maxwell, Grover, Minneapolis 1958, S. 37-98.
Analytische Philosophie, Wissenschaftstheorie und Methodologie Vorwurf der
,Präsenzmetaphysik' mittelmäßigen lycée gehört."27
ein
Argument,
17
das in die classe terminale eines
Insofern dürfen auch die weiterhin bestehenden Unterschiede zwischen analytischem und kontinentalem Denken nicht vorschnell aufgehoben werden.28 Zu Recht hat etwa Ansgar Beckermann darauf hingewiesen, dass die analytische Philosophie an grundsätzlichen Rationalitätsstandards festhält:
„Die Analytische Philosophie hält in der Tat Rationalität und Vernunft nicht für historisch kontingent. Es scheint ihr unvernünftig anzunehmen, dass Descartes' Gottesbeweise zu seiner Zeit ganz in Ordnung waren, für uns heute aber ihre Gültigkeit verloren haben. Es kann in ihren Augen nicht sein, dass Piaton zu seiner Zeit mit seiner Ideenlehre Recht hatte, während diese Position schon für Kant nicht mehr gültig war. [...] Und ein Widerspruch ist ein Widerspruch nicht nur ein Widerspruch für die Anhänger der Transzendentalphänomenologie oder der -
Phänomenologie."29 Damit geht selbstverständlich ein Festhalten am Wahrheitsbegriff einher, der beispielsweise nicht auf die Akzeptanz einer Aussage durch eine angebbare Referenzgruppe an Menschen reduziert wird. Die Vorstellung, dass Wissenschaftler sich im Gespräch auf die gleiche Wahrheit außerhalb ihres erkennenden Geistes beziehen, ist, wie John R. Searle festgestellt hat, eine der grundlegendsten Voraussetzungen des Gesprächs, auch des wissenschaftlichen, überhaupt: „Das einzige, was man zur Verteidigung' des Realismus vorbringen kann, ist, dass er
27
die
Voraussetzungen unserer sprachlichen und anderen Praktiken darstellt.
Man
Arthur C, Niedergang und Ende der analytischen Geschichtsphilosophie, in: Der Sinn des Historischen. Geschichtsphilosophische Debatten, hrsg. von Nagl-Docekal, Herta, Frankfurt/Main 1996, S. 126-147, hier S. 127-128. Kursive im Original. (Den Vorwurf der Präsenzmetaphysik gegen Husserl erhob Derrida, Jacques, Die Stimme und das Phänomen. Ein Essay über das Problem des Zeichens in der Philosophie Husserls, Frankfurt/Main 1979, frz. u.d.T.: La voix et le phénomène. Introduction au problème du signe dans la phénoménologie de Husserl, Paris 1967.) Vgl. auch die Selbsteinschätzung Georg Meggies, der bei Franz von Kutschera über Kommunikation promovieren und dabei zunächst umgangssprachlich, d.h. ohne intensivere logische Arbeit, vorgehen wollte: „Als mir Kutschera vorführte, wie falsch meine Annahme ist, brach eine Welt zusammen. Seitdem weiß ich, wie radikal Paradigmenwechsel sein können." Meggle, Georg, Mein Weg zur Analytischen Philosophie, in: was die Welt im Innersten zusammenhält. 34 Wege zur Philosophie, hrsg. von Hauskeller, Christine/ Hauskeller, Michael, Hamburg 1996. Zitat aus der on-
Danto,
...
line-Fassung
28
29
(27.02.2008).
unter
http://www.uni-leipzig.de/~philos/meggle/&publikationen/1996d.pdf
Überwindung dieser „ärgerlichen" Spaltung der analytischen Philosophie (wie Anm. 9). Beckermann, Einleitung (wie Anm. 14), S. 9-10. Für eine
plädiert jedenfalls Bieri, Was bleibt von
Andreas
18
Frings, Johannes Marx
kann nicht, ohne sich zu widersprechen, den Realismus leugnen und zugleich seinen gewöhnlichen Alltagspraktiken nachgehen, weil der Realismus die Bedingung der normalen Verständlichkeit dieser Praktiken ist. Man kann sich dies vor Augen führen, indem man über irgendeine Art von Alltagskommunikation nachdenkt. Nehmen wir zum Beispiel an, ich rufe meinen Automechaniker an, um herauszufinden, ob der Vergaser repariert ist; oder ich rufe den Arzt an, um die Ergebnisse meiner letzten ärztlichen Untersuchung zu erfahren. Nehmen wir nun an, ich habe einen dekonstruktivistischen Automechaniker erwischt, und er versucht mir zu erklären, dass ein Vergaser sowieso nur ein Text ist und dass es nichts gibt, worüber zu reden wäre außer der Textualität des Textes. Oder nehmen wir an, ich habe einen postmodemistischen Arzt erwischt, der mir erklärt, dass Krankheit wesentlich ein metaphorisches Konstrukt ist. Was man auch sonst noch über diese Situationen sagen kann, eines ist klar: die Kommunikation ist zusammengebrochen. Die normalen Voraussetzungen hinter unserer praktischen Alltagskommunikation und a fortiori hinter unserer theoretischen Kommunikation erfordern die Voraussetzung des vorherigen Vorhandenseins einer Realität für ihre normale Verständlichkeit. Gestehen Sie mir die Annahme zu, dass diese Arten von Kommunikation zwischen Menschen auch nur möglich sind, dann werden Sie sehen, dass Sie die Voraussetzung einer unabhängig existierenden Realität brauchen. Eine öffentliche Sprache setzt eine öffentliche Welt voraus. Realismus funktioniert nicht als eine These, Hypothese oder Voraussetzung. Er ist vielmehr die Bedingung der Möglichkeit einer bestimmten Reihe von Praktiken, insbesondere sprachlicher Praktiken."30
Mit solch grundlegenden Annahmen (weitere werden in diesem Band diskutiert) kann die analytische Philosophie auch dazu beitragen, mit grundlegenden Missverständnissen aufzuräumen, die die inter- und transdisziplinäre Arbeit in den Kulturwissenschaften zu behindern droht. Interdisziplinarität lebt von sprachlicher Verständigung; und sich kulturwissenschaftlich verstehende Wissenschaftler loben in der Regel insbesondere auch diese Interdisziplinarität oder gar Transdisziplinarität
30
Searle, John R., Rationalität und Realismus oder Was auf dem Spiel steht, in: Merkur, Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Jg. 48 (1994), S. 377-391, hier S. 391. Damit soll keineswegs gesagt sein, dass analytisches Philosophieren unbedingt an einer realistischen Auffassung von Wahrheit orientiert sein muss. Hierüber gibt es auch in der analytischen Philosophie große Differenzen. Vgl. etwa den beeindruckenden und für historische Kulturwissenschaften unbedingt lesenswerten, antirealistischen Entwurf einer Semantik der Vergangenheitsform von Dummett, Michael, Wahrheit und Vergangenheit, Frankfurt/Main 2005, sowie den hierauf bezogenen Aufsatz von Tolksdorf, Stefan, Semantik der Vergangenheit in einer rechtfertigungsorientierten Sprachphilosophie, in: Deutsche Zeitschrift für Philoso-
phie, Jg. 56 (2008), S. 35-51.
Analytische Philosophie, Wissenschaftstheorie und Methodologie
19
Proprium kulturwissenschaftlicher Arbeit.31 Kulturwissenschaft sei ein Unterfangen, das nicht nur Fächer in einem vorher nicht gekannten (und über wissenschaftliche Arbeitsteilung hinausgehenden) Maß zusammenbringe, etwa indem fachwissenschaftliche Fragen über etablierte disziplinäre Grenzen hinaus getrieben würden, bis endlich Fragekomplexe entstünden, die das im Rahmen eines Faches Fragbare deutlich transzendierten, sondern gleichzeitig durch eben diese Grenzüberschreitungen die Fächer- und Disziplinengrenzen selbst in Frage stelle. Auf welchen Fundamenten diese Inter- und Transdisziplinarität beruht, ist jedoch alles andere als klar.32 In einem Projekt Kulturwissenschaften, in dem unter anderem die wissenschaftstheoretischen Vorstellungen Thomas S. Kuhns und Paul Feyerabends von der Inkommensurabilität unterschiedlicher theoretischer Ansätze verbreitet sind33, genießt die Idee, man könne sich vielleicht doch auf gemeinsame Grundannahmen einigen, wenig Ansehen; sie steht meist unter HegemonieVerdacht. Wissenschaftstheorie als eine Theorie, die grundsätzlich etwas über den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess in allen Wissenschaften zu sagen vermag und dabei auch Spezifika einzelner wissenschaftlicher Kontexte zu reflektieren vermag, ist nicht gerade in Mode. Im Gegenteil: Unter Berufung auf die Inkommensurabilitätsthesen von Kuhn und Feyerabend wird daran festgehalten, dass unterschiedliche als
Theorien weder miteinander vermittelbar noch ineinander übersetzbar sind und
31
32
Gerade die analytische Philosophie könnte diese Art von interdisziplinären Gesprächen sehr befördern. Ihr „argumentativer, dialogorientierter Charakter" (Löffler, Analytische Philosophie als rationales Verfahren (wie Anm. 22), hier S. 77) ist Ausdruck eines grundsätzlich verständigungsorientierten Wissenschaftsverständnisses. Das diesem Band und der Tagung zugrunde liegende Verständnis von Interdisziplinarität setzt keinesfalls die Existenz disziplinärer Grenzen voraus. Im traditionellen Verständnis von Interdisziplinarität werden Disziplinen mit jeweils eigenen Erkenntnisinteressen, Methoden und Theorien vorausgesetzt, die sich zusammen finden, um ein Problem zu lösen, wobei diese Lösung mehrere disziplinäre Perspektiven voraussetzt. Wir gehen vielmehr davon aus, dass zumindest die meisten Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften von einem gemeinsamen Erkenntnisproblem, dem sozial handelnden Menschen, ausgehen und im Kern die gleichen theoretischen Grundannahmen und theoretischen Probleme teilen dürften. Vor diesem Hintergrund haben die jeweiligen Disziplinen dann jedoch tatsächlich besondere Stärken ausgeprägt, die sie für spezifische Erklärungsprobleme vorbereiten. Dem dürften viele Kulturwissenschaftler zustimmen. Aus unserer Sicht werden die grundlegenden theoretischen Implikationen dieser Vorgehensweise jedoch zu selten thematisiert. Die Orientierung an der analytischen Philosophie hat daher auch viel damit zu tun, dass diese viel vehementer als etdie kontinentale Philosophie an jener methodologischen Einheit der Disziplinen festgehalhat, die nach den gemeinsamen Grundlagen (und nicht den „unübersetzbaren", inkommensurablen Unterschieden) verschiedener Disziplinen fragt. Dass Kuhns und Feyerabends Konzepte das interdisziplinäre Gespräch eigentlich verhindern, jedoch nicht tragfähig sind, ist auch das Thema von Andersson, Gunnar, Inkommensurabilität und Interdisziplinarität, in: Realismus, Disziplin, Interdisziplinarität, hrsg. von Aleksandrowicz, Dariusz/ Ruß, Hans Günther, Amsterdam 2001, S.57-71. wa
ten
33
Andreas
20
Frings, Johannes Marx
auch nicht in das Korsett der jeweils anderen Theorie gepresst werden sollten. Diese Annahme macht jedoch nicht nur das interdisziplinäre, sondern im Grunde schon das disziplinäre Gespräch zu einem hoffnungslosen Unterfangen. Wie das kleine Gedankenexperiment von Searle aber schon gezeigt hat, müssen wir grundlegende Annahmen teilen, um überhaupt in einem gemeinsamen Gespräch zu stehen und nicht bloß Laute auszutauschen. Erleichtert wird die interdisziplinäre Verständigung wohl dadurch, dass die Inkommensurabilitätsthese logisch von Donald Davidson zurückgewiesen wurde: Die Behauptung, zwei Theorien seien zueinander inkommensurabel, setze ihrerseits einen Standpunkt voraus, von dem aus man dieses Urteil überhaupt fallen könne; und die Existenz eines solchen Standpunktes strafe die Inkommensurabilitätsthese bereits Lügen34. Dass Kuhns und Feyerabends historisch-kritische Vorgehensweise, die unterschiedliche Theorien vergleichend nebeneinander stellt, bereits selbst ein deutlicher Beleg für die gerade nicht vorhandene grundsätzliche Inkommensurabilität verschiedener Theorien ist, könnte ergänzt werden.
Die Beiträge Insofern verstehen wir den vorliegenden Band als eine Sammlung von kritischen Reflexionen zur Theorie, Methodologie und Praxis der Kulturwissenschaften aus im weitesten Sinne analytischer Perspektive, also von Beiträgen, die um die Herausarbeitung von Implikationen, von theoretischen und methodischen Grundlagen kulturwissenschaftlichen Arbeitens, um die kritische Reflexion historischkulturwissenschaftlicher Arbeit bemüht sind. Es handelt sich dabei gleichzeitig um ein Grundlagenprojekt, das grundlegende Überlegungen allenfalls zu skizzieren vermag. Aus der Diagnose einer fehlenden Wissenschaftstheorie der Kulturwissenschaften folgt, dass eine Synthese oder zumindest eine einheitliche, systematische Entwicklung der Probleme und ihrer Lösungen bisher nicht möglich ist. Es kann hier daher nur darum gehen, Positionen vorzustellen, die möglicherweise gemeinsame Probleme der Kulturwissenschaften benennen und eine Antwort zu formulieren suchen. Gemeinsam ist allen Beiträgen jedoch die Überzeugung, dass auch kulturwissenschaftliches Forschen am einzelnen, handelnden Menschen ansetzen muss. Sie sind insofern durchweg einem methodologischen Individualismus verpflichtet, der zwar soziale oder kulturelle Sachverhalte ontologisch anerkennt und als Explanandum in den Mittelpunkt stellt, seine theoretische Fundierung aber gleichzeitig auf der Ebene individuellen Handelns sucht. Das ist in der kulturwissenschaftlichen Diskussion keineswegs selbstverständlich; schlimmer noch: Die Differenzierung zwi34
Vgl. einschlägig Davidson, Donald, Was ist eigentlich ein Begriffsschema?, Wahrheit und Interpretation, Frankfurt/Main 1999, S. 261-282.
in:
ders.,
Analytische Philosophie, Wissenschaftstheorie und Methodologie
21
sehen einem methodologischen Kollektivismus resp. Holismus in der Tradition Émile Durkheims und einem methodologischen Individualismus, wie er lange Zeit vor allem in der ökonomischen Methodik gepflegt wurde, wird in den kulturwissenschaftlichen Theoriediskussionen kaum genutzt, um unterschiedliche Positionen klar voneinander abzugrenzen.35 Aus unserer Sicht (und das erklärt die gemeinsame Ausrichtung aller Beiträge in dieser Frage, sofern sie thematisiert wird) ist eine Erklärung, die auf der Ebene kultureller Strukturen verbleibt und ihnen womöglich gar Eigengesetzlichkeiten zuschreibt, unvollständig, da sie weder den Wandel kultureller Strukturen noch ihre Heterogenität zu erklären vermag. Hansjörg SIEGENTHALER, einer der profiliertesten deutschsprachigen Wirtschaftshistoriker, hat sich in den letzten Jahren mehrfach zu den Berührungspunkten zwischen Wirtschafts- und Kulturgeschichte sowie neoklassischer Ökonomik und Hermeneutik geäußert.36 Während er dort jedoch die nomologische Annahme subjektiver Handlungsrationalität, die Kern der analytischen wie auch der ökonomischen Handlungstheorie ist, zur Grundlage historischen Arbeitens erklärt, nutzt er diese Rationalitätsannahme hier gleich in zweifacher Weise. Zum einen, so Siegenthaler, lässt sich die wechselseitige Rationalitätsunterstellung als Vorbedingung jeden interdisziplinären Gesprächs verstehen. Zum anderen greifen selbst so unterschiedliche Disziplinen wie Wirtschafts- und Kulturgeschichte in ihrer praktischen Arbeit unweigerlich auf diese Rationalitätsunterstellung zurück, um das Handeln 35
Stattdessen lassen sich eher Hinweise auf vermeintlich vermittelnde Positionen wie etwa die Pierre Bourdieu oder von Anthony Giddens finden. Aus der Perspektive der metatheoretischen Diskussion um methodologischen Individualismus resp. Kollektivismus bieten beide Autoren keine Lösung für diese fundamentale Entscheidung; Pierre Bourdieu wäre jedoch eher der Position eines methodologischen Individualismus zuzurechnen (auch wenn sein Werk in dieser Frage nicht immer eindeutig zu lesen sein dürfte), während Anthony Giddens das Problem missversteht. Vgl. zum methodologischen Individualismus Albert, Hans, Methodologischer Individualismus und historische Analyse, in: Teil und Ganzes. Zum Verhältnis von Einzel- und Gesamtanalyse in Geschichts- und Sozialwissenschaften, hrsg. von Acham, Karl/ Schulze, Winfried, München 1990, S. 219-239; Vanberg, Viktor, Die zwei Soziologien. Individualismus und Kollektivismus in der Sozialtheorie, Tübingen 1975; Bohnen, Alfred, Handlungsprinzipien oder Systemgesetze. Über Traditionen und Tendenzen theoretischer Sozialerkenntnis, Tübingen 2000; Raub, Werner/ Voss, Thomas, Individuelles Handeln und gesellschaftliche Folgen. Das individualistische Programm in den Sozialwissenschaften, Darmstadt 1981; Weede, Erich, Mensch und Gesellschaft, Soziologie aus der Perspektive des methodologischen Individualismus, Tübingen 1992. Vgl. Siegenthaler, Hansjörg, Geschichte und Ökonomie nach der kulturalistischen Wende, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 25 (1999), S. 276-301; ders., Theorienvielfalt in den Geschichtswissenschaften und die besondere Aufgabe der Ökonomie, in: Kulturalismus, neue Institutionenökonomik oder Theorienvielfalt. Eine Zwischenbilanz der Unternehmensgeschichte, hrsg. von Hesse, Jan-Otmar u.a., Essen 2002, S. 161-173; ders. (Hg.), Rationalität im Prozess kultureller Evolution. Rationalitätsunterstellungen als eine Bedingung der Möglichkeit substantieller Rationalität des Handelns, Tübingen 2005. von
36
Andreas Frings, Johannes Marx
22
Menschen in der Vergangenheit zu erklären, so dass die Rationalitätsunterstellung auch als inhaltlicher Anknüpfungspunkt für das interdisziplinäre Gespräch genutzt und fruchtbar gemacht werden kann. Problematisch ist jedoch aus seiner Sicht die empirische Leere dieser Unterstellung, die einen Übertrag auf die systemivon
sche Ebene wechselseitig aufeinander bezogenen Handelns schwierig macht; zur Füllung dieser Lücke empfiehlt Siegenthaler den Brückenschlag zu einem weiteren Forschungskontext, der modernen Biologie und Anthropologie. ANDREAS HÜTIG hat auf der Mainzer Tagung die selbst formulierten Erkenntnisziele und -ansprüche der Kulturwissenschaften, wie sie beispielsweise in den entsprechenden Einführungen und Überblicksdarstellungen zum Ausdruck kommen, zusammengestellt und das kulturwissenschaftliche Theorie- und Methodenarsenal daraufhin untersucht, ob es diesen Ansprüchen gerecht werden kann.37 Das Fazit ist nüchtern: Manche Ansprüche sind weit höher gesteckt, als gegenwärtig erreicht werden kann. Mit Hilfe dieser Analyse lassen sich die „Hausaufgaben"
kulturwissenschaftlicher Reflexion klarer als bisher benennen. So werden etwa weitreichende Erkenntisinteressen postuliert, ohne dass entsprechende methodologische Diskussionen darüber geführt würden, wie diese Interessen am ehesten zu erreichen seien. Am Beispiel einer möglichen kulturwissenschaftlichen Position zur Begriffsbildung zeigt Andreas Hütig, wie diese Lücken möglicherweise gefüllt
werden könnten. RÜDIGER Graf plädiert in seinem Beitrag für eine historische Arbeitsweise, die zwar an der Wahrheit historischer Aussagen orientiert bleibt, diese aber nicht am bereits etablierten Erkenntnisstand ausrichtet, der insofern sakrosankt wäre. Stattdessen fordert er, Alternativen zu denken, also danach zu schauen, ob ein historischer Prozess, der bisher auf eine schon stereotype Weise beschrieben wird, nicht auch anders (und auf diese Weise vielleicht besser) beschrieben werden könnte. Die Argumentation entwickelt er entlang einer klaren Ablehnung des von Harry G. Frankfurt beschriebenen Typus des „bullshit" (einer Aussage, die vorgibt, Wahres zu sagen, auch wenn der Aussagende sich gar nicht ernsthaft um die Wahrheitsbedingungen der Aussage kümmert), dem er Richard Rortys Konzept der Ironie entgegenhält: eine Haltung, die der eigenen Beschreibung und Sprache Misstrauen entgegenbringt und unterstellt, dass jede Geschichte auch anders erzählt werden 37
An
eigenen kulturwissenschaftlichen und kulturphilosophischen Beiträgen wären zu nennen:
Gerlach, Hans-Martin/ Hütig, Andreas/ Immel, Oliver (Hg.), Symbol, Existenz, Lebenswelt. Kulturphilosophische Zugänge zur Interkulturalität, Frankfurt/Main u.a. 2004; HüTIG, Andreas, Kultur als Selbstbefreiung des Menschen. Kulturalität und kulturelle Pluralität bei Ernst Cassirer, in: ebenda, S. 121-138, ders., Ernst Cassirer Leben und Werk eines europäischen Denkers, in: Zblizenia Polska-Niemcy, Jg. 36 (2003), S. 143-156; ders., Von der -
Kritik der Vernunft zur Kritik der Kultur. Cassirers Transformation der Philosophie, in: Vernunft der Aufklärung Aufklärung der Vernunft, hrsg. von Broese, Konstantin/ Hütig, Andreas/ Immel, Oliver/ Reschke, Renate, Berlin 2006, 267-278. -
Analytische Philosophie, Wissenschaftstheorie und Methodologie
23
könnte.
Rüdiger Graf möchte dabei jedoch gerade nicht den Wahrheitsbegriff aufgeben (und hier greift er Aspekte der zwischen Richard Rorty und Donald Davidson geführten Diskussion um den Wahrheitsbegriff auf38); ironische Ge-
schichtswissenschaft ohne ein Festhalten an einem warnenden Verständnis von Wahrheit würde eben wieder in Bullshit enden. Es ist gerade die Vorstellung, dass auch andere als die etablierten Erzählungen über Vergangenes wahr sein könnten, die die ironische Haltung rechtfertigen. THOMAS SPITZLEY skizziert in seinem Beitrag die grundlegenden Argumentationslinien der Handlungs- und Bedeutungstheorie Donald Davidsons.39 Er rückt damit einen Denker in den Mittelpunkt, der wohl mit Recht zu den bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts gezählt werden muss. In den Kulturwissenschaften wird er derzeit zwar kaum rezipiert; in der Philosophie wird er jedoch weit über den analytischen Zweig hinaus gelesen und diskutiert. Donald Davidson hat sich in einer größeren Zahl Fragen der Handlungserklärung, der Bedeutungstheorie, der Interpretation und der Wahrheit genähert und dabei gezeigt, dass die Interpretation von Bedeutungen und die Erklärung von Handlungen so miteinander verschränkt sind, dass sie gegenseitig erst eine gültige Interpretation möglich machen. Grundlage dieser Interpretation ist eine Rationalitätsunterstellung, auf die sich in diesem Band auch Hansjörg Siegenthaler, Oliver R. Scholz, Rüdiger Graf, Johannes MARX und Andreas FRINGS beziehen. Mit dieser von Willard van Orman Quine geprägten holistischen Sichtweise hat er eine sprach- und handlungsphilosophische Diskussion ins Rollen gebracht, die in der deutschsprachigen Philosophie in den letzten Jahren sehr lebendig ist. Die Rezeption Donald Davidsons in den deutschsprachigen Kulturwissenschaften, für die Thomas Spitzley plädiert, steht leider noch aus, könnte die kulturwissenschaftliche Reflexion aber stark voranbringen. Oliver ROBERT SCHOLZ hatte bereits in seiner Habilitationsschrift „Verstehen und Rationalität"40 eine Integration unterschiedlicher hermeneutischer Richtungen 38
39
40
Über Konsequenzen
aus Donalds Davidsons Philosophie für das Problem der historischen Wahrheit sowie der historischen Diskursanalyse vgl. auch Graf, Rüdiger, Interpretation, Truth, and Past Reality. Donald Davidson Meets History, in: Rethinking History, Jg. 7 (2003), S. 387^402 [eine Replik auf Jankins, Keith: On Disobedient Histories, in: ebenda, S. 367-85]; ders., Diskursanalyse und radikale Interpretation. Davidsonianische Überlegungen zu Grenzen und Transformationen historischer Diskurse, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jg. 16 (2006), S. 67-86. Ergänzend auch Spitzley, Thomas, Zur Rationalitätsannahme bei Davidson, in: Pragmatische Rationalitätstheorien, hrsg. von WÜSTEHUBE, AXEL, Würzburg 1995, S. 205-221; ders., Is There a Rational Will?, in: Vernunftbegriffe in der Moderne. Stuttgarter Hegel-Kongreß 1993, hrsg. von Fulda, Hans Friedrich/ Horstmann, Rolf-Peter, Stuttgart 1994, S. 461478. Scholz, Oliver R., Verstehen und Rationalität. Frankfurt 1999 (2., durchgesehene Auflage 2001); vgl. zu diesem Thema auch ders., Wahrheitshintergrund und Interpretation. In: Studia
Andreas Frings, Johannes Marx
24
analytischer Perspektive vorgestellt, die die „Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens", die hermeneutische Grundfrage, im Rückgriff auf Hermeneutiken der Aufklärung und die analytische Sprach- und Handlungsphilosophie neu beantwortete. Auf der Mainzer Tagung hat er die Konsequenzen dieser Analysen für eine aus
Rekonstruktion dessen, was Historiker tun, wenn sie historische Sachverhalte erklären, vorgeführt. Auch für Historiker, so sein Fazit, gelten hermeneutische Präsumptionsregeln, die etwa die Rationalität des zu Verstehenden voraussetzen, da Verstehen ansonsten scheitert. Insbesondere die Rationalitätsannahme lässt sich dabei als normische Gesetzeshypothese rechtfertigen, d.h. auch als empirisch in der Regel zutreffende Annahme. Andreas Frings geht von der allerorten geteilten und weitgehend unstrittigen (da sehr allgemeinen) Feststellung aus, dass Historiker „erklären, indem sie erzählen", und fragt danach, was dies denn genau bedeuten könne: Ist dieses narrative Erklären etwas völlig anderes als ein kausales Erklären und diesem gleichwertig nebenangestellt, oder handelt es sich um eine spezifische Form des kausalen Erklärens? Er plädiert für letzteres und zeigt, dass die grundsätzlich notwendige Berücksichtigung individuellen Handelns in der historischen Analyse zum einen handlungstheoretisch bewältigt werden kann (was eine kausale Erklärung ermöglicht) und gleichzeitig spezifisch narrative Aspekte (Zeitlichkeit, handelnde Personen) nach sich zieht (was diese Erklärung notwendigerweise narrativ macht).41 Genauer: Narrative Erklärungen sind kausale Erklärungen, und kausale Erklärungen im Bereich möglicher Explananda eines historisch arbeitenden Wissenschaftlers sind, wenn sie Vollständigkeit anstreben, narrative Erklärungen. Um diese These zu untermauern, grenzt er sie von alternativen Verständnissen einer narrativen Erklärung (Hayden White, Frank Ankersmit, David Carr) ab.
philosophica, Jg. 58 (1998), S. 27-54; ders., Wie versteht man eine Person? Zum Streit über die Form der Alltagspsychologie, in: Analyse & Kritik, Jg. 21 (1999), S. 75-96; ders., Rationalitätshintergrund, Interpretation und Verstehen, in: Die Zukunft des Wissens, hrsg. von
Mittelstrab, Jürgen, Konstanz 1999, S. 169-176; ders., Präsumtionen, Rationalität und Verstehen, in: Rationalität, Realismus, Revision, hrsg. von Nida-Rümelin, Julian, Berlin/ New York 1999, S. 155-163; ders., Semiotik und Hermeneutik, in: Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, hrsg. von Posner, Roland/ Robering, Klaus/ Sebeok, Thomas A., Berlin/ New York 2000, S. 2511-2561. Weitere für Kulturwissenschaftler lohnenswerte Veröffentlichungen wären ders., Bild, Darstellung, Zeichen. Freiburg/ München 1991 (2., vollständig überarbeitete Auflage, Frankfurt 2004); ders./ Ernst, Gerhard/ Steinbrenner, Jakob (Hg.), Symbole, Systeme, Welten. Studien zur Philosophie Nelson Goodmans, Heidelberg 2005. Vgl. dazu auch Frings, Andreas, Rationales Handeln und historische Erklärung. In: Journal for General Philosophy of Science/ Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie (2007) 1, S. 31-56.
Analytische Philosophie, Wissenschaftstheorie und Methodologie
25
JOHANNES MARX führt in seinem Beitrag vor, dass die Ökonomie Instrumente bereithält, mit denen der Einfluss von Kultur auf das Handeln von Individuen kausal erklärt werden kann. Das erfordert aber ein Verständnis von ökonomischer Methodik, das eben nicht mehr (wie im „analytischen" Zweig) auf elegante Modellbildung, sondern (wie im „empirischen" Zweig) auf empirische Rekonstruktion abzielt. Das Konzept der „sozialen Produktionsfunktionen", das von europäischen Soziologen (Siegwart Lindenberg, Hartmut Esser) im Anschluss an Gary Becker ist hierfür insofern geeignet, als es eine theoretische Herleitung empirisch prüfbarer Hypothesen über die situativen Bedingungen individueller Handlungsentscheidungen erlaubt. Es erklärt, wieso Kultur (verstanden als Set von Normen) Handlungsspielräume definiert und strukturiert und so einen wichtigen Einfluss auf Hand-
lungsentscheidungen hat.42
KARL ACHAM schließlich ist einer der wenigen Sozialphilosophen im deutschsprachigen Raum, der in seinem gesamten Forschen konsequent über die Diszipli-
nengrenzen hinweg gearbeitet hat und das sowohl systematisch43 als auch (und das in den letzten Jahren in zunehmendem Maße) historisch44. Als einer der ersten -
42
43
44
mit ähnlicher Zielrichtung Faust, Jörg/ Marx, Johannes, Zwischen Kultur und Kalkül? Vertrauen und Sozialkapital im Kontext der neoinstitutionalistischen Wende, in: Swiss Political Science Review, Jg. 10 (2004), S. 29-55; Frings, Andreas/ Marx, Johannes, Wenn Diskurse baden gehen. Eine handlungstheoretische Fundierung der Diskursanalyse, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jg. 16, S. 81-105. Vgl. etwa ACHAM, Karl (Hg.), Gesellschaftliche Prozesse. Beiträge zur historischen Soziologie und Gesellschaftsanalyse, Graz 1983; ders./ Schulze, Winfried (Hg.), Teil und Ganzes. Zum Verhältnis von Einzel- und Gesamtanalyse in Geschichts- und Sozialwissenschaften, München 1990; ders. (Hg.), Geschichte und Sozialtheorie. Zur Komplementarität kulturwissenschaftlicher Erkenntnisorientierungen, Freiburg i.Br./ München 1995; ders., Zur Komplementarität von historischer und theoretischer Arbeit in Philosophie und Sozialwissenschaften, in: Dialogisches Handeln. Eine Festschrift für Kuno Lorenz, hrsg. von Astroh, Michael/ Gerhardus, Ditfried/ Heinzmann, Gerhard, Heidelberg/ Berlin/ Oxford 1997; ders., Die geisteswissenschaftliche Perspektive in der soziologischen Theorie, in: Die Geisteswissenschaften im Spannungsfeld zwischen Moderne und Postmoderne, hrsg. von Reinalter, Helmut/ Benedikter, Roland, Wien 1998, S. 199-219; ders., Grenzen des Verstehens. Überlegungen im Anschluss an Max Weber, Karl Jaspers und Heinrich Gomperz, in: Grenzen des Verstehens. Philosophische und humanwissenschaftliche Perspektiven, hrsg. von Kühne-Bertram, Gudrun/ Schultz, Gunter, Göttingen 2002, S. 197-216. Vgl. etwa Acham, Karl/ Nörr, Knut Wolfgang/ Schefold, Bertram (Hg.), Erkenntnisgewinne, Erkenntnisverluste. Kontinuitäten und Diskontinuitäten in den Wirtschafts-, Rechtsund Sozialwissenschaften zwischen den 20er und 50er Jahren, Stuttgart 1998; Acham, Karl (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften, 6 Bände, Wien 1999-2004; ders. (Hg.), Unbehagen und Ambivalenzen in Kultur und Politik, Wien 2003; ders., Die „kulturelle" Krise der Gesellschaft um 1900 und die Genese der Sozialwissenschaften, in: Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse. Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung
Vgl.
um
1900, hrsg. von Drehsen, Volker/ Sparn, Walter, Berlin 1996, S. 39-67.
Andreas Frings, Johannes Marx
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sich um eine Rezeption der angelsächsischen, analytischen Geschichtsphilosophie im deutschsprachigen Raum verdient gemacht.45 Im vorliegenden Band nimmt er im Grunde eine Gegenposition ein und stellt den hier überwiegend entwickelten analytischen Perspektiven auf das historische Arbeiten ein eher klassisch zu nennendes, ideographisch-erzählendes Verständnis der Geschichtsschreibung entgegen, das sich nomologischen Annahmen auf der Makroebene gesellschaftlichkultureller Strukturen wie auf der Mikroebene individuellen Handelns widersetzt. hat
er
Dank und Ausblick Diese Tagung wäre ohne das finanzielle Engagement der Gerda Henkel-Stiftung sicher nicht zustande gekommen. Dass die Gerda Henkel-Stiftung eine Tagung fördert, die nicht gerade in den Mainstream der geistes- und kulturwissenschaftlichen Diskussionsstränge gehört, ehrt sie. Danken möchten wir auch dem Historisch-Kulturwissenschaftlichen Forschungszentrum Mainz-Trier, das unsere Tagungsidee begrüßt und die eigene Infrastruktur zur Werbung bereitgestellt hat, und persönlich Frau Dreyer, die uns mit einer konstruktiv-kritischen Zusammenfassung unterstützt hat, sowie Jan Kusber, der einen Tag lang die Moderation übernommen hatte. Geholfen haben auf der Tagung selbst und während der Vorbereitung dieses Bandes auch Carina Schmitt, Jürgen Sirsch, Doris Unger und Sofie Jedinger. Ein letzter Dank gilt schließlich dem Land Rheinland-Pfalz und der Johannes Gutenberg-Universität, deren Zuschüsse den Druck dieses Bandes überhaupt erst möglich gemacht haben. „Die Analytische Philosophie in dem Sinne, in dem dieser Ausdruck in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstanden wurde, ist passé. Die traditionelle Analytische Philosophie ist lautlos untergegangen"46, so resümierte Ansgar Beckermann den aus dieser Perspektive vielleicht doch nicht als Siegeszug zu beschreibenden Entwicklungsweg der analytischen Philosophie. Höchst lebendig ist hingegen die analytische Philosophie in ihrer um einigen Ballast erleichterten modernen Gestalt, und sie hat in vielen Feldern Fragen aufgegriffen, die für historisch-kulturwissenschaftliches Arbeiten große Relevanz besitzen. Eine Rezeption dieser Ansätze ist aus unserer Sicht überfällig. Sollte der vorliegende Band hierzu einen Beitrag leisten, wäre viel erreicht. -
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Vgl. Acham, Karl, Analytische Geschichtsphilosophie. Eine kritische Einführung, Freiburg i.Br./München 1974.
Beckermann, Einleitung (wie Anm. 14), S. 6.
Hansjörg Siegenthaler Theorienvielfalt in den Geschichtswissenschaften und die Heuristik der Rationalitätspräsumption
1. Die klassische bzw. wie ich in Anlehnung an Gepflogenheiten der Ökonomie sagen möchte neoklassische Hermeneutik hält für unverzichtbar, dem Autor eines Textes „Rationalität" zu unterstellen: Konsistenz, d. h. Widerspruchsfreiheit all seiner Äußerungen1. Wer Rationalität unterstellt, geht davon aus, dass der Autor keine Dinge sagt, die sich widersprechen, und wenn sie sich zu widersprechen scheinen, dann ist es die Aufgabe des Interpreten, nach Deutungen zu suchen, die die Widersprüche beseitigen. Ohne Rationalitätsunterstellung gelingt es häufig nicht, den ganzen Sinn zu bestimmen, den eine Aussage beinhaltet. Die Rationalitätsunterstellung erlaubt es dem Interpreten, von allem, was er vom Text unmittelbar versteht, auf das zu schließen, was er zunächst nicht versteht. Ein Beispiel: Ein Kind kommt zu spät von der Schule nach Hause. „Der Lehrer hat mich gestraft, deshalb komme ich zu spät", sagt es, und mehr nicht. Über den Charakter der Strafe sagt es nichts. Doch weil es die Strafe als Grund für die Verspätung bezeichnet, kann man, sofern man ihm Rationalität unterstellt, auf den mutmaßlichen Charakter der Strafe schließen: Das Kind hat wohl nachsitzen müssen. Diese Devise der Rationalitätsunterstellung, die wie ich von Oliver Scholz, Hans Rott und schließlich vom amerikanischen Vertreter analytischer Philosophie -
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1
Aleida Assmann verdanken wir eine Einordnung der „klassischen Hermeneutik" in eine Jahrhunderte übergreifende Entwicklung, in der von Friedrich D. Schleiermacher bis über Hans-Georg Gadamer die Bedeutung einer Heuristik der Rationalitätspräsumtion kaum noch Beachtung fand. In jüngster Zeit motivierte die analytische Philosophie jedoch den Rückgriff auf eine „klassische Hermeneutik", die damit gewissermassen zur „neoklassischen" wird. Assmann, Aleida, Im Dickicht der Zeichen. Hodegetik Hermeneutik Dekonstruktion, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Jg. 70 (1996), S. 535-551. Dazu vor allem Scholz, Oliver R„ Verstehen und Rationalität. Untersuchungen zu den Grundlagen von Hermeneutik und Sprachphilosophie, Frankfurt/Main 1999; Bühler, AXEL (Hg.), Unzeitgemässe Hermeneutik. Verstehen und Interpretation im Denken der Auf-
klärung, Frankfurt/Main
1994.
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Hansjörg Siegenthaler
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Donald Davidson
gelernt zu haben meine das Verstehen auch über die Grenzen von Sprachkulturen hinweg erleichtert, besitzt einen stark normativen Gehalt, und zwar in doppeltem Sinne.2 Erstens: Die Devise der Rationalitätsunterstellung kann man als Empfehlung, vielleicht als eine Aufforderung an die Adresse eines jeden Interpreten verstehen. Wer andere Menschen verstehen will, muss ihnen Rationalität unterstellen. Dies gilt -
auch und ganz besonders für den Wissenschafter: Lernen von anderen kann er häufig nur dann, wenn er ihnen Rationalität unterstellt. Nun verhilft freilich die Einsicht in die Bedeutung der Rationalitätsunterstellung allein noch nicht zur Kompetenz, die man erwirbt oder eben nicht erwirbt, einem schwierigen Text auf der Grundlage der Rationalitätsunterstellung Sinn abzugewinnen. Man erwirbt solche Kompetenz nur dadurch, dass man sich auch wirklich auf Befremdliches einlässt und sich an Texten die Zähne ausbeißt, deren Autor nicht um den Beifall des flüchtigen Lesers buhlt, sondern einzig und allein die Sache klären möchte, um die es ihm, und vielleicht auch seinem Leser, geht. Es wäre übertrieben zu sagen, man bemühe sich heute um den Erwerb dieser Kernkompetenz des Interpreten mit sonderlich großer Energie. Ein Wettbewerbsmodell der Beziehungen, die zwischen wissenschaftlichen Disziplinen bestehen, macht solche Kompetenz vollends überflüssig. Wenn die Disziplinen Biologie, Ökonomie, Soziologie aneinander vorbei leben und eine jede für sich nur darum bemüht ist, auf Kosten der Nachbardisziplin hohe Studentenzahlen zu gewinnen und große Forschungsgelder einzutreiben, dann brauchen sie sich gegenseitig nicht zu verstehen; es kann für jede einzelne Disziplin in diesem Wettbewerb durchaus nützlich sein, wenn sie den Texten anderer Disziplinen Unvernunft unterstellt, im Hinblick auf ein Publikum, das sie im Wettbewerb gemeinsam umwerben. Wenn man das interdisziplinäre Gespräch für wichtig hält, muss man für systematische Pflege hermeneutischer Kompetenz plädieren, für die ganz praktische Einübung in die Kunst, den Autoren befremdlicher Texte „Rationalität" zu unterstellen und so an das heranzukommen, was sie mit ihren Texten als vernünftige Menschen gemeint haben müssen. Ich bin überzeugt vom Nutzen des interdis-
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2
Scholz, Verstehen und Rationalität (wie Anm. 1); ders., Wie versteht man eine Person? Zum Verhältnis von Alltagspsychologie und wissenschaftlicher Psychologie, in: Analyse & Kritik, Jg. 21 (1999), S. 75-96; ders., Autonomie angesichts epistemischer Abhängigkeit. Kant über das Zeugnis anderer, in: Kant und die Berliner Aufklärung, Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses, Band II, hrsg. von Gerhardt, Volker/ Horstmann, Rolf-Peter/ Schumacher, Ralph (Hg.), Berlin und New York 2001, S. 829-839; Rott, Hans, Two Dogmas of Belief Revision, in: The Journal of Philosophy, Jg. 97 (2000), S. 503-522; ders., Rationalitätsunterstellungen im Dienst der Interpretation von Texten, in: Rationalität im Prozess kultureller Evolution. Rationalitätsunterstellungen als eine Bedingung der Möglichkeit substantieller Rationalität des Handelns, hrsg. von Siegenthaler, Hansjörg, Tübingen 2005, S. 331354.
Theorienvielfalt in den Geschichtswissenschaften
29
Geisteswissenschafter müssen den Biologen gut zuhören, diese als bisher wissen oder zu wissen meinen, was der homo sapiens wenn genauer an genetischen Prägungen mit den anderen Primaten teilt. Zweitens: Wenn ich mich daran gewöhne, den Autoren auch befremdlicher Texte Rationalität zu unterstellen, kann ich dann, wenn ich es mit mir selber zu tun habe, eine Ausnahme machen und mir etwas anderes als Konsistenz und Kohärenz meiner Formulierungen zubilligen? Wenn ich für einen Leser schreibe, von dem ich erwarte, dass er meinem Text so begegnet, wie es die neoklassische Hermeneutik von ihm verlangt, so liefert mir dies einen fast zwingenden Grund, alles zu tun, um seinen Erwartungen zu genügen: Er soll nicht enttäuscht werden; er soll zum Schluss kommen, meine Formulierungen seien wirklich konsistent. Bei aller Skepsis gegenüber allzu anspruchsvollen Definitionen dessen, was wir noch als „Wissenschaftlichkeit" ansprechen wollen, so bleibt dies doch ein unabdingbares Erfordernis aller wissenschaftlichen Arbeit: dass sie ihre Texte konsistent formuliert. Theorienvielfalt hat sehr gute Gründe, auf die ich gleich eingehen möchte. Aber die Pflege der Theorienvielfalt in den Geschichtswissenschaften darf nicht zum Freipass dafür werden, auf rigorose Prüfung der Konsistenz unserer Formulierungen zu verzichten. Wer sich mehrerer Theorien bedient, ist gehalten, diese Theorien auf ihre Konsistenz hin zu prüfen, allenfalls generalisierende Feststellungen über ihre Reichweite zu treffen und explizit zu sagen, warum er glaubt, auf den einen historischen Gegenstand ein ökonomisches Handlungsmodell, auf den anderen Gegenstand ein sozialpsychologisches Modell solidarischen Handelns anzuwenden. Es versteht sich, dass sich Konsistenzprobleme für denjenigen nicht stellen, der mit seiner Rede von „Theorie" nicht mehr meint als einen hypothetischen Vorgriff auf die Beschreibung singulärer Tatbestände. Theorien in diesem Wortsinne kann man natürlich problemlos nebeneinander stellen: Sie geraten zueinander nicht in Konflikt, weil sich ihre Aussagen auf Unterschiedliches beziehen. Konsistenzprobleme wirft der Theorienpluralismus erst dann auf, wenn man mit einer theoretischen Formulierung auf Tatbestände allgemeinen Charakters Bezug nimmt. Man neigt dann mit solcher Bezugnahme zum Erklären: Man erklärt ein Ereignis, einen Tatbestand dadurch, dass man das Ereignis, den Tatbestand in Wirkungszusammenhänge einordnet, die man ganz unabhängig vom Gegenstand der Erklärung zu kennen, ja zu verstehen meint; die Erklärung arbeitet gewissermaßen mit der Zuschreibung von Rationalität nicht an Autoren und Akteure, sondern an die Welt. Daniel C. Dennett hat in seinem pikanten Aufsatz über „The Interpretation of Texts, People and Other Artifacts" in diesem Sinne argumentiert.3 Theorien als Texte, die sich auf nomologisches Wissen beziehen, werfen jedoch nicht nur ein Konsistenzproblem, sondern nach offenbar verbreiteter Meinung auch
ziplinären Gesprächs.
3
Dennett, Daniel C., The Interpretation of Texts, People and Other Artifacts, in: Philosophy and Phenomenological Research, vol. I, Supplement, 1990, S. 177-194.
Hansjörg Siegenthaler
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ein
Kommensurabilitätsproblem auf, das die Prüfung unterschiedlicher Theorien auf
Konsistenz hin zum Problem macht oder zu machen scheint. Inkommensurabilität von Theorien würde sie einer Prüfung auf Konsistenz hin auch dann entziehen, wenn sie ein und demselben Gegenstandsbereich zugeordnet wären. Mit Paul Feyerabend könnte man geneigt sein zu sagen, Theorienvielfalt sei nicht vermeidbar, sie sei auch nicht reduzierbar; so bleibe der wissenschaftlichen Entwicklung keine andere Wahl, als die Vielfalt zu ihrem Vorteil zu nutzen.4 Wie stichhaltig sind die Argumente, die begründen sollen, warum Theorienvielfalt nicht nur ein Konsistenz-, sondern auch ein Kommensurabilitätsproblem aufwirft?
2. Theorienvielfalt ist unvermeidlich, solange es keine Möglichkeit gibt, zwischen verfügbaren Theorien ein für allemal zu diskriminieren. Um zwischen Theorien zu diskriminieren, brauchen wir Regeln, die darüber entscheiden könnten, welche von zwei Theorien zu bevorzugen ist. Feyerabend, Lakatos vor ihm, haben zu zeigen versucht, dass es keine solchen Regeln gibt.5 Dabei setzten sie sich mit der Methodologie des kritischen Rationalismus von Karl Popper auseinander und nehmen insbesondere die Thesen aufs Korn, die sich aus einer falsifikationistischen Perspektive herleiten. Diese Perspektive empfiehlt eine klare Trennung zwischen der Formulierung theoretischer Hypothesen, d.h. dem kreativen Entwurf einer Theorie, und der Prüfung theoretischer Hypothesen. Dabei bezeichnet sie einen Prüfstand, auf den man das zu bringen hat, was man prüfen möchte. Dieser Prüfstand ist eine Sache innerwissenschaftlicher, disziplinspezifischer Konventionen, die uns sagen, wann eine Hypothese die Prüfung bestanden oder eben nicht bestanden hat. Die beliebtesten dieser Konventionen machen das zum entscheidenden Prüfstein, was man als „empirische Evidenz" zu bezeichnen pflegt, als eine Tatsache. Popper selber hat freilich im Grunde durchaus in großer Nähe zu Ludwik Fleck6 nicht die „Tatsachen" zum Prüfstein gemacht, sondern Aussagen über Tatsachen, nämlich -
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Feyerabend, Paul, Wider den Methodenzwang: Skizze einer anarchistischen ErkenntnislehVgl. dazu auch Siegenthaler, Hansjörg, Theorienvielfalt in den Geschichtswissenschaften und die besondere Aufgabe der Ökonomie, in: Kulturalismus, Neue Institutionenökonomik oder Theorienvielfalt, hrsg. von Hesse, Jan-Otmar/ Kleinschmidt, Christian/ Lauschke, Karl, Essen 2002, S. 161 -174. Feyerabend, Wider den Methodenzwang (wie Anm. 4); Baum, Wilhelm (Hg.), Paul Feyerabend Hans Albert: Briefwechsel, Frankfurt a.M. 1997; Lakatos, Imre/ Musgrave, Alan, Criticism and the Growth of Knowledge, Cambridge 1970. Fleck, Ludwik, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt/Main 1994 (Originalausgabe 1935). re, Frankfurt/Main 1976.
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Theorienvielfalt in den Geschichtswissenschaften die
so
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genannten „Protokollsätze"7: Notizen, die sich ein Beobachter über die
Ergebnisse seiner Beobachtungen oder seiner Archivrecherchen anfertigt, Texte also, die sich zur interpretierenden Lektüre und zur Kritik anbieten. Wenn diese Kritik zum Ergebnis gelangt, die theoretische Hypothese sei mit dem, was sich in die Texte hineinlesen oder aus ihnen herauslesen lässt, schlechterdings nicht vereinbar, dann ist der Autor der zu prüfenden Hypothese gehalten, sich die Sache nochmals zu überlegen. Nur stellen sich „Tatsachen" unserer Wahrnehmung ja nicht unvermittelt dar. Diese Sichtweise geht davon aus, dass wir keinen unmittelbaren Zugang zur Realität haben. Kognitive Strukturen, Regeln des Umganges mit Information leiten
in unseren Selektionen, in unseren Klassifikationen und Information in einer Art und Weise, die das, was für uns zum Interpretationen beschreibbaren und in Sprache fassbaren „Tatbestand" wird, immer schon zu einem Attribut nicht der äußeren Welt, sondern innerer mentaler Konstruktionen macht. Feyerabend spricht von „natürlichen Interpretationen", die uns von äußerer Realität gewissermaßen abschneiden.8 Nun befinden sich diese „natürlichen Interpretationen" offenbar in einem engen Bezug zu dem, was die Methodologie als „theoretische Hypothese" behandelt. Ich schlage vor, theoretische Hypothesen als erstens explizit gefasste und zweitens in eine debattierbare Form gebrachte Elemente kognitiver Heuristik zu behandeln, ohne sie inhaltlich oder in Bezug auf den Vorgang ihrer Konstitution scharf von „natürlichen Interpretationen" abzugrenzen. Dies verweist nun offenkundig auf die Schwierigkeit, „Protokollsätze" als Prüfstein theoretischer Hypothesen theorieunabhängig zu gewinnen. „Protokollsätze" formulieren Ergebnisse unserer mehr oder weniger organisierten Wahrnehmung, und diese Wahrnehmung ist abhängig von unseren „natürlichen Interpretationen". Mit diesen „natürlichen Interpretationen" entfalten sich aber auch unsere „theoretischen Hypothesen"; was die Psychologie unserer Hypothesenbildung betrifft, darf man wohl davon ausgehen, dass man sich in aller Regel im Rahmen dessen befindet, was unsere „natürlichen Interpretationen" zu denken erlauben und nahe legen. Dies bedeutet nun aber, dass man seine neuen Hypothesen an Beschreibungen von Tatsachen prüft, die sich ihrerseits den gleichen „natürlichen Interpretationen" verdanken. Doch wenn man so prüft, kann von Prüfung im Grunde kaum die Rede sein. Und dies legt es eben nahe, sich mit Theorienvielfalt abzufinden. Und man darf sich über sie auch begeistern. Sie gewährleistet ein Maximum an heuristischer Fruchtbarkeit; sie inspiriert viele verschiedene Forschungsprogramme, die wiederum empirische Evidenz in Hülle und Fülle zutage fördern und unser Wissen über uns
von
7
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Popper, Karl R., Logik der Forschung, 4. verbesserte Aufl. Tübingen 1971, 1. Aufl. Wien 1934. 1. Kapitel: Grundprobleme der Erkenntnislogik, S. 3-21; vgl. für eine kritische Würdigung neopositivistischer Methodologie: Davidson, Donald, Empirischer Gehalt, in: Ders., Subjektiv, intersubjektiv, objektiv, Frankfurt/Main 2005, S. 270-296. Feyerabend, Wider den Methodenzwang (wie Anm. 4), S. 116 ff.
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Hansjörg Siegenthaler
die Welt bereichern. Man darf lustwandeln im Garten der tausend Blüten theoretischer Hypothesen, die unsere konstruktive Fantasie hervorbringt.
3. Wenn man sich mit Theorienvielfalt abzufinden hat, wenn man sich über sie begeistern darf: Wie hat man mit ihr umzugehen? Genauer: Haben wir überhaupt die Möglichkeit, uns über Theorienvielfalt Rechenschaft abzulegen und sie zum Problem eines Gesprächs zu machen, das die disziplinären Sprachgrenzen sprengt? Wenn wir, so Feyerabend, die Welt in die Perspektiven unserer subjektiven Wahrnehmungen, in die Perspektiven unserer „natürlichen Interpretationen" rücken, gewinnen unsere Texte ihren Sinn zunächst nur im Kontext dieser „natürlichen Interpretationen". Und falls wir nun versuchen, in die fremde Welt eines Autors einzudringen, der unsere „natürlichen Interpretationen" nicht teilt: Kann es uns dann gleichwohl gelingen, an den „gemeinten Sinn" des Textes heranzukommen und ihn über Heuristiken klassisch-neoklassischer Hermeneutik zu erschließen? 1st es dann nicht so, dass Autoren auf der Basis unterschiedlicher „natürlicher Interpretationen" Texte schreiben, die vielleicht ähnlich lauten, aber ganz unterschiedlichen Inhalt vermitteln wollen? Sind solche Texte nicht einfach „inkommensurabel", d.h. keinen gemeinsamen Regeln der Interpretation zu unterwerfen? Und kann ein Leser, der die „natürlichen Interpretationen" des Autors nicht teilt, an das herankommen, was ihm der Autor sagen will? Feyerabend hielt dies für unmöglich, griff dann freilich, um solche Unmöglichkeit zur Evidenz zu bringen, zu einem durchaus zweckwidrigen Verfahren9: Er versuchte nämlich, durch eine gründliche Exegese archaischer und klassischer griechischer Kultur ihre „Inkommensurabilität" nachzuweisen. Dieser Nachweis setzt offenbar voraus, dass ihm seine eigene hermeneutische Kompetenz den Zugang sowohl zur klassischen als auch zur archaischen griechischen Kultur verschaffte; er fand offenbar Zugang zu beiden griechischen Kulturen, obgleich er zunächst weder die „natürlichen Interpretationen" der einen noch der anderen teilte. Soweit ich sehe, zeigte er damit genau das Gegenteil von dem, was zu zeigen war: Er lieferte den Beweis dafür, dass man die beiden untersuchten Kulturen verstehen kann, ohne über die „natürlichen Interpretationen" zu verfügen, die sie begründen. Und er lieferte eine schöne Illustration zur Überlegung Donald Davidsons, die These von der Unverständlichkeit fremder Kulturen sei im Grunde nicht verständlich.10
Feyerabend, Wider den Methodenzwang (wie Anm. 4), S. 310-387. Davidson, Donald, On the Very Idea of a Conceptual Scheme, in: Proceedings and Addresses of the American Philosophical Association, vol. 47, 1974; Popper, Karl R„ The
Theorienvielfalt in den Geschichtswissenschaften
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Theorienvielfalt in den Geschichtswissenschaften brauchen wir mithin nicht abzuschwören, doch haben wir keine überzeugenden Gründe dafür, unterschiedliche theoretische Ansätze für inkommensurabel zu halten. Man kann sich über Grenzen theoretischer Konfessionen hinweg verstehen, wenn man sich auf die Überzeugungen der Kontrahenten nach den Regeln klassischer Hermeneutik einlässt und die Kosten nicht scheut, die dies bereitet. Wir möchten die Vorstellung, unterschiedliche theoretische Ansätze seien im Prinzip kommensurabel, auf den Prüfstand eines Versuches bringen, des Versuches nämlich, zwei jener historischen Disziplinen auf ihre konstitutiven theoretischen Überzeugungen hin zu überprüfen, die sich zur Zeit in einem veritablen Verdrängungswettbewerb befinden: der Kultur- und der Wirt-
schaftsgeschichte. Zur Inszenierung dieses Versuchs gehört zunächst eine kaum vermeidbare, aber das Ergebnis nachhaltig prägende Selektion dessen, was wir den beiden Disziplinen in unserer Beobachterperspektive als konstitutive theoretische Überzeugungen überhaupt zuschreiben wollen. In Wahrheit finden sich in beiden Disziplinen
Vertreterinnen und Vertreter sehr unterschiedlicher Konfessionen und Häresien; Wissenschaftshistoriker werden dereinst hier wie dort sehr verschiedene „Denkstile" ausmachen. ' ' Doch unser Versuch musste scheitern, wollten wir uns an dieser Stelle auf intradisziplinäre Differenzen einlassen. Wir betrachten die Wirtschaftsgeschichte in unserem Zusammenhang als eine ökonomische Disziplin, die historische Tatbestände genau gleich zu verstehen und zu erklären versucht, wie andere ökonomische Disziplinen das zu verstehen versuchen, was sie im Augenblick und im Blick auf die Zukunft für besonders entscheidungsrelevant halten. Seit ihrer mikroökonomischen oder handlungstheoretischen Wende, die sie im Ausgang der sechziger Jahre und während der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts vollzogen hat, blieb und bleibt die Ökonomie in weiten Bereichen ihrer Theoriebildung den Prinzipien des methodologischen Individualismus verpflichtet12, einer Heuristik, die sich Erklärungen aller beobachtbaren Phänomene von Erklärungen individuellen Handelns ganz unabhängig von der Aggregationsebene verspricht, auf der die Phänomene angesiedelt sind. Auch Unternehmungen, auch soziale Bewegungen, auch Nationalstaaten unterwirft sie den Heuristiken eines methodologischen Individualismus.13 Zum Ansatzpunkt ihrer -
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Myth of the Framework. In Defence of Science and Rationality, Essays, hrsg. von Notturno, Mark A., London, New York 1994, S. 33-64. Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache (wie Anm. 6), S. 165ff. Siegenthaler, Hansjörg, Geschichte und Ökonomie nach der kulturalistischen Wende, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 25 (1999), S. 276-301. Vgl. dazu den Versuch einer Handlungstheorie unter Berücksichtigung der Probleme der Unsicherheit bei Siegenthaler, Hansjörg: Regelvertrauen, Prosperitát und Krisen. Die
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Hansjörg Siegenthaler
Analyse macht sie das Handeln individueller Akteure. Und diesem Handeln begegnet sie zunächst mit einer Heuristik der Unterstellung subjektiver Rationalität, mit der Annahme also, die Menschen seien konsistent in allem, was sie denken und tun. Den Brückenschlag vom individuellen Akteur zum wie auch immer definierten sozialen Verband schlägt sie durch Identifikation und Klärung von Mechanismen
der Koordination individuellen Handelns. Dabei nimmt sie vorab die Koordinationsleistungen der Güter- und Faktormärkte ins Visier, in zweiter Linie diejenigen institutioneller Regeln.14 Auf beiden Ebenen, auf der Ebene individuellen Handelns und auf der Ebene der Verkettung individuellen Handelns nach Maßgabe der Koordinationsleistungen der Märkte und der Institutionen, strebt sie nach der Formulierung nomologischen Wissens, das an keine zeitlichen und räumlichen Grenzen gebunden und mithin keinem historischen Wandel unterworfen ist. Dies nun nicht etwa deshalb, weil sie an historischem Wandel kein Interesse nähme, sondern ganz im Gegenteil darum, weil sie der Dauer im Wandel Ansätze zur Interpretation des Wandels selbst abzuringen hofft. Und mit ihr setzt auch die Wirtschaftsgeschichte, soweit sie sich denn als wirtschaftswissenschaftliche Disziplin versteht, auf die Möglichkeit, Tatbestände und Prozesse vergangener Zeiten auf der Grundlage einer ahistorischen Theoriebildung unserem Verständnis näher zu bringen. Kulturgeschichte interessiert uns als eine Disziplin, die sich durch ein ganz bestimmtes Verständnis dessen auszeichnet, was Kultur für menschliches Handeln bedeutet. Man mag einwenden, so bestimmt könne dieses Verständnis schon deshalb nicht sein, weil der Begriff der „Kultur" in manchen einschlägigen Texten ja sehr unbestimmt bleibe. Man kommt jedoch unseres Erachtens vielen kulturgeschichtlichen Ansätzen recht nahe, wenn man „Kultur" als ein Ensemble von Bedingungen versteht, unter denen die individuellen Akteure handlungsrelevante Vorstellungen über Wirkungszusammenhänge ihrer Welt entwickeln können. Nach solchem Verständnis wird Mentalitätsgeschichte zum Zentrum der Kulturgeschichte. Diese hat ja nun ihrerseits bedeutende Entwicklungen durchlaufen, die wir in einem ihrer Ergebnisse ansprechen wollen: Otto Gerhard Oexle hat auf eine Umschreibung von „Mentalität" aufmerksam gemacht, die für unseren Gegenstand -
Ungleichmassigkeit
wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung als Ergebnis individuellen Handelns und sozialen Lernens, Tübingen 1993, sowie den Versuch, Einsichten in nationalistische Tendenzen zu gewinnen, bei Siegenthaler, Hansjörg, Supranationalität, Nationalismus und regionale Autonomie. Erfahrungen des schweizerischen Bundesstaates Perspektiven der Europäischen Gemeinschaft, in: Nationalismus, Nationalitäten, Supranationalität, hrsg. von Winkler, Heinrich/Kaelble, Hartmut, Stuttgart 1993, S. 309-333. Als klassische Einfuhrung in dieses Thema bleibt für uns wichtig: Brennan, Geoffrey/ Buchanan, James, The Reason of Rules: Constitutional Political Economy, Cambridge 1985; vgl. auch Vanberg, Viktor, Rules and Choice in Economics, London, New York 1994, sowie ders., Kulturelle Evolution und die Gestaltung von Regeln, Tübingen 1994. -
Theorienvielfalt in den Geschichtswissenschaften
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die Klärung der Beziehungen, in denen sich Wirtschafts- und Kulturgeschichte zueinander befinden sehr wichtig ist.15 Diese Umschreibung legt den Akzent auf den Bereich der Dispositionen des Menschen, des „möglichen Angesprochenseins" sowohl wie der „möglichen Bereitschaft, in bestimmter Weise zu antworten und zu handeln"16. Bemerkenswert an diesem Zugang zum Mentalitätsbegriff ist in unserem Zusammenhang vor allem, dass er Raum lässt für Kontextfaktoren, die in das Handeln individueller Akteure hineinspielen, d.h. für alles eben, was den Akteur anspricht. Er bezeichnet eine Frage, die sich auch Ökonomen stellen: Was ist es denn genau, was die Menschen anspricht? Sind es Gedanken, die andere Menschen in Sprache fassen und äußern? Sind es Güter- und Faktorpreise, die die Märkte oder andere Instanzen festlegen? Vielleicht lenkt uns diese Frage auf eine der entscheidenden Differenzen, die zwischen Wirtschafts- und Kulturgeschichte bestehen. -
4. Wie verhalten sich Wirtschafts- und Kulturgeschichte zueinender, soweit sie sind, wofür wir sie halten möchten? Beide bedienen sich einer Heuristik der Rationalitätspräsumption. Für die Ökonomie der Neoklassik werden wir diese These gleich ausführen, für die Wirtschaftsgeschichte gilt sie, ohne dass sie dies hinreichend reflektieren würde, in gleicher Weise, soweit sie ihre Erklärungen beobachtbaren Handelns auf Theorien neoklassischer Ökonomik abzustützen versucht. Die Kulturgeschichte ist einer Heuristik der Rationalitätspräsumtion insofern verpflichtet, als sie sich ihre Gegenstände durch Interpretation von Texten und anderen Artefakten erschließt, und diese Interpretation kann auf eine Heuristik der Rationalitätsunterstellung im Grunde gar nicht verzichten, wie auch immer die expliziten Bekenntnisse der Interpreten zu dieser oder jener Schule der Hermeneutik lauten mögen. Angesichts solcher Gemeinsamkeit des heuristischen Zugriffs wird man nur sehr zögernd jener Auffassung zustimmen, die uns nahe legt, eine analytischquantifizierende Wirtschaftsgeschichte eindeutig dem Kosmos der erklärenden, vom naturwissenschaftlichen Weltverständnis beherrschten Disziplinen zuzurechnen, die Kulturgeschichte jedoch als geisteswissenschaftliches Fach anzusehen, das seine Heuristiken, aber auch seine Erkenntnisinteressen mit anderen Geisteswissenschaften teilt. Man zögert auch dann, wenn sich diese Grenzziehung selbst führenden Ökonomen offenbar geradezu aufgedrängt hat. 15
Oexle, Otto Gerhard, „1933". Zur „longue durée" mentaler Strukturen, in: Rationalität im Prozess kultureller Evolution, in: Rationalität im Prozess kultureller Evolution (wie Anm. 2),
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Raulff, Ulrich, Einleitung, in: ders. (Hg.), Mentalitätengeschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse, Berlin 1987, S. 3-32, hier S. 10-11.
S. 235-265. Oexle bezieht sich hier auf einen
Vorschlag von Ulrich Raulff.
Hansjörg Siegenthaler
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Als Kronzeugen einer solchen Sicht der Dinge, in der Ökonomie und Historie ganz unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen zugerechnet werden, kann man etwa Ludwig von Mises ansprechen17. Er ist uns ja vor allem als scharfsinniger Analytiker der Koordinationsprobleme zentral gesteuerter Wirtschaftssysteme und damit der institutionellen Voraussetzungen effizienter Märkte in Erinnerung geblieben; er war bestrebt, das theoretisch-nomologische Expertenwissen zu mehren, das die politischen Entscheidungen über institutionelle Ordnungen anleiten kann und soll. Als Zeitgenosse sozialistischer und nationalsozialistischer Systeme, als Beobachter der Genese solcher Systeme rang er aber auch um Verständnis für die Vorgänge, in denen große Staatswesen dem Totalitarismus verfielen. Und solches Verständnis glaubte er einer Heuristik zu verdanken, die nach seinem eigenen, explizit formulierten Urteil nicht das Geringste mit dem Wissenschaftscredo eines Ökonomen zu tun hatte: der Heuristik eben der verstehenden Geschichtswissenschaft, die den handelnden Menschen, seine Überzeugungen und die Wirkungen seines Handelns als ganz und gar individuelle, keinem Nomos verpflichtete Erscheinung in den Blick nimmt. So verstand er sich einerseits als Chronist einer Ereignisfolge, in der sich schließlich das ergab, was er andererseits zum Gegenstand seiner ökonomischen Analyse machte: das System zentraler Steuerung individuellen Handelns eben. Diese seine Doppelrolle hat er methodologisch reflektiert und dabei die Meinung begründet, Historie und Ökonomie seien beide in ihrer idiosynkratischen Besonderheit unentbehrlich für das Verständnis menschlichen Handelns.18 Gemeinsam seien sie in ihrem Zusammenspiel nicht bloß unentbehrlich, sondern im Grunde auch hinreichend für unsere Deutungen der sozialen Welt und ihrer Geschichte.19 Nun war Ludwig von Mises als Vertreter neoklassischer Ökonomik einer Heuristik der Rationalitätsunterstellung ganz und gar verpflichtet: Menschen handeln, ganz unabhängig vom Kontext, in dem sie sich bewegen, nach Maßgabe individueller Präferenzen kohärent. Wenn wir ihnen und ihrem Handeln Kohärenz unterstellen, werden sie einer Analyse zugänglich, die von soziokulturellen Kontextfaktoren abstrahiert und generalisierende Aussagen rechtfertigt über das, was Menschen tun und was sich im Zusammenspiel ihrer Handlungen ergibt. Diese generalisierenden Aussagen erweisen sich dabei als logische Explikationen dessen, was die Rationalitätspräsumption an sich schon beinhaltet. Sie bleiben mithin ohne empirischen Gehalt; aber gerade deswegen kann Mises seine Leserinnen und Leser dafür gewinnen und dazu verführen, seine theoretische Analyse in den Dienst eines Systemvergleichs zu stellen, der ja angesichts kontextspezifischer Besonderheiten etwa des -
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Von Mises, Ludwig, Human Action, a Treatise on Economics, Glasgow 1949, S. 11-71. VON Mises, Human Action (wie Anm. 16), S. 51 ff. VON Mises, Human Action (wie Anm. 16), S. 30 ff.
London, Edinburgh
and
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kommunistischen oder des nationalsozialistischen Regimes nicht leicht zu führen ist. Eine ahistorische Theorie scheint die Grenzen der Wirtschaftssysteme ebenso leicht zu überschreiten wie die Grenzen der Epochen. Unklar bleibt in seinen Überlegungen allerdings der erkenntnistheoretische Status seiner Rationalitätsunterstellung. Manche seiner Formulierungen sprechen dafür, dass er dem homo sapiens Rationalität nicht aus heuristischen Gründen unterstellte, sondern dass er sie für einen anthropologischen Tatbestand hielt und dem Menschen mithin nicht unterstellte, sondern zuschrieb. Solche Zuschreibung oder Unterstellung begründete er in doppelter Weise. Erstens verwies er, durchaus im Einklang mit Argumenten des Philosophen Donald Davidson, auf den kommunikativen Erfolg, den unsere Neigung stiftet, im Gegenüber das Alter Ego zu sehen und ihn so zu behandeln, als wäre er Blut vom eigenen Blut: -
.it is beyond doubt that the principle according to which an Ego deals with every human being as if the other were a thinking and acting being like himself has evidenced its usefulness both in mundane life and in scientific research. It cannot be doubted that it works."20. „..
Und was wir dem Alter Ego zuschreiben, tragen wir unverlierbar in uns, so wie wir die Spielregeln der Logik und der Mathematik in uns tragen.21 Andererseits stützt er seine Rationalitätszuschreibung auf ein evolutionstheoretisches Plausibilitätsar-
gument: „The categories of human thought and action
...
are
biological
facts and have a struggle for
definite function in life and reality. They are instruments in a man's existence They work, and are in this sense true and valid".22 ...
aber seine Rationalitätsunterstellung wirklich als eine anthropologische Zuschreibung betrachtet hat, warum entzog er sie dann so energisch und dezidiert empirischer Prüfung? Sein Text strotzt nur so von Warnungen vor jeglichem Versuch, die Strukturen menschlichen Denkens zum Gegenstand wissenschaftlicher Analyse zu machen. In Wahrheit kann man seinen Rationalitätszuschreibung heute nur noch gerecht werden, wenn man sie als reine Unterstellung behandelt, die sich als solche nur bewährt als Heuristik des Verstehens menschlichen Handelns. Sonst findet man allzu gute Gründe, um seinen Ansatz als Ausdruck weltfremder Verstiegenheit zu betrachten; Mark Blaug zitierte in seinem Grundlagenwerk zur Methodologie der Wirtschaftswissenschaften zustimmend Paul Samuelson, der den Apriorismus der österreichischen Schule der Nationalökonomie sehr sarkastisch aufs Korn nahm: Wenn
20 21 22
er
Von Mises, Human Action Von Mises, Human Action Von Mises, Human Action
(wie Anm. 16), S. 24. (wie Anm. 16), S. 64. (wie Anm. 16), S. 86.
Hansjörg Siegenthaler
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in connection with the exaggerated claims that used to be made for the power of deduction and a priori reasoning I tremble for the reputation of my subject. that us."23 we behind have left Fortunately,
„...
...
wenn wir die Rationalitätszuschreibung eines treuen Vertreters neoklassischer Oekonomik als Präsumption behandeln, können wir den methodologischen Reflexionen Ludwig von Mises wirklich gerecht werden24. Damit freilich rücken wir seine Heuristik ganz nah an das heran, was er, zu Unrecht, der historischen Methode vorbehalten wollte. Samuelson hatte deduktives Denken zu früh von den akzeptierten Methoden seiner Disziplin verabschiedet. Viele bedeutende Autoren bleiben ihm verpflichtet. Als ein besonders faszinierendes Beispiel für eine ahistorische Heuristik der Rationalitätspräsumption, die für die gegenwartsbezogene Analyse genauso geeignet ist wie für die Interpretation historischer Welten, bietet sich uns die „neue Theorie des Haushalts" an, wie sie von Gary Becker und George Stigler formuliert worden ist.25 Diese Theorie ist nichts anderes als eine besondere Spielart neoklassischer Hermeneutik. Sie besteht darin, genau das zu explizieren, was seine deflnitorischen Festlegungen beinhalten, etwa die Definition der Produktionsfunktion des Haushalts und die Einführung einer Variablen, die ein Bündel von Fähigkeiten der Angehörigen des Haushalts bezeichnet. Dabei arbeitet Becker nun eben mit der Annahme konsistenten Denkens und Handelns der Akteure. Seine Erläuterungen haben keinen empirischen Gehalt und geben auch nicht vor, einen solchen zu haben: Sie entziehen sich empirischer Prüfung. Becker kümmert sich zwar um den Vorgang, in dem die Akteure ihre Kompetenzen erwerben. Aber er kümmert sich keinen Deut um das, was die Empirie der Lernvorgänge, die Lernpsychologie etwa, zur Sache sagen würde. Was ihn wirklich interessiert, sind die Handlungsweisen, denen die Akteure als rational denkende und handelnde Wesen verfallen, wenn sie ihre Kompetenzen in einem bestimmten Kontext zur Wirkung bringen. Und diesen Kontext definiert Becker natürlich in Begriffen relativer Preise. So erweist sich seine Theorie des Haushalts als ein heuristisches Instrument zum Abbau von Fremdheit: Sie verhilft zu besserem Verständnis befremdlichen Verhaltens zum Beispiel eines süchtigen
Nur
23
24
25
Blaug, Mark, The Methodology of Economics,
or How economists explain, Cambridge f. In der Sache nehmen wir hier schon eine begriffliche Unterscheidung zwischen „Rationalitätsprinzip" und „Rationalitätshypothese" vorweg, die Viktor Vanberg in Vorschlag gebracht hat. Vgl. unten. Becker, Gary S./ Stigler, George, De Gustibus Non Est Disputandum, in: American Economic Review, Jg. 67 (1977), S. 76-90. Vgl. dazu Viktor Vanberg, der den methodologischen Status der neuen Theorie des Haushalts messerscharf herausarbeitet: Vanberg, Viktor, Rationalitätsprinzip und Rationalitätshypothesen. Zum methodologischen Status der Theorie rationalen Handelns, in: Rationalität im Prozess kultureller Evolution (wie Anm. 2), S. 33-63.
21992, S. 81
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zum Verständnis der Anfälligkeit von Menschen für Werbebotschaften. Ich halte die Beckersche Haushaltstheorie für ein überaus nützliches Instrument. Aber ihr Nutzen besteht eben exakt in ihrem hermeneutischen Zugriff. Ökonomie und Hermeneutik verschmelzen hier zu einer Theorie menschlichen Handelns und Redens. Wenn sich so das vorläufige Ergebnis eine „Kulturgeschichte" auf Hermeneutik, eine „Wirtschaftsgeschichte" auf ein und dieselbe Heuristik der Rationalitätspräsumption abstützen, dann ist zunächst nicht einzusehen, weshalb sich die beiden Disziplinen nicht sehr freundschaftlich in gemeinsamer Definition ihres Gegenstandsbereichs treffen sollten, statt sich im Kampf um Lehrstühle zu befehden.
Menschen,
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5. Doch dieses vorläufige Fazit löst unser Problem der Beziehung zwischen den beiden Disziplinen in Tat und Wahrheit noch keineswegs. Die Ökonomie bemüht sich nicht bloß um Verständnis für menschliches Handeln, sie versucht auch zu verstehen, wie sich nicht intendierte Handlungsfolgen verketten und überraschende Ergebnisse zeitigen. Diesen Gegenstandsbereich hat die Hermeneutik gerade nicht im Visier. Die Kulturgeschichte, die ja in Denk- oder Sprachmustern Erklärungen sucht für historische Prozesse und nicht allein für individuelles Handeln, verfügt zur Behandlung nicht intendierter Handlungsfolgen über keine Methodik, obgleich sie an solchen durchaus Interesse haben muss oder doch wohl haben musste. Kann die Ökonomie und hier stoßen wir wohl auf die eigentliche Gretchenfrage auf der Grundlage einer Heuristik, die sie mit der Hermeneutik teilt, ihr Kernproblem, nämlich eben die Verkettung nicht intendierter Handlungsfolgen, tatsächlich lösen? Versuchen wir zunächst, uns die ökonomische Analyse einer Verkettung nicht intendierter Handlungsfolgen zu vergegenwärtigen. Diese Analyse setzt zunächst bei den Koordinationsleistungen der Preise an, die sich auf Produkt- und Faktormärkten bilden; sie abstrahiert von der Möglichkeit, dass sich individuelle Akteure über ihre Handlungsziele verständigen, wenn sie auch der Tatsache Rechnung trägt, dass institutionelle Regeln, zu denen nicht bloß solche staatlich sanktionierten Rechts, sondern auch soziale Zwänge und internalisierte Normen gehören, die Handlungsspielräume der Akteure mit koordinierendem Effekt begrenzen können. So bleibt sie denn auf die Denkfigur der „invisible hand" von Adam Smith eingeschworen, aus guten Gründen: Zu diesen gehört die Vorstellung, alles individuelle Handeln vollziehe sich im Horizont alternativer Handlungschancen, und Handeln bedeute die Nutzung einer solchen Chance unter Verzicht auf die Nutzung anderer. Das Bewusstsein dafür, dass man mit allem, was man tut, alternative Handlungsoptionen unwiederbringlich ungenutzt lässt, beschert uns auch in der Wohlstandsgesellschaft die Erfahrung der Knappheit: Verfügbare Ressourcen reichen nicht aus, -
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alle Optionen zu realisieren; ein Überfluss an Sachgütern befreit auch die reichsten Wohlstandsbürger nicht von der Zeitrestriktion. Im Begriff der „Opportunitätskosten" schlägt die Ökonomie die Brücke vom subjektiven Knappheitsempfinden zur Welt der Preise: Opportunitätskosten sind definiert als das, was man verliert, wenn man auf die Realisierung einer Handlungsoption verzichtet, als entgangenen Nutzen mithin, und man verzichtet, weil der Handlungsspielraum, über den man verfügt, nicht dazu ausreicht, um sich alle Wünsche zu erfüllen. Dieser Handlungsspielraum ist offenbar abhängig von Güter- und Faktorpreisen; er erweitert sich, wenn verfügbare Ressourcen Sachgüter, Arbeitskraft zusätzliches Einkommen verschaffen, er verengt sich, wenn die Realisierung von Handlungschancen mehr Einkommen beansprucht. Unter dem Einfluss von Preisbewegungen verengt oder erweitert sich der Spielraum individuellen Handelns, er verformt sich auch, wenn sich Preisrelationen verändern. Eine über längere Zeit hinweg andauernde relative Zunahme der Energiepreise nötigt den Autofahrer zu einer von zwei schmerzhaften Anpassungen, vielleicht sogar zu beiden. Entweder zweigt er mehr Mittel ab fürs Auto auf Kosten anderer Verwendungen, oder er verzichtet auf die eine oder andere Fahrt. Wenn ihm so das Auto nicht nur lieb ist, sondern auch teuer und teurer wird, dann verengt sich sein Handlungsspielraum buchstäblich: Die Reichweite seiner Fahrten wird geringer, oder seine Chancen werden in ganz anderen Bereichen seines Handelns geschmälert. Dies senkt die Opportunitätskosten des Bahnfahrers: Der Verzicht aufs Auto fällt leichter, wenn das Auto weniger Nutzen stiftet und man mehr Opfer bringen muss, um sich den Nutzen des Autos zu sichern. Möglich, dass auf lange Sicht dieser oder jener Autofahrer zum Bahnfahrer, zum Velofahrer, ja zum Fußgänger wird. Preisbewegungen und Bewegungen relativer Preise motivieren Anpassungshandeln individueller Akteure. Dabei manifestieren sich in ihnen die Verkettungen nicht intendierter Handlungsfolgen. Autofahrer tragen, solange sie fahren und Benzin kaufen, zur Stärkung der Benzinpreise bei, ohne dass sie dies bezwecken. Bauern mästen Schweine, wenn sie diese ihrem Metzger zu guten Preisen verkaufen können; wenn viele Bauern Schweine mästen, drückt dies auf die Schweinepreise, sehr zum Verdruss der Bauern und kaum im Einklang mit ihren Intentionen. Andererseits, und genau darauf kommt es an, drängen die Preisbewegungen zu den schon angesprochenen Anpassungsleistungen individueller Akteure, die unter bestimmten institutionellen Rahmenbedingungen tendenziell, wenn auch niemals perfekt, zur Koordination individueller Handlungspläne beitragen: Bei steigenden Energiepreisen werden Konsumenten dazu motiviert, den Energiekonsum in welcher Weise um
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auch immer auf Dauer wohl einzuschränken, und Energieproduzenten lassen sich auf neues Denken ein, das früher oder später zur Erschließung neuer Energiequellen die Voraussetzungen schafft. Mit Schumpeter möchte man dabei den Akzent auf die Tatsache legen, dass jede Anpassungsleistung den Keim zur Störung genau dessen in sich trägt, was die neoklassische Ökonomie in den Begriff des „Gleichgewichts"
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gefasst hat: eines Zustandes, in dem die Handlungspläne aller Akteure zur Kompatendieren, ohne durch weitere Verkettungen nicht intendierter Handlungsfolgen neue Anpassungsleistungen zu erzwingen26.
tibilität
Stützen sich diese Überlegungen zur Koordination individuellen Handelns über Preisbewegungen auf die Rationalitätspräsumption der Neoklassik? Finden sie in ihr eine Rechtfertigung? Lässt sich durch die Heuristik der Rationalitätspräsumption einem Vorgang gerecht werden, der auf der Ebene systemischer Zusammenhänge angesiedelt ist? Während Jahrzehnten hat man sehr viel Scharfsinn auf den Nachweis verwendet, um eben dies zu zeigen: dass mehr nicht vonnöten ist, um Koordinationsleistungen der Preisbewegungen unter geeigneten institutionellen Rahmenbedingungen begründen zu können, als eine Heuristik der Rationalitätsunterstellung. Reichen die Begründungen aus?
6. Man könnte versucht sein, an dieser Stelle der Argumentation auf die Debatten zu verweisen, die in der Ökonomie seit den Anfängen des Keynesianismus über die
Möglichkeit oder Unentbehrlichkeit mikroökonomischer Fundierung makroökonomischer Theorie geführt worden sind27. Doch vielleicht sollten wir dieser Versuchung widerstehen. Statt von Makro- und Mikroebenen der Gewinnung von Erkenntnis zu legen, drängt es sich auf, die Schnitte etwas anders zu legen. Möglich, dass uns auch hier Donald Davidson weiterhelfen kann. Davidson hat der Frage nach Erkenntnisebenen und der Möglichkeit, Einsichten von der einen auf die andere Ebene zu verschieben, eine ganze Reihe von Aufsätzen gewidmet und schließlich in einem konzisen Text auch ein Fazit gezogen.28 Wir haben es, so sein Fazit, in allem Denken und allem Bemühen um Verständnis der Welt mit drei ganz verschiedenen Gegenstandsbereichen zu tun: Mit uns selber zunächst, mit unseren präpositionalen Einstellungen, besonders mit unseren eigenen Überzeugungen und Präferenzen; wir legen uns Rechenschaft ab über unsere Einstellungen und beanspruchen ihnen gegenüber eine Autorität, die wir uns von anderen nicht streitig machen wollen. Weiter beschäftigen wir uns mit anderen Menschen, mit ihren Texten, mit ihrem Handeln; sie versuchen wir zu verstehen, uns zu Liebe nota bene, weil wir nur so Gewinn ziehen können aus unseren kommunikativen Beziehungen. Schließlich befassen wir uns mit der Welt, mit dem 26
Vgl. Schumpeter, Joseph, Konjunkturzyklen, eine theoretische, historische und statistische Analyse des kapitalistischen Prozesses, 2 Bände, Göttingen 1961 (engl.: New York 1939), Band 1,
27
28
Kap. II-IV.
Blaug, The Methodology of Economics (wie Anm. 23), S. 209-219. Davidson, Donald, Drei Spielarten des Wissens, in: Ders., Subjektiv, intersubjektiv, objektiv
(wie Anm. 7), S. 339-364.
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homo sapiens nicht als unserem Gegenüber, sondern als einem Gattungswesen, aber eben auch mit Verkettungen nicht intendierter Handlungen. In überaus sorgfältiger Argumentation versucht uns nun Davidson davon zu überzeugen, dass wir von allem, was wir von diesem oder jenem Gegenstandsbereich verstehen, keine Schlüsse ziehen können in Bezug auf andere Gegenstandsbereiche. Einsichten in den einen Gegenstandsbereich lassen sich nicht auf Einsichten reduzieren, die wir zu anderen Gegenstandsbereichen gewinnen möchten. Wir begegnen uns selber mit der Autorität dessen, der weiß, wovon er überzeugt ist. Zweitens begegnen wir den anderen in der Annahme, dass er weiß, wovon er überzeugt ist, sonst würden wir ihn nicht verstehen. Und wir verstehen ihn: Dies ist die Erfahrung, die es rechtfertigt, in eine Heuristik Vertrauen zu setzen, die zur Interpretation fremden Denkens verhilft. Und drittens denken wir gemeinsam mit anderen Menschen, die wir verstehen, über die Welt nach, und indem wir über diese Welt reden, und indem wir uns über diese Welt verständigen, gewinnen wir die Überzeugung, unser Bild der Welt sei nicht unsere persönliche Angelegenheit, vielmehr sei dieses Bild ein „objekti-
ves", intersubjektiv geteiltes.
Mit diesen Überlegungen fordert uns Davidson auf, uns Rechenschaft abzulegen über die Tragweite einer dramatischen Verschiebung des Erkenntniszieles, die wir vornehmen, wenn wir von einer Analyse zwischenmenschlichen Verstehens zur empirischen Analyse natürlicher oder sozialer, aber auch psychischer Wirkungszu-
sammenhänge übergehen.
Davidson äussert sich nicht explizit zum Gegenstandsbereich einer wissenschaftlichen Disziplin wie der Ökonomie, die sich um Klärung von Verkettungen nicht intendierter Handlungsfolgen bemüht und bemühen muss. Seine Überlegungen lassen aber den Schluss zu, dass er die ökonomischen Analysen auf einer Erkenntnisebene ansiedelt, zu der all das, was er über Bedingungen der Möglichkeit erfolgreicher Kommunikation, d.h. insbesondere über die Rationalitätspräsumption zu bedenken gibt, keinen Zugang öffnet. Wir werden in Bezug auf Verkettungen nicht intendierter Handlungsfolgen keineswegs dadurch klüger, dass wir uns über Bedingungen erfolgreicher Kommunikation Gedanken machen. Davidson gibt uns zwar nicht den geringsten Anlass dazu, in ihm einen Kritiker ökonomischen Denkens und ökonomischer Methodik zu vermuten. Aber was er zur Trennung der drei Erkenntnisbereiche zu bedenken gibt, muss uns doch kritisch stimmen, wenn auch nicht gegenüber ökonomischen Analysen im allgemeinen, so doch gegenüber dem Versuch neoklassischer Ökonomie, der Heuristik der Rationalitätspräsumption die ganze Last der Analyse auch systemischer Zusammenhänge aufzubürden. Man darf wohl sagen, dass Davidson zur Klärung der Argumente beiträgt, deren sich Kritiker eines neoklassischen Reduktionismus heute bedienen. Wir wollen uns solche Argumente vor dem Hintergrund der Überlegungen Davidsons vergegenwärtigen. Es soll uns dies einen Schritt weiterführen im Versuch, die theoretischen Ansätze klarer zu fassen, in ihren wirklich grundlegenden Differenzen zu verstehen und auf
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ihre Kompatibilität hin zu prüfen, die sich in der Theorienvielfalt der Geschichtswissenschaften gegenüberstehen. Unter den Kritikern neoklassischer Ökonomik und ihrer Heuristik der Rationalitätspräsumption hat uns Viktor Vanberg ganz besonders überzeugt mit seiner Begründung der These, es lasse sich durch bloße logische Explikation der Implikationen einer Unterstellung keine Einsicht in systemische Wirkungszusammenhänge gewinnen29. Überaus hilfreich ist dabei sein Vorschlag, klar zu unterscheiden zwischen einem Rationalitätsprinzip als einer bloßen Rationalitätspräsumption und einer empirisch gehaltvollen Rationalitätshypothese, d.h. einer Hypothese über Reden, Lernen und Handeln individueller Akteure, die sich empirischer Prüfung welcher Art auch immer unterwirft. Davidson würde eine solche Hypothese, im Unterschied zu seiner Behandlung des Rationalitätsprinzips, ganz klar auf der Ebene der Analyse der äußeren Welt als eines Erkenntnisobjekts des Menschen ansiedeln. Auf dieser Ebene kann es nicht nur darum gehen, den Menschen Kohärenz ihres Denkens, Handelns und Redens zuzuschreiben, sondern festzustellen, wie sie zu ihren Überzeugungen gelangen, wie sie lernen. Vanberg besinnt sich daher auf verfügbare Lerntheorien und findet dabei entscheidende Anregungen bei Ernst Mayr, einem Vertreter dessen, was man wohl als eine letztlich naturwissenschaftlichem Verständnis menschlichen Handelns verpflichtete Theorie menschlichen Handelns ansehen kann.30 Dies verweist auf ein Verständnis systemischer Zusammenhänge, das sich zwar weiterhin methodologischem Individualismus verpflichtet fühlt und die Analyse gesellschaftlicher Zusammenhänge auf empirisch gehaltvolle Thesen über den homo sapiens abstützt, das jedoch davon ausgeht, es stehe und falle die Relevanz, die Erklärungskraft und die Prognosefähigkeit solcher Analyse mit der Relevanz, der Erklärungskraft und der Prognosefähigkeit dessen, was sich an nomothetischem Wissen über den homo sapiens entwickeln und entfalten lasse. Um an unsere Ausführungen über Reaktionen der Autofahrer auf Energieverknappung und -Verteuerung anzuschließen: Wir wissen nicht viel über die Autofahrer, wenn wir ihnen nur gerade Kohärenz ihres Denkens und Handelns zuschreiben. Was wir brauchen, sind empirisch gehaltvolle Thesen zum Beispiel über die Art und Weise, wie sie das, was sie sich an Kenntnissen über die gegenwärtige Welt der Energie beschaffen, in Erwartungen umsetzen, oder über ihre Fähigkeit, Strukturen ihrer persönlichen Kompetenzen in nützlicher Frist so zu verändern, dass ihre Mobilität an Autonomie gegenüber dem Automobil gewinnt.31 29
30
31
Vanberg, Viktor, Rationalitätsprinzip und Rationalitätshypothesen (wie Anm. 25). Vanberg, Viktor, Rationalitätsprinzip und Rationalitätshypothesen (wie Anm. 25). Theorien der Erwartungsbildung Lerntheorien mithin beschäftigen die Ökonomie seit
langem und weiterhin intensiv. Bahnbrechend waren die Arbeiten Friedrich von Hayeks; vgl. z.B. Von Hayek, Friedrich, The use of knowledge in society, in: The American Economic Review, Jg. 35 (1945), S. 519-530. Wichtige Einsichten verdanken wir der klaren Analyse von Müller, Margrit, Organisationsformen und wirtschaftliche Entwicklung, Bern 1991. -
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7. Mit dem Wechsel des Gegenstandsbereichs, mit der Hinwendung zu den Wirkungszusammenhängen der äußeren Welt verabschiedet sich die Ökonomie vom Versuch, menschliches Handeln und Reden auf der Grundlage einer Heuristik zu verstehen, die wir neoklassischer Ökonomie genau so haben zuordnen können wie klassischneoklassischer Hermeneutik. Ein für Geisteswissenschaften so hilfreiches heuristisches Instrument weicht zurück vor einem anderen Instrument, das man dem Kosmos naturwissenschaftlichen Denkens zuzuordnen pflegt. Begründet dies nun nicht erst recht, so wird man fragen, eine Differenz zwischen Ökonomie und Kulturwissenschaft, zwischen Wirtschaftsgeschichte und Kulturgeschichte? Eine Differenz begründet es, ganz im Sinne von Davidson, ganz gewiss. Aber die Differenz trennt keineswegs die Fachgebiete entlang konventionell definierter Disziplinen. Sie nötigt dazu, über disziplinäre Grenzen hinweg nach wissenschaftlichen Methoden zu fragen, die uns dem Verständnis menschlichen Denkens und Handelns, mithin auch der Genese und dem Wandel menschlicher Kultur näher bringen können. Diese Frage geht die Ökonomie genau so an wie die Kulturwissenschaften, genauer: sie geht die Ökonomie als Kulturwissenschaft an, zu der sie genau dadurch wird, dass sie sich dieser Frage stellt. Und wenn sie nach Antworten auf diese Frage sucht, stößt sie auf ein altes (und offenes) Kernproblem der Kulturwissenschaften bzw. der Sozial- oder Kulturanthropologie: Sind die beobachtbaren Formen menschlichen Denkens, Lernens und Handelns auf Dauer gestellt? Rechtfertigen sie eine Modellierung des homo sapiens als eines dank phylogenetischer Prägung stabilen, von historischer Zeit und kulturellem Ort weitgehend unabhängigen Wesens? Oder macht es den homo sapiens überhaupt erst aus, dass er im Prozess historischen, d.h. kulturellen Wandels ein anderer wird? An dieser Frage scheiden sich die Geister, heute vielleicht mit besonders großer Leidenschaft. Aber sie befehden sich gerade nicht über disziplinäre Grenzen hinweg: Für die Ökonomie und für die Wirtschaftsgeschichte, für die Kulturwissenschaften und für die Kulturgeschichte stellt sich mit gleicher Dringlichkeit die Frage nach der heuristischen Fruchtbarkeit jenes Forschungsprogramms, das der Naturwissenschafter Edward O. Wilson seit langem entwickelt und 1999 unter dem Titel „consilience" nochmals vorgestellt hat32: Das Programm eines konsequenten Reduktionismus, das alles Verständnis des Menschen und seiner sozialen und kulturellen Welt auf nomologisches Wissen einer Neurobiologie abzustützen versucht, die ihrerseits in den Wissensbeständen klassischer Naturwissenschaften der Physik und der Chemie ihr Fundament besitzt. Wilson selber formuliert diese Vorstellung ohne Wenn und Aber: -
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Wilson, Edward O., Consilience: The Unity of Knowledge, New York 1998.
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„The central idea of the consilience world view is that all tangible phenomena, from the birth of stars to the workings of social institutions, are based on material processes that are ultimately reducible, however long and tortuous the sequences, to the laws of physics."33
Nicht ohne geradezu leidenschaftliche Begeisterung für seinen Grundgedanken, für seine Vision, entwirft er das Bild eines Wissenschaftskosmos, in dem statt Theorienvielfalt eine Gleichstimmung der Geister herrscht und an die Stelle disziplinärer Grenzen die Schichtung einer Stufenpyramide hervortritt, an deren Basis die Physik, an deren Spitze musikologische Deutungen der Neunten Symphonie von Ludwig van Beethoven angesiedelt sind. Diese Vision einer „consilience" der Disziplinen räumt mit Theorienvielfalt radikal auf. Sie ruft aber nach einer Antwort auf die grundlegende Frage nach Erkenntnismöglichkeiten einer Heuristik des Reduktionismus.34 Vielleicht öffnet uns Wilson selber den Zugang zu einer kulturalistischen Kritik, und zwar mit seinem Versuch, die Heuristik des Reduktionismus als Leistung einer sozialen Institution oder eines sozialen Systems aufzufassen, als eine Leistung nämlich der modernen Wissenschaften. Ohne sie wären die Menschen nicht in der Lage, die Wirkungszusammenhänge aufzudecken, in denen sich Mechanismen der Reduktion entfalten. Kann man hoffen, auch die Entstehung moderner Wissenschaft auf biologische Dispositionen des Menschen zurückführen zu können? Die Wissenschaftsforschung würde hier begründete Zweifel vorbringen.35 Attraktiver wäre für sie vermutlich der Vorschlag von Michael Tomasello, der durchaus auf genetische Dispositionen des homo sapiens abstellt, aber das Spezifische solcher Dispositionen gerade an der besonderen Kompetenz des Menschen festmacht, andere Menschen in ihren Intentionen zu verstehen und verstehen zu wollen. Diese Kompetenz motiviere zum Spracherwerb und begründe damit kulturelle Entwicklung36. Bei aller wohlbegründeter Skepsis kann man nicht darüber hinwegsehen, dass im Bereich der Wirtschaftswissenschaften zur Zeit mit großer Energie und mit großer Resonanz Forschungen betrieben werden, die die Fruchtbarkeit einer reduktionisti33
Wilson, Consilience (wie Anm. 32), S. 266.
34
Vgl. für eine auf Sozialwissenschaften zugeschnittene, an philosophischer Begrifflichkeit geschulte generelle Analyse der Probleme einer reduktionistischen Heuristik: Heintz, Bettina, Emergenz und Reduktion. Neue Perspektiven auf das Mikro-Makro-Problem, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 56 (2004), S. 1-31; vgl. für eine funda-
35 36
mentale Kritik: Davidson, Donald, Could There Be a Science of Rationality? in: International Journal of Philosophical Studies, Jg. 3 (1995), S. 1-16. Vgl. auch Tomasello, Michael, The Cultural Origins of Human Cognition, Cambridge, Mass. 1999; ders., Constructing a Language. A Usage-Based Theory of Language Acquisition, Cambridge/Mass. 2003. Tanner, Jakob, Historische Anthropologie, Hamburg 2004. Tomasello, The Cultural Origins of Human Cognition (wie Anm. 34); Tomasello, Constructing a Language (wie Anm. 34).
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sehen Heuristik in neuer Weise auf die Probe stellen37. Solche Forschung betrifft unter anderem ein Problemfeld, auf dem sich die Ökonomie und in ihrem Gefolge auch die Wirtschaftsgeschichte seit der bahnbrechenden Arbeit von Mancur Olson mit Scharfsinn, doch wohl eher mit begrenztem Erfolg getummelt haben, dem Problemfeld kollektiven Handelns38. Eine Heuristik der Rationalitätspräsumtion erstreckt sich gewiss auch auf ein Handeln, das in alle Intentionen und Handlungspläne die Befindlichkeit und das Wohlergehen der Mitmenschen einbezieht; sie lenkt die Aufmerksamkeit auf Motive solidarischen Denkens, Fühlens und Handelns, und sie verweist auf individuelle Präferenzen, die eben Identifikationen mit Anliegen anderer Menschen schon einschließen. Nur macht dies ja bloß einmal mehr deutlich, dass eine Rationalitätspräsumption per se noch keinen empirischen Gehalt hat. Dies hilft uns nicht weiter, wenn wir wissen möchten, in welchem Kontext, unter welchen Bedingungen die Menschen solidarisch handeln oder sich solidarischem Handeln verweigern. Sie verhilft für sich allein zur Erklärung kollektiven Handelns noch nicht. Vonnöten wäre eine Lehre von menschlichen Präferenzen, die solidarisches Handeln kontextualisieren und identifizierbaren Bedingungen zuschreiben könnte. Der amerikanische Wirtschaftshistoriker Alexander Field glaubt nun in einer biologischen Perspektive einen Schlüssel zur Lösung des Problems gefunden zu haben, indem er einerseits der Primatenforschung Tribut zollt, andererseits auf die genetische Verwandtschaft des homo sapiens mit anderen Primaten abstellt39: Solidarisches Handeln ist in einer Kleingruppe gattungsverwandter Primaten nachweisbar, also spricht wenig dagegen, dass auch unter Menschen solidarisches Handeln vorherrscht, wenn sie sich innerhalb einer Gruppe bewegen, der sie sich zuge37
38
Besonders große Beachtung finden die psychologisch-neurobiologisch informierten empirischen Forschungen von Ernst Fehr und seinen Mitarbeitern über soziale Kompetenzen des Menschen und seine Bereitschaft, Solidarität zu üben und sich solche Solidarität etwas kosten zu lassen oder sogar die Kosten zu bestreiten, die es bereitet, unsolidarisches Handeln zu bestrafen. Vgl. etwa Fehr, Ernst/ Fischbacher, Urs, Why Social Preferences Matter. The Impact of Non-Selfish Motives on Competition, Cooperation and Incentives, in: The Economic Journal, Jg. 112 (2002), S. C1-C33. Dabei bleiben immer makroökonomische Implikationen neuer Modellierungen der Akteure das Erkenntnisziel. Schon vor Ernst Fehr und seinen Mitarbeitern hat Bruno S. Frey den Weg zur Formulierung empirisch gehaltvoller Modellierungen menschlichen Handelns beschritten und in einem reichen Schrifttum Lösungsansätze skizziert. Vgl. zusammenfassend Frey, Bruno S„ Markt und Motivation. Wie ökonomische Anreize die (Arbeits-)Moral verdrängen, München 1997. Vgl. Olson, Mancur, The Logic of Collective Action. Public Goods and the Theory of Groups, Cambridge/Mass. 1965; North, Douglass C, Structure and Change in Economic History, New York 1981; Siegenthaler, Regelvertrauen, Prosperität und Krisen (wie Anm.
13).
39
Field, Alexander J., Altruistically Inclined? The Behavioral Sciences, Evolutionary The-
ory, and the
Origins of Reciprocity, Ann Arbor 2004.
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hörig fühlen. Zumindest ansatzweise wird hier eine Möglichkeit sichtbar, Auftreten und Grenzen solidarischen Handelns unter Menschen zu erklären und zu prognostizieren. Schon hat man ja versucht, solche Überlegungen nutzbar zu machen zur Interpretation einerseits relativ geringer Solidarität im Kontext eines ethnisch heterogenen Amerika und andererseits hoher Affinität zu sozialstaatlichen Lösungen in ethnisch homogeneren europäischen Staatswesen. Nun ist jedoch unter Menschen die soziale Reichweite solidarischen Handelns variabel. Sie hat eine Geschichte, und zum Verständnis dieser Geschichte scheint die Primatenforschung nicht eben viel beizutragen. Was wir als Menschen von unseren Gattungsgenossen geerbt haben mögen, gehört vielleicht zu den Bedingungen der Möglichkeit solidarischen Handelns; wie die Menschen diese Möglichkeit ausschöpfen, lässt sich in den Bedingungen selber noch nicht erkennen. Vielleicht bringt uns dieses Beispiel dem Gedanken näher, es könnten die Bezüge zwischen den Erkenntnisschichten der Disziplinen-Pyramide Wilsons ganz generell dem Verhältnis zwischen den Bedingungen der Möglichkeit einer bestimmten Erscheinung und der konkreten Nutzung eben dieser Möglichkeit verpflichtet sein. Beethoven hat nichts komponiert, wozu ihn seine neurobiologische Struktur nicht befähigt hat; aber was er gemacht hat, ergab sich aus dieser Struktur vermutlich nicht zwingend.
8. Bei aller Theorienvielfalt verbindet uns eine polyvalente Heuristik der Rationalitätspräsumtion über alle hoch institutionalisierten disziplinären Grenzen hinweg; sie verbindet uns als Menschen, die andere Menschen verstehen, wenn sie sich denn der Mühe unterziehen, die wechselseitiges Verstehen nun einmal bereitet. Die These einer „Inkommensurabilität" von Theoriesprachen lässt sich nicht erhärten, sie lässt sich nicht einmal verständlich formulieren. Es hat sich zeigen lassen, wie sehr sowohl die Ökonomie und mit ihr die Wirtschaftsgeschichte wie die Kulturwissenschaften und mit ihr die Kulturgeschichte auf eine Heuristik der Rationalitätspräsumtion verpflichtet sind: Die neoklassische Ökonomie ist nichts anderes als eine Handlungstheorie, die den Versuch macht, all das durch strikte deduktive Argumentation explizit zu machen, was eine Rationalitätspräsumtion schon impliziert. Dass solche Argumentation sich der Sprache der Mathematik bedient, braucht uns nicht zu wundern; die Sprache der Mathematik bewahrt uns vor logischen Irrtümern und macht den Gang der Argumentation objektiv prüfbar. Freilich vermag eine Heuristik der Rationalitätspräsumtion die Last einer Erklärung menschlichen Denkens und Handelns nicht zu tragen. Sie verweigert sich jeglichem Versuch, in empirisch gehaltvoller Weise über Lernen und Handeln individueller Akteure zu reden, und erst recht scheitert sie an der Aufgabe, den
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Verkettungen nicht intendierter Handlungsfolgen auf der Ebene der Systeme nachzugehen, sie zu verstehen und sie zu prognostizieren. Dazu sind empirisch gehaltvolle Modellierungen des Menschen vonnöten. Diese Einsicht leistet den zur Zeit mit neuer Energie vorgetragenen Projekten Vorschub, dem Verständnis des Menschen, seines Denkens und seines Handelns auf der Grundlage reduktionistischer Heuristiken näher zu kommen: d.h. dem Versuch, in biologischen und insbesondere neurobiologischen Erkenntnissen eine Grundlage zum Verständnis menschlichen Denkens und Handelns zu finden. Wenn sich die Geister scheiden an der Frage, ob heuristischer Reduktionismus den ersehnten Erfolg gewährleisten könne und werde, so begründet dies keine neue Theorienvielfalt. Es lenkt die Aufmerksamkeit in allen Disziplinen auf ein und dasselbe zentrale Problem und verspricht eine alle disziplinären Grenzen sprengende Bündelung von Forschungsenergien. Vielleicht wird man sich darauf verständigen, dass reduktionistische Versuche die Bedingungen der Möglichkeit bestimmten Denkens und Handelns klären, ohne zu sagen oder vorauszusagen, weshalb und in welcher Weise die Menschen ihre Möglichkeiten auch tatsächlich nutzen.
Andreas Hütig
Erkenntnisinteresse und Methodologie der Kulturwissenschaften
1.
Einleitung
In der sich formierenden kulturwissenschaftlichen Landschaft fehlt
es nicht an bestimmen oder zumindest verschiedene Bedeutungsvarianten desselben zu unterscheiden. Prominent ist etwa eine dreifache Differenzierung des Kulturbegriffs wie beim Kulturund Literaturtheoretiker Terry Eagleton Kultur als Zivilisation überhaupt, Kultur als Identität einer Nation oder anderen Gruppe, Kultur als Waren- und Werkwelt1 -, der Philosoph Hubertus Busche unterscheidet in einem programmatischen Aufsatz zur Neuorientierung der einstmals marxistischen Zeitschrift Dialektik, die in den Jahren 2000-2007 den Untertitel „Zeitschrift für Kulturphilosophie" trug und diesen nun zum alleinigen Titel gemacht hat, vier historische Grundbedeutungen des Kulturbegriffes Kultur als vervollkommnende Pflege, als Grad erworbener Vervollkommnung, als charakteristischer Traditionszusammenhang und schließlich als Welt der Werte und Werke in Kunst, Philosophie und Wissenschaft2 -, und in einer aktuellen Einführung in die Kulturwissenschaft nennt die bekannte Anglistin und Gedächtnisforscherin Aleida Assmann sogar sechs Bedeutungen, von denen je drei wertneutral und drei wertbehaftet sind: Die Begriffe von Kultur als Pflege von Körper und/oder Geist, Kultur als gesellschaftliche oder nationale Eigenart, Kultur als Universalbegriff dessen, was zwischen Menschen der Fall ist, stehen den Begriffen von Kultur als emphatischem Begriff von elaborierten Geisteswerken, Kultur als Zivilisierung der Triebnatur und dem kritischen Kulturbegriff einer Wertschätzung der auratisch-emanzipatorischen Funktion von Kunst gegenüber.3
Versuchen, mit dem Begriff der Kultur den Grundterminus
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1
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Vgl. Eagleton, Terry, Was ist Kultur?, München 22001. Vgl. Busche, Hubertus, Was ist Kultur? Erster Teil: Die vier historischen Grundbedeutungen, in: Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie (2000), S. 69-90. Vgl. Assmann, Aleida, Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen, Berlin 2006, S. 9ff.
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Differenzierungen ist erkennbar, dass bereits als umstritten gelten muss, ob Kultur ein Sammelterminus für symbolische Konstrukte und Konstellationen, für materiale Gegenstände oder gar für eine allgemeine oder spezifische habituelle Verhaltensausprägung oder Eigenschaft des Menschen ist, welchen Gegenstandsbezug der Begriff also überhaupt besitzt. Die am häufigsten anzutreffende, gewissermaßen neutralste Verwendung ist wohl die eines Sets von zusammenhängenden, mehr oder weniger konsistenten Werten, Normen, kognitiven An den skizzierten
Stilen, Institutionen und Codes, die in einer Gemeinschaft anzutreffen sind und
einen gewissen Einfluss auf die Handlungen der Mitglieder derselben haben. Mit einer solchen Bestimmung hält man sich zumindest in der letztgenannten Frage nach dem Gegenstandsbereich mehrere Möglichkeiten offen. Der vorliegende Beitrag will und kann die Misslichkeit des Kulturbegriffes weder beheben noch etwa den zahlreichen Bestimmungen eine weitere hinzufügen. Vielmehr soll gefragt werden, was Kulturwissenschaften dass dieser Terminus ebenfalls nicht einheitlich gebraucht wird, wird noch auszuführen sein sind und tun. Das Interesse gilt dabei jedoch nicht primär der Frage, ob wenigstens hier, im Kontext einer sich formierenden und sich als Reformunternehmen begreifenden Fächerkonstellation ein einheitlicher oder ein zumindest jeweils definitiv bestimmter Kulturbegriff angelegt werde, sondern setzt noch früher an, und zwar sowohl aus systematischen Gründen wie aus der methodischen Erkenntnis heraus, dass die Bezeichnung „Kulturwissenschaften" ebenfalls nicht gerade einheitlich gehandhabt wird. Daher ist gewissermaßen eine Ebene tiefer anzusetzen und danach zu fragen, was Kulturwissenschaftler tun, wenn sie ihre Wissenschaft betreiben, bzw. was sie sagen, dass sie tun, und was sie selbst als Grund angeben, warum sie es tun. Ziel ist es daher, das Erkenntnisinteresse und Grundzüge der Methodologie der Kulturwissenschaften zu beleuchten und so deren explizites oder implizites Selbstverständnis aufzudecken. Intendiert ist also eher eine analytische, im Ergebnis kritische, aber vorsichtig wohlwollende Rekonstruktion einer Forschungsrichtung, die in den letzten Jahren mit großer Dynamik und wissenschaftspolitischen Erfolgen Mittelzuweisung, Institutionalisierung, Ausschreibungen in den Geistes- und Sozialwissenschaften um sich gegriffen hat. Methodisch wird dabei so vorgegangen, dass aus der Flut der in den letzten Jahren erschienenen Einführungen in die Kulturwissenschaft (Singular) oder die Kulturwissenschaften (Plural), in kulturwissenschaftliche Positionen und Ansätze sowie programmatischer Neubestimmungen traditioneller Geisteswissenschaften „als Kulturwissenschaft" exemplarische Veröffentlichungen herausgenommen und diese auf die genannten Fragen hin untersucht werden. Dabei stütze ich mich einigermaßen lose auf die Bemerkungen von Thomas S. Kuhn über die Rolle, die Lehrbücher und Kompendien für den wissenschaftlichen Nachwuchs bei der Rolle der Tradie-
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Paradigmata spielen,4 dass diese nämlich anhand von konkreten Problemlösungen, die die Fachwelt akzeptiert hat, das konsensuelle Wissen einer normalwissenschaftlichen Gemeinschaft darstellen und vermitteln. Die Musterbeispiele führen dabei die Nachwuchswissenschaftlerinnen in die disziplinäre Matrix, das akzeptierte Paradigma ein und etablieren dieses ohne Problematisierung von dessen Grenzen oder den Gründen für oder gegen eine andere Grundorientierung. Ein Paradigma funktioniert, so Kuhn, „indem es dem Wissenschaftler sagt, welche Entitäten es in der Natur gibt und welche nicht, und wie sie sich verhalten."5 Indem die junge Wissenschaftlerin ein Paradigma erlernt, erwirbt sie „Theorien, Methoden und Normen"6, in deren Rahmen weitere Untersuchungen Bestimmung bedeutsamer Fakten, Anpassung von Fakten und Theorien, Ausartikulation des Paradigmas möglich sind. Zu behaupten, dass die Kulturwissenschaften oder auch nur eine von ihnen, falls es mehrere gibt tatsächlich ein Paradigma (oder mehrere) im Sinne Kuhns besitzen, wäre vermutlich zu hoch gegriffen, auch wenn einzelne Protagonisten dies rung
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durchaus so formulieren würden, sowohl für die kulturwissenschaftliche Neuorientierung der Geisteswissenschaften im Ganzen wie auch für einzelne Ansätze. Aber aus der erstaunlichen Konjunktur der Termini „Kulturwissenschaft" und „Kulturwissenschaften", die beinahe der epidemischen Verbreitung des Kulturbegriffes selbst vergleichbar ist,7 und aus der bereits erwähnten Flut von Einführungen und Übersichten über die verschiedenen Ansätze lässt sich doch zumindest die Arbeitshypothese gewinnen, dass es sich im Selbstverständnis um eine wissenschaftliche Revolution handelt, die sich mit den genannten Schriften in der Phase der Konsolidierung und der Etablierung der Grundvorstellungen im wissenschaftlichen Raum befindet. Dass eine erschöpfende Untersuchung dabei nicht möglich war, dürfte sich von selbst verstehen, es sollten aber zumindest einigermaßen repräsentative Werke in die Analyse einbezogen worden sein. Dazu zählen > der mittlerweile in zweiter Auflage (2002) vorliegende „Klassiker" Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will von Hartmut Böhme, Peerstmals 2000 in der populären Reihe roter Matussek und Lothar Müller8 wohlts enzyklopädie erschienen; -
4
Vgl. KUHN, Thomas S., Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/Main 21976,
5
Vgl. ebenda, S. 121. Ebenda, S. 122. Vgl. z. B. die satirische Kritik an der reflexionslosen Bildung von Komposita mit ,,-kultur" bei Henvon der „Entfeindungskultur" über die „Hinschaukultur" bis zur „Aufbahrkultur"
S. 6 7
15ff., S. 148ff.u.
ö.
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scheid, Eckhard, Alle 756 Kulturen. Eine Bilanz, Frankfurt/Main 2001. Böhme, Hartmut/ Matussek, Peter/ Müller, Lothar, Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will, Reinbek 2002. -
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der Band Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte9, ebenfalls in der genannten Reihe rowohlts enzyklopädie erschienen und 2002 von Claudia Benthien und Hans Rudolf Veiten herausgegeben; > die Aufsatzsammlung Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Ansätze 2003 im Metzler Grundlagen Perspektiven, Verlag herausgegeben von Ansgar Nünning und Vera Nünning, die exemplarisch für weitere von Ansgar Nünning betreute Publikationen steht, etwa für den Band Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft, 2003 in der Reihe narr Studienbücher (hg. mit Roy Sommer), den studienhandbuchartigen kleinen Band Grundbegriffe der Kulturtheorie und Kulturwissenschaften, 2005 in der Sammlung Metzler erschienen, sowie für das umfangreichere Metzler Lexikon Literaturund Kulturtheorie. Ansätze Personen Grundbegriffe (3. Auflage 2004)10; > der Titel Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Eine Einführung von Franziska Schößler, erschienen 2006 als UTB Taschenbuch11; > sowie die bereits genannte Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen, Berlin 2006, von Aleida Assmann12. > Hinzu kommt die programmatische Rede „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Kulturwissenschaften?" von Jörn Rüsen, dem Präsidenten des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen ein Vortrag aus dem akademischen Jahr 1998/99, zuerst veröffentlicht im Jahr 2000.13 Diese wurden teils wegen ihrer Popularität, teils wegen ihres exemplarischen Charakters ausgewählt. In den Bänden von Böhme u.a., von Benthien und Veiten, von Nünning/ Nünning sowie in den Monographien von Schößler und Assmann finden sich Kapitel oder Aufsätze über die verschiedenen virulenten Einzelansätze, seien es Historische Anthropologie, Geschlechter-, Medien-, Erinnerungsforschung, Xenologie usw., so dass auf die ebenfalls nicht unerhebliche Zahl von Einzeleinfüh>
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Benthien, Claudia/ Velten, Hans Rudolf (Hg.), Germanistik als Kulturwissenschaft.
Eine 10
Einführung in neue Theoriekonzepte, Reinbek 2002.
Nünning, Ansgar/ Nünning, Vera (Hg.), Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen Ansätze Perspektiven, Stuttgart u.a. 2003; Nünning, Ansgar/ Sommer, Roy (Hg.), Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft, Tübingen 2004; Nünning, Ansgar (Hg.), Grundbegriffe der Kulturtheorie und Kulturwissenschaften, Stuttgart u.a. 2005; Nün-
(Hg.), Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Grundbegriffe, Stuttgart u.a., 3. aktualisierte und erw. Aufl. 2004. ning, Ansgar
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Ansätze
Personen -
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SCHÖßLER, Franziska, Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Eine Einführung,
Tübingen 2006. 12
13
Assmann, Einführung in die Kulturwissenschaft (wie Anm. 3), Berlin 2006. Zitiert nach folgendem Text: Rüsen, Jörn, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Kulturwissenschaften?, in: Kultur verstehen. Zur Geschichte und Theorie der Geisteswissenschaften, hrsg. von Kühne-Bertram, Gudrun/ Lessing, Hans-Ulrich/ Steenblock, Volker, Würzburg 2003, S. 119-127.
Erkenntnisinteresse und Methodologie der Kulturwissenschaften rungen, die
es
jeweils
zu
diesen
spezifischen
Ansätzen ebenfalls
53
gibt,
verzichtet
werden konnte.14
2. Was sind Kulturwissenschaften? Zunächst ist aber damit zu beginnen, den Terminus ,Kulturwissenschaft(en)' genauer zu umreißen er ist nämlich ebenso umstritten wie der Kulturbegriff selbst. Wissenschaftspolitisch ist dieser Begriff, obwohl es schon seit dem späten 19. Jahrhundert Verwendungen sowohl als Singular wie auch als Plural gegeben hat, seit den 1980er Jahren ein Kampfbegriff in der Debatte um Krise und Zukunft der Geisteswissenschaften. Diagnostizierte Friedrich Kittler schon 1980 eine „Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften"15, so geschah das damals noch in Aufnahme der poststrukturalistischen Diskussion um die Zulässigkeit subjektphilosophischer Großbegriffe. 1989 sinnierte Jürgen Mittelstraß über „Glanz und Elend der Geisteswissenschaften"16 und nahm vorweg, was dann 1991 die einflussreiche, im Auftrag des Wissenschaftsrates und der Westdeutschen Rektorenkonferenz verfasste Denkschrift Geisteswissenschaften heute11 explizit empfahl: eine Neuorientierung der Geisteswissenschaften als Kulturwissenschaften. Unter Aufnahme der angelsächsischen Cultural Studies, die aus der literaturwissenschaftlichen Schule des New Historicism und der marxistisch inspirierten „Birmingham School" entstanden, weitestgehend auf die populäre Kultur beschränkt sind und wesentlich stärker versuchen, selbst als politisch-gesellschaftlicher Akteur Einfluss zu nehmen, formierten sich auch in Deutschland verschiedene Forschungsschwerpunkte, Studiengänge und Graduiertenkollegs, die Kulturwissenschaft' im Titel trugen und -
14
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16 17
Dies gilt auch für die entsprechenden Abschnitte in Einführungen, die allgemein in Fächer und Disziplinen einführen; vgl. etwa das Kapitel „Neue Felder der Geschichtswissenschaften" mit den Unterabschnitten „Mentalitätsgeschichte", „Technikgeschichte", „Geschichte der Erinnerungskulturen", „Religionsgeschichte", „Geschlechtergeschichte" und „Historische Anthropologie" in CORNELlßEN, Christoph (Hg.), Geschichtswissenschaften. Eine Einführung, Frankfurt/Main 2000. Mittlerweile hat der Rowohlt-Verlag in der Reihe rowohlts enzyklopädie den vierten einschlägigen Band veröffentlicht; neben den beiden oben genannten und dem frühen von Böhme, Hartmut/ Scherte, Klaus R. (Hg.), Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle, Reinbek 1996 u. ö., erschien jüngst Becker, Sabina, Literatur- und Kulturwissenschaften. Ihre Methoden und Theorien, Reinbek 2007. Hinzu kommt der Band von Bachmann-Medick, Doris, Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2006. Vgl. Kittler, Friedrich (Hg.), Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Programme des Poststrukturalismus, Paderborn u.a. 1980. Vgl. MITTELSTRAß, Jürgen, Glanz und Elend der Geisteswissenschaften, Oldenburg 1989. Vgl. Frühwald, Wolfgang u.a., Geisteswissenschaften heute. Eine Denkschrift, Frankfurt/Main 1991.
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tragen. Geleitet sowohl von der vagen geschichtsphilosophischen Einsicht ins „Ende der großen Erzählungen" (Lyotard) wie von der faktischen Pluralisierung der
Lebenswelten und Zugänge, kommt heute kaum eine Ausschreibung oder ein Projektantrag ohne diesen Zusatz aus. Doch was Kulturwissenschaft genau ist oder meint, ist äußerst divers. Sieht man einmal von einer gelegentlich zu findenden, ideosynkratischen Benennung der Volkskunde bzw. der Europäischen Ethnologie als Kulturwissenschaft ab, sind es, soweit zu sehen ist, v. a. drei unterschiedliche Dimensionen: Zunächst meint der Begriff eine übergreifende Perspektive, die das ganze Spektrum der traditionellen Geisteswissenschaften integrieren bzw. transzendieren soll und diese damit in ein „Geflecht von Beziehungen, Vergleichen, Differenzen, Austauschprozessen und Kontexten"18 verwickelt. Kulturwissenschaft in diesem Sinne zumeist im Singular betitelt ist also eine eigene Disziplin, die aber vornehmlich auf der Metaebene operiert und zwar nicht eine neue Einheits- oder Totalitätswissenschaft wird, aber doch mit einem höheren Allgemeinheitsanspruch als die Einzelwissenschaften sowohl in Bezug auf die Gegenstände als auch in Bezug auf die Ergebnisse auftritt. In einem zweiten Sinne fungiert die Bezeichnung potenziell oder tatsächlich im Plural als programmatisches Schlagwort der Neuorientierung der Literatur-, Geschichts- und Sozialwissenschaften als Kulturwissenschaften, erkennbar an der Beliebtheit von Buch- oder Aufsatztiteln der Form „XY als Kulturwissenschaft".19 Hier wird ein Wandel der Methoden, Ansätze und Ziele der bestehenden Geistesund Sozialwissenschaften vorgeschlagen, teils auch nur eine neue Art der Vernetzung zwischen denselben. In einem dritten Sinn bezeichnet der Terminus eine neue Art von Wissenschaften, die auf bisher nicht oder nur unzureichend erschlossene -
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Böhme, Hartmut/ Scherpe, Klaus R., Zur Einführung, in: Literatur und Kulturwissenschaften (wie Anm. 9), S. 7-24, hier S. 12.
Vgl. neben den genannten Bänden von Benthien/ Velten (wie Anm. 9) und SCHÖßLER (wie Anm. 11) z. B. das Themenheft „Germanistik als Kulturwissenschaft" der Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, Jg. 46 (1999), oder das Themenheft „Mediävistik als Kulturwissenschaft?", immerhin mit Fragezeichen, in: Das Mittelalter, Jg. 5 (2000), H 1. Vgl. weiter Haug, Walter, Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft?, in: Deutsche Vierteljahresschrift, Jg. 73 (1999), S. 69-93; Engel, Manfred, Kulturwissenschaft/en Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft, in: KulturPoetik, Jg. 1 (2001), S. 8-36; Bickendorf, Gabriele, Kunstgeschichte als historische Wissenschaft, in: Kunsthistorische Arbeitsblätter (2002), H. 7-8, S. 35-44; Engel, Manfred/ Gutjahr, Ortrud/ Braungart, Wolfgang (Hg.), Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Interkulturelle Alterität Interdisziplinarität und Medialität Konzeptualisierungen und Mythographie. Akten des X. internationalen Germanistenkongresses, Wien 2002; SCHWELLING, Birgit (Hg.), Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft. Theorien, Methoden, Problemstellungen, Opladen 2003. Andersherum funktioniert die Relationierung natürlich auch: Karmasin, Matthias/ Winter, Carsten (Hg.), Kulturwissenschaft als Kommunikationswissenschaft. Projekte, Probleme und Perspektiven, Wiesbaden 2003. -
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Erkenntnisinteresse und Methodologie der Kulturwissenschaften
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Gebiete zwischen den bestehenden Disziplinen ausgerichtet sind oder den Anspruch haben, deren blinde Flecke oder Leerstellen aufzuhellen. Beispielhaft zu nennen sind hier die Historische Anthropologie oder die Kulturwissenschaftliche Xenologie, Geschlechterforschung oder Medienkulturwissenschaft. Mit allen drei Verwendungen geht eine affirmative Einstellung zur Krisendiagnose der bestehenden Geisteswissenschaften einher, die die neue Perspektive, die neue Orientierung oder die neuen Wissenschaften nötig macht. Es bestehen daneben weitere Gemeinsamkeiten darin, dass der Einbezug nichtkanonischer Quellen und Dokumente gefordert und praktiziert, ein im weitesten Sinne semiotisches Verständnis von Kultur als Zeichensystem angelegt und eine Inblicknahme der materialen, sozialen und mentalen Dimensionen von Kultur in deren historischem Wandel favorisiert wird. Oft wird zudem einerseits eine Theorieorientierung und eine metawissenschaftliche Reflexion auf den eigenen Wissenschaftsstatus behauptet bzw. in Anspruch genommen, andererseits ein kritisches Verhältnis gegenüber bisherigen wissenschaftlichen Standards, Praxen oder Wahrheitsansprüchen etwa in der Folge poststrukturalistischer Repräsentationskritik artikuliert. Im Folgenden wird bei aller Heterogenität und möglichen Inkonsistenz zwischen den verschiedenen Ansätnicht weiter zwischen diesen Varianten unterschieden, sondern ein weites zen Verständnis von kulturwissenschaftlicher Orientierung angelegt und von Kulturwissenschaften im Plural gesprochen. Dabei kann die Frage, ob es sich bei diesen um eine Neuorientierung oder eine Ergänzung bestehender Disziplinen oder gar um eine Metadisziplin handelt, beiseite gelassen werden. Für die Untersuchungsziele ist diese Frage zwar v. a. mit Blick auf die Methodologie nicht gänzlich unerheblich, kann aber für die hier angestrebte Allgemeinheit der Aussagen ausgeblendet werden. -
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3. Zu Erkenntnisinteresse und Funktion der Kulturwissenschaften Aus der eben vergegenwärtigten Genese der Virulenz der Kulturwissenschaften' seit den 1990er Jahren, insbesondere der geschilderten Krisendiagnostik, ergibt sich die erste Frage die nach dem Erkenntnisinteresse und, damit zusammen hängend, die nach dem Selbstverständnis und der vorgesehenen Rolle der Kulturwissenschaften. Fragt man nach dem Erkenntnisinteresse von Wissenschaften, so kann diese Frage auf verschiedenen Ebenen gestellt werden. Zum einen wird danach gefragt, was mit der in Rede stehenden Wissenschaft oder Wissenschaftsgruppe untersucht und erklärt werden soll, was also Gegenstand oder Gegenstände und Erklärungsziel sind. Aus einem historischen Interesse heraus z. B. werden andere Fragen gestellt und andere Methoden präferiert als aus einem literaturwissenschaftlichen Interesse heraus, selbst wenn dieses sich auf die historische Kontextualisierung von literari-
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sehen Texten richtet oder beide an denselben materialen Gegenständen arbeiten, historischen Schriftstücken. Da aber aufgrund des unklaren Gegenstandsbezudes ges Zentralbegriffes Kultur und aufgrund der genannten Krisendiagnose, zu der auch die Problematisierung bisheriger Kriterien von gesellschaftlicher Relevanz zählt, die Frage nach dem Selbstverständnis nicht in einer Beschreibung der Gegenstände und Methoden aufgeht, wird das Erkenntnisinteresse in der Folge auf einer anderen, metawissenschaftlicheren Ebene herauszuarbeiten versucht, und zwar im Rückgriff auf die Erklärungen darüber, zu welchem Zweck oder mit welchem Ziel die gesamte wissenschaftliche Unternehmung jeweils in Angriff genommen wird. Daraus lassen sich dann Rückschlüsse auf Gegenstände und Methoden schließen. Bekanntlich geht eine verbreitete Differenzierung verschiedener Erkenntnisinteressen dieses Abstraktionsniveaus auf Jürgen Habermas zurück, der in seiner Antrittsvorlesung von 1965 und in einer umfangreicheren Monographie20 gegen die These von der Interesselosigkeit der Wissenschaften argumentiert und drei Erkenntnisinteressen identifiziert: das technische Interesse an Naturbeherrschung und an Prognosen, das in den hypothetisch-deduktiv und experimentell verfahrenden Naturwissenschaften vorherrscht und sich im Medium der Arbeit vollzieht, das praktisch-bewahrende Interesse an Konsensbildung und Traditionsweitergabe, das in den hermeneutisch und applikativ verfahrenden historisch-hermeneutischen Wissenschaften vorherrscht und sich in Sprache vermittelt, sowie das emanzipatorische Interesse an der Auslösung von Reflexionsprozessen, das in den zugleich nomologisch wie situativ verfahrenden Handlungswissenschaften Habermas nennt explizit die Psychoanalyse und die Ideologiekritik sowie eine emanzipatorische Soziologie als Beispiele zu finden ist und im Medium der Herrschaft das Verhältnis von Ich-Identität und Normen und Zwängen analysiert. Nun ist hier keineswegs die Habermas'sche Konzeption umstandslos zu übernehmen und schematisch anzuwenden, gerade auch mit Blick auf die Debatten über etwa
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20
zum Folgenden Habermas, Jürgen, Erkenntnis und Interesse, in: ders., Technik und Wissenschaft als ,Ideologie', Frankfurt/Main 1968 u. ö„ S. 146-168; ders., Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/Main 1968, erw. Ausg. 1973 u. ö. Eine Variante, wo nicht ein veritabler Vorläufer dieser Dreiteilung findet sich schon bei Nietzsche mit dessen Unterscheidung von monumentalischer, antiquarischer und kritischer Historie, deren Dienlichkeit für das Leben differiert, anders ausgedrückt: verschiedene Interessen befriedigt. Vgl. Nietzsche, Friedrich, Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben [1874], Kritische Studienausgabe (KSA), Band 1, hrsg. von Colli, Giorgio/ Montinari, Mazzino, München 21988, S. 243-334. Auch bei anderen Denkern finden sich ähnliche Unterteilungen, so etwa bei Scheler, der zwischen Bildungs-, Nützlichkeits- und Erlösungswissen unterscheidet; vgl. SCHELER, Max, Die Wissensformen und die Gesellschaft, Leipzig 1926; ders., Die Formen des Wissens und die Bildung, in: ders., Philosophische Weltanschauung, München 1954, S. 16-48.
Vgl.
Erkenntnisinteresse und Methodologie der Kulturwissenschaften
57
die von ihm kritisierte These von der Interesselosigkeit der Wissenschaften im Umfeld des so genannten Positivismusstreites in den deutschen Sozialwissenschaften, der Kontroverse mit Luhmann und der zugestandenen Diskussionswürdigkeit einer metawissenschaftlichen These von vorgängigen Erkenntnisinteressen.21 Die Orientierung der traditionellen Geisteswissenschaften an Kontinuitäten und ihr Interesse einer konservierenden Reaktualisierung von Traditionen und Modellen der Sinnstiftung wird jedoch auch von methodisch wie politisch anderer Seite vertreten. Die so genannte Kompensationstheorie etwa postuliert als Aufgabe der Geisteswissenschaften gerade die Beschäftigung mit dem kulturellen Erbe, um damit die Sinnverluste und die Enthumanisierungstendenzen der modernen technisch-wissenschaftlichen Rationalität und der Ökonomisierung auszugleichen. In diesem Sinne hat Odo Marquard von der „Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften"22 gesprochen, weil diese allein mit Sensibilisierungs-, Orientierungs- und Bewahrungsgeschichten Modernisierungsfolgen kompensieren können. Welchen Erkenntnisinteressen folgen nun die Kulturwissenschaften? Zur Beantwortung dieser Frage hilft ein Blick auf die nachstehende Reihe von illustrativen Einschätzungen der Selbst- und Überblicksdarstellungen aus den genannten Sammelbänden und Einführungen: > Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaften sind Auslegungsinstitutionen der kulturellen Selbstreflexion, sie „machen auf unterschiedliche Medien und das Problem von Medialität aufmerksam" und fördern insgesamt die „Einsicht in die Funktion literarischer Texte als Medien des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses".23 Der Literaturwissenschaft geht es dann „nicht mehr -
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21
die Neuedition des klassischen Sammelbandes Adorno, Theodor W./ Albert, Hans/ Dahrendorf, Ralf (Hg.), Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, München 1993, sowie jüngst Dahms, Hans-Joachim, Positivismusstreit. Die Auseinandersetzungen der Frankfurter Schule mit dem logischen Positivismus, dem amerikanischen Pragmatismus und dem kritischen Rationalismus, Frankfurt/Main 32007. Zur Auseinandersetzung mit Luhmann vgl. Habermas, Jürgen/ Luhmann, Niklas, Theorie der Gesellschaft oder Sozial-
Vgl.
technologie. Was leistet die Systemforschung?, Frankfurt/Main 22
1974.
Marquard, Odo, Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften, in: ders., Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien, Stuttgart 1986, S. 98-116. Vgl. weiter zur Kompensationstheorie v. a. die Schriften des zeitweiligen Assistenten Ernst Cassirers, Joachim Ritter, und seiner Schüler, z. B. RITTER, JOACHIM, Hegel und die Reformation [1968], in: ders., Me-
taphysik
und Politik. Studien
zu
Aristoteles und
Hegel,
erw.
Neuausgabe
Frankfurt/Main
2003, S. 310-317; Marquard, Odo, Positive Entzweiung. Joachim Ritters Philosophie der bürgerlichen Welt, in: ebenda, S. 442-456. Eine Verteidigung der Kompensationstheorie versucht in jüngerer Zeit Heidbrink, Ludger, Kompensatorische Kulturkritik. Verteidigung eines
aktuellen
Programms,
in: Internationale Zeitschrift für
Philosophie, Jg. 9 (2000),
S. 190-
220. 23
Vobkamp, Wilhelm, Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft, in: Konzepte der Kulturwissenschaften (wie Anm. 10), S. 73-85, Zitate S. 78, S. 80 (Hervorhebungen getilgt).
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Form und Struktur des Kunstwerkes als abgeschlossenem Gebilde, [...] sondern um seine Funktionen und Wirkungen in den historisch bestimmbaren Kulmren seiner Zeit".24 Kulturanthropologie als „Wissenschaft von (fremden) Kulturen" ist „erkenntniskritische Verfremdung eigener Traditionen, Standorte und Überzeugungen" und objektiviert mit der „Metapher von der Kultur als Text" Zusammenhänge, um Bedeutungen „jenseits von Subjektintentionen und flüchtigen, subjektiven Handlungsumständen" festzuhalten.25 Die Historische Anthropologie fragt nach den Formen, in denen der Mensch sich als Mensch konstituierte, und untersucht dazu „Erfahrungen von Liebe und Armut, Formen der Frömmigkeit und Arbeitsweisen, die Einstellung gegenüber Verbrechen und die Wahrnehmung des Körpers"; sie insistiert dabei auf dem bzw. zeigt den „Konstruktcharakter sämtlicher kultureller Äußerungsformen" und die „Eingebundenheit des Menschen in historische Prozesse, von denen er mitgestaltend gestaltet wird".26 Sie richtet ihre Aufmerksamkeit auf die „Teilhabe der Geschichte der Metaphern und Bilder vom Menschen an der Produktion dessen, wovon sie sprechen und handeln [...]", wodurch einerseits die „Anbindung an vorgängige Annahmen über das Substrat des ,Humanen' im moralischen Sinn" vermieden wird wie andererseits die „Effekte von Formierungen, Aus- und Einschlüssen, Parzellierungen und Segmentierungen" des Menschlichen und seiner ,Natur' analysierbar werden.27 Die Gedächtnis- und Erinnerungsforschungen „fungieren als Institutionen, die unser kulturelles Erbe verwalten". Sie bilden eine „Instanz, die die eigene Erinnerungsarbeit anhand eines theoretischen und begrifflichen Instrumentariums reflektieren kann und verschiedene Erinnerungskulmren zu vergleichen vermag".28 Der „Gedächtnis-Diskurs" umfasst auch psychologische, soziologische und politologische Ansätze; die daran beteiligten „Literatur- und Kunstwissenschaften [...] untersuchen das ,kulturelle Gedächtnis', das sich langfristig in Texten und Bildern, Vorstellungen und Praktiken als ein kulturelles Erbe aufbaut."29 nur um
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Benthien, Claudia/ Velten, Hans Rudolf, Einleitung, in: Germanistik als Kulturwissenschaft (wie Anm. 9), S. 7-34, hier S. 19. Bachmann-Medick, Doris, Kulturanthropologie, in: Konzepte der Kulturwissenschaften (wie Anm. 10), S. 86-107, Zitate S. 86, S. 87, S. 90 (Hervorhebungen getilgt). Neumeyer, Harald, Historische Anthropologie, in: Konzepte der Kulturwissenschaften (wie Anm. 10), S. 108-131, Zitate S. 111, S. 113, S. 115 (Hervorhebungen getilgt). Böhme/ Matussek/ Müller, Orientierung Kulturwissenschaft (wie Anm. 8), S. 134. Erll, Astrid, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, in: Konzepte der Kulturwissenschaften (wie Anm. 10), S. 156-185, hier S. 157. Assmann, Einfuhrung in die Kulturwissenschaft (wie Anm. 3), S. 179.
Erkenntnisinteresse und Methodologie der Kulturwissenschaften >
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Die Geschlechter- oder Genderforschung hat die „Wirksamkeit der Relation der Geschlechter für das gesamte Gebiet der Kultur hervorgehoben", wodurch „die Hierarchie der Geschlechter nicht länger als Ausdruck von naturgegebenen Eigenschaften von Frauen und Männern angesehen und legitimiert" werden konnte. „In Frage gestellt wurde somit v. a. die Objektivität und Neutralität einer ,ungeschlechtlichen' Wissenschaft, die sich traditionsgemäß auf die Verallgemeinerung der Lebenserfahrung von Männern gestützt und die geschlechtsspezifischen Machtverhältnisse innerhalb unserer Kultur kaum berücksichtigt hatte."30 So „entschleiert [..] [sie] ein Geschlechterregime, dessen Wirkungsmacht nicht zuletzt von seiner gelungenen Maskierung getragen wird"31, und kritisiert alle Formen der „hegemonialen Kulturgeschichtsschrei-
bung".32
Die Kulturwissenschaftliche Xenologie will „dem erhöhten Bedarf an xenologischem Wissen gerecht [..] werden", der durch die Herausforderung erzeugt wird, „mit Angehörigen anderer Traditionen, Rechtssystemen, Sprachen und kollektiven Sinnentwürfen interagieren zu müssen", weil die „Interdependenz des Eigenen und Fremden [..] der anthropologische Modus unserer Existenz" ist.33 So wird die Alteritätsforschung zur Aufdeckung von „kulturellen Dispositionen der beschreibenden Kultur" und thematisiert die „Historizität der Erfahrung des Fremden".34 Betrachtet man vor dem Hintergrund der oben skizzierten Typologien von Erkenntnisinteressen die Selbstauskünfte der Kulturwissenschaften, so fügen sich diese nicht umstandslos in das genannte Schema ein und unterscheiden sich somit prima facie von Bestimmungen der klassischen Geisteswissenschaften. Vielmehr lässt sich sagen, dass nach ihrem eigenen Selbstverständnis die Kulturwissenschaften Elemente des oben mit Habermas praktisch und emanzipatorisch genannten Interesses verbinden. Kulturwissenschaften verstehen sich als reflexive Erforschung der Sinnstiftungsleistungen derjenigen Gemeinschaft, der sie selbst angehören wohl und gerade auch da, wo sie die Leistungen anderer Gemeinschaften rekonstruieren -, und damit als Verkörperung des „denkend auf die Spitze getriebenen reflexiven >
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Hof, Renate, Kulturwissenschaften und Geschlechterforschung, in: Konzepte der Kulturwissenschaften (wie Anm. 10), S. 329-350, Zitate S. 332, S. 330. Klinger, Judith, Gender-Theorien: Ältere deutsche Literatur, in: Germanistik als Kulturwissenschaft (wie Anm. 9), S. 267-297, hier S. 268. Bischoff, Doerte, Gender-Theorien: Neuere deutsche Literatur, in: Germanistik als Kulturwissenschaft (wie Anm. 9), S. 298-322, hier S. 299. Wierlacher, Alois / Albrecht, Corinna, Kulturwissenschaftliche Xenologie, in: Konzepte der Kulturwissenschaften (wie Anm. 10), S. 280-306, Zitate S. 280, S. 281. Münkler, Marina, Alterität und Interkulturalität: Ältere deutsche Literatur, in: Germanistik als Kulturwissenschaft (wie Anm. 9), S. 323-344, Zitate S. 324, S. 323.
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Sinn."35 Damit lehnen sie für sich das Neutralitätspostulat von Wissenschaft ab und sehen sich an der Produktion von gesellschafts- und mentalitätsverändernden Ideen aktiv beteiligt.
Charakter[s]
von
Im Einzelnen kann man systematisch gesehen drei zentrale Funktionen unterscheiden:36 erstens das Verstehen der verschiedenen symbolischen Ordnungen samt der Differenzen zwischen diesen und damit die Orientierung in der geteilten Le-
benswelt, zweitens das
Überprüfen
bestehender Entwürfe auf Konsistenz, Erfahund das Aufdecken von deren unhinterfragten rungsbezug, Orientierungsfähigkeit Selbstverständlichkeiten und deren machrverschleiernden Ausschlüssen, also die Kritik, und drittens die Überschreitung der vorhandenen Deutungen hin auf neue Richtungen des Handelns und des Umgangs mit sich selbst und Anderen, mithin die Utopie. Auch wenn diese nicht im klassischen Sinn als Darstellung perfekter Welten praktiziert wird, haben die Kulturwissenschaften im Ganzen doch einen kultivierenden oder zivilisierenden Anspruch, der darin zum Ausdruck kommt, dass sie durch ihre Aufdeckungen und Vernetzungen das Verständnis für Differenzen vorantreiben und Orientierungshorizonte präsentieren. Damit bewegen sich die Kulturwissenschaften programmatisch und von ihrem Selbstverständnis her in einem Bereich zwischen den von Habermas für die Geistesund die Handlungswissenschaften genannten Erkenntnisinteressen. Sie wollen sowohl archivarisch und konservierend wie emanzipatorisch und kritisch tätig sein und beanspruchen die Funktion einer Reflexionsinstanz über kulturelle Prozesse der Gegenwart und Vergangenheit ebenso wie einer Steigerung der Freiheitlichkeit und der Effektivität der kommunikativen Strukturen und Institutionen. Wie von Marquard behauptet, reagieren sie damit auf Modernisierungsprozesse, aber nicht wie bei ihm in Form einer resignativen Bescheidung auf sinngefüllte Reservate des von einer sinnentleerten, industrieller Rationalität unterworfenen Welt umgebenen Resthumanismus', sondern in Form einer konstruktiven Zeitgenossenschaft, die orientierende, kritische und utopische Anteile besitzt. Es stellt sich jedoch die Frage, wie genau diese Interessen erreicht werden sollen und ob sie dies mit der bloßen Präsentation von alternativen Systemen der Sinnstiftung, inter- und transkulturellen Einflüssen und medialen oder machttechnischen Dispositivierungen bewerkstelligen können. Daher ist zur Methodologie der Kulturwissenschaften überzugehen, d. h. zu systematischen Fragen des Erklärungs- oder Verstehensanspruches, der Gegenstandskonstitution und der Begriffsbildung.
RÜSEN, Was heißt und zu welchem Ende (wie Anm. 13), S. 121. Vgl. ähnlich ebenda, S. 124f.
Erkenntnisinteresse und Methodologie der Kulturwissenschaften
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4. Zur Methodologie der Kulturwissenschaften Um dem Anspruch, Kulturwissenschaften) zu sein, gerecht zu werden, muss wie eben angedeutet vermutlich mehr geleistet werden als bloß neue Konstellationen -
bekannten und unbekannten Kulturprodukten zu erstellen, eine andere Geschichte' zu erzählen, eine neue Version kultureller Zusammenhänge zu präsentieren oder neue Orientierungsvorschläge zu machen. Traditionellerweise drehen sich die Debatten um den Objektivitäts- und Wissenschaftsanspruch der Geistes- oder Kulturwissenschaften einerseits um die angebliche oder tatsächliche methodologische Kontroverse zwischen naturwissenschaftlichem Erklären, das gesetzesartige Verknüpfungen umfasst, und hermeneutischem Verstehen, das auf Einfühlung und Sinnhypostasierung beruht, und andererseits um die Spezifik geistes- oder kulturwissenschaftlicher Begriffe und deren Realitätsbezug. Auch wenn in neueren Debatten die Dichotomie zwischen Erklären und Verstehen als überholt angesehen wird man muss menschliche Handlungen als solche verstehen können, um versuchen zu können, sie zu erklären, und jedes Verstehen beruht auf Annahmen über die Rationalität dessen, dessen Handeln oder Sprechen man verstehen will -, stellt sich die Frage nach der Gesetzesartigkeit der gemachten Aussagen weiterhin. Bei der Betrachtung der genannten Einführungen und Programmatiken fällt zunächst auf, dass Methodologie dort ganz schlicht kein Thema ist. Zwar wird gelegentlich über Methoden im weiteren Sinne informiert, zumeist werden diese aber nur geschildert, indem die philosophischen, zeichentheoretischen oder anthropologischen Basistheorien Diskursanalyse, Semiotik, Medientheorie o. ä. referiert werden, die den jeweiligen Ansätzen zugrunde liegen. Eine Reflexion auf entsprechende Fragen oder auch nur eine Illustration konkreter kulturwissenschaftlicher Arbeit mit dem Ziel der paradigmatischen Vermittlung anerkannter Vorgehensweisen findet selbst in etablierten Lexika nicht statt; das eingangs erwähnte Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie kennt weder Einträge zu Methodik und Methodologie noch solche zu spezielleren Themen wie Begriffsbildung, Wissenschaftstheorie o. ä. Nun soll hier beileibe nicht Kritik an einzelnen Publikationen oder Autoren geübt, sondern ein disziplinärer Kontext rekonstruiert werden; gerade darum spricht aber der genannte Befund trotz aller vorgeblichen Theorieorientierung nicht gerade für eine verbreitete Methodendiskussion als Teil der kulturwissenschaftlichen Selbstreflexion. Auch die historischen Darstellungen enden meist bei Dilthey, Cassirer und Gadamer oder springen von diesen zu den Säulenheiligen der jüngeren Kulturwissenschaften;37 spätere Diskutanten oder solche aus anderen wissenschaftshistorischen Traditionen wie William Dray oder Georg Henrik von -
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Für die ,Neue Kulturgeschichte' (New Cultural History) etwa benennt Peter Burke mit Bachtin, Elias, Foucault und Bourdieu vier solcher Referenzautoren; vgl. Burke, PETER, Was ist Kulturgeschichte?, Frankfurt/Main 2005, S. 78ff.
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Wright werden meist nicht einmal genannt. Selbstverständlich gibt es dennoch hochstufige Abhandlungen und Darstellungen mit Überblicksanspruch zu diesen Fragen, doch man muss schon zum monumentalen, dreibändigen Handbuch der Kulturwissenschaften™ greifen, um dann aber auch wieder auf dem Niveau von Forschungsartikeln über derartige Diskussionen und Fragen informiert zu werden. Untersucht man stattdessen das tatsächliche Vorgehen der Kulturwissenschaften genauer, so besteht es in allgemeinster Hinsicht im Grunde zunächst in einer doppelten Entgrenzung oder Überschreitung des traditionellen philologischen und historischen Untersuchungsgegenstandes, des singulären Textes oder der Quelle.39 Dieser wird einerseits zu einem Untersuchungsgegenstand neben zahlreichen heteProdukte der Sub- und Massenkultur, Kleiderordnungen, Abrogenen anderen Rituale zählreime, etc., aber auch Praktiken der Wissenschaft, der Rechtsprechung -
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und anderer Teilbereiche dessen, was Gesellschaft' genannt wurde oder ,Kultur' genannt werden kann. Andererseits werden all diese in Richtung auf die umgebenden Kontexte, die materiellen und sozialen Bedingungen ihrer Entstehung und Rezeption, die Medien ihrer Artikulation, die technischen Umstände ihrer Proliferation und die makrohistorischen Prozesse der ideen- und realgeschichtlichen Kontinuitäten und Wandlungen hin überschritten. Dies alles geschieht über dem Generalnenner einer anthropologischen Fundierung, wonach das Gesamt der genannten Gegenstände und Kontexte ein Bedeutung tragendes und erzeugendes Geflecht ist, innerhalb dessen sich der und die Einzelne mit den jeweiligen, individuellen Orientierungsbemühungen zu bewegen hat und das von einzelnen Neuordnungen und Beiträgen zwar mehr oder weniger partiell verändert, aber nicht intentional verabschiedet oder gänzlich überarbeitet werden kann, sondern vielmehr über Dispositionen, konstitutive Ausschlüsse oder Schematisierungen noch jede Reflexion und Stellungnahme zu sich selbst präformiert, wo nicht determiniert. Diese Entprivilegisierungen und Überschreitungen des Kanonischen und die Relationierung mit historisch-kulturellen Kontexten und Präformierungen geschehen nun am Leitfaden bestimmter kategorialer Grunddifferenzen und Begrifflichkeiten. Sie variieren dabei je nach Ansatz und Methode (in teils nicht restlos miteinander zu vereinbarender Weise): Die Genderforschung analysiert mit Hilfe der Leitkategorie ,kulturelle Konstruktion von Geschlecht' das Verhältnis von natürlichem und konstruiertem Körper und die damit verbundenen sozialen, symbolischen und 38
39
Handbuch der Kulturwissenschaften, Band 1: Grundlagen und Schlüsselbegriffe, hrsg. von Jaeger, Friedrich/ Liebsch, Burkhard, Band 2: Paradigmen und Disziplinen, hrsg. von Jaeger, Friedrich/ Straub, Jürgen, Band 3: Themen und Tendenzen, hrsg. von Jaeger, Friedrich/ Rüsen, Jörn, Stuttgart/Weimar 2004. Vgl. hierzu etwa Bollenbeck, Georg/ Kaiser, Gerhard, Kulturwissenschaftliche Ansätze in den Literaturwissenschaften, in: Handbuch der Kulturwissenschaften, Band 2 (wie Anm. 38), S. 615-637, hier v. a. S. 625. Das beschriebene Vorgehen lässt sich auch auf historisch orientierte Disziplinen übertragen, sofern sie kulturwissenschaftlich arbeiten.
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bezieht ihre Quellen und die darin beschriebenen Prozeduren auf Großformationen der jeweiligen epochalen Mentalitäten die episteme und deckt darin liegende und dadurch begründete Machtasymmetrien auf, die Medienkulturforschung differenziert zwischen verschiedenen Formen der Einflussnahme auf Produktion und Rezeption von Inhalten anhand der Strukturen des verwendeten Trägers, die Erinnerungsforschung analysiert Formen des kulturellen und des kommunikativen Gedächtnisses und macht Aussagen über ihre Effekte auf Transformation oder Abbruch von Traditionen usw. In jedem Fall werden Bezüge zwischen den in Texten manifesten Strukturen und symbolischen Relationen und ,Objekten' einer anderen ontologischen Ebene, seien es empirisch benennbare nichttextuelle Phänomene wie Strafprozeduren, seien es theoretische oder abstrakte Entitäten vom Typus eines Machtdispositivs, aufzudecken beansprucht und Hypothesen über die wechselseitige Beeinflussung und die Wirkung auf Zeitgenossen und Rezipienten aufgestellt. Getragen wird dieser Aufdeckungsanspruch implizit oder explizit von einer anthropologischen Grundorientierung, die zwar nicht das Wesen des Menschen zu bestimmen versucht, aber dennoch ,Kultur' im weitesten Sinne als anthropologisches Radikal auffasst, als die Art und Weise, in der der Mensch die Welt auch oder sogar allein hat. Die Erkundung und Erhellung dieser zweiten Natur' ist dann Teil einer Neubestimmung, die anthropologische Universalität mit historisch-kulturalistischen Momenten konkretisiert: Zwar ist eine kulturelle Konstellation in der einen oder anderen Form für alle Menschen zu allen Zeiten relevant, Form und Inhalt dieser Konstellationen differieren jedoch ungemein bis hin zur gelegentlich gar behaupteten Inkommensurabilität. Eine verbreitete Kritik an diesem Verfahren der Kontextualisierung und anthropologisch inspirierten Ausdifferenzierung kultureller Kontexte zielt nun darauf ab, dass kein Kausalnexus zwischen den genannten Entitäten behauptet werden kann, weil einerseits die Objekte nicht klar definiert werden und andererseits die Schritte der behaupteten Einflussnahme nicht differenziert nachgezeichnet werden können, u.a. wegen des Fehlens von allgemeinen Gesetzen. Das primäre Ziel der Kulturwissenschaften ist, daran ist zu erinnern, wie oben beschrieben die orientierende, kritische und utopische Vergegenwärtigung und Rekonstruktion von Prozessen und Konstellationen. Was Objekt einer kulturwissenschaftlichen Aussage sein kann, hängt immer auch vom Skopus der verwendeten Begriffe ab, selbst Vorgänge, Analogien oder nichtbeobachtbare Konstellationen können durch kategoriale Ordnungsleistungen durch die Etablierung kulturwissenschaftlicher Begriffe und deren Ordnung erfasst werden. Die kulturwissenschaftlichen Begriffe und beRelationen dienen dann, gleich ob sie Relata subsumptionslogischer haupteten oder Teil deduktiver Aussagen Verknüpfungen sein können, der Identifikation von Phänomenen (oder erzeugen zumindest die Disposition, dies tun zu können), welche durch die Kategorisierung allererst sichtbar werden und sich innerhalb des
politischen Zuweisungen, die Diskursanalyse -
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symbolisch strukturierten Raumes befinden, mit dem wir unser Wissen um die kulturelle Welt formulieren. Die Leitkategorien und die behaupteten epochen-, gruppen- oder gesellschafts-
spezifischen Mentalitäten, Konstellationen und Muster sind daher nicht so sehr als die Art Allgemeinbegriffe zu verstehen, unter die Gegenstände und Phänomene bloß zu subsummieren sind, die dann in eine gesetzesartige Erklärung einfließen. Sie sind vielmehr das, was in der älteren, in dieser Hinsicht weitaus differenzierteals „Form-" oder etwa bei Ernst Cassirer ren kulturtheoretischen Diskussion bezeichnet wird: als idealisierende charakteristischer Züge „Stilbegriff' Synthesis in einem Ausdruck, der zwar wohl bestimmt und umrissen werden und Gegenstand intensiver deflnitorischer Anstrengungen und Diskussionen sein kann, jedoch nicht in Reinform mit einem benenn- oder identifizierbaren Gegenstand oder einer bestimmten oder unbestimmten Zahl derselben, einer Menge von distinkten Eigenschaften oder Phänomenen ineins fällt, sondern umgekehrt allererst auf bestimmte gemeinsame Züge in differenten Phänomenen orientiert. Es handelt sich dabei aber wiederum auch nicht um eine bloß anschauliche Beschreibung oder um einen ideographischen, auf bloße Anschaulichkeit abzielenden Ausdruck, sondern um eine eigentümliche, stärker diskursive Art der Kennzeichnung. In Cassirers Worten: -
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„Wenn wir Leonardo da Vinci und Aretino, Marsiglio Ficino und Macchiavelli, Michelangelo und Cesare Borgia als ,Renaissance-Menschen' bezeichnen, so wollen wir damit nicht sagen, daß sich in ihnen allen ein bestimmtes, inhaltlich fixiertes Einzelmerkmal finden läßt, in dem sie übereinstimmen. Wir werden sie nicht nur als durchaus verschieden, sondern auch als gegensätzlich empfinden. Was wir von ihnen behaupten, ist nur dies, daß sie ungeachtet dieser Gegensätzlichkeit, ja vielleicht gerade durch sie, in einem bestimmten ideellen Zusammenhang miteinander stehen; daß jeder von ihnen in seiner Weise am Aufbau dessen mitwirkt, was wir den ,Geist' der Renaissance oder die Kultur der Renaissance nennen. Es ist eine Einheit der Richtung, nicht eine Einheit des Seins, die damit zum Ausdruck gebracht werden soll. [...] Derartige Begriffe charakterisieren zwar, aber sie determinieren nicht: das Besondere, was unter sie fällt, läßt sich aus ihnen nicht ableiten."40
Cassirer, Ernst, Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien. Dritte Studie: Naturbegriffe und Kulturbegriffe [1942], in: Gesammelte Werke, Hamburger Ausgabe, Band 24: Aufsätze und Kleine Schriften (1941-1946), Darmstadt 2007, S. 414-445, hier S. 430f. Cassirer nimmt hier Bezug auf Jakob Burckhardts Beschreibung des Renaissance-Menschen. Letztlich sind die kulturwissenschaftlichen Begriffe für Cassirer damit zumindest in dieser Hinsicht aber auch nur graduell von anderen wissenschaftlichen Begriffen unterschieden, die ebenfalls aus einer der in der Folge beschriebenen vergleichbaren Abstraktion entstehen; vgl. ders., Inhalt und Umfang des Begriffs. Bemerkungen zu Konrad Marc-Wogau: Inhalt -
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Derartige Begriffe werden Cassirer zufolge nicht durch vergleichende Identifikation eines allen gemeinsamen Kennzeichens oder durch Deduktion aus übergeordneten Allgemeinbegriffen gewonnen, vielmehr aus einer mit Husserl gesprochen sehr von Unterschieden absieht, sondern eine Perspektiven eröffnende Verbindung zwischen Einzelphänomenen aus diesen herauszieht. Für Cassirer ist diese Herangehensweise letztlich darin begründet, dass als Basis und Erkenntnisquelle dieser Methode bedeutungstragende, sinnstiftende Produkte dienen. Diese verweisen einerseits auf eine ,personal' gefärbte Wirklichkeit, deren básale Schicht von Ausdruckswahrnehmung' gekennzeichnet ist.42 Zum anderen wird daran deutlich, dass kulturelle Werke immer Produkte eines individuellen Schaffensaktes sind, selbst wenn die in irgendeiner Weise als ursprünglich zu bezeichnende Intention des Schaffenden nicht nur aus kontingenten Gründen, sondern prinzipiell unzugänglich ist und es Aufgabe der Kulturwissenschaften ist,
„ideirenden Abstraktion",41 die nicht
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und Umfang des Begriffs [1936], in: Gesammelte Werke, Hamburger Ausgabe, Band 22: Aufsätze und Kleine Schriften (1936-1941), Darmstadt 2006, S. 3-31. Cassirer, Naturbegriffe und Kulturbegriffe (wie Anm. 40), S. 430. Ähnlichkeiten zu Webers Vorgehen einer idealtypischen Begriffsbildung sind nicht zu übersehen; vgl. etwa Webers klassische Formulierung: „Es ist also die ,Idee' der historisch gegebenen modernen verkehrswirtschaftlichen Organisation der Gesellschaft, die uns da nach ganz denselben logischen Prinzipien entwickelt wird, wie man z. B. die Idee der ,Stadtwirtschaft' des Mittelalters als ,genetischen' Begriff konstruiert hat. Tut man dies, so bildet man den Begriff ,Stadtwirtschaft' nicht etwa als einen Durchschnitt der in sämtlichen beobachteten Städten tatsächlich bestehenden Wirtschaftsprinzipien, sondern ebenfalls als einen Idealtypus. Er wird gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluss einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandener Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankenbilde." (Weber, Max, Die Objektivität' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis" [1904], in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 21951, S. 146-214, hier S. 190f. Vgl. zur Differenz von Gattungsbegriffen und Idealtypen ebenda, S. 201 f.) Weber unterscheidet im genannten Aufsatz zudem zwischen der allgemeinen Subsumption unter ein Kausalgesetz und der Suche nach „konkreten kausalen Zusammenhängen", die er als „Zurechnungsfrage" verstanden wissen will: „Sie [die Kenntnis von allgemeinen Gesetzen der Verursachung, AH] erleichtert und ermöglicht uns die kausale Zurechnung der in ihrer Individualität kulturbedeutsamen Bestandteile der Erscheinungen zu ihren konkreten Ursachen" (ebenda, S. 178). Darin besteht Weber zufolge die spezifische Erklärungs- und Interpretationsleistung der Kulturwissenschaften. Vgl. Cassirer, Ernst, Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien. Zweite Studie: Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung [1942], in: Gesammelte Werke, Hamburger Ausgabe, Band 24: Aufsätze und Kleine Schriften (1941-1946), Darmstadt 2007, S. 391-413.
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Bedingungen, kulturellen Gehalte und Konsequenzen historischer wie interpretativer Art der Einzelwerke herauszuarbeiten.43 Diese Begriffe und die durch sie bezeichneten Entitäten können dann auch in relationale Formulierungen wie die beschriebenen Thesen über Einfluss und Prädisposition eingehen, ohne dass ein den Eigenschafts- und Gesetzesbegriffen der Naturwissenschaften vergleichbarer Kausalnexus behauptet oder identifiziert wird. Dennoch lässt sich über das Vorliegen oder Nichtvorliegen etwaig beschriebener Effekte oder Zusammenhänge entscheiden, wenn auch in der Regel nicht durch ein die äußeren
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crucis oder den umstandslosen Verweis auf die Wahrheit oder Falschheit eines der beteiligten Sätze.44 Vielmehr ist Maßstab der Bestätigung oder Zurückweisung die begründete Zustimmung oder Ablehnung des durch die neu behauptete Relation umorganisierten Bildes der gesamten Lebens- oder Interpretationssituation, die sich um den je in Rede stehenden Text formiert. Kulturwissenschaftlich behauptete Zusammenhänge zwischen Texten, zwischen Texten und Kontexten oder gar zwischen Texten, Kontexten und Weltsichten lassen demnach etwas in einem neuen Licht erscheinen, sie bündeln in einem Ausdruck oder einer Formulierung, was an charakteristischen Eigenschaften erhellt werden kann. Man kann hier sagen, ohne damit automatisch in den älteren Methodendualismus von Droysen und Dilthey bis Gadamer zurück zu fallen, dass es eine andere Art von Objektivität ist, die konstituiert wird: Die Objekte, von denen etwas ausgesagt wird, sind nicht allein empirische Gegenstände und deren Eigenschaften und Relationen, sondern die Aussagen der Kulturwissenschaften beziehen sich v. a. auf ideelle Relationen und sind selbst artifizielle oder ideelle, wenn man will: symbolische Konstrukte, die in epistemische Relationen zu anderen, teils ebenfalls ideellen, teils empirischen Phänomenen gesetzt werden. Kulturwissenschaftliche Konstrukte sind damit immer holistischer, sie sind stets auf umfassendere Gesamtinterpretatio-
experimentum
bezogen. Interpretationskonstrukte sind aber gleichwohl auf die faktische Basis von empirischen Belegen angewiesen also in der Regel von Texten, allgemeiner von Artefakten. Diese wiederum gehen auf die situativen, wenn auch nicht zwingend bewusst getroffenen Entscheidungen der sie produzierenden Individuen in ihren jeweiligen historischen Kontexten zurück. Kulturwissenschaftliche Untersuchungen nen
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Vgl. ders., Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien. Fünfte Studie: Die „Tragödie der Kultur" [1942], in: Gesammelte Werke, Hamburger Ausgabe, Band 24: Aufsätze und Kleine Schriften (1941-1946), Darmstadt 2007, S. 462-486 (in Auseinandersetzung mit der entsprechenden kulturkritischen These von Georg Simmel). Es ist natürlich zuzugestehen, dass nach einem post-popperschen Verständnis auch in den
Natur- und Sozialwissenschaften nicht die Wahrheit oder Falschheit des Einzelsatzes zur Diskussion steht, sondern diese immer nur in Relation zu dem ihn tragenden und ermöglichenden Theoriegebäude bzw. des Gesamtsystems der verwendeten Sprache thematisiert werden kann.
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nicht: sollten demnach auch selbstverständlich Gesetzeshypothesen normische Gesetze über den normalerweise erwartbaren Verlauf integrieren, von Entscheidungen und Prozessen, die auf Entscheidungen handelnder Personen beruhen, oder dispositioneile Erklärungen unter Einschluss des Dispositionsbegriffes ,Rationalsein'.45 Im Regelfall werden solche Zusammenhänge ohnehin stillschweigend mit vorausgesetzt. Die historische und kulturelle Spezifik und die Gebundenheit der Protagonisten an ihre jeweilige historische Situation also die Gegenstände des genuin kulturwissenschaftlichen Interesses blieben in der Explikation einschränkender Bedingungen, ansozialisierter Schemata und Präferenzordnungen oder inkorporierter Dispositionen weiterhin Gegenstand der wissenschaftlichen Untersuchung. Allerdings beschränken sich die meisten kurrenten kulturwissenschaftlichen Ansätze leider auf die bloße Behauptung von kulturell induzierten Schematisierungen und lassen eine Ausformulierung der tatsächlichen Wege und Prozesse des Einflusses von kulturellen Prädispositionen auf Entscheidungen und Handlungen von Menschen vermissen, was angesichts der anthropologischen Orientierung umso bedauerlicher ist. Hier wäre zumindest eine handlungstheoretische Fundierung sicherlich empfehlenswert, wo nicht notwendig, etwa in Form der Voraussetzung einer minimalen Handlungsrationalität das zu tun, was im Lichte einer gegebenen, möglicherweise auch ansozialisierten Definition von Situation angemessenen erscheint -, die durch kulturelle Konstrukte und die durch diese eröffneten Spielräume dessen, was als möglich und vernünftig anzusehen ist, begrenzt wird. Es wäre dann durch historische und texfwissenschaftliche Arbeit zu klären, welche Handlungsalternativen für Menschen in bestimmten Situationen aufgrund welcher kulturellen Dispositionen als besonders attraktiv oder besonders verwerflich -, als überhaupt möglich oder als prinzipiell verstellt angesehen wurden. Dazu benötigt man jedoch eben eine Theorie der subjektiven Situationserfassung und -Verarbeitung und kann nicht allein auf Text-Text-Bezüge rekurrieren.46 Auch wenn können
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So schon vergleichbar bei Dray, William, Laws and Explanation in History, London 1957. Hartmut Essers Framing-Theorie etwa versucht eine solche, dann auch formale Rekonstruktion des Einflusses von kulturellen Frames auf die individuelle Logik der Situation und der Hürden und Grenzen der alltäglichen, sozusagen impliziten Selektion wie der expliziten, reflektierten Entscheidung einer Re-Organisation dieser Frames. Vgl. v. a. Esser, Hartmut, Soziologie. Spezielle Grundlagen, Band 6: Sinn und Kultur, Studienausgabe, Frankfurt/Main/ New York 2002. Zu bedenken wäre dabei allerdings auch im Sinne einer Selbstreflexion auf die je eigenen Methoden und auf wiederum deren eigene historische Kontexte -, ob nicht die Übertragbarkeit ökonomischer Modelle auf nichtökonomische Bereiche selbst nur unter bestimmten historischen und kulturellen Bedingungen zugestanden wird, die Rekonstruktion von Verhalten nach dem Schema einer Präferenzverwirklichung also wiederum nur in Abhängigkeit von eigens zu thematisierenden, historisch variablen außerwissenschaftlichen Einstellungen als plausible und erklärungsmächtige Modellierung aufgefasst werden kann. -
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überzeugte Kulturalisten dabei die immer mit gesetzten Ziele menschlicher Entscheidungen auch noch als kulturell induziert ansehen würden, müssen doch auch sie darlegen können, auf welchem Weg, mit welchem Mechanismus und mit welchen Interferenzen eine Orientierung an den jeweiligen, womöglich kulturell induzierten Zielen auf Einstellungen und Handlungen wie z. B. das Verfassen von Texten spezifischer Form und spezifischen Inhalts wirkt. Erst wenn eine solche Erklärung vorliegt, kann überhaupt darüber diskutiert werden, welche Theorie über Funktionsweise und Binnenstruktur der Kultur (oder der Kulturen) empirisch zutreffender und konzeptionell den Erkenntniszielen und -interessen angemessener ist (was nicht identisch sein muss). Einer Reduktion der Eigenschaften und Bedeutun-
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gen von Texten und Artefakten auf die Intentionen der Verfasser und Verwender die bei einer Zentralisierung der zugrunde liegenden Entscheidungslogiken zugegebenermaßen nahe liegt ist allerdings mit dem Verweis darauf zu entgegnen, dass Intentionen und Entscheidungen nur aus ihren Kontexten und narrativen Einbettungen und damit aus den Situationen heraus zu verstehen sind, in denen sie unter den gegebenen historisch zu rekonstruierenden Bedingungen in der spezifischen Form getroffen wurden und relevant geworden sind. Ebenso sind Entscheidungen, auch solche, die zur Produktion kultureller Artefakte geführt haben, oft erst oder zumindest auch aus ihren Folgen zu verstehen. Was Autoren schreiben (wollten), was Texte sagen, erklärt sich dann erst, zumindest aber auch aus den Umständen der Produktion und Rezeption. Kulturwissenschaftliche Untersuchungen würden dann aufdecken, inwieweit die Handelnden in einer gegebenen Situation durch ihre kulturellen Kontexte begrenzt oder zu bestimmten Entscheidungen disponiert waren und wie diese Dispositionen restringierend oder steuernd gewirkt haben oder gar und wie und warum im Einzelfall überwunden wurden. Ebenso würden sie auf die individuellen, intersub-
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und kollektiven Folgen auf gesellschaftlicher wie symbolischer Ebene verweisen können. Dadurch würde auch dem bisherigen Vorgehen und Ziel, Texte zu kontextualisieren und die subjektiven Weltsichten, die in sie eingeflossen sind oder durch sie geformt wurden, zu rekonstruieren, weiterhin Genüge getan, jedoch in fundierterer Art und Weise. Obwohl kulturwissenschaftliche Untersuchungen in der Regel nicht, zumindest nicht primär an der Erklärung individueller, singulärer Entitäten oder Artefakte also von Einzelwerken interessiert sind, sondern vielmehr durch die Analyse von Kontexten derselben die jeweiligen historischen Gegebenheiten in deren Spezifik aufzudecken und damit den beschriebenen Erkenntnisinteressen gerecht zu werden versuchen, können sie nicht auf eine auch individualisierende Fundierung verzichten. Die Rede von Eigenlogiken der kulturellen Subsysteme oder von Entwicklungen innerhalb von Mentalitäten, Feldern oder Weltsichten ist nur insoweit akzeptabel, als sie eine verkürzte und gewissermaßen auch verkürzende Darstellung von Akkumulationen von Einzelentscheidungen bzw. Einzelverhalten ist.
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Zugegebenermaßen wird damit eine radikalere kulturalistische Position, wonach auf individuelle Handlungen bei der Reproduktion und Modifikation kultureller
Ensembles gar nicht oder in bestimmten Dimensionen nicht, sondern nur auf die Eigenlogik der kulturellen Konstrukte ankomme, dass es also auf der Ebene kollektiver Einstellungen, Schemata und Mentalitäten von individuellen Entscheidungen unabhängige Entwicklungen gebe, nicht entkräftet. Diese Position ist vermutlich für das unter Kulturwissenschaftlern verbreitete Unbehagen gegenüber dem Beharren auf strenge Gesetzesartigkeit mitverantwortlich. Ob eine solche Position kohärent und empirisch gehaltvoll zu formulieren ist und ob das genannte Unbehagen wohl begründet ist, musste gesondert diskutiert, darf aber angesichts des hier Gesagten bezweifelt werden.
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Schlussbemerkung
Ich habe in einem zwar kursorischen, aber vom Anspruch her exemplarischen Durchlauf durch die Selbstexplikationen der sich formenden kulturwissenschaftlichen community versucht, auf einem recht abstraktiven Level Gemeinsamkeiten und Charakteristika des unter dem Label Kulturwissenschaften' zusammengefassten Ensembles von Ansätzen und Theorien herauszuarbeiten, und mich dabei auf das Erkenntnisinteresse und Fragen der Methodologie beschränkt. Es ist deutlich geworden, dass trotz der relativen Uneinheitlichkeit ein gemeinsames Erkenntnisinteresse besteht, das die Dimensionen orientierendes Verstehen, Kritik und Utopie umfasst und daher wesentlich ein praktisches Interesse ist. Des Weiteren ist der Befund nicht von der Hand zu weisen, dass in den sich formierenden Kulturwissenschaften ein gewisses Reflexionsdefizit zumindest in den populären Einführungen und Überblicksdarstellungen zu finden ist, was angesichts der Funktion, die diese für die im doppelten Sinne Disziplinierung des Nachwuchses haben, zu bedauern ist. Generell, so die Diagnose im Weiteren, ist das Vorgehen der Kulturwissenschaften zwar von dem der Natur- und empirischen Sozialwissenschaften unterschieden, was aber mit Blick auf die Spezifik der verwendeten Begriffe und deren Geltungsanspruch nicht schon als solches defizitär ist. Kulturwissenschaftliche Aussagen bewegen sich vielmehr sowohl vom Gegenstand ihrer Untersuchungen wie von der Begriffsbildung in einem stärker symbolischen, ideellen Bereich und können deswegen eine eigene Art von Objektivität durchaus zu Recht beanspruchen. Die bisher oft unkritisch übertragenen Kulturtheorien sind aber aus wissenschaftstheoretischer Sicht vermutlich allenfalls und besser als Vorschläge der Operationalisierung einer Wissenschaft oder von Wissenschaften zu verstehen, die sich im Prozess der Paradigmenbildung befindet bzw. befinden; sie selbst sind zumeist wohl noch keine erklärungsmächtigen Theorien, trotz erhellender Ergebnisse ein-
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zelner Anwendungen. Dieser Befund wird mit Blick auf Kuhns wissenschaftshistorische Untersuchungen insofern zusätzlich gestützt, als es kaum übergreifend anerkannte Musterlösungen gibt, die paradigmatisch wirken können und die auch als solche kommuniziert und tradiert werden. Gerade angesichts des generellen anthropologischen Interesses sind Aussagen, die nicht auf die mit Texten und sonstigen symbolischen Konstrukten umgehenden Menschen eingehen und nur davon sprechen, wie Texte Texte beeinflussen, oder die mit starken, aus typologischen Kulturtheorien stammenden Annahmen arbeiten, defizitär. Das durchaus anerkennenswerte Unterfangen der Kulturwissenschaften, kanonische und nichtkanonische Texte zu kontextualisieren und die Spezifika historischer und kultureller Situationen und Prozesse zu beschreiben und begreiflich zu machen und damit zugleich einen Beitrag zum Selbstverständnis der Gegenwart zu leisten, kann durch eine Vertiefung der methodologischen Reflexion und ein Verständnis oder eine mit der Emphase bahnvon Theoriegeleitetheit, das über die Rezitation brechender Erweiterungen vorgetragene Modifikation etablierter, zumeist poststruktureller Kulturtheorien hinausgeht, nur gewinnen. Kulturwissenschaften sollten einen Handlungs- ebenso wie einen Werkbegriff besitzen und über deren Relationen zu kulturellen Kontexten reflektieren. Sie benötigen neben einer fundierten Auseinandersetzung mit dem eigenen Wissenschaftsanspruch auch eine Reflexion auf Formen der Darstellung und ein Bewusstsein für den Charakter des Sprachspiels Wissenschaft. Anderenfalls blieben die Ergebnisse der Kulturwissenschaften interessante, aber in der allein performativen Präsentation neuartiger Konstellationen und Begriffskreationen letztlich eher Kunstwerken gleichende, allein um ästhetische Zustimmung heischende Angebote an ihre Leser. Dies dürfte neben den skizzierten Erkenntnisinteressen auch der tatsächlichen Etablierung eines fruchtbaren Paradigmas nicht eben dienlich sein. -
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Rüdiger Graf Geschichtswissenschaft zwischen Ironie und Bullshit. Pragmatische Überlegungen zum Dissidenzpotential historischer Wahrheit
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Einleitung
ausgehenden 20. Jahrhundert diskutierten theoretisch interessierte Historiker und historisch interessierte Philosophen über die sogenannte „postmoderne Herausforderung" der Geschichtswissenschaft. ' Wo damit mehr als die bloße Pluralisierung der Perspektiven innerhalb des Fachs bzw. die Öffnung für bisher wenig beachtete Gegenstände im Rahmen der kulturgeschichtlichen Erweiterung gemeint war, ging es in der oftmals heftig geführten Debatte insbesondere um die Wahrheitsfähigkeit von Aussagen oder Erzählungen über die Vergangenheit.2 Wie so oft hatte die Grundlagendiskussion des Fachs kein klares Ergebnis, sondern sie endete eher mit einer Ermattung beider Seiten und der Hinwendung zu anderen Themen, ohne dass in den entscheidenden Punkten Übereinstimmung erzielt worden wäre.3 Währenddessen produzierte die Mehrheit der Historikerinnen und Historiker relativ unbeeinIm
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aus der Debatte sammelt Jenkins, Keith (Hg.), The postmodern history reader, London 2005; siehe auch als besonders wichtige Beiträge Bunzl, Martin, Real history. Reflections on historical practice, London 1997; MacCullagh, C. Behan The truth of history, London 1997; Scholz, Oliver R., Verstehen und Rationalität. Untersuchungen zu den Grundlagen von Hermeneutik und Sprachphilosophie, Frankfurt am Main 1999. Für kritische Anmerkungen und Hinweise danke ich Moritz Föllmer, Constantin Goschler, Philipp Müller und den Herausgebern. Diese stellt zum Beispiel Keith Jenkins grundsätzlich in Frage: Jenkins, Keith, On „What is history?". From Carr and Elton to Rorty and White, London 1995; ders., Re-thinking history. London 2003; vgl. auch die anderen Publikationen des Kreises um die Zeitschrift Rethinking
Auszüge
History.
Beispiel den Austausch von Keith Jenkins und Perez Zagorin: Zagorin, Perez, the Referent, and Narrative. Reflections on Postmodernism Now, in: History and History, 38 Theory, Jg. (1999), S. 1-24; Jenkins, Keith, A Postmodern Reply to Perez Zagorin, in: History and Theory, Jg. 39 (2000), S. 181-200; ZAGORIN, Perez, Rejoinder to a Postmodernist, in: History and Theory, Jg. 39 (2000), S. 201-209. Siehe
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druckt von der Theoriedebatte weiter historiographische Darstellungen, in denen höchstens wenige Sätze in den Einleitungen auf die Fragen Bezug nahmen, die nach Meinung der meisten Debattenteilnehmer von vitalem Interesse für sie hätten sein sollen.4 Dass die Debatte kein klares Ergebnis zeitigte, mag unter anderem daran gelegen haben, dass sie an der „unerschütterlichen Praxis" (Lorraine Daston) der Geschichtswissenschaft vorbeizielte.5 Im Folgenden soll daher weniger versucht werden, die kontroversen Punkte auf theoretischer Ebene zu klären, sondern es sollen vielmehr die Diskussionen über das Problem des historischen Wahrheitsbezuges an die konkrete historiographische Praxis zurückgebunden werden. Geschehen soll dies über zwei Begriffe, von denen der eine nur eine sehr untergeordnete und der andere gar keine Rolle in den Debatten spielte: „Ironie" und „Bullshit". In beiden Fällen handelt es sich weder um besonders scharfe noch um besonders aktuelle philosophische Kategorien: „Ironie" ist einer der Begriffe, mit denen sich Richard Rorty in den 1980er Jahren von der analytischen Philosophie abwandte. Seine unter anderem unter diesem Stichwort geführten frontalen Angriffen auf das Wahrheitsstreben und den Repräsentationalismus der abendländischen Philosophie bzw. auf die Idee einer Philosophie als mirror of nature waren schon zuvor in der akademischen Philosophie weitgehend auf Skepsis gestoßen,6 hatten Rorty in den übrigen Humanities aber immer populärer werden lassen. „Bullshit" wird gemeinhin noch weniger ernst genommen als Ironie. Die Theoretisierungsfähigkeit des Begriffs scheint auf den ersten Blick relativ gering zu sein, so dass ihm einzig Harry G. Frankfurt in den 1980er Jahren eine genauere begriffliche Analyse widmete.7 Blieb dieser Aufsatz zunächst weitgehend unbeachtet, erreichte Frankfurt vor zwei Jahren mit der wie auch immer motivierten Einzelveröffentlichung von On Bullshit eine ungeheure Popularität. Seine Überlegungen scheinen den Nerv einer gefühlten Allgegenwart von Bullshit getroffen zu haben, über die sich Tausende von Käuferinnen und Käufern gern mit philosophisch validen Argumenten erheben möchten. Die Popularität und alltagssprachliche Ubiquität der Begriffe „Ironie" und „Bullshit" ist kein Zeichen für ihre Tragfähigkeit oder analytischen Potentiale wohl eher dürfte das Gegenteil der Fall sein. Nichtsdestoweniger lassen sich, wie der Aufsatz zeigen soll, über diese populärphilosophischen Begriffe Kernprobleme der -
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Ausnahmen bestätigen hier die Regel wie zum Beispiel Richard Evans, den die Auseinandersetzung mit David Irving dazu brachte, die Grundlagen einer realistischen Geschichtsbetrachtung zu entwerfen: Evans, Richard J., In defence of history, London 1997. Daston, Lorraine, Die unerschütterliche Praxis, in: Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit. Zum Grundlagenstreit in der Geschichtswissenschaft, hrsg. von Kiesow, Rainer Maria/ Simon, DiETEr, Frankfurt/Main 2000, S. 13-25. Rorty, Richard, Philosophy and the mirror of nature, Oxford 1980. Frankfurt, Harry G., On bullshit, in: ders., The importance of what we care about. Philosphical essays, Cambridge 1988, S. 117-133.
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historiographischen Praxis in produktiver Weise beleuchten. Die folgenden Ausführungen verfolgen dabei drei Ziele unterschiedlicher Reichweite: Zunächst soll gezeigt werden, dass es sich bei Ironie und Bullshit um eng verwandte sprachliche Ausdrucksformen handelt (2. und 3.). Daran anschließend wird herausgearbeitet, inwiefern die Begriffe dazu geeignet sind, wesentliche Aspekte historiographischer Praxis und historischer Arbeiten zu beschreiben (4.). Schließlich wird argumentiert, dass angesichts der alltagssprachlichen Konnotationen der Begriffe nicht besonders überraschend Ironie ein wichtiges, Bullshit hingegen ein zu vermeidendes Element historischer Arbeiten ist (5.). Sowohl in der Analyse des Ironiebegriffs als auch bei der sprachlich genauen Beschreibung dessen, was Bullshit ist, spielt der Begriff der Wahrheit eine zentrale Rolle. Im Anschluss an Rorty werde ich die These vertreten, dass historiographisches Arbeiten besser nicht als Wahrheitssuche begriffen werden sollte, sondern eine ironische Beschreibung produktiver und instruktiver ist. Anders als Rorty, werde ich dann aber im Anschluss an Frankfurt zeigen, dass daraus keine Aufgabe des Wahrheitsbezuges der Geschichtswissenschaft folgt, sondern gerade auch in pragmatistischer Perspektive die Idee einer objektiven Wahrheit von entscheidender Bedeutung bleibt. -
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Rortys Ironikerin
Abgrenzung von weiten Teilen der analytischen Philosophie bemüht sich RiRorty um eine sprachphilosophisch fundierte Erneuerung des Pragmatismus deweyscher Prägung.8 Diesem gehe es grundsätzlich darum, zentrale Begriffe der abendländischen Philosophie wie „Vernunft", „Realität", „Natur" und „Wahrheit" durch Fragen nach dem konkreten Nutzen auf dem Weg zu einer besseren Zukunft der Menschheit zu ersetzen.9 Rorty hält es für einen grundsätzlichen Fehler der Wissenschaft im Allgemeinen und der Philosophie im Besonderen zu versuchen, richtige Repräsentationen der Welt zu produzieren. Stattdessen will er eine angemessenere, pragmatistische Haltung zur Welt entwickeln, die er auch Antirepräsentationalismus nennt. Die Unterscheidung von Repräsentationalismus und Antireprä-
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sentationalismus soll die alte Differenz von Realismus und Antirealismus aufheben und dabei den klassischen Fehler des Antirealisten vermeiden, sich zu weit auf das realistische Sprachspiel einzulassen.10 Der Antirepräsentationalist verneint nicht, 8
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Einstieg in Rortys Werk liefern seine gesammelten Aufsätze: Rorty, Richard (Hg.), Philosophical Papers, 3 Bände, Cambridge/Mass. 1991-1998. „If there is anything distinctive about pragmatism it is that it substitutes the notion of a better human future for the notions of,reality', ,reason' and ,nature'." Rorty, Richard, Philosophy and social hope, London 1999. Rorty, Richard, Introduction: Antirepresentationalism, ethnocentrism, and liberalism, in: ders., Objectivity, relativism, and truth, Cambridge 1991, S. 1-17, v.a. S. 4-5. Einen guten
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und unser Bewusstsein genauso wie unser Körper in ständigem Kontakt mit der Welt befinden, aber er lehnt den Versuch ab, die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke durch ihre Repräsentationsfunktion zu erklären oder die Wahrheit unserer Aussagen als Korrespondenz mit der Wirklichkeit zu begreifen. Bei allem, was Rorty über Wahrheit sagt, geht also nicht primär darum, eine für alle Anwendungen konsistente Definition des Begriffs oder eine allgemeine Wahrheitstheorie zu entwickeln. Stattdessen fragt er danach, ob und in welcher Form der Umgang mit dem Wahrheitsbegriff nützlich ist. Der pragmatistischen Prämisse "if something makes no differerence in practice, it should make no difference in philosophy" folgend, argumentiert er, dass das Streben nach objektiver Wahrheit ohne Verluste und sogar mit einer Reihe positiver Nebeneffekte durch das Streben nach kontextgebundener Rechtfertigung ersetzt werden könne.11 Nach einer längeren Kontroverse mit Donald Davidson, aus dessen Theorie der Wahrheit und Bedeutung er diese Position ableitet, gesteht Rorty zwar zu, dass die Mehrheit unserer Meinungen und Aussagen über die Welt wahr sein muss.12 Aber er erklärt zugleich, dass es jenseits der konkreten Rechtfertigungsprozeduren in einer gegebenen Gesellschaft nichts Instruktives über den Wahrheitsbegriff zu sagen gebe. Damit weicht Rorty deutlich von Davidsons Position ab, der stärker der Korrespondenzintuition verpflichtet ist und die zentrale Bedeutung eines objektiven Wahrheitsbegriffs für Verstehens- und Übersetzungsprozesse betont.13 Nichtsdestoweniger besteht zwischen Davidson und Rorty dahingehend Übereinstimmung, dass Wahrheit nicht als Ziel wissenschaftlichen Arbeitens füngieren kann bzw. es irreführend wäre, Wahrheit als „goal of inquiry" zu bezeichnen. Der korrespondenztheoretische Wahrheitsbegriff mag zwar eine adäquate Definition das wird nicht in Frage gestellt -, aber er ist für die praktivon Wahrheit liefern sche Wahrheitsfeststellung irrelevant, weil es keine Möglichkeit gibt, eine Korrespondenzrelation zwischen Sätzen und bestimmten Entitäten in der Welt festzustellen. Hierfür gibt es im Wesentlichen zwei Gründe: Erstens zeigt Davidson im Anschluss an das sogenannte slingshot-Argument von Alonzo Church bzw. Gottlob dass sich
unsere
Sprache
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Frege: 1'
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13
Rorty, Richard, Is Truth a Goal of Inquiry? Donald Davidson ders., Truth and progress, Cambridge 1998, S. 19^12, hier S. 19.
versus
Crispin Wright,
in:
Siehe als ausführliche Herleitung und Darstellung dieser Argumentation Graf, Rüdiger, Interpretation, Truth, and Past Reality. Donald Davidson Meets History, in: Rethinking History, Jg. 7 (2003), S. 387-402. Davidson, Donald, Is truth a goal of inquiry? Discussion with Rorty, in: Donald Davidson. Truth, meaning and knowledge, hrsg. von Zeglen, Urszula, London 1999, S. 1-19; als Zusammenstellung der Kontroverse vgl. Sandbothe, Mike (Hg.): Wozu Wahrheit? Eine Debatte, Frankfurt am Main 2005.
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appropriate entities available which, by being somehow related to sentences can explain why the true ones are true and the others „there are
are no
interesting
and
not."14
Ohne den formallogischen Aufwand des sehr abstrakten Arguments kann man sich den entscheidenden Punkt so vergegenwärtigen, dass Objekte, die Sätzen korrespondieren sollen, auch mehr oder weniger die Form von Sätzen haben mussten. Derartige sentence-shaped objects (Fakten) befinden sich aber nicht unabhängig von ihrer sprachlichen Fassung in der Welt. Zweitens ist die Korrespondenztheorie der Wahrheit aber auch deshalb wenig instruktiv, weil es für uns keine Möglichkeit gibt, das Vorliegen der Korrespondenzrelation festzustellen. Denn um zu entscheiden, ob unsere Meinungen mit der Welt übereinstimmen, mussten wir uns auf einen Standpunkt außerhalb unserer selbst stellen einen Standpunkt, den Rorty im Anschluss an Hilary Putnam „God's-eye view" nennt.15 Erst aus dieser Perspektive könnten Meinungen und Welt als unabhängige Größen miteinander verglichen werden. Alle Versuche des „climbing out of one's own mind" schlagen jedoch fehl und enden immer nur mit dem Erwerb weiterer Meinungen. Das Projekt kann schon allein deshalb nicht gelingen, weil wir nicht bereit wären, irgend etwas als Grund für eine Meinung anzuerkennen, was nicht selbst auch wieder die Struktur einer Meinung hätte. Es gibt folglich keinen Weg aus dem Netz unserer Meinungen heraus und, wie Rorty erweitert, auch keinen von der Kultur und den Sprachspielen, in denen wir aufgewachsen sind, unabhängigen Zugang zu Wirklichkeit.16 Obwohl es bisweilen so missverstanden wird, ist dieses Argument keine Widerlegung der Korrespondenztheorie der Wahrheit. Schließlich spricht nichts dagegen, dass der Wahrheitsbegriff so definiert ist, dass wir die Wahrheit von Aussagen niemals zweifelsfrei feststellen können. Wie oben bereits gesagt, ist es aber nicht Rortys Ziel, eine korrekte Definition des Wahrheitsbegriffs zu formulieren. Genau das lehnt er als eines der falschen Projekte der abendländischen Philosophie ab. Stattdessen fragt Rorty danach, was es für praktische Konsequenzen hat, Wahrheit als Korrespondenz mit der außersprachlichen Welt zu begreifen und Wissenschaft dementsprechend als den Versuch, sich dieser anzunähern. Dabei argumentiert er, dass dies nicht nur eine wenig instruktive Beschreibung dessen ist, was wir wissen-
14
15
Davidson, Donald, Truth Rehabilitated, in: Richard Rorty, hrsg. von Malachowski, Alan, Chesham 2002, S. 205-216, hier S. 207 Rorty, Antirepresentationalism, ethnocentrism, and liberalism (wie Anm. 10), S. 6: „there is
independent test of the accuracy of correspondence." Davidson, Donald, A Coherence Theory of Truth and Knowledge, in: Kant oder Hegel? Über Formen der Begründung in der Philosophie, hrsg. von Henrich, Dieter, Stuttgart 1983, S. 423-440, hier S. 426; Rorty, Antirepresentationalism, ethnocentrism, and liberalism (wie no
16
Anm.
10).
Rüdiger Graf
76
schaftlich tun, sondern dass diese Auffassung dem pragmatistischen Einsatz der Wissenschaften zur Verbesserung der Welt bisweilen entgegenstehen kann. Rorty leugnet nicht, dass Wissenschaften wahre Sätze produzieren, will aber das Wahrheitsstreben aus der Wissenschaft bzw. dem Selbstverständnis der Wissenschaftler eliminieren. Ohne Verluste könne man das Streben nach Wahrheit durch das Streben nach intersubjektiver Rechtfertigung vor immer umfassenderen Gruppen von Zuhörenden begreifen.17 Damit öffnet er die Wissenschaft nicht einem irrationalen „anything goes", weil es ja noch immer darum geht, besser gerechtfertigte Meinungen zu produzieren, wobei „besser" und „schlechter" hier nur nach den jeweils geltenden Standards bemessen werden kann.18 Damit formuliert Rorty im Unterschied zu vielen seiner Anhänger keine relativistische Position. Er setzt Wahrheit und Rechtfertigung nicht gleich, sondern gesteht zu, dass der Wahrheitsbegriff absolut und nicht an bestimmte Gruppen von Zuhörenden oder einen bestimmten Zeitpunkt gebunden ist, wohingegen Rechtfertigung immer relativ ist.19 Wahrheit und Rechtfertigung sind auch bei Rorty nicht vollkommen austauschbar, sondern es gibt noch eine warnende Funktion des Wahrheitsbegriffs. Diese besagt, dass ein Satz zwar nach unseren besten Methoden in den Augen aller gerechtfertigt sein mag, sich aber dennoch möglicherweise als falsch erweisen kann:20 of beliefs (e.g. ,Two and two are four'; ,The Holocaust took place') about which nobody with whom we bother to argue has any doubt. But there are no beliefs that can be known to be immune to all possible doubt."21
„There
are
plenty
Gerade diese Absolutheit der Wahrheit macht sie untauglich als Ziel wissenschaftlicher Aktivität. Weil wir weder erkennen können, wann wir die Wahrheit erreicht haben, noch ob wir ihr näherkommen, können wir sie auch nicht anstreben, wie Donald Davidson erklärt: how long and well we and will be left with fallible beliefs [...] coming generations keep at it they Since it is neither visible as a target, nor recognizable when achieved, there is no point in calling truth a goal."22
„Truths do
not
come
with
a
,mark' [...] we
no matter
and
Alles, was wir anstreben können, ist die Produktion von immer besser gerechtfertigten 17
18
19 20 21 22
Meinungen.
Denn
es
liegt
im Bereich
unserer
Möglichkeiten,
durch rationale
Rorty, Antirepresentationalism, ethnocentrism, and liberalism (wie Anm. 10), hier S. 12f. Siehe dazu auch Pape, Jens, Der Spiegel der Vergangenheit. Geschichtswissenschaft zwischen Relativismus und Realismus, Frankfurt/Main u.a. 2006, S. 170.
Rorty, Richard, Introduction, in: ders., Truth and progress (wie Anm. 11), hier S. 2. Rorty, Is Truth a Goal of Inquiry? (wie Anm. 11 ), hier S. 22. Rorty, Introduction (wie Anm. 19), hier S. 2. Davidson, Donald, Truth Rehabilitated, in: Richard Rorty (wie Anm. 14), hier S. 207.
Geschichtswissenschaft zwischen Ironie und Bullshit
77
Argumentation zu entscheiden, welche Meinungen besser gerechtfertigt sind und welche schlechter, auch wenn Diskussionen darüber nicht durch den Verweis auf die Wirklichkeit, sondern nur durch Bezüge auf andere Meinungen und Überlegungen entschieden werden können. Aus der Tatsache, dass wir egal wie viel Mühe wir uns mit der Rechtfertigung geben immer nur fallible Meinungen produzieren, kann jedoch nicht der skeptische Schluss gezogen werden, dass wir uns immer irren oder ganz fundamental über die Einrichtung der Welt täuschen könnten, sondern es gibt gute Argument dafür, dass wir im Großen und Ganzen richtig liegen.23 Um der Absolutheit des Wahrheitsbegriffs Rechnung zu tragen, haben einige Vertreter epistemischer Wahrheitstheorien mit einer Idealisierung der Rechtfertigungsbedingungen reagiert. Sie setzen Wahrheit nicht mehr mit konkreter und damit relativer Rechtfertigung gleich, sondern beispielsweise mit der Rechtfertigung, die eine unbegrenzte Forschergemeinschaft unter idealen epistemischen Bedingungen in einem ewigen herrschaftsfreien Gespräch erreichen würde. Dieser habe man sich dann anzunähern. Wegen der nicht-relativen Eigenschaften des Wahrheitsbegriffs kann er aber auch nicht als idealer Grenzbegriff dienen, dem man -
-
sich in der wissenschaftlichen Praxis annähern könnte. Denn welche Funktion sollte haben, wenn man angesichts der fehlenden Markierung nicht feststellen kann, wie nah man der Wahrheit gekommen ist? Schließlich gibt es keine externe Rechtfertigung für die Annahme, dass wir durch verbesserte Begründungen unserer Ansichten der Wahrheit im Sinne einer Korrespondenz mit der Welt näher kommen. Die Bewertung von Wissensfortschritten erfolgt vielmehr immer aus einer internen Perspektive, aus der heraus die Distanz zur Wirklichkeit nicht bestimmt werden kann. Dies wäre wiederum nur vom göttlichen Standpunkt aus möglich, so dass Rorty die Schlussfolgerung zieht: „Positing Grenzbegriffe seems merely a way of telling ourselves that a nonexistent God would, if he did exist, be pleased with us."24 Die wahrheitsasymptotische Auffassung von Wissenschaft ist für Rorty aber nicht nur eine unzulängliche Selbstbeschreibung der Geisteswissenschaften, sondern birgt auch Gefahren. Diese bestehen vor allem darin, dass die falsch verstandene Wissenschaft ihre eigentlichen pragmatistischen Aufgaben der Verbesserung des Zusammenlebens der Menschen zugunsten des Strebens nach korrekten Interpretationen vernachlässigt. Die Gefahr wie auch die Absurdität verdeutlicht Rorty durch das Gedankenexperiment, eines Tages würde doch von einzelnen oder mehreren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern eine wahre Repräsentation der er
23
24
Argument ausführlich Davidson, A Coherence Theory of Truth and Knowledge 16), S. 423-440. Rorty, Richard, Solidarity or Objectivity? In: ders., Objectivity, relativism, and truth (wie Anm. 10), hier S. 27f; siehe auch Rorty, Is Truth a Goal of Inquiry? (wie Anm. 11), hier S. 24; Rorty, Introduction (wie Anm. 19), hier S. 4. Siehe
diesem (wie Anm. zu
Rüdiger Graf
78
Wirklichkeit erreicht.25 Vor allem in den Geisteswissenschaften scheint dies eine seltsame Vorstellung zu sein: Was würden wir als Historikerinnen und Historiker zum Beispiel sagen, wenn jemand mit dem Anspruch aufträte, dass er in seinem Buch die endgültige Erklärung der nationalsozialistischen „Machtergreifung" geliefert hätte, so dass über den Aufstieg der NSDAP keine weiteren Bücher mehr geschrieben werden mussten? Wir würden fragen, was er eigentlich glaubt, wer er ist, uns seine Thesen ansehen und weiter versuchen, andere Perspektiven auf den Gegenstand zu entwickeln. Dieses von Rorty adaptierte Beispiel ist leicht in die Irre führend: Denn es ist weniger der erhobene Wahrheitsanspruch der Aussage über die Ursachen der „Machtergreifung" als vielmehr der Anspruch auf die vollständige Erklärung eines äußerst komplexen historischen Sachverhalts, der zur Kritik herausfordert. Nichtsdestoweniger deutet sich an diesem Beispiel an, dass die Bestimmung definitiver und nicht mehr zu verändernder Wahrheit in den Geisteswissenschaften oft noch nicht einmal als Ideal ein erstrebenswerter Zustand ist. Wie sieht nun aber Rortys Alternative zu einer wahrheitssuchenden Wissenschaft aus? Dem Streben nach wissenschaftlicher Wahrheit und Objektivität stellt Rorty das Streben nach Solidarität gegenüber. Statt nach Objektivität und Transzendenz solle man nach intersubjektiver Übereinstimmung und Neuigkeit sowie nach der Pluralisierung von Perspektiven streben. Die epistemologischen oder metaphysischen Fragen, wie wir in Kontakt mit der Welt kommen und sie richtig repräsentieren, werden ersetzt durch politische Fragen danach, wie wir die Gemeinschaft, in der wir leben, verbessern können:
„Instead of asking ,Are there truths out there that we shall never discover?' we would ask, ,Are there ways of talking and acting that we have not yet explored?' Instead of asking whether the intrinsic nature of reality is yet in sight [...] we should ask whether each of the various descriptions of reality employed in our various cultural activities is the best we can imagine the best means to the ends served by those activities."26 -
Die
des kulturellen und intellektuellen Raumes durch neue Perspektiven und Redeweisen und die Suche nach intersubjektiver Übereinstimmung mit immer anderen und immer größeren Gemeinschaften soll also das Projekt der Geisteswissenschaften charakterisieren. Der zentrale Modus, in dem an diesem Projekt gearbeitet wird, ist der der Ironie.
Erweiterung
Rorty, Richard, Science
as Solidarity, in: ders., Objectivity, relativism, and truth (wie hier 43f. S. 10), Rorty, Introduction (wie Anm. 19), hier S. 6; siehe auch Rorty, Antirepresentationalism, ethnocentrism, and liberalism (wie Anm. 10), hier S. 12f: „If you give up on the project of escaping from ,human peculiarities and perspectives', then the important question will be about what sort of human being you want to become."
Anm.
Geschichtswissenschaft zwischen Ironie und Bullshit
79
Grundsätzlich bezeichnet „Ironie" eine rhetorische Figur, bei der das Gegenteil des eigentlichen Wortlauts gemeint ist, was zumeist durch eine bestimmte Form der Betonung angedeutet wird.27 In der antiken Philosophie charakterisierte der Begriff zunächst einen zentralen Aspekt der sokratischen Gesprächsführung. „Sokratische Ironie" sollte „unter dem Anschein eigener Unwissenheit und unter Beschränkung auf fragende Hilfestellung [...] die Unwissenheit des vermeintlich Wissenden zu Tage" fördern.28 In der Neuzeit erfuhr die Ironie eine deutliche Aufwertung in der Romantik. Friedrich Schlegel distanzierte sich in seiner Ironietheorie von der schlichten rhetorischen Figur und definierte die „Ironie" stattdessen als eine Philosophie, „die sich der Grenzen ihrer Sagbarkeit bewußt" ist bzw. als eine philosophische Haltung, die von einem Gefühl der Endlichkeit und Beschränkung geprägt wird.29 In literarischen Texten dient die Ironie meist zur Distanzierung des Erzählers und kann so einen „ironischen Objektivismus" erzeugen. Rortys Ironietheorie schließt am ehesten an den romantischen Ironiebegriff und dessen Zweifel an der Möglichkeit adäquater Wirklichkeitsrepräsentation an. Als Ironikerin bezeichnet Rorty eine Person, „die der Tatsache ins Gesicht sieht, daß ihre zentralen Überzeugungen und Bedürfnisse kontingent sind" und die also nicht mehr meint, sie könnten auf eine „Instanz jenseits des raum-zeitlichen Bereichs" bezogen werden.30 Die Kontingenz der Sprache und damit auch der in ihr formulierbaren Überzeugungen resultiere daraus, dass es keine Möglichkeit gebe, sich außerhalb der diversen Sprachspiele und Vokabulare zu positionieren und dann in einer Metasprache die verschiedenen Arten des Denkens und Urteilens miteinander zu vergleichen.31 Als „abschließendes Vokabular" bezeichnet Rorty das Sortiment von Wörtern, über das individuelle Menschen verfugen, um Handlungen, Überzeugungen und Lebensweisen zu beschreiben und zu rechtfertigen. Gegenüber diesem Begriffshaushalt legt die Ironikerin eine bestimmte Haltung an den Tag: Erstens hegt sie „radikale und unaufhörliche Zweifel an dem abschließenden Vokabular, das sie gerade benutzt", weil sie schon einmal von anderen Sprachspielen und Vokabularen beeindruckt wurde, die von ihren jeweiligen Produzenten für umfassend und endgültig gehalten wurden. Zweitens erkennt sie, dass „Argumente in ihrem augenblicklichen Vokabular diese Zweifel weder bestätigen noch ausräumen können". Wenn sie, drittens, philosophische Überlegungen anstellt, meint sie weder, dass ihr Vokabular der Welt näher sei als mögliche andere, noch glaubt sie an 27
28
29
30 31
„Ironie", in: Brockhaus. Die Enzyklopädie in vierundzwanzig Bänden, 20., Überarb. u. akt. Aufl., Band 10, Leipzig/Mannheim 1996, S. 682. MITTELSTRAß, Jürgen, Art. „Ironie", in: Enzyklopädie für Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band 2, Stuttgart 1984, S. 295-297, hier S. 296. Weinrich, Harald, Art. „Ironie", in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 4, Basel/ Stuttgart 1976, S. 577-582, hier S. 579. Rorty, Richard, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt/Main 1989, S. 14. Ebenda, S. 16f.
Art.
Rüdiger Graf
80
eine diesbezügliche Entscheidung zwischen verschiedenen abschließenden Vokabularen in einer neutralen Metasprache. Es geht ihr nicht darum, „sich durch die Erscheinungen hindurch einen Weg zum Realen zu bahnen", sondern darum, „das Neue gegen das Alte auszuspielen".32 Eine solche Person wird als Ironikerin bezeichnet, weil sie sich selbst nie vollkommen ernst nehmen kann, da sie sich der Historizität und Hinfälligkeit ihrer eigenen Sprachspiele bewusst ist. Darüber hinaus nimmt sie durch die Suspendierung der Wahrheitsunterstellung eine Haltung ein, die der literarischen Ironie nahe kommt. Schließlich benutzt sie zwar Ausdrücke nicht, um mit ihnen das Gegenteil auszudrücken, tendiert aber auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen zur Verwendung von Ausdrücken in ihnen eigentlich fremden Sprachspielen ein klassisch ironischer Verfremdungseffekt, der durchaus komisch sein kann.33 Die Ironikerin ist verunsichert und befürchtet, es könne bessere Sprachspiele geben als das, das sie erlernt hat. Besser kann für sie nicht realitätsadäquater bedeuten, sondern vielmehr in klassisch pragmatistischer Perspektive besser für die Entwicklung des Zusammenlebens der Menschen. Was hierfür besser oder schlechter ist, kann wiederum nur in Diskussionen und Argumentationen im Rahmen ihres begrenzten Vokabulars festgelegt werden. Wegen dieser Unsicherheit bemüht sie sich permanent darum, neue Sprachspiele und damit neue Weisen der Weltwahrnehmung zu erlernen und gegen die alten auszuspielen. Dabei sucht sie nicht nach der Wahrheit oder der Korrespondenz ihrer Überzeugungen mit der Welt, sondern vielmehr nach neuen Arten und Weisen, Bekanntes auszudrücken.34 Im Modus der Ironie bekommt nun also die repräsentationalistische Idee des „climbing out of one's own mind" eine -
ganz andere
Bedeutung:
„So the image of climbing out of our minds
to something external from which we and look at them needs to be replaced. The alternative image is that of our minds gradually growing larger and stronger and more interesting by the addition of new options new candidates for belief and desire, phrased in new vocabularies. The principal means of such growth, [...] is the gradual enlargement of our imagination by the metaphorical use of old marks and noises."35 -
can rum
-
-
Diese Thesen Rortys haben eine breite Kritik erfahren, die oftmals in harten Worten formuliert wurde, so dass eine spontane Reaktion auch auf dieses Rorty-Referat sein könnte: „Das ist doch Bullshit." Ob das der Fall ist und inwiefern Ironie und Bullshit miteinander zusammenhängen, gilt es also zu klären. 32 33
34
35
Ebenda, S. 127f. Versuch, Vokabulare gegeneinander auszuspielen, nennt Rorty bisweilen auch „dialektisch"; ebenda, S. 135. Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität (wie Anm. 30), S. 130f. RORTY, Antirepresentationalism, ethnocentrism, and liberalism (wie Anm. 10), S. 14. Den
81
Geschichtswissenschaft zwischen Ironie und Bullshit
3. Frankfurt On Bullshit Mit seinem Aufsatz On Bullshit will Harry G. Frankfurt zum einen eine erste Analyse des Begriffs „Bullshit" vorlegen und zum anderen untersuchen, warum das Phänomen so verbreitet ist. Zur Klärung der Fragen stützt er sich zunächst auf Max Blacks Untersuchung eines verwandten Phänomen, nämlich des Humbugs. „Humbug" definiere Black als: „deceptive misrepresentation, short of lying, especially by
pretentious word or deed, of somebody's own thoughts, feelings or attitudes."36 Insofern Humbug „deceptive misrepresentation" ist, hängt es entscheidend von der Intention des Sprechers ab, ob eine Äußerung als Humbug qualifiziert werden kann oder nicht. Humbug liegt dann vor, wenn ein Sprecher mit der Absicht, andere zu täuschen, einen Sachverhalt bewusst falsch repräsentiert. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine Lüge. Einfach gesprochen, aber in diesem Zusammenhang ausreichend, lügt ein Sprecher dann, wenn er etwas für wahr hält, aber dennoch versucht, die Zuhörenden vom Gegenteil zu überzeugen. Dabei missrepräsentiert er sowohl die Welt als auch seine eigenen mentalen Zustände: Er will die Zuhörer glauben machen, dass er eine Meinung über die Welt hat, die er jedoch in Wirklichkeit für falsch hält.37 Humbug, so fasst Frankfurt Blacks Position zusammen, ist nun insofern „short of lying", als es sich nicht primär um eine absichtliche Missreprä-
sentation der Welt, wohl aber der mentalen Zustände des Bullshitters handelt. Als erstes Beispiel hierfür dient ein amerikanischer Politiker, der in einer Rede auf einer Feier zum 4. Juli die Formulierung gebraucht: „our great and blessed country, whose Founding Fathers under divine guidance created a new beginning for mankind".38 Nach Blacks Ansicht in Frankfurts Referat handelt es sich hierbei um Humbug, aber nicht um eine Lüge. Denn der Redner halte die Aussagen, dass das Land groß und gesegnet sei, seine Gründerväter unter göttlicher Führung gehandelt hätten und seine Gründung einen Neubeginn der Menschheit bedeutet habe, nicht für falsch. Mit seiner Rede gehe es ihm auch nicht darum, die Zuhörenden von einer bestimmten Sicht auf die Ursprünge der Vereinigten Staaten zu überzeugen. Vielmehr sei das Ziel des Redners, einen bestimmten Eindruck von sich selbst zu vermitteln. Durch die Aussage wolle er als patriotischer und religiös -
Frankfurt, On Bullshit (wie Anm. 7), S. 118.
-
Er könnte sich natürlich täuschen und in seiner Lüge einen wahren Satz über die Welt sagen. Das Phänomen der Lüge ist wesentlich komplexer, als es hier dargestellt werden kann. Siehe als ausführliche Begriffsanalyse zum Beispiel Künne, Wolfgang, Über Lug und Trug, in: Bernard Bolzanos geistiges Erbe für das 21. Jahrhundert. Beiträge zum Bolzano-Symposium der Österreichischen Forschungsgemeinschaft im Dezember 1998 in Wien, hrsg. von Morscher, Edgar, Sankt Augustin 1999, S. 29-58. Frankfurt, On Bullshit (wie Anm. 7), S. 121.
Rüdiger Graf
82
gestimmter
Politiker erscheinen, der ein Bewusstsein für die Größe der Nation
habe.39
Aus historischer Perspektive greift diese Quelleninterpretation von Black und Frankfurt etwas zu kurz. Warum sollte der Redner nicht wirklich davon überzeugt sein, dass die Founding Fathers unter göttlicher Führung standen, und warum sollte er nicht das Publikum davon überzeugen wollen, dass dies die richtige Perspektive auf die amerikanische Vergangenheit ist? Um das Gegenteil zu belegen und seine Aussage damit als Humbug zu identifizieren, reicht nicht die offenkundig stillschweigend unterstellte Prämisse, dass im ausgehenden 20. Jahrhundert niemand mehr etwas Derartiges glauben kann. Vielmehr musste durch weitere Quellen entweder gezeigt werden, dass der Redner eine andere Intention mit der Aussage verfolgt, was schwer möglich sein dürfte. Oder aber es musste durch andere Belege plausibel gemacht werden, dass es sich um einen Menschen handelt, von dem keine ernstzunehmende religiöse Überzeugung dieser Art zu erwarten ist. Trotz dieser interpretatorischen Ungenauigkeit kann man sich mit Black und Frankfurt einen Redner vorstellen, der eine solche Aussage nur zu dem Zweck macht, ein bestimmtes Bild von sich zu erzeugen. Von dieser Figur ausgehend, lassen sich nun zwei Elemente des Humbug herauspräparieren, die auch den Bullshit kennzeichnen: „It is correct to say of bullshit [...] both that it is short of lying and that those who perpetrate it misrepresent themselves in a certain way."40 Um diese beiden Elemente weiter zu elaborieren, referiert Frankfurt eine Geschichte, die Fania Pascal in den 1930er Jahren mit Ludwig Wittgenstein erlebt hat. Pascal habe nach einer Mandeloperation im Krankenhaus gelegen, als Wittgenstein sich nach ihrem Befinden erkundigte. Auf ihren Satz „I feel just like a dog that has been run over" habe Wittgenstein angewidert geantwortet: "You don't know what a dog that has been run over feels like." Auch wenn Frankfürt bezweifelt, dass Pascal Wittgensteins Äußerungen zurecht als herzlose Kritik verstanden hat, übernimmt er ihre Lesart und versucht zu klären, was Wittgenstein verärgert haben könnte. Nach Frankfurt regte sich Wittgenstein nicht darüber auf, dass sie gelogen habe oder es ihr gar nicht wirklich so schlecht gehen könne, sondern darüber, dass sie in ihrer Ausdrucksweise und Metaphernwahl nicht sorgfältig genug war. Sie tat so, als ginge es ihr darum, eine wahre Beschreibung ihres Zustandes zu liefern, kümmerte sich dabei aber nicht intensiv genug um die Wahrheitsbedingungen ihrer Aussage:
„Pascal's statement is unconnected to a concern with truth: she is not concerned with the truth-value of what she says. That is why she cannot be regarded as lying; for she does not presume that she knows the truth, and therefore she cannot be deliberately promulgating a proposition that she presumes to be false. Her statement is grounded neither in the belief that it is true nor, as a lie must be, in a 39 40
Ebenda. Ebenda.
Geschichtswissenschaft zwischen Ironie und Bullshit
83
belief that it is not true. [...] It is just this lack of connection to a concern with truth this indifference to how things really are that I regard as the essence of bullshit."41 -
-
Bullshit liegt also dann vor, wenn der Sprecher seine Aussage weder für wahr noch für falsch hält, sondern sich überhaupt nicht ernsthaft um ihre Wahrheitsbedingungen kümmert. Der Bullshitter muss also seine Zuhörer nicht belügen oder auch nur die Absicht haben, sie über die Welt oder seine Sicht der Welt zu betrügen. Vielmehr missrepräsentiert er, worum es ihm bei seiner Rede geht. Sowohl der Lügner als auch der Bullshitter tun so, als ob sie den Versuch unternähmen, wahre Sätze zu kommunizieren, sie verbergen dabei aber unterschiedliche Dinge: Der Lügner versucht zu verbergen, dass er seine Zuhörer von der richtigen Meinung über die Welt abbringen und ihnen einen falschen Glauben vermitteln will. Der Bullshitter hingegen verbirgt, dass die Wahrheitswerte seiner Aussagen nicht sein zentrales Interesse sind. Er gibt sich keine Mühe durch sorgfältige Wahl angemessener Begriffe, wahre Sätze zu produzieren, will aber verhindern, dass die Zuhörenden durchschauen, dass er weder die Absicht hat, die Wahrheit zu sagen, noch zu lü-
gen.42
Daher haben die beiden ein unterschiedliches Verhältnis zur Welt. Gerade weil der Lügner die Wahrheit vor seinen Zuhörern verbergen will, bleibt er in seinen Aussagen an die Wirklichkeit gebunden:
„One who is concerned
to report or to conceal the facts assumes that there are indeed facts that are in some way both determinate and knowable. His interest in telling the truth or in lying presupposes that there is a difference between getting things wrong and getting them right and that it is at least possible to tell the
difference."43
Demgegenüber löst sich der Bullshitter von der Welt und den Fakten ab. Er tut nur so, als ginge es ihm um die Wahrheit seiner Aussagen, während er eigentlich ganz andere Intentionen verfolgt und ihm die Frage egal ist, wie die Welt wirklich aussieht. Grundsätzlich, argumentiert Frankfurt, sind Menschen toleranter gegenüber sprachlichem Verhalten, das eine gewisse Indifferenz zur Wahrheit an den Tag legt, als gegenüber solchem, das die Wahrheit bewusst zu verbergen sucht. Daher hat die Regel „don't lie, if you can bullshit your way through" für viele eine gewisse Plausibilität. Im Unterschied
der detaillierten Begriffsanalyse sind Frankfurts Überlegunviel Bullshit auf der Welt gibt, wesentlicher kürzer und gen dazu, Wesentlichen sieht er zwei Ursachen für die weite Verbreitung des Im unpräziser. zu
warum es so
41 42
43
Ebenda, S. 125. Ebenda, S. 130. Ebenda, S. 132.
Rüdiger Graf
84
Bullshit. Zum einen führe die Mediengesellschaft dazu, dass immer mehr Menschen sich immer öfter zu immer mehr Themen äußern könnten und auch mussten. Diese Entwicklung bewirke einen quantitativen Anstieg unqualifizierter Äußerungen und damit auch mehr Bullshit. Denn: „Bullshit is unavoidable whenever circumstances require someone to talk without knowing what he is talking about."44 Zum anderen macht Frankfurt aber auch verschiedene Formen des Antirealismus und Skeptizismus dafür verantwortlich, dass das Vertrauen in objektive Untersuchungen und Versuche, die Wahrheit oder Falschheit von Aussagen zu bestimmen geschwunden ist.45 Auch wenn Rortys Name hier nicht fallt, könnte man sich durchaus vorstellen, dass Frankfurt ihn im Blick hat.
4.
Ironie, Bullshit und Geschichte
Nach der
bisherigen Darstellung von Rorty und Frankfürt sollte deutlich sein, dass und „Ironie" „Bullshit" eng verwandte sprachliche Ausdrucksformen bzw. sehr ähnliche Haltungen der Welt gegenüber beschreiben. Im Wesentlichen weisen Ironie und Bullshit drei Gemeinsamkeiten auf: Erstens legen sowohl Rortys Ironikerin als auch Frankfurts Bullshitter eine gewisse Indifferenz gegenüber den Fakten und der Wahrheit an den Tag. Zweitens verfolgen sie nicht primär das Ziel, dass ihre Texte einer außersprachlichen Realität korrespondieren, sondern sie bewerten andere Ziele höher als das der wahrheitsgemäßen Repräsentation dessen, was ist bzw. war. Drittens tendieren beide dabei zur Benutzung von Metaphern bzw. zur Übertragung von Begriffen in Sprachspiele, in denen diese eigentlich fremd sind. Allerdings unterscheiden sich die Ironikerin und der Bullshitter zumindest in zwei wesentlichen Punkten. Zunächst zeichnet sich die Ironikerin durch ein höheres Maß an intellektueller Redlichkeit aus: Der Bullshitter versucht zu verbergen, dass es ihm nicht um die Wahrheit und Falschheit seiner Aussagen geht, und entwirft sich stattdessen als Person, die um die wahre Repräsentation der Welt bemüht ist. Demgegenüber lässt die Ironikerin offensiv ihre Wahrheitsansprüche fallen und gibt sich der spielerischen Produktion des Neuen statt der Reproduktion des Wirklichen hin. Daher haben ihre Texte eine unterschiedliche Qualität: Während sie neue Perspektiven auf die Welt entwickeln und bisher nicht genutzte Redeweisen ausprobieren will, reproduziert er zumeist schon bekannte Redeweisen. Der Rückgriff auf schon etablierte Erzählmuster ist für den Bullshitter deshalb vorteilhaft, weil bei diesen die Gefahr kritischer Rückfragen geringer ist und er schließlich verbergen will, dass es ihm nicht um die Wahrheit oder Falschheit seiner Aussagen geht.
44
Ebenda.
45
Ebenda, S. 133.
85
Geschichtswissenschaft zwischen Ironie und Bullshit
Trotz des von Rortyanern ausgerufenen unwiderruflichen Beginns der Postmoderne,46 in der wir alle nichts anderes als Ironiker mehr seien können, verläuft in der Geschichtswissenschaft noch immer eine wesentliche Trennlinie zwischen ironischen Historikerinnen und Historikern und solchen, die man ebenfalls mit Rorty als Vertreter des „gesunden Menschverstandes" bezeichnen kann. Letztere hegen keine Zweifel an ihrem abschließenden Vokabular, sondern glauben daran, dass in seinem Rahmen alle Handlungen und Überzeugungen anderer Menschen zu beschreiben und zu erklären und die Wirklichkeit adäquat zu repräsentieren ist.47 Als Historikerinnen und Historiker verwenden sie eine Rhetorik des Findens und nicht des Machens: Sie meinen, dass sie Vergangenheit reproduzieren und nicht produzieren. Die selbstbewussteren von ihnen glauben, dass ihre Arbeiten in einer Korrespondenzrelation zur Vergangenheit stehen, und die vorsichtigeren und zurückhaltenderen bezweifeln zwar, dass man wahre Repräsentationen der Vergangenheit je erreichen könne, halten es aber für eine zentrale Aufgabe der Geschichtswissenschaft, Wahrheit und Objektivität anzustreben. Neuheit wird für sie im Wesentlichen durch Quellenbelege hergestellt und abgesichert, die sich idealerweise zu einem immer komplexeren Bild der Vergangenheit aufaddieren sollen. Im Unterschied dazu versuchen die Ironiker, auf andere Weise Neues zu produzieren: Ihnen geht es weniger darum, neue Quellen zur Ausfüllung oder Nuancierung eines bereits vorhandenen Bildes zu liefern, sondern etablierte Erzählungen als Ganze in Frage zu stellen. Am Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen steht die Frage, ob sich eine Geschichte nicht auch ganz anders zugetragen haben könnte, als sie bisher erzählt wird. Die Herausforderung der herrschenden Lehre kann sich dabei in allen oben eingeführten Ironieformen vollziehen: Mit den Mitteln der sokratischen Ironie hinterfragen sie für selbstverständlich gehaltene Wissensbestände, um zu deren Grundlagen vorzustoßen. Wie die romantischen Ironiker hegen sie grundsätzliche Zweifel an der Möglichkeit einer vollständigen und endgültigen Reproduktion von Wirklichkeit. Daher kehren sie für sicher geglaubte Erzählungen um und entwerfen neue, den alten widersprechende, um sie gegeneinander auszuspielen und suchen so nach neuen Sprachspielen, um bekannte Sachverhalte in einem anderen Licht erscheinen zu lassen. In ironischer Perspektive erscheint Geschichte daher nicht als ein Raum mit festen Grenzen, der durch historische Erzählungen immer weiter ausgefüllt wird die berühmten Forschungsdesiderata, die irgendwann behoben werden -, sondern vielmehr als ein offener Möglichkeitsraum, der sich durch jede neue Erzählung erweitert. Ein paradigmatischer und vielleicht auch der berühmteste Ironiker ist Hayden White, der in seiner inzwischen klassisch gewordenen Studie Metahistory die Erzählungen bedeutender Historiographen des 19. Jahrhunderts nicht als wissen-
-
-
46 47
Jenkins, Keith, On Disobedient History, in: Rethinking History, Jg. 7 (2003), S. 367-386. Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität (wie Anm. 30), S. 128.
Rüdiger Graf
86
schaftliche, sondern als literarische Produkte las.48 Diese Perspektivverschiebung, die durch die Untersuchung der narrativen Strukturen und literarischen Tropen der sich ausbildenden und um die faktengetreue Repräsentation der Vergangenheit bemühten Wissenschaft entstand, war in doppeltem Sinn ironisch. Zum einen erweiterte sie den Raum dessen, was über die Historiographiegeschichte denk- und sagbar war. Zum anderen trug sie aber auch massiv zur Verunsicherung der zeitgenössisch Geschichte Betreibenden bei, indem sie auf die narrative Konstituierung der Vergangenheit verwies. Dadurch ließ sie die eigene Darstellungstechnik kontingent werden und warf die Frage auf, mit welchen sprachlichen Mitteln Geschichte am besten zu erzählen sei.49 Aber auch jenseits von Hay den White gibt es zahlreiche zwar weniger spektakuläre und prominente, dafür aber wesentlich konkretere und damit für die historiograpische Praxis interessantere Beispiele ironischer Erzäh-
lungen.
Ein festetablierter Topos der Geschichtsschreibung zur Weimarer Republik, der immer wieder zur Erklärung ihres Scheiterns herangezogen wird, ist die sogenannte „Versäulung" ihrer politischen Kultur. Wie Generationen von Forschern in vielen Detailstudien belegt haben, war die politische Landschaft Weimars in verschiedene Milieus gespalten, deren Angehörige kaum miteinander kommunizierten und sogar ihre eigenen paramilitärischen Organisationen ausbildeten, die sich dann wechselseitig bekämpften. Unter anderem an diesen Konflikten sei die Republik zugrunde gegangen, weil sie keinen ausreichend breiten republikanischen Grundkonsens hervorgebracht habe. Diese Perspektive, die zweifelsohne ein hohes Erklärungspotential entfaltet hat, dreht Thomas Mergel in seiner Geschichte des Weimarer Parlamentarismus in produktiver Weise um, indem er danach fragt, wie viele Gemeinsamkeiten und wie viel Verständigungsbereitschaft zwischen Republikgegnern und -befürwortern im Reichstag bestanden.50 Seine Frage lautet nicht primär, warum Weimar scheiterte, sondern warum die erste deutsche Republik überhaupt so lange bestehen konnte. Durch eine Analyse der kommunikativen Praktiken im Reichstag kommt er zu überraschenden neuen Ergebnissen und kann eine relativ weitgehende Kommunikationsbereitschaft und kommunikative Integration auch der eigentlich antirepublikanischen DNVP belegen. Als anderes Beispiel mag eine Arbeit von Moritz Föllmer dienen, der im Unterschied zur traditionellen Betonung des integrierenden und tendentiell homogenisierenden Charakters des Nationalismus zeigt, dass 48
White, Hayden, Metahistory. The historical imagination in nineteenth century Europe, Baltimore 1973.
49
50
White, Hayden, The Burden of History, in: ders., Tropics of Discourse. Essays in Cultural Criticism, Baltimore/ London 1978, S. 27-50. Deshalb dient er auch Keith Jenkins als zweiter Säulenheiliger fur eine erneuerte Geschichtswissenschaft. Siehe Jenkins, On „What is history?" (wie Anm. 2). Mergel, Thomas, Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf 2002.
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der rhetorische Bezug auf die Nation nach dem Ersten Weltkrieg im Gegenteil oftmals gerade konfliktverschärfend wirkte.51 Derartige ironische Perspektiven auf die Vergangenheit müssen nicht unbedingt aus der akademischen Geschichtswissenschaft kommen. So gibt Gerd Koenen seinem Buch über Das rote Jahrzehnt von 1967 bis 1977 den ironischen Untertitel Unsere kleine deutsche Kulturrevolution, um dann selbstkritisch die Liberalisierungsgeschichte der 68er umzukehren und gerade die antiliberalen und autoritären Tendenzen der diversen linken Strömungen herauszuarbeiten.52 Es ließen sich viele ähnliche ironische Umkehrungen bekannter Erzählungen anfuhren, die nicht primär von der klassisch historistischen Frage ausgehen, wie es eigentlich gewesen, sondern eher danach fragen, ob man nicht auch eine andere Perspektive als die etablierte rechtfertigen kann. Auf diese Weise können produktive Infragestellungen etablierter Perspektiven entstehen, die den Raum dessen, was historisch denkbar und damit auch gesellschaftlich vorstellbar ist, erweitern, anstatt ihn abzuschließen. Vertreter des gesunden Menschenverstandes reagieren auf die Ironiker oft aggressiv. Sie werfen ihnen vor, ein verzerrtes Bild der Vergangenheit zu liefern und sich nicht ausreichend um die bekannten Fakten und die historische Wirklichkeit zu kümmern. So kritisierte ein ausgewiesener Weimar-Experte auf dem 44. Historikertag in Halle Thomas Mergel auf das Heftigste und warf ihm vor, die Geschichte der Weimarer Republik „geschönt" zu erzählen. Auch Manfred Kittel bezeichnet Mergels Arbeit in seiner Rezension als „Weimar im Weichspülgang" und meint, Mergel „zeichne ein seltsam verfremdetes, geradezu romantisches Bild von der rauen Wirklichkeit der Weimarer Politik".53 Dabei scheint Kittel davon auszugehen, dass er über einen privilegierten Zugang zur Wirklichkeit der Weimarer Republik verfügt und daher weiß, welche Geschichten über diese erzählt werden können, weil sie ihr entsprechen und welche nicht. Darüber hinaus macht er eine Hierarchie auf zwischen den Fragen, die in der Geschichtswissenschaft legitimerweise gestellt werden dürfen und den kulturgeschichtlichen, die an den „harten Fakten" und der „rauen Wirklichkeit" vorbeizielen. Auf diese Weise verlässt seine Rezension die Ebene der verschiedenen Forschungspositionen, um die selbstverständlich gestritten werden muss, und gibt stattdessen vor, die vergangene Wirklichkeit zu kennen, die es historiographisch nur weiter auszumalen gelte. Der Verweis darauf, wie es ei-
FÖllmer, Moritz, The Problem of National Solidarity in Interwar Germany, in: German
History, Jg. 23 (2005), S. 202-231. Koenen, Gerd, Das
rote
Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967-1977,
Frankfurt/Main 2001. von: Mergel, Thomas, Parlamentarische Kultur in der Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Republik. 3 in: Düsseldorf 2003, (2003), URL: http://www.sehepunkte.de/ sehepunkte, Jg. Reichstag,
Kittel, Manfred, Rezension Weimarer
2003/12/3933.html (letzter Zugriff am 27.03.2008).
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gentlich gewesen, dient hier dazu, den Raum des Erzählbaren abzuschließen, anstatt ihn für neue Fragen und Perspektiven zu öffnen. Die Perspektive des gesunden Menschenverstandes, man kenne die Vergangenheit in groben Zügen bereits und die Geschichtswissenschaft habe weder die Aufgabe, das etablierte Bild in Frage zu stellen, noch eine grundsätzlich andere Geschichte zu erzählen als die schon bekannte, greift entschieden zu kurz. Wie die oben angeführten Argumente Rortys zeigen, ist die damit oft einhergehende Beschreibung der Historiographie als Wahrheitssuche grundsätzlich problematisch. Allein aus dem Versuch, die Wahrheit über die Vergangenheit zu sagen oder zu sagen, wie es eigentlich gewesen, entstehen nicht nur keine guten, sondern gar keine historiographischen Arbeiten. Denn es ist trivial, wahre Sätze über die Vergangenheit aneinanderzureihen, aber auf diese Weise produziert man höchstens eine Chronik, aber keine historische Erzählung. Ganz zu schweigen von den wissenschaftsexternen Motivationen und Bedingungen, die nötig sind, damit man sich überhaupt auf ein historiographisches Projekt einlässt, gibt es eine Reihe wissenschaftsinterner Absichten, die durch den Begriff des Wahrheitsstrebens nicht hinlänglich erfasst sind. Man muss nicht so weit gehen wie Rorty und behaupten, dass Wahrheitsstreben noch nicht einmal eine notwendige Bedingung für Historiographie ist, um zu erkennen, dass guten historischen Arbeiten zumindest auch das Interesse zugrunde liegt, etwas Neues zu sagen. Arbeiten sind nicht deshalb interessant, weil sie etwas Wahres über die Vergangenheit sagen, sondern weil sie etwas sagen, das wir noch nicht wussten und das aus irgendwelchen oft gegenwartsbe-
zogenen Interessen heraus wissenswert erscheint. Darüber hinaus zeichnen sich sehr gute Arbeiten oft dadurch aus, dass sie Erkenntnisse mit neuen Methoden gewinnen und sie auf innovative Weisen präsentieren. Auch diese Elemente sind nicht hinreichend aus dem Streben nach Wahrheit zu erklären, sondern ihnen liegt ein Prozess des Ausprobierens und des Suchens nach neuen Formen zugrunde. Diesen Forschungsprozess kennzeichnet zumindest streckenweise weniger die Suche nach der Wahrheit als vielmehr die Suche nach Erzählungen, die vielleicht auch begründet werden können. Luhmannianisch gesprochen ist die Leitdifferenz des Wissenschaftssystems nicht nur wahr/falsch, sondern auch interessant/uninteressant oder neu/alt und diese Kategorien sind nicht auf Wahrheit und Falschheit zu reduzieren. Im Sinne von Rortys Ironikerin und im Gegensatz zum gesunden Menschenverstand ließe sich eine andere Direktive für den Prozess des historischen Arbeitens formulieren, die instruktiver als das Postulat der Wahrheitssuche oder der Bestimmung, wie es eigentlich gewesen, ist: Definiere die Erzählung, die von der Mehrheit geglaubt wird, in ihren wesentlichen Bestandteilen und versuche für die gesamte Erzählung oder einzelne Teilaspekte das Gegenteil zu begründen. Formuliere neue Thesen und innovative Interpretationen bekannter Sachverhalte, anstatt bekannte Thesen an anderen Gegenständen zu bestätigen. Probiere neue und interés-
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,
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sante Weisen
der Darstellung aus und verschaffe bisher vernachlässigten Personen, Gruppen und Ideen Geltung.' In einer rorfyanischen Geschichtswissenschaft ginge es also darum, im Modus der Ironie Erzählungen gegeneinander auszuspielen, um so Raum für neue Ausdrucksformen und Denkweisen zu schaffen, anstatt den Raum des Erzählbaren durch den Verweis auf die eine bekannte Geschichte einzuschränken, auch wenn diese zunächst nach allen bisherigen Rechtfertigungen wahr zu sein scheint. So wichtig ironische Perspektiven in der Geschichtsschreibung auch sind, muss jedoch vermieden werden, dass die Einnahme einer ironischen Haltung und die Aufgabe des Wahrheitsstrebens zur Produktion dessen führt, was Frankfurt Bullshit nennt. Was ist überhaupt historiographischer Bullshit? Nach Frankfurts These, dass Bullshit vor allem dort entsteht, wo die Umstände eine Person dazu zwingen, von etwas zu reden, wovon sie keine Ahnung hat, wäre der öffentliche, häufig massenmedial vermittelte Geschichtsdiskurs ein prädestinierter Ort für die Suche nach historiographischem Bullshit. Tatsächlich lassen sich im Bereich der politischintellektuellen Debatten über die Deutung der Gegenwart viele instrumenteile Bezüge auf die Vergangenheit ausmachen, deren Bullshitgrad der oben zitierten Rede zu einer Feier am 4. Juli in nichts nachstehen. So erklärt beispielsweise der Verfassungsrichter Udo di Fabio im Rahmen seiner Versuche, einen neuen Patriotismus zu begründen:
„Zur ganzen, weniger ideologisch festgelegten Wahrheit gehört auch: Der deutsche 1933 und in den Folgejahren nicht auf Judenmord und Welteroberung ausgerichtet [...] Die politisch verwirrten und sozial deklassierten Deutschen des Jahres 1933 wollten überwiegend eine sichere, friedliche, bürgerliche Welt. Sie wollten hart arbeiten und die Früchte dieser Arbeit sehen. Sie träumten vom eigenen Auto und von Urlaubsreisen, von einem Häuschen und von Kindern, nichts war falsch an diesen Träumen."54
Nationalcharakter
war
Di Fabio ist hier kein Ironiker, denn er gibt vor, eine wahre Aussage über die Mentalität der Deutschen des Jahres 1933 zu machen, kümmert sich aber offenkundig nicht um die Wahrheitsbedingungen der von ihm verwendeten Sätze. Ohne den Anspruch zu erheben, selbst einen privilegierten Zugang zu dieser Mentalität zu haben, kann man doch feststellen, dass di Fabio weite Teile der Forschung ignoriert, die argumentieren, dass nicht nur verwirrte und sozial deklassierte Deutsche Hitler ihre Stimme gaben, sondern die NSDAP gerade von den vorangegangenen Selbst-
mobilisierungsprozessen
im Bürgertum profitierte. Mit präzisen Formulierungen, die Deutschen in „Wahrheit" „wollten" und „erträumten", suggeriert er einen direkten Zugang zur Vorstellungswelt der Zeitgenossen, obwohl wir über keine repräsentativen Umfragen aus der Zeit verfügen und Interpretationen selbst der was
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Fabio, Udo di, Die Kultur der Freiheit. München 2005, S. 205f.
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Bevölkerung, die schriftliche Äußerungen hinterlassen haben, hochgradig problematisch sind. Bei der apodiktischen Formulierung von Konsuminteressen fallen andere mögliche Elemente wie AntisemitisVorstellungswelten
von
den Teilen der
Nationalismus, Rassismus und völkisches Denken unter den Tisch, die doch zumindest diskussionswürdig sein sollten, wenn es um die Mentalität der Deutschen -
mus,
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im Jahr 1933 geht. So unklar di Fabios Sätze über die Vergangenheit trotz ihres vorgeblich einfachen Repräsentationscharakters auch seien mögen, klar ist doch ihre Funktion in der gegenwärtigen geschichtspolitischen Debatte. Durch den Verweis auf Interessen und Träume, an denen auch heute „nichts falsch" sein könne, soll eine Gesellschaft der politisch Verführten entworfen und diese durch die Legitimität ihrer angeblichen Wünsche für ihr politisches Fehlverhalten entschuldigt werden. Im Dienste der nationalen Selbstfindung wird der Nationalsozialismus so wieder zu einer zwar hässlichen, aber letztlich unbeabsichtigten und nur zwölf Jahre währenden Eskapade der deutschen Geschichte, die so insgesamt wieder das Objekt ungebrochenen Stolzes werden kann. Auch jenseits solcher Instrumentalisierungen der Vergangenheit zu gegenwartspolitischen Zwecken blüht der historiographische Bullshit im massenmedialen Diskurs von historischen Dokumentationen bis zu Spielfilmen. Am bekanntesten und unter Historikerinnen und Historikern berüchtigtsten sind hier die Dokumentarfilme von Guido Knopp, der sich nicht scheut, neben Originalquellen zur Steigerung der Authentizitätssuggestion einzelne Episoden nachspielen zu lassen. Die dadurch entstehenden Erzählungen erheben einen hohen Anspruch auf faktische Wahrheit, obwohl sie sich in weiten Teilen von in irgendeiner Form überprüfbaren historischen Aussagen abgelöst haben. Anders als bei ironischen Perspektiven geht es hier aber nicht um die Infragestellung etablierter Erzählungen, sondern vielmehr um die Repetition des schon Bekannten. Im historischen Spielfilm führt dies dann oft so weit, dass nur noch vorgeblich Vergangenheit reproduziert wird, während in Wirklichkeit bloß stereotype human interest stories in andere Settings verlegt werden wie zuletzt in dem Film Das Leben der Anderen. Längst Bekanntes wird im massenmedialen Geschichtsdiskurs in unterschiedlichen Kondensierungsstufen recycelt und zugleich als neuartiger und authentischer Einblick in eine vergangene Lebenswirklichkeit verkauft. Mit diesem kurzen Rundumschlag gegen Geschichtsdarstellungen in den Medien soll weder gesagt werden, dass es keine seriösen Formen des historischen Journalismus gäbe, die einen engen Wahrheitsbezug haben, noch dass es keinen Bullshit in der akademischen Geschichtswissenschaft gäbe. Die Produktion möglichst bullshitfreier historischer Darstellungen ist kein Privileg professioneller Historikerinnen und Historiker und nur wenige historische Arbeit sind frei von Bullshit. Nichtsdestoweniger kommt vollkommener Bullshit in der akademischen Geschichtswissenschaft grundsätzlich nicht vor. Die Vernachlässigung der von der scientific community anerkannten Fakten oder die permanente Suspendierung der -
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Frage danach, ob die eigenen Aussagen auch wahr sind bzw. die allgemeine Unterordnung ihrer Wahrheitswerte unter andere Absichten wird gemeinhin nicht mit einer höheren Anerkennung innerhalb des Fachs belohnt. Im Gegenteil kann es Historikerinnen und Historikern und ihrer fachlichen Reputation zum Verhängnis werden, wenn sich die Meinung herausbildet, dass sie in ihren Arbeiten Bullshit produzieren. So spielt der Vorwurf des zu entspannten oder gar fehlenden Verhältnisses zur Wahrheit der eigenen Sätze bisweilen eine entscheidende Rolle in der Bewertung historischer Arbeiten. Relative Berühmtheit erreichte hier der Fall von David Abrahams in Princeton entstandener Doktorarbeit über die Bedeutung der Großindustrie für den Aufstieg der NSDAP und die nationalsozialistische „Machtergreifung".55 Nicht zuletzt weil sie Abrahams marxistisch inspirierte Argumentation ablehnten, kritisierten vor allem Henry A. Turner und Gerald D. Feldman seine Arbeit und warfen ihm vor, Quellen falsch zitiert oder gar erfunden zu haben. Wenngleich die Reaktion der amerikanischen Geschichtswissenschaft nicht einhellig war, sondern einige prominente Vertreter Abraham mit dem Hinweis darauf verteidigten, dass es sich bei den Fehlern nicht um absichtliche Manipulationen, sondern um Nachlässigkeiten handelte, die in jeder historischen Arbeiten vorkämen, diskreditierten die Vorwürfe Abraham nachhaltig und schadeten seinem akademischen Fortkommen.56 Auch in der Goldhagen-Kontroverse kritisierten viele Historiker dessen zu laxen Umgang mit den Belegen für seine vorgeblich detailgenauen Schilderungen der Tötungsaktionen des Polizeibataillons 101.57 So erklärt Goldhagen zur Räumung des Ghettos von Józefów:
„Aller Wahrscheinlichkeit nach erschoß einer der Mörder ein Baby in den Armen seiner Mutter und die Mutter obendrein, oder aber er hielt das Kleine, wie es damals mitunter die Gewohnheit der Täter war, am Bein auf Armeslänge von sich, dann zu erschießen. Vielleicht mußte die Mutter dies voller Entsetzen mitansehen. Der kleine Körper wurde dann wie Abfall fallen gelassen, und man ließ ihn verrotten."58
um es
So grausam und schrecklich die Taten der „ganz normalen Männer" (Christopher Browning) des Polizeibatallions auch waren, kann Goldhagen hier weder für den 55
Abraham, David, The collapse of the Weimar Republic. Political Princeton, N.J. 1981.
56
Siehe die Zusammenstellung der Debatte bei Novick, Peter, That noble dream. The „objectivity question" and the American historical profession, Cambridge 1988, S. 612-621. Goldhagen, Daniel Jonah, Hitlers willige Vollstrecker ganz gewöhnliche Deutsche und
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crisis,
der Holocaust, Berlin 1996. Siehe zum Verlauf der Debatte Heil, Johannes/ Aschheim, SteE. (Hg.), Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit. Der Streit um Daniel J. Goldhagen, Frankfurt am Main 1998. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker (wie Anm. 57), S. 258. ven
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economy and
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konkreten Vorgang noch für die angebliche Gewohnheit der Täter einen Quellenbeleg anfuhren. Darüber hinaus legt er auch bei der Begründung seiner Gesamtthese, die Judenmorde seien durch einen spezifischen, im deutschen Volk seit Jahrhunderten verwurzelten „eliminatorischen Antisemistismus" motiviert gewesen, eine weitgehende „indifference to how things really are" an den Tag. Seine diesbezüglichen Aussagen galten vielen Kritikern nicht nur deshalb als Bullshit, weil sie in dieser Allgemeinheit nicht verifizierbar, sondern auch weil sie auf andere wissenschaftsexterne Intentionen zurückgehen schienen, die durch die Detailverliebtheit und Präzision der Schilderung zugleich verborgen wurden. Als letztes Beispiel für historiographischen Bullshit sei ein Satz aus Niall Fergusons Gesamtdarstellung der kriegerischen Auseinandersetzungen im 20. Jahrhundert The War of the Worlds zitiert. Nachdem Ferguson die Bereitschaft eines Teils der deutschen Intellektuellen, sich auf den Nationalsozialismus einzulassen und sich Hitler anzuschließen, dargestellt hat, beantwortet er die Frage, ob es sich hier um eine spezifische Disposition der deutschen Intellektuellen gehandelt habe, wie folgt: „Possibly. Yet other intellectuals were never exposed to Hitler's supernatural magnetism and that, surely, was the crucial factor."59 Die Angabe einer übernatürlichen Anziehungskraft als Ursache für die Entscheidung von Intellekuellen wie zum Beispiel Martin Heidegger, die Nationalsozialisten zu unterstützen, ist nicht nur eine Kapitulation vor dem erklärungsbedürftigen Phänomen. Es handelt sich vielmehr um Bullshit, weil die Aussage gemacht wurde, ohne besonderen Wert auf ihre Wahrheitsbedingungen zu legen, so dass noch nicht einmal vorstellbar ist, wie sie überprüft werden könnte. Das „lack of concern with truth" wird jedoch überspielt durch ein versicherndes „surely" und „crucial", vielleicht weil Ferguson selbst bei seiner Äußerung unwohl gewesen ist. Die Stelle wirkt ein wenig so, als ob Ferguson vom Schwung seiner großen Erzählung mitgerissen worden wäre und auf den Topos des dämonischen Hitler zurückgegriffen hätte, um eine Leerstelle der Argumentation zu füllen, für die eigentlich ein viel größerer Erklärungsaufwand nötig -
gewesen wäre.
Auch bei Ferguson handelt es sich wie schon bei Abraham und Goldhagen eher um einen Außenseiter des Fachs, der zwar in Oxford Geschichte unterrichtet hat, inzwischen aber Professor an der Harvard Business School ist. Dies mag unter anderem daran liegen, dass seine Erzählungen für viele Historikerinnen und Historiker zur sehr an der Lust der Provokation und dem erwarteten Publikumserfolg orientiert zu sein scheinen und so unter Ironie- und Bullshitverdacht stehen. Nichtsdestoweniger ist die Produktion von historiographischen Bullshit nicht auf die Außenseiter beschränkt, sondern er kommt auch in den besten Arbeiten der etabliertesten Fachvertreter vor. Selbst in Arbeiten, die dicht an den Quellen geschrieben sind, einen hohen Anspruch auf Faktentreue erheben und ihn nach Auffassung der -
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Ferguson, Niall, The war of the world. History's age of hatred, London 2007, S. 243.
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scientific community auch einlösen,
lassen sich leicht Beispiele für Bullshit finden. Oftmals ähnelt dieser dem eben zitierten Beispiel Fergusons: An argumentativ oder erzählerisch schwierigen Stellen wird bewusst oder unbewusst durch undeutliche Formulierungen ein Zusammenhang suggeriert, der für den Erzählverlauf wichtig, aber empirisch nicht zu überprüfen ist. Weil Geschichtsschreibung mehr ist als die Aneinanderreihung von Sätze über die Vergangenheit, kann auch kaum eine historische Erzählung völlig frei von Bullshit sein. Anhand der bisherigen Beispiele lassen sich also verschiedene Gründe für die Entstehung von historiographischem Bullshit unterscheiden: Erstens entspringt Bullshit aus der direkten Instrumentalisierung historischer Aussagen zu anderen Zwecken, seien sie politischer oder kommerzieller Natur. Zweitens entsteht Bullshit dann, wenn Personen dazu gezwungen sind über ihnen eigentlich fremde Themen zu reden und dabei aus Bequemlichkeit auf die Repetition etablierter Erzählmuster verfallen. Drittens produzieren Autoren Bullshit, wenn sie sich keine Gedanken darüber machen, ob die Wahrheit ihrer Sätze in irgendeiner Weise belegt werden kann. Dies geht, viertens, oft mit einem nachlässigen Sprachgebrauch einher, bei dem die Ausdrücke nicht sorgfältig genug ausgewählt oder in ihren Anwendungsbedingungen nicht genau genug reflektiert werden. Fünftens besteht die Bullshitgefahr insbesondere in allen Darstellungen an den Stellen, wo narrative Zusammenhänge über die Ebene einzelner Sätze hinaus hergestellt werden müssen. Denn nur Sätze können überhaupt in einem strengen Sinne wahr oder falsch sein, während die aus Sätzen bestehenden historischen Erzählungen immer konstruiert sind und zumindest ihre narrativen Strukturen keine Entsprechungen in der Welt haben.60 Nach dieser Aufzählung der Entstehungsbedingungen des Bullshit ist dieser anders als man aus Frankfurts Kritik des Skeptizismus schließen könnte kein Problem der ironischen Historiographie. Vielmehr taucht er in allen historischen Erzählungen dort auf, wo Dinge nicht genau gewusst werden, aber Wissen suggeriert wird oder wo nicht genug Sorgfalt auf die sprachliche Gestaltung des Textes verwendet wird. Wenn dem so ist, wird der Bullshit vor allem in den unironischen Geschichten des gesunden Menschverstandes zur Gefahr. Denn im Unterschied zu
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Die Rede von der „wahren" Erzählung ist also höchstens metaphorisch zu verstehen. Zur Narrativitätsdebatte allgemein und zum problematischen Repräsentationscharakter von Erzählungen siehe Ankersmit, Frank R., Narrative logic. A Semantic Analysis of the Historian's Language, The Hague u.a. 1983, S. 58-78 und passim. Der Konstruktionscharakter der Erzählung wurde aber auch schon von Carl Becker und Charles A. Beard aus drei Gründen abgeleitet: 1. Jeder Gegenstand kann auf unendlich viele Weisen sprachlich erfasst werden. 2. Aus der unendlichen Menge der Sätze muss eine endliche Zahl ausgewählt werden, und diese müssen 3. zu einer kohärenten Erzählung kombiniert werden. Becker, Carl, Everyman His Own Historian, in: The American Historical Review, Jg. 37 (1932), S. 221-236; Beard, Charles A., That Noble Dream, in: The American Historical Review, Jg. 41 (1935), S. 7487.
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diesen hat die ironische Geschichtsbetrachtung zumindest den Vorteil, dass sie über ein besser ausgebildetes Sensorium für die Konstruktion und Kontingenz ihrer Erzählungen verfugt, weil sie diese nicht am Ziel einer Widerspiegelung der wirklichen Welt ausrichtet.
5. Ironische
Geschichtsschreibung jenseits des Bullshit
Nach den
bisherigen Ausführungen ist die rortysche Ironie aus zwei Gründen eine produktive und wichtige Selbstbeschreibung des Projekts der Geschichtswissenschaft. Zum einen erfasst die ironische Direktive, wie historische Erzählungen zu erstellen seien, besser, was gute historische Arbeiten ausmacht, und sie ist im konkreten Fall instruktiver als das Postulat der Wahrheitssuche. Wer sie sich zu eigen macht, dürfte im Großen und Ganzen eher dazu tendieren, interessante Geschichten zu schreiben, als jemand, der es nicht tut. Zum anderen kann die ironische Selbstbeschreibung der historiographischen Arbeit das Bewusstsein für die Kontingenz der eigenen Erzählung und damit auch die Aufmerksamkeit für die Entstehungsbedingungen des historiographischen Bullshit schärfen. Ironie als Haltung kann daher ein wichtiges Element des geisteswissenschaftlichen Arbeitens im Allgemeinen und des historiographischen im Besonderen sein. Inwiefern besteht aber die Gefahr, durch die Einnahme einer ironischen Haltung, den Wahrheitsbezug der Geschichtswissenschaft ganz aufzugeben und nur noch Bullshit zu produzieren? Wie kann ironische Geschichtsschreibung Bullshit vermeiden? Die Antwort auf diese Frage liegt darin, dass mit dem Verzicht auf die Selbstbeschreibung historischer Forschung als Wahrheitssuche nicht zugleich auch die Wahrheit einzelner Sätze als Bezugspunkt des historischen Argumentierens aufgegeben werden darf.61 Schließlich erheben die oben zitierten ironischen Arbeiten Wahrheitsansprüche auf der Ebene individueller Sätze sowie umfassender Thesen, auch wenn sie in bestimmten Arbeitsphasen die Wahrheit etablierter Perspektiven grundsätzlich anzweifeln. Auch im Rahmen der ironischen Historiographie hat der Wahrheitsanspruch einzelner Sätze die wichtige Funktion, ihr eine höhere Glaubwürdigkeit und Relevanz zu sichern bzw. ihr Abgleiten in bloßen Bullshit zu verhindern. So überzeugend Rortys Argumentation ist, dass Wahrheit nicht als Ziel wissenschaftlicher Untersuchungen fungieren kann, so problematisch ist doch seine These, dass es jenseits konkreter Rechtfertigungspraktiken nichts Instruktives über den Wahrheitsbegriff zu sagen gibt. Die über Rechtfertigung hinausgehende pragma61
Jens Pape plädiert ebenfalls in Anschluss an Rorty dafür, Geschichtswissenschaft nicht als Wahrheitssuche zu begreifen, macht aber einen anderen Vorschlag, wie Wahrheit und Objektivität dennoch erhalten bleiben. Siehe Pape, Der Spiegel der Vergangenheit (wie Anm. 18), v.a. S. 169-176.
istische Funktion der Wahrheit lässt sich aus dem „cautionary use" des Wahrheitsirädikats („Äußerung xy ist gerechtfertigt, aber vielleicht nicht wahr...") ableiten, len selbst Rorty anerkennt. Bei diesem Gebrauch ist „vielleicht nicht wahr" nicht lurch „vielleicht nicht vor allen Gruppen von Zuhörenden gerechtfertigt" zu ersetzen. Denn der warnende Wahrheitsbegriff lässt sich auch noch auf die ideale, sich m ewigen Gespräch befindliche Forschergemeinschaft beziehen, da er der Korreslondenzintuition Ausdruck verleiht, dass die Wahrheit unserer Äußerungen nur von :wei Dingen abhängt, nämlich von der Bedeutung der verwendeten Ausdrücke und 1er Einrichtung der Welt. Wenn der zur Vorsicht mahnende Gebrauch des Wahrheitsprädikats aber in der Jraxis nicht durch den Begriff der Rechtfertigung zu ersetzen ist, scheint es jedoch luch gemäß der pragmatistischen Maxime ("if something makes no differerence in )ractice, it should make no difference in philosophy") einen Unterschied zwischen Vahrheit und Rechtfertigung zu geben:
„If truth differs from justification,
something about justification."62
as Rorty seems to allow, then there has to be truth you don't understand when you understand ,all about'
Uich in streng pragmatistischer Perspektive lässt sich auf den Wahrheitsbegriff ind zwar im Sinne einer objektiven Wahrheit nicht verzichten, weil er, wie Daddson gezeigt hat, von entscheidender Bedeutung für sprachliche Interpretationsind Übersetzungsprozesse ist.63 Dass er darüber hinaus im Rahmen einer ironischen Jistoriographiekonzeption praktisch relevant ist, liegt an dem hohen Dissidenzpoential, das der Begriff der objektiven Wahrheit entfalten kann. Denn was könnte :ine höhere Motivation darstellen, die von allen für am besten gerechtfertigt gehalenen Erzählungen in Frage zu stellen, als die Hypothese, dass eventuell auch tndere wahr sein könnten? Die Überzeugung, dass die eigene Meinung der Welt entspricht und bisher für vahr gehaltene andere Meinungen das nicht tun, birgt die stärkste Antriebskraft, die :igene Position auch gegen massive Widerstände zu vertreten, auch wenn daraus zunächst keine Gratifikationen resultieren. Abgesehen davon, dass die Wahrheitsrage bei allen einzelnen Sätzen historischer Arbeiten ein wichtiges Kriterium ist, im die Produktion von historiographischem Bullshit zu vermeiden, kommt sie also tls unorthodoxe Wahrheit, als Wahrheit des Andersdenkenden oder auch nur als 'ages „Könnte-doch-auch-sein" im Rahmen einer ironischen Konzeption von jeschichtswissenschaft wieder ins Spiel. Sie öffnet den Geschichtsdiskurs für die vlöglichkeit, dass andere Erzählungen besser sein könnten als die, die von allen -
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Davidson: Is truth a goal of inquiry? (wie Anm. 13), S. 18. Siehe auch Steinhoff, Uwe, Truth vs. Rorty, in: Richard Rorty (wie Anm. 14), S. 201-204. Siehe dazu ausfuhrlich Graf, Interpretation, Truth, and Past Reality (wie Anm. 12).
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geteilt werden, und zwar weil sie wesentlichen Aspekten des wirklichen Geschehens entsprechen. Der entscheidende Grund, warum die Ironikerin und mit ihr wir alle unsere Meinungen und Sprachspiele immer wieder überprüfen müssen und -
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wir uns bemühen sollten, auch den unorthodoxen Stimmen zuzuhören, besteht letztlich darin, dass in jedem einzelnen Fall die Möglichkeit besteht, dass die anderen Recht haben und zwar in diesem Fall wirklich deshalb, weil sie sagen, wie es eigentlich gewesen. warum
Thomas
Spitzley
Handlung, Rationalität, Bedeutung
Die drei Begriffe, die Bestandteile des Titels dieses Aufsatzes sind, wirken möglicherweise zunächst etwas disparat, doch wenn man dem 2003 verstorbenen amerikanischen Philosophen Donald Davidson trauen darf, stehen sie in einem sehr engen Zusammenhang. Donald Davidson war, das kann man sicher ohne Übertreibung sagen, einer der wirkmächtigsten analytischen Philosophen der letzten 50 Jahre. Mit seinen Beiträgen hat er die analytische Sprachphilosophie maßgeblich beeinflusst, er hat wichtige Akzente in der Erkenntnistheorie, der Sprachphilosophie und der Philosophie des Geistes gesetzt, und die moderne philosophische Handlungstheorie basiert in weiten Teilen auf seinen Ideen. Insbesondere seine Theorie zur Erklärung von Handlungen gilt trotz aller Kritik heute immer noch als Standardtheorie. Davidson selbst beschreibt sein allgemeines philosophisches Programm als die Konstruktion einer gemeinsamen Theorie des Handelns und der Bedeutung als Unified Theory of Meaning and Action mit der Rationalität als verbindender Klammer. Welche Beziehungen laut Davidson zwischen Handeln, Rationalität und Bedeutung bestehen, werde ich im Folgenden zumindest in den Grundzügen deutlich zu machen versuchen. Mein Beitrag wird also eine Darstellung von Davidsons Position sein und nicht eine kritische Auseinandersetzung mit ihr, und ich werde mich dabei stärker auf Handlung und Rationalität konzentrieren als auf Bedeutung. -
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1.
Handlung
Was sind eigentlich Handlungen? Der Begriff ,Handlung' wird von verschiedenen Autoren durchaus unterschiedlich verwendet. Die folgende kurze, eher unspektakuläre Geschichte mag dabei helfen zu erläutern, wie Davidson diesen Begriff gebraucht: '
Folgenden vgl. Davidson, Donald, Handlungen, Gründe, Ursachen, lung Ereignis, Frankfurt/Main 1985, S. 19-42.
Zum
und
in: ders., Hand-
Thomas
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Spitzley
Als Anna spät nachts die Haustür aufschloss, musste sie plötzlich niesen. Dadurch weckte sie ihre Mutter auf, und es gab einen Streit. Daraufhin schlug Anna ihre Zimmertür zu und weckte so auch ihre Schwester auf.
Was hat Anna in dieser Nacht alles gemacht? Unter anderem hat sie 1.) die Haustür aufgeschlossen, sie hat 2.) genießt, 3.) ihre Mutter aufgeweckt, hat 4.) ihre Zimmertür zugeschlagen und 5.) ihre Schwester aufgeweckt. All diesen fünf Dingen, die Anna getan hat, ist laut Davidson eines gemeinsam: Es handelt sich um Ereignisse.
Und damit haben wir schon die erste eine Handlung ist:
Bedingung, die erfüllt sein muss,
damit etwas
(i) Handlungen sind Ereignisse. Aber natürlich sind nicht alle ausbrüche oder Sturmfluten. Akteur haben.
Ereignisse Handlungen man denke nur an VulkanHandlungen sind nur solche Ereignisse, die einen -
(ii) Handlungen haben einen Akteur. Genau genommen stimmt das allerdings nicht, denn schließlich machen wir auch manchmal etwas mit anderen Menschen zusammen: Tanzen, Debattieren, Fußball spielen usw., doch solche Fälle kollektiven Handelns werde ich im Folgenden unberücksichtigt lassen und mich auf Handlungen beschränken, bei denen es nur einen einzigen Akteur gibt. In unserem Beispiel ist die handelnde Person stets Anna. Anna hat fünf Dinge getan. Noch sieht lungen gewesen, doch der Schein trügt:
es so
aus, als wären dies alles auch Hand-
Handlung ist [nämlich] ein Ereignis, das der Akteur absichtlich tut. Aufgrund dieses Kriteriums ist klar, dass Annas Niesen kein Handeln war, denn (iii)
Eine
echtes Niesen erfolgt nicht absichtlich. Diesem Kriterium zufolge wäre es dann allerdings auch keine Handlung, dass Anna ihre Schwester aufgeweckt hat, denn auch das hat sie ja nicht absichtlich getan. Es scheint daher, als hätten wir mit dem dritten Kriterium eine wichtige Klasse von Handlungen ausgeschlossen, die man besser nicht ausschließen sollte, und zwar die der unabsichtlichen, versehentlichen
Handlungen. Davidson vertritt deshalb eine differenziertere Position. Er (iii) und ersetzt sie durch
(iii') Eine Handlung ist
ein
Ereignis,
präzisiert Bedingung
das der Akteur unter einer
Beschreibung
absichtlich tut.
Hier macht Davidson Gebrauch von einer Idee, die Elisabeth Anscombe in den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts in die Handlungstheorie eingeführt hat. Ein und dasselbe Ereignis lässt sich auf ganz unterschiedliche Weisen be-
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Handlung, Rationalität, Bedeutung
schreiben. Anna weckte ihre Schwester, indem sie ihre Zimmertür zuschlug. Das Zuschlagen der Zimmertür durch Anna ist genau dasselbe Ereignis wie ihr Wecken ihrer Schwester, man kann es nur unterschiedlich beschreiben. Unter der Beschreibung „die Schwester Wecken" war das, was Anna getan hat, zwar nicht absichtlich, doch unter der Beschreibung „Zuschlagen der Zimmertür" war es absichtlich. In diesem Fall gibt es also eine Beschreibung, unter der das betreffende Ereignis absichtlich war, deshalb war es eine wenn auch unabsichtliche Handlung Annas, ihre Schwester zu wecken. Was Annas Wecken ihrer Mutter angeht, ist die Sachlage dagegen eine andere. Die Mutter wurde durch Annas Niesen geweckt, und obgleich es sich bei dem Wecken der Mutter und bei Annas Niesen um ein und dasselbe Ereignis handelt, ist dieses Ereignis weder unter der Beschreibung „die Mutter wecken" noch unter der Beschreibung „Niesen" und auch unter keiner anderen Beschreibung absichtlich. Folglich war es keine Handlung. Anna hat in unserem Beispiel also zwei verschiedene Handlungen ausgeführt, nämlich eine, die sich mit Hilfe von 1.) beschreiben lässt, und eine andere, die sich mit Hilfe von 4.) oder 5.) beschreiben lässt. Absichtlich hat sie aber nur die Haustür aufgeschlossen (1.) und ihre Zimmertür zugeschlagen (5.). Mit 2.), dass sie geniest hat, und 3.), dass sie ihre Mutter aufgeweckt hat, wird dagegen zwar ein Ereignis beschrieben, aber dieses Ereignis ist keine Handlung, die Anna ausgeführt hat. Dass eine Handlung absichtlich ist, besagt nicht, dass die Handlung eine bestimmte Eigenschaft hat. Absichtliche Handlungen sind keine echte Teilmenge von Handlungen, sondern jede Handlung ist unter einer Beschreibung absichtlich. Bislang habe ich mehr oder weniger an ein Vorverständnis appelliert und vorausgesetzt, dass mit Blick auf das Beispiel zu verstehen ist, was es heißt, etwas absichtlich zu tun. Damit sollten wir uns aber nicht begnügen. In einem ersten Schritt kann man sagen: Wer etwas absichtlich tut, handelt aus einem Grund. Nun gibt es vielfältige Möglichkeiten, Gründe für Handlungen anzugeben, aber Davidson argumentiert dafür, dass sich Handlungserklärungen durch Gründe auf eine bestimmte Form zurückführen lassen: -
-
einer etwas aus einem Grund tut, [lassen sich] folgende Kennzeichen nennen: a) daß er zu Handlungen einer bestimmten Art so etwas wie eine Proeinstellung hat und b) glaubt (bzw. weiß, wahrnimmt, merkt, sich erinnert), daß seine Handlung von dieser Art ist. Unter a) [also unter die Proeinstellungen] fallen Wünsche, Begehren, Impulse, Reize und eine große Vielfalt von moralischen Ansichten, ästhetischen Grundsätzen, ökonomischen Vorurteilen [...], insoweit diese als auf Handlungen einer bestimmten Art bezogene Einstellungen des Handelnden gedeutet werden können."2
„[Jjedesmal,
wenn
Davidson, Handlungen, Gründe, Ursachen (wie Anm. 1), S. 19f.
Thomas
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Spitzley
„Proeinstellung" ist ein Kunstwort Davidsons, das die Vielfalt von soll, die wir zu etwas haben können, an dem uns etwas Einstellungen wofür wir etwas übrig haben, was wir anstreben, wollen etc. Die moderne liegt, Philosophie ist Davidson in diesem terminologischen Vorschlag allerdings nur sehr zögerlich gefolgt. Gewöhnlich ist in diesem Zusammenhang einfach von „Wünschen" die Rede, und das gilt sogar für die späteren Texte von Davidson. Das Paar aus einer Proeinstellung und einer entsprechenden Überzeugung nennt Davidson den „Primärgrund" einer Handlung. Der Primärgrund gibt an, was dem Handelnden an seinem Tun attraktiv erschien. Anna wollte beispielsweise ihre Mutter ärgern und glaubte, sie mit dem Zuschlagen der Tür zu ärgern. Das war der Grund, aus dem sie gehandelt hat. Nur weil sie einen solchen Grund hatte, war das Türzuschlagen eine Handlung. Einen Primärgrund für sein Handeln zu haben, bedeutet nun laut Davidson zweierlei. Es bedeutet erstens, dass der Primärgrund das, was der Handelnde tat, vernünftig erscheinen lässt, dass er es rationalisiert. Dadurch, dass der Primärgrund eine Proeinstellung des Handelnden enthält, macht er nämlich zumindest eine Hinsicht deutlich, in der der Akteur seine Handlung für ausführenswert hält, und dadurch, dass der Primärgrund eine bestimmte Überzeugung des Akteurs beinhaltet, geht aus ihm hervor, dass der Akteur seine Handlung als geeignetes Mittel für die Erfüllung eines seiner Wünsche hält. Im Lichte seines Primärgrundes ist es für den Akteur immer rational, entsprechend zu handeln. Darauf werde ich später noch
Der Ausdruck
abdecken
zurückkommen. Einen Primärgrund für sein Handeln zu haben, bedeutet nach Davidson aber zweitens auch, dass der Primärgrund das entsprechende Handeln des Akteurs verursacht. Rationalisierungen im hier einschlägigen Sinne, d.h. Erklärungen von Handlungen durch Gründe, sind also, so lautet eine der zentralen Thesen Davidsons, eine
Spezies von Kausalerklärungen.3 Aus dem bislang Gesagten ergibt sich die folgende Erläuterung dafür, was es für eine Handlung heißt, absichtlich zu sein: Wenn eine Handlung unter einer bestimmten Beschreibung absichtlich ist, dann hat der Akteur für sein so beschriebenes Handeln einen Primärgrund, der sein Tun sowohl rationalisiert als auch verursacht.
(A)
Spätestens an dieser Stelle ist Davidsons Theorie mit einer Reihe von SchwierigkeiAuf drei Schwierigkeiten werde ich kurz eingehen: einer Unter a) Kausalbeziehung versteht man gemeinhin eine Relation, deren Relata Ereignisse sind: Ein Ereignis (die Ursache) verursacht ein anderes Ereignis (die Wirkung). Im Fall von Handlungen wird zwar ein Ereignis verursacht, nämlich die Handlung, doch keines der beiden Elemente eines Primärgrundes, d.h. weder die ten konfrontiert.
3
Davidson, Handlungen, Gründe, Ursachen (wie Anm. 1), S. 19.
Handlung, Rationalität, Bedeutung
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noch die Überzeugung, ist ein Ereignis. Davidson glaubt dieses Problem lösen zu können. Er schlägt vor, sorgfaltiger zu formulieren und davon zu sprechen, dass das Erwerben einer Proeinstellung bzw. einer entsprechenden Überzeugung die Handlung verursacht, und ein derartiges Erwerben ist ein Ereignis.4 b) Wer behauptet, ein Primärgrund könne im erläuterten Sinne eine Handlung verursachen, vertritt damit das Prinzip, dass etwas Psychisches, nämlich Überzeugungen und Proeinstellungen, in kausaler Wechselwirkung mit etwas Physischem, nämlich mit Handlungen, stehen kann. Wenn man darüber hinaus das „Prinzip des nomologischen Charakters der Kausalität" verteidigen möchte, wonach Ereignisse, die in einer Kausalbeziehung zueinander stehen, unter strikte deterministische Gesetze fallen,5 dann scheint man darauf festgelegt zu sein, „daß wenigstens einige psychische Ereignisse auf der Grundlage von Gesetzen prognostiziert und erklärt werden können",6 doch das steht im Widerspruch zu einem anderen, weit verbreiteten Prinzip, der zufolge „es keine strikten deterministischen Gesetze gibt, auf deren Grundlage psychische Ereignisse prognostiziert und erklärt werden können".7 Davidson versucht nun zu zeigen, dass man keine der drei genannten Prinzipien aufzugeben braucht, sondern dass es eine Lesart gibt, nach der sie miteinander vereinbar sind. Dabei spielt eine andere seiner zentralen Thesen eine entscheidende Rolle, nämlich die These des Anomalen Monismus. Außerdem macht sich Davidson erneut Anscombes Konzept „unter einer Beschreibung" zunutze. Es gibt zwar, so Davidson, keine strikten psychologischen oder psychophysischen Gesetze (das ist die These von der Anomalität des Mentalen), doch da jedes einzelne psychische Ereignis mit einem einzelnen physischen Ereignis identisch ist (das ist die Monismus-These),8 gibt es für jedes psychische Ereignis auch eine physikalische Beschreibung. Ein und dasselbe Ereignis ist also unter einer Beschreibung ein psychisches Ereignis und unter einer anderen ein physisches, und unter seiner physikalischen Beschreibung ist das betreffende Ereignis auf der Grundlage von Gesetzen prognostizierbar, während es unter seiner Beschreibung als psychisches Ereignis nicht auf der Grundlage von Gesetzen prognostizierbar ist. c) Die in (A) gebrauchte Formulierung enthält nur eine notwendige Bedingung für absichtliches Handeln und noch keine notwendige und hinreichende. Der Grund dafür wird aus folgendem Beispiel ersichtlich, das Davidson selbst präsentiert:
Proeinstellung
4 5
6 7 8
Vgl. Davidson, Handlungen, Gründe, Ursachen (wie Anm. 1), S. 3Iff. Davidson, Donald, Geistige Ereignisse, in: ders., Handlung und Ereignis (wie Anm. 1), S.
291-317, hier S. 293. Davidson, Geistige Ereignisse (wie Anm. 5), S. 293. Davidson, Geistige Ereignisse (wie Anm. 5), S. 293. Für die Formulierung vgl. BECKERMANN, Ansgar, Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Berlin/ New York, 2. überarbeitete Auflage 2001, S. 181.
Thomas
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„Es könnte sein, dass sich ein Bergsteiger von der Last und Gefahr eines anderen, der an seinem Seil hängt, befreien will, und dass er weiß, dass er sich dadurch von der Last und Gefahr befreien könnte, dass er seinen Griff am Seil lockert. Durch diesen Gedanken und diesen Wunsch wird er womöglich veranlasst wird, tatsächlich seinen Griff zu lockern [...]."'
so
nervös, dass
er
dazu
Der Gedanke und der Wunsch, von denen in diesem Beispiel die Rede ist, rationalisieren das, was der Bergsteiger tat, nämlich den Griff zu lockern und den Kameraden fallen zu lassen. Er will sich von seinem Kameraden befreien, und er weiß, dass er dazu nur den Griff zu lockern braucht. Und außerdem verursachen der Gedanke und der Wunsch auch das, was der Bergsteiger tat; sie machen ihn nervös und verursachen dadurch, dass er den Griff lockert. Insofern bilden der Gedanke und der Wunsch einen Primärgrund in Davidsons Sinn. Doch obgleich dieser Primärgrund das, was der Bergsteiger tut, sowohl rationalisiert als auch verursacht, hat der Bergsteiger den Griff nicht absichtlich gelockert. Beispiele dieser Art lassen sich zahlreich konstruieren, und nicht nur Davidson ist skeptisch, dass es für dieses Problem eine befriedigende und allgemeine Lösung gibt. Bis eine solche Lösung gefunden ist, bleibt nichts anderes übrig, als sich mit einer salvatorischen Klausel zu behelfen, und so gelangt man zu der folgenden allgemeinen Definition absichtlichen Handelns:
Eine
ist genau dann unter einer bestimmten Beschreibung der Akteur für sein so beschriebenes Handeln einen Primärgrund absichtlich, hat, der sein Tun sowohl rationalisiert als auch auf die richtige Weise verursacht.
(A')
Handlung wenn
Damit schließe ich die Beschäftigung mit dem Stichwort „Handlung" ab und wende mich dem zweiten Begriff aus dem Titel dieses Aufsatzes zu, der Rationalität.
2. Rationalität Wie ich im letzten Abschnitt erwähnt hatte, handelt Davidson zufolge ein Akteur im Lichte seines Primärgrundes betrachtet immer rational. Nimmt man diese scheint die zu Konsequenz sein, dass ein Akteur nie irrational Bemerkung ernst, handeln kann. So abwegig diese Konsequenz auch klingen mag, sie entspricht in einer Interpretation exakt Davidsons Auffassung. Davidson zufolge ist in der Tat jede Handlung in dem minimalen Sinn rational, dass sie gemessen am Primären Grund des Akteurs vernünftig ist. Doch das schließt nicht aus, dass die Handlung gemessen an den anderen Überzeugungen und Wünschen des Akteurs durch und
-
-
Davidson, Donald, Handlungsfreiheit, S. 121 f. (von mir modifizierte ders., Handlung und Ereignis (wie Anm. 1), S. 99-124.
Übersetzung),
in:
Handlung, Rationalität, Bedeutung
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durch irrational sein kann.10 Annas Handlung, die Tür zuzuschlagen, kann rational sein im Lichte ihres Wunsches, die Mutter zu ärgern, aber zugleich irrational gemessen an ihrem Plan, die Mutter um einen Gefallen zu bitten, oder ihrem Wissen,
dass die Mutter schwer herzkrank ist. Ebenso wie das Handeln eines Akteurs gemessen an seinen Wünschen, Überzeugungen oder anderen propositionalen Einstellungen (also Wünschen, Überzeugungen, Absichten, Hoffnungen, Befürchtungen etc.) irrational sein kann, ist es auch möglich, dass diese Einstellungen selbst irrational sind. Propositionale Einstellungen sind allerdings nie für sich genommen irrational, sondern nur als Bestandteil eines größeren Musters. Natürlich sieht Davidson auch, dass wir manchmal anders reden: Ab und zu sagen wir in der Tat von einer einzelnen Einstellung, sie sei irrational, doch Davidson schlägt vor, solche Redeweise als elliptisch zu verstehen; gemeint sei immer, die Einstellung konfligiere mit anderen Einstellungen der betreffenden Person. ' ' Wenn man also von einer propositionalen Einstellung, aber auch von einer Handlung oder von einer Person sagt, sie sei irrational, so ist damit letztlich nichts anderes gemeint, dass die Menge der propositionalen Einstellungen dieser Person inkohärent ist. Obwohl Davidsons Ausgangspunkt stets die mentale Ausstattung der einzelnen Akteure ist, vertritt er keine rein subjektivistische Rationalitäts- oder Irrationalitätsauffassung.12 Ganz im Gegenteil! Wenngleich wir alle zwar durchaus Verschiedenes wünschen oder für wahr halten, stimmen wir Davidson zufolge aber auch alle einer bestimmten Menge von grundlegenden Prinzipien zu, wobei für Davidson „zustimmen" nichts anderes heißt als „in der Regel entsprechend handeln". Was aber sind diese grundlegenden Prinzipien? Davidson präsentiert hier keine vollständige Liste, erwähnt aber u. a. Carnaps „Prinzip der Gesamtheit der Belege", das dem Handelnden rät, diejenige Hypothese zu akzeptieren, für die seine Gründe alles in allem genommen sprechen, das von ihm selbst formulierte Kontinenzprinzip, das besagt, man solle so handeln, wie man es alles in allem für am besten hält, Quines Prinzip der Erhaltung, wonach man ceteris paribus so wenige Erwartungen wie möglich ändern sollte, wenn man widerstreitende Erscheinungen miteinander in
Vgl. "Every action has causes that rationalize it, that is, in terms of which it is rational. Of course those causes (beliefs and desires) may not be rational in the light of other beliefs and desires of the agent." (Davidson, Donald, Personal Correspondence, zit. nach Morris, R., The Art of Donald Davidson, in: The Philosophy of Donald Davidson, hrsg. von Hahn, Lewis Edwin, Chicago/Ill. 1999, S. 127-135, hier S. 129.) Davidson, Donald, Inkohärenz und Irrationalität, in: ders., Probleme der Rationalität, Frankfurt/Main 2006, S. 316-331, hier S. 32If. Zum Folgenden vgl. Spitzley, Thomas, Zur Rationalitätsannahme bei Davidson, in: Pragmatische Rationalitätstheorien, hrsg. von Wüstehube, Axel, Würzburg 1995, S. 205-221, insb. S. 206-213.
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zu bringen versucht, die Prinzipien der Entscheidungstheorie (z.B. die Transitivität von Präferenzen) und die Prädikatenlogik erster Stufe. Zu fragen, ob eine Person einem dieser Prinzipien zustimmt oder nicht, wäre Davidson zufolge völlig verfehlt. Man könne zwar fragen, ob etwas ein Lebewedem Kontinenzprinzip zustimmt, doch wenn man fragte, ob eine Person, ein sen Lebewesen, das Entscheidungen fällt, diesem Prinzip zustimmt, so hätte man mit der Frageformulierung die Antwort schon vorweggenommen. Die Frage, ob eine Person einem der genannten Grundprinzipien der Rationalität zustimmt, hat nicht denselben Status wie beispielsweise die Frage „Ist dieser Auszubildende unverheiratet?", sondern vielmehr wie „Ist dieser Junggeselle unverheiratet?". Diese Grundprinzipien werden laut Davidson von allen Lebewesen geteilt, die propositionale Einstellungen haben oder absichtliche Handlungen ausführen. Davidson zieht daraus folgenden, beim ersten Hören durchaus überraschend klingenden Schluss: „Und da ich (hoffentlich) selbst zu diesen Lebewesen gehöre, kann ich es wie folgt formulieren: Alle denkenden Wesen heißen meine grundlegenden Maßstäbe oder Normen der Rationalität gut."13 Rationalität ist also keine Eigenschaft, die man einer Person mehr oder weniger überraschenderweise zuschreiben kann. Eine Person, jemand, mit dem man sprechen kann, dem man intentionale Handlungen zuschreibt, ist schon deswegen (weitgehend) rational. Rationalität in dem von Davidson gebrauchten primitiven Sinn ist konstitativ dafür, überhaupt Gedanken zu haben und zu handeln.14 So ist dann auch verständlich, dass Davidson nicht müde wird darauf hinzuweisen, dass die Möglichkeit von Irrationalität von einem hohen Grad von Rationalität abhängt:
Einklang
-
-
„Rationalität ist zwar eine graduelle Sache; aber insofern die Leute überhaupt denken, folgern und handeln, muß das Gesamtmuster genügend Rationalität aufweisen, damit wir einzelne Überzeugungen als töricht oder flasch einzelne Handlungen als konfus oder unangebracht beurteilen Denn nur können. in einem weitgehend kohärenten Rahmen kann propositionaler Inhalt eine Unterkunft finden."15
beziehungsweise
Wenn man von einem Menschen sagt, er sei rational, ist das in einem gewissen Sinne mehrdeutig. Manchmal ist damit die Anerkennung bestimmter Grundprinzipien gemeint, die bei einem Menschen in der Regel als gegeben vorausgesetzt werden kann, aber manchmal bedeutet das auch nur, dass der betreffende Mensch zu einem bestimmten Zeitpunkt über eine kohärente Menge von Überzeugungen etc. verfügt. Pointiert ausgedrückt, könnte man sagen, nur im ersten Sinne rationale 13 14 15
Davidson, Inkohärenz und Irrationalität (wie Anm. 11), S. 326f. Davidson, Inkohärenz und Irrationalität (wie Anm. 11), S. 327. Davidson, Donald, Der Ausdruck von Wertungen, in: ders., Probleme der Rationalität (wie Anm. 11), S. 49-80, hier S. 76.
Handlung, Rationalität, Bedeutung
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Lebewesen können im zweiten Sinne rational bzw. irrational sein. Anders gesagt: „Irrationale Einstellungen und Handlungen können nur als lokale Einbrüche innerhalb eines insgesamt rationalen Musters von Einstellungen und Handlungen verstanden werden."16 Um die beiden verschiedenen Bedeutungen von Rationalität explizit zu machen, könnte man vielleicht von habitueller Rationalität einerseits und episodischer Rationalität andererseits sprechen. Habituelle Rationalität besteht darin, gewisse Grundprinzipien wie z.B. die Prinzipien der Entscheidungstheorie anzuerkennen, und das heißt nicht mehr, als dass Handlungen und der Erwerb neuer Überzeugungen in der Regel mit den aus den Grundprinzipien ableitbaren Empfehlungen verträglich sind. Unter episodischer Rationalität könnte man dagegen verstehen, dass beispielsweise in einer konkreten Handlungssituation der Primärgrund des Akteurs mit dessen weiterer mentaler Ausstattung und der Handlung kohärent ist. Die Pointe der davidsonschen Auffassung wird allerdings noch deutlicher, wenn man auf die Rede von der episodischen Rationalität verzichtet und statt dessen gegebenenfalls von episodischer /n-ationalität spricht. Dass Lebewesen mit propositionalen Einstellungen rational sind, ist das Normale und muss es auch sein. Als ein Abweichen vom Normalen ist episodische /rrationalität verstehbar. Habituelle Rationalität ist sowohl mit episodischer Rationalität als auch mit episodischer Irrationalität vereinbar. Einen Menschen, der sich in der Regel irrational verhielte, könnten wir allerdings überhaupt nicht verstehen, da ein Verstehen nur vor dem Hintergrund eines mehr oder weniger durchgängigen Musters von Rationalität möglich ist. Wie wir gesehen haben, kann man zumindest manchmal jemandem sogar zu Recht vorwerfen, er sei objektiv irrational. Im davidsonschen Sinne heißt das, die Person verstößt gegen eines oder gar gegen mehrere der genannten Grundprinzipien, denen jedes Lebewesen, das propositionale Einstellungen besitzt, zustimmt. So verstandene objektive Irrationalität ist, wie gesagt, nichts anderes als Inkohärenz. Diese Inkohärenz besteht zwischen einem Urteil, das die betreffende Person gefallt hat, und einem, das sie hätte fallen sollen, wobei sich diese Forderung aus einem der erwähnten Grundprinzipien ergibt. Ganz analog ist Rationalität nichts anderes als Kohärenz, und zwar Kohärenz in dem Sinne, dass die Urteile, die eine Person fällt, solche sind, die sie mit Blick auf die Grundprinzipien fallen sollte, bzw. Urteile sind, die mit diesen Grundprinzipien verträglich sind.
Lanz, Peter, Menschliches Handeln zwischen Kausalität und Rationalität, Frankfurt/Main 1987, S. 105.
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3.
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Bedeutung
Angenommen, eine Person könnte kein Englisch. Wenn diese Person beispielsweise den Satz „Snow is white" läse, wüsste sie nicht, was er bedeutet. Wie könnte man ihr das erklären? Eine ganz einfache Möglichkeit bestünde darin, ihr Folgendes mitzuteilen:
(B) „Snow is white" bedeutet, dass Schnee weiß ist. Wer nun wie Davidson eine allgemeine Bedeutangstheorie für eine Sprache formulieren möchte, ist auf der Suche nach einer generellen Theorie, die für jeden Satz dieser Sprache seine Bedeutung angibt, d.h., er ist auf der Suche nach einer Theorie, aus der für jeden Satz dieser Sprache ein Theorem der Form (B) folgt. Dieses Vorhaben wird mit Bezug auf natürliche Sprachen jedoch vor ein erhebliches Problem gestellt. In natürlichen Sprachen wie dem Englischen und dem Deutschen können unendlich viele verschiedene Sätze formuliert werden. Da es unmöglich ist, für jeden dieser Sätze die Bedeutung einzeln anzugeben, und da eine Sprache, deren
Satzbedeutangen man nur so angeben könnte, unmöglich erlernt werden könnte, schlägt Davidson einen Umweg ein. Er greift auf eine Hilfsannahme zurück, nämlich auf das so genannte Kompositionalitätsprinzip, dem zufolge die Bedeutung eines komplexen Satzes eine Funktion einerseits der Bedeutung der in ihm vor-
kommenden Ausdrücke sowie andererseits der Art und Weise ihrer Zusammensetzung ist.17 (Dass es auch auf die Art und Weise der Zusammensetzung ankommt, lässt sich zum Beispiel am Unterschied zwischen „Anna liebt Franz" und „Franz liebt Anna" erkennen.) Unter Zugrundelegung des Kompositionalitätsprinzip und mit Hilfe einer rekursiven Definition lässt sich die Bedeutung unendlich vieler Sätze einer Sprache prinzipiell auf endlich viele Ausdrücke dieser Sprache und endlich viele strukturelle Regeln zurückführen. D.h., man kann aus dieser Definition für jeden Satz S der betreffenden Sprache ein Theorem der Form (B) ableiten, das die Bedeutung von S angibt. Davidson vertritt nun die These, die Bedeutung eines Satzes bestehe in nichts anderem, als in seinen ganz bestimmten Wahrheitsbedingungen. Blicken wir noch einmal zurück zu (B): Wer die Bedeutung von „Snow is white" angeben möchte,
17
„Eine sprecherbezogene Theorie der Sprachinterpretation (also
was ich eine ,Bedeutungstheorie' nenne) muß jeder von potentiell unendlich vielen Äußerungen im Repertoire des Sprechers eine Bedeutung geben; und daher bedarf es einer rekursiven Theorie, welche die Bedeutung einer Äußerung (oder eines Satzes) aus der Bedeutung der Teile dieser Äußerung oder dieses Satzes ableitet." (Davidson, Donald, Eine Einheitstheorie über Gedanken, Bedeutung und Handlungen, in: ders., Probleme der Rationalität (wie Anm. 11), S. 257-82, hier S. 263.)
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Handlung, Rationalität, Bedeutung laut Davidson also die Wahrheitsbedingungen dieses Satzes kann man folgendermaßen formulieren: muss
angeben, und die
(W) „Snow is white" ist wahr genau dann, wenn Schnee weiß ist. Sätze der Form (W) kann man als Theoreme einer Bedeutungstheorie verstehen. Hat man solche Theoreme, müssen entsprechende Axiome konstruiert werden, aus denen diese Theoreme folgen. Wie das funktionieren kann, hat der polnische Logiker und Mathematiker Alfred Tarski mit der von ihm propagierten semantischen Wahrheitstheorie gezeigt, und Davidson sieht, wie er selbst sagt, „in dem semantischen Wahrheitsbegriff [...] die ausgeklügelte und wirksame Grundlage einer leistungsfähigen Bedeutungstheorie".18 Das heißt, Davidson macht sich die von Tarski als Wahrheitstheorie intendierte Theorie als Bedeutungstheorie zunutze. Doch während Tarski bei seinem Versuch, Wahrheit zu definieren, die Synonymie bzw. Bedeutungsgleichheit zweier Sätze als unproblematisch voraussetzt, geht Davidson genau den umgekehrten Weg: Er versucht, zu einem Verständnis von Bedeutungsgleichheit oder Übersetzbarkeit zweier Sätze zu gelangen, und setzt dabei voraus, dass wir den Wahrheitsbegriff bereits erfasst haben.19 Wie erhält man nun aber adäquate Theoreme und damit eine adäquate Bedeutungstheorie für eine Sprache? Dies ist das Problem der so genannten radikalen Interpretation. Schauen wir uns das an einem Beispiel an. Wenn ein zu interpretierender Sprecher äußert „It's raining", dann drückt er damit eine Überzeugung aus. Diese Überzeugung hat der Sprecher aber in aller Regel nicht zufällig, sondern deshalb, weil es gerade regnet. Überzeugungen sind nämlich, so Davidson, nicht unabhängig davon, wie die Welt beschaffen ist, sondern sie werden dadurch kausal bestimmt, und so darf der Interpret schon deshalb, weil er und der Sprecher in derselben Welt leben, annehmen, dass seine Überzeugungen mit denen des Sprechers weitgehend übereinstimmen. Diese Interpretationsmaxime ergänzt Davidson durch sein Principle of charity, das Prinzip der wohlwollenden Interpretation. Danach soll der Interpret bei seiner Interpretation eine Wahrheitsunterstellung20 und eine Konsistenzunterstellung21 vornehmen. Das heißt, a) möglichst viel von dem, was ein Sprecher für wahr hält, ist auch wahr (das ist die Wahrheitsunterstellung), und b) die Sätze, die ein Sprecher für wahr hält, sind im Allgemeinen in sich und miteinander konsistent (das ist die Konsistenzunterstellung). 18
19
20
Davidson, Donald, Wahrheit und Bedeutung, in: ders., Wahrheit und Interpretation, Frankfurt/Main 1990, S. 40-67, hier S. 49. Davidson, Donald, Der Begriff des Glaubens und die Grundlage der Bedeutung, in: ders., Wahrheit und Interpretation (wie Anm. 18), S. 204-223, hier S. 217. Vgl. Davidson, Donald, Radikale Interpretation, in: ders., Wahrheit und Interpretation (wie
18), S. 183-203, hier S. 199. Davidson, Wahrheit und Bedeutung (wie Anm. 18), S. 54. Anm.
21
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Mit renden
a) ist selbstverständlich nicht gemeint, dass es auf Seiten des zu interpretieSprechers keine Irrtümer oder falschen Überzeugungen geben kann. Davidson zufolge kann man Überzeugungen allerdings nie isoliert zuschreiben. Überzeugungen werden, schreibt Davidson, „durch ihren Ort im Rahmen eines Musters von
Überzeugungen
identifiziert".22 Damit verweist Davidson auf den holistischen Charakter des Mentalen, das heißt auf den holistischen Charakter von Überzeugungen und ganz allgemein von propositionalen Einstellungen. Wenn ich sage „Ich befinde mich gerade in Mainz", habe ich laut Davidson nur dann wirklich eine Überzeugung in Bezug auf Mainz, wenn ich auch noch eine ganze Reihe anderer wahrer Überzeugungen habe, in denen Mainz eine Rolle spielt, beispielsweise, dass Mainz eine Stadt ist. Ein Sprecher kann also, so Davidson, durchaus falsche Überzeugungen haben, doch Interpretation wird nur dadurch ermöglicht, „daß wir die Möglichkeit massiven Irrtums a priori ausschließen können."23 In der Formulierung b) des Prinzips der wohlwollenden Interpretation ist ein Aspekt von Davidsons allgemeiner Rationalitätsunterstellung wieder zu erkennen. Grundlegende Rationalität ist laut Davidson eine Bedingung der Möglichkeit, überhaupt propositionale Einstellungen (und damit auch Überzeugungen) zu haben. Die Anwendung des Prinzips der wohlwollenden Interpretation ist Davidson zufolge daher auch keine bloße Option für Interpreten:
Äußerungen und das sonstige Verhalten interpretieren, daß dabei eine Menge an Überzeugungen
„Wenn wir keine Möglichkeit finden, die eines
Geschöpfes
so zu
Vorschein kommt, die großenteils widerspruchsfrei und nach unseren eigenen Maßstäben wahr sind, haben wir keinen Grund, dieses Geschöpf für ein Wesen zu erachten, das rational ist, Überzeugungen vertritt oder überhaupt etwas sagt."24 zum
4. Fazit hatte ich zu Beginn dieses Beitrags behauptet, sei eine verbindende Klammer zwischen Handeln und Bedeutung. Wenn ein Lebewesen nicht in dem erläuterten grundlegenden Sinne rational ist, können wir weder seine Äußerungen noch seine Handlungen verstehen. Ja man darf und muss es sogar schärfer formulieren: 1.) Wenn ein Lebewesen nicht grundlegend rational ist, lassen sich die Laute, die dieses Wesen möglicherweise äußert, nicht als Sprechen einer Sprache interpretieren, und man kann diesem Wesen keine Überzeugungen oder andere propositionale Einstellungen zuschreiben. Und demnach gilt auch 2.): Wenn ein Lebewesen
Rationalität,
22
23 24
so
Davidson, Donald, Denken und Reden, in: ders., Wahrheit und Interpretation (wie Anm. 18), S. 224-246, hier S. 243 (meine Hervorhebung). Davidson, Denken und Reden (wie Anm. 22), S. 244. Davidson, Radikale Interpretation (wie Anm. 20), S. 199.
Handlung, Rationalität, Bedeutung
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nicht grundlegend rational ist, kann man das, was es tut, nicht als ein Handeln verstehen. Das, was ein solches Wesen tut, ist nämlich unter keiner Beschreibung absichtlich, da ein derartiges Wesen keinen Primärgrund haben kann, der sein Tut verursacht und rationalisiert.25
Für hilfreiche Kommentare danke ich Ralf Stoecker.
Oliver R. Scholz
Erkenntnis der Geschichte
1.
-
eine Skizze
Einleitung
Historiker sollen vor allem zwei
Fragen beantworten: (Q 1) Was ist in der Vergangenheit geschehen? (Q 2) Warum ist es geschehen? Dass es in vielen Fällen äußerst schwierig, in manchen sogar praktisch unmöglich ist, dies herauszufinden, ändert nichts daran, dass (Q 1) und (Q 2) zentrale Aufgaben für jeden Historiker beschreiben. Die Antwort wird in historischen Darstellungen eines bestimmten Typs vorgetragen, den ich eingangs erläutere. Typischerweise enthalten historische Darstellungen Erklärungen, insbesondere Erklärungen von Großereignissen und Erklärungen von individuellen Handlungen. Dies wirft die Frage auf, ob bei solchen Erklärungen auf Gesetze zurückgegriffen wird, und, wenn ja, welcher Art diese Gesetze sind. Bei der Erklärung menschlicher Handlungen rekurrieren wir auf ein allgemeines Handlungsgesetz, mit dessen Anwendung die Zuschreibung von Zweckrationalität einhergeht. Zur Beantwortung der Fragen (Q 1) und (Q 2) greift der Historiker auf historische Quellen zurück. Darunter verstehe ich die Erkenntnisquellen der historischen Wissenschaften, insbesondere aber die redenden Quellen, die mündliche und schriftliche Überlieferung, kurz: das Zeugnis anderer. Beim Verstehen und Annehmen des Zeugnisses anderer lassen wir uns von einer besonderen Art von Regeln leiten, die ich als Präsumtionsregeln mit annullierbaren Präsumtionen kennzeichnen möchte. Zentral ist wiederum eine Präsumtion von Zweckrationalität. Diese Präsumtionsregeln lassen sich auf unterschiedlichen Wegen rechtfertigen. Darum geht es im zweiten Teil dieser Skizze.
Oliver R. Scholz
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2. Historische Wissenschaften
Erkenntnisziele und -
Erkenntnisquellen 2.1. Historische
Darstellungen
Unter „Geschichte" verstehe ich im folgenden denjenigen Teil der Raumzeit, der durch individuelle Handlungen von Menschen oder kollektive Handlungen von
beeinflusst worden ist (oder zumindest beeinflussbar gewesen Menschengruppen ' Historische wäre). Darstellungen sind Darstellungen, die beanspruchen, Teile oder Aspekte der in diesem Sinne verstandenen Geschichte wahrheitsgemäß zu beschreiben. Dazu gehören Darstellungen der politischen Ereignisgeschichte, aber auch Darstellungen der Kunstgeschichte, der Wissenschaftsgeschichte, der Philosophiegeschichte et cetera. 1) Eine minimale Form historischer Darstellung ist die bloße Chronik.2 Eine bloße Chronik hat die logisch-semantische Form: (C) ei, dann ei, dann e3,..., wobei die e, für numerisch verschiedene geschichtliche Ereignisse stehen. Eine bloße Chronik ist genau dann material adäquat, wenn sie den Ereignissen diejenige zeitliche Reihenfolge zuschreibt, in der sie sich wirklich ereigneten.3 2) Offenkundig gehen die allermeisten historischen Darstellungen in mehrfacher Hinsicht über bloße Chroniken hinaus. Historiker versuchen in der Regel nicht nur, die zeitliche Reihenfolge der Ereignisse korrekt zu repräsentieren; sie versuchen darüber hinaus, möglichst viele der fraglichen Ereignisse möglichst exakt zu datie1
2
3
Die Geschichte des Kosmos, soweit sie vor oder unabhängig von den Menschen verlaufen ist bzw. verläuft, ist damit ausgeblendet. Auch die Geschichte der Menschheit als Geschichte einer sich nach biologischen Gesetzen entwickelnden Spezies ist im Folgenden nicht das Thema. Zum Begriff der Chronik vgl. u.a. DANTO, Arthur C., Analytical Philosophy of History, Cambridge 1965, Kapitel VII. Ich entwickle im folgenden einen etwas anderen Terminus technicus von „Chronik". Dafür, dass die zeitliche Reihenfolge korrekt repräsentiert und zugeschrieben wird, ist es natürlich nicht erforderlich, dass die zeitliche Struktur der Darstellung die zeitliche Struktur der geschichtlichen Ereignisse direkt nachahmt. Betrachten wir, um dies an einem einfachen Beispiel zu verdeutlichen, eine Struktur mit nur drei Ereignissen „ei, e2, e3": Wenn die Darstellung „zuerst e,, dann e2, dann e3" adäquat ist, dann wären etwa auch die Darstellungen „e3 fand nach e2 statt, und e2 fand nach ei statt" oder „e2 lag zeitlich zwischen ei und e3" adäquat. Vgl. dazu Goodman, Nelson, Twisted Tales or, Story, Study, and Symphony, in: Critical Inquiry, Jg. 7 (1980), S. 103-119; wieder abgedruckt in: ders., Of Mind and Other Matters, Cambridge/Mass./London 1984, S. 109-122.
eine Skizze
Erkenntnis der Geschichte
113
-
zeitlich einzugrenzen). Dafür verwenden sie immer genauere und Uhren. Eine vollständig datierte Chronik wäre eine Chronik, die Kalender jedem der fraglichen Ereignisse ein Datum (und gegebenenfalls eine Uhrzeit) zuschreibt: ren
(oder zumindest
(C-dat) ei ereignete sich zu U; e2 ereignete sich zu t2;... In den meisten Fällen können nur partiell datierte Chroniken vorgelegt werden. 3) Nun beschränken sich historische Darstellungen in aller Regel auch nicht auf partiell oder vollständig datierte Chroniken. Typisch ist vielmehr, dass sie darüber hinaus Erklärungen geschichtlicher Ereignisse enthalten, d.h. Antworten auf Warum-Fragen, die dazu beitragen sollen, die geschichtlichen Ereignisse und ihren Zusammenhang zu verstehen. Solche Aussagen haben typischerweise die Form: (E) e2, weil ej wobei das „weil" zumeist kausal verstanden wird. Außerdem enthalten historische Darstellungen häufig explizite Kausalaussagen der Art: (K) ei war die Ursache für e2. Eine vollständig explanatorisch strukturierte Chronik wäre eine Chronik, die jedes der fraglichen Ereignisse in mindestens eine Erklärungsbeziehung zu einem der anderen Ereignisse setzt. Im Normalfall können nur partiell explanatorisch strukturierte Chroniken vorgelegt werden. Eine vollständig kausal strukturierte Chronik wäre eine Chronik, die Kausalaussagen über jedes der fraglichen Ereignisse enthält. Im Normalfall können nur partiell kausal strukturierte Chroniken vorgelegt werden. Mithilfe der erläuterten Begriffe kann der typische Fall historischer Darstellungen gekennzeichnet werden, anhand dessen wir unsere Fragestellung entwickeln können:
(HD) Historische Darstellungen sind in der Regel partiell datierte und partiell explanatorisch und partiell kausal strukturierte Chroniken geschichtlicher Ereignisse. Natürlich enthalten die bedeutenden historischen Darstellungen von Herodot bis Heimpel, von Thukydides bis Toynbee noch viel mehr: Zuschreibungen von Verdienst und Schuld; moralische Bewertungen von Handlungen und Personen; Hypothesen über den Zusammenhang verschiedener partieller Geschichten; Versuche, Lehren aus der Geschichte zu ziehen und manches andere. Für die Methodologie der Geschichtswissenschaft bilden jedoch zunächst einmal die erwähnten Charakteristika historischer Darstellungen den Hintergrund.
Oliver R. Scholz
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2.2. Historische
Erklärungen und Gesetze
Historiker beschränken sich also in aller Regel nicht darauf, die Geschichte in bloßen Chroniken zu protokollieren; sie versuchen darüber hinaus Erklärungen zu geben. Erklären (im hier einschlägigen Sinne) kann man Ereignisse und Gesetzmäßigkeiten. Bei der Erklärung historischer Ereignisse stehen zwei Fälle im Vordergrund: (i) die Erklärung von historischen Großereignissen und (ii) die Erklärung von einzelnen menschlichen Handlungen. Solche Erklärungen kommen in fast allen historischen Darstellungen vor. Darüber hinaus wird manchmal versucht, (iii) historische Gesetze durch allgemeinere Gesetze zu erklären.4 Für ihre Erklärungen greifen Historiker auf Gesetzeshypothesen aus verschiedenen Wissenschaften (Soziologie, Ökonomie, Psychologie u.a.) und auf ein allgemeines Handlungsgesetz zurück.5 Bei diesen Gesetzen handelt es sich typischerweise um nicht-strikte Generalisierungen: (1) um statistische Generalisierungen oder (2) um Gesetze mit Ceteris-paribus-Klauseln6 oder (3) um normalfallbezogene („normische") Gesetzeshypothesen, deren Formulierung eine „normalerweise"Klausel enthält. Letztere erweisen sich für historische Erklärungen als besonders wichtig. Schematisch lassen sie sich folgendermaßen formulieren:
(G) Für alle x: Wenn x F ist, ist x normalerweise G oder
Punkt (iii) setzt natürlich die strittige Annahme voraus, dass es historische Gesetze sui generis gibt. Ob es sich bei den Generalisierungen, auf die sich Historiker und Sozialwissenschaftler berufen, um echte Gesetze handelt, ist umstritten. Vgl. dazu z.B. die Debatte zwischen Roberts, John T., There are no Laws in the Social Sciences, in: Contemporary Debates in Philosophy of Science, hrsg. von Hitchcock, Christopher, Oxford 2004, S. 151-167 und KjnLaws in the Social Sciences, in: ebenda, S. 168-185. Zum Fordes schungsstand bezüglich Begriff des Naturgesetzes vgl. Hüttemann, Andreas, Naturgesetze, in: Wissenschaftstheorie. Ein Studienbuch, hrsg. von Bartels, Andreas/ Stöckler, Manfred, Paderborn 2007, S. 135-153. Wer die Existenz von Gesetzen in Spezialwissenschaften wie der Geschichtswissenschaft oder der Soziologie bestreitet, kann versuchen, die Wissenschaftlichkeit und den Erklärungsanspruch dieser Spezialwissenschaften ohne Rückgriff auf Gesetze zu erläutern. Obwohl dies durchaus möglich erscheint, verfolge ich diese Strategie bei dieser Gelegenheit nicht weiter. Dies muss anderen Arbeiten vorbehalten bleiben. Über die Wahrheitsbedingungen und den Gesetzesstatus von Ceteris-paribusGeneralisierungen gibt es in der neueren Wissenschaftstheorie eine lebhafte Debatte (vgl. Earman, John/ Glymour, Clark/ Mitchell, Sandra (Hg.), Ceteris Paribus Laws, Dordrecht 2002). Trotz beträchtlicher Schwierigkeiten erscheint es nicht als aussichtslos, Ceteris-paribus-Gesetze als echte Gesetze mit empirischem Gehalt zu verteidigen.
CAID, Harold, There
are
Erkenntnis der Geschichte
eine Skizze
115
-
(G') Alle F sind normalerweise G.7 Es ist nicht leicht, das oben erwähnte Handlungsgesetz präzise zu formulieren. Man kann sich dabei an einem bekannten Vorschlag von Paul Churchland orientieren.8 In erster Annäherung ließe sich das allgemeine Handlungsgesetz wie folgt formulieren:
(GH) Wenn der Akteur a das Ziel z hat und glaubt, die Handlung h sei ein geeigMittel, um z zu erreichen, dann wird a normalerweise versuchen, h zu voll-
netes
ziehen. Auf die Bedeutung von Normalfallhypothesen für historische Erklärungen hatten schon William Dray und Michael Scriven in ihren Kritiken an Carl Gustav Hempels deduktiv-nomologischem Modell der wissenschaftlichen Erklärung hingewiesen. Bedauerlicherweise wurden die Normalfallhypothesen damals jedoch nicht näher untersucht. Das hatte mehrere Gründe. Beide Seiten des Streits nahmen irrtümlich an, dass es sich bei ihnen nicht um echte Gesetzeshypothesen handeln könne, da sie meinten, solche Normalfallhypothesen besäßen keinen empirischen Gehalt und seien unüberprüfbar. Ein weiteres Hindernis war die Logik normischer Gesetze. Mit den Mitteln der klassischen deduktiven Logik war es weder möglich zu sagen, wie die logische Form solcher Gesetze zu repräsentieren ist, noch, was aus ihnen zu folgern ist. Nach anfänglichen Fehlschlägen hat man seit den 1970er Jahren sog. nicht-monotone Logiken entwickelt, mit denen man das Schließen aus normischen Gesetzen angemessen modellieren kann. (Auf die Rolle von normischen Gesetzen bei historischen Interpretationen und Erklärungen komme ich am Schluss zurück.)
2.3. Historische 2.3.1.
Erkenntnisquellen
Quellen
Wie, mit welchen Mitteln, können nun die Erkenntnisziele der historischen Wissenschaften erreicht werden? In diesen Wissenschaften werden, wie gesehen, Hypothe-
über über ein sen
Einzelereignisse aufgestellt, seien es Hypothesen über eine Handlung oder sonstiges historisches Ereignis. Derlei Ereignisse sind oft in historischen
Scriven, Michael, Truisms as the Grounds for Historical Explanations, in: Theories of History, hrsg. von Gardiner, Patrick, Glencoe 1959, S. 443-475. Vgl. Churchland, Paul, The Logical Character of Action Explanations, in: Philosophical Review, Jg. 79 (1970), S. 214-236.
Oliver R. Scholz
116
Quellen bezeugt. Die wichtigste Erkenntnisquelle des Historikers sind die Zeugnisse anderer Personen in ihren vielfältigen Formen.9 Eine grundlegende Aufgabe historischer Forschung ist es zu prüfen, ob die in den Quellen erzählten Begebenheiten wirklich stattgefunden haben. Die in den Quellen gemachten Angaben werden bei dieser Prüfung als potentielle empirische Belege herangezogen. Wir haben es hier mit Hypothesen zu tan, die behaupten, dass bestimmte Ereignisse dann und dann stattgefunden haben, und wir überprüfen diese Hypothesen, indem wir die Zeugnisse hinsichtlich ihrer Verlässlichkeit bewerten und die Hypothesen aufgrund der Zeugnisse der Quellen akzeptieren oder zurückweisen. Mit anderen Worten: um die Hypothesen beurteilen zu können, betreiben wir Quellenkritik.10 Die Bezeugung von Ereignissen durch Quellen soll uns helfen, die Hypothesen zu akzeptieren oder zurückzuweisen. 2.3.2. Verstehen und
Interpretation
Die Zeugnisse müssen dabei zunächst richtig verstanden und dann weiter ausgewertet werden. Die Hermeneutik stellt eine Methodologie der Interpretation von Sinngebilden'! bereit. Werfen wir einen Blick auf die Begriffe „Verstehen" und „Interpretation".
die Erfahrungen anderer adoptiren Zu dieser Erkenntnisquelle vgl. Scholz, Oliver R„ ...' Zum erkenntnistheoretischen Status des Zeugnisses anderer, in: Die Erfahrungen, die wir machen, wider-sprechen den Erfahrungen, die wir haben. Die Vielfalt wissenschaftlicher Erfahrung, hrsg. von Hampe, Michael/Lotter, Maria-Sybilla, Berlin 2000, S. 41-63; ders., Das Zeugnis anderer Prolegomena zu einer sozialen Erkenntnistheorie sowie Bibliographie: VI. Das Zeugnis anderer und das Projekt einer sozialen Erkenntnistheorie, in: Erkenntnistheorie. Positionen zwischen Tradition und Gegenwart, hrsg. von Grundmann, Thomas, Paderborn 2001 (2. Aufl. 2003), S. 354-375, 391-394; ders., Zeuge, Zeugnis L, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried/Gabriel, Gottfried, Band 12: W-Z, Basel 2005, Sp. 1317-1324. Vgl. dazu die klassischen Lehrbücher der historischen Methode wie etwa Bernheim, Ernst, Einleitung in die Geschichtswissenschaft, Leipzig 1907; ders., Lehrbuch der Historischen Methode und der Geschichtsphilosophie, Fünfte und sechste, neu bearbeitete und vermehrte Auflage, Leipzig 1908, Feder, Alfred, Lehrbuch der geschichtlichen Methode, Dritte, umgearbeitete und verbesserte Auflage, Regensburg 1924; oder Howell, Martha/ Prevenier, Walter, From Reliable Sources: An Introduction to Historical Methods, Ithaca and London 2001. Fragwürdige Modelle des Verstehens wurden durch eine zu starke Assimilation der Begriffe „Verstehen" und „Interpretation" begünstigt. Die beiden Begriffe sind zwar miteinander verwandt, aber keineswegs identisch. Vor allem wäre es ein Fehler, alles Verstehen nach dem Modell von Interpretation, von Deutung aufzufassen. ...
-
-
...
Erkenntnis der Geschichte
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eine Skizze -
Manches verstehen wir mühelos, gleichsam unmittelbar.12 Anderes verstehen wir nicht mühelos. Wenn wir ein Verstehensobjekt nicht auf Anhieb verstehen, können wir versuchen, es dennoch zu verstehen. Die bewussten zielgerichteten Tätigkeiten, die dazu dienen, nennen wir mit einem generischen Ausdruck „Interpretieren" bzw. „Interpretation"; das Ergebnis oder Produkt dieser Tätigkeiten nennen wir gleichfalls „Interpretation". Wie nicht weiter verwunderlich, werden mit dem Sammelbegriff „Interpretation" eine Reihe recht unterschiedlicher Tätigkeiten (sowie deren Resultate) bezeichnet.13 Dass etwas eine Interpretationstätigkeit ist, heißt nicht mehr, als dass es sich um eine Tätigkeit handelt, deren Ziel es ist, etwas, das nicht unmittelbar verstanden wurde, zu verstehen. Da dies bei unterschiedlichen Verstehensobjekten und aufgrund unterschiedlicher Schwierigkeiten vorkommt, überrascht es nicht, dass mit „Interpretation" heterogene Tätigkeiten bezeichnet werden. Betrachten wir den Verstehensbegriff noch etwas näher. Zunächst sind kategoriale Unterscheidungen zu beachten. Verstehen wird einerseits in einem dispositionalen Sinne verwendet. Sehr häufig beziehen wir uns auf Fertigkeiten, wenn von Verstehen die Rede ist. So ist das Verstehen einer Sprache eine komplexe Fertigkeit, die sich auf vielerlei Weise manifestieren kann. Auf der anderen Seite sprechen wir von Verstehen auch in einem episodischen Sinne, also von Verstehensepisoden. Sowohl in der dispositionalen als auch in der episodischen Gebrauchsweise hat das Verb „verstehen" eine Erfolgsgrammatik14: Ohne besonderen Zusatz heißt „verstehen" stets soviel wie „richtig verstehen" (neutraler Sinn), „richtig verstehen können" (dispositionaler Sinn) bzw. „richtig verstanden haben" (episodischer Sinn). Etwas zu verstehen ist eine Leistung („achievement"); wer etwas versteht, macht etwas richtig (Episode) bzw. kann etwas richtig machen (Disposition).15 Man sollte das Verb „verstehen" aber nicht nur isoliert betrachten, sondern auch im Zusammenhang verstehenszuschreibender Sätze untersuchen. Die meisten von ihnen lassen sich einem der drei folgenden Schemata zuordnen:
(V-S 1) Ein Subjekt S versteht [+ direktes Objekt]. 12
13
14
15
Das heißt natürlich nicht, dass für diese Verstehensleisrung nichts gelernt werden musste. Aber wer die entsprechende Verstehensfähigkeit erworben hat, versteht das Verstehensobjekt mühelos. Dazu BÜHLER, AXEL, Die Vielfalt des Interpretierens, in: Analyse & Kritik. Zeitschrift für Sozialwissenschaften 21 (1999) 1, S. 117-137. Vgl. Ryle, Gilbert, The Concept of Mind, London 1949, Kapitel V; Vendler, Zeno, Linguistics in Philosophy, Ithaca 1967, S. 97-121. Dem Verb „verstehen" kann auch sinnvoll das Hilfsverb „versuchen zu" beigesellt werden. Das deutet darauf hin, dass das Verstehen zumindest indirekt willentlicher Kontrolle unterliegt. Man kann versuchen, etwas zu verstehen, sich bemühen, es zu verstehen. Vielleicht scheitert man bei dem Versuch; vielleicht ist der Versuch von Erfolg gekrönt. -
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Oliver R. Scholz
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(V-S 2) Ein Subjekt S versteht [+ indirekter Fragesatz], (V-S 3) Ein Subjekt S versteht, dass p. Anhand dieser Schemata lassen sich Fragen zur philosophischen Grammatik von „verstehen" entwickeln, die auf in der Sache fruchtbare Fragen einer allgemeinen Theorie des Verstehens führen. Gehen wir von dem ersten Satzschema aus:
(V-S 1) Ein Subjekt S versteht [+ direktes Objekt]. Die typischen Verstehensobjekte können unter eine der folgenden Klassen subsu-
miert werden:
(V-O) (La) einzelne Personen16; (l.b) Kollektive von Personen; (2.a) intentionale Einstellungen von Personen; (2.b) Systeme von intentionalen Einstellungen; (3.a) Handlungen; (3.b) Systeme von Handlungen; (4.a) einzelne Situationen; (4.b) die Gesamtsitaation; (5.a) Produkte von Handlungen (Artefakte, Zeichen, Texte etc.); (5.b) Systeme von Handlungsprodukten; (6.a) Regeln (und regelkonstitaierte Gebilde); (6.b) Systeme von Regeln (und regelkonstitaierten Gebilden);17 (7.a) einzelne natürliche Ereignisse und Prozesse; (l.b) Gesetze. Die traditionelle Hermeneutik hat sich zunächst auf einen Teilbereich
von
(5.a)
konzentriert, nämlich auf Texte. In der archäologischen Hermeneutik und in der Historik kamen Bilder, Skulpturen, Bauten u.a. hinzu. Die Gesamtheit der Verste-
hensobjekte wurde bislang nur selten berücksichtigt. Wenden wir uns nun dem zweiten Schema zu:
16
und eventuell andere intentionale Z. B. Spiele und Institutionen. ...
17
Systeme.
Erkenntnis der Geschichte
119
eine Skizze -
(V-S 2) Ein Subjekt S versteht [+ indirekter Fragesatz]. Die unterschiedlichen Fragen, die an das Verb „verstehen" angehängt werden können, kann man schrittweise näher spezifizieren. Betrachten wir zunächst die Fragewörter, die zu „verstehen" passen: (V-F 1) S versteht, was (V-F 2) S versteht, warum (V-F 3) S versteht, wozu (V-F 4) S versteht, wie Die Verbindungen „verstehen, wann", „verstehen, wo" u.a. kommen wohl ...
...
...
...
nur
in
besonderen Ausnahmefällen vor. Es wäre voreilig, auf eine solche Liste wie (V-F 1 ) bis (V-F 4) unmittelbar eine Typologie von Verstehensformen zu gründen, also etwa: (1) Verstehen-was; (2) Verstehen-warum; (3) Verstehen-wozu; (4) Verstehen-wie. Dazu scheinen zu viele Fragen durch Fragesätze mit einem anderen Fragewort paraphrasierbar. Um nur ein Beispiel anzuführen: Statt „Warum trat das Ereignis e ein?" kann man fragen „Was war die Ursache für das Ereignis e?", „Welche Ursache hatte das Ereignis e?" etc. Vielleicht kann man Fragetypen zu Verstehensformen zusammenfassen, wenn die indirekten Fragesätze weiter vervollständigt werden. Dafür können wir unsere Liste der potentiellen Verstehensobjekte heranziehen. Wir erhalten dann Aufzählungen wie: S versteht, was F ist; S versteht, was H getan hat; S versteht, was H gesagt hat; etc., oder: S versteht, warum das Ereignis e eintrat; S versteht, warum H das-unddas getan hat; S versteht, warum H das-und-das gesagt hat; etc., oder: S versteht, wie x entstanden ist; S versteht, wie x funktioniert; S versteht, wie es möglich ist, dass p; etc. Auf diese Weise könnte man zu einer brauchbareren Typologie von Fragearten und entsprechenden Verstehensarten gelangen, indem man z.B. statt pauschal von (4) Verstehen-wie differenzierter von (4.1) Verstehen-wie-xentstanden ist; (4.2) Verstehen-wie-x-funktioniert; (4.3) Verstehen-wie-x-möglich-
ist; etc. spricht.
Exkurs: Erklären und Verstehen
-
ein Gegensatz der Methoden?
Die bisherigen sprachanalytischen Beobachtungen lassen die Droysen-DiltheyThese von einem Gegensatz von Erklären und Verstehen bereits als künstlich und unplausibel erscheinen. Erinnern wir uns: Seit Droysen und Dilthey hatte man vielfach so geredet, als bezeichne „Verstehen" primär eine Methode, die in einem Oppositions Verhältnis zur Methode des Erklärens stünde. Dies können wir jetzt
prüfen:
120
Oliver R. Scholz
(1) Trifft die Behauptung zu, dass Verstehen und Erklären einen Gegensatz bilden?
(2) Trifft die Behauptung zu, dass sie gegensätzliche Methoden darstellen? Beide Fragen sind zu verneinen. Zum einen ist es schief, das Verstehen selbst als Methode zu bezeichnen. Richtig ist vielmehr: In Fällen, in denen sich ein Verstehen nicht unmittelbar einstellt (wo infolgedessen interpretiert werden muss), können Methoden zur Anwendung kommen, die ein Verstehen ermöglichen sollen. Es ist also sinnvoll, von Interpretationsmethoden oder von Methoden der Verstehensermöglichung zu sprechen. Das „Verstehen" selbst als Methode zu bezeichnen, ist
dagegen ein Kategorienfehler.18 Und was die Methoden der Verstehensermöglichung, der Interpretation, angeht, so gibt es hierbei natürlich nicht eine einheitliche Methode, sondern eine Vielzahl heterogener Verfahren. Fazit: Das Verstehen selbst ist keine Methode; und Methoden der Interpretation gibt es nur in der Mehrzahl,
nicht in der Einzahl. Zum anderen bilden Verstehen und Erklären sicher keinen Gegensatz. Schon der sprachliche Befund, aber auch sachliche Erwägungen legen vielmehr die folgende These nahe:
(E-V) Erklären und Verstehen sind Korrelativbegriffe; insbesondere drücken sie keinen Methodengegensatz aus. Jeder Form des Erklärens entspricht vielmehr eine Form des Verstehens und umgekehrt. Typischerweise geht Verstehen mit der Fähigkeit einher, Erklärungen geben zu können. Und: Erklärungen führen, wenn sie erfolgreich sind, zu Verstehen.19 Ein Punkt verdient besonders hervorgehoben zu werden: Einige der Tätigkeiten, die mit „Interpretation" bezeichnet werden, sind Erklärungen.20 Schon aus diesem 18
19
20
Meines Erachtens wurde dieser Fehler dadurch begünstigt, dass das Wort „verstehen" von einigen Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts abwechselnd im alltagssprachlichen Sinne und in einem viel engeren, technischen Sinne verwendet wurde: nämlich im Sinne von „einfühlendes Verstehen" oder „Einfühlung". Von einer Methode der Einfühlung kann man nun durchaus sinnvoll sprechen. Ob diese Methode eine auf alle Verstehensobjekte sinnvoll anwendbare und zu angemessenen Resultaten fuhrende Methode ist, steht natürlich auf einem anderen Blatt. Vgl. u.a. Kutschera, Franz von, Grundfragen der Erkenntnistheorie, Berlin und New York 1981, S. 86 unter Rückgriff auf S. 80-84; Schurz, Gerhard (Hg.), Erklären und Verstehen in der Wissenschaft, München 1988, S. 243ff, 256ff.; Cooper.Neil, Understanding, in: Proceedings of the Aristotelian Society, Supplementary Volume 68 (1994), S. 1-26, hier S. 20; Scholz, Oliver R., Verstehen und Rationalität. Untersuchungen zu den Grundlagen von Hermeneutik und Sprachphilosophie, Frankfurt am Main 1999 (2., durchges. Aufl. 2001), S. 8ff. Vgl. z. B. Künne, Wolfgang, Verstehen und Sinn, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, Jg. 6 (1981), S. 1-16 und Bühler, Die Vielfalt des Interpretierens (wie Anm. 13).
eine Skizze
Erkenntnis der Geschichte
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-
Grund ist
es
abwegig,
einen
Gegensatz
zwischen Erklären und Verstehen
zu
be-
haupten.
Auch bei konstantem Verstehensobjekt kann von Verstehen noch in vielfältiger Weise die Rede sein. Typischer Weise ist es möglich, diese Verstehensformen nach dem Muster von Stufen oder Ebenen des Verstehens zu ordnen. Die Hermeneutik hat die Aufgabe, (a) die genannten Formen des Verstehens zu untersuchen, (b) eine Methodologie der Interpretation, d.h. Regeln der Interpretation zu entwickeln und zu begründen, (c) die bedeutungstheoretischen und erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der Methodologie der Interpretation zu klären. Das ist die Aufgabe der Hermeneutik in ihrem gesamten Umfang. Die traditionelle Hermeneutik hat sich nur einem kleinen Teil der Aufgabe gewidmet, vor allem der Texthermeneutik, d.h. dem Verstehen von Texten und der Methodologie der Interpretation schriftlicher und mündlicher Texte. Natürlich könnte man den Terminus „Hermeneutik" weiterhin für diese Teilaufgabe reservieren. Aus den folgenden Gründen ist es jedoch sinnvoll, das umfassendere Projekt in Angriff zu nehmen: Zum einen sah sich auch die traditionelle Hermeneutik gedrängt, neben dem Textverstehen andere Verstehensformen zu thematisieren, insbesondere das Verstehen von Personen. Für die Erkenntnisziele der historischen Wissenschaften sollte von vornherein klar sein, dass eine Beschränkung auf das Verstehen und Auslegen von Texten nicht sinnvoll ist. a.
b. Zum anderen scheint mir, dass aufschlussreiche Analogien zwischen den Verstehensformen bestehen, die zu untersuchen sich lohnt. Auch die Frage, ob eine Verstehensform etwa das Handlungsverstehen oder das Regelverstehen besonders grundlegend sein mag, lässt sich nur im Rahmen einer allgemeinen Theorie des Verstehens und der Interpretation beantworten. -
-
2.3.3.
Erkenntnisquellen und Präsumtionen
herausragenden Aufgaben der Erkenntnistheorie zählt die Untersuchung der Rechtfertigungs- und Wissensprinzipien für die verschiedenen epistemischen Quellen. Ich gehe von zwei grundlegenden Annahmen aus: (I) Jede der epistemischen Quellen ist fehlbar. (II) Die Art und Weise, wie jeder von uns durch die epistemischen Quellen sein
Zu den
Überzeugungssystem aufbaut,
wird durch bestimmte Präsumtionen vorstruktu-
riert und geleitet.
Die allgemeinen Rechtfertigungs- und Wissensprinzipien sind Präsumtionsregeln mit annullierbaren Präsumtionen. Der Präsumtionsbegriff ist aus der juristischen Beweislehre vertraut; alle entwickelten Rechtssysteme enthalten zahllose Präsumti-
Oliver R. Scholz
122
Präsumtionen spielen aber auch in anderen Bereichen eine Rolle, so in Moral und Politik (Gleichheitsgrundsätze) und in den Wissenschaften (z.B. die „Annahme" der Gleichförmigkeit der Natur). Insgesamt bildet der richtige Umgang mit Präsumtionen ein wichtiges Ingrediens praktischer und theoretischer Rationali-
onsregeln.21
tät.
Ihre Form lässt sich
folgendermaßen darstellen: (Pr-F) Aufgrund von P wird Q präsumiert. P wird dabei die präsumtionserzeugende Tatsache, Q die präsumierte Tatsache genannt. Solchen Präsumtionsformeln entsprechen Regelformulierungen: (Pr-R) Gegeben p ist der Fall, verfahre so, als sei q der Fall, bis Du zureichende Gründe hast zu glauben, dass q nicht der Fall ist. Das „verfahre so" unterstreicht den handlungsorientierten Charakter. Präsumtionen kommen in Situationen zum Tragen, bei denen die entscheidungsrelevante Überlegung an der Frage hängt, ob ein bestimmter Sachverhalt q (oder ob nicht-q) vorliegt, bei denen keine zureichenden Gründe für die eine oder die andere Annahme vorliegen, der Überlegungsprozess aber weiterlaufen muss. In einer solchen Lage instruiert eine Präsumtionsregel die Person, sie solle, gegeben p, q zu einer Prämisin dem weiteren Raisonnement machen. Man unterscheidet zwischen absoluten und widerleglichen Präsumtionen. Bei der Präsumtion, dass Kinder unter einem gewissen Alter keine kriminellen Beweggründe haben, handelt es sich um eine absolute Präsumtion; an ihr wird in jedem Falle festgehalten. Häufiger und interessanter sind die widerleglichen Präsumtionen. Dieses Charakteristikum wird durch entsprechende Klauseln (traditionell: „donec probetar contrarium") zum Ausdruck gebracht. Wenn das Regelsubjekt zureichende Gründe zu der Annahme hat, dass q nicht der Fall ist, ist die Präsumtise
on
aufgehoben.
Beim Aufbau unseres Meinungssystems lassen wir uns von Präsumtionen leiten. Es ist keine kleine Aufgabe, die angemessenen präsumtionserzeugenden Tatsachen und Widerleglichkeitsklauseln für alle epistemischen Quellen zu spezifizieren. Da ich die Wahrnehmung, die Erinnerung, die Introspektion und die Formen des Schließens hier nicht im Detail erörtern kann, beschränke ich mich zum Zwecke der Illustration auf grobe und informelle Formulierungen der einschlägigen Prinzipien, die bei einer eingehenden Analyse sicher zu verfeinern wären. Als Beispiel wähle ich die visuelle Wahrnehmung. Die Grundidee ist, dass es eine annullierbare Wahrheitspräsumtion zugunsten dessen gibt, was uns die Sinne darbieten. Eine grobe
Vertraut ist etwa die Unschuldsvermutung, der zufolge bis Schuld von der Unschuld des Angeklagten auszugehen ist.
zum
rechtlichen Nachweis der
Erkenntnis der Geschichte
123
eine Skizze -
Formulierung der einschlägigen Präsumtion und der zugehörigen Präsumtionsregel könnte für den Fall der visuellen Wahrnehmung folgendermaßen lauten: (Perz-Präs-F) Dass x für das epistemische Subjekt S F aussieht, gibt S eine präsumtive Berechtigung, zu glauben, dass x die Eigenschaft F besitzt. (Perz-Präs-R) Gegeben, dass x für Dich F aussieht, gehe so lange davon aus, dass x die Eigenschaft F besitzt, bis Du Gründe zu der Annahme hast, dass einschlägige Annullierungsbedingungen erfüllt sind. In Bezug auf die Erkenntnisquelle des Zeugnisses anderer fragt sich: Gibt es eine básale Präsumtionsregel und eine zugehörige präsumtive epistemische Berechtigung für die Annahme des Zeugnisses anderer (oder nicht)? Der Reduktionist bezüglich des Zeugnisses anderer antwortet mit einem „Nein!", der AntiReduktionist mit einem „Ja!", d.h. ihm zufolge gibt es eine Präsumtion, das Zeugnis anderer als wahr zu akzeptieren.22 Natürlich ist diese Präsumtion ebenso wie die anderen empirisch anfechtbar: (Test-Präs-F) Es gibt eine Präsumtion, das Zeugnis anderer so lange als wahr zu akzeptieren, bis man Gründe zu der Annahme hat, dass besondere Umstände vorliegen, welche die Präsumtion annullieren. Es gibt zwei Annullierungsbedingungen: (i) Anhaltspunkte dafür, dass der Sprecher (bei der fraglichen Gelegenheit) nicht aufrichtig gewesen ist, und (ii) Anhaltspunkte dafür, dass der Sprecher (in bezug auf das fragliche Thema) nicht kompetent ist. Die entsprechende Präsumtionsregel kann dann in erster Annäherung folgenderma-
-
ßen formuliert werden:
(Test-Präs-R) Gegeben, dass ein Sprecher S (bei der Gelegenheit O) eine verständliche assertorische Äußerung U vollzogen hat, mit der er sich auf die Wahrheit von p festlegt, gehe so lange davon aus, dass p wahr ist, bis Du Gründe zu der Annahme hast, dass eine Annullierungsbedingung erfüllt ist. Ich möchte in diesem Zusammenhang die folgenden Thesen aufstellen: (1) Normale epistemische Subjekte folgen faktisch einer Präsumtionsregel dieser Art.23
(2) Dass wir dies tun, ist nicht bloß ein eigentümliches soziologisches oder psychologisches Phänomen; einer solchen Präsumtionsregel zu folgen, ist vielmehr 22
23
Zu dem Streit zwischen Reduktionisten und Anti-Reduktionisten bezüglich des Zeugnisses anderer siehe Scholz, Das Zeugnis anderer (wie Anm. 9). Sie umschreibt nota bene die generelle Maxime oder Politik im Umgang mit dem Zeugnis anderer, die in verschiedenen Hinsichten modifiziert werden kann und muss, wenn man es etwa mit besonderen Arten von Sprechern oder besonderen Themen zu tun hat.
Oliver R. Scholz
124
rational. Es gibt zahlreiche gute Gründe für eine solche Politik, die von moralischen und prudentiellen bis zu transzendentalen Argumenten reichen. Die Erkenntnis aus dem Zeugnis anderer besitzt dieselbe generelle Art des epistemischen Status wie unsere anderen grundlegenden Informationsquellen.
(3)
mündliche und schriftliche Zeugnisse, sondern auch andere Artefakte, Zeichen, Handlungen und Personen. Die Arbeitshypothese einer allgemeinen Theorie des Verstehens und Interpretierens ist: Zwischen den Verwendungen der Begriffe „Verstehen" und „Interpretation" bestehen systematische Beziehungen. Zwei seien herausgehoben: (i) Bei allen Verstehensformen existiert ein intersubjektiver Unterschied zwischen Richtig- und Falschverstehen, (ii) Es gibt übergreifende Interpretationsprinzipien. Da für diese die vorläufige Unterstellung von gewissen Vollkommenheiten kennzeichnend ist, spricht man von Prinzipien der wohlwollenden Interpretation oder der Nachsicht. Zentral sind Präsumtionen von Kohärenz und Rationalität.24 Uns interessieren im gegenwärtigen Zusammenhang vor allem die Rationalitätspräsumtionen, die sowohl bei der historischen Erklärung von Handlungen als auch bei der Interpretation des Zeugnisses anderer Personen angewandt werden. Solche Prinzipien sind wiederum Präsumtionsregeln mit widerleglichen Präsumtionen. Wir verstehen nicht
2.3.4. Die
nur
Rechtfertigung der Präsumtionsregeln
Wenden wir uns
nun den Rechtfertigungsfragen zu. Zwei müssen auseinandergehalsollte es in einem bestimmten Bereich überhaupt irgendWarum (1) welche Präsumtionsregeln geben? (2) Wodurch sind gerade diese spezifischen Präsumtionen (im Unterschied etwa zu den gegenteiligen) gerechtfertigt?25 (1) Angesichts der ersten Rechtfertigungsaufgabe ist es erforderlich, sich die charakteristische Struktur der Situationen in Erinnerung zu rufen, in denen sie eine Funktion erfüllen: Die beteiligten Personen müssen sich in einem begrenzten zeitlichen Rahmen entscheiden. Die optimale Wahl hinge davon ab, ob ein Sachverhalt q besteht. Die Personen, die sich entscheiden müssen, befinden sich diesbezüglich in Unkenntnis oder im Zweifel. Die Rahmenbedingungen sind so, dass die Personen nicht beliebig lange warten können, insbesondere nicht beliebig viel Zeit haben, Informationen zu beschaffen, ob q der Fall ist; im Extremfall besteht nicht einmal die Aussicht, dies herauszubekommen. Die Personen können aber auch nicht einfach ihr Urteil und die darauf fußenden Handlungen suspendieren, sondern müssen in der einen oder anderen Weise entscheiden. Die Akteure benötigen ein Mittel,
ten werden:
24 25
Scholz, Verstehen und Rationalität (wie Anm. 19), Teil I. Ullmann-Margalit, Edna, On Presumption, in: The Journal of Philosophy, Jg. 80 (1983), S. 143-163, hier S. 154. Dazu umfassend
Erkenntnis der Geschichte
eine Skizze
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-
der misslichen
Lage herauszuwinden. Sie brauchen Strategien oder höherstufige Gründe, gerade, wenn es sich um Situationen handelt, die häufig wiederkehren. Das bloße Bedürfnis nach einer Methode zur Auflösung von Entscheidungsproblemen genügt für sich noch nicht, um die Institution einer Präsumtionsregel zu rechtfertigen. Eine Präsumtionsregel bietet eine Lösung an, indem eine der verfügbaren Alternativen systematisch im voraus bevorzugt wird, bis zureichende Gründe dagegen vorliegen. Damit ist zunächst nur das strukturelle Problem der Alternativenreduzierung gelöst. Ob die Einrichtung einer Im-Voraus-Lösungsstrategie gerechtfertigt ist, hängt entscheidend davon ab, ob und wie gut diese Art Lösung unabhängig zu rechtfertigen ist. Präsumtionsregeln setzen an die Stelle von willkürlichen Ad-hocStrategien Vorgriffe, deren Vernünftigkeit sich an mehrererlei bemisst: In jedem Einzelfall muss die zu der Präsumtionsregel gehörige Präsumtion widerlegbar sein; der Vorgriff, den die Regel empfiehlt, muss unabhängig rechtfertigbar sein. (2) Was die speziellere Rechtfertigungsaufgabe betrifft (warum diese Präsumtiund nicht eine andere?), so kommen eine Reihe von Erwägungen in Betracht, die on sich keineswegs auszuschließen brauchen: (i) Induktiv-probabilistische Erwägungen: Es liegt in vielen Fällen nahe, Präsumtionsregeln mithilfe von Erwägungen zu rechtfertigen, die mit der Wahrscheinlichkeit von Q, gegeben P, zu tun haben. (ü) Normative Erwägungen: Induktiv-probabilistische Erwägungen vermögen alleine genommen nicht in jedem Falle die betreffende Präsumtion zu begründen. Vor allem können normative oder wertorientierte Erwägungen größeres Gewicht haben als die induktiv-probabilistischen; normative Rücksichten können zur Übernahme oder Aufrechterhaltung der Präsumtion, dass q, führen, obgleich non-q die Wahrscheinlichkeit für sich hat.26 (iii) Bestimmtheitserwägungen: In einigen Konstellationen bleibt, sobald klar ist, dass überhaupt eine Präsumtionsregel vonnöten ist, wenig Auswahl, welche Präsumtion die geeignetste ist. Häufig ist eine ausgezeichnet insofern, als nur sie die Entscheidungsmöglichkeiten in der gewünschten Weise einschränkt.27 (iv) Prozedurale Erwägungen: Prozedurale Erwägungen, die im gerichtlichen Bereich, aber auch anderswo an der Tagesordnung sind, können das Ingangbringen, den zügigen Ablauf oder den gelungenen Abschluss betreffen.28 (v) Konstitutivitätserwägungen: Man kann versuchen, die Präsumtionsregeln transzendental zu begründen, indem man zeigt, dass sie konstitutiv für eine besich
26 27 28
aus
Vgl. Ullmann-Margalit, On Presumption (wie Anm. 25), S. 161. Vgl. Ullmann-Margalit, On Presumption (wie Anm. 25), S. 161. Vgl. Ullmann-Margalit, On Presumption (wie Anm. 25), S. 161f.
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Oliver R. Scholz
stimmte Praxis oder sogar für die Anwendbarkeit der diese Praxis kennzeichnenden Begriffe sind. Die allgemeinen Interpretationsprinzipien sind Präsumtionsregeln mit widerleglichen Präsumtionen. Was dies beinhaltet, können wir jetzt vor dem Hintergrund einer Explikation des Präsumtionbegriffs besser verstehen. Aber wie lässt sich diese These zum Status solcher Prinzipien selbst begründen? Zunächst können wir uns fragen, inwiefern die Lage, in der sich jemand befindet, der eine Handlung, eine Äußerung, einen Text etc. verstehen will, zu dem Typ von Situationen gehört, in denen Präsumtionen unvermeidlich sind: Wir müssen unsere Handlungen laufend mit denen anderer Leute abstimmen, d.h., wir machen unsere eigenen (nichtsprachlichen und sprachlichen) Handlungen notgedrungen auch davon abhängig, wie wir das Verhalten der anderen interpretieren. Darüber, was die Äußerungen anderer Personen bedeuten, und welche Absichten diese haben, besteht oft erhebliche Unsicherheit. Dennoch muss bei vielen solchen Gelegenheiten entschieden werden häufig unter Zeitdruck. In jedem Falle soll nicht willkürlich, sondern im Rahmen des Möglichen rational entschieden werden; und die Lösungen sollten ein gewisses Maß von Allgemeinheit aufweisen. Es besteht daher ein Bedürfnis nach Methoden, solche Entscheidungsprobleme in systematischer Weise lösbar zu machen. Wir erkennen in der hermeneutischen Situation einen allgemeineren Sitaationstyp wieder, bei dem der Gebrauch von Präsumtionen vonnöten ist. Die philosophisch interessante Frage ist dabei natürlich, in welchem Sinne die Präsumtionen jeweils unverzichtbar sind. Grundsätzlich finden sich alle Begründungsmuster für Präsumtionen auch bei dem Spezialfall der interpretatorischen Prinzipien: von induktiv-probabilistischen über normative, Bestimmtheits- und prozedurale Erwägungen bis hin zu Unverzichtbarkeitsthesen. Besonders umstritten war und ist, ob wir gewisse allgemeine Interpretationsprinzipien anwenden müssen, wenn wir überhaupt etwas verstehen wollen. Die Debatte über solche Thesen ist verworren; um so wichtiger ist es, mehr Übersichtlichkeit in die Landschaft zu bringen. Vor allem ist zu beachten, dass sich die fraglichen Unverzichtbarkeitsthesen auf unterschiedliche Weisen lesen lassen, je nachdem, wie Modalausdrücke wie „müssen" und „unverzichtbar" in den einschlägigen Formulierungen verstanden werden. Hier sollten die folgenden Lesarten auseinandergehalten werden: -
(IN) Die erste Form kann man instrumenteile Notwendigkeit nennen; ihr zufolge sind die Präsumtionsregeln unentbehrliche Mittel, um zum adäquaten Verstehen zu gelangen.29 29
Wie in Scholz, Verstehen und Rationalität (wie Anm. 19), S. 165-181 gezeigt wird, sind die allgemeinen Interpretationsprinzipien instrumenteil notwendig, um zu einem adäquaten Verständnis ironischer, metaphorischer und anderer nicht-wörtlicher Äußerungen zu gelangen. In
eine Skizze
Erkenntnis der Geschichte
127
-
(KN) Andere Thesen deuten die Unverzichtbarkeit als Konstitutivität. Einige Philosophen haben dafür argumentiert, dass die Präsumtionsregeln konsumtive Bedingungen für das Verstehen sind. Es dient der Klärung, wenn man hier weiter zwischen „praxiskonstitutiven" und „begriffskonstitutiven" Bedingungen differenziert: (PK) Praxis-Konstitutivität: Wer eine These dieses Typs verficht, macht geltend, dass hermeneutische Präsumtionsregeln Regeln sind, die konstitutiv für (a) unsere Verständigungs- und Interpretationspraxis oder auch (b) unsere Praxis des alltagspsychologischen Erklärens, Prognostizierens und Verstehens von Handlungen sind. (BK) Begriffs-Konstitutivität: Eine (zumindest prima facie) weiterreichende These besteht in der Annahme einer begrifflichen Konstitutivität. In diesem Sinne kann man behaupten, dass die hermeneutischen Präsumtionsregeln konstitutive Bedingungen für die gerechtfertigte Anwendbarkeit von Begriffen sind, die bei Interpretationen wesentlich ins Spiel kommen („Bedeutung", „propositionale Einstellung", „Handlung", „Person"). Die aussichtsreichsten Argumentationen in diesem Bereich sind: (i) Begründungen aus der methodologischen Notwendigkeit, (ii) Begründungen aus dem Holismus der Interpretation, (iii) Begründungen unter Berufung auf einen holistischen Wahrheits- bzw. Rationalitätshintergrund.30
Präsumtionsregeln, normische Gesetze und historische Erklärungen 3.
Zum Abschluss möchte ich auf die Besonderheiten historischer Erklärungen und der dabei herangezogenen Gesetze zurückkommen. Bei der Erklärung einzelner Handlungen spielen Rationalitätspräsumtionen, insbesondere eine Präsumtion der Zweckrationalität, eine grundlegende Rolle. Da kommunikative Handlungen ein
Spezialfall von Handlungen sind, überrascht es nicht, dass wir Rationalitätspräsumtionen auch bei der Interpretation von sprachlichen Äußerungen (einschließlich Zeugnissen anderer Personen) anwenden. Die entsprechende Präsumtionsregel lässt sich wie folgt formulieren: (Rat-Pr-R) Wenn Du die Handlung einer Person S verstehen willst, gehe davon aus, dass S zweckrational handelt [d.h. dass die Handlung auf ein (in ihren Auder rationalen Rekonstruktion schlägt sich das in der Weise nieder, dass die hermeneutischen Präsumtionsregeln dort als unverzichtbare Prämissen in den Schlüssen erscheinen, die zur rationalen Nachzeichnung des Verstehens dienen. Aber auch ganz normale wörtliche Äußerungen könnten nicht korrekt verstanden werden, wenn nicht eine Reihe von Rationalitätsund Normalitätspräsumtionen gemacht würden. Dazu ausführlich Scholz, Verstehen und Rationalität (wie Anm. 19), S. 195-249.
gen) realisierbares Ziel gerichtet und ein (in ihren Augen) zielgemäßes Mittel ist], bis Du gute Gründe für die Annahme des Gegenteils hast.31 Präsumtionsregeln wie diese können, wie wir gesehen haben, auf unterschiedliche Weise begründet werden. Die rechtfertigenden Gründe reichen von induktivprobabilistischen Erwägungen bis hin zu transzendentalen Unverzichtbarkeitsargumenten.32 Für unseren Zusammenhang ist von Interesse, dass sie unter anderem auch durch die Berufung auf normische Gesetzeshypothesen gerechtfertigt werden können:
(N-GH) Menschen handeln normalerweise zweckrational. Weil Menschen normalerweise zweckrational handeln, sind wir berechtigt, ihnen vorläufig Zweckrationalität zu unterstellen. Dem Gesetz liegt die (relativ) stabile Disposition von erwachsenen Menschen zugrunde, zweckrational zu handeln. Obwohl die Präsumtion von Zweckrationalität einen vor-empirischen Vorgriff darstellt, liegt hier keineswegs eine nicht-empirische oder gar empirie-resistente Methodologie vor, da die Präsumtion ja im Einzelfall an der Erfahrung scheitern kann.33 Und auch die normischen Gesetzeshypothesen wie (N-GH) haben insofern einen empirischen Gehalt, als sie statistische Majoritätsaussagen oder Hochwahrscheinlichkeitsaussagen wie (Maj) implizieren: (Maj) In der Mehrzahl der Fälle handeln Menschen zweckrational. Solche Majoritätsaussagen sind zwar numerisch unspezifisch, aber doch nicht ohne jeden empirischen Gehalt.34 Insofern diese Aussagen numerisch unspezifisch sind, ist die Geschichtswissenschaft weniger exakt als manche andere Wissenschaften. Aber nicht Exaktheit, sondern Objektivität ist das zentrale Kennzeichen der Wissenschaft. Und: Historische Darstellungen können durchaus intersubjektiv überprüfbar sein.
Vgl. die verwandte Formulierung bei Künne, Verstehen und Sinn (wie Anm. 20), S. Dazu ausführlich Scholz, Verstehen und Rationalität (wie Anm. 19), S. 164-249. Vgl. Scholz, Verstehen und Rationalität (wie Anm. 19), S. 239. Dazu ausführlicher
8.
Schurz, Gerhard, Erklären und Verstehen: Tradition, Transformation und Aktualität einer klassischen Kontroverse, in: Handbuch der Kulturwissenschaften, Band 2: Paradigmen und Disziplinen, hrsg. von Jaeger, Friedrich/ Liebsch, Burkhard/ Straub, Jürgen, Stuttgart/Weimar 2004, S. 156-174.
Andreas Frings
Erklären und Erzählen: Narrative Erklärungen historischer Sachverhalte
worum es mir hier einzig zu tun ist, ist dies, dass die Konstruktion einer Erzählung ebenso wie die Anerkennung einer Erzählung als einer explanatorischen der Anwendung allgemeiner Gesetze bedarf."1
„Denn
„Die historische Erklärung ist nur die Klarheit, die eine ausreichend dokumentierte Erzählung aufweist"2, so erklärte 1971 der französische Althistoriker Paul Veyne.
längeren, bis in die Gegenwart reichenden Reihe von Histound Philosophen, die davon ausgingen und ausgehen, Geschichtstheoretikern rikern, dass dem Erklären historisch singulärer Sachverhalte eine Erklärungsform angemessen sei, die das Geschehene erzähle. Die Erzählung, so die dahinter stehende These, sei damit nicht bloß eine Darstellungsform historischer Erkenntnisse neben anderen, beispielsweise stärker analytischen Argumentationen, sondern die genuine Ausdrucksform historischer Arbeit. Die Bandbreite dessen, was in diesen Diskussionen unter den Begriffen „Erzählung" und „Erklärung" verstanden wurde, ist groß.3 Eines aber hatten und haben fast alle diese Überlegungen gemeinsam: die Abkehr vom deduktiv-nomologischen Konzept der wissenschaftlichen Erklärung, wie es Carl Gustav Hempel in der Jahrhundertmitte auch für die Historiker zum verpflichtenden Modell erhoben Er stand damit in einer
DANTO, Arthur C, Analytische Philosophie der Geschichte, Frankfurt/Main 1980, S. 381. Veyne, PAUL, Geschichtsscheibung und was sie nicht ist, Frankfurt/Main 1990, S. 72. Er fährt fort: „Sie offenbart sich dem Historiker von selbst im Verlauf des Erzählens und ist kei-
davon unterschiedene Operation, genausowenig wie das bei einem Roman der Fall ist. Alles, was man erzählt, ist verständlich, da es erzählt werden kann. [...] Historische Erklärungen verweisen nicht auf einen Grand, durch den ein Ereignis intelligibel wird, sondern sind der Sinn, den der Historiker der Erzählung verleiht." Einführend Roberts, Geoffrey (Hg.), The History and Narrative Reader, London/ New York 2001, ein Band, in dem viele der relevanten und in den einschlägigen Diskussionen häufig zitierten Aufsätze versammelt sind. ne
130
Andreas
Frings
hatte.4 Offenbar waren Historiker, Geschichtstheoretiker und Geschichtsphilosophen nicht willens, Hempels Forderung umzusetzen, nach der Historiker ihre Erklärungsskizzen durch die explizite Angabe der zu Grunde gelegten Gesetzmäßigkeiten zu echten, wissenschaftlichen Erklärungen umzugestalten hätten. Im Gegenteil, der Verweis auf die Narrativität der historischen Erklärung diente häufig in unterschiedlicher Weise als postulierte Alternative zum vermeintlich rein naturwissenschaftlichen Modell der deduktiv-nomologischen Erklärung. Nun lässt sich die Gültigkeit der deduktiv-nomologischen Argumentation nicht gut bestreiten. Auch historische Argumentationen folgen einer deduktiven Logik, ohne dass allerdings die Gesetzmäßigkeiten immer explizit gemacht werden. Dennoch folgt auch der vorliegende Aufsatz in gewisser Weise dem Anliegen, historische Erklärungen als erzählende Erklärungen zu begreifen. Ich werde jedoch dafür argumentieren, dass eine so verstandene narrative Erklärung keineswegs einen Gegenentwurf zum deduktiv-nomologischen Erklären darstellt, sondern im Gegenteil die Anforderungen an eine deduktiv-nomologische Erklärung zumindest im Rahmen dessen, was Historiker für gewöhnlich zu erklären versuchen, in herausgehobener Weise erfüllt. Dazu werde ich in einem ersten Schritt die Beziehungen zwischen der narrativen und der deduktiv-nomologischen Erklärung rekonstruieren, wie sie Arthur C. Danto in seiner bahnbrechenden „Analytischen Philosophie der Geschichte"5 diskutiert hat. Davon ausgehend werde ich die Diskussionen um das Modell der narrativen Erklärung als Form der historischen Erklärung rekonstruieren und zeigen, dass diese entlang einer falschen Dichotomie geführt wurden: der Gegenüberstellung a) von Verstehen und Erzählen auf der Ebene des individuellen Handelns und b) von Erklären und Analysieren auf der Ebene sozialer (oder kultureller) Strukturen eine Dichotomie, die auch in der postmodernen, poststrukturalistischen oder anderweitig kultarwissenschaftlich inspirierten Geschichtswissenschaft nicht angegriffen worden ist.6 -
4
5 6
Vgl. den bis
heute Anstoß erregenden Aufsatz von Hempel, Carl G„ The Function of General Laws in History, in: The Journal of Philosophy, Jg. 39 (1942) 2, S. 35-48. Danto, Analytische Philosophie der Geschichte (wie Anm. 1). Einer der wenigen, von Historikern stärker rezipierten Versuche, diese Dichotomie aufzubrechen, besteht (neben Peter Berger und Thomas Luckmann oder Anthony Giddens) in der Sozialtheorie Pierre Bourdieus. Auf diese alternativen Angebote kann ich hier aus Platzgründen nicht eingehen. Es genügt anzumerken, dass Bourdieu in einer gewissen Perspektive als Vertreter der Theorien rationalen Handelns rekonstruiert werden kann, was allerdings Schwierigkeiten in seinem Werk offenlegen würde. Peter Berger und Thomas Luckmann hingegen sind mit dem hier vorgestellten Modell ohne Schwierigkeiten zu vereinbaren; und Anthony Giddens hat trotz der Idee der doppelten Strukturierung keine Handlungstheorie im strengen Sinne und somit gerade keine Vermittlung von Handlungs- und Strukturebene vorgelegt. Vgl. Berger, Peter/ Luckmann, Thomas, Die gesellschaftliche Rekonstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt am Main 1969; Bourdieu, Pierre, Die
Erklären und Erzählen: Narrative
Erklärungen historischer Sachverhalte
131
Ich werde daran anschließend zeigen, dass insbesondere die Theorien rationalen Handelns und das strukturindividualistische Erklärungsmodell, die in den Sozialwissenschaften in den letzten Jahrzehnten eine prominente Rolle gespielt haben, geeignet sind, narrative und gleichzeitig deduktive Erklärungen zu fundieren. Das liegt unter anderem daran, dass sie die Vermittlung der sozial- und kulturstrukturellen Makroebene und der individuellen Handlungsebene systematisch thematisieren und gleichzeitig auf einer einfachen Handlungstheorie beruhen, die eng an die klassische Hermeneutik und das Alltagsverstehen anknüpft.7 Dieses Verständnis von narrativem Erklären impliziert jedoch einen wissenschaftlichen Realismus, der vom postmodernen Narrativismus, wie er in der Geschichtswissenschaft beispielsweise von Frank Ankersmit oder Hayden White vertreten wird, aber auch vom „narrativen Realismus", wie er beispielsweise von dem Phänomenologen David Carr propagiert wird, scharf abzugrenzen ist.8 Ich werde daher in einem weiteren Schritt die Unterschiede zu diesem Verständnis von der Narrativität historischen Schreibens anführen. Es geht dabei um die Frage, ob die Welt an sich, ihre Erfahrung durch den Menschen oder das menschliche Leben narrativ strukturiert sind und ob dies eine Bedeutung für die Bewertung historischer Erklärungen hat. Mit anderen Worten: Ich werde versuchen, in diesem Aufsatz systematisch der Frage nachzugehen, was es heißen kann, historische Erklärungen narrativ zu nennen, und dafür plädieren, dass in einem bestimmten Verständnis von narrativen -
feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 1982 (u.v.a.); Giddens, Anthony, Die Konstitution der Gesellschaft. Grandzüge einer Theorie der Strukturierung, Frankfurt am Main u.a. 1988. Trotz dieser Positionsbestimmung erscheint es mir sinnvoll, mich schon früh von Peter Abell abzugrenzen, einem anderen Theoretiker, der die Verbindung aus kausaler und narrativer Erklärung ebenfalls in den Theorien rationalen Handelns sucht, daraus aber eine narrative action theory ableitet und damit den unten diskutierten phänomenologischen Konzeptionen David Carrs nahekommt. Vgl. Abell, Peter, The Role of Rational Choice and Narrative Action Theories in Sociological Theory. The Legacy of Coleman's Foundations, in: Revue Française de Sociologie, Jg. 44 (2003) 2, S. 255-273; überzeugender hingegen ders., Narrative Explanation. An Alternative to Variable-Centered Explanation?, in: Annual Review of Sociology, Jg. 30 (2004), S. 287-310. Ebenso soll die hier vertretene Konzeption nicht vorschnell mit den spieltheoretisch modellierenden und damit stark modellhaft argumentierenden Analysen der Autoren der "Analytic Narratives" identifiziert werden. Vgl. dazu Bates, Robert u.a. (Hg.), Analytic Narratives, Princeton 1998, deren Arbeiten ich sehr schätze. Andere, vom hier vertretenen Konzept abweichende Theoretiker und Philosophen wie etwa Louis Mink oder Paul Ricœur werde ich aus Platzgründen nicht diskutieren können. PAUL RiCŒUR hat in seinem Buch: Zeit und Erzählung. Band 1: Zeit und historische Erzählung, München 1988, S. 214-257 eine präzise und faire Rekonstruktion einiger Theoretiker der narrativen Historiographie vorgestellt.
132
Andreas
historische schen Sachverhaltes sein will,
Erklärungen jede
Frings
Untersuchung, die eine gute Analyse eines historinotwendigerweise eine narrative Erklärung sein wird.
Deduktiv-nomologische und narrative Erklärung Definitionen des
(historischen) Erzählens
Unter einer Erzählung wird im Folgenden pragmatisch die chronologisch geordnete Darstellung von Geschehen begriffen, bei dem das Handeln von Menschen eine zentrale Rolle spielt; narrative Erklärungen sind demnach Erklärungen, in denen das soziale Handeln von Menschen in ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge eine erklärende Rolle spielt. Ich folge damit einer langen Tradition der Erzähltheorie, die Erzählunund die auch in der gen als Darstellung einer Folge von Ereignissen begreift breit Diskussion geschichtswissenschaftlichen akzeptiert wird, wie etwa die häufig der als zitierte Definition Erzählung „organization of material in a chronologically sequential order and the focusing of the content into a single coherent story, albeit with subplots"9 durch Lawrence Stone beweist. Ich fasse den Begriff der Erzählung jedoch etwas enger, insofern ich die Darstellung menschlichen Handelns als notwendige Bedingung von Erzählung einführe. Mir scheint, dass dies nicht im Widerspruch zur gängigen Auffassung von Erzählung steht und den Brückenschlag zur -
Erklärung erleichtert.10 In der geschichtswissenschaftlichen Debatte selbst sind auch andere Definitionsversuche vorgeschlagen worden. Hans Michael Baumgartner etwa sieht im Erzählen „eine apriorische Realisationsweise seiner [des Menschen; A.F.] menschlichen Existenz."11 Erzählung müsse man dementsprechend als eine Art a priori wirkende Verstandeskategorie begreifen, oder, wie es Baumgartner an anderer Stelle ausdrückt, als 9
10
Stone, Lawrence, The Revival of Narrative. Reflections on a New Old Story, in: Past and Present, Jg. 85 (1979), S. 3-24, hier S. 3. Noch deutlicher Abell, Narrative Explanation (wie Anm. 7), S. 293: "Narrative structures
always contain action linkages that is to say, those whereby the states of W are transformed by human agency. This is the central idea that unites narrativists." IF meint hier world. Baumgartner, Hans Michael: Erzählung und Theorie in der Geschichte, in: Theorie und -
11
in der Geschichte, hrsg. von Kocka, Jürgen/ Nipperdey, Thomas, München 1979, S. 259-289, hier S. 288. Obwohl diese und die folgenden Definitionsversuche explizit auf kognitive Strukturen Bezug nehmen, die der historischen Erzählung immer schon vorgängig sind, und insofern stark kognitionswissenschaftlich klingen, hat keiner der hier behandelten Denker meines Wissens den Versuch unternommen, systematisch nach empirisch bewährten, kognitionswissenschaftlichen Erkenntnissen zu suchen, die diese Annahme stüt-
Erzählung
zen
würden.
Erklären und Erzählen: Narrative Erklärungen historischer Sachverhalte
133
„eine ursprüngliche narrative Synthesis, ein apriorisches Schema für Geschichten, das den konkreten Erzählungen, dem empirischen historischen Bedingung der Möglichkeit zugrunde liegt."12
Gegenstand,
als
Damit aber (und diese Position wird weiter unten am Beispiel Hayden Whites und Frank Ankersmits ausführlicher diskutiert werden) stiftet die Erzählung selbst erst den historischen Gegenstand und damit vergangene Sachverhalte, die, wenn es nicht die zukünftige Erzählung gäbe, die ihnen als „Bedingung der Möglichkeit zugrunde liegt", nicht stattgefunden hätten. Doch selbst wenn man nur die erste Definition ernst nähme, gelänge man an ein Hindernis: Wenn Erzählung tatsächlich „eine in den Grundbedingungen menschlicher Existenz angelegte fundamentale Auslegungsform von Wirklichkeit" ist, was zeichnet diese Auslegungsform denn vor anderen aus? Spätestens hier wären wir wohl wieder auf strukturelle Definienda verwiesen. Das Gleiche gilt wohl für Jörn Rüsens Versuch, Erzählen zu definieren als
„eine lebensnotwendige kulturelle Leistung, [...] eine elementare und allgemeine
Sprachhandlung, durch die Zeiterfahrungen gedeutet, d.h. auf oberste Gesichtspunkte der bewussten Organisation der menschlichen Lebenspraxis bezogen werden."13 Niemand wird wohl bezweifeln, dass Erzählen, auch wenn es im niedergeschriebenen Text stattfindet, eine Sprachhandlung und eine kulturelle Leistung darstellt.
Alle anderen Bestandteile des Definiens sind jedoch eher nebulöser Natur: Wieso ist die kulturelle Leistung der Erzählung „lebensnotwendig", wieso sind Erzählungen „elementar" und „allgemein", und wie kann man Erzählungen von anderen Sprachhandlungen auf diese Weise abgrenzen? Dadurch, dass in ihnen Zeiterfahrungen gedeutet werden? Wohl kaum, denn der Historiker, der die Steuerpolitik der Römischen Kaiserzeit analysiert, deutet damit eben keine Zeiterfahrungen, sondern erklärt die Steuerpolitik der Römischen Kaiserzeit.
12
13
Baumgartner, Hans Michael: Thesen
zur Grundlegung einer transzendentalen Historik, in: Seminar Geschichte und Theorie. Umrisse einer Historik, hrsg. von Baumgartner, Hans Michael/ Rüsen, Jörn, Frankfurt, 2. Aufl. 1982, S. 274-302, hier S. 279. Eine knappe und präzise Auseinandersetzung mit Baumgartners Erzählbegriff (und anderen) findet sich bei Haussmann, Thomas, Erklären und Verstehen. Zur Theorie und Pragmatik der Geschichtswissenschaft, Frankfurt/Main 1991, S. 119-126. Haussmanns Buch ist eine der lesenswertesten Auseinandersetzungen mit dem Problem historischen Erklärens, Verstehens und Erzählens aus analytischer Perspektive. RÜSEN, JÖRN, Geschichtsdidaktische Konsequenzen aus einer erzähltheoretischen Historik, in: Historisches Erzählen. Formen und Funktionen, hrsg. von Quandt, Siegfried/ Süssmuth, Hans, Göttingen 1982, S. 129-170, hier S. 135.
Andreas
134
Frings
Auch in der jüngeren „Narratologie" ist die klassische Definition mitunter in die Kritik geraten.14 Nicht selten wird der rein „struktaralistische" Charakter dieser Definition charakterisiert, der allenfalls Oberflächen des Textes erfassen könne, aber keine Texte ausschließe, von denen wir intuitiv unschwer sagen würden, sie seien keine Erzählung. Stattdessen müsse der Akzent auf die Pragmatik der Erzählung gelegt werden: Erzählung sei, was ein Erzähler einem Publikum erzähle. Mir scheint, dass diese Diskussion nicht weit fuhrt, so lange „Erzählung" über den „Erzähler" definiert wird; zumindest ist dieser Versuch der Definition zunächst tautologisch und bedürfte weiterer Klärungen. Im Falle der historischen Erzählung ist er jedenfalls weitgehend irrelevant. Historiker erzählen nicht anders als dies etwa Physiker tun: Sie veröffentlichen ihre Erkenntnisse in Büchern, Aufsätzen und Vorträgen. Physikern vorzuschlagen, sie deshalb auch als Erzähler zu begreifen, würde aber wohl Kopfschütteln verursachen. Was historische von physikalischen Analysen (unter anderem) unterscheidet, ist das, was als Definiens der „struktaralistischen" Definitionen kritisiert wird: die chronologisch geordnete Darstellung von Geschehen, bei dem das Handeln von Menschen eine zentrale Rolle spielt.
Die Provokation des
Erklärungsmodells
deduktiv-nomologischen
die
Erzählung ein eigener Typ von Erklärung oder den Regeln der deduktivnomologischen Argumentation unterworfen? Letzteres behauptete zumindest Carl G. Hempel in seinem Aufsatz „The Function of General Laws in History" von 1942. Eine wissenschaftliche Erklärung zeichne sich durch die deduktive Herleitang des Explanandums aus Prämissen (Deduktionsforderung) aus, von denen mindestens eine ein allgemeiner Satz sein müsse (covering-law-Forderung). Das Explanandum selbst könne auch ein Einzelereignis sein, so dass auch ideographische Wissenschaften Gesetzeswissen benötigten. Der Wert historischer Erklärungen beruhe somit auf den meist implizit bleibenden nomologischen Annahmen, die eine logisch korrekte Ableitung des Explanandums aus dem Explanans erlauben. Dann aber wären historische Erklärungen in der Regel nur Erklärungsskizzen, eine Charakterisierung, die für Historiker eher unangenehm war. Ist
nun
Folgenden beispielsweise die Diskussion bei Rudrum, David, From Narrative Representation to Narrative Use. Towards the Limits of Definition, in: Narrative, Jg. 13 (2005) 2, S. 195-204; RYAN, Marie-Laure, Semantics, Pragmatics, and Narrativity. A Response to David Rudrum, in: Narrative, Jg. 14 (2006) 2, S. 188-196; Rudrum, David, On the Very Idea of a Definition of Narrative. A Reply to Marie-Laure Ryan, in: Narrative, Jg. 14 (2006) 2, S. 197-204; sowie Ryan, Marie-Laure, In Defense of Definition, Download unter http://lamar.colostate.edu/~pwryan/rudrumresponse.htm (12.04.2007). Vgl.
zum
Erklären und Erzählen: Narrative
Erklärungen historischer Sachverhalte
135
problematisch erwies sich jedoch, dass einige Adäquatheitsbedingungen des deduktiv-nomologischen Erklärungsschemas auf die Dauer nicht aufrecht erhalten werden konnten. Die linguistische Wende, die mit den Arbeiten Willard Van Orman Als
Quine einsetzte,15 richtete den Blick der Wissenschaftstheoretiker auf die unhintergehbar sprachliche Verfasstheit der Erklärung. Aus dieser Perspektive können Erklärungen nicht mehr einfach als „zeitlos gültig", sondern nur noch als gültig innerhalb eines Gesamtsystems von Sprache aufgefasst werden. Chris Lorenz hat diesen Gedanken für die geschichtstheoretische Diskussion in Anlehnung an Hilary
Putnam aufgegriffen und darauf hingewiesen, dass auch historische Erklärungen immer nur innerhalb des gewählten Sprachsystems gültig sein könnten.16 Die Forderung nach der Deduktion des Explanandums aus dem Explanans ist damit keineswegs aufgehoben. Auf der sprachlichen Ebene gilt sie weiterhin. Denn dort besteht
„zwischen Explanans und Explanandum keine Beziehung der physikalischen, sondern eine der logischen Notwendigkeit, die durch die Gesetze der deduktiven Logik erzeugt wird. Genauer: Diese Beziehung besteht nicht zwischen Explanans
15
In der Geschichtstheorie ist es üblich, die „linguistische Wende" im Jahr 1967 mit Veröffentlichungen von Jacques Derrida (L'écriture et la différence, Paris 1967; De la grammatologie, Paris 1967), Richard Rorty (The Linguistic Turn. Recent Essays in Philosophical Method, Chicago/London 1967) und MICHEL Foucault (Les mots et les choses. Une archéolo-
gie des sciences humaines, Paris 1967) beginnen zu lassen. Dabei werden die viel konsequen-
Willard Van Orman Quine aus den 1950er Jahren (stellvertretend: Point of View, Cambridge 1953; Word and Object, New York/ Cambridge 1960) übersehen. Für die Geschichtstheorie bieten die Arbeiten Quines und seiner Nachfolger (Donald Davidson, Hilary Putnam, Michael Dummett und andere) sehr viel Potential. Vgl. aus dem Werk Willard Van Orman Quines vor allem ders., Two Dogmas of Empiricism, in: Philosophical Review, Jg. 60 (1951) 1, S. 20-43; ders., From a Logical Point of View. 9 Philosophical Essays [darunter: Two Dogmas of Empiricism], Cambridge 1953; ders., Word and Object, New York 1960. Vgl. Lorenz, Chris, Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Köln u.a. 1997; ders., Historical Knowledge and Historical Reality. A Plea for "Internal Realism", in: History and Theory, Jg. 33 (1994) 3, S. 297-327 [eine überarbeitete deutsche Fassung bei ders., Historisches Wissen und historische Wirklichkeit. Für einen „internen Realismus", in: Konstruktion von Wirklichkeit. Beiträge aus geschichtstheoretischer, philosophischer und theologischer Perspektive, hrsg. von Schröter, Jens/ Eddelbüttel, Antje, Berlin u.a. 2004, S. 65-106], Damit ist gerade kein Relativismus verbunden, nach dem beispielsweise alle Erklärungen innerhalb eines gewählten Sprachsystems gültig oder gleich gut seien. Zu den wichtigsten Prüfkriterien für die Güte einer theoretisch fundierten Aussage gehört beispielsweise weiterhin die innere Konsistenz der Analyse. teren Arbeiten
From
16
a
Logical
von
Andreas
136
Explanandum, sondern zwischen Explanandum bestehen [.. .]."17
und
den Sätzen,
aus
denen
Frings
Explanans
und
Dennoch blieb das deduktiv-nomologische Erklärungsmodell für Geschichtstheoretiker eine Herausforderung. Fast durchgehend wurde seine Gültigkeit bestritten, und das vor allem auf zwei Wegen. Der erste Einwand gegen dieses Modell bestand in der Überlegung, dass Historiker vor allem mit Handlungserklärungen arbeiten; und Handlungserklärungen seien keine deduktiv-nomologischen, sondern intentionale (resp. rationale, ideologische) Erklärungen.18 Der zweite Einwand lautete: Historiker erzählten eben Geschichten; und die historische Erklärung sei eben eine narrative Erklärung, die vom deduktiven Erklärungsmodell zu unterscheiden sei.
Der genuin narrative Charakter historischer Erklärungen Dass mit dem narrativen Erkärungsmodell ein genuin historischer Erklärungstyp entdeckt worden sei, behauptete beispielsweise 1986 der deutsche Geschichtstheoretiker Jörn Rüsen. Neben der klassischen nomologischen Erklärung, die es in historischen Darstellungen selbstverständlich auch gebe, und intentionalen Erklärungen, die für historisches Erklären sogar fast typisch seien, erweise sich eben das Nacherzählen einer Geschichte als spezifisch historischer Zugang zur Wirklichkeit. Das intentionale Erklären, das er analog zu Alan Donagan entwickelte, rücke erklärende Tatsache nicht [...] in einen objektiven, gesetzmäßigen Zusammenhang mit anderen Tatsachen (Antezedens-Bedingungen), sondern in einen subjektiven Sinnzusammenhang mit Absichten. [...] Handlungen [...] zu erklären, heißt, die sie bewegenden Gründe zu rekonstruieren: Sie werden durch
„die
zu
Haussmann, Erklären und Verstehen (wie Anm. 12), S. 4L Entscheidend ist dies vor allem deshalb, weil literaturwissenschaftlich inspirierte Geschichtsphilosophen bei der Analyse der
sprachlichen Ebene historischer Analysen mitunter zur Wahl ästhetischer Beurteilungskriteneigen oder rein literaturwissenschaftliche Kategorien anlegen. Dies ist jedoch keine notwendige Folge der linguistischen Wende. Vgl. beispielsweise DONAGAN, Alan, Historical Explanation. The Popper-Hempel-Theory Reconsidered, in: History and Theory, Jg. 4 (1964), S. 3-26; Dray, William, Laws and Explanation in History, Oxford 1957; (eingeschränkt auch) von Wright, Georg H., Erklären und Verstehen, Königstein/Taunus, 2. Aufl. 1984. Eine längere Auseinandersetzung mit Dray und Donagan bei Frings, Andreas, Rationales Handeln und historische Erklärung, in: Journal for General Philosophy of Science/ Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie, Jg. rien
38(2007), S.
31-56.
Erklären und Erzählen: Narrative
Erklärungen historischer Sachverhalte
Verstehen' erklärt, durch ein Wissen um die Wissen ist nicht nomologisch."19 ,
137
handlungsleitenden Absichten. Dieses
Problematisch sei jedoch, dass Intentionen alleine nicht ausreichten, „um die zeitlichen Veränderungen zu erklären, die als ,Geschichte' thematisiert werden, weil diese Veränderungen als historische nicht beabsichtigt sind."20 Die nomologische Erklärung wiederum lehnte Rüsen (in grober Missachtung des wissenschaftstheoretischen Diskussionsstandes seiner Zeit21) schon deshalb ab, weil im historischen Prozess immer wieder beeinflussende Momente in den Prozess eingriffen, die im Anfangszustand eines Prozesses nicht absehbar gewesen seien; der gesamte Prozess sei deshalb nicht unter ein Gesetz, geschweige denn unter eine Theorie zu subsumieren.22 Interessanter war jedoch seine eigene Lösung des historischen Erklärungsproblems:
„Ein historisches Explanandum ist eine zeitliche Veränderung von
etwas. [...] Der zwischen und logische Zusammenhang Explanandum Explanans ist der einer Geschichte: Deren Anfang und Ende ist die zu erklärende zeitliche Veränderung, ihre Mitte ist der Vorgang, der diese Veränderung erklärt. Das Erzählen der Geschichte ist selber ein Vorgang des Erklärens. Spezifisch historische Erklärungen sind narrative Erklärungen."23
Rüsen, Jörn, Grandzüge einer Historik. Band 2: Rekonstruktion der Vergangenheit. Die Prinzipien der historischen Forschung, Göttingen 1986, S. 31. Wieso Rüsen hier „Absichten" aus der Menge der Tatsachen ausschließt, bleibt unklar. Rüsen, Rekonstruktion der Vergangenheit (wie Anm. 19), S. 35.
JÖRN RÜSENS „Grandzüge einer Historik" erschienen dreibändig zwischen 1983 und 1989. Zu diesem Zeitpunkt lag beispielsweise Wolfgang Stegmüllers Darstellung der historisch-genetischen Erklärung schon vor, die den historischen Prozess keineswegs unter ein Gesetz oder eine Theorie zwingt, ohne jedoch auf das deduktive Erklären zu verzichten. Vgl. Stegmüller, Wolfgang, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie. Band 1: Erklärung Begründung Kausalität, Studienausgabe, Teil C: Historische, psychologische und rationale Erklärung. Verstehendes Erklären, Berlin u.a. 1983. Ähnliches gilt für Mackies INUS-Konzept. Vgl. Mackie, John L„ The Cement of the Universe. A Study in Causation, Oxford 1974, der jedoch anders als Stegmüller mit der Vorstellung von Bedingungen arbeitet, von denen jede für das Explanandum selbst nicht hinreichend, alle aber in ihrer Gesamtheit hinreichend sind, wobei jede einzelne Bedingung für diesen Gesamtzusammenhang notwendig ist. Er erkennt den Wert nomologischer Erklärungen lediglich insofern an, als sie mitunter auch in historischen Analysen auftauchen. RÜSEN, Rekonstruktion der Vergangenheit (wie Anm. 19), S. 43. Zu seiner Definition und Beschreibung des historischen Erzählens vgl. die eingangs diskutierte Definition. -
-
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Erzählung als Erklärung durch semantische Abstraktion von der Handlungsebene Rüsen lehnte sich in seiner Darstellung vermeintlich eng an einen Referenzdenker der 1970er Jahre an: Arthur C. Danto, dessen Analytische Philosophie der Geschichte 1965 erschienen war. Anders als Danto glaubte er jedoch, hier ein alternatives Erklärungsmodell zur nomologischen Erklärung gefunden zu haben:
„Das historische Erzählen [...] stellt eine elementare und fundamentale Erklärungsform dar, die ihre eigenen Plausibilitätskriterien, also auch ihre eigene
Ausprägung wissenschaftsspezifischer Rationalität hat."24 Arthur C. Danto, der um die mitunter irrtümliche Rezeption seines Werkes wusste, stellte deshalb noch in den 1990er Jahren klar:
„Mein 1965 erschienes Buch Analytical Philosophy of History wollte darlegen, dass die Erklärung in Hempels Verständnis mit der Erzählung vereinbar ist, und damit das sogenannte Covering Law Model gegen die Behauptung verteidigen, die narrativen Modelle stellten eine völlige Alternative zu ihm dar."25
Wie aber sind deduktiv-nomologische Erklärung und Erzählung zu vereinbaren? Um diese Frage zu beantworten, hatte Arthur C. Danto eine Weiterentwicklung des deduktiv-nomologischen Erklärungsschemas vorgenommen. Ausgangspunkt seiner Überlegungen war der „(...) Umstand, dass das [historische] Explanandum nicht einfach ein Ereignis beschreibt etwas, das geschieht -, sondern eine Verände-
rung."26
-
(1) x ist F in t-1. (2) H ereignet sich mit x in t-2. (3) x ist G in t-3.
Explanandum: (1) und (3) Explanans: (2)
Abb. 1 : Struktur der narrativen Erklärung nach Arthur C. Danto
Rüsen, Jörn, Gesetze, Erklärungen, in: Handbuch der Geschichtsdidaktik, hrsg. von Bergmann, Klaus u.a., Seelze-Velber, 5. Aufl. 1997, S. 164-169, hier S. 167. Danto, Arthur C, Niedergang und Ende der analytischen Geschichtsphilosophie, in: Der Sinn des Historischen. Geschichtsphilosophische Debatten, hrsg. von Nagl-Docekal, Herta, Frankfurt/Main 1996, S. 126-147, hier S. 128. Danto, Analytische Philosophie der Geschichte (wie Anm. 1), S. 371.
Erklären und Erzählen: Narrative
Erklärungen historischer Sachverhalte
139
Während also im klassischen Erklärungsschema das Explanandum dem Explanans zeitlich folgte, zeigte Danto, dass in einer historischen Erklärung das Explanandum durch den Wandel von etwas über den zeitlichen Verlauf hinweg gebildet werde und durch ein Explanans erklärt werden müsse, das im Verlaufe dieses Prozesses jenen Wandel bewirke. Die Gültigkeit der Deduktion aus einem allgemeinen Gesetz war damit nicht in Frage gestellt (siehe Abb. 1). Danto behauptete jedoch nun, dass eine relativ große Menge historischer Aussagen nicht aus allgemeinen Sätzen abgeleitet werden konnte. Zur Deduktion konkreter Ereignisaussagen bedurfte es seiner Meinung nach der Einführung einer vermittelnden sprachlichen Ebene, des sogenannten Explanatum. Das eigentliche Erklärungsproblem: „Die Monegassen hängten amerikanische Flaggen Seite an Seite mit der monegassischen heraus"27, sei also als solches nicht deduzierbar. Wisse man jedoch um die amerikanische Herkunft der Fürstin Gracia Patricia alias Grace Kelly, dann könne man eine vermittelnde Ebene (die Danto Explanatum nannte) einziehen:
-
„Die Monegassen ehrten eine Fürstlichkeit amerikanischer Herkunft"28, oder: „Die Angehörigen einer Nation ehrten eine Fürstlichkeit mit einer
von
der ihren
verschiedenen nationalen Abstammung."29
Das
Explanandum sei nun, so Danto, nicht mehr schwer zu finden: anderer nationaler Abkunft hat als derjenigen seiner eigenen Bürger, dann werden diese Bürger bei gegebenen Anlässen jenen Fürsten in einer angemessenen Art und Weise ehren."30
„Wann immer eine Nation einen Fürsten
von
Das Problem mit diesem erklärenden Gesetz: Es war (und ist) falsch. Michael Scriven wies in einer direkten Replik zu Recht darauf hin, dass die Briten in dieser Zeit Philip Mountbatten, Gemahl von Königin Elizabeth IL, vor allem aber: Grieche von Herkunft, eben nicht nur nicht mit griechischen Flaggen, sondern gar nicht als Griechen ehrten.31
Die
logische Rolle von Handlungserklärungen
Ein weiteres Problem, das mit diesem ersten Problem eng verbunden war, bestand in der semantischen Abstraktion von der Handlungsebene. Bei der Einbettung einer 27
Danto, Analytische Philosophie der Geschichte (wie Anm. 1), S. 352.
28
Ebenda. Ebenda.
29 30
Ebenda, S. 353-354.
31
Vgl. Scriven, Michael, Rezension von Arthur C. Danto: Analytical philosophy of history, in: The Journal of Philosophy, Jg. 63 (1966), S. 500-504.
Andreas
140
Frings
konkreten Ereignisaussage in eine allgemeinere sprachliche Beschreibung waren Danto die Intentionen handelnder Menschen verloren gegangen. Während die Monegassen die amerikanischen Fahnen mit einer gewissen Intention heraushängten, entpuppte sich das Explanans schließlich als Gesetz auf einer Ebene, auf der menschliche Handlungsentscheidungen keine logische Rolle mehr spielte. Dieses Problem zog sich, wie Frederick Olafson zeigen konnte, durch alle Beispiele, die Danto in seiner Analytischen Philosophie vorführte:
„The significant feature of this way of schematizing the
event
in
question is that it
avoids any reference to the Duke's purpose or intention in taking the action he did and indeed avoids even describing the change as an action."32
Danto war damit, ohne dies zu merken, einem Fehlschluss erlegen, der auch bei Jörn Rüsen auftaucht und sich bis heute durch die geschichtstheoretischen Diskussionen zieht: Während Handlungen nur durch intentionale Beschreibungen erfasst werden könnten, was Rüsen als alternativen Erklärungstyp, Danto jedoch nur als Defekt der eigentlich allein gültigen, nomologischen Erklärung auffassen mochte, seien Gesetze erst auf einer Ebene zu finden, die mit Handlungen sprachlich nichts mehr zu tan hätten. In dieser Hinsicht kritisierte Frederick Olafson:
„Possibly Danto might reply to these criticisms by arguing that these matters of the agent's intention are among the explananda that are not explainable as they stand and that under these intentional descriptions the events in question remain unexplained, although under other non-intentional descriptions they can be explained through subsumption under more general concepts and laws."33 Olafson war somit eine merkwürdige Dichotomie aufgefallen, die sich als Irritation durch einen großen Teil der geschichtstheoretischen Diskussionen der letzten Jahrzehnte zieht: eine Trennung von erklärender Analyse auf der Makroebene und verstehender Erzählung auf der Mikroebene. Am klarsten zeigte sich diese Dichotomie bei François Furet und Lawrence Stone.34 In ganz ähnlicher Weise reagierte der deutsche Sozialhistoriker Jürgen Kocka auf die Renaissance der erzählenden
Geschichtsschreibung: „'Erzählen' meint [...] eine Form der Darstellung, für die das zeitliche Nacheinander
32
33 34
von
beschreibbaren
Ereignissen
und verstehbaren
Handlungen
Olafson, Frederick A., Narrative History and the Concept of Action, in: History and Theory, Jg. 9 (1970), S. 265-289, hier S. 267. Vgl. auch ders., The Dialectic of Action. A Philosophical Interpretation of History and the Humanities, Chicago u.a. 1979. Olafson, Narrative History and the Concept of Action (wie Anm. 32), S. 269-270. Stone, Lawrence, The Revival of Narrative: Reflections on a New Old Story, in: Past and Present, Jg. 85 (1979), S. 3-24; FURET, FRANCOIS, From Narrative History to ProblemOriented History, in: Ders., In the Workshop of History, Chicago 1984, S. 55-67.
Erklären und Erzählen: Narrative
Erklärungen historischer Sachverhalte
141
zentral ist, nicht aber die Analyse von Strukturen und Prozessen, obwohl durchaus beabsichtigt sein kann, durch die Erzählung von Begebenheiten und Handlungen Licht auf Strukturen und Prozesse zu werfen."35 er für eine Argumentation, die weiterhin die Analyse von Strukturen und Prozessen in den Mittelpunkt rücken solle, die alleine erklärbar und einer theoretischen Reflexion fähig seien.
Konsequent plädierte
Rationales Handeln und narrative Erklärung Meine These ist nun, dass ein sozialwissenschaftliches Erklärungsmodell, das vor allem von James S. Coleman entwickelt und dann von Hartmut Esser und anderen in die deutschsprachige Soziologie eingeführt wurde, diese Dichotomie zwischen einem „nomologischen" Erklären von Sachverhalten auf der sozialen (resp. kulturellen) Makroebene und einem „intentionalen" Erklären von Handlungen lösen kann. Dieses Erklärungsmodell nimmt zudem die Kritik auf, der historische Zusammenhang gehe nicht in dem auf, was die Menschen wechselseitig intendierten. Aus meiner Sicht bildet es somit recht gut die drei Erklärungsprobleme ab, die für historische Erklärungsversuche typisch sind. Ausgangspunkt der Colemanschen Überlegungen ist die Tatsache, dass Sozialwissenschaftler lange versucht haben, kollektive Sachverhalte zu erklären und dazu Regelmäßigkeiten, wenn nicht gar Gesetzmäßigkeiten, auf der Ebene sozialer Sachverhalte zu finden. Dies erinnert an den Versuch Emile Durkheims, die Soziologie als Wissenschaft über die Postulierung sozialer Tatsachen zu legitimieren, wobei er als fait social, jede mehr oder minder festgelegte Art des Handelns, die 35
Kocka, JÜRGEN, Zurück
zur Erzählung? Plädoyer für historische Argumentation, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 10 (1984), S. 395-408, hier S. 397. Ähnlich argumentiert interessanterweise noch Jens Pape, der ansonsten eine sehr präzise Kritik an Louis Mink, Frank Ankersmit und Hayden White vorgelegt hat. Vgl. ders., Der Spiegel der Vergangenheit. Geschichtswissenschaft zwischen Relativismus und Realismus, Frankfurt am Main u.a. 2006. Auch er unterscheidet Analyse (vor allem auf der strukturellen Ebene) und Erzählung (eher auf der Ebene individuellen Handelns). Grundlage der Kockaschen Unterscheidung ist das Diktum von Habermas, JÜRGEN, Zur Logik der Sozialwissenschaften, Frankfurt am Main 1982, S. 134: „Der Historiker wird sich freilich bei seinen Erklärungen nicht auf eine das hermeneutische Sinnverständnis einschließende Logik des Handelns beschränken können. Denn der historische Zusammenhang geht nicht in dem auf, was die Menschen wechselseitig intendieren." Wenn Geschichte aber mehr sei als das, was wechselseitig intendiert sei, so Kocka, dann sei dieses Mehr nur in den „Strukturen" und „Prozessen" zu finden, weshalb es nicht ausreiche, „Handlungen, Erfahrungen und Ereignisse erzählend zu rekonstruieren" (KoCKA, Zurück zur Erzählung, S. 399). Diese Ableitung aus Habermas ist jedoch nicht zwingend; Habermas verweist hier lediglich auf den altbekannten Sachverhalt nicht intendierter Wirkungen intentionalen Handelns.
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Fähigkeit besitzt, auf den Einzelnen einen äußeren Zwang auszuüben; oder auch, die im Bereiche einer gegebenen Gesellschaft allgemein auftritt, wobei sie ein von ihren individuellen Äußerungen unabhängiges Eigenleben besitzt"36 verstand. Tatsächlich ist mir kein solches Gesetz bekannt, das sich dauerhaft empirisch bedie
währt hat.37 An eben diese soziologischen Bemühungen geht er von den folgenden Überlegungen aus:
knüpft
auch Coleman an.38 Dabei
1. Sozialwissenschaftler (man kann hier unproblematisch ergänzen: Historiker, Kulturwissenschaftler) möchten in der Regel soziale, kollektive Phänomene erklären und nicht bloß das Handeln Einzelner (auch wenn es dies in der historischen Forschung zu Recht durchaus gibt). 2. Diese kollektiven Phänomene (und das können Ereignisse, Prozesse und Strukturen gleichermaßen sein) sollen aus anderen kollektiven Sachverhalten erklärt werden. 3. Diese Erklärung bedarf einer so genannten Mikrofundierung, das heißt sie muss die Handlungsentscheidungen und -Verweigerungen der einzelnen Akteure einbeziehen (methodologischer Individualismus39).
36
37
Durkheim, Emile, Regeln der soziologischen Methode, Frankfurt 1991, S. 114. Vgl. hierzu u.a. Schmid, Michael, Die Logik mechanismischer Erklärungen, Wiesbaden 2006.
Grundlegend hierzu Coleman, James S„ Social Theory, Social Research, and a Theory of Action, in: The American Journal of Sociology, Jg. 91 (1986), S. 1309-1335. Ausführlicher in: Ders., Grundlagen der Sozialtheorie. Band 1: Handlungen und Handlungssysteme, Mün-
chen 1991. Angesichts der großen Bedeutung, die diese Schriften für die Soziologie und die Politikwissenschaft der Gegenwart haben, verwundert es, dass die Geschichtswissenschaft Coleman bisher so gut wie gar nicht rezipiert hat. Man kann dies wohl nur mit der Fokussierung vieler Historiker auf die Ethnologie und die Linguistik erklären. Es muss leider immer noch immer wieder betont werden: Der methodologische Individualismus leugnet die Existenz sozialer Sachverhalte nicht, er ist kein ontologischer Individualismus. Er fordert lediglich, dass jede Erklärung solcher Sachverhalte die Ebene individueller Handlungsentscheidungen berücksichtigen muss. Vgl. hierzu Albert, Hans, Methodologischer Individualismus und historische Analyse, in: Teil und Ganzes. Zum Verhältnis von Einzel- und Gesamtanalyse in Geschichts- und Sozialwissenschaften, hrsg. von Acham, Karl/ Schulze, Winfried, München 1990, S. 219-239; Vanberg, Viktor, Die zwei Soziologien. Individualismus und Kollektivismus in der Sozialtheorie, Tübingen 1975; Bohnen, Alfred, Handlungsprinzipien oder Systemgesetze. Über Traditionen und Tendenzen theoretischer Sozialerkenntnis, Tübingen 2000; Raub, Werner/ Voss, Thomas, Individuelles Handeln und gesellschaftliche Folgen. Das individualistische Programm in den Sozialwissenschaften, Darmstadt 1981; Weede, Erich, Mensch und Gesellschaft. Soziologie aus der Perspektive des methodologischen Individualismus, Tübingen 1992.
Erklären und Erzählen: Narrative
Sozialtheoretische
Erklärungen historischer Sachverhalte
143
Grundlegung: Strukturindividualistisches
Erklärungsmodell Umsetzung dieser Überlegungen erfordert ein Erklärungsmodell mit drei Schritten, das im folgenden Schema (Abb. 2) abgebildet werden kann und als
Die
strukturindividualistisches
Erklärungsmodell bezeichnet wird:
Soziale Situation
Kollektives Phänomen
Definition
Logik der Aggregation
der Situation
Akteur
Logik der Selektion
^
Abb. 2: Strukturindividualistisches
Handlung
Erklärungsmodell
geht es um eine plausible Rekonstruktion der Situationswahrnehmung der Akteure. Die Definition der Situation ist die subjektive, interpretatorische Leistung des Handelnden, in der er sich die Situation, auf die hin er handelt, deutend aneignet. So kommt es auch im häufig zitierten Thomas-Theorem zum Ausdruck: „If men define situations as real, they are real in their consequences."40 Mit anderen Worten: Handlungen werden weniger durch objektive Rahmenbedingungen als vielmehr durch die subjektive Wahrnehmung der Situation durch den Handelnden beeinflusst, ob es sich dabei nun um eine Fehleinschätzung handelt oder nicht. In der Regel darf man von einer mehr oder weniger realitätsadäquaten Situationswahrnehmung, etwa was die perzipierten Erwartungen der sozialen Umwelt an mein Handeln angeht, ausgehen. Notwendig ist das jedoch nicht. Im ersten Schritt
Interessanterweise wird dieser Schritt in der sozialwissenschaftlichen Literatur häufig mit nomologischen Annahmen darüber gefüllt, wie bestimmte Gruppen von Menschen eine Situation typischerweise wahrnehmen. Für die Zwecke einer nomothetischen, an Prognosen interessierten und Modell bildenden Sozialwissenschaft ist dieses Vorgehen sehr nützlich. Erklärungen für historisch singuläre Sachverhalte liefert es jedoch kaum. Stattdessen muss man, so meine These, diesen 40
Thomas, William Isaac/ Thomas, Dorothy Swaine, The Child in America. Behaviour Problems and Programs, New York 1928, S. 572.
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Erklärungsschritt, die Rekonstruktion der subjektiven Sitaationswahrnehmung, als empirisches Problem begreifen. Der eigentliche nomologische Kern einer so verstandenen, historischen Erklärung liegt nämlich im zweiten Schritt: der Logik der Selektion. Welches Gesetz erlaubt es, eine bestimmte Handlung aus einer bestimmten Sitaationswahrnehmung heraus abzuleiten? Die sozialwissenschaftliche Literatur, die diese Frage unter dem Label „Handlungstheorien" behandelt, ist kaum noch überschaubar. Am überzeugendsten erscheint mir, hier eine recht einfache, voraussetzungsarme Annahme subjektiver Rationalität zu treffen, wie sie etwa auch Alfred Schütz definiert hat: „Die Wahl selbst ist rational,
wenn
seiner Reichweite das für die angemessenste Mittel wählt."41
der Handelnde aus allen Mitteln innerhalb Realisierung des beabsichtigten Zweckes
In ähnlicher Weise hat der Politikwissenschaftler Volker Kunz die hier
subjektive Rationalität von
anderen Verständnissen
grenzen versucht:
„objektiver"
gemeinte
Rationalität abzu-
„Die Rationalität der Handlung eines Akteurs lässt sich lediglich relativ
subjektiven Wünschen und Überzeugungen dieser Person beurteilen. ausschließlich um eine Rationalität der individuellen Wahl."42
[...]
zu
Es
den
geht
Konsequenz bedeutet das, die subjektiven Wünsche und Überzeugungen dieser Person empirisch zu rekonstruieren und damit den nomologischen Kern von allem unnötigen Ballast zu befreien. Übrig bleibt die nomologische Vermutung, dass jeder Mensch, der vor Handlungsalternativen steht (und dies kann immer unterstellt werden), immer diejenige Handlung wählt, die subjektiv „das für die Realisierung des beabsichtigten Zweckes angemessenste Mittel" darstellt. In dieser Rationalitätsannahme steckt auch der Kern der neueren hermeneutischen Bemühungen. Wie Oliver Scholz ausgeführt hat, handelt es sich bei der Rationalitätspräsumption wohl um die einzige konstitative, nicht aufgebbare Auslegungsregel, die dem Verstehensvorgang zu Eigen ist.43 Erklären und Verstehen einer Handlung In der
41
42 43
Schütz, Alfred, Das Problem der Rationalität in der sozialen Welt, in: Ders., Gesammelte Aufsätze. Band 2: Studien zur soziologischen Theorie, hrsg. von von Brodersen, Arvid, Den Haag 1972, S. 22-50, hier S. 39. Zur Frage, ob Alfred Schütz für die Theorien rationalen Handelns in Anspruch genommen werden darf, Esser, Hartmut, Die Rationalität des Alltagshandelns. Eine Rekonstruktion der Handlungstheorie von Alfred Schütz, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 20 (1991), S. 430-445; ders., Alltagshandeln und Verstehen. Zum Verhältnis von erklärender und verstehender Soziologie am Beispiel von Alfred Schütz und „Rational choice", Tübingen 1991. Kunz, Volker, Empirische Ökonomik, Marburg 1996, S. 138. Vgl. Scholz, Oliver R., Verstehen und Rationalität. Untersuchungen von
Hermeneutik und
Sprachphilosophie,
Frankfurt/Main 1999. Zur
den
Grundlagen
Bedeutung
der Rationa-
zu
Erklären und Erzählen: Narrative
Erklärungen historischer Sachverhalte
145
verschmelzen genau an diesem Punkt. Mit anderen Worten: Der erklärende Kern des gesamten Erklärungsmodells besteht im Verstehen der individuellen Handlungen, die einen Sachverhalt verursacht haben.44 Dazu ist es nicht nötig, diesen Sachverhalt als seinerseits intendiert aufzufassen. Genau dies wird im dritten Schritt, in der Logik der Aggregation, thematisiert. Selbstverständlich begegnet der Historiker nur allzu oft Phänomenen, die „nicht als Resultat der Absicht verständlich gemacht werden können, die genau das wollte, was geschehen ist."45 Dabei hat gerade dieser Aspekt immer wieder den Einspruch von Geschichtsphilosophen gegen das intentionale Erklären herausgefordert. So argumentiert etwa auch Frank Ankersmit:
„If we say for instance that the French Revolution runs from the noble revolt in 1788 to the downfall of Robespierre in 1794, then the downfall of Robespierre
certainly is the end of the French Revolution (and the last episode to be mentioned in a narratio on the French Revolution) but decidedly not its goal. A general hypothesis relating the goal and the means of attaining the goal [...] supplemented by the premiss that someone or something wants to attain the goal, constitutes in general an insufficient basis for structuring the narratio simply because historical phenomena usually have no goal."46
litätsannahme im alltäglichen Verstehen vgl. ders., Wie versteht man eine Person? Zum Streit über die Form der Alltagspsychologie, in: Analyse & Kritik, Jg. 21 (1999), S. 75-96. Der zur Zeit einzige Geschichtstheoretiker, der diese Rationalitätsannahme ernst nimmt, ist wohl Jerzy Topolski. Er schreibt (Topolski, Jerzy, A Non-Postmodernist Analysis of Historical Narratives, in: Ders. (Hg.), Historiography Between Modernism and Postmodernism. Contributions to the Methodology of the Historical Research, Amsterdam/ Atlanta 1994, S. 985, hier S. 70): "In my opinion, the most important thing in a model of the explanation of human actions is the assumption of the rationality of the agent. This does not mean ascribing the agent absolute rationality but merely practical (human) rationality, that is the endeavour to make the action consistent with one's beliefs and the adopted goal(s) of action." Historiker arbeiten jedoch seit langem mit dieser Annahme, auch wenn dies so gut wie nirgendwo klar formuliert wird. So lange sie versucht haben, historische Akteure zu verstehen, haben sie nichts anderes getan, als ihnen subjektive Rationalität zuzugestehen und danach zu fragen, wieso ihr Handeln subjektiv rational war. RÜSEN, JÖRN, Gesetze, Erklärungen (wie Anm. 24), hier S. 167. Siehe auch das oben angeführte Zitat von Jürgen Habermas. Ankersmit, Frank, Narrative Logic. A Semantic Analysis of the Historian's Language, The Hague u.a. 1983, S. 44. Dieser eher triviale Einwand ist leicht zu entkräften. Zum einen unterstellt niemand „historischen Phänomenen" Ziele, sondern lediglich Handelnden. Zum anderen unterstellt niemand, dass ein einziges Handlungsgesetz in einer einzigen großen Handlung einen gesamten historischen Prozess durchmisst. Es wird lediglich behauptet, dass der kollektive Sachverhalt, den Historiker in der Regel zu erklären versuchen, für gewöhnlich das Ergebnis vieler individueller Handlungen in ihrer Wechselwirkung ist. Und das gilt zwei-
146
Andreas Frings
Interessanterweise teilen die Historische Sozialwissenschaft und viele Strömungen der neueren Kulturgeschichte und der Historischen Kulturwissenschaften das Problem, Gesetzmäßigkeiten auf der Makroebene sozialer oder eben kultureller Zusammenhänge zu suchen. Diskurse beispielsweise entwickeln, so Michel Foucault und sein Exeget Philipp Sarasin, eine Eigengesetzlichkeit, die den Sprecher sprechen lässt, was auch immer der Diskurs fordert.47 Ähnliche Probleme, nur weniger offensichtlich, ergeben sich in symbolorientierten Arbeiten, die vielleicht die sozial definierte Semantik von Symbolen entschlüsseln können, damit aber keine Handlungstheorie verknüpfen, die den Gebrauch bestimmter Symbole und damit ihre Bevorzugung vor anderen in konkreten Handlungssitaationen deduktiv erklären können.48 Der Historiker muss jedoch keineswegs den Weg der Historischen Sozialwissenschaft gehen, aus der Ablehnung der Hermeneutik einerseits und aus einem allzu voraussetzungsvollen Verständnis von Sozialtheorie andererseits den erklärenden Zugang zu kollektiven Sachverhalten kausal auf der Makroebene sozialer Zusam-
menhänge zu suchen. felsohne auch für die Hinrichtung Robespierres (für die dies sogar besonders unproblematisch zu zeigen wäre). Vgl. hierzu Sarasin, Philipp, Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, in: Ders., Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt am Main 2003, S. 10-60, hier S. 19, 37, 41 u.a.; Foucault, Michel, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main 1974; ders., Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1981; ders., Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt am Main 2003; kritisch hierzu und die obige Überlegung länger ausführend Frings, Andreas/ Marx, Johannes, Wenn Diskurse baden gehen. Eine handlungstheoretische Fundierung der Diskursanalyse, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jg. 16 (2005), S. 81-105 (Nachdruck in: Eder, Franz X. (Hg.), Historische Diskursanalysen. Genealogie, Theorie, Anwendungen, Wiesbaden 2006, S. 91-112). So stellt Sarasin etwa Foucaults Diskursbegriff affirmativ vor, der „Diskurse als autonome Gebilde konzipiert (...), die im Grunde auf kein Außen angewiesen sind, um zu funktionieren, sondern sich aus sich selbst speisen und die auftauchen und wieder verschwinden, ohne dass dafür ein diskursexterner Grand angegeben werden könnte" (ebenda, S. 51). Vgl. beispielsweise die Ausführungen von Clifford Geertz zu seinem eigenen, als semiotisch bezeichneten Kulturbegriff: „Als ineinandergreifende Systeme auslegbarer Zeichen (wie ich unter Nichtbeachtung landläufiger Verwendungen Symbole bezeichnen würde) ist Kultur keine Instanz, der gesellschaftliche Ereignisse, Verhaltensweisen, Institutionen oder Prozesse kausal zugeordnet werden könnten." Geertz, Clifford, Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Kultur von Kultur, in: Ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/Main 1995, S. 7-43, hier S. 21. Ein Plädoyer, das skizzierte Erklärungsmodell (ähnlich wie hier angedeutet) als Heuristik zur Rekonstruktion von Theorien zu nutzen, um ihre Schwächen zu identifizieren, bei Marx, Johannes, Vielfalt oder Einheit der Theorien in den internationalen Beziehungen. Eine systematische Rekonstruktion, Integration und Bewertung, Baden-Baden 2006.
Erklären und Erzählen: Narrative Erklärungen historischer Sachverhalte
147
Stattdessen ist es wesentlich weniger voraussetzungsvoll, zunächst von nicht intendierten Folgen intentionalen Handelns auszugehen. Es gilt also zu zeigen, wie die relevante Menge an individuellen Handlungsentscheidungen und Handlungen das kollektive Explanandum in der Interaktion verursacht hat.49 Das entspräche der methodischen Forderung des Methodologischen Individualismus, „alles soziale Geschehen auf die Handlungen der beteiligten Individuen zurückzuführen".50 Begreift man die Interaktion von Handelnden und die Aufeinanderfolge aufeinander bezogener Handlungen, die in ihrer Aggregation ein kollektives Explanandum ergeben, als Prozess, so löst sich auch der Vorwurf allzu statischer Konzeptionen, der sozialtheoretischen Überlegungen mitunter gemacht wird, auf. Jede Handlung eines Handelnden verändert und beeinflusst mutmaßlich die Situationswahrnehmung eines anderen Akteurs, so dass der Wandel von etwas in der Zeit, den Danto zum Kern seiner Ausführungen machte, keine Überraschung mehr darstellt; er ist dann das logische Ergebnis aufeinander folgender Handlungen. Gleichzeitig löst sich die vermeintliche Statik auf, die der graphischen Umsetzung des strukturindividualistischen Erklärungsmodells innewohnt.
Wissenschaftstheoretische Einordnung:
Historisch-genetische
Erklärung Mehr noch, in einer dynamischen Leseweise fügt sich dieses Erklärungsmodell ohne weitere Probleme in das Modell einer historisch-genetischen Erklärung, wie Wolfgang Stegmüller sie beispielsweise beschrieben hat, ein. In einer historischgenetischen Erklärung ist der historische Prozess nicht alleine aus seinem Anfangszustand und der Kenntnis der wichtigsten Gesetzmäßigkeiten deduktiv ableitbar. Stattdessen beeinflussen immer wieder neue Elemente, die zu Beginn eines Prozesses noch nicht existieren, an irgendeinem Zeitpunkt den Prozess. Genau an diesem Punkt müssen sie theoretische Berücksichtigung finden. 49
50
Dieser Schritt muss in der Erklärung eines singulären historischen Sachverhaltes nicht theoretisch gelöst werden, sondern sollte als empirisches Problem begriffen werden. Interessanterweise wird dieser dritte Schritt in der sozialwissenschaftlichen Literatur jedoch häufig mit nomologischen Annahmen darüber gefüllt, wie bestimmte Handlungen sich typischerweise aggregieren. Auch hier gilt: Für die Zwecke einer nomothetischen, an Prognosen interessierten und Modell bildenden Sozialwissenschaft ist dieses Vorgehen sehr nützlich. Erklärungen für historisch singuläre Sachverhalte liefert es jedoch kaum. Albert, Methodologischer Individualismus und historische Analyse (wie Anm. 39), S. 219. Erst wenn dieser Versuch endgültig gescheitert ist, sollte man dazu übergehen, den erklärenden Zugang zu kollektiven Sachverhalten kausal auf der Makroebene sozialer Zusammenhänge zu suchen. Bisher konnte jedoch für keinen Sachverhalt abschließend gezeigt werden, dass er einer methodologisch-individualistischen Erklärung prinzipiell nicht zugänglich ist.
Andreas
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Frings
Stegmüller unterscheidet dabei kausal-genetische von historisch-genetischen Erklärungen. In kausal-genetischen Erklärungen ist das Explanandum das Ergebnis eines Entwicklungsprozesses, in dem ein Schritt den nächsten kausal verursacht und vom vorhergehenden verursacht wird. Die Kenntnis der relevanten Entwicklungsgesetze und des Anfangszustandes erlaubt also über die Zwischenschritte des Prozesses eine Erklärung des gesamten Prozesses und des Prozessergebnisses.51 In historisch-genetischen Erklärungen hingegen ist dies anders: „Es genügt hier nicht, die Ausgangskonstellation zu beschreiben und mittels bekannter Gesetzmäßigkeiten auf die folgenden Zustände zu schließen. Vielmehr müssen immer wieder reine Beschreibungen von Situationen eingeschoben werden, die in diesem Zusammenhang nicht erklärt werden."52 Das Modell der
historisch-genetischen Erklärung entlastet den Historiker von den Zumutungen historizistischer Zugänge, die Gesetze der Geschichte suchen. In diesem Modell gibt es eben kein eines Gesetz, das den gesamten historischen Prozess abdeckt, sondern in jedem Entwicklungsschritt können Elemente hinzutreten, die eine aus vorherigen Erfahrungen eigentlich zu erwartende Entwicklung in eine neue Richtung lenken, Elemente, die in der theoriegeleiteten Erklärung voriger Schritte keine Berücksichtigung fanden, in eben diesem Schritt aber möglicherweise eine zentrale Rolle spielen. Da nun nicht mehr der ganze historische Prozess unter ein Gesetz oder eine Theorie subsumiert wird, ist es auch unproblematisch, in 51
52
Die Nähe zwischen kausal-genetischer und historisch-genetischer Erklärung zeigt sich beispielsweise an der Verwendung des Begriffes Pfadabhängigkeit in den Sozial-, Wirtschafts- und Geschichtswissenschaften. Theoretisch informierte Leser verwenden diesen Begriff im Sinne eines institutionellen Arrangements, das Handlungsweisen begünstigt, die seine Perpetuierung fördern. Auf diese Weise sind institutionelle Arrangements, die aus einer bestimmten Perspektive suboptimal sein mögen, dennoch dauerhaft. Diese Lesart wäre historisch-genetisch zu nennen. Vgl. zu einer solchen offenen Leseweise aus methodologischer Perspektive Pierson, Paul, Increasing Returns, Path Dependence, and the Study of Politics, in: The American Political Science Review, Jg. 94 (2000), S. 251-267; ders., Not just What, but When. Timing and Sequence in Political Processes, in: Studies in American Political Development, Jg. 14 (2000), S. 72-92; ders., Politics in Time. History, Institutions, and Social Analysis, Princeton u.a. 2004. Es gibt jedoch auch eine kausal-genetische Lesart, derzufolge Geschichte auf der Makroebene Geschehen determiniert; Pfadabhängigkeit, hier in der Regel nur noch metaphorisch verwendet, dient dann als quasi-Erklärang auf Grund vermeintlich großer Entwicklungsgesetze in der Geschichte. Vgl. hierzu beispielsweise Hellie, Richard, The Structure of Russian Imperial History, in: History and Theory, Jg. 44 (2005), S. 88-112. Stegmüller, Historische, psychologische und rationale Erklärung (wie Anm. 21), S. 408. Formal ausgedrückt (ebenda, S. 411): „S'2, S'n sind jene Sätze, die Tatsachen beschreiben, welche aus den vorangehenden Zuständen als Antecedensdaten erklärt werden können. Dn dagegen stellen zusätzliche Informationen dar, die ohne Erklärung eingeschoben D2, werden müssen, um eine hinreichend umfassende Klasse von Antecedensdaten für die Ableitung des nächsten Zustandes zu erhalten." Kursive jeweils im Original. ...,
...,
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Erklärungen historischer Sachverhalte
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jeder Handlungssituation Situationsaspekte, die in einem vorhergehenden Erzählschritt keine Rolle spielten, einzuführen, ohne dass es sich dabei schon um ad-hoc eingeführte, rettende Hypothesen handelt. In diesem Modell historisch-genetischer Erklärungen stellt es nun kein Problem mehr dar, verschiedene Erklärungsschritte jeweils für sich in Form einer strukturindividualistischen Erklärung zu vollziehen. Dann ist es nämlich auch möglich, die für die jeweilige Handlungssituation tatsächlich handlungsrelevanten Faktoren in die Erklärung einzubeziehen, ohne dass diese Faktoren im jeweils vorhergehenden oder folgenden Schritt die gleiche kausale Rolle spielen müssen. Dass sich Handlungssituationen (d.h. Umwelten) ständig ändern können und dies auch das Handeln und Verhalten der Akteure beeinflusst, ist dann für die Theorie nicht problematisch, da sie weiterhin mit einer gleich bleibenden nomologischen Annahme (der subjektiven Handlungsrationalität) arbeitet. Und es stellt beispielsweise auch kein theore-
tisches Problem dar, wenn sich die Präferenzen der Akteure mit sich wandelnden Umwelten ändern; dass, wie häufig kritisiert, neoklassische Ökonomen ihre Modelle häufig mit stabilen Präferenzen von Akteuren gestalten, ist lediglich ein Schritt zur Komplexitätsreduktion, den Historiker gerade nicht nachvollziehen müssen.
Vorläufiges Fazit Welche Vorteile hat nun ein solches Erklärungsverständnis? Zum einen entspricht es der Folgerungsbedingung des deduktiv-nomologischen Erklärungsschemas: Das Explanandum muss aus dem Explanans logisch ableitbar sein. Die Ableitung wird in diesem Erklärungsverständnis durch die hermeneutisch ohnehin notwendige Rationalitätspräsumption möglich gemacht. Auch die Gesetzesbedingung ist erfüllt: Das Explanans enthält mindestens einen allgemeinen Satz. Darüber hinaus ist es aber auch mit dem Konzept einer narrativen Erklärung vereinbar, wie es sich aus der Konfrontation zwischen Arthur C. Danto und Frederick Olafson herausgeschält hat. Narrative Erklärungen sind dann zu verstehen als spezifische Typen kausalen Erklärens, die den zeitlichen Wandel von etwas erklären, indem sie zeigen, was den Wandel verursacht hat. Narrative Erklärungen haben demnach einen Anfang, eine Mitte und ein Ende und in diesem Sinne die Grundstruktur einer Erzählung. Zugleich beruhen narrative Erklärungen jedoch konstitutiv auf Handlungen von Menschen. Eine Analyse, die die Ebene individuellen Handelns unberücksichtigt lässt, wäre somit keine narrative Erklärung. Mehr noch, eine historische Erklärung, die die Ebene individuellen Handelns unberücksichtigt lässt (etwa die Foucaultsche Diskursanalyse), wird generell unvollständig sein. Historische Erklärungen sind jedoch, und das ist eine Konsequenz aus dem hier vertretenen Erklärungsmodell, notwendigerweise narrativ, da sie zur Vollständigkeit
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der Ebene individueller Handlungen bedürfen.53 Hier steckt der eigentliche nomologische Kern historischen Erklärens, die hermeneutische Rationalitätspräsumption. Historische Erklärungen, die den nomologischen Anteil auf der Makroebene sozialer Sachverhalte suchen, lassen den handelnden Menschen zum Ausführenden ihn extern determinierender Programme verkümmern.54 Führt man diese Überlegungen weiter, dann haben so verstandene historische Erklärungen noch weitere Vorteile. Sie wären zum einen vergleichsweise theoriearm. Was aus wissenschaftstheoretischer Sicht zunächst nach einer Schwäche klingen mag, nämlich ein möglichst schwacher nomologischer Kern mit einer großen Menge an Einzelaussagen im Explanans, ist in der konkreten historischen Erklärung sehr erklärungsstark. Das Ziel einer solchen Vorgehensweise ist nämlich nicht die Generierung möglichst weit tragender Theorien, sondern die bestmögliche Erklärung historisch singulärer Sachverhalte. Gleichzeitig ermöglicht jedoch die Einführung zusätzlicher nomologischer Annahmen vergleichende Zugriffe und Modellbildungen für spezifische Erklärungsprobleme. Nicht zuletzt wird aber auch die falsche Dichotomie zwischen Erklären und Verstehen aufgehoben, wenn man Verstehen als die eigentlich erklärende Leistung in diesem Modell begreift.
Alternative Verständnisse der Narrativität historischer
Erklärungen Damit unterscheidet sich das hier vorgestellte Erklärungsmodell stark von anderen Konzeptionen narrativen Erklärens, auf die ich nun abschließend kurz eingehen und die ich dabei insbesondere im Hinblick auf ihre innere Konsistenz untersuchen möchte.
Genau hier liegt der Unterschied zur Rekonstruktion der historischen Erklärung durch Pape, Der Spiegel der Vergangenheit (wie Anm. 35), S. 158: „Sie [die historische Darstellung; A.F.] kann im engeren Sinne erzählend sein oder auch andere, eher diskursive Formen annehmen. Die narrative Form hat nichts zu tun mit der Wahrheit einer historischen Darstellung oder mit ihrer Leistung als Kausalerklärung." Hierin folgt Pape Kocka, Zurück zur Erzählung (wie Anm. 35) sowie Murphey, Murray G., The Philosophical Foundations of Historical Knowledge, Albany 1994. Zulässig wäre jedoch, auch in historischen Arbeiten, vor allem in vergleichenden Studien, nomologische Annahmen im ersten und im dritten Erklärungsschritt zuzulassen. Auf diese Weise würden historische Modelle entstehen, die eine gewisse zeit-räumlich begrenzte Generalisierung erkennen lassen und hierin sicher einen großen heuristischen Wert haben. Tatsächlich kommt auch dies in historischen Arbeiten sehr häufig vor, was jedoch deshalb nicht immer auffällt, weil die nomologischen Annahmen nicht (oder zumindest nicht als nomologische Annahmen, sondern in allgemeinsprachlicher Form) expliziert werden. Modellbildungen dieser Art wären jedoch als Erklärung singulärer Fälle wenig geeignet.
Erklären und Erzählen: Narrative
Erklärungen historischer Sachverhalte
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Hayden White: Literaturwissenschaftliche Perspektiven prominentesten sind hier sicher die Überlegungen Hayden Whites, der davon ausgeht, dass vergangene Ereignisse in der historischen Darstellung nicht im streng wissenschaftlichen Sinne erklärt werden, sondern ihre Erklärung durch Einbindung der Ereignisse in einen plot erfolgt: Am
„Zunächst werden die Elemente des historischen Feldes55 durch die Anordnung der erörternden Ereignisse in der zeitlichen Reihenfolge ihres Auftretens zu einer Chronik organisiert; dann wird die Chronik durch eine weitere Aufbereitung der Ereignisse zu Bestandteilen eines .Schauspiels' oder Geschehniszusammenhangs, in dem man klar einen Anfang, eine Mitte und einen Schluss glaubt unterscheiden zu können, in eine Fabel umgewandelt."56 zu
Der Historiker knüpft dabei an vertraute Erzählformen an, um einen Anschein von Erklärung zu erzeugen. Dies tut er auf drei Ebenen, der Ebene des emplotment als Romanze, Tragödie, Komödie oder Satire, der Ebene der formalen Argumentation (formativistisch, organizistisch, mechanistisch oder kontextualistisch) und der Ebene der ideologischen Implikationen (anarchistisch, radikal, konservativ oder liberal). Alle drei Ebenen korrespondieren in einer nicht weiter geklärten Weise mit einer vierten Ebene der Tropen, unterschieden in Metapher, Metonymie, Synekdoche und Ironie. Hayden White postuliert nun, dass der Erklärungseffekt im Wiedererkennen vertrauter Erzählmuster besteht:
„Und wenn er [der Leser; A.F.] die Klasse oder den Typ der von ihm gelesenen Geschichte erkannt hat, stellt sich bei ihm die Wirkung ein, dass ihm die Ereignisse in der Geschichte als erklärt erscheinen; er ist dann nicht nur der Geschichte erfolgreich gefolgt, er hat auch begriffen, worum es in ihr geht, hat sie verstanden. Die ursprüngliche Fremdheit, das Geheimnisvolle oder Exotische der Ereignisse ist aufgehoben, und sie nehmen eine vertraute Gestalt an, nicht im Detail, aber als Elemente einer vertrauten Art von Anordnung (configuration). Sie werden dadurch verstehbar gemacht, dass sie den Kategorien der Plotstruktur subsumiert werden, in der sie als Geschichte bestimmter Art kodiert sind."57 55 56
„Historisches Feld" nennt Hayden White zuvor die ,,rohe[n] historischefn] Aufzeichnung". White, Hayden, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt/Main
57
1991, S. 19. White, Hayden, Der historische Text als literarisches Kunstwerk, in: Ders., Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart 1986, S. 101-122, hier S. 107. Ähnlich auch Veyne, Geschichtsschreibung, S. 69: „Tatsächlich geht Geschichte niemals über diese sehr einfache Ebene der Erklärung hinaus: Sie ist und bleibt grundsätzlich eine Erzählung, ein Bericht, und was man Erklärung nennt, ist kaum mehr als die
Eigenschaft der Erzählung, sich in Form einer verständlichen Fabel zu or-
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spezifischen emplotment, der jeweiligen formalen Argumentation, der ideologischen Implikationen, vor allem aber die tropische Grundstruktar sind nicht epistemologisch begründbar und zu rechtfertigen, da sie nicht dem historischen Geschehen entsprechen, sondern Ausfluss jeweiliger Dispositionen des Historikers und somit der historischen Analyse vorgängig sind.58 Fundament dieser Überlegungen ist die Tropologie: Die narrativen Grundtropen strukturieren die historische Erzählung vor. Entscheidend für die Richtigkeit der Konzeptionen Hayden Whites wäre nun vor allem, dass sie wahr sind, dass also seine Ausführungen beispielsweise über die Historiker des 19. Jahrhunderts (eine historische Darstellung) diese angemessen analysieren und ihnen nicht bereits in einer tropisch vorstruktarierten Analyse begegnen. Offenkundig musste sich Hayden White hier in einem Zirkel bewegen. White könnte sich jedoch mit dem Hinweis retten, dass er im Gegensatz zur wesentlich künstlerischen Geschichtsschreibung Wissenschaft betreibt; und auf diesem Feld ist er Realist, d.h. er geht selbstverständlich von einer Welt aus, die vom erkennenden Subjekt unabhängig ist und angemessen repräsentiert werden kann. White selbst ist dann 'Literaturwissenschaftler und seine Aufgabe besteht in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Literatur, zu der unter anderem auch die Geschichtsschreibung gehört.59 Die Wahl des
-
ganisieren." Veyne bindet jedoch diesen Verständlichkeitseffekt der Fabel nicht an eine Typologie von emplotments. In gewisser Weise trifft sich Hayden White hier mit Hans Michael Baumgartner, der Erzählung ebenfalls als der historischen Analyse vorgängiges Prinzip begreift, auch wenn er keine Tropologie benennt. Vgl. Baumgartner, Hans Michael, Erzählung und Theorie in der Geschichte, in: Theorie und Erzählung in der Geschichte, hrsg. von Kocka, Jürgen/ Nipperdey, Thomas, München 1979, S. 259-289, hier S. 261-262: „In der Geschichtswissenschaft, d.h. in Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung ist Erzählung (als eigentümliche Formgebung und Strakturierung des Materials) das charakteristische organisierende Prinzip, das im Rahmen von gleichsam apriorischen Grunddimensionen (Natur-Mensch-Gesellschaft) theoretische Erkenntnisse aus beliebigen Nachbardisziplinen nach Maßgabe empirischer Kenntnisse, tradierter Bedeutungsinterpretationen und schon vorliegender Erzählungen zur Beschreibung und Erklärung signifikanter Ereigniszüge einzubringen, anzuwenden und fruchtbar zu machen erlaubt." Nach Baumgartner strukturieren nämlich nicht Theorien den Gegenstand historischer Erkenntnis, sondern das gemeinsame Prinzip der Erzählung, das so die Homogenität des Gegenstands stiften soll. Vgl. auch die eingangs angeführte Definition der Erzählung von Hans Michael Baumgartner. Dies ist vor allem auch deshalb wichtig, weil es zeigt, dass Hayden White keineswegs ein radikaler Denker des linguistic turn ist, im Gegenteil: Er vertritt implizit einen klassischen Realismus, den man getrost im 19. Jahrhundert verorten dürfte. Vgl. zu dieser Problematik die Kritik Noël Carrolls an Hayden White in CARROLL, NOËL, Interpretation, History and Narrative, in: The Monist, Jg. 73 (1990), S. 134-166 [nachgedruckt in Roberts, The History and Narrative Reader, wie Anm. 3, S. 246-266]. Überzeugend ist dieser Ausbruch aus dem
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Hayden White überträgt somit eine erzähltheoretische Konzeption, die Unterscheidung von story und plot, auf historiographische Darstellungen. Sie unterstellen, dass die an sich ungeordnete oder zumindest nur chronologisch geordnete Geschichte (story), eine amorphe Masse von Ereignissen, durch den plot des Historikers zu einer kohärenten Geschichte gestaltet werde. Dieser plot ist der Geschichte selbst nicht inhärent. Es wird also zwischen reinen Tatsachenfeststellungen, deren Wahrheitswert korrespondenztheoretisch zu prüfen wäre, und der Erzählung als Ganzer, die eher ästhetisch beurteilt werden muss, unterschieden. Da der plot der historischen Darstellung angehöre, nicht aber dem historischen Geschehen an sich inhärent sei, könne die historische Darstellung als Ganze nicht korrespondenztheoretisch geprüft werden. Insofern sei eine narrative Erklärung dann auch etwas völlig Anderes als eine kausale Erklärung in anderen Wissenschaften, denn der eigentlich erklärende Kern narrativer Erklärungen sei das mit der Erzählung untrennbar verbundene fiktive Element des plot. Problematisch ist an dieser Idee des emplotment zweierlei. Zunächst geht Hayden White davon aus, dass Historiker zwangsläufig auf der Suche nach einer kohärenten Erzählung seien, die durch einen plot garantiert werde. Dazu arbeite der Historiker aktiv mit dem Belegmaterial: „Die Ereignisse werden zu einer Geschichte gemacht durch das Weglassen oder die Unterordnung bestimmter Ereignisse und die Hervorhebung anderer, durch Wechsel in Ton und Perspektive, durch ähnlichem kurz mit Hilfe all der die wir normalerweise Aufbau beim einer Plotstruktur eines Romans Verfahren, oder eines Dramas erwarten."60
Beschreibung, motivische Wiederholung, alternative Beschreibungsverfahren und
-
Interessanterweise tun aber auch die von Hayden White als echte Wissenschaft betrachteten Naturwissenschaften nichts anderes: Naturwissenschaftler lassen in einer Analyse ihrer Experimente manche Beobachtung weg, heben eine andere Zirkel ohnehin nicht. Hayden White analysiert Historiker des 19. Jahrhunderts. Dazu entwickelt er Analysekriterien, die er an die Quellen (die Werke der untersuchten Historiker) anlegt. Seine Arbeit unterscheidet sich also in keinster Weise von der der untersuchten Historiker. Damit musste sein Analyseapparat selbstreflexiv sein, also sowohl für die Historiker des 19. Jahrhunderts als auch für seine eigene Analyse gelten. Und das führt offenbar in eine Paradoxie: Entweder White trifft eine gültige Aussage über die Historiker des 19. Jahrhunderts dann ist seine Theorie aber auf ihn selbst nicht anwendbar, also nicht selbstreflexiv, insofern er ja dann faktisch (und nicht fiktional) erzählt. Seine Aussagen über die Historiker des 19. Jahrhunderts stünden damit auf mehr als wackeligem Boden. Oder er legt selbst eine Analyse vor, die durch ein emplotment hindurchgegangen ist und insofern keine faktische Aussage über die Historiker des 19. Jahrhunderts mehr treffen kann. Wie man dieses Dilemma „metaironisch" lösen kann, hat Hayden White leider nicht gezeigt. White, Der historische Text als literarisches Kunstwerk (wie Anm. 57), S. 104.
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60
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hervor und beschreiben wieder eine andere als weniger wichtig. Sie tan dies vor dem Hintergrund ihrer Fragestellung und ihrer theoretischen Überzeugungen und nichts anderes tan Historiker, wenn sie nach Sichtung ihrer empirischen Belege und vor dem Hintergrund ihrer Fragestellung und ihrer theoretischen Überzeugungen manche Ereignisse als für das Explanandum kausal irrelevant ausscheiden, andere als kausal wenig relevant beschreiben und wieder andere als kausal sehr relevant hervorheben. Dass sie dabei mit beschreibenden Passagen, motivischen Wiederholungen oder einem Wechsel in Ton und Perspektive arbeiten, hat mitunter auch ästhetische Gründe; vor dem Hintergrund der Suche nach Erklärungen für historische Sachverhalte jedoch dienen sie in der Regel auch der Argumentation. Diese Ebenen können in Hayden Whites Tropologie nicht auseinandergehalten werden, da Hayden White die ästhetische Ebene a priori als einzig entscheidende setzt und eine logisch-argumentative Ebene nur als literarischen Effekt anerkennt. Whites Konzeption setzt zudem voraus, dass der Wissenschaftler, der einen historisch singulären Sachverhalt erklären möchte, dem historischen Geschehen etwas (den plot) hinzufügt, ohne dass Hayden White hierfür logisch zwingende Gründe angeben kann. Nicht nur die jeweils vier Ausprägungen der drei Modi der Erklärung und der Tropen61, sondern auch diese Modi der Erklärung und die Tropen selbst werden bei Hayden White ad hoc eingeführt und nicht ihrerseits theoretisch begründet. Wieso ein solches Schema Sinn macht, kann White nicht einmal im -
Ansatz begründen. Nicht zuletzt kann man auch den Wiedererkennungseffekt, den Hayden White für den explanatorischen Effekt verantwortlich macht und der als Indiz für die Richtigkeit seiner Überlegungen herhalten muss, wesentlich voraussetzungsärmer erklären. Historische Darstellungen befremden nämlich in der Regel zunächst dadurch, dass die in ihnen beschriebenen sozialen und kulturellen Sachverhalte insofern fremd wirken, als dass sie einer anderen (oder gar keiner) Rationalität zu folgen scheinen. Die Erklärungsleistang des Historikers besteht nach der hier vertretenen Theorie darin, nun die subjektiven Rationalitäten in diesen sozialen und kulturellen Kontexten zu rekonstruieren; und damit stellt sich beim Lesen ein Wiedererkennungseffekt ein. So hätte der Leser in diesem Kontext vielleicht auch gehandelt darin besteht die hermeneutische Leistung des Vertrautmachens wie auch die Erklärungsleistang des Historikers. Jene Funktion, die White dem emplotment zuschreibt, wird im hier vertretenen Konzept einer narrativen Erklärung also durch eine Handlungstheorie übernommen, die sehr wohl als Aussage über reale Verursachungen verstanden wird. Und damit verschwindet auch das fiktive Element -
61
Wie oben angesprochen, handelt es sich hier 1) um das emplotment als Romanze, Tragödie, Komödie oder Satire, 2) um die formale Argumentation (formativistisch, organizistisch, mechanistisch oder kontextualistisch) und 3) um die ideologischen Implikationen (anarchistisch, radikal, konservativ oder liberal). Alle drei Modi korrespondieren 4) mit Tropen (Metapher, Metonymie, Synekdoche und Ironie).
Erklären und Erzählen: Narrative
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der logischen Analyse historischer Darstellungen62, ohne dass dies bedeutet, dass literaturwissenschaftliche Analysen historischer Darstellungen an sich sinnlos seien.63 aus
Frank Ankersmit:
Repräsentation durch Narrative Substanzen
In ähnlicher
Weise, nur ohne die offensichtlich unnötige Bindung an vier Dimensides Erzählens mit jeweils vier Ausprägungen, propagiert auch der niederländische Geschichtstheoretiker Frank Ankersmit ein besonderes emplotment des historischen Materials: onen
„Die Narration reproduziert keinen bestimmten Zusammenhang, der bereits in der Vergangenheit selbst anwesend ist, sondern gibt oder verleiht der Vergangenheit einen Zusammenhang."64
Zu diesem nen
Ergebnis kommt er durch eine strikte Trennung von statements, einzelAussagen über die Vergangenheit, die in einem korrespondenztheoretischen
Sinne wahr sein können, und der narratio. Die Narration stifte einen Zusarnmen62
63
64
Interessanterweise ziehen sich selbst Historiker, die sich auf Hayden White berufen, in der Verteidigung ihrer eigenen historischen Darstellungen immer wieder auf das empirische Material, die Quellen, zurück. Zumindest kenne ich keinen lebenden Historiker, der seine eigene Darstellung eines historischen Sachverhaltes mit dem Hinweis verteidigt, sie sei „ästhetisch wahr", „tropisch wahr" oder „metaphorisch wahr". Vgl. hierzu Topolski, A NonPostmodernist Analysis of Historical Narratives (wie Anm. 44), hier S. 34: "White's rhetoric proposals and his analyses resulting from the same inspirations have not had, at least for the time being, any marked practical importance for professional historians." Ähnlich KittsteiNER, Heinz Dieter, Der iconic rum in der Geschichtswissenschaft, Frankfurt/Oder 2001, Download unter http://cms.euv-frankfurt-o.de/multimedia/kittsteiner-id-730-nonactive-1 .pdf (19.04.2007), S. 1: „Nun, die Historiker haben bald erkannt, dass die Whitesche Tropologie für die Geschichte als Forschung keinerlei Bedeutung hatte [...]." Ähnlich Flaig, Egon, Kinderkrankheiten der Neueren Kulturgeschichte, in: Rechtshistorisches Journal, Jg. 18 (1999), S. 458-476. Es ist nur wichtig, die Grenzen einer solchen literaturwissenschaftlichen Analyse zu sehen. Sie kann beispielsweise nichts über den Bezug historischer Darstellungen zur außersprachlichen Wirklichkeit sagen und genau dies behauptet Hayden White zu leisten! Ankersmit, Frank, Denken over geschiedenis. Een overzicht van moderne geschiedfilosofische opvattingen, Groningen 1983, S. 186. Zitiert nach Lorenz, Konstruktion der Vergangenheit (wie Anm. 16), S. 137. Frank Ankersmit betont hingegen eher den Unterschied seiner sprachphilosophisch geprägten Konzeption von den literaturtheoretisch geprägten Überlegungen Hayden Whites. Vgl. ders., Vom Nutzen und Nachteil der Literaturtheorie für die Geschichtstheorie, in: Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart, hrsg. von Fulda, Daniel/ Tschopp, Silvia Serena, Berlin u.a. 2002, S. 13-37. -
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der mehr sei als die Summe der einzelnen statements. Diese seien zwar einzeln auf ihre Wahrheit hin überprüfbar; gleichzeitig trügen sie jedoch zur Repräsentation der Vergangenheit in einer Narration bei, die eben nicht mehr korrespondenztheoretisch wahr sein könne.65 Das Mehr der Narration bestehe in einem metaphorisch ausdrückbaren Gesichtspunkt wie etwa der Herbst des Mittelalters (Huizinga) oder die Renaissance.66 Dieser stifte Zusammenhänge der Aussagen miteinander, in Ankersmits Worten eine „Narrative Substanz" (in Ankersmits Abbreviatur „Ns"), wobei die Aussagen in ihrem gegenseitigen Verweiszusammenhang die Narrative Substanz definierten und jede Aussage in diesem Zusammenhang somit notwendig sei.67 Insofern sei jede Narrative Substanz in sich logisch notwendig und damit eine
hang,
vollständige Erklärung: 65
66
67
Einen ähnlichen Ausgangspunkt für die Argumentation wählt ROTH, PAUL A.: How Narratives Explain, in: Social Research, Jg. 56 (1989), S. 449-478, hier S. 454: "More troubling, however, is realizing that the truth value of a history will not be some simple function of the truth value of its individual statements of fact." Dagegen Abell, Narrative Explanation (wie Anm. 7), S. 297: "If one assumes narratives are designed to describe and explain events and actions as they have actually occurred in the world, then their truth-value is the logical conjunction of the truth-value of their constituent past-referring causal propositions and nothing more. A narrative is true if and only if each of its constituent propositions is true." Hier wird deutlich, dass Ankersmit eng an „deutenden" historischen Arbeiten argumentiert. So schreibt etwa ders., Vom Nutzen und Nachteil der Literaturtheorie für die Geschichtstheorie, S. 22: „Als (eine Summe von) Beschreibungen sollte ein historischer Text keinen Anstoß erregen. Das ist gewissermaßen die ,Oberfläche'. Aber ein historischer Text, der uns nur genaue Beschreibungen der Vergangenheit liefert, reicht nicht aus: Der Text sollte uns auch die Persönlichkeit' der Epoche vermitteln (oder eines Aspektes davon), mit der er sich befasst." Was eine „Epoche" und was ihre „Persönlichkeit" (der „Geist der Zeiten"? der „Weltgeist" gar? oder das „Wesen" einer Epoche?) ist, bleibt ungeklärt. Wissenschaftlich arbeitende Historiker dürften ihre Aufgabe jedenfalls nicht unbedingt in der „Wesensschau" sehen, die einer lange überholten, einfachen Abbildtheorie der historischen Repräsentation angehören dürfte. Ähnlich auch ders., Six Theses on Narrativist Philosophy of History, in: History and Tropology. The Rise and Fall of Metaphor, Berkeley u.a. 1994 [nachgedruckt in Roberts, The History and Narrative Reader, wie Anm. 3, S. 236-245], S. 33-43, hier S. 33, These 1: „Historical narratives are interpretations of the past." Tatsächlich interpretieren Historiker nicht "the past", sondern sie bemühen sich in der Regel, Sachverhalte "in the past", d.h. vergangene Sachverhalte, zu erklären. Entscheidend ist, ähnlich wie bei Hayden White, auch für Ankersmit, dass die Abfolge historischer Ereignisse an sich ungeordnet sei. So schreibt ANKERSMIT, Narrative Logic (wie Anm. 46), S. 83: „The past as such cannot be understood by us: in itself, the past is a meaningless myriad of facts, states and events, an amorphous chaos of data that successfully resists a ,conscious apprehension' by the historian." Dazu ist dreierlei zu sagen: Erstens ist es irrelevant, ob die Vergangenheit meaningless ist, denn es ist keineswegs Aufgabe des Historikers, vergangenem Geschehen einen Sinn zu stiften oder zuzuschreiben. Zweitens ist es nicht Aufgabe des Historikers, die Vergangenheit zu verstehen; das Verstehen als methodische Operation bezieht sich vielmehr auf menschliche Handlungen (darunter auch Sprach-
Erklären und Erzählen: Narrative
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„Thus, when the past (i.e. not Nss) is described in terms (of the narrative statements) of Nss, we can say that the past has been explained, because the Nss
embodying such an explanation could not have been different. The explanandum (i.e. part of the past) is explained by what defines the narratio's scope (i.e. the statements contained in a Ns). And the necessity that reigns in the narrativist universe forces us to accept these narrative accounts of the past, just as the necessity that ties together explanans and explanandum forces us to accept explanations that conform to the CLM [covering-law-Modell, d.h. das deduktivnomologische Erklärungsmodell; A.F.]."68 Daher besäße die narrative Erklärung des Historikers dann auch eine zwingende erklärende Kraft. Gesetze und deduktive Argumentationen spielen in diesem Zusammenhang keine Rolle; stattdessen entscheide die Harmonie der monadisch gedachten Narrativen Substanz.69 Problematisch ist insbesondere, dass Explanans und Explanandum bei Ankersmit offenbar ineinander fallen: Das Explanandum besteht aus all dem, was über die Vergangenheit (in den narrativen statements) ausgesagt wird. Die Narrative Substanz wiederum und ihr Geltungsbereich werden durch den Zusammenhang der narrativen statements definiert; „what defines the narratio's scope" ist somit der gesamte Text. Wie unter diesen Bedingungen Explanans und Explanandum noch getrennt werden können, ist ungeklärt.70
handlungen) in der Vergangenheit. Und wenn Ankersmit drittens die Behauptung aufrechterhalten will, dass die Vergangenheit ein amorphes Chaos an Daten sei, dann verwechselt er die Ebenen der Daten (Belege) und der zu erklärenden Wirklichkeit und muss zudem, wenn man diese Vermischung tatsächlich vornehmen will, in Kauf nehmen, dass er kausale Verursachungen in der Welt ablehnt denn diese würden bereits mehr als ein amorphes Datenchaos begründen. Ankersmit, Narrative Logic (wie Anm. 46), S. 245. Vielleicht liegt hier auch ein Missverständnis auf Grund eines unscharfen Gebrauchs des Begriffes past vor. Vgl. dazu Saari, Heikki, On Frank Ankersmit's Postmodemist Theory of Historical Narrativity, in: Rethinking History, Jg. 9 (2005), S. 5-21, v.a. S. 7-8. Vgl. Ankersmit, Narrative Logic (wie Anm. 46), S. 231 : "Leibniz appointed to God the task (and the capacity) of figuring out what sequence of realized states of affairs would result in the most harmonious universe. Similarly, the historian has to figure out which sequence of -
statements on the past will result in the most harmonious narratio." Zusammenfassend ebenda, S. 232: "The necessity reigning on the linguistic level guarantees that phenomena in
reality have been explained."
Kritisch hierzu Lorenz, Chris, Kann Geschichte wahr sein? Zu den narrativen Geschichtsphilosophien von Hayden White und Frank Ankersmit, in: Konstruktion von Wirklichkeit (wie Anm. 16), S. 33-63, hier S. 35: „Die Narration wird nun als autonome sprachliche Entität begriffen, deren formale Eigenschaften die Ebene deskriptiver Aussagen (einzelner Existenzurteile) transzendieren, auch wenn sie sich aus solchen Aussagen zusammensetzt." Die
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Zudem stimmt die Analogie zwischen narrativer und deduktiver Erklärung nicht. Niemand zwingt uns, eine deduktive Erklärung anzuerkennen, wenn bestimmte Bedingungen nicht erfüllt sind und die deduktive Ableitung beispielsweise nicht
ist. Unter welchen Bedingungen man eine narrative Erklärung ablehnen musste, sagt Ankersmit jedoch nicht. Und so musste man, Ankersmit folgend, David Irvings Schriften über die Shoa wohl gleichwertig neben den Arbeiten wissenschaftlich verfahrender Historiker akzeptieren, da sie die zwingende Erklärungskraft in sich tragen. Lediglich die größte Zahl der statements in Irvings Werk wären als unwahr zurückzuweisen.71 Tatsächlich aber geht Ankersmit noch einen Schritt weiter. Mehrere historische Darstellungen sind nur hinsichtlich ihres scope miteinander vergleichbar: korrekt
erfolgt
„The most objective narratio, the narratio having the widest scope, is the least conventional, the most original narratio. Thus, the essential duty of the historian is
original and to refrain as much as possible from repeating what his predecessors in the investigation of a particular topic have said."72 Und spätestens an diesem scope würde dann nicht etwa David Irving, sondern eben jeder wissenschaftliche Historiker scheitern, der den Forschungsstand zur Shoa to
unter
be
einer bestimmten
Konsequenz. ist
Fragestellung lediglich
zusammenfasst
eine absurde
-
Viel fundamentaler ist jedoch ein anderes Problem. Ankersmits Argumentation nur vor dem Hintergrund eines naiven Realismus sinnvoll, wie ihn etwa auch
White vertritt (und nur für die Geschichtsschreibung negiert). Zwar bezeichnet Ankersmit sich selbst als narrativen Idealisten, dem er die narrativen Realisten gegenüberstellt. Diese Position gilt jedoch nur im Hinblick auf die gesamte Erzählung. Einzelne statements betrachtet er ja durchaus als theorielos-empirisch, wenn auch mit schwachen Argumenten:
Hayden
"Lastly, since historians always use a-theoretical, ordinary language it would be improper to apply the thesis of the ,theory-ladenness of empirical facts' to the descriptive content of narrative statements."73
Erklärung
ist also
so etwas wie eine emergente Eigenschaft der Menge der statements, die spezifische Verbindung gestiftet wird und nicht auf sie reduziert werden kann. Wieso das so sein soll, kann Ankersmit jedoch nicht zwingend belegen. Eine ähnliche Kritik wurde auch an Hayden White geübt, der daraufhin einige Positionen zurücknahm. Vgl. die Diskussion in Friedländer, Saul, Probing the limits of representation. Nazism and the "Final Solution", Cambridge/Mass. u.a. 1992. Ankersmit, Narrative Logic (wie Anm. 46), S. 239. Ankersmit, Narrative Logic (wie Anm. 46), S. 219.
erst durch ihre
Erklären und Erzählen: Narrative
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Folgt man der beschriebenen linguistischen Wende seit Willard Van Orman Quine, dann kann man die Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Sätzen nicht mehr aufrechterhalten,74 und dann hat jede Aussage sowohl theoretischen als auch empirischen Gehalt75 ohne dass dies durch den Gebrauch einer vermeintlich theoriefreien ordinary language beeinflusst würde, wie Ankersmit annimmt.76 Selbstverständlich erheben Historiker den Anspruch, dass sich nicht nur ihre state-
ments, sondern auch die gesamte Narration auf die vergangene Wirklichkeit beziehen. Versteht man die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Tatsachenaussagen als Hypothesen über den empirischen Zusammenhang der in ihnen geschilderten Sachverhalte, dann können diese Zusammenhänge auch als korrespondenztheoretisch wahr oder falsch verstanden werden.77 Geht es um Erklärungen, dann sind dies Kausalzusammenhänge.78 Darin unterscheiden sich historische nicht von sozial-, kultur- oder gar naturwissenschaftlichen Analysen.
Vgl. Quine, Two Dogmas of Empiricism (wie Anm. 15), hier S. 20: "Modern empiricism has been conditioned in large part by two dogmas. One is a belief in some fundamental cleavage between truths which are analytic, or grounded in meanings independently of matters of fact, and truth which are synthetic, or grounded in fact. [...] Both dogmas, I shall argue, are ill founded." Das heißt
beispielsweise, dass sich jede Aussage sowohl auf die Wirklichkeit bezieht (und empirische Behauptung aufstellt) als auch dass jede Aussage innerhalb der gesamten Erklärung eine logische Rolle einnimmt, also Teil der Theorie über das Geschehen ist und somit, wenn eine Aussage innerhalb der gesamten Erklärung Widerspräche verursacht, Probleme für die Erklärung als Ganze (die sich als solche ebenfalls auf die Wirklichkeit bezieht) entstehen. Mehr noch, der empirische Bezug der einzelnen Aussage ist immer von der gesamten Theorie abhängig, mit anderen Worten: Im Grande steht immer die Theorie als Ganze zur Disposition (Duhem-Quine-These, wissenschaftstheoretischer Holismus), wobei man niemals zu einem abschließenden Urteil, zu einer endgültigen Verifikation oder Falsifikation gelangen wird, da die Theorie an jeder beliebigen Stelle so korrigiert werden kann, dass Widerspräche beseitigt werden. Ohnehin dürfte Ankersmit in Erklärungsnöte geraten, wenn man ihm die zahllosen Arbeiten von Historikern vorlegt, die sehr wohl bewussten Gebrauch von „theoretischen" Sprachen machen und eben nicht nur alltagssprachlich argumentieren. Das spielt für mein Argument jedoch keine Rolle. Vgl. Pape, Der Spiegel der Vergangenheit (wie Anm. 35), S. 122: „[...] kausale Beziehungen sind empirische Tatsachen [...]." Vgl. Pape, Der Spiegel der Vergangenheit (wie Anm. 35), S. 22: „Nur wenn und insofern wir Geschichtsdarstellungen als problemorientierte, kausale Theorien über ein historisches Gesomit eine
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schehen
auffassen, lassen sich diese rational evaluieren."
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David Carr: Eine phänomenologische Alternative? Hayden White und Frank Ankersmit gleichen sich darin, dass sie die Kohärenz der Erzählung in einem Erzählzusammenhang begründet sehen, der der historischen Wirklichkeit nicht zu Eigen sei. Historiker erzählen; die Welt hingegen ist an sich keine Erzählung; ergo ist die Erzählung des Historikers eine Form, die der Welt etwas hinzugibt. Ganz anders sieht dies der Phänomenologe David Carr. Ähnlich wie im hier vertretenen Konzept sieht er eine strukturelle Übereinstimmung von Welt und Erzählung jedoch auf einer anderen Ebene. Seiner Überzeugung nach sind Ereignisse bereits narrativ strukturiert: -
not merely a possibly successful way of describing events; its in the events themselves. Far from being a formal distortion of the inheres structure events it relates, a narrative account is an extension of one of their primary
„Narrative is features."79
begreift Carr Erzählung nicht bloß als eine strukturiert präsentierte Folge von Ereignissen, sondern zudem als etwas, das ein Erzähler einer Zuhörerschaft erzählt. Nun hat das „Leben" nach Carr eben die gleichen Eigenschaften: Es sei nämlich keine strukturlose Folge isolierter Ereignisse, sondern immer schon durch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft strukturiert. Dies zumindest glaubt Carr aus der unmittelbaren menschlichen Erfahrung der Welt ableiten zu können.80 Handlungen beispielsweise wiesen eine „means-end-structare" auf, die der „beginning-middleDabei
end-structure" von Narrativen verwandt sei. Als Handelnder befinde man sich immer in der Mitte: „In action we are always in the midst of something, caught in the suspense of contingency which is supposed to find its resolution in the completion of our project."81 79
An Argument for Continuity, in: History and 25 (1986), S. 117-131. Vgl. auch sein im gleichen Jahr erschienes Buch: Time, Narrative, and History, Bloomington u.a. 1986. Eine kurze und präzise Zusammenfassung findet man auch bei ders., Getting the Story Straight. Narrative and Historical Knowledge, in: Historiography between Modernism and Postmodernism (wie Anm. 44), S. 119-133, v.a. S. 119-123. Streng genommen präzisiert Carr nirgendwo, ob nun das Leben selbst (life) oder die menschliche Erfahrung für die narrative Strukturiertheit verantwortlich gemacht werden kann. So sagt er in Carr, Narrative and the real world (wie Anm. 79), S. 122: "Thus the events of life are anything but a mere sequence; they constitute rather a complex structure of temporal configurations that interlock and receive their definition and their meaning from within action itself." Es macht aber einen Unterschied, ob die narrative Struktur eine Eigenschaft der Ereignisse des Lebens selbst oder der menschlichen Erfahrung ist. Carr, Narrative and the real world (wie Anm. 79), S. 122.
Carr, David, Narrative and the Real World.
Theory, Jg.
80
81
Erklären und Erzählen: Narrative
Erklärungen historischer Sachverhalte
161
Zudem setzt eine Erzählung voraus, dass 1. in einer guten Erzählung nur das für die Entwicklung des plot Notwendige erzählt wird, 2. der Erzähler den plot in einer Weise kennt, in der er der Zuhörerschaft überlegen ist, und 3. der Erzähler in einer ex postSituation erzählt, also Rückschau halten kann.82 Laut Carr gilt eben dies in gleicher Weise für den Menschen, der sein Leben im Erzählen selbst lebt. Die Rückschau mag ihm in einem strengen Sinne zwar nicht möglich sein; aber dafür projiziert er seine Handlungsabsichten im Futur II als bereits abgeschlossen, was ihm das Erzählen einer laufenden Handlung ermöglicht, auch wenn die erhofften Handlungsfolgen dann nicht eintreten.83 Dabei ist der Mensch in diesem Sinne Erzähler, Zuhörer und Handelnder seiner eigenen Geschichte. Carr geht jedoch über diese Erste-Person-Singular-Perspektive hinaus. Geschichte, so Carr, befasse sich in der Regel mit sozialen Gruppen und nicht bloß einzelnen Handelnden. Das Gleiche gelte aber auch für den Einzelnen, der sein Handeln immer auf eine soziale Gruppe hin ausrichte und an dieser Gruppe teilhabe. Die Art und Weise, wie ein Einzelner sein Leben erzähle und lebe, sei der Art und Weise, wie soziale Gruppen sich über das Erzählen ihrer Herkunft, ihres Schicksales in der Zukunft und ihrer gegenwärtigen Handlungen konstituierten, strukturell gleich:
experience in common when we grasp a sequence of events as a temporal configuration such that its present phase derives its significance from its relation to a common past and future. [...] Social human time, like individual human time, is constructed into configured sequences which make up the events and projects of our common action and experience. As before, I think the structure of social time can be called a narrative structure, not only because it has the same sort of closure and configuration we found at the individual level, but also because this very structure is again made possible by a kind of reflexivity which is comparable to that of a narrative voice."84 „We have
an
Mit diesen Überlegungen hat Carr jedoch nur einen Punkt der Argumentationen von Hayden White, Louis Mink oder Frank Ankersmit angegriffen: das Postulat, die Wirklichkeit habe keine narrative Struktur, die Erzählung hingegen schon. Carr 82 83
84
Vgl. Carr, Narrative and the real world (wie Anm. 79), S. 123. Dass Menschen aber das Ende ihrer Handlungen nur vermuten oder erhoffen können, ist ein Problem, das der Historiker in seiner Darstellung nicht kennt. Ausgangspunkt der historischen Erzählung ist unter anderem das dem Historiker schon bekannte Ende eines Prozesses, das er nämlich selbst als Teil des Explanandums setzt. Und diesen für die Geschichtstheorie zentralen Punkt übersieht Carr völlig. Vgl. hierzu Danto, Analytische Philosophie der Geschichte (wie Anm. 1); TOPOLSKI, JERZY, Historical Narrative. Towards a Coherent Structure, in: History and Theory, Jg. 26 (1987) [=Heft 4/ Beiheft 26: The Representation of Historical Events], S. 75-86, hier S. 80-82. Carr, Narrative and the Real World (wie Anm. 79),
S. 127-128.
Andreas
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versucht zu zeigen, dass auch die Wirklichkeit narrativ strukturiert sei, wobei offen bleibt, ob die narrative Struktur eine Eigenschaft der menschlichen Erfahrung der Welt oder des menschlichen Lebens selbst ist. Nach Carr teilt die historische Erzählung die narrative Struktur mit dem menschlichen Leben. Offen bleibt jedoch, wie nun die menschliche Erfahrung einer narrativ strukturierten Welt in eine historische Darstellung transformiert wird. Genau diesen heiklen Punkt umgeht Carr:
„The practical first-order narrative process that constitutes
a person or a a become second-order narrative whose is community subject unchanged but whose interest is primarily cognitive or aesthetic. This change in interest may also bring about a change in content for example, an historian may tell a story about a community which is very different from the story the community (through its leaders, journalists, and others) tells about itself. The form, nonetheless, remains the same. Thus I am not claiming that second-order narratives, particular in history, simply mirror or reproduce the first-order narratives that constitute their subjectcan
-
matter."85 Carrs eigentliche Absicht war es jedoch gewesen, dass das historische Erzählen dem historischen Geschehen nichts hinzugibt und kein fiktionales Element enthält.86 Diese Behauptung könnte er aber nur aufrechterhalten, wenn der Historiker die Geschichte, die ein Einzelner oder eine soziale Gruppe sich selbst erzählt, nacherzählen würde. Das ist jedoch (gottseidank) nicht der Fall, was Carr selbst 85
86
Carr, Narrative and the Real World (wie Anm. 79), S. 131. Würde
man die Rolle des Historikers auf die bloße Nacherzählung reduzieren, so würde dies nach Carr auf eine „idealistische Identitätstheorie" hinauslaufen, die er ablehnt. Vgl. hierzu ders., Getting the Story Straight (wie Anm. 79), S. 124. Diesen Überlegungen sehr verwandt ist das Kulturverständnis des Ethnologen Clifford Geertz, das bei genauerem Lesen überraschend naiv-realistische Züge aufweist. Vgl. etwa Geertz, Clifford, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/Main 1983, S. 259: „Die Kultur eines Volkes besteht aus einem Ensemble aus Texten, die ihrerseits wieder Ensembles sind, und der Ethnologe bemüht sich, sie über die Schulter derjenigen, für die sie eigentlich gedacht sind, zu lesen." Ähnlich naiv-realistisch ders., ebenda, S. 160: „Gesellschaften bergen wie Menschenleben ihre eigene Interpretation in sich; man muss nur lernen, den Zugang zu ihnen zu gewinnen." Ebenfalls die Welt als lesbaren Text zu begreifen, bemühen sich beispielsweise Ricœur, Paul, Der Text als Modell. Hermeneutisches Verstehen, in: Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften, hrsg. von Gadamer, Hans-Georg/ Boehm, Gottfried, Frankfurt/Main 1978, S. 83-117, sowie Gadamer, Hans-Georg, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960. Kritisch zu Versuchen, die Welt als Text zu begreifen, Flaig, Egon, Geschichte ist kein Text. „Reflexive Anthropologie" am Beispiel der symbolischen Gaben im Römischen Reich, in: Dimensionen der Historik. Geschichtstheorie, Wissenschaftsgeschichte und Geschichtskultur heute, hrsg. von Blanke,
Horst Walter u.a., Köln u.a. 1998, S. 345-360.
Erklären und Erzählen: Narrative
Erklärungen historischer Sachverhalte
163
zugibt. Das eigentliche Problem ist somit nicht gelöst; ob die historische Darstellung dem historischen Geschehen auf Grund ihrer notwendigerweise erzählenden Form etwas hinzufügt, was dem Geschehen nicht zu Eigen ist, kann Carr nicht diskutieren.
Zusammenfassung Es erscheint mir somit nicht
notwendig, allzu voraussetzungsvolle literaturwissenschaftliche Konzeptionen etwa vom emplotment des historischen Geschehens in der historischen Erzählung oder von der narrativen Strukturierung der menschlichen Welterfahrung anzunehmen. Literaturwissenschaftliche Konzeptionen, die nicht dazu entwickelt wurden, den Bezug von Texten auf eine außerhalb der Texte liegende Wirklichkeit zu thematisieren, können den Bezug historiographischer Texte auf vergangene Wirklichkeiten schlechterdings nicht erklären oder negieren. Das emplotment der historischen Erklärung besteht im Postulieren von kausalen Relevanzen von Sachverhalten auf spätere Sachverhalte. Dabei geht der Historiker durchaus davon aus, dass er die tatsächlichen Ursachen eines historischen Wandels erfasst hat. Insofern wird dem historischen Geschehen keine erzählende Struktur auferlegt. Es ist daher auch fraglich, ob die hier vorgetragenen Überlegungen umgekehrt für literaturwissenschaftliches Arbeiten fruchtbar gemacht werden könnten.87 Begreift man Erzählungen als Repräsentationen von Geschehnisfolgen, unter denen vor allem Handlungen von Menschen eine zentrale Rolle spielen, dann sind historische Erklärungen faktisch nicht durchgehend, aber doch sehr häufig narrativ strukturiert. Es gab und gibt jedoch historische Erklärungsversuche und Darstellungsformen, in denen der handelnde Mensch nur eine untergeordnete oder gar keine Rolle spielt. Erklärungsversuche dieser Art wurden beispielsweise in der sogenannten Historischen Sozialwissenschaft unternommen. Die Kritik jüngerer Historiker an diesen Erklärungsversuchen richtete sich wenig überraschend daher oft gegen die Vernachlässigung der subjektiven Situationswahrnehmungen historischer Akteure, zu denen sie nicht nur „große Männer", sondern alle für eine bestimmte Fragestellung relevanten Handelnden verstanden. Gleichzeitig etablierten sich jedoch im weiteren Kontext der sogenannten Neueren Kulturgeschichte neue Erklärungsmuster wie etwa die Foucaultsche Diskursanalyse, die ebenfalls weitgehend ohne handelnde Menschen auskamen. 87
Möglich wäre dies allenfalls, wenn man wieder explizit den Autor als Schreibhandelnden in die Analyse aufnimmt, den literarischen Text als Ergebnis einer Handlung begreift und beispielsweise nach den Ursachen für den Boom bestimmter literarischer Gattungen zu einem bestimmten Zeitpunkt fragt. Ob das für die Literaturwissenschaft ein interessantes Anliegen ist, vermag ich nicht zu beurteilen.
Andreas
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Frings
Der vorliegende Artikel sollte zeigen, dass dies notwendigerweise in Erklärungslücken führen muss. Bisher wurden Gesetzmäßigkeiten auf der Makroebene sozialer, politischer, ökonomischer oder kultureller Strukturen nicht gefunden. Solche Gesetzmäßigkeiten brauchte man jedoch, um tatsächlich eine Erklärung historischer Prozesse vorzulegen, die ohne den Bezug auf Handelnde auskommt. Deren Handeln wäre dann nur Ausdruck von Strukturen, so wie etwa individuelle Sprachhandlungen nach Foucault nur als Ausdruck diskursiver Strukturen denkbar sind. Das damit verbundene Menschenbild hätte zur Konsequenz, dass sozialer, kultureller oder anderer Wandel im historischen Prozess nur noch durch Entelechien und damit im Kern teleologisch erklärt werden kann worauf die diskursiven Eigengesetzlichkeiten ja auch hindeuten. Bezieht man hingegen menschliche Handlungen in die Erklärung ein, so ist nicht nur Wandel besser erklärbar, sondern auch Variationen menschlichen Handelns, die dann Ausfluss jeweils subjektiver Sitaationswahrnehmungen sind. Wenn sich Historiker auf das hier vertretene Erklärungsmodell einließen, dann wären tatsächlich alle historischen Erklärungen narrative Erklärungen, also Erklärungen, die das soziale Handeln von Menschen in der zeitlichen Aufeinanderfolge in den Mittelpunkt rücken. Von der Einbeziehung menschlicher Handlungen und Handlungsentscheidungen hängt die Güte historischer Erklärung ab wird die Ebene individuellen Handelns vernachlässigt, dann hat nicht nur der Erklärungsvorschlag eine explanatorische Lücke, sondern auch die Narration ist unvollständig. Und insofern alle historischen Wissenschaften mit den systematischen Kultur- und Sozialwissenschaften das Interesse am sozial handelnden Menschen teilen, sind ihre Erklärungen, sofern sie dabei den Wandel von etwas in der Zeit im Blick haben und ihre Erklärungsgegenstände dementsprechend historisieren müssen, notwendigerweise narrativ. -
-
Johannes Marx
Kultur und Rationalität. Das ökonomische Forschungsprogramm als theoretische Grundlage einer kulturwissenschaftlich orientierten Sozialwissenschaft
Einleitung einigen Jahren verstärkt auf den der Kulturwissenschaften zurückgegriffen. Im Einzelnen scheint das konBegriff krete Programm der Kulturwissenschaften jedoch relativ unklar zu sein. Auf der einen Seite gibt es Vertreter der Kulturwissenschaften, die bestreiten, dass Kultur ein kausaler Verursacher sei, andererseits wird Kultur zur Erklärung fast aller menschlichen Handlungen und Produkte herangezogen.1 So werden Konflikte kulturell erklärt und es wird nach den kulturellen Grundlagen wirtschaftlichen Wohlstands geforscht.2 Diese unklare Ausgangslage ist der Anlass für diesen Artikel. Sein zentraler Gegenstand ist die Suche nach einem adäquaten Umgang mit kulturellen Sachverhalten in den Sozialwissenschaften. Diese Frage ist insofern problematisch, als dass je In den Geistes- und Sozialwissenschaften wird seit
1
Vgl. Geertz, Clifford, Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Kultur von Kultur, in: ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frank-
2
Vgl.
furt/Main 1995, S. 7-43. zur kulturellen Erklärung von Konflikten HUNTINGTON, SAMUEL P., Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München 1998 und kritisch dazu Marx, Johannes, Does Culture matter? Eine kritische Betrachtung der These Huntingtons, wonach in kulturellen Differenzen die Ursache zukünftiger Konflikte liege, in: Symbol, Existenz, Lebenswelt. Kulturphilosophische Zugänge zur Interkulturalität, hrsg. von Gerlach, Hans-Martin/ Hütig, Andreas/ Immel, Oliver, Frankfurt 2004, S. 167-182 sowie zu kulturellen Grundlagen wirtschaftlichen Wohlstands Kunz, Volker, The effect of cultural factors, networks of voluntary associations, and democratic institutions on economic development. An international comparison, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 52 (2000), S. 195-225 sowie Wiswede, Günter, Soziologie. Grundlagen und Perspektiven für den wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Bereich, Landsberg 1998.
Johannes Marx
166
nach gewählter Definition und epistemologischem Standpunkt die Antwort anders ausfallen könnte. Im Forschungsstand finden sich Arbeiten, die die kausale Erklärbarkeit kultureller Phänomene rigoros ablehnen, ebenso wie in anderen Arbeiten Kultur beispielsweise als kausaler Verursacher für Wirtschaftswachstum betrachtet wird. Um die angesprochene Frage überhaupt diskutieren zu können, ist es daher notwendig, sich auf die folgenden grundsätzlichen Punkte zu verständigen: > Erstens muss ein Begriff der Kultur entwickelt werden, der in wissenschaftlichen Zusammenhängen einsetzbar ist. Hier geht es um die Frage der Operatio-
nalisierung. gilt
es, sich für ein Explanandum zu entscheiden: Soll die Wirkung Kultur auf etwas oder das Wirken anderer Sachverhalte auf Kultur untersucht werden? > Drittens muss man sich festlegen, welche theoretische Perspektive für die kultureller Sachverhalte Analyse geeignet ist. Auf dieser Grundlage soll dann eine Skizze einer theoretisch fundierten Kulturwissenschaft entwickelt werden. Anschließend soll gezeigt werden, dass das ökonomische Forschungsprogramm der geeignete theoretische Rahmen für ein solches Unterfangen darstellt. Das ökonomische Forschungsprogramm ist jedoch breit und vielfältig. Für die hier interessierenden Fragestellungen soll auf ein relativ unbekanntes Theoriemodell dieses Forschungsprogramms zurückgegriffen werden: die Theorie sozialer Produktionsfunktionen. Dieses Theoriemodell eignet sich gut, um Fragen der Wirkung von Kultur auf Handlungsorientierungen von Akteuren zu untersuchen.3 >
Zweitens von
Methodologische Bemerkungen zum Kulturbegriff Die Definitionen von Kultur sind vielfältig und häufig so ausführlich, dass kein Sachverhalt mehr durch die Definition ausgeschlossen ist. Eine frühe Definition findet sich bei Sir Edward Burnett Tylor: „Kultur im weiten ethnographischen Sinne des Wortes (...) ist jenes komplexe Ganze, das Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Recht, Sitte, Brauch und alle anderen Fähigkeiten und Gewohnheiten umfasst, die der Mensch als Mitglied einer Gesellschaft erworben hat. Die Art der Kultur verschiedener menschlicher Gesellschaften ist, wenn sie nach allgemeinen Prinzipien untersucht wird, ein Gegenstand, der die Erforschung der Gesetze -
-
Rationalität und Kultur. Die verhaltenstheoretische Basis des Einflusses von Kultur auf Transaktionen, in: Sozialstruktur und Kultur, hrsg. von Haferkamp, Hans, Frankfurt 1990, S. 249- 287.
Vgl. Lindenberg, Siegwart,
Kultur und Rationalität
167
menschlichen Denkens und Handelns ermöglicht".4 Ganz ähnlich fasst es Marvin Harris in seinem kulturanthropologischen Klassiker zusammen. „Kultur (...) besteht sowohl aus den Ereignissen, die in den Köpfen der Menschen stattfinden, als auch aus Verhalten, das man von außen beobachten kann".5 Was aber ist gewonnen, wenn man den Begriff der Kultur in dieser umfassenden Weise auffasst? Problematisch ist bei dieser Definition von Kultur, dass bereits soziale Gewohnheiten und Lebensweisen und explizit auch Handlungen integriert sind. Damit kann Kultur z.B. nicht mehr als unabhängige Variable betrachtet und zur Erklärung von individuellem Handeln herangezogen werden. Was man bei einer solchen Untersuchung letztlich nur finden könnte, wäre ein rein begrifflicher Zusammenhang, da menschliche Handlungen bereits in der Definition von ,Kultur' enthalten sind. In diesem Sinne kann Kultur tatsächlich kein Verursacher sein, weil Kultur im so verstandenen Sinne zugleich Verursacher wie auch Verursachtes ist.6 Ein möglicher Maßstab, an dem die Qualität der Definition hier gemessen werden könnte, ist ihre Funktion im argumentativen Zusammenhang.7 Folgt man diesem Maßstab, so lässt sich der umfassende Kulturbegriff als inadäquate Definition für sozialwissenschaftliche Fragestellungen herausstellen. Der Begriff ist ungeeignet, um zentrale Problemfelder der Sozialwissenschaften wie beispielsweise die Frage nach der Genese und dem Wandel von Kultur zu untersuchen. Dies gilt, wenn 4
5 6
7
Tylor, Edward Burnett, Die Anfänge der Kultur. Untersuchungen über die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte, Hildesheim u.a. 2005, S. 1. Harris, Marvin, Kulturanthropologie. Ein Lehrbuch, Frankfurt u.a. 1989, S. 31.
Diese Definition findet man beispielsweise auch in explizit nomologisch orientierten Bereichen der Rational-Choice-Theorie. Vgl. ESSER, Hartmut, Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 6: Sinn und Kultur, Frankfurt 2001, auch wenn Esser selbst an anderer Stelle die theoretische Argumentation bietet, die es erlaubt, Wirkungen von Kultur auf menschliche Akteure zu diskutieren: vgl. Esser, Hartmut, Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 3: Soziales Handeln, Frankfurt 2000; Esser, Hartmut, Soziologie, Band 6, S. 203 f. Vgl. F0LLESDAL, Dagfinn/ Walloe, Lars/ Elster, Jon, Rationale Argumentation. Ein Grundkurs in Argumentations- und Wissenschaftstheorie, Berlin 1988, S. 291 f. Aufgrund der Ablehnung einer naiven korrespondenztheoretischen Beziehung zwischen Welt und Theorien kann das Kriterium für einen guten Begriff nicht in der Erfassung des Wesens des zu definierenden Phänomens liegen. Die Suche nach Realdefinitionen ist wissenschaftstheoretisch problematisch. Es fehlen dabei Kriterien, die anzeigen, wann das Wesen eines Dinges erfasst ist. Stattdessen ist es plausibler, Nominaldefmitionen zu verwenden. Dafür lassen sich Kriterien formulieren, die zur Qualitätseinschätzung gewählter Definitionen geeignet sind. So sollen beispielsweise Definitionen ihre Funktion im argumentativen Zusammenhang erfüllen. Im Definiens sollen Ausdrücke verwendet werden, die der Adressat der Äußerung bereits versteht. Zirkularität soll ebenso wie stark wertende und emotional besetzte Terme vermieden werden. Vgl. ebenda, S. 291 f. Vor diesem Hintergrund lässt sich dem Einwand, dass diese enge Definition von Kultur doch am Wesen der Kultur vorbeiginge, entgegnen, dass die Funktionalität einer Definition im Vordergrund stehe und das Wesen der Dinge ohnehin nicht über Definitionen zu erfassen ist.
Johannes Marx
168 menschliche
Handlungen ursächlich dafür verantwortlich machen möchte. Auch umgekehrt muss die Beeinflussung menschlichen Lebens durch Kultur ebenfalls als legitimer Gegenstand sozialwissenschaftlicher Untersuchungen ausgeschlossen werden, folgt man diesem breiten Kulturverständnis. Vor dem Hintergrund, dass diese beiden Zusammenhänge zentral für das Selbstman
verständnis der Kulturwissenschaften stehen, wird hier eine engere Definition von ,Kultur' gewählt. Eine notwendige Minimalforderung an die Definition des Kulturbegriffs lautet daher, dass die empirischen Sachverhalte ,menschliche Handlungen' und Kultur' begrifflich zu trennen sind. Dafür soll auf den politikwissenschaftlichen Kulturbegriff zurückgegriffen werden.8 Bei den Definitionsversuchen des Begriffs der Politischen Kultur' standen ganz ähnliche Probleme im Vordergrund. Das entscheidende Problem lag in der Abgrenzbarkeit des Begriffs von anderen politischen Konzepten wie der politischen Partizipation oder des politischen Verhaltens.9 Um eine unnötige Überdehnung des Kulturbegriffs zu vermeiden, bezieht man sich dort auf einen klaren und eingegrenzten Objektbereich, politische Kultur' wird deshalb als ein Konzept behandelt, das sich lediglich auf die Einstellungen von Personen bezieht. Daher fasst Gabriel politische Kultur' als die Einstellungen der Bürger gegenüber dem politischen System auf. Einstellung' wird definiert als „eine durch Erfahrung organisierte geistige Haltung, die die Reaktion einer Person auf Objekte oder Situationen aller Artbeeinflusst".10 Diese Definition soll nun als Ausgangspunkt für einen allgemeinen Kulturbegriff verwendet werden. Öffnet man den hier auf den Bereich des Politischen begrenzten Begriff, kann er auch für den nicht-politischen Bereich fruchtbar gemacht werden. Kultur soll im Folgenden verstanden werden als die Einstellungen von Menschen gegenüber allen Objekten und Situationen menschlichen Schaffens und Lebens. ,
,
Vgl. Berg-Schlosser, Dirk, Politische Kultur-Forschung Politische Deutungskulturen, hrsg. von Haberl, Othmar Baden 1999, S. 77-92.
Rückblick und Ausblick, in: N./ Korenke, Tobias, Baden-
Vgl. Gabriel, Oscar W., Politische Einstellungen und politische Kultur, in: Die EU-Staaten im Vergleich. Strukturen, Prozesse, Politikinhalte, hrsg. von Gabriel, Oscar W./ Brettschneider, Frank, Opladen 1994, S. 96-133; Kaase, Max, Sinn oder Unsinn des Konzepts politische Kultur' für die Vergleichende Politikforschung, oder auch: Der Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln, in: Wahlen und politisches System. Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl 1980, hrsg. von Kaase, Max/ Klingemann, Hans-Dieter, Opladen 1983, S. 144-171. Gabriel, Politische
Einstellungen und politische Kultur (wie Anm. 9).
Kultur und Rationalität
169
Wirkungen von und auf Kultur Auf der Grundlage dieses engeren Kulturbegriffs kann nun danach gefragt werden, welchen Sachverhalt man betrachten möchte: Soll die Wirkung von Kultur auf menschliches Verhalten oder die Wirkung auf Kultur von menschlichem Verhalten betrachtet werden? Bevor diese Fragen diskutiert werden können, müssen einige epistemologische Fragen angesprochen werden. In den neueren Kulturwissenschaften wird die nomologische Erklärbarkeit kultureller Phänomene von einigen Vertretern gänzlich in Frage gestellt und durch Varianten des deutenden Erzählens ersetzt. Dieser Verzicht wird sachlich damit begründet, dass Kultur weder kausal verursacht sei noch etwas kausal verursache. Stattdessen sei Kultur ein Gefüge von Symbolen, Vorstellungen oder Wahrnehmungen, dem man sich nur interpretierend nähern könne. ' ' Möglich sei daher nur eine narrative Vorgehensweise, die sich den kulturellen, sozialen und historischen Eigenheiten beschreibend annähere. Gegen diese Position ist auf einer trivialen Ebene natürlich nichts einzuwenden. Definiert man Kultur auf die oben präsentierte umfassende Weise und integriert man alle Bereiche des menschlichen Lebens in diesen einen Begriff, kann Kultur in der Tat nicht mehr als kausaler Verursacher oder kausal Verursachtes betrachtet werden, da nahezu alle Bereiche bereits in den Kulturbegriff integriert sind. Die Position ist trivial, da Kultur nur aufgrund definitorischer Unzulänglichkeiten nicht als Variable in deduktiv-nomologischen Zusammenhängen verwendet werden kann. Die Schwierigkeiten sind jedoch wie gezeigt auf prinzipieller Ebene zu beheben. Dafür soll auf den engeren Kulturbegriff der Politikwissenschaften zurückgegriffen werden. Dieser ermöglicht, Fragen nach der Wirkung von Kultur auf menschliches Handeln und umgekehrt zu formulieren. Damit sind zunächst jedoch nur die begrifflichen Schwierigkeiten bei der Formulierung kausaler Fragestellungen beseitigt. Ungeklärt bleibt weiterhin der angemessene epistemologische Anspruch kulturund sozialwissenschaftlicher Fragestellungen. Akzeptiert man die deduktive Herangehensweise jedoch auch für kulturwissenschaftliche Phänomene, dann kann die Frage nach dem gewünschten Explanandum gestellt werden. Aus der Perspektive einer deduktiv-orientierten Wissenschaft lässt sich einerseits nach den Ursachen für bestimmte kulturelle Ausprägungen fragen. Damit untersucht man Kultur als abhängige Variable. Oder man stellt andererseits die Wirkung von Kultur auf individuelles Verhalten in den Mittelpunkt und betrachtet damit Kultur als unabhängige Variable. In diesem Aufsatz wird die zweite Fragestellung im Vordergrund stehen. Im Folgenden wird daher die Frage der Wirkung von Kultur auf individuelles Verhalten untersucht werden. Geertz, Dichte Beschreibung (wie Anm. 1).
170
Johannes Marx
Rationalität und Hermeneutik Nach diesen grundsätzlichen Festlegungen kann nun die Frage nach einem angemessenen theoretisch-methodischen Rahmen für die geplante Untersuchung gestellt werden. Dafür ist es notwendig, die typischen Phänomene des kulturwissenschaftlichen Gegenstandsbereichs zu vergegenwärtigen.12 Schaut man sich kulturwissenschaftliche Einführungen an, bleibt dort häufig unklar, wie man sich die Wirkung von Kultur vorzustellen hat. Es finden sich lediglich Bemerkungen, dass Kultur für den Erwerb spezifischer individueller Schemata oder auch Frames verantwortlich sei.13 Auf solche Frames würden Akteure zurückgreifen, um die ansonsten unübersichtliche und überkomplexe Welt zu verstehen.14 Trotzdem wäre eine solche Konzeption nicht automatisch solipsistisch und einem sozialwissenschaftlichen Erkenntnisprozess prinzipiell entzogen. Solipsistisch wäre sie, wenn die individuellen Weltdeutungen kommunikativ nicht vermittelbar und von anderen Personen aus prinzipiellen Gründen nicht nachvollziehbar wären. Dies ist jedoch nicht der Fall, da „die Konstruktion der Wirklichkeit als sozialer Vorgang" zu begreifen ist.15 Schemata und Frames seien in einem hohen Maß sozial determiniert. Wichtige Elemente eines so verstandenen Sozialisationsprozesses sind Geschichte, Sprache und Kultur. Diese überindividuellen Träger von Bedeutung gewährleisten die soziale Dimension der individuellen Konstruktion von Wirklichkeit und kennzeichnen diesen Vermittlungsprozess als typisch sozialwissenschaftliche Fragestellung. Konkrete Ausführungen, wie man sich Frames nun vorzustellen hat, was Handlungsprogramme sind oder wie Kultur auf die Situationswahrnehmung und das Handeln von Akteuren wirkt, fehlen an den entsprechenden Stellen bei den angeführten Autoren. Damit zeigt sich die Notwendigkeit einer theoretischen Fundierung der Kulturwissenschaften. Gleichzeitig wird aus diesen knappen Bemerkungen ersichtlich, dass Wahrnehmungen, Kognitionsprozesse sowie Handlungen in einer theoretischen Fundierung der Kulturwissenschaften eine Rolle spielen sollten. Auf der einen Seite ziehen manche Wissenschaftler daraus den Schluss, dass kulturwissenschaftliche Fragestellungen lediglich hermeneutisch untersucht werden 12 13
Vgl. auch den Beitrag von Andreas Hütig in diesem Band. Vgl. Tanner, Jakob, Nation, Kommunikation und Gedächtnis. Die Produktivkraft des Imaginären und die Aktualität Ernest Renans, in: Politische Kollektive. Die Konstruktion nationaler, rassischer und ethnischer Gemeinschaften, hrsg. von JUREIT, Ulrike, Münster 2001, S. 46-67.
14
Bänsch, Alexandra, Zur kulturellen Konstruktion
von Gemeinschaften. Eine Einführung, Gemeinschaften. Schweden und Deutschland im ModerBänsch, Alexandra/ Henningsen, Bernd, Baden-Baden
in: Die kulturelle Konstruktion
nisierungsprozeß, hrsg. 15
von
von
2001, S. 9-33. Vgl. Bänsch, Zur kulturellen Konstruktion von Gemeinschaften (wie Anm. 14), S. 15.
Kultur und Rationalität
171
können und man gänzlich auf erklärende Herangehensweisen verzichten müsse.16 Andererseits finden sich Begriffe wie Wahrnehmung, Handlung, Schemata auch in Theorien mit explizitem Erklärungsanspruch wieder. Im Folgenden muss deshalb die Frage nach einem geeigneten theoretischen Zugriff diskutiert werden. Auch hier werden von einigen Autoren Hermeneutik und deduktive Herangehensweisen gegeneinander ausgespielt. Ihr Verhältnis zueinander soll im Folgenden geklärt werden. Dafür wird zunächst die hermeneutische Position dargestellt. Insbesondere das Erkenntnisziel und die Vorgehensweise der hermeneutischen Methode werden dabei im Mittelpunkt stehen.17 Die Zielsetzung der hermeneutischen Methode hat Dilthey in einer knappen Formulierung auf den Punkt gebracht: „die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir".18 Mit diesen Worten grenzt Dilthey die Geisteswissenschaften explizit von den Naturwissenschaften ab und zieht eine deutliche Trennungslinie zwischen den Begriffen ,Erklären' und ,Verstehen'. Die Methodik, die er für die Geisteswissenschaften an zentraler Stelle sieht, ist die Methodik des Verstehens: „Wir nennen den Vorgang, in welchem wir aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein Inneres erkennen: Verstehen".19 Dilthey grenzt sich hier gegen die rein logische Erklärungsmechanik von Mill ab. Diese deduktiv orientierte Vorgehensweise verhindere, das Seelenleben der Menschen in einem tieferen Sinn zu begreifen. Stattdessen müsse man menschliche Handlungen gleichsam von Innen heraus verstehen. Ähnlich argumentiert auch Wilhelm Windelband. Dieser war der Ansicht, dass sich die Geisteswissenschaften überhaupt nicht mit Gesetzmäßigkeiten zu befassen hätten, sondern einzelne Ereignisse in ihrer Komplexität betrachten sollten: „Die Geisteswissenschaften mit ihrer Methode des Verstehens haben das Individuelle, Einmalige und Unwiederholbare in eben dieser Einmaligkeit, Individualität und Unwiederholbarkeit zu erfassen, während die Erfahrungswissenschaften mit der Methode des Erklärens in völligem
16 17
18
19
Vgl. Geertz, Dichte Beschreibung (wie Anm. 1). Vgl. dazu einführend Poser, Hans, Wissenschaftstheorie. Eine philosophische Einführung, Stuttgart 2001, S. 209 f. Dilthey, Wilhelm, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, in: ders., Gesammelte Schriften, Band 5: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens, Erste Hälfte: Abhandlung zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, Stuttgart/ Göttingen
1964, S. 136-240, hier S. 144. Dilthey, Wilhelm, Die Entstehung der Hermeneutik. Band 5, in: ders., Gesammelte Schriften, Band 5: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens, Erste Hälfte: Abhandlung zur Grundlegung der Geisteswissenschaften (wie Anm. 18), S. 317-338, hier S. 317.
Johannes Marx
172
Gegensatz hierzu auf das Allgemeine, Gesetzmäßige, universeller Gesetzesaussagen abzielen".20 Auch
Wiederholbare in Gestalt
Ansätze der Kultur- und Geisteswissenschaften betonen die Unzukultureller Sachverhalte für nomologisch orientierte Herangehensweigänglichkeit sen und heben die Methodik des Verstehens dagegen heraus. Verstehen' bezeichnet in diesem Kontext sowohl das methodische Vorgehen, wie der Begriff auch für die Benennung des Ziels des kulturwissenschaftlichen Erkenntnisanspruchs verwendet wird. Im Folgenden soll jedoch mit Donald Davidson argumentiert werden, dass ^erstehen' keine Methode darstellt. Stattdessen braucht man eine solche, um zu verstehen.21 Die Methodik, die man bei Davidson findet, liegt in der Unterstellung einer Rationalitätspräsumption für jegliches menschliche Handeln.22 Die Rationalitätsunterstellung ist eine notwendige Voraussetzung, um Verstehen überhaupt zu ermöglichen. Um diese These zu begründen, entwickelt Davidson das Gedankenexperiment der radikalen Interpretation. Einem Feldlinguisten stehen nur diejenigen Daten zur Interpretation einer ihm fremden Sprache zur Verfügung, die unmittelbar beobachtbar sind. Davidson zeigt, dass mittels Beobachtungsdaten und der Rationalitätsunterstellung Verstehen möglich ist.23 Die Methodik, um menschliche Äußerungen und Handlungen zu verstehen, liegt damit in der Unterstellung einer Rationalitätsannahme. Dies ist möglich, da Handeln als absichtsvolles Handeln verstanden wird. Ein Akteur handelt aus einem Grund heraus, und dieser Grund rationalisiert sowohl sein Handeln wie er auch die Ursache für sein Handeln darstellt.24 Damit haben wir es bei der Rationalitätspräneuere
,
Windelband, Wilhelm, Geschichte und Naturwissenschaft, in: Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte, Band 2, hrsg. von Windelband, Wilhelm, Tübingen 1924, S. 145. Für eine ausführliche Diskussion der Handlungs- und Bedeutungstheorie von Davidson siehe den Beitrag von Spitzley in diesem Buch. Vgl. Davidson, Donald, Probleme der Rationalität, Frankfurt am Main 2006. Davidson, Donald, Inquiries into Truth and Interpretation, Oxford 1986; ders., Handlungen, Gründe, Ursachen, in: ders., Handlung und Ereignis, Frankfurt/Main 1990, S. 19-42. Zur Interpretation bedarf es streng genommen zwei Annahmen. Erstens ist eine Wahrheitsunterstellung notwendig. Zweitens braucht man eine Konsistenzunterstellung: Das heißt, (a) möglichst viel von dem, was ein Sprecher für wahr hält, ist auch wahr, und (b) die Sätze, die ein Sprecher für wahr hält, sind im Allgemeinen in sich und miteinander konsistent. Die Konsistenzunterstellung deckt sich mit der Rationalitätsunterstellung. Der Maßstab für Rationalität liegt in dem Verhältnis der Einstellungen bezüglich einer Handlung zu den sonstigen Einstellungen eines Akteurs. Rational verhält sich damit ein Akteur, bei dem die handlungsrelevanten Einstellungen mit seinen sonstigen Einstellungen konsistent sind. Vgl. Glüer, Kathrin, Donald Davidson zur Einführung, Hamburg 1993, S. 39 f.
Kultur und Rationalität
173
mit dem Kern einer deduktiv-orientierten Handlungstheorie zu tun. Wenn einem Akteur nicht die Eigenschaft zugesprochen werden kann, rational zu sein, dann sind weder seine Äußerungen noch seine Handlungen zu verstehen. Grundlegende Rationalität ist damit laut Davidson eine notwendige Bedingung, um überhaupt Einstellungen und Überzeugungen zu haben. Rationalität stellt damit die theoretische Verbindung zwischen Handeln und Bedeutung her. Folgt man dieser Argumentation, dann sollte sich die Rationalitätsannahme in einer kulturwissenschaftlichen Theorie an zentraler Stelle wieder finden. Schließlich ist sie für ihr genuines Erkenntnisinteresse notwendig. Üblicherweise ist diese Annahme jedoch für kulturwissenschaftliche Arbeiten eher unkonventionell. Stattdessen ist die Rationalitätsannahme für ökonomische Theorien kennzeichnend, deren Geltungsbereich Kultur nach allgemeiner Einschätzung üblicherweise gerade nicht beinhaltet.26
sumption
Kultur und Ökonomie? Bedenken gegen die Anwendung der ökonomischen Methode in den Kulturwissenschaften In diesem Abschnitt werden verschiedene Bedenken diskutiert, die gegen die Verwendung der ökonomischen Methode in den Kulturwissenschaften sprechen. Dies ist für Kulfurwissenschaftler zunächst ein unüblicher Zugriff. Es werden drei Arten von Bedenken geäußert, die gegen die Verwendung ökonomischer Theorien spre-
chen: > Erstens spricht man ökonomischen Theorien die Eignung für die Analyse nicht-ökonomischer Phänomene ab, weil der Erklärungsanspruch ohnehin nur schwer einzulösen ist, wenn er überhaupt für den Bereich der Wirtschaft Geltung beanspruchen dürfe. Kulturelle und soziale Phänomene lassen sich aus dieser Perspektive nicht unter dem Aspekt der Nützlichkeit betrachten.
Eine genaue Lektüre Davidsons zeigt, dass die mentale Verursachung physischer Phänomene weiterhin eine problematische Annahme darstellt. Lediglich aufgrund der Annahme einer Token-Identität mentaler und physischer Phänomene kann Davidson von einer singulären Verursachung physischer Phänomene durch mentale Zustände sprechen. Vgl. Beckermann, Ansgar, Mentale Eigenschaften und mentale Substanzen Antworten der Analytischen Philosophie auf das 'Leib-Seele-Problem', in: Philosophische Psychologie, hrsg. von Lorenz, Ulrich, Freiburg i.Br. u.a. 2003, S. 203-221. Dennoch handelt es sich hierbei um eine Theorie mit Erklärungsanspruch. Vgl. Quandt, Markus/ Ohr, Dieter, Worum geht es, wenn es um nichts geht? Zum Stellenwert von Niedrigkostensituationen in der Rational Choice-Modellierung normkonformen Handelns, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 56 (2004), S. 683707. -
Johannes Marx
174 >
Zweitens wird argumentiert, dass Präferenzen im Rahmen der Rational Choice-Theorie immer exogen sind und gesetzt werden. Ihr Wandel oder ihre Genese kann damit nicht zum Gegenstand einer Rational Choice-Untersuchung werden. Für die Kulturwissenschaften wäre aber gerade diese Frage interessant.
Position, dass es zwar möglich sei, Rational Choice für kulturwissenschaftliche Fragestellungen zu modifizieren, sich dadurch aber der theoretische Charakter von Rational Choice stark verändere. Letztlich würde man Rational Choice so seiner eigentlichen Stärke berauben, eine explizit nomologisch orientierte Theorie zu sein. Anders formuliert: Zwar mag es Theorievarianten geben, die eventuell eine Antwort auf diese Probleme geben, doch handelt es sich bei diesen möglicherweise gar nicht mehr um Theoriemodelle des ökonomischen Forschungsprogramms. Dann wären die Modifikationen des ökonomischen Forschungsprogramms teuer erkauft. Letztlich müssten sie aus der Perspektive von Lakatos vielleicht sogar abgelehnt werden, da sie zentrale Basisannahmen des ökonomischen Forschungsprogramms aufgeben müssten. Konkret muss deshalb untersucht werden, inwieweit der theoretische Kern von Rational Choice erhalten bleibt, wenn man auf für den kulturwissenschaftlichen Bereich modifizierte Varianten von Rational Choice zurückgreift. diesem Vor Hintergrund stellt sich die Frage, inwieweit kulturwissenschaftliche Anwendungen der Rational Choice-Theorien in der Lage sind, diese Defizite aufzufangen, ohne zentrale theoretische Elemente aufzugeben. >
Drittens findet sich die
Was ist Rational Choice? Ein enges und weites Verständnis In diesem Abschnitt soll gezeigt werden, dass sich diese Vorwürfe gegen eine ganz spezielle Variante der Rational Choice-Theorien richten, die üblicherweise mit dem Schlagwort Homo Oeconomicus belegt wird. Sie treffen jedoch nicht auf die ökonomischen Theorien insgesamt zu. Dies zeigt eine wissenschaftstheoretische Betrachtung des ökonomischen Forschungsprogramms. So finden sich innerhalb der ökonomischen Theorien verschiedene theoretische Varianten mit teilweise deutlichen Unterschieden. Sie alle teilen jedoch zentrale theoretische Kernannahmen. Im Folgenden werden zwei typische Argumentationsweisen innerhalb dieses Programms herausgegriffen und genauer betrachtet:27 Einmal wird der Zweig des klassischen Homo Oeconomicus dargestellt, der in der aktuellen Diskussion unter 27
Vgl. Marx, Johannes, Vielfalt oder Einheit der Theorien in den internationalen Beziehungen. Eine systematische Rekonstruktion, Integration und Bewertung, Baden-Baden 2006, S. 84 f.
175
Kultur und Rationalität
methodologisch orientierten Rolle spielt, auch wenn er
Rational-Choice-Vertretern nur noch eine marginale in den anwendungsorientierten Bereichen der Wirtschaftswissenschaften weiterhin an zentraler Stelle steht. Interessanterweise stellt diese Variante aber die gängige Wahrnehmung des ökonomischen Programms durch Nicht-Rational-Choice-Vertreter dar. Daneben soll hier ein stärker empirischorientierter Zweig vorgestellt werden, der für die Erklärung kultureller Phänomene in Frage kommt.
Forschungsprogramm
Empirische Ebene
Aussagen Kern des
Forschungsprogramms
über die
Objektwelt
Zusatzannahmen i_i
Abb. 1 :
Forschungsprgoramm nach Lakatos
Um diese Argumentation entwickeln zu können, wird auf die Überlegungen von Imre Lakatos zurückgegriffen. Dieser entwickelt in der Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme ein methodologisches Instrumentarium zur Rekonstruktion und Bewertung wissenschaftlicher Theorien.28 Lakatos verwendet den Begriff des Forschungsprogramms zur Kennzeichnung einer Gruppe von Theorien, die die gleiche kausale Annahme in ihrem Kern teilen. Konkret besteht ein Forschungsprogramm aus einem unwiderlegbaren harten Kern und einem Schutzgürtel aus Mess- und Beobachtungstheorien. „Dieser ,Kern' ist unwiderlegbar' aufgrund der methodologischen Entscheidungen seiner Protagonisten".29 Der harte Kern ist umrahmt von einem Schutzgürtel, der aus einer negativen und einer positiven Heuristik besteht und Anomalien zum Schutz des Kerns auffangen soll.30 Dort finden sich diverse Zusatzannahmen, die den harten Kern um Mess- und
Vgl. Lakatos, Imre, Falsifikation
und Methodologie wissenschaftlicher Forschungsproin: Kritik und Erkenntnisfortschritt, hrsg. von Lakatos, Imre/ Musgrave, Alan, gramme, S. 1974, 89-189; Lakatos, Imre, Die Methodologie der wissenschaftlichen Braunschweig Forschungsprogramme, Wiesbaden 1982. Lakatos, Die Methodologie der wissenschaftlichen Forschungsprogramme (wie Anm. 28), S. 48. Vgl. Lakatos, Die Methodologie der wissenschaftlichen Forschungsprogramme (wie Anm. 28), S. 47.
Johannes Marx
176
Beobachtungsvorschriften anreichern. Anomalien, die nicht mit den theoretischen Grundannahmen des Forschungsprogramms in Übereinstimmung gebracht werden können, werden durch den Schutzgürtel abgewendet. Es werden Fehler in den Mess- und Beobachtungstheorien unterstellt oder eine unsachgemäße Interpretation der Anfangsbedingungen31. Der Schutzgürtel trägt dafür Sorge, dass der harte Kern des Forschungsprogramms nicht durch im Forschungsprozess regelmäßig auftretende widersprechende Beobachtungen in Frage gestellt werden kann.32 Bei den Zusatzannahmen des Schutzgürtels handelt es sich um empirische Hypothesen, die bei Bedarf korrigiert werden können. Eine Theorie darf genau dann zum ökonomischen Forschungsprogramm gerech-
sie die Kernannahmen mit den anderen Theorien des Forteilt und sich nur in Zusatzannahmen von ihnen unterscheidet. schungsprogramms Eine Modifizierung der Rational Choice-Theorie im Hinblick auf eine Erweiterung des Geltungsbereiches ist nur möglich, wenn die Kernannahmen dabei nicht verändert werden.33 Ihre Kenntnis stellt damit eine wichtige Annahme für die weitere Argumentation dar. Dabei ist die Frage, welche Annahmen als Kernannahmen interpretiert werden sollen, lediglich pragmatisch zu beantworten. Hilfreich ist die Überlegung, dass Kernannahmen den Status analytischer Setzungen haben. Vor dem Hintergrund, dass Wissenschaft etwas mit riskanten Aussagen über die Welt zu tun hat, ist es sinnvoll, den Kern möglichst schlank zu halten, da ansonsten keine inhaltsreichen und falliblen Aussagen durch die Theorie formuliert werden können. Fragt man nun nach den besonderen Erfordernissen einer sozialwissenschaftlichen Erklärung müssen noch weitere Spezifikationen eingeführt werden. Das wissenschaftliche Erkenntnisziel in den Sozialwissenschaften besteht üblicherweise in der Erklärung kollektiver Phänomene. Diese sollten jedoch nicht über kausal wirnet
31
32
33
werden,
wenn
Vgl. Lakatos,
Die Methodologie der wissenschaftlichen Forschungsprogramme (wie Anm. S. 48 f. 28), An diesem Punkt knüpft Lakatos mit seinen Überlegungen zur qualitativen Bewertung von Theorieentwicklungen an. Dabei stellt das entscheidende Kriterium für eine negative Theorieentwicklung die Beobachtung dar, dass durch Veränderungen an den theoretischen Strukturen die Menge der intendierten Anwendungen sich verkleinert oder eine Immunisierung der Theorie vorgenommen wird. Dies bezeichnet Lakatos mit dem Begriff degenerative Problemverschiebung. Umgekehrt zeichnet sich eine progressive Theorieentwicklung durch eine Veränderung in den theoretischen Strukturen aus, die zur Entdeckung neuer Tatsachen und einer Erweiterung der Menge der intendierten Anwendungen führt. Im Folgenden wird Lakatos primär zur Rekonstruktion des ökonomischen Forschungsprogramms verwendet. Die qualitative Bewertung der verschiedenen Zweige des ökonomischen Forschungsprogramms ist jedoch grundsätzlich ebenfalls möglich. Vgl. Marx, Vielfalt oder Einheit der Theorien in den internationalen Beziehungen (wie Anm. 27), S. 84 f. Hierbei zeigt sich die Überlegenheit des empirischen Zweigs des ökonomischen Forschungsprogramms. Marx, Vielfalt oder Einheit der Theorien in den internationalen Beziehungen (wie Anm. 27), S. 84 f.
177
Kultur und Rationalität
kende Gesetze auf der Makroebene erklärt werden, sondern unter Rückgriff auf die Mikroebene individuellen Handelns. Dies ist notwendig, da bisher keine Gesetze auf der Makroebene formuliert wurden, die sich in der sozialwissenschaftlichen Theoriediskussion bewährt haben.34 Sozialwissenschaftliche Gesetze finden sich aber auf der Mikroebene. Damit wird der Rekurs auf die individuelle Ebene menschlichen Handelns ein notwendiger Bestandteil sozialwissenschaftlicher Erklärungsversuche. Insbesondere das ökonomische Forschungsprogramm zeichnet sich hier aus.35
Das ökonomische Zusatzannahmen
Forschungsprogramm: Kern- und
Für die ökonomischen Theorien finden sich in der Literatur häufig Bezeichnungen wie Rational Choice, Nutzentheorie, Theorie rationalen Handelns oder Homo Oeconomicus. Diese Begrifflichkeiten werden häufig missverständlich gebraucht, da sie teilweise die Theoriefamilie, manchmal aber auch nur eine spezifische Variante derselben bezeichnen. Im Folgenden wird deshalb auf eine Definition zurückgegriffen, die klar zwischen den verschiedenen Ebenen trennt. Theorien sollen genau dann dem ökonomischen Forschungsprogramm zugerechnet werden, wenn sie zur Erklärung menschlichen Handelns auf drei Annahmen
zurückgreifen (siehe Abb. 2): >
>
Erstens sind die Präferenzen von Akteuren eine Bedingung für ihr Handeln, d.h. Handeln ist zielgerichtet (Motivationsannahme). Zweitens unterliegen die Akteure in ihrem Handeln Beschränkungen. Restriktionen werden damit zu einer Bedingung des Handelns (Restriktionsannahme).
Frings, Andreas/ Marx, Johannes, Wenn Diskurse baden gehen. Eine handlungstheoretische Fundierung der Diskursanalyse, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, Jg. 16 (2005), S. 81-105. Vgl. Esser, Hartmut, Soziologie. Allgemeine Grundlagen, Frankfurt 1999; ders., Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 1 Situationslogik und Handeln, Frankfurt 1999. Für einen
wissenschaftstheoretischen Vergleich der Leistungsfähigkeit des soziologischen und des ökonomischen Forschungsprogramms bieten sich die Kriterien von Lakatos an. Ein solcher Vergleich zeigt die Überlegenheit des ökonomischen Forschungsprogramms, da bei der Entwicklung des soziologischen Programms theoretische Kernannahmen aufgegeben wurden. Vgl. Marx, Vielfalt oder Einheit der Theorien in den internationalen Beziehungen (wie Anm. 27), S. 59 f.
Johannes Marx
178
Und drittens führen Individuen genau diejenigen Handlungen aus, von denen sie erwarten, dass sie ihre Ziele im höchsten Maße realisieren (Maximierungs-
>
annahme).36
Diese Kernannahmen werden von allen Spielarten des ökonomischen Forschungsprogramms geteilt. Daneben existieren eine Reihe von Zusatzannahmen wie beispielsweise die Annahme, dass nur materielle Präferenzen eine Rolle spielen, Präferenzen zeitlich stabil sind usw., die nicht von allen Theoriemodellen geteilt werden.
Kern des Forschungsprogramms: > Motivationsannahme > Restriktionsannahme >
I
Maximierungsannahme
Zusatzannahmen
I
F_____J
Abb. 2: Das ökonomische
Das ökonomische
Verzweigungen
Forschungsprogramm
Forschungsprogramm und seine
Forschungsprogramm ist vielfältig und beinhaltet zahlreiche und unterschiedliche Theoriemodelle. Die Theoriemodelle unterscheiden sich sowohl in der Frage, welche konkreten Motive und Restriktionen bei individuellen Wahlhandlungen eine Rolle spielen, wie sie auch verschiedene Wege für die Konstruktion Das ökonomische
von
Brückenhypothesen vorschlagen.
Üblicherweise wird
von Nicht-Rational-Choice-Vertretern nur der analytische neo-klassischen in seiner Form (Abb. 3) wahrgenommen: Menschen sind Zweig die darauf Nutzenmaximierer, lediglich abzielen, ihre Macht und ihr Einkommen zu vermehren. Eine solche Position wird an den Klassikern der Neuen Politischen Ökonomie festgemacht und mit Verweisen auf die Werke von beispielsweise Anthony Downs, Mancur Olson und Gary Becker belegt.37 36
37
Vgl. Kunz, Volker, Rational Choice, Frankfurt/Main 2004; Marx, Vielfalt oder Einheit der Theorien in den internationalen Beziehungen (wie Anm. 27), S. 84 f.; Opp, Karl-Dieter, Politischer Protest als rationales Handeln, in: Ökonomische Verhaltenstheorie, hrsg. von Ramb, Bernd-Thomas/Tiezel, Manfred, München 1993, S. 209. Downs, Anthony, Ökonomische Theorie der Demokratie, Tübingen 1968; Olson, Mancur, Die Logik kollektiven Handelns. Kollektivgüter und die Theorie der Gruppen, Tübingen 1998 [1965]; Becker, Gary S., Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens, Tübingen 1993. Einen guten Überblick über die Werke der Neuen Politischen Öko-
Kultur und Rationalität
179
Demnach stehen der Realisierung der menschlichen Handlungsmotive äußere Restriktionen wie z.B. eine begrenzte Verfügbarkeit von Zeit, Geld oder Macht entgegen. Das Ziel dieser ökonomischen Analysen besteht darin, zu analysieren, wie sich bei gegebenen Präferenzen die Änderungen einzelner Restriktionen auf das Verhalten der Akteure auswirken. Oder in den Worten von Becker: „Alles menschliche Verhalten kann [...] so betrachtet werden, als habe man es mit Akteuren zu tun, die ihren Nutzen, bezogen auf ein stabiles Präferenzsystem, maximieren und sich in verschiedenen Märkten eine optimale Ausstattung an Information und anderen Faktoren schaffen".38 Handlungen werden aus dieser Perspektive über die Änderung der relativen Preise erklärt. So könnte man zum Beispiel argumentieren: Weil die Kosten des Wählens durch das schlechte Wetter gestiegen sind, gehen weniger Menschen zur Wahl. Eine solche grenznutzentheoretische Betrachtung ist eine typische Vorgehensweise für große Bereiche in den Wirtschaftswissenschaften. Dabei blieb bisher offen, wie sich der Begriff des Nutzens inhaltlich konkretisieren lässt. Ein möglicher Weg besteht darin, „den Akteur mit spezifischen Typen an Motiven (materielle und egoistische), mit gleicher Wahrnehmung und gleichen kalkulatorischen Fähigkeiten und mit striktem Konsequentialismus, im Sinne von Opportunismus auszustatten in anderen Worten: man greift auf den Homo Oeconomicus in seiner klassischen Form als Fundament der Theoriebildung zurück".39 Natürlich gibt es Bereiche des menschlichen Lebens z.B. der des wirtschaftlichen Handelns -, in denen die Präferenzen des Homo Oeconomicus eine plausible empirische Annahme darstellen: „Im allgemeinen sind ökonomische Theorien dann am erfolgreichsten, wenn sie sich auf ein Gebiet beziehen, in dem die ad hoc An-
-
nomie bieten folgende Einführungen: Braun, Dietmar, Theorien rationalen Handelns in der Politikwissenschaft. Eine kritische Einführung, Opladen 1999; Kirsch, Guy, Neue politische Ökonomie, Stuttgart 2004; Lehner, Franz, Einführung in die neue politische Ökonomie, Königstein/Ts. 1981. Zusätzlich ist ein Blick in folgende Klassiker lohnenswert: Arrow, Kenneth, Social Choice and Individual Values, London 1963; Buchanan, James M., The Limits of Liberty. Between Anarchy and Leviathan, Chicago 1975; ders./ Tullock, Gordon, The Calculus of Consent. Logical Foundations of Constitutional Democracy, Ann Arbor 1962; Downs, Anthony, Inside Bureaucracy, New York 1967; Olson, Mancur, Aufstieg und Niedergang von Nationen. Ökonomisches Wachstum, Stagflation und soziale Starrheit, Tübingen 1991; Riker, William H., The Theory of Political Coalitions, New Haven 1962. Becker, Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens (wie Anm. 37), S. 15. Zintl, Reinhard, Rational choice as a tool in political science, in: Associations, Jg. 5 (2001), S. 39 [Ü.d.V.]. Zintl beschreibt hier in treffenden Worten die Vorgehensweise des analytischen Zweigs. Er selbst teilt jedoch die Position nicht, sondern betrachtet die adäquate Formulierung menschlicher Handlungsmotive als eine empirische Frage.
Johannes Marx
180
nahmen über Präferenzen einigermaßen zutreffen (...)".40 Wenn ein Unternehmen nicht die Zielvorstellung Gewinnmaximierung befolgt, dann wird es sich im marktwirtschaftlichen System nicht halten können. Die institutionellen Rahmenbedingungen tragen also hier dazu bei, dass sich die adhoc-Annahmen bezüglich der Präferenzen in marktwirtschaftlich strukturierten Handlungssituationen bewähren. Folgt man dem analytischen Zweig und akzeptiert man opportunistisches Verhalten und egoistische Interessen als notwendige Annahme ökonomischer Theoriebildung, dann fallen kulturelle Sachverhalte aus dem Anwendungsgebiet des ökonomischen Forschungsprogramms tatsächlich heraus. Wohl auch deshalb hat sich „mit Bezug auf das Phänomen der Kultur (...) im sozialwissenschaftlichen Allgemeingut eigentlich bis heute die Dichotomie von utilitaristischen Interessen der Akteure einerseits und kulturellen Prägungen über Werte, Normen, Wirklichkeitsinterpretationen oder Symbole andererseits gehalten".41
Kern des > > >
Forschungsprogramms:
Motivationsannahme Restriktionsannahme
Maximierungsannahme
Zusatzannahmen: >
>
vollständige Informiertheit, d.h. uneingeschränktes Wissen bzgl. relevanter Handlungsalternativen und deren Konsequenzen egoistische und eigennützige Handlungsmotive, d.h. harte, materielle Anreize
>
interpersonell konstante und stabile Anreize
Abb. 3: Das ökonomische
Forschungsprogramm, analytisch
man dieser Argumentation, muss man den allgemeinen Erklärungsanspruch Nutzentheorie der aufgeben. Damit würde ihr Anwendungsgebiet stark eingeschränkt werden. Dies alleine stellt aus der Perspektive von Lakatos bereits eine
Folgt
Lindenberg, Siegwart, Die Relevanz theoriereicher Brückenannahmen, in: Kölner ZeitSoziologie und Sozialpsychologie, Jg. 48 (1996), S. 126-140, hier S. 131. Hegmann, Horst/ Reckling, Falk, Der kultivierte Homo Oeconomicus. Zum Ort der Kultur in der Ökonomie, in: Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft. Theorien, Methoden, Problemstellungen, hrsg. von Schwelling, Birgit, Wiesbaden 2004, S. 59. schrift für
181
Kultur und Rationalität
problematische Modifizierung einer Theorie dar.42 Daneben ist aus der Perspektive von Lakatos auch der Umgang mit den Zusatzannahmen zu kritisieren.
Da die Annahme konkreter Präferenzen nicht zum Kernbereich des ökonomischen Forschungsprogramms gehört, sondern den Zusatzannahmen zugerechnet werden muss, stehen diese Annahmen unter empirischem Bewährungsdruck. Es ist aus
methodologischer Perspektive daher unbefriedigend, ad hoc gewisse Präferenzklassen a priori aus dem ökonomischen Forschungsprogramm auszuschließen. Stattdessen muss die Frage, mit welchen Präferenzen die Variablen der Handlungstheorie konkret zu füllen sind, empirisch beantwortet werden. Dies ist eine typische Vorgehensweise, wie sie beispielsweise auch aus der Physik bekannt ist. Auch die Newtonsche Mechanik gibt weder konkrete inhaltliche Angaben über Geschwindigkeiten oder Gewichte von Gegenständen analytisch vor, stattdessen müssen diese empirisch gemessen werden. Genauso wenig sollten sich konkrete inhaltliche Angaben über menschliche Motive in einer Handlungstheorie finden. Öffnet man den Präferenzbegriff inhaltlich, so lässt sich das ökonomische Forschungsprogramm insofern modifizieren, als dass keine Einschränkung des Gegen-
standsbereiches auf Bereiche vorgenommen werden muss, in denen die ad-hocAnnahmen bezüglich menschlicher Motive zutreffen. Im Einzelnen müssen dabei drei Schritte beachtet werden, die für die Konstruktion empirisch-orientierter Theoriemodelle des ökonomischen Forschungsprogramms an zentraler Stelle stehen (siehe Abb. 4): Erstens ist die auf der Makroebene liegende Struktur der Handlungssituation zu berücksichtigen. Aus der sozialen Situation, der die Akteure ausgesetzt sind, lassen sich die Bedingungen ableiten, die die Handlungsmöglichkeiten der Akteure strukturieren. Dieser Schritt der sozialwissenschaftlichen Erklärung wird häufig mit dem Begriff der ,Definition der Situation' umschrieben. Mittels Brückenhypothesen benennt man soziale Strukturmerkmale und psychische Faktoren, die die individuelle Situationswahrnehmung bestimmen. Brückenhypothesen haben den Status von Zusatzannahmen. Viele Handlungen erscheinen zunächst irrational, da es dem Betrachter nicht gelingt, die individuelle Sichtweise des Akteurs einzunehmen und dessen Definition der Situation zu rekonstruieren.43 Der harte Kern des ökonomischen Forschungsprogramms beinhaltet jedoch die Variablen, die bei der Formulierung der Brückenhypothesen beachtet werden müssen. Es sind die wahrgenommenen Präferenzen und Restriktionen, die hier von Interesse sind. Im Rahmen der strukturindividualistischen Vorgehensweise werden soziale Strukturmerkmale herangezogen, um deren spezifische Qualität zu bestimmen. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Zweigen des ökonomischen 42
Marx, Vielfalt oder Einheit der Theorien in den internationalen Beziehungen (wie Anm. 27),
43
Vgl. Coleman, James S., Grundlagen der Sozialtheorie, München
S. 84 f. 1995.
182
Johannes Marx
Forschungsprogramms schlagen sich in unterschiedlichen Methoden und schränkungen hinsichtlich der Bestimmung der Definition der Situation nieder.
Ein-
In einem zweiten Schritt findet sich auf der Mikroebene ein theoretischer Auswahlmechanismus in Form eines Handlungsgesetzes. Er erlaubt, aus der Vielzahl der durch die Struktur der Situation ermöglichten Handlungsalternativen eine auszuwählen. Diese zweite Phase bezeichnet Esser mit dem Begriff der Logik der Selektion'.44 Hier findet sich der harte Kern des Programms. Coleman knüpft mit seinen Überlegungen an die alltägliche Vorstellung von Handeln an. Um zu erklären, warum eine Person in einer gewissen Weise gehandelt hat, müssen wir ihre individuellen Gründe verstehen. Wir „implizieren damit, daß wir das beabsichtigte Ziel verstehen und auch, wie der Akteur die Handlungen und deren Beitrag zur Zielerreichung einschätzt".45 Hier, im zweiten Schritt des Struktur-individualistischen Erklärungskonzepts, steckt der harte Kern des ökonomischen Forschungsprogramms. ,
Soziale Situation
Kollektives Phänomen
4/
Definition der Situation Akteur
Logik der Aggregation ->
Logik der Selektion -> Handlung
Abb. 4: Strukturindividualistisches
Erklärungsmodell
Aggregationsprozess stellt den dritten Schritt der Konzeption nach Coleman dar. Hier wird die Verbindung von der Individualebene zur Ebene der sozialen Struktur wiederhergestellt. Mittels einer ,Logik der Aggregation' kommt es zu einer Verknüpfung von individuellen Handlungen und kollektiven Folgen. Dazu bedarf es spezifischer Transformationsregeln, um die Aggregation der individuellen Handlungen zu einem kollektiven Explanandum zu erklären. Einfache AggregationsproDer
zesse, die das Entstehen eines kollektiven Phänomens
aus individuellen Handlunverständlich sind bei Wahlen. Zählverfahren machen, gen Komplizierte Aggregationsprozesse werden durch Schwellenwertmodelle oder Computersimulationen
44
Esser, Soziologie. Allgemeine Grundlagen (wie Anm. 35), S. 94. f.; Esser, Soziologie.
45
Coleman, Grundlagen der Sozialtheorie (wie Anm. 43), S.
Spezielle Grundlagen. Band 1 Situationslogik und Handeln (wie Anm. 35), 17.
S. 66 f.
Kultur und Rationalität
183
modelliert. Aber auch Aggregationshypothesen sind empirische Behauptungen über
Aggregationsprozesse.46
Natürlich teilen auch die Vertreter dieser empirischen Theoriemodelle die drei genannten Kernannahmen des ökonomischen Forschungsprogramms, nach denen das Handeln durch individuelle Handlungsmotive, Restriktionen und die Rationalitätsunterstellung bestimmt ist. Das zentrale Problem des empirisch orientierten Zweigs des ökonomischen Forschungsprogramms (siehe Abb. 5) besteht in der Konstruktion von empirisch angemessenen Brückenhypothesen. Dafür gibt es unterschiedliche Wege.
Kern des > >
>
Forschungsprogramms:
Motivationsannahme Restriktionsannahme
Maximierungsannahme
Zusatzannahmen: > Agieren in einer subjektiv gedeuteten Welt > Interpretation der sozialen Welt vor dem Hintergrund individueller Erfahrungen > direkte empirische Konstruktion von Brückenhypothesen
i_i
Abb. 5: Das ökonomische
Forschungsprogramm, empirisch
Üblicherweise werden in der Psychologie und auch in der Soziologie die Brücken-
hypothesen direkt mittels empirischer Untersuchungen beispielsweise in Form von Umfragen erhoben.47 Dies ist auch in der Politikwissenschaft teilweise der Fall. Die empirische Umfrage- und vergleichende Kulturforschung benutzt ein ausgefeiltes 46
Frings, Andreas, Rationales Handeln und historische Erklärung, in: Journal of General Philosophy of Science/Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie, Jg. 38 (2007), S. 31-
47
Diekmann, Andreas/ Voss, Thomas, Die Theorie rationalen Handelns. Stand und Perspektiven, in: Rational-Choice-Theorie in den Sozialwissenschaften. Anwendungen und Probleme, hrsg. von Diekmann, Andreas/ Voss, Thomas, München 2004, S. 13-33; Opp, KarlDieter, Normen, Altruismus und politische Partizipation. Eine empirische Überprüfung einiger Hypothesen des „ökonomischen Modells" am Beispiel der Anti-Atomkraft- Bewegung, in: Normengeleitetes Verhalten in den Sozialwissenschaften, hrsg. von Todt, Horst, Berlin 1984, S. 85-113; Preisendörfer, Peter, Anwendungen der Rational Choice-Theorie in der
56.
Umweltforschung, in: Rational-Choice-Theorie in den Sozialwissenschaften. Anwendungen und Probleme, hrsg. von Diekmann, Andreas/Voss, Thomas, München 2004, S. 271-287.
184
Johannes Marx
Instrumentarium, um Präferenzen und Brückenhypothesen zu erheben. Der häufig hörende Vorwurf, dass Präferenzen ohnehin nicht zu messen seien, kann also nur aufrechterhalten werden, wenn man dieses Programm für nichtig erklärt und bestreitet, dass diese Fächer valide Instrumente zur Messung von Einstellungen und zu
Präferenzen entwickelt haben.48 Weiter wird einer solchen Vorgehensweise vorgeworfen, dass sie tautologisch sei. Sie wäre es in der Tat, wenn von den Handlungen ex post auf die Präferenzen geschlossen würde. Aber da die Präferenzen hier unabhängig von den Handlungen erhoben werden, kann dieser Vorwurf entkräftet werden. Es besteht ein empirischer Zusammenhang zwischen wahrgenommenen Präferenzen und Restriktionen auf der einen Seite und den Handlungen auf der anderen. Eine direkte Erhebung der relevanten Daten ist natürlich aufwändig und nicht in allen Fällen durchführbar. Häufig stehen Daten mit diesem Informationsniveau einfach nicht zu Verfügung. Aber auch wenn die Möglichkeit einer direkten Konstruktion von Brückenannahmen nicht immer möglich ist, sollte zumindest der Versuch der empirischen Unterfütterung der unterstellten Präferenzen unternommen werden, da sie nur so zur Formulierung adäquater Erklärungen menschlicher Handlungen benutzt werden können. Haben die Handlungen in der Vergangenheit stattgefunden, dann müssen die individuell wahrgenommenen Präferenzen und Restriktionen über andere Wege rekonstruiert werden. Solche Verfahren zur Konstruktion von Brückenhypothesen finden sich beispielsweise in den Geschichtswissenschaften. Eine gute historische Analyse oder eine ,dichte Beschreibung' formulieren allgemeine Zusammenhänge, die die Plausibilität bestimmter Brückenhypothesen nahe legen.49 So erscheinen in letzter Zeit vermehrt Arbeiten, die mithilfe von historischen Erzählungen die subjektive Situationsdeutung von Akteuren nachzeichnen und darauf aufbauend handlungstheoretische Erklärungen historischer Prozesse anbieten.50 Auch die so gewonnenen Brückenhypothesen haben den Status von empirischen Hypothesen und können mittels Quellenstudium gegebenenfalls korrigiert werden. 48
49
50
Vgl. Opp, Karl-Dieter, Ökonomie und Soziologie. Die Gemeinsamen Grundlagen beider Fachdisziplinen, in: Die Ökonomisierung der Sozialwissenschaften, hrsg. von Schäfer,
Hans-Bernd/ Wehrt, Klaus, Frankfurt 1989, S. 103-128; Opp, Karl-Dieter, Das Modell rationalen Verhalten. Seine Struktur und das Problem der ,weichen' Anreize, in: Wissenschaftstheorie und Wissenschaftslehre, hrsg. von Bouillon, Hardy/ Andersson, Gunnar, Berlin 1991, S. 105-124; Opp, Politischer Protest als rationales Handeln (wie Anm. 36). Frings, Rationales Handeln und historische Erklärung (wie Anm. 46); Marx, Vielfalt oder Einheit (wie Anm. 27), S. 121 f. Vgl. Bates, Robert H./ Greif, Avner/ Levi, Margaret/ Rosenthal, Jean-Laurent/ Weingast, Barry R., Analytic Narratives, Princeton 1998; Lindenberg, Siegwart, Social Production Functions, Deficits, and Social Revolution in Prerevolutionary France and Russia, in: Rationality and Society, Jg. 1 (1989), S. 51-77.
185
Kultur und Rationalität
Schließlich gibt es auch Situationen, wo entsprechendes Datenmaterial nicht verfügbar ist. Dort bleibt einem nichts anderes übrig, als mit plausiblen Generalisierungen über menschliche Akteure zu arbeiten. Man unterstellt dann typische Vorlieben und menschliche Eigenschaften und korrigiert diese entsprechend, wenn sie prognostisch scheitern. Dies kann jedoch lediglich forschungspragmatisch gerechtfertigt werden. Wenn möglich sollten ausführliche Bemühungen folgen, Präferenzen direkt empirisch zu ermitteln.
Kulturelle Phänomene als
Theoriebildung
Gegenstand ökonomischer
vorherige Kapitel die Relevanz der empirischen Konstruktion und Überprüfung Brückenhypothesen begründet hat, wird im Folgenden nach einer theoretischen Perspektive gefragt, die erlaubt, über die empirische Beschreibung vorliegender Präferenzen und Restriktionen hinauszugehen. Dafür wird auf die Theorie sozialer Produktionsfunktionen zurückgegriffen. Diese erlaubt, Fragen der Entstehung von Präferenzen und ihren Wandel in der Terminologie des ökonomischen Forschungsprogramms zu diskutieren.
Nachdem das
von
Bisher blieb unklar, warum die individuellen Präferenzen einen bestimmten Inhalt haben, warum sich Präferenzen wandeln und warum sie entstehen. Gerade diese Fragen sind jedoch von Interesse, will man den Einfluss von Kultur auf individuelles Handeln thematisieren. Dafür ist es notwendig, den Zusammenhang zwischen auf der einen Seite und individuellen Zielen und Wünschen auf der anderen Seite theoretisch zu klären. Hierfür soll noch einmal auf den Begriff der „Politischen Kultur" zurückgegriffen werden. Kultur hat demzufolge etwas mit den Einstellungen der Akteure zu tun. Es gilt nun zu fragen, wie diese sich wandeln und wie sie auf Handlungen wirken. Mit der Theorie sozialer Produktionsfunktionen (Abb. 6) wird diese Frage der Präferenzentstehung endogenisiert und selbst zum Gegenstand des ökonomischen
Forschungsprogramms.
Die Idee besteht zunächst in der bekannten Vorgehensweise des analytischen Zweiges, dass man zentrale Bedürfnisse des Menschen physisches Wohlergehen und soziale Anerkennung unterstellt. Diese Güter werden häufig anthropologisch begründet. Sie finden sich schon in den Werken von Adam Smith: „The appetites of hunger and thirst, the agreeable or disagreeable sensations of pleasure and pain, of heat and cold, etc., may be considered as lessons delivered by the voice of Nature herself, directing him what he ought to choose, and what he ought to avoid, for this -
-
Johannes Marx
186
Diese Bedürfnisse zeichnen sich dadurch aus, dass man sie nicht direkt, sondern nur über eine instrumenteile Ketten von Handlungen Zwischengüter genannt befriedigen kann.
purpose".51
-
-
_______—-_________-___________
Kern des > > >
Forschungsprogramms:
Motivationsannahme Restriktionsannahme
Maximierungsannahme
Zusatzannahmen: > Individuelles Handeln ist motiviert durch die Verfolgung von Kernmotiven. > Diese können nicht direkt, sondern nur über Zwischengüter produziert werden. > Handlungsspielräume sind inhaltlich definiert durch die materiellen und sozialen Strukturen.
Abb. 6: Theorie sozialer Produktionsfunktionen Die Theorie sozialer Produktionsfunktionen stellt so eine Verbindung zwischen der sozial strukturierten Handlungssituation und den menschlichen Grundbedürfnissen her: „In den Begriffen von Gary Becker (...) stellt die Kultur eine soziale Produktionsfunktion bereit, mit der die Menschen versuchen, ihren Nutzen mit Bezug auf einige wenige, z.T. auch evolutionsbiologisch abgeleitete, universale Basispräferenzen (...) zu maximieren".52 Kultur verringert damit die Unsicherheit der Akteure in Bezug auf die Wahl der angemessenen Handlungen und schränkt den Raum möglicher Handlungen ein.53 Für die Maximierung der Basispräferenzen müssen die Akteure etwas investieren. Sie erwerben gewisse Eigenschaften und setzen Objekte, Ressourcen, Güter oder Leistungen ein, die im Hinblick auf die Produktion der Basisgüter von Nutzen sind. Diese werden Zwischengüter genannt.54 Häufig gibt es eine Kette von Zwischengütern, die man braucht, um die Basispräferenzen zu
befriedigen. 51
Smith, Adam, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, New York
52
Hegmann/ Reckling, Der kultivierte Homo Oeconomicus (wie Anm. 41), S. 65. Vgl. Lindenberg, Siegwart, Die Methode der abnehmenden Abstraktion. Theoriegesteuerte Analyse und empirischer Gehalt, in: Modellierung sozialer Prozesse, hrsg. von ESSER, HARTMUT/ Troitzsch, Klaus G, Bonn 1991, S. 29-78. ESSER, Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 1: Situationslogik und Handeln (wie Anm. 35); Marx, Does Culture matter? (wie Anm. 2).
1976, S. 212. 53
54
Kultur und Rationalität
187
Interessant ist nun folgende Überlegung. Die Funktionsfähigkeit eines Zwischengutes im Hinblick auf die Produktion der Oberziele ist nicht in allen Situationen gleich, sondern kulturabhängig.55 Es ist daher für die Akteure notwendig, die sozialen Regeln gut zu kennen und die Situation mit all ihren normativen Anforderungen richtig zu deuten. Nur wenn man eine den normativen Erwartungen und den situativen Gegebenheiten adäquate Definition der Situation vornimmt, wird das eigene Handeln von anderen als sinnvoll angesehen, und man produziert die richtigen Zwischengüter. Was als richtiges Handeln anzusehen ist, resultiert aus den sozialen Regeln und den materiellen Situationsmerkmalen. Sie definieren einen Handlungskorridor, der die Bandbreite sozial erlaubten Handelns absteckt. Mittels Kommunikation vergewissern sich die Akteure untereinander über diese Handlungskorridore und damit über die sinnhafte Ordnung der Welt. Die Zwischengüter hängen also von den gesellschaftlichen Umständen und den sozialen Regeln ab, die sich in den Erwartungen der Mitmenschen niederschlagen. Ihre Bedeutung erschließt sich erst aus der Kenntnis der sozialen Regeln. Dress-Codes und Benimmregeln stellen aus dieser Perspektive soziale Erwartungen über erlaubte Zwischengüter an Akteure in spezifischen Situationen dar. Im Rahmen des Sozialisationsprozesses werden die sozial definierten Produktionsfunktionen kognitiv erlernt. Sie finden damit Eingang in die Persönlichkeitsstruktur der Akteure und stellen als Einstellungen kognitiv repräsentiert einen Teil ihrer Identität dar. Bei diesem Prozess bilden sich die zentralen individuellen Handlungsziele und die gesellschaftlich akzeptablen Wege zu ihrer Realisierung heraus.56 Die kognitiven Strukturen, die die gesellschaftlich erlaubten Handlungen und angemessenen Verhaltensweisen widerspiegeln, können stark vereinfacht als Frames oder Schemata bezeichnet werden. Frames strukturieren die Wahrnehmung der Akteure und definieren zugleich die sozial erlaubten Handlungswege zur Produktion der Zwischengüter.57 Ein Frame beinhaltet damit zwei Bestandteile: Erstens besteht er aus den zu realisierenden Handlungszielen. Zweitens nennt er auch die sozial erlaubten Wege zur Produktion dieser Ziele. Letztere werden Skript genannt und schreiben ein spezielles Programm von Handlungen für konkrete Situationen vor.58 Damit zeichnet sich 55
56 57
58
Vgl. Esser, Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 1: Situationslogik und Handeln (wie Anm. 35), S. 101 f.; Kunz, Volker, Die Theorie rationalen Handelns. Grundlagen und Anwendungsprobleme, Opladen 1997, S. 227 f. Hegmann/ Reckling, Der kultivierte Homo Oeconomicus (wie Anm. 41), S. 65 f. Lindenberg, Siegwart, Framing, Empirical Evidence, and Applications, in: Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, hrsg. von Herder-Dorneich, Philipp/ Schenk, Karl-Ernst/ Schmidtchen, Dieter, Tübingen 1993, S. 11-49. Vgl. ESSER, Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 6: Sinn und Kultur (wie Anm. 6), S. 263 f.
Johannes Marx
188
ein Modell einer Situation durch eine spezielle inhaltliche Interpretation der Situation aus. Diese Interpretation beinhaltet eine Definition des Oberziels, das für die jeweilige Situation charakteristisch ist, und instrumentelles Wissen über die Produktionsfunktionen zur Realisierung des Oberziels. Zwei Selektionsvorgänge sind daher mit dem Framingprozess verbunden: Erstens gilt es, eine angemessene Situationsdeutung vorzunehmen (Modell-Selektion). Akteure verfügen üblicherweise über ein umfangreiches Set von Frames für typische „Situationen mit typischen Symbolisationen und typischen Bewertungen".59 Je nach situativem Bedarf wählt man eine passende Rahmung aus. Dabei überprüft der Akteur die Passung zwischen dem mentalen Modell der Situation und den wahrgenommenen Situationsmerkmalen. Ist der ,Match' zwischen dem gedanklichen Modell und den erkennbaren Situationsmerkmalen hoch, gibt es keinen Grund, an der Angemessenheit des Frames zu zweifeln oder ihn gar zu wechseln: „Man weiß, ganz unbewusst sicher, in welcher Situation man sich befindet, und damit auch, was jetzt zu tun ist. Nachgedacht, reflektiert oder interpretiert wird dabei nicht".60 Die Definition der Situation mittels eines gedanklichen Bezugsrahmens ist auch gegenüber störenden Situationsmerkmalen relativ stabil. Erst wenn Störungen eine gewisse Schwelle überschreiten und ein eindeutiger ,Mismatch' zwischen Rahmung und Situationsmerkmalen vorliegt, wechselt man das mentale Modell der Situation. Mit der Selektion des Modells der Situation ist jedoch das konkrete Handeln noch nicht bestimmt. In einem zweiten Schritt muss durch den Akteur abgewogen werden, ob die durch den Frame vorgegebenen Handlungsskripte ausreichend und hinreichend klar definiert sind (Modus-Selektion). Meistens definieren Frames eine Situation so eindeutig, dass nur ein Skript vorhanden ist. Das Skript wird dann gleichsam mit der Entscheidung für ein bestimmtes Frame ebenfalls aktiviert. Die Handlung erfolgt quasi automatisch. Dies ist aber nicht notwendig. Es gibt auch Frames, die mehrere Skripte mitliefern oder keine Handlungsvorgaben formulieren. Dann setzt beim Akteur ein Such- und Informationsprozess ein, um notwendiges Wissen zur Orientierung in der Handlungssituation zu erlangen. Im üblichen Fall ist diese Form des aufwendigen rationalen Handelns nicht erforderlich:
„Die Frames sind den Erfordernissen des Alltags meist
so gut angepasst, (...) dass das Nachdenken über Konsequenzen in aller Regel gänzlich unnötig, ja höchst unvernünftig wäre. In den Frames und in den Skripten des Alltags spiegelt sich ja die, oft mühselig zuvor in zahllosen .reflexiven' Schritten entwickelte, Weisheit der Routine, (...) die jetzt, zu fertigen gedanklichen Modellen stilisiert, abrufbereit und unaufwendig zur Verfügung steht".61
Esser, Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 6: Sinn und Kultur (wie Anm. 6), S. 279 f. ESSER, Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 6: Sinn und Kultur (wie Anm. 6), S. 273 f. Esser, Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 6: Sinn und Kultur (wie Anm. 6), S. 295.
Kultur und Rationalität
189
Frames definieren die situationsspezifischen Handlungsziele und hängen damit eng mit der Idee der sozialen Produktionsfunktionen zusammen. Sie bestimmen die sozialen Produktionsfunktionen, die für die Produktion der Primärgüter notwendig sind, und vereinfachen dadurch den Entscheidungsprozess der individuellen Akteure.62 Umgekehrt liefert das Konzept der sozialen Produktionsfunktionen die theoretische Heuristik, um die Entstehung und den Wandel individueller Präferenzen sowie die Wirkung von Kultur auf individuelles Verhalten zu untersuchen.
Schlussbemerkung Die Argumentation kann folgendermaßen zusammengefasst werden: Alle Menschen verfolgen letztlich ähnliche Oberziele. Diese sind jedoch nicht direkt zu realisieren, sondern nur über eine Kette an Zwischengüter. Welche Zwischengüter zur Realisierung der Primärgüter beitragen ist kulturabhängig. Ihre Bedeutung erschließt sich erst aus dem sozialen Kontext. Auch die Akteure müssen die instrumentellen Ketten zur Realisierung ihrer Oberziele in ihrem Sozialisationsprozess lernen. Dieser Lernprozess, der über Kommunikation funktioniert, schlägt sich in den kognitiven Strukturen der Akteure nieder. Typische Handlungsmuster für typische Handlungssituationen werden in Form von Frames erlernt und gespeichert und bei Bedarf handlungsrelevant. Mit der Theorie sozialer Produktionsfunktionen wurde ein Weg skizziert, wie der Einfluss von Kultur auf den Wandel und die Entstehung von Präferenzen im Rahmen des ökonomischen Forschungsprogramms untersucht werden kann. Eine theoretische Ausarbeitung dieser Idee für die Kulturwissenschaften steht noch aus ist aber aus meiner Perspektive lohnenswert. -
Esser, Hartmut, Definition der Situation, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 48 (1996), S. 1-34; Kunz, Die Theorie rationalen Handelns (wie Anm. 55), S. 246 f.; Lindenberg, Framing, Empirical Evidence, and Applications (wie Anm. 57), S. 11-49.
Karl Acham
Zur Komplementarität von Allgemeinem und
Besonderem, Theorie und Erzählung
Im Zentrum der methodologischen Aufmerksamkeit von Historikern steht im allgemeinen das Was und das Warum historischer Zustände und Ereignisse. Dem Wie der Darstellung des historischen Gegenstandes wird dabei nicht immer die gebührende Aufmerksamkeit zuteil. Dennoch läßt sich zeigen, daß das Wie auch bestimmend für das Was und das Warum jener Geschichte ist, die uns als „objektive Tatsache" vorgegeben zu sein scheint. Das Verhältnis von Geschichte und Sozialtheorie steht in enger Beziehung zu diesem Sachverhalt. Wenn es darum geht, jemandem darzulegen, was der Fall war, so handelt es sich um ontologische Sachfragen, wobei sich dann in der Geschichtswissenschaft, wie auch anderswo, die Frage nach der Größenordnung und damit nach der adäquaten Beobachtungsschärfe des in Betracht stehenden Gegenstandes stellt. Sucht man zu zeigen, wie dieser zu dem geworden ist, was er nun ist, so geht es um dessen phänomenologische Beschreibung bzw. um die erzählende Darstellung seiner Geschichte. Will man schließlich erklären, warum der in Betracht stehende Sachverhalt Personen, Handlungen, Ereignisse, Zustände, Prozesse dazu geworden ist, wie er nun ist, so bedarf es einer Bezugnahme auf Handlungsgründe (Motive und Absichten) und oft auch auf nicht-mentale Ursachen, welche sein Eintreten einsichtig machen sollen. Die Fragen nach dem Warum eines historischen Sachverhalts zielen dabei implizit auch auf unterschiedliche logische Modalitäten in der Darstel-
-
lung von historischen Sachverhalten ab: auf die Möglichkeit oder die Notwendigkeit des Zusammenhangs von nicht-mentalen und mentalen Gegebenheiten. Notwendig ist ein solcher Zusammenhang dann, wenn gezeigt werden kann, warum „Ursa-
chen" und „Gründe", welche für das Eintreten eines historischen Sachverhalts bestimmend sind, miteinander deterministisch verknüpft sind. Im folgenden sollen das Was, das Wie und das Warum historischer Sachverhalte das eine Mal (in den Kapiteln I und II) unter dem Gesichtspunkt ihrer Darstellungsfunktion, das andere Mal (in den Kapiteln III und IV) unter dem Gesichtspunkt der behaupteten rationalen oder kausalen Notwendigkeit betrachtet werden.
Karl Acham
192
1. Was historisch der Fall ist: der individuelle Sachverhalt 1.1.
Über das historisch Allgemeine und das Besondere
einmal, daß „diejenigen Bestandteile der Wirklichkeit, die uns historisch [...] interessieren", jene seien, die unsere Aufmerksamkeit bezüglich der „Art ihres So-und-nicht-anders-Gewordenseins" auf sich ziehen.1 Und es ist die Literatur, aber auch die Geschichtsschreibung, welche das Individuelle, das Besondere gegen das falsche Universelle verteidigt, welches die Menschen nivelliert. So weiß man beispielsweise Bescheid über Massenhinrichtungen von Juden im Zweiten Weltkrieg, über den Bombenterror gegen Deutsche und Japaner und über die unzähligen Liquidierungen von „Volksfeinden" unter Mao Zedong aber wie fern bleiben uns doch oft die bloß ziffernmäßig erfaßten Tatbestände im Unterschied zur Darstellung individueller Lebensschicksale! Wie wenig sagen so etwa auch die nüchternen Daten im Makro-Bereich über den Terror Stalins in den Jahren 1937/38, und um wie viel konkreter und zugleich die Vorstellung des Lesers belastender sind die Mitteilungen über Geschehnisse auf der Meso-Ebene: daß in diesen Jahren zwischen der Moskauer Zentrale und den Vollstreckern vor Ort die Anzahl der auszusondernden „schädlichen Elemente" wie Produktionsvolumina in einem Fünfjahresplan der Schwerindustrie ausgehandelt wurden. Um sich auszuzeichnen, überboten dabei die regionalen Vertreter der Sowjetmacht gern die Vorgaben der Zentrale, wobei insbesondere der NKWD sogar „sozialistische Wettbewerbe" der Schädlingsvernichtung veranstaltete : Max Weber meinte
-
man 1937/38 anderthalb Millionen, von denen die Hälfte umgebracht wurde. Bei der Kulakenvernichtung kam man auf das Dreifache der Sollziffer. Die Henker, die manchmal hunderte Todesurteile am Tag unterzeichneten, wußten oft nicht, wen sie liquidieren ließen. Die Foltermethoden zur Geständniserpressung wurden auch durch Überlastung wahllos. Manchmal führten Putzfrauen die Verhöre. Wo die Patronen ausgingen, wurden Todeskandidaten in Massengräbern mit Knüppeln erschlagen. Was unter
„Unter größter Anstrengung verhaftete
Weber, Max, Die „Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis,
in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 3. Aufl., Tübingen 1968, S. 146-214 (erstmals erschienen im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Jg. 19 (1904), S. 186; vgl. auch S. 171). Ähnlich Dray, William, „Explaning What" in History, in: Theories of History, hrsg. von Gardiner, Patrick, Glencoe 1959, S. 403-408.
Zur Komplementarität von Allgemeinem und Besonderem
Ausschaltung jeglicher rechtlicher und moralischer [...] nur als Mordbacchanal bezeichnen."2
Schranken
193
geschah,
läßt sich
Eigenart der Geschichte und die Fähigkeit des guten Historikers aus, daß schließlich im Einzelnen, im Mikro-Bereich, das große Ganze sichtbar wird. Wieviel allgemeine Geschichte, Sozialgeschichte, Geistesgeschichte, politische Geschichte von der Makro- und Meso-Ebene vermag sich doch im Brennspiegel einer Biographie zu konzentrieren! Exemplarisch sei hier nur hingewiesen auf George Clares Buch Letzter Walzer in Wien, in dem der Autor die Geschichte seiner Familie und insbesondere die seiner Eltern, welche in Auschwitz ermordet wurden, dem Leser vor Augen führt,3 dann aber auch auf den von Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich und Irina Renz herausgegebenen Band Die Deutschen an der Somme 1914-1918.4 In sieben Abschnitten wird darin die Strukturgeschichte mit Dokumenten der individuellen Biographie in Beziehung gebracht: Von der Planung ausgehend führt die Betrachtung über das eigentliche Schlachtgeschehen des Jahres 1916 und die Besetzung zu den Ereignissen des Rückzugs und schließlich zur kurzen deutschen Rückeroberung des Jahres 1918; diese Ausführungen werden ergänzt durch Angaben zur Erinnerungsliteratur und zur pädagogisch-historischen Aufarbeitung in den Museen und Gedenkstätten. Ähnlich wie bei der Lektüre von Clare erfaßt den Leser ein geradezu existenzieller Schauder: Menschen verschwinden mit einem letzten Zeichen hier sind es Soldatenbriefe, dort Briefe an Freunde vor und während der Deportation. Und während die einen im Strudel der Ereignisse noch letzte Begründungen und einen Sinnzusammenhang für ihr Tun und Leiden zu finden und zu formulieren suchen, zeigt sich in den Äußerungen der anderen nur die Erwartung einer schrecklichen Ungewißheit. Beidem begegnet der Leser so, daß ihm die über die Semantik vermittelte Einfühlung zur Grundvoraussetzung einer Daseinshermeneutik des gestundeten Lebens wird. Für beide Darstellungen gilt, daß sich in ihnen der Sinn oder Widersinn des Allgemeinen im Einzelnen kundgibt, während sich bekanntlich eine symmetrische Beziehung die Widerspiegelung des konkreten Besonderen im abstrakten Allgemeinen nicht herstellen läßt. Die aus der erzählerischen Darstellung gewonnene Erfahrung des Einzelnen verdampft geradezu in der statistischen Faktographie der großen Zahlen. Wo aber die Anschauung fehlt, wird Geschichtsschreibung zur buchhalterischen Registrierung. Es macht eine
-
-
-
2
3
Holm, Kerstin, Bacchanal des Tötens, Stalins Terror in der Provinz: Eine Moskauer Tagung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. Oktober 2006, S. 44.
Clare, George, Letzter Walzer in Wien. Spuren einer Familie, Frankfurt/Main Die
4
u.a.
1984.
gebundene Ausgabe erschien deutsch erstmals unter dem Titel Das waren die Klaars. Hirschfeld, Gerhard/ Gerd Krumeich/ Irina Renz (Hg.): Die Deutschen an der Somme 1914-1918. Krieg, Besatzung, Verbrannte Erde, Essen 2006.
194
1.2.
Karl Acham
Typusbegriff und historische Semantik
Einseitigkeiten des historischen Materialismus und bestimmter epigonaler Bestrebungen von Strukturalisten, die oft zu einer weitgehenden Entpersonalisierung historischer Vorgänge führten, wird in den verhaltenstheoretischen Ansätzen der jüngeren ökonomischen Geschichtsbetrachtung der Mensch zwar in Betracht gezogen, dies aber in typisierter Form. Dabei wird er oftmals auf jene Reflexe reduziert, welche als Reaktionen auf die jeweils erkannten materiellen Reize bzw. wirtschaftlichen Nutzenerwartungen für ihn charakteristisch sein sollen. Joachim Fest hat sich gegen die hinter derartigen Auffassungen liegende Anthropologie
Nach den
verwahrt:
„So verhalten sich Menschen [...] nicht; so haben sie sich nie verhalten. Denn oft erkennen sie ihr Interesse nicht, oft handeln sie auch entschieden dagegen: aus Angst, Liebe, Haß, Hingabebereitschaft oder aus Gründen, sei es der Moral, sei es der Perversion von Moral."5
Der Historiker in Fests Verständnis wird also bestrebt sein, ein Individuum gewiß nicht nur rational im Lichte von Nutzen-Kosten-Kalkulationen zu erklären, welche sich auf gesetzesförmig wirkende invariante Bedürfnisse und gleichbleibende individuelle Nutzenorientierungen stützen.6 Aber in welche Richtung soll nun legitimerweise über eine eingeschränkte Anthropologie im vorliegenden Fall über die des homo oeconomicus hinausgegangen werden? „Wir sprechen von einem homo religiosas, homo oeconomicus, homo politicus man könnte die Liste dieser Menschen auf -us beliebig erweitern", bemerkt Marc Bloch und stellt dazu ergänzend fest: -
-
-
„Es wäre jedoch sehr gefährlich, in ihnen etwas anderes zu sehen, als sie in Wirklichkeit sind: bloße Phantome, die solange praktisch sind, als sie dem
Fest, Joachim, Noch einmal: Abschied von der Geschichte, Gedanken zur Entfremdung von
Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. Dezember 2006 (gekürzte Version eines Vortrags vor dem Kulturkreis im Bundesverband der Deutschen Industrie, erstmals gedruckt in der Tiefdruckbeilage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. Dezember 1977), S. 39. Einsichten dieser Art waren maßgeblich dafür, daß beispielsweise Odo Marquard die Unverzichtbarkeit der Erzählung von Geschichten proklamierte: Marquard, Odo, Philosophie des Stattdessen. Studien, Stuttgart 2000, S. 60 f. Auch von anderen Autoren wird der Ansicht Marquards Rechnung getragen, daß die Erzählung Zukunft hat; vgl. exemplarisch KLOTZ, Volker, Erzählen. Von Homer zu Boccaccio, von Cervantes zu Faulkner, München 2006; Bürger, Peter, Das Erleben in Ordnung bringen. Die Wiederkehr des Erzählens in den Künsten, in: Neue Zürcher Zeitung, Internationale Ausgabe, 19./20. August 2006, S. 29 f.
Zur Komplementarität von Allgemeinem und Besonderem
195
Erkennen nicht hinderlich werden. Das einzige Wesen aus Fleisch und Blut ist der Mensch schlechthin, der immer alles das zugleich ist."7 In der Tat läßt sich keine Wirklichkeit auf ihre
sprachliche Deutung und Gestaltung reduzieren, und dies zeigt sich besonders an Typenbegriffen der soeben genannten Art. Aber ohne solche sprachlichen Leistungen, wie es Typisierungen nun einmal sind, gibt es ebenfalls keine Wirklichkeit, die von uns erkannt werden könnte. Was begriffen werden kann und begriffen werden muß, liegt außerhalb der Begriffe. Und daher weist jede Semantik über sich hinaus, auch wenn kein Gegenstandsbereich ohne semantische Leistungen erfaßt und erfahren werden kann: „Ohne Begriffe keine Erfahrung und ohne Erfahrung keine Begriffe".8 Von solchen Voraussetzungen ausgehend unterscheidet Reinhart Koselleck vier logische Möglichkeiten im Verhältnis von Wortbedeutung und Sachverhalt: 1. Die
Bedeutung
eines Wortes sowie der erfaßte Sachverhalt bleiben sich
gleich; 2. die Wortbedeutung bleibt sich gleich, aber der Sachverhalt ändert sich; 3. die Wortbedeutung ändert sich, aber die zuvor damit erfaßte Wirklichkeit bleibt sich gleich; 4. Sachverhalt und Wortbedeutung entwickeln sich völlig auseinander, so daß nur noch mit der begriffshistorischen Methode ermittelt werden kann, welche Wirklichkeit ehedem wie aufweichen Begriff gebracht wurde.9 Koselleck erläutert diese vier logischen Möglichkeiten an einigen zentralen Begriffen der politisch-sozialen Sprache: „Kapitalismus", „Revolution" und „Staat".10 Zweierlei läßt sich aus Kosellecks Analysen der Beziehungen von die historische Welt normativ strukturierenden Geschichtsbegriffen und deskriptiver Begriffsgeschichte, von theoretischer Erwartung und empirischer Erfahrung leinen: daß viele Begriffe insbesondere die verschiedenen Idealtypen nichts anderes sind als Abbreviaturen von Theorien, in welchen verschiedene Variablen vor dem Hintergrund spezifischer Raum-Zeit-Verhältnisse zueinander in Beziehung gesetzt und mit ihnen verglichen werden; ferner aber, daß eine gute, theoretisch informierte Strukturanalyse ein Querschnitt am rechten Ort ist. Am besten paßt daher eine -
7
-
Bloch, Marc, Apologie der Geschichte oder Der Beruf des Historikers, hrsg.
von Febvre, (1. französ. Aufl. 1949), 2. Aufl., München 1985 (übersetzt nach der 6. Aufl., Paris 1967, von Siegfried Furtenbach, revidiert durch Friedrich J. Lucas), S. 116 f. Koselleck, Reinhart: Begriffsgeschichte und Geschichtsbegriffe, in: Geschichte der
Lucien
8
9 10
österreichischen Humanwissenschaften, Band 1: Historischer Kontext, wissenschaftssoziologische Befunde und methodologische Voraussetzungen, hrsg. von Acham, Karl, Wien 1999, S. 343. Koselleck, Begriffsgeschichte und Geschichtsbegriffe (wie Anm. 8), S. 344. Koselleck, Begriffsgeschichte und Geschichtsbegriffe (wie Anm. 8), S. 344-349.
Karl Acham
196
solche
Theorie, wie Golo Mann bemerkte, für die Zeit und die historischen Verhältnisse, aus denen heraus und für die sie geschaffen wurde: besten für das Frankreich Louis Philippes und das frühvictorianische England. Und für das Reich Ottos des Großen wäre Wehler mit seinen Theorien, seinen Kategorien gewiß nicht so weit gekommen wie für das Reich Wilhelms II."11
„Darum ist Marx
am
2. Konstitutionsprobleme: Zum Was und zum Wie historischer Darstellungen folgenden soll gezeigt werden, wie historische Theorien einerseits als Leitbegriffe und Begriffsschemata, andererseits als Erzählstrukturen den historischen Sachverhalt konstituieren. Abschließend soll in diesem Kapitel auch auf die Auswahl der als relevant angesehenen Ursachen durch die Festlegung des Beobachtungsrahmens historischer Darstellungen kurz Bezug genommen werden. Im
2.1. Normative
Begriffe und historischer Sachverhalt
Charakterisierung der die hier angestellten Betrachtungen leitenden Erkenntnisorientierung kann man von der berühmten Wendung Ludwig Wittgensteins aus den Philosophischen Bemerkungen ausgehen, welche lautet: „Sage mir, wie du Zur
suchst, und ich werde dir sagen, was du suchst."12 Sie ist unter anderem dazu dienlich, sich darüber klar zu werden, welche Vorentscheidungen über die Charakterisierung des historischen Gegenstandes allein schon durch die Wahl der jeweils
leitenden Begriffe und Begriffsschemata getroffen werden. Das Singuläre und Individuelle ist spätestens dann von Interesse, wenn es als Abweichung vom Allgemeinen oder von dem wahrgenommen wird, was man landläufig als Normalerwartung bezeichnet. Aber was ist nun jenes vom „Normalen" Abweichende? Es handelt sich dabei, jeweils nach Maßgabe des gewählten Normalitätsbegriffs, entweder um eine Anomalie oder aber um eine Abnormität. Mit anderen Worten: Alles hängt davon ab, ob man bei der Bestimmung des Normali"
12
Mann, Golo, Plädoyer für die historische Erzählung, in: Theorie und Erzählung in der Geschichte, hrsg. von Kocka, Jürgen/Nipperdey, Thomas, München 1979, S. 47. Wittgenstein, Ludwig, Philosophische Bemerkungen, Frankfurt/Main 1964, S. 66. Ähnlich äußert sich Paul Valéry im Blick auf das jeden künstlerischen Akt bestimmende Formprinzip: „Wollte man sich alles Suchen vor Augen halten, welches das Schaffen oder Übernehmen einer Form voraussetzt, so käme man nie auf den einfältigen Gedanken, sie dem Inhalt entgegenzusetzen." (Valéry, Paul, Windstriche, Aufzeichnungen und Aphorismen, Frankfurt/Main 1995, S. 88.)
Zur Komplementarität von Allgemeinem und Besonderem
197
tätsbegriffs eine statistische Norm oder aber eine Sollensnorm im Blick hat. Auf das trefflichste wird dieser Gegensatz illustriert durch die unterschiedlichen Forschungsorientierungen von Frédéric Le Play und Adolphe Quételet.13 Statt das Typische im Sinne des arithmetischen Durchschnitts einer bestimmten Menge von Merkmalsträgern darzustellen, benutzte Le Play repräsentative Individuen, um durch sie den Idealtypus ihrer Klasse oder ihrer Berufsgruppe aufzuzeigen, und zwar ganz nach Art des Naturhistorikers oder Geologen: Le Play, der ursprünglich Bergbauingenieur war, betrachtete diese typischen Repräsentanten einer Berufsgruppe ganz so, wie man ein ideal geformtes Mineral oder ein Gestein als einen paradigmatischen Fall oder als ein Modellexemplar ansieht. Eine Phänomenologie von Idealtypen sollte in seinen berühmten Untersuchungen der Lebensbedingungen europäischer Arbeiter14 dazu verhelfen, das Singuläre zu erfassen, auch wenn dieses im Laufe der Zeit zunehmend weniger einem der ursprünglichen Typen entsprechen mag (und dann dieser Typus einem die Vielfalt besser ordnenden neuen Platz machen muß). Ganz anders die Vision des Sozialgeschehens und die darauf bezügliche Wissenschaft bei Quételet: In seinem Buch Physique sociale, einer im Jahr 1869 publizierten Neufassung des 1835 erschienenen Werkes Sur l'homme,15 versuchte er dem Leser eine Vorstellung vom Durchschnitt, vom „homme moyen", zu vermitteln.16 Quételet hat die durchschnittliche anatomische Statur, Augenfarbe, künstlerische Fertigkeit und Krankheit in reale Quantitäten verwandelt. Sobald er dies getan hatte, erschien ihm die Abweichung von den
Mittelwerten als ein nicht weiter verwunderliches, „natürliches" Phänomen, als eine von der Natur veranlaßte Anomalie.17 Im Unterschied dazu porträtierte eben Le Play Arbeiter unterschiedlicher Profession in ihrer auch von Angehörigen der jeweiligen Berufsgruppe so empfundenen idealtypischen Ausprägung: Nomaden im Ural, Messerschmiede in Sheffield, Köhler in Österreich, landwirtschaftliche Pächter in Kastilien etc. Nicht Gesetzmäßigkeit und die Suche nach dem Durchschnitt als dem Normalzustand galt für ihn als Forschungsdevise, sondern die -
-
13
Zum
14
Le
15
Folgenden vgl. Hacking, Ian:
The
Taming of Chance, Cambridge u.a. 1990, Kap. 13,
16, 19,20. Play, Frédéric,
Les Ouvriers européens: Etudes sur les travaux, la vie domestique et la condition morale des populations ouvrières de l'Europe d'après les faits observés de 1829 à 1879, 6 Bände, Paris 1879. Quételet, Adolphe, Sur l'homme et les développement de ses Facultés ou Essai de physique sociale, Brüssel 1835. in diesem Zusammenhang Mühlmann, Wilhelm Emil, Die Entdeckung des „mittleren Menschen", in: Homo Creator, Abhandlungen zur Soziologie, Anthropologie und Ethnologie, hrsg. von Mühlmann, Wilhelm Emil, Wiesbaden 1962, S. 5-11.
16
Vgl.
17
Man könnte diesen Gedanken auch auf das moralische Verhalten der Menschen zur Anwendung bringen worauf dann „gut" und „böse" als déviante Formen der geltenden, weil durchschnittlichen, sich im massenhaften Verhalten besonders häufig kundgebenden Werthaltungen aufzufassen wären. -
198
Karl Acham
wobei sich deren Wandel, also die markanten Änderungen des Berufsbildes und der Berufsrollen bis hin zu deren gelegentlicher Obsoleszenz mithilfe der normierenden Typusbegriffe als Abnormität darstellen ließ. Ähnlich wie Le Play richtete sich später Max Weber mit seiner „Verstehenden Soziologie" gegen die auf exemplarische Weise von Quételet vertretene Auffassung von einer in sich selbst zentrierten und sich selbst genügenden statistischen Soziologie. Sozialstatistik, so argumentierte Weber, werde nie in der Lage sein, singuläre Tatsachen zu erklären und könne bestenfalls einen Sinn für „Kausaladäquatheit" verbürgen; die Geschichte und die historische Sozialwissenschaft bedürften aber auch der „Sinnadäquatheit", um die intentionale und motivationale Bedeutung individueller Handlungen innerhalb eines sozialen Zusammenhangs zu erfassen und um Scheinkorrelationen in der sozialwissenschaftlichen oder historischen Darstellung zu vermeiden.
Klassifizierung der verschiedenen Typen menschlicher Tätigkeit,
2.2. Erzählstruktur und historischer Sachverhalt Aller Geschichtsschreibung, die den Namen verdient, geht es darum, dem für eine bestimmte Zeit charakteristischen Erkenntnismaterial durch eine gewisse Erzählstruktur Ordnung, Zusammenhang und Form zu geben. Auch Joachim Fest geht davon aus,
„daß [...] die Darstellung geschichtlicher Zusammenhänge, neben der sprachlichen Form, ihre dramaturgischen Regeln hat. Denn Dramaturgie ist nichts anderes als die Organisation des Stoffs mit dem Ziel, sich dem Leser begreiflich zu machen und ihm die intendierten Einsichten zu vermitteln. Ein Kapitel hat einen Anfang, es bedarf der Höhepunkte, die aus der kalkulierten Mischung der Elemente, der Perspektiven und der Tonlagen erwachsen; es enthält Detailstudien so gut wie überblickende Passagen, Strukturuntersuchungen, Porträts, typologische Betrachtungen oder quellenkritische Erwägungen [...]. Und ein Kapitel muß einen Schluß haben, einem Aktschluß vergleichbar."18
Wie kaum ein anderer, so bemerkt Fest dazu ergänzend, habe Theodor Mommsen diese Kunst beherrscht; noch immer könne er jedem Historiker eine Art Lehrmeister sein, auch und vor allem hinsichtlich der sich in seinem Schreibstil bekundenden Haltung äußersten Respekts vor dem Leser. Der Versuch einer systematischen Erfassung der verschiedenen Formen der Aneignung des Vergangenen ist erstmals in Droysens Historik unternommen worden. In seiner „Topik" der historiographischen Formen unterscheidet Droysen eine 18
Fest, Noch einmal: Abschied von der Geschichte (wie Anm. 5), S. 40.
Zur Komplementarität von Allgemeinem und Besonderem
199
untersuchende Darstellung (als „Mimesis unseres Suchens und Findens"19), ferner eine erzählende, eine didaktische und eine diskursive Darstellungsform; darin erschöpfen sich nach ihm die möglichen Darstellungsformen. In Weiterführung zwischenzeitig erfolgter einschlägiger Untersuchungen versuchte bekanntlich Hayden White in seiner bahnbrechenden Untersuchung Metahistory, welche der europäischen Historiographie des 19. Jahrhunderts gewidmet ist, die „Tiefenstruktur der historiographischen Imagination" systematisch zu erfassen. Für White liegt es in der Natur des Gegenstandes der Geschichtsschreibung, daß diese nicht einer Methodik, sondern einer eigenen Poetik folgt. Deren Möglichkeiten sucht er mit seiner Poetik der Historiographie zu erschließen. Nach Karlheinz Stierle ist Whites Metahistory trotz einer gewissen Arbitrarität des methodologischen bricolage, wodurch dieses System der historiographischen Darstellungs- und Imaginationsformen gekennzeichnet sei, bereits in greifbare Nähe einer Morphologie der historiographischen Gattungen gerückt.20 Mehr und mehr werde sich diese auch die Einsichten der modernen Erzählanalyse nutzbar machen, mittels deren uns die Literaturwissenschaft der jüngsten Zeit weit über die herkömmlichen Grenzen des Literarischen hinausgeführt habe. Stierle stellt ergänzend dazu fest:
„Geschichte ist Aneignung des Vergangenen. Für die Vielfalt der Möglichkeiten in diesem Feld ist der Rückbezug auf das Subjekt dieser Aneignung und seine vielfältige Rollenhaftigkeit ebenso von Bedeutung wie der Adressat, für den Vergangenheit angeeignet wird. [...] Eine Morphologie der historiographischen Darstellungsformen ist heute ohne eine Bezugnahme auf den Handlungscharakter der Aneignung von Vergangenheit kaum mehr denkbar. [...] Unter der Voraussetzung einer unaufhebbaren Vielfältigkeit historiographischer Aneignungsund Anschauungsformen kann die Frage nach der historischen Wahrheit nicht mehr ohne Hinblick auf die komplementäre Frage nach den Bedingungen ihrer narrativen Vermittlung gestellt werden. Die Reflexion auf die notwendige Literarität der Historiographie ist zugleich eine Reflexion auf ihre notwendige Partialität."21
Derartige Hinweise auf die Vielfalt der Aneignungsmöglichkeiten des Vergangenen irritieren seit jeher in gewissem Maße die Erkenntnistheorie, aber auch die Ästhetik. Denn jede literarische Form ist zugleich eine Bekundung der mit ihr zugleich gesetzten Perspektivierung oder Partialität der Wirklichkeitserfahrung: „Form ohne Partialität, totalitätsermöglichende Form, ist undenkbar."22 Eine literarische Form 19
20
Droyson, Johann Gustav, Historik, Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hrsg. von Hübner, Rudolf, Darmstadt 1974, S. 274. Stierle, Karlheinz, Erfahrung und narrative Form. Bemerkungen zu ihrem Zusammenhang in Fiktion und S. 115.
21 22
Historiographie,
in: Theorie und
Erzählung in der Geschichte (wie Anm. 11),
Stierle, Erfahrung und narrative Form (wie Anm. 20), S. 116f. Stierle, Erfahrung und narrative Form (wie Anm. 20), S. 117.
Karl Acham
200
kann bestimmte Aspekte an einem Sachverhalt treffen oder verfehlen. Nötig ist es jedenfalls für den Autor, sich noch vor dem Ziel, das er sei er nun Literat oder Historiker mit seinem Text zu verfolgen sucht, sich des richtigen Verständnisses des Textes zu versichern. Erst bei Vorliegen eines identischen Sachbezugs kann beispielsweise von einer Angemessenheit der Form an die Sache oder von der Kongruenz zwischen dem Wie und dem Was einer Darstellung gesprochen werden. Und erst unter dieser Voraussetzung wird es überhaupt erst möglich, so, wie Wieland Schmied es tut, über die „Wahrheit der Kunst" zu sprechen: -
-
„Wahrheit ist eine Frage der Form. Und Form bedeutet mehr als Stil. Sie ist mehr als eine Art der Darstellung oder als ein Prinzip der Gestaltung. Ihr Charakter ist ein geistiger. Sie impliziert die spirituelle Durchdringung eines Stoffes, damit der Autor oder Urheber für ein bestimmtes Was das einzig mögliche Wie findet."23 Gerade in der stets gegenwärtigen Spannung zwischen der unvermeidlichen Partialität des historiographischen Werks und der andersgearteten, vielleicht auch allzu umfassenden Erwartung bezüglich des Gegenstandsbezugs oder auch des Durchdringungsgrades auf Seiten des Lesers liegt die Unruhe der Beschäftigung mit Geschichte. Jedes Werk antwortet mehr oder weniger als die oft erst durch dessen Lektüre evozierten Fragen des Lesers bezwecken. Daher liegt es auch im Wesen der historischen Erfahrung, daß sie sich nie zur endgültigen Gestalt eines ein für allemal kanonisierten Wissens verfestigt. Auch historische Erfahrungsbildung erfolgt immer unter den Bedingungen gegenwärtigen Wissens und unter den Bedingungen von mitunter neu entwickelten Anschauungsformen. Die literarische Form der Historiographie erfüllt daher auch eine bedeutende Funktion in der jeweils gegen-
wärtigen Erfahrungsbildung:
„Indem sie in vielfältiger, immer
Form die Vergangenheit zu narrativen Konfigurationen ordnet und sie so erst erfahrbar macht, gibt sie auf die von der Historiographie selbst nicht unverschuldete Frage ,Wozu noch Geschichte?' eine neuer
gültige Antwort."24
Schmied, Wieland, Wahrheit der Kunst, Oder: Ein Realist muss alles erfinden!, in: Die Furche vom 13. Juli 2006, S. 13. Stierle, Erfahrung und narrative Form (wie Anm. 20), S. 118. Dazu, wie uns „Alte Geschichte als das nächste Fremde" erfahrbar werden kann, vgl. exemplarisch Meier, Christian, Historie, Antike und politische Bildung, in: Historischer Unterricht im Lernfeld Politik, -
Bonn
1973, v.a.S.
56-76.
Zur Komplementarität von Allgemeinem und Besonderem
201
2.3. Die Konstitution von Ursachen durch Festlegung des
Beobachtungsrahmens Eine interessante Form der Inklusion oder Exklusion von Ursachen, Absichten und Motiven und von oft damit verbundenen moralischen Wertungen erfolgt durch die in einer erzählenden Darstellung vorgenommene Festlegung des Beobachtungsrahmens. Im übrigen spiegeln auch bestimmte Elemente unserer Alltagssprache den Zusammenhang von „Kausalitäten" und „Werten" auf eigentümliche Weise wider, zumeist rein deskriptiv verstandenen Ursache gesagt wird, daß wenn von einer sie an einem Ergebnis „schuld" sei.25 Ein gutes Beispiel für den hier in Betracht stehenden Sachverhalt bringt John R. Seeley in einem Aufsatz mit dem vielsagenden Titel „The Making and Taking of Problems". Nehmen wir an, wir wollten wissen, warum Kinder lügen. Mag sein, daß wir nur sie in Betracht ziehen und zu ändern wünschen. Wenn wir es jedoch für richtig erachten, daß sie lügen, weil sie von ihren Eltern terrorisiert werden, und wenn wir mit unserer Erklärung hier haltmachen (das heißt noch immer: auf der Mikro-Ebene), dann wird es sich wahrscheinlich empfehlen, Eltern zu ändern oder sie zu veranlassen, sich zu ändern. Wenn wir es aber schließlich als gesichert ansehen, daß sich Eltern schrecklich aufführen, weil sie von ökonomischer Unsicherheit geplagt sind, und wenn wir da mit unserem Erklärungsversuch einhalten (das heißt auf der Makro-Ebene), dann wird man Möglichkeiten für eine Abhilfe dagegen, daß Kinder lügen, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in den besteuerungsfähigen Gewinnen der ökonomischen Elite erblicken. Und so weiter. Auf jeden Fall zeigt sich, daß die Zurechnung von Schuld und Verantwortung in moralischen Belangen davon nicht unabhängig ist, wo man bei der Betrachtung gesellschaftlich-geschichtlicher Sachverhalte haltmacht: beim Mikro-, Meso- oder Makro-Rahmen, dem jeweils eine bestimmte Sichtfelddimensionierung entspricht.26 So wird offenkundig, daß die Wahl von Halte- oder Abbruchspunkten in der Beschreibung sozialer Sachverhalte in der Regel auch bestimmend dafür ist, wo die Halte- oder Abbruchspunkte der Erklärung liegen, verschiedentlich aber auch dafür, wie die Wertungen durch die Zurechnung der moralischen Verantwortung auf der Grundlage der erwähnten „moralischen Kausalität" jeweils geartet sind. Damit ist eine entsprechende Dimensionierung des Beobachtungsrahmens geschichtlichgesellschaftlicher Sachverhalte sowohl kausal als auch moralisch bedeutsam. Es ist mitunter gut, sich in Anbetracht einer bestimmten historischen Problemexposition auch zu fragen, ob der Historiker bei der Wahl einer bestimmten Begriff-
25
26
-
Vgl. dazu Kelsen, Hans, Vergeltung und Kausalität. Eine soziologische Untersuchung, 2. Aufl., Wien/ Graz/ Köln 1982. Vgl. dazu Seeley, John R., The Making and Taking of Problems: Toward an Ethical Stance, in: The Relevance of Sociology, hrsg. von Douglas, Jack D., New York 1970.
202
Karl Acham
lichkeit sowie eines bestimmten räumlichen oder zeitlichen Blickwinkels ein Gespür dafür unter Beweis stellt, was seine Thesen in Frage stellen oder erhärten könnte. Die Wahl des Begriffs- und Beobachtungsrahmens ist dabei keineswegs immer eine Sache mangelnder oder umfassender Kenntnisse viel häufiger zeigt sie das an, was man mit Paul Valéry das „historische Dissenspotential" eines Autors nennen könnte.27 -
3.
Über historisch Mögliches und Wirkliches
Mit den
folgenden Betrachtungen wird die Blickrichtung in bestimmter Weise im nun Folgenden geht es, vereinfacht gesagt, um die Bestimmung Denn gedreht. des Was durch gewisse Formen der Bearbeitung von Warum-Fragen, genauer: durch nomologische Hypothesen. Deren Anwendung führte in den historischen Kulturwissenschaften immer wieder dazu, daß zugunsten der kausalen Bedeutung die Kulfurbedeutung28 historischer Sachverhalte nicht gebührend berücksichtigt wurde. Diese Engführung der nomothetischen Betrachtungsweise gereichte der angemessenen Erfassung und Analyse historischer Sachverhalte zum Schaden. Max Webers Plädoyer für eine „Wirklichkeitswissenschaft" im Unterschied zur „Gesetzeswissenschaft" ist vor diesem Hintergrund zu sehen.29 dazu Valéry, Paul, Zur Zeitgeschichte und Politik, hrsg. von Schmidt-Radefeldt, Jürgen, Frankfurt/Main/ Leipzig 1995, S. 429. Zur Analyse der „Kulturbedeutung" vgl. exemplarisch Weber, Die „Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (wie Anm. 1), v.a. S. 170-185 und S. 214. Weber, Die „Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (wie Anm. 1), S. 170-178. Obschon sie es nicht als Ziel der Geschichtswissenschaft betrachteten, Gesetze oder nomologische Hypothesen zu liefern, sahen es verschiedene Vertreter der analytischen Geschichtsphilosophie seit der Mitte des 20. Jahrhunderts als für die Erlangung des Status eines echten Wissenschaftlers unverzichtbar an, daß ein Historiker in der Lage ist, bei Bedarf stets seine Erklärungen aus Gesetzen und Randbedingungen ableiten zu können. Prominent ist in diesem Zusammenhang in der Geschichtsmethodologie die von William H. Dray so bezeichnete „covering law theory" geworden, wie sie etwa von Carl G. Hempel, Patrick Gardiner und Morton White vertreten wurde: Ihr zufolge bestehen echte Erklärungen in der Geschichtswissenschaft wie in allen anderen Wissenschaften auch darin, daß das zu erklärende historische Phänomen unter ein Gesetz oder unter eine mehrere Merkmale des in Betracht stehenden Sachverhalts integrierende Theorie subsumiert wird. Die Möglichkeiten einer Erklärung hängen davon ab, ob entsprechende Gesetze oder gesetzesähnliche Verallgemeinerungen vorhanden sind, welche dazu dienlich sein können, in einer historischen Darstellung bestimmte Ereignisse mit ihnen vorausgehenden Ereignissen zu verknüpfen. Nicht selten werden dabei historische Interpretationen als von inferiorem Status gegenüber Erklärungen aufgefaßt, nämlich als etwas, das eine gewisse Art von Unbestimmtheit und Beliebigkeit in die historische Analyse bringt.
Vgl.
-
-
Zur Komplementarität von Allgemeinem und Besonderem
3.1. Ahistorische Nomothetik, historischer Vergleich
203
empirische Generalisierung und
Die Suche nach und das Finden von Gesetzen hat ungeachtet des wissenschaftlichen Sachbereichs zur Vorbedingung, daß sich bestimmte Ereignisse, Strukturen oder Prozesse wiederholen. Ein Gesetz, das nur eine einmalige Beziehung zwischen bestimmten Merkmalen an einem Gegenstand oder zwischen unterschiedlichen Gegenständen zum Ausdruck bringt, also nur einmal „gilt", ist offenbar kein Ge-
-
setz.
In den Geistes- und Sozialwissenschaften sind
aber universell geltende Gesetze sehr selten nachweisbar, mit von trivialen Generalisierungen abgesehen anderen Worten: Der Satz „Gleiche Ursachen haben immer gleiche Wirkungen" ist hier nicht im selben Umfang gültig wie in den Naturwissenschaften. In der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt gibt es im Regelfall nie genau „die gleiche Ursache", da einerseits die Geschichte des Menschen im wesentlichen eine Geschichte seines Lernens aus der Vergangenheit ist, und da andererseits in der Vielgestaltigkeit und Komplexität gesellschaftlich-kultureller Einbettungen ein und dasselbe Phänomen eine höchst unterschiedliche funktionale Bedeutung und oft auch einen höchst unterschiedlichen Wert erlangt. Nomothetische Orientierungen beseitigen nun jedoch nicht die bestehende Vielfalt von Funktionen und Werthaltungen. Nomothetik hilft insbesondere nicht weiter bei ungleichartigen Wertungen gleicher sie auslösender „Ursachen". So gelten ja auch die Gesetze der Ballistik für die Niederlage wie für den Sieg einer Artillerie-Einheit gleichermaßen, ohne daß deshalb die beiden Geschehnisse in ihrem Wert nomologisch „neutralisiert" würden. Gleiche Ursachen haben also nicht immer gleiche Wirkungen, und ebenso gilt der Satz: „Ungleiche Ursachen können gleiche Wirkungen haben." Die Beherzigung solcher Maximen ist geeignet, uns vor falschen historischen Vergleichen zu bewahren, bei welchen man äquivoken Begriffen auf den Leim geht. Kritisch vermerkt in solchem Zusammenhang Golo Mann mit Blick auf Hans-Ulrich Wehlers Bücher über das Deutsche Kaiserreich,30 daß die behauptete Mitschuld der deutschen humanistischen Bildung und der deutschen Gymnasien der Kaiserzeit am Entstehen des Nationalsozialismus oder des Dritten Reiches nicht gerade zwingend ist: -
nun -
„Es ist, rein logisch, und Logik hat hier Bedeutung, ein Unterschied zwischen
unvermeidlich hervorbringen' oder 30
,zur
Verursachung beitragen'
auf der einen
Insbesondere mit Bezug auf Wehler, Hans-Ulrich, Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, 3. Aufl., Göttingen 1977; vgl. auch Wehler, Hans-Ulrich, Bismarck und der Imperialismus, 4. Aufl., München 1976.
Karl Acham
204
Seite, und ,nicht verhindern', ,nicht unmöglich machen' auf der anderen Seite. [...] einzige, was wir mit Sicherheit wissen, ist, daß die deutsche humanistische Bildung das Dritte Reich nicht verhindert hat. [...] Schließlich haben die jungen Engländer im frühen 20. Jahrhundert viel, viel mehr Griechisch und Lateinisch gelernt als die deutsche Jugend, und in England gab es keinen Faschismus. Das
Deutschlands soziale Strukturen haben das Abenteuer Adolf Hitlers nicht verhindert, nicht unmöglich gemacht, soviel ist ganz sicher richtig, und mehr nicht. Ich behaupte: Hitlers Abenteuer war beinahe unmöglich und wurde Wirklichkeit, gerade weil es den Zeitgenossen unmöglich schien [...]. Hätten sie es für möglich oder wahrscheinlich gehalten, dann hätten sie anders gehandelt und hätten es
unmöglich gemacht."31
heißt, aufgrund bestimmter struktureller Ähnlichkeiten
historischen Ereignissen vorschnell Schlüsse bezüglich der vermeintlichen Gleichheit von Ursachen und Wirkungen zu ziehen und auf deren Grundlage sodann „Geschichte zu machen", führt das Beispiel mißglückter historischer Komparatistik im Zusammenhang mit dem zweiten Golfkrieg im Jahr 2003 vor Augen. Wie Martin Alexander und John Keiger in dem von Samuel Huntington und Paul Kennedy mitherausgegebenen Journal of Strategie Studies in der Aprilausgabe des Jahres 2006 zeigen, glaubte die Umgebung des amerikanischen Präsidenten im Jahr 2003 daran, im Irak exakt nach dem gleichen Muster eine Pazifizierung und eine Ausmerzung überkommener weltanschaulicher Orientierungen leisten zu können wie dies in Deutschland nach 1945 geschah. Zwar gab es auch im Irak 1991 und 2003, wie im Falle Deutschlands in den Jahren 1918 und 1945, einen Zusammenbruch in zwei Etappen. Aber die Niederlage des Irak 2003, befinden Alexander und Keiger, sei eher mit der Niederlage Deutschlands im Jahr 1918 zu vergleichen als mit der im Jahr 1945. Zwar sei jene Niederlage militärisch eine vollständige gewesen, in politischer Hinsicht aber keineswegs. Die moralische Entwaffnung der Bevölkerung sei nicht gelungen, die Vorstellungen der Sieger über Kriegsschuld und Kriegsursachen sowie über Kriegsverbrechen habe man sich nicht zu eigen gemacht. Stefan Scheil Was
es
von
Mann, Plädoyer für die historische Erzählung (wie Anm. 11), S. 52. Mann ergänzt diese Feststellungen noch um einige historische Befunde, die sich auf die vermeintliche Gleichförmigkeit der Einstellungen von Bauern und Militärs beziehen, aber auch auf die vermeintliche
Gleichartigkeit militärischer Vorgänge, wie etwa den Schlachtflottenbau. In diesem Zusammenhang führt er auf Seite 54 aus: „Bauern sind konservativ, Bauern sind revolutionär, je nach den konkreten Umständen." (Mann, Plädoyer für die historische Erzählung (wie Anm. 11), S. 54.) Und auf Seite 56 stellt er fest: „Schlachtflottenbau ist gleich Schlachtflottenbau, aber die Bedingungen, unter denen es in Deutschland um 1900, in Rußland um 1965 zu ihm kam, waren gründlich verschieden voneinander." Vgl. in diesem Zusammenhang auch Weber, Die „Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (wie Anm. 1), S. 168 f.
Zur Komplementarität von Allgemeinem und Besonderem
kommentiert die im erwähnten Artikel den Worten:
205
dargestellte falsche historische Analogie mit
„Hinter dem nicht nur militärisch, sondern auch politisch gemeinten DeutschlandIrak-Vergleich der Regierung Bush stand die Annahme, es sei erst der zweimalige
Sieg des Westens gewesen, der in Deutschland demokratische Strukturen geschaffen habe. Unberücksichtigt blieb, daß der deutsche Staatsverband seit dem frühen Mittelalter die Wahl eines Staatsoberhaupts kannte und die Einschränkung von dessen Kompetenzen durch föderale und schließlich gar parlamentarische -
Strukturen. Solche Traditionen entwickelte das Bismarckreich nach 1871 weiter, bereits ein Nationalparlament nach allgemeinem und gleichem Wahlrecht gewählt wurde, als in England weiter ein klassenwahlrechtlicher Sonderweg den Gang der Dinge bestimmte. Ein Rechtsstaat wurde nach 1945 nicht neu geschaffen, sondern unter veränderten Bedingungen wiederhergestellt."32 wo
Wie
es
scheint, hilft in Anbetracht der hier exemplarisch dargelegten Gründe für
historische Analogien und defekte Komparatistik nur der periodisch immer wieder verhöhnte Interpretations-Eklektizismus; er kann uns davor bewahren, dem Aberglauben zu erliegen, daß bestimmten Geschichtsbegriffen invariante Bedeutungen und induktiven Generalisierungen universelle Geltung inhärent seien. Zwischen den Geschichtsbegriffen und der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt besteht keine strikte Korrespondenz von Zeichen und Bezeichnetem, und der kontingente Charakter von empirischen Verallgemeinerungen unterläuft die Annahmen von historischer Gleichartigkeit. Lange vor Nietzsches einschlägigen Warnungen vor den Gefahren historischer Analogien hat solche Polybios ausgesprochen:
inadäquate
„Jede Sache, die im Rahmen ihrer Zeit betrachtet wird, findet eine adäquate Beurteilung positiver oder negativer Art; wenn aber die Zeit eine andere geworden ist und die Sache unter dem Gesichtspunkt der nunmehr veränderten Umstände beurteilt wird, so erscheinen oftmals die zutreffendsten und wahrsten Bemerkungen eines Historikers nicht nur nicht einleuchtend, sondern geradezu unannehmbar."33
Scheil, Stefan, Ein internationales Regiment von Überwachen und Strafen. Abrüstung als Waffe: Deutschland nach 1918 und der Irak nach 2003 im politikwissenschaftlichen Vergleich, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. September 2006, S. N 3. Polybios VI, 11, 10, Übersetzung von H. Drexler; zitiert nach Christ, Karl, Geschichte und Existenz, Berlin 1991, S. 25.
206
Karl Acham
3.2. Nomothetischer Absolutheitsanspruch und theoretischer Pluralismus Gerade erklärungskräftige Hypothesen und Theorien können dem Historiker dadurch zum Problem werden, daß sich durch die mit ihnen verbundene Konzentration auf bestimmte Merkmale oder Variablen bei ihm eine selektive Sicht des historischen Gegenstandes einstellt. Die geschichtliche Wirklichkeit bietet bei unseren Versuchen ihrer Erklärung eine überreiche Fülle an Wirkkräften an, die gewissermaßen auf verschiedenen Linien in einem bestimmten historischen Gegenstand zusammenlaufen. Klammert man einen bestimmten „theoretischen Vorgriff und die mit ihm gekoppelte Betrachtungsweise ein, so kommen an dem Gegenstand andere, oft neue Aspekte in den Blick. Verschiedentlich bewirkten allerdings der in der Folge aktualisierte Multiperspektivismus und der mit ihm verbundene theoretische Pluralismus entweder einen discriminative strain, eine kognitive Überbelastung, oder aber den Eindruck einer unausweichlichen Beliebigkeit und Willkür von Interpretationen. Deshalb versuchen es verschiedene Autoren mit der Idee einer „eigentlichen Ursache" oder einer „Ursache schlechthin". Es scheint, daß vielen Kontroversen über Zustände, Ereignisse und Prozesse der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt ein Urteil über die Wichtigkeit als ein absolutes Merkmal bestimmter historischer Gegenstände und Sachverhalte zugrunde liegt. Wie der polnische Soziologe Stanislaw Ossowski bemerkte, treten kontroversielle Aspekte in solchen Fällen deshalb auf, weil die Kontrahenten ihren Begriff der Wichtigkeit oder der kausalen Relevanz nicht relativieren. Sie fragen nicht: „Wichtig im Hinblick worauf?", und zwar einfach deshalb nicht, weil sie die Wichtigkeit als absolutes Merkmal behandeln.34 Daher rührt auch der verbreitete „Psychologismus", „Soziologismus" oder „Ökonomismus" in der historischen Erklärung kultureller Phänomene, der in einer Weise formuliert wird, als müsse man sich entscheiden, ob beispielsweise die Herstellung eines Kunstwerkes entweder durch die subjektive Disposition des Künstlers oder die soziale Ungleichheit oder den ökonomischen Verwertungszusammenhang determiniert ist. Der Tendenz zu monokausalen Erklärungen wurde auf diese Weise häufig die Auszeichnung als methodologisches Prinzip zuteil. Geht man hingegen so an die Sache heran, daß man fragt: „Was ist in einer bestimmten Situation im Hinblick auf diese und jene Fragestellung wichtiger?", so kann eine falsche Dramatisierung der Sachlage von Anfang an unterbleiben, ohne daß diese Relativierung mit methodologischer Beliebigkeit zu tun hätte. So wird zum Beispiel für den Mediziner, wie Marc Bloch unter Bezugnahme auf einen von ihm geschätzten wissenschaftlich tätigen Zeitgenossen fest34
Ossowski, Stanislaw, Die Besonderheiten der Sozialwissenschaften (1. poln. Aufl. 1967), Frankfurt a. M. 1973, S. 103.
Zur Komplementarität von Allgemeinem und Besonderem
207
stellte, eine Epidemie als relevante Ursache die Verbreitung eines Virus haben und
als Bedingung die durch den Pauperismus hervorgerufene mangelnde Sauberkeit und schlechte Gesundheit; andererseits wird für den Soziologen und gewiß gilt dies auch für den Historiker die als besonders relevant angesehene Ursache der Pauperismus sein, die Verbreitung des Virus hingegen zu den Bedingungen gezählt werden. Somit wird klar, daß die Gewichtung der in Betracht stehenden Variablen vom besonderen Blickwinkel des jeweiligen Forschers abhängt.35 -
-
3.3. Über theoretischen Monismus und den Glauben an die Theorie"
„große
Marc Bloch wurde nicht müde, vor den Auswirkungen eines erkenntnistheoretischen, politischen oder moralischen Apriorismus in der Darstellung und Erklärung der Geschichtswissenschaft zu warnen. Auf die historische Erklärung bezogen führt er zum Schluß seiner Apologie der Geschichte aus: „In der Geschichte, wie auch sonst, dürfen Ursachen nicht postuliert werden, man muß sie suchen."36 Gewisse Geschichtsanalytiker aber wissen im Nachhinein offensichtlich alles, wobei sie nicht selten auch „eine billige Überlegenheit über die Toten"37 unter Beweis stellen. Die Geschichte verliert bei ihnen ihre Möglichkeitsdimension, denn im Wissen um den Ausgang verschiedener Ereignisse werden diese in Zusammenhänge gezwängt, als sei, wie es Joachim Fest formuliert, „die Geschichte eine Rechenaufgabe ohne Unbekannte":
„Die Widersprüchlichkeiten, die jeder Entwicklung innewohnen, die Zufalle, Unberechenbarkeiten, kurz: die Freiheit der Menschen im Verhalten, kommt dabei abhanden, und was immer geschieht, scheint einem verborgenen Gesetz zu
gehorchen. Alles wirkt eigentümlich determiniert [...]. Verloren geht die Offenheit der Geschichte, ihr Entscheidungscharakter: Irrtum, Versagen, Schuld, Zweifel, Verantwortung, mit einem Wort: ihr Menschenwesen."38 Bloch, Apologie der Geschichte oder Der Beruf des Historikers (wie Anm. 7), S. 147. Bloch, Apologie der Geschichte oder Der Beruf des Historikers (wie Anm. 7), S. 150. Mann, Plädoyer für die historische Erzählung (wie Anm. 11), S. 51. Fest, Noch einmal: Abschied von der Geschichte (wie Anm. 5), S. 39. Sehr ähnlich äußerte sich bereits Friedrich H. Tenbruck über die Soziologie als „Gesetzeswissenschaft": „Diese
Soziologie ist auf geistig unselbständige Menschen zugeschnitten, die mit der Aussicht auf die Befriedigung ubiquitärer Wünsche zufrieden sind, ohne einen Maßstab zu entbehren, der diesen Velleitäten erst Halt und der Einrichtung der Verhältnisse erst Sinn verleihen könnte. Sie zählt auf Menschen, die auf die Einrichtung der äußeren Umstände wie ein technisches Mittel setzen, um die Übel zu bekämpfen und das Verhalten zu ändern. Sie appelliert an Menschen, die dem Zwang zur inneren Stellungnahme zu entkommen hoffen durch Vorher-
208
Karl Acham
Mit solchen kritischen Wendungen ist gleichwohl nicht schon prinzipiell etwas gegen die heuristische Fruchtbarkeit einseitiger nomologischer Orientierungen ausgesagt. Denn selbstverständlich wird um die von dem Physiker Arthur Eddington benutzte Metapher zu verwenden jede auch noch so monistische Theorie wie ein Fischernetz wirken und so gut wie immer mit einem Fang aufwarten können. Aber es wäre eben falsch anzunehmen, daß es nur eine bestimmte Maschengröße der Netze geben dürfe, oder daß gar nur jene Art von Meerestieren existiere, die nicht durch die Maschen fällt. Um die Sache für unseren Zweck anschaulicher zu machen: Der Historiker kann bestimmte Ereignisse der geschichtlichgesellschaftlichen Welt beispielsweise gemäß dem Primat der Innenpolitik aufbereiten, womit er unter Beweis zu stellen versucht, daß die Innenpolitik die Außenpolitik bedingt, wie dies nach Wehler zum Beispiel im Hohenzollern-Reich der Fall war; er kann aber auch den Primat der Außenpolitik betonen, mithin das, was Raymond Aron „Gegnerschaft par position" genannt hat, welche auf der schieren Koexistenz zweier Mächte beruht. Aber darüber befindet kein Apriorismus! Gegen die methodische Einseitigkeit eines Primats der Innenpolitik gewendet, erklärt Golo -
-
Mann:
„Keine Theorie gibt uns oder erklärt uns oder entschlüsselt die Fülle geschichtlicher Wirklichkeit; man bekommt sie niemals ganz in die Hand, sie ist
unerschöpflich; darum muß man sie immer von verschiedenen Seiten angehen, um möglichst viele und weite Gegenden des unbekannten Kontinents zu erkunden. So brauchen wir zum Verständnis des Ersten Weltkrieges gewiß Soziologie und mehr von ihr als gewöhnlich; aber Wissen um originäre Machtpolitik auch. Sie allein erklärt und erklärt uns völlig befriedigend die Entstehung des französischrussischen Bündnisses, das, soziologisch gesehen oder ideell gesehen, höchst unnatürlich war, so unnatürlich wie das amerikanisch-russische Bündnis im Zweiten Weltkrieg."39
Es ist der Glaube an die Theorie und zwar an „Theorie" im Singular, also gerade nicht im Sinne eines Pluralismus der Deutung, Interpretation oder Erklärung -, der hinter der Verachtung des deskriptiven Wissens zu liegen kommt, das allein uns die Wirklichkeit in ihrer qualitativen Eigenart vorstellt. Nicht nur arbeitet ein im Sinne der großen Theorie die Erfahrung vereinheitlichendes Erklärungswissen mit einer Reihe von Indikatoren und Variablen, welche die soziale Wirklichkeit, die im Kern aus den Beziehungen handelnder Personen besteht, in eine Welt zuständlicher -
sagen, wie sich die Dinge oder gar noch 'die Werte' entwickeln. Und sie stellt noch dazu die Abschaffung des Bösen, von Sünde und Schuld, in Aussicht, für die in einem gesetzmäßigen Geschehen kein Platz sein kann." (Tenbruck, Friedrich H., Die unbewältigten Sozialwissenschaften oder Die Abschaffung des Menschen, Graz/ Wien/ Köln 1984, S. 195.) Fest, Noch einmal: Abschied von der Geschichte (wie Anm. 5), S. 49.
Zur
Komplementarität von Allgemeinem und Besonderem
209
Merkmale und die Personen in bloße Merkmalsträger verdinglicht, sondern sie verbündet sich häufig mit einem ganz spezifischen Erkenntnisinteresse. Während Vertreter des theoretischen Pluralismus von ihnen als bloß partikularisierende und die Welt segmentierende Positivisten apostrophiert werden, erblicken gewisse in der Tradition der Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts stehende Geschichtstheoretiker in der Aufweisung eines „Grundwiderspruchs", eines „Primats" oder einer globalen Tendenz die Möglichkeit, jene gesellschaftliche Gesetzmäßigkeit entdecken zu können, die es gestattet, dem Lauf der menschlichen Geschichte vorausschauend zu begegnen. Eine Geschichtstheorie, die das leistet, kann dann jenes Mittel werden, durch welches sich der Mensch aus seiner blinden Verlorenheit an die Zufälligkeit der äußeren Umstände vermeintlich selbst erlöst. Deutlich zeigt sich eine solche Erkenntnishaltung auch an jenen Sozialtheoretikern, die sich einer definitiven Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung verschrieben haben. Bei ihnen stellte sich, wie Friedrich H. Tenbruck meint, die Überzeugung ein,
„daß das menschliche Los durch die Vollendung einer solchen Theorie völlig gewendet werden könne. Hier liegt die systematische Erklärung dafür, daß alle
Spielarten dieser Soziologie die Merkmale eines religiösen Glaubens und einer missionarischen Sendung aufweisen, ob diese sich nun in einer pathologischcharismatischen Persönlichkeit, [...] in dem Glauben an die Erlösungsmission der Soziologie oder endlich nunmehr in blindem Eifern für die Rationalität von Methoden äußern: Die Soziologie wird zum heiligen Werk."40
4. Jenseits von narrativer Beliebigkeit und theoretischem
Allmachtsanspruch
Zwischen den Stützpfeilern der faktographisch gesicherten Befunde entwickelt sich das Geflecht rekonstruierter Beziehungen, das wir „Ereignisgeschichte", manchmal ganz einfach „Vergangenheit" nennen. Diese ist über weite Strecken ein hypothetisches Konstrukt aus jeweils unter dem Eindruck von Erfahrungen und Erwartungen entwickelten Vorstellungen. Die darauf bezüglichen Aussagen stellen nicht schon die „historische Wahrheit" dar, sondern eher ein mehr oder weniger gesichertes Für-wahr-Halten. Aber aus diesem für die Geschichte seit jeher charakteristischen Umstand resultiert nicht methodologische Willkür. Wie Reinhart Koselleck festgestellt hat, gibt es wohl und zwar wegen der „Entscheidung darüber, welche Faktoeinen „Primat der Theorie", welcher die Bedingunren zählen sollen oder nicht" Geschichte setzt; das besagt jedoch weder so etwas wie einen theoregen möglicher tischen Monismus, noch einen Voluntarismus. Ob eine Geschichte ökonomisch -
-
Tenbruck, Die unbewältigten Sozialwissenschaften (wie Anm. 38), S. 174.
210
Karl Acham
gedeutet werden soll, ist nach Koselleck zunächst keine Frage des Quellenbestandes, sondern theoretischer Vorentscheidung: oder theologisch
„Erst wenn diese Entscheidung gefallen ist, beginnen die Quellen zu sprechen. Aber sie können auch schweigen, weil etwa für eine theoretisch gestaltete ökonomische Frage keine Zeugnisse vorhanden sind womit die Frage selber noch nicht falsch wird. Deshalb erzwingt der Primat der Theorie auch den Mut zur Hypothesenbildung, ohne die eine historische Forschung nicht auskommt. Damit wird freilich der Forschung kein Freibrief erteilt. Denn die Quellenkritik behält ihre unverrückbare Funktion. [...] Streng genommen kann uns eine Quelle nie sagen, was wir sagen sollen. Wohl aber hindert sie uns, Aussagen zu machen, die wir aufgrund der Quellen nicht machen dürfen. Die Quellen haben ein Vetorecht."4' -
An dieser Stelle sind noch einmal einige Worte zu einem Primat der Theorie am Platz, der mit dem soeben von Koselleck behaupteten nichts gemeinsam hat. Die Rede soll von Ideologisierung und Reduktionismus sein.
4.1.
Ideologisierung
einer alten Tendenz innerhalb der Philosophie und der Naturwissenschaften, zwischen Erscheinung und Wesen, sekundären und primären Qualitäten, und dementsprechend zwischen ephemeren Gegebenheiten und „Tiefenstrukturen" zu unterscheiden. Aller Fortschritt der Erkenntnis hat hierin seinen Grund, aber auch vieles von ideologisch motivierten Verschiebungen der Fragestellung hin in die Richtung eines erwünschten oder geforderten Essentialismus. Niklas Luhmann hat sich dieser in ihren Wirkungen höchst bedeutsamen Bestrebung innerhalb der europäischen Ideengeschichte zugewandt. Wie seit dem 17. Jahrhundert in der Physik nicht mehr die Farben und Töne das Primäre sind, sondern als Wirkungen oder Korrelate von physikalischen Vorgängen erscheinen, so vollzieht sich später auch im Umkreis von Biologie und Soziologie ein Prozeß der Entzauberung oder Ent-täuschung der Welt. Die „Methode der Entzauberung", so bemerkt Luhmann, „nimmt das unbefangene Denken und Erleben des jeweils anderen Menschen nicht mehr ernst, sondern erklärt es als Wirkung von Ursachen außerhalb des bewußten Erlebens, als Wirkung sozialökonomischer Bedingungen usw."42 An dieser Stelle haben nach Luhmann Marx, Durkheim, Darwin, Veblen Es
entspricht
41
Koselleck, Reinhart, Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt, in: Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft, hrsg. von Koselleck, Reinhart/ Mommsen, Wolfgang J./ Rüsen, JÖRN, München 1977, S. 45. Luhmann, Niklas, Wahrheit und Ideologie. Vorschläge zur Wiederaufnahme der Diskussion, in: Ideologie Wissenschaft Gesellschaft. Neuere Beiträge zur Diskussion, hrsg. von
42
-
-
Zur Komplementarität von Allgemeinem und Besonderem
211
und Freud ihren geschichtlichen Ort. Wie Marx mit seinen destruierenden Kausalerklärungen, so verfahren auch die anderen genannten Denker:
„Durkheim und die
von ihm angeregte französische Wissenssoziologie leiten die Ideenwelten einschließlich ihrer Logiken aus den sozialen Verhältnissen einer Gesellschaft ab; Darwin bezieht den Sinn des Verhaltens auf seine Funktion für das biologische Überleben, Freud auf seine Funktion für die Befriedigung ursprünglicher oder verdrängter Libido, Veblen auf seine Funktion für die Befriedigung des Bedürfnisses nach sozialem Ansehen."43
Der originäre Sinn der Handlung wird durch die jeweilige Erklärung zu einer bloßen „Rationalisierung" oder zur ephemeren „Ideologie" der eigentlichen Motive, Absichten oder auch Ursachen. „In allen Fällen", so führt Luhmann aus, „wird der unmittelbar erlebte Sinn in Relation gesetzt zu einem zunächst nicht miterlebten Gesichtspunkt. Diese Relationierung bringt an den Tag, daß das Erlebte auch anders möglich ist. Ein anderes Leben würde sich in anderen Symbolen ausdrücken, seine unbefriedigten Triebe in anderen Vorstellungen sublimieren. Andere biologische Umwelten würden zu anderen Lebensordnungen führen, andere Produktionsverhältnisse zu anderen Ideologien."44 Demgemäß erscheint für Luhmann ein Denken dann als ideologisch, „wenn es in seiner Funktion, das Handeln zu orientieren und zu rechtfertigen, ersetzbar ist."45 Diese Ersetzung ist aber nun nicht eine beliebige oder gar eine zufällige, sondern hiermit soll es um die Ersetzung des „Uneigentlichen" durch das „Eigentliche" gehen: von sogenannten manifesten Funktionen durch latente, von sogenannten Oberflächen- durch Tiefenstrukturen, von Bewußtem durch Unbewußtes usw.
4.2. Reduktionismus In Anbetracht solcher Ersetzungen regt sich auf eine neue Art das alte Erfordernis einer „Rettung der Phänomene", der angeblich „sekundären" Sinngehalte, angesichts der ihnen gegenüber als „primär" betrachteten Derivationsgrundlage. Die Geschichtsschreibung sieht sich dabei durch einen Reduktionismus herausgefordert, dessen Vertreter den Menschen unter Hinweis auf das ihn „eigentlich" Bewegende, Antreibende und kausal Nötigende nicht nur als Derivat von Umständen und Ver-
Lieber, Hans-Joachim, Darmstadt 1976, S. 38. Der Beitrag erschien erstmals in: Der Staat, Jg. 1 (1962), H. 4, S. 431-448. Luhmann, Wahrheit und Ideologie (wie Anm. 42), S.38. Luhmann, Wahrheit und Ideologie (wie Anm. 42), S. 38 f. Luhmann, Wahrheit und Ideologie (wie Anm. 42), S. 40.
212
Karl Acham
hältnissen anzusehen bestrebt sind, sondern die auch dazu neigen, den Menschen jedenfalls dann, wenn er nicht ihr ideologischer Gegner ist aus der moralischen Verantwortung zu entlassen. Aber ganz ungeachtet derartiger moralischer Nebenfolgen geht es hier zunächst einmal darum, den Kategorienfehler in Betracht zu ziehen, der einer solchen Rückführung des Phänomenalen auf ein wie immer geartetes Eigentliches innewohnt. Von Komplexitätsreduktionen lebt die Wissenschaft, an einem falsch verstandenen Reduktionismus kann sie aber Schaden nehmen. Eindrucksvoll belegt dies unter anderem der mittlerweile auf alles und jedes zur Anwendung gebrachte ökonomische Denkansatz, der ursprünglich einen Beitrag dazu leisten sollte, unsere Wertpräferenzen durch Zuordnung von Geldäquivalenten in eine übersichtliche Ordnung zu bringen, um dadurch die Rationalität von Entscheidungen rekonstruieren oder auch vorhersagen zu können. Aber statt des Nachweises von strukturellen Ähnlichkeiten zwischen Werten und Preisen, außerökonomischen und ökonomischen Sachverhalten bildete sich nach und nach ein ökonomischer Imperialismus heraus. In der Mehrheit der Fälle folgt daraus ein kategorialer Fehlschluß, welcher der psychologistischen Reduktion des Guten (über die Zwischenstation des Nützlichen) auf das Angenehme vergleichbar ist. Der Ökonomismus der Gegenwart usurpiert das Wertgeschehen auf seine eigene Weise. Wie vor kurzem Adolf Muschg in einer Abhandlung über den Beitrag der Kultur im Prozeß der europäischen Einigung festgestellt hat,46 kann die Reduktion der Freiheitsidee auf bloß eine der bei Jacob Burckhardt in seinen Weltgeschichtlichen Betrachtungen genannten drei „Potenzen" Religion, Staat und Kultur für die Darstellung der Geschichte, aber auch für das historische Handeln selbst gravierende Folgen haben. Mit Bezug auf die auch heute wieder übliche Rückführung der Freiheit auf die Freiheit des Marktes oder des Wirtschaftshandelns sei sich Burckhardt, wie Muschg ausführt, darüber klar gewesen, daß die neue Weltwirtschaft ihrem Ursprung nach ein Geschöpf der Freiheit gewesen sei, in ihrer Verabsolutierung aber tyrannisch und für das Gleichgewicht der Zivilisation möglicherweise fataler werden könne als jeder andere Tyrann: „Denn sie führt tendenziell zum Ausverkauf jener Werte, welche bei Staat und Religion schlecht oder recht aufgehoben waren."47 Die Freiheit ist nicht nur eine Sache des Marktplatzes, sie ist insbesondere eine Sache der klassischen Agora mit jener zwar verbunden, aber zugleich begrifflich davon unterschieden. Der Differenz der Freiheit des Marktes und der Freiheit der Politik entspricht bei Muschg die Differenz zwischen Globalisierung und Kosmopolitismus, und er plädiert dafür, diese Trennung der Sphäre des -
-
-
46
Muschg, Adolf, Schule Europa. Die europäische Einigung ist ein „Work in progress" und auf den
47
Beitrag der Kultur dringend angewiesen, Ausgabe, 14./15. April 2007, S. 28. Muschg, Schule Europa (wie Anm. 46), S. 28.
in: Neue Zürcher
Zeitung,
Internationale
Zur Komplementarität von Allgemeinem und Besonderem
Handels und Wandels acht zu lassen:
von
derjenigen
der
politischen Entscheidungen nicht
213
außer
„Im einen Raum bewegt sich der Mensch als Kunde, im andern als Bürger. Sowohl der Preis von Waren als auch der Wert der Dinge wollen im Dialog gefunden werden, doch das Gespräch von Kauf und Verkauf dient der Notwendigkeit und dem Bedürfnis [...]. Der politische Diskurs aber entscheidet zwischen Bedürfnissen, muss daher auch imstande sein, sich über sie zu erheben und von unmittelbaren Interessen frei zu machen."48
Wer diese Freiheit nicht kennt, ist nach Muschg ein Wilder, wer sie bestreitet, ein Barbar, wer sie auf den Markt beschränkt, aber ein Banause. Dieser Reduktion von Freiheit auf Freihandel und Wettbewerb entspricht eine andere, mit der die Geschichte als Geschichtsschreibung unmittelbar konfrontiert
Rückführung von Klugheit, Bildung und historischer Urteilskraft auf Information als eine spezifische Form von Wissen.49 Aus Informationen, welche frei sind von allen sachlich irrelevanten nicht-kognitiven Elementen, besteht das Wissen der „Wissensgesellschaft" im „Informationszeitalter". Dieser Ausschluß alles Emotiven, alles Unwägbaren, alles der vermeintlichen Beliebigkeit von Kunst und Moral Zugehörigen verbürgt die Möglichkeit von „Gesetzeswissenschaft", von Erklärung und Vorhersage auf der Grundlage einer nicht durch die Zufälligkeit der historischen Lage destabilisierten Nomothetik. Beide Formen des Reduktionismus die Rückführung von Freiheit auf das freie Wirtschaften und von Wissen auf Information führen dazu, den geschichtlich gewordenen Rahmen menschlicher Existenz auszuklammern. Auf sie trifft man in jener „flachen Welt", die uns der Pulitzerpreisträger Thomas L. Friedman vor Augen führt.50 In ihr erscheinen kulturelle Bindungen an Raum und Zeit, wie sie ist: die
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sich in bestimmten Lebensformen und in der Kunst ausdrücken, entweder als uninglatte Funktionieren der Wirtschaft in dem durch die Digitalisierung bestimmten Informationszeitalter. Globale Wertschöpfungsketten, so meint Friedman, garantieren zwar nicht den Frieden, aber jede Regierung würde nur unter allergrößten Widerständen die Einbindung in jene wegen eines Krieges aufzugeben geneigt sein. In gewisser Weise wohl an alte Ideen von Adam Smith anschließend, formuliert er seine sogenannte „Dell-Theorie": „Je enger ein Land seine Volkswirtschaft und seine Zukunft mit globalem Handel und globaler Integration verknüpft, um so geringer ist die Gefahr, dass es einen Krieg teressant oder gar als Hindernisse für das
48
Muschg, Schule Europa (wie Anm. 46), S. 28.
49
Vgl.
50
in diesem Zusammenhang die von Max Scheler schon 1925 entwickelte Typologie von Wissensformen in Scheler, Max, Die Wissensformen und die Gesellschaft, 2. Aufl., Bern 1960, v.a.S. 200-211. Siehe Friedman, Thomas L., Die Welt ist flach. Eine kurze Geschichte des 21. Jahrhunderts, Frankfurt/Main 2006.
Karl Acham
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mit seinen Nachbarn vom Zaun bricht."51 Und wie an Smith, so knüpft dieser Autor ausdrücklich auch an David Ricardo an, wenn er nachzuweisen sucht, daß sowohl der Freihandel als auch das Outsourcing für alle Menschen in allen Weltgegenden von Vorteil sind. Durch die ökonomische Globalisierung, wie sie durch Computer und Glasfaserkabel beschleunigt wurde, werden nach und nach auch die regionalen Unterschiede in der Lebensführung und Denkweise auf dem großen Spielfeld der global players eingeebnet „Die Welt ist flach!"52 Offensichtlich meint Friedman, daß es bei den von ihm formulierten Theorien und den von ihm konstatierten Tendenzen der Geschichte um streng nomologische Beziehungen geht, und nicht um epochen- oder periodenspezifische, nur temporär geltende statistische Verallgemeinerungen. Diese in ihrer Geltung auf bestimmte raum-zeitliche Bedingungen beschränkten Generalisierungen reflektieren in allgemeinerer Form, was über Ähnlichkeiten vieler einzelner Fälle zu sagen ist, aber sie steuern diese nicht. Aus diesem Grund stehen aber auch historische Erzählung und Sozialtheorie nicht im Gegensatz zueinander. Zur Erzählung befindet sich nicht die Theorie als solche in einem Widerspruch, sondern eine deterministische, die Offenheit nach der Zukunft hin ausklammernde Geschichtstheorie. Aber eben deshalb hat die Flachheit der Welt von Bestsellerautoren aus der Sicht von Historikern auch ihre Grenzen oder besser: ihre unausweichlichen Unebenheiten. Denn die Historie ist auf die Verbindlichkeit des geschichtlichen Raumes und der geschichtlichen Zeit gegründet. Ohne Gedächtnis verlöre der Historiker nicht nur seine professionelle Identität, sondern auch den Sinn für Verantwortung; diese ist aber immer eine für das Hier und Jetzt. -
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Schlußbemerkungen
5.
Wissenschaft in dem geschilderten Sinne reduktionistisch und zugleich nomologisierend tätig sein müßte, nur dann wäre die Geschichte keine Wissenschaft und könnte dies wohl auch nie werden. Eine derartige Normierung brächte uns nicht Nur
51 52
wenn
Friedman, Die Welt ist flach (wie Anm. 50), S. 629.
von Friedman gezeichneten Welt, in welcher für gut funktionierende Wertschöpfungsketten die Deformation und Verödung der kulturellen Praxis durchaus in Kauf genommen wird, hat allerdings Politik nicht ganz ausgespielt. Denn Kriegsgefahr gehe vor allem von Staaten aus, die nicht in globale Wertschöpfungsketten eingebunden seien. Friedman nennt nicht nur die ominöse „Achse des Bösen", also den Irak, Iran und Nordkorea, sondern darüber hinaus auch noch Afghanistan und Pakistan, in welchen Ländern das weltwirtschaftliche Integrationsprogramm noch mit politischen Mitteln zu verwirklichen sei. Nach der mit den Mitteln der Politik erfolgten Umgestaltung dieser Länder im Sinne der „Dell-Theorie" würden sich aber weitere politische Interventionen wohl erübrigen die Wirtschaft macht den Frieden gewissermaßen zu einem Selbstläufer.
In der
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Zur Komplementarität von Allgemeinem und Besonderem
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bestimmte Arten der Wiedergabe unseres Werdens und Wirkens, sondern insbesondere auch um eine der kostbarsten Errungenschaften des historischen Bewußtseins: um den Sinn sowohl für berechtigte, erträgliche und verträgliche Vielfalt als auch für deren Schutz. Ein solcher durch methodologischen Rigorismus gerechtfertigter Verzicht würde uns nämlich um einige bedeutsame Einsichten bringen, wie sie mit der Geschichte verbunden sind: um Einsichten „in Versagen und Behauptung, Interessenkämpfe und Machtbedürfnisse, in Blindheit, Widerstand und Angst der Menschen, die vor uns waren; schließlich in das Richtige und Falsche nicht allein, aber doch auch nicht zuletzt im moralischen Sinne."53 Eine akademische Zunft, die sich den Sinn für diese Art von historischer Anthropologie abzugewöhnen sucht, landet unweigerlich bei einer Geschichte von Kräften, Vektoren, Konfigurationen kurz: bei einer „Geschichte ohne Namen" (wie Comte die Soziologie charakterisierte), die sich viel zu wenig um wirkliche Menschen aus Fleisch und Blut kümmert. Golo Mann hegte bezüglich einer solchen Geschichte die Vermutung, „daß sie zu wenig Sympathien für Menschen hat oder gar keine, daß sie also Hamlet ohne den Prinzen von Dänemark spielt".54 Der Historiker kann diese Besonderheiten des Individuellen gleich wie jene der Kulturen, der fremden und der eigenen, nicht einfach abschütteln. Denn die den Anwalt der „flachen Welt" möglicherweise störenden Unebenheiten und das oft Unwegsame sind für sein Tun unverzichtbar. Gerade der Umgang mit der Unbequemlichkeit der eigenen Geschichte mag ihm zur obligatorischen Schulung seines Verständnisses von Freiheit werden. Denn oft hätte es in der Geschichte auch anders kommen können, hätte man auch anderes zur Kenntnis genommen und anderes getan. Würden sich allerdings Historiker, und würden wir uns mit ihnen daran gewöhnen, alles als mit Notwendigkeit so geworden anzusehen, wie es ist, und würden wir uns somit der Möglichkeit begeben, die Geschichte so zu betrachten, daß sie auch anders hätte verlaufen können, so hätten wir am Ende vielleicht auch Grund, uns zu schämen: Wir müßten uns dann wohl nachsagen lassen, daß wir es akzeptieren, wenn allein die Umstände und die Verhältnisse uns formen und nicht auch wir die Umstände und Verhältnisse. nur um
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53 54
Fest, Noch einmal: Abschied von der Geschichte (wie Anm. 5), S. 40. Mann, Plädoyer für die historische Erzählung (wie Anm. 11), S. 52.
Autoren
Prof. Dr. KARL Acham ist Leiter der Abteilung für Soziologische Theorie, Ideengeschichte und Wissenschaftslehre am Institut für Soziologie der KarlFranzens-Universität Graz. Anschrift: Karl-Franzens-Universität Graz, Institut für Soziologie, Universitätsstraße 15, A-8010 Graz, Österreich. Dr. ANDREAS FRINGS ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung für Osteuropäische Geschichte am Historischen Seminar der Johannes GutenbergUniversität Mainz. Anschrift: Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Historisches Seminar, Abteilung für Osteuropäische Geschichte, Jacob-Weider-Weg 18, 55128 Mainz. Dr. des. RÜDIGER Graf ist Akademischer Rat am Lehrstuhl für Zeitgeschichte im Historischen Institut der Ruhr-Universität Bochum. Anschrift: Ruhr-Universität Bochum, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Historisches Institut, Lehrstuhl für Zeitgeschichte, Universitätsstraße 150, 44780 Bochum. Andreas HÜTIG, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Anschrift: Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Philosophisches Seminar, 55099 Mainz. JOHANNES Marx ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Anschrift: Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Institut für Politikwissenschaft, Colonel-KleinmannWeg 2, 55128 Mainz. Dr.
Prof. Dr. Oliver SCHOLZ ist ordentlicher Professor mit dem Schwerpunkt Theoretische Philosophie am Philosophischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Anschrift: Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Philosophisches Seminar, Domplatz 23, 48143 Münster. Prof.
HANSJÖRG SIEGENTHALER ist emeritierter Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich. Anschrift: Carl Spitteler-Straße 102, CH 8053 Zürich, Schweiz. Dr.
em.
218 Prof. Dr. Thomas Spitzley ist Professor für mit dem Schwerpunkt Theoretische Philosophie an der Universität Duisburg-Essen und Präsident der Gesellschaft für Analytische Philosophie e.V. (GAP). Anschrift: Universität Duisburg-Essen, Fachbereich Geisteswissenschaften, Institut für Philosophie, 45117 Essen.