Vom Wahrheitsanspruch der Kulturwissenschaften: Studien zur Wissenschaftsphilosophie und Weltanschauungsanalyse 9783205203636, 9783205202578


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Vom Wahrheitsanspruch der Kulturwissenschaften: Studien zur Wissenschaftsphilosophie und Weltanschauungsanalyse
 9783205203636, 9783205202578

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Karl Acham

VOM  WAHRHEITSANSPRUCH DER  KULTURWISSENSCHAFTEN Studien zur Wissenschaftsphilosophie und Weltanschauungsanalyse

Böhlau  Verlag  Wien  .  Köln  .  Weimar

Gedruckt mit Unterstützung durch das

Amt der Steiermärkischen Landesregierung

und der

Steiermärkischen Verwaltungssparkasse

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

© 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Co.KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Einbandgestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: Ulrike Dietmayer, Wien Druck und Bindung: Prime Rate kft., Budapest Gedruckt auf chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-20257-8

Dem Andenken von

Gottfried Schatz 18. 8. 1936  – 1. 10. 2015

gewidmet

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Wissenschaftlichkeit Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahrheit, Wissenschaft, Verwertbarkeit

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Einleitung: Die Frage des Pilatus und das Streben nach Gewissheit 35 – I. ­Wahrheitsdefinitionen und Wahrheitskriterien 37 – 1. Semantischer Wahrheitsbegriff: Wahrheit als Eigenschaft von Aus­ sagen 37 – 2. Ontologischer Wahrheitsbegriff: Wahrheit als Eigenschaft von Ideen und von deren Repräsentanten 38 – 3. Finden und Erfinden in der Wissenschaft 39 – II. Zwischen Moralität und Sachkompetenz: Wahrhaftigkeit und Objektivität 42 – 1. Wahrhaftigkeit 42 – 2. Objektivität 44 – III. Wahrheit als normatives Konstrukt in Kunst, Moral und Politik 46 – 1. Kunst und Wahrheit 46 – 2. Moral, Politik und Wahrheit 48 – IV. Die Vielfalt der Wissenschaften und das Streben nach Einheit und Gewissheit 51 – V. Die Wahrheit – eine Tochter der Zeit? 54 – VI. Für und wider den Primat der Verwertbarkeit 57 – VII. Institutionelle Hemmnisse wissenschaft­licher Wahrheitsfindung 60 – Schluss: Aus dem Katechismus wissenschaftlicher Wahrheitssucher 65

2. Kulturwissenschaften Vorbemerkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wozu kulturwissenschaftliche Forschung heute?

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Einleitung 69 – I. Ein lateinischer Fragealgorithmus 71 – II. „ Quid? “ – Zum ­Gegen­­stand der Geistes- und Sozialwissenschaften 72 – III. „Quibus auxiliis“ – Womit? – Zur Kooperation von Kulturwissenschaften und Naturwissenschaften 76 – IV. „Cur?“ – Zum „Warum“ und „Wozu“

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Inhalt

der Geistes- und Sozialwissenschaften 78 – V. „Quo?“ – Wohin? Ein Ausblick 81 – 1. Das Beispiel Max Webers 82 – 2. Zur heutigen Lage der Geisteswissenschaften 84 – VI. Probleme der Kulturwissenschaften 86 – 1. Forschungsfragen: ein aktueller Katalog 86 – 2. Von ihnen mitverschuldete Probleme der Kulturwissenschaften 89 – Schlussbemerkung 91

3. Religion Vorbemerkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religiöses und historisches Bewusstsein

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I. Elementarfunktionen von Religion 95 – II. Kategorische Religion und hypothetische Wissenschaft  97 – III. Das Unwandelbare im Ansturm der Historisierung 100 – IV. Zum religionskritischen Potential der Geistes- und Sozialwissenschaften 103 – V. Von den wechselnden Einstellungen der Religion zur politischen Ordnung 106 – VI. Versuche der Stabilisierung des religiösen Bewusstseins 108 – VII. Zur aktuellen Beziehung von säkularem Staat, Religion und Wissenschaft 110 – Schlussbemerkung 113

4. Kunst Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft I. Über einige Gemeinsamkeiten und Unterschiede 117 – 1. Kunst und Form, Wissenschaft und Methode 117 – 2. Affektlosigkeit und Emotionalität 119 – 3. Fortschritt und Beständigkeit 120 – II. Zur Ideologisierung und Moralisierung von Kunst 121 – III. Über künstlerische Erfahrung und wissenschaftliche Erkenntnis 124 – 1. Kunst, Kognitives und Emotives 124 – 2. Emotionale Distanznahme 126 – 3. Kennen, Erkennen und Können 127 – 4. Das Vertraute, das Fremde und die Kunst 129 – IV. Über Kunst im Zeichen der Kulturindustrie 131

5. Weltanschauung Vorbemerkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Formen und Funktionen der Weltanschauung Einleitung: Zur Ambivalenz des Begriffs der Weltanschauung 137 – I. Einiges zur ­weite­­­­ren Ent­ wicklung des Weltanschauungsbegriffs 138 – II. ­Weltanschauung als ­Er­kenntnis­inter­esse 139 –

8

Inhalt

1. Diltheys Typen der Weltanschauung 139 – 2. Zur ­Wirkungsgeschichte von Diltheys Typologie der Weltanschauungen 141 – III. Weltanschauung als ­polit­i­­sche und als wissenschaft­liche Orientierung 142 – 1. Einiges zu den sogenannten Weltanschauungsparteien 142 – 2. Der Anspruch auf Einheit der Wissenschaft und die Vielfalt der „Sprachspiele“ 145 – IV. Mehrseitige Weltanschauung, selektive Wissenschaft, einseitige Ideologie 148 – 1. Die wissenschaftliche Segmentierung der Welt und die ideologische Festlegung auf bestimmte erklärende Variablen 149 – 2. Zum pejorativen Verständnis von Ideologie: Ideologie als defizientes Wissen 151 – V. Der Streit zwischen den Ideologien und die Weltanschauungsanalyse als Streitbeilegungsverfahren 154 – Schlussbetrachtung: Universalismus, Relativismus, Toleranz 158

6. Rationalität Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Zur Genese und zu einigen ihrer Formen der Rationalität I. Zur Genese von Rationalität: die Verselbstständigung des Kognitiven 163 – II. Der ­unterschiedliche Zeitbezug rationaler Argumentation: Statik, Kinematik, Dynamik 166 – III. Der unterschiedliche Sachbezug rationaler Argumentation 168 – 1. Natur und Kultur 168 – 2. Gründe und Scheingründe 170 – 3. Selbsterklärung der Vernunft 172 – IV. Zur Rationalität von Meinungen und von ­Handlungen 174 – 1. Zweck- und Wertrationalität 174 – 2. Defizite der Rationalität? 176 – Schlussbemerkung 178

7. Verstehensgrenzen Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Arten und Grenzen des Verstehens I. Terminologisches: Arten des Verstehens 180 – II. Vom erklärenden zum verzeihenden Verstehen 184 – 1. Verstehen und die Identifikation mit dem Verstandenen 184 – 2. Individuelle oder kol­lektive Verantwortung 186 – III. Grenzen der Soziogenese: zum Ergänzungsbedarf bestimmter sozialwissenschaftlicher Erklärungen 187 – IV. Grenzen des psychologischen Verstehens: zur Einseitigkeit der Somatopsychologie und der Psychosomatologie 189 – 1. Über das „somatische Vorurteil“ und die Grenzen der Somatopsychologie 189 – 2. Grenzen der Psychosomatologie 191 – 3.   Grenzen der behaupteten Inkommensurabilität von Psychischem und Physischem 193 – V. Grenzen der Empathie: über abnormes Verhalten und die Versuche seiner Plausibilisierung 194 – VI. Grenzen religiös-metaphysischen Verstehens 199 – Schlussbemerkung 201

9

Inhalt

8. Singularitätsansprüche Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Über vermeintlich Unvergleichbares Einleitung 204 – I. Zum Kulturrelativismus 205 – II. Von der Betonung des Besonderen zur Behauptung der prinzipiellen Ungleichartigkeit 208 – III. Zweifelhafte Singularitäten 209 – IV. Über den radikalen Universalismus und Relativismus im Verstehen des Anderen 212 – V. Jenseits von Indifferenz und Fanatismus 215 – Schlussbemerkung 217

9. Relevanzgesichtspunkte Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Schein und Wirklichkeit Einleitung 222 – I. Das Wirkliche als Wirkmächtiges 223 – 1. Einwirkungen und Auswirkungen 223 – 2. Genetischer und funktionalistischer Fehlschluss 224 – II. Zu einigen Wirklich­ keits­­­festlegungen 225 – 1. Beispiele aus der Philosophie 225 – 2. Beispiele der Textinterpreta­ tion 227 – III. Erleben und Erkennen 228 – 1. Verstand und Gefühl 228 – 2. Erfahrenes, Fik­tio­nales, Erkanntes 229 – IV. Der Streit um den Primat von Politik oder Ökonomie – eine Wertungs- oder eine Tatsachenfrage? 232 – 1. Der Ökonomie kommt der Primat zu: pro und contra 232 – 2. Der Ökonomie kommt der Primat zu: pro und contra 234 – Schlussbemerkung 240

10. Geschichtstheorie Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Die analytische Geschichtsphilosophie und ihr Nutzen Einleitung 245 – I. Was heißt analytische Geschichtsphilosophie und wie e­ntwickelte sie sich? 246 – II. Womit befassen sich analytische Geschichtsphilosophen? 250 – 1. Inten­ tio­ nalität und Kausalität, Verstehen und Erklären 251 – 2. Die Relativität von Begriffen und Erklärungen 253 – 3. Zur Gewichtung von Ursachen und Gründen 255 – 4.  Historische Interpretationen 257 – 5. Objektivität und Wertungsabstinenz 260 – 6. Kausalität und moralische Zurechnung 262 – 7. Erklären durch Erzählen 266 – III. Wozu studiert man analytische Geschichtsphilosophie? 267 – 1. Klarheit 267 – 2. Wissenschafts­

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Inhalt

nähe 269 – IV. Die Wende der analytischen Philosophie und die veränderten Voraussetzungen ihrer Geschichtstheorie 270 – 1. Pluralität der Lebensformen, Pluralität der Rationalitäten 270 – 2. Realismus und Fiktionalismus 272 – 3. Unterwegs zu verschiedenen Wirklichkeiten 274 – V. Der Kulturrelativismus der späten analytischen Philosophie und die Aufgabe der Philosophie 277

11. Menschennatur Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Weltanschauliche Voraussetzungen der philosophischen Anthropologie I. Einiges zum Begriff der menschlichen Person heute 283 – II. Historismus und historische Kontingenz 286 – III. Soziologismus und gesellschaftliche Kontingenz 288 – 1. Der Durchschnittsmensch als Maß des Menschlichen 288 – 2. Der Mensch als Reiz-Reaktions-Bündel 289 – IV. Zwischenbetrachtung: Zum Konzept der personalen Identität 290 – V. Nativismus und biologische Kontingenz 292 – 1. Zur Säkularisierung der göttlichen Gesetze 293 – 2. Zum Sachgehalt der NativismusDiskussion: Genom und Willensfreiheit 294 – VI. Gehirn, Person, moralische Zurechnung 296 – Schlussbemerkung 298

12. Ideen Vorbemerkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Formen und Sinn der Ideengeschichte I. Einiges zum Begriff der Idee und zur Idee der Ideengeschichte 301 – 1. Hegels „Idee“ 302 – 2.  Zur Koinzidenz von Idee und Erfahrung bei Denkern des 20. Jahrhunderts 302 – 3. Ideen als „Weichensteller“ oder „Schleusen“ 305 – 4. Die Idee als eine den Begriff konkretisierende Konzeption 305 – 5. Die Einheit der „Idee“ und die Vielheit ihrer Auslegungen: das Paradigma der „Generalklausel“ 307 – II. Zu einigen historisch-systematischen Analysen politischer Leitideen 308 – 1. Freiheit 309 – 1.1. Negative Freiheit 309 – 1.2. Menschenrechte, Ver­fassungsstaat und die Idee der Freiheit 311 – 2. Gleichheit 313 – 2.1. Über die Ausdif­ ferenzierung der Gleich­­heitsidee 314 – 2.2. Liberale und libertäre Gleichheit 316 – 3. Gerechtigkeit 317 – 3.1. Über einige Gerechtigkeitsideale 317 – 3.2. Die Bedeutung des Prozeduralen für die „gerechte“ Ermittlung von Wertpräferenzen 319 – 3.3. Gerechtigkeit und Gemeinwohl 321 – Schlussbemerkung 323

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Inhalt

13. Ideologie Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Geschichte als Ideenprodukt – ein Fallbeispiel Einleitung: Zu Ernst Cassirers Mythus des Staates 327 – I. Zur Eigenart des mythischen Erlebens 328 – II. Komponenten der politischen Theorie des totalen Staates 330 – 1. Carlyle 331 – 2. Gobineau 331 – 3. Hegel 332 – III. Zu den Grenzen von Cassirers Analyse des modernen Totalitarismus 334 – 1. Zum behaupteten Zusammenhang von Mythus, Irrationalität und Gewalt 335 – 2. Zur ungeklärten Beziehung von Rationalität, Aufklärung und Gewalt 336 – 3. Institutionelle Merkmale des Totalitarismus 338 – 4. Zum Verhältnis von Technokratie und Totalitarismus 341 – 5. Die ausgeblendete Beziehung des Totalitarismus zum radikalen Liberalismus 343 – Schlussbetrachtung: Politischer Pluralismus und totalitärer Staat 345

14. Politik Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Wahrheit, Gewissheit und pluralistische Demokratie I. Wahrheit in Religion und Wissenschaft 349 – II. Wahrheit in der Politik 351 – 1. ­Einige historische Bemerkungen zur jüngeren Demokratiegeschichte 352 – 2. Demokratie als Ordnung der Gewissheit und der absoluten Wahrheit 353 – 3. Demokratie als Ordnung der Ungewissheit und der relativen Wahrheit 357 – III. Demokratie und Wissenschaft 360 – 1. Vorschnelle Gleichsetzungen 360 – 2. Ideologie und Wahrheit 361 – IV. Demokratie und religiöser Fundamentalismus heute 363 – 1. Einiges zu Staat und Religion 363 – 2. Die „westlichen Werte“ und ihre inkonsistente ­Anwendung 364 – 3. Die Rationalität und deren Subordination unter den Glauben 367 – Schlussbemerkung 369

15. Kulturerbe Vorbemerkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Geschichtlicher Wandel, kulturelles Erbe und die Funktion der Kulturwissenschaften Einleitung 373 – I. Zur geschichtlichen Dynamik von heute und zum Wandel der Kulturwissenschaften 374 – II. Massenimmigration, Toleranz und die Kompatibilität heterogener Denkweisen

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Inhalt

und Lebensformen 378 – III. Der Sinn für das Singuläre, das Allgemeine und das Allgemeinmenschliche 386 – IV. Geschichtlicher Wandel und kulturelles Erbe 391

Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399

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Vorwort Die vorliegenden Studien gehen dem Zusammenhang von Geschichte und Wahrheit in den Kulturwissenschaften nach. Als Kulturwissenschaften werden hier – abweichend von dem heute mitunter üblichen Sprachgebrauch und in der Tradition von Heinrich Rickert, Max Weber und anderen – jene Geistes- und Sozialwissenschaften verstanden, mithilfe derer die gesellschaftlich-geschichtliche Welt unter den für eine Kultur maßgeblichen, wenn auch nicht notwendig konsensuell vertretenen Wertgesichtspunkten betrachtet wird. Sie umfassen daher außer den mit Wertfragen befassten Disziplinen der Ethik und Ästhetik eine ganze Reihe philologisch-historischer Disziplinen, ferner verschiedene Bereiche der Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, so etwa Staats- und Verfassungsrecht, Ethnologie oder Kulturanthropologie und Wirtschaftspolitik. Einzelne der diesen Disziplinen zuzuordnende Grundlagenfragen und die auf sie gegebenen Antworten werden im Folgenden einer wissenschaftsphilosophischen und weltanschauungsanalytischen Betrachtung zugeführt. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei dem Wahrheitsanspruch der Kulturwissenschaften, dessen Einlösung, wie sich zeigen wird, jenseits von Gewissheit und Beliebigkeit zu liegen kommt. In diesem Zusammenhang wird unter unterschiedlichen Gesichtspunkten das Verhältnis von theoretischen Erkenntnissen zu praktischen Wertungen erörtert, aber auch jenes von Wissenschaft und Ideologie. Dies geschieht unter anderem im Hinblick auf bestimmte Merkmale und Verfahrensweisen der Religion, der Kunst und der Politik, dann aber auch in Bezug auf einige der mit der Rationalität und dem Verstehen verbundenen Prozeduren sowie bezüglich bestimmter Aspekte der Geschichtstheorie, des Kulturvergleichs, der Ideengeschichte und der philosophischen Anthropologie. Vieles an einschlägigen Arbeiten zu den Kulturwissenschaften liegt seit langem vor, was durch entsprechende bibliographische Hinweise in den Fußnoten, aber auch durch eine Reihe von Originalzitaten in den folgenden Texten zum Ausdruck gebracht wird. Da ich es nicht für nötig halte, zu einer Transkription von Texten von für meinen Unter­ suchungsgegenstand maßgeblichen Autoren Zuflucht zu nehmen, um dort originell zu erscheinen, wo diese es schon waren, nehme ich den sich vielleicht gelegentlich aufdrängenden Vorwurf des Syn­kretismus gern in Kauf. Zudem ist zu hoffen, dass wenigstens in einigen Fällen durch das besondere Arrangement von schon früher formulierten Erkenntnissen Neues sichtbar gemacht wird. Einige Studien im vorliegenden Buch wurden bereits früher veröffentlicht und gelangen hier in einer zumeist deutlich veränderten Form zum Abdruck; auf die ursprünglichen Titel und Erscheinungsorte wird in den Fußnoten der entsprechen­ den Vorbemerkungen hingewiesen.

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Vorwort

Die insgesamt fünfzehn Kapitel des Buches stehen miteinander in einem wenngleich nicht stringenten Zusammenhang. Jedes ist in sich geschlossen, was mitunter geringfügige Redundanzen zur Folge hat. Durchgehend wird in ihnen gleichermaßen auf die Bedeutung der Erörterung kulturwissenschaftlicher Fragen für das moralisch-politische Orientie­ rungswissen Bezug genommen wie mitunter auch – umgekehrt – auf die das eine Mal erkenntnishemmende, das andere Mal erkenntnisfördernde Funktion moralisch-politi­ scher Orientierungen für die Beantwortung jener Fragen. Dieser Umstand lässt mich hoffen, dass die unter solchen Gesichtspunkten erfolgende Befassung mit vornehmlich auf die Ideen- und die Realgeschichte ausgerichteten Fragen einen Beitrag auch zu Diskussionen von nicht rein historischem Interesse zu leisten imstande ist.

Graz, im Juni 2016

Karl Acham

Mein besonderer Dank gilt Frau Ulrike Dietmayer vom Böhlau Verlag, die mit großer Umsicht und Geduld die Vorarbeiten zur Drucklegung des Manuskripts und auch wertvolle Hilfe bei der Verfertigung des Registers geleistet hat. K. A.

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Einleitung „Man muss […] zufrieden sein, wenn man […] die Wahrheit auch nur in grobem Umriß zur Darstellung bringen und, indem man sich unter diesen Umständen auf die Hauptsachen beschränkt, die Untersuchung auch nur zu einem annähernden Abschluß bringen kann. […] Darin liegt ja gerade das Kennzeichen des Gebildeten, daß er Genauigkeit in jeder Art von Wissenschaft nur so weit erwarten wird, als die Natur des Gegenstandes sie ermöglicht.“ Aristoteles, Nikomachische Ethik (Übers. v. Wilhelm Nestle)

Im vorliegenden Buch geht es um Wahrheitsansprüche in den Kulturwissenschaften aus der Sicht von Wissenschaftslehre und Weltanschauungsanalyse, und bei den einleitenden Betrachtungen um die Darstellung von Problemlagen, auf welche verschiedene Kapitel jenes Buches reagieren. Dabei stehen die Kulturwissenschaften als die mit Fragen des Wertgeschehens und der Analyse der gesell­schaftlich-geschichtlichen Welt befassten Geistes-, Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Betracht. Als „Kultur“ (im Singular) wird – im Unterschied zur Natur – jene Sphäre des gesellschaftlichen Lebens aufgefasst, wo sich Wissen, religiöse Gebräuche, Sitten und Gewohnheiten, Werke der Kunst sowie Taten ereignen, die allesamt gemäß den für das Selbstverständnis einer Gemeinschaft konstitutiven Leitideen und Werthaltungen gedeutet werden, wobei diese Deutungen formal und inhaltlich in gewissem Umfang institutionalisiert und weitergegeben werden. Jene Kultur wurde in solchem Maße für das „Wesen“ einer Gemeinschaft als bestimmend angesehen, dass im deutschen Sprachraum zahlreiche Gemeinschaften, wenn sie mehr oder minder dieselben Leitideen und Wert­haltungen aufwiesen, in ihrer Gesamtheit selbst wiederum als eine „Kultur“ (nun aber i­m Unterschied zu einer anderen Kultur in einer Pluralität von solchen) angesehen und bezeichnet wurden; dieser zweiten Bedeutung von „Kultur“ entsprechen die im Engli­schen und Französischen gebräuchlichen Begriffe der „civilization“ bzw. der „civilisation“. Die Geisteswissenschaften, so meint man im Allgemeinen, sollen die durch Werthaltungen bestimmten Lebens- und Denkformen sichten und deren objektivierbaren Bestand in gewissem Umfang auch dokumentarisch sichern: vom religiösen und philosophischen Schrifttum über die Historiographie, die Rechtsdenkmäler, die Dichtung, die Musik und die darstellenden Kunst bis hin zu den Museen, insbesondere denen der bildenden Kunst – und all das auch in Bezug auf die einschlägigen Hervorbringungen fremder Völker. Zu-

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Einleitung

dem sollen sie durch die Herstellung einer Beziehung zwischen den aus den Dokumenten der Vergangenheit erschlossenen Ideen und Wertauffassungen einerseits und der jeweiligen Gegenwart andererseits einen maßgeblichen Beitrag zur menschlichen Selbstbesinnung und zum Fremdverstehen leisten. Die Erörterung der Entstehungs- und Wirkungsbedingungen jener Ideen und Wertauffassungen und deren Erklärung durch Bezugnahme auf rechtliche, soziale und ökonomische Bedingungen – also auf Interessen und Institutionen – soll wiederum Sache der Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften sein. Erkenntnistheoretische und methodologische Erörterungen, die einen großen Teil der folgenden Ausführungen bilden, sind an der Lösung von Sachproblemen durch die genannten Wissenschaften nur am Rande beteiligt. Für den Betrieb dieser Wissenschaften, zu denen man auch die Weltanschauungsanalyse hinzufügen muss, werden solche Erörte­rungen, wie Max Weber ausführte, nur dann wichtig, „wenn infolge starker Verschiebungen der ‚Gesichtspunkte‘, unter denen ein Stoff Objekt der Darstellung wird, die Vorstellung auftaucht, daß die neuen ‚Gesichtspunkte‘ auch eine Revision der logischen Formen be­dingen, in denen sich der überkommene ‚Betrieb‘ bewegt hat, und dadurch Unsicherheit über das ‚Wesen‘ der eigenen Arbeit entsteht“.1 Weber bezog dieses Urteil auf die Geschichtswissenschaft seiner Zeit, rund 100 Jahre danach können wir es auf die Diszipli­ nen ausweiten, deren Vertreter sich unter dem Eindruck epochaler wissenschaftlich-techni­ scher, demo­graphisch-kultureller, ökonomischer und politischer Veränderungen über eine Neubestimmung ihres Gegenstandes, über die zu seiner Erfassung zur Anwendung kommenden Methoden und über ihre eigene Rolle im Forschungsprozess klar werden wollen. Wissenschaftsphilosophische Besinnungen dieser Art und die weltanschauungs­analytische Deutung der für die konkrete wissenschaftliche Arbeit maßgebenden „Gesichts­punkte“ bie­ten allerdings nicht immer dermaßen Neues, wie es durch den Glauben an den grund­ legenden Wandel unserer Weltverhältnisse nahegelegt wird. Seit John Stuart Mills 1843 erschienenem Werk A System of Logic,2 dessen Sechs­tes Buch der „Logic of the Moral Sciences“ 3 gewidmet ist, wuchs das Interesse an einer philosophischen Theorie der Wissenschaften, weil nun nicht mehr nur zwei Gegenstandsbereiche – so wie in der Antike die Physik und die Ethik –, sondern auch zwei Methodologien zu unterscheiden waren. In Deutschland, wo die Geisteswissenschaften mit der Historischen Schule zu einer Hochblüte gelangten, waren es zwei im Jahr 1883 erschienene Veröffent­ 1 Max WEBER: Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik [1906], in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 3. Aufl., hrsg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 1968, S. 215 –290, hier S. 218. 2 Die erste deutsche Übersetzung stammt von J. Schiel und ist unter dem Titel System der deduktiven und induktiven Logik 1868 in Braunschweig erschienen. 3 Dieses Buch ist als Neuübersetzung in deutscher Sprache zugänglich. John Stuart MILL: Zur Logik der Moralwissenschaften. Hrsg. v. Arno Mohr, Frankfurt a. M. 1997.

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Einleitung

lichungen, welche nachhaltige wissenschaftsphilosophische Wirkungen zeitigten: Wilhelm Diltheys Einleitung in die Geisteswissenschaften 4 und Wilhelm Wundts Logik, welche ähnlich wie die von Mill mit einer „Logik der Geisteswissenschaften“ 5 schließt. Suchte Dilthey den Ursprung jener Wissenschaften anthropologisch in dem fühlenden, wollenden und vorstellenden Menschen, so Wundt vor allem in dem auf Zwecke ausgerichteten und auf Werte bezogenen Willen. Beide Autoren vollziehen, worauf Gunter Scholtz hingewiesen hat, vom Standpunkt der Methodenlehre aus eine Integrations­leistung: „die lettres oder hu­ manities, die z. B. bei Mill nur der Sprachschulung und bei Spencer der Freizeitgestaltung dienten, werden zusammen mit allen Handlungswissenschaften zum Bereich der Geisteswissenschaften zusammengefügt. Soziologie, Ökonomie und Rechtswissenschaft […] sind deren Teilbereiche. […] Wundt und Dilthey sind sich einig, daß die Geisteswissenschaften viele Methoden mit den Naturwissenschaften teilen, aber daneben auch methodisches Sondergut besitzen: Hermeneutik und Kritik.“ 6 Diese Sicht der Dinge blieb für lange Zeit bestimmend und prägte beispielsweise auch Heinrich Rickerts Verständnis dessen, was er „Kulturwissenschaften“ nannte:7 die durch eine spezifische Wertbeziehung und eine geschichtliche Betrachtungsweise charakterisier­ ten Geistes- und Sozialwissenschaften, wie sie einerseits im historisch-philologischen, andererseits im sozialökonomischen Schrifttum auf exemplarische Weise gegenwärtig sind. Die Wertbeziehung als unser an Werten orientiertes Interesse an einer Kultur (in der Pluralität von Kulturen), nicht die Ursachenbeziehung bestimmt die Auswahl des Gegenstandes der Untersuchung sowie des Untersuchungsrahmens. Dabei ist mit jener Wertbeziehung keineswegs notwendig nur die Befassung des Forschers mit von ihm persönlich geschätzten und positiv gewerteten Gegenständen verbunden; diese können ihm sogar abstoßend erscheinen, und seine Wertungen müssen sich auch nicht mit den in seiner Kultur dominanten Einschätzungen decken. Gesichtspunkte der subjektiven Bedeutsamkeit sind es also, welche die kulturwissenschaftliche Beschäftigung in Gang setzen, auch wenn im weiteren Verlauf der objektiven Bedeutsamkeit der in Betracht stehenden Zustände, Hand­lungen oder Ereignisse, also deren Wirkungen inner­halb ihrer Kultur oder auf andere Kulturen, die besondere Aufmerksamkeit gilt. In diesem Zusammenhang können auch 4 Wilhelm DILTHEY: Einleitung in die Geisteswissenschaften, Leipzig 1883 (= Gesammelte Schriften, Bd. I), 4. Aufl., Stuttgart-Göttingen 1959. 5 Wilhelm WUNDT: Logik. Eine Untersuchung der Prinzipien der Erkenntnis und der Methoden wissenschaftlicher Forschung, 2 Bde., Stuttgart 1883, Bd. 2, S. 478 – 620. – In den späteren Auflagen dieses Werkes ist der Logik der Geisteswissenschaften ein eigener, dritter Band gewidmet. 6 Gunter SCHOLTZ: Zum Strukturwandel in den Grundlagen kulturwissenschaftlichen Denkens (1880 –1945), in: Geschichtsdiskurs, Bd. 4: Krisenbewußtsein, Katastrophenerfahrungen und Innovationen 1880 –1945. Hrsg. von Wolfgang Küttler, Jörn Rüsen, Ernst Schulin, Frankfurt a. M. 1997, S. 19 –50, hier S. 20 f. 7 Vgl. v. a. Heinrich RICKERT: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Freiburg 1899.

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einzelne Inhalte jener Kultur unter dem Gesichtspunkt ihrer Wert-und Wirkungsbeziehungen zur Gegenwartskultur des sie Erforschenden in Beziehung gebracht werden; in solchen Fällen geht es dann um die Ermittlung der von Max Weber so bezeichneten „Kulturbedeutung“ jener Inhalte für die Gegenwart. Weber baut die Programmatik seiner „Wirklichkeitswissenschaft“ im „Objektivitäts“Aufsatz auf dem Begriff der Kulturbedeutung auf. Ausdrücklich verweist er darauf, dass beispielsweise die „Qualität eines Vorganges als ,sozial-ökonomischer‘ Erscheinung“ nicht etwas ist, was ihm als solchem „objektiv“ anhaftet. „Sie ist vielmehr bedingt durch die Richtung unseres Erkenntnisinteresses, wie sie sich aus der spezifischen Kulturbedeutung ergibt, die wir dem betreffenden Vorgange im einzelnen Fall beilegen.“ 8 Neben der Klärung von Kausalbeziehungen geht es der „Wirklichkeitswissenschaft“ im Sinne Max Webers darum, die Bedeutung von Phänomenen der sozialen Welt zu klären, und dies vor allem im Hinblick auf die Frage, welcher Menschentyp von dieser oder jener sozialen Institution – einer Religion, einer Wirtschaftsform, einer Vergesellschaftungsart – erzeugt wird.9  Trotz seiner Abwehrhaltung gegenüber evolutionsbiologischen und positivistischen Wissenschafts­ konzeptionen, welche die Wertung eines Gegenstandes in diesem selbst angelegt sehen, und trotz der von ihm vertretenen Auffassung, der zufolge die Zuschreibung von Qualitäten zu den Vorstellungsinhalten und den realen Vorgängen der sozialen Welt in der jeweiligen Kulturbedeutung ihren Grund habe, vertritt Weber kein rein subjektivis­ti­sches Konzept von Kultur. Denn nach ihm – und hierin ist er ein Nachfahre des Neuhumanismus des 18. und 19. Jahrhunderts – liegt der Geltungsanspruch von kulturellen Sachverhalten nicht in der sozialen Herkunft des Produzenten oder Rezipienten begründet, sondern in den Objektivationen, deren Geltungsanspruch sich über die Gruppe ihrer Träger hinaus entwickeln und realisieren kann. Kultur wird so verstanden als ein Bestand von Weltbildern, Ideen, Ideo­logien, Werten und darauf gründenden Bedeutungs- und Bedeutsamkeitszuschreibungen, der aktiv vertreten oder doch respektiert wird und kraft die­ser generellen Anerkennung das soziale Handeln beeinflusst. Verschiedene ihrer Inhalte ver­breiteten sich, wie Weber in sei­nen vergleichenden kultursoziologischen Analysen darlegte, oft sogar über den ursprünglich für ihre Entwicklung maßgeblichen Kulturraum hinaus. *

8 Max WEBER: Die „Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (Anm. 1), S. 146  –214, hier S. 161. 9 Vgl. dazu Clemens ALBRECHT: „Die Kunst Rembrandts, nicht die eines beliebigen Stümpers“. Georg Simmel als Philosoph der repräsentativen Kultur, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 9 (2015), S. 23 –   40, hier S. 32–37; ferner, nach wie vor grundlegend, Wilhelm HENNIS: Max Webers Fragestellung. Studien zur Biographie des Werks, Tübingen 1987.

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In drei Schritten vollzog sich die Kritik an der Auffassung von der Möglichkeit einer Universalisierung von moralischen und künstlerischen Werten: zunächst als eine Folge der seit Mitte des 18.  Jahrhunderts erfolgten Öffnung der Museen, die das Vertrautwerden mit den Werken verschiedener Völker und Zeiten und deren Vergleich mit der mehrheitlich noch für überlegen gehaltenen eigenen Kultur ermöglichte; sodann durch die Herausbildung eines in der Nachfolge Johann Gottfried Herders entstandenen, von dessen Intentionen aber mitunter abweichenden ethnologischen Kulturbegriffs. Dieses insbesondere in der US-amerikanischen Cultural Anthropology entwickelte relativistische Konzept führte in der Folgezeit zu einer Einebnung von qualitativen Differenzen, welche als Ergebnis der Anwendung von fälschlich für allgemeingültig gehaltenen Wertstandards auf die verschiedenen Kulturen oder Zivilisationen angesehen wurden. Der dritte Schritt steht im Zusammenhang mit der Entwicklung eines Historismus zweiten Grades. Dieser führte von der Einsicht in die Wertinflation der als heterogen angesehenen Kulturobjekte zur Annahme einer prinzipiellen Heterogenität der Subjekte der Erkenntnis von Kulturobjekten. Nicht mehr richtete sich nun das Hauptaugenmerk der Kulturwissenschaften auf die Objektivationen des moralischen und künstlerischen Geschehens, die einen Geltungsanspruch über die Gruppe ihrer Träger hinaus geltend machten, sondern auf die Individuen und Gruppen, als deren spezifische Ausdrucksform die Kulturprodukte ab nun angesehen wurden. Die Folge war der Glaube an eine durch die Individuen und Gruppen erfolgte Konstruktion eines gewissermaßen polytheistischen Götterhimmels der Moral und der Kunst. Während Vertreter des frühen Historismus des 18. Jahrhunderts, etwa Voltaire in seinem Essai sur l’histoire géné­ rale aus dem Jahr 1756, den Vergleich der Kulturen – mit­unter auch zu Ungunsten Europas – aufgrund eines in der europäischen Tradition ent­wickelten Standards vornahmen, sollte später für jedwede Tradition deren Eigenwert und Gleichwertigkeit reklamiert werden. Herrschte bis zum 17. Jahrhundert ein kultureller Monotheismus vor, so war man danach, wie z. B. Voltaire und mehrere seiner Zeitgenossen, Henotheist und Parteigänger eines „primus inter pares“ im kulturellen Götterhimmel, während man seit dem späten Historismus um 1900 bis zur zeitgenössischen Postmoderne dem Polytheismus frönte. Die Folgen der stufenweise erfolgten „Dekonstruktion“ von bislang für universell gültig gehaltenen Kulturwerten waren für den Charakter der Kulturwissenschaften selber von eminenter Bedeutung. Deren Theorie kamen nämlich seit dem Späthistorismus zwei ihrer geschichtsphilosophischen Grundannahmen abhanden: einerseits der Glaube daran, einen Sinn oder ein Ziel der Geschichte durch die Geistes- und Sozialwissenschaften ausfindig machen zu können, wie er beispielsweise noch für Comte und Marx charakteristisch war; andererseits die Hoffnung, diesen Disziplinen, wie Dilthey eine Zeitlang meinte, die „Leitung der Gesellschaft“ übertragen zu können.10 Aussagen über den Sinn oder das Ziel der Geschichte erschienen so beispielsweise Georg Simmel und Max Weber als etwas einer 10 Vgl. z. B. Wilhelm DILTHEY: Einleitung in die Geisteswissenschaften (Anm. 4), S. 4 und S. 378.

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Wahrheitsprüfung nicht Zugängliches, und dies genauso wenig wie die ultimativen „Wert­ axiome“ individuellen Handelns. Die wissenschaftliche Wertlehre könne diese „Wertaxio­ me“ niemals in ihrer normativen Geltung als „wahr“ beweisen, sondern zunächst nur als konsensuell oder mehrheitlich akzeptiert und somit als faktisch geltend aufwei­sen. Mit ­deren Wandel ändert sich auch die „Kulturbedeutung“ historischer Tatsachen. Doch die Veränderung ist nicht unbegrenzt. Zwar seien die Werte, welche unser Handeln leiten, und auch die kulturwissenschaftliche „Wertbe­ziehung“ im historischen Wandel begriffen, nicht aber die Erkenntnisprinzipien und die logischen Formen, die unseren wissenschaft­lichen Beschreibungen, Aufweisungsanalysen und Erklärungen zugrunde liegen.11 Diese unter anderem noch für Max Weber charakteristische Annahme einer limitier­ten Geschichtlichkeit kulturwissenschaftlicher Analysen wurde, wie bereits erwähnt, seit dem Späthistorismus um die Überzeugung erweitert, dass sich nicht nur die Kenntnis und Deutung kultureller Tatsachen und die für diese Deutung bestimmenden ­Wertaxio­me, sondern auch die Formen der Erkenntnis dieser kulturellen Tatsachen und ­Wertaxiome wandeln können. Namentlich mit der Wissenssoziologie erfolgte – in Fortführung ge­ wis­ser lebensphilosophischer, hermeneutischer und pragmatistischer Tendenzen – eine Aus­weitung der Historisierung der Erkenntnisinhalte auf die geistes- und sozialwissenschaftlichen Erkenntnisformen. Geschichte, Wahrheit und Wissenschaft rückten so in ein neues Verhältnis zueinander, wobei sich in der Folge die Kulturwissenschaften mit einem ambivalenten Tatbestand konfrontiert sahen: Die ursprünglich als befreiend empfundene Destabilisie­rung des absolu­tistischen Wahrheitsanspruchs einer als einseitig kritisierten „Metaphysik“ wich nach und nach einer Destabilisierung der Gegenstandserkenntnis. Mit der Verallgemeinerung der in bestimmter Hinsicht richtigen Überzeugung, der zufolge Fakten ja nicht schlicht entdeckt, sondern konstruiert werden, schoss man über das Ziel hinaus. Und so löste sich die Idee einer rea­listischen Ontologie durch die Befassung mit einer Vielzahl von „Perspektiven“, „Paradigmen“, „Be­zugsrahmen“ und „approaches“ auf, bis sich auch der Gegenstand der Forschung aufzulösen drohte.12 Die Misere, in die dadurch die Kulturwissenschaften gerieten, besteht so heute unter anderem darin, dass in ihnen unter dem Schlagwort des Methodenpluralismus ganz verschieden­artige – etwa tiefenpsychologische oder diskursanalytische – Interpretationen auf den Gegenstand einer 11 Die Frage, welche Werte, wenn sie schon nicht wahr sein könnten, so doch Geltung haben sollten, war nach Weber durch Wissenschaftslogik nicht entscheidbar. Vgl. in diesem Zusammenhang seine Feststellung: „Eine empirische Wissenschaft vermag niemanden zu lehren, was er soll, sondern nur, was er kann und – unter Umständen – was er will.“ – Max WEBER: Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (Anm. 1), S. 146  – 214, hier S. 151. 12 Jeder Denker in der Tradition des Historismus war, wie es einmal Paul Valéry formuliert hat, „ein Treffpunkt aller Weltanschauungen“, „eine Weltausstellung der Gedanken“; und die Postmoderne erscheint geradezu als der Wiedergänger jener Tradition. – Vgl. Paul VALÉRY: Die Krise des Geistes [1919], in: Ders., Werke, Bd. 7, Frankfurt a. M. 1995, S. 26 –54, hier S. 30.

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Untersuchung zur Anwendung kommen, die einander eher wechselseitig ausschließen, als dass sie das Erkenntnisobjekt erschließen.13 Offenheit und Perspektivität sind vielfach nur Umschreibungen für methodische Beliebig­keit geworden: für das, was Niklas Luhmann einmal „multiple Paradigmatase“ genannt hat. Durch eine zum Prinzip erhobene Histori­ sierung der Methode konnte es scheinen, als sei das Ideal der epistéme ein Trugbild, als gehe es beständig nur um dóxai, subjektive Meinungen und Anschauungen, die selbst wiederum zum Gegenstand von Meinungen und Anschauun­gen gemacht werden. Sie aber, so meinen einige Überschwängliche, hätten weder in der Sache noch in der Methode ein Korrektiv, da die Erscheinungsweise der Sache und die Methode selbst wieder von Meinungen und Anschauungen abhängig seien. * Die über Gebühr erfolgende Hochschätzung von Meinungen, Annahmen und Mutmaßungen, die für bestimmte Kulturwissenschaftler charakteristisch ist, steht im Wider­spruch zum Prinzip der Wahrheitserkenntnis. Als Wahrheit gilt uns ja gerade die Übereinstimmung unserer Meinungen, Annahmen und Mutmaßungen mit der Wirk­lichkeit, so wie sie unabhängig von unserem Dafürhalten da ist. In der Wahrnehmung, in der sich uns das Wirkliche zeigt, können wir unsere Vorstellungen an diesem messen. So wurde Urbain Le­ verriers Behauptung der Existenz eines noch unbekannten Planeten – des Neptun – durch die Beobachtung von Johann Gottfried Galle 1846 verifiziert, und in ähnlichem Sinne bestätigte 1935 ein Papyrusfund, dass die Abfassung des Johannes-Evangeliums viel früher erfolgte, als von der Mehrheit der historischen Kritiker angenommen, weil jener Fund unter Beweis stellte, dass das Evangelium schon um ca. 100 n. Chr. exis­tierte. Bei allen Unterschieden, die zwischen der astronomischen und der historischen Wahrnehmung bestehen, lehren diese Befunde doch etwas über die Übereinstimmung zwischen dem von Gelehrten Vermeinten und dem Wirklichen.14 Als ein erhebliches Manko einiger zeitgenössischer Kulturwissenschaftler ist allerdings, wie Jürgen Kaube am Beispiel der Bildungssoziologie ausgeführt hat, deren Gewohnheit anzusehen, sich nicht sehr für die Wirklichkeit zu interessieren, aus denen ihre Daten stammen, sondern die Daten selber für die Wirklichkeit zu halten.15 Der Zeit angeblich gemäße Erfordernisse der Meinungsvielfalt sind es, die hier 13 Vgl. dazu Dirk WESTERKAMP: Wahrheit und kulturelle Tatsachen. Thesen zur Logik der Kulturwissenschaften, in: Ders., Sachen und Sätze. Untersuchungen zur symbolischen Reflexion der Sprache, Hamburg 2014, S. 345 –374. 14 Vgl. dazu Gerhard KRÜGER: Grundfragen der Philosophie. Geschichte – Wahrheit – Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1958, S. 11 f. 15 Siehe Jürgen KAUBE: Was Schule leisten soll und kann, in: Ders., Im Reformhaus. Zur Krise des Bildungssystems, Springe 2015, S. 23 –54.

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wie auch anderswo bewirken, dass das der Sache gemäße Argument Gefahr läuft, in seinem Wert herabgestuft zu werden. Die geistige Bewegung des Historismus stand unter dem nachhaltigen Eindruck der Zeitgebundenheit von Erfahrung, Wissen und Erkennen. Diese Einsicht ist auch für uns Heutige bestimmend, und doch ist es nicht der Begriff der Wahrheit als Zeitgemäßheit sondern der Wahrheit als Sachgemäßheit gewesen, den schon Autoren wie Dilthey, Weber oder Troeltsch nicht preisgeben wollten und auf den auch wir nicht verzichten können, ohne uns selber der Voraussetzung für jegliche Besinnung auf die Möglichkeiten von Wissen und Erkennen zu berauben. Es geht also nicht um unsere Meinungen darüber, ob eine bestimmte Auffassung einer bestimmten Zeit – zum Beispiel der Vormoderne, der Moder­ ne oder der Postmoderne – gemäß ist, sondern darum, ob sie richtig ist, ob sie also die wirklichen Vorgänge mit ihren Gründen und Folgen, Ursachen und Wirkungen, Motiven und Absichten so erfasst, dass wir nach Maßgabe des heute Wissbaren im weiteren Verlauf keine unangenehmen Überraschungen erleben. Auch wenn wir wissen, dass unsere Auffassungen über ansteckende Krankheiten und deren Heilung in der Geschichte nicht immer dieselben waren und prinzipiell revidierbar sind, werden wir nicht umhin kommen, uns zu entscheiden, ob wir uns beispielsweise einer bewährten oder einfach der jeweils modi­schen Therapie unterziehen wollen. Im selben Licht erscheint die Reduktion von Wahr­heit auf Zeitgemäßheit auch in den Kulturwissenschaften. Sachgemäßheit hat auch in ihnen gegen­ über der Zeitgemäßheit den Vorrang. „Man wird“, wie Gerhard Krüger bemerkt, „eine Er­ kenntnis nicht schon deshalb wissenschaftlich nennen, weil sie menschen- und zeitgemäß ist, eine Forschung nicht deshalb, weil sie mit Methode nach Angemessenheit an uns oder unsere geschichtliche Lage strebt. Vielmehr ist der Sinn der wissenschaftlichen Methode immer der, uns und unserer Zeit das Wirkliche zu erschließen und die Sachgemäßheit unserer Ansicht von ihm zu verbürgen. Wissenschaft steht und fällt mit diesem Wahrheitsbegriff.“16 In den Kulturwissenschaften, namentlich in den historisch-philo­logischen ­Disziplinen, hat man sich verschiedentlich angewöhnt, Erkenntnisse als Ausdruck eines menschlichen und geschichtlichen Standpunktes aufzufassen, sie also nicht primär im Sinne der Sachgemäßheit, sondern vom Standpunkt der Menschengemäßheit aus zu betrachten. Das heißt, dass man ihre Ergebnisse vorrangig an der Forscherpersönlichkeit zu messen unternahm, von deren Tiefsinn, Gestaltungskraft und sozialem Umfeld sie zeugen sollen.17 Dieser einmal mehr im Umkreis der Lebens- und Exis­tenzphilosophie entstandene individualistische, dann aber vornehmlich der marxis­tischen Wissenssoziologie entsprungene kollektivistische Biographismus, der von der Methode des Begreifens, Erklärens und Verstehens der Tatsachen weg und hin zur Würdigung des Lebensschicksals, der großen Gefühle oder des Klassenbewusstseins der Interpreten jener Tatsachen führte, war ein Irr­ 16 Gerhard KRÜGER: Grundfragen der Philosophie (Anm. 14), S. 23. 17 Vgl. ebd., S. 27.

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weg. Die schon zu Ende des 19. Jahrhunderts im Widerstreit mit der Lebensphilosophie und dem Marxismus einsetzenden und nach dem Zweiten Weltkrieg auf ähnliche Weise gegen existenzphilosophische Orientierungen ge­richteten Bestrebungen der jüngeren Wissenschaftstheorie konnten dieser Entwicklung in gewissem Umfang Einhalt gebieten. Die Frage, die sich gleichwohl stellte, lautete: Worin besteht jene Methode, die die Kulturwissenschaften zur Wissenschaft macht? Und was ist eigentlich Wissenschaft? Aus einem nicht zu übersehenden Minderwertigkeitsgefühl heraus waren vereinzelt Geisteswissenschaftler, häufiger jedoch Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler bestrebt, für sich nur das als wissenschaftlich belangvoll anzusehen, was uns an Theorien und Metho­ den in den exakten Formal- und in den Naturwissenschaften mit großer Überzeugungs­ kraft entgegentritt. Anderes Wissen galt ihnen als methodisch ungesichert, unverbindlich und letztlich unwissenschaftlich. Da Wissenschaft methodische Sicherung der Wahrheit ist, erschien es geradezu als selbstverständlich, dass eine Disziplin umso wissenschaftlicher ist, je sicherer sie über das von ihr als wahr Erkannte verfügt. Im Falle der verschiedenen kulturwissenschaftlichen Disziplinen stellte sich aber die Frage, in welchem Sinne und in welchem Ausmaß jene Sicherung der Wahrheit überhaupt möglich und nötig ist. „Nicht Sicherheit schlechthin, nicht ein gewissermaßen blindwütiges Streben nach Sicherheit macht […]“, wie in diesem Zusammenhang Gerhard Krüger bemerkt, „die Wissenschaft zur Wissenschaft, sondern die der Sache und der ursprünglichen Sacherfahrung entsprechende Sicherheit. […] In diesem Sinne hat Aristoteles mit Recht gesagt, man dürfe die Strenge des Wissens nicht bei allen Dingen in der gleichen Weise erstreben, sondern bei jeder Art von Dingen gemäß dem zugrundeliegenden Gegebenen und in dem Maße, in dem es dem Ziele des Vorgehens angemessen ist.“18 So mag es in bestimmten Zusammenhängen zweckmäßig sein, die Struktur eines Gedichtes formalsprachlich erfassen zu wollen, aber das Verstehen seines Sinnes – also seines kognitiven und emotionalen Gehalts sowie der mit ihm verbundenen Absicht – ist nicht durch eine noch so präzise formale Sprache zu verbürgen. Entsprechendes gilt beispielsweise auch für das sinnerfassende Verstehen anderer Ausdrucksformen des Fremdseelischen. * Max Weber hat in seiner „verstehenden Soziologie“ – wie schon zuvor unter anderem ­Hegel, Marx und Wilhelm Wundt – auch den nicht-intendierten Konsequenzen absichts­geleiteten Handelns eine besondere Rolle beigemessen. Zugleich hat er auf die Grenzen einer akteurs­ zentrierten Betrachtung in Analysen der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt hinge­wiesen und damit abermals einer Ansicht Ausdruck verliehen, die für die großen Histo­riker schon 18 Ebd., S. 35 f. – Ähnlich die Ausführungen von Roger TRIGG: Understanding Social Science. A ­Philosophical Introduction to the Social Sciences, Oxford-New York 1985, z. B. S. 115 und S. 122.

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seit Thukydides bestimmend war: dass nämlich das Verstehen nicht auf die Absichten, Handlungsgründe und Wertorientierungen von Individuen beschränkt bleiben könne, sondern auch die Umstände der Handelnden einzuschließen habe, auf die deren Verhalten sinnhaft bezogen ist. Menschen handeln bekanntlich zwar gemäß den von ihnen gesetzten Zielen, sie tun dies aber in der Regel nicht unter von ihnen selbst gestalte­ten Umständen. Allerdings ist es nötig, die Analyse der Umstände eines geistes- oder sozial­wissenschaftlich belangvollen Phänomens von der Bestimmung seiner Besonderheit zu unterscheiden. Irre­ führend und unangemessen ist nämlich eine Erkenntnisorientierung, welche zum Beispiel die Deutung der Eigenart geisteswissenschaftlich bedeutsamer Phänomene in Wissenschaft und Kunst, Moral und Politik zugunsten der für ihre Genese oder ihre Wirkung maßgeblichen Umstände vernachlässigt. Man hat dann die Vor- und Wirkungsgeschichte eines Sachverhalts im Blick, nicht jedoch ihn selber; sein „Geist“ wird durch diese Art von Geisteswissenschaft nicht erfasst. Die Dominanz solcher genetischen oder wirkungsgeschichtlichen Analysen hat Gegenbestrebungen auf den Plan gerufen, mit denen man „zu den Sachen selbst“ vorzudringen und dabei die für kulturwissenschaftliche Inhalte maßgeblichen regionalen Ontologien – das Schöne, das Gerechte, das Religiöse etc. – phänomenologisch aufzuweisen, ­gleichzeitig aber oft auch überhistorisch zu normieren suchte. Edmund Husserl hat bereits in seinem berühm­ ten Logos-Aufsatz den Historismus als eines der Hauptprobleme der geistigen Situation s­ einer Zeit betrachtet.19 Im Gegensatz zur eidetischen Weltbetrachtung der Phänomenologie Husserls hat Martin Heidegger mit seinem Buch Sein und Zeit (1927) und zahlreichen darauf folgenden Abhandlungen polemisch jeglichen Platonismus verworfen und durch das sich entscheidende und sich selbst verstehende „Dasein“ ersetzt. Die bei Dilthey noch als Metho­ denlehre verstandene „Hermeneutik“ zielt bei ihm ab auf existentielles Selbstverständnis, und Wissenschaft insgesamt wird zu einer Sache bloß ephemeren „Denkens“. Andere Reaktionen auf den Historismus bestanden darin, diesen mit Hegel und Marx radikal zu Ende zu führen und so sicheren Boden in einer Welt sich wandelnder Zustände und Erkenntnisweisen zu gewinnen: exemplarisch dafür sind der Neomarxismus von Georg Lukács und die Wissenssoziologie von Karl Mannheim. In der Tradition des orthodoxen Marxismus sucht Lukács die kulturellen Phänomene zu ihren sozialökonomi­ schen Bedingungen in Beziehung zu setzen und aus der Regelmäßigkeit der Beziehungen zwischen jenen und den sich vermeintlich gesetzmäßig entwickelnden Gesellschaftsformationen auch Anleitungen dafür zu gewinnen, wie die geschichtliche Entwicklung aus dem 19 Edmund HUSSERL: Philosophie als strenge Wissenschaft, in: Logos I (1911), S. 289 –341; abgedruckt in: Gesammelte Schriften, Bd. VIII, Hamburg 1992. – Husserl bezieht sich hier ausdrücklich auf Diltheys im gleichen Jahr in Berlin im Verlag Reichl & Co. erschienene Abhandlung „Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen“; wiederabgedruckt in: Gesammelte Schriften, Bd. VIII, 2. Aufl., Stuttgart-Göttingen 1960, S. 73 –118.

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Reich der „Notwendigkeit“ hin zu einem Reich der „Freiheit“ beschleunigt werden könnte. Alle durch die bürgerlich-kapitalistische Produktionsweise und die ihr korrespon­dierende Ideologie „verdinglichten“ Werte seien, wie Lukács findet, durch eine „dialektische Totali­ tätsbetrachtung“ auf die durch die jeweils dominanten Produktivkräfte bestimmte Phase der Gesellschaftsentwicklung zurückzuführen. Dadurch sei es möglich, bestimm­te Denk- und Lebensformen als unzeitgemäß, die sozialistisch-proletarische Denk- und Lebens­form jedoch als „wahr“ in ihrer Zeit zu erkennen.20 Karl Mannheim wiederum war bestrebt, die mit dem Marxismus-Leninismus verbundene Theorie der „Parteilichkeit“, die in der Lehre des historischen Materialismus ihren Grund hat, mit seinem Buch Ideologie und Utopie (1929) zu überwinden. Denn er befürchtete – ähnlich wie Dilthey zuvor die „Anarchie der philosophi­schen Systeme“ – eine Anarchie von „Parteilichkeiten“ und den daraus hervorgehenden Kampf mit all seinen realen Folgen. Durch die Generalisierung der „Seinsgebundenheit“, also der sozialen Abhängigkeit alles Wissens als des im historischen Wandel einzig Gewissen, erweise sich jedes Denken als „ideologisch“. Doch durch die intersubjektiv nachvollziehbare „Relationierung“ des Denkens auf seine politischen und sozialökonomi­ schen Bedingungen werde dessen jeweiliger Absolutheitsanspruch untergraben und wechselseitiges Verstehen zwischen den Vertretern der verschiedenen Denkrichtungen möglich. Kritik hat sich Mannheim wegen seines vermeintlich schrankenlosen Relativismus aus verschiedenen philosophischen und politischen Lagern zugezogen. Allerdings liegen seiner Auffassung, der zufolge es möglich sei, sich die für die jeweilige Welterfahrung und Welt­ auslegung bestimmenden sozialen und politischen Bedingungen wechselseitig bewusst zu machen, Voraussetzungen zugrunde, die einer argumentativen Beliebigkeit entgegenstehen, wie sie mit der Lehre von der sozialen Plastizität allen Denkens verbunden ist. Einen Ausweg aus der Befangenheit durch die Lehre von der sozialen Prägung aller Arten von Erkenntnis schien der logische Empirismus oder Neopositivismus zu bieten. Dieser strebte gegenüber den verschiedenartigen Annahmen einer Rückführbarkeit wissen­ schaftlicher Erkenntnisse auf spezifische damit korrelierende Grundkräfte des Gesell­ schaftlichen nach einer Sicherung der wissenschaftlichen Rationalität. Eine solche sollte in der strengen Abgrenzung sinnvoller von „sinnlosen“ Sätzen ihren Grund haben. Doch diese Sicherung hatte ihren Preis, da der Wissenschaftsbegriff so sehr nach dem Muster der Mathematik und der Physik modelliert wurde, dass Fragen nach der Geltung von mora­lischen und ästhetischen Urteilen und die darauf gegebenen Antworten für wissenschaftlich irrelevant, weil nicht im strengen Sinne für überprüfbar gehalten wurden. Als „sinnlos“ bezeichnet, sollten solche Aussagen vom Bestand „sinnvoller“ Sätze getrennt werden. „Dieser ‚Objektivitäts­rigorismus‘ hat“, wie Gunter Scholtz meint, „den Vorteil, daß er die Wissenschaften von allen Ideologien und Weltanschauungen reinigt, und zugleich 20 Vgl. Georg LUKÁCS: Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik, Berlin 1923. (Hierbei handelt es sich um die Erstauflage des oftmals nachgedruckten Werks.)

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den Nachteil, daß nun z. B. die Ästhetik, aber auch alle Interpretationen auf die Müllhalde der Ideologien zu geraten drohen.“21 Dass diese den weltanschaulichen Einseitigkeiten ablehnend gegenüberstehende und an den exakten Wissenschaften orientierte philosophische Einstellung ihrerseits eine einseitige „wissenschaftliche Weltauffassung“ begünstige, wurde bereits früh von einigen Vertretern der dem logischen Empirismus verwandten analytischen Philosophie konstatiert. Ein verengter Begriff von Rationalität schien ihnen bei den Neopositivisten am Werke zu sein. Eine praktische Philosophie, die im Sinne der aristotelischen phrónesis, also der prakti­schen Klugheit, Werte und Normen abwägend auf die jeweilige Handlungssitua­tion und die je­weilige gesellschaftlich-geschichtliche Lage bezieht, verlor so durch ihre Kontrastie­rung mit den Präzisionsansprüchen und Beweisbarkeitserfordernissen der Formal- und der exak­ten Naturwissenschaften ihre Grundlage. Besser erschien es offenkundig jenen Empiristen, präzis in trivialen sowie trivial in wichtigen Belangen der Kulturwissenschaften zu sein, als nicht präzis bei der Bearbeitung ­nicht-trivialer und schwieriger Aufgaben in diesen Disziplinen. * In jüngster Zeit scheint es so, als durchziehe gleichsam quer zu dem Graben, der die „zwei Kulturen“ der Natur- und Kulturwissenschaften voneinander trennt, ein anderer jede dieser beiden Kulturen selber: auf dessen eine Seite kommen die Vertreter der reinen, auf dessen andere Seite die Vertreter der angewandten Wissenschaft zu liegen. Weite Bereiche der Naturwissenschaften sind durch einen starken Nexus zusammengehalten, nämlich durch den gemeinsamen Bezug auf die Technik. Durch Techniken im engeren Sinn, wie sie den meisten Experimenten zugrunde liegen, finden wissenschaftliche Theorien ihre Überprüfung, zugleich stellt die Technik im weiteren Sinn das Feld der praktischen Verwertung wissenschaftlicher Erkenntnisse im großen Maßstab dar. Gesellschaftliche Ver­ wertungszusammenhänge von Wissenschaft werden jedoch für die Forschung zunehmend zum Problem. Heute entfremdet die durch die Wissenschaftspolitik aufgenötigte Akquisition externer Forschungsmittel die wissenschaftlichen Einrichtungen zunehmend von der Gewinnung nicht schon von Beginn an auf Anwendung ausgerichteter Erkenntnisse, da die in der Wissenschaft Tätigen auf marktförmig organisierte Geldquellen angewiesen sind. Drittmittel müssen im Wettbewerb gegen andere Forschungseinrichtungen eingeworben werden, und um das Einwerben erfolgreich zu gestalten sind einerseits Marketingund Managementqualitäten erforderlich, andererseits aber in vermehrtem Umfang auch ein Abrücken von auf reine Grundlagenforschung bezogenen Projekten. Vor allem nicht unmittelbar anwendungsorientierte geistes- und sozialwissenschaftliche Forschungen ermangeln zunehmend der finanziellen Unterstützung. 21 Gunter SCHOLTZ: Zum Strukturwandel in den Grundlagen kulturwissenschaftlichen Denkens (Anm. 6), S.37.

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Damit ändert sich aber nicht nur der Typus des Wissenschaftlers unter dem Einfluss des Drittmittelmarktes, sondern auch der Charakter der Wissenschaft selber. Man achte nur einmal darauf, wie es in Deutschland oder in Österreich beispielsweise um Lehrstühle für Ideen- oder Geistesgeschichte, für Wissenschafts- und Rechtsgeschichte, aber auch für die Geschichte der ökonomischen Analyse bestellt ist ! Allzu deutlich treten in den Direktiven sowohl der nationalen als auch der übernationalen Forschungspolitik in Europa kritische Hinweise auf den fehlenden Anwendungsbezug der Forschung, auf deren fehlende Finali­ sierung und deren mangelhafte gesellschaftliche Relevanz in den Vordergrund. Nun soll nicht geleugnet werden, dass es auch in den Kulturwissenschaften so etwas gibt wie kriterien­ enthobene, an Gustave Flauberts Wissenschaftsenzyklopädisten Bouvard und Pécuchet erinnernde Quisquiliensammler. Doch die vor allem an die Adresse von Geisteswissenschaftlern ge­richteten Vorwürfe, nicht zukunftsorientiert und hinreichend gesellschaftsrelevant, und damit eher nur freizeitdienlich zu sein, sind oft nicht nur ungerecht, sondern auch banal. Einschlägige vor einigen Jahrzehnten von links vorgetragene Einwände werden heute zuneh­ mend von Seiten der nationalen und übernationalen Wissenschafts­politik in weltanschaulich umgepolter Form revitalisiert. In der Folge wird etwa die Pflege von Musik, bildender Kunst und Literatur immer öfter nicht mehr als ein intrinsischer Wert verstanden, sondern vornehmlich in ihrer funktionalen Bedeutung als relaxierendes Durchatmen zur Leistungssteigerung, wird die philosophische Selbstbesinnung zur Psychohygiene transfor­miert und die Historie entweder zum Kuriositätenkabinett für den Feierabend oder aber – in der Tradition eines menschenrechtlich aufgeladenen Geschichts­pragmatismus – zur Quelle eines psalmodierenden „Nie wieder!“22 Doch Philosophie und Geschichte sind zu mehr imstande: sie können beispielsweise bequeme Mythen demolieren; sie vermitteln uns einen Sinn für das Eintreten des Unerwarteten und auch für das, was man den Geist oder Ungeist der Zeit nennt; sie zeigen den Konformismus mit dem Zeitgeist, aber auch die Abweichungen von ihm auf; und sie können unsere Aufmerksamkeit auf die Größe und das Elend des Menschen im Wandel der Zeiten, auf die Vergänglichkeit seines Schaffens, aber auch auf den Glanz und den die Zeiten überdauernden Wertgehalt einzelner seiner Werke lenken. Heute ist allerdings, wie es scheint, die Geldwirtschaft zur normativen Richtgröße für die Feststellung der „Kulturbedeutung“ von Worten, Werken und Taten und der für sie maßgeblichen Ideen geworden. Max Scheler hegte bereits ähnliche Vermutungen in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, der ja die unsere immer ähnlicher wird und die er durch 22 So wird etwa von der Historie derzeit vor allem erwartet, im Sinne des Vermeidungslernens magistra vitae, also Lehrmeisterin für das Leben zu sein und sich als solche vor allem der Darstellung von Ereignissen zuzuwenden, mit welchen man in Zukunft nichts mehr zu tun haben möchte, wie mit Sklavenarbeit, Hexenprozessen, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit etc. Zugleich soll jedoch die so verstandene Historie offenbar nicht dazu führen, daß der zukunftsorientierte Zeitgenosse sich durch Jeremiaden von dem durch Wettbewerb und Spaß bestimmten Heilsweg einer bestimmten Variante der Wohlstandsgesellschaft abbringen lässt.

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den „Wirkprimat“ des „Geldes“ oder des „Ökonomismus“ bestimmt sah.23 Wirtschafts­ liberale und Sozialisten erweisen sich dabei insofern als Geschwister, als sie das Kultu­relle aus dem Ökonomischen herleiten oder aber im Hinblick auf dieses funktionalisieren. Und so besteht auch das Vorurteil der zeitgenössischen Ultraliberalen oder Libertären in der Überzeugung, Ideen könnten sich nur insofern Respekt erwerben, als sie sich rechnen. Unterschätzt wird von ihnen, wie bereits von vielen Marxisten in der Vergangenheit, die Wirkkraft von Ideen. Oder vielleicht fehlt ihnen einfach der Sinn dafür, was schon Max Weber deutlich zu machen suchte: dass zwar Interessen, nicht Ideen, unmittelbar das Handeln der Menschen beherrschen, dass aber die „Weltbilder“, welche durch „Ideen“ geschaffen wurden, sehr oft als „Weichensteller“ die Bahnen bestimmen, in denen die Dynamik der Interessen das individuelle und gesellschaftliche Handeln fortbewegt.24 Der Jurist Rolf Stürner nahm vor einiger Zeit auf den zeitgenössischen Umgang mit den zumal philologisch-historischen und musischen Disziplinen Bezug und bemerkte zu dem vom modischen Deregulierungs-Mantra begleiteten Rückzug des Staates aus einem seiner angestammten Verantwortungsbereiche: „Wo die Gesellschaft […] den Schwerpunkt ihrer Grundverfassung allein auf die Organisation gewinnorientierten Wettbewerbs legt, fördert sie die Zerstörung ihres eigenen Menschenbilds. Seine Pflege bedarf einer materiellen Basis staatlich organisierter Solidarität. Sie darf nicht dem Zufall kapitalkräftiger Privatinitiative überlassen bleiben. Dies aber bedeutet Verantwortung dafür, dass z. B. Philosophie, Literatur, Kunst oder Geschichte an Hochschulen noch ausreichende Pflege erfahren und dass ethischer und musischer Unterricht an Schulen […] noch mit dem nötigen Gewicht stattfindet […].“25 Es gilt zu erkennen, dass die Entwicklung der menschlichen Zivilisation nicht nur geprägt ist von vermarktungsfähigen natur- und wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern auch von der ständigen Vergegenwärtigung der großen kulturellen Leistungen der Vergangenheit auf ganz verschiedenen Gebieten; dass es aber auch darum geht, neben der Verwirklichung von Idealen deren Verrat, neben den Hoffnungen auch die Illusionen und Irrtümer unserer Vorfahren vor Augen zu führen, denen wir ja nicht unähnlich sind. Ein solches Praktischwerden von Kenntnissen und Erkenntnissen läuft in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle nicht auf ein sozialtechnisch umsetzbares Herr23 Die Annahme einer Konstanz im „Wirkprimat“ dieses und der anderen „Realfaktoren“– des „Blutes“, also des Ethnos oder des „Rassennativismus“, und der „Macht“ oder des „Politismus“ – lehnte Scheler allerdings ab. – Vgl. Max SCHELER: Probleme einer Soziologie des Wissens [1925], in: Ders., Die Wissensformen und die Gesellschaft (= Gesammelte Werke, Bd. 8), Bern 1960, S. 15 –190, hier v. a. S. 41–51. 24 Vgl. Max WEBER: Einleitung in die Wirtschaftsethik der Weltreligionen [1916], in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. I, 6. Aufl., Tübingen 1972, S. 237–275, hier S. 252. 25 Rolf STÜRNER: Markt und Wettbewerb über alles? Gesellschaft und Recht im Fokus neoliberaler Markt­ideo­ logie, München 2007, S. 305. – Vgl. in diesem Zusammenhang auch Konrad Paul LIESSMANN: Theo­rie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft, 17. Aufl. München 2008; Barbara ZEHNPFEN­NIG: Die Austreibung des Geistes aus der Universität, in: Wissenschaftsrecht 46, H. 1 (März 2013), S. 37–53.

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schaftswissen einer „applied science“ hinaus, sondern auf die Umwandlung von Fachwissen in Bedeutungswissen, welches dann, wie Friedrich Tenbruck einmal bemerkte, „ein gebildetes Publikum erreicht, nicht um ‚verwertet‘, sondern um ‚beherzigt‘ zu werden.“26 Man darf allerdings nicht glauben, dass es eben deshalb für unser Handeln bedeutungslos bleibe. * Was die Beziehung der Grundlagenforschung zur angewandten Forschung und den Einfluss des Drittmittelmarktes auf diese betrifft, so wird diesen Fragen unter anderem im ersten Kapitel nachgegangen werden, in welchem unter dem allgemeinen Thema der Wis­ senschaftlichkeit verschiedene Gesichtspunkte des Verhältnisses von Wahrheit und Wissenschaft in Betracht gezogen werden. Danach geht es um die Kulturwissenschaften und um deren Funktion, ehe im dritten, der Religion gewidmeten Kapitel die Auswirkungen des Bildungswissens auf das Heils- oder Erlösungswissen untersucht werden, wobei aller­ dings unter „Bildung“ anderes verstanden wird nur als Mittel, um Zertifikate zu erwerben. Im Anschluss daran wird der Erkenntnisanspruch der Kunst analysiert und mit dem der Wissenschaft verglichen. Genug an Material aus den Kulturwissenschaften und ihrer Philosophie ist damit präsent, um sodann im fünften Kapitel der Frage nach den auch sie bestimmenden Weltanschauungen nachzugehen, in Kapitel 6 aber der Genese und Funktion von Rationalität. Da Rationalität eng mit Diskursivität verbunden ist, erscheint es naheliegend, sich im siebenten Kapitel mit einigen Problemen des Verstehens und mit Verstehensgrenzen zu beschäftigen, im achten mit Singularitätsansprüchen und Annahmen einer prinzipiellen Unvergleichbarkeit, und im neunten Kapitel unter dem Titel Relevanz­ gesichtspunkte mit der für unterschiedliche Erkenntnisorientierungen charakteristischen Beziehung von Erscheinung und Wirklichkeit. In Kapitel 10 werden für weite Teile der Kulturwissenschaften typische methodologische Fragen am Beispiel der analytischen Ge­ schichtstheorie erörtert. Inwiefern anthropologische Konstanten oder eine allgemeine Men­ schennatur das Substrat der mitunter in die moralische und kognitive Unverbindlich­keit driftenden Kulturwissenschaften bilden, ist Thema von Kapitel 11. Kapitel 12 ist unter der Überschrift Ideen der Ideengeschichte am Beispiel bestimmter moralisch-politischer Leitwerte gewidmet, ehe in Kapitel 13 unter Bezugnahme auf Ernst Cassirers letztes Buch Der Mythus des Staates eine einseitig ideengeschichtliche und in diesem Sinne zur Ideologie gewordene historische Erklärung zum Thema gemacht wird. Ausführungen über den Wahr­ heitsanspruch der Politik in der modernen parlamentarischen Mehrparteiendemokratie sind Inhalt von Kapitel 14. Das 15. und letzte Kapitel gilt Fragen nach dem kulturellen 26 Friedrich H. TENBRUCK: Was sind und was sollen die Geisteswissenschaften heute?, in: Ders., Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. Der Fall der Moderne, Opladen 1989, S. 175 –186, hier S. 182.

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Einleitung

Erbe und – unter diesem Gesichtspunkt – auch der Rolle der Kulturwissenschaften in Zeiten des rasan­ten, durch Massenimmigration charakterisierten gesellschaftlichen Wandels in Europa. Seit die Wissenschaft selbst zum Gegenstand ihrer Betrachtungen geworden ist, also insbesondere seit dem 18. Jahrhundert, wird es als Charakteristikum des wissenschaftlichen Geistes betrachtet, eine Korrektur des Wissens zu sein. Die wissenschaftliche Aktivität gilt als beständiger Prozess der Revision von Irrtümern, so dass sich auch einige Wahrheiten von heute in Irrtümer von morgen verwandeln. So ist der Wissenschaftler einerseits Richter über die Vergangenheit und die eigene Gegenwart, andererseits aber auch der Angeklagte vor einem zukünftigen Tribunal. Das ist ein nicht unbedeutender Aspekt der Geschichtlichkeit wissenschaftlichen Wissens. Vor diesem Hintergrund ist der Verfasser der vorliegenden Studien von dem Bestreben geleitet, einige Gedanken zu Grundlagenfragen der Kulturwissenschaften zu entwickeln, jedoch auf Fachkollegen, die ähnliche Gedanken entwickelt haben, durch entsprechende Verweise gebührend hinzuweisen. Deren Leistungen sollen – auch durch die Wiedergabe mitunter längerer Zitate – gewürdigt, nicht aber die Belesenheit des Verfassers demonstriert werden. Im Übrigen ist es ja richtig, dass Leute, die viel gelesen haben, selten große Entdeckun­ gen machen, und dass die eigene Betrachtung der Dinge und Ideen sowie der zwischen ihnen bestehenden Zusammenhänge wichtiger ist als die permanente Bereitschaft, für alle beliebigen Informationen offen zu sein. Aber man soll auch nicht falsche Originalität simu­ lieren. Ganz allgemein gilt es, sich in der Wissenschaft einen Sinn für die fruchtbare Komplementarität von problemgeschichtlicher Aufbereitung und Problemlösung zu bewahren. Kein Geringerer als Johannes Kepler hat sich dazu bereits geäußert. Die Worte des großen Naturforschers können ohne Einschränkung auch auf die Geistes- und Sozialwissenschaften zur Anwendung kommen: „Wer sich durch geistige Beweglichkeit auszeichnet, hat keine Lust, sich viel mit der Lektüre fremder Werke abzugeben; er will keine Zeit verlieren. Auf der anderen Seite streben die, die viel lesen, nicht nach neuen und tiefer liegenden Erkenntnissen, sei es, daß sie keine Zeit mehr dazu haben oder von Natur aus geringere, weniger taugliche Anlagen dazu besitzen. Daher ist es in Ordnung, daß die einen den andern mit ihren Studien behilflich sind und sich gegenseitig darauf aufmerksam machen, wenn ent­ weder der eine beim Studium der Alten gegen die Wahrheit fehlt, oder der andere den Alten nicht gerecht wird, die er vernachlässigt oder nicht kennt.“27

27 So Kepler in einem Brief an Johann Georg Bregger vom 17. Jänner 1605. – Johannes KEPLER: Der Mensch und die Sterne. Aus seinen Werken und Briefen. Auswahl und Nachwort von Martha List, Wiesbaden 1953, S. 6 f.

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1. WISSENSCHAFTLICHKEIT Vorbemerkung Es entspricht dem Grundbedürfnis des Menschen nach Sicherung seiner Lebensverhält­ nisse, dass er danach strebt, Gewissheit in der Erkenntnis seiner natürlichen und sozialen Umwelt zu erlangen. Dem Chaos, dem unberechenbaren Wandel will er entgehen, und so sucht er danach, Ordnung in die Welt zu bringen. Früher verhalfen ihm dazu Mythen und Riten, nicht selten war ihm die Ordnung der Gewissheit auch eine Ordnung der Invarianz, der unveränderlichen Ideen und Substanzen.1 Das Streben nach Gewissheit gilt nicht nur den Gegenständen des Denkens in der Wissenschaft, sondern auch den Gegenständen des Gefühls in der Kunst und des Wollens in Moral und Politik. Die Frage, ob es so etwas wie ein angemessenes Fühlen und ein richtiges Wollen gibt, und in welchem Maße den da­ durch erschlossenen Inhalten evidenter Charakter zukomme, stellte sich vor allem einigen frühen Vertretern der Phänomenologie. Die Wissenschaft als etwas im Erkenntnisprozess Wandelbares repräsentiert nicht mehr eine Ordnung der Invarianz und der unverbrüchlichen Gewissheit, sondern eine Ordnung des kontrollierten Umgangs mit Ungewissheit. In den historischen Disziplinen wird das Unvollständige und Unabschließbare der möglichen Forschungen an deren zweifachem Zeitbezug sichtbar. Ihn bringt das bekannte Wort von Wilhelm Dilthey aus dem Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften zum Ausdruck: „Was wir unserer Zu­ kunft als Zweck setzen, bedingt die Bestimmung der Bedeutung der Vergangenheit.“2 So bestimmen unsere Zukunftshoffnungen und Erwartungen maßgeblich das, was uns in der Vergangenheit als bedeutsam erscheint, wie umgekehrt das von uns in der Vergangenheit als bedeutsam Anerkannte den Umfang und die Eigenart unserer auf die Zukunft bezoge­ nen Erwartungen und Zielsetzungen mitbedingt. Den Zukunftsbezug zu stärken wird seit einiger Zeit den Wissenschaften in beson­ derem Maße und generell angesonnen, und in diesem Zusammenhang kommt es inner­ 1 Siehe dazu Nicolai HARTMANN: Zeitlichkeit und Substantialität, in: Blätter für Deutsche Philosophie 12 (1938/39), S. 1–38; wiederabgedruckt in: Ders., Der philosophische Gedanke und seine Geschichte, Stutt­ gart 1968, S. 79 –132. 2 Wilhelm DILTHEY: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Hrsg. v. Manfred Riedel, Frankfurt a. M. 1979, S. 288 f.

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halb der Kulturwissenschaften zu einer Bedeutsamkeitssteigerung zukunftsorientierter, auch prognostisch verwertbarer Aktivitäten. Dieser Tendenz entspricht ein Abrücken vom Primat der verstehenden Deutung und Interpretation von Texten, Kunstwerken, Rechts­ denkmälern und anderen Ausdrucksformen geistiger Aktivitäten zugunsten der Stärkung einer sozialtechnisch nutzbaren Planungswissenschaft. Damit gilt nun auch hier, dass „im Anfang“ die „Tat“, und nicht das „Wort“ sein soll. Wie hieß es doch bei Marx in der elften seiner Thesen über Feuerbach? Es komme darauf an, die Welt nicht nur verschieden zu inter­ pretieren, sondern zu verändern. Was es besagte, sie zu verändern, ohne sie vorher richtig interpretiert zu haben, sollte eigentlich bekannt sein. Aber unter neuen, nichtmarxistischen Vorzeichen, so meint man nun selbstsicher, verhalte es sich mit dem Zukunftsbezug an­ ders, weil ja nun keine Geschichtsteleologie mehr im Spiele sei. Natürlich wäre es verfehlt anzunehmen, dass mit diesen Bemerkungen der Sozialtech­ nologie ihre eminente lebenspraktische Bedeutung abgesprochen werden soll. Aus erkennt­ nis- und wissenschaftstheoretischer Sicht ist es gerade die angewandte Wissenschaft mit ihren technischen Systemen, an der die allzu kühne Spekulation und der freilaufende Theoretizismus ihre Grenze finden. Doch wie es gilt, auf die unerwünschten Folgen der Technik zu achten und – nicht selten mit den Mitteln der Technik selber – zu beseitigen und künftig zu vereiteln, so sind auch die möglichen Deformationen jenes Pragmatismus kritisch in Betracht zu ziehen, der die Verpflichtung zur Wahrheitssuche gegenüber den in die Zukunft gerichteten Erwartungen eines individuellen Nutzens oder der „gesellschaft­ lichen Relevanz“ hintanstellt. Ihnen galt bereits die Kritik des Aristoteles in Protreptikos, 6: „Es ist […] lächerlich, […] um jeden Preis von allem einen Nutzen zu suchen, der außer­ halb der Sache selbst liegt, und zu fragen: ‚was bringt uns das für einen Vorteil?‘ und ‚wozu kann man es brauchen?‘ Denn […] ein solcher Mensch hat in Wahrheit nichts gemein mit dem, der weiß, was schön und gut ist, noch auch mit dem, der Ursache und Mitursache unter­scheiden kann.“

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Wahrheit, Wissenschaft, Verwertbarkeit „Die drei Klassen von Wahrheiten, die ich festgesetzt habe, sind so viele Quellen unsrer Erkenntnisse, und zugleich sind sie die einzigen; denn alles, was wir wissen, das wissen wir entweder durch Erfahrung oder durch Vernunftschlüsse oder durch den Bericht eines anderen. […] Man muss sich also für die Wahrheiten jeder dieser drei Klassen mit Beweisen begnügen, die der Natur einer jeden angemessen sind; und es wäre lächerlich, wenn man von historischen Wahrheiten oder Erfahrungen Beweise von geometrischer Strenge verlangte. […] So stark ist der Einfluß, den die Verschiedenheit der Wissenschaften, die man treibt, auf die Denkungsart hat, daß der Observateur allenthalben nur Erfahrungen, der Denker allenthalben nur Vernunftschlüsse sucht […].“ Leonhard Euler, Die Klassen der Wahrheiten, in: Briefe an eine deutsche Prinzessin über verschiedene Gegenstände aus der Physik und Philosophie, Leipzig 1784, 116. Brief

Einleitung: Die Frage des Pilatus und das Streben nach Gewissheit Die Frage des Pilatus im Johannes-Evangelium: „Was ist Wahrheit?“, gestattet keine rasche Antwort, da ihr Sinn ein vielfältiger ist. Das Wort „Wahrheit“ erscheint hier an 18 Stellen in unterschiedlicher Bedeutung, wobei die für Johannes maßgebliche eine sehr umfassende ist: gemeint ist damit „so etwas wie göttliche Ordnung, durch Gnade vermittelt, durch Glaube vollzogen“.3 Und so musste man auch „aus der Wahrheit“ sein, um die Stimme Jesu zu hören, Jesus selber konnte aber von sich sagen: „Ich bin die Wahrheit“; den an ihn Glaubenden aber verhieß er: „ihr […] werdet […] die Wahrheit erkennen, und die Wahr­ heit wird euch frei machen“ (Johannes 8, 32). Wahrheit war hier nicht gemeint im Sinne des Verständnisses von logisch oder empirisch wahren Aussagen, sondern im Sinne einer religiösen Metaphysik, die den Intellekt, den nous und die epistéme der alten Griechen, übersteigt. Skepsis und der Zweifel an diesem Wahrheitsanspruch sind in der Bibel eine Untugend. Pilatus hingegen will von Jesus gar nicht wissen, was Wahrheit ist, sondern versteht seine Frage „Was ist Wahrheit?“ ironisch-rhetorisch. „Der Präfekt“, so bemerkt dazu Alexander Demandt in seinem Buch Pontius Pilatus, „urteilt im Namen des Kaisers, der Prophet predigt im Auftrag Gottes. Weltliche und geistliche Macht stehen einander ge­ genüber, in der Spannung zwischen ihnen vollzieht sich die Geschichte durch zweitausend Jahre.“4 Die Festlegung dessen, was als Wahrheit zu gelten hatte, oblag dabei für lange Zeit 3 Siehe dazu Alexander DEMANDT: Pontius Pilatus, München 2012, S. 85. 4 Ebd., S. 87.

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der Theologie – die Philosophie (und mit ihr jegliche Wissenschaft) sollte sich als ancilla theologiae, als Magd der Theologie, verstehen. Die Frage stellte sich gleichwohl, ob die Philo­ sophie, wie Kant unter Rückgriff auf Spinoza einmal sagte, „ihrer gnädigen Frauen die Fackel vorträgt oder die Schleppe nachträgt“.5 Im Unterschied zur Invarianzforderung der Theologie wurde das bekannte Diktum „Veritas filia temporis“ – „Mit der Zeit kommt die Wahrheit ans Licht“ –, das von Aulus Gellius aus der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts stammen soll,6 immer wieder auch in re­ lativistischem Sinne gedeutet: „Die Wahrheit ist relativ, insofern ihre Erkenntnis zeitgebun­ den ist.“ Offen bleibt dabei, ob es sich um etwas in der Wissenschaft, der Kunst oder der Moral als „wahr“ Erkanntes handelt. Geht es in der Wissenschaft im Allgemeinen um die korrekte Darstellung oder Rekonstruktion von bereits existierenden Sachverhalten kogni­ tiver Art, so in Moral und Kunst um die Konstruktion oder Schöpfung von Sachverhalte­n werthafter Art. Das eine Mal ist das „Wahre“ etwas Gegebenes, welches vom Menschen entdeckt oder enthüllt werden muss wie eine unbekannte Insel oder ein neues Element im Periodensystem (PSE), das andere Mal ist es etwas vom Menschen im Hinblick auf ein moralisches oder künstlerisches Ideal erst zu Schaffendes, das ohne sein Tun gar nicht existieren würde. Im Falle der wissenschaftlichen Erkenntnis trägt das „Wahre“ Aussagen­ charakter, während es uns in Moral oder Kunst zu einer Erfahrung von „Wahrem“ verhilft, die über das in deskriptiven Bestimmungen Sagbare hinausgeht; der als wahr bezeichnete Inhalt einer Erfahrung wird da nicht behauptet, sondern vielmehr gefühlt oder bekundet, wird also in ein Gebiet verlagert, das (im Sinne des semantischen Wahrheitsbegriffs) nicht wahrheitsfähig ist. Wenn wir so etwa sagen, uns sei eine moralische oder künstlerische Er­ fahrung zur „Wahrheit“ geworden, so meinen wir zumeist ein positiv zu beurteilendes Evi­ denzerlebnis – sei es, dass durch eine moralische Handlung oder einen künstlerischen Akt einem Ideal entsprochen wurde, oder aber dass dadurch ein neues Ideal statuiert wurde. So ist verständlich, warum verschiedentlich die Ansicht vertreten wird, dass Wahrheit keine Eigenschaft von Aussagen sei, auch keine Eigenschaft der Wirklichkeit, sondern eine Ei­ genschaft des Verhältnisses, das man zu dieser einnimmt. Sehr Unterschiedliches wird also mit dem Wahrheitsbegriff verknüpft. Und so soll es im Folgenden zunächst um zweierlei gehen: um die Bestimmung der Wahrheit, also die Wahr­ heitsdefinition, und um die Aufweisung oder Feststellung der Wahrheit, also die Wahrheits­ kriterien.

5 Immanuel KANT: Zum ewigen Frieden, in: Kants Werke. Akademie Textausgabe, Bd. VIII: Abhandlungen nach 1781, Berlin 1968, S. 341–386, hier S. 369. 6 Siehe Aulus GELLIUS: Noctes Atticae, Leipzig 1875, S. 156.

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I.  Wahrheitsdefinitionen und Wahrheitskriterien 1. Semantischer Wahrheitsbegriff: Wahrheit als Eigenschaft von Aussagen Im Allgemeinen unterscheidet man den semantischen von einem ontologischen Wahr­ heitsbegriff. Dem semantischen Wahrheitsbegriff zufolge ist die Wahrheit als Eigenschaft von Aussagen anzusehen. Das heißt: Eine Aussage ist wahr, wenn eine Adäquatheit oder Korrespondenz von Aussage und dem mit der Aussage Gemeinten, also von Aussage und Ausgesagtem besteht. Man spricht daher von der Korrespondenztheorie der Wahrheit. Sie stellt eigentlich eine Definition von „Wahrheit“ dar. Die Frage nach dem Kriterium der Wahrheit bleibt allerdings von deren Definition unberührt. Wie einem die zutreffende Definition von Gold noch keine Prüfmethode für das Herausfinden von Gold aus einer Menge anderer Substanzen bereitstellt, so liefert auch eine Definition von Wahrheit noch keine Methode zum Herausfinden der wahren Aus­ sagen aus einer Menge anderer. Während die Korrespondenztheorie der Wahrheit auf die Klärung des Begriffs „Wahrheit“ zielt, betreffen die Kohärenztheorien der Wahrheit die Kriterien für wahre Aussagen. Die Wahrheit von Aussagen im Sinne der Kohärenztheorie des Wiener Kreises erfordert so beispielsweise die logische Verträglichkeit jener Aussagen mit einer widerspruchsfreien Menge anderer, die bereits als logisch oder empirisch wahr akzeptiert sind. Damit geht die Forderung einher, dass die Aussagen in einem kohärenten System in logischer Hinsicht einander wechselseitig stützen. Es gibt auch andere Formen der Kohärenz innerhalb eines holistischen Zusammen­ hangs, der nicht nur sprachlich zu sein braucht, sondern auch außersprachliche Sach­ verhalte einbezieht, wie etwa soziale Gruppen und deren von (positiven oder negativen) emotionalen Vorstellungen begleitetes Verhalten im Fall der pragmatistischen Theorie7, oder unmittelbare Wahrnehmungen und Intuitionen, wie in der Evidenztheorie. Die drei einflussreichsten Formen der pragmatistischen Wahrheitstheorie wurden um die ­Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert von Charles Sanders Peirce, William James und John De­ wey entwickelt. Ihnen gemeinsam ist die Auffassung, dass die Wahrheit von Aussagen oder Annahmen dadurch konfirmiert wird, dass sich die auf ihrer Grundlage entwickelten Er­ gebnisse in der Praxis als erfolgreich erweisen, sich bewähren und lebens­praktisch von Nut­ zen sind. Die Praxis als Kriterium der Wahrheit anzusehen, besagt so beispielsweise, dass 7 Friedrich Nietzsche setzte so etwa das Wahre dem Lebensförderlichen gleich. In ähnlichem Sinne kann gemäß der pragmatistischen Auffassung die Wahrheitsüberprüfung nicht nur sprachlich ­formulierbare Er­ kenntnisse, sondern auch sprachlich nur unvollständig artikulierbare Erlebnisse, wie z. B. Gefühle, Stim­ mungen und Willenshaltungen, einschließen. Denn das Universum sei ganzheitlich zu verstehen, und Wahrheitsüberprüfungen sollten seiner Verschiedenartigkeit, aber auch der Verschiedenartigkeit seiner Er­ schließung Rechnung tragen.

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es jeweils von der Zwecksetzung abhängt, welche Landkarten – die hier durchaus auch für „Theorien“ stehen können – man für angemessen hält, mit anderen Worten: welchen Maßstab (welche „Beobachtungshöhe“ der Betrachtung) man für seine Darstellung oder Erklärung wählt. Insofern gibt es einen Zusammenhang zwischen Pragmatismus und Rela­ tivität. Dennoch bleibt eine für die pragmatistische Wahrheitstheorie grundlegende Frage offen: Was ist im konkreten Fall jeweils mit dem Prinzip der „Bewährung“, des „Erfolgs“ oder der „lebenspraktischen Nützlichkeit“ gemeint? Nach der Konsenstheorie der Wahrheit wiederum erweist sich das als wahr, in Bezug worauf die Mitglieder einer Kommunikationsgemeinschaft in einer idealen Sprechsituation – charakterisiert durch Herrschaftsfreiheit, Freiheit von Zeitdruck und die virtuelle Teilnahme aller hinreichend Kompetenten – übereinstimmen.8 Hier steht nicht allein die Übereinstim­ mung der Urteile, sondern – im Falle von Werturteilen – auch die der Urteilenden insofern im Zentrum der Aufmerksamkeit, als es um die Beziehung eines Urteils zum Kollektivbe­ wusstsein oder Allgemeinwillen der Beurteilenden geht. Dieser Allgemeinwille konstituiert die Geltung von Normen, und den Geltungsanspruch gelte es als wahr zu erweisen. In der Evidenztheorie wird hingegen ein kohärenter Zusammenhang zwischen einem Urteil, dem beurteilten Gegenstand und einem urteilenden Bewusstseins behauptet. Evi­ denz besagt dabei unmittelbare Gewissheit bezüglich der Eigenschaften eines Dinges oder Sachverhalts, wobei diese Gewissheit als von einer bestimmten Disposition des Urteilenden, zum Beispiel von einem bestimmten „Wertgefühl“ abhängig gedacht wird. Es verwundert nicht, dass insbesondere im Zusammenhang mit der Analyse des ästhetisch Schönen und des moralisch Guten Evidenzerfahrungen eine große Bedeutung beigemessen wird. Künstle­ rische Evidenz erscheint sogar verschiedentlich als zeitenthoben. In den Naturwissenschaften erkannte man hingegen bald nach der Entthronung der lange Zeit hindurch kanonisierten aristotelischen Naturphilosophie, dass in der Antike oder im Mittelalter das, was Galilei und Descartes als einfach und evident erschien, als verworren und offenkundig falsch betrachtet worden wäre.

2. Ontologischer Wahrheitsbegriff: Wahrheit als Eigenschaft von Ideen und von deren Repräsentanten Der ontologische Wahrheitsbegriff hat seinen Ursprung in der platonischen Ideenlehre. Die Beziehung der Adäquatheit von Aussage und Sachverhalt wird hier ersetzt durch die Beziehung der Isomorphie von Idee und Wirklichem. Dem, das als Person, Ding oder Sachverhalt in höchstem Maße einem Ideal, einer Idee oder einer Norm entspricht, komme 8 Siehe zum Beispiel Jürgen HABERMAS: Erkenntnis und Interesse, Frankfurt am Main 1968, v. a. Teil III. (Dieser Ausgabe folgten zahlreiche weitere Auflagen.) – Zur Kritik der Konsenstheorie siehe z. B. Nicholas RESCHER: Pluralism: Against the Demand for Consensus, Oxford 1993.

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das höchste Maß an Wahrheit zu. Es sei folglich umso „wahrer“, je näher es jenem – nicht notwendig positiv zu verstehenden – Ideal kommt. Darin liege der Sinn der Rede von einem „wahren Freund“, „der wahren Tapferkeit“ oder aber von einer „wahren Katastrophe“. Angesichts der Wahrheitszuschreibungen nach platonischem Muster stellen sich ver­ schie­dene Fragen: Wer definiert die Idee? Wer bestimmt, was das Ideal ist, und wer bestimmt damit auch die Norm? Hier hat der sogenannte Soziale Konstruktivismus seinen Platz. Dessen Vertreter sind der Ansicht, dass die Wahrheit und das Wahre durch soziale Prozesse zustande kommen, historisch und kulturell bedingt sind und zumeist durch die Macht­ kämpfe innerhalb der Gesellschaft modelliert werden. In mancher Hinsicht ist eine solche Annahme richtig. So formulieren wir beispielsweise Normen, und in der Folge „gibt es“ konforme und nonkonforme Akteure. Aber der Konstruktivismus ist nur die „halbe Wahr­ heit“ neben dem von einem Gegebenen anderer Art ausgehenden Empirismus. Manche Unterschiede gibt es nur, weil wir sie gemacht haben, aber wir konstatieren auch zwischen Dingen, Handlungen oder Sachverhalten Unterschiede, welche es gibt, ohne dass wir sie gemacht haben. Die auch unter anti-platonischen Wissenschaftstheoretikern vom Schlage Karl Poppers des öfteren verwendeten Ausdrücke „Wahrheitsnähe“ und „Wahrheitsähnlichkeit“ ver­ leiten nicht selten zu einer irreführenden Metaphorik: so, als näherten wir uns der Wahr­ heit schrittweise, die ähnlich wie das verschleierte Bild zu Saïs nur mehr enthüllt zu werden braucht. Poppers Überlegungen scheinen jedoch eher auf eine realistische Metaphysik hinaus­zulaufen, die es gestatten soll, die unterschiedlichen Bilder von der Welt, wie sie uns durch wechselnde „Begriffsrahmen“ (conceptual frames) präsentiert werden, bezüglich ihres Informationsgehalts auf eine identische Referenz hin zu untersuchen.9

3. Finden und Erfinden in der Wissenschaft Die Frage danach, durch welche Prozeduren Wahrheit erreicht wird, lässt also zwei grundlegende Antworten zu: durch Entdeckung oder Rekonstruktion und durch krea­ tives Schaffen oder Konstruktion. So entdeckten beispielsweise Wissenschaftler bislang unbekannte Krankheitserreger, und so schufen Künstler Werke der Musik, der Dichtung und der Malerei, in denen uns, wie häufig gesagt wird, eine Wahrheit aufgeht. Es wäre 9 Die hier vorliegenden Ausführungen zum Wahrheitsproblem sind von nur rudimentärer Art. So wird bei­spiels­ weise nicht auf den Unterschied von epistemischen Wahrheitsauffassungen (denen zufolge das ­Wahrsein von einem Fürwahrhalten abhängig ist) und nicht-epistemischen Wahrheitsauffassungen Bezug genommen. Zur eingehenderen Beschäftigung mit dem Wahrheitsproblem siehe exemplarisch Wolfgang KÜNNE: Wahr­heit, in: Ekkehard Martens, Herbert Schnädelbach (Hgg.), Philosophie. Ein Grundkurs, Reinbek bei Ham­­burg 1985, S.116 –171; Ders.: Conceptions of Truth, Oxford 2003. Zum Verhältnis von Wahrheit und Wahrhaftig­ keit siehe Bernard WILLIAMS: Der Wert der Wahrheit. Aus dem Engl. v. Joachim Schulte, Wien 1996.

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aber unrichtig, das Entdecken oder Finden der Wissenschaft und das Schaffen oder Erfin­ den der Kunst zuzuordnen. Finden und Erfinden als disjunkte Tätigkeiten zu betrachten heißt nicht, sie unterschiedlichen Bereichen der geistigen Welt zuzuordnen. So umfasst die Wissenschaft, wenn auch nicht immer, beides: das Finden und das Erfinden. Wissen­ schaftler versuchen so beispielsweise, mithilfe von oft ingeniös erfundenen Instrumenten und Forschungstechniken etwas Neues zu finden. Man mag dabei an die Erfindung des Teleskops durch Galilei denken oder aber an moderne Elektronenmikroskope, die es etwa möglich machten, die Zusammensetzung des Cytoplasmas zu ermitteln, was dem vormals bestehenden Glauben an eine „Protoplasma“-Substanz ein Ende bereitete. Insgesamt bestand die wissenschaftliche Entwicklung seit dem 17. Jahrhundert in einer schrittweise erfolgenden Anreicherung des Bildes unserer Alltagswelt durch die Bilder an­ derer Welten, die unser „Weltbild“ erweiterten. Was uns für lange Zeit als unbefragt wahr erschien, war dies plötzlich nur mehr in Bezug auf einen ganz bestimmten Zusammenhang von Ereignissen einer bestimmten Größenordnung oder nach Maßgabe der „persönlichen Gleichung“ eines Organismus. Dem Menschen ist es, worauf Ernst Mayr hingewiesen hat, durch allerlei kreative Beobachtungsverfahren möglich geworden, sich die Welt in der Wahrnehmung anderer Arten von Organismen darzustellen: „Die Erforscher der Proto­ zoen (angefangen mit H. S. Jennings) gewährten uns Einblick in die Welt aus der Sicht eines Einzellers. Jakob Johann von Uexküll hat anschaulich beschrieben, wie sehr sich die Welt eines Hundes von der unseren unterscheidet. Heute wissen wir, daß wir Menschen von einem breiten Spektrum elektromagnetischer Wellen nur den schmalen Ausschnitt zwischen den Farben Rot und Violett sehen können. […] Wir wissen, daß manche Blüten eine ultraviolette Färbung haben, die von Bienen und anderen Insekten, nicht aber von uns wahrgenommen wird. Andere Tiere können magnetische Informationen wahrnehmen und sich danach richten oder Töne hören, die höher oder tiefer sind als die für Menschen wahrnehmbaren. Wir wissen, dass die Welt der Gerüche unermeßlich ist und vieles davon anderen Säugetieren, ganz bestimmt aber Insekten, zugänglich ist, jedoch nicht uns.“10 So gibt es viele „Welten“, von denen uns unmittelbar nur eine zugänglich ist: die mit einer ganzen Palette von Teleskopen und Mikroskopen – also kreativ hergestellten Wahrneh­ mungsprothesen – angereicherte Welt des Menschen. Es ist dies die sogenannte „Welt der mittleren Dimensionen“, also der Mesokosmos, welcher von den Molekülen bis zur Milch­ straße reicht; darunter liegt die Welt der Elementarteilchen und darüber die transgalak­ tische Welt der Raumzeit.11

10 Ernst MAYR: Das ist Biologie. Die Wissenschaft des Lebens. Aus dem Englischen übersetzt von Jorunn Wiß­mann, Heidelberg-Berlin 2000, S. 109. 11 Vgl. ebd.

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Im Mesokosmos existieren wissenschaftliche Provinzen eigener Art: die der Physik, der Chemie, der Biologie, der Psychologie, der Geschichte, der Ökonomik und andere mehr. Jede wahre Aussage hat so einen ganz bestimmten Weltbezug, und das heißt auch: Es ist falsch, die Sprache sowie die Forschungstechniken und Überprüfungsverfahren, die beispielsweise im chemischen Wirklichkeitsbereich praktikabel sind, einfach auf einen anderen Bereich, beispielsweise den psychologischen, zu übertragen. Der Witz ahnt von solchen Fehlern oft mehr als mancher Vertreter des radikalen wissenschaftlichen Reduk­ tionismus: „Bruno Winawer, ein berühmter polnisch-jüdischer Schriftsteller, Chemiker und Wissenschaftler, hatte einmal seine Frau angeschrieen. Die Frau begann zu weinen … ‚Deine Tränen wirken gar nicht auf mich‘, sagte in ruhigem Ton Winawer. ‚Denn was enthalten Tränen? Eine ganz kleine Dosis Phosphorsäure und ein klein bißchen Chlor. Das übrige ist bloß Wasser !‘ “12 Von Kreativität zeugen in den Wissenschaften natürlich nicht allein Erfindungen zur Entdeckung von Neuem, sondern auch Beobachtungsverfahren und Experimentalanord­ nungen für die Überprüfung dieses Neuen, also die Feststellung der Wahrheit oder der Falschheit von darauf bezüglichen Hypothesen und Theorien im Rahmen ihrer Verifika­ tion bzw. Falsifikation. Überprüfung ist ein unverzichtbarer Bestandteil von Wissenschaft und von sehr verschiedener Art, je nach dem einzelwissenschaftlich zur Darstellung ge­ brachten Sachverhalt. So macht es einen großen Unterschied, ob ein mathematischer Be­ weis, eine physikalische Theorie, ein biologisches Gesetz oder eine sozialwissenschaftliche Generalisierung in Betracht steht. Sofern es um Gesetze und Theorien geht, gilt vor allem seit Karl Popper die Falsifikation solcher generellen Aussagen durch zu ihnen kontradik­ torische Aussagen (welche sich auf singuläre Zustände oder Ereignisse beziehen, die der sogenannten Allaussage widersprechen) als rechtfertigungslogischer Standard. Je mehr Fal­ sifikationsversuche eine Theorie (oder eine nomologische Hypothese) dabei übersteht, als umso konfirmierter gilt sie. Doch die Falsifikation ist keine so einfache Angelegenheit, da sie nur mit Einschränkungen dazu geeignet ist, probabilistische Gesetze und Theorien zu prüfen, zu denen die meisten Generalisierungen in der Biologie und in den Sozialwissen­ schaften zählen. So ist die kategorische Aussage, dass schon eine einzige zu einer Theorie kontradiktorische Singuläraussage diese Theorie als Ganzes falsifiziert, zwar beispielsweise für bestimmte makrophysikalische Theorien zutreffend, die auf universellen deterministi­ schen Nahwirkungsgesetzen beruhen, nicht jedoch beispielsweise für die Theorien der sta­ tistischen Mechanik, der Evolutionsbiologie oder der Wirtschaftswissenschaften.

12 Jüdische Anekdoten und Sprichwörter ausgewählt und übertragen von Salcia LANDMANN. Jiddisch und deutsch, 4. Aufl., München 1969, S. 33 f.

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II. Zwischen Moralität und Sachkompetenz: Wahrhaftigkeit und Objektivität Die Frage der Wahrheit muss nicht allein auf Gegenstände und Sachverhalte (das Gesuchte und Gefundene) beschränkt bleiben, sie kann sich, wie bereits kurz ausgeführt wurde, auch auf das methodische Vorgehen des Entdeckens und der Aufweisungsanalyse (das Suchen und Finden) beziehen. Bei der Erörterung der Wahrheitsfrage kommt aber zudem immer wieder auch eine Disposition des die Wahrheit Erkundenden ins Spiel: die Wahrhaftigkeit. Inwiefern diese mit dem Postulat der wissenschaftlichen Objektivität verbunden ist, soll im Folgenden dargelegt werden.

1. Wahrhaftigkeit Alltagssprachlich ist es üblich, unter Verhaltensgesichtspunkten die Wahrhaftigkeit mit der Unwahrhaftigkeit, und insofern auch die Wahrheit mit der Lüge zu kontrastieren; diese ist dann verstanden als absichtliche Äußerung der Unwahrheit; sie ist abzugrenzen vom Irr­ tum als dem fälschlichen Fürwahrhalten. Nicht immer ist jemand, der sich als wahrhaftig oder authentisch empfindet und sogar allgemein dafür gilt, auch schon erkenntnismäßig im Recht. Wahrhaftig kann bekanntlich auch ein Irrender sein, dessen Vorstellungswelt nicht mit richtigen Urteilen verbunden ist. In gewisser Hinsicht hat auch Wahrhaftigkeit mit Übereinstimmung oder Korrespondenz zu tun, aber nicht mit der Übereinstimmung des Gemeinten mit dem Wirklichen, sondern mit dem Meinenden selbst. Sie ist nicht mehr verstanden als Sachgemäßheit, sondern als Menschengemäßheit. Ist die auf Gegen­ stand und Methode bezogene Wahrheitsfrage ein epistemisches oder Er­kenntnisproblem, so die auf Wahrhaftigkeit bezogene ein moralisches. Wahrhaftigkeit ist durch den Willen charakterisiert, nicht täuschen zu wollen, auch sich selbst nicht. Die Absicht, die Wahrheit zu sagen und authentisch zu sein, wird oft erst durch ein Leben in Freiheit verwirklicht. Nicht nur macht uns, nach dem Wortlaut von Johannes 8:32, die Wahrheit frei, sondern auch die Freiheit in dem Sinne „wahr“, dass wir uns so präsentieren, wie wir „eigentlich“ sind. Dieser Erkenntnis steht jedoch die Erfahrung entgegen, dass sich an manchen Menschen erst zeigt, wer oder was sie wirklich sind, wenn sie sich nicht mehr in Verhältnissen einer freien Unbeschwertheit befinden, sondern in existentiellen Grenzsituationen: in Kriegen, unter dem Eindruck persönlicher schwerer Krankheit oder dem des Verlustes geliebter Menschen. Es sind dies Umstände, unter denen die von Literaten und Soziologen – so etwa von Arthur Schnitzler und Erving Goffman – vertretene These, wonach wir immer und überall Theater spielen, oft entkräftet wird. In solchen Situationen kommt das an den Tag, was hinter den Masken als unseren

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gesellschaftlichen Rollen zu liegen kommt. Da kann es sein, dass die Persönlichkeit un­ verstellt zu Tage tritt und dass diesem Zustand dann gar nicht mehr Worte angemessen Ausdruck verleihen, sondern dass dem existentiell Betroffenen all die Erörterungen dieses Geschehens und der emotionalen Reaktionen darauf nur als unpassendes Gerede erschei­ nen. Dann sind es oft nur mehr nonverbale Ausdrucksformen, außer Gesten nicht selten solche musikalischer Art, die seiner existentiellen Befindlichkeit authentischen Ausdruck verleihen. Wahrhaftigkeit im Sinne von Authentizität ist also eine mögliche Eigenschaft des Men­ schen. Was ist aber nun „der Mensch“ in jenem emphatischen Sinn, dem Kant in seiner Logik Ausdruck verliehen hat?13 Im Verlauf der Beantwortung dieser Frage versuchten ganz verschiedene Disziplinen – von der Ökonomik und Soziologie über die Biologie bis zur Psychoanalyse – eine hinter den wahrnehmbaren Erscheinungen des menschlichen Ver­ haltens verborgene „Wahrheit“ freizulegen, von der man meinte, dass sie nur gefunden zu werden brauchte. Wenn man die weitgehend unbewussten seelischen Hintergründe und deren Determinanten bewusst mache, steigere dies unsere Fähigkeiten zur rationalen Lebensführung. Zudem war man darauf vorbereitet, auch auf Abgründe zu stoßen, deren Kenntnis erst die Gefahr verringere, in sie hineinzustürzen. Die Erkennt­nis dieser „Wahr­ heit“ würde uns, im Sinne einer Neuauslegung des bekannten bibli­schen Wortlauts, „frei machen“. Eine Paradoxie liegt nun jedoch darin, dass die modernen ­Wissenschaften häufig bestrebt waren, das Denken, Fühlen und Wollen des Menschen als Elemente eines kausal notwendigen Geschehens darzustellen, wobei im Rahmen der aufge­wiesenen UrsacheWirkung-Beziehungen die Freiheit eigentlich keinen Platz hatte; nicht selten erschien sie geradezu als ein Epiphänomen des Bewusstseins, und dieses wiederum als Resultat von tiefer liegenden, „eigentlichen“ Wirkkräften. Unter Hinweis auf diese eigenartige Deutung der menschlichen Freiheit als einer Illusion stellt Rüdiger S­ afranski fest: „Gerade in der Moderne, in der das Freiheitsverlangen so mächtig geworden ist, betreibt das herrschende Denken hintenherum eine Freiheitsberaubung im großen Stil. Das Bewußtsein, das Frei­ heit will, scheint so genau wie nie zuvor darüber Be­scheid zu wissen, von welchen ge­ sellschaftlichen, natürlichen, psychologischen Ursachen das vermeintlich freie, spontane Handeln bestimmt wird. Unter wissenschaftlicher Perspektive sind wir nichts anderes als soziale Rollen, ökonomische Charaktermasken, die statistischen Kalkülen, Triebprozessen 13 „Das Feld der Philosophie in dieser weltbürgerlichen Bedeutung läßt sich auf folgende Fragen bringen: 1) Was kann ich wissen? 2) Was soll ich tun? 3) Was darf ich hoffen? 4) Was ist der Mensch? Die erste Frage be­ antwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion, und die vierte die Anthropologie. Im Grunde könnte man aber alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letz­ te beziehen.“ – Immanuel KANT: Logik, in: Kants Werke. Akademie Textausgabe, Bd. IX: Logik, Physische Geographie, Pädagogik, Berlin 1968, S. 1–150, hier S. 25. (Es handelt sich bei diesem Werk um eine 1800 von G. B. Jäsche herausgegebene, auf Vorlesungen basierende Spätschrift.)

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und biologischen Verhaltensschemata unterworfen sind.“14 Ähnlich wie Ralf Dahrendorf in seiner erstmals 1959 in Buchform erschienenen Abhandlung Homo Sociologicus weist Safranski darauf hin, dass solche Deutungen mittlerweile auch ins Alltagsbewusstsein vorgedrungen sind, wo sie zu dem Ergebnis führen, dass man Verantwortung für sein Han­ deln von sich selbst abwälzen kann, dass man erklärt, wie und warum das eigene Tun und Unterlassen hat kommen müssen: „die Gesell­schaft, meine frühe Kindheit, meine Natur etcetera sind schuld. Nicht ich. […] Man kann das nachträgliche Erklären-Können sogar schon an den Beginn einer Handlung setzen im Sinne einer präventiven Absolution für den schlechten Fall. Man antizipiert ihn und berei­tet sich schon darauf vor, ‚es nicht ge­ wesen zu sein‘. – Es sind Manöver, mit denen man die Freiheit des Handelns vor sich selbst verdeckt.“15 Hier ist zumeist einiges an Unwahrhaf­tigkeit am Werk. Aber, so mag man fragen, ist Wahrhaftigkeit unter allen Umständen und in allen ­ihren möglichen Formen als Ideal anzusehen? Bezeugt nicht vielmehr die derzeitige Neigung, sich öffentlich zu „outen“, oft ein geradezu unglaubliches Maß an degoutanter Selbstver­liebtheit auf Seiten der von gewissen Massenmedien gerne reißerisch präsentierten Exhibitionis­ten? Und was verschleiert diese neue Offenheit dadurch, dass ihr greller Charakter von anderem ablenkt? Ganz allgemein wird man sich, wie seinerzeit schon Machiavelli, fragen müssen, wie es um den Willen zur Wahrhaftigkeit, nicht täuschen zu wollen, in einer Welt bestellt ist, in der Erfolg in nicht unerheblichem Maße auf Betrug, Verstellung und angeberischer Selbstverblendung beruht. In diesem Zusammenhang kommt auch das Problem der Ob­ jektivität ins Spiel.

2. Objektivität Wie wir wissen, besteht die vornehmste Art zu lügen darin, nur wahre und noch dazu wertfreie Aussagen zu formulieren, dies aber so, dass gerade das Wesentliche einer Sache nicht gesagt, sondern verschleiert wird. William Blake kommentierte die damit verbun­ dene Einstellung in seinen Auguries of innocence mit den Worten: „A truth that’s told with bad intent / Beats all the lies you can invent.“ Auch im Falle von wissenschaftlichen Ab­ handlungen ist es oft wichtiger, darauf zu achten, was jemand nicht sagt, als nur darauf, was er sagt, denn die Unwahrheit liegt häufig nicht in dem, was er sagt, sondern in dem, was er nicht sagt. Objektivität hat sonach nicht nur mit Richtigkeit, sondern auch mit Adäquatheit zu tun. Dies ist einerseits im Sinn der angemessenen Beobachtungsschärfe zu verstehen, anderer­seits im Sinne des Erfordernisses der repräsentativen Darstellung des in Betracht stehenden Sachverhalts. Um das für einen Sachverhalt Repräsentative zu erfassen, 14 Rüdiger SAFRANSKI: Wieviel Wahrheit braucht der Mensch? Über das Denkbare und das Lebbare, Frank­ furt a. M. 1993, S. 196. 15 Ebd., S. 197.

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bedarf es allerdings vorgängig einer Vorstellung vom Ganzen des mit der jeweiligen Frage­ stellung gemeinten Sachverhalts. Zwar machte Alfred North Whitehead einmal dezidiert gegen die seiner Meinung nach unhaltbare Auffassung von der Möglichkeit ganzheitlicher Beschreibungen geltend: „Es gibt keine Ganzwahrheiten; alle Wahrheiten sind Halbwahr­ heiten. Sie als ganze Wahrheiten zu behandeln heißt, den Teufel zu spielen.“16 Und doch bleibt davon die Tatsache unberührt, dass doch auch jeder vernünftigen Stoffauswahl das Bemühen um eine möglichst umfassende Betrachtung eines Dinges oder eines Sachverhalts vorauszugehen hat, auf welches Bestreben sich beispielsweise auch eine Bemerkung Kants aus der Vorrede zu seiner Kritik der praktischen Vernunft bezieht. Hier führt Kant aus, dass es neben dem Streben nach Genauigkeit und Richtigkeit „noch eine zweite Aufmerksam­ keit“ gebe, die „mehr philosophisch und architektonisch“ ist: „nämlich die Idee des Ganzen richtig zu fassen und aus derselben alle […] Teile in ihrer wechselseitigen Beziehung auf­ einander […] ins Auge zu fassen“. Ein solches Ganzes zu erschließen ist beispielsweise das Ziel historischer Synthesebildungen, in denen es um die Rekonstruktion von Zuständen, Ereignissen und Prozessen der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt aus unterschiedlichen Blickwinkeln geht. Sucht man nach Minimalbestimmungen der Objektivität, so findet man im ­Allgemeinen drei. So bedeutet „Objektivität“ – in ontologischer Hinsicht: zum Gegenstand (lat. „obiectum“) oder Sachverhalt gehörig, also vom Objekt und nicht vom erkennenden Subjekt herrührend; – in gnoseologischer Hinsicht: das Objekt oder den Sachverhalt sprachlich so darstellend, dass einerseits darauf bezügliche Tatsachenaussagen und Werturteile nicht miteinander konfundiert werden, und dass andererseits das Objekt oder der Sachverhalt jeweils in den charakteristischen, von der leitenden Fragestellung anvisierten Merkmalen erfasst wird, was dann auch die Auswahl zutreffender Erklärungsverfahren möglich macht; – in wissenschaftsethischer Hinsicht: eine Einstellung des Forschers, welche in der werten­ den Urteilsbildung Unparteilichkeit gewährleistet, also die gleiche Beurteilung gleicher Fälle nach allgemein erkennbaren Regeln. Das „Etiam auditur altera pars“ ist dabei – wie in Rechtsverfahren – der erste Schritt zur Gewinnung zutreffender Kenntnisse über den in Betracht stehenden Fall. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass Objektivität notwendig mit moralisch-politischer Indifferenz verknüpft sein müsse. Für die historischen Sozialwissenschaften hat Max We­ ber ausgesprochen, was wohl auch für andere Wissenschaftsbereiche gilt, dass nämlich „die stete Vermischung wissenschaftlicher Erörterung der Tatsachen und wertender Raisonne­ 16 „There are no whole truths; all truths are half-truths. It is trying to treat them as whole truths that plays the devil.“ – Alfred North WHITEHEAD: Dialogues of Alfred North Whitehead: As recorded by Lucien Price. With Introduction by Sir Ross David, Boston 1954, Prologue.

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ments […] eine der zwar noch immer verbreitetsten, aber auch schädlichsten“ ­ihrer Eigen­ arten ist. Gegen diese Vermischung, nicht etwa gegen das Eintreten für die eige­nen Ideale richtet sich seine Kritik, und so haben ihm zufolge auch „Gesinnungslosigkeit und wissenschaftliche ‚Objektivität‘ […] keinerlei innere Verwandtschaft“.17

III. Wahrheit als normatives Konstrukt in Kunst, Moral und Politik Es geht hier, wie schon in Abschnitt I ausgeführt, um die Konstruktion von erst zu ­schaffenden Sachverhalten normativer Art; diese sollen in Kunst, Moral und Politik als etwas „wahrhaft“ Schönes oder „wahrhaft“ Gutes verwirklicht werden. Ein grundlegen­der Unterschied ist hier zu berücksichtigen: Tatsachenaussagen (Seinsaussagen) sind wahr, Werte und Normen (Sollenssätze) gelten. Darüber, ob Tatsachenaussagen und Normen als wahr bzw. als geltend anzusehen sind, befinden die jeweiligen Kriterien. Das Kriterium wahrer Tatsachenaus­ sagen besteht in der intersubjektiven Überprüfung, das Kriterium der Geltung von Nor­ men und Werten in Moral und Kunst hingegen in der Akzeptanz durch jene, auf die sich die Normen beziehen, also in einer wie auch immer gestalteten Übereinkunft. Dass diese schwerlich durch wissenschaftliche Beweise zu begründen ist, leuchtet ein. Gegen das sich in dieser Hinsicht oft einstellende Ungenügen ist die feine Ironie von Wilhelm Busch ge­ richtet, wenn er sagt: „Zwei mal zwei gleich vier ist Wahrheit. / Schade, dass sie leicht und leer ist, / Denn ich wollte lieber Klarheit / Über das, was voll und schwer ist.“18

1. Kunst und Wahrheit Dass Kunst etwas mit Wahrheit zu tun haben kann, zeigt sich beispielsweise daran, dass ein gutes Porträt oft mehr über einen Menschen aussagt als eine biografi­sche Analyse; auch daran, dass mitunter Musik einem Gefühlszustand in höherem Maße gerecht­wird, als der Versuch, ihm sprachlich Ausdruck zu verleihen. Das die Kunst charakterisierende Vermögen, eine der diskursiven Vernunft verschlos­sene Dimension der Wirklichkeit durch das Gefühl zu erschließen, wenn auch durch Form gebän­ digt, wurde ihr nicht selten von Philosophen zum Vorwurf gemacht. Hier sei daran erinnert, dass Platon die Dichter aus seinem Philosophenstaat verbannte, da sie mit ihrem Schrifttum 17 Max WEBER: Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis [1904], in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre [1922], 3., erw. u. verb. Aufl., Tübingen 1968, S. 146 – 214, hier S. 157. 18 So die erste Strophe von „Beruhigt“ in der erstmals 1909 in München erschienenen Gedichtsammlung Schein und Sein.

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unerwünschte Affekte wecken könnten, und dass Kant die Musik als die unintel­lektuellste Kunst erschien, da es ihr, die eine Sprache bloßer Empfindungen sei, nicht um ein objektiv Allgemeines gehe.19 Hier sollen nicht weitere derartige Idiosynkrasien von Interesse sein, vielmehr gewisse Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem wissenschaftlichen Erkennen und dem künstlerischen Erfassen seelischer Zustände. Dass auch verschiedene geisteswissenschaftliche Disziplinen, namentlich die philologisch-historischen Fächer, der Kunst nahestehen, haben die ästhetisch gerichteten Franzosen durch die Bezeichnung dieser Disziplinen als „belles lettres“ zum Ausdruck gebracht; und dies nicht zuletzt deshalb, weil die sprachliche Ausdrucksform und der Klang des Geschriebenen oft für die angemessene Erfassung der in Betracht stehenden Sache we­sentlich sind. Nicht wenige Künstler haben durch ihre Deutungen des Kunstwerks die Ansicht gefördert, dass die intuitive Erkenntnis schon in dem Sinne über die wissenschaftliche Er­ kenntnis hinausgehe – und deshalb auch „tiefer“, ja sogar „wahrer“ sei –, dass die Beziehun­ gen zwischen dem Erkennenden und dem erkannten Gegenstand immer inniger werden, so dass das Subjekt in einer Art von unio mystica mit ihm verschmelze. Vertreter der diskursi­ ven Erkenntnis machen gegenüber derartigen Deutungen geltend, es genüge zu sehen, dass Kunst und Wissenschaft und die mit ihnen jeweils verbundenen Arten von Erfahrung eine ganz unterschiedliche Funktion haben. Mithilfe der Kunst mit etwas bekannt oder vertraut zu werden, sei etwas anderes, als wenn mithilfe der Wissenschaft etwas erkannt werde. Der künstlerischen Intuition entspreche das Erleben als ein unmittelbares Vertrautsein mit seeli­ schen Inhalten, und dem stehe das diskursive Erkennen als das Wissen um intersubjektiv überprüfbare Inhalte der äußeren und inneren Erfahrung gegenüber.20 „Wenn aber das Er­ leben“, so bemerkte einmal Moritz Schlick, „auch in gewissem Sinne wichtiger ist, deshalb ist es noch lange keine Erkenntnis, und wenn man auch zugeben kann, daß das Erkennen um des Erlebens willen da ist, so ist doch deshalb das Erleben noch nicht das Ziel der Er­ kenntnis. Das Ziel der Erkenntnis liegt allein im Ausdruck, welcher die Ordnung in der Welt auffindet. Das Erleben ist damit nicht vergleichbar, es finden keine ähnlichen Prozesse statt, und das Ziel des Erlebens hat mit dem des Erkennens nichts gemeinsam.“ 21

19 Vgl. dazu Eduard SPRANGER: Lebensformen. Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persön­ lichkeit [1914; 2., völlig neu bearb. Aufl. 1921]; 9. Aufl., Tübingen 1966, S. 128 f. 20 Im Anschluss an Bertrand Russell spricht man unter englischen Philosophen im einen Fall von „knowledge by acquaintance“, im anderen von „knowledge by description“. – Siehe Bertrand RUSSELL: The Problems of Philosophy, Oxford 1912, Kap. V. 21 Moritz SCHLICK: Die Probleme der Philosophie in ihrem Zusammenhang. Vorlesung aus dem Winter­ semester 1933/34. Hrsg. v. Henk L. Mulder, Anne J. Kox u. Rainer Hegselmann, Frankfurt a. M. 1986, S. 104.

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2. Moral, Politik und Wahrheit Ziehen wir nach dem die Kunst bestimmenden Fühlen das Seelenvermögen des Wollens in Betracht, so bestimmt dieses die moralisch oder politisch bedeutsamen Interessen, Hand­ lungsgründe und Absichten. Die mit diesen verbundenen Zielorientierungen und Hand­ lungsanweisungen nennen wir gewöhnlich „Werte“ bzw. „Normen“. Dabei unterscheidet man seit altersher bei der Erörterung moralischer Fragen die Werte, die man um ihrer selbst willen verwirklicht (bonum honestum), von den Werten des Nützlichen (bonum utile) und des Angenehmen (bonum delectabile). Als Beispiele für die Werte der erstgenannten Art stehen etwa die des einstmals politisch maßgebenden Adels: Ehre, Mut und Tapferkeit, die allesamt kriegerischer Herkunft sind; seit dem Übergang vom Feudalismus zur bürger­ lichen Gesellschaft sind insbesondere die universalisierten Werte von Freiheit, Gleichheit und Solidarität an deren Stelle getreten. Immer wieder ist mit solchen ultimativen Werten, dem „wahrhaft Guten“, auch eine gehörige Portion Ideologie verbunden gewesen. Denn nicht selten ist das Prinzip der Ehre und der Tugend eher dem Nützlichen förderlich gewesen, als dass es ein an sich Wertvolles gewesen wäre. Dass selbst die im Namen unbedingter und ultimativer Ideale antretenden Vertreter der Französischen Revolution diese Ideale gerne instrumentalisierten, sodass diese den Status von Nützlichkeitswerten erlangten, zeigt die in ihrem Namen erfolgte Okkupa­ tion der Reichtümer der Adligen und des Klerus. Dies war ein besonders reizvoller Teil der revolutionären Tugend. Immerhin waren es 40.000 Paläste und zwei Fünftel aller Güter Frankreichs, die Desmoulins seinen Mitstreitern als Lohn jener Tugend in Aussicht stellte. Auf die Protagonisten der Französischen Revolution folgten die Vertreter von ge­ philosophisch abgestützten moralischen und politischen Lehren, namentlich schichts­ Fichte, Hegel, Marx und danach verschiedene mit der Fortschrittsautomatik argumen­ tierende Sozial­darwinisten. Eine spezielle Einstellung zum Fortschritt nahmen die beiden totali­tären Großideologien des 20. Jahrhunderts – der Kommunismus und der National­ sozialismus – ein: für sie waren der Kampf der Klassen bzw. der Rassen der Motor und das Prinzip der Geschichtsentwicklung. Dieser Rekurs auf die „wahren“ Triebkräfte der Geschichte, so meinte man, erfordere eine radikale Umwertung der Werte und neue Botschaften an die Mitstreiter, welche sich von den bisher geltenden Auffassungen vom moralisch Richtigen und Wahren abzusetzen hätten.22 „Unser“, so schrieb das TschekaOrgan Rotes Schwert in der Ausgabe vom 18. August 1919, „ist ein neuer Moralkodex. Unsere Humanität ist abso­lut; denn sie gründet sich auf das glorreiche Ideal der Beseiti­ gung von Tyrannei und Unterdrückung. Uns ist alles erlaubt; denn wir sind die Ersten in 22 Karl POPPER hat diese Form der Berufung auf angebliche historische Notwendigkeiten „Historizismus“ genannt und sein erstmals 1957 in englischer Sprache erschienenes Buch Das Elend des Historizismus (5., verb. Aufl., Tübingen 1979) dem Andenken an die Opfer dieser Denkweise gewidmet.

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der Welt, die das Schwert nicht zu Zwecken der Versklavung und Unterdrückung ziehen, sondern im Namen der Freiheit und der Befreiung von der Knechtschaft.“23 Welche Be­ wandtnis es mit einer „Humanität“ hat, in deren Namen „alles erlaubt“ ist, kann nach all den historischen Erfahrungen kaum mehr zweifelhaft sein. Einem ähnlichen Absolutheits­ anspruch begegnet man im rassentheoretischen Totalitarismus der Nationalsozialisten. Dessen Folgen – die millionenfache Ermordung von Juden und anderen für minderwertig erachteten Völkerschaften – sind ebenfalls hinlänglich bekannt. Bei allen Unterschieden zwischen der rassistisch fundierten Doktrin der Nationalsozialisten und derjenigen ihrer klassentheoretisch argumentie­renden Gegner verbindet beide die Selbstermächtigung zur Gewalt. Gemeinsam ist beiden auch die Berufung auf eine angeblich durch die Geschichte verbürgte Wahrheit, der es Rechnung zu tragen gelte. „Wahr“ hat hier aber die Bedeu­ tung „für uns wahr“, und diese gruppenspezifische Wahrheit ist eine exklusive Wahrheit: die „Wahrheit“ des ideologi­schen Fundamentalis­mus. Dieser ist das profane Äquivalent des re­ ligiösen Bürgerkriegs des 17. Jahr­hunderts und er hat, wie es scheint, seinen Wiedergänger in Teilen der muslimi­schen Welt von heute gefunden. Das Feld aller Fundamentalismen ist der Kampf, der zwi­schen den Göttern des Lichts und den Dämonen der Finsternis aus­ getragen wird. Ganz anders geartet ist die Situation in pluralistischen Demokratien. In diesen ist zwar ein Konsens zwischen den antagonistischen Gruppierungen im Mehrparteienstaat darüber vorausgesetzt, wie zwischen ihnen entstehende Konflikte auszutragen sind, doch zu­ gleich beruhen sie auf der Überzeugung, dass absolute Gerechtigkeit als Hauptinhalt von politischer „Wahrheit“ durch sie nicht erreicht wird; sie müssen sich mit einer relativen Gerechtigkeit begnügen. Die Proponenten der verschiedenen Parteien können nur dar­ legen, was für sie jeweils Gerechtigkeit bedeutet, danach sind sie auf Deliberation und Kompromiss angewiesen. Dies schließt die Bereitschaft zu Toleranz ein. Hans Kelsen sah hierin den Grund für die enge Beziehung zwischen Demokratie und Wissenschaft, da auf­ grund des von ihr vertretenen Prinzips der Toleranz keine andere Staatsform der Wissen­ schaft so günstig sei wie die Demokratie.24 Daraus resultiert allerdings nicht so etwas wie eine Toleranz der Indifferenz, der eine ernsthafte Vertretung von Moral und Recht fremd geworden ist und in deren Namen das Gewährenlassen bis zum „Verzicht auf Maßgeb­ lichkeit der eigenen Moral“ erweitert wird.25 Kein politisches Recht vermag nämlich zu 23 Zit. nach Bertram D. WOLFE: Marx und die Marxisten, Frankfurt-Berlin 1968, S. 324. – So gilt gerade auch für diese Spielart des „wissenschaftlichen Marxismus“ und seine Praxis, was Ludwig Marcuse vom „Pathos ,Wissenschaft‘“ allgemein sagt: in ihm „stecken viele Ideale und viele Herrschaftsgelüste und auch eine Menge ganz gedankenloser, aber gut eingeführter Emotionen.“ – Ludwig MARCUSE: Argumente und Rezepte. Ein Wörter-Buch für Zeitgenossen, Zürich 1973, S. 145. 24 Vgl. Hans KELSEN: Was ist Gerechtigkeit?, Wien 1953, S. 43. 25 Dazu siehe Arnold GEHLEN: Soziologie der Macht, in: Ders., Einblicke, Frankfurt a. M. 1978 (= Gesamt­ ausgabe, Bd. 7), S. 91–99, hier S. 98.

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bestehen, wo der Wille fehlt, es auszuüben, und keine Demokratie kann sich, wie Kelsen ausführt, dadurch verteidigen, dass sie sich selbst aufgibt. „[E]s ist das Recht jeder, auch einer demokratischen Regierung, Versuche, sie mit Gewalt zu beseitigen, mit Gewalt zu unterdrücken und durch geeignete Mittel zu verhindern. Die Ausübung dieses Rechts ist weder mit dem Prinzip der Demokratie noch mit dem der Toleranz in Widerspruch. Es mag mitunter schwierig sein, eine klare Grenzlinie zu ziehen zwischen der Verbreitung gewisser Ideen und der Vorbereitung eines revolutionären Umsturzes. […] Es mag auch sein, daß solche Grenzziehung eine gewisse Gefahr in sich schließt. Aber es ist das Wesen und die Ehre der Demokratie, diese Gefahr auf sich zu nehmen; und wenn Demokratie diese Gefahr nicht bestehen kann, dann ist sie nicht wert, verteidigt zu werden.“26 Als eine Limitierung des Wertepluralismus gelten uns heute Regeln, von denen es un­ sinnig wäre zu sagen, irgendeine souveräne Körperschaft oder auch ein Gericht könnte sie durch ein förmliches Verfahren, selbst eines auf der Grundlage von Mehrheitsentschei­ dungen, außer Kraft setzen. Solche Regeln werden, wie Isaiah Berlin ausführt, gebrochen, „wenn ein Mensch ohne ordentliches Verfahren für schuldig erklärt oder unter Berufung auf ein rückwirkend erlassenes Gesetz bestraft wird; den Kindern befohlen wird, ihre Eltern zu denunzieren, wenn Freunde einander verraten sollen oder wenn Soldaten be­ fohlen wird, barbarische Methoden anzuwenden; wenn Menschen gefoltert oder ermor­ det, wenn Minderheiten niedergemetzelt werden, weil sie den Zorn der Mehrheit oder eines Tyrannen erregt haben“.27 Diese Regeln bilden den Kern der Menschenrechte, die wir ­heute als Barrieren in ihrer moralischen Geltung anerkennen und durch die Menschen ­darin beschränkt werden, anderen ihren Willen aufzuzwingen. Die Freiheit einer Gesell­ schaft oder einer Gruppe in ihr bemisst sich daher auch an der Stärke dieser Barrieren und an der Zahl und der Wichtigkeit der Wege, die sie für ihre Angehörigen offen hält.28 Es erscheint allerdings nützlich, darauf hinzuweisen, wie sehr seit der 1948 erfolg­ ten Deklaration der allgemeinen Menschenrechte immer wieder eine doppelte Moral die Ein­stellung der Großmächte diesen gegenüber charakterisierte. Die Menschenrechte kamen­nur selektiv zur Anwendung, wenn es darum ging, die eigenen partikularen In­ teressen durchzusetzen. „Schon während des Kalten Krieges hat“, worauf Panajotis Kon­ dylis aufmerksam macht, „das programmatische Aufgebot der ‚Menschenrechte‘ gegen den ‚Tota­litarismus‘ keineswegs enge Bündnisse des westlichen Lagers mit brutalen Dikta­ 26 Hans KELSEN: Was ist Gerechtigkeit? (Anm. 24), S. 42. 27 Isaiah BERLIN: Freiheit. Vier Versuche [engl. Orig. 1969]. Übers. von Reinhard Kaiser, Frankfurt a. M. 1995, S. 249. 28 Siehe dazu ebd. – Derzeit ist man allerdings im Begriff, durch eine zum Teil geradezu bizarre Ausweitung des Umfangs der Menschenrechte deren Kernbereich in seinem Wert herabzustufen. So haben beispielsweise im Mai 2012 Anti-Gentechnik-Aktivisten in Graz jede Art von Gentechnik als einen Verstoß gegen die Men­ schenrechte bezeichnet: „gegen die Rechte auf Nahrung, Gesundheit und Selbstbestimmung der Völker“ – so eine Aktivistin wörtlich.

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turen abgewendet. Das sehr unterschiedliche Verhalten der Vereinigten Staaten gegen­über Saudi-Arabien und dem Iran, obwohl es in beiden Ländern um die ‚Menschenrechte‘ ähnlich bestellt ist, zeugt von bemerkenswertem westlichem Traditionsbewusstsein in dieser Hinsicht.“29 Auch auf die berüchtigten „Folterflüge“ mit mutmaßlichen Al QuaidaAktivis­ten nach Pakistan, Polen und in gewisse arabische Staaten, auf Abu Ghraib und auf die grausame Praxis des waterboarding als einer sogenannten coercive interrogation in Guantá­namo Bay ist hier hinzuweisen. Nicht nur irgendwelche Despoten, die es in unserer Welt noch immer zuhauf gibt, stellen so unter Beweis, dass heute schreckliche Praktiken der Feindbekämpfung im Namen der Freiheit, der Terrorbekämpfung und vorgeblich zum Wohle der Menschheit vollzogen werden, sondern auch die aus ihrer eigenen Sicht achtbarsten Vertreter der Menschenrechte und der „westlichen Werte“. Für die Staatsräson auch der zeitgenössischen Großmächte gilt offenbar nach wie vor die schon von Thukydi­ des im Melierdialog seines großen Werks über den Peloponnesischen Krieg aufgezeigte bit­ tere Wahrheit, „dass Recht im menschlichen Verkehr nur bei gleichem Kräfteverhältnis zur Geltung kommt, die Stärkeren aber alles in ihrer Macht Stehende durchsetzen und die Schwachen sich fügen“.30

IV. Die Vielfalt der Wissenschaften und das Streben nach Einheit und Gewissheit Die Suche nach wissenschaftlicher Wahrheit wurde häufig mit der Suche nach Gewissheit in eins gesetzt, und diese – nicht immer zum Vorteil der Wissenschaft – mit Präzision und Reduktionismus. Oft ist in solchen Zusammenhängen ein Wille zur Präzision am Werk, welcher der zu untersuchenden Sache unangemessen, aber unausdrücklich von der Maxi­ me geleitet ist: „Wenn auch nicht gerade wichtig, so doch sehr richtig.“ Schon Aristoteles stellte im Blick auf die Tugend der Klugheit (phrónesis) in wissenschaftlichen Belangen fest: „es zeugt von Bildung, nur soweit Genauigkeit zu verlangen in jeder Gattung, wie es das Wesen des Gegenstandes zulässt“.31 Diese Feststellung mag in manchen Ohren trivial klin­ gen, sie erweist sich jedoch in Anbetracht einer Einstellung als unverändert aktuell, deren Repräsentanten Gewissheit auf dem Wege des Reduktionismus suchen. Nun wissen wir, dass beispielsweise zwar alle biologischen Vorgänge mit den Gesetzen der Physik und Che­ mie vereinbar sind, dass sich aber lebende Organismen nicht auf sie reduzieren lassen. Wer wird schon von dem auf einem Zweig sitzenden Vogel, dessen Verhaltensregelmäßigkeiten 29 Panajotis KONDYLIS: Das Politische im 20. Jahrhundert. Von den Utopien zur Globalisierung, Heidelberg 2001, S. 65. 30 THUKYDIDES: Der Peloponnesische Krieg. Übers. u. hrsg. v. Helmuth Vretska u. Werner Rinner, Stuttgart 2000, V. Buch, § 89. 31 ARISTOTELES: Nikomachische Ethik, I. Buch, 1094b

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der Ornithologe zu erfassen sucht, sagen, hierbei handle es sich um zwitschernde Kolloid­ lösungen? Auf dieser Ebene der Betrachtung ist auch von der Umwelt eines Lebewesens, auf die es dem biologischen Verhaltensforscher ankommt, nicht mehr die Rede.32 Es war eine über das gewöhnliche Maß hinausgehende Forderung nach Genauigkeit und methodischer Gewissheit, die zum physikalischen Reduktionismus führte, welcher lange Zeit einer angemessenen Erforschung biologischer Phänomene im Wege stand. Die klassi­schen physikalischen Wissenschaften, nach denen jene Wissenschaftsphilosophie mo­ delliert war, waren so nach Ansicht des Biologen Ernst Mayr „von Vorstellungen domi­ niert, die für die Erforschung von Organismen ungeeignet waren, wie etwa Essentialismus, Determinismus, Universalismus und Reduktionismus. Die Biologie, richtig verstanden, umfasst Populationsdenken, Wahrscheinlichkeit, Zufall, Pluralismus, Emergenz und histo­ rische Darstellungen. Es bedurfte einer neuen Wissenschaftsphilosophie, welche die Ansät­ ze aller Wissenschaften, auch der Physik und Biologie, in sich vereinen konnte.“33 Für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist es, wie auch das soeben ­Angeführte belegt, erforderlich, einen allgemein akzeptierten Glauben zu verwerfen, sobald ein besse­ rer vorgeschlagen wird. Oft besagt dabei die Entscheidung zugunsten einer neuen Theorie nicht die Verwerfung herkömmlicher anderer, sondern deren Integration in jene. Auch mag etwa für lange Zeit als dichotomische Form der Weltbetrachtung erschienen sein, was nach einiger Zeit dem Prinzip der Komplementarität weicht. Dies gilt unter anderem für bestimmte Denkweisen bezüglich der Erklärung menschlichen Verhaltens. Bis herauf in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts tobte der Kampf zwischen den sogenannten Nati­visten und den Milieutheoretikern (Environmentalisten). Verallgemeinerten die Milieutheore­ tiker die Feststellung einer Prägung durch die gesellschaftliche Umwelt zu der Aussage, das Verhalten einer Person werde, da ihr nichts angeboren sei, nicht durch ihre Erbanlagen, sondern allein durch die im Laufe des Lebens gesammelten Erfahrungen und Eindrücke modelliert, so verwiesen die Nativisten auf die determinierende Wirkung des durch die biologische Forschung nachweisbaren genetischen Erbes. Die von John B. Watson in seinem Buch ­Behaviourism (1926) vertretene Auffassung von einer unbegrenzten Plastizität und Modellierbarkeit des Menschen ist obsolet geworden.34 Entscheidend dafür waren nicht zuletzt die Einsichten der Molekularbiologen, die sich aus der Sequenzierung des Humangenoms ergaben. Allerdings gibt es aus der Sicht promi­ nenter Molekularbiologen keinen Grund zur Annahme, dass der Mensch nun zwar kein 32 So ist auch, wie Georges Canguilhem in ähnlichem Zusammenhang ausführt, „das, was der Fuchs frißt, ein Hühnerei und nicht etwa die Chemie der Albuminoide oder die Gesetze der Embryologie“. – Georges CANGUILHEM: Das Normale und das Pathologische (aus dem Französ. übers. v. Monika Noll und Rolf Schubert), Frankfurt a. M.- Berlin-Wien 1977, S. 133. 33 Ernst MAYR: Das ist Biologie (Anm. 10), S. 17. 34 Vgl. John B. WATSON: Behaviourism: A Psychology Based on Reflex-Action, 2. Aufl., Chicago 1930, v. a. S. 104, wo er diese Auffassung mit aller Verve vertritt.

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Sklave der psychologischen Konditionierung, wohl aber seiner Gene sei. „Warum“, fragt Gottfried Schatz in einem Buch über biologi­sche Entdeckungen, die unser Menschenbild prägen, „sind eineiige Zwillinge, die derselben befruchteten Eizelle entstammen und somit die gleichen Gene besitzen, nicht völlig identisch? Warum leidet manchmal nur einer von ihnen an einer Krankheit? Und warum werden sie mit dem Alter immer verschiedener?“35 Der Autor weist darauf hin, dass man sich zunächst mit der Erklärung begnügt habe, dass die Umwelt zwar nicht die Gene, wohl aber deren Auswirkungen verändern kann. Mitt­ lerweile sei jedoch klar geworden, dass Gene keine unabänderlichen Gesetze sind, sondern sich als Antwort auf die Umwelt oder unseren Lebenswandel verändern können. „Nun […] wissen wir, dass im Verlauf unseres Lebens manche Gene auch durch die chemische Markie­ rung einzelner Buchstaben [d. i. des Gen-Alphabets, bestehend aus den Basen Adenin, Cytosin, Thymin und Guanin, welche mit A, C, T und G abgekürzt werden] gehemmt oder abgeschaltet werden können und dass solche Markierungen manchmal sogar erblich sind.“36 Eine epigenetische Methylierung von DNS könne dabei sowohl durch innere als auch durch äußere Faktoren ausgelöst werden, wobei diese äußeren Faktoren von den Ess­ gewohnheiten bis zum Sozial­kontakt ihre Methylspuren in unseren Genen hinterlassen. Dieses Beispiel aus der jüngsten Wissenschaftsgeschichte zeigt uns, dass von der mo­der­nen­­ Molekularbiologie erarbeitete Wissensinhalte weder ein Festhalten an den mono­kau­salen er­ klärenden Theorien des orthodoxen Behaviorismus noch des orthodoxen Bio­­logis­mus zulassen. Der mit der Entdogmatisierung der ursprünglich gegebenen Positionen verbundene Einstel­ lungswandel in der modernen Biologie bezeugt den Realitäts­gehalt der – wenn auch ganz an­ ders gemeinten – Botschaft des Johannes-Evangeliums: „Die Wahrheit wird Euch frei machen.“ Wer den Menschen ausschließlich als durch unsere Gene oder unser soziales Milieu determi­ niert begreift, verleugnet nicht nur die Erkenntnisse der modernen Biologie und Sozialpsycho­ logie, er beleidigt zugleich das Menschenbild derjenigen, für die ein Indivi­duum mehr ist als ein letztlich unfreier, weil sklavischer Bio- oder Sozio-Roboter. Dennoch haben die veralteten milieutheoretischen und biologistischen Vorstellungen bis heute sowohl in der Politik als auch in der Vulgärpsychologie und -soziologie ihre Spuren hinterlassen, wo sich allerlei sogenannte Experten tummeln; völlig wirkungslos sind jene Vorstellungen jedenfalls nicht geworden. Viele im Laufe ihrer Geschichte als für die Wissenschaft wesentlich angesehene Merk­ male mussten verworfen oder modifizert werden. Heute werden für die Wissenschaft fol­ gende allgemeine Bestimmungsmerkmale genannt: dass sie sich auf Daten gründet, die durch Beobachtung oder Versuch gewonnen wurden; dass diese zur Bestätigung oder Wider­ legung von Annahmen über die Struktur, die Genese oder die Wirkung von Dingen oder Sachverhalten heranzuziehen sind; dass Methoden zur Anwendung kommen, welche die 35 Gottfried SCHATZ: Zaubergarten Biologie. Wie biologische Entdeckungen unser Menschenbild prägen. Mit einem Vorwort von Rolf  Zinkernagel, Zürich 2012, S. 108. 36 Ebd., S. 109.

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Wirksamkeit von Vorurteilen möglichst minimieren; dass die Annahmen oder Hypo­thesen nicht nur mit den Beobachtungen übereinstimmen und mit dem allgemeinen begriff­ lichen Rahmen einer Disziplin vereinbar sein, sondern auch der Überprüfung zugänglich sein müssen; dass nach Möglichkeit konkurrierende Hypothesen formuliert werden, um deren Fähigkeit zur Problemlösung vergleichend heranziehen zu können; dass die auf einen bestimmten Raum-Zeit-Bereich bezogenen Hypothesen in diesem universell gültig sind; dass eine Tatsache oder eine Hypothese erst dann als bestätigt anzusehen ist, wenn andere Forscher sie – sei es durch gemeinsame Beobachtungen oder durch Wiederholung eines Experiments – bestätigt haben.37 Von absoluter Wahrheit oder Gewissheit ist in diesem Kriterienkatalog nicht die Rede, ein allzu weitreichender Gewissheitsanspruch stünde wohl auch dem Erkenntnisfortschritt im Wege. Im Allgemeinen ist man heute zufrieden, wenn eine bestimmte Theorie – gleich­ gültig, in welchem Wissenschaftsgebiet sie formuliert wurde – bislang allen Versuchen einer Falsifikation widerstanden hat, und wenn sie den in sie gesetzten Erwartungen bezüglich ihrer Erklärungskraft genügt. Aber es wäre eben vermessen anzunehmen, dass sie so etwas wie eine absolute Wahrheit darstellt oder zum Ausdruck bringt. Niemand weiß, „welche stillschweigenden Annahmen unserer Generation letztlich durch weitere wissenschaftliche Fortschritte widerlegt werden“.38 Wir wissen um den Fortschritt des Wissens Bescheid und um die erforderlich gewordene Revision zahlreicher wissenschaftlicher Erkenntnisse. Aber immerhin werden einige der grundlegenden Erkenntnisse der Wissenschaft seit den Tagen der indischen und arabischen Mathematiker und Astronomen und seit den jonischen Naturphilosophen immer wieder bestätigt.

V. Die Wahrheit – eine Tochter der Zeit? Im Laufe der Zeit wurden zahlreiche mit Wahrheitsanspruch auftretende Glaubenssysteme – solche der Religion und solche der Wissenschaft – als falsch oder als nur in bestimm­tem Umfang haltbar erkannt. Gilt also die alte Weisheit veritas filia temporis – „Die Wahr­ heit ist eine Tochter der Zeit“? Für Pindar, Sophokles und Gellius war die Auffassung charakteristisch, dass mit der Zeit die Wahrheit ans Licht komme, und vielleicht war jene Auffassung der von Karl Popper ähnlich, der meinte, dass mit der Zeit – im Verlauf der schrittweisen Beseitigung von Irrtümern – eine Annäherung an die Wahrheit erfolge.39 Auf 37 Vgl. in diesem Zusammenhang die auch von Ernst MAYR (in: Das ist Biologie [Anm. 10], S. 57) dargeleg­ ten – Ansichten von John A. MOORE: Science as a Way of Knowing, Cambridge, Mass. 1993. 38 So Ernst MAYR: Das ist Biologie (Anm. 10), S. 115. 39 Siehe die Ausführungen zur Wahrheitsähnlichkeit (verisimilitude) und zu deren historischen Vorläufern in Karl R. POPPER: Conjectures and Refutations: The Growth of Scientific Knowledge, Oxford-New York 2003, S. 399 ff.

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andere Weise scheint dagegen etwa Leonardo in seinen Tagebüchern die auf Aulus Gellius zurückgehende Losung „veritas filia temporis“ interpretiert zu haben, und zwar im Sinne der auch für die Shakespeare-Zeit charakteristischen Idee der kulturellen und historischen Relativität, die dann später in der Epoche des Historismus voll entfaltet werden sollte.40 Jede Zeit, so meinte man, habe ihre „Wahrheit“, denn jede Zeit nehme sich die Freiheit, den alten Bestand vermeintlicher Wahrheiten auf ihre Weise zu deuten. Das, was die Natur des Menschen und die vom Menschen vertretenen Ideale ausmacht, sei geschichtlich und geographisch sehr verschieden und abhängig von unterschiedlichsten Faktoren. Obgleich einige Ethnologen und Philosophen die Idee einer invarianten Menschen­ natur leugneten, glaubte die Mehrheit von ihnen an eine allen Menschen gemeinsame Da­ seinsbedingung, die in allen Kulturen und Epochen nachweisbar und das einzig Konstante in der Geschichte der Menschheit sei: „Die geschichtlichen Situationen und die intellek­ tuellen und moralischen Fähigkeiten der Menschen ändern sich. Was sich im Laufe der Geschichte nicht ändert, ist die Tatsache, daß der Mensch ein seines Daseins bewußtes Wesen ist, daß er in der Welt lebt, daß er handeln muß, um sich im Dasein zu erhalten, daß er liebt und hasst, sich fortpflanzt, krank wird, leidet, dem Leiden zu entrinnen sucht, daß er weiß, er müsse sterben, daß er den Tod fürchtet und ihn schließlich erleidet.“ Diese menschliche Daseinsbedingung, so fand der aus Österreich stammende Geschichtsphilo­ soph Alfred Stern, sei „übergeschichtlich, von der Verschiedenheit der Kulturen und deren Entwicklungsgraden und auch von allen sozialen Umweltbedingungen unabhängig“.41 Bei der hier zur Sprache kommenden condition humaine handelt es sich um die an­ thropologische Voraussetzung einer schon recht alten Variante des moralphilosophischen Kosmopolitismus. Sie betrifft einen zweifellos bedeutsamen Sachverhalt, der in gewissem Umfang erst das wechselseitige Verstehen zwischen den Kulturen ermöglicht, hat aber auch einige falsche Hoffnungen genährt. Denn aus gemeinsamen menschlichen Daseinsbedin­ gungen folgt weder die Gleichsetzung von Verstehen und Einverständnis, noch das Gebot der Toleranz, wie uns dies gewisse moralphilosophische Universalisten nahelegen möchten. Es wird normalerweise angenommen, dass Menschen, die in derselben Lage sind, einander verstehen. Und dies ist auch richtig. Aber sie können mitunter gerade des­halb einander auch besser bekämpfen. So werden sich zwei Feldherren, die sich auf dem Schlachtfeld gegenüberstehen, bemühen, einander zu verstehen und die Absichten des jeweils anderen mög­lichst objektiv zu erkunden. Gerade der Umstand, dass sich beide in sehr ähnlicher Lage befinden, ermög­licht ein Verstehen im Sinne des Sich-in-den-Anderen-Hineinver­ 40 Zu den unterschiedlichen Deutungen dieser Losung siehe Fritz SAXL: „Veritas Filia Temporis“, in: R. Klibansky, H. J. Paton (Hgg.): Philosophy and History: Essays Presented to Ernst Cassirer, Oxford 1936, S. 197–222. – Siehe auch Soji IWASAKI: Veritas Filia Temporis and Shakespeare, in: English Literary Renaissance 3 (1973), S. 249 –263. 41 Alfred STERN: Geschichtsphilosophie und Wertproblem, München-Basel 1967, S. 240.

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setzens, aber diese Empathie führt eben, wie Panajotis Kondylis zeigt, nicht schon zur Konkordanz: „Verstehen auf der Basis gemeinsamer Denkweisen und der beiderseitigen Fähigkeit ihres Nachvollzugs, also auf der Basis von Grundgegebenheiten der menschli­ chen Natur, liegt hier unbestritten vor, der Konsens [i.e. bezüglich gemeinsam geteilter Zielvorstellungen] bleibt indes aus, und ebensowenig folgt aus dem Verstehen die Toleranz. Die allgemeinmenschlichen Anlagen sind offenbar so beschaffen, daß bei Identität der For­ men und Funktionen die Besetzung durch Inhalte offenbleibt.“ 42 Angemessener als die Annahme eines moralphilosophischen Universalismus erscheint die eines Wertepluralismus, der anerkennt, dass zwar von Angehörigen verschiedener Kul­ turen gewisse Ziele verfolgt werden, die mit gleichartigen funktionalen Erfordernissen ein­ hergehen, dass aber nicht alle Ziele miteinander verträglich sind; Rivalität ist daher oft die Folge und zugleich der Grund von Kompromissen. Eigene­Werthaltungen werden aber im Allgemeinen nicht gleich für gering erachtet, nur weil weder ihr Ewigkeitscharakter noch ihre Universalität garantiert werden kann. Diese „Wahrheiten“ mögen als Töchter ihrer Zeit deren Signatur tragen, doch dies führt, gleich wie im Falle wissenschaftlicher Wahr­ heiten, nicht notwendig zu ihrem Wertverlust. „Sich der bedingten Gültigkeit der eigenen Überzeugungen bewusst zu sein und dennoch entschlossen für sie einzustehen“, erklärte einmal Joseph Schumpeter, „unterscheidet den zivilisierten Menschen vom Barbaren.“43 Die Einsicht, dass nicht nur die Moral, sondern auch die Wissenschaft ihre Geschichte hat, ist vor allem seit dem 19. Jahrhundert ein Gegenstand der Wissenschaftsphilosophie geworden. Hat man dabei einerseits die sich im Laufe der Geschichte herausgebildeten epistemologischen Voraussetzungen für das Zustandekommen wissenschaftlicher Erkennt­ nisse in Betracht gezogen, so andererseits seit dem Aufkommen der Wissenssoziologie in der Zeit um 1900 die gesellschaft­lichen, ökonomischen und politischen Umstände der Produktion wissenschaftlichen Wissens. Es ging also sowohl um die Darlegung der Metho­ den, mit denen Dinge zu Objekten des wissenschaftlichen Wissens gemacht wurden, als auch um die Rekonstruktion der sozialen Umstände im weiteren Sinne, unter denen sich der Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung vollzog. Dabei zeigte sich, dass nicht immer nur das Objekt der Erkenntnis den methodischen Zugang bestimmt, sondern auch umgekehrt der methodische Zugang das Objekt. Mikroskope und Teleskope hoher Auflösung, so erkannte man, machen oft überhaupt erst Gegenstände sichtbar, von deren Existenz man zuvor nichts geahnt hatte. Mit Hans-Jörg Rheinberger kann man sagen, dass sich also nicht mehr die Frage stellte, „wie das erkennende Subjekt seine Gegenstände un­ verstellt in den Blick bekommen kann“, sondern vielmehr die nach „den Bedingungen, die geschaffen wurden oder geschaffen werden müssen, um Gegenstände unter jeweils zu 42 Panajotis KONDYLIS: Das Politische im 20. Jahrhundert (Anm. 29), S. 53. 43 Joseph A. SCHUMPETER: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie [1. amerik. Aufl. 1942]. Einleitung von Edgar Salin, 3. Aufl., München 1972, S. 385.

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bestimmenden Umständen zu Gegenständen empirischen Wissens zu machen“.44 Ergänzt wurde diese Betrachtungsweise nach und nach um die detaillierte Erörterung dessen, was Wissenschaftler tun, wenn sie ihre jeweiligen Forschungen betreiben, und wie sie mitein­ ander als Forscher kooperieren. Die Suche nach Wahrheit und Objektivität wurde so letztlich zu einer historischen Auf­ gabe, auch wenn die meisten Wissenschaftsphilosophen nicht so weit gingen wie beispiels­ weise Wilhelm Dilthey, der auch die Philosophie in diesen Prozess einbezogen hat. Der unbegrenzten Historisierung der philosophischen Systeme suchte er selber dadurch zu entgehen, dass er diese in einer Systematologie ihrer geschichtlichen Gestalten, also einer „Philosophie der Philosophie“, zum Gegenstand machte.45 Nicht die geschichtliche Be­ dingt­heit und Relativität gelte es dabei zu leugnen, wohl jedoch, dass sich in ihr überhaupt nichts mehr als identischer Problem- oder Erkenntnisbestand erhalten und als gültig er­ weisen könne. In diesem Sinne konnte man auch in den zeitgenössischen Gebilden der Wissenschaft und Philosophie die Spuren ihrer Herkunft erblicken und zugleich bestimm­ te Invarianten der wissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnis ausmachen.

VI. Für und wider den Primat der Verwertbarkeit „Männer der Wissenschaft! Man sagt ihr viele nach, aber die meisten mit Unrecht“, konsta­ tierte im Jahr 1909 Karl Kraus.46 Er hat damit die Wissenschaftlerinnen trefflich exkul­piert, denn es gibt sie in dem Bonmot nicht – allerdings waren sie ja zu dieser Zeit in der wissen­ schaftlichen Zunft recht selten existent. Auch Friedrich Nietzsche blieb den von Kraus an an­ derer Stelle als „Wissengschaftlhuber“ Apostrophierten an sporadischer Idiosynkrasie nichts schuldig. Er spricht von „schönen glitzernden und festlichen Worten“ wie „Red­lichkeit, Liebe zur Wahrheit, Liebe zur Weisheit, Aufopferung für die Erkenntnis, Heroismus des Wahrhaftigen“, und er fügt nach einem Gedankenstrich hinzu: „es ist etwas daran, das einem den Stolz schwellen macht“. Aber auch dieser würdige „Wort-Prunk“ gehöre „zu dem alten Lügen-Putz, -Plunder und -Goldstaub der unbewußten menschlichen Eitelkeit“.47 Die Denker der griechischen Antike blickten auf jede Form der Erwerbsarbeit mehr oder weniger verächtlich herab. Da ihnen die theoría, welche für sie zugleich eine ästhe­ 44 Hans-Jörg RHEINBERGER: Historische Epistemologie zur Einführung, 2. Aufl., Hamburg 2008, S. 12. 45 Vgl. Wilhelm DILTHEY: Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie, 5. Aufl., Stuttgart-Göttingen 1977 (= Gesammelte Schriften, Bd. 8). 46 Karl KRAUS: Aphorismen und Gedichte. Auswahl 1903 bis 1933. Hrsg. von Dietrich Simon, Wien-KölnGraz 1985, S. 95. 47 Friedrich NIETZSCHE: Jenseits von Gut und Böse, in: Ders., Werke in drei Bänden, Zweiter Band, Darm­ stadt 1963, S. 563 –759, hier S. 696.

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tische Einstellung war, von den Werten des Lebens der höchste war, verliehen sie dem Wort bánausos denselben abwertenden Charakter wie dem Wort bárbaros. Denn ihrer Ansicht nach zerstört der Banause das Wesen der reinen Theorie, sobald er dieser einen über die reine Schau hinausgehenden Nutzen zuschreibt, sei dies nun ein technischer, ein ökono­ mischer oder ein politischer Nutzen. In Österreich wäre zweifellos der in anderen Zusam­ menhängen durchaus verdiente Reformkaiser Joseph II. unter dieses Verdikt des Banausen gefallen. Als ihm ein Professor Müller eine Auswahl von deutschen Gedichten des Mittel­ alters widmen wollte, winkte er kräftig ab: „Ich bin“, so erklärte er Hofbeamten gegenüber, „überhaupt zu Annehmung einiger Dedikation nicht geneigt, besonders von Gedichten, welche zu nichts Wesentlichem in der Welt führen, wie dieses, welches dem Manne zu bedeuten ist.“48 Als „wesentlich“ erschienen ihm Technologie und Naturgeschichte wegen ihres Nutzens für Landwirtschaft, ferner Chirurgie und Medizin, aber auch Mechanik und Mathematik, sofern sie für das Kriegswesen, beispielsweise für die Artillerie, von Wichtig­ keit waren. In gewissem Maße sollte ein antiutilitaristischer Affekt auch uns Heutigen anerzogen werden, vor allem in Anbetracht von Gefälligkeitsgutachtern, von willfährigen Experten für alles und jedes, die sich zu ihrem eigenen Vorteil gerne instrumentalisieren lassen. Der berühmte Chemiker und Kulturkritiker Erwin Chargaff fand es daher am Platz, „daran zu erinnern, daß, wo immer drei Ärzte zusammen sind, die Pharmaindustrie unterm Tisch sitzt und zuhört; wie auch, daß zwischen Patient und Patent nur ein kleines i liegt“.49 Doch die Vertreter der anwendungsorientierten Wissenschaft sind nicht immer so schlimm, wie von manchen der reinen Theoretiker unterstellt wird.50 Gewiss ist, wie man seit Kant und Boltzmann weiß, nichts praktischer als eine gute Theorie. Das besagt, dass wir, sofern wir praktische Ziele der Wissenschaft realisieren wollen, gar nicht anders können, als auch ihre Theorien zu fördern, aber eben solche, die der Überprüfung zugänglich und die dann nach Möglich­keit Widerlegungsversuchen gegenüber resistent bleiben. Daher ist auch nichts ent­behrlicher als eine rein spekulative, der Überprüfung abgeneigte Theorie, sofern sie eine wissenschaftliche sein will. Es ist ein Irr­tum anzunehmen, dass die Empiriker immer nur 48 Zitiert nach Viktor BIBL: Kaiser Josef II. Ein Vorkämpfer der großdeutschen Idee, Wien-Leipzig 1943, S. 259. 49 Erwin CHARGAFF: Brevier der Ahnungen. Eine Auswahl aus dem Werk zusammengestellt von Simone Kühn, Stuttgart 2002, S. 45. 50 Hier ist eine Randnotiz am Platz, die eher mit Soziologie als mit Erkenntnistheorie zu tun hat. Oft verbirgt sich nämlich hinter dem Vorwurf des wissenschaftlichen Banausentums nur eine eigentümlich sublimierte Verachtung der Handarbeit durch die wissenschaftlichen White-collar worker. So erscheinen bis auf den heutigen Tag Techniker gewissen, nicht zufällig als „rein“ bezeichneten Theoretikern in den Naturwissen­ schaften, namentlich in der Physik, als eine Art Handwerksburschen, als irgendwie verschmutzte Blue-collar worker. Die oft sonderbar vergiftete Beziehung zwischen reiner und angewandter Wissenschaft ist dabei keineswegs auf die Naturwissenschaften beschränkt geblieben und betrifft beispielsweise schon seit langem auch die Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften.

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die minderen Kärrnerdienste für die Theoretiker leisten würden. Karrenschieber gibt es nämlich in beiden Quartieren – und besonders lächerlich sind theoretische Karrenschieber ohne jegliche empirische Ladung und ohne Wissen, wohin der Weg mit diesem Nichts eigentlich führt. Nietzsche wusste, wovon er sprach: Heil euch, brave Karrenschieber, Stets »je länger, desto lieber», Steifer stets an Kopf und Knie, Unbegeistert, ungespäßig, Unverwüstlich-mittelmäßig, Sans génie et sans esprit !  51

Wird danach gefragt, warum wir Wissenschaft betreiben und wozu Wissenschaft gut ist, werden in der Regel zwei Antworten gegeben, die sich ihrer Aussageintention nach den griechisch-antiken Begriffen epistéme theoretiké und téchne zuordnen lassen. Die eine be­ trifft die Neugier des Menschen und sein Streben nach theoretischer Erkenntnis, die andere deren Umsetzung in bestimmte Fertigkeiten. Francis Bacon hatte bei seiner Wertschätzung des wissenschaftlichen Wissens zweifellos beide Fähigkeiten im Blick. Desgleichen Thomas Hobbes, der im Leviathan erklärte: „Künste von öffentlichem Nutzen wie Festungsbau und Herstellen von Kriegsmaschinen und anderen Kriegswerkzeugen sind Macht, da sie zur Verteidigung und zum Sieg beitragen. Und obwohl ihre wahre Mutter die Wissenschaft, nämlich die Mathematik, ist, so werden sie doch, da sie durch die Hand des Konstrukteurs ans Licht gebracht werden, für ein Kind seines Geistes gehalten – wobei die Hebamme wie beim einfachen Volk für die Mutter gilt.“52 Deutlich wird daraus die Wertschätzung der Grundlagenforschung durch Hobbes ersichtlich, und doch will er keineswegs die Anwen­ dungsorientierung gegenüber der rein theoretischen Einstellung herabmindern. Wissen­ schaft besteht nun einmal nicht nur aus Theorien, sie besteht in erheblichem Maße aus der technischen Umsetzung theoretischer Erkenntnisse zum Zweck der Realisierung praktischer Ziele. So entwerfen Wissenschaftler Geräte, welche es gestatten, Naturvorgänge zu zähmen und uns zunutze zu machen, Instrumente, welche die Materie, die Energie und die Informa­ tion verarbeiten, wobei das theoretische Wissen über das regelmäßige Verhalten der Dinge sowie über die Kräfte und Gesetze der Natur eine Transformation in neue Techniken erfährt.

51 Friedrich NIETZSCHE: Jenseits von Gut und Böse (Anm. 47), S. 693. 52 Thomas HOBBES: Leviathan, oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates [engl. Orig.1651]. Hrsg. u. eingel. v. Iring Fetscher, Neuwied-Berlin 1966, S. 67.

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Es war wohl der seit Darwin vorherrschende Glaube an die Evolution, der – wie schon zuvor die Geschichtsphilosophie – seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts den Fort­ schritt in der Politik, in der Wirtschaft und auch in der Wissenschaft als eine Sachnot­ wendigkeit erscheinen ließ. Gegen Ende seines 1859 erschienenen Schlüsselwerks Über die Entstehung der Arten findet man die folgenden, oft im Sinne einer optimistischen Ge­ schichtsautomatik interpretierten Sätze Darwins: „Insofern dürfen wir mit ziemlichem Vertrauen einer gesicherten Zukunft von großer Dauer entgegensehen. Und da sich die natürliche Zuchtwahl ausschließlich durch das Gute und zum Guten jedes Wesens voll­ zieht, werden alle körperlichen und geistigen Begabungen immer weiter fortschreiten, der Vollkommenheit entgegen.“ Da kann man, wie Erwin Chargaff kommentierend bemerkt, nur applaudieren und rufen: „Bravo, Plutonium! Auf geht’s, Dioxin!“53 Häufig wird aus einer solchen kritischen und auch durchaus nachvollziehbaren Einstellung heraus gegen die angewandte Forschung ins Treffen geführt, sie habe die meisten jener Übel in der Welt verschuldet, für deren Beseitigung ihre Vertreter nun, auch wenn sie oft nur mäßig erfolg­ reich seien, eine Menge Geld erhielten. Ohne sie gäbe es weltweit geringere Menschenmas­ sen, weniger Verstädterung, weniger Umweltverschmutzung, weniger dadurch verursachte Krebserkrankungen usw. Allerdings gebietet der Anstand auch die Feststellung: Eine Welt ohne anwendungsorien­ tierte Wissenschaft wäre eine Welt mit Unterernährung, hoher Kindersterblichkeit, einer sehr reduzierten allgemeinen Lebenserwartung, ohne Möglichkeit, sich sowohl vor extre­ mer Hitze als auch vor bitterer Kälte zu schützen. Vor allem aber gilt es zu sehen, dass die erwähnten Probleme weder durch den technischen Fortschritt allein, noch durch ihre bloße Beschwörung in Belletristik, Literaturkritik und philosophischer Prinzipienanalyse behoben werden können, sondern nur durch Maßnahmen, die auch das Verstehen und Erklären jener biologischen, sozialen und ökonomischen Probleme einschließen, die zu bannen die angewandte Wissenschaft bemüht ist – also durch die Zusammenarbeit sehr unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen.

VII. Institutionelle Hemmnisse wissenschaftlicher Wahrheitsfindung Wie sind derzeit unsere Hohen Schulen und ihr politisches Umfeld gestaltet, an denen sich die wissenschaftliche Wahrheitssuche vollzieht oder vollziehen soll? Durch die Wissen­ schaftspolitik und die Wissenschaftsadministration wird in der Gegenwart im EU-Raum der Anwendungsbezug von wissenschaftlicher Forschung im Sinne einer Ökonomisierung gefördert, welche die Forscher selber zur Mittelakquisition veranlasst. Vom Wettstreit um knappe Mittel erhofft man sich dabei zweierlei: zunächst eine Stimulierung von „Innovation“ 53 Erwin CHARGAFF: Brevier der Ahnungen (Anm. 49), S. 53 f.

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– was immer auch darunter verstanden wird –, sodann aber eine Qualitätsermittlung von Forschungsarbeiten nach dem Prinzip „Auszeichnung durch ökonomisch indu­zierte Nach­ frage“. In diesem Sinn verstehen sich zahlreiche europäische Universitäten als Entre­preneurial Universities. (Diese Ökonomisierung der Hohen Schulen kontrastiert eigen­tümlich mit der Tatsache, dass die Schüler in den meisten europäischen Ländern, auch die an Gymnasien, die Schule verlassen, ohne auch nur eine Grundausbildung in Ökonomik erworben zu haben.54) Es geht nicht darum, das Konzept der Entrepreneurial University zum Anlass zu neh­ men, eine „neoliberale“ Verschwörung an den Hochschulen zu identifizieren. Aber auf gewisse Selbstmissverständnisse der Wissenschaftspolitik und der Hochschuladministra­ tion soll an dieser Stelle doch hingewiesen werden, auf die der Bielefelder Soziologe Stefan Kühl aufmerksam macht. „Eine Organisation“, so führt er aus, „wird erst dann zum Un­ ternehmen, wenn sie sich auf eine sehr spezifische Weise finanziert. Einfach gesagt: Un­ ternehmen finanzieren sich, anders als die meisten anderen Typen von Organisationen, über den Verkauf von Produkten oder Dienstleistungen an ihre Kunden. […] Die Re­ finanzierung von Organisationen über den Verkauf von Produkten und Dienstleistungen scheint ein Modell zu sein, das sich bei aller Kapitalismuskritik bei Maschinenbauern, Speiseeisproduzenten und Friseursalons bewährt hat. Aber es scheint nach dem grandiosen Scheitern vieler Privatisierungen besonders in Großbritannien und den Vereinigten Staaten einen weitgehenden politischen Konsens zu geben, dass nicht jeder existierende Organisa­ tionstypus auf eine Refinanzierung über den Verkauf von Produkten oder Dienstleistungen umgestellt werden sollte.“55 Solche Bedenken erscheinen geradezu zwingend, wenn wir uns vor Augen halten, welche Wirkung wohl eine Finanzierung von Polizei, Baubehörden oder Bezirksgerichten über den Verkauf von Dienstleistungen hätte. Dort, wo das Gemeinwohl in Gefahr ist, gewissen Neigungen zur Willfährigkeit oder auch Selbstkorrumpierung von Institutionen geopfert zu werden, erscheint deshalb eine Finanzierung ebendieser Ins­ti­tu­ tionen über Steuern als geradezu unverzichtbar. Wie die Geschichte zeigt, bestand ein zentraler Grund für die Leistungsfähigkeit der Universitäten in Forschung und Lehre darin, dass sie nicht genötigt waren, sich vorran­ gig über den Verkauf von Dienstleistungen an ihre Kunden zu finanzieren.56 Unter sol­ 54 Wenn aber in gewissem Umfang ein Ökonomik-Unterricht erfolgt, indem er in die Lehrpläne anderer Fä­ cher, wie etwa der Staatsbürgerkunde an den Gymnasien oder Oberschulen, hineingeschrieben wird, so heißt das, dass die ökonomische Ausbildung letztlich doch als randständiger Bereich behandelt wird. 55 Dieses, wie auch das unten folgende Zitat des Autors stammt aus Stefan KÜHL: Der Mythos von der unter­ nehmerischen Universität, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. Mai 2012, S. N 5. 56 Ähnliche Motive sowie die Absicht, das Gewicht der die verschiedenen sozialen Schichten sehr ungleich be­ lastenden Ausbildungskosten zu reduzieren, waren bereits dafür bestimmend, dass der große Liberale John Stuart Mill die Schulen von der von ihm befürworteten Entstaatlichung der Gesellschaft ausgenommen hat. Allerdings soll nicht ignoriert werden, dass die Staatlichkeit des Schulwesens in oft erheblichem Maße auch der institutionelle Garant einer weltanschaulich-politischen Indoktrination sein konnte.

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chen Bedingungen war es beispielsweise den österreichischen Universitäten möglich, sich in den Jahren zwischen ca. 1870 und 1918 in bestimmten Bereichen – man denke nur an die Physik, Medizin oder Ökonomik – aus dem Zustand einer vormals bestehenden wissenschaftlichen Unterentwicklung an die Weltspitze zu katapultierten. Wenn man, wie dies derzeit der Fall ist, immer wieder die US-amerikanischen Spitzenuniversitäten den europäischen Universitäten als Muster anempfiehlt, für diese aber zugleich eine weitge­ hende Entstaatlichung auch in ökonomischer Hinsicht propagiert, so wird fast immer die grundlegend andersartige Finanzierungsform der herausragenden privaten US-Univer­ sitäten außer acht gelassen. Durch Legate, Schenkungen, Stiftungen, Einkommen aus Lie­ genschaften, aber auch aus Patenten beziehen die Spitzenuniversitäten jenseits des Atlantik ein endowment, das sie von den Bindungen einer strengen Auftragsforschung unabhängig macht; und dieses disponible Kapital steht in einer für europäische Verhältnisse gerade­zu unvorstellbaren Höhe zur Verfügung: Schätzungen zufolge konnte das endowment einer US-Spitzenuniversität in den Jahren vor der Finanzkrise das Fünf- bis Zehnfache eines da­ mals für alle österreichischen Universitäten zur Verfügung stehenden Jahres­budgets betra­ gen. Auf der Grundlage solcher Voraussetzungen ist es in den USA nach wie vor möglich, Institutionen nach Art des Princeton Institute for Advanced Study einzurichten, wo es ja der ursprünglichen Absicht nach um Grundlagenforschung und vor allem auch um die Sicherung und Förderung von Arbeiten auf den Gebieten der Altertumsforschung und der Archäologie ging. Auch in Europa bemühen sich die seit der sogenannten Bologna-Reform autonom ge­wor­­­denen Universitäten um endowments – allerdings unter vorgängiger Restrukturie­ rung der Universitäten im Sinne von „unternehmerischen Hochschulen“. Angesichts der notori­schen Unterfinanzierung der Hochschulen sehen sich diese veranlasst, das Ein­ werben von Drittmitteln durch die an ihnen tätigen Forscher entschlossen zu forcieren und zugleich zu prämieren. Unausweichlich verlagern dabei die Erwartungen der poten­ tiellen Abnehmer wissenschaftlicher Erkenntnisse, also die Partikularinteressen gewis­ ser gesell­schaftlicher Gruppen, die Perspektive der in der Wissenschaft Tätigen von der Grundlagenfor­schung auf die angewandte Forschung, damit aber auch die Definitionsho­ heit über sinnvolle Forschungsthemen und fruchtbare Forschungsergebnisse vom Bereich der Wissenschaft auf externe Akteure und deren Interessen. Zunehmend werden in den so genannten Zielvereinbarungen mit den Vorgesetzten Leistungserwartungen gegenüber Wissenschaftlern durch die Bestimmung der Höhe von Drittmitteln quantitativ bestimmt, und in nicht unbedeutendem Umfang kompensiert die Akquisition externer Forschungs­ zuwendungen die eingehendere Befassung mit dem wissenschaftlichen Wert der solcher­ maßen geförderten Forschung, ihrer Methoden und der erzielten Resultate. Eine derartige Form der Drittmittelabhängigkeit birgt Gefahren in sich: einerseits die des Aufkommens von autoritären, namentlich die Forschungsorientierung von jüngeren Wissenschaftlern

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steuernden Führungskonstellationen, andererseits die der Preisgabe wissenschaftlicher Ob­ jektivität durch Gefälligkeitsgutachten und Legitimationsbeschaffung, etwa für interes­ sierte Unternehmen bzw. politische Grppierungen. Andere negative Auswirkungen einer durch außerwissenschaftliche Interessen in Dienst genommenen Wissenschaft haben An­ gela Spelsberg und Matthias Burchardt am Beispiel manipulierter Studiendaten bei Gene­ rika und patentgeschützten Medikamenten aufgezeigt. „Für die finanzierende Firma kommt es nicht darauf an, dass die Wahrheit über Wirksamkeit und Nebenwirkungen des jeweiligen Präparates das Licht der Öffentlichkeit erblickt, sondern dass sie dieses Produkt so teuer und schnell wie möglich vermarkten kann. […] Alle Studiendaten sind Eigentum des Herstellers; er allein entscheidet darüber, was veröffentlicht wird und was nicht. […] Auf die veröffentlichten Forschungsergebnisse ist kein Verlass mehr.“57 Derartiges hat aber bislang den Eifer der Befürworter der Entrepreneurial University nicht geschmälert. Und dennoch werden Bedenken laut: „Wenn Hochschulen sich […] als ‚unternehmerische Hochschule‘ bezeichnen oder – was häufiger vorkommt – Hoch­schulen von hochschulpolitischen Lobbyorganisationen dieses Konzept eingeflüstert wird, dann geht es“, wie Stefan Kühl ausführt, „um die Übernahme von Managementinstrumenten, die sich vermeintlich in Unternehmen bewährt haben: Kennziffern sollen in der Organisa­ tion erhoben, Zielvereinbarungen abgeschlossen, ein übergreifendes Qualitätsmanagement eingeführt, Kundenbefragungen durchgeführt, das Controlling verstärkt und die Leistungs­ anreize intensiviert werden.“ Die Vergabe von grants kontrastiert allerdings oft drastisch mit den Bedingungen der für Unternehmen charakteristischen Kreditaufnahme. Ein Unterneh­ mer erhält von einer Bank einen Kredit, wenn er ein erfolgversprechendes Geschäftsmodell vorlegen kann. Dabei wird auch der Erfolg seiner bisherigen Geschäftspraxis berücksichtigt. Sowohl für den Kreditgeber als auch den Kreditnehmer ist der Umstand von entscheidender Bedeutung, dass das geplante Projekt im Anschluss auch tatsächlich erfolgreich umgesetzt wird, und eine entsprechende Kontrolle gibt darüber Aufschluss. Man würde vermuten, dass es sich auch bei grants und Stipendien an europäischen Universitäten so verhält. Das ist aber eben gerade in vielen Fällen überhaupt nicht der Fall. So wird beispielsweise in der gegenwärtigen österreichischen Exzellenzdiskussion insbesondere der Erhalt eines grants als Nachweis wissenschaft­licher Exzellenz gefeiert, während den Ergebnissen in der öffentli­ chen Wahrnehmung nur eine geringe Bedeutung zukommt. Viele Evaluatoren erleichtern sich ihre Aufgabe unter Anerkennung des schon einmal eingefahrenen Erfolgs eines Antrag­ stellers und ersparen sich so eine eingehendere Prüfung von dessen Leistungen. Es waltet hier der sogenannte Matthäus-Effekt: „Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fül­ le habe; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat“, wie es im Gleich­ 57 Angela SPELSBERG, Matthias BURCHARDT: Unter dem Joch des Drittmittelfetischs, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. Januar 2015, S. 8.

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nis von den anvertrauten Zentnern aus dem Matthäus-Evangelium heißt.58 Überhaupt schafft der Wettbewerb um Forschungsgelder, wie Jürgen Kaube ausführt, „seine eigene Wirklichkeit, indem nicht einfach verglichen wird, was an Forschung vorliegt, sondern Forschung erwartungs­konform und in Antizipation der zu liefernden Kennziffern (Pro­ movendenzahl, Drittmittelhöhe, Publikationsfrequenz etc.) entworfen wird.“59 Eine traurige Angelegenheit ist nach Auffassung von Gottfried Schatz, dem ehema­ ligen Vorsitzenden des Schweizerischen Wissenschafts- und Technologierates, auch die Wissenschaftsbürokratie der Europäischen Union. Wie er betont, waren es deren Wissen­ schaftsminister, die in Lissabon im Jahre 2000 beschlossen, die EU zum kompeti­tivsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Wohlgemerkt: Es waren die Wissen­ schafts-, und nicht die Wirtschaftsminister, und sie sahen in der Stärkung der Wirtschaft das oberste Ziel von Europas Wissenschaft! Während aber die Wirtschaft frei sein soll, soll die Wissenschaft gelenkt werden; so sollen etwa die am EIT-(European Institute of Techno­logy-)Netzwerk beteiligten Institute politisch korrekt über die Mitgliedstaaten der EU verteilt sein und alle Fäden in Brüssel zusammenlaufen. „Offizielle Netzwerke“, so führt Schatz aus, „können […] für angewandte Forschung nützlich sein, in der das Ziel klar definiert ist und bereits bekanntes theoretisches Wissen praktisch verwertet werden soll. Ein gutes Beispiel dafür ist die klinische Forschung am Patienten, die Wissen und Methoden aus unterschiedlichen Disziplinen auf ein gemeinsames Ziel fokussiert. Lang­ fristige Grundlagenforschung hat jedoch eine andere Psychologie, da sie viel stärker von Neugier und Intuition bestimmt wird. Und deswegen ist es kontraproduktiv, einer Grund­ lagenforschung vorzuschreiben, sie müsse ‚fokussiert‘, ‚relevant‘ und ‚interdisziplinär‘ oder in von oben verordneten Netzwerken erfolgen.“60 In der Tat erstickt Wissenschaftspoli­ 58 Daraus erklärt sich unter anderem auch der Umstand, dass vergangene Rankings die stärkste Vorhersagekraft für gegenwärtige Rankings haben. Es ist offensichtlich, dass auf diese Weise gerade das vielgerühmte Modell der unternehmerischen Universität frivol unterlaufen wird. Und das reale Vorbild „Harvard“ – darunter tut man es ja nicht – und die dort bestehende Praxis von Zwischen- und Endevaluierungen wird weitgehend ignoriert. 59 Jürgen KAUBE: Universität, Prestige, Organisation, in: Ders., Im Reformhaus. Zur Krise des Bildungssys­ tems, Springe 2015, S. 75 –91, hier S. 86. – In den Geistes- und Sozialwissenschaften hatte die Dominanz einer derartigen Orientierung unter anderem die Ablösung des introvertierten und mitunter auch skurrilen, aber doch nie käuflichen und sich leidenschaftlich den Sachproblemen hingebenden Gelehrten durch den über Geldmittel verfügenden und sich ein Forschungsimperium errichtenden geschäftsführenden Beamten zur Folge, der, wie Stanislav Andreski meinte, „seine Meinungen, Haltungen und moralischen Vorstellungen wie Freunde auswählt, d.h. entsprechend ihrer Brauchbarkeit für seine Karriere“. (Vgl. Stanislav A ­ NDRESKI: Die Hexenmeister der Sozialwissenschaften. Mißbrauch, Mode und Manipulation einer Wissenschaft. Dt. v. Christa Dericum, München 1977, S. 245.) 60 Gottfried SCHATZ: Gefährdete Wissenschaft (Festvortrag im Rahmen der Feierlichen Sitzung der Öster­ reichischen Akademie der Wissenschaften am 17. Mai 2006), in: Österreichische Akademie der Wissen­ schaften: Almanach 2005/2006, 156. Jahrgang, Wien 2006, S. 299 –307, hier S. 305.

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Wahrheit, Wissenschaft, Verwertbarkeit

tik eher das, was sie fördern sollte, wenn sie in der Absicht, „Innovation“ zu generieren, den akademischen Nachwuchs zunehmend auf die Kommunikation, die self-promotion, das networking und die Vermarktung hin orientiert sowie – parallel dazu – der Forschung allzu konkrete Ziele verordnet und Wissenschaft rigide plant. Denn „wirklich innovative Grundlagenforschung schafft sich oft erst“, wie Schatz bemerkt, „ihre eigenen Ziele. Wenn diese bereits von Anfang an feststünden, kann die Forschung gar nicht innovativ sein. War Nietzsche vernetzt? War Max Planck interdisziplinär? Die Fragen sind unsinnig.“61 Obschon die verordnete Befassung mit den als karriererelevant eingeschätzten Z ­ ielen nicht selten ihre intrinsische Motivation ersetzt und sie sich zudem oft von den Wissen­ schaftsadministratoren aus der eigenen Institution gleichermaßen wie von der Wissenschafts­ politik hintergangen fühlt, hat sich bislang die Mehrheit der jüngeren Wissenschaftler an den Universitäten den der Unternehmensberatung und dem modernen Management ent­ lehnten Verfahrenstechniken, die auf sie zur Anwendung kommen, ohne nennenswerte Gegenwehr ergeben. Nicht wenige der Besten unter ihnen weichen aller­dings in außeruni­ versitäre Bereiche aus und überlassen die Hohen Schulen auf diese Weise fügsameren und bescheideneren Gemütern.

Schluss: Aus dem Katechismus wissenschaftlicher Wahrheitssucher So ist also die Gegenwart doch wieder einmal – mit Ambrose Bierce gesprochen – „jener Teil der Ewigkeit, der den Bereich der Enttäuschung von jenem der Hoffnung scheidet“.62 Aber es besteht doch auch Hoffnung, zu der die bunte und abwechslungsreiche Geschichte der europäischen Universitäten Anlass gibt. Und so kann es ja sein, dass die Barbarenstürme von wissenschaftspolitischen Ökonomisten und universitären Administra­tionserotikern wieder vorübergehen. Die freie Forschung mag bis dahin zwar Schaden nehmen, aber einige Wissenschaftler werden der sozialen Anpassung sowie dem Nützlich­keits- und Verwer­ tungsdruck dennoch widerstehen. Deren Ethos gründet sich, wie man vermuten darf, auf einen bislang nicht ausformulierten Katechismus, der sowohl der kognitiven als auch der charakterlichen Deformation im Wissenschaftsbetrieb vorbeugen soll. Unter anderem ent­ hält er die folgenden zehn Maximen:63

61 Ebd. 62 Ambrose BIERCE: Aus dem Wörterbuch des Teufels. Auswahl, Übersetzung und Nachwort von Dieter E. Zimmer, Frankfurt a. M. 1966, S. 28. 63 Die Gebote 1 und 8 in diesem Katechismus stammen aus Clemens ALBRECHT: Vom Aufstieg und Nie­ dergang der Geisteswissenschaften, in: Karl Acham (Hg.), Kunst und Geisteswissenschaften aus Graz, Wien 2009, S. 721–727, hier S. 727.

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1. WISSENSCHAFTLICHKEIT

1. Diene der Wissenschaft, nicht ihrem Marketing! 2. Du wirst nur wenig sehen, wenn Du erkennen willst, noch ohne etwas richtig zu ken­ nen, wenn Du auf Deine Weltanschauung stolz bist, noch ohne die Welt richtig ange­ schaut zu haben. 3. Wissenschaftliche Wahrheit zeigt sich in vielen Formen, und nicht nur in einer einzi­ gen: als Beschreibung, verstehende Deutung, Erzählung, Modellbildung, nomologi­ sche Hypothese, Erklärung, Vorhersage. Überlege Dir, ob Du in Deinem Verständnis von Wissenschaft nicht durch bestimmte Formen voreingenommen bist ! 4. Hoffe darauf, nicht nur Wissen, sondern auch Klugheit zu erwerben! Denn nicht die Wissenschaft selber gibt Auskunft darüber, welche Wissensform welchem Erfahrungs­ inhalt angemessen ist. 5. Lass Dich nicht von Deinem Bedürfnis nach Sicherheit dazu verleiten, Ursachen, Gründe und Verallgemeinerungen zu postulieren, statt sie zu suchen! 6. Wehre Dich beizeiten gegen die Auffassung, die Funktion der Wissenschaft sei die Er­ haltung der Wissenschaftler, und die Funktion der Wissenschaftler sei die Erhaltung der Wissenschaftsadministration! 7. Tritt für die Wahrheit ein, wer immer sie sagt, aber vergiss nicht: „Es gibt“, wie schon Karl Kraus wusste, „Wahrheiten, durch deren Entdeckung man beweisen kann, daß man keinen Geist hat“ ! 64 Und es gibt andererseits Fiktionen, die eine Wahrheit ent­ hüllen, welche die Realität verschleiert. 8. Lehre Inhalte und Methoden, nicht Kompetenzen ! 9. Trage dazu bei, die Wissenschaft als eine Technik anzusehen, die den menschlichen Hang zu überlisten hilft, die Wahrheit zu meiden oder zu verzerren! 10. „ Alles sollte so einfach sein wie möglich, aber nicht einfacher.“ 65

64 Karl KRAUS: Aphorismen und Gedichte (Anm. 46), S. 90. 65 In dieser Form von Louis Zukofsky in der Zeitschrift Poetry im Juni 1950 Albert EINSTEIN zugeschrieben: „Everything should be as simple as it can be, but not simpler.“

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2. KULTURWISSENSCHAFTEN Vorbemerkung Die Kulturwissenschaften werden, wie schon in der Einleitung zu dem vorliegenden Buch ausgeführt wurde, als jene Geistes-, Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften verstanden, welche die Phänomene der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt unter Wertge­ sichtspunkten analysieren, und das heißt: einerseits hinsichtlich des „Eigenwertes“ jener Phänomene, andererseits bezogen auf deren Kulturbedeutung für ihre eigene oder auch für eine andere Zeit. Noch Dilthey bezeichnete diese Disziplinen allesamt als „Geisteswissenschaften“. Erst mit der Ausdifferenzierung der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften und der Er­richtung entsprechender Fakultäten neben den seit altersher bestehenden Rechtsfakultäten wurde der Umfang des mit „Geisteswissenschaften“ Gemeinten eingeengt auf die philosophischen und die philologisch-historischen Disziplinen. Die Geisteswissenschaften im alten und die Kulturwissenschaften im neuen Verständnis wurden früher auch als „Humaniora“ bezeichnet und firmieren im Englischen als „human­­ ities“, im Italienischen als „scienze umane“, im Französischen als „humanités“. Sie betreffen einerseits die deutende Vergegenwärtigung der Geschichte von Politik, Wirtschaft, Recht, Religion, Kunst, Sitte und Moral einer Gesellschaft, einschließlich der Analyse ihrer normativen Grundlagen, andererseits das Auffinden von Regeln und Gesetzmäßigkeiten in und zwischen den erwähnten Bereichen. Die gewonnenen empirischen Ver­allgemeinerungen und nomologischen Hypothesen, welche sich sowohl auf Handlungsgründe und Hand­ lungsfolgen, als auch auf institutionelle Regeln beziehen können, sollen nach erfolgter Deutung des jeweiligen Phänomens, also nach dem „aktuellen Verstehen“ im Sinne Max Webers, die angemessene Erklärung jenes Phänomens, also dessen „erklärendes Verstehen“ möglich machen. Verschiedene Vertreter eines radikal naturalistischen Positivismus haben bereits früh einen Kampf gegen die Geisteswissenschaften mit dem Argument geführt, dass alle Er­kenntnis der Wirklichkeit, auch die der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt, nach dem Vorbild der exakten Naturwissenschaften zu konzipieren sei. Dadurch sei es möglich, dass die Geisteswissenschaften, anstatt weiterhin unnütze Gelehrsamkeit zu produzieren, die Kulturerschei­nungen endlich in ihrer naturhaften Gesetzmäßigkeit erfassen würden. Doch diese Angriffe stärkten zunächst eher die Geisteswissenschaften einschließlich der historischen Rechts-,

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2. KULTURWISSENSCHAFTEN

Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, als dass sie sie geschwächt hätten. Diese auf die histo­risch-kulturellen Besonderheiten gerichteten Disziplinen gelangten im 19. Jahrhundert zu großartiger Entfaltung. Während die Naturwissenschaften die Daseinsumstände revolutionierten, schufen die Geisteswissenschaften herkömmliche Formen des Daseins­ verständnisses insofern vollständig um, als sie nicht nur die Besonderheit nationaler politischer, rechtlicher, wirtschaftlicher und kultureller Ordnungen herausgearbeitet und analysiert haben, sondern auf dieser Grundlage auch fremde Kulturen zu verstehen suchten: „So haben sie kulturelles Verständnis und kulturelle Identität gestiftet. Aus Staatsnationen wurden Kulturnationen, als die Geisteswissenschaften, indem sie das Erbe ins Bewußtsein hoben, Gemeinsamkeiten schufen, wo die neue Daseinsorganisation nur Privatmeinungen und Interessengruppen erzeugte. In dieser Weise vermittelten sie dem politischen Gemeinwesen gemeinsame Überzeugungen und Werte. Sie trugen damit auch wesentlich zu allen nationalen Bewegungen bei, die in der Besinnung auf ihre kulturelle Gemeinsamkeit das Selbstbestimmungsrecht der Völker praktisch einforderten. Aber sie schufen auch übernationale Kulturidentitäten.“1 Im 20. Jahrhundert sollten die Geisteswissenschaften eine bedeutsame Erweiterung der unter sie fallenden Wissenschaftsdisziplinen erfahren, verschiedentlich aber auch einen Wandel ihrer Funktionsbestimmung.2

1 Friedrich TENBRUCK: Was sind und was sollen die Geisteswissenschaften heute?, in: Ders., Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. Der Fall der Moderne, Opladen 1989, S. 175 –186, hier S. 177. 2 Teile der folgenden Studie sind unter dem Titel „Wozu kulturwissenschaftliche Forschung heute?“ erschienen in: D. Aleksandrowicz, Karsten Weber (Hgg.), Kulturwissenschaften im Blickfeld der Standortbestimmung, Legitimierung und Selbstkritik, Berlin 2007.

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Wozu kulturwissenschaftliche Forschung heute ? „Darin aber finde ich einen sehr schweren Mangel unserer Studienart, daß wir dem naturwissenschaftlichen Lehrgebiet mit größerem Eifer obliegen, das moralische aber nicht so wichtig nehmen, und vor allem den Teil, der von der Natur des menschlichen Geistes und seinen Leidenschaften im Hinblick auf das bürgerliche Leben und […] von den Verschiedenheiten der moralischen Charaktere je nach Alter, Geschlecht, Stellung,Vermögen, Herkunft, Staatswesen, und von der Regel des Geziemenden, die von allen die schwerste ist, handelt […]. Da heute das einzige Ziel der Studien die Wahrheit ist, richten wir unsere Forschung auf die Natur der Dinge, weil sie gewiß zu sein scheint. Die Natur der Menschen aber erforschen wir nicht, weil sie durch die Willkür völlig ungewiß ist.“ Gian Battista Vico, De nostri temporis ratione [1708]. Vom Wesen und Weg der geistigen Bildung. Lat. u. dt. Ausgabe. Übertr. v.W. F. Otto, Bad Godesberg 1947 (3. Nachdr., Darmstadt 1984), Stück VII

Einleitung Seit Beginn des 19.  Jahrhunderts ereigneten sich in Europa in den nicht zu den Natur­ wissen­­schaften zählenden Forschungsbereichen zahlreiche Neuschöpfungen von wissenschaftlichen Disziplinen. Als besonders bedeutsame sind hier die vielfältig differenzierten Geschichts- und Sprachwissenschaften sowie die Philologien zu nennen, aber auch die Kunstgeschichte und die Musikwissenschaft; hinzu kamen an Disziplinen zur Erforschung der gesell­schaftlich-geschichtlichen Welt vor allem die damals mehrheitlich noch historisch betriebene National­ökonomie, eine ganze Reihe neuer historisch-systematisch ­betriebener Rechtsfä­cher, ferner die Völkerkunde, die Psychologie und die Pädagogik. Die eher auf Singuläres ge­richteten und im Sinne Wilhelm Windelbands „idiographisch“ vorgehenden Geisteswissenschaften3 entwickelten sich gemeinsam mit den zu ihnen in einer symbio­ti­­schen Beziehung stehenden „nomothetischen“, also Regeln und Generalisierungen beein­haltenden ­rechts-, sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Disziplinen zu „Kulturwissenschaften“ im Sinne von ­Heinrich Rickert 4 und Max Weber. Vor allem nach dem Ende des Ersten Weltkriegs machte sich allerdings eine Tendenz in Richtung einer Zweiteilung der kul3 Vgl. Wilhelm WINDELBAND: Geschichte und Naturwissenschaft. Rede zum Antritt des Rectorats der Kaiser-Wilhelms-Universität Strassburg, geh. am 1. Mai 1894, Strassburg 1894; wiederabgedruckt in: Ders., Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte, Bd. 2, Tübingen 1915, S. 136 –160. 4 Vgl. Heinrich RICKERT: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung [1896], 5. Aufl., ­Tübingen 1929; Nachdruck Hildesheim 2007; Ders.: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Freiburg 1899; Neuauflagen: Stuttgart 1986, Berlin 2013. – Max Webers Verständnis von Kulturwissenschaft schließt hier an.

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2. KULTURWISSENSCHAFTEN

turwissenschaftlichen Aktivitäten bemerkbar: auf der einen Seite die Geisteswissenschaften im engeren Sinn, die für die le­bens­philosophische oder existentielle Sinnfindung als bedeutsam angesehen wurden, auf der anderen die Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, welche, der aktuellen Bewältigung gesellschaftlicher Probleme zugewandt, auch auf zukunfts­bezogenes Wissen abzielten. Fragen der Ethik und der Ästhetik wurden in der Folge häufig abgetrennt von der institutionellen Einbettung moralischen Handelns oder künstlerischen Schaffens erörtert, da die Institutionenlehre nun vor allem zu einer Sache der Soziologie avancierte. Was vormals die praktische Philo­sophie besorgte, hatte durch diese Trennung keinen Ort mehr.5 Die Geisteswissenschaften wurden so zunehmend als bedeutsam für die individuelle Selbsterfahrung angesehen, was aber ihre Aufgaben im Kontext der zeitgenössischen Gesellschaft sind, blieb ungeklärt. Während sie noch in der Zeit von Dilthey und Wilhelm Wundt in enger Beziehung zu den Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften standen, ging diese Beziehung nach und nach in Brüche. In der zeitgenössischen europäischen Wissenschafts­politik sehen sich die Geisteswissenschaften im engeren Sinn mit einem neuen Problem konfrontiert. Nun führt nämlich eine durch ökonomische Interessen angeleitete Wissenschaftsplanung häufig zur Abwertung oder auch Marginalisierung ihrer Disziplinen, einschließlich der nicht primär anwendungs-, sondern historisch orientierten Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Gegenwärtig ist die Universität mehr und mehr im Begriff, von externen Zielsetzungen bestimmt zu werden, und so fordert die angeblich im Interesse der „Wissensgesellschaft“ tätige politische Klasse Praxiswissen nach Maßgabe seines Marktwertes. Auch der Wert von Theorie bemisst sich demzufolge nach dem Primat einer spezifischen Praxis. Es sind jedoch nicht allein die damit verbundenen veränderten universitären Strukturen, welche einen Reputationsschwund jener Disziplinen bewirkten. Ein wichtiger Grund dafür ist auch in der nicht eben seltenen, durch deren Repräsentanten selbst betriebenen Verwahrlosung der Standards ihrer jeweiligen Disziplin zu finden. Die einstmals verpflich­tende Kenntnis klassischer Werke sinkt an Europas Schulen, und auch in immer mehr Bereichen der universitär betriebenen Geisteswissenschaften gibt es nicht mehr einen Bestand kanoni­ sierter Literatur und verbindlicher Methoden. In einem Maße wie dies in den Naturwissenschaften undenkbar ist, kam es hier einerseits durch Prämierung des Metho­denpluralismus, andererseits unter dem wachsenden Druck, „innovativ“ und „originell“ zu sein, zu einer Vermehrung von ökologischen Nischen und „Alleinstellungsmerkmalen“ bis hart an die Grenze der thematischen und methodologischen Beliebigkeit. Dies verringert den Stellenwert dieser Disziplinen sowohl im Verbund der Wissenschaften als auch in weiten Teilen 5 Siehe dazu Gunter SCHOLTZ: Zum Strukturwandel in den Grundlagen kulturwissenschaftlichen Denkens (1880 –1945), in: Geschichtsdiskurs, Bd. 4: Krisenbewußtsein, Katastrophenerfahrungen und Innovationen 1880 –1945. Hrsg. von Wolfgang Küttler, Jörn Rüsen, Ernst Schulin, Frankfurt a. M. 1997, S. 19 –50, hier v. a. S. 41– 43.

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Wozu kulturwissenschaftliche Forschung heute ?

der wissenschaftlich interessierten Öffentlichkeit. Eine Wiederherstellung der Reputation wird gewiss nicht durch die ziellose Vermehrung von sachlich und methodisch diffuser Forschung erfolgen können, wohl aber durch Einlösung des die Klassiker unter den Kulturwissenschaftlern kennzeichnenden Bestrebens, die geschichtliche Wirklichkeit nach Maßgabe der mit aktuellen Hoffnungen und Befürchtungen verbundenen Interessen je­ weils neu zu ordnen, jedoch so, dass die Weltdeutungen und die Träume von heute in dem Wissen um die allgemeinmenschlichen Daseinsbedingungen einen Gegenhalt finden. Auf einiges hier Besprochene wird noch zurückzukommen sein, doch nun zum Versuch einer schrittweise erfolgenden Beantwortung der Frage: Wozu kulturwissenschaftliche Forschung heute?

I. Ein lateinischer Fragealgorithmus Will man die für die vorliegende Abhandlung konstitutive Frage nach dem „Wozu“ der Kulturwissenschaften – also der mit Fragen des Wertgeschehens und der Analyse der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt befassten Geistes-, Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften – erörtern, so erscheint es angezeigt, sich eines aus der aristotelischen Tradition hervorgegangenen lateinischen Juristenspruchs zu bedienen, der später in Beichtspiegeln verwendet wurde: „Quis, quid, ubi, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando?“ („Wer, was, wo, womit, warum, wie, wann?“) Durch Benutzung dieses Frage-Algorithmus sollte verhindert werden, dass bei der Erhebung eines Straftatbestandes und beim Schuldbekenntnis wesentliche Aspekte eines Deliktes bzw. einer sündhaften Handlung ausgelassen werden. Es geht hier nicht darum, Aktivitäten von Forschern Strafgerichten oder Beichtvätern zu überantworten – so weit reicht hier selbst eine vorauseilende Bereitschaft zur Selbstkritik nicht. Aber der erwähnte Katalog kann doch dazu nützlich sein, die Frage, wozu 6 Menschen im Allgemeinen, Geistes- und Sozialwissenschaftler im Besonderen forschen, durch die Berücksichtigung von damit in Beziehung stehenden anderen Fragen zutreffender zu erörtern. Vier Fragen der insgesamt sieben im Katalog enthaltenen werden hier nicht näher erörtert werden: ubi ? – wo?, quando? – wann?, quomodo ? – wie ?, und quis ? – wer ? Und doch hätte die Beantwortung der im Folgenden nicht behandelten Fragen für eine angemessene Klärung der „Wozu“-Frage, welche im Zentrum der vorliegenden Betrachtungen steht, mitunter durchaus Gewicht. So macht es einen großen Unterschied, ob man – im Sinne der Frage nach dem „Wo“ und „Wann“ – beispielsweise als Biologe, Historiker oder Philo­soph in den 1930er Jahren in der Sowjet­union und im Deutschen Reich oder in den 1990er Jahren in Russland bzw. Deutschland am Werk war. Gleichermaßen wäre eine eingehende Erörterung der Frage nach dem „Wie “ von Bedeutung, um 6 Zu verstehen als Frage nach dem „Warum“ (cur ?  ) im Sinne der causa finalis.

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2. KULTURWISSENSCHAFTEN

die methodische Konstituie­r­ung des Forschungsgegenstandes besser begreifen zu können. Was schließlich die Frage nach dem „Wer “ angeht, so wird sowohl das „Was“ als auch das „Wie“ der Forschung durch die Persönlichkeit des Forschers mitbestimmt. Die Sache liegt hier ähnlich wie im Fall des Philosophen, von welchem Johann Gottlieb Fichte in der Einleitung zu seinem Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre meinte: „Was für eine Philosophie man wähle, hängt […] davon ab, was man für ein Mensch ist.“ 7 Wie objektiv so etwa ein Geistes- oder Sozialwissenschaftler ist, ist auch eine Sache der von ihm aufgeworfenen Fragen und der durch ihn – mitunter gegen äußeren Wider­stand – zum Einsatz kommenden Methoden. Man muss also offenbar in einem gewissen Maße objektiv sein, um Objektivität zu bewirken. Hier geht es nun zunächst um die Beantwortung der beiden Fragen quid  ? – was ? – und ­quibus auxiliis ? – womit ? –, ehe die Frage nach dem „Warum“ oder „Wozu“ erörtert wird.

II. „Quid ?“ – Zum Gegenstand der Geistes- und Sozialwissenschaften Es war Sokrates, der in der griechischen Philosophie eine Wende bewirkte: weg von der Naturkunde, hin zur Menschenkunde. Er selber verwies auf eine Tempelinschrift in Delphi, die er als eine Maxime seines Denkens verstand: „Gnōthi seautón“ –„Erkenne dich selbst !“. Cicero meinte, Sokrates habe als erster die Philosophie vom Himmel herabgerufen und dazu angehalten, über das Leben, über das Sich-Benehmen sowie über den Unterschied von Gut und Schlecht nachzufragen.8 Und Hegel bezeichnete Sokrates in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie als „welthistorische Person“ und „Hauptwendepunkt des Geistes“, mit dem „die Reflexion des Bewußtseins in sich selbst, das Wissen des Bewußtseins von sich als solchem“ beginne.9 Schon früh war man bestrebt, in den Wissenschaften vom menschlichen Geist nicht nur den sogenannten „subjektiven Geist“, also das Psychische, sondern auch die von ihm hervorgebrachten Resultate, den „objektiven Geist“, zum Gegenstand jener Forschungen zu machen, die seit Hegel als „Wissenschaft des Geistes“ der „Wissenschaft der Natur“ gegenübergestellt wurden. Hermann Helmholtz übernahm in seiner berühmten Rektoratsrede „Über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Gesamtheit der Wissenschaft“, gehalten in Heidelberg am 22. November 1862, die Einteilung in Natur- und Geisteswissenschaften von Hegel und grenzte sich nur inhaltlich von ihm ab. 1862 und 1863 erschien auch die 7 Johann Gottlieb FICHTE: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, in: Werke. Hrsg. von Imanuel Heinrich Fichte (= Nachdruck der Sämmtlichen Werke in acht Bänden, Berlin 1845/46, und der Nachgelassenen Werke in drei Bänden, Bonn 1834 /35), Bd. I, Berlin 1971, S. 434. 8 So im fünften Kapitel seiner Tusculanischen Gespräche. 9 Georg Wilhelm Friedrich HEGEL: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: Ders., Werke in zwanzig Bänden, Bd. 18, Frankfurt a. M. 1971, S. 441 und 468.

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Wozu kulturwissenschaftliche Forschung heute ?

erste­vollständige deutsche Übersetzung von John Stuart Mills 1843 erschiene­nem Werk System of Logic, dessen sechstes Buch in der deutschen Übersetzung den ­Titel Logik der Geisteswissenschaften trägt. Dilthey entschloss sich 1883 in seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften zur Übernahme dieses Ausdrucks und nannte als Gegenstand der Geisteswissenschaften das „Ganze der Wissenschaften, welche die geschichtlich-gesell­schaftliche Wirklichkeit zu ihrem Gegenstande haben“. Heinrich Rickert sollte später den Naturwissenschaften die um die Sozialwissenschaften erweiterten Geisteswissenschaften unter der Bezeichnung „Kulturwissenschaften“ an die Seite stellen.10 Dieses Verständnis von Kulturwissenschaften ist, wie bereits erwähnt, auch für die vorliegende Studie bestimmend.11 Der für die so bezeichneten Disziplinen kons­titutive Gegensatz war seit Rickert nicht mehr der zwischen „Natur“ und „Geist“, sondern der zwischen „Natur“ und „Kultur“. Diesem Gegen­satz ließ sich unschwer derjenige von Gesetzen und Regeln bzw. gesetzesgeleitetem Geschehen und regelgeleitetem Verhalten zuordnen, wie dies an den beiden verschiedenen Varianten der Anthropologie: der Physi­schen Anthropologie und der Kulturanthropologie, exemplarisch belegbar ist. Durch diese Unterscheidung wird allerdings eine mögliche Wechselwirkung zwischen den Inhalten des Wertgeschehens und des Naturgeschehens, der moral sciences und der Science, nicht prinzipiell in Abrede gestellt.12 10 Siehe dazu die in Anm. 4 angeführten Literaturhinweise. 11 Die Literatur über den Gegenstand und die Methoden der keineswegs einheitlich verstandenen „Kulturwissenschaften“ (oder auch „Kulturwissenschaft“ im Singular) ist geradezu unerschöpflich. Eine kurze Auswahl an jüngeren Titeln aus dem deutschen Sprachraum muss hier genügen. Johannes ANDEREGG, Edith Anna KUNZ (Hgg.): Kulturwissenschaften. Positionen und Perspektiven, Bielefeld 1999; Hartmut BÖHME, Peter­MATUSSEK, Lothar MÜLLER: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will, Reinbek b. Hamburg 2000; Markus FAUSER: Einführung in die Kulturwissenschaft, Darmstadt 2003; Ralf KONERSMANN: Kulturphilosophie zur Einführung, Hamburg 2003; Klaus P. HANSEN: Kultur und Kulturwissenschaft. Eine Einführung, 3. Aufl., Tübingen-Basel 2003; Heinz Dieter KITTSTEINER (Hg.): Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten, Paderborn 2004; Ansgar NÜNNING (Hg.): Grundbegriffe der Kulturtheorie und Kulturwissenschaften, Stuttgart 2005; Stephan MOEBIUS, Dirk QUADFLIEG (Hgg.): Kultur. Theorien der Gegenwart, Wiesbaden 2006; Aleida ASSMANN: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen, 2. Aufl., Berlin 2008; Roland BORGARDS (Hg.): Texte zur Kulturtheorie und Kulturwissenschaft, Stuttgart 2010. (Hier weitere einschlägige Literaturhinweise.) 12 Ähnlich bilden sich ja auch die verschiedenen Wertpräferenzen unter dem Einfluss bestimmter sozialer und natürlicher Bedingungen aus und entwickeln sich weiter. Friedrich Nietzsche hat dem im Hinblick auf moralische Sachverhalte mit der Feststellung Ausdruck verliehen: „Ich verstehe unter ‚Moral‘ ein System von Wertschätzungen, welches mit den Lebensbedingungen eines Wesens sich berührt.“ (Friedrich NIETZSCHE: Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, in: Werke in drei Bänden, Dritter Band, Darmstadt 1963, S. 415 –925, hier S. 925.) – In welchem Maße etwa ökologisch-ökonomische Gegebenheiten die demographischen Bedingungen, und diese wiederum das Wertgeschehen im derzeitigen Europa beeinflussen, wird deutlich bei Walter LAQUEUR: Europa im 21. Jahrhundert, in: Merkur 59, Nr. 676 (August 2005), S. 653 –  666.

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2. KULTURWISSENSCHAFTEN

Untersucht man die Ursprünge jener Disziplinen, die es mit den Inhalten des „objektiven Geistes“ zu tun haben, also die Kulturwissenschaften, so sind es, wie Gunter Scholtz gezeigt hat,13 vier Entwicklungsschritte, welche den Umfang dieses Wissenschaftsbe­reichs bestimmen. Die Systemstelle der Kulturwissenschaften besetzten (1) in der platonischen Tradition die moralisch-politischen Wissenschaften, also Ethik und Politik; (2) in der humanistischen Tradition seit der Renaissance die philologischen Disziplinen, verstanden als das Studium der Quellen der Humanität im Dienste der individuellen und national-kulturellen Bildung, wobei vor allem den klassischen Sprachen, aber auch den Sprachen der Kunst – der Bilder- und der Tonsprache – besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde; (3) seit dem 18. und insbesondere dem frühen 19. Jahrhundert die geschichtlichen Wissen­­ schaften, bezogen auf ganz unterschiedliche Sachbereiche, einschließlich der Ethik und Staats­ lehre sowie einer Vielzahl von philologischen und sprachwissenschaftlichen Disziplinen;14 (4) insbesondere seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die intensivierten Reflexio­ nen auf Handlung, Sprache, Geschichte und Weltanschauung. Diese Reflexionen vollzogen sich insbesondere in Gestalt der Hermeneutik, der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie sowie der – vor allem durch die biologische Verhaltensforschung revitalisierten – philo­ sophischen Anthropo­logie. Etwa zugleich mit der Historisierung der von Georges de Buffon und Carl von Linné geschaffenen Systematisierungen durch Georges de Cuvier, Charles Lyell und andere erfolgte auch die Dynamisierung der herkömmlichen Ethik und Staatslehre. Deren Entfaltung vollzog sich in Disziplinen, deren Vertreter mehr und mehr danach strebten, die Regelmäßigkeiten des menschlichen Verhaltens zu jener Umwelt in Beziehung zu setzen, in welcher sich dieses vollzieht. Im Zusammenhang damit kommt es zur Entfaltung der Volkswirtschaftslehre, der Soziologie, der Psychologie und der Ethno­logie im ausgehenden 13 Vgl. insbesondere Gunter SCHOLTZ: Zu Begriff und Ursprung der Geisteswissenschaften, in: Ders., Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis. Zu Grundlage und Wandel der Geisteswissenschaften, Frankfurt a. M. 1991, S. 17–35. 14 Hier sei ergänzend darauf hingewiesen, daß sich die wechselnde Dominanz des Sachbezugs der Geistes- und Sozialwissenschaften auch in der entsprechenden Klassenbezeichnung der wissenschaftlichen Akademien im deutschen Sprachraum niedergeschlagen hat. Geisteswissenschaften sind in humanistischer Tradition, wie Gunter Scholtz zeigte, oft philologische Wissenschaften. Aber im 19. Jahrhundert, dem historischen Jahrhundert, wie es sich früh selbst nennt, wird der Begriff Philologie als Titelbegriff durch den Begriff Geschichte verdrängt. Das spiegelt sich exemplarisch in den Klassenbezeichnungen der Preußischen Akademie. An die Stelle der Belles-lettres tritt zunächst die historisch-philologische Klasse, dann aber bald – bedingt durch das wachsende Gewicht der Reflexionsphilosophie – die philosophisch-historische, die alle in der Akademie vertretenen Kulturwissenschaften beherbergt und nur die mathematisch-naturwissenschaftliche Klasse zur Seite hat. – Vgl. Gunter SCHOLTZ, ebd., S. 27.

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Wozu kulturwissenschaftliche Forschung heute ?

18. und frühen 19. Jahrhundert.15 Maßgeblich verstärkt wurde diese dynamische Betrachtung der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt durch die großen Umbrüche in Wirtschaft und Gesellschaft: die industrielle Revolution in Großbritannien und die Französische Revo­lution. Das Zentrum der Sozialwissenschaften als eines Hauptbereichs der moral sciences bildete im 18. und frühen 19. Jahrhundert die Ökonomik, wie sie vor allem von den schottischen Moralphilosophen – David Hume, Adam Smith, Adam Ferguson und John Millar – sowie von Jean-Baptiste Say und David Ricardo entwickelt wurde. Seit den 1830er Jahren stellte sich ihr, zunächst in Frankreich und Belgien, die Soziologie von Auguste Comte bzw. Adolphe Quetelet an die Seite. Die Tatsache, dass unter dem Einfluss des ­positivistischen Denkens eine einheitswissenschaftliche Orientierung zum Zuge kam, be­sagte jedoch nicht, dass die Sozialwissenschaften ohne weiteres zu Naturwissenschaften im landläufigen Sinne geworden wären. Ein Unterschied zwischen der Nationalökonomie und Sozio­logie auf der einen, der Physik und der Chemie auf der anderen Seite b­ esteht darin, dass zwar Vertreter beider Wissenschaftsgruppen gewisse ihrer Aussagen für ideale Be­dingungen formulieren, dass aber die Physiker und Chemiker die von ihnen unterstellten Idealbedingungen annäherungsweise zu realisieren in der Lage sind, während die Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler nie einen solchen Approximationsgrad erreichen. Der wesentliche Unterschied zwischen den Kultur- und den Naturwissenschaften ist jedoch in den unterschiedlichen Wertpräferenzen und in der Lernfähigkeit der sozialen Akteure zu sehen, auf die sich das Interesse der sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Forschung richtet. Die damit in Zusammenhang stehende Eigendynamik gesellschaftswissenschaftlicher Vorhersagen ist es vor allem, die es in den sozial- und wirtschaftswissenschaft­lichen Fächern so schwer macht, den Erkenntnisstand durch Erfahrungskontrolle signifikant zu verbessern. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum etwa Max Weber die Volkswirtschaftslehre als eine „Wirklichkeitswissenschaft“ verstanden wissen wollte, und zwar im Unterschied zu jenen Vertretern einer „Gesetzeswissenschaft“, die allein die Formulierung nomologischer Hypothesen als ihr Erkenntnisziel ansahen. Weber nimmt damit Bezug auf Geistes- und Sozialwissenschaftler, die den ontologi­ schen Status ­ihrer Disziplinen naturalistisch oder materialistisch bestimmten, und dies mit bedeutsamen Folgen für ihre Methodologie. So wandelte sich unter den Leitworten der „physique sociale“ und des „physicisme“ für die Saint-Simonisten, wie im 20. Jahrhundert beispielsweise für Otto Neurath, der Gegenstand geistes- und sozialwissenschaft­ licher Forschung nachdrücklich. Ihrer Ansicht nach sollte wissenschaftlichen Wert nur das beanspruchen können, was letztlich in die Raum-Zeit-Sprache (die Gramm-Zentime­ 15 Die Auffindung von Naturgesetzen des Sozialgeschehens und die Formulierung nomologischer Aussagen erschien verschiedenen Vertretern der als Gesetzeswissenschaften verstandenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen als das eigentliche Ziel ihrer Tätigkeit.

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2. KULTURWISSENSCHAFTEN

ter-Sekunden-Sprache) transformierbar und auf der elementarsten Reduktionsebene mit den Methoden der Physik überprüfbar sei. Den Reduktionsschritten vom Politischen und Gesellschaftlichen über das Kulturelle, das Psychische und Physiologische bis hin zum Bio­chemischen und Mikrophysikalischen entspreche ein Aufstieg zu immer höherer wissenschaftlicher Stringenz und Dignität. Einige dieser Reduktionisten streiften in ihrem Bestreben, Qualitätszertifikate an die Proponenten der hierarchisch gegliederten Wissenschaftsdisziplinen zu verleihen, den Bereich des Lächerlichen. Die unerlässliche Betonung des kategorialen Unterschieds zwischen phänomenolo­ gischen Deskriptionen mentalsprachlicher Art und raum-zeit-sprachlichen Darstellungen, also die Akzentuierung der jeweiligen Eigenart der Kultur- und der Naturwissenschaften, schließt gleichwohl nicht Versuche aus, bestimmte zwischen ihnen aufgerissene Gräben zu überbrücken. Einen dieser Brückenschläge zwischen Natur- und Kulturwissenschaften stellt der von Seiten der biologischen Verhaltensforschung unternommene erfolgreiche Versuch einer Überwindung der unseligen Erbe-Umwelt-Dichotomie dar: die schon im Jahre 1935 von Konrad Lorenz gemachte Entdeckung der Objektprägung.16 Mit dieser stellte Lorenz unter Beweis, dass Teile der modernen biologischen Verhaltensforschung, auch der Humanethologie, jenseits der dogmatisch fixierten Dichotomien von Anlage und Umwelt, Nativismus und Milieutheorie zu liegen kommen.

III. „Quibus auxiliis ?“ – Womit ? Zur Kooperation von Kulturwissenschaften und Naturwissenschaften Man kann die Beantwortung der Frage „Womit?“ auf die bei der Erkenntnisgewinnung verwendeten Techniken beziehen oder aber auf die Überprüfungsverfahren, welche in Bezug auf Vermutungen, Annahmen, Hypothesen und Theorien in den Geistes- und Sozialwissenschaften zur Anwendung kommen. Die Wahl beider wird in hohem Maße durch das „Wozu“, also durch die Forschungspragmatik bestimmt. Viele Forschungstechniken sind in den Geistesund Sozialwissenschaften endogen entwickelt worden – man denke an die historischen Hilfs­ wissenschaften wie Heraldik, Sphragistik, Epigraphik –, aber in vielen Fällen erfolgte eine allmähliche Endogenisierung ursprünglich exogener Instrumente und Forschungstechniken. Da die Themen der kulturwissenschaftlichen Forschung häufig Gegenstände betreffen, welche Schnittpunkte von vielen Faktoren darstellen, sind jene Wissenschaf­ten und ihre Disziplinen offene Systeme. Daher bestehen auch bezüglich der Er­forschung des Entstehungs- und Verwertungszusammenhangs geschichtlich-kul­tureller Sach­verhalte zum Teil enge Verbindun­gen zwischen den Geistes- sowie Sozial­wis­sen­schaften und den Naturwis16 Konrad LORENZ: Der Kumpan in der Umwelt des Vogels, in: Journal für Ornithologie 83 (1935), S. 137–  413.

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senschaften. So informieren Photo­graphien aus Flugzeugen und Satelliten den Archäologen über Grabungsstätten; Botaniker und Nuklearphysiker geben ihm unter Nutzung des C14-Tests über das Alter ­seiner Fundstücke Bescheid; Chemiker rekonstruieren die von ihm geborgenen verbliche­nen Handschriften; Akustiker und Gehirnforscher geben dem Musik­ historiker und Musiktheoretiker Auskünfte über die Wirkung von Rhythmen und Klängen; Hirnphysiologen und Endokrinologen kooperieren mit Psychologen, Histori­kern und Sozio­logen bezüglich der Erklärung bestimmter Formen von deviantem Verhalten, gleich wie Spieltheoretiker mit Demographen und Militärhisto­rikern bezüglich gewisser Kriegsursachen etc. Und was wären heute kritische Text­editionen in den Geisteswissenschaften ohne die Möglichkeiten der elektronischen Da­tenver­arbeitung? Was die historische Demographie ohne Computer-Simulatio­nen? Zusammenarbeit zwischen den Kulturwissenschaften und einer ganzen Reihe von als „Hilfswissenschaften“ betrachteten naturwissenschaftlichen Disziplinen ist sonach aus rein sachlichen Gründen unverzichtbar, aber zudem auch ein Gebot der Stunde. Denn es ist nicht zu übersehen, dass kaum eine der Fragen, welche die Menschheit täglich beunruhigen: kriegerische Auseinandersetzungen, Massenmigration, ungleichgewichtige Bevölkerungsentwicklung im Weltmaßstab, Armut, ökologische Fehlentwicklungen usw., ohne eine Verbindung des Wissens der Naturwissenschaften mit dem der Geistes- und So­zialwissenschaften gelöst werden kann. Kooperation mit den Naturwissenschaften ist daher für eine Reihe von Kulturwissenschaften geboten, nicht aber Imitation der Naturwissenschaften. In diesem Sinne bemerkte Wilhelm Dilthey bereits 1894 in den „Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie“: „Die Geisteswissenschaften müssen von den allgemeinsten Begriffen der generellen Methodenlehre aus durch das Probieren an ihren besonderen Objekten zu bestimmteren Verfahrensweisen und Prinzipien innerhalb ihres Gebietes gelangen, wie es die Naturwissenschaften eben auch getan haben. Nicht dadurch erweisen wir uns als echte Schüler der großen naturwissenschaftlichen Denker, daß wir die von ihnen erfundenen Methoden auf unser Gebiet übertragen, sondern dadurch, daß unser Erkennen sich der Natur unserer Objekte anschmiegt und wir uns so zu diesem ganz so verhalten, wie sie zu dem ihrigen. Natura parendo vincitur.“17

17 Wilhelm DILTHEY: Die geistige Welt (= Gesammelte Schriften, Bd. V), 7. Aufl., Stuttgart-Göttingen 1982, S. 143.

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IV. „Cur?“ - Zum „Warum“ und zum „Wozu“ der Geistes- und Sozialwissenschaften Die Frage, warum ein Mensch in den Kulturwissenschaften forscht, kann auf seine Motive oder Gründe, aber auch auf seine Zielsetzungen bezogen sein. Das eine Mal geht es um motivationale Erklärungen, die zur Antwort gegeben werden, das andere Mal um intentio­ nale oder teleologische. Bei der Analyse menschlichen Handelns macht man in der Regel von beiden Gebrauch. So beziehen sich rationale Erklärungen auf die Gründe und Ziele des Handelns sowie auf die dabei zum Einsatz kommenden Mittel. Die Frage nach dem „Warum“ kann sich im Sinne der zweiten vorhin gegebenen Antwort auf das „Wozu“ der Beschäftigung mit den Kulturwissenschaften beziehen – in der Erweite­ rung des Beichtspiegels müsste die entsprechende Frage lauten: quo fine ? 18 Diese Frage verweist auf das Erkenntnisinteresse des einzelnen Forschers, nicht selten aber auch auf Funktionsbestimmungen wissenschaftlicher Forschungsarbeiten oder Disziplinen.19 Auf das „Wozu“ der Bemühungen von Wissenschaftlern und der Wissenschaften allgemein bezogene Interessens- bzw. Funktions-Typologien, wie sie etwa der deutsche Soziologe und Kulturphilosoph Max Scheler entwickelt hat, erweisen sich in diesem Zusammenhang als nützlich.20 Scheler unterscheidet drei „Wissensformen“ voneinander: Bildungswissen, Herrschafts- oder Leistungswissen, Erlösungs- oder Heilswissen. Das Bildungswissen soll ein Verständnis von den kulturellen und natürlichen Grundlagen der vorgegebenen Lebenswelt vermitteln, vom geschichtlichen Werden, von der Stellung des Individuums innerhalb der Gesellschaft und vom Platz des Menschen im System der Natur. Dieses Wissen bildet gewissermaßen einen globalen Interpretationsrahmen der Erfahrungs­ wirklichkeit, einschließlich des menschlichen Selbstverständnisses. – Das Herrschafts- oder Leistungswissen wiederum umfasst die Gesamtheit der Kenntnisse, die auf die Nutzung und Beherrschung der Natur oder der Menschen gerichtet sind. Dieses Wissen verschafft uns beispielsweise auch Kenntnis von den Möglichkeiten und Grenzen der Gestaltung sozia­ler 18 In Abschnitt VI dieser Abhandlung wird kurz auf mögliche aktuelle Ziele der kulturwissenschaftlichen Forschung Bezug genommen werden. 19 Funktionsbestimmungen der wissenschaftlichen Tätigkeit ändern sich mitunter im Laufe der Zeit. Dies gilt gleichermaßen für Natur- und Kulturwissenschaften. Man denke beispielsweise an die Botanik und die Zoologie, die sich seit dem 18. Jahrhundert von sammelnden, klassifizierenden und ordnenden Tätigkeiten zu eminent technischen Disziplinen mit weitgehend veränderten Anwendungsformen entwickelt haben, wie unter anderem bestimmte Bereiche der modernen Pharmakologie und Gentechnik bezeugen. Es wäre allerdings ein Fehler, von einer strengen Kovarianz zwischen einem solchen Funktionswandel und dem Wandel des Erkenntnisinteresses der Forscher auszugehen. 20 Vgl. Max SCHELER: Die Wissensformen und die Gesellschaft [1925], 2. Aufl., Bern 1960 (= Gesammelte Werke, Bd. 8); Die Formen des Wissens und die Bildung (Vortrag, gehalten an der Lessing-Hochschule Berlin, 17. Januar 1925), in: Ders., Philosophische Weltanschauung, München 1954, S. 16 – 48.

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Ordnungen, der Ausübung von Herrschaft oder der Steigerung der sozialen Wohlfahrt. Es hat instrumentellen Charakter und findet auch häufig Ausdruck in sozialtechnisch transformierbaren nomologischen Aussagen über Regelmäßigkeiten des natürlichen Geschehens und des menschlichen Verhaltens. – Das Heils- oder Erlösungswissen schließlich zielt darauf ab, den Menschen zur Einsicht in einen metaphysischen Zusammenhang zu verhelfen, welcher sie ihr Leben als ein sinnerfülltes Dasein anzusehen hilft und dadurch die Zufälligkeit und Endlichkeit ihrer physischen Existenz ertragen lässt. Während in der Vergangenheit vor allem die Religionen und in ihrem Dienste Theologie und Philo­sophie Botschaften des Heils und der Erlösung formulierten, haben im Zuge der Säkulari­sierung zunehmend auch andere Instanzen – politische Bewegungen, die Künste, die Psycho­therapie – die Aufgabe übernommen, den Menschen Entwürfe einer sinnstiftenden Selbstdeutung anzubieten oder den Ausweg aus krisenhaften psychischen Zuständen finden zu helfen. Diese Schelersche Typologie ist nützlich, weil sie eine Funktionsbestimmung einzelner Wissenschaftsdisziplinen ermöglicht. So erlaubt sie es beispielsweise, die philosophi­ sche Anthropologie dem Bildungswissen zuzuordnen, und die angewandte Physik, aber auch verschiedene sozialtechnische Disziplinen dem Herrschafts- oder Leistungswissen. Eine derartige Typisierung der Erkenntnisinteressen ge­stattet allerdings nicht immer die Zuordnung von Fachdisziplinen zu jeweils nur einer der genannten Wissensformen; dies hat vor allem auch mit dem historischen Funktions­wandel von Wissenschaftsdisziplinen zu tun. So war die Astronomie lange Zeit von rein bildungs­wissenschaftlichem Charakter, während sie seit dem 20. Jahrhundert auch eine zunehmend herrschaftswissenschaftliche Funktion annimmt. Von ähnlichen Überlegungen bezüglich der Funktion wissenschaftlichen Wissens wie Scheler ging bereits Friedrich Nietzsche bei seiner Typisierung von Arten des historischen Erkenntnisinteresses aus. Im zweiten Stück seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen, in der berühmten Studie „Über den Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“, unter­ scheidet er drei Hinsichten auf die Geschichte: die monumentalische, antiquarische und kritische Historie. Zunächst, meint Nietzsche, gehört die Geschichte dem Tätigen und Strebenden (monu­mentalische Historie), dann dem Bewahrenden und Verehrenden (antiquarische Histo­rie), schließlich dem Leidenden und der Befreiung Bedürftigen (kritische Historie). Interes­sant an dieser brillanten Studie des 27jährigen Nietzsche ist vor allem die Tatsache, dass die Vorteile und Nachteile, also sowohl die schöpferischen als auch die Degenera­tionsformen dieser drei erkenntnisleitenden Interessen untersucht werden. Nietzsche­spricht im Blick auf alle drei von „zum Unkraut aufgeschossenen Gewächsen“: Kritisch apostrophiert er – bezogen auf die monumentalische Geschichtsbetrachtung – den „Kenner des Großen ohne das Können des Großen“; in Bezug auf das anti­quarische Geschichtsbewusstsein den „Antiquar ohne Pietät“; und in Bezug auf das kritische Geschichtsbewusstsein den „Kritiker ohne Not“, der sich in einer relativ risikofreien Gegen-

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wart zum heroischen Intellektuellen stilisiert.21 Wohin soll uns also histo­risches Bewusstsein führen? Jedenfalls nicht zu den Degenerationsformen seiner s­elbst, lautet eine der Antworten Nietzsches. Eine hyperkritische Einstellung gegenüber Traditionen ist nicht nur unter bestimm­ ten Histo­rikern, sondern gelegentlich auch unter Wissenschaftspolitikern am Werk und bewirkt, dass bestimmte Formen und Inhalte des Bildungswissens in ihrem Wert herun­ tergestuft werden. Dabei beruft man sich zumeist darauf, dass vor allem die Geisteswissenschaften nicht mehr mit den Gegebenheiten der „modernen Zeit“ verträglich und dieser förderlich seien. Die Auswirkungen dieses Wertewandels zeigen sich insbesondere an den Universitäten. An den deutschen, so stellte vor einiger Zeit Jürgen Kaube fest – und vielleicht hätte er auch österreichische einschließen können –, wimmelt es inzwischen von Fächern, die mittels einfachster Technik erzeugt wurden: „Zuerst wird unter Absingen von Hymnen auf die Interdisziplinarität ein altes Gebiet aufgespalten. Dann werden die Spaltprodukte mit Worten wie ‚Kommunikation‘ oder ‚Medien‘ oder ‚Kultur‘ wiederangereichert, um schließlich als Ausbildungsgänge für phantastische Karrieren offeriert zu werden. […] Solche ‚Fächer‘ eint, daß sie dem Aberglauben entspringen, die Welt bedürfe vor allem eines: geisteswissenschaftlich viertelgebildeter Verkäufer. […] Nicht selten handelt es sich um Leute, die in den Diszipli­nen, in denen sie sich allenfalls auskennen […], selber nicht zum Zug gekommen sind. Das muß angesichts der Engpässe auf dem akademischen Stellenmarkt nicht mit mangelnder Qualität zu tun haben. Aber anstatt die innere Vielfalt etablierter Gebiete zu stär­ken und ‚Medien‘, ‚Umwelt‘, ‚Regionen‘ oder ‚Frauen‘ als das zu behandeln, was sie sind, nämlich nicht Anlässe zur Fächerbildung, sondern Themen, herrscht eine gesinnungslose Umtriebigkeit beim Institutegründen und Zertifikateentwerfen. Die Hochschulpolitik verlangt den Universitäten Anwendungsorientierung ab – und erhält die entsprechenden Fassaden.“22 Nicht wenige unter den Institutsgründern sind, wie auch Kaube erwähnt, Sprach- und Literaturwissenschaftler. Wie im Schulfach Deutsch sehr häufig nicht mehr Literatur und Sprache Hauptgegenstand des Unterrichts geblieben sind, so gilt auch für die verschiedenen neugegründeten kulturwissenschaftlichen Spezial­ disziplinen, die mit dem nichtdeutschen Sprachraum befasst sind, dass in ihnen der Bezug auf das jeweils letzte „gesellschaftlich relevante“ Sachproblem häufig die eingehende Befassung mit der Sprache der in Betracht stehenden Region ersetzt. Nicht die schlechteste abendländische Intellektuellen-Tradition legt es vor allem den Vertretern der philologischen Fächer nahe, gerade in Zeiten der kulturellen Desorien­tie­ 21 Was diese defiziente Form des kritischen Geschichtsbewusstseins anlangt, so kann es dazu kommen, dass Kritik das Vorangegangene denunziert und einen pauschalen moralischen Überlegenheitsanspruch der Gegenwart gegenüber der Vergangenheit proklamiert. 22 Jürgen KAUBE: Jodeldiplom. Jeden Tag ein neues Fach an deutschen Universitäten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. September 2002, S. 37.

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rung auf den einen oder anderen Klassiker zurückzugreifen. In Goethes Wilhelm Meister heißt es, man dürfe das Alte nicht aus den Augen verlieren. Nach Goethe ist dieses nämlich ein „Gegengewicht dessen, was in der Welt so schnell wechselt und sich verändert“. Dies sind wichtige Worte. Will man sich nämlich noch einen gewissen Sinn für die Vergänglich­ keit des Gegenwärtigen23 sowie für die Pflicht zur Vergegenwärtigung des Vergangenen bewahren, so wird man sich vor der Gedan­kenlosigkeit zu hüten haben, man könne sich der Geschichte dadurch entledigen, dass man sie entsorgt. Man muss sehr unbelehrt von Vergangenheit und Gegenwart sein, um das Gewesene als bloß gewesen abzutun und einfach zum großen Schwund alles Zeitlichen zu schlagen. Eine solche Art von Geschichtsvergessenheit ist immer auch Sprachvergessenheit dadurch, dass übersehen wird, wie sehr die Sprache geschichtlich unseren Gedankenkonstruktionen und -rekonstruktionen vorausgeht. Daher möge hier Karl Kraus, Österreichs unverdrossenster Sprachmoralist, zu Wort kommen: „Der Gedankenlose denkt, man habe nur dann einen Gedanken, wenn man ihn hat und in Worte kleidet. Er versteht nicht, daß in Wahrheit nur der ihn hat, der das Wort hat, in das der Gedanke hineinwächst.“24 – Betrachtungen­dieser Art sind es, die nahezu zwanglos zum nächsten Abschnitt überleiten.

V. „Quo?“ – Wohin ? Ein Ausblick Wohin entwickeln sich die Kulturwissenschaften? Bei der Beantwortung dieser Frage geht es nicht mehr nur um Bestimmungen von Wissenschaften der Kultur, sondern auch um Erwägungen bezüglich der Wissenschaften als Kultur. Dabei rückt vor allem das in den Blick, was man heute (mit einem überstrapazierten Ausdruck) als „Identität“ der Kulturwissenschaften bezeichnet, und damit kommen vor allem das Selbstbild und das Wunschbild der Reprä­sen­tanten jener Disziplinen ins Spiel. Eine Erörterung der „Wohin“-Frage im soeben besprochenen Sinne bezieht sich daher naturgemäß auch auf das Verhältnis von Tatsachen und Werten, Können und Wollen, Wissen und Macht.

23 In ähnlichem Zusammenhang nennt Wolfgang Frühwald in einer dem Bildungskanon von morgen gewidmeten Studie „zwei Bestimmungen des Menschen […], die unvergänglich sind: das Bewusstsein unserer Sterblichkeit und den Sinn für das Schöne“; und ergänzend stellt er fest: „Die Reflexion des Sterbens nämlich und der Sinn für das Schöne hängen eng zusammen.“ Wer also das Bewusstsein der menschlichen Vergänglichkeit aus der Welt schafft, tilge das Schöne. – Wolfgang FRÜHWALD: Humboldt im 21. Jahrhundert – Was gehört zum Bildungskanon von morgen, in: Leviathan 29 (2001), S. 293 –303, hier S. 301 f. 24 Karl KRAUS: Aphorismen und Gedichte. Auswahl 1903 bis 1933. Hrsg. von Dietrich Simon, Wien-KölnGraz 1985, S. 135.

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1. Das Beispiel Max Webers Die Fragen nach dem „Wozu“ und nach dem „Wohin“ der Wissenschaft beschäftigten auch den Historiker, Nationalökonomen und Soziologen Max Weber. Sie betreffen sowohl den Wert als auch die Richtung wissenschaftlicher Tätigkeit. Alle Naturwissenschaften, so führt er in seinem berühmten Vortrag „Wissenschaft als Beruf  “ aus dem Jahre 1919 aus, geben uns Antworten auf die Frage: „Was sollen wir tun, wenn wir das Leben technisch beherrschen wollen?“ Und Weber setzt dann in einer für sein gesamtes Denken bezeichnenden Weise fort: „Ob wir es aber technisch beherrschen sollen und wollen, und ob das letztlich eigent­ lich Sinn hat: – das lassen sie ganz dahingestellt oder setzen es für ihre Zwecke voraus.“ Ähnliches gilt nach Weber für die Medizin: „Der Mediziner erhält mit seinen Mitteln den Todkranken, auch wenn er um Erlösung vom Leben fleht […]. Ob das Leben lebenswert ist und wann?, – danach fragt sie nicht.“25 Weber spielt das für verschiedene Fächer, auch für die kulturwissenschaftlichen Disziplinen der Kunstwissenschaft und der Jurisprudenz, mit immer gleichem Ergebnis durch. Doch er endet nicht einfach mit dem lapidaren Befund über die Wissenschaft, dass diese uns in ihren Analy­sen praktischer Wertungen bloß Tatsachenzusammenhänge vor Augen führe, sondern er verweist auf die „Kulturbedeutung“ von Wissenschaft, deren methodisches Axiom – die Werturteilsfreiheit – eine zweifache Besin­nung möglich mache: erstens auf das, was Sache oder Gegenstand der Wertung selber ist; zweitens aber auf die letzten eigenen Werte und die durch kein Beweisverfahren zu ersetzende persönliche Stellungnahme zu ihnen. Das Leitwort heißt bei Weber „Selbstbesinnung“, und das mit diesem Wort gemeinte Bestreben mündet in die Forderung, sich selbst Rechenschaft zu geben über die letzten Wert­orientierungen seines eigenen Tuns. Aus einem methodischen Axiom der Wissenschaft ist sonach die Werturteilsfreiheit zum Gebot der Besinnung auf die entscheidenden eigenen Handlungsorientierungen geworden. In engem Zusammenhang damit steht eine von Weber formulierte Funktions­be­stim­ mung von Wissenschaft, wobei er sowohl die ethische als auch die er­kennt­nis­kritische Komponente der Kulturwissenschaften im Blick hat. Der Dienst, den die Wissen­schaft dem modernen Menschen zu leisten vermöge – vorausgesetzt, dass dieser selbst zur Klarheit ge­ langen will –, bestehe darin, ihn unbequeme Tatsachen anerkennen zu lehren, die ihn vor der trügerischen Sicherheit der eigenen Hoffnungen und Wünsche bewahren. Ohne das im Vortrag näher darzulegen, sagt Weber, dass die Wissenschaft dort, wo ihr das gelingt, im Dienst „ ,sittlicher‘ Mächte“ stehe: „der Pflicht, Klarheit und Verantwortungsgefühl zu schaffen“.26 Daher auch seine Polemik gegen alles, was im Namen des Sensationellen oder einer idolisierten Persönlichkeit die reine Hingabe an den Gegenstand der Forschung stört: 25 Max WEBER: Wissenschaft als Beruf [1919], in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 3. Aufl., Tübingen 1968, S. 582 – 613, hier S. 599. 26 Ebd., S. 608.

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„,Persönlichkeit‘ auf wissenschaftlichem Gebiet hat nur der, der rein der Sache dient.“27 Nicht nur auf wissenschaftlichem Gebiet sei dies so, denn Sachlichkeit sei auch eine Tugend des Künstlers und des Politikers. Was die Hingabe an die Sache stört – insbesondere jede Form von Eitelkeit und das Bestreben, sich selbst als Impresario der Sache in Pose zu setzen –, erfährt durch Weber scharfe Kritik. Besonders streng geht er mit denen ins Gericht, die als „staatlich besoldete oder privilegierte kleine Propheten“ mit ihren Wertverschreibungen „Erlebnisse“ erzeugen und damit eine zum Teil bereits von ihnen selbst verbildete Klientel befriedigen wollen, die in der Wissenschaft „Sensationen“ sucht. Andererseits war aber Weber auch ein entschiedener Gegner jedes den Glaubensinhal­ ten der öffentlichen Meinung und der Politik gegenüber praktizierten Konformismus, welche Haltung man im Deutschland seiner Zeit gerne mit dem Namen „Realpolitik“ schmückte. Und so sei es, wie er in seinem berühmten Wertfreiheits-Aufsatz darlegte, „nicht einzu­sehen, warum gerade die Vertreter einer empirischen Wissenschaft das Bedürf­ nis fühlen sollten, dies noch zu unterstützen, indem sie sich als Beifallssalve der jeweiligen ‚Entwicklungstendenz‘ konstituieren und die ‚Anpassung‘ an diese aus einem letzten, nur vom Einzelnen im Einzelfall zu lösenden, also auch dem Einzelnen ins Gewissen zu schiebenden Wertungsproblem zu einem durch die Autorität einer ,Wissenschaft‘ angeblich gedeckten Prinzip machen“.28 Weber steht damit in einer Tradition, die von den Humanis­ ten der Renaissance über die schottischen Moralphilosophen und Kant heraufreicht bis zu Dilthey und Simmel. Dieser Tradition gemäß ist das Streben nach Freiheit durch jenes nach Er­kenntnis zu ergänzen, wodurch der Bereich zielorientierten und absichtsvollen Handelns, aber auch die Grenzen dieses Handelns genauer bestimmbar würden. So soll­e der Forscher zur Einsicht gelangen, dass Wissenschaft dem Leben nicht wie ein Fremdkörper eingefügt worden ist und dass es außer dem vermeintlich „rein“ wissenschaftlichen Interesse, in dem die Wissenschaft zum Selbstzweck geworden ist, immer auch außerwissenschaftliche Antriebe zur Wissenschaft gibt. Dieses wissenschaftliche „Erkenntnisinteresse“, wie ­Weber es nannte, freizulegen erschien ihm im selben Maße als eine Aufgabe des reflektierten Kulturwissenschaftlers wie die Darlegung der für die jeweils untersuchte Zeit maßgeblichen Handlungsorientierungen und Deutungs­gewohnheiten. Erst vor dem Hintergrund dessen, was man den „Lebenssinn“ nannte, der den Zeitaltern zumeist unbefragt „wahr“ erscheint, erschließt sich nach Weber die „Kulturbedeutung“ individueller und kollektiver Handlungen. In diesem Sinne unternahm er seine wirkungsgeschichtlich so bedeutsamen Analysen des „Geistes des Kapitalismus“. Die Erörterung der Frage nach diesen das Kollektivbewusstsein einer Zeit prägenden Orientierungen gehört nach Weber unverzichtbar zur Aufgabe der Kulturwissenschaften. 27 Ebd., S. 591. 28 Max WEBER: Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften [1917], in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (Anm. 25), S. 489–540, hier S. 513 f.

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2. Zur heutigen Lage der Geisteswissenschaften In der Gegenwart hat sich, wie sich im einzelnen zeigen ließe, die Lage der Kulturwissenschaften und die Einschätzung ihrer Disziplinen durch die Wissenschaftspolitik gewandelt. Dieser Wandel betraf zwar nicht so sehr die Lage und Wertschätzung der sozialtechnisch nutzbaren Disziplinen, also bestimm­ter Fächer aus dem Bereich der Wirtschafts- und Sozial­ wissenschaften, wohl jedoch die Geisteswissenschaften im engeren Sinn. Dies kontrastiert auf eigentümliche Weise mit der zum Teil enorm gesteigerten Nachfrage nach Museumstou­ ris­tik, Kunstausstellungen, Geschichtssachbüchern und historischen Dokumentationen im Fernsehen. All das wird nicht selten unter dem Label „Freizeit“ rubriziert und so aus dem Zusammenhang mit Wissenschaft gelöst. Die spezifische Zukunftsorientierung, die mit dem permanenten Innovationsbedarf von Wirtschaft und Industrie gekoppelt ist, hat zusätzlich und fast zwangsläufig eine eigen­artige Veränderung der Vorstellung zur Folge, die wir sowohl von dem Erinnerungswürdigen haben als auch von dem, was Bildung ist. Technisch- ökonomische Verwertbarkeit ist in der um die nationale Sicherung des Wirtschaftsstandorts bemühten Wissenschafts­politik von heute mehr und mehr das Ziel. Dieser Orientierung wurde durch die Holly­wood-Komödie What’s up, Doc ? ein wenig bizarr, aber doch sehr anschaulich Ausdruck verliehen. In ihr wird der angeklagte Hauptdarsteller von einem Richter nach seinem Beruf gefragt. Schüchtern teilt der Befragte mit, er sei Doktor der Musikwissenschaften. Ob er denn in der Lage sei, ein Radio zu reparieren, lautet die unwirsch-neugierige zweite Frage des Richters. Und als der Angeklagte verneint, wird er barsch dazu aufgefordert, in ­Zukunft gefälligst seinen Mund zu halten. Ähnlich erscheint mitunter die Lage gewisser Geisteswissenschaftler. Mit ihr kon­ trastiert allenthalben die starke Ausrichtung auf Technik und Wirtschaft sowie auf die einschlägigen technologischen und wirtschaftswissenschaftlichen Disziplinen. Dem entspricht es, dass Politiker im Wissenschafts- und Kulturbereich sich daran gewöhnen, ihr Ressort primär in Kategorien der Finanz- und Wirtschaftspolitik zu betrachten, wohingegen sich Finanz- und Wirtschaftsminister keineswegs scheuen, das Wissenschaftsgeschehen mit Werturteilen zu bedenken. Die Schließung oder die unterbleibende Nachbesetzung kulturwissenschaftlicher Lehrstühle rechtfertigt man dann das eine Mal mit Sparmaßnahmen, bei Bedarf aber ein anderes Mal mit der geringen Nachfrage von Seiten der Studie­ renden. Angesichts dieser eigentümlichen Nachfrage-Orientierung auf dem Sektor der Wissenschafts- und Kulturpolitik ist der Hinweis am Platz, dass doch im allgemeinen die Kirchen auch nicht gleich geschlossen werden, nur weil sie von den Gläubigen nicht immer ausreichend besucht werden. Es wäre unnötig, dies zu betonen, würde es nicht manchmal geradezu als Pflicht des „demokratischen Intellektuellen“ dargestellt, sich den Ansichten und Wertungen der Mehrheit anzuschließen. Gegen diesen Konformis­mus bezog unter

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anderem der Ökonom und Sozialphilosoph Friedrich von Hayek Stellung: „Es besteht wohl die Konvention, daß für kollektives Handeln die Ansicht der Mehrheit entscheiden soll, aber das bedeutet nicht im mindesten, daß wir nicht jede Anstrengung machen sollen, sie zu ändern. Man kann großen Respekt für diese Konvention haben und doch sehr wenig für die Weisheit der Mehrheit. Unser Wissen und unsere Einsicht machen nur deshalb Fortschritte, weil es immer Menschen geben wird, die den Anschauungen der Mehrheit entgegentreten. […] Fortschritt besteht darin, daß die Wenigen die Vielen überzeugen. Irgendwo müssen neue Ansichten zuerst auftreten, bevor sie die Ansichten der Mehrheit werden können.“29 Gewiss wird auch jeder halbwegs vernünftige Kulturwissenschaftler sich zur Devise bekennen können: „Wirtschaft ist nicht alles, aber ohne Wirtschaft ist alles nichts.“ Wogegen er aber mit guten Gründen Stellung nehmen kann, ist die verzerrende Darstellung, als sei es gerade in Phasen relativen Wohlstands nötig, die technisch-ökonomischen Kräfte besonders zu bündeln und das Wertgeschehen, wie es von den Kulturwissenschaften thematisiert wird, letztlich als ein Derivat wirtschaftlicher Prosperität anzusehen. Wir sollten im Auge behalten, dass, wie die Geschichte zeigt, nicht immer nur der Krieg die Stätten des Geistes zerstörte, und dass auch in Zeiten der Friedfertigkeit und des Wohllebens eine für den Geist gefährliche Situation eintreten kann: dass nämlich – metaphorisch gesprochen – Susa, die Stadt des Reichtums, Persepolis, die Stadt des Geistes, auf unkriegerische, wenn auch geräuschvolle Weise verheeren kann. Heute dürfte dies wohl dadurch geschehen, dass man die Inhalte der alten „Wissenschaft des Geistes“ entweder zu einem Faktor einer rentablen Spaßkultur macht oder durch diese einfach ersetzt. Vielleicht klingt manchem dieses Szenario allzu kulturpessimistisch oder es wird gar als ein Versuch von Geisteswissenschaftlern gedeutet, den eigenen Forschungsbe­reich – wie die Universitäten allgemein – nicht mit der Frage nach ihrer Nützlichkeit konfrontieren zu wollen. Dem sei hier explizit widersprochen. Denn diese Konfrontation ist unvermeidlich und auch legitim. Und zweifellos hat allen Überlegungen bezüglich einer Mittelverteilung die Erwirtschaftung und die Produktion dieser Mittel voranzugehen. Aber allzu oft gerät Verschiedenes im Leben – und heute eben, wie es scheint, das Ökonomi­sche – in eine Art von Freilauf, und dabei schießt man gerne über das Ziel hinaus. So stellt sich gerade für eine mehr und mehr ökonomisch denkende Gesell­schaft die Frage, welche Art von Nutzen sie zu maximieren bestrebt ist. Periodisch hat sich jedes Gemeinwesen zu fragen, was es denn überhaupt wollen soll. Seine Zielvorstellungen und die ihnen zugrunde liegenden Werthaltungen bedürfen, wenn sie nicht naiv und irrational sein sollen, der reflektierenden Erwägung. Dazu gehören allemal auch eine geistesgeschichtliche Einordnung dieser Zielvorstellungen und die sozialwissenschaftliche Einschätzung der erwartbaren Konsequenzen ihrer Realisierung. 29 Friedrich August von HAYEK: Die Verfassung der Freiheit, 2. Aufl., Tübingen 1983, S. 134.

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2. KULTURWISSENSCHAFTEN

VI. Probleme der Kulturwissenschaften 1. Forschungsfragen: ein aktueller Katalog Den Kulturwissenschaften kommen nach wie vor mehrere Aufgaben zu. Als Geisteswissenschaften – namentlich als philosophische und philologisch-historische Disziplinen – geht es ihnen einerseits um die Herstellung eines angemessenen Verständnisses der aus der Vergangenheit wirkenden Kräfte, Vorbilder und Ideen durch Kontrastierung mit den die Gegenwart bestimmenden. Dies geschieht durch die Analyse und Deutung von historischen Zeugnissen, die sich das eine Mal vor allem auf die moralisch-politischen Ideen und Handlungen von Individuen und Gruppen sowie auf die daraus resultierenden Ereignisse beziehen, das andere Mal auf die Ideen und Werke der Literatur, der bildenden Kunst und der Musik. Als Inbegriff von Disziplinen, die sich Fragen der Wahrheit, der Schönheit und der Morali­tät im sowohl deskriptiven als auch normativen Sinn zuwenden, kommt dem geisteswissenschaftlichen Zweig der Kulturwissenschaften die Funktion des Orientierungs­ wissens zu. Die herrschaftswissenschaftliche Funktion der Kulturwissenschaften findet vor allem in den Sozialwissenschaften Ausdruck, obschon sich immer wieder auch allerlei Geisteswissenschaftliches als Ideologie herrschaftswissenschaftlich nutzen lässt. Wie schon im frühen 19. Jahr­hundert werden die Sozialwissenschaften als Krisenwissenschaften verstanden, und folge­richtig vertraut man auf deren Kapazität bei der Lösung aktueller demographischer, sozialer, politischer, ökonomischer und ethnisch-religiöser Probleme. Zu den großen gesellschaft­lichen Herausforderungen und Aufgaben gehören derzeit unter anderem: – der globale demographische Wandel und seine Auswirkungen; – die Folgen der vor allem durch Bürgerkriege und Armut ausgelösten Massenimmigration nach Europa und deren politische, soziale und kulturelle Folgen; – ethnisch-religiöse Wertkonflikte und der sogenannte „clash of civilisations“; – die neue Qualität der global wirksamen Finanzindustrie und die Nachwirkungen der Finanz­krise zu Beginn des 21. Jahrhunderts; – die Entwicklung neuer Produktionsweisen und deren Auswirkung auf neue Arbeitsverhältnisse und die Arbeitslosigkeit; – das selbst in vorgeblich meritokratischen Gesellschaften oft hohnsprechende Ausmaß ungleicher sozialökonomischer Lebenslagen und Lebenschancen; – die Ökonomisierung des geistig-kulturellen Geschehens, ihre Folgen für die Bildung, und die veränderte Rolle der Intellektuellen;

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– die Folgen der globalen Kommunikation und der Verbreitung von Wissen und Popu­lärkultur; – die selbstzerstörerischen Tendenzen in der zeitgenössischen westlichen Demokratie; – die politischen Großraumbildungen und ihre Folgen für die nationale Identität; – die Verschiebung der globalen Machtverhältnisse und der Aufstieg Chinas zur eura­ sischen Führungsmacht, wobei Europa im Begriff ist, zum „Wurm­fortsatz Asiens“ (Paul Valéry) zu werden. Hingewiesen sei – stellvertretend für eine Reihe anderer – noch auf zwei Probleme, die mit der Frage einer Regulierung der Wissenschaft und der Wirtschaft verbunden sind. Das eine stellt sich angesichts bestimmter Auswirkungen des beschleu­nigten Fortschritts unserer wissenschaftlichen Erkenntnisse insbesondere in Bezug auf die Möglichkeiten der sogenannten genetischen Verbesserung, also die bio-, nano- und neurotechnischen Optimierungsprogramme. Welchen Regeln sollen die bereits möglichen Eingriffe in die Keimbahn, die durch eine gezielte und systematische Ausschaltung, Ersetzung oder Veränderung einzelner Gene mittels der genplastischen Chirurgie möglich geworden sind, unterstellt werden, und wer formuliert jene Regeln? Kann zudem in Zukunft genetische Ungleichheit als kommerzielles Gut gehandhabt werden, als ein käuflich erwerbbares technisches Produkt? Das andere Problem bezieht sich darauf, dass die Proponenten des ökonomi­schen Liberalismus zwar Chancengleichheit als Grundprinzip proklamieren, dass aber in der Praxis die Rechtfertigung von Ungleichheit unter Hinweis auf die angeblich bestehende soziale Durchlässigkeit immer weniger gelingt. Nun wäre es falsch, den Kulturwissenschaften Dinge zuzumuten, die sie nicht leisten können: die Erstellung eines wirksamen Ordnungsrahmens für die Biopolitik, die Herstellung von sozialer Gleichheit, die Mobilisierung der „Begabungsreserven“ in allen ­ niverseller Philange­sellschaftlichen Schichten der „Wissensgesellschaft“, die Einführung u thropie, die freudige Akzeptierung alles Fremden – und was es sonst noch an politisch oder moralisch Wünschbarem gibt. Viele den Kultur­wissenschaften gegenüber formu­ lierte Erwartungen heften sich an die Wirksamkeit von Lehrinhalten im schulischen und hochschulisch-universitären Bereich. Soziologisch betrachtet ist es jedoch, wie Jürgen Kaube feststellt, „unwahrscheinlich, daß eine Organisation, die über wenig mehr verfügt als Unterrichtsstunden, auszugleichen vermag, was, je nach Deutung, der Kapitalismus, die Klassengesellschaft, die Medien oder die Familien angerichtet haben. Vermutlich wäre viel gewonnen, wenn man sie tun ließe, was sie kann, anstatt sie ständig im Hinblick auf etwas zu reformieren und zu kritisieren, was ohnehin nicht in ihrer Macht steht.“ 30 Das aber heißt, dass das Bildungssystem zwar nicht seine Aufgabe darin erblicken kann, die 30 Jürgen KAUBE: Was Schule leisten soll und kann, in: Ders., Im Reformhaus. Zur Krise des Bildungssystems, Springe 2015, S. 23 –35, hier S. 35.

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angeblich einzige Remedur zur Behandlung der Weltprobleme zu verordnen, wohl jedoch Kenntnisse und Fertigkeiten zu vermitteln, welche es möglich machen, Probleme zu verstehen, zu erklären und auf deren Lösung bezogene Handlungsmöglichkeiten darzustellen. Bereits viel getan wäre im aktuellen Bildungssystem und in der dafür maßgeblichen Politik, würde unser wichtigstes Kulturgut, die deutsche Sprache, nicht über Gebühr vernach­ lässigt. Die Nachlässigkeit auf Seiten gewisser Politiker, Lehrer und Pädagogen findet sich nicht selten auch unter Geisteswissenschaftlern. Hinlänglich bekannt, wenn auch in seinen Konsequenzen nur unzureichend bedacht, ist der von manchen praktizierte modische Konformismus, die eigene Sprache zurückzudrängen, um ­seinen Ausführungen und sich selber durch Benutzung des Engli­schen den Anschein prinzipiell übernationaler Bedeutsamkeit zu verleihen. Man will global „anschlussfähig“ bleiben, wie das heute heißt, fragt aber erst gar nicht genau, an wen oder was. So gibt es Germanistenkongresse in Kanada und in den USA, die ausschließlich über deutsche Sprache und Literatur handeln, wo aber vor allem die aus Deutschland und Österreich stammenden Vortragenden ihren anglophonen, aber vorzüglich Deutsch sprechenden Kollegen unter Beweis stellen wollen, dass auch sie des Englischen mächtig sind. Man hört aber auch vom Präsidenten der Technischen Universität München, der gegen den Rat der Studentenvertretung beabsichtigt, Masterstudiengänge an seiner Universität ab 2020 zwingend ausschließlich in Englisch durchzuführen. Auf die Spitze getrieben wird das Ganze durch einen Europaabgeordneten der deutschen Freien Demokraten, der 2014 erklärte: „Englisch muss in Deutschland Verwaltungssprache werden.“ So soll also in Deutschland künftig wohl nur noch gelten, was in Englisch formuliert, gesprochen oder publiziert wurde. In diesem Zusammenhang mutet es auch seltsam an, wenn sich Wissenschaftler vehement für Diversität und Artenvielfalt in der natürlichen und sozialen Umwelt einsetzen, nicht wenige von ihnen aber die Sprachenvielfalt gerne der Einheitssprache Englisch opfern wollen.31 Ein Monitum gilt auch jenen Geistes- und Sozialwissenschaftlern, denen doch hinreichend bekannt sein dürfte, dass die Identität vieler Mitgliedstaaten der Europä­ ischen Union aus ihren nationalen Sprachen erwachsen ist. Soll das vielbeschworene „Europa der Herzen“ – eine der prachtvollen Schöpfungen des rhetorischen Politkitsches – nur im anglo-amerikanischen Takt schlagen? Sind nicht auch die über das Englische vermittelten und aus den Vereinigten Staaten übernommenen Wider­sinnigkeiten und Zumutungen der sogenannten Political correctness Grund genug, sich in ideologiekritischer Absicht von dem dabei unterstellten Primat der Rede als dem eigentlichen Hort der Freiheit zu distanzieren? Es ist, wie Henning Ritter findet, kein Zufall, dass diese Bewegung in den USA an den Schulen und Universitäten zuhause ist, die von der in die Krise gekommenen traditionellen Trägerschicht der protestantischen Weißen geprägt sind: „Sie 31 Vgl. dazu Johannes SINGHAMMER: Mehr Mut zur deutschen Sprache, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. April 2015, S. 8.

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ist dort vorzugsweise mit so genannten Diskurstheorien verbunden, die die machtfreie Sphäre des Wortes in Frage stellen und die verborgene Wirksamkeit der Macht nachweisen wollen. Damit wird das vorgebliche Ur-Recht der freien Rede untergraben. Die Political Correctness durchsetzt deshalb die empirische Wirklich­keit des Wortes und der Rede mit Verboten und machtbezogenen Regelungen […].“32 Anstatt Deutsch als Wissenschaftssprache abzuwerten, erscheint es angebracht, die Chancen unserer Sprache auf zweifache Weise zu nutzen. Gerade wenn man dem zunächst Unverständlichen und Fremden von Texten und Textkulturen in einer planetarischen oder globalisierten Welt angemessen Rechnung tragen will, bedarf es der profunden Vertraut­ heit mit einer bestimmten Sprache – aus naheliegenden Gründen mit der deutschen, aber auch mit irgendeiner anderen –, jedoch nicht bloß mit einer auf die primären Informationsfunktionen bezogenen, semantisch oberflächlichen Lingua Franca. Die Subtilität des Instrumentes der eigenen Sprache ist dabei das Maß der Erschließung der fremden Sprache und ihrer Kultur. Aber auch in einer anderen Hinsicht, nämlich auf die alltägliche Erfahrung von zunächst Fremdem in einer Epoche der Völkerwanderung bezogen, ist es, um echte Integration gelingen zu lassen, unverzichtbar, unserer Sprache den ihr gebührenden Platz einzuräumen: „Einwanderer zu ermutigen und zu fördern, Deutsch zu lernen und anzuwenden, vermeidet Parallelgesell­schaften und buchstäbliches wechselseitiges Unverständnis.“33 Sieht man von dem Interesse an der Sicherung individuellen Wohl­ergehens ab, gibt es außer der deutschen Sprache oft wenig, was uns frühzeitig mit den Zuwanderern verbinden könnte.

2. Von ihnen mitverschuldete Probleme der Kulturwissenschaften Im Folgenden soll es um zwei Probleme aus einer Reihe von hier nicht zu erörternden anderen gehen, die den aktuellen Zustand der Kulturwissenschaften betreffen. Zunächst geht es um die Herabstufung der Bedeutsamkeit von idiographischen Analysen, die unter anderem eine Folge der gestiegenen Nachfrage nach gesamtgesellschaftlichen Befunden und Makro-Daten ist, welche als grundlegend für gesellschaftspolitisches Verwaltungshandeln angesehen werden. Neben der damit verbundenen Auszeichnung makroökonomischer und makrosoziologischer Forschungsorientierungen sticht die für verschiedene Bereiche des Herrschaftswissens charakteristische Euphorie im Umgang mit Faktoren und Variablen, die miteinander korreliert oder zueinander in eine kausale Beziehung gesetzt werden, besonders ins Auge. Bekanntlich führt jedoch der Wille, den Menschen in Daten, Merkmale, Faktoren, Indikatoren, Funktionen, Rollen und Verhaltensmuster aufzulösen, nicht immer zur Einsicht in konkretes Verhalten. 32 Henning RITTER: Notizhefte, 6. Aufl., Berlin 2010, S. 119. 33 Johannes SINGHAMMER: Mehr Mut zur deutschen Sprache (Anm. 31).

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2. KULTURWISSENSCHAFTEN

Jürgen Kaube weist im Anschluss an den US-amerikanischen Soziologen Andrew Abbott­34 auf die Blindheit einer Forschung hin, für welche die soziale Wirklichkeit lediglich aus kausalen Zusammenhängen gebildet wird, die zwischen einer Klasse von Personenmerkmalen, wie zum Beispiel Geschlecht, Konfession, Einkommen der Eltern, Wohnort usw., und e­ iner anderen Klasse von solchen Merkmalen, wie etwa Bildung, Berufstätigkeit und persönlichem Einkommen, bestehen. Dabei gerate aus dem Blick, „wie, wo und wann konkret es die Ursachen denn machen, daß sie Wirkungen haben“.35 Gute generalisie­rende Sozialwissenschaft wird daher auch, um plausibel zu werden, nicht auf die exemplarische Funktion phänomenologischer Einzelfallanalysen verzichten können, also auf etwas für die verstehend-idiographischen Geisteswissenschaften Charakteristisches. Die verschiedent­lich betriebene Trennung der generalisierenden Sozial­wissenschaften von den Geisteswissenschaften hat sich für beide Bereiche der Kulturwissenschaften als nachteilig erwiesen. Das zweite hier in Betracht stehende Problem der Kulturwissenschaften stellt sich an­ ge­sichts der an verschiedenen europäischen Universitäten in ihrer jüngsten Reformphase weisbaren „Schwierigkeit, in einigen geisteswissenschaftlichen Disziplinen nicht nach­ durch die Prüfungen zu kommen“.36 Dafür gibt es verschiedene Gründe, aber ein beson­ ders gra­vierender und gleichzeitig paradox erscheinender hat damit zu tun, dass die euro­ päischen Reformuniversitäten gemäß den Zielen und dem Muster von Organisationen der Wirtschaft gestaltet wurden. Der Anschein der Paradoxie schwindet, wenn man sich einige Folgen der neu auf Universitäten zur Anwendung gebrachten Prinzipien des Wettbewerbs und der Sicherung einer hohen Eigenkapitalquote vergegenwärtigt. Diese Sicherung geschieht vornehmlich in Form der Akquisition von Drittmitteln durch Forscher und Forschergruppen sowie durch Einbehaltung eines sogenannten Overheadanteils durch die Universitäten. Wenn auch leicht übertreibend benennt Kaube einige Folgen dieser Entwicklung: „Was Professoren überhaupt noch lesen, sind Gutachten, Evaluationsrichtlinien, Evaluationsergebnisse, An­ tragsentwürfe, Antrags­ entwurfsänderungen, Reisekostenanträge, Calls for papers, Abstracts. Von alldem hat die Lehre – nichts. Die Forschung ist der Parasit der Lehre.“37 Allzu viel Zeit wird zudem auf das „Netzwerktamtam in der Drittmittelzone“38 verschwendet. 34 Siehe Andrew ABBOTT: Time Matters. On Theory and Method, Chicago 2001. 35 Vgl. Jürgen KAUBE: Was Schule leisten soll und kann (Anm. 30), S. 33. 36 So Jürgen KAUBE: Wachstum als gemischtes Vergnügen, in: Ders., Im Reformhaus (Anm. 30), S. 115 – 131, hier S. 116. 37 Ebd., S. 124. – Negativ sind bislang die damit verbundenen Folgen insbesondere für die universitäre Ausbildung der Lehrer an den Gymnasien und den höheren Schulen, die wiederum für die Rekrutierung des studentischen Nachwuchses zuständig sind. 38 Ebd., S. 129.

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Wozu kulturwissenschaftliche Forschung heute ?

Stellt man den Zeitbedarf für die mehr und mehr evaluationsrelevanten Anträge, die Tagungsbesuche, die Publikationen und die Netzwerkpflege, die ja auch eine Pflege des akademischen Sicherheitsnetzes ist, in Rechnung, so kann es nicht verwundern, dass sich verschiedentlich so etwas wie ein stilles Übereinkommen zwischen Studenten und Professoren einstellt, ein disengagement compact, dessen Inhalt in der „Übereinkunft über eine beiderseitige Präferenz für physische und geistige Abwesenheit“ besteht: „Wenn du mich in Ruhe läßt, lasse ich dich in Ruhe.“ Und so ist der modisch gewordene universitäre Betrieb zu einem nicht unerheblichen Teil „ein erstaunlicher Fall von mangelnder Intelligenz in Organisationen, die eigentlich ihrer Kultivierung dienen“.39

Schlussbemerkung Jenseits der den Tagesaktualitäten geschuldeten Analyseerfordernisse, wie sie von Seiten der Politik unter den Kulturwissenschaften insbesondere den Rechts- und Wirtschaftswissenschaften sowie der Sozialstatistik angesonnen werden, kommt vor allem den Geisteswissenschaften eine nicht unbedeutende Rolle zu. Als das bildungswissenschaftliche Pendant des sozialwissenschaftlichen Herrschaftswissens haben sie Aufweisungsanalysen zu ihrem Kernbestand: sie zeigen nämlich auf, was der Mensch an Gutem wie Bösem, an Schönem wie Hässlichem zu schaffen vermag; wie ihn Ideen, aber auch ideologische Pseudorecht­fertigungen dabei antreiben, und welche Umstände dafür bestimmend sind; was schließlich, trotz aller Bemühungen, seine Kräfte übersteigt. Damit leistet diese Art von kulturwissenschaftlicher Selbstbesinnung einen herausragenden Beitrag zur historischen Anthropologie. Dieser geht es um die Einsicht in die condition humaine, in die allen Menschen gemeinsamen Faktizitäten von Geburt, Freude, Leid, Schmerz, Liebe, Angst, Freundschaft, Einsamkeit, Trauer und Tod. So verstanden leistet dieser Zweig der Kulturwissenschaften einen Beitrag dazu, das den Angehörigen verschiedener Zeiten und Kulturen im geschichtlichen Wandel Gemeinsame ausfindig zu machen, oder aber umgekehrt: dazu, vor dem Hintergrund des ihnen allen Gemeinsamen die Vielfalt von Äußerungen und Handlungen der Menschen verschiedener Zeiten und Kulturen darzustellen, zu verstehen und zu erklären. Man würde sich wünschen, dass die Wissenschaftspolitik in der immer noch größer werdenden und zunehmend durch die Immigration aus anderen Kulturen geprägten Europäischen Union die Bedeutsamkeit der Kulturwissenschaften nicht allzu sehr gegen­über derjenigen der angewandten Natur- und Wirtschaftswissenschaften herabstuft. Wenn man zum Beispiel blind geworden ist für die kulturellen Grundlagen der Ökonomie, ist es nicht nur um die Kulturwissenschaften, sondern auch um die Erklärungskraft der Ökonomik 39 Ebd., S. 90 f.

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2. KULTURWISSENSCHAFTEN

schlecht bestellt. Kulturwissenschaftler können darlegen, dass es nicht immer ökonomi­ sche Verteilungskonflikte, sondern häufig Wertkonflikte und Kulturkämpfe waren, wodurch die Geschichte eine neue und oft dramatische Wendung erfahren hat. Ob man sie hören wird und ihnen Glauben schenkt? Im Recht war schließlich auch Kassandra – aber was hatte sie davon?

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3. RELIGION Vorbemerkung In der nun folgenden Abhandlung wird darzulegen versucht, dass und wie das, was als religiöses Wissen oder – in den Worten von Max Scheler – als „Heils-“ oder „Erlösungs­ wissen“ gilt, häufig mit Beständen des „Bildungswissens“ und des wissenschaftlich-technisch verstandenen „Leistungs-“ oder „Herrschaftswissens“ in Wider­spruch gerät. Durch den im Bereich des nicht-theologischen Wissens nachweisbaren Erkenntnisfortschritt werden gewisse Inhalte von heiligen Schriften und anderen religiösen Botschaften ihres ursprünglich bestehenden magisch-integralen Charakters beraubt. Es ist hinreichend be­ kannt, dass naturwissenschaftliche Erkenntnisse mit religiösen Glaubensvorstellungen kollidierten; hier möge der Hinweis auf Kopernikus, Galilei, Bruno, Lyell und Darwin genügen. Und doch wurden auch durch das geistes- und sozialwissenschaftliche Bildungswissen – von der Psychologie und Anthropologie über die Geschichtswissenschaft und Ethnologie bis zur Rechts- und Staatswissenschaft – gewisse Inhalte des Heilswissens in ihrem Geltungswert destabilisiert. Oft wurde diese Verunsicherung von den Glaubenswächtern verschiedener Religionen hart gesühnt. In defensiver Absicht nahmen daher Wissenschaftler gelegentlich eine Unterscheidung von angeblich unverändert geltenden Glaubens- und variablen Wissensbeständen vor, wobei sie den Glaubenssätzen eine Wahrheit eigener und höherer Ordnung attestierten, um sich danach möglichst ungestört der Suche nach „minderen“ Wahrheiten hingeben zu können. Intellektuelle Unzulänglichkeiten, wie sie sich aus heutiger Sicht in religiösen Schriften nachweisen lassen, machen diese jedoch keineswegs obsolet, da ihnen bekanntlich nicht nur eine kognitive Funktion zukommt, sondern vor allem auch eine emotionalwertende und eine normativ-handlungsregulierende. In diesem Sinne können religiöse Texte beispielsweise dem Glücklichen ein gutes Gewissen dadurch verschaffen, dass sie ihn als im Stand der Gnade befindlich ausweisen, dass sie dem Elenden Hoffnung im Unheil zusprechen, oder dass sie für wieder andere eine Kompensation angesichts der „entgleisenden Moderne“ (Jürgen Habermas) bilden und dort ein Gemeinschaftsgefühl schaffen, wo der Individualismus hypertroph geworden ist. Diese Funktionen werden in der Regel durch die Kritik an bestimmten kognitiven Gehalten von Glaubensvorstellungen gleich wenig in Mitleidenschaft gezogen wie etwa der musikalische Wert einer Oper durch

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3. RELIGION

deren schlechtes Libretto. Im Besonderen gilt dies für Praktiken des tätigen Mitgefühls (auch wenn in Bezug darauf den Religiösen kein Alleinstellungsmerkmal zukommt): für die Hilfe bei der Beseitigung oder Linderung des Elends der Armen und Schwachen, einschließlich der barmherzigen Anteilnahme am Schicksal der durch eigenes Unvermögen Schwachgewordenen und Gestrauchelten.1

1 Teile der folgenden Studie sind unter dem Titel „Religiöses und historisches Bewusstsein“ erschienen in Dariusz Aleksandrowicz (ed./Hrsg./red.): Religion, Ethics and Public Education/Religion, Ethik und öffentliche Bildung/Religia, etyka i edukacja publiczna, Frankfurt a. M. 2012.

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Religiöses und historisches Bewusstsein „Der Sieg der Religionsstifter über die Philosophen ist selbstverständlich in der Geschichte, die wir kennen. Wird es in Zukunft eine Gesellschaft geben, in der man es aushält, mit Schmerz und Leid und Rätseln und der ungenierten Gewalt, die nicht nur der Starke dem Schwachen, auch der Wendigere dem Schwerfälligeren, der Begabte dem Untalentierten antut (eine Ausbeutung, die noch nicht belichtet ist)? – Wird man nicht nur ohne Gott, auch ohne Utopie auskommen … und trotzdem mitleiden und sich mitfreuen und helfend zugreifen?“ Ludwig Marcuse, Argumente und Rezepte. Ein Wörter-Buch für Zeitgenossen, Zürich 1973

I. Elementarfunktionen von Religion In seinem erstmals 1926 erschienenen Buch Die Wissensformen und die Gesell­schaft unterschied Max Scheler drei grundlegende Wissensarten: Erlösungs-, Bildungs- und Leistungswissen.2 Dem Erlösungswissen ordnet er die Religionen und deren Theologien, und dem Leistungs­ wissen die wissenschaftlich-technischen (ein­schließlich der sozialtechnischen) Disziplinen zu. Essentiell für das, was Scheler als Bildungswissen bezeichnet, sind philosophische Inhalte und solche der philologisch-historischen Disziplinen. Die folgenden Ausführungen gelten zunächst dem „Heilswissen“, ehe auf die partielle Konvergenz von Inhalten des religiösen Denkens mit denen anderer Wissensformen und auf die damit verbundenen Folgen Bezug genommen wird. Stets hat der Mensch, wie Ernst Topitsch in seinem Buch Heil und Zeit dargelegt hat,3 nach dem Glück und dem Heil gestrebt, und das Un-Heil und das Un-Glück abzuwenden gesucht. Die Befreiung oder das Freisein von Unheil kann sich sowohl auf bedrängende gegenwärtige als auch auf ersehnte zukünftige Verhältnisse beziehen. Mit diesen zukünftigen Verhältnissen können entweder diesseitige Heilserwartungen gemeint sein, welche sehr oft Naherwartungen sind, oder aber jenseitige, mit denen die Vorstellung von einer „ewigen Seligkeit“ im Sinne einer ins Unendliche erstreckten Zeitdauer verbunden ist.4 Mit solchen Überzeugungen geht nicht selten die Vorstellung von einem „Paradies“ in einer verklärten 2 Siehe Max Scheler: Die Wissensformen und die Gesellschaft (= Gesammelte Werke, Bd. VIII), 2. Aufl., Bern-München 1960, v. a. S.  60 –135. – Dieser Schelerschen Triade von Leistungswissen, Bildungswissen und Erlösungswissen entsprechen in gewisser Weise auch die drei Modalitäten des Seienden in M ­ artin HEID­EGGERs Sein und Zeit (1927): Zuhandenheit, Vorhandenheit und Existenz, vor allem aber das technische, praktische und emanzipatorische Erkenntnisinteresse bei Jürgen HABERMAS in seinem Buch Erkenntnis und Interesse (1968). 3 Ernst Topitsch: Heil und Zeit. Ein Kapitel zur Weltanschauungsanalyse, Tübingen 1990. 4 Ebd., S. 4.

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3. RELIGION

Vergangenheit einher, das in einer jenseitigen Zukunft sein Äquivalent haben soll. Das Erlösungsbedürfnis ist, wie Topitsch darlegt, dort am stärksten, wo die Abwendung unmittelbar bedrängenden Unheils ersehnt wird. Heilserwartung ist in diesem Sinne vor allem Naherwartung, welche sich auf die Befreiung von konkreten Bedrängnissen bezieht: von „Krankheit und Tod, Hunger und Mühsal, Habsucht und Selbstsucht, Gewalt und Unterdrückung. Damit verbunden ist mitunter die Befriedigung von Bedürf­nissen der Rache und Vergeltung, des Verlangens nach Herstellung der ‚Gerechtigkeit‘.“5 Sowohl für die diesseitigen als auch die jenseitigen Heilserwartungen gilt das Sprichwort „Not lehrt beten“, wobei man den ursprünglich „utilitaristischen“ Charakter religiöser Gebete und Riten nicht übersehen sollte. Dieser haftet, wie Max Weber einmal bemerkte, „der Alltags- und Massenreligiosität aller Zeiten und Völker und auch allen Religionen an. Abwendung ‚diesseitigen‘ äußerlichen Übels und Zuwendung ‚diesseitiger‘ äußerlicher Vorteile ist der Inhalt aller normalen ‚Gebete‘, auch der allerjenseitigsten Religionen. ­Jeder Zug der darüber hinausführt, ist das Werk eines spezifischen Entwicklungsprozesses.“6 Dieser spätere, anti-utilitaristische Grundzug ist es, mit dem man immer wieder den Eigen­ charakter des Religiösen auf das engste verknüpft: das über die instrumentelle Vernunft oder Zweckrationalität hinausgehende Außeralltägliche. Damit wird die Webersche „Wert­ rationalität“ zu einem Wesensmerkmal eines gewissermaßen spätreligiösen Denkens und Handelns. Dieses ist im Unterschied zu jenen Formen der Religion, in denen eine zweckrationale Verknüpfung von Erwartungen mit religiösen Handlungen besteht, nicht unmittelbar in Gefahr, mit Gebet und Ritus im Wettbewerb mit wissenschaftlich-technischen Praktiken zu unterliegen. Hingegen hatte dieser Wettbewerb für die utilitaristisch-religiöse Orientierung schon wiederholt bedenkliche Konsequenzen. Denn so wie Not beten lehrte, hatte deren Beseitigung später häufig das Obsoletwerden von Gebet und Ritus zur Folge – und dies nicht nur in westlichen Gesellschaften.7 Zweifellos ist es das nicht-instrumentalis5 Ebd., S. 118. 6 Max WEBER: Wirtschaft und Gesellschaft [1922], 4. Aufl., Tübingen 1956, S. 259. – Deutlich kommt die späte, antiutilitaristische Haltung in dem spanischen Sonett eines Anonymus aus dem 16. Jahrhundert zum Ausdruck, das sich – neben drei ähnlichen anderen Eintragungen – in dem Buch von Himmel und Hölle von J. L. Borges und A. B. Casares findet: „Dich zu lieben, mein Gott, bewegt mich nicht der Himmel, den du mir verheißen hast, und nicht die so sehr gefürchtete Hölle bewegt mich dazu, dich nicht mehr zu kränken. […] Es bewegt mich […] deine Liebe, und zwar so sehr, daß ich dich lieben würde, auch wenn es keinen Himmel gäbe, und fürchten, gäbe es auch keine Hölle.“ – Jorge Luis BORGES, Adolfo Bioy CASARES: Das Buch von Himmel und Hölle. Übersetzt von Maria Bamberg und Gisbert Haefs (= Jorge Luis Borges, Werke in 20 Bänden, Bd. 11), Frankfurt a. M. 1993, S. 14. 7 Siehe exemplarisch Stanley J. Tambiah: Magic, Science and Religion and the Scope of Rationality, Cambridge 1990, S. 132 f., wo darauf hingewiesen wird, dass die Anwendung der Impfung gegen Pocken in Indien zu einem signifikanten Rückgang der auf die Göttin Mariamma bezogenen Kulte und Gebete zur Folge gehabt hat, an die man sich vor dem Einsatz westlicher Medizin und Pharmakologie wandte, um die Vereitelung einer Pocken-Erkrankung zu erbitten.

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Religiöses und historisches Bewusstsein

tische und nicht-utilitaristische moralische Verhalten, wie es vor allem durch die Lehre von der Barmherzigkeit um ihrer selbst willen an den Tag gelegt wird, das der Religion auch unter Areligiösen ein Ansehen sichert. Ganz allgemein kommt Religionen – funktionell betrachtet – als Institutionen der Bewältigung von Kontingenz ein hoher Wert zu. Dort, wo menschliche Bemühungen versagen, mit politischer Gewalt, ökonomischer Ausbeutung, aber insbesondere mit physischem und psychischem Leid und dem Sterben fertig zu werden, macht sich oft eine religiöse Orientierung geltend. Es war Friedrich Schleiermacher, der, auf Kants Metaphysikkritik und einem romantischen Religionsverständnis aufbauend, Religion als Gefühl „schlecht­ hinniger Abhängigkeit“ gedeutet und den Schöpfungsglauben als das Zeugnis des inneren Umgangs des Menschen mit der Erfahrung seiner Endlichkeit aufgefasst und expliziert hat.

II. Kategorische Religion und hypothetische Wissenschaft Die drei Seelenvermögen von Denken, Fühlen und Wollen konstituieren die Einheit des Selbst, welcher das „plurifunktionale Führungssystem“ der Religion korrespondiert: die Einheit von Informationsvermittlung, Verhaltenssteuerung und emotionaler Reaktion.8 Durch Jahrhunderte hindurch blieb diese Einheit auch im europäischen Christentum gewahrt. Im Vollzug jenes Prozesses der kulturellen Evolution, den man landläufig als Säkularisierung bezeichnet, erfolgte die langsame Verselbstständigung des Erkennens, also der Deutung und Erklärung der natürlichen, sozialen und seelischen Wirklichkeit, gegenüber den beiden anderen Funktionen des plurifunktionalen Führungssystems Religion: seiner emotional-werthaften und seiner handlungsregulierenden Komponente. „Das allmählich wachsende Wissen um Tatsachen und ihre Wechselbeziehungen, besonders um die Zusammenhänge von Handlungen und Handlungsfolgen, erweitert zunächst seinen autonomen Bereich im Rahmen der plurifunktionalen Führungssysteme, bis es diesen schließlich sprengt. Dann treten die grundsätzlichen Unterschiede zwischen Sein und Sollen, Tatsachenaussage und Werturteil hervor. Damit wird aber auch jene vermeintliche Einheit von Erklärung und werthaft-normativer Deutung des Universums unhaltbar, die das menschliche Denken so lange Zeit hindurch nahezu unangefochten beherrscht hatte.“9 Die Religion als plurifunktionales Führungssystem durchwirkte sowohl den subjekti­ ven Bereich des Psychischen als auch den des Gesellschaftlich-Institutionellen. Sie war der Rahmen und das einigende Band von Denken, Fühlen und Wollen im individuellen, und von Wissenschaft, Kunst, Politik und Moral im gesellschaftlichen Bereich. Mit 8 Zur Analyse der Vielgestaltigkeit und Wirksamkeit „plurifunktionaler Führungssysteme“ siehe Ernst Topitsch: Erkenntnis und Illusion. Grundstrukturen unserer Weltauffassung, 2. Aufl., Tübingen 1988. 9 Ebd., S. 10.

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dem Auftreten mehrerer Konfessionen, also mit der Pluralisierung von plurifunktionalen Führungssystemen, schwand die Einheitlichkeit der Orientierung in den erwähnten insti­ tutionellen Teilbereichen gleichermaßen wie in den informellen Denk- und Lebensformen des Alltags. Es gab nicht mehr nur eine Wissenschaft, eine Kunst, eine Moral und eine Politik, sondern zumindest noch eine andere, und dies hatte im Regelfall eine Bekämpfung der jeweiligen heterodoxen Weltanschauungsangebote, Welterklärungen, Weltverklärungen und moralisch-politischen Orientierungen zur Folge. Nur in seltenen Fällen gab es so etwas wie friedliche Koexistenz von Anbeginn an. In der Mehrheit der Fälle – ob nun beispielsweise in der Auseinandersetzung zwischen den beiden christlichen Konfessionen in Europa oder in den Kämpfen zwischen Hindus und Muslimen in Indien – hat die Übermüdung und Schwächung als Folge der langwierigen Glaubenskriege zum Sieg der Tole­ ranz geführt. Aber in noch höherem Maße hat zu ihr der Zweifel beigetragen, welcher durch die Entfaltung der modernen Wissenschaft und des hypothetischen Denkens in die Welt kam. Der durch die Wissenschaft induzierte Zweifel ging oft an die Substanz der Glaubenslehre und destabilisierte die Beziehung zwischen religiöser Führung und Gefolgschaft: „Während die Erstarkung des Staates der Kirche doch nur solche Gebiete entzog, die jenseits des Glaubens lagen, während die Glaubensspaltung die Völker und Länder, die sie der katholischen Kirche entzog, dem Protestantismus gewann, so hat der Glaubens­ zweifel allen Kirchen, den neuen protestantischen wie der alten katholischen, im eigensten Gebiete des Glaubens viele Millionen von Seelen entfremdet.“10 Mit der wachsenden Verselbstständigung der Wissenschaft setzte die Auflösung der zwischen ihr, der Kunst und der Moral bestehenden religiösen Bindungen ein, und was sich von der Religion emanzipierte, fungierte dann mitunter als deren Ersatz. Zunächst war es in Europa die Moral, welche nach den Religionskriegen wichtige Funktionen der Religion im öffentlichen Bewusstsein übernahm, seit Beginn des Geniekults die Kunst, und seit den Triumphen von Medizin und anwendungsorientierter Wissenschaft die Technik. Dieser kam seit dem 19. Jahrhundert – und oft gemeinsam mit der Kunst – in weiten Kreisen der bürgerlichen Intelligenz mehr und mehr der Charakter des Religionsersatzes zu. Im 20. Jahrhundert sollten dann diese Funktionen – die moralische, die künstlerische und die technische – von den „wissenschaftlichen Weltanschauungen“ als Teilfunktionen der moder­­ nen Großideologien übernommen und abermals in ein plurifunktionales Führungssystem integriert werden. Die Aushöhlung der Offenbarung durch Moral ist ein bestimmender Grundzug der Ideengeschichte des 18. Jahrhunderts, und die Einbruchstelle dieses Denkens liegt im absolutistischen Staat. Zwar blieb in diesem die Fassade der Religion erhalten, aber deren Institutionen wurden mehr und mehr von der Staatsräson genutzt. In der Folge traten in der Erziehung bürgerliche Tugenden in den Vordergrund, und die Religion wurde zur 10 Friedrich Wieser: Das Gesetz der Macht, Wien 1926, S. 142.

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Religiöses und historisches Bewusstsein

„Frömmigkeit“ pietistisch verinnerlicht und privatisiert. Ob man nun diese Wendung in das Innerliche und Private als eine Tendenz des Schutzes gegenüber dem Machtanspruch des absolutistischen Staates ansieht oder eher als eine neuhumanistische Revitalisierung stoischen Gedankenguts – letztlich bedeutete diese pietistische Introversion den ersten Schritt im Vollzug der Substitution des institutionell gefestigten Glaubens durch den Willen zur moralischen Subjektivität. Die eigentliche Erosion des Wahrheitsanspruchs der Theologie bereiteten verschiedene wissen­schaftliche Disziplinen in der Epoche des Humanismus vor, allen voran die Astro­ nomie und die Medizin, aber auch die historisch-philologischen Disziplinen – von der Bibel­exegese bis zu den Frühformen der vergleichenden Ethnologie. Vieles von dem wurde bereits damals in seinem Gewordensein, in seiner Historizität sichtbar, was man bislang als gleichsam vom Himmel verordnet und als unbefragt geltend erachtet hatte. Seit den Tagen von Lorenzo Valla und Nicolaus Cusanus gelangte man mit den Mitteln der Philologie zu einer gewisse Mythen der politischen Theologie zerstörenden Kenntnis bislang unbekannter historischer Fakten, nachdem es verschiedentlich schon vorher zu neuen Interpretationen bestimmter Inhalte der Heiligen Schrift gekommen war. Beides veranlasste die Gelehrten jener Zeit zu einer skeptischen Distanzierung von den Ansprüchen einer theologischen Unantastbarkeit. Zu den philologisch-historischen Erkenntnissen der Humanisten gesellten sich seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert noch Psychologie und philosophi­ sche Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Universalgeschichte, schließlich National­ ökonomie und Soziologie. Sie alle trugen mit ihren Analysen unter anderem dazu bei, die Struktur, die Genese und die Wirkungen des religiösen Bewusstseins sowie des ihm entsprechenden Verhaltens zu erkunden. Für alle diese Wissenschaftsdisziplinen war die Tatsache charakteristisch, dass es sich bei ihnen nicht um technische Disziplinen im Sinne des Herrschafts- oder Leistungswissens handelte, sondern um solche des Bildungswissens – oft auch um Grundlagenforschung. Im Anschluss an jene Psychologie und Gesellschaftstheorie, die durch John Lockes Ana­lysen von Lust und Leid inauguriert wurde und die später in der Nutzen-KostenAnalyse eine wirtschaftswissenschaftliche Transformation erfuhr, fand eine neue Betrachtung von Wertfragen statt. Durch sie wurde die Aufmerksamkeit immer mehr von der herkömm­lichen Auffassung von der Sündhaftigkeit des Eigennutzes zur Theorie eines wohlverstande­nen self-interest hingelenkt. Dem Eigennutz, so fand man seit Bernard de Mandeville, sei durch gute Sozialtechnik mehr für das Gemeinwohl abzugewinnen als durch eine nur gesinnungs­ethisch argumentierende Philosophie. Nach und nach machten darüber hinaus religiöse, durch die Heilige Schrift gestützte Ansichten über die Entstehung der Welt und des Lebens neuen Erkenntnissen der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung auf den Gebieten der Kosmogonie und der Entwicklungsbiologie Platz, und die Auffassung brach sich Bahn, dass religiöse Dogmatik auf diesen Gebieten fehl am Platz sei.

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3. RELIGION

Diese Art des naturwissenschaftlichen Bildungswissens führte vor Augen, dass alles Wissen, einschließlich gewisser Ideen vom Ewigen, vergänglich ist, hypothetischen Charakter und dem kritischen Prinzip von trial and error zu entsprechen habe.11

III. Das Unwandelbare im Ansturm der Historisierung Fragt man nach den Gründen und Ursachen der Erosion religiöser Inhalte und der auf sie folgenden Substitution durch profane, so stößt man bei der Beantwortung dieser Frage unweigerlich auf die geistige Bewegung des Historismus. Der Historismus ist in seiner relativistischen Variante eine Konsequenz der Einsicht in den Wandel der historischen Phänomene, einschließlich des Denkens über diese. Solche Einsichten gehen fast immer auch mit Erfahrungen des Anderen und Fremden einher, die eigene Gewissheiten erschüttern. Es war vor allem die durch die Kenntnisnahme des Anderen bewirkte Erfahrung, welche sich in Europa erstmals in hellenistischer Zeit in aller Deutlichkeit nachweisen lässt, später jedoch insbesondere in der Epoche des Kolonialismus vom 15. bis zum 18. Jahrhundert und des darauf folgenden Imperialismus. Was bedeutete es, dass eine größere Zahl von Nichtchristen als in jedem früheren Jahrhundert in der Epoche des Kolonialismus unter christliche Herrschaft kam? Neben den im Vordergrund stehenden wirtschaftlichen und politischen Aspekten des Kolonialismus hatte dieser auch für das religiöse Selbstverständnis der Kolonisatoren große Bedeutung. Dies einerseits aus dem Grund, weil sich die, wie Jürgen Osterhammel ausführt, „Selbstbeauftragung zu Zivilisierungsmissionen, also das wichtigste Ideologem imperialer Rechtfertigung, leicht als religiöser Auftrag umformulie­ ren ließ“,12 andererseits – und vor allem – deshalb, weil die Religion der kolonisierenden 11 Seit Pierre Bayle und der französischen Aufklärung sowie vor allem in der Nachfolge von David Hume und Immanuel Kant erfolgt die Kritik von Religion und Metaphysik vor dem Hintergrund der spannungsvollen Beziehung von Glauben und Wissen. Von Beginn an entzündete sich die Kritik am Wunderglauben. Exemplarisch für Denis Diderots einschlägige Ausführungen ist der folgende Passus aus seinen Pensées philosophiques: „Daß Cäsar gelebt hat, ist so sicher wie dies, daß zweimal zwei vier ist; und es ist ebenso sicher, daß Jesus Christus lebte, wie dies, daß Cäsar gelebt hat. Also ist genauso gewiß, daß Jesus Christus auferstanden ist wie dies, daß Cäsar und er gelebt haben. O nein! Daß Jesus Christus und Cäsar lebten, ist kein Wunder.“ – Denis DIDEROT: Pensées Philosophiques, Anhang [1770], Abs. XXVII, in: Œuvres philosophiques, ed. Paul Vernière, Paris 1956 ; zitiert nach: Die Aufklärung. In ausgewählten Texten dargestellt und eingeleitet von Gerhard Funke, Stuttgart 1963, S. 329. – Zur Analyse der Beziehung von Glauben und Wissen im Lichte jüngeren Schrifttums vgl. exemplarisch Hermann Lübbe: Die Religion und das Ende der wissenschaft­lichen Weltanschauung, in: Grenzen und Grenzüberschreitungen. XIX.  Deutscher Kongreß für Philosophie […]. Hrsg. v. Wolfram Hogrebe in Verbindung mit Joachim Bromand, Berlin 2004, S. 207–221. 12 Jürgen OSTERHAMMEL: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 1259.

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Nationen jeweils mit ganz andersartigen religiösen Orientierungen und den damit verbundenen Werthaltungen und Verhaltensweisen konfrontiert wurde. Hatte der Kolonialismus so etwas zur Folge wie eine Einsicht in die Synchronizität verschiedener Kulturen und der für sie grundlegenden Wertordnungen, so rückte der seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert durch die Geisteswissenschaften vorangetriebene Histo­rismus zusätzlich eine diachrone Sicht des kulturellen Pluralismus in den Blick. Beide Formen der Pluralisierung des Wertgeschehens mündeten in dem, was Gunter Scholtz als „die Relativierung aller Wert- und Orientierungssysteme zu vergänglichen Erscheinungen im unberechenbaren Fluß der Geschichte“ bezeichnet.13 Je mehr durch historisches Wissen und durch den so ermöglichten Vergleich der Kulturen auch die eigenen Werte zu kontingenten Tatsachen neben anderen solchen Tatsachen werden, desto größer wird die Unsicherheit und Orientierungslosigkeit. Wie schon Wilhelm Diltheys Untersuchungen gezeigt haben, wirkt die Kenntnis der Pluralität der Daseinsdeutungen, der Religionen und Metaphysiken vor allem im Hinblick auf die eigenen einschlägigen Traditionen irritierend. Und hier setzt jener Prozess an, den man unter Zugrundelegung der beiden Grundbedeutungen von „Historismus“ – der positivistischen Ansammlung und Sicherung historischer Daten einer­seits, des ethnisch-kulturellen Relativismus andererseits – als den historistischen Zirkel bezeichnen könnte: Je mehr die Geschichtswissenschaft die Vielgestaltigkeit und Unterschiedlichkeit des Wertens und Handelns in den verschiedenen Kulturen nachzuweisen in der Lage ist, umso größer wird die normative Irritation; umgekehrt gilt wiederum, dass man in umso höherem Maße bemüht ist, möglichst gesichertes Wissen auf historischem Gebiet zu erlangen, je problematischer – und das heißt: je kulturabhängiger oder auch „subjektiver“ – einem die eigenen Wertungen erscheinen. Historischer Positivismus und Wertrelativismus bilden so die beiden Seiten des Historismusproblems.14 Zugleich mit der Historisierung von Kultur und Gesellschaft vollzog sich eine Histori­ sierung der Natur, vor allem nachdem die großen französischen Entwicklungsbiologen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts die Historizität biologischer Formen erkannt hatten; auch durch sie wurden gewisse religiöse Inhalte und Vorstellungen des Christentums radikal in Frage gestellt. Die Anfänge dieser Entwicklung reichen zurück in die Epoche des Humanis­mus. Mehr und mehr war damals die historisch-kritische Methode der Philologen zur Grundlage für die Beschäftigung mit den lange Zeit für inappellabel gehaltenen Auffassungen der thomistischen Aristoteliker geworden. Die Fehlannahmen und Trugbilder, die in nicht näher aufgeklärten anthropozentrischen Deutungen ihren Ursprung hatten, rückten in den Mittelpunkt der Kritik, und die sich ungefähr um 1600 durchsetzende 13 Gunter Scholtz: Das Historismusproblem und die Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert, in: Ders., Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis. Zu Grundlage und Wandel der Geisteswissenschaften, Frankfurt a. M. 1991, S. 130 –157, hier S. 132. 14 Vgl. ebd., S. 134.

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„Neue Wissenschaft“ ersetzte die anthropozentrische durch die allozentrische Weltsicht. Von Kopernikus, Bruno, Kepler und Galilei bis Lyell und Darwin reicht die naturwissenschaftliche Wieder- und Neuentdeckung der nicht mehr nur anthropo- und geozentrisch betrachteten Welt. Insbesondere die Weltentstehungslehre des Alten Testaments, die für lange Zeit zum Nennwert des Buchstabenglaubens genommen worden war, rückte in das Zentrum der Aufmerksamkeit von Astronomen, Geologen und Biologen. Wie Charles ­Lyell in seinen Princip­les of Geo­logy (1830 –33) zeigen konnte, geht die Überzeugung von invarianten Tierarten auf die spezifisch menschliche Zeitwahrnehmung zurück, die mit der geologischen Zeit nicht in Kongruenz zu bringen war. Paläontologische Funde untermauerten jedoch im 19. Jahr­hundert die Annahme verschiedener Entwicklungsstadien, welche die biologischen Arten durchlaufen haben. Der Wandel vermeintlich konstanter Gattungen und Arten von Lebewesen galt damit als erwiesen und die Ansicht, wonach invariante bio­ logische „Formen“ seit der Erschaffung der Welt existiert hätten, als entkräftet. Darwins Origin of Species (1859) dehnte diesen Befund, unter Bezugnahme auf die Evolutionstheorie Herbert Spencers auch auf die menschliche Gattung aus. Diese im Zeitraum von vier Jahrhunderten gewonnenen Erkenntnisse veränderten den Stellenwert einer gemäß christlichen Prinzipien betriebenen Wissenschaft grundlegend: „Die Naturwissenschaften stellten durch den astronomischen Nachweis einer Pluralität der Welten, durch die chronologische Bodenlosigkeit von Geologie und Paläontologie und vor allem durch die Evolutionstheorie Charles Darwins, wie sie von einigen seiner Anhänger, wie zum Beispiel von Thomas H. Huxley in England oder Ernst Haeckel in Deutschland, radikalisiert und militant verfochten wurde, Gläubige aller Konfessionen und Religionen vor große Herausforderungen. Das Verhältnis von Glaube und Wissen wurde daher, zumindest in Europa, zu einem zentralen Thema philosophischer Weltorientierung, und die Harmonie zwischen Religion und Wissenschaft, zuletzt biedermeierlich und frühviktorianisch erhofft, ist nie wieder ungetrübt gewesen.“15 Es ist hier nicht nötig, auf die historischen Kämpfe zwischen den Anwälten des religiösen Buchstabenglaubens und der neuzeitlichen Naturwissenschaften im einzelnen einzugehen, sondern es genügt der Hinweis darauf, dass sich christliche Theologen unterschiedlicher Provenienz veranlasst sahen, die im Buch Genesis dargebotene Weltentstehungslehre in Anbetracht der nicht widerlegbaren Befunde der modernen Naturwissenschaften als Allegorie umzudeuten. Immer wieder mussten die Vertreter des Buchstabenglaubens unhaltbar gewordene Positionen räumen, und Versuche, verlorenes Terrain wiederzugewinnen – wie etwa durch das unter Papst Pius IX. im Juli 1870 auf dem Ersten Vatikanischen Konzil proklamierte Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit –, haben die Auseinandersetzungen über bestimmte Glaubensinhalte häufig nur noch verschärft.16 15 Jürgen OSTERHAMMEL: Die Verwandlung der Welt (Anm. 12), S. 1272. 16 Diese Situation ist in gewisser Hinsicht den Schwierigkeiten verwandt, in welche sich die ideologisch fun-

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IV. Zum religionskritischen Potential der Geistes- und Sozialwissenschaften Der Historismus entfaltete seine Wirksamkeit als Forschungsmethode vor allem in den hermeneutischen Disziplinen der Geisteswissenschaften. Standen, wie bereits erwähnt, am Anfang der modernen philologischen Kritik die bahnbrechenden Forschungen von Lorenzo Valla und Nicolaus Cusanus – man denke nur an deren Nachweis, dass es sich bei der Konstantinischen Schenkung um eine pia fraus, einen heiligen Trug, handelt –, so waren es im 19. und frühen 20. Jahrhundert insbesondere die religionsgeschichtlichen Studien von David Friedrich Strauß, Ernest Renan und Albert Schweitzer. In ihnen – wie in der großen Masse einschlägiger Publikationen seither – wurden nicht nur die durch die Evangelisten verbürgten Worte der Botschaft Jesu, sondern auch die Berichte über dessen Leben der historisch-kritischen Analyse unterzogen. Albert Schweitzer, der auch eine Studie über Das Abendmahl im Zusammenhang der Geschichte Jesu und der Geschichte des Urchristentums verfasste,17 hat dabei mit seiner Geschichte der Leben-Jesu-Forschung18 eine bis heute wegweisende Zusammenschau der in der Epoche des Historismus geführten breitgefächerten Diskussion geliefert. Den entscheidenden Anstoß zu dieser Diskussion sollte bereits das Schrifttum von David Friedrich Strauß bilden. Hatten schon die europäischen Glaubenskämpfe des 16. und 17. Jahrhunderts das christliche Selbstverständnis in eine wahre Identitätskrise geführt, so war es die Histo­ri­ sierung religiöser Glaubensinhalte, die im 19. Jahrhundert den Gel­tungswert christlicher Lehrinhalte aushöhlte. „Die wahre Kritik des Dogmas ist seine Geschichte“, lautete das historistische Credo von David Friedrich Strauß, der schon 1835/36 durch sein zwei­ bändiges in Tübingen erschienenes Werk Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet berühmt geworden ist. 1840/41 verfasste Strauß eine aus dem gleichen Geist gespeiste Kritik unter dem Titel Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft dargestellt. Die Arbeiten von Strauß wurden als literarische Revolutionen auf dem Gebiet der Religionswissenschaft bezeichnet, da durch sie auch allen dierte sowjetische Partei- und Staatsscholastik dadurch brachte, dass sie sich mit Hilfe bestimmter Immunisierungsstrategien vor den Erosionswirkungen des modernen wissenschaftlichen Denkens zu schützen suchte. – Dazu und zu verwandten Strategien siehe Ernst Topitsch: Erkenntnis und Illusion (Anm. 8), v. a. S. 241–302. 17 Tübingen 1901; Nachdruck Hildesheim 1983. 18 2. Aufl., Tübingen 1913; 9. Aufl., Tübingen 1984. (Die 1. Auflage aus dem Jahr 1906 hatte den oben genannten Titel als Untertitel; der Haupttitel lautete: Von Reimarus zu Wrede.) – In der Tatsache, dass seit dem 18. Jahrhundert die Evangelien mit den Methoden der Geschichtswissenschaft durchforscht und als Quellen für eine Rekonstruktion des Lebens Jesu benutzt wurden, erblickt Albert Schweitzer, wie er gleich auf den ersten Seiten dieses religionsgeschichtlichen Werkes ausführt, das Gewaltigste, was die religiöse Selbstbesinnung je gewagt und getan hat.

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Versuchen einer vermittlungstheologisch gesonnenen Hermeneutik eine Absage erteilt worden sei. Die in den vier Evangelien gebotenen Berichte über das Leben Jesu, dessen Sterben und Auferstehung seien, wie Strauß fand, keine historischen Zeugnisse, sondern über weite Strecken nur unhistorische Mythensammlungen. In diesen Mythen überhöhe die „Urgemeinde“ als Kollektivsubjekt ein geschichtsmächtiges, in seiner Tugendhaftigkeit exemplarisches Individuum – eben Jesus von Nazareth – zu einem die Einheit und Identität der Gruppe verbürgenden Führer und Erlöser. Das Schrifttum von Strauß war nur einer von vielen Anlässen für jenen bereits erwähnten Versuch von Papst Pius IX., auf dem Ersten Vatikanischen Konzil von 1869/70 die sacra doctrina zu sichern. Auf diesem Konzil wurde bekanntlich die Unfehlbarkeit des Papstes bei Verkündigung eines Dogmas ex cathedra beschlossen, was nicht nur zur Abspaltung der Altkatholiken in Deutschland führte, sondern unter Bismarck auch – in Kombination mit innenpolitischen Konflikten – zum „Kulturkampf  “ im neugegründeten Deutschen Reich. Geradezu im Sinn einer Antwort verfasste David Friedrich Strauß im Jahr 1872 das Buch Der alte und der neue Glaube, das zu einem der meistgelesenen Bücher im Deutschen Kaiserreich wurde. Strauß, der eine humanistische Kultur als Fortentwicklung des Christentums an­ strebte, betrachtete die heraufkommende Massengesellschaft seiner Zeit trotz aller Wissen­ schafts­begeisterung, die mit ihr einherging und die er in gewissem Umfang teilte, mit kulturpessimistisch gestimmter Skepsis. Deshalb bestand er darauf, dass die bildende Kunst, die Poesie und vor allem die Musik aller nüchternen Dienstbarkeit enthoben sein sollten. Wo er die Tugenden pries, da standen diese ebenso im Dienst einer höheren Erfüllung des Menschen wie die Künste, welche für ihn eine fiktive, bessere Gegenwelt jenseits der Grenzen unseres realistisch hinzunehmenden alltäglichen Lebens repräsentierten. Strauß wurde damit zum Exponenten einer Entwicklung, die zu seiner Zeit in der Praxis und Theorie einer bürgerlichen Kunstreligion Ausdruck fand. Die liberale protestantische Theologie und Kirchengeschichte des 19.  Jahrhunderts wiederum neigte, wie Jürgen Osterhammel ausführt, „dazu, Jesus als einen Morallehrer zu porträtieren, der transzendente Werte verbreitete. Als ein religionsgeschichtliches Interesse hinzutrat, welches das Christentum in den Zusammenhang anderer Religionen einordnete, entstand das entgegengesetzte Bild von Jesus als einem orientalischen Propheten, der die Welt vor ihrem nahenden Untergang zur Umkehr zu bewegen versuchte. Dass europäische Gelehrte auch andere religiöse Gründungsgeschichten, etwa die islamische, einer solchen historisierenden Kritik bzw. kritischen Historisierung unterzogen, wurde von Vertretern dieser Religionen häufig als Herausforderung und entsakralisierender Angriff verstanden – hier liegt auch eine der Wurzeln heutiger ‚Orientalismus‘-Vorwürfe.“19 Ein radikaler Historismus dieser Art erscheint heutzutage der Mehrzahl jüdischer oder islamischer 19 Jürgen OSTERHAMMEL: Die Verwandlung der Welt (Anm. 12), S. 1273 f.

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Theologen als nicht zumutbar – ein David Friedrich Strauß ist unter ihnen derzeit nicht denkbar.20 „Historismus“ war nicht nur ein Lebensgefühl, sondern zunächst einmal das For­ schungs­ programm einer methodisch betriebenen Geschichtsbetrachtung. Ein weites Forschungsfeld erschloss sich diesem methodischen Historismus in der vergleichenden Ethnologie oder Kulturanthropologie, deren Aufmerksamkeit insbesondere der Moral21 und – in der Nachfolge Johann Gottfried Herders – den werthaft geprägten Volkskulturen galt.22 Wie eine und dieselbe christliche Botschaft bei den verschiedenen Völkern eine sehr unterschiedliche Ausformung erhalten kann, wurde durch derartige Forschungen offenkundig. Von den Disziplinen, die für die Erforschung der Ursprünge religiöser Vorstellungen und Lehrinhalte von großer Bedeutung waren, seien hier noch die philosophische Psychologie und die Soziologie erwähnt. Deren Bogen spannt sich von David Humes Dialogen über natürliche Religion (1779) über Ludwig Feuerbachs Wesen des Christentums (1841), Nietzsches Genealogie der Moral (1887) und die in verschiedener Hinsicht an D. F. Strauß erinnernden Elementarformen des religiösen Lebens (1912) von Émile Durkheim, bis zu Freuds Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939) und Erik H. Eriksons Young man Luther (1958); vieles andere wäre gleichwohl noch zu nennen. Von besonderer Bedeutung war in diesem Zusammenhang zweifellos bereits John Locke, dies jedoch nicht, weil er sich in seiner Vindication of the Reasonableness of Christianity (1695) einer naturrechtlichen Rechtfertigung christlicher Moralvorstellungen zuwandte, sondern wegen bestimmter Inhalte seiner Erkenntnistheorie. Für unseren Zusammenhang bedeutsam ist seine im Essay Concerning Human Understanding (1690) entwickelte Theorie, der zufolge sogenannte „eingeborene Ideen“ („innate ideas“) nicht in der menschlichen Natur existieren, da der Geist ausschließlich Sinnesdaten enthalte sowie Verknüpfungen, die er zwischen diesen herstellt. Daran konnten David Hume mit seiner Natural History of Religion (1757), aber auch alle späteren Rekonstrukteure religiöser Lehren anknüpfen. So etwas wie eingeborene und vermeintlich unveränderliche göttliche Ideen und Werte erschienen fortan selbst als Produkte menschlicher Interaktionen – zugleich aber eben auch als durch diese veränderbar. Mit dieser Psychologie hatte der Erkenntnistheoretiker 20 Vgl. in diesem Zusammenhang Reza HAJATPOUR: Die Zweiheit von Glaube und Forschung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. Oktober 2009, S. N5. 21 Siehe exemplarisch Edward WESTERMARCK: The origin and development of the moral ideas, 2 Bde., London 1906 –1908; dt.: Ursprung und Entwickelung der Moralbegriffe, 2 Bde., Leipzig 1907–1909. Ihm voran gingen mit einer zum Teil gleichen Forschungsintention u.a. Edward B. Tylor, James G. Frazer und Moritz Lazarus. 22 Hier sei stellvertretend für eine ganze Reihe von Werken zur vergleichenden Ethnologie auf das Schrifttum des Begründers der amerikanischen „Cultural Anthropology“, Franz Boas, und das der in seiner Nachfolge stehenden Ethnologen Alfred Kroeber, Margaret Mead und Ruth Benedict hingewiesen.

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Locke letztlich auch die Grundlage für den späteren Historismus gelegt, dem zufolge wissenschaftliche, aber auch religiöse Überzeugungen zeitabhängige Antworten auf die mit bestimmten Problemen verbundenen Fragen sind.

V. Von den wechselnden Einstellungen der Religion zur politischen Ordnung Zieht man das Verhältnis von Religion und Politik in Betracht, so zeigt sich, dass sich unter dem Druck der Normativität faktischer Entwicklungen, welche vor allem seit Ende des Ers­ten Weltkriegs der Demokratie und den Menschenrechten einen ausgezeichneten Status im Wertesystem westlicher Gesellschaften einräumten, in der christlichen Theologie eine bedeutsame Abkehr von vormals die Demokratie zumeist ablehnenden Einstellungen vollzog. Eine eindrucksvolle Rekonstruktion dieser Entwicklung bildet die inhaltsrei­ che Schrift Katholische Kirche und scholastisches Naturrecht von August Maria Knoll, der in ­einer anderen Schrift auch dem Wandel der christlichen Einstellung zur Finanzwirtschaft und zur allgemeinen Wirtschaftspolitik seine Aufmerksamkeit widmete.23 Die zeitgenössische christliche Auslegung der Heiligen Schrift ist dadurch charakteri­ siert, dass man so etwas unterstellt wie eine nicht nur frühchristliche, sondern bereits im Alten Testament nachweisbare Affinität zu den Ideen der Menschenwürde und der Gleichheit, welche sich als die Geschichte des Christentums prägende Leitvorstellungen nachweisen lassen und eine Nähe zu den Vorstellungen von Menschenrechten und Demokratie nahelegen würden. Aber hier überwiegt wohl der interpretatorische Wille gegenüber der Anerkennung historischer Fakten. Denn die heutzutage von christlicher Seite zu hörende Bereitschaft zur universellen Solidarität ist nicht einfach zu identifizieren mit der altjüdischen Idee der Gleichheit, welche sich als ein moralischer Imperativ letzt­lich nur in Bezug auf die dem auserwählten Volk Angehörigen verstehen ließ. Und wie ist es in diesem Zusammenhang mit dem Neuen Testament bestellt? Gewiss, das Christentum hat die Gleichheitsvorstellung nicht auf ein einziges auserwähltes Volk, sondern auf die Gemeinschaft aller Christen, ungeachtet ihrer Volkszugehörigkeit, ausgedehnt. Aber auch damit verband sich im Allgemeinen nicht ein im modernen Sinne universalistischer Anspruch auf Gleichbehandlung, sondern ein Anspruch auf Gleichbehandlung für den Fall des Eintritts oder Übertritts in die christliche Gemeinde als die „wahre“ Kirche. 23 August Maria KNOLL: Katholische Kirche und scholastisches Naturrecht, 2. Aufl., Neuwied-Berlin 1968; Ders.: Zins und Gnade, Neuwied-Berlin 1967. Diese beiden mittlerweile vergriffenen Bände sind enthalten in Ders.: Glaube zwischen Herrschaftsordnung und Heilserwartung. Studien zur politischen Theologie und Religionssoziologie. Mit einer Einleitung von Ernst Topitsch und einem Nachwort von Reinhold Knoll, Wien-Köln-Weimar 1996.

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Wenn auch der Anspruch auf die zeitüberhobene Geltung der sozialen und der politischen Moral des Christentums der historischen Erfahrung nicht standhalte, so bleibe doch, wie manche meinen, als letztes Refugium des Unverrückbaren und Ewigen immerhin die für die Individualmoral konstitutive Idee des Gewissens. Was den manchmal damit verbundenen Anspruch auf ein Alleinstellungsmerkmal anlangt, so ist dieser, wie religionsgeschichtliche Analysen zeigen, nicht aufrecht zu halten. Denn auf jene Idee trifft man unter anderem bereits in der platonischen Vorstellungswelt. Wenn so zum Beispiel der heilige Ambrosius und Johannes Cassianus von den Untugenden als den „Dämonen der Seele“ sprechen, so unterstellen sie, wie bereits Platon, ein urwüchsiges Wissen um die Verfeh­ lung, aber auch um die Realisier­barkeit eines tugendhaften Lebens – also das Gewissen. Als tugendhaft erscheint in der platonischen Tradition der, welcher dem Geiz, dem Stolz, der Trägheit, der Völlerei, der Eitelkeit und anderen schlechten Neigungen entgegenwirkt. Auch verschiedene nichtchristliche religiöse Orientierungen stimmen mit dieser sowohl platonischen als auch jüdisch-christlichen Tugendlehre überein.24 Worin sich allerdings das Christentum deutlich sowohl von der griechischen als auch der römischen Antike abgehoben hat, das ist sein auch in der Gegenwart wieder stärker in Erscheinung tretendes kosmopolitisches Ethos der Barmherzigkeit – auch wenn dieses keines­ wegs von allen Christen praktiziert wurde und wird. In mehreren Hochreligionen ist Gott barmherzig oder sogar ein „Allerbarmer“, aber als ein die Religionszugehörigkeit übersteigendes Verhaltensprinzip scheint die Barmherzigkeit dort in der Regel nicht auf. Im Unterschied dazu hat der Jesus des Neuen Testaments mehrere Gleichnisse erzählt, die von einer über den Rahmen der Gleichgesinnten hinausreichenden Barmherzigkeit handeln, darunter auch jenes vom barmherzigen Samariter (Lukas 10, Vers 25 –37), der eben gerade kein „Rechtgläubiger“ war. Friedrich Wieser meint in diesem Zusammenhang, dass die christliche Kirche „die erste große weltgeschichtliche Liebesmacht“ gewesen sei, wenn sie auch als Kampfmacht nicht selten in Übermächtigung ausartete. Sie, so führt er aus, habe „zuerst den Bedürftigen das Recht auf Existenz zugesprochen und hat zugunsten der Leidenden und Bedrückten das System des Rechtes durch ein System der Barmherzigkeit ergänzt.“25 In mehreren ihrer Heiligengestalten begegnet uns die Bereitschaft zu geben, ohne zu nehmen. Barmherzigkeit auch gegenüber denen zu üben, von welchen man keine Gegengabe erwarten darf, also in einem durchaus nicht-utilitaristischen Sinne das Gute um des Guten willen zu tun, macht vielleicht die beeindruckendste Botschaft des Chris­tentums aus.26 24 Ähnliches gilt für die aristotelische und vom Christentum in gewissem Umfang übernommene Vorstellung von der distributiven oder verteilenden, der kommutativen oder ausgleichenden sowie der retributiven oder vergeltenden Gerechtigkeit. 25 Friedrich Wieser: Das Gesetz der Macht (Anm. 10), S. 288. – Es ist allerdings fraglich, wie es um den zeitlichen Primat des Christentums angesichts ähnlicher Auffassungen etwa im Buddhismus sowie im Jainis­ mus bestellt ist. 26 In ähnliche Richtung scheinen heutzutage bestimmte Ansichten von Richard Rorty, Gianni Vattimo und

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VI. Versuche der Stabilisierung des religiösen Bewusstseins Wenn der Boden der Geschichte wankt, sehen sich nicht nur Gläubige genötigt, dem ­Gebäude der schriftlich überlieferten religiösen Inhalte ein neues, tragendes Fundament zu sichern, sondern auch Vertreter der zum Schelerschen „Bildungswissen“ zählenden Diszipli­nen. Dies gilt in erster Linie für die mit Fragen der Metaphysik und Ethik befassten Philosophen, für die, wie es Wilhelm Dilthey einmal formuliert hat, der „Typus Mensch in dem Prozeß der Geschichte zerschmilzt“.27 Während bestimmte Fachvertreter der Moral­philosophie den Versuch unternahmen, das Beständige im Wandel der Erscheinungen in einem Gefüge von Wert­ideen außerhalb oder über der Geschichte zu suchen – etwa im Sinne des kosmologischen Naturrechts oder der von Heinrich Rickert postulierten vier überhisto­rischen Wertbereiche des Wahren, Guten, Schönen und Heiligen –, haben sich andere Philosophen im Sinne eines dezisionistischen Wertbekenntnisses zu einer bestimm­ten Tradition bekannt. Derartige Bekenntnisse zu etwas als im Bestand der eigenen Tradition Authentischen haben bis heute nichts an Aktualität verloren. So liegt etwa auch Hans-Georg Gadamers Theorie des Klassischen eine Entscheidung für etwas zugrunde, das im Wandel der Geschichte den Charakter des normativ Verbindlichen nicht verloren habe.28 Die antihistoristische Gegenwendung des Traditionalismus29 erinnert an den auch unter religiösen Denkern weit verbreiteten „Willen zu glauben“, von dem William James gesprochen hat.30 Ihre Protagonisten wählen willentlich das Prinzip ihrer Lebensführung und ihres Selbstverständnisses aus dem Gesamtbestand der eigenen religiösen Tradition. So suchten beispielsweise das Neuluthertum und die Neuscholastik schon im 19. Jahrhundert den Weg zurück zu den Quellen einer als „wahr“ angesehenen Tradition zu gehen. „Man sucht den Halt, das Feste, die Norm nicht unter oder über der Geschichte, sondern in ihr

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Charles Taylor zu weisen, für die der biblische Aufruf zur Nächstenliebe und die Solidarität mit dem – vor allem auch in sozialer Hinsicht – schwachen Menschen den Kern der christlichen Religion bildet. – Siehe Richard RORTY, Gianni VATTIMO: Die Zukunft der Religion. Aus dem Englischen von Michael Adrian, Frankfurt a. M. 2009; Charles TAYLOR: Ein säkulares Zeitalter. Aus dem Englischen von Joachim Schulte, Frankfurt a. M. 2009. (Zu diesen Autoren, aber auch zu den Auffassungen von Hilary Putnam und Jürgen Habermas, vgl. Nikolaus HALMER: Die Wiederkehr der Religion, in: Wiener Zeitung, 9./10. Jänner 2010, Beilage „extra“, S. 1 f.) Wilhelm DILTHEY: Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie (= ­Gesammelte Schriften, Bd. 8), 6. Aufl., Stuttgart 1991, S. 6 und S. 77. Vgl. Hans-Georg GADAMER: Wahrheit und Methode [1960], 2. Aufl., Tübingen 1965, S. 269 ff. Die durch den Historismus ermöglichte Bereitstellung vielfältiger Traditionsbestände in den Bereichen der Moral, der Kunst und der Religion löste in der phänomenologischen und existenzphilosophischen Bewegung eine Konzentration auf die „Sachen selbst“ bzw. das „eigentliche Selbstsein“ (K. Jaspers) aus. William JAMES: The Will to Believe, New York 1897; vgl. auch Ders.: The Varieties of Religious Experience [1902], dt.: Die Vielfalt religiöser Erfahrung, Frankfurt a. M. 1997.

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und erklärt eine Tradition, ein Normensystem zum wahren und einzig verbindlichen.“31 Bei bestimmten Vertretern der christlichen Religionsphilosophie trifft man auf eine Hinwendung zur radikalen Subjektivität: bei ihnen wird der Wille oder die Entscheidung, an Christus als den Sohn Gottes und an dessen durch die Evangelisten verbürgte Lehrinhalte glauben zu wollen, zum letzten Fundament religiöser Verhaltenssicherung im Wandel der religiösen Lehrmeinungen. Wenn nun aber ganz Verschiedenartiges als ver­bindlicher Glaubensbestand unterschiedlicher Traditionen angesehen wird, dann stellt sich die Frage nach der Kompatibilität konkurrierender religiöser Geltungsansprüche. Die Wissenschaft kann dabei allenfalls den common ground der verschiedenen Religionen aufweisen, nie jedoch so etwas wie die Idee der „wahren“ Religion hinter all ihren empirischen Ausformungen als geltend beweisen.32 In diesem Zusammenhang bewirkte schon der junge Schleier­macher in seinem anonym erschienenen Werk Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799) eine Wende in der Diskussion über die Möglichkeit einer Begründung des religiösen Geltungsanspruchs durch Wissenschaft. Denn Religion sei nicht selbst ein Bereich der allgemeinen wissenschaftlichen Wahrheit, sondern jener der Frömmigkeit. Religionen seien individuelle Ausformungen der Frömmigkeit, und als solche gerechtfertigt. Daher müsse auch jeder anerkennen, dass es andere Religionen gibt, die seiner eigenen hin­sichtlich des Anspruchs auf Geltung um nichts nachstehen. Von da an galt es als unangemessen, der wissenschaftlichen Vernunft die Aufgabe zuzuweisen, die „Wahrheit“ der Religion zu beweisen. Ihr Nutzen im Zusammenhang einer Befassung mit religiösen Fragen bestehe allenfalls darin, der Theologie die Begriffe und Deutungsregeln zur Verfügung zur stellen, um die positive Religion in eine verständliche Sprache zu übersetzen. Auch William James fand, dass der „Glaubens“- oder „Vertrauenszustand“ sowohl eine kognitive als auch eine affektive Seite hat, wobei er die kognitive Seite nicht für die wirklich ausschlaggebende hielt. Der Glaube war ihm nicht einfach ein Für-wahr-Halten, das durch einen argumentativen Gegenbeweis erschüttert werden könnte. Der Glaube lässt sich nach ihm nicht durch Beweise erzeugen, aber auch nicht durch sie widerlegen. „Wenn Sie überhaupt Intuitionen haben, dann kommen diese aus einer Schicht Ihres Wesens, die tiefer liegt als die geschwätzige Schicht, die der Rationalismus bewohnt. Ihr gesamtes unter­bewußtes Leben, Ihre Antriebe, Ihr Glauben, Ihre Bedürfnisse, Ihre Ahnungen haben die Prämissen vorbereitet, deren Ergebnis Ihr Bewußtsein nun zu fühlen bekommt; und etwas in ihnen weiß absolut, daß dieses Ergebnis wahrer sein muß als irgendeine logisch glie­dernde, scharfsinnige rationalistische Rede, wie klug auch immer sie jenem widerspre-

31 Gunter Scholtz: Das Historismusproblem und die Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert (Anm. 13), S. 141. 32 Siehe dazu ebd., S. 149 –153.

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chen mag.“33 Man versteht sonach, wie eine in heiligen Texten vorfindliche inadäquate Kosmo­gonie nicht schon das religiöse Gefühl vernichten konnte – außer im Fall von Religionen, die, selbst bereits Produkte eines Rationalisierungsprozesses, ihren Geltungsgrund im Kogni­tiven, und nicht in irgendeiner Form der „logique du cœur“ (Pascal) haben. Und daher sollte man auch nicht generell von dem Abbau gewisser kognitiv unhaltbarer Inhalte in ihren heiligen Schriften auf den Funktionsverlust von Religionen schließen, selbst wenn ursprünglich die unverbrüchliche Wahrheit gewisser nun als unrichtig erkannter Auffassungen behauptet wurde.34

VII. Zur aktuellen Beziehung von säkularem Staat, Religion und Wissenschaft In den säkularisierten Staaten der Gegenwart wird die Religion keineswegs negiert oder zur Bedeutungslosigkeit verurteilt. Sie wird einerseits vom Staat freigegeben, also von einer allenfalls bestehenden staatlichen Abhängigkeit in Freiheit gesetzt, andererseits in ihrer Wirksamkeit vom Staat unter dem Gesichtspunkt seiner weltlichen Aufgaben und Zwecke rechtlich eingegrenzt. Darauf lief letztlich die Trennung von Staat und Religion sowie von Wissenschaft und Glauben hinaus, die sich seit der Renaissance im europäischen Geistesund Gemeinschaftsleben durchsetzte. Dies erst ermöglichte eine Aussicht auf erfolg­reiche interkulturelle und interreligiöse Gespräche auf der Grundlage gemeinsam akzeptierter, von Denk- und Sprechverboten freier Formen der Kommunikation. Wegen des nicht möglichen Rekurses auf konsensfähige Bewertungsmaßstäbe von Glaubensinhalten setzte sich mehr und mehr die Einsicht durch, dass Toleranz dort beginnt, wo das interreligiöse Einverständnis an sein Ende gelangt. Die jeweiligen Regeln und Grenzen gegenseitiger Zumutbarkeit sind dabei selbst Gegenstand des fortwährenden Dia­logs geworden: einerseits des Dialogs zwischen den Religionen, andererseits des Dialogs zwischen den Vertretern der Religionen und denen des Staates, der die Regeln der Koexistenz zwischen den Angehörigen der verschiedenen Religionen wie auch zwischen seinen konfessionell gebundenen und seinen areligiösen Bürgern zu bestimmen und zu überwachen hat. In den europäischen Staaten der Gegenwart drängt sich nun die Frage auf, ob ein solches Konzept auch gegen33 William JAMES: Die Vielfalt religiöser Erfahrung (Anm. 30), S. 105 f. 34 Ernst Topitsch führt in diesem Zusammenhang zu den unterschiedlichen moralisch-psychologischen Implikationen einer religiösen und einer wissenschaftlichen Orientierung aus: „Zweifellos haben mythischmetaphysische Vorstellungen zahllosen Generationen Trost und Erbauung gespendet, und oft genug hat die Illusion, ja die barmherzige Lüge den Menschen selbst das Schwerste erleichtert. Hier vermag das wissenschaftliche Denken keinen Ersatz anzubieten, sondern sein Ethos fordert die Fähigkeit, der Härte der Realität ins Auge zu sehen, das Menschenmögliche zu leisten und das Unabwendbare mit Fassung auf sich zu nehmen.“ – Ernst Topitsch: Erkenntnis und Illusion (Anm. 8), S. 308.

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über Religionen und religiösen Überzeugungen durchführbar ist, deren Anhänger einen säkularen Staat, also die grundsätzliche Trennung von Staat und Religion, aus religiösen Gründen nicht akzeptieren zu können meinen. Die für das Verhältnis zwischen Staat und Religion als charakteristisch angesehene Koexis­tenz in wechselseitiger Selbstbeschränkung ist keine symmetrische, und sie kann dies, wie Peter Graf Kielmansegg gezeigt hat,35 auch gar nicht sein, wenn die Kollision der Geltungsansprüche von Verfassungsstaat und religiöser Überzeugung vermieden werden soll. So definiert der Staat die Grenzen der Autonomie der Religion, nicht umgekehrt. Aber dieses europäische Muster der auf wechselseitiger Selbstbeschränkung beruhenden friedlichen Koexistenz zweier letzter Instanzen ist nicht „religionsneutral“ entwickelt worden: „Es ist das Ergebnis einer sehr spezifischen Geschichte, hervorgegangen aus dem Wechselspiel einer bestimmten politischen Tradition mit einer bestimmten Religion. Dass der nach Europa einwandernde Islam sich auf diese Geschichte einlassen wird, ist […] keine Selbstverständlichkeit. Europa wird sich entschieden zu sich selbst bekennen müssen, wenn es Europa bleiben will.“36 Der Weg zu der letztlich nur politisch durchsetzbaren säkularen Ordnung besteht in der Formulierung und Anwendung freiheitsbezogener, aber freiheitsbegrenzender Gesetze, die ein einigendes Band in einer pluralen, teilweise auseinanderstrebenden kulturellen Wirklichkeit darstellen können. Gerade unter den Bedingungen partieller Heterogenität ist die Anerkennung von Verfassungsprinzipien und darauf bezüglichen Gesetzen unverzichtbar. Aber diese ist nicht selbstverständlich, und das hat bestimmte soziologisch darzulegende Ursachen. Ein bedrängendes Problem besteht in der wachsenden Bereitschaft von bestimmten in die Länder des Westens Eingewanderten oder von deren Kindern, gegenüber der von ihnen in distanzierender Absicht als „westlich“ bezeichneten Lebens- und Denkweise durch Herausbildung einer Gegenkultur Widerstand zu leisten. Dem kommen nicht zuletzt gewisse Erscheinungsformen des religiös-politischen Irrationalismus im Nahen Osten entgegen, von dem insbesondere auf junge Leute eine mitunter suggestive Wirkung ausgeht.37 Die von einigen Staaten Europas praktizierte ungeregelte Einwanderung begünstigt diese Entwicklung. Viele Sympathisanten des religiösen Fundamentalismus konservativ-salafisti­ scher Prägung sind Kinder von Immigranten, welche religiöse Rechtsvorschriften für wichtiger halten als die Gesetze des Landes, in das sie eingewandert sind, und die häufig auch das Fernbleiben ihrer Kinder vom Unterricht dulden. Daraus resultieren vor allem Sprachnöte bei den heranwachsenden Jugendlichen, die mit gewissen religiösen Lebensregeln offenkundig reproduziert werden. Für diese muslimischen Jugendlichen gilt, dass sie im Berufs­ 35 Peter Graf Kielmansegg: Vorbild Europa, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. Mai 2007, S. 7. 36 Ebd. 37 Nicht selten sind Kinder oder gar Enkel von Immigranten in religiöser Hinsicht orthodoxer und radikaler als diese.

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leben oftmals schon verloren haben, bevor sie sich eine eigene Existenz überhaupt aufbauen können. Als in ökonomischer und sozialer Hinsicht Zukurzgekommene werden sie das zukünftige Reservoir derer bilden, deren Unbehagen an der westlichen Kultur dieser noch gefährlich werden kann.38 Schon treten Gruppierungen in Erscheinung, die in Gegenstellung zur realen oder auch bloß vermuteten religiös-politischen Illiberalität von Muslimen einen zunehmend dogmatischen Kulturnationalismus proklamieren. Soziale Unsicherheit in Zeiten wirtschaftlicher Krisen und kultureller Desorientierung stellt bekanntlich immer wieder eine Vorbedingung dafür dar, dass die Bereitschaft zur Akzeptierung radikaler Lösungen auf verschiedenen Seiten geweckt wird. Angesichts einer solchen Möglichkeit bedarf es nicht nur des Bekenntnisses zum demokratischen Verfassungsstaat, sondern auch des Willens, ihn präventiv zu schützen und bei Bedarf zu verteidigen. Andernfalls ist davon auszugehen, dass die demo­ graphische Entwicklung im Verein mit den Spielregeln der modernen Mehrparteiendemo­ kratie die rechtlich-politische und die kulturelle Landschaft Europas entscheidend verändern wird, und dies bis hin zu den nationalen und übernationalen Rechtsordnungen. Selbst Verfassungsordnungen ordnen bekanntlich nicht nur die Gesellschaft, sie sind vielmehr auch ein Ergebnis der gesellschaftlichen Ordnung, verändern sich also mit dieser. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Religion in Europa wieder einen Aufschwung dadurch nimmt, dass religiöse Inhalte auf eine seit langem nicht mehr für möglich gehaltene Weise vermehrt in die Politik implementiert werden. Und wieder einmal, wie schon so oft, könnten dann in neuen politisch-religiösen Konflikten auch Leidenschaften Platz greifen, in denen mythisch-metaphysische Gedankengebilde und das Verlangen nach Ausdehnung der eigenen Macht miteinander verbunden werden. Hier sind, auch wenn sie im politischen Kampf oft propagandistisch instrumentalisiert und ansonsten für schwach gehalten werden, die Kulturwissenschaften gefordert, namentlich die historisch-sozialwissenschaftlichen Disziplinen sowie die Weltanschauungsanalyse. Diese können die verschiedenen Lebensformen beschreiben, zergliedern, in ihren ursächlichen Verflechtungen untersuchen und in ihrer Bedeutung für das menschliche Dasein würdigen, sie können 38 Siehe dazu Heinz BUSCHKOWSKY: Die andere Gesellschaft, Berlin 2014. – Buschkowsky macht im Zu­ sammenhang mit Tendenzen, die in Richtung der Entwicklung einer Parallelgesellschaft in Deutschland weisen, auf gewisse Grenzen der Toleranz aufmerksam, die aus politischem Kalkül oder auch aus Feigheit zunehmend verwischt werden. Er kritisiert die bequeme, zum Teil aber auch verlogene Haltung, mit der sich Politiker, aber auch andere im öffentlichen Leben Stehende – meist unter Benutzung einer euphe­mistischen Terminologie – aus der Verantwortung stehlen. So vernebeln sie schlimme Umstände bis zur Unkenntlichkeit, wenn sie beispielsweise Schulschwänzer als „schuldistanziert“ oder soziale Brennpunkte als „Gebiete mit erhöhtem Aufmerksamkeitsbedarf“ bezeichnen. Es gehe, wie er findet, nicht an, auf diejenigen, die ihre Lebensformen und kulturellen Traditionen den demokratischen Rechten und humanitären Errungenschaften unserer Kultur entgegenstellen, lediglich mit „Sprachplacebos“ zu reagieren, wie etwa mit dem alle kategorialen Unterschiede einebnenden Wort von der wechselseitigen „kulturellen Bereicherung“.

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Religiöses und historisches Bewusstsein

aber auch religiöse Lehren als ein hervorragendes Mittel der Tarnung und Durchsetzung politischer Machtansprüche durchschauen. Daher ist „das Prinzip objektiver Erkenntnis auch allen verhaßt, welche totale Macht besitzen oder anstreben, und es ist ein Rückhalt für alle, die sich einer solchen Macht widersetzen.“39

Schlussbemerkung Wissenschaftler können nicht indifferent bleiben, wenn es um die Gefährdung der Voraussetzungen der wissenschaftlichen Tätigkeit selber geht. Diese ist auf eine Ordnung der Freiheit gegründet. Sie ist die Voraussetzung für die Realisierung des Strebens nach Objektivität und kritischer Prüfung. Denn Wissenschaft kann nur gedeihen, wenn sie frei ist, und sie ist, wie Hans Kelsen einmal bemerkt hat, „frei nicht nur, wenn sie es nach außen, d. h. wenn sie von politischen Einflüssen unabhängig ist, sondern wenn sie auch im Innern frei ist, wenn völlige Freiheit herrscht in dem Spiel von Argument und Gegenargument. Keine Lehre kann im Namen der Wissenschaft unterdrückt werden; denn die Seele der Wissenschaft ist Toleranz.“40 Der Bereitschaft, verschiedene Meinungen zu Wort kommen zu lassen, zugleich aber den bislang erarbeiteten Erkenntniskriterien der logischen und empirischen Kontrolle Rechnung zu tragen, liegt eine Werthaltung zugrunde, die nicht allein in der Nützlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse ihre Erfüllung findet: nämlich ein spezifisches Verständnis von Gleichheit, Fairness und Gerechtigkeit, dem eine sittliche Bedeutung zukommt, die man gerade angesichts des Streits der Religionen und damit einhergehender Suprematieansprüche nicht unterschätzen sollte.

39 Ernst Topitsch: Erkenntnis und Illusion (Anm. 8), S. 308. 40 Hans KELSEN: Was ist Gerechtigkeit?, Wien 1953, S. 43.

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4. KUNST Vorbemerkung Als Voraussetzung aller künstlerischen Tätigkeit gilt, wie Hannah Arendt im 23. Abschnitt ihres Buches Vita activa oder Vom tätigen Leben ausführt, dass „die Welt eine wirkliche Heimat für sterbliche Menschen nur in dem Maße [ist], als sie diesen in sich flüchtigs­ten und vergeblichsten Tätigkeiten eine bleibende Stätte sichert, als sie sich dafür eignet, Tätigkeiten zu beherbergen, die nicht nur völlig nutzlos für den Lebensprozeß als solchen sind, sondern auch prinzipiell anderer Natur als die mannigfaltigen herstellenden Künste, durch die die Welt selbst und alle Dinge in ihr hervorgebracht sind.“ Eine andere Voraussetzung besteht in der Anpassung der zur Anwendung kommenden Mittel an den Gebrauch, den man von den Ideen machen will, welche man im künstlerischen Schaffen umzusetzen gedenkt. Mit den Schöpfungen, die diesem entspringen, sind drei mögliche Funktionen verbunden, die Ernst Cassirer in seinem 1942 verfassten Buch Zur Logik der Kulturwissenschaften dargelegt hat: die Darstellungs- oder Designationsfunktion, die Ausdrucksoder Expressionsfunktion sowie die Symbolfunktion. In der Kunst geht es sonach um eine Beziehung zum Dargestellten, zum sich Ausdrückenden, oder aber zu dem mit der Darstellung symbolisch Gemeinten. Künstler bringen so zum Ausdruck, was das Besondere eines Dinges, einer Person oder eines Sachverhalts ausmacht und sind daher in der Regel auch in höherem Maße als andere immun gegen das Allgemeine, die große Zahl, den statistischen Mittelwert. Dass das Leben kurz, die Kunst lang ist, hat Hippokrates, der von 460 bis 357 vor Christus lebte, erstmals formuliert, und Seneca hat dieses Diktum im ersten Abschnitt seiner Abhandlung De brevitate vitae mit „ars longa, vita brevis“ übersetzt. Nun sollte man bei einer Interpretation des Satzes von Hippokrates nicht außer acht lassen, dass es sich bei diesem Autor um einen berühmten Mediziner und bei der von ihm anvisierten Kunst vielleicht um die Heilkunst gehandelt hat. So betrachtet, ginge es also um die Feststellung, dass die ärztliche Kunst eine langwierige Angelegenheit ist, das Leben aber kurz, so dass es sein mag, dass der Patient dem Arzt auch bei sachgemäßer Praktizierung der Heilkunst einfach wegstirbt. Diese Deutung des Aphorismus ist nicht abwegig, da auch der weitere Text, der auf ihn folgt, eher einen medizinischen Bezug nahelegt. Von dieser Auslegung weicht die des von medizinischen Zusammenhängen freien Seneca-Zitates ab, die dem

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Sinne nach besagt, dass das Leben zwar kurz, die Kunst aber – zum Glück – dauerhaft ist; diese Deutung erfuhr Senecas Diktum unter anderem von Goethe. Auch den folgenden Ausführungen liegt diese Auslegung zugrunde, wenn nach der Beziehung von Kunst und Wissenschaft sowie danach gefragt wird, ob nicht auch den Wissenschaften – oder besser: den meisten ihrer Erkenntnisse – schon deshalb nur eine kurze Dauer beschieden ist, da der Erkenntnisfortschritt mit ihrem permanenten Wandel einhergeht. Es ist mehr als fraglich, ob Kunstwerke eine der Zeit enthobene Geltung bean­spruchen können. Unstrittig scheint aber zu sein, dass der Wahrheitsanspruch der Kunst sich von dem wissenschaftlicher Aussagen unterscheidet. Das durch ein Kunstwerk als „wahr“ zur Sprache, zu Farben oder zu Tönen Gebrachte ist dies in einem anderen Sinne als die darauf bezogenen kunstgeschichtlichen oder ästhetischen Deutungen. Die durch ein Kunstwerk vermittelte Evidenz besteht in der formal sowie emotional stimmigen – und in diesem Sinn adäquaten – Präsentation des Gemeinten, also in der Einheit von „Genauigkeit und Seele“ (Robert Musil); Genauigkeit zielt dabei ab auf die angemessene Darstellung des als „wahr“ Aufgewiesenen, des nun Unverborgenen, während „Seele“ sich auf Wahrhaftigkeit oder Authentizität des künstleri­schen Ausdrucks und auf die angestrebte Kongruenz von Kognitivem und Emotivem, Er­leb­nis­inhalt und Erlebnisqualität bezieht. Wie die Evidenzerlebnisse des Künstlers, so sind auch die des Rezipienten eines Kunstwerks nicht subjektunabhängig, also unabhängig von der Person, die von der Wahrheit und Wahrhaftigkeit eines Kunstwerks ergriffen wird. Im Unterschied dazu kommt den wissenschaftlichen Deutungen und Erklärungen jener Evidenzerlebnisse und ihrer Inhalte der Charakter propositionaler Wahrheit (oder Falschheit) im Sinne des semantischen Wahr­heitsbegriffs zu. Die für wahr gehaltene Deutung oder Erklärung eines Kunstwerks ist also in einem anderen Sinn „wahr“ als das Evidenz­erlebnis des Kunstwerks selbst; „wahr“ r hat hier mit der Übereinstimmung von Aussage und gemeintem Aussageinhalt zu tun. Dieser ist allerdings in den Kunstwissenschaften in der Regel mehrdeutiger als in anderen Disziplinen.1

1 Teile der folgenden Studie sind unter dem Titel „Ars longa - scientia brevis“ erschienen in: Antike Lebenswelten. Konstanz – Wandel – Wirkungsmacht. Festschrift für Ingomar Weiler zum 70. Geburtstag, hrsg. von P. Mauritsch, W. Petermandl, R. Rollinger und C. Ulf unter Mitarbeit von I. Huber, Wiesbaden 2008.

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Zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft „Wer die Nützlichkeit des Nutzlosen und die Nutzlosigkeit des Nützlichen nicht begreift, begreift die Kunst nicht. Ein Land, in dem man die Kunst nicht begreift, ist ein Land von Sklaven und Robotern.“ Eugène Ionesco, Argumente und Argumente. Schriften zum Theater. Aus d. Frz. v. Claus Bremer, Neuwied 1964

I. Über einige Gemeinsamkeiten und Unterschiede So wie in der Geschichte dauernd Neues beginnt, so geht auch immer Altes zugrunde. Das ist einmal mehr, einmal weniger – und in der Kunst anders als in der Wissenschaft. Mnemosyne, das andenkende Erinnern, die Mutter aller anderen Musen und Künste, gebietet über beide Bereiche, über Wissenschaft und Kunst. Und so gibt es auch in beiden Fällen Museen als Stätten der Erinnerung zur Präsentation des nach wie vor für unverzichtbar angesehenen Alten, aber auch Einrichtungen zur Demonstration des jeweils Neuen: Dauer­ausstellungen und Wanderausstellungen kanonisierter Werke gleichermaßen wie Sonderabteilungen und Experimentierstätten für vermeintlich Zukunftsweisendes. Dieses zieht, wie Paul Valéry einmal bemerkte, als das Neue denjenigen unwiderstehlich an, der sich vom bloßen Wechsel die größte Erregung verspricht; und doch, so fügt er gleich hinzu, entspreche das Beste im Neuen einem alten Bedürfnis.2

1. Kunst und Form, Wissenschaft und Methode Während es der Sinn der Arbeit der Wissenschaft ist, im Laufe des Erkenntnisfortschritts „überboten“ zu werden und insofern zu veralten, unterstellt sich die Kunst nicht einem derartigen Fortschrittsprinzip, solange der ästhetische Wert in Betracht steht. Zwar zählten mitunter große Neuerer auf dem Gebiet der Kunst, wie Leonardo, auch zu den Bahnbrechern des für die Wissenschaft bestimmenden experimentellen Denkstils, da diesen künstlerischen Experimentatoren die Wissenschaft auch einen Weg oder ein Mittel zur Kunst bedeutete. Nicht jedoch besagt die Verwendung einer bestimmten, noch so „fortgeschrittenen“ Technik für sich genommen Grundsätzliches über den ästhetischen Wert 2 Vgl. Paul VALÉRY: Windstriche. Aufzeichnungen und Aphorismen [1. frz. Aufl. 1960]. Aus dem Französischen von Bernhard Böschenstein, Hans Staub und Peter Szondi, Frankfurt a. M. 1995, S. 92.

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des Kunstwerks.3 Neue technische Mittel eröffneten bekanntlich die Möglichkeit zunehmenden „Reichtums“ der Kunst, häufig haben sie jedoch den Effekt e­ iner „Verarmung“ des Formgefühls gehabt. In der Welt der empirisch-kausal vorgehenden Wissenschaft ist hingegen gerade die Erweiterung und zunehmende Differenzierung der Forschungstechniken das wichtigste allgemein feststellbare Entwicklungsmoment der Er­kenntnisgewinnung. Die Unterschiede zwischen Wissenschaft und Kunst nimmt man umso besser wahr, je mehr man mit ihren grundlegenden Gemeinsamkeiten vertraut ist. Gemeinsam ist dem Wissenschaftler und dem Künstler in seiner idealtypischen Form des Puristen eine bewusste Ablehnung des utilitären Betriebs.4 Den stärksten Ausdruck hat der Gegensatz von Theoretischem und Ökonomisch-Nützlichem in der Geringschätzung gefunden, mit der griechische Denker auf jede Form der Erwerbsarbeit und auf den Geschäftsgeist der Sophisten herabblickten. Ihnen zufolge zerstörte derjenige das Wesen der reinen Theorie in Wissenschaft und Kunst, der dieser Theorie irgendeinen außer ihr liegen­den Nutzen zuschreibt. Für den Künstler gilt Entsprechendes: Nicht Nützlichkeitserwägungen bestimmen ihn in seinem Schaffen, sondern der Wille zur Form; sie ist es, die die ästhetische Differenz in Anbetracht identischer Sujets oder thematischer Vorgaben ausmacht. Was dem Künst­­­­ler das formale Prinzip der Gestaltung, ist dem Wissenschaftler die Methode, welche das eine Mal die systematische Suche nach Erkenntnis, das andere Mal die Erkenntnis­rechtfertigung leitet. Eine weitere zwischen Wissenschaft und Kunst bestehen­de Gemeinsamkeit betrifft eine bestimmte befreiende, mitunter aber auch verstörende Wirkung beider: dass nämlich durch sie ein traditionelles und konventionelles Bild der Wirklichkeit in Frage gestellt oder abgelöst wird. Zugleich mit der Anerkennung dieser Ähnlichkeiten zeigt sich aber die Ver­schie­den­ artigkeit dessen, was beide Male unter „Wirklichkeit“ verstanden wird, was jeweils als „Bild“ von ihr ins Bewusstsein tritt. Die Wirklichkeit der Wissenschaft erscheint uns heute als eine die ursprüngliche Wahrnehmung in makroskopischer oder mikro­skopischer Hinsicht oft weit überschreitende und durch mannigfache Konstruktionen und techni­sche Hilfsmittel erschlossene Welt, die Wirklichkeit der Kunst hingegen als ein auf unsere verschiedenen 3 Gewiss wurden beispielsweise die Werke von Chopin und Liszt erst durch die technische Entwicklung des modernen Flügels möglich; dieser ist das ihren Kompositionen angemessene Instrument. Allerdings besagt die ursprünglich bestehende „Gebundenheit“ von Bach und Beethoven an das Cembalo bzw. das Hammerklavier nicht, dass deren Werke für Tasteninstrumente, weil früher entstanden und auf technisch weniger komplexe Instrumente bezogen, von geringerem ästhetischen Wert wären. Der künstlerische Wert ist keineswegs immer abhängig vom jeweils letzten technischen Entwicklungsstand der Instrumentierung, aber auch nicht allein vom Willen zur angeblich wahrhaft „zeitgemäßen“ historischen Aufführungspraxis. 4 Vgl. in diesem Zusammenhang Eduard SPRANGER: Lebensformen. Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persönlichkeit, 9. Aufl., Tübingen 1966, 2. Abschnitt, Kap. 1 („Der theoretische Mensch“) und Kap. 3 („Der ästhetische Mensch“); vgl. auch die Ausführungen zu Georges Batailles Kritik am bürgerlichen Nützlichkeitsdenken bei Henning RITTER: Notizhefte, 6. Aufl., Berlin 2011, S. 119 –121.

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Gefühle, Stimmungen und Willensorientierungen bezogener, diese oft auch erst evozie­ render Gegenstand der visuellen oder auditiven Wahrnehmung. Das in der „Tonsprache“ oder „Klangrede“ gleichermaßen wie das in der „Bildsprache“ und in „Sprachbildern“ dem Erleben zugänglich Gemachte ist nicht einfach durch begriffliche Bestimmungen wissenschaftlicher Art ersetzbar. Dieser Umstand veranlasst Künstler bisweilen zu einer gewissen Begriffs­scheu, da sie sich dazu genötigt fühlen, ihren Bild- und Klanggestalten gleichermaßen wie den Gegenständen der Poesie jenen letzten Schleier zu lassen, den das Leben selber hat. Die wissenschaftliche Analyse, aber auch die ästhetische Reflexion ist für den Künstler nur ein Durchgangsstadium. So betreibt beispielsweise der bildende Künstler das Anatomiestudium, um mit dessen Hilfe die volle Farbigkeit und Individualität des Lebens zur Darstellung zu bringen, und entsprechend ist ihm die ästhetische Theorie ein seiner Intention untergeordnetes Unternehmen. Denn das Ziel künstlerischer Tätigkeit ist es im Regelfall, für das Leben Typisches in einer konkreten individuellen Ausformung darzustellen, es in der durch die Individualität des Künstlers erfolgten Formung sichtbar oder hörbar zu machen.

2. Affektlosigkeit und Emotionalität Ganz anders der Vertreter der wissenschaftlichen Theorie, der sich an die Beschreibung, die genetische Rekonstruktion, die kausale Erklärung oder die Vorhersage von Zuständen oder Ereignissen macht. Sein Sinn ist auf Gegenständlichkeit in der Weise gerichtet, dass alle Beziehungen der Erfahrungsinhalte zu Gefühl, Stimmung und Begehren, Zuneigung und Abneigung, zu Furcht und Hoffnung zurücktreten müssen. Affektlosigkeit ist die Haltung des Forschers, sofern er erkennen will. Dies schließt nicht aus, dass sowohl Gefühle und Stimmungen als auch Werte und Werturteile selbst zum Erkenntnisobjekt werden, gleich wie die durch sie bedingten Kunstwerke. Auf diese bezogene Erkenntnisse werden nicht in der formalen oder in der physikalischen Sprache formuliert, sondern in der für die Ästhetik relevanten phänomenologisch-deskriptiven Sprache des deutenden „aktuellen Verstehens“ und der Interpretation sowie in der intentionalen (motivationalen) Sprache des „erklärenden Verstehens“ (Max Weber). Schon Platon wies darauf hin, dass in den Bereichen von Rede und Dichtung, von Musik und bildender Kunst das Zählen und Messen sowie das Wiegen nicht die angemesse­ nen Formen der Darstellung sind. Jene Fähigkeiten und Fertigkeiten seien von einer natürlichen und geschulten Urteilskraft bestimmt. Und Aristoteles nimmt das Denkmotiv Platons auf und bringt es auf Ethik und Politik als die Hauptbereiche der praktischen Philosophie zur Anwendung. Die verschiedenen Formen gerechten Handelns ließen sich, wie er ausführt, ebenso wenig mit Zahlen, Zirkeln und Waagen berechnen wie die Klugheit

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von Personen oder die politische Umsicht. Wie die Kunst, so sind seit der griechischen Antike das ethische und politische Handeln nicht nach mathe­matischen oder physikalischen Prinzipien zu gestalten, zu rekonstruieren oder auch zu beurteilen. Im Falle von Kunst und Moral sowie von Mathematik und Physik handelt es sich um zwei grundlegend verschiedene Realitätsebenen. Die Geisteswissenschaften, die sich vor allem aus der antiken Ethik, aus der Philo­logie der humanistischen Epoche sowie aus dem Historismus des späten 18. und des 19. Jahr­ hunderts herleiten lassen,5 suchen keine Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, sondern beziehen sich im Allgemeinen auf individuelle Handlungen, Zustände und Ereignisse – einschließlich ganzer Epochen und Gesellschaftsformationen –, die sie in ihrer jeweiligen Wertbeziehung zu den Menschen der Vergangenheit wie zu denen der Gegenwart zu erfassen suchen. Die Rekonstruktion individueller und kollektiver Handlungen, vor allem das Verstehen des Fremdseelischen, setzt dabei die Aktualisierung von Gefühlen und Willens­haltungen zum Zweck einfühlenden Nacherlebens notwendig voraus – mithin etwas, das dem formal- oder naturwissenschaftlichen Vorgehen, sieht man von der biologischen Ver­haltensforschung ab, fremd bleiben muss.6

3. Fortschritt und Beständigkeit Ohne die Beständigkeit der Welt, welche die den Sterblichen zugemessene Frist ü ­ berdauert, wären „die Geschlechter der Menschen“, wie Hannah Arendt bemerkt, „wie Gras und alle Herrlichkeit der Erde wie des Grases Blüte; und ohne […] die Kunst des Bildens und die des Erzählens, könnte das Einzige, was redende und handelnde Menschen als Produkt hervorzubringen vermögen, nämlich die Geschichte […] niemals sich so dem Gedächtnis der Menschheit einprägen, daß sie Teil der Welt wird, in der Menschen leben.“7 Weil leben­ dige Erinnerung und die Fähigkeit des Gedächtnisses, aus denen alles Verlangen nach Unvergänglichkeit stammt, einer gewissen Institutionalisierung bedürfen, schufen sich die Menschen Museen und Archive. Dies war immer dann der Fall, wenn sich der Wandel der Welt beschleunigte und die Zeit ihre eigenen Schöpfungen – wie Saturn seine Kinder – zu verschlingen drohte. Die Wissenschaft und die Kunst bedürfen so, wie bereits erwähnt, gleichermaßen der Vermittlung einer lebendigen Erinnerung ihrer Leistungen. In einer entscheidenden Hinsicht sind die Bilder der Wirklichkeit, die von der Wissenschaft und von der Kunst präsentiert werden, deutlich von­einander unterschieden: im 5 Vgl. dazu Gunter SCHOLTZ: Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis. Zu Grundlage und Wandel der Geisteswissenschaften, Frankfurt a. M. 1991, Kap. I: Zu Begriff und Ursprung der Geisteswissenschaften, S. 17–35. 6 Einiges Weitere zur Thematik dieses Abschnittes wird noch in Teil III der vorliegenden Abhandlung erörtert. 7 Hannah ARENDT: Vita activa oder Vom tätigen Leben [1. amerik. Aufl. 1958], München 2002, S. 211 f.

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Hinblick auf die Dauer des mit ihren Schöpfungen verbundenen Anspruchs auf Wahrheit bzw. Geltung. „Ein Kunstwerk, das wirklich ‚Erfüllung‘ ist, wird“, wie Max Weber in seiner berühmten Rede „Wissenschaft als Beruf “ feststellte, „nie überboten, es wird nie veralten […]. Jeder von uns dagegen in der Wissenschaft weiß, daß das, was er gearbeitet hat, in 10, 20, 50 Jahren veraltet ist. Das ist das Schicksal, ja: das ist der Sinn der Arbeit der Wissenschaft, dem sie […] unterworfen und hingegeben ist: jede wissenschaftliche ‚Erfüllung‘ bedeutet neue ‚Fragen‘ und will ‚überboten‘ werden und veralten. Damit hat sich jeder abzufinden, der der Wissenschaft dienen will. […] Wissenschaftlich […] überholt zu werden, ist […] nicht nur unser aller Schicksal, sondern unser aller Zweck.“8 In der Wissenschaft werden die Funde und Befunde oft rasch überholt und zu instrumentellen Werten insofern, als sie gewissermaßen nur eine Sprosse auf der Er­kenntnisleiter darstellen, von wo aus es möglich werden soll, im Prozess von Suchen, Finden und Erfinden eine neue Sprosse zu erklimmen. Ganz anders die in ihrem Wert keineswegs durch einen unausweichlich eintretenden künstlerischen Fortschritt gefährdete Schöpfung des Malers, Bildhauers, Musikers oder Poeten. Ein Wort, ein Satz kann nach Gottfried Benn jäh dazu verhelfen, uns Einsicht in das Leben oder einen seiner grundlegen­den Aspekte zu verschaffen9 – und dabei zeigt die Bildersprache etwas an, was sichtbar zu machen die diskursive Rede nicht imstande ist. Solch plötzliche durch Kunst vermittelte Erfahrungen können nach Ansicht verschiedener Künstler, sofern sie gelungen sind, nicht an Aktualität einbüßen. Ludwig Hohl befindet daher: „Poesie ist Gegenwart. – Das (Gegenwart) ist das unendlich schwer zu Erreichende.“10

II. Zur Ideologisierung und Moralisierung von Kunst Ist in der Wissenschaft die Methode streng auf ihr Objekt bezogen und dem Ziel der Er­ kenntniserweiterung und Erkenntnisintensivierung unterstellt, so behält in der Kunst die Form nur dann ihren Wert, wenn sie nicht durch ein Thema, eine Idee und ein Ziel überwältigt oder aber darauf reduziert wird. Wie eine bestimmte Haltung den Menschen im Allgemeinen, so ist es der Stil, der den Künstler im Be­son­deren charakterisiert. Gemeint sind damit zunächst ästhetische Mittel, wie eine bestimm­te Gedichtform, eine symphonische Form und dergleichen. Aber dies sind zunächst meistens tradierte, auferlegte und standardisierte Bedingungen, unter denen sich dann erst der persönliche Stil entwickelt. 8 Max WEBER: Wissenschaft als Beruf [1919], in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre [1922], Tübingen 1968, S. 582 – 613, hier S. 592. 9 Ich beziehe mich auf das Gedicht „Ein Wort“, in: Gottfried BENN: Lyrik (= Das Hauptwerk. Erster Band. Hrsg. v. Marguerite Schlüter), 5. Aufl., Wiesbaden-München 1980, S. 208. 10 Ludwig HOHL: Von den hereinbrechenden Rändern. Nachnotizen, Frankfurt a. M. 1986, S. 45.

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Meisterschaft setzt daher nach Paul Valéry voraus, „daß man die Gewohnheit hat, von den Mitteln aus zu denken und zu kombinieren, sich ein Werk nur in seiner Bedingtheit durch die Mittel vorzustellen, und das bedeutet: an ein Werk nie von einem Thema oder einer erdachten Wirkung aus heran­zugehen, die nicht an die Mittel gebunden sind. – Daraus folgt, dass die Meisterschaft manchmal ins Unrecht versetzt und überboten wird durch ein Original, das, aus Zufall oder Begabung, neue Mittel schafft – und zuerst eine ganz neue Welt in die Welt zu setzen scheint. Aber es handelt sich immer nur um Mittel.“11 Form und Stil transfigurieren ästhetisch, was ohne sie als bloß protokollarischer Befund existiert. Für Ideologien allerdings sind Formfragen von untergeordneter Bedeutung. Ideologisches Verhalten der Kunst gegenüber äußert sich darin, dass der Eigenwert der Kunst, vor allem ihre formale Qualität, zugunsten sachfremder Gesichtspunkte hintange­ stellt und zumeist nur als Mittel zu einem außerkünstlerischen Zweck betrachtet wird. Häufig ist dies ein politischer Zweck. Mit dieser Feststellung wird natürlich keines­wegs in Abrede gestellt, dass nicht auch moralisch oder politisch motivierte Werke große Kunst sein können – man denke an Schiller und Balzac, aber auch an Goya und Beethoven. Als Exponenten einer Idee der Freiheit oder der Solidarität blieben diese Künst­ler jedoch entschlossen der Form verpflichtet, was sie dazu befähigte, nicht ihre Berufung zum Künst­ler der Botschaft ihres Werks zu opfern. Die Aussage oder Botschaft schluckt so nicht einfach die Form und macht sie obsolet. Und doch kennen wir Künstler, die auf befremd­liche Weise die Kunst epiphänomenalisieren. Die Eigenart ihres ideologischen Denkens besteht darin, dass das spezifisch Ästhetische, das Formale eines Kunstwerks, als „uneigentlich“ betrach­ tet wird, weshalb sie die Diskursebene der Kunst („ästhetisch wertvoll – ästhetisch wertlos“, „schön – häßlich“) durch eine andere – etwa im Sinne der Codierung „arm – r­ eich“, „gleich – ungleich“, „heilig – profan“ oder „mächtig – ohnmächtig“ – ersetzen. Über die Auszeichnung der jeweiligen Diskursebene gegenüber der formal-ästhetischen der Kunst entscheidet zumeist das Bekenntnis zu einer politischen oder religiösen Wert­haltung, nicht selten aber auch zu einem moralischen Programm. Gegenwärtig erscheint manchen die Proklamierung bestimmter moralischer Standards als eine Möglichkeit, die chao­tisch anmutende Vielfalt künstlerischer Ausdrucksformen zu strukturieren und die um sich greifende Beliebigkeit zurückzudrängen. Ein oft nicht gerade subtiler Moralismus ist dann die Folge. Heute wie ehedem setzen die Götter vor den Genuss der Kunst das Pädagogische: Sollte früher die Kunst zum Bildungsbürger erziehen, so derzeit in der Regel zum sozialkritischen Moralisten.12 Auch der „Wiener Aktionismus“ von Nitsch, Muehl, Brus, 11 Paul VALÉRY: Windstriche (Anm. 2), S. 95 f. 12 Im Unterschied dazu Ludwig Marcuse: „Künste und Philosophien haben noch eine andere Aufgabe als die pädagogische: steile Wege hinaufzuführen. Sie sollen ablenken, beruhigen, trösten, ergötzen. Es ist reaktio­ när, diesen Imperativ als ,reaktionär‘ zu verdächtigen.“ – Ludwig MARCUSE: Argumente und Rezepte. Ein Wörter-Buch für Zeitgenossen, Zürich 1973, S. 106.

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Schwarzkogler und Valie Export will als ein moralisch-politischer Akt der Provokation verstanden werden, der sich gegen eine verbürgerlichte Gesellschaft richtet, die, wie man sagt, in Österreich noch re­ak­tionärer war als anders­wo in Mitteleuropa. Daher wurde er auch als „ein ästhetisches Rütteln an den Gitterstäben der nationalen Begrenzung, an der sprichwörtlichen österreichischen Provinzialität“ gewertet.13 So trefflich diese Kenn­zeichnung auch klingen mag – man kann es dennoch als peinlich empfinden, dass die ästhetische Qualität dieser Werke, sofern vorhanden, infolge der Verschiebung der Diskursebene von der Kunst auf die Politmoral oft gar nicht mehr thematisiert wird. Das eine hat mit dem anderen nicht notwendig zu tun. Wenn uns Heutigen auch die emphatische Rede vom Schönen, wie sie vor circa zwei Jahr­ hunderten noch selbstverständlich war, ziemlich abhanden gekommen ist, so ist es doch ratsam, sich eine Er­kenntnis von Théodore Jouffroy zu vergegenwärtigen: „Die Werke der Kunst zu achten, weil sie jedes Widerstandes Herr geworden sind, heißt an das Schöne das Maß der Tugend anlegen, was ein Mißverständnis ist. Das Schöne ist eine Eigenschaft des Werkes, die Tugend ein Verdienst des Schöpfers.“14 Auch der Versuch, mit einem ausführlichen Biographismus dem Kunstwerk dadurch auf den Leib zu rücken, dass man diesem so etwas wie den „eigentlichen“ Gehalt durch Hinweis auf den Werdegang seines Schöpfers abpresst, geht in die Irre. Deutlich äußerte sich in diesem Zusammenhang Matthias Zschokke über den von Künstlerbiographen gelegentlich erhobenen Anspruch, mit ihren Porträts erst das Verständnis der ästhetischen Qualität jener Werke zu ermöglichen, welche die von ihnen Porträtierten schufen: „Obwohl Lebensläufe den Leser oft besonders stark anrühren, ja packen – auch die von Glauser, Mozart, Woolf, Stifter, Schubert usw. –, vernebeln sie die Werke doch eher, als dass sie sie erhellen. Sie beglaubigen zwar meist auf beklemmende Weise die Kunst, die ihnen abgerungen wurde. Aber ich lese nicht ein Buch, weil es von einem Selbstmörder geschrieben wurde, sondern ich lese es, weil ich – auf meist nicht zurückzuverfolgenden Umwegen – darauf gestossen (worden) bin. Und dann ist da immer zuerst das Werk allein, das zu mir spricht. Wenn’s mich ­begeistert, werde ich früher oder später zwangsläufig erfahren, wer der Autor oder die Autorin war oder ist und wie sie gelebt haben oder leben.“15 In der Tat kann ja der Kunstinteressierte immer noch vom Produkt des Künstlers, wenn er will, zurückgehen zu den Bedingungen seines Entstehens. Allerdings wird auch ein noch so guter Kunstsoziologe nicht in der Lage sein, ein Kunstwerk hinsichtlich seiner ästhetischen Qualität aus jenen Bedingungen herzuleiten.

13 Hans-Peter RIESE: Mix mir den Aktionismus. Vielvölkerwinkel: Ein Jahrhundert österreichische Kunst, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. April 2006, S. 42. 14 Théodore JOUFFROY: Das grüne Heft. Gedanken, in: Die französischen Moralisten, Bd. 2: Galiani – Rivarol – Joubert – Jouffroy. Hrsg. u. übers. v. Fritz Schalk, München 1974, S. 334 –364, hier S. 341. 15 Matthias ZSCHOKKE: Walserfieber. Wie man sich in einer halt- und bodenlosen Zwischenwelt verlieren kann, in: Neue Zürcher Zeitung (Internationale Ausgabe), 27./28. Mai 2006, S. 30.

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III. Über künstlerische Erfahrung und wissenschaftliche Erkenntnis 1. Kunst, Kognitives und Emotives Die wissenschaftliche und die künstlerische Einsicht sind zwei sehr unterschiedliche Erfahrungs- und Erkenntnisweisen. Im Sinne des berühmten Schlusssatzes von Ludwig Wittgensteins Tractatus soll man nichts sagen, was sich nicht klar sagen lässt. Dies ist ein Plädoyer zugunsten der Offenheit für das Mystische angesichts aller Versuche, das Unsagbare zu zerreden. Der vielzitierte Satz „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen“ kann uns auch darauf hinweisen, dass man in der Sprache der Formal- und Naturwissenschaftler naturgemäß nicht über das wird sprechen können, worum es in ­Goethes Faust, in Beethovens Pastorale, in Shakespeares Sonetten, in Rembrandts Nachtwache oder in Bachs Goldberg-Variationen geht. Aber heißt das bereits, dass es sich hier um Inhalte handelt, worüber man überhaupt nicht sprechen kann? Gewiss: Es gibt nun einmal seelische Regungen und bestimmte Gegenstände, welche man näherungsweise nur durch Farben oder Töne oder Sprachbilder wiedergeben kann. Man muss die Künste als eine Art Sondersprache betrachten, als die einzige Möglichkeit der Mitteilung zwischen den Bewohnern einer Sphäre der Form und uns. Das aber, was die Kunst in dieser Sondersprache anschaulich zum Ausdruck bringt, begrifflich fassbar zu machen, ist ein Ziel der Geisteswissenschaften. Wie schwierig und oft unzureichend diese Aufgabe auch immer sein mag, sinnlos ist sie nicht. Und so bleiben die Geisteswissenschaften der Kunst symbio­tisch verbunden als das konzeptualisierende Gegenstück der Anschauung. Das, was die Eigentümlichkeit der Kunst ausmacht, nämlich das Vermögen, die Wirk­ lich­keit dadurch zu durchdringen, dass sie diese mit allen Gemütskräften zu erfassen sucht, wurde ihr nicht selten von Philosophen zum Vorwurf gemacht. Wenn der Künst­ler als sein besonderes Organ des Weltverständnisses eine Art von Ahnungsvermögen, einfühlender Intuition oder unmittelbarer Anschauung für sich reklamiert, erscheint er jenen oft als ein Schwärmer oder ein romantisierendes Subjekt. So beruhte denn auch, wie Eduard Spranger einmal bemerkte,16 Kants Abneigung gegen die Musik wohl kaum auf der Struktur seines Ohres, wenn ihm die Musik als die unintellektuellste Kunst erschien, welche es nicht möglich mache, ein Allgemeines in ihr zu entdecken.17 Auch Hegel, der Gegner des romantisierenden Utopismus, sagte in einer vorschnellen Verallgemeinerung über Menschen, die sich auf ihr Gefühl beriefen, dass man sie einfach stehen lassen müsse. Und erin16 Vgl. Eduard SPRANGER: Lebensformen (Anm. 4), S. 128 f. 17 Ähnlich bestand bereits nach den Stoikern die höchste Gefahr für den Weisen, der sein Leben nach allgemeinen Grundsätzen regelt, in der imaginatio, in der Einbildungskraft, weil diese den Menschen immer wieder an Singuläres, Äußerliches und Einzelnes binde, nicht aber an das Allgemeine.

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nern wir uns: Schon Platon, selbst ein der Dichtung zugewandter Denker, hat die Dichter aus seinem Philosophenstaat verbannt, da sie, nicht allein der Wahrheit verpflichtet, mit ihrem Schrifttum moralisch bedenkliche Affekte wecken könnten.18 Natürlich wäre es verfehlt anzunehmen, dass man schöne oder „wahre“ Empfin­dun­ gen bereits für Argumente halten könnte, wie ja auch ein starker Glaube nur seine Stärke, nicht aber die Wahrheit des Geglaubten beweist. Doch es wäre auch falsch, die Befassung mit Gefühlen und Stimmungen sowie den ihnen entsprechenden Wertungen als eine von vornherein irrationale Angelegenheit anzusehen. Immerhin ist es nicht ausgeschlossen, die Deutung der Dinge oder Situationen, auf welche emotional oder volitional reagiert wird, zu rekonstruieren, aber auch die Angemessenheit oder Unangemessenheit der affektuellen Reaktionen auf sie zubestimmen. Dass verschiedene geisteswissenschaftliche Disziplinen, nament­lich die philologisch-histo­rischen Fächer, der Kunst nahe stehen, haben die künst­ lerisch ambitionierten Franzosen durch die Bezeichnung jener Disziplinen als „belles lett­ res“ zum Ausdruck gebracht. In ähnlicher Absicht hat noch Johann Friedrich Herbart die Grenzlinie zwischen den Wissenschaften von der Natur und den später vor allem seit Wilhelm Dilthey so bezeichneten „Geisteswissenschaften“ in der Weise gezogen, dass diese eine ästhetische Darstellung der Welt ermöglichten, jene aber die Notwendigkeit wieder­ gäben, welche zwischen den in der Welt vorfindlichen Dingen nachweisbar ist.19 Exemplarisch sei hier auf die Geschichtsschreibung und die Moralphilosophie hinge­ wiesen, die immer wieder bezüglich der ästhetischen Qualität des sprachlichen Ausdrucks mit der Kunst in Berührung stehen. Im Falle des Historikers werden seit altersher die Ausdrucksform und der Klang des Geschriebenen als für die angemessene Erfassung der in Betracht stehenden Sache bedeutsam angesehen. Ganz in diesem Sinne hat Bernard Williams auch für die Philosophie die Forderung erhoben, dass insbesondere die politische und die Moralphilosophie angemessen zu klingen hätten und deren Vertreter mit authentischer Stimme sprechen mögen. Philosophie heiße auch darauf zu achten, was sie wem 18 Ein Grund dafür mag gewesen sein, dass eine mögliche Identifikation mit bestimmten Gestalten des Thea­ ters unerwünschte Wirkungen gehabt hätte. Wie Paul Valéry bemerkt, könne und müsse einem „Gesetz des Theaters“ zufolge „der Zuschauer sich immer mit einer Person auf der Bühne identifizieren, mit ihr eins werden. Dadurch ist er am Stück beteiligt und spielt mit – nichts anderes bedeutet das Wort Interesse: mitmachen.“ – Paul VALÉRY: Windstriche (Anm. 2), S. 96. 19 Vgl. Johann Friedrich HERBART: Über die ästhetische Darstellung der Welt als das Hauptgeschäft der Erziehung [1804], in: Ders., Kleine pädagogische Schriften. Besorgt v. A. Brückmann, 2 Bde., Paderborn 1968, Bd. 1, S. 39 –55. – Mit ähnlich guten Gründen könnte man natürlich die Geisteswissenschaften über weite Strecken auch durch ihre moralisch-politische Darstellung der Welt charakterisieren; eine solche Charakterisierung stünde in der Tradition der schottischen Moralphilosophie, insbesondere aber in derjenigen von John Stuart Mill, welcher bekanntlich für diese Klasse von Wissenschaften den Ausdruck „moral scien­ces“ verwendet. Heute neigt man dazu, diese den Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften als dem neben den Geisteswissenschaften zentralen Bereich der Kulturwissenschaften zuzuordnen.

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zu sagen vorhat, und demgemäß sei es ihre Aufgabe, in reflektierter Form darauf ihre Überlegungen zu richten, wie sie sagt, was zu sagen ist.20

2. Emotionale Distanznahme Beide, die Kunst und die Wissenschaft, liefern Bilder der inneren seelischen und der äuße­ ren Welt.21 Was ist nun das diesen beiden Gruppen von Bildern oder Abbildern jeweils Eigentümliche? Das eine Mal, in der Kunst, handelt es sich um ein intuitives Erfassen des designativen, expressiven und symbolischen Gehalts, das andere Mal, in der Wissenschaft, um diskursive Erkenntnis. Beide Male geht es zunächst um die Vermittlung einer Erfahrung dessen, was der Fall ist. Es kommt aber darauf an zu wissen, in welcher Hinsicht etwas einmal in der Kunst, dann in der Wissenschaft der Fall ist und zum Gegenstand der Betrachtung wird. Während beispielsweise das Was der Kunst in der Sprache der Poesie, der Musik oder der Malerei mitgeteilt wird, kommt das Was der Wissenschaft in der Sprache der Chemie, der Physik, der Biologie, der Ökonomik etc. zum Ausdruck. Die Spezifikation des Was durch das Wie der Darstellungsform, durch einen bestimmten methodischen Zugang, ist der Kunst und der Wissenschaft gemeinsam. Und doch sind Erkenntnisgegenstand und Methode, Gehalt und Gestalt, Was und Wie von Kunst und Wissenschaft grundlegend verschieden. Es wird mitunter die Auffassung vertreten, dass zum intuitiven Erfassen künstlerischer Inhalte eine unmittelbare Einheit, nämlich die Identität des Er­kennenden mit dem erkannten Gegenstand, notwendig sei. Gewisse Lebensphilosophen und Phänomenologen, aber verschiedentlich auch Künstler in ihren Selbstdeutungen haben die Ansicht gefördert, dass die von ihnen proklamierte intuitive Erkenntnis in dem Sinne über die wissenschaftliche Erkenntnis hinausgehe (und deshalb auch „tiefer“ sei), dass die Beziehungen zwischen dem Erkennenden und dem erkannten Gegenstand immer inniger werden, so dass sich das Subjekt entweder in das Objekt hineinversetzt oder aber gar mit ihm verschmilzt: Wir müssten mit den Dingen, die wir kennen wollen, in den Zustand einer Kommunion oder Fusion eintreten. Nach Ansicht anderer Künstler, Philosophen und Kunsttheoretiker verhält es sich jedoch umgekehrt: Man sehe die Einzelheiten i­nnerhalb der Gesamtheit der Tatsachen umso klarer, je distanzierter man dem Objekt gegenüberstehe. Ezra Pound, Gott­fried Benn und Robert Musil seien hier exemplarisch genannt, aber auch Ludwig 20 Vgl. Bernard WILLIAMS: Philosophy as a humanistic discipline, Princeton-Oxford 2006, insbesondere die in dieser Aufsatzsammlung enthaltene gleichnamige Abhandlung aus dem Jahr 1997. 21 Die Vielfalt der wissenschaftlichen Darstellungsweisen widerspricht dabei nicht dem Wahrheitsanspruch der Wissenschaft, sondern ist mit diesem durchaus vereinbar: „Doctrina multiplex, veritas una“. So lautet der schöne Wahlspruch der Universität Rostock.

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Hohl; dieser befand einmal, dass es „in der Kunst darauf ankommt, nicht, zu zeigen, daß der Autor Gefühl hatte; sondern, durch scheinbar Gefühlloses, durch Klares und Hartes, in dem Leser, der mit allen Mitteln der Kritik ausgerüstet ist, Gefühl zu wecken“.22 In ähnlichem Sinn wies Franz Grillparzer in seiner Rede auf den Tod Beethovens darauf hin, dass dieser von der Welt gefühllos genannt worden ist, weil er der Empfindung aus dem Weg ging. Doch, so stellte er fest, gerade das Übermaß der Empfindung weiche der Empfin­ dung aus. Die Ähnlichkeit zwischen Kunst und Wissenschaft bezüglich der Distanznahme zur Welt schließt natürlich die kategoriale Differenz zwischen den Suchverfahren von Kunst und von Wissenschaft nicht aus. Der Künstler transponiert seine Wahrnehmung der phänomenalen Welt und seine Erlebnisse in unterschiedliche visuelle oder auditive „Bilder“ der Dichtung, der Musik, der bildenden und der darstellenden Kunst. Er überschreitet damit die Grenzen der ursprünglichen Alltagserfahrung und will an ihr bislang noch nicht Erfahrenes erfahrbar machen. Der Wissenschaftler teilt mit dem Künstler die Intention, hinter das landläufig Sichtbare vorzudringen, tut dies jedoch auf andere Weise. Denn ihm ist es darum zu tun, Regeln, Hypothesen und Gesetze ausfindig zu machen, um mit deren Hilfe Vorgänge in der phänomenalen Welt zu begreifen, zu erklären und nach Möglichkeit auch vorherzusagen. Beide, der Künstler und der Wissenschaftler, suchen etwas zu vermitteln, das über das schlicht Beschreibbare hinausreicht. Aber die Suche des Künstlers gilt nicht Interessen, Bedingungen, Faktoren oder Strukturen, wie sie die Wissenschaften freilegen wollen. Das intuitive Erfassen von Erlebnisinhalten des Künstlers in der Kunst und die diskursive Er­kenntnis in der Wissenschaft zielen auf Unterschied­liches ab, und daher kann auch nicht die eine Form der Welterschließung aus der anderen abgeleitet und in eine Rangordnung gebracht werden.

3. Kennen, Erkennen und Können Ein Kunstwerk liefert eine auditive, eine visuelle oder eine audiovisuelle Transkription des inneren Erlebens eines Künstlers und gestattet es, etwas in dieser Weise bislang noch nicht Bekanntes kennenzulernen; daran kann sich eine ästhetische Erörterung über die durch das Kunstwerk vermittelten Anschauungen und Erlebnisinhalte anschließen. Bekanntes soll auf diese Weise zu Erkanntem werden. Aber der Künstler produziert nicht für den Ästhetiker, sosehr ihn dessen Analysen und Deutungen mitunter auch veranlassen mögen, Inhalt und Form sei­ner Arbeiten zu modifizieren. Die Vermittlung von Erlebnissen und das Sprechen über die Vermittlung von Erlebnissen und deren Inhalte, also Kunst und Ästhetik, sind auf unterschiedlichen Erfahrungsebenen anzusiedeln. So ist weder das Er22 Ludwig HOHL: Von den hereinbrechenden Rändern (Anm. 10), S. 104.

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leben das Ziel der Erkenntnis, noch findet umgekehrt das Erleben seine Erfüllung in der Erkenntnis.23 So wichtig die Anerkennung des unterschiedlichen Status von Erleben und Erkennen, von künstlerischem Schaffen und ästhetischer Deutung auch ist – diese er­kenntnislogische Trennung verdeckt einen erkenntnisgenetisch bedeutsamen Sachverhalt, der mit der Spezifik des Verstehens zu tun hat. Wie Heidegger in seinen Analysen von Sein und Zeit zu zeigen bestrebt war, geht dem Verstehen in vielen Fällen ein Sich-verstehen-auf-etwas voraus – eine Einsicht, die auch der Praxis der antiken und mittelalterlichen artes liberales zugrunde liegt. Heutzutage werden hingegen die Geisteswissenschaften, in deren Bereich drei der auf Platon zurückgehenden ehemals sieben „freien Künste“ beheimatet sind – nämlich Grammatik, Rhetorik, Dialektik – von vornherein anders konzipiert als ihre antiken und mittelalterlichen Vorformen. In ihnen geht es um eine methodische Verständigung über bestimmte Inhalte, nicht mehr jedoch um das Erwerben bestimmter praktischer Fähigkeiten und Fertigkeiten im Umgang mit diesen Inhalten und Gegenständen. Die artes liberales waren hingegen nicht allein als Wissens-Unterricht gedacht, sondern als Könnens-Unterricht, wobei sich die Lehre auf die Fähigkeit richtete, selbst etwas „praktisch“ ausführen zu können. So wie die Poetik des Aristoteles ein Regelbuch für die Verfertigung von Werken der Poe­sie war, so sollte die akademische Rhetoriklehre auf die Ausbildung von Rednern abzielen, die Musiklehre auf die Ausbildung von Musikern usw. Wie Reinhard Brandt durch den historischen Vergleich bewusst zu machen versucht, zielt die heutige Universitätslehre der meisten Geisteswissenschaften im Unterschied zur erwähnten Tradition auf den Erwerb von Erkenntnis ab, nicht von erkenntnisgeleitetem Können: „Kennzeichnend für diese Situation ist die Trennung von Primär- und Sekundärliteratur und die Kompetenz der Universität eindeutig auf dem zweiten Gebiet, nicht dem ersten; wir suchen keine Dichter, sondern Interpreten. Der Geisteswissenschaftler muß nicht notwendig eine Kunst können, sondern sich nur kompetent zu kulturellen Produkten äußern. Wir sind nicht primär kreativ an diesen Kulturleistungen beteiligt, sondern rezipieren sie, korrigieren Missverständnisse, vergleichen ihre Bestände, sichern den histo­ rischen Bestand durch Editionen, präsentieren sie in neuen Medien.“24 So ist es Aufgabe der Geisteswissenschaften, Voraussetzungen für eine erkenntnisfundierte Urteilsbildung auf den unterschiedlichen Gebieten der Kultur zu schaffen, also „Kritik“ möglich zu machen. Kritik, die ursprünglich in der Literatur und Ästhetik zu Hause ist, war ja bekanntlich be­ reits seit der Aufklärung zu einem zentralen Vernunftbegriff überhaupt geworden. 23 Vgl. damit die ähnlich gearteten, wenn auch in anderem Zusammenhang entwickelten Auffassungen in Moritz SCHLICK: Die Probleme der Philosophie in ihrem Zusammenhang. Vorlesung aus dem Wintersemester 1933/34. Hrsg. v. Henk L. Mulder, Anne J. Kox u. Rainer Hegselmann, Frankfurt a. M. 1986, S. 104. 24 Reinhard BRANDT: Zustand und Zukunft der Geisteswissenschaften (Abschiedsvorlesung an der PhilippsUniversität Marburg am 27. Juni 2002), in: Die Zukunft der Geisteswissenschaften. Hrsg. v. Ulrich Arnswald, Heidelberg 2005, S. 29 – 61, hier S. 38.

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Was ein Vorteil der Spezialisierung und der konzentrierten Zuwendung auf der einen Seite ist, bedeutet auf der anderen einen fühlbaren Verlust: die Trennung von Erleben und Erkennen, Lebenserfahrung und Wissen, Praxis und Theorie. Die Geisteswissenschaftler, welche als Lehrende und Lernende um den Erwerb einer erkenntnisfundierten Urteilsbildung im Hinblick auf die philologisch-historisch, religiös, moralisch-politisch, philosophisch und im Besonderen auch künstlerisch bedeutsamen Kulturbereiche bemüht sind, lehren und üben diese Kompetenz vorwiegend als Betrachter, nicht als Handelnde. Nicht selten geht damit etwas einher, was man – mit einer der Botanik entlehnten Bezeichnung – als eine Entwicklung von geisteswissenschaftlichen Luftwurzlern bezeichnen könnte. Um dieser Entwicklung, mit welcher eine Entfremdung zwischen dem oft nur kritisch-analysierenden Geisteswissenschaftler und dem schöpferischen Individuum einhergeht, wenigstens einigermaßen vorzubeugen, machte Reinhard Brandt einen auch für das Verhältnis der Kunst zu ihrer Geschichte und Theorie bedenkenswerten Vorschlag: „Zur Rettung der Geisteswissenschaften sollte versucht werden, die Könnens-Kultur der ‚artes liberales‘ vorsichtig zu erneuern und das Können im Erkennen zu verstärken. Dies geschieht schon in verschiedenen Fächern unter dem Werkstatt-Titel: Literatur-Werkstatt, Geschichtswerkstatt etc. In der Philosophie könnte man Argumentationsübungen einführen als eine inneruniversitäre gegenstandsbezogene, nicht fremd- und marktbezogene Praxis.“25 Vorgeschlagen wird hiermit nicht weniger als eine Bändigung des Theoretizismus durch dessen Rückbin­ dung auf praktische Fertigkeiten, mithin aber zugleich eine Äquilibrierung des Verhältnisses von Anschauung und Begriff in der geisteswissenschaftlichen Ausbildung.

4. Das Vertraute, das Fremde und die Kunst Friedrich Nietzsche fragte in der Fröhlichen Wissenschaft, ob denn die Philosophen unter Erkenntnis eigentlich mehr verstanden haben als die Zurückführung von etwas Fremdem auf etwas Bekanntes, und er ergänzt diese Frage um einige andere: „Das Bekannte, das heißt: das, woran wir gewöhnt sind, so dass wir uns nicht mehr darüber wundern, unser Alltag, irgendeine Regel, in der wir stecken, alles und jedes, in dem wir uns zu Hause wissen – wie? ist unser Bedürfnis nach Erkennen nicht eben dies Bedürfnis nach Bekanntem, der Wille, unter allem Fremden, Ungewöhnlichen, Fragwürdigen etwas aufzudecken, das uns nicht mehr beunruhigt? Sollte es nicht der Instinkt der Furcht sein, der uns erkennen heißt? Sollte das Frohlocken des Erkennenden nicht eben das Frohlocken des wiedererlangten Sicherheitsgefühls sein?“26 25 Ebd., S. 39. 26 Friedrich NIETZSCHE: Die fröhliche Wissenschaft, in: Ders., Werke in drei Bänden. Zweiter Band, Darm­ stadt 1963, S. 7–274, hier S. 222.

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Gibt es dazu ein Analogon in der Kunst? Dass nämlich, wie in der Wissenschaft, eine Art umgekehrter Emergenz – vom Komplexeren, durch dessen „Reduktion“, zum Einfacheren und Vertrauten – wirksam ist? Das, was in der künstlerischen Gestaltung an Erlebnisinhal­ten zum Ausdruck kommt, hat naturgemäß einen anderen Charakter als das, worauf man in der Wissenschaft rekurriert. Jede Sicht der Dinge, die diese nicht auch in gewisser Hinsicht verfremdet, ist der Kunst unangemessen. Wird etwas Wirkliches als etwas gewohnheitsmäßig Vertrautes präsentiert, so kann es nur an ästhetischer Wirksamkeit verlieren. In dieser Hinsicht besteht zwischen Kunst und philosophischer Reflexion eine Ähnlichkeit: Künstleri­sche Gestaltung und philosophische Besinnung besagen gleichermaßen ein Zurückkommen vom Vertrauten auf etwas befremdliches Neues. In ihm stellen sich der Künstler wie der Philosoph dem Wirklichen. Dem der Kunst eigentümlichen Rückgang vom Vertrauten auf das Befremdliche liegt keineswegs immer eine nur auf Neuigkeitseffekte bedachte Absicht zugrunde, wie dies der aktuelle Kunstbetrieb nahelegen könnte, sondern oft einfach die Tatsache, dass man an die Grenzen des Mitteilbaren stößt. Denn das in Farben oder Tönen gestaltete Bild dessen, was Gegenstand der Kunst ist, ist – mit Friedrich Schlegel gesprochen – eine „Hieroglyphe“, kein Begriff.27 Lange nach Schlegel bemerkte Ludwig Hohl: „Ein Kunstwerk ruht auf dem Unverständnis. Wenn alles verstanden worden ist, hat es keine Kraft mehr.“28 Ähnlich charakterisierte Ludwig Wittgenstein in den Vermischten Bemerkungen die ­wichtigste Voraussetzung seiner philosophischen Tätigkeit: „Das Unaussprechbare (das, was mir geheimnisvoll erscheint und ich nicht auszusprechen vermag) gibt vielleicht den Hinter­grund, auf dem das, was ich aussprechen konnte, Bedeutung bekommt.“29 Friedrich Schlegel wollte zeigen, „daß man die reinste und gediegenste Unverständlich­ keit gerade aus der Wissenschaft und aus der Kunst erhält, die ganz eigentlich aufs Verständigen und Verständlichmachen ausgehn, aus der Philosophie und Philologie […]“, und wollte damit „auf das hindeuten, was die größten Denker jeder Zeit (freilich nur sehr dunkel) geahndet haben […]“.30 Der romantischen Tradition entsprach die Annahme, dass wir Menschen viel mehr ahnen, als wir diskursiv mitteilen können – dies sei uns dann in den Sprachen der Kunst und in der Metaphorik möglich. So mache es beispielsweise die Größe der Maler und Dichter aus, das in die Bildsprache und in Sprachbilder zu fassen, was sie in ihrem Geist nur dunkel geahnt haben.31 Oft, so zeigt sich allerdings, ist 27 Friedrich SCHLEGEL: Dritter Nachtrag alter Gemälde [1805], in: Ders., Werke in zwei Bänden. Zweiter Band, Berlin-Weimar 1980, S. 285 –315, hier S. 314 f. 28 Ludwig HOHL: Von den hereinbrechenden Rändern (Anm. 10), S. 432. 29 Ludwig WITTGENSTEIN: Vermischte Bemerkungen. Eine Auswahl aus dem Nachlaß. Hrsg. v. Georg Henrik von Wright. Unter Mitarbeit von Heikki Nyman, Frankfurt a. M. 1977, S. 38. 30 Friedrich SCHLEGEL: Über die Unverständlichkeit [1800], in: Ders., Werke in zwei Bänden. (Anm. 27), S. 200. 31 Ganz ähnlich beispielsweise auch Paul VALÉRY: Windstriche (Anm. 2), S. 107.

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nicht sosehr die Ahnung­dunkel, als vielmehr der Gegenstand, worauf sich die Erfahrung richtet. Man könnte daher vielleicht eher von einer Erfahrung von etwas Dunklem sprechen, wobei dann dessen Qualität auf den Erfahrungsvorgang zurückstrahlt und diesen als dunkel erschei­nen lässt. Ein solcher Gegenstand ist die Melancholie.32 Seit Anfang der Zeiten quält den Menschen die mit ihr einhergehende Unbegreiflichkeit, die sich aus verschiedenen Aporien und unauflöslichen Spannungen ergibt: aus der Unvereinbarkeit der in die Zukunft weisenden Hoffnung und der Kontingenz als dem Boten der Verzweiflung, mithin aus der Spannung von Möglichkeit und Wirklichkeit, Unendlichkeit und Endlich­ keit, Dauer und Wandel.

IV. Über Kunst im Zeichen der Kulturindustrie Fragt man heute nach der Dauer in der Kunst, so erscheint man angesichts der tosenden Kulturindustrie vielen als sonderbarer Zeitgenosse. Das Wort „Kulturindustrie“ zeigte bei Max Horkheimer und Theodor Adorno düster den sogenannten „Verblendungszusammenhang“ im Spätkapitalismus an, und das mit ihm Gemeinte ist heute im Westen auf oft beängstigende Weise vor allem in bestimm­ten „Kunst-Events“ der „Spaßgesellschaft“ gegenwärtig. Die Kulturindustrie erfasste aber auch Staaten, welche sich nicht gera­de als Repräsen­tanten des Spätkapitalismus betrachten, so zum Beispiel die Volksrepublik China. Was die Kommunistische Partei Chinas derzeit an dem offen als „Kulturindustrie“ Bezeichneten be­eindruckt, ist die Idee des Marketing. Scheint die chinesische Regierung aus den Ent­wicklungen in der Sowjetunion nach 1989 gelernt zu haben, dass man gegenüber den Bestrebungen des politischen Pluralismus die Zügel nicht locker lassen darf, so scheint sie aus den Entwicklungen im Westen die Erkenntnis gewonnen zu haben, dass der kulturelle Pluralismus insofern sogar systemstabilisierend sein kann, als derselbe Markt, der den Plura­lismus hervorbringt, diesen auch beliebig und ungefährlich macht. Derzeit scheint es in China darauf anzukommen, die Kunst planmäßig in die Obhut der Wirtschaft zu geben, sodass der Staat nur noch in Ausnahmefällen eingreifen muss. Wie Mark Siemons zur kulturindustriellen Offensive Chinas bemerkte, werden nicht nur ideo­logisch vergleichs­ weise unschuldige Zweige wie Design, Comic und Online-Spiele, sondern mittlerweile sogar Autoren, welche aus der Sicht der herrschenden Klasse Chinas früher für unberechen­ bar und kontrollbedürftig galten, entschlossen gefördert.33 Die Folgen einer derartigen 32 Vgl. dazu allgemein Jean STAROBINSKI: Die Melancholie im Spiegel. Baudelaire-Lektüren, München 1992; ferner László F. FÖLDÉNYI: Melancholie und Abstraktion, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. März 2006, S. 43. 33 Mark SIEMONS: Kampf um Kunst. Listig: China startet eine kulturindustrielle Offensive, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. Mai 2006, S. 37.

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Elastizität des politischen Herrschaftssystems für den Bereich der Kunst sind nicht zu übersehen: Ehemals politisch bedrängte Maler und Filmemacher produzieren mittlerweile sozialverträgliche und weltmarktkompatible Werke, die künstle­risch weitgehend bedeutungslos sind. Dennoch wäre es unrichtig anzunehmen, dass die chinesischen Künstler des­ halb schon in ihrer Gesamtheit ein allgemeingültiges Prinzip außer Acht ließen: dass man oft viel Geschmack haben muss, um dem seiner Gegenwart zu entgehen. Wie ist es heute um jenes alte – vor allem alteuropäische – Ideal individueller künstle­ rischer Vollkommenheit bestellt, um das von Matthew Arnold einmal so bezeichnete und von William Butler Yeats beifällig zitierte „morbide Bemühen“ um die „Perfektion des Denkens und Fühlens“, das der Künstler noch mit der „Perfektion der Form“ zu vereinen sucht?34 Für Gottfried Benn, der das Ziel seines Tuns darin erblickte, „im Gedichte die Dinge mystisch [zu] bannen durch das Wort“,35 war künstlerische Qualität eine Sache der persönlichen Entscheidung des Einzelnen darüber, was an dem Objekt der Kunst für ihn das „Wesent­ liche“, weil dauernd Wertvolle ist. Wie furchtbar ihm persönlich, wie er be­richtet, der Verlust an Kulturbedeutung auch erschienen sein mag, den die Werke Hölderlins und der Droste, Nietzsches, Rilkes und Georges gegen Ende seines Lebens erlitten – „alles Gerümpel jetzt oder gar nicht mehr vorhanden, / unbestimmbar, wesenlos / im schmerzlos-ewigen Zerfall“ –, so erschien es ihm doch unmöglich, irgendeiner übersubjektiven Instanz, wie etwa der Weltgeschichte als dem „Weltgericht“ (Friedrich Schiller), eine Wertung dieses Verlusts zuzurechnen. „Kann keine Trauer sein“ ist das letzte Gedicht Benns überschrieben.36 Ob Hölderlin bereits ähnlich dachte? Eines seiner späten Gedichte widmete er der Muse der Künste, Mnemosyne, deren Name, wie wir wissen, auch für das andenkende Erinnern steht. In dieser vermutlich im Herbst 1803 entstandenen Hymne heißt es am Schluss der ersten Strophe der beiden ersten von insgesamt drei Fassungen: „Lang ist / Die Zeit, es ereignet sich aber / Das Wahre.“37 Ist dieses „Wahre“ zu verstehen im Sinne des großen künstlerischen Augenblicks, dem Hölderlin in seinem berühmten Gedicht „An die Parzen“ Ausdruck gegeben hat? Dort wird davon berichtet, dass dem Dich­ter das Heilige, das ihm am Herzen liegt, das Gedicht, gelang, so dass er von sich sagen kann: „einmal / Lebt ich, wie Götter,“ ein einziges Mal – „und mehr bedarf ’s nicht“.38 Diese Aus­legung steht im Gegensatz zu jener anderen, der zufolge das „Wahre“ als ein sich über die Zeit hin erstreckendes Geschehen zu verstehen ist. Dies war eigentlich auch der Sinn der „veritas ­filia temporis“-Formel des Aulus Gellius, die auch der jüngere Plinius übernahm: Mit der Zeit kommt die Wahrheit ans Licht. Diese gehe also nach und nach aus dem Wechselspiel 34 35 36 37

Zitiert nach Denis DONOGHUE: Speaking of Beauty, New Haven-London 2003, S. 59. So in „Gedichte“, in: Gottfried BENN: Lyrik (Anm. 9), S. 196. Siehe ebd., S. 5. Siehe Friedrich HÖLDERLIN: Mnemosyne (erste Fassung des Gedichts), in: Werke in zwei Bänden, Bd. 1, München-Wien 1970, S. 393 f., hier S. 393. 38 Siehe Friedrich HÖLDERLIN: An die Parzen, ebd., S. 219.

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widerstreitender Meinungen hervor. Ein Erkenntnisfortschritt im wissenschaftlichen Sinne kann mit dieser Auslegung von Hölderlins Gedicht „Mnemosyne“ natürlich nicht gemeint sein. Wohl kann dieses jedoch so gedeutet werden, dass das, was das „Wahre“ der Kunst ausmacht, nur in der diachronen Ordnung einer Vielzahl ihrer Bilder besteht, welche uns als Ausdrucksformen und Objektivationen großer künstle­rischer Augenblicke und Evidenz­erlebnisse gegenwärtig sind. Ist also – wie nach Hölderlin – die „Wahrheit“ der „ars longa“, der Kunst als dauerhafter Einheit von Inhalt und Form, nur in einem glückhaften mystischen Augenblick erfahrbar? Oder wird sie uns in der Vielheit ihrer visuellen und auditiven Bilder und Ausdrucksformen zugänglich? Beide Fragen sind möglich, beide Antworten sind zulässig.

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5. WELTANSCHAUUNG Vorbemerkung Der Beginn der Weltanschauungsanalyse fällt in die Zeit der frühen wissenschaftstheore­ tischen Erörterungen, genauer gesagt: in die Zeit der Abwehr eines ­methodologi­schen Imperialismus, als welcher gewisse Ansprüche verschiedener Naturwissenschaftler von Geisteswissenschaftlern im 19. Jahrhundert wahrgenommen wurden. Der Streit entbrannte insbesondere im Deutschen Reich, wo der Monistenbund vor allem Ingenieurswissen­ schaftler versammelte, die sich als Vorhut der wissenschaftlichen Entwicklung schlechthin verstan­den, während die Kulturwissenschaften in ihren Augen an Bedeutung verloren oder doch verlieren sollten. Doch es fanden sich immer wieder auch unter Naturwissenschaftlern Anwälte eines unaufgeregten Wissenschaftspluralismus. „Denn vom Standpunkte der heutigen Erkennt­ nis“, so fand etwa Émile Boutroux im Jahr 1895, „gibt es nicht eine einzige Wissenschaft, sondern mehrere Wissenschaften. Die Wissenschaft, als Inbegriff aller Wissenschaften ver­ ­ elcher standen, ist eine bloße Abstraktion.“1 Ähnlich konziliant äußerte sich Ernst Mach, w von der als Zentrum naturwissenschaftlicher Welterklärung angesehenen Mecha­nik sagte: „Die Mechanik fasst nicht die Grundlage, auch nicht einen Teil der Welt, sondern eine Seite derselben.“2 Als eine Art der Ökonomisierung des Denkens, wenn auch als eine sehr bewährte, stelle sie eine Abstraktion unter mehreren möglichen anderen dar. Mit dieser An­ sicht steht dieser große Naturwissenschaftler Wilhelm Dilthey, dem namhaftesten Theoretiker der Geisteswissenschaften, nahe, dessen Plädoyer für weltanschauliche Plurali­ tät mit einer Kritik an dem Glauben an die Möglich­keit eines einzigen metaphysischen Systems verbunden ist. Wie Dilthey den „Weltanschauungen“, so hat einige Zeit danach Ludwik Fleck den „Denkstilen“ Aufmerksamkeit geschenkt und sie in ihrer Funktion als „Bereitschaft für ge­richtetes Wahrnehmen“ bestimmt.3 Untersuchte Dilthey partikuläre Er­ 1 Émile BOUTROUX: Über den Begriff des Naturgesetzes in der Wissenschaft und in der Philosophie der Gegenwart (1. franz. Aufl. 1895), Jena 1907, S. 127. 2 Ernst MACH: Die Mechanik in ihrer Entwicklung, historisch-kritisch dargestellt [1883], 9. Aufl., Leipzig 1933, S. 485. 3 Vgl. Ludwik FLECK: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv [1935], Frankfurt a. M. 1980, S. 129.

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5. WELTANSCHAUUNG

fahrungs- und Wissens­inhalte in ihrer Beziehung zum Ganzen einer Weltanschauung, so betrachtete Fleck die „wissenschaftliche Tatsache“ nicht als den Ausgangspunkt der Beob­ achtung und der wei­terführenden Induktionen, sondern vor dem Hintergrund von Wahr­ nehmungsgewohnheiten. Dilthey hatte allerdings die Analyse der für Fleck maßgeblichen wissenschaftlichen Wahrnehmungsweisen in seiner „Weltanschauungslehre“ noch um die für Kunst und Religion sowie für Moral und Politik charakte­ristischen Wissensformen er­ weitert. Die Weltanschauungsanalyse ist durch zwei gegenläufige Tendenzen gekennzeichnet: durch Gegenstands- und durch Methodenanalyse. Bestimmend für beides ist das Stre­ ben nach Perspektive und Vielschichtigkeit, um jenen Gefahren vorzubeugen, die durch einseitige Bilder von der Welt sowie durch monokausale Erklärungen der in ihr auftre­ tenden Phänomene entstehen. Der Versuch, die „Anarchie der philosophischen Syste­ me“ im Rahmen einer Analyse von Weltanschauungstypen begreifbar so­wie die einzelnen Weltanschau­ungen in ihrer Genese und Wirkung verstehbar zu machen und zu erklären, erfordert, wie bereits Wilhelm Dilthey erkannte, eine metatheoretische Analyse. Diese bezieht sich vor allem auf das Erkenntnisinteresse und den logischen Status der jewei­ligen Denkformen und ist damit der Absicht nach eine weltanschauungsneutrale Klärung der erkenntnistheoretischen sowie der ideen- und gesellschaftsgeschichtlichen Voraussetzun­ gen der verschiedenen Weltanschauungen. Diese Metatheorie darf allerdings nicht so verstanden werden, als wären die in ihr for­mu­ lierten Aussagen im Unterschied zu den von ihr analysierten Aussagensystemen kritikim­ mun. Weder kommt so etwa den Sätzen von Erfahrungstheorien noch den Sätzen über Erfahrungstheorien definitive Gewissheit zu. Mit anderen Worten: Sowohl in der Wissen­ schaft als auch in der Wissenschaftsphilosophie gilt das Prinzip des Fallibilismus. Das be­ sagt weder für die Wissenschaft noch für die Wissenschaftsphilosophie eine Ab­wertung. Auch wenn der wissenschaftsphilosophi­schen Metatheorie nicht definitive Gewiss­heit, sondern nur bedingte Gültigkeit zukommt, so f­ olgt daraus nicht ihr dramatischer Wertver­ lust. Die Bedeutung der metatheoretischen Betrachtungsweise zeigt sich vor allem an den Folgen ihrer Missachtung. Wird nämlich dieser Kernbe­reich der Philosophie – der Versuch ­einer Reflexion auf die Voraussetzungen der Erkenntnis von Erfahrungsinhalten – vernach­ lässigt, dann besteht die Gefahr, dass religiöse, politische, sozialökonomische und andere Weltanschauungen als einseitige Universaldeutungen den Anspruch erheben, alle anderen Philosophien, Geschichts- und Gesellschaftstheorien instrumentalisieren oder auch elimi­ nieren zu können.

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Formen und Funktionen der Weltanschauung „Eine Weltanschauung vermeinen heute diejenigen Leute zu besitzen, denen die Welt nicht mehr anschaulich ist. Dafür sind sie von ihren Anschauungen besessen. Auch dieses Wort also wurde, wie so viele, pseudologisch auf den Kopf gestellt.“ Heimito von Doderer, Repertorium. Ein Begreifbuch von höheren und niederen Lebens-Sachen, 2. Aufl., München 1996

Einleitung: Zur Ambivalenz des Begriffs der Weltanschauung Das Wort „Weltanschauung“ erscheint zuerst 1790 bei Kant in seiner Kritik der Urteilskraft,4 und von dem damit Gemeinten heißt es, dass ihm „als bloßer Erscheinung“ die „Idee eines Noumenons […] zum Substrat untergelegt“ werde. Der Ausdruck bezeich­ net einerseits den Vorgang des Anschauens, andererseits den des Erscheinens. Gramma­ tisch-semantisch gesprochen heißt das, wie Werner Betz in einer der Geschichte des Wortes „Weltanschauung“ gewidmeten Abhandlung bemerkt, dass Kant ein Wort gebraucht, das, wie beispielsweise auch das Wort „Übersetzung“, „nicht nur Nomen actionis ist, Bezeichnung des Vorganges, sondern das zugleich auch ein Nomen acti, Bezeichnung des Ergebnisses darstellt. […] Diese doppelte Funktion wird für Kant durch das Wort Welt­ anschauung, erfüllt, besser als durch die schon vorhandenen Ausdrücke ‚Weltbetrachtung‘ oder ‚Weltbild‘, die jeweils nur entweder Nomen actionis oder Nomen acti sind, während eben Weltanschauung in der Sprache Kants als Anschauung schon beides in sich vereint.“5 Dass „Weltanschauung“ also durch das aktive individuelle Anschauen gewonnen werden kann, andererseits aber ein durch viele Anschauungen und Gewöhnungen kondensiertes 4 Immanuel KANT: Kritik der Urteilskraft [1790], Akademie-Textausgabe, Bd. V, Berlin 1968, S. 254 f. Hier heißt es: „Das gegebene Unendliche […] ohne Widerspruch auch nur denken zu können, dazu wird ein Vermögen, das selbst übersinnlich ist, im menschlichen Gemüthe erfordert. Denn nur durch dieses und des­ sen Idee eines Noumenons, welches selbst keine Anschauung verstattet, aber doch der Weltanschauung, als bloßer Erscheinung, zum Substrat unterlegt wird, wird das Unendliche der Sinnenwelt in der reinen intel­ lektuellen Größenschätzung unter einem Begriffe ganz zusammengefaßt, obzwar es in der mathematischen, durch Zahlenbegriffe nie ganz gedacht werden kann.“ 5 Werner BETZ: Zur Geschichte des Wortes „Weltanschauung“, in: Kursbuch der Weltanschauungen. Frank­ furt a. M.-Berlin-Wien 1981 (= Schriften der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, Bd. 4), S. 18 –28, hier S. 19. – Vgl. in diesem Zusammenhang auch Gunter SCHOLTZ: Weltanschauung, in: Schlüssel­begriffe der Philosophie des 19. Jahrhunderts, hrsg. von Annika Hand, Christian Bermes und Ulrich Dierse, Hamburg 2015, S. 435 –  463.

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5. WELTANSCHAUUNG

Bild oder System meint, macht den Reiz und den Erfolg des Wortes in seiner bisherigen Begriffsgeschichte aus. Religiöse Glaubensinhalte werden in den folgenden Betrachtungen zu den Formen und Funktionen der Weltanschauung ausgeklammert werden. Für diese bedürfte es einer be­ sonderen Untersuchung.

I. Einiges zur weiteren Entwicklung des Weltanschauungsbegriffs In der Zeit nach Kant führte der Weg der Erkenntnisbemühungen häufig zur vereinseitig­ ten Analyse von entweder Anschauen oder Angeschautem, von subjektiver Welterfahrung oder objektiviertem Erfahrungsresultat. Dass dabei oftmals Weltanschauung, und zwar durch das Wörtlich-Nehmen im Sinne des nomen actionis, zu spöttischer Kritik Anlass gab, belegt exemplarisch eine Stelle in einem Brief Jacob Burckhardts an Gottfried Kinkel: „Vor Zeiten war ein jeder ein Esel auf seine Faust und ließ die Welt in Frieden; jetzt dage­ gen hält man sich für ‚gebildet‘, flickt eine ‚Weltanschauung‘ zusammen und predigt auf den Nebenmenschen los.“6 Die von jeglicher Überprüfbarkeit enthemmte Subjektivität ist es, welche hier in Betracht steht und erkenntnistheoretische Realisten auf den Plan ge­ rufen hat. Später erfolgte eine Art Ontologisierung der Weltanschauung, eine Änderung der Aufmerksamkeitsrichtung vom Vorgang zum Resultat, vom nomen actionis zum nomen acti. Darauf ist hier im einzelnen nicht einzugehen; es mag der Hinweis genügen, dass der Inhalt einer Weltanschauung zumeist entweder im Sinne der theoretischen Vernunft als Erkennt­ nis, oder aber im Sinne der praktischen Vernunft als Bekenntnis verstanden wurde. Repräsentativ für eine Bestimmung der Bedeutung des Begriffs Weltanschauung im Sinne der theoretischen Vernunft ist Rudolf Eislers (erstmals 1899 erschienenes) Wörter­ buch der philosophischen Begriffe, wo es in der dritten Auflage aus dem Jahre 1910 heißt: „Ein philosophisches System ist die Vereinigung allgemeiner Erkenntnisse zur Einheit einer Welt­ anschauung.“ Die werthaft-präskriptive Ebene bleibt ausgeklammert. Beispielhaft für die Bestimmung der Bedeutung dieses Begriffs im Sinne der praktischen ­Vernunft wiederum sind Hegels Ausführungen über „Die moralische Weltanschauung“ in der Phänomenologie des Geistes (1807) oder – mehr als 120 Jahre später – Theodor Litts Hinweise auf „Lebensfra­ gen, denen nur in einer Weltanschauung Antwort werden kann“.7 Auch in den so genann­ ten politischen Weltanschauungsparteien dominiert im Allgemei­nen ein Verständnis von Weltanschauung im Sinne von praktischen Lebensfragen und von darauf gegebenen Ant­ worten zur individuellen und kollektiven Lebensführung. Allerdings ist der Anspruch jener 6 Zitiert nach Werner BETZ: Zur Geschichte des Wortes „Weltanschauung“ (Anm. 5), S. 20; ursprünglich in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 19 (1921), S. 276. 7 Theodor LITT: Wissenschaft, Bildung, Weltanschauung, Leipzig-Berlin 1928, S. 76.

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Formen und Funktionen der Weltanschauung

Parteien in der Regel umfassender und schließt auch Lehren ein, die sich auf bestimmte den Menschen, die Gesellschaft und die Natur betreffende Inhalte theoretischer Art beziehen. So handelt es sich bei ihnen um Weltanschauungen im Sinne von „Gesamtdeutungen“,8 die verschiedentlich an die Stelle umfassender älterer metaphysischer Weltdeutungen traten. Gelegentlich wurden sie auch entsprechend definiert, wie beispielsweise von Paul ­Thormeyer in seinem Philosophischen Wörterbuch: „Weltanschauung (= metaphysisches System) ist ein durch einheitliche Zusammenfassung alles Wissens und abschließende Betrachtung gewon­ nenes Gesamtbild von der Welt.“9 Bei diffusen Ganzheitsvorstellungen dieser Art setzten Wilhelm Diltheys Analysen in seiner „Weltanschauungslehre“ an, mit welchen er das theoretisch-praktische Amalgam der herkömm­ lichen einschlägigen Auffassungen zu systematisieren suchte, und die in einer wirkungs­ geschichtlich bedeutsamen Typologie der Weltanschauungen ihren Ausdruck fanden.

II. Weltanschauung als Erkenntnisinteresse 1. Diltheys Typen der Weltanschauung Für Dilthey ist die Welt ein in unterschiedlichen Erlebnissen zugänglicher Sachverhalt, ob­ schon ihm, wie bereits Kant, die Idee einer Einheit des darauf bezogenen Wissens als ein regulatives Prinzip der Erkenntnis galt. Diese Einheit des Wissens war für ihn aber nicht verbürgt durch ein „Ding an sich“, sondern durch die Anthropologie, aus der heraus die ver­ schiedenen perspektivischen Formen der Welterfahrung als „Typen der Weltanschauung“ verständlich gemacht werden sollten. Die „Menschennatur“, zeige im realen Lebensprozess, wie Dilthey bereits in seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften bemerkte, „am Wollen, Fühlen und Vorstellen“ ihre „verschiedenen Seiten“.10 Davon ausgehend konzipierte er s­ päter – den „Naturalismus“ als den positivistischen Ansatz vom Verstand her, wie er exempla­ risch von Demokrit und Hobbes vertreten und durch die verschiedenen Sparten der Naturwissenschaften praktiziert wird; – den „objektiven Idealismus“ als den kontemplativen Ansatz vom Gefühl her, wie er etwa von Heraklit, Leibniz, Hegel und Goethe repräsentiert wird und sich in einer har­ 8 Solche hatte Jean Paul, wenn auch mit ungleich umfassenderem Anspruch und in naturgemäß anderer Ab­ sicht, in seiner 1804 erschienenen Vorschule der Ästhetik dem Genie vorbehalten. – Jean PAUL: Vorschule der Ästhetik, in: Werke, Bd. 5, hrsg. von N. Miller, München 1963, § 10. 9 Paul THORMEYER: Philosophisches Wörterbuch, 3. Aufl., Leipzig-Berlin 1922; zitiert nach Werner BETZ: Zur Geschichte des Wortes „Weltanschauung“ (Anm. 5), S. 24. 10 Wilhelm DILTHEY: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Erster Band [1883], 7. Aufl., Stuttgart-Göttingen 1973 (= Ge­­sammelte Schriften, Bd. I), S. XVIII.

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monisierenden Religion oder einer gleichartigen, am besten wohl als „apollinisch“ zu bezeichnenden künstlerischen Weltbetrachtung ausdrückt; – den „Idealismus der Freiheit“ als den aktivistischen Ansatz vom Willen her, wie er uns beispielsweise im Schrifttum von Plato und Kant begegnet und wie er im ethischen, juristischen und politischen Denken und Handeln Ausdruck findet.11 Dilthey befindet sich damit sowohl in der Tradition von David Hume, dessen Treatise of Hu­ man Nature bekanntlich aus den drei Büchern „Of the Understanding“, „Of the Passions“ sowie „Of Morals“ besteht, als auch in der von Immanuel Kant und seinen drei Kritiken, die entstanden in gewisser Hinsicht jenem dreigliedrigen Aufbau von Humes Schlüsselwerk entsprechen. In der Anthropologie als der Selbsterkenntnis des Menschen liegt also nach Dilthey der Grund für die drei von ihm in seiner Weltanschauungslehre dargelegten Erkenntnis­ orientierungen.12 Für ihn stand fest, dass jede Vereinseitigung einer dieser drei Welt­ an­ schau­ ungs-Orientierungen im Sinne eines jeweils für sie reklamierten besonderen Gel­tungs­anspruchs zu einer dogmatischen Metaphysik führt. Es ginge darum, zu zeigen, dass Einsichten, welche in einem der von Dilthey genannten Bereiche der „geisti­gen Welt“ – in den Naturwissenschaften, in Kunst und Religion, in Ethik und Politik – ­entstanden, zu Irr­tümern werden, sobald man sie verabsolutiert und auf kategorial andersartige Sachberei­ che überträgt. Notwendigerweise ist nach Dilthey jede Weltanschauung einseitig; es ist uns, wie er ausführt, versagt, diese Seiten zusammenzuschauen: „Das reine Licht der Wahrheit ist nur in verschieden gebrochenem Strahl für uns zu erblicken.“13 Vieles als „Ideologie“ Bezeichnete ist bekanntlich durch eine solche Verabsolutierung von Prinzipien entstanden, welche innerhalb eines bestimmten Teilgebietes ihre unbestreit­ bare Gültigkeit haben, dann aber auf ihnen nicht gemäße Gegenstandsbereiche zur An­ wendung gebracht wurden.14 Dazu einiges noch im Folgenden. 11 Siehe dazu vor allem Wilhelm DILTHEY: Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philo­ sophie (= Gesammelte Schriften, Bd. VIII), 5. Aufl., Stuttgart-Göttingen 1977, S. 73 –118, S. 220 –226 und S. 227–235; siehe vor allem auch Ders., Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, 6. Aufl., Stuttgart-Göttingen 1974 (= Gesammelte Schriften, Bd. V), S. 403. 12 Die anthropologische Dreigliedrigkeit der Seelenvermögen – Verstand, Gefühl und Willen – ist nicht allein auf die begriffliche Erfassung des „Was“ und des „Wie“ der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit be­ zogen, sondern auch auf die Frage „Warum?“. Die Antwort darauf kann – je nach Problemposition – durch das naturwissenschaftliche Erklären vom Verstand her gegeben werden oder durch ein geisteswissenschaft­ liches Verstehen vom Gefühl und vom Willen her. 13 DILTHEY: Weltanschauungslehre (Anm. 11), S. 224. 14 Gewisse Varianten des Materialismus, Idealismus und Psychologismus können dafür als Beispiele genannt werden.

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2. Zur Wirkungsgeschichte von Diltheys Typologie der Weltanschauungen Auch das Werk eines Philosophen wird im Allgemeinen nicht nur dadurch bestimmt, was es für sich genommen ist, sondern auch durch das, was es auf dem Wege der Rezeption bewirkt hat. Diltheys Schrifttum zur Weltanschauungsanalyse kommt in diesem Zusam­ menhang ein exemplarischer Charakter zu. Schon früh – erstmals im Jahre 1908 – un­ tersuchte Herman Nohl in einer Dilthey verwandten Absicht den Zusammenhang von Malerei, Kunststil und Weltanschauung.15 Karl Mannheim hat dann 1923 Beiträge zur Theorie der Weltanschauungs-Interpretation16 verfasst, in denen er auf Diltheys Studie „Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen“ (1911) und auch auf Nohls Stil und Weltanschauung (1920) Bezug nimmt. Aber bereits 1919 er­ schien die Monographie Psychologie der Weltanschauungen von Karl Jaspers,17 die vor allem bei Psychologen und Kulturphilosophen auf große Resonanz stieß. Ein halbes Jahrhundert nach Jaspers hat Ernst Topitsch seine „Weltanschauungsanalyse“ unter wiederholter Bezug­ nahme auf Dilthey entwickelt;18 auf sie wird später noch kurz Bezug genommen werden. Jede Komparatistik hat von bestimmten Klassifikationen und Typenbildungen auszu­ gehen, um Konstantes im Wandel, Gleichförmiges im Ver­schieden­artigen nachweisen zu können. Max Scheler hat in dieser Absicht im Anschluss an Dilthey typologische Bestre­ bungen verfolgt, so zunächst in seiner 1922 erschienenen Abhandlung „Weltanschau­ ungslehre, Soziologie und Weltanschauungssetzung“.19 Mit ihr legte er eine allgemeine Typologie von Weltanschauungen vor, auf die drei Jahre später seine berühmt gewordene Unterscheidung von drei „Wissensformen“– von „Erlösungs-“, „Bildungs-“ und „Herr­ schafts“- oder „Leistungswissen“ – folgte,20 mit welcher Unterscheidung Scheler die von 15 Herman NOHL: Die Weltanschauungen der Malerei, Jena 1908; Stil und Weltanschauung, Jena 1920. Ähnlich auch Joachim WACH: Typen religiöser Anthropologie. Ein Vergleich der Lehre vom Menschen im religionsphilosophischen Denken von Orient und Okzident, Tübingen 1932. 16 Karl MANNHEIM: Beiträge zur Theorie der Weltanschauungs-Interpretation, Wien 1923 (= Kunstge­ schichtliche Einzeldarstellungen, Bd. II); wiederabgedruckt in: Ders., Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, eingel. u. hrsg. v. Kurt H. WOLFF, Berlin-Neuwied 1964 (= Soziologische Texte, Bd. 28), S. 91–154. 17 Karl JASPERS: Psychologie der Weltanschauungen, Berlin 1919; 6. Aufl., Berlin-Heidelberg-New York 1971. 18 Ernst TOPITSCH: Vom Ursprung und Ende der Metaphysik. Eine Studie zur Weltanschauungskritik, Wien 1958; 2. Aufl. München 1972. 19 Max SCHELER: Weltanschauungslehre, Soziologie und Weltanschauungssetzung, in: Ders., Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre, 2. Aufl., Bern-München 1963 (= Gesammelte Werke, Bd. 6), S. 13 –26. – Zur Weltanschauungsanalyse von Nationalideen siehe Schelers Abhandlung „Nation und Welt­ anschauung“, ebd., S. 115 –219. 20 Max SCHELER: Probleme einer Soziologie des Wissens [1925], in: Die Wissensformen und die Gesell­ schaft, 2. Aufl., Bern-München 1960 (= Gesammelte Werke, Bd. 8), S. 15 –190; Ders.: Erkenntnis und Arbeit, ebd., S. 191–382. – Zeitlich vorangegangen ist Scheler in dieser Hinsicht Karl Mannheim mit sei­ nem Versuch einer „Typologie der Erkenntnistheorien“. Siehe Karl MANNHEIM: Die Strukturanalyse der

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„emanzipatorischem“, „praktischem“ und „technischem Erkenntnisinteresse“ bei Jürgen Habermas21 vorwegnahm. Diese Wissensformen bzw. Erkenntnisinteres­sen sind Diltheys Weltanschauungstypen ähnlich: dem „Idealismus der Freiheit“, dem „objektiven Idealis­ mus“ und dem „Naturalismus“. Unter Bezugnahme insbesondere auf den seinerseits unmittelbar von Dilthey beeinfluss­ ten Eduard Spranger und dessen als Monographie erstmals 1921 publiziertes Werk Lebens­ formen hat Hans Leisegang im Jahr 1928 sein Buch Denkformen veröffentlicht. Mit seiner Unterscheidung von drei Typen der Weltanschauung und mit der Kritik an der ­monistischen Vereinseitigung derselben kommt Leisegang Diltheys Intentionen sehr nahe.22

III. Weltanschauung als politische und als wissenschaftliche Orientierung 1. Einiges zu den sogenannten Weltanschauungsparteien Wenn, wie beispielsweise bei Max Weber, von „Weltanschauungsparteien“ die Rede ist, so sind darunter gesinnungspolitische Organisationen gemeint, „welche […] der Durch­ setzung inhaltlicher politischer Ideale dienen wollen“.23 Die Proponenten einiger dieser Erkenntnistheorie, Berlin 1922 (= Kant-Studien, Ergänzungsheft Nr. 57); wiederabgedruckt in: Ders., Wis­ senssoziologie (Anm. 16), S. 166 –245, v. a. S. 224 –235. 21 Vgl. Jürgen HABERMAS: Erkenntnis und Interesse (1965), abgedruckt in: Ders., Technik und Wissen­ schaft als ‚Ideologie‘, Frankfurt a. M. 1968, S. 146 –168. 22 Vgl. Hans LEISEGANG: Denkformen, Berlin 1928; 2., neu bearb. Aufl. Berlin 1951, v. a. S. 446 – 454. So heißt es beispielsweise auf S. 447: „Man kann wohl sagen, daß alle Absurditäten und Ungeheuerlich­ keiten, auf die wir in der Philosophie-, Religions- und Wissenschaftsgeschichte treffen, darauf beruhen, daß eine an einem bestimmten Wirklichkeitsbereiche ausgebildete Denkform auf die ganze Welt mit allen ihren Erscheinungen übertragen wird, als ob sie alle von derselben Struktur wären, wie dieses eine in sich geschlossene Gebiet. Die großen einseitigen Weltanschauungen sind alle aus einer ungerechtfertigten Über­ tragung entstanden.“ – Von besonderer Bedeutung für die Folgezeit waren Diltheys typologische Bestrebun­ gen in seiner „Philosophie der Philosophie“ auch für das, was man später Philosophische Systematologie oder Meta­philosophie nennen sollte. In ausdrücklichem Anschluss an Dilthey, aber auch in der Nachfolge früherer weltanschauungsanalytischer Bestrebungen von Heinrich Gomperz, bei dem er sich habilitierte, verfasste Franz KRÖNER im Jahre 1929 eine Untersuchung, die, wie bereits deren Titel anzeigt, ein für Diltheys Weltanschauungslehre signifikantes Thema betrifft: Die Anarchie philosophischer Systeme, Leipzig 1929; 2. Aufl., mit einem Geleitwort von Ferdinand Gonseth und einem Nachwort von Georg Jánoska, Graz 1970. – Siehe dazu Karl ACHAM: Franz Kröners Systematologie. Zum Versuch einer Topologie philo­ sophischer Systeme, in: T. Binder, R. Fabian, U. Höfer, J. Valent (Hgg.): Bausteine zu einer Geschichte der Phi­ losophie an der Universität Graz (= Studien zur österreichischen Philosophie, Bd. XXXIII), Amsterdam-New York 2001, S. 373 – 410. 23 Max WEBER: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., besorgt von Johannes Winckelmann, Tübingen 1972, S. 839. – Wie Weber ausführt, seien Weltanschauungsparteien

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Parteien verstanden sich dabei nicht allein als Vertreter bestimmter normativer Orien­ tierungen, vielmehr sollten diese Orientierungen selbst wissenschaftlich begründet sein. Diese Art der Verwissenschaftlichung der Politik, die als Weltanschauung des „wissen­ schaftlichen Sozialismus“ – im Unterschied zum utopischen oder zum ethischen – bei Fried­rich Engels eine spezifische Ausprägung erfahren hat, geht ideengeschichtlich vor al­ lem auf das Gedankengut der Saint-Simonisten zurück. Saint-Simon wandte sich, wie auch sein später mit ihm zerstrittener Sekretär Auguste Comte, gegen das, was dieser als „revolutionäre Metaphysik“ bezeichnete, nämlich ein Denken in den Kategorien des bloß Möglichen: gegen die reine Utopie der in der Großen Revolution von den sogenannten „Freunden des Volkes“ dekretierten Ideen von Mensch und Welt.24 Nach Ansicht der frühen Positivisten sollte unter ihrer Ägide der Ausgang aus dem utopischen Reich des Möglichen in die wissenschaftlich abgesicherte Welt des Wirkli­ chen erfolgen – und doch machte sich auch unter ihnen eine erstaunliche Einseitigkeit geltend. Sie bestand darin, die Methode der empirischen Wissenschaft weit über das Ge­ biet hinaus auszudehnen, auf das sie vernünftig anwendbar ist. Comtes im Jahre 1824 erschienenes System der positiven Politik und die in diesem Buch dargelegte neue Wissen­ schaft der Sozialphysik (physique sociale) wollte dazu dienlich sein, die natürlichen und unausweich­lichen Gesetze des kulturellen Fortschritts aufzudecken. In dem nun angebro­ chenen, von der Erfahrungswissenschaft geleiteten Zeitalter, in dem, wie schon Saint-Simon verkündet hatte, letztlich die „Herrschaft über Menschen“ durch die „Verwaltung von Sachen“ ersetzt werde, komme es nach Comte darauf an, den einzelnen Menschen und jeder Nation jene wissen­schaftlich bestimmbare Funktion zuzuweisen, für die sie geeignet sind. Die moralische Ordnung sei durch ein System der Ideen und Gebräuche sicherzustel­ len, das notwendig sei, um die Einzelnen in die soziale Ordnung einzuführen, unter der sie im Geiste des Positivismus ihr Leben gestalten. John Stuart Mill, der zwei Jahrzehnte lang unter dem Einfluss von Comtes Ideen stand, wurde durch die Proklamation dieser Ansich­ ten zur Konversion veranlasst; er sprach von ihnen als dem „vollständigsten System eines an abstrakten Prinzipien orientiert und ähneln in mancher Hinsicht den Glaubensparteien, wobei, wie bei diesen, der Zwist über die Inhalte der Weltanschauung die Form der Häresie annehmen kann. (Vgl. ebd., S.167 f.) 24 Die frühen Positivisten misstrauten im Namen der Wirklichkeit der bloßen Beschwörung von utopischen Möglichkeiten und jenen Menschenfreunden – angefangen von Mirabeau und Lafayette –, die bestimmten, wer unmenschlich oder undemokratisch handelte und dachte. Wie schon Rousseau gegen die Mehrparteien­ demokratie Stellung bezogen hatte, so war auch den Hauptexponenten der Französischen Revolution die angeblich durch den politischen Pluralismus gleichermaßen wie durch die Gewaltenteilung bewirkte Zer­ splitterung des Allgemeinwillens ein Gräuel. Der Konsens der Vernünftigen sollte für alle nicht Arglistigen die allgemein angesonnene Einstellung und Handlungsweise festlegen; und so war es nur konsequent, wenn aus Sicht der radikalen Revolutionäre nicht erst die Tat, sondern bereits der abweichende Gedanke einen Bürger verdächtig machte, nicht fest genug zur Wertegemeinschaft der wahrhaft Aufgeklärten zu stehen.

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geistlichen und weltlichen Despotismus, das jemals – vielleicht mit Ausnahme desjenigen von Ignatius von Loyola – einem mensch­lichen Gehirn entsprungen ist“.25 Der Erfolg der Lehren von Saint-Simon und Comte war dennoch beträchtlich; ihr Einfluss erstreckte sich unter anderem auf so bedeutsame Politi­ker wie Louis-Auguste Blanqui, den Vorläufer von Lenins Theorie der Avantgarde-Partei,26 auf Étienne Cabet sowie Friedrich Engels, aber auch auf so namhafte Gelehrte wie Pierre Leroux, Frédéric Le Play und Adolphe Quetelet. Von besonderer Wirkung auf Seiten der politischen Linken waren bekanntlich die sich auf Erkenntnisse der politischen Ökonomie berufenden Lehren des Marxismus-Leninis­ mus; ihr antagonistisches Pendant hatten sie im politisch rechten Lager vor allem in den Doktrinen eines biologisch argumentierenden Sozialdarwinismus. Auch diese beiden Rich­ tungen stehen in Beziehung zu Vertretern des frühpositivisti­schen Denkens: die Marxisten zu den Saint-Simonisten, deren frühsozialistischem Gedan­ken­gut sie auch einige wörtli­ che Wendungen entnahmen, die Sozialdarwinisten in der Nachfolge von Herbert Spencer hingegen vor allem zu Auguste Comte. Arthur Schnitzler stellte in seinem Roman Der Weg ins Freie im Blick auf die verschie­ denen Parteigänger fest, dass bei ihnen „Weltanschauung nichts als eine höhere Art von Gesinnungstüchtigkeit“ sei.27 Für sie war, wenn auch in unterschiedlichem Umfang, das charakteristisch, was Max Weber als das „Zusammenzwingen“ der Sphäre der „Gel­ tung eines praktischen Imperativs als Norm“ und jener der „Wahrheitsgeltung einer em­ pirischen Tatsachenfeststellung“ kritisierte, wodurch der spezifischen Dignität jeder von beiden Abbruch getan werde.28 Die letzten Werte unseres Handelns in einer Wissenschaft zu fundieren oder den Sinn des Weltgeschehens aus dem Ergebnis einer empirischen Durchforschung ablesen zu wollen, erschien ihm widersinnig. Es sei das „Schicksal einer 25 John Stuart MILL: Autobiography, New York 1873, S. 213. – Zur Kritik der frühpositivistischen Lehren siehe insbesondere auch Friedrich A. von HAYEK: Missbrauch und Verfall der Vernunft. Ein Fragment, 2. Aufl., Salzburg 1979, v. a. Teil 2 und 3. (Dieses Buch ging aus sechs Artikeln hervor, die von 1941 bis 1944 in der Zeitschrift Economica abgedruckt wurden und erstmals 1952 unter dem Titel The CounterRevolution of Science in Glencoe, Ill., als Buch erschienen sind.) 26 Dieser zufolge soll es möglich sein, dass in politischen Belangen eine aufgeklärte Minderheit ihre Inter­essen mit Zwang auch gegenüber der Mehrheit durchsetzen kann. Wie Lenin ausführte, gebe es Situa­tionen, in denen die Avantgarde des Proletariats besser wisse, wie die Probleme der Gesellschaft zu lösen sind als das Proletariat selbst; wenn nämlich die Mehrheit ein falsches Bewusstsein habe, sei es nötig, als Minderheit aktiv gegen deren Willen vorzugehen. Chinas KP schloss hier an, und so war es möglich, die von der Mehrheit der chinesischen Bevölkerung als bedrückend empfundenen Maßnahmen Mao Zedongs unter Hinweis darauf zu rechtfertigen, dass dieser – so etwa auch in der im Jahre 1957 erfolgten Selbstkritik Zhou Enlais – als „Vertreter der Wahrheit“ anzusehen sei. 27 Siehe dazu und zur Bezugnahme von Viktor Klemperer auf Schnitzler die Ausführungen von Werner BETZ: Zur Geschichte des Wortes „Weltanschauung“ (Anm. 5), S. 22 f. 28 Max WEBER: Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre [1922], 3. Aufl., Tübingen 1968, S. 489 –540, hier S. 501.

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Kulturepoche, die vom Baum der Erkenntnis gegessen hat […], wissen zu müssen, daß ‚Weltanschauungen‘ niemals Produkt fortschreitenden Erfahrungswissens sein können, daß also die höchsten Ideale, die uns am mächtigsten bewegen, für alle Zeit nur im Kampf mit anderen Idealen sich auswirken, die anderen ebenso heilig sind, wie uns die unseren.“29 Hans Kelsens Demokratietheorie schließt hier an, zumal für ihn die große Frage lautet, „ob es eine Erkenntnis absoluter Wahrheit, eine Einsicht in absolute Werte gibt.“ Er kon­ trastiert diese absolutistische Erkenntnis- und Wertlehre mit der des „Kritizismus und des Positivismus, sofern man darunter jene Richtung der Philosophie und Wissenschaft ver­ steht, die vom Positiven, das heißt vom Gegebenen, Erfaßbaren, von der wandelbaren und stets sich wandelnden Erfahrung ausgeht […]“. „Diesem Gegensatz der Weltanschauun­ gen“, so fügt Kelsen ergänzend hinzu, „entspricht der Gegensatz der Wertanschauungen, speziell der politischen Grundeinstellung. Der metaphysisch-absolutistischen Weltan­ schauung ist eine autokratische, der kritisch-relativistischen die demokratische Haltung zugeordnet.“30 Von einem wissenschaftlich abgesicherten ultimativen Konsens im Blick auf die Inhalte der Politik ist bei Kelsen an keiner Stelle die Rede, vielmehr verlagert sich die Konsensforderung von der Ebene der politischen Ziele auf die der Verfahren zur Austra­ gung von Konflikten zwischen diesen.

2. Der Anspruch auf Einheit der Wissenschaft und die Vielfalt der „Sprachspiele“ Die Emphase, die auf dem Ausdruck „Wirklichkeit“ liegt, führte in der Geschichte des philo­sophischen Denkens der Neuzeit dazu, bestimmte „Erscheinungen“ als eine Realität von zweitrangiger Bedeutung anzusehen und nur Beschreibungen und Erklärungen echten Erkenntniswert zuzusprechen, die im Sinne des mos geometricus, des geometrischen Denk­ stils, auf die „Wirklichkeit“ bezogen sind. Dagegen bezog bereits Blaise Pascal Stellung, der in den Pensées von einer „Logik des Herzens“ spricht und findet, das Herz habe Gründe, die der Verstand nicht kennt.31 Ähnlich argumentierte später Gian Battista Vico als ein früher Anwalt der Geisteswissenschaften gegen deren naturwissenschaftliche Verächter. Die Philosophen des Wiener Kreises vertraten in ihrer Mehrheit eine von derartigen Ideen abweichende philosophische Position. Obwohl sich etwa Moritz Schlick, Karl Menger und 29 Ebd., S. 154. – Nicht für sich genommen stehen die sogenannten letzten „Wertaxiome“ nach Weber der logischen und empirischen Kritik offen, wohl aber im Hinblick auf die aus ihnen abgeleiteten Argumen­ te. Wer seine Auffassung als begründet ausgibt, sie aber selbst bei erwiesener Unhaltbarkeit beizubehalten gedenkt, zeigt, dass er argumentative Konsistenz und ihre Respektierung nicht als einen Wert ansieht. Im Willen zur Rationalität steckt mehr Moralität als viele wahrhaben wollen. 30 Hans KELSEN: Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl., Tübingen 1929, S. 100 f. 31 Siehe [Blaise PASCAL:] Pascal’s Gedanken über die Religion und einige andere Gegenstände, Berlin 1840, II. Teil, 17. Abschnitt, Absatz 5.

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Victor Kraft mit Fragen der Moralphilosophie und der wissenschaftlichen Wertlehre beschäf­ tigt hatten und sich Bela Juhos in seinem Buch Das Wertgeschehen und seine Erfassung inten­ siv mit Fragen einer von der Logik der naturwissenschaftlichen Erkenntnis unterschiedenen geisteswissenschaftlichen Metho­dologie beschäftigte,32 dominierte im Logischen Empirismus der naturwissenschaftliche Denkstil; und dies nicht nur in Bezug auf die rechtfertigungslogi­ schen, sondern insbesondere auch auf die heuristischen und forschungstechnischen Verfah­ ren.33 Wissenschaftssozio­logisch betrach­tet ist das Selbstverständnis der Vertreter des Logi­schen Empirismus, Proponenten einer „wissenschaftlichen Philosophie“, ja einer „wissenschaftlichen Weltauffassung“ zu sein, vor allem erklärbar in Anbetracht der schon seit der Zeit um 1900 brüchig gewordenen Kriteriologie der nicht-naturwissenschaftlichen Fächer. Halt im Sinne von Er­kenntnissicherheit schienen die logischen und empirischen Überprüfungsverfahren zu bieten, wie sie im Bereich der Formal- und Naturwissenschaften entwickelt worden waren.34 Wie schon Wilhelm Dilthey, Heinrich Rickert und Max Weber an dem methodolo­ gischen Naturalismus gewisser ihrer in den Kulturwissenschaften tätigen Kollegen Kritik übten, so auch nun Philosophen und andere Kulturwissenschaftler an bestimmten Auffas­ sungen des Neopositivismus. Nicht die Sicherheit der Erkenntnisse für sich genommen erschien ihnen als das Entscheidende, sondern das, worüber wir jeweils Sicherheit suchen. Die Wahrheit (von Aussagen) über den jeweils in Betracht stehenden Forschungsgegen­ stand zu gewinnen, sei das Ziel, nach dem sich die wissenschaft­liche Methode als der Weg dorthin zu richten habe. Daher sei auch die Frage nach „der“ Methode der Wissenschaf­ ten, wie sie der neopositivistischen Idee der „Einheitswissenschaft“ zugrunde lag, der Frage nach der in den unterschiedlichen Wirklichkeitsbereichen jeweils erreichbaren Wahrheits­ erkenntnis nachgeordnet. Der namhafteste Kritiker einer solchen „wissenschaft­lichen Weltauffassung“ war Lud­ wig Wittgenstein. Gegen die logischen Empiristen des Wiener Kreises, die als Realisten der Ansicht waren, es gebe eine erfahrbare Welt, die unabhängig von den menschlichen Überzeugungen und Sprachgewohnheiten ist, vertrat er die antirealistische Auffassung. Alle Er­kenntnis, auch die der Naturwissenschaften bzw. der durch sie festgestellten Tat­ sachen sei eingeschmolzen in unsere „Sprachspiele“ („language games“) und habe dort ihre Grundlage. Die Sprachspiele konstituieren jenes „Bezugssystem“ („frame of reference“), innerhalb dessen jeweils die Wahrheit von Aussagen feststellbar ist.35 Zwischen den Sprach­ 32 Bela JUHOS: Das Wertgeschehen und seine Erfassung, Meisenheim am Glan 1956. 33 Siehe dazu exemplarisch Friedrich STADLER: Vom Positivismus zur „Wissenschaftlichen Weltauffassung“. Am Beispiel der Wirkungsgeschichte von Ernst Mach in Österreich von 1895 –1934, Wien-München 1982. 34 Stephen TOULMIN ist diesen Zusammenhängen in seinem anregenden Buch Cosmopolis: The Hidden Agenda of Modernity, Chicago 1990, nachgegangen; dt.: Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Mo­ derne, Frankfurt a. M. 1994. 35 Vgl. Ludwig WITTGENSTEIN: Über Gewißheit. Hrsg. v. G. E. M. Anscombe und G. H. von Wright, Frankfurt a. M. 1977, S. 29 (§ 83). (Orig.: On Certainty, Oxford 1969.)

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spielen der Wissenschaft, der Magie, der Kunst etc. Hierarchien der Rationali­tät zu bilden sei ein Unding; sie seien, wie Wittgenstein sagt, einfach da wie unser Leben. Und so ist es für ihn auch naheliegend, die Idee der Wahrheit und der Gewissheit mit dem Begriff des Gesellschaftlichen, oder genauer: der „Lebensform“ („form of life“) zu verbinden.36 Witt­ gensteins Spätphilosophie läuft wie Diltheys Weltanschauungsanalyse auf eine Pluralität von Anschauungen der Welt hinaus, aber auch von dem, was in einer Anschauung Gegen­ stand der Betrachtung wird. Wie für Dilthey wäre es auch für Wittgenstein nur schlechte Metaphysik, wollte man der Kunst, dem Recht, der Ethik Erkenntnisfunktionen einfach deshalb absprechen, weil sie weder Formal- noch Naturwissenschaften sind. Seine frühen Auffassungen über die Prinzipien der Wissenschaft, wie er sie im Tractatus entwickelt hatte, wurden später in die Idee von Regeln umgewandelt, welche verschiedene Sprachspiele be­ herrschen. Die Bilder, die wir uns auf ihrer Grundlage von der Natur und der Gesellschaft machen, seien ein Produkt unserer Gesellschaft und unserer Lebensform. Aber: Gesell­ schaft und Lebensform – modelliert in welcher Art von „Bezugssystem“? In einem oder in mehreren? Oder sind Lebensformen unhintergehbar? Erkenntnisse als argumentativ gerechtfertigte Kenntnisse müssen, wie man wohl anneh­ men muss, in Eigenschaften der Welt begründet sein, in welcher wir als Beob­achter und Analy­tiker einen bestimmten Platz einnehmen, und nicht allein im Charakter und in den sozia­len Verkehrsformen von Menschen, denen eine solche Rechtfertigung als gültig oder ungültig erscheint. Es scheint, dass wir hier unversehens mit einem infiniten Regress kon­ frontiert sind, wie er mit der Selbstanwendung des soziologischen Relativismus verbunden ist. Roger Trigg charakterisiert ihn folgendermaßen: „If science is socially constructed, so is social theory, and our theory of social theory and so on. Only if there are causal connections, as opposed to mere beliefs projecting them, can any social constructivist thesis gain a purchase on the real world.“37 Die Bindung der Methode an das jeweilige Bezugs­system sowie an die ihm korrespondierende Lebensform führt nämlich dazu, dass die Methode die spezifischen Inhalte letztlich auch bestätigen muss.38

36 „‚So sagst du also, daß die Übereinstimmung der Menschen entscheide, was richtig und was falsch ist?‘ – Richtig und falsch ist, was Menschen sagen; und in der Sprache stimmen die Menschen überein. Dies ist keine Übereinstimmung der Meinungen, sondern der Lebensform.“ – Ludwig WITTGENSTEIN: Philo­ sophische Untersuchungen, in: Ders., Schriften, Frankfurt am Main 1960, S. 277–544, hier S. 389 (§ 241). Vgl. auch ebd., S. 300 (§ 23) und S. 296 (§ 19). – Vgl. zur Wirkungsgeschichte dieser Auffassung die Aus­ führungen in Kap. 10 des vorliegenden Buches („Geschichtstheorie“), Teil IV. 37 Roger TRIGG: Rationality and Science. Can Science Explain Everything?, Oxford UK-Cambridge USA 1993, S. 168. 38 Beim „späten Wittgenstein“, so meinte daher auch Jean Améry, poche „das Vokabular auf sich selbst“ und wolle sich „als Sprachspiel seine Legitimität affirmieren“. – Vgl. Jean AMÉRY: Die scheinbaren Scheinfra­ gen, in: Ders., Unmeisterliche Wanderjahre, Stuttgart 1971, S. 32–54, hier S. 34 f.

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Dieser Dominanz des Prozeduralen gegenüber dem Inhaltlichen, des Anschauens ge­ genüber dem Angeschauten, der Frage gegenüber der Antwort, die heute unter anderem in der inflatorischen Rede vom „Entwurf“, vom „Erfinden“ und von „Projekten“ zum Ausdruck kommt, entspricht auch das mitunter geradezu manische Diskursivieren in philo­sophicis. Der diskursiv hergestellte Konsens gilt bekanntlich verschiedenen deutschen Philosophen als Quelle und Garant der normativen Geltung, und damit als Grundlage der (lebens)prak­ tischen Weltanschauung.39 Damit scheint die alte Hoffnung verbunden zu sein, wonach das Eine – im Sinne des Geeinigten und Einheitlichen – und das Wahre austauschbar sind; auch Voltaire hat einer besonderen Variante des Prinzips unum et verum convertuntur gehuldigt, wenn er meinte: „Es gibt nur eine Moral, wie es nur eine Geo­metrie gibt.“40 Die Herstel­ lung des Konsenses ist gleichwohl an bestimmte Vorbe­dingungen gebunden, die einer nur faktischen und durch zufällige Umstände bedingten Geltung von Normen vorbeugen sol­ len: an die „Herrschaftslosigkeit“ des Diskurses, an die Beteiligung aller von der Anwen­ dung der Normen Betroffenen, an deren rationale Kompetenz sowie an deren gute oder wohlwollende Gesinnung. Den nicht Konsentierenden einen Mangel an Kompetenz oder hinreichend guter Gesinnung vorzuwerfen erscheint allerdings immer wieder als probates Mittel der Konsenssicherung. Schon Voltaire stellte die von der „Vernunft“ Abweichenden vorwurfsvoll vor die Alternative „fou ou fripon“ – Narr oder Betrüger.41 Doch „Konsens kann auf Irrtum beruhen. Dann kann er tödlich sein. Und ob er tödlich ist oder nicht, das wird durch Tatsachen entschieden und nicht durch Diskurse.“42

IV. Mehrseitige Weltanschauung, selektive Wissenschaft, einseitige Ideologie Im Englischen findet man für den Ausdruck „Weltanschauung“ nur vereinzelt die Lehn­ übersetzung „world view“; im Allgemeinen verwendet man dafür, wie etwa auch im Italienis­chen und im Französischen, die Bezeichnungen „ideology“ bzw. „ideologia“ und „idéologie“. Auch im Deutschen findet sich mitunter eine Gleichsetzung der Ausdrücke „Weltanschauung“ und „Ideologie“. Der von dieser neutralen Verwendungsweise mehr­ 39 Die Geltung von Normen wird dabei als Ergebnis eines diskursiven Prozesses eher vorausgesetzt als wirklich einsichtig gemacht. Dieser Philosophie scheint es letztlich darum zu gehen, dem Glauben an normative Sät­ ze durch Herstellung einer möglichst allgemeinen Zustimmung Geltung zu verschaffen. – Vgl. dazu Jürgen HABERMAS: Wahrheitstheorien, in: Hans Fahrenbach (Hg.), Wirklichkeit und Reflexion. Walter Schulz zum 60. Geburtstag, Pfullingen 1973, S. 211–265. 40 VOLTAIRE: Dictionnaire philosophique (1764), hrsg. v. Alain Pons, Paris 1994, Art. «Moral». 41 So schreibt VOLTAIRE im Art. «Locke», ebd.: „Il y a des gens, à la vérité, qui prétendent qu’un homme qui se vantait d’avoir un génie familier, était indubitablement un peu fou ou un peu fripon.“ 42 Robert SPAEMANN: Ende der Modernität?, in: Ders., Philosophische Essays. Erweiterte Ausgabe, Stutt­ gart 1994, S. 232–260, hier S. 257. (Erstmals wurde diese Abhandlung 1986 veröffentlicht.)

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heitlich abweichende Gebrauch des Wortes „Ideologie“ nötigt zu einer differenzierteren Betrachtung, wodurch sich wiederum auch einige neue Seiten des Bedeutungsspektrums des Begriffs der Weltanschauung erschließen.

1. Die wissenschaftliche Segmentierung der Welt und die ideologische Festlegung auf bestimmte erklärende Variablen Die Begründung des Wissens erfolgte in der Epoche der Säkularisierung nicht mehr un­ ter Bezugnahme auf eine transzendente Autorität, sondern auf einen Faktor innerhalb der Welt, von dem man meinte, er besitze einen stärkeren Anspruch auf unsere Loyalität: auf die Rasse, die Klasse, die Evolution oder die Triebe. In dieser Art zu denken hat, wie Nik­ las Luhmann gezeigt hat,43 eine bestimmte Variante von Ideologie ihren Ursprung. Diese nimmt das unbefangene Denken und Erleben nicht mehr ernst, oder jedenfalls nicht mehr zum alltäglichen „Nennwert“, sondern sucht nach einem dahinter liegenden „Realwert“, indem sie es als Wirkung von Ursachen außerhalb des bewussten Erlebens erklärt. Ideo­ logisches Denken ist in diesem Sinne ein reduktionistisches Denken, durch welches die vermeintlich originären Tatsachen des menschlichen Bewusstseins und Handelns auf ihr „wahres“ Sein zurückgeführt werden sollen. Dazu bemerkt Luhmann: „An dieser Stelle hat Marx seinen geschichtlichen Ort. Er arbeitet mit solchen destruierenden Kausalerklärun­ gen. Ihnen verdankt er seine polemische Wucht. Ganz ähnlich verfahren andere Denker. Durkheim und die von ihm angeregte französische Wissenssoziologie leiten die Ideenwel­ ten einschließlich ihrer Logiken aus den sozialen Verhältnissen einer Gesellschaft ab; Dar­ win bezieht den Sinn des Verhaltens auf seine Funktion für das biologische Überleben, Freud auf seine Funktion für die Befriedigung ursprünglicher oder verdrängter Libido, Veblen auf seine Funktion für die Befriedigung des Bedürfnisses nach sozialem Ansehen. Der gemeinte Sinn des Handelns wird durch solche Erklärungen zu einer vordergründigen ‚Rationalisierung‘ der eigentlichen Motive.“44 Diese Art der „Dekonstruktion“ von Alltagswissen durch Hinweis auf eine bestimmte von der Wissenschaft aufgedeckte, „tiefer“ liegende Schicht relativiert das Gewicht des ursprünglichen Erfahrungsinhalts. Zur Ideologie werden solche wissenschaftlichen Welt­ auffassungen, sobald ihren Proponenten das Bewusstsein dafür abhanden kommt, dass es sich hier um eine einseitige Auszeichnung von bestimmten Wirklichkeitselementen oder Faktoren unter anderen möglichen handelt. Dann kommt auch jene Warnung zum Tra­ 43 Niklas LUHMANN: Wahrheit und Ideologie. Vorschläge zur Wiederaufnahme der Diskussion, in: HansJoachim Lieber (Hg.), Ideologie – Wissenschaft – Gesellschaft. Neuere Beiträge zur Diskussion, Darmstadt 1976, S. 35 –54. (Erstmals erschienen in: Der Staat I/4, 1962.) 44 Ebd., S. 38.

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gen, die – wenn auch ohne Angabe entsprechender Quellen – immer wieder Alexander von Humboldt in den Mund gelegt wird: „Die gefährlichste Weltanschauung ist die Welt­ anschauung derer, die die Welt nie angeschaut haben.“ Das Bestreben, im Gefüge von Bedingungen, die unser individuelles und kollektives Leben beeinflussen und in gewissem Maße steuern, die Hauptursachen herauszuarbeiten, verführte immer wieder zu monokau­ salem Denken: zur Auszeichnung ganz bestimmter Bedingungen oder Variablen, die dann häufig zu Leitideen der jeweils am Werk befindlichen „wissenschaftlichenWeltanschau­ ung“ wurden. Exemplarisch für das hier Gemeinte ist der vor allem seit den 1960er Jahren wieder heftig entbrannte Streit zwischen Milieutheoretikern (Environmentalisten) und Nativis­ten (Ge­ netizisten). Vertraten Nativisten die Ansicht, das Verhalten der Menschen werde so gut wie zur Gänze durch ihre Erbanlagen bedingt, so verallgemeinerten die Vertreter der Milieu­theorie den Einfluss, den Kultur und soziale Umwelt auf uns ausüben, zur Behauptung, unser Ver­ halten würde so gut wie ausschließlich durch unser kulturelles und soziales Umfeld bestimmt. Im populären psychologischen Schrifttum bestimmten für Jahrzehnte milieutheoretische Vorstellungen die öffentliche Meinung. Eine eigentümliche Pendel­bewegung setzte mit dem Triumph der modernen Molekularbiologie ein, insbesondere seit der erfolgreichen Sequen­ zierung des Humangenoms, die im April 2003 zum Abschluss ge­langte. Eigentümlich deter­ ministische Auffassungen schufen sich Gehör, wonach die Bio­logie unser „Schicksal“ sei. Karl Kraus hätte hier – angesichts des Pendelschlags von einer vornehmlich von Behavioristen und gewissen Marxisten vertretenen radikalen Milieu­theorie45 zu einem radikalen Nativismus – vielleicht von der Ablösung eines konvexen Irrsinns durch einen konkaven gesprochen. Mitt­ lerweile ist klar geworden, dass die Annahme des genetischen Determinismus nicht haltbar ist. Einerseits gilt, dass ein menschliches Merkmal oft das Resultat vieler Gene ist, wie umge­ kehrt mehrere Merkmale durch ein einziges Gen gesteuert werden können, andererseits sind Gene nicht unabänderlich, sondern können sich, wie die Forschungen zur Epigenetik zeigen, als Antwort auf die Umwelt oder unseren Lebenswandel verändern.46 Dieses Beispiel aus der jüngsten Wissenschaftsgeschichte zeigt, dass von der modernen Molekularbiologie erarbeitete Wissensinhalte ein dogmatisches Festhalten weder am klassi­ schen Behaviorismus noch am orthodoxen Genetizismus als vermeintlicher wissenschaftli­ cher Stütze unserer Weltanschauung zulassen. Monokausale Theorien haben sich in der Biologie als unhaltbar erwiesen, und hier, wie auch anderswo, war der Erfolg letztlich jenen beschieden, die die Ursachen sorgfältig suchten und nicht einfach nur postulierten.

45 Exemplarisch dafür ist John B. WATSON: Behaviourism, 2. Aufl., Chicago 1930, S. 104. 46 Vgl. dazu Gottfried SCHATZ: Zaubergarten Biologie. Wie biologische Entdeckungen unser Menschenbild prägen. Mit einem Vorwort von Rolf Zinkernagel, Zürich 2012, S. 108 f.

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2. Zum pejorativen Verständnis von Ideologie: Ideologie als defizientes Wissen Zwei weitere Denkweisen seien hier erörtert, die Gegenstand der Ideologiekritik wurden: das Zurückbleiben von Beschreibungen, Deutungen und Erklärungen der gesellschaftlichgeschichtlichen Welt hinter dem bereits aktualisierbaren Wissensstand (a), und, damit in gewisser Weise zusammenhängend, die Konfundierung von Erkenntnissen mit Wert­ bekenntnissen, wodurch jene verfälscht werden (b). a. Zur ideologischen Retardierung von Weltanschauungen. Bei den um eine ganzheitliche Weltdeutung bemühten religiösen und metaphysischen Weltanschauungen wie bei ver­ schiedenen ihrer politischen Ersatzbildungen handelt es sich – in den Worten von Ernst Topitsch – um „plurifunktionale Führungssysteme“, in denen Informationsvermittlung, Handlungssteuerung und emotionale Wirkung weithin ungeschieden sind.47 Sie sind gewissermaßen emotional getönte Weltdeutungen mit eingebauter Gebrauchsanleitung. Für Topitsch, der sich in seinem Schrifttum immer wieder auch den phylogenetischen und emotionalen Grundlagen menschlicher Weltauffassung zugewandt hat,48 bildet den Ausgangs- und Schlüsselpunkt der Analyse von Weltanschauungen die langsame Verselbst­ ständigung des Erkennens gegenüber den anderen Formen unserer Weltauffassung: den normativen und emotional-werthaften Funktionen. Wie er ausführt, erweitert das allmäh­ lich wachsende Wissen um Tatsachen und ihre Wechselbeziehungen „zunächst seinen autonomen Bereich im Rahmen der plurifunktionalen Führungssysteme, bis es diesen schließlich sprengt. Dann treten die grundsätzlichen Unterschiede zwischen Sein und Sollen, Tatsachenaussage und Werturteil hervor. Damit wird aber auch jene vermeintliche Einheit von Erklärung und werthaft-normativer Deutung des Universums unhaltbar, die das menschliche Denken so lange Zeit hindurch nahezu unangefochten beherrscht hatte.“49 ­ Dennoch wird im Falle von Weltanschauungen oft für alle ihre Komponenten „Wahr­ heit“ in einem emphatischen Sinn behauptet. In dem Streben nach Homogenisierung ihrer Inhalte wird erst gar nicht der unterschiedliche logische Status ihrer einzelnen Kompo­ nenten in Betracht gezogen: eine Differenzierung der Wahrheit von Informationen, der Richtigkeit (Zweckmäßigkeit) von Handlungen und der Angemessenheit von Emotionen unterbleibt vielfach zugunsten der Beschwörung der „Ganzheit“ der Weltanschauung und des zwischen ihren Komponenten bestehenden „dialektischen“ Zusammenhangs. Die „Ganzheit“ hat dabei ihren Vorstellungs- und Begriffsinhalt weitgehend eingebüßt und ist 47 Siehe dazu Ernst TOPITSCH: Erkenntnis und Illusion. Grundstrukturen unserer Weltauffassung, 2. Aufl., Tübingen 1988. – Siehe dazu auch Kap. 6 des vorliegenden Buches. 48 Siehe dazu Ernst TOPITSCH: Phylogenetische und emotionale Grundlagen menschlicher Weltauffassung [1962], in: Ders., Studien zur Weltanschauungsanalyse, Wien o. J. [1996], S. 142–171. 49 Ernst TOPITSCH: Erkenntnis und Illusion (Anm. 47), S. 10.

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zu einem Wortzeichen geworden, das keine intellektuellen Funktionen, sondern nur mehr Gefühle auslöst – und nicht einmal bestimmte Gefühle, die sich auf konkrete Gegenstände beziehen, sondern eher vage, und damit solche, deren Auslegung dem Belieben des jeweili­ gen Lesers oder Hörers überlassen bleibt.50 Die sich auf solche Ganzheiten berufenden oder sogar auf ihnen beruhenden Weltanschauungen fallen damit hinter das Erkenntnismög­ liche zurück, und in dieser Retardierung werden sie zur Ideologie. Diese Ansicht bezüg­ lich des unzeitgemäßen, weil bereits überholten Bewusstseinszustands von Ideologien teilt Topitsch­mit dem noch weiter unten zu erörternden Karl Mannheim. b. Tatsachenaussagen, Werturteile und vorgefasste Meinungen. Mit dem von David Hume thematisierten und analysierten kategorialen Unterschied von Sein und Sollen wurde auch auf das Verhältnis und die Wechselbeziehungen zwischen den subjektiven gefühls- und in­ teressenbedingten Wertungen auf der einen, und den objektiven theoretischen Erkenntnis­ sen auf der anderen Seite aufmerksam gemacht. Zu einer Purifizierung von Wissenschaft sollte es, wie man meinte, dadurch kommen, dass als Tatsachenaussagen getarnte Wertun­ gen aufgezeigt und so in ihrem Einfluss auf die wissenschaftliche Urteilsbildung neutrali­ siert werden. Nach Theodor Geiger ist sogar jedes Werturteil eine ideologische Aussage, da es „ein subjektives Verhältnis des Sprechenden zu einem Gegenstand“ objektiviere und so „dieses Pseudo-Objektiv zum Aussagebestandteil eines Satzes von der Form einer theore­ tischen Sachaussage“ mache.51 Er findet, dass auch Kunstwerken jegliche Erkenntnisinten­ tion und Erkenntnisleistung abzusprechen sei.52 Von der Auffassung Theodor Geigers deutlich abweichend hat es Joseph Schumpeter in seinem Aufsatz „Wissenschaft und Ideologie“53 für wichtig befunden zu betonen, „daß wissenschaftliche Arbeit als solche von uns nicht verlangt, unsere Werturteile aufzugeben oder dem Geschäft eines Befürworters eines bestimmten Interesses zu entsagen“. So könne jemand Anwalt eines bestimmten Interesses sein, aber dennoch redliche analytische ­Arbeit leisten, denn „das Motiv für den Beweis eines Arguments zugunsten des Interesses, dem 50 Siehe dazu Ernst TOPITSCH: Über Leerformeln. Zur Pragmatik des Sprachgebrauches in Philosophie und politischer Theorie, in: Ders. (Hg.), Probleme der Wissenschaftstheorie. Festschrift für Victor Kraft, Wien 1960, S. 233 –264. 51 Theodor GEIGER: Ideologie und Wahrheit. Eine soziologische Kritik des Denkens, 2. Aufl., NeuwiedBerlin 1968, S. 5; siehe auch Ders., Arbeiten zur Soziologie. Methode – Moderne Großgesellschaft – Rechts­ soziologie – Ideologiekritik. Ausgewählt und eingeleitet von Paul Trappe, Neuwied-Berlin 1962 (= Soziolo­ gische Texte, Bd. 7). 52 Theodor GEIGER: Kritische Bemerkungen zum Begriffe der Ideologie [1949], in: Ders., Arbeiten zur So­ ziologie, ebd., S. 412– 430, hier S. 415. 53 Joseph A. SCHUMPETER: Wissenschaft und Ideologie, in: Ders., Beiträge zur Sozialökonomie. Hrsg., übers. u. eingel. v. Stephan Böhm. Mit e. Vorw. v. Gottfried Haberler, Wien-Köln-Graz 1987, S. 117– 133. (Erstmals erschienen unter dem Titel „Science and Ideology“, in: The American Economic Review 39/1949.)

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er Gefolgschaft schuldet, beweist an sich überhaupt nichts für oder gegen die Qualität der analytischen Arbeit: Um es offener zu sagen, Parteinahme impliziert nicht die Lüge.“54 An­ dererseits lassen sich auch viele Beispiele dafür anführen, dass Ökonomen Behauptungen aufgestellt haben, für deren aus ihnen gezogene Schlussfolgerungen sie nicht die geringste Sympathie empfanden. Exemplarisch verweist Schumpeter auf die Ableitung der logischen Konsistenz der Bedingungen (Gleichungen), die eine sozialistische Ökonomie beschreiben. Von den meisten Menschen werde sie als Argument für den Sozialis­mus gewertet; sie sei jedoch von Enrico Barone vorgebracht worden, einem Mann, der alles eher als ein Parteigän­ ger sozialistischer Ideale oder Gruppierungen ge­wesen ist. Daher sollte es nach Schumpeter in den Wirtschaftswissenschaften darum gehen, sich in höherem Maße als bisher den „vorge­ faßten Meinungen über den ökonomischen Prozeß“ zuzuwenden, die für den wissenschaft­ lichen Charakter der einschlägigen Bemühungen oft viel gefährlicher, weil in einem Maße außerhalb der Kontrolle sind, wie Werturteile nicht. Obwohl mit diesen meist verbunden, würden jene vorgefassten Meinungen es verdienen, unter dem Namen „Ideologie“ von den Werturteilen getrennt erörtert zu werden.55 Ideologien sind nach Schumpeter „aufrichtige Aussagen über das, was jemand zu sehen glaubt“, wobei jeder sich selbst sehe, wie er sich zu sehen wünscht, samt einer schutzgewährenden Rechtfertigung seines Denkens und Handelns.56 In der Ökonomik, so führt Schumpeter aus, bilde „unsere prä- und extraanalytische Vision des ökonomi­ schen Prozesses und dessen, was daran – kausal oder teleologisch – von Bedeutung ist, den Ursprung der Ideologie“. Normalerweise werde diese Vision dann einer wissenschaftlichen Untersuchung unterzogen und durch die Analyse entweder verifiziert oder verworfen, so dass das ideologische Element in gewissem Umfang verschwinde.57 Doch der vorwissen­ schaftliche Akt, den Schumpeter als Vision bezeichnet, sei umfassender als das, was jeweils rationalisiert werden kann. So bleibe als Ergebnis nichts anderes als „die Feststellung, daß es irgendeine Ideologie immer geben wird […].“ Das sei aber kein Unglück. Nach Schum­ peter hat diese Unvermeidlichkeit in der Natur des Verhältnisses von Vision, Ideologie und Wissenschaft ihren Grund: „Jener vorwissenschaftliche kognitive Akt, der der Ursprung unserer Ideologien ist, ist auch die Voraussetzung für wissenschaftliches Arbeiten; ohne ihn ist kein neuer Anfang in einer Wissenschaft denkbar. Durch ihn bekommen wir neues Ma­ terial für unsere wissenschaftlichen Bestrebungen und etwas zu formulieren, zu verteidigen und anzugreifen.“58

54 55 56 57 58

Ebd., S. 118 f. Siehe ebd., S. 119. Ebd., S. 121 f. Ebd., S. 124 f. Ebd., S. 133.

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Man könnte Schumpeters Auffassung auch folgendermaßen umschreiben: Der vor­ wissenschaftliche Akt der Weltanschauung – das, was er als „unsere prä- und extraana­ lytische Vision“ bezeichnet –, ist dem psychischen Bereich zuzurechnen, dem auch unsere fixen Ideen oder „vorgefassten Meinungen“ entspringen. Diese können zum Gegenstand der Analyse werden, gleich wie jene Vision – diese aber immer nur in be­ schränktem Umfang. Denn durch die ja selbst von einer „prä- und extraanalytischen Vision“ geleitete Wissenschaft kann nicht alles erklärt oder bewiesen werden, da jeder Beweis von grundlegenden Annahmen abhängt, die als Voraussetzungen des Beweises nicht abermals vollständig bewie­sen werden können.

V. Der Streit zwischen den Ideologien und die Weltanschauungsanalyse als Streitbeilegungsverfahren Im Verlauf moralisch-politischer Kontroversen ist es immer wieder üblich gewesen, das Wort „Ideologie“ als eine „magische Formel zur Entwertung gegne­rischer Behauptungen“59 anzusehen. In verschiedener Hinsicht an Marx anknüpfend hat so etwa Werner Hofmann jenes Wort in negativer Bedeutung verwendet: „Ideologien sind unzutreffende Auffassungen und Aussagen, an deren Entstehen, Verbreitung und Bewahrung sich gesellschaftliche Inter­ essen […] knüpfen.“ 60 Eine Einstellungsänderung gegenüber Ideologien und einer allein auf die Weltanschau­ ung des politischen Gegners abzielenden Ideologiekritik nahm Karl Mannheim in seinem Buch Ideologie und Utopie vor. Im Blick auf die Weltanschauungen des Konservativismus, des Sozialismus und des Liberalismus suchte er zugleich mit ihren Grundmerkmalen ihre soziogenetischen Ursprünge aufzudecken. Dies geschah in der Absicht, den antinomi­schen Charakter der politischen Ideen und Interessen rational zu deuten und ursächlich zu er­ klären, um auf diese Weise den Kontrahenten in der politischen Arena den jeweiligen Geg­ ner in seinem Denken, Fühlen und Handeln verständlich zu machen. Nach Mannheim sollte eine Ausarbeitung von Weltanschauungstypologien in praktischer Absicht erfolgen, und diese sollten damit etwas anderes sein als das, wofür sie beispielsweise später Odo Mar­ quard hielt: für „emeritierte Antinomien“.61 59 Theodor GEIGER: Ideologie und Wahrheit (Anm. 51), S. 5. 60 Werner HOFMANN: Wissenschaft und Ideologie, in: Ders., Universität, Ideologie, Gesellschaft. Beiträge zur Wissenschaftssoziologie, Frankfurt a. M. 1968, S. 49 – 66, hier S. 55. 61 Odo MARQUARD: Weltanschauungstypologie. Bemerkungen zu einer anthropologischen Denkform des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, in: Ders., Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Auf­ sätze, Frankfurt a. M. 1982, S. 107–121, hier S. 120. (Zuerst veröffentlicht in: Die Frage nach dem Men­ schen. Festschrift für Max Müller, hrsg. v. H. Rombach, Freiburg-München 1966.)

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Mit dem in seinem Buch Ideologie und Utopie entwickelten „Relationismus“ trägt Mann­heim den historisch-sozial wandelbaren Bedingungen unserer Weltanschauungen Rechnung. Sie alle sind in Relation zu bestimmten sozialen Lebensformen zu sehen und zu interpretieren. Viele geistige Produkte und Handlungen sind entweder als „Ideologie“ oder als „Utopie“ zu verstehen. Bringen nach Mannheim die „Utopien“ eine Zukunfts­ orientierung des Denkens und Handelns zum Ausdruck, so die „Ideologien“ einen über­ holten Bewusstseinszustand; sie tragen das Merkmal des schlechten Unzeitgemäßen, des Zurückgebliebenen. Eine Ideologie wird nun von Mannheim als „partikular“ bezeichnet, wenn sie Ideen zum Inhalt hat, die dem „Sein“ der sie vertretenden Gruppe unangemessen sind; als „total“ wird eine Ideologie bezeichnet, wenn die gesamte Gedankenwelt der in Betracht stehenden Gruppe unter dieses Urteil fällt: „Während der partikulare Ideologie­ begriff nur einen Teil der Behauptungen des Gegners – und auch diese nur auf ihre Inhalt­ lichkeit hin – als Ideologien ansprechen will, stellt der totale Ideologiebegriff die ge­samte Weltanschauung des Gegners (einschließlich der kategorialen Apparatur) in Frage und will auch die Kategorien vom Kollektivsubjekt her verstehen.“62 Mannheim unterscheidet sich von den Marxisten dadurch, dass er die „Seinsgebun­ denheit“ des ideologischen Denkens zum Charakter alles sozialen Denkens erklärt und folgerichtig auch von den Marxisten verlangt, sich die Relativität ihres eigenen Denkens einzugestehen. Er bleibt aber dem jungen Marx insofern verbunden, als er der Utopie, dem über die vorhandene Lebensordnung hinausstrebenden Wunschbild aufsteigender Klassen, eine besondere Bedeutsamkeit zuschreibt. Diese utopische Hoffnung ist aller­ dings für Mannheim nicht das Erzeugnis nur einer ganz bestimmten Klasse, weswegen es verschiedene Formen utopischen Denkens gebe. Dies hat nicht selten eine wechselsei­ tige Para­lysierung dieser Utopien zur Folge, und dennoch erfordert es nach Mannheim die Passion für das Denken, in der Wissenssoziologie jeder ideologischen Erstarrung einer Weltanschau­ung in Einseitigkeit vorzubeugen. Mannheim geht es nicht darum, die Per­ spektivität zu vertuschen und zu entschuldigen, sondern danach zu fragen, wie unter der 62 Karl MANNHEIM: Ideologie und Utopie [1929], 5. Aufl., Frankfurt a. M. 1969, S. 54; vgl. auch S. 228 f. – Darüber hinaus ist nach Mannheim noch eine weitere Spezifizierung der Bedeutung des Ideologiebegriffs von Wichtigkeit: Speziell nennt Mannheim den Ideologiebegriff, mit dessen Hilfe ein bestimmter Gegner in seinen Auffassungen verunsichert werden soll, allgemein hingegen jenen, dessen Vertreter den Mut hat, nicht nur die gegnerischen Standorte, „sondern prinzipiell alles, also auch den eigenen Standort, als ideologisch zu sehen“. Mit anderen Worten: „Bisher hat man bestimmte Gehalte bekämpft, dafür aber umso hartnäckiger die eigenen verabsolutiert; jetzt gibt es zu viele gleichwertige, auch geistig gleichmächtige Positionen, die sich gegenseitig relativieren, als daß sich ein einziger Gehalt oder eine einzige Position dermaßen verfestigen könnte, daß sie sich absolut nehmen dürfte. Nur diese sozial aufgelockerte Situation macht die Tatsache sichtbar, die sonst durch […] traditionelles Eingelebtsein bestimmter Gehalte verdeckt wird, daß nämlich jeder historische Standort partikular ist.“ (Ebd., S. 76.) Diese Auffassung wurde als „Panideologismus“ be­ zeichnet und in den 1930er Jahren einer zum Teil sehr heftigen Kritik unterzogen.

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Voraussetzung solcher Perspektivität Erkenntnis und Objektivität möglich sind: „Bei dem visuellen Bilde eines Raumgegenstandes ist es ja ebensowenig eine Fehlerquelle, daß der Raumgegenstand wesensmäßig nur perspektivisch gegeben sein kann, und das Pro­b­ lem besteht nicht darin, wie man ein unperspektivisches Bild zustande bringen könnte, sondern wie man vielmehr durch das Gegeneinanderhalten der verschiedenen Sichten das Perspektivische als solches zu sehen bekommt und damit eine neuartige Objektivität errei­ chen könnte.“63 Der wissenssoziologische Forschungsimpuls könne in der Folge so geleitet werden, „daß er nicht zur Verabsolutierung der Seinsverbundenheit führt, sondern daß gerade in der Entdeckung der Seinsverbundenheit der vorhandenen Einsichten ein erster Schritt zur Lösung von der Seinsgebundenheit gesehen wird. Indem ich den Sichtindex zu einer sich als absolut nehmenden Sicht hinzufüge, neutralisiere ich in einem bestimmten Sinne schon die Sichtpartikularität.“64 Im Falle des seinsverbundenen Denkens werde Objektivität etwas anderes und Neues bedeuten: „daß, wenn man […] in verschiedenen Aspektstrukturen steht, die ‚Objektivität‘ nur auf Umwegen herstellbar ist, indem man nämlich hier das in beiden Aspektstrukturen richtig, aber verschieden Gesehene aus der Strukturdifferenz der beiden Sichtmodi zu verstehen bestrebt ist und sich um eine Formel der Umrechenbarkeit und Übersetzbarkeit dieser verschiedenen perspektivischen Sichten ineinander bemüht.“65 Wie nach Kenntnis der Gesetze der geometrischen Perspektive ein Bild in eine andere Projektion übertragbar sei – obwohl auch dieses immer ein Bild in einer bestimmten Perspektive ist –, und wie man durch die Vielheit der Perspektiven zu einer immer größeren „Fassungskraft“, einer immer größeren „Fruchtbarkeit dem empirischen Material gegenüber“ gelangen könne,66 so erreiche man auch im Verlauf entsprechender sozialwissenschaftlicher Forschungen weitere und tiefere Erkenntnisse. Mannheims „Relationismus“ geht davon aus, dass nicht nur die Sozialwissenschaftler, sondern auch die politischen Akteure bereit sind, relational denken zu lernen. In Mann­ heims Absicht lag es, dass sich die Anhänger der einander immer wieder bekämpfenden Weltanschauungen, wenn auch nicht inhaltlich, so doch bezüglich ihres Existenzrechts wechselseitig anerkennen. „Politisch-formaler Ausdruck dieser Ausgangslage“ ist, wie Sven Papcke im Hinblick auf Mannheims Bestreben bemerkte, „die Demokratie, weil nur sie im Wettbewerb um Sinnentwürfe und Führungspersonen die wirkliche der sozio­ kulturellen Muster angemessen spiegeln und schützen kann.“67 Damit bezog Mannheim Position gegen die politischen Auffassungen jener Zeitgenossen, denen die Mehrparteien­ demokratie nichts anderes bedeutete als entweder Relativismus und Anarchie oder eine 63 64 65 66 67

Ebd., S. 255. Ebd., S. 259. Ebd., S. 258. Ebd., S. 259. Sven PAPCKE: Vernunft und Chaos. Essays zur sozialen Ideengeschichte, Frankfurt a. M. 1985, S. 176.

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Verschleierung der Macht- und Eigentumsinteressen weniger. Ähnlich den Ansichten über die Möglichkeit von Kultursynthesen, wie sie von Ernst Troeltsch und Max Scheler ver­ treten wurden, konzipierte Mannheim seine Lehre von der Möglichkeit einer Synthese von bestimm­ten Elementen der schichtspezifisch herausgebildeten Denkinhalte. So sehe jede soziale Schicht, aber auch jede Gesell­schaft einen Teil der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt auf angemessene Weise, zugleich aber einen anderen in charakteristischer Weise ver­ zerrt oder doch unterbelichtet. Da es aber Mannheim zufolge nicht einer sozialen Schicht oder einer politischen Partei – so wie bei Troeltsch und Scheler nicht einer Nation und Kultur allein – möglich sei, alle Parti­kularsichten in sich zu einer Weltanschauung im vol­ len Sinne des Wortes zu vereinen, sondern nur allen sozialen Gruppierungen und politi­ schen Parteien gemeinsam, lehnt er jede Einseitigkeit in der Erfah­rung und Beurteilung der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit ab. Diese Synthese der verschiedenen partikularen Aspekte kann jedoch Mannheim zu­ folge nur durch eine Gruppe von Menschen geleistet werden, die zur Enthüllung der in den verschiedenen Weltanschauungen enthaltenen Voraussetzungen fähig ist. Mannheim sieht diese Möglichkeit in der schon von Alfred Weber so bezeichneten „sozial freischwe­ benden Intelligenz“ angelegt. Auf die nicht unbedenkliche Unterschätzung der sozialen Abhängigkeit der Intellektuellenschicht ist in der zum Teil äußerst heftigen Kritik an der Mannheim­schen Wissenssoziologie hingewiesen worden; sie reicht von Max Horkheimer, Georg Lukács und Karl August Wittfogel bis zu Joseph Schumpeter, Karl Popper und Theo­dor Geiger. Fraglos hat Mannheim den Zusammenhang zwischen Erkennen und Handeln überschätzt, da er geglaubt zu haben scheint, dass dieses geradezu notwendig jenem entsprechen werde. Doch Erkennen und Wollen, aber auch Wollen und Handeln sind bekanntlich oft weit voneinander entfernt. Bringt sonach Mannheims Darstellung der Intelligenz weniger einen Befund als vielmehr eine Erwartung zum Ausdruck? Wer Ideologie und Utopie so versteht, wird in diesem Buch vor allem auch eine Verteidigung und Rechtfertigung eines bestimmten Typus des unparteiischen ­Intellektuellen im Au­ genblick vor dessen durch die politischen Verhältnisse bewirktem Verschwinden sehen können. An seine Stelle traten Ideologen, die das ihren Interessen gemäße Prinzip der Par­ teilichkeit mit einem angeblich geschichtsphilosophisch verbürgten Wahrheitsanspruch koppelten. Man wird eine grundlegende Schwäche von Mannheims unorthodoxem Ansatz den­ noch nicht übersehen können: sie hat nicht sosehr mit seiner Erwartung zu tun, dass die Intelligenz sich auf die Umrechnung der verschiedenen schichtspezifischen Perspektiven und damit auf das Geschäft der Mediation zwischen den politischen Lagern verstehen könn­ te, als vielmehr mit dem Ausblenden der für ein solches Agieren maßgeblichen politischinstitutio­nellen Bedingungen. Nicht die Intellektuellen, so stellte im Hinblick darauf Sven Papcke fest, sondern „einzig die demokratische Organisation des öffentlichen Raumes

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vermag vielleicht den ‚Relationismus‘ zu gewährleisten.“68 Das aber setzt die durch die Verfassung – das funktionale Äquivalent von Mannheims äquidistanten Intellektuellen – verbürgte Anerkennung der Einsicht voraus, dass jeder moralisch-politische Absolutismus unhaltbar und jede politische Weltanschauung in ihrer Geltung relativ ist.69

Schlussbetrachtung: Universalismus, Relativismus, Toleranz Universalismus, Relativismus und Toleranz bilden, wie Panajotis Kondylis zu diesen drei zentralen Begriffen der gegenwärtig in der soge­nannten westlichen Welt dominierenden Weltanschauung ausführt, zusammenge­nommen einen Gedankenkomplex, der s­owohl epistemologische als auch politische Aspekte hat.70 Dieser Zusammenhang ist auch in den Ausführungen zu Mannheim offenkundig geworden. Kondylis geht bestimmten geschichtlich neuartigen, auch politisch brisanten Konsequenzen nach, die sich aus der Verknüpfung der Toleranzforderung mit universalistischen und mit relativistischen Posi­ tionen ergeben. Aus westlicher Sicht gilt es seit der Aufklärungsphilosophie als ausgemacht, dass in den Menschenrechten die Forderungen der Einen Vernunft in ihrer Anwendung auf das Ver­ halten zwischen den Menschen und Staaten konkrete Gestalt angenommen haben. Nun meint allerdings Kondylis, dass auf der materiellen und sozialpsychologischen Basis der geschichtlich beispiellosen westlichen Wohlstandsgesellschaften jener „staatlich geschützte Pluralismus der Glaubens- und Lebenshaltungen“ entstanden sei, „vor dessen Hintergrund die ehedem Eine Vernunft ihre universelle kognitive und ethische Kompetenz verlieren musste“.71 Als eine Folge dieser Entwicklung stecke die bislang als universell verstandene Vernunft nicht mehr die Grenzen des zu Tolerierenden ab, sondern sie selbst werde nur mehr als eine Einstellung neben anderen toleriert. Auf diese Weise werde die Vernunft dem mit ihr ursprünglich eng verknüpften Toleranzgebot untergeordnet, das vormals universell 68 Ebd., S. 178. 69 Siehe dazu die Ausführungen in Kap. 14 des vorliegenden Buches. 70 Panajotis KONDYLIS: Universalismus, Relativismus und Toleranz, in: Ders., Das Politische im 20. Jahrhun­ dert. Von den Utopien zur Globalisierung, Heidelberg 2001, S. 45 – 60. 71 Ebd., S. 46. – Dies heißt nicht weniger, als dass sich aus der auch von Jürgen Habermas beschworenen „Einheit der Vernunft“ die „Vielheit ihrer Stimmen“ gelöst hätte. Dazu dessen nicht ganz unkomplizierte, aber hoffnungsfrohe Bemerkung: „Meine Überlegungen laufen auf die These hinaus, daß die Einheit der Vernunft allein in der Vielheit ihrer Stimmen vernehmbar bleibt – als die prinzipielle Möglichkeit eines wie immer okkasionellen, jedoch verständlichen Übergangs von einer Sprache in die andere. Diese nur noch prozedural gesicherte und transitorisch verwirklichte Möglichkeit der Verständigung bildet den Hinter­ grund für die aktuelle Vielfalt des einander – auch verständnislos – Begegnenden.“ – Jürgen HABERMAS: Die Einheit der Vernunft in der Vielheit ihrer Stimmen, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 42 (1988), S. 1–14, hier S. 2.

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Formen und Funktionen der Weltanschauung

Geltende partikularisiert, gleichzeitig damit aber der Anspruch auf Universali­sierung der Toleranz formuliert. Hier, vor dem Hintergrund dieser Toleranzforderung, zeigt sich die widersprüch­liche Koexistenz von Relativismus und Universalismus. Denn Relativisten und Universalisten laufen Gefahr, in bestimmter Hinsicht logisch inkonsistent zu werden: die Relativisten und Partikularisten dadurch, dass sie durch die These von der Relativität aller Standpunkte und Werte einem einzigen universalen Wert, nämlich dem der Toleranz und des Friedens, dienen wollen; die Universalisten dadurch, dass sie zwar das Ideal der Toleranz als ein an­ thropologisches Universale betrachten, aber die kulturgeschichtlich und soziologisch nach­ weisbare Tatsache nicht leugnen können, dass Toleranz als Wert und Postulat das Produkt eines bestimmten Kulturkreises – oder auch einiger, aber gewiss nicht aller Kulturkreise – ist. Während also die Universalisten die Toleranz in Anbetracht ihrer Genese als etwas Kontingentes und Partikuläres anzu­sehen haben, müssen sich Partikularisten fragen lassen, wie sie es anstellen wollen, der behaupteten allgemeinen Geltung des Wertes der Toleranz die gebührende Anerkennung zu sichern, ohne universalistisch zu argumentieren. Die Toleranz ist derzeit für viele zum Grundwert ihrer moralisch-politischen Welt­ anschauung geworden. Und insofern Toleranz den einen zur Rechtfertigung der an der Macht Befindlichen dient wie den anderen zur Legitimierung des gegen die Herrschenden gerichteten politischen Kampfes, ist sie sogar zur universell nutzbaren Rechtfertigungsideo­ logie avanciert. So wird man auch kaum der an Schumpeter erinnernden Feststellung von Panajotis Kondylis die Zustimmung verweigern können: „Das vielfach proklamierte Ende der Ideologie ist bloßer Bestandteil ihres eigenen ideologischen Selbstverständnisses.“72

72 Panajotis KONDYLIS: Universalismus, Relativismus und Toleranz (Anm. 70), S. 55.

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6. RATIONALITÄT Vorbemerkung Rationalität erstreckt sich auf drei Bereiche: das Wissen, das Handeln und die Erwartun­ gen. Nun kann aber das Wissen, das sich ja auf alle Gegenstände der äußeren und inneren Wahrnehmung bezieht, sehr verschiedenartig sein. Solange man an der Eindeutigkeit der Realität festhält, erscheinen perspektivisch bedingte Verschiedenheiten in der Realitäts­ wahrnehmung nicht als problematisch. Werden jedoch verschiedene sprachlich zum Aus­ druck gebrachte Darstellungen der Realität als begrifflich inkommensurabel angesehen, hat man es nicht nur mit verschiedenen Weisen zu tun, sich die Realität vorzustellen, sondern zumeist mit verschiedenen Realitätsebenen. Damit wird aber nicht nur der Gegenstand rationaler Erörterungen zum philosophischen Problem, sondern auch die Rationalität und die Vernünftigkeit selber. Ein Blick auf die Geschichte der Rationalität kann diese Zusam­ menhänge und Problemverschränkungen ein wenig erhellen. Dies soll mit der folgenden Studie unter bestimmten Gesichtspunkten und in aller Kürze versucht werden. Manch einem scheint nun jedoch eine historische Betrachtung unseres Erkenntnisver­ mögens geradewegs zum historischen Relativismus zu führen. Lorraine Daston spricht im Hinblick darauf von einem Missverständnis und vermutet, dass „die Wurzel des Missver­ ständnisses […] in der traditionellen Ansicht [liegt], Wahrheit und Vernunft seien, wie die mythische Athene, zeitlos und autonom – und so auch die Rationalität, die Ausübung der Vernunft in Theorie und Praxis“.1 Tatsächlich wird oft außer Acht gelassen, dass zwar episte­mische Ideale und Praktiken eine Geschichte haben, dass sie also in der heute be­ kannten Form ohne bestimmte kulturelle Voraussetzungen weder entstehen noch sich er­ halten hätten können, dass aber der Hinweis auf ihr Gewordensein nicht notwendig auch negative Folgen bezüglich ihrer möglichen Geltung hat. Will die Geschichte der Wissen­ schaft und der ihr impliziten Rationalität mehr sein als ein Inventar von Meinungen über alles Mög­liche, ist sie also selber ein erkenntnisgeleitetes Unternehmen, so muss sie eigent­ lich aus einer Reihe von Einsichten bestehen und nicht aus einer Abfolge von in vielfältigen Systemen auftretenden Meinungen. Andernfalls leistet eine Wissenschafts- oder Rationali­ tätsgeschichte vielleicht die Integration von Meinungen in den geistigen Zusammenhang 1 Lorraine DASTON: Die Biographie der Athene oder Eine Geschichte der Rationalität, in: Dies., Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2003, S. 7–27, hier S. 10.

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von Systemgeschichten, nicht aber die Integration der aus der Kritik von Irrtümern er­ wachsenen Einsichten in einen Erkenntniszusammenhang. Das Denken der sogenannten Postmoderne besteht nun allerdings weitgehend gerade darin, Einsichten und Erkenntnisse als bloße Meinungen unter anderen Meinungen zu „dekonstruieren“. Allerdings ist mit mit einem solchen Denken oft auch eine methodische Beliebigkeit verbunden, die der damit einhergehenden Rede von der „sozialen Konstruk­ tion der Wirklichkeit“ geradezu den Charakter einer Rechtfertigung des subjektiven Ide­ alismus und Solipsismus verleiht. – Die folgenden Erörterungen gelten anderen Genesen unserer Wirklichkeitsannahmen.

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Zur Genese und zu einigen Formen der Rationalität „Wir denken früh genug aber wir wissen nicht daß wir denken, so wenig als wir wissen daß wir wachsen oder verdauen, viele Menschen unter den Gemeinen erfahren es niemals. Eine gnaue Betrachtung der äußeren Dinge führt leicht auf den betrachtenden Punkt, uns selbst, zurück und umgekehrt wer sich selbst einmal erst recht gewahr wird gerät leicht auf die Betrachtung der Dinge um ihn. Sei aufmerksam, empfinde nichts umsonst, messe und vergleiche; dieses ist das ganze Gesetz der Philosophie.“ Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher. Hrsg. v. Franz H. Mautner, Frankfurt a. M. 1983,Teil A

I. Zur Genese von Rationalität: die Verselbstständigung des Kognitiven Der Mensch ist in sehr unterschiedlicher Weise tätig, wenn er seine Rationalität einsetzt: durch Erkundung dessen, was der Fall ist; durch ein auf die Natur oder die Mitwelt ge­ richtetes Handeln und die Herstellung technischer und künstlerischer Artefakte; durch die Deutung und die umfassende Interpretation des als seiend Wahrgenommenen und dessen Erklärung; schließlich durch die Begründung und Rechtfertigung seines Handelns und Schaffens. Heinrich Popitz hat im Besonderen auf den Zusammenhang von Erkundung, Gestaltung und sinnhafter Deutung hingewiesen und dazu bemerkt, es handle sich dabei um „gleich-ursprüngliche Weisen des humanen Weltverhältnisses“; in Bezug auf keine ein­ zelne von ihnen lasse sich eine phylogenetische Priorität behaupten.2 Sehr wohl lasse sich jedoch eine genetische Entwicklung im Verhältnis von Anthropozentrik und Allozentrik aufzeigen. Die ursprüngliche Tendenz, Selbsterfahrungen anthropomorph auf Welter­ fahrungen zu übertragen, wich nach und nach einer nichtanthropomorphen, also allozen­ trischen Beziehung des Menschen zu den Dingen. Dadurch kam der Mensch in die von Heinrich Popitz so bezeichnete Lage, „nicht im Gegebenen unterzugehen und die Welt im Licht des Anders-Möglichen zu sehen“.3 Wie Immanuel Kant das Vermögen der Vernunft auf das Wissen, das Handeln und das Erwartbare bezieht, und wie eben auch Heinrich Popitz die Grundfunktionen der schöp­ ferischen Rationalität in der Erkundung, der Gestaltung, sowie in der begründenden oder rechtfertigenden Sinnstiftung erblickt, so sieht auch Ernst Topitsch die Entwicklungs­ geschichte unseres Erkenntnisvermögens durch drei grundlegende Momente bestimmt: 2 Vgl. Heinrich POPITZ: Wege der Kreativität, 2. Aufl., Tübingen 2000, S. 82–134, v. a. S. 94. 3 Ebd., S. 100.

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durch die aufgrund der angeborenen Auslösemechanismen erfolgte Auswahl der lebensbe­ deutsamen Umwelteindrücke und die daraus für die Selbst- bzw. Arterhaltung abgeleitete Information; durch das diesen Mechanismen entsprechende Verhalten; schließlich durch die mit dem Vorgang der Informationsgewinnung und Verhaltensregulierung verbundene emotionale Erregung. Daher könne man diese Mechanismen auch als „plurifunktionale Führungssysteme bezeichnen, sofern in ihnen Informationsvermittlung, Verhaltenssteuerung und emotionale Reaktion miteinander verbunden sind“.4 Das, was bei Popitz Sinnstiftung, Begründung oder Rechtfertigung genannt wird, erfährt bei Topitsch eine Anreicherung insofern, als er so etwas wie eine Strukturanalyse des anthropozentrischen Denkens mit­ tels dreier Modellvorstellungen entwickelt, welche wohl schon vor dem Einsetzen der ge­ schichtlichen Überlieferungen eine grundlegende Rolle gespielt haben dürften. Da der Mensch sich die Welt, soweit sie über seine nächste Umgebung hinausgeht, zunächst dadurch verständlich zu machen sucht, dass er das Fernerliegende und Unbe­ kannte nach dem Muster des Naheliegenden und Wohlvertrauten auffasst, spielen bei der Deutung der Welt soziomorphe, technomorphe und biomorphe Modellvorstellungen eine grundlegende Rolle. Die Funktionen der Informationsvermittlung, Handlungssteue­ rung und emotionalen Wirkung bleiben nach Topitsch in den so zustande gekommenen Weltdeutungen weiterhin ungeschieden. Deutlich zeige sich dies dort, wo das Universum als Sozialordnung interpretiert wird. Eine solche umfassende Weltordnung werde nicht nur im Sinne der Handlungssteuerung zur obersten Richtschnur für das menschliche Ver­halten, sondern biete auch eine Form der Welterklärung durch Bezugnahme auf zu­ vor erfolgte, zumeist unbewusst wirksame Projektionen bestehender Sozialstrukturen auf kos­mische Gegebenheiten und durch die später erfolgende Retrojektion des kosmischen Ordnungsmusters auf die innerweltlichen sozialen Gegebenheiten. Zugleich ermögliche eine solche umfassende Weltordnung auch eine Weltverklärung aufgrund des durch sie ver­ mittelten Gefühls der Geborgenheit in einem das Weltliche und das Überweltliche umfas­ senden Zusammenhang. Damit gehe nicht nur ein hohes Maß emotionaler Befriedigung einher sondern auch die Überzeugung, dass Verletzungen sozialer Normen durch den Kos­ mos beherrschende Naturgewalten bestraft würden.5 Neben die soziomorphen, technomorphen und biomorphen Modellvorstellungen stellt Topitsch noch eine andere Art der Weltdeutung, die der Auseinandersetzung mit dem Druck der Realität als der fundamentalen Gegebenheit unseres Daseins entspringe: das ebenso unausweichliche wie schmerzliche Erlebnis der eigenen Unzulänglichkeit und des Scheiterns. Dieses Erlebnis führe den Menschen unter anderem dazu, „als Gegenbilder der Beschränktheit und Unvollkommenheit seines eigenen Daseins sich Phantasievorstel­ 4 Ernst TOPITSCH: Erkenntnis und Illusion. Grundstrukturen unserer Weltauffassung, 2. Aufl., Tübingen 1988, S. 4 f. 5 Vgl. ebd., S. 5 f.

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lungen von Wesen und Zuständen zu ersinnen, die frei von jenen Män­geln und Schranken und daher vollkommen sind […]. Schließlich kommt es nicht selten im Rahmen metaphy­ sischer Gedankengänge zu einer weitgehenden Vergeistigung: Das Vollkommene ist reines, von aller Materie unabhängiges Denken […].“6 In diesem Sinne bezeichnete ja auch in der Geschichte der Philosophie das Wort „Rationalismus“ die Auffassung, dass die Vernunft in der Lage ist, letzte Wahrheiten ohne Bezugnahme auf empi­rische Sachverhalte zu finden. Diese an der „reinen Mathematik“ orientierte Doktrin wurde zunehmend unterminiert: im 17. und 18. Jahrhundert durch Galileis experimentelle und Newtons mathematischphysikalische Methode, ferner durch den Empirismus Lockes, den Skeptizismus Humes und durch den Kritizismus Immanuel Kants, später auch durch den Positivismus und den Pragmatismus. Auf andere Formen des Rationalismus und ihre Kritik wird im Folgenden noch Bezug genommen werden. Was das erwähnte plurifunktionale Führungssystem anlangt, so bleibt auch in der mensch­­­lichen Sprache die werthaft-emotionale Komponente mit der darstellend-deskrip­ tiven sowie der verhaltenssteuernd-normativen dermaßen eng verbunden, dass die bedeutsamen Unterschiede zwischen der Darstellungs-, der Verhaltens- und der Expres­ sionsfunktion der Sprache für lange Zeit der Aufmerksamkeit entgangen sind. So sind nach Topitsch in der menschlichen Sprache „die Bezeichnungen der Dinge und Wesen häufig mit bestimm­ten Gefühlstönen und Hinweisen verbunden […], wie man sich zu den be­ treffenden Objekten ver­halten soll“.7 Ein bedeutendes Moment im sogenannten Prozess der Rationa­lisierung magisch-mythischer Überlieferungen ist die Auflockerung der pluri­ funktionalen Führungssyste­me, also die Differenzierung der verschiedenen Weltanschau­ ungsfunktionen: der Welterklärung, der Handlungssteuerung und der Weltverklärung. Den Angelpunkt dieser Differenzierung bildet die langsame Verselbstständigung des Erkennens gegenüber den normativ-handlungs­anleitenden und den emotional-werthaften Funktionen unserer Welt­auffassung.8 Dieser Prozess einer fortschreitenden Rationalisierung unserer Welterfahrung, also der Herausarbeitung des kognitiven Inhalts aus dem Amalgam normativer Gehalte und emo­ tionaler Begleitvorstellungen, hatte auch zur Folge, dass sich die Weltbetrachtung mehr und mehr vom unmittelbaren Gegenwartsbezug lösen konnte. Das bewirkte unter ande­ rem eine veränderte Einstellung zur Zeit und eine Übertragung des geschichtlichen Den­ kens vom Bereich des Menschlichen auf den der Natur.

6 Ebd., S. 7. 7 Ebd., S. 8. 8 Vgl. ebd., S. 10.

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II. Der unterschiedliche Zeitbezug rationaler Argumentation: Statik, Kinematik, Dynamik Nach Ansicht verschiedener Wissenschaftler und Wissenschaftstheoretiker besteht heute einige Aussicht, verschiedene Aspekte der natürlichen Welt auf der Grundlage des Evo­ lutionsbegriffs in ein einheitliches Weltbild zu integrieren. Nicht für alle Disziplinen war immer, wie für die historischen Wissenschaften, die zeitliche Dimension konstitutiv. In vie­ len herrsch­ten strukturwissenschaftliche Erkenntnisse vor, ehe man sich der Entwicklung dieser Strukturen bewusst wurde. Auf besonders eindrückliche Weise geschah dies, jeweils nach einer langen Reihe von Vorarbeiten, beispielsweise durch Kant und Laplace in der Kosmogo­nie, durch Charles Lyell in der Geologie, sowie durch Georges Buffon und Charles Darwin in der Biologie. Alle Tatsachenwissenschaften durchlaufen drei verschiedene Stadien, die man in Ana­ logie zur Physik Statik, Kinematik und Dynamik nennen kann.9 Hat es die Statik mit der Beantwortung der Fragen „Was ist der Fall?“ und „Wie ist das beschaffen, was als Ding oder Sachverhalt der Fall ist?“ zu tun, so die Kinematik mit der Frage „Wie ändert sich das Ding oder der Sachverhalt in der Zeit?“; die Dynamik hat es schließlich mit der Beantwortung der Fragen zu tun: „Warum ist dieses Ding oder dieser Sachverhalt stabil?“ und „Warum ändert sich jenes Ding oder jener Sachverhalt?“. Wie Gerhard Vollmer in diesem Zusam­ menhang ausführt, sind die Gegenstände der Betrachtung im Falle der Statik Zustände, im Falle der Kinematik Prozesse, im Falle der Dynamik aber Kräfte oder Faktoren; die Ana­ lysemethoden wiederum sind in der Statik von struktureller oder morphologischer, in der Kinematik von genetischer, und in der Dynamik von kausaler Art.10 Angeleitet von der Überzeugung, dass alles Denken, Fühlen und Wollen letztlich auf materiellen Grundlagen beruht, wurde im Verlauf von Analysen anthropologischer oder sozialer Gegebenheiten verschiedentlich versucht, unter Bezugnahme auf natürliche Kräfte oder Faktoren zu Erklärungen kausaler Art zu gelangen. Nun gibt es zweifellos physikalischbiologische Voraussetzungen des menschlichen Lebens, die von der Zusammensetzung der Atmosphäre bis zu unseren Nahrungsmitteln reichen und den Menschen als Naturwesen bestimmen. Doch die für den Menschen als Kulturwesen spezifischen Phänomene sind von kategorial anderer Art: seine Handlungen verweisen in Bezug auf ihr Zustandekom­ men auf Gründe, die Naturvorgänge hingegen auf Ursachen. „Die Faktoren, auf die wir Menschen uns beziehen, um kulturelle Phänomene zu deuten und zu erklären, sind“, wie Georg Henrik von Wright bemerkt, „vom Menschen selbst geschaffen worden: das Niveau 9 Siehe dazu Gerhard VOLLMER: Die Einheit der Wissenschaft in evolutionärer Perspektive, in: Ders., Was können wir wissen?, Bd. 2: Die Erkenntnis der Natur. Beiträge zur modernen Naturphilosophie, 2. Aufl., Stuttgart 1988, S. 163 –199, hier v. a. S. 185 –189. 10 Vgl. ebd., S. 186.

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des Wissens und der Technologie, die Bildungseinrichtungen, die Stärke von Brauchtum und Tradition, das normative Gefüge der Rechtsordnung. Sobald diese Faktoren ‚in Kraft‘ sind, kann sich ihr bestimmender Einfluß auf das Handeln des einzelnen bis in die win­ zigsten Details des Lebens erstrecken und sogar wie ‚eherne Notwendigkeit‘ erscheinen. Es wäre jedoch ein fatalistisches Mißverständnis, wenn man nicht einsähe, daß diese Faktoren vom Menschen geschaffen wurden und daher der durch den Menschen selbst bewirkten Verände­rung unterliegen.“11 Wie ein solches Missverständnis auch wirtschaftliche Analy­ sen und Entscheidungen beherrschen kann, wenn die „bestehenden“ Bedürfnisse als invari­ ant und die den Menschen umgebende Welt als eine ungeheure Maschine verstanden wird, hat Friedrich A. von Hayek in seinem Buch Mißbrauch und Verfall der Vernunft dargelegt.12 Zumeist werden kausale Erklärungen, die in streng deterministischen Nahwirkungs­ gesetzen ausgedrückt werden, nicht einmal der Komplexität bestimmter einfacher biolo­ gischer Natur­phänomene gerecht, von derjenigen des Sozialgeschehens ganz zu schweigen. Wie insbesondere die Theorie dynamischer Systeme mit inhärenter Selbstorganisation und Selbstentwicklung zeigt, bestehen hier keine monokausalen und linearen Zusammenhänge zwischen den Variablen. Schon im Blick auf ein einfaches Netz metabolischer Reaktionen in biochemischen Systemen kann gezeigt werden, dass keineswegs nur eine Stufe der metabo­ lischen Bahn den Strom durch das ganze System kontrolliert. Denn jede Stufe verfügt über eine spezifische „Kontrollkompetenz“ und kann sich zudem unter dem Einfluss externer Bedingungen markant ändern. Ähnliches gilt für komplexe soziale Systeme. In den Sozial­ wissenschaften sind daher auch die in ihnen zur Anwen­dung kommenden Gesetze proba­ bilistischer oder statistischer, und nicht strikt deterministischer Natur. Kausalerklärungen geben hier Regelmäßigkeiten von Ver­haltensabläufen an, dies aber nicht in der Weise, dass sie das Eintreten, sondern die Wahrscheinlichkeit des Eintretens einer Erscheinung – mithin die Häufigkeit in einer Klasse von in bestimmter Hinsicht gleichartigen Erscheinungen – bestimmen. Theoretische Erkenntnisse weisen eine innere Stufung auf: von der Ebene der Empfin­ dungen bis zu den Hypothesen, Gesetzen und Theorien. Eine auf den Erkenntnis­apparat selber bezogene Theorie der Erkenntnis betrifft dessen „Passung“. Wie ein Werkzeug auf ein Werkstück, so passt unser Erkenntnisapparat auf die Welt. „In diesem Sinne paßt“, wie Gerhard Vollmer ausführt, „das menschliche Auge zum Tageslicht, zum Strahlungsmaxi­ mum des Sonnenlichts und zum optischen Fenster der Atmosphäre“: „Das heißt nicht, daß das Auge ‚sonnenhaft‘ sein müsse, wie Plotin oder Goethe meinten. Sonne und Auge 11 Georg Henrik von WRIGHT: Humanismus und humanistische Wissenschaften, in: Ders., Erkenntnis als Lebensform. Zeitgenössische Wanderungen eines philosophischen Logikers. Aus dem Engl. übers. v. Joa­ chim Schulte, Wien-Köln-Weimar 1995, S. 208 –250, hier S. 228 f. 12 Siehe z. B. Friedrich August von HAYEK: Mißbrauch und Verfall der Vernunft. Ein Fragment (The Coun­ ter-Revolution of Science, Glencoe, Ill. 1952, dt.), 2. Aufl., Salzburg 1979, Erster Teil, Kap. X.

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haben nichts gemeinsam; das Auge absorbiert und verarbeitet lediglich einige Signale, die von der Sonne ausgesandt, von der Atmosphäre durchgelassen und von den meisten Gegenständen reflektiert werden. Ohne dieses Mindestmaß an Passung wäre Er­kenntnis unmöglich.“13 Dass subjektive und objektive Strukturen so gut aufeinander passen ist, wie die Evolutionäre Erkenntnistheorie deutlich macht, ein Ergebnis der biologischen Evolu­ tion: „Die subjektiven Erkenntnisstrukturen passen auf die Welt, weil sie sich im Laufe der Evolution in Anpassung an diese reale Welt herausgebildet haben. Und sie stimmen mit den realen Strukturen (teilweise) überein, weil nur eine solche Übereinstimmung das Überleben ermöglichte.“14 Wie weit die Passung, die nie ideal sein kann, reicht, ist eine empirische Frage. Sie muss jedenfalls im Effekt überlebens-adäquat sein. Die Evolutionäre Erkenntnistheorie geht davon aus, dass es Voraussetzungen un­ seres Erkennens, mithin der Rationalität, gibt, die sozusagen den Charakter „angeborener Ideen“ haben: Es handelt sich dabei um genetisch übertragene Informationen über die Welt. Daher arbeitet beispielsweise unser Erkenntnisapparat, wie Vollmer ausführt, mit der Hypothese, die visuell wahrnehmbaren Objekte seien dreidimensional; er ist darauf vor­ bereitet, optische Reize dreidimensional zu entschlüsseln. Solche unabhängig von aller in­ dividuellen Erfahrung wirksamen Hypothesen seien ontogenetisch a priori, als ein Ergebnis von Erfahrungen aus vielen Jahrhunderttausenden jedoch phylogenetisch a poste­riori.15 So hat die Rationalität nicht nur auf der begrifflich-theoretischen Ebene der Erkenntnis eine Geschichte, sondern auch auf der Ebene der biologischen Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis.

III. Der unterschiedliche Sachbezug rationaler Argumentation 1. Natur und Kultur Der Prozess der Verselbstständigung des Erkennens gegenüber der normativen und emo­ tionalen Funktion unserer Weltauffassung wird oftmals als Prozess der „Rationalisierung“ bezeichnet, für den einerseits eine Entmythisierung und „Entzauberung“ der Welt, ande­ rerseits die Bändigung subjektiv wertender Stellungnahmen im Rahmen der wissenschaft­ lichen Analyse bestimmend ist.16 Nach Max Weber handelt es sich in beiden Fällen um 13 Gerhard VOLLMER: Was können wir wissen?, in: Ders., Was können wir wissen?, Bd. 1: Die Natur der Erkenntnis. Beiträge zur Evolutionären Erkenntnistheorie, 2. Aufl., Stuttgart 1988, S. 1– 43, hier S. 35. 14 Ebd., S. 37 f. 15 Vgl. ebd., S. 39 f. – Für eine kurze Zusammenfassung des Neuen in der Evolutionären Erkenntnistheorie siehe ebd., S. 318 –322. 16 Vgl. in diesem Zusammenhang die anregende, gewisse einschlägige Gedanken Max Webers weiterführende

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Vorbedingungen objektiver Erkenntnis. Eine andere Art einschlägiger Vorbedingungen findet sich bei David Hume. Wie Lorraine Daston gezeigt hat, empfahl dieser im Aufsatz „Of Standards of Taste“ dem Betrachter und Kritiker von Kunstwerken perspektivische Geschmeidigkeit, nämlich „die Fähigkeit, unzählige andere Standpunkte einzunehmen, und nicht den totalen Rückzug aus der Perspektive, der mit dem ‚Blick von nirgendwo‘ einhergeht“.17 Perspektivierungen dieser Art erscheinen auch für die Analyse der Formen und Inhalte der rationalen Erkenntnis bedeutsam. Im Prozess der Explikation des mit Wis­ sen oder Erkennen Gemeinten kam es im Verlauf der Geschichte der Philosophie zur Klas­ sifikation der Arten unseres Wissens gemäß drei leitenden Fragestellungen: Die Frage „Wie ist die Welt beschaffen?“ wird von der Onto­logie beantwortet; die Erkenntnistheorie fragt da­ nach, wie unser Wissen geartet ist, das uns die Beschaffenheit der Welt erkennen lässt; die Methodenlehre wiederum stellt sich zwei Fragen: im Sinne der Forschungsmethodik sucht sie eine Antwort auf die Frage „Wie können wir Wissen über die Beschaffenheit der Welt erlangen?“, im Sinne der Forschungs- oder Rechtfertigungslogik (Methodologie) fragt sie hingegen: „Wie lässt sich das, was als Wissen über die Beschaffenheit der Welt angesehen wird, in seinem Wahrheitsanspruch begründen?“ Zwischen all diesen Fragen besteht ein durchgehender Zusammenhang, der seinen Ursprung in der Ontologie hat, oder besser: in der Besonderheit des Erkenntnisobjekts. Ausgehend vom ontologischen Unterschied zwischen Natur und Kultur zeigt sich, dass die mit dem Studium des Menschen als Kulturwesen befassten Disziplinen die Intentiona­ lität als ein fundamentales Merkmal menschlichen Denkens und Handelns in Betracht ziehen. Intentionale Phänomene werden im „aktuellen Ver­stehen“ gedeutet, unter Bezug­ nahme auf Motive und Absichten erklärt, und im Hinblick auf den Zusammenhang ähn­ licher Phänomene und Institutionen, in dem sie eine Rolle spielen, interpretiert. Dieser umfassende Zusammenhang besteht vor allem aus der Gemeinschaft, der Tradition und den Erwartungen, worauf individuelles Handeln bezogen ist und wodurch es seinen Sinn erhält. So­wohl wenn man in deutender Absicht intentionale Phänomene zu verste­ hen sucht, als auch dann, wenn man zu erklären bestrebt ist, warum sie auftreten, wird auf Regeln Bezug genommen. Intentionale Phänomene werden von normativen Regeln bestimmt, die angeben, was die Menschen unter bestimmten Umständen – jedenfalls in der Mehrzahl der Fälle – des­halb tun (oder auch gerade deshalb nicht tun), weil man es von ihnen erwartet, während nichtintentionale Phänomene von Naturgesetzen bestimmt Abhandlung von Friedrich H. TENBRUCK: Der Fortschritt der Wissenschaft als Trivialisierungsprozeß, in: Ders., Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. Der Fall der Moderne, Opladen 1989, S. 143 –174. 17 Adam Smith sei im Unterschied zu Hume in seiner Theory of Moral Sentiments schrittweise vom psycho­ logischen Hin und Her der Sympathie, das uns zumindest teilweise in die intellektuelle und emotionale Situation unserer Mitmenschen versetzt, zu den höheren Ansprüchen einer idealisierten Unparteilichkeit übergegangen. So Lorraine DASTON: Objektivität und die Flucht aus der Perspektive, in: Dies., Wunder, Beweise und Tatsachen (Anm. 1), S. 127–155, hier S. 136 f.

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werden, welche Aufschluss darüber geben, was unter prinzipiell wiederholbaren Um­ ständen unweigerlich immer oder doch mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit der Fall sein wird. Georg Henrik von Wright hat im Blick darauf von einem „methodologi­schen Parallelismus“ gesprochen. Dies jedoch nicht in der Absicht, um die Gleichartigkeit von Naturgesetzen einerseits und gesellschaftlichen Regeln andererseits zu behaupten, sondern um dazu aufzufordern, „den Unterschied zwischen den humanistischen Fächern und den Naturwissenschaften im Lichte des Unterschieds zu sehen, der zwischen dem Faktischen und dem Normativen besteht, also zwischen Regeln, die angeben, wie sich die Dinge fak­ tisch verhalten, und Regeln, die vorschreiben, wie sie sich nach Auffassung derjenigen, die die Regeln aufgestellt haben, verhalten sollten“.18 So wird man zwischen einer Rationalität intentionalen Verhaltens (von Erwartungen, Motiven und Absichten) und einer Rationalität kausaler Beziehungen (von Ursachen, Wirkungen und Nebenfolgen) zu unterscheiden haben. Häufig wird zwar auch im Falle von intentionalen (und motivationalen) Erklärungen von Kausalerklärungen gesprochen. Doch dann, so stellt von Wright mit aller Deutlichkeit fest, „bedeutet ‚kausal‘ nicht das gleiche wie ‚nomothetisch‘. Es ist nicht so, daß der Historiker Gesetzen auf die Spur ­kommt, durch die die Ereignisse zu etwas Unvermeidlichem werden. Er interpretiert die Geschehnisse als im Rahmen gegebener Institutionen angemessene Reaktionen hinsicht­ lich der Ziele und Zwecke, auf die das menschliche Handeln gerichtet ist.“19

2. Gründe und Scheingründe Aus dem Bestreben heraus, nicht nur die Wahl von Mitteln, sondern auch die Wahl von Zie­len und Werten rational begründen zu können und Rationalität nicht nur mit instru­ menteller (Zweck-Mittel-)Rationalität gleichzusetzen, kam es zur Er­wei­terung des Rationa­ litätsbegriffs und zur Formulierung von entsprechenden Rationalitätstheorien. Vor kurzem hat einen solchen Versuch wieder Raymond Boudon mit seinem Buch Beiträge zur allgemeinen Theorie der Rationalität unternommen.20 Diese Theorie hat zur Voraussetzung, dass 18 Georg Henrik von WRIGHT: Humanismus und humanistische Wissenschaften (Anm. 11), S. 223 f. 19 Ebd., S. 225. – Auf etwas Entscheidendes in Bezug auf die beiden Hauptbereiche rationaler Argumentation – einer­seits die humanistischen Fächer, andererseits die Naturwissenschaften – ist noch hinzuweisen. Die Natur wird in einer Weise von Gesetzen „regiert“, wie dies für den Menschen und intentionale Phänome­ ne nicht gilt. Die Gegenstände der Naturbetrachtung entsprechen nämlich der rationalen (oder rational rekonstru­ierbaren) Ordnung der Natur, also den deterministischen oder den probabilistischen Gesetzen, während die Menschen sich keineswegs immer an die rationale (oder rational rekonstruierbare) Ordnung der Kultur halten; sie tun dies oft selbst dann nicht, wenn sie diese als „vernünftig“ anerkennen. 20 Raymond BOUDON: Beiträge zur allgemeinen Theorie der Rationalität. Übersetzt von Felix Wolter, Tü­ bingen 2013. (Die französische Erstauflage erschien im Jahr 2007 in Paris.)

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alle kollektiven Phänomene das Resultat individueller Handlungen sind, und dass diese Handlungen verstehbar sind, sofern der Beobachter über die relevanten Informationen verfügt. Entscheidend ist jedoch das Postulat, dass die Ursachen für die Handlung eines Individuums in den Gründen liegen, die das Individuum für sein Handeln hat. Auch Max Weber habe, wie Boudon bemerkt, mit der Prägung des Begriffs der „Wertrationali­tät“ ganz selbstverständlich vorausgesetzt, dass Rationalität auch nicht-instrumentell sein kann, und deshalb jenen Begriff von dem der „Zweckrationalität“ unterschieden.21 Den Einwand gegen die allgemeine Theorie der Rationalität, dass das Handeln oft auf falschen Vorstellungen beruht und in diesem Fall nicht als rational angesehen werden könne, sucht Boudon durch den Hinweis zu entkräften, dass rationales Handeln nicht notwendig richtiger, sondern lediglich solcher Gründe bedarf, die dem Akteur valide er­ scheinen. „In den meisten Fällen erhält man bessere Erklärungen, wenn man den Akteuren, gegeben den Kontext, in dem sie sich befinden, gute Gründe dafür zugesteht, an irrtümli­ che Vorstellungen zu glauben.“22 Eine allgemeine Theorie der Rationalität dieser Art liefert zufriedenstellendere Erklärungen für eine Vielzahl sozialer Phänomene als eine Theorie, welche die Rationalität von vornherein strikt mit der „Richtigkeit“ von Gründen verknüpft (oder genauer: mit der Wahrheit der Aussagen über jene Vorstellungen, worauf die angege­ benen Gründe beruhen), und nicht auch die Möglichkeit ihres bloßen Für-wahr-gehaltenWerdens vorsieht.23 Für einen Richter erscheint es unerlässlich, bei der Beurteilung der Schuldfrage diese Möglichkeit ins Auge zu fassen; und für Psychiater ist sie eine Vorausset­ zung in ihrem Bestreben, dem Klienten bei der Rekonstruktion seiner krankhaften Ängste und Vorstellungen möglichst lange der „Logik des Irrwegs“ zu folgen, um einen Ausweg aus der psychischen Sackgasse aufzeigen zu können. Natürlich stellt sich unausweichlich auch die Frage nach der objektiven Validität der jeweils subjektiv für gut oder richtig ge­ haltenen Gründe. Ihre Beantwortbarkeit ist ja geradezu eine Voraussetzung für die er­ wähnten Tätigkeiten von Richtern und Psychiatern. Abwegig erscheint es daher, objektive Validität mit subjektivem Für-valide-Halten, Wahrheit mit subjektivem Für-wahr-Halten zu identifizieren oder darauf zurückzuführen, nur weil wir über keine Krite­rien verfügen, die die unbezweifelbare und immerwährende Gewissheit sowie die absolute Wahrheit einer Annahme oder Theorie verbürgen.24 Auch Ideologiekritiker gehen ähnlich wie Psychiater vor, unabhängig davon, ob die Ideo­ logen für die Unrichtigkeit ihrer Annahmen nun Weltanschauungspropaganda, Klassen­ vorurteile oder Regungen des Unterbewussten ins Treffen führen. Wie etwa Vilfredo Pareto 21 22 23 24

Vgl. ebd., S. 55 f. Ebd., S. 58. Vgl. ebd., S. 56 und S. 61– 66. Boudon verweist exemplarisch auf Priestleys Phlogiston-Theorie, an die zu glauben es gute Gründe gab, bis Lavoisier eine erklärungskräftigere Theorie formulierte. – Vgl. ebd., S. 65 f.

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in seinem Trattato di sociologia generale (1916) ausführt, zeitigt die subjektive „nicht-logi­ sche“ Motivation des Handelnden reale Hand­lungsfolgen, wobei dieser Zusammenhang nachträglich oft „rationalisiert“ werde. Die Triebkraft des Handelns – ein bestimmtes Be­ gehren, ein Affekt, eine Idiosynkrasie – wird dann, etwa weil sie ihrer Art oder ihren Folgen nach sozial unerwünscht ist, in ein mit Vernunftgründen versehenes, „rational“ argumen­ tierbares, in Wirklichkeit aber pseudologisch begründetes Motiv verwandelt. Keineswegs führen die kritischen Analysen derartiger ideologischer Scheinbegründungen und Schein­ beweise immer zu ihrer Revision. Trefflich hat diesen Sachverhalt Samuel Butler bereits im Jahr 1678 zum Ausdruck gebracht, wenn er – allerdings nicht in wissenschaftstheoretischer Absicht – feststellte: „He that complies against his will / Is of his own opinion still.“25 So gibt es Grenzen der Wirksamkeit der rationalen Argumentation, die sich spätestens dann zeigen, wenn man die Frage: „Warum rational sein?“, zu beantworten sucht. Allein mit der Formulierung dieser Frage wird, weil diese wiederum eine rationale Antwort er­ heischt, gerade das schon vorausgesetzt, was erschlossen werden soll. Die Verbindlichkeit einer rationalen Argumentation lässt sich aber nicht wieder durch Vernunftgründe recht­ fertigen, sie weist über diese hinaus.26

3. Selbsterklärung der Vernunft Die Bereitschaft zur Akzeptierung der Rationalität als Lebensform hat mit einer fundamen­ talen Glaubensentscheidung zu tun, sie stützt sich nicht abermals auf rationale Gründe.27 Aber heißt das auch, dass eine Selbsterkenntnis der Rationalität gänzlich unmöglich ist? Zumeist wird von Seiten der Kritiker eines solchen Unterfangens eingewendet, dass die Vernunft nun einmal nicht aus sich selbst heraustreten könne, wenn sie sich selbst er­klären will;28 ein solches Vorgehen käme letztlich einer petitio principii gleich. Es gibt jedoch, wie Gerhard Vollmer zeigt, Gründe genug, eine so weitreichende Behauptung zu entkräf­ 25 Samuel BUTLER : Hudibras, London 1678, Teil III, Canto iii; in einer Fassung aus dem Jahr 1805 wieder veröffentlicht im Rahmen des (Internet-)„Projekts Gutenberg“ . 26 Auf den Zusammenhang unseres Objektivitätsstrebens mit bestimmten vor- oder außerrationalen Grund­ überzeugungen hat Lorraine Daston mit der Bemerkung aufmerksam gemacht, dass die „Geschichte der Objektivität […] nicht allein Geistes- und Sozialgeschichte, sondern auch Moralgeschichte“ ist. – Lorraine DASTON: Objektivität und die Flucht aus der Perspektive (Anm. 17), S. 150. 27 Karl R. Popper spricht in diesem Zusammenhang sogar von einem „irrationalen Glauben an die Vernunft“. – Vgl. Karl Raimund POPPER: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Zweiter Band: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen (The Open Society and Its Enemies, II. The High Tide of Prophecy, London 1945. Übers. v. Dr. P. K. Feyerabend), Bern 1958, S. 283. 28 So zum Beispiel Hans Michael BAUMGARTNER: Ereignis und Struktur als Kategorien einer geschicht­ lichen Betrachtung der Vernunft, in: Norbert Alphonse Luyten (Hg.): Aufbau der Wirklichkeit: Struktur und Ereignis, Bd. II, Freiburg i. B.-München 1982, S. 175 –224, hier S. 199.

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Zur Genese und zu einigen Formen der Rationalität

ten; als Beispiele für nur scheinbar zirkuläre Argumente führt er unter anderem an: eine Definition für den Begriff „Definition“; eine Erklärung für das Zustandekommen von Erklärungen; eine Theorie, welche die Entstehung und Entwicklung von Theorien erklärt; eine Begründung dafür, dass Begründungen gewisse Eigenschaften aufweisen müssen (wie Widerspruchsfreiheit, Nachvollziehbarkeit, Freiheit von Zirkelschlüssen); eine Sprache, die Sprachstrukturen (auch ihre eigenen) zu beschreiben gestattet; ein Neurophysiologe, der sein eigenes Gehirn untersucht; eine Historiographie der Historiographie; ein System, das sich reproduziert und dabei auch die Anleitung für seine Reproduktion kopiert und weitergibt, wie dies für alle Lebewesen gilt.29 Die Tatsache, dass solche Systeme wegen ihrer Rückbezüglichkeit in besonderen Fällen zu Widersprüchen führen können, bedeutet noch nicht, dass sie dies notwendig müssten; und gleich wenig schließt der Umstand, dass kein System alle Wahrheiten über sich selbst beweisen kann, einschlägige partielle Erkenntnisse aus, insbesondere aber eine realistische Erkenntnistheorie. „Auch eine Vernunft“, so kann Vollmer daher sagen, „die ihre eigenen Strukturen, ihr Funktionieren und ihre Geschichte beschreibt und erklärt, wird dies zwar immer innerhalb dieser ihrer Strukturen tun (so etwas wie echte Selbsttranszendenz gibt es natürlich auch hier nicht); darin braucht aber keine wesentliche Beschränkung zu liegen. […] Nicht nur bei der Erfassung der Welt, sondern auch bei seiner Beschäftigung mit sich selbst ist dieses Vermögen frei, […] eine künstliche Sprache zu erfinden, neue Begriffe zu schaffen, abstrakte Theorien zu entwerfen, unansehnliche Strukturen zu postulieren […]. Alle diese Hinweise garantieren natürlich nicht, dass wir die erhoffte Aufklärung über un­ ser Erkenntnisvermögen auch erlangen werden; sie können und sollen nur zeigen, dass wir keinen Anlaß haben, den Versuch einer Selbsterklärung der Vernunft von vornherein aufzugeben.“30 Eine solche Selbsterklärung der Vernunft steht vor der Aufgabe, sich selbst zu vermes­ sen, sie muss deshalb aber nicht schon in der Vermessenheit enden, für sich ein angeblich höheres Denken oder Wissen zu postulieren.31

29 Siehe Gerhard VOLLMER: Evolution und Erkenntnis – Zur Kritik an der Evolutionären Erkenntnistheo­ rie, in: Ders., Was können wir wissen?, Bd. 1: Die Natur der Erkenntnis (Anm. 13), S. 268 –325, hier S. 314 f. 30 Ebd., S. 315. 31 Wo Hegel in diesem Sinne etwa vom „absoluten Wissen“ spricht, in dem und durch das sich die Gottwer­ dung Gottes durch die Gottwerdung des Menschen vollziehen soll, verschiebt er nur, ähnlich wie Heidegger, wenn dieser über das „eigentliche Denken“ spricht, die Epiphanie dieses vollendeten Wissens in eine nicht näher beschriebene Zukunft.

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6. RATIONALITÄT

IV. Zur Rationalität von Meinungen und von Handlungen In Beantwortung der Frage, wann es rational oder vernünftig ist, eine Aussage für wahr zu halten, wird gelegentlich erklärt, dass dies dann der Fall sei, wenn die Wahrheitskrite­ rien für die als wahr bezeichnete Aussage erfüllt sind. Dabei wird zwischen der Definition des Begriffs „Wahrheit“ und den Wahrheitskriterien unterschieden, als welche landläufig Konsistenz, Intersubjektivität, Übereinstimmung und Bewährung angesehen werden. Mit­ unter wird Erfolg zusätzlich als ein solches angeführt, und auch einige Vertreter der Evo­ lutionären Erkenntnistheorie bezeichnen Erfolg als Wahrheitskriterium, wobei fälschlich von der gelungenen Arterhaltung auf die Richtigkeit der Weltbilder geschlossen wird.32 Die Hauptvertreter der zeitgenössischen Evolutionären Erkenntnistheorie behaupten je­ doch nicht, dass Evolution, Selektion oder Anpassung die Wahrheit unserer Erkenntnisse garantieren würden oder dass der Arterfolg die Rationalität unserer Annahmen über uns und die Welt sicherstelle. Sie sehen es vielmehr als nötig an, die Frage nach der Wahrheit und ihrer Überprüfung von jener der Arterhaltung und der biologischen Fitness zu trennen. Im Allgemeinen nennen wir Aussagen wahr oder falsch, und auf die Frage: „Welche Aus­ sagen sind wahr?“, geben die Einzelwissenschaften Antwort. Wenn wir uns hingegen fragen: „Wie beurteilen wir Aussagen als wahr oder falsch?“, so geht es um deren Rechtfertigung in methodologischer Absicht, und Logik und Wissenschaftstheorie treten auf den Plan. Wenn man nun das Verhältnis von Wahrheit und Rationalität in Betracht zieht, so ist es nötig, zunächst einmal den epistemologischen Charakter der als wahr bezeichneten Aussagen in Be­ tracht zu ziehen: ob es sich nämlich – wie im Falle der Sätze der Logik und Mathe­matik – um analytische oder aber um empirische Aussagen handelt. Handelt es sich um empirische Aus­ sagen, worauf ja in der Regel unsere Meinungen beruhen, so geht es bei ihrer Überprüfung um eine sachgerechte Prüfung des Fürwahrhaltens der mit ihnen verbundenen Überzeugungen.

1. Zweck- und Wertrationalität Da wir nicht von völlig gewissen Wahrheiten ausgehen können, ist es ratsam, sich die Frage zu stellen, wann es rational ist, eine (für wahr gehaltene) Annahme als wahr anzusehen. Nach Karl Popper ist eine Annahme dann als rational anzusehen, wenn diese nach allem, was man mit vertretbarem Aufwand wissen kann, zutrifft. Ihm zufolge ermangelt diese Charakterisierung jedoch einer zusätzlichen Bestimmung, und so meint er, das, was eine Hypothese oder Theorie „rational“ macht, sei „die Tatsache, daß wir sie kritisch prüfen

32 Siehe dazu Gerhard VOLLMER: Evolution und Erkenntnis – Zur Kritik an der Evolutionären Erkenntnis­ theorie (Anm. 29), S. 282–284.

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Zur Genese und zu einigen Formen der Rationalität

können“.33 Daher ist für Popper eine „rationale Diskussion“ auch „eine kritische Diskus­ sion, die nach Fehlern sucht und dabei ernsthaft das Ziel verfolgt, möglichst viele dieser Feh­ler zu eliminieren, um der Wahrheit näher zu kommen“.34 Thomas Kuhn sieht die Sache der Wissenschaft und deren Normalverlauf bekanntlich anders. Ihm zufolge handelt nicht derjenige Wissenschaftler rational, der, wie von Popper gefordert, auch und gerade mit seinen eigenen Hypothesen kritisch umgeht, sondern derjenige, der seine Theorien hegt und, so gut es geht, vor Widerlegungen schützt.35 Je nachdem, welche Annahme über die Genese und das Wachstum des Wissens man für wahr hält, geht man mit einzelwissen­ schaftlichen Theorien zunächst unterschiedlich um. Allerdings wird der Ausgang des Streits zwischen der kritischen Offensive im Sinne Poppers und der das Bewährte vertei­digenden Position Kuhns nicht durch die apriorische Wahrnehmung einer der beiden Po­sitionen entschieden, sondern durch die Empirie des besseren Arguments im konkreten Fall. Als „rational“ bezeichnet man aber nicht nur die der Prüfung unterzogenen Meinun­gen und Theorien, sondern auch Handlungen, und ebenso die Personen, welche diese Hand­lungen ausführen. Hinsichtlich der Rationalität von Handlungen bzw. von Akteuren hat die Ökono­ mik zwei Definitionen anzubieten, wobei die eine auf Effizienz der Mittelverwendung, die an­ dere auf Effektivität abzielt. So setzt zum einen John Stuart Mill eine Defi­nition des Menschen voraus, der zufolge sich dieser stets so verhält, dass er von dem, was er benötigt, so viel mit einem so geringen Einsatz an Mitteln gewinnt, wie dies gemäß dem aktuellen Wissensstand möglich ist;36 zum anderen gehen beispielsweise John von Neumann und Oskar Morgenstern davon aus, „daß der Verbraucher ein Maximum an Nutzen oder Befriedigung, der Unterneh­ mer ein Maximum an Gewinn anstrebt“, und „daß ein Individuum ‚rational‘ handelt, wenn es versucht, die jeweiligen Maxima zu erreichen“.37 In ähnlichem Sinne hat schon Max Weber die „Zweckratio­nalität“ bestimmt: „Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zweck, Mitteln und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt […].“38 Nach Weber sind Zwecke entweder vorgegeben oder sie werden nach Maßgabe bestimmter verfügbarer Mittel in höherem oder geringerem Maße verwirk­licht. 33 Karl Raimund POPPER: Vermutungen und Widerlegungen. Das Wachstum der wissenschaftlichen Erkennt­nis (Conjectures and Refutations, London 1963, dt.), Teilband I, Tübingen 1994, S. 321. 34 Ebd., S. 334. 35 Thomas S. KUHN: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (amerik. Erstausgabe 1962), Frankfurt a. M. 1967. 36 Vgl. John Stuart MILL: Essays on Some Unsettled Questions of Political Economy, in: Ders., Collected Works, vol. IV, J. M. Robson ed., Toronto 1967, S. 326. 37 John von NEUMANN, Oskar MORGENSTERN: Spieltheorie und wirtschaftliches Verhalten, 2. Aufl., Würzburg 1967, S. 8 f. 38 Max WEBER: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie [1920], 5. Aufl., Tübingen 1972, S. 13.

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6. RATIONALITÄT

Werte im Sinne axiologischer Grundüberzeugungen sind mit einer anderen Art von Rationalität verknüpft als Zwecke in ihrer Beziehung zu Mitteln. Abwägungen oder Kalku­ lationen sind nach Weber in Bezug auf Werte, verstanden als letzte „Wertaxiome“, nicht möglich: „Rein wertrational handelt, wer ohne Rücksicht auf die vorauszusehenden Folgen handelt im Dienst seiner Überzeugung von dem, was Pflicht, Würde, Schönheit, religiöse Weisung, Pietät, oder die Wichtigkeit einer ‚Sache‘ gleichviel welcher Art ihm zu gebieten scheinen.“39 So mag es durchaus vernünftig erscheinen, eine Aussage über Zwecke, Mit­ tel und Nebenfolgen für wahr zu halten, dann nämlich, wenn die mit der Aussage ver­ bundene Annahme nach allem, was man mit vertretbarem Aufwand über sie wissen kann, zutrifft.40 Es erscheint hingegen nicht als vernünftig, „Wertaxiome“, wie Weber ultimative Werte bezeichnet, im gleichen Sinne für wahr zu halten. Insofern ist es ein Fehler, von der Möglich­keit der Wahrheitsfeststellung zweckrationalen Handelns auf die Wahrheitsfähig­ keit des wertrationalen Handelns zu schließen.41 Etwas vernünftig tun, ist etwas anderes, als das Vernünftige zu tun,42 so wie man andererseits auch das Gute tun kann, ohne es gut zu tun.

2. Defizite der Rationalität? Die Erkenntnis- und Wissenschaftslehre verzichtet – explizit vor allem seit den Rechtsposi­ tivisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts und seit Max Weber – darauf, den Menschen vorzuspiegeln, sie könne die Gültigkeit letzter Werte und auf sie bezüglicher Handlungs­ anweisungen wissenschaftlich beweisen oder so etwas wie ein richtiges Wertgefühl er­ kenntnismäßig sichern. „Wer Trost und Erbauung sucht oder eine absolute Rechtfertigung seiner politischen Ziele will“, bemerkt Ernst Topitsch im Blick auf diese auch von ihm vertretene Auffassung, „ist hier an der falschen Adresse. Das bedeutet aber auch heute noch einen nicht zu unterschätzenden Nachteil, wenn es darum geht, die Gunst des Pub­

39 Ebd., S. 12. 40 Zur Rationalität des Fürwahrhaltens siehe Herbert KEUTH: Rationalität und Wahrheit, in: Rationalität und Kritik. Hrsg. von Volker Gadenne und Hans Jürgen Wendel, Tübingen 1996, S. 79 –97, hier v. a. S. 85 – 89. 41 Das heißt nicht, dass Diskussionen über Wertfragen nicht auch Änderungen in Bezug auf ursprünglich be­ stehende Wertauffassungen bewirken könnten; vgl. dazu die Ausführungen in Kap. 14 („Politik“), v. a. Teil II/3. 42 Bekanntlich kann man ja mitunter auch bei der Verwirklichung von Üblem oder auch Dummem sehr ratio­ nal („vernünftig“) und methodisch ans Werk gehen. Mit Ludwig Marcuse gesprochen: „Vernunft kann nie mehr sein als vernünftig; zum Beispiel auch: vernünftiger Schwachsinn.“ – Ludwig MARCUSE: Argumente und Rezepte. Ein Wörter-Buch für Zeitgenossen, Zürich 1973, S. 137.

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Zur Genese und zu einigen Formen der Rationalität

likums oder der gesellschaftlichen Mächte zu gewinnen.“43 So gab es ja auch zahlreiche Versuche, die Ausdifferenzierung verschiedener Weltanschauungsfunktionen – des Erken­ nens auf der einen, der Handlungssteuerung und der emotionalen Weltverklärung auf der anderen Seite – aufzuhalten oder gar rückgängig zu machen. Eine Rückbesinnung auf die vermeintlich unverzichtbare Einheit von Erklärung und wertend-normativer Deutung der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt erfolgte in den Großideologien des 20. Jahrhunderts, aber beispielsweise auch in einigen seither in ­Erscheinung getretenen Naturrechtslehren. Es ist hier nicht der Ort, um auf die Einzelheiten dieser Versuche einer Restauration älterer Lehren näher einzugehen. Es sei lediglich darauf hingewiesen, dass die bedeu­tungs­mäßige Ambivalenz des von den Vertretern dieser Denkweise häufig verwendeten Naturbegriffs und seiner Derivate des „Naturgemäßen“ und „Natürlichen“ sich vorzüglich für ideolo­ gische Zwecke nutzen ließ. Denn bekanntlich besitzt das griechische Wort „phýsis“, gleich wie das lateini­sche „natura“ und das deutsches Wort „Natur“, eine doppelte Bedeutung: einerseits besagt es die Natur im Sinne der äußeren Realität, andererseits das Wesen oder die Ordnung der Dinge. Zusätzlich erfolgt noch eine Übertragung der mit physikalischen Naturgesetzen verbundenen Idee der Notwendigkeit auf die Gesetze im Sinne der gesatz­ ten Rechtsnormen, also auf die nomoi.44 Diese Vorstellung findet sich bereits in der antiken Metaphysik und ihrer Idee des Kos­ mos als einer gesetzmäßigen Ordnung, wobei das Leitprinzip der Natur, ihre arché, auch für den Menschen, der seinerseits einen Mikrokosmos darstelle, gelten sollte. Die ehrfurchter­ heischende Vorstellung von Naturgesetzen des Sozialgeschehens hat im Laufe der Geschichte immer wieder jenen zur ideologischen Rationalisierung ­ihrer Ambitionen gedient, denen an der Tarnung und Rechtfertigung ihrer oft grausamen Methoden des Machterwerbs und der Machterhaltung lag. „Die Ideologie“, so stellte Alexander Sol­schenizyn unter Bezug­ nahme auf eigene bittere Erfahrungen fest, „ist es, die der bösen Tat die gesuchte Rechtfer­ tigung und dem Bösewicht die nötige zähe Härte gibt.“45 Nun wäre es wohl falsch anzunehmen, dass die plurifunktionalen Führungssysteme – also jener Zusammenhang von Informationsvermittlung, Verhaltenssteuerung und emo­ tionalen Erregungen, von dem bereits eingangs die Rede war – vollends ihre Wirkung einbüßen würden, wenn im Prozess der fortschreitenden Rationalisierung jene älteren Formen der Weltauffassung und Selbstdeutung verschwänden. Der Wegfall solcher Sys­ teme, welche bestimmte politisch-moralische Wünschbarkeiten in den Kosmos oder un­ mittelbar in das „Wesen des Menschen“ projizieren, bedeutet nicht schon den Wegfall von 43 Ernst TOPITSCH: Erkenntnis und Illusion (Anm. 4), S. 305. 44 So liegt ja auch dem berühmten platonischen Dialog Kratylos der Gegensatz von nómos (Brauch, Sitte, Ge­ wohnheit, Gesetz als Satzung) und phýsis (natürliche Beschaffenheit, Natur) zugrunde, welcher auch als Gegensatz von thésis (das Setzen, Aufstellen) und phýsis ausgedrückt werden kann. 45 Alexander SOLSCHENIZYN: Der Archipel Gulag, Bern 1974, S. 172.

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6. RATIONALITÄT

Bedürf­nissen, welche durch jene in gewissem Umfang gestillt wurden: des Bedürfnisses nach Gewissheit im Denken, Fühlen und Wollen sowie des Bedürfnisses nach Zugehörig­ keit zu einem Halt verleihenden großen sozialen Ganzen. Aufzuzeigen, welche Funktionen solche Systeme einerseits erfüllten, welche Kosten aber andererseits die mannigfachen Ein­ schränkungen der Rationalität mit sich brachten, ist eine Aufgabe von nicht allein histori­ schem Interesse.

Schlussbemerkung Es ist mitunter modisch geworden, nach den psychologischen und soziologischen Hinter­ gründen wissenschaftlicher Überzeugungen Ausschau zu halten, statt nach deren empi­ rischer Überprüfung und deren erkenntnislogischer Rechtfertigung. Angesichts dieser Art von Wissenschaftsforschung entsteht dann leicht der falsche Eindruck, dass durch den Nachweis des psychosozialen Forschungskontextes erklärt werden könnte, warum Wissen­ schaftler die Überzeugungen bezüglich der Wahrheit und der Rationalität haben, die sie vertreten. Dann fragt man nicht mehr, ob und warum es rational ist, etwas für wahr zu halten, sondern als rational soll gelten, was „man“ für wahr hält. Die Untersuchung der für unser Handeln und Denken charakteristischen Rationali­tätsannahmen wird sich – im vol­ len Bewusstsein ihrer Bedingtheit – an anderen Erkenntnishaltungen zu orientieren haben. Eine Vernunft, die ihre Strukturen, ihr Funktionieren und ihre Geschichte beschreibt und unter Bezugnahme auf ihre biologischen Voraussetzungen sowie die natürliche und soziale Umwelt erklärt, wird dies zwar immer nur auf der Grundlage ihrer Strukturen tun kön­ nen, es besteht jedoch kein Anlass dazu, den Versuch ihrer Selbst­explikation und Selbster­ klärung von vornherein für zirkulär zu halten. Er ist aber auch nicht vergeblich, nur weil auch die mit ihm verbundenen Erkenntnisse ständig im Wandel sind. Denn Wahrheit und Erkenntnisfortschritt schließen einander nicht aus.

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7. VERSTEHENSGRENZEN Vorbemerkung Der Baum der Erkenntnis ist gemäß einer biblischen Allegorie die Ursache des Todes. Soll dies besagen, dass der Verlust der Illusionen den Tod der Seele zur Folge hat – nämlich eine völlige Gleichgültigkeit für alles, was andere Menschen berührt und beschäftigt –, wenn man auf den Grund der Dinge gekommen ist? Das Allesverstehen, das durch diese Aus­ legung in den Blick gerückt wird, ist aufzufassen als vollendeter Kausalnachweis für das Entstehen, den Bestand und das Vergehen selbst von Tugenden und Lastern aufgrund streng deterministischer Gesetze: All das Gute und Böse gibt es, und es ist so, wie es ist, weil es not­ wendig so der Fall sein muss. Wer alles in diesem Sinne versteht, sieht dann, dass es nichts zu verzeihen gibt, aber auch nichts anzuklagen. Natürlich kennt man auch andere Formen des Verstehens, von denen einige in der folgenden Studie genauer erörtert werden sollen. Der Ehrgeiz der Wissenschaftler, die Zustände und Ereignisse in Natur und Gesell­ schaft sowie sich selbst zu verstehen, gewinnt seine spezifische Qualität und Leistungs­ kraft in Abhängigkeit von der Definition des dabei vorausgesetzten Verstehensbegriffs. Je nachdem, ob „verstehen“ besagt: begreifen, was ein Ausdruck bedeutet; erfassen, was in Anbetracht gegebener Daten Sache ist; Einsicht nehmen in die Zustände und Ereignisse der Natur, der sozialen Welt sowie des Eigen- oder Fremdpsychischen; erfassen, was das Wesen von Dingen oder Personen ist; einfühlen in Andere sowie nacherleben der für ihr Handeln oder Unterlassen bestimmenden Stimmungslagen, Gründe und Absichten – also je nach der Ausgangsdefinition von „verstehen“ erfolgt die Aktualisierung bestimmter Er­ kenntnisvermögen auf Seiten der mit dem Verstehen Befassten. Häufig wird für das Verste­ hen der Anderen die Möglichkeit des Sich-einfühlen-Könnens als unerlässlich angesehen. Allerdings zeigt sich, dass mancher einschlägige Verstehensakt an Grenzen stößt, wenn jene Voraussetzungen fehlen.

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7. VERSTEHENSGRENZEN

Arten und Grenzen des Verstehens „Wir kennen die anderen nur durch die Kenntnis, die wir von uns selbst haben, und wir täuschen uns über die anderen nur, indem wir diese Induktion zu weit treiben.“ Théodore JOUFFROY: Das grüne Heft. Gedanken, in: Die französischen Moralisten, Bd. 2. Hrsg. u. übers. v. Fritz Schalk, München 1974

„Sinngebung erfolgt vielfach, weil man zu wehleidig ist, das Sinnlose bei seinem Begriffe zu belassen. Ein ganzes Netz von Sinngebungen dient uns am Ende, die Schrecklichkeiten des Lebens zu verschleiern.“ Heimito von Doderer, Repertorium. Ein Begreifbuch von höheren und niederen Lebens-Sachen, 2. Aufl., München 1996

I. Terminologisches: Arten des Verstehens Im Sinne der terminologischen Konventionen, welche bereits für die methodologischen Diskussionen im deutschen Sprachraum in der Zeit um 1900 bestimmend waren, hat man es in den Kulturwissenschaften mit drei unterschiedlichen Analyseverfahren zu tun – dem Begreifen, dem Erklären und dem Verstehen –, denen drei unterschiedliche Seinsbereiche entsprechen: Geistiges wird begriffen; Körperliches oder Materielles wird erklärt; Seelisches wird verstanden. Die hier vorliegende und vor allem auf Wilhelm Dilthey zurückgehende Verwendungs­ weise der Ausdrücke „erklären“ und „verstehen“ hat bekanntlich eine Vielzahl von kritischen Einwänden provoziert. Die Kritiker haben nahezu durchwegs die Nominaldefi­ nition Diltheys aus seinen „Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psycholo­ gie“ (1894): „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir“,1 mit dem gängigen Sprachgebrauch jener Ausdrücke konfrontiert und darauf hingewiesen, dass uns doch auch Vorgänge des Naturgeschehens verständlich und Vorgänge des Seelischen erklärbar seien. Aber das widerlegt nicht den Vorschlag einer spezifischen Wortverwendung im Sinne der Transformation eines mehrdeutigen Begriffs in einen Terminus zum Zweck einer genaue­ ren Argumentation. Diltheys terminologischer Vorschlag ist für längere Zeit in den Kul­ turwissenschaften in Verwendung geblieben, auch wenn er bereits früh – so etwa von Max 1 Siehe Wilhelm DILTHEY: Gesammelte Schriften, Bd. V: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Hälfte 1. Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, 7. Aufl., Stuttgart-Göttin­ gen 1982, S. 144.

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Arten und Grenzen des Verstehens

Weber – kritisiert wurde. Er trägt jedoch – und zwar unabhängig davon, dass ihm der faktische Sprachgebrauch entgegensteht – den Erfordernissen einer Analyse der gesell­ schaftlich-geschichtlichen Welt nur unzureichend Rechnung. Wie soll man beispielsweise die Rekonstruktion von Zusammenhängen bezeichnen, welche weder dem Naturgesche­ hen noch dem Seelenleben zuzurechnen sind? Gemeint sind die gesellschaftlichen Institu­ tionen, bei deren Er­kenntnis weder die „verstehende“ noch die „erklärende“ Methode im Sinne der terminologischen Vorschläge Diltheys zur Anwendung kommen kann. Wie bekannt, haben bereits die Sophisten des 5. Jahrhunderts v. Chr. die Ansicht vertreten, dass Institutionen wie auch Gewohnheiten entweder der Natur oder der Übereinkunft ihre Entstehung verdan­ken, dass sie also entweder physei oder thesei (nomō) seien. Die Unter­ scheidung wurde von Aristoteles übernommen und ist zu einem Bestandteil des abendlän­ dischen Denkens geworden. Sie ist jedoch, wie Friedrich August von Hayek gezeigt hat, irreführend, da eine große Gruppe von Phänomenen weder der einen, noch der anderen Klasse von Begriffen zugeordnet werden kann. „Jene Bezeichnungen konnten verwen­ det werden, um entweder den Gegensatz zwischen dem zu beschreiben, was unabhän­ gig von menschlichem Handeln, und dem, was das Ergebnis menschlichen Handelns ist, oder zwi­schen dem, was ohne menschlichen Entwurf, und dem, was als dessen Ergebnis eingetreten ist. Diese Doppelbedeutung hat ermöglicht, alle Institutionen […] entweder als natürlich oder als vereinbart hinzustellen – je nachdem, ob die eine oder die andere dieser Unterschei­dungen übernommen wurde.“2 Zumeist scheint bei der Analyse der ge­ sellschaftlichen Welt, wie Hayek bemerkt, die Möglichkeit einer mittleren Kategorie zwi­ schen den Erscheinungen, die im Sinne vollkommener Unabhängigkeit von menschlichem Handeln natürlich sind, und jenen, die im Sinne eines Produkts menschlichen Entwurfs vereinbart oder künstlich sind, übersehen worden zu sein. Diese mittlere Kategorie betrifft alle jene ungeplanten Ordnungen, die im 18. Jahrhundert – im Anschluss insbesondere an Bernard Mande­ville, Montesquieu, David Hume und Adam Smith – zuletzt Adam Fergu­ son eindeutig als aus menschlichem Handeln, aber nicht menschlichem Entwurf entstan­ den darstellte: die Insti­­tutionen als nicht beabsichtigte Folgen absichtsgeleiteten Handelns. Dilthey hat sich in seinen historischen Ausführungen zur Philosophie der Neuzeit im­ mer wieder mit Fragen der Einbettung von Ideen und geistigen Strömungen in recht­liche, religiöse und wirtschaftliche Ordnungen beschäftigt, mit seinem methodologischen Dualis­ mus von Verstehen und Erklären jenen Erfahrungen der eigenen Forschungspraxis jedoch nur unzureichend Rechnung getragen. Sein Konzept der Erklärung wie das des Verstehens stießen so an eine Grenze, da sie beide einem zentralen Forschungsbereich der Sozialtheorie nicht gerecht werden: den jenseits von „Natur“ und „Seelenleben“ liegenden Institutionen. 2 Friedrich August von HAYEK: Die Ergebnisse menschlichen Handelns, aber nicht menschlichen Entwurfs, in: Ders., Freiburger Studien. Gesammelte Aufsätze, Tübingen 1969, S. 97–107, hier S. 98.

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7. VERSTEHENSGRENZEN

Wenn im Folgenden von „Verstehen“ die Rede ist, wird nicht näher auf dessen semio­ tische Aspekte im Sinne der Erfassung der Bedeutung eines Ausdruck oder des Sinnes eines Satzes Bezug genommen werden, sondern auf das Handlungsverstehen, und dies sowohl im Hinblick auf den Handlungsakt, als auch auf das Handlungsresultat. Mit „verstehen“ sind im Folgenden gemeint: 1. das Erfassen dessen, was in Anbetracht eines Handlungsvorganges der Fall ist, also die Deutung dessen, was ein Akteur tut;  2. die Fähigkeit, den Regeln zu folgen, denen gemäß ein Akteur seine Handlung ausführt; 3. die Ermittlung der subjektiven Deutung seiner Handlungssituation (der „Situations­ definition“ im Sinne von W. I. Thomas) durch den Akteur3 und deren Vergleich mit dessen objektiver Lage; 4. das Erfassen der Intention, also der zielgerichteten Absicht eines Akteurs, mithin das Erfassen der „subjektiven Zweckrationalität“, (der aus Sicht des Akteurs „vernünftig“ erscheinenden Allokation von Mitteln bei gegebenem Zweck), sowie der Vergleich der subjektiven mit der „objektiven Richtigkeitsrationalität“ (Max Weber);4 5. das Erfassen des Motivs oder des Grundes für das Handeln eines Akteurs; 6. das Erfassen der Gestimmtheit oder auch der Gefühlslage des Akteurs; 7. die Fähigkeit, sich in ihn einzufühlen, und das heißt seine Gemütslage, Handlungs­ gründe und Absichten empathisch nacherleben zu können. Die erstgenannte Art von Verstehen ist für das charakteristisch, was Max Weber „aktuel­les Verstehen“ nennt, während er mit dem „erklärenden Verstehen“ insbesondere die motiva­ tionale Rekonstruktion von Handlungen im Lichte der relevanten Umstände: der gesell­ schaftlichen Lage und der institutionalisierten Regeln meint.5 Für die als zweite angeführte Art von Verstehen finden sich wertvolle Anregungen sowohl bei Max Weber in seiner Aus­ einandersetzung mit Rudolf Stammler,6 als auch in Ludwig Wittgensteins Philo­sophischen 3 In diesen Zusammenhang gehört das sogenannte Thomas-Theorem: „If men define situations as real, they are real in their consequences.“ – William I. THOMAS, Dorothy S. THOMAS: The Child in America, 2. Aufl., New York 1929, S. 572. 4 Vgl. Max WEBER: Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie [1913], in: Ders., Gesammelte Auf­ sätze zur Wissenschaftslehre [1922], 3. Aufl., Tübingen 1968), S. 427– 474, hier v. a. S. 432 f. 5 Vgl. Max WEBER: Soziologische Grundbegriffe, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (Anm. 4), S. 541 –581, hier S. 546 –552. 6 Max WEBER: R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung [1907], in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (Anm. 4), S. 291– 359, hier v. a. S. 322 –345.

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Arten und Grenzen des Verstehens

Unter­suchungen.7 Einige der hier erwähnten auf die subjektiven Komponenten abzielen­den Arten des Verstehens – insbesondere die Deutung seiner Handlungssituation durch den Akteur, das Erfassen seiner Handlungsgründe sowie seiner Absicht, also der sein Handeln leitenden „subjektiven Zweckrationalität“ (Max Weber) – werden häufig unter dem Begriff der intentionalen Erklärung zusammengefasst; diese wird dann wiederum oft der mit nichtmentalen Variablen operierenden kausalen Erklärung im engeren Sinn gegenübergestellt. Wenn man jedoch soziale Tatsachen so bestimmt, dass in ihnen „objektive“ gesellschaft­ liche Lagen und institutionelle Regeln (als nicht-mentale, kausal relevante Sachverhalte) von Anfang an mit zielgerichteten Absichten sowie mit Hand­lungsgründen oder Motiven (als mentalen, intentional relevanten Faktoren) verbunden sind und mit wechselndem Schwer­ punkt zum Gegenstand des „erklärenden Verstehens“ werden, wobei das eine Mal mentale, das andere Mal nicht-mentale Zusammenhänge in den Vordergrund rücken, dann erscheint ein die Komplementarität von Verstehen und Erklären, Intentionalität und Kausalität aus­ schließender methodischer Dualismus als eine geradezu forschungsinadäquate Direktive. „Wogegen sich die Soziologie“, so stellt Weber fest, „auflehnen würde, wäre die Annahme: daß ‚Verstehen‘ und kausales ‚Erklären‘ keine Beziehung zueinander hätten, so richtig es ist, daß sie durch­aus am entgegengesetzten Pol des Geschehens mit ihrer Arbeit beginnen […].“8 Wird die reale Lage von Akteuren nicht gebührend in Betracht gezogen (die ja unter anderem auch deren Situationsdefinition nachdrücklich beeinflussen kann), so wird ein umfassendes und angemessenes Verstehen verunmöglicht. Jeder Psychiater weiß, dass sein Verstehen eines von Wahnvorstellungen Geplagten zwar zur Vorbedingung hat, dessen ­Sicht und Wirklichkeitsdeutung kennen zu lernen und im Sinne des Regelverstehens sein Verhalten zu begreifen, dass aber eine Therapie erst einsetzen kann, wenn der Wahn durch Kontrastierung mit der Realität als solcher erkennbar gemacht wird. Max Webers Meinung ist dem hier Angeführten ähnlich, wenn er bezüglich der von ihm vertretenen „verstehen­ den Soziologie“ ausführt, zweckratio­nales Handeln erkläre man nicht dadurch, „daß man es aus ‚psychischen‘ Sachverhalten, sondern offenbar gerade umgekehrt: daß man es aus den Erwartungen, welche subjektiv über das Verhalten der Objekte gehegt wurden (subjektive Zweckrationalität), und nach gültigen Erfahrungen gehegt werden durften (objektive Rich­ tigkeitsrationalität), und ganz ausschließlich aus diesen, ableiten will.“ 9 Idealtypen sind nach Max Weber grundlegende Erkenntnismittel des „erklärenden Verstehens“. Der idealtypische Grenzfall absoluter Zweckrationalität – die Koinzidenz „subjektiver Zweckrationalität“ und „objektiver Richtigkeitsrationalität“ – dient ihm als 7 Vgl. Ludwig WITTGENSTEIN: Philosophische Untersuchungen [1953], in: Ders., Schriften, Frankfurt a. M. 1960, v. a. §§ 196 –241. 8 Max WEBER: Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie (Anm. 4), S. 436. 9 Ebd., S. 432.

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7. VERSTEHENSGRENZEN

Orientierungsmaßstab des Verstehens von sowohl rationalem wie irrationalem sozialen Handeln (im letztgenannten Fall scheitert ein Verstehen nach Art von Typ 4). Daher müsse eine sinnhafte Erklärung sozialen Handelns die historischen und soziologischen Bedin­ gungen soweit aufdecken, „daß das Maß von Identität, Abweichung oder Widerspruch des empirischen Ablaufs gegenüber dem Richtigkeitstypus als verständlich und dadurch als durch die Kategorie der ‚sinnhaft adäquaten Verursachung‘ erklärt erscheint. Koinzi­ denz mit dem ‚Richtigkeitstypus‘ ist der ‚verständlichste‘, weil ‚sinnhaft adäquateste‘ Kausalzusammenhang.“10

II. Vom erklärenden zum verzeihenden Verstehen? Im Allgemeinen – und in einem emphatischen Sinne – spricht man von „Grenzen des Verstehens“ dann, wenn uns Handlungsgründe und/oder Absichten eines Akteurs so fremd sind, dass uns ein Verstehen als Einfühlung und Nacherleben (Verstehens­typ 7 in Abschnitt I) unmöglich ist. Dieser Art von Verstehensgrenzen wird im Folgenden beson­ dere Aufmerksamkeit geschenkt werden.

1. Verstehen und die Identifikation mit dem Verstandenen Mitunter wird das einfühlende Verstehen mit dem rechtfertigenden Verstehen identifiziert. Man sagt gerade im Hinblick auf solche Verstehensakte, alles verstehen heiße alles verzei­ hen. Gemeint ist damit eine scheinbar besonders gelungene Empathie: eine Einfühlung bis zur Charakterlosigkeit. Damit erfolgt so etwas wie eine moralische Grenzüberschreitung. Aus Moralität verwahrt man sich daher gegen ein solches Einfühlen ohne widerständigen Rest, weil damit ein moralischer Standpunkt überflüssig wird. Auch Max Weber warnt vor solchen bedenklichen Identifizierungen: „Denn weder bedeutet ‚alles verstehen‘ auch ‚alles verzeihen‘, noch führt überhaupt vom bloßen Verstehen des fremden Standpunktes an sich ein Weg zu dessen Billigung. Sondern mindestens ebenso leicht, oft mit weit höherer Wahrscheinlichkeit, zu der Erkenntnis: daß, warum und worüber, man sich nicht einigen könne. Gerade diese Er­ kenntnis ist aber eine Wahrheitserkenntnis und gerade ihr dienen ‚Wertungsdiskussionen‘.“11 Wie immer wieder in der Geschichte, so hat sich auch angesichts der Gewalt und der massenhaft begangenen Verbrechen, die auf den Kriegsschauplätzen des 20. Jahrhunderts, aber auch in der jüngsten Vergangenheit be­gan­gen wurden, Verständnislosigkeit auf Seiten 10 Ebd., S. 434. 11 Max WEBER: Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (Anm. 4), S. 489 –540, hier S. 503.

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des Betrachters dieser Geschehnisse eingestellt. Wer nicht angesichts dieser nachweisbaren Verbrechen und der Modalität ­ihrer Durchführung den Verstand verliere, so meinten die einen, habe keine Seele. Andere wiederum fanden – und Hannah Arendt12 wäre hier stell­ vertretend zu nennen –, dass man gerade in Anbetracht von Gräueln und Massenmor­ den nicht der Gefahr erliegen dürfe, nicht mehr verstehen oder erklären zu wollen. Diese Art des Verstehens von Abwegigem, ja sogar von irrational Erscheinendem hat eine lange Tradition in der Psychopathologie, aber auch unter jenen Historikern, die bestrebt sind, nicht zu urteilen und zu verurteilen, ohne zuvor verstanden zu haben. Entschlägt man sich dieser Aufgabe, kommt es nicht selten zur Exo­tisierung von Patienten bzw. Tätern und zur bloßen Konstatierung von Monströsem. Paradox ist nun die Situation, dass sich sowohl mit einer Verstehensverweigerung als auch mit einer „aufs Ganze“ gehenden Verstehensabsicht Befürchtungen bezüglich ­einer Entmoralisierung von Handlungen verbinden. Die mit der behaupteten Möglichkeit unbe­ grenzten rechtfertigenden Verstehens verbundenen Bedenken erscheinen jedoch künstlich herbeigeredet, da die Zurechnung von Ver­antwortung erst bei Vorliegen von biologischen und sozialen Zwängen keine oder eine nur sehr eingeschränkte Rolle spielt.13 Solange der Nachweis erbracht werden kann, dass jemand anderes oder auf andere Weise tun hätte können, ist dieser Akteur nicht im Zustand der unausweichlichen Gesteuertheit und der moralischen Unzurechnungsfähigkeit. Zwar weiß man um die Abstufungen von biologisch bedingter Abhängigkeit oder sozialem Druck jenseits der strengen Alternative „Freiheit oder Zwang“ Bescheid und um das Erfordernis, diesem Sachverhalt bei der moralischrechtlichen Beurteilung von Handlungen gebührend Rechnung zu tragen. Solche diffe­ renzierenden Einsichten werden zumeist erst durch ein erklärendes Verstehen auf den Weg gebracht, das dann zum hypothetischen „Nacherleben“ moralisch abwegiger und verwerf­ licher Handlungen führt. Doch dieses muss überhaupt nicht notwendigerweise – und da­ rauf kommt es hier an – zum verzeihenden Verstehen oder zur moralischen Rechtfertigung jener Handlungen führen.14 Auch erfolgt durch ein solches Verstehen, das die Zurechnung von Verantwortung erst plausibel macht, keine Identifizierung mit dem Verstandenen. Man kann so etwa das Regelsystem erfassen, auf dem die Handlungen krimineller Indi­ viduen beruhen – aber diese Regeln zu rekonstruieren heißt nicht, dass man sie auch dem eigenen Handeln zugrunde legt. Das pythagoräische Prinzip „Gleiches zu Gleichem“ hat 12 Vgl. Hannah ARENDT: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen (aus d. Amerik.), 7. Aufl., München 1991, v. a. Vorrede und Epilog. 13 Beachtung sollte aber umgekehrt auch die interessierte Unterlegung von Absichten dort finden, wo kein freies Handeln, sondern nur ein zwanghaftes oder reflexartiges Verhalten vorliegt. Man will sich in solchen Fällen Schuldige und Verantwortliche dadurch beschaffen, dass man sie nachträglich zu kühl und rational kalkulierenden Akteuren macht. 14 Vgl. in diesem Zusammenhang Christian MEIER: Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit, Berlin 2010.

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Grenzen. Man sollte daher bei sei­ner Rekonstruktion der Auffassungen und Handlungen anderer einer Devise Senecas eingedenk sein: „soleo enim et in alieni castra transire, non tamquam transfuga, sed tamquam explorator“ – ich pflege auch in fremde Lager nicht als Überläufer zu gehen, sondern als Kundschafter.15

2. Individuelle oder kollektive Verantwortung Was die moralische Zurechnung von Verantwortung betrifft, so verdient ein Umstand eini­ ge Aufmerksamkeit, der immer wieder die wertende Beurteilung menschlicher Handlungen und schon zuvor die verstehende Deutung dessen beeinflusst, was mensch­liches Handeln eigentlich ausmacht: die Individualisierung oder Kollektivierung morali­scher ­Recht- und Unrechtmäßigkeit. Hier waltet anstelle der empirischen Analyse oft allerlei ideologischer Apriorismus. Wird das eine Mal das Individuum als treibende Kraft der Geschichte aufge­ fasst und das Kollektiv nur als reagierende Masse, so das andere Mal umgekehrt das Kollek­ tiv als Agens der Geschichte und die Individuen in ihrem Denken, Fühlen, Wollen und Handeln nur als dessen Derivate. Kommt es in jenem Fall zur Steigerung des moralischen Gewichts von Individuen und zur Depotenzierung der Massen, so in diesem zur Steigerung des morali­schen Gewichts von Kollektiven und zu einer entsprechenden Herabstufung der Einzelnen. Eine solche individualistische beziehungsweise kollektivistische Reduktion fin­ det in der Regel Ausdruck im Willen zur moralischen Belastung oder Entlastung, der sich, je nach politischer Konjunktur, eines regen Zu­spruchs erfreut. Dabei wird angesichts des exklusiven Charakters dieser Alternative, die mögliche Sicht auf eine dritte Instanz neben den Individuen und den Massen mitunter außer Acht gelassen, deren Berücksichtigung für die Beantwortung der Frage nach Schuld und Verantwortung fruchtbar wäre: die Wirkung von sozialen Institutionen auf individuelles und kollektives Verhalten. Die Welt der Lager im 20. Jahrhundert bietet unter diesem Gesichts­punkt aufschluss­ reiches Material. Häufig herrscht nämlich bei Erklärungen des Geschehens in den Lagern ein anthropologischer Zugriff dergestalt vor, dass man sich das zunächst unbegreiflich er­ scheinende Böse ausschließlich durch den Nachweis individueller Motivlagen der augen­ scheinlich dafür Verantwortlichen verständlich zu machen sucht. Dabei besteht jedoch die Gefahr, dass zwar die kriminellen Vergehen des Lagerpersonals in Betracht gezogen werden, dass aber das Regierungshandeln und die Staatskriminalität in den Hintergrund der Aufmerksamkeit gerückt wird. Will man jedoch unter Bezugnahme auf die Motive und Handlungsgründe der inkriminierten Individuen verstehen, was sie zu diesen in morali­ scher Hinsicht verwerflich erscheinenden Handlungen gegen­über den ihnen ausgelieferten Individuen und Gruppen von Häftlingen veranlasste, warum sie diese Taten also begingen, 15 [Lucius Aennaeus SENECA:] L. Aennaei Senecae ad Lucilium Epistulae morales, Oxford 1965, Buch II, Kap. 5.

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um sodann eine Gewichtung ihres schuldhaften Verhaltens vornehmen zu können, darf man die Formung dieser Beziehungen durch Institutionen – Wirtschaftsverbände, Mas­ senmedien, Parteien etc. – nicht außer Acht lassen. Es gibt im Allgemei­nen einen zeitlichen Vorrang des moralischen Gefühls gegenüber dem moralischen Urteil, es darf aber keinen Vorrang des moralischen Urteils gegenüber der empirischen Erforschung der Entstehungsund Wirkungsbedingungen von moralisch rele­vanten Handlungen (oder Unterlassungen) geben. Es ist nötig, die Beziehungen zwischen Einzelnen und Kollektiven und die spezi­ fische kausale Relevanz der Umstände, nament­lich der Institutionen, für das individuelle und kollektive Handeln zu erfassen: den Informationsstand auf Seiten der Einzelnen und des Kollektivs, die affektuellen Beziehungen zwischen diesen und jenen, schließlich die Macht- und Herrschaftsbeziehungen und die daraus resultierende freiwillige, skeptischzögerliche oder erzwungene Folgebereitschaft. Die Institutionen zählen zu den bedeutsam­ sten Komponenten des erklärenden Verstehens. Erst wenn man auch ihre Funktionsweise in den Blick genommen hat, lassen sich Fragen nach der Möglichkeit und den Grenzen eines rechtfertigenden Verstehens im Hinblick auf das moralisch relevante Verhalten von Gruppen oder Einzelnen einigermaßen sachlich beantworten.

III. Grenzen der Soziogenese: zum Ergänzungsbedarf bestimmter sozialwissenschaftlicher Erklärungen In den Sozialwissenschaften hat es sich seit langem eingebürgert, bei Erklärungen von sozia­lem Handeln auf statistische Verallgemeinerungen in der Absicht hinzuweisen, es dadurch versteh­ bar zu machen. Von dieser Gewohnheit macht man nicht nur dann Gebrauch, wenn man kol­ lektives Verhalten begreifen will, sondern auch im Falle von individuellem Handeln. Im Folgen­ den wird auf eine einschlägige Erklärung in einem amerikanischen Lehrbuch zur vergleichenden Sozialforschung hingewiesen und auf den dazu von Martin Hollis verfassten Kommentar. Monsieur Rouget ist Franzose, 24 Jahre alt, blond, Arbeiter in einer großen Fabrik und Wähler der Kommunistischen Partei. Warum, so fragen Adam Przeworski und Henry ­Teune in einem Abschnitt über die sozialwissenschaftliche Erklärung in ihrem Lehrbuch,16 hat nun Monsieur Rouget diese politische Neigung? Die Autoren geben darauf zur Antwort, dass Rouget als ein in einer großen Fabrik beschäftigter junger Mann in einem Gesellschafts­ system lebt, in dem die Kirche eine erhebliche Rolle spielt. Unter diesen Bedingungen liege die Wahrscheinlichkeit, für eine linke Partei zu stimmen, wie Przeworski und Teune anfüh­ ren, zwischen 0,60 und 0,70; zudem würden in gesellschaftlichen Systemen, in denen die Kirche eine gewisse Macht hat, mehr Männer als Frauen für die Linke votieren. Deshalb sei 16 Vgl. Adam PRZEWORSKI, Henry TEUNE: The Logic of Comparative Social Inquiry, New York 1970, S. 18 –20 und S. 74 –76.

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es – bei einem Wahrscheinlichkeitswert um 0,80 – sehr naheliegend, dass Monsieur Rouget für eine Partei der Linken gestimmt hat. Natürlich kann man sagen, dass menschliches Handeln betreffende Erklärungen letzten Endes statistischer Art sind und ausschließlich mit dem Erfolg ihrer Prognosen stehen oder fallen. Aber offen bleibt in dem konkreten Fall, warum Monsieur Rouget sich unter den ver­ schiedenen Linksparteien gerade für die KP entschieden hat; ferner aber vor allem, warum sich nicht auch er, wie eine Minderheit anderer Wähler aus seinem sozialen Milieu, für eine nichtlinke Partei entschieden hat, obwohl doch die Angehörigen beider Wählergruppen unter sehr ähnlichen sozialen Umständen leben. Martin Hollis führt gegen die von Przeworski und Teune vorgebrachte hypothetiko-deduktive Erklärung aus statistischen Verallgemeinerungen an, dass diese eigentlich gar keine Antwort auf die anfänglich gestellte Frage darstelle, sobald man sie – ohne das Fleisch komplexer Korrelationen und ohne den Panzer mathematischer Statistik – auf das bloße Gerippe einer Antwort reduziere: „Im Grunde, so heißt es, stimme Monsieur Rouget für die Kommunistische Partei, weil er wahrscheinlich so stimmt. Frage: Wieso ist das wahrscheinlich? Antwort: Weil dieses Verhalten in der Gruppe, der er angehört, sehr häufig vorkommt. Frage: Warum kommt es so häufig vor? Antwort: So ist es nun mal.“17 Die Defizienz solcher Erklärungen, wie sie Hollis zum Gegenstand seiner Kritik macht, erinnert an bestimmte Theorien kriminellen Verhaltens, in denen als ein vermeintlich hin­ reichender Erklärungsgrund für Delinquenz die spezielle Subkultur genannt wird, in wel­ cher ein Straftäter lebt. Gewiss lässt sich der Grund, weshalb Monsieur Rouget für die KP stimmt und eine andere Person ein Delikt begeht, nicht auf statistische Angaben redu­ zieren, aus denen sich die Entscheidung dieser beiden Personen hätte vorhersagen lassen. Aber selbst für den Fall, dass wir in beiden in Betracht stehenden Fällen deterministische Gesetze (und nicht nur empirisch-induktive Verallgemeinerungen, also statistische Geset­ ze) für die Erklärung zur Verfügung hätten, bliebe neben der dann erfüllten Bedingung der kausalen Adäquatheit, wie Max Weber sagen würde, noch das Verlangen nach der sinnhaf­ ten Adäquatheit von Deutungen individuellen Verhaltens aufrecht. In der Tat hilft uns ja, wie Weber bemerkte, der Rekurs auf die „gesetzmäßige“ Wiederkehr bestimmter ursächli­ cher Verknüpfungen in der kulturwissenschaftlichen Analyse von Phänomenen dort nicht weiter, wo es um die „Gründe ihres geschichtlichen So-und-nicht-anders-Gewordenseins“ geht.18 Im Falle sozialwissenschaftlicher Rekonstruktionen individuellen Verhaltens lassen sich auch nach Martin Hollis – ganz im Sinne der schon für Dilthey bedeutsamen Trennung von äußerer und innerer Wahrnehmung – zwei Formen unterscheiden, die jeweils in eine unterschiedliche Richtung weisen: „In der einen Richtung geht es sozusagen nach draußen 17 Martin HOLLIS: Rationalität und soziales Verstehen, Frankfurt a. M. 1991, S. 11. 18 Vgl. Max WEBER: Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (Anm. 4), S. 146 –214, hier S. 170 f.

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und hin zu einer Analyse der Kausalgesetze, der Kräfte und der Mechanismen, die erklären, wie das Verhalten von Monsieur Rouget hervorgebracht wird. Der andere Weg führt sozu­ sagen nach drinnen und hin zu einer Analyse von Monsieur Rougets Welt, die sich in ihrer Begrifflichkeit auf das bezieht, was sein Handeln für ihn selbst und für andere bedeutet. Der eine Weg führt zur Erklärung, der andere zum Verstehen.“19 Daher erscheint es auch naheliegend, dass der „erklärenden“ Wissenschaft eine „verstehende“ an die Seite treten soll.

IV. Grenzen des psychologischen Verstehens: zur Einseitigkeit der Somatopsychologie und der Psychosomatologie 1. Über das „somatische Vorurteil“ und die Grenzen der Somatopsychologie Aus dem von ihm proklamierten Prinzip des theoretischen Pluralismus ergibt sich für Karl Jaspers, dass es, wie er in seiner Allgemeinen Psychopathologie ausführt, „durchaus notwendig ist, bei der Untersuchung körperlicher Veränderungen an seelische Ursachen, bei der Untersu­ chung seelischer Veränderungen an körperliche Ursachen zu denken“.20 Ausdrücklich verweist er in diesem Zusammenhang auf die Neurologie als diejenige somatische Diszi­plin, die der Psychopathologie am nächsten stehe. Nun gibt es allerdings Psychologen, aber auch Vertreter anderer wissenschaftlicher Disziplinen, die eine Herleitung somatischer Zustände und Vorgänge aus dem Seelischem ablehnen, nicht hingegen die Erklärung von Seelischem durch Bezugnahme auf Somatisches. Das Bedürfnis, eine einheitliche theoretische Auffassung vom Menschen zu gewin­ nen, ist eine der Quellen jedes monistischen Vorurteils. Das „somatische Vorurteil“, wie es Jaspers bezeichnet, laute folgendermaßen: „[A]lles Seelische ist als solches gar nicht zu untersuchen, es ist bloß subjektiv. Soweit von ihm wissenschaftlich geredet werden soll, muß es anatomisch, körperlich, als körperliche Funktion vorgestellt werden; hierfür sei es immerhin besser, eine vorläufige anatomische Konstruktion, die als heuristisch gilt, zu besitzen als eine direkte psychologische Untersuchung.“21 Solche anatomischen Konstruk­ tionen sind, wie Jaspers ergänzend feststellt, durchaus phantastisch ausgefallen: „Dinge, die gar keine Beziehung zueinander haben wie Rindenzelle und Erinnerungsbild, Hirnfaser und psychologi­sche Assoziation werden zusammengebracht. Es fehlt für diese Mythologien auch insofern jede Grundlage, als nicht ein einziger bestimmter Hirnvorgang bekannt ist, der einem bestimm­ten seelischen Vorgang als direkte Parallelerscheinung zugeordnet wäre.“22 19 Martin HOLLIS: Rationalität und soziales Verstehen (Anm. 17), S. 11 f. 20 Karl JASPERS: Allgemeine Psychopathologie, 2. Aufl., Berlin 1920, S. 10. 21 Ebd., S. 13. 22 Ebd.

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Was die Neigung angeht, das Psychische ohne Rest in somatische Vorgänge zu übersetzen, so hält es Jaspers mit Pierre Janet: Wenn man immer anatomisch denken muss, muss man re­ signieren und nichts denken, wenn es sich um Psychiatrie handelt.23 Forscher, die so denken, müssten, um widerspruchslos zu bleiben, aufhören, an Seelisches überhaupt zu denken – sie müssten aufhören, Psychopathologie zu treiben, sich vielmehr auf Hirnprozesse und körper­ liche Vorgänge bei ihrem Studium beschränken; sie dürften nicht die Seele, sondern nur das Gehirn begutachten, könnten als Sachverständige nur über Körperliches Auskunft geben. Jaspers spricht in diesem Zusammenhang von einem „unfruchtbaren Nihilismus“, dessen Exponenten sich darin gefallen, Psychisches als „bloß subjektiv“ zu bezeichnen, und die sich auf diese Weise einreden, ihre Unfähigkeit liege nicht in ihnen, sondern in der Sache.24 Vielleicht sollte man in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass es auch beim heutigen Nachdenkens über die „Compu-Nano-Robo-Geno-Zukunft“ oft mehr um Bekundungen einer mechanistischen Vorstellung von Somatopsychologie geht als um Reali­ tätshaltigkeit. Die vermeintlich konkretisierbare Utopie von ferngesteuerten Zombies, die denken, fühlen und wollen wie wir, und die sich als elektromagnetisch geführte Mario­ netten bewegen, wird beispielsweise von Hubert Markl als ein eher literarische denn wis­ senschaftliche Interessen befriedigendes Konstrukt angesehen. Zwar ist, wie er ausführt, die rechnerunterstützte elektro­magnetische Manipulation an gestörten sensorischen Ein­ gangspforten (etwa im Fall von Implantaten im Bereich von Auge oder Ohr) oder an mo­ torischen Programmausgaben (etwa zur Reaktivierung gelähmter Muskeln) immer mehr in den Bereich des Realisierbaren gerückt, es seien jedoch jene Bereiche des Gehirns, in denen sich Denken, Fühlen und Wollen abspielen, nach wie vor für jede gezielte Verbindung mit einem Rechnerchip nahezu unzugänglich. Aber nicht nur das. Was sich in und zwischen den Gehirnbereichen ereignet, in denen sich die eigentlichen geistig-seelischen, also die kogni­ tiven, emotionalen und volitiven Prozesse abspielen – insbesondere bei Gedächtnisbildung, Urteilsfindung und Hand­lungsvorbereitung –, verstehe man derzeit nur völlig unzurei­ chend. Daher erscheint es Markl „beim Stand heutiger neurowissenschaftlicher Erkennt­ nisse geradezu lächerlich […], eine solche ‚Geistesverstärkung‘ durch Chipimplantate auch nur ernsthaft in Betracht zu ziehen. Solchen Vorstellungen liegt ein so veraltetes, grobes, schematisch-lokalisatorisches Denken über die neuralen Grundlagen geistiger Leistungen zugrunde, wie sie eigentlich nur jemand hegen kann, der meint, ein Gehirn sei geradeso verdrahtet und verlötet wie eine Rechnerplatine.“25

23 Vgl. ebd., S. 14. 24 Vgl. ebd., S. 19 f. 25 Hubert MARKL: Warum die Zukunft uns nicht schreckt. An- und aufgeregt durch Ray Kurzweil und Bill Joy: Der Mensch ist der Herr über seine Geschöpfe, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. Januar 2001, Beilage, S. I–II, hier S. II.

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Aber auch hinter dem Bestreben, der Einfühlung das Erkenntnismonopol beim Ver­ stehen des Fremdseelischen einzuräumen, kommt ein methodischer Wissenschaftsim­ perialismus zu liegen. Der Einseitigkeit bestimmter Vertreter einer Somatopsychologie korrespondiert hier eine nicht minder einseitige Psychosomatik. Karl Jaspers spricht in diesem Zusammenhang von einem „psychologischen Vorurteil“, welches sich nicht selten als einfühlendes und genetisches Verstehen präsentiere: „Man will alles ‚verstehen‘ und ver­ liert den Sinn für die Grenzen des psychologisch Verstehbaren. Besonders Psychologie-Un­ kundige neigen dazu. So wurde […] die Psychogenie zweifellos zu weit ausgedehnt.“26 Im Folgenden geht es um die Kritik an solchen überdehnten psychogenetischen Erklärungen individueller Handlungen und Verhaltensweisen.

2. Grenzen der Psychosomatologie Erbanlagen und bestimmte Hirnprozesse – also alles das, was landläufig als Unterbau des Seelischen zusammengefasst wird –, sind Voraussetzung, aber zugleich Grenze unseres em­ pathischen Verstehens. „Im kausalpsychologischen Denken brauchen wir Elemente, die wir als Ursachen oder als Wirkungen eines Vorgangs ansehen, z. B. einen körperlichen Vorgang als Ursache, eine Halluzination als Wirkung.“27 Im Normalfall denken wir gar nicht an jene außerbewussten Mechanismen, an diesen Unterbau des Seelischen, obwohl ohne des­ sen intaktes Funktionieren verständliche Zusammenhänge niemals erlebt und nacherlebt werden könnten. Wir leben normalerweise ganz im psychogenetischen und empathischen Verstehen seelischer Vorgänge und haben solange keinen Anlass, an die außerbewuss­ten Mechanismen zu denken, als unser herkömmliches Verstehen zu „funktionieren“ scheint. Wenn nun aber die verständlichen Zusammenhänge sich im Laufe einer Krankheit ver­ mindern oder eine ganz abnorme Form annehmen, so denken wir an Veränderungen jener außerbewussten Mechanismen. Die Zusammenhänge zwischen dem Psychischen und ab­ normen außerbewussten Mechanismen zu eruieren ist dann eine wichtige Aufgabe vor al­ lem der Psycho­pathologie. Heinrich Gomperz, der in dieser Hinsicht ähnlich wie Karl Jaspers denkt, hält es für eine verbreitete Irrmeinung anzunehmen, dass es sich mit den Wissenschaften vom Menschen und seinen Leistungen: Bildung und Gesittung, Sprache, Wirtschaft und ­Recht, Kunst, Sittlichkeit und Glauben – also mit allem, was man Geistesund ­verstehende Sozialwissenschaft nennt –, ganz anders verhalte. Bedeutsamste Erweiter­ ungen unseres Wissens, so führt er aus, vermittle uns auch in den Wissenschaften vom Menschen das „Erklären“ als „das Zurückführen des Einzelnen auf allgemeine, wenn auch 26 Karl JASPERS: Allgemeine Psychopathologie (Anm. 20), S. 15. 27 Ebd., S. 174 f.

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zunächst ‚unverständliche‘, zunächst ‚sinnfreie‘ Gesetzmäßigkeiten“.28 So sei es möglich, sich in bestimmten Fällen – ohne sie empathisch verstehen zu können – die Verstimmung eines Menschen physiologisch zu erklären, sie also aus der gesetzmäßig auftretenden Kovarianz bestimm­ter organischer und psychischer Zustände abzuleiten und dann, aufgrund der im kon­kreten Fall vorliegenden Einsicht in die Abhängigkeit des Psychischen vom Organi­ schen, die spezifi­schen Ursachen jener Verstimmung, aber damit sie selber zu beseitigen. Gegenüber einer in Gegenstellung zum Physikalismus ihrerseits zum Monismus neigenden psychogenetischen Betrachtung stellt daher Gomperz zu dem von ihm gewählten Beispiel fest: „Gewöhnen wir uns nur erst an die Verknüpfung jener Drüsentätigkeit und dieser Ver­ stimmung! Eines Tags wird sich’s dann ‚ganz von selbst‘ verstehen, daß diese ein Zeichen für jene ist, daß diese Verstimmung ja ‚gar nichts andres bedeuten kann‘ als jenen körperlichen Vorgang, und endlich werden alle darüber einig sein, es könne nichts ‚Verständlicheres‘ als jenen Zusammenhang geben. Oder scheint’s noch irgend einem Arzt ‚unverständlich‘, daß seinen Kranken bei ihren Herzanfällen ‚ängstlich‘ zumut ist?“ 29 Wenn auch das Bemühen scheitern sollte, ein Verhalten durch Empathie oder durch die Rekonstruktion der für jenes Verhalten maßgeblichen Regeln zu verstehen, so ist man mit seinem Erkenntnisvermögen nicht notwendig schon am Ende. Ein Anliegen kann es dann beispielsweise sein, sich unter Benutzung nicht-mentaler Variablen der Physio­logie oder auch der Molekularbiologie in Erklärungen das zu erschließen, was sich dem rational rekonstruierenden und dem nacherlebenden Verstehen verschließt. „Naturwissenschaftlich erklären, um bestimm­te unerwünschte Wirkungen von psychischen Zuständen zu verhin­ dern, die man nicht durch Empathie oder die Rekonstruktion der Verhaltensregeln ver­ stehen kann“, mag dann beispielsweise die Devise sein. So fand Heinrich Gomperz, dass die beiden grundlegenden Erkenntnisoperationen: die des naturalistischen Erklärens und die des empathischen sowie des psychogenetischen Verstehens – jeweils für sich genom­ men – häufig an Grenzen stoßen. Daher dränge sich förmlich der Gedanke auf, „daß der ‚erklärenden‘ Wissenschaft eine ‚verstehende‘ an die Seite treten sollte“30 – oder, je nach Sachlage und „Grenzerfahrung“, auch umgekehrt.

28 Heinrich GOMPERZ: Über Sinn und Sinngebilde, Verstehen und Erklären, Tübingen 1929, S. 199. 29 Ebd., S. 217 f. 30 Ebd., S. 190.

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3. Grenzen der behaupteten Inkommensurabilität von Psychischem und Physischem Die soeben erwähnte Auffassung entspricht dem, was Max Weber über die Beziehung einer Komplementarität zwischen Kausaladäquatheit und Sinnadäquatheit in der Deutung „so­ zialen Handelns“ ausführte.31 Allerdings ging es Weber nicht um Erklärungen unter Zu­ grundelegung nicht-mentaler Variablen, sondern um die Erklärung des Zustandekommens menschlicher Handlungen unter Bezugnahme auf Absichten und Motive sowie um die Erklärung der Folgen jener Handlungen, ferner um die Erklärung sowohl der Genese als auch der Wirkungen von Institutionen als nicht beabsichtigten Folgen absichtsgeleiteten Handelns. Institutionen wie Staat und Recht waren für ihn quasi naturwüchsige Gebilde, die zwar – in den Worten Friedrich von Hayeks – aus menschlichem Handeln, aber nicht menschlichem Entwurf entstanden sind. Daher hat sich Weber, worauf bereits hingewie­ sen wurde, gegen die Auffassung gerichtet, der zufolge in der Soziologie „Verstehen“ und kausales „Erklären“ keine Beziehung zueinander hätten.32 Im Anschluss an ihn hat auch Karl Jaspers eine Einschränkung kausaler Analysen auf Phänomene des Naturgeschehens letztlich abgelehnt. So stellt er in seiner Allgemeinen Psychopathologie fest: „Der naheliegen­ de Gedanke, das Psychische sei das Gebiet des Verstehens, das Physische das Gebiet des kausalen Erklärens, ist falsch. Es gibt keinen realen Vorgang, sei er physischer oder psychi­ scher Natur, der nicht im Prinzip kausaler Erklärung zugänglich wäre; auch die psychischen Vorgänge können kausaler Erklärung unterworfen werden. Das kausale Erkennen findet nirgends seine Grenze. Überall fragen wir auch bei seelischen Vorgängen nach Ursachen und Wirkungen, nach Bedingungen. Das Verstehen dagegen findet überall Grenzen.“33 Heinrich Gomperz überschritt bekanntlich die Grenzen, die dem einfühlenden Verste­ hen gesetzt sind, in Richtung einer physiologischen oder somatologischen Erklärung. Damit stand er, obwohl Moritz Schlick in seinen Auffassungen in gewisser Weise verwandt, dessen Idol Ludwig Wittgenstein ziemlich fern. Die Begriffe des „Sprachspiels“ und der „Lebens­ form“ sind grundlegend für die Philosophie Wittgensteins, aber sie sind in ihrer Bedeu­ tung und in ihrem Begriffsumfang unbestimmt.34 Man mag zunächst finden, dass etwa die Sprache der Wissenschaft, der Kunst und der Religion grundverschieden sind, und ebenso die Art der Überprüfung der in ihnen und durch sie formulierten Wahrheits­ansprüche.35 31 Vgl. Max WEBER: Soziologische Grundbegriffe (Anm. 5), S. 550 f. 32 Max WEBER: Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie (Anm. 4), S. 436. 33 Karl JASPERS: Allgemeine Psychopathologie (Anm. 20), S. 174. 34 Vgl. dazu und zur Wirkungsgeschichte dieser Auffassung die Ausführungen in Kap. 10 des vorliegenden Buches („Geschichtstheorie“), Teil IV. 35 Auch innerhalb der Wissenschaft selbst bestehen ganz unterschiedliche Sprachspiele: einerseits die RaumZeit -Sprache der Naturwissenschaften und Technik, andererseits die phänomenale oder Erlebnis -Sprache in den meisten Bereichen der Geistes- und Sozialwissenschaften.

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Aber bei näherer Betrachtung zeigt sich doch, dass es mitunter ­Interferenzen zwi­schen diesen Bereichen gibt, so etwa zwischen Wissenschaft und Religion, zwischen Kunst und Wissenschaft, zwischen Psychologie und Physiologie. Bezogen auf die vermeintlich unüber­ brückbare Heterogenität von Wissenschaft und Kunst weiß beispielsweise ein Physio­loge oft recht gut Bescheid über die organischen Zustände und Prozesse, denen der bildende Künstler oder der Literat beispielsweise unter dem Titel „Angst“ oder „Melancholie“ Aus­ druck gibt. Das heißt nicht, dass die Bedeutungen der Ausdrücke „Angst“ und „Melan­ cholie“ sowie der in Bezug auf diese zum Ausdruck gebrachte Sinngehalt von Kunstwerken ohne Bedeutungsverlust auf kardiologische oder endokrinologische Sachverhalte „zurück­ geführt“ werden könnten. Aber für den Arzt ist die Einsicht gerade­zu selbst­verständlich geworden, dass er, um solche unlustbetonten Zustände zu vermeiden, in seiner Therapie oft – etwa durch Verordnung bestimmter Pharmaka – die rein psychothera­peutische Ebene der Behandlung verlassen muss, um auf der physiologisch-pharmakologischen erfolgreich zu sein und dadurch den Patienten vielleicht wieder in eine Verfassung zu bringen, die ihn einer Psychotherapie zugänglich macht. Die linguistisch-kategoriale „Inkommensurabili­ tät“, die in diesem Fall zwischen den „Sprachspielen“ der Psychologie und der Biochemie besteht, besagt aber ge­rade nicht den Wegfall einer kausalen Beziehung zwischen den Berei­ chen, auf welche sich die „gespielten“ Sprachen beziehen – was ja sowohl eine somatopsy­ chologische als auch eine psychosomatologische Therapie unmöglich machen würde. So ist also zwar die Rede von der kategorialen Differenz zwischen sprachlich kodier­ten Bereichen unserer Welt durchaus zutreffend, nicht jedoch immer die Behauptung einer kausalen Un­ abhängigkeit des in unterschiedlicher Sprache Gemeinten voneinander.

V. Grenzen der Empathie: über abnormes Verhalten und die Versuche seiner Plausibilisierung Die Erklärung psychophysischer Zusammenhänge schreitet von der Darstellung psychi­scher Phänomene fort zu der von unbewussten Vorgängen, und dann weiter zu der von außerbewusstnaturalen. Während Analysen der verstehenden Psychologie, aber auch noch die der Psychologie des Unbewussten „mentalsprachlich“ erfolgen, dringt die Neuropsychologie, wie die Biopsy­ chologie allgemein, in den nicht-mentalen Sprachbereich vor. Vielleicht schafft die naturwis­ senschaftlich fundierte Psychologie Aufklärung darüber, woran die Methode des einfühlenden Verstehens in der Regel scheitert: über die Ursachen von hochgradig abnormem Verhalten. Im Folgenden soll an einem Beispiel gezeigt werden, wo die Grenzen der Empathie liegen. Am 22. Oktober 1440 legte Gilles de Rais, wie Wolfgang Sofskys Traktat über die Gewalt zu entnehmen ist, vor dem Inquisitionsgericht zu Nantes ein Geständnis ab und be­ kannte sich übelster Laster und der Sünde wider die Natur schuldig. Im Protokoll heißt es:

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„Freiwillig und öffentlich bekannte der besagte Gilles de Rais, Angeklagter, vor allen An­ wesenden, daß er zu seiner Lust und sinnlichen Ergötzung eine so große Zahl von Kindern gefangen habe und habe fangen lassen, daß er keine genaue Angabe hierüber mehr machen könne. […] Entweder trennten sie den Kopf vom Leib mit langen oder kurzen Dolchen und mit Messern, oder sie schlugen gewaltsam mit einem Stock oder anderen quetschenden Gegenständen auf den Kopf, oder sie hingen sie an einer Stange oder an einen Haken in seinem Zimmer auf und strangulierten sie […]. Die toten Kinder beschlief er, und welche die schönsten Köpfe und die schönsten Gliedmaßen hatten, ließ er zur Schau stellen und ihren Leichnam grausig öffnen, wobei er sich am Anblick ihrer inneren Organe delektierte; und sehr oft, wenn besagte Kinder starben, setzte er sich auf ihren Bauch und fand Vergnü­ gen daran, sie so sterben zu sehen, und er lachte darüber […].“36 Was ist der Sinn dieses Tuns? Wie können wir dieses verstehen? Zunächst einmal ist bei der Analyse von Handlungen oder Verhaltensweisen, die wegen ihrer Grausamkeit als „unverständlich“ bezeichnet werden, festzustellen, ob der Täter unzurechnungsfähig war oder nicht. Ist jemand unzurechnungsfähig, so mag uns seine Tat zutiefst erschrecken oder auch anwidern. Wir werden dann zwar die Art und wohl auch die Folgen der Tat grässlich fin­den, aber dem ganzen Geschehnis eher gegenüberstehen wie einem Natur­ ereignis, nicht aber wie einer vorsätzlich und aus freien Stücken begangenen Untat oder einem ­Verbrechen. Vorausgesetzt wird dabei, dass der Täter Sklave seiner Disposition war und nicht anders handeln konnte. Man kann hier an aggressive Irre denken, die zwanghaft handeln. Solche Fälle sind ziemlich selten, aber es gibt sie. Ist hingegen jemand nicht un­ zurechnungsfähig, so hat die Tat, von der wir in einer zunächst unpräzisen Bedeutung des Wortes sagen, sie sei „unverständlich“, durchaus einen Sinn. „Unverständliches“, hat sich im 20. und frühen 21. Jahrhundert angehäuft, dessen Ausmaß unser historisches Gedächtnis stets von neuem beschäftigt. Wer könnte auch die Stätten des roten und braunen Terrors und die Todeslager ignorieren wollen, für die exemplarisch Kolyma und Auschwitz stehen? Wer die Massenmorde deutscher Polizeibataillone und SD-Einheiten und deren ruchlose Vernichtung von Juden? Wer die Toten der Feuerstürme des terror bombing deutscher Städte, wer das traurige Geschehen von Hiroshima und erst recht das von Naga­ saki, welches eher schon ein Test für Physiker und Ärzte als ein militärisches Erfordernis war? Wer die massenhaften Vertreibungen und Vergewaltigungen Deutschsprachiger auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg, wer die Blutorgien von Kambodscha und Biafra oder die des islamistischen Terrors? Diese Liste ist unvollständig,37 und die Geschichte bis auf den heutigen 36 Zitiert nach Wolfgang SOFSKY: Traktat über die Gewalt, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1996, S. 45 f. 37 Man könnte noch den Wahnsinn der Landwirtschaftskollektivierung in der Sowjetunion der frühen 1930er Jahre samt dem ukrainischen Holodomor und den Irrsinn des ähnlich gelagerten „Großen Sprungs vorwärts“ unter Mao Zedong in den Jahren 1958 bis 1961 sowie dessen „Kulturrevolution“ an­ führen, ferner die chemische Kriegsführung im Ersten Weltkrieg, aber auch in Vietnam und einiges mehr.

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Tag voll von Schreckenstaten, die sich, je genauer sie beschrieben werden, umso mehr der ein­ fühlenden Rekonstruktion, dem verstehen­den Nacherleben zu entziehen scheinen. Und doch wäre es unrichtig zu behaupten, wir könnten in den uns vielleicht persönlich fremd und nicht nachvollziehbar erscheinenden Aktionen nicht einen – wenn auch von uns oft als unmoralisch abgelehnten – Zweck er­kennen. Tötungen, Folter und andere Grausamkeiten richten sich ge­ gen einen Feind, der beseitigt, abgeschreckt oder gedemütigt werden soll. Oder man nimmt an ihm Rache als nicht selten lustvoll praktizierte „Vergeltung“. Rache erschien immer wieder – im Privaten wie auch im Krieg – als eine Möglich­ keit, mit dem Unverstehbaren dadurch fertig zu werden, das man eine Irratio­nalität durch eine andere kompensierte. So berichtet Hermann Neubacher, der ehemalige deutsche Be­ vollmächtigte für Erdölfragen in Südosteuropa in den Jahren 1940 bis 1945, über die unsin­ nigen Blutbäder, welche während des Krieges auf dem Balkan von allen in ihn involvierten Parteien begangen wurden, und bringt dabei die Sprache auf eine in dieser Region – wie schon in türkischer Zeit – verschiedentlich praktizierte Hinrichtungsart: „Es gibt […] Fälle, denen man machtlos gegenübersteht. Wenn reguläre Soldaten im Guerillakrieg ihre Kame­raden entsetzlich verstümmelt auffinden, gekreuzigt, gepfählt, lebendig geröstet, dann gibt es im ersten Augenblick des Entsetzens und der Wut kein Halt für die Rache. Wer traut sich eine ruhige Beurteilung des Falles zu, wenn er seine Kampfgefährten als blutige Strünke findet, weil sie zum ‚langsamen Tode‘ verurteilt worden waren? Dieser langsame Tod wurde so herbeigeführt, daß dem vorher Geblendeten in möglichst kurzen Zeitinterval­ len Körperteile abgeschnitten wurden, wobei die Kunst darin bestand, das Opfer möglichst lange – bis zu fünf Tagen – am Leben zu erhalten. Angesichts solchen Grauens wird für die Kampfgefährten der Opfer alles Lebendige im Umkreis schuldig. Den aber, der über solche Schrecken nach Jahren zu Gericht sitzen will […], kann ich nur fragen: ‚Waren Sie dabei?‘“38 Wir können, so scheint es, gewisse Taten – und vielfach insbesondere die Art ihrer Aus­ führung – nur unter der Voraussetzung empathisch verstehen, dass wir eine dem Täter oder den Tätern verwandte seelische Disposition mitbringen. Kehren wir in diesem Zusammen­ hang zu den Taten des Gilles de Rais. Können wir uns diese anders verstehbar machen außer als ein ungemein bösartiges Spiel mit dem Leid Anderer? Wären sie aus der Sicht der Täter vermeidbar gewesen oder handelte es sich dabei um zwanghaftes Verhalten? Während der Verhandlung gab der Ritter Gilles de Rais dem stellvertretenden Inquisi­ tor auf eine entsprechende Frage zur Antwort, dass er – von sich aus und ohne Anstif­ tung durch jemand anderen – „lediglich zu seinem fleischlichen Vergnügen und Ergötzen 38 Hermann NEUBACHER: Sonderauftrag Südost 1940 –1945. Bericht eines fliegenden Diplomaten, GöttingenBerlin-Frankfurt 1956, S. 142 f. – Geradezu ein Pandämonium von Grausamkeit und sadistischer Rache aus der jüngeren Vergangenheit bildet das eindrucksvolle Buch von Keith LOWE: Der wilde Kontinent. Europa in den Jahren der Anarchie 1943 –1950. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer und Thorsten Schmidt, 4. Aufl., Stuttgart 2015.

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und zu keinem anderen Zweck und aus keiner anderen Absicht“ die ihm nachgewiesenen Verbrechen begangen habe.39 Die Suche nach einem darüber hinausgehenden Motiv und Zweck seiner verbrecherischen Handlungen war vergeblich, obwohl Rais keines­wegs ver­ stockt war. Seine Grausamkeit hat, wie Wolfgang Sofsky kommentierend feststellt, keinen anderen Sinn als sich selbst: „So methodisch die Gewalt vollstreckt wurde, der Sinn […] war einzig und allein die Gewalt selbst. […] Absolute Gewalt genügt sich selbst. Daher ver­ fehlt der instrumentelle Begriff der Gewalt von vornherein jenen Schwellenpunkt, an dem Gewalt in Grausamkeit umschlägt. Und er übersieht alle Vorgänge, die nicht von Kalkülen gesteuert werden, weil sie nämlich selbst die Kalkulationen steuern.“40 Und dennoch: Will man den Ritter nicht völlig entmenschlichen, muss man, wie es scheint, wenigstens versuchsweise seine Motive ergründen. Sind es soziale Gründe, die hier geltend zu machen sind? Gewiss, er war adelig, seine Opfer waren hingegen Kinder von ge­ ringem sozialem Status, Bettelkinder, und somit entbehrliche Existenzen in den Augen der Adelsgesell­schaft. Aber sagt die soziale Herkunft jener Kinder und die des Täters schon et­ was über den Sinn des in Betracht stehenden Verbrechens aus? Nicht die soziale H ­ erkunft, sondern die Tat ist das Problem, die ihr inhärente Perversion und Tötungslust. Kommt man, wenn schon nicht durch Nacherleben, so doch mit Hilfe der Lernpsycho­logie weiter, die auf den Gewöhnungsaspekt im Falle devianten Verhaltens hinweist? Gewiss, habituelle Gewalt kommt, weil zur Gewohnheit geworden, ohne Zweck und Motiv aus, Barbarei wird gewissermaßen zur Normalität. Und zweifellos waren Rais und seine Spießgesellen Gewohnheitstäter. Aber sie waren es nicht von Anfang an – und die Frage bleibt: Was waren Zweck und Motiv des Ritters, der seine Kumpane dazu verleitet hat zu tun, was er zunächst selbst getan hat, und was waren deren Motive, ihm zu folgen? Wir sehen uns an­ gesichts von sadistischen Gewalttätern mit dem Befund konfrontiert, dass deren Grausam­ keit auf keinen Zweck abzielt, da sie nichts über die Tat hinaus erreichen will41 und deshalb wie eine Sucht wirkt. Denn da sie einzig von der Fortsetzung ihrer selbst lebt, benötigt sie immer stärkere Dosierungen. Aber gibt es angesichts von Gilles de Rais’ zum Sadismus verleiteten Kumpanen nicht doch so etwas wie die individuelle Gewalt erst generierende soziale Bedingungen? Die Situa­tion ist in der Psychopathologie ähnlich derjenigen in der Sozial­pathologie. Wie die Nativisten auf einseitige Weise bestrebt sind, individuelle neurotische oder psychotische Symptome aus allgemeinen Aussagen über biologische Gegebenheiten abzuleiten, so füh­ ren die sozialisationstheoretischen Kollekti­visten deviantes Individualverhalten auf die allgemeinen Merkmalen jener Gruppe oder Subkultur zurück, der die in Betracht stehen­ den Individuen angehören. Mit dem letzteren Verhalten hängt der Nachahmungsinstinkt 39 Zit. nach Wolfgang SOFSKY: Traktat über die Gewalt (Anm. 36), S. 51. 40 Ebd., S. 52 f. 41 Dieses formale Merkmal hat sie mit oft edlen Taten gemeinsam, die um ihrer selbst willen geschehen.

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zusammen, der uns, wie der zu Unrecht weitgehend vergessene Gabriel Tarde in seinem Buch Les lois de l'imitation (1890) darlegte, zu oft geradezu hypnotischen Reaktionen auf unsere soziale Umgebung veranlasst. Beide kriminal­soziologischen Monismen hatten ihre Konjunktur, sind heute allerdings im Allgemeinen einer differenzierteren Orientierung gewichen. Albert Cohen, einer der bekanntesten Fachleute auf dem Gebiet der soziolo­ gischen Erforschung der Jugendkriminalität hat schon in den 1950er Jahren den Versuch unternommen, individualpsychologische Ansätze mit traditionellen milieu- oder sozia­ lisationstheoretischen Betrachtungsweisen zu kombinieren.42 In der Diskussion über die Ursachen der Jugendkriminalität nimmt er sowohl eine kritische Haltung gegenüber den einseitig soziolo­gistischen als auch gegenüber einseitig biologistischen Erklärungen ein. So weist er darauf hin, dass doch viele Menschen mit sehr ähnlichen individualpsychischen Dispositionen selbst in Subkulturen, in denen das Verbrechen gedeiht, nicht Verbrecher werden, sondern ihre neurotischen oder psychotischen Störungen auf andere Weise abrea­ gieren. Nur ein Zusammentreffen beider Faktoren: ganz bestimmter von den Soziologisten einseitig hervorgekehrter Merkmale der Subkultur und der von den Nativisten besonders herausgestellten individualpsychischen Disposition, kann nach Cohen eine kriminelle Tat erklären. Wie ist es aber nun um Glaubensvorstellungen und Ideologien bestellt, die als zentrale Inhalte der symbolischen Kultur dem Menschen Lebenssinn verschaffen, und wie um die von ihren Anhängern praktizierte Gewalt? Gibt nicht der Einzelne, wie die Geschichte zeigt, oft gerne seinen moralischen Common sense preis, wenn er nur des gemeinsamen Glaubens – oder besser: der Gemeinsamkeit im Glauben – teilhaftig wird? Wie für andere Praktiker der Gewalt, so gilt im Allgemeinen auch für politisch oder religiös motivierte Gewalttäter, dass in ihrer Kultur (oder Subkultur) hinreichend viele leben, welche sich dem Ansinnen entziehen oder sogar widersetzen, Gewalttäter zu werden. Auch hier gilt: Nur ein Zusammentreffen von fördernden subkulturellen Bedingungen auf der einen und persönlichen psychischen Dispositionen auf der anderen Seite kann Phänomene der hier in Betracht stehenden Art erklären. Weil der Mensch von Natur aus nicht festgelegt ist, sind auch seine gewalttätigen An­ lagen kulturell formbar. Sehr vielgestaltig seien daher, wie Sofsky meint, die Gewalttäter, welche die Geschichte hervorgebracht hat: „Weil der Mensch […] ein Kulturwesen ist, das sich seine Gewalt selbst schafft, kann er seine Destruktivkräfte ins Unermeßliche steigern. Weil er nicht festgestellt ist, ist er zu jeder Untat in der Lage. Weil die kulturellen Formen seine Freiheit einzwängen, ist er immerzu darauf aus, sie zu zerschlagen.“43 Es mag sein, dass diese sehr an Sigmund Freud erinnernde Annahme eines Unbehagens in der Kultur richtig ist und die Faktizität unserer sozialen Existenz in einer gewissen Hinsicht erhellt. 42 Vgl. Albert COHEN: Kriminelle Jugend (aus d. Amerik.), Reinbek bei Hamburg 1961. 43 Wolfgang SOFSKY: Traktat über die Gewalt (Anm. 36), S. 224 f.

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Aber gilt dies auch für bestialische Taten von der Art, wie sie Gilles de Rais begangen hat? Die Grenzen des empathischen Verstehens werden in diesem Fall auch nicht durch eine tiefenpsychologische Kulturkritik abgebaut.

VI. Grenzen religiös-metaphysischen Verstehens Mitunter bricht ein tragisches Verhängnis über Individuen, Gruppen und Völker herein, ohne dass diese von irgendjemandem als Opfer ausersehen worden wären. Naturkatastro­ phen, aber auch der Verlust nahestehender Familienangehöriger und Freunde sind Beispiele dafür. Schrecken und Verzweiflung sind die Folge, und nicht selten verbindet sich damit die ohnmächtig hinaus­gerufene Frage, wozu denn das Ganze sei, welchen Sinn es habe. Ohne Antwort auf sie vermag mancher die Ereignisse nicht zu verstehen. Wo ein Ereignis ihn selbst betrifft, wo dieses schwer und tragisch in sein Leben hineinschneidet, da emp­ findet der Mensch es oft unerträglich, darin keinen Sinn erkennen zu können. Er setzt stillschweigend voraus, dass es doch zu irgend­etwas gut sein müsse und sucht einen Sinn, eine Begründung, eine Rechtfertigung des ihm Widerfahrenden zu fassen. Denn er lehnt den Zufall ab. So steckt insbesondere in der verständlichen Reaktion des Menschen gegen den „Zufall“ der Anthropomorphismus als die Tendenz, alles nach Analogie seiner selbst zu verstehen. Diese Art der Vermenschlichung erfolgt als weitgehend unbewusstes und reflex­ haftes Verhalten. Der Mensch, der sich dagegen sträubt, dass ein Ereignis keinen Sinn ha­ ben könnte, will mit dem Glauben erzwingen, dass da ein Sinn sei, wo er es nicht vermag, der Härte des Realen als des gegen ihn absolut Gleichgültigen ins Gesicht zu sehen. Wie Hiob hadert er mit dem Geschick, mit Gott, mit der Weltordnung, da er meint, das Leben lohne sich sonst nicht. Max Weber suchte zu zeigen, dass es eine der zentralen Funktionen der Religion in der sozialen Welt ist, den Mitgliedern der Gesellschaft eine Theodizee zu liefern. Diesen Begriff hat er mit kleinen Modifikationen aus der Theologie in die Soziologie überführt. Er bedeu­ tet bekanntlich die Rechtfertigung Gottes, des Allmächtigen und Allwissenden, angesichts der Übel in der Welt, stellt also eine Antwort auf die brennende Frage Hiobs dar, wie sich der Glaube an einen allmächtigen und allgütigen Gott mit der gleichzeitigen Präsenz des unverdienten Leidens der Einen und des unverdienten Glücks der Anderen vereinbaren lässt. Für Weber ist jede etablierte Deutung des Leidens, des Unrechts und der Ungleich­ heit Theodizee, wobei er zwischen einer Theodizee des Glücks und einer Theodizee des Leidens unterscheidet.44 Alle, die in der Welt leiden – ob infolge des Handelns Anderer oder aufgrund übermenschlicher Eingriffe –, neigen dazu, sich zu fragen, warum gerade sie 44 Vgl. dazu Max WEBER: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. I [1920], 6. Aufl., Tübingen 1972, v. a. S. 241–253 und S. 571–573.

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betroffen, Andere dagegen verschont sind. Darauf haben die Religionen und später nicht selten die politischen Säkularreligionen geantwortet – jede auf ihre besondere Weise. Die Theodizee des Glücks andererseits kommt dem Bedürfnis der vom Glück Begünstigten nach der tröstenden Versicherung entgegen, dass sie ihr Glück auch wirklich verdienen. Nicht alle, aber doch viele Religionen haben versucht, auch diesem Ansinnen gerecht zu werden. Weber war bekanntlich der Auffassung, dass die geschlossenste Theodizee in der Geschichte der Religionen die des Hinduismus gewesen sei, da sich dieser auf den Glauben an das karma gründet: auf die Lehre, wonach alle menschlichen Taten unausweichlich Fol­ gen für den Täter haben, deren einige über sein Leben in die Wiedergeburt hinausreichen. Daraus folge, dass jeder Mensch in genau der Verfassung ist, die er im Sinne der religiös formulierten Leistungsbilanz seiner Tugenden und Untugenden in allen bisher gelebten Leben verdient hat: Wer leidet, hat keinen Grund zu klagen, und wer glücklich ist, braucht sich nicht schuldig zu fühlen. Der erstaunliche Mangel an Aufbegehren gegen ein Kasten­ system, welches den niederen Schichten ein oft unerträgliches Leben zumutet, zählt zu den wichtigsten gesellschaftlichen Folgen der durch die Religion bewirkten Kontingenz­ bewältigung im hinduistischen Kulturkreis. Es ist hier nicht der Ort, die Sinnentwürfe der Weltreligionen weiter zu erörtern. Ihre eingehendere Darstellung würde es möglich machen, zwei grundlegende Orientierungen einer religiös-metaphysischen Sinnstiftung voneinander zu unterscheiden. Sie stellen – ideal­typisch vereinfacht – zwei Reaktionen auf die Barrieren des metaphysischen ­Verstehens dar. Das eine Mal besteht die Funktion der Sinnstiftung angesichts der sinn­indifferenten Realität in deren Anerkennung als Schicksal, das andere Mal in deren Wahrnehmung als Chance. Im ersten Fall ist es der Providenzgedanke, der jegliches Gefühl persönlich ver­ schuldeten Ungenügens und des Leidens am Unrecht der Welt entdringlicht; im anderen Fall handelt es sich um die Erkenntnis, dass das Umgebensein von Sinnindifferentem sogar als etwas Befreiendes und Erhebendes empfunden werden kann. Dort haben sich nach dem Worte Demokrits die Menschen ein „Idol des Schicksals“ gebildet zur „Beschönigung ihrer eigenen Ratlosigkeit“, da erwächst ihnen aus der Einsicht in die Grenzen des meta­ physischen Sinnverstehens die Überzeugung, das sinnindifferente Geschehen durch eigene Sinngebung erträglich machen zu können. Vielleicht ist es – religionsgeschichtlich gesprochen – der Sieg des Voluntaristen Pela­ gius, des Anwalts der Willensfreiheit, über Augustinus als den Anwalt der Providenz und der Prädetermination, der in besonderem Maße die Geschichte des Okzidents seit Luther, Zwingli und Calvin charakterisiert. Und vielleicht sind es gerade dieser tief in der europäi­ schen Mentalität verwurzelte Gestaltungswille und das mit ihm verbundene Prinzip der Autonomie, die uns Grenzen des Verstehens als geradezu anstößig, aber jedenfalls für ein wissenschaftliches Zeitalter als Provokation erscheinen lassen – als eine Herausforderung zum Finden und zum Erfinden. Gerade diese Haltung provozierte aber wiederum Er­

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kenntnismonismen des Erklärens und des Verstehens, die bestimmte vermeidbare Grenzen des Erkennens gleichsam aus sich hervorgetrieben haben: Einseitigkeiten der somatologi­ schen, psychogenetischen, soziogenetischen und empathischen Betrachtung von Handlun­ gen. Um sie ging es in der vorliegenden Studie.

Schlussbemerkung Man muss um subjektive wie objektive Aspekte von Handlungen Bescheid wissen, um verstehen zu können. Aber das ist noch keine Garantie, sondern nur die Voraussetzung für ein gelingendes Verstehen. Sogleich stellt sich nämlich die Frage: Gibt es nicht auch Hand­ lungen, die man selbst dann nicht versteht, wenn man schon alles weiß, was der Fall und was an Informationen darüber intersubjektiv mitteilbar ist? So gibt es ja auch Dinge, die mitgeteilt, aber nicht gelehrt werden können, und andere, die man für gewiss hält, ohne sie mitteilen zu können. Ist es nicht so, dass es Fähigkeiten gibt, welche sich nicht mitteilen und lehren lassen? Und ist man nicht vielleicht überhaupt nur in dem gelehrt, was gelehrt werden kann? Erhalten wir uns also vorsichtshalber etwas von dem sokratischen Wissen um eine gewisse unvermeidbare Unwissenheit – nicht, um einem Erkenntnisquietismus das Wort zu reden, sondern vor allem um ein gewisses Maß an Bescheidenheit und Nachgiebigkeit Anderen gegenüber zu bewahren. Ihnen wie auch uns selber wird es manchmal wichtig sein, nicht immer und in jeder Hinsicht von Anderen nach Art des gläsernen Menschen verstanden zu werden. Ohne die Bereitschaft zu einer solchen Unwissenheit gedeiht keine Liebenswürdigkeit. Eine docta ignorantia dieser Art gehört seit altersher zu einer guten Er­ ziehung.

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8. SINGULARITÄTSANSPRÜCHE Vorbemerkung Verkündeten radikal partikularistische, gegen den kulturellen Universalismus gerichtete Ethno­logen aus der Boas-Schule noch zur Zeit des Ersten Weltkriegs das Ende der das 19. Jahrhundert bestimmenden kulturevolutionistischen Denkweise, da doch die Kultur keinen Gesetzen unterliege,1 so sollte sich ihre Überzeugung, wonach das Besondere endgültig über das Allgemeine gesiegt habe, innerhalb weniger Dekaden als unhaltbar erweisen. In den 1940er und 1950er Jahren zeichnete sich eine Neuorientierung der Kulturanthropologie ab, die in einer Rückbesinnung auf alte Lehren des Kulturevolutionismus bestand.2 Die Boas-Schule verlor ihre dominierende Stellung innerhalb der amerikani­schen Ethnologie, und man erwartete insbesondere von der vergleichenden Methode, dass sie Ordnung in den Faktendschungel der Ethnographie bringen würde. Boas selbst hat schon in seinem Alterswerk der 1930er Jahre von dem radikal nominalistischen Standpunkt seines früheren Schrifttums – wohl nicht zuletzt unter dem Eindruck der national­sozialistischen Rassenpolitik und des damit verbundenen Singularitätsanspruchs – Abstand genommen. Nach der Kulturanthropologie des frühen 20. Jahrhunderts waren es vor allem seit den 1960er Jahren verschiedene Emanzipationsbewegungen – von den antirassistischen Rassisten der Black-Supremacy-Bewegung bis zu gewissen Vertreterinnen des Feminismus –, die h ­ äufig mit Singularitätsansprüchen operierten. Durch diese haben sie sich allerdings, wie die Vertreter verschiedener religiöser Erwähltheits­lehren auch, in gravie­rende logische Ungereimt­heiten hineinmanövriert. Bestimmte Geistes- und Sozialwissenschaftler sind ebenfalls nicht frei von einer solchen argumentativen Selbstgefährdung.3 1 „Culture cannot be forced into the straitjacket of any theory whatever it may be […] nature has no laws, so culture has none. It is as vast and as free as the ocean.“ So Berthold LAUFER im Jahre 1918, zitiert nach Marvin HARRIS: The Rise of Anthropological Theory. A History of Theories of Culture, London 1968, S. 293 f. 2 Als exemplarische Vertreter für diese Tendenz einer Wiederbelebung des Allgemeinen seien Bronislaw Malinowski, Karl A. Wittfogel, George P. Murdock und Robert Redfield genannt. 3 Vgl. in diesem Zusammenhang Reinhold BICHLER: Das Diktum von der historischen Singularität und der Anspruch des historischen Vergleichs. Bemerkungen zum Thema Individuelles versus Allgemeines und zur langen Geschichte des deutschen Historikerstreits, in: Teil und Ganzes. Zum Verhältnis von Einzelund Gesamtanalyse in Geschichts- und Sozialwissenschaften. Hrsg. von Karl Acham und Winfried Schulze

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Über vermeintlich Unvergleichbares „Es ist weit von der Kenntnis des Menschen zu der der Menschen und weiter noch von der der Menschen zu der des Menschen. Es ist selten, daß ein und der­selbe Geist sie vereinigt, weil sie Eigenschaften erfordern, die sich für gewöhnlich ausschließen. Die eine hat zum Gegenstand, was es Gemeinsames zwischen den Menschen gibt, die andere was sie unterscheidet. Diese bedarf eines Geistes, der die Nuancen erfasst, jene eines großen Geistes, der die Beziehungen überblickt.“ Théodore JOUFFROY: Das grüne Heft. Gedanken, in: Die französischen Moralisten, Bd. 2: Galiani – Rivarol – Joubert – Jouffroy. Hrsg. u. übers. v. Fritz Schalk, München 1974

Einleitung Die Romantik und der aus ihr hervorgehende Historismus sind als Antithesen zum Geist des Rationalismus der Aufklärung anzusehen. Sie machten es der Französischen Revo­lution und aller Aufklärungsphilosophie zum Vorwurf, der Geschichte gegenüber gleichgültig gewesen zu sein und da sie das betonten, was allen Menschen gemeinsam ist, jene Elemente vernachlässigt zu haben, durch die sie sich voneinander unterscheiden. Statt ihre Aufmerksamkeit auf äußerliche Analogien zwischen den Völ­kern zu richten, suchten daher die Vertreter des Historismus das zu erfassen, was die besondere Eigen­art jedes Volkes, jeder Kultur, jeder Epoche ausmacht und was jede die­ser Wesenheiten von anderen unterscheidet. Während aber beispielsweise Herder noch auf der Einheit des Menschengeschlechtes bestand, welcher Umstand es erst möglich mache, einen geschärf­ ten Sinn für das Besondere der verschiedenen Völker und Nationen zu entwickeln, haben spätere Vertreter des historischen Relativismus das Veränderliche, Variable als das für die mensch­liche Gattung Charakteristische aufgefasst. Dem Universalismus der im 18. Jahr­ hundert dominanten ratio­nalistischen Anthropologie setzten die deutschen Repräsen­ tanten des Historismus einen Partikularismus entgegen, dem zufolge die verschiedenen historischen Individualitäten: Völker, Nationen und ethni­sche Verbände, als jeweils in sich zentrier­te Gebilde aufzufassen seien, die sich zudem dynamisch entwickeln und verändern. So trat etwa Friedrich Carl von Savigny für juristischen Pluralismus ein und (= Beiträge zur Historik, Bd. 6), München 1990, S. 169 –192. – Einige wichtige Ergänzungen zu den hier angestellten Überlegungen enthält der folgende Sammelband: Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma. Hrsg. von Anil BHATTI und Dorothee KIMMICH unter Mitarbeit von Sara BANGERT, Konstanz 2015.

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setzte dem Naturrecht eine Vielzahl von nationalen und regionalen gewohnheitsrecht­ lichen Regelungen entgegen, die sich gleichwohl den sich verändernden Konstellationen der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt anzupassen vermögen.4 Den nationalen Pluralismus ergänzte zur Zeit der Romantik ein Pluralismus der Kulturen. Noch für Ranke ist die Kultur („Kultur“ im Singular), und zwar ganz im Sinne des Christentums, eine große Linie, mag sie auch über noch so viele relativ selbstständige Völker und Volksgeister (die „Kulturen“) führen. Mit dem fortschreitenden Prozess der Säkulari­sierung wurde diese einheitliche Linie in viele voneinander unabhängige Lini­en aufgelöst. Im radikalen Historismus der Kulturmorphologie Spenglers gibt es nur mehr bildhafte Analogien und Entsprechungen zwischen den Kulturen, diese aber sind – und Spengler nennt nicht weniger als acht in sich geschlossene große Kulturen – voneinander wesensmäßig verschieden. Nur in formaler Hinsicht könne man zwischen ihnen Ähnlich­ keiten feststellen; so folge jede Kultur in ihrem Verlauf dem gleichen Entwicklungsgesetz, woraus sich eine für alle typische Abfolge von Kulturstufen ergebe.

I. Zum Kulturrelativismus Wie den Auseinandersetzungen innerhalb der Geschichtsphilosophie und der philosophischen Anthropologie, so liegt auch den Kontroversen über die Grundlagen der Kulturwissenschaften um 1900 die Unterscheidung von Erscheinung und Wesen sowie von Besonderem und Allgemeinem zugrunde. Vor allem in der Ethnologie des 20. Jahrhunderts entbrannte ein Streit zwischen den Vertretern der Idiographie und der Vielgestaltigkeit auf der einen, der Nomothetik und des Gleichförmigen auf der anderen Seite. Von vielen Kritikern der Kulturanthropologie wurde deren Initiator Franz Boas, ein aus der hermeneutischen Tradition der deutschen Völkerpsychologie und Weltanschauungslehre stammender Vertreter einer verstehenden und beschreibenden Ethnologie, Autoren wie Lucien Lévy-Bruhl gleichgestellt und dem Lager des radikalen Relativismus zugeordnet. Der Unterschied zwischen diesem französischen und jenem deutsch-amerikanischen Ethno­logen ist jedoch nicht zu übersehen. In seinem Buch Das Denken der Naturvölker aus dem Jahre 1926 formulierte LévyBruhl seine bekannte These einer prälogischen Mentalität dieser Völkerschaften. Die Wirklich­keit, in der sich die Primitiven bewegen, sei von mystischer Art, und nicht ein Gegenstand, nicht ein Naturereignis erscheine in ihren Kollektivvorstellungen als das, was es uns zu sein scheint: „Nichts ist für sie so gegeben, wie für uns. Hier besteht für einen Menschen unserer Gesellschaft, der unsere Sprache spricht, eine unüberwindliche Schwie­ 4 Vgl. Alfred STERN: Geschichtsphilosophie und Wertproblem, München-Basel 1967, v. a. Kap. 5 und 6.

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rigkeit, sich in ihre Denkweise zu finden.“5 Zwar räumt Lévy-Bruhl ein, dass auch die „Primitiven“ in verschiedenen alltäglichen Verrichtungen von einem unmittelbaren praktischen Interesse geleitet und mit allerlei Scharfsinn am Werke seien, um ihren Unterhalt und ihr Leben zu sichern, aber letztlich seien es doch die okkulten Kräfte und die geheimen Fähigkeiten eigentümlicher Wesen, die das Leben der Primitiven bestimmen und unsere und ihre Welt miteinander unvergleichbar machen. Wie kaum ein anderer Autor vor ihm hat Lévy-Bruhl die Frage des Relativismus nicht nur als ein Problem unterschiedlicher Systeme der Moralität und der sozialen Verhaltenspraktiken aufgefasst, sondern auch als ein mit den unterschiedlichen Kulturen verknüpftes Problem unterschiedlicher Rationa­ litätsstandards; dabei hat er die Frage nach der Möglichkeit der Übersetzung von Denk-, Gefühls- und Willenshaltungen zwischen Kulturen oder Gesellschaften eindeutig im Sinne der Inkommensurabilität der kulturspezifischen Begriffe und Kategorien beantwortet. Es ist die Frage, wie es Lévy-Bruhl gelang, in jene mit der seinen angeblich inkommensurable Vorstellungswelt der Primitiven einzudringen und diese zu durchleuchten. Uns zu erzählen, dass die Primitiven inkommensurable Begriffe besitzen, um sodann deren Spezifik lang und breit zu beschreiben, ist zweifellos ein nicht ganz kohärentes Vorgehen. Dies scheint auch Franz Boas – ähnlich wie sein Schüler Robert Lowie – so empfunden zu haben. Entschieden wandte er sich gegen Lévy-Bruhls These einer prälogischen Mentali­tät der „Primitiven“,6 obschon er zuzugestehen bereit war, dass der französische Ethnologe mit seiner Betonung der Macht der Kollektivvorstellungen – ähnlich wie schon zuvor Émile Durkheim und Marcel Mauss – einen zentralen Beitrag zur Revision des individualis­ti­ schen und rational-konstruktivistischen Menschenbildes geleistet habe. In seinem Werk Primitive Art aus dem Jahr 1927 hob Boas ganz in diesem Sinne zwei grundlegende Prinzipien hervor, welche jede ethnologische Untersuchung leiten sollten und die sich nur dem ersten Anschein nach zueinander widersprüchlich verhalten: das Prinzip der Geschicht­ lichkeit und das Prinzip der fundamentalen Gleichheit der menschlichen Denkprozesse. Das letztere Prinzip richtet sich gegen den radikalen Relativismus von Lévy-Bruhls These von der Inkommensurabilität der Kulturen; das Prinzip der Geschichtlichkeit hingegen betont die Verschiedenartigkeit der Beschaffenheit, aber auch der Erfahrung und Deutung dessen, was an Umständen und Lebenslagen die Menschen in ihrem Denken, Fühlen und Wollen beeinflusst. Aus dieser Relativität eine Maxime des Relativismus ableiten zu wollen, wäre Boas nicht als zulässig erschienen. Gewiss unterscheiden sich die Menschen sowohl hinsicht­lich der Inhalte ihres Denkens, Fühlens und Wollens als auch hinsichtlich dessen, woran sie gebunden sind – sie unterscheiden sich jedoch nicht hinsichtlich der Tatsache, dass sie gebunden sind. Wie in Karl Mannheims „Relationismus“ die Tatsache der unvermeid­ 5 Lucien LÉVY-BRUHL: Das Denken der Naturvölker, 2. Aufl., Wien-Leipzig 1926, S. 29. 6 Vgl. Franz BOAS: Primitive Art [1927], New York: Dover 1955, S. 1 ff.; vgl. auch Robert LOWIE: ­History of Ethnological Theory, New York 1937, S. 220 f.

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lichen „Seinsverbundenheit des Wissens“ unterschiedliche Perspektiven der Welterfahrung zur Folge hat, wobei es möglich sein soll, „sich um eine Formel der Umrechen­barkeit und Übersetzbarkeit dieser verschiedenen perspektivischen Sichten ineinander“ zu bemühen,7 so sieht auch Boas in der universellen Gebundenheit des Menschen an eingelebte Traditionen eine Möglichkeit zur Begründung der formalen Einheitlichkeit der verschiedenen Kulturen: einer Einheit im Modalen, nicht im Materialen, im Dass-Sein, nicht im WasSein. Diese formale Einheit soll die vermeintlich unüberbrückbare Kluft zwischen den „Primitiven“ und den „Zivilisierten“ schließen, ohne die inhaltlichen Unterschiede der Kulturen zu leugnen, in denen sie leben. Im Anschluss an eine auf Herder zurückgehende Tradition versucht Boas, die Einheit der menschlichen Gattung dadurch zu sichern, dass er den in der Geschichte nachweisbaren Ausformungen verschiedenartiger Denk-, Gefühls- und Willensorientierungen nachspürt. Wie bei Mannheim, so setzt auch bei ihm der kulturanthropologische Relationismus den Perspektivenwechsel und die wechselseitige Verstehbarkeit des Anderen methodisch voraus. Ein evolutionistisches Geschichtsgesetz suchen zu wollen, wäre ihm dabei als eine unzulässige Vereinfachung der historischen Sachverhalte erschienen, wollte er doch nicht die Geschichte der Kultur schreiben, sondern die Geschichte der Kulturen. Was ihn an den nomologischen Generalisierern störte, war nicht deren – in Grenzen von Boas sogar als sinn­­voll erkanntes – Bestreben, generelle Aussagen über kulturelle Entwicklungen zu formulieren, sondern deren Neigung, die nicht in den Schematismus allgemeiner Gesetze passenden singulären Phänomene als überflüssig oder nebensächlich anzusehen: „Every culture is a complex growth and, on account of the intimate, early associations of people inhabiting large areas, it is not admissible to assume that the accidental causes that modify the course of development will cancel one another and that the great mass of evidence will give us a ­picture of a law of the growth of culture. I am far from claiming that no general laws relating to the growth of culture exist. Whatever they may be, they are in every particular case overlaid by a mass of accidents that were probably much more potent in the actual happenings than the general laws.“8 Damit ist die bei Boas in den Vordergrund gerückte universelle Gebundenheit des Menschen an eingelebte Tradi­tionen gleichermaßen weit von einem Prinzip der deterministischen Unausweichlichkeit entfernt wie von einem aporetischen Relativismus.9 7 Karl MANNHEIM: Ideologie und Utopie [1929], 5. Aufl., Frankfurt a. M. 1969, S. 258. 8 Franz BOAS: Anthropology and Modern Life [1928], Reprint, New York 1962, S. 213. 9 Ein totaler Relativist, für den man Boas verschiedentlich gehalten hat (vgl. z.B. Shia MOSER: Some remarks about relativism and pseudo-relativism in ethics, in: Inquiry 5 [1962], S. 295 – 304), würde in der Tat sagen müssen, dass die Feststellung, „x“ ist wahr oder falsch relativ zu einer Gruppe oder Kultur, selbst relativ ist. Aber ein solcher Vorwurf trifft nicht die Intention von Boas. Denn bei der für ihn so bedeutsamen Historizitätsthese handelt es sich nicht um die Annahme, dass die Wahrheit mit einem historischen Index zu versehen sei; nicht die Definition von Wahrheit ändert sich, wohl jedoch die Art und Anwendung der Wahrheitskriterien.

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II. Von der Betonung des Besonderen zur Behauptung der prinzipiellen Ungleichartigkeit An der einseitigen Betonung des Besonderen und Individuellen lässt sich zeigen, dass dessen Erörterung nur vor dem Hintergrund einer vorausgesetzten Allgemeinheit sinnvoll ist. Wird hingegen die Differenz absolut gesetzt und jede Art von partieller Identität, also Ähnlichkeit, in Abrede gestellt, so schlägt das Prinzip der Differenz nicht selten um in die Behauptung der Singularität, der Unvergleichbarkeit oder Inkommensurabilität. Dass sich mit einer derartigen erkenntnistheoretischen Orientierung oftmals auch politische Wünschbarkeiten verbinden lassen, lehrt exemplarisch sowohl die NS-Mythologie der prinzipiellen Ungleichartigkeit des „Artfremden“ und des „Arteigenen“, als auch die marxisti­sche Lehre von der Unversöhnlichkeit und Unvereinbarkeit „bürgerlich-reaktionärer“ und „proletarisch-fortschrittlicher“ Parteilichkeitsstandpunkte. Die Behauptung einer essentiellen Verschiedenartigkeit im Denken der den verschiedenen Rassen und Klassen Zugehörigen ging, ins Erkenntnistheoretische gewendet, über die Ergebnisse empirischer Forschungen zur Biogenese oder Soziogenese des Erkennens weit hinaus, soferne solche Ergebnisse von den Anwälten jener Verschiedenartigkeit überhaupt zur Kenntnis genommen wurden. Voraussetzung einer jeden Wahrheitssuche ist eine ergebnisneutrale Argumentations­ basis, deren logi­scher Status nicht wiederum von einer Bindung an eine bestimmte Rasse oder Klasse abhängig sein darf. Ein derartiger Geltungsanspruch musste Lenin und seinen Anhängern als ein unrealistischer „Objektivismus“ erscheinen, der – ganz biblisch10 – des­ halb als „lau“ apostrophiert wurde, weil sich sein Anwalt jenseits von deklarierten Parteilich­ keitsstandpunkten, also jenseits von „warm“ oder „kalt“ bewege. Auch Ernst Bloch, einer der idoli­sierten Mentoren der deutschen Studentenbewegung in den 1960er Jahren, verkündete in einem in der Ostberliner Zeitschrift Aufbau im Jahr 1951 erschienenen Aufsatz, dass jegliches Denken immer parteilich gewesen sei und auch sein müsse; es komme nur darauf an zu wissen, welche Parteilichkeit die richtige ist. Von solchen Voraussetzungen aus zeiht er die „sogenannte Unparteilichkeit“ des „Objektivismus“.11 Dieser, so stellt er fest, „ist mit der sogenannten Wahrheit um ihrer selbst willen, wie sie im Westen strapaziert wird, nicht ohne ideologischen Zusammenhang. Ausgehend von einer Schein-Objektivität, die als Schein schon lange durchschaubar geworden ist, macht sich der Objektivismus lau, abwägend, penetrant neutral“.12 10 Vgl. Offenb. Joh. 3, 15 –16: „Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch warm bist. Ach, dass du kalt oder warm wärest! – Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.“ 11 Ganz ähnlich schon LENINs Attacken gegen die „,unparteiische‘ Sozialwissenschaft“ und die „Fabrikanten der Unparteilichkeit“ in seinem 1913 in der Zeitschrift Prosweschtschenije erschienenen Artikel „Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus“. 12 Ernst BLOCH: Parteilichkeit in Wissenschaft und Welt, in: Aufbau 7 (1951), S. 593 – 602, hier S. 597.

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Objektive Wissenschaft erschien andererseits auch Carl Schmitt, dem Oberhaupt der deutschen Rechtstheoretiker in der ersten Hälfte der 1930er Jahre, als der illusorische Standpunkt zwischen den Positionen des „Arteigenen“ und des „Artfremden“. Bei ihm wird das Ähnliche streng in Heterogenes zerstückelt: „Es ist eine erkenntnistheoretische Wahrheit, daß nur derjenige imstande ist, Tatsachen richtig zu sehen, Aussagen richtig zu hören, Worte richtig zu verstehen und Eindrücke von Menschen richtig zu bewerten, der in einer seinsmäßigen, artbestimmten Weise an der rechtschöpfenden Gemeinschaft teil hat und existentiell ihr zugehört. Bis in die tiefsten, unbewußtesten Regungen des Gemütes, aber auch bis in die kleinste Gehirnfaser hinein, steht der Mensch in der Wirklich­keit dieser Volks- und Rassenzugehörigkeit. Objektiv ist nicht jeder, der es sein möchte, und der mit subjektiv gutem Gewissen glaubt, er habe sich genug angestrengt, um objektiv zu sein.“ Und dann folgt – in sehr ähnlicher Weise, wie man dies von Lenins Invektiven gegen die „schmähliche Partei der Mitte“ jenseits von Materialismus und Idealismus13 kennt – eine Denunziation des Objektivitätsstrebens als einer sich selbst missverstehenden Denkweise: „Ein Artfremder mag sich noch so kritisch gebärden und noch so scharfsinnig bemühen, mag Bücher lesen und Bücher schreiben, er denkt und versteht anders, weil er anders geartet ist, und bleibt bei jedem entscheidenden Gedankengang in den existentiellen Bedingungen seiner eigenen Art. Das ist die objektive Wirklichkeit der ‚Objektivität‘.“14 Derartige Äußerungen einer zutiefst politisierten Klassen- und Rassenlehre bewegten sich zum Zeitpunkt ihrer Formulierung keineswegs im politisch folgenlosen Raum, vielmehr hatten sie eine ganz konkrete, nämlich inquisitorische Funktion gegenüber den Anwälten einer ideologiefreien und um Objektivität bemühten Wissenschaft; diese wurden bei Bedarf ohne jede Hemmung aus dem akademischen Leben eliminiert. Was in der Romantik als Rücksichtnahme auf das Besondere und als eine Weckung des Sinnes für die Differenz begonnen hatte, wurde hier zur Stigmatisierung des Anderen und zur positiven Auszeichnung der eigenen Singularität.

III. Zweifelhafte Singularitäten Von einer Singularität ist heutzutage vor allem im Hinblick auf die Judenverfolgung und die Judenvernichtung durch das NS-System die Rede. Natürlich weiß man darum Be­scheid, unterschiedliche historische Vorkommnisse miteinander vergleichen zu können – dennoch spricht man von der „Unvergleichlichkeit“ jener politisch-ideologisch 13 Vgl. dazu etwa Abschnitt 4 von Kap. VI von W. I. LENIN: Materialismus und Empiriokritizismus. Kritische Bemerkungen über eine reaktionäre Philosophie, 2. Aufl., Berlin/DDR 1952. (Die 1. Aufl. ist 1909 in Moskau erschienen.). 14 Carl SCHMITT: Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen Einheit, Hamburg 1933, S. 45.

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motivierten Verbrechen. Im Folgenden sollen hier nicht diese als „singulär“ bezeichneten Ereignisse in Betracht stehen, sondern eine den Opfern oder sogar den Nachkommen der Verbrechens­opfer angeblich zukommende „singuläre“ Kompetenz im Verstehen und Er­ klären der sie betreffenden Ereignisse. So ist bei bestimmten Autorinnen und Autoren, die verfolgten oder ehemals verfolgten Völkerschaften und religiösen Gruppierungen ent­weder angehören oder sich als deren Anwälte verstehen, die Frage danach, wer über der­artige „singuläre“ historische Vorkommnisse wem kompetent zu berichten in der Lage sei, mitunter mit einer zweifelhaften Singularitätsbehauptung verknüpft. Diese läuft im konkreten Fall auf die Annahme einer gruppenspezifischen kognitiven Suprematie hinaus. Nicht die Täter und deren Nachkommen, auch nicht alle an einem als singulär angesehenen Verbrechen Unbeteiligten seien zur authentischen Berichterstattung darüber befugt, sondern, da das Authentische nicht von jedermann erfahren und durch jedermann vermittelbar sei, allein die Verbrechens­opfer oder die ihnen Nahestehenden. Nun könnte ja mit einer derartigen Annahme einer Sonderkompetenz hinsicht­lich der Darstellung oder Erklärung exzeptioneller Verbrechen darauf abgezielt werden, dass in vielen Fällen „Erfahrung“ eine durch Erleben erworbene Kenntnis meint, die nicht beliebig erworben werden kann. So müsse man schon Bestimmtes am eigenen Leib erfahren haben, um begründet darüber sprechen zu können, und mitunter sind ja auch in der Tat ähnliche persönliche Erfahrungen auf Seiten der Rezipienten von Mitteilungen vorauszusetzen, um diese angemessen verstehen zu können. Doch es kann das Prinzip der kognitiven Singulari­ tät, aufgefasst als authentisches Erkennen auf Seiten nur ganz bestimm­ter dazu befähigter Individuen, heillos überstrapaziert werden. Wie geht man mit derartigen Behauptungen insbesondere dann um, wenn die Darstellung und Analyse eines historischen Ereignisses in Betracht steht, von dem niemand mehr behaupten kann, es als Augen- und Ohrenzeuge authentisch erlebt zu haben? Wie ist in diesem Zusammenhang beispielsweise die Ansicht von Monika Richarz zu beurteilen, der zufolge nichtjüdische Heimatforscher gar nicht imstande seien, sich authentisch mit jüdischen Angelegenheiten zu beschäftigen? Wie ist es zu verstehen, wenn diese Autorin meint, dass die Bücher, die jene schreiben, nur solche von Nichtjuden für Nichtjuden sein könnten?15 Wird hier nicht das Erkenntnisideal 15 Vgl. Monika RICHARZ: Luftaufnahme – oder die Schwierigkeiten der Heimatforscher mit der jüdischen Geschichte, in: Babylon 8 (1991), S. 27–33. – „Die Geschichte der jüdischen Gemeinde zu schreiben, war vor 1933“, wie die Autorin schreibt, „die selbst gewählte Aufgabe jüdischer Historiker und besonders der örtlichen Rabbiner. Kein Nichtjude wäre auf die Idee gekommen, ein solches Werk abzufassen.“ (Ebd., S. 28) Die heute von Nichtjuden verfassten heimatkundlichen Bücher hingegen hätten eine deutlich sichtbare „politische Funktion“: „Heute finanzieren die Kommunen nicht selten ihre Drucklegung, geben sie sogar selbst in Auftrag oder verleihen ihnen durch ein Vorwort halboffiziellen Charakter, um auf diese Weise zu zeigen, daß die Stadt ihre Vergangenheit ‚bewältigt‘ hat. […] Während die Geschichte der Juden in allen Einzelheiten erforscht werden darf, bleibt doch die Verbindung dieser Geschichte zur Stadtgeschichte nach 1933 im Dunkeln. Die Beleuchtung der Opfer ermöglicht das Verdunkeln der Täter. Auf diese Weise wird

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der idio­graphischen Analyse umgebogen in einen zweifelhaften Singularitätsanspruch, mit welchem man zugleich die exklusive Prädisposition einer bestimmten Gruppe für die einzig richtigen Formen und Inhalte historischer Erkenntnis behauptet? Es mag ja, wie bereits festgestellt wurde, durchaus so sein, dass das Vorhandensein gewisser Erlebnisse auf Seiten des Adressaten einer Mitteilung vorausgesetzt werden muss, damit weitere einschlägige Kenntnisse vermittelt werden können – so wie ein Tuch oft schon ein wenig befeuchtet sein muss, um besser und schneller saugfähig zu sein. Ein solches Argument ist noch immer nachvollziehbar und hat nicht von vornherein mit dem Streben nach Monopolisierung von Informations­kompetenz zu tun. Die Wendung, die das Argument erst zu einem prekären macht, besteht in der Behauptung, korrekte historische Erkenntnis habe in der Zugehörigkeit von dargestelltem und dar­stellendem Subjekt zur selben Schicksalsgemeinschaft ihren Grund. Erkennen wird hier offensichtlich auf ein gruppen­spezifisches Erleben gegründet. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Versuch, das Problem der zeitgeschichtlichen Rekonstruktion mit einem heuristischen Prinzip zu verknüpfen, welches ein Fremdverstehen nur in sehr restriktivem Umfang gestattet. Arno Mohr hat auf die Behauptung einer unhintergehbaren Erlebnis-, Verstehens- und Er­kenntnisdifferenz zwi­schen „Opfern“ und „Tätern“ bzw. deren jeweiligen Nachkommen hingewiesen.16 Während von bestimmten Autorinnen und Autoren immerhin die in der Psychoanalyse mögliche Übernahme der Patientenperspektive durch den Therapeuten, wie allgemein die Reziprozität der Situationsdefinitionen in der Beziehung von Patient und Therapeut als möglich angesehen wird, wenn es um die Therapie von KZ-Opfern und deren Nachkommen geht,17 die jüdische Geschichte zum Feigenblatt.“ (Ebd., S. 30) Außerdem habe diese Art von Literatur noch den Nachteil, die jüdischen Bürger entweder als „fromme und fast exotische Gruppe“ zu zeigen oder aber deren „Assimilation und die engen und glücklichen Beziehungen zwischen Christen und Juden […] bis 1933“ zu beschwören, die so nicht bestanden haben. „Die Auffassung der Autoren von jüdischer Geschichte hängt offensichtlich von gewissen Vorurteilen und vorgefaßten Ideen ab, deren sich die Forschenden nicht immer bewußt sind, und die zumindestens zum Teil auf mangelnden Kenntnissen beruhen. […] Während sie die jüdische Geschichte objektiv darstellen wollen, werden sie von antisemitischen Vorurteilen eingeholt, die sie schon als Kinder aufnahmen. Dies ist ein für Philosemitismus bezeichnendes Phänomen.“ (Ebd., S. 31 f.) – Auf ähnliche Weise hat bekanntlich Daniel J. GOLDHAGEN in seinem Buch Hitler’s Willing Executioners: Ordinary Germans and the Holocaust (New York 1996) den „gewöhnlichen Deutschen“ als einen aus halluzinatorischen und dämonischen Antrieben gespeisten Antisemiten, und damit so gezeichnet, dass diesem anderes als essentielles Unverständnis gegenüber jüdischem Schicksal wohl gar nicht möglich sein konnte – und kann. – Vgl. in diesem Zusammenhang aus der reichhaltigen Literatur zu Goldhagen exemplarisch Ruth Bettina BIRN, Volker RIESS: Das Goldhagen-Phänomen oder: fünfzig Jahre danach, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 49 (1998), S. 80 –95. 16 Vgl. Arno MOHR: Das Auschwitz-Syndrom – Geschichte der Juden in Deutschland nach 1945, in: Neue Politische Literatur 40 (1995), S. 62–94. 17 Vgl. dazu Jörg WIESSE, Erhard OLBRICH (Hgg.): Ein Ast bei Nacht kein Ast. Seelische Folgen der Menschenvernichtung für Kinder und Kindeskinder, Göttingen 1994.

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scheint Richarz einer Heuristik der Gleichartigkeit von Erkennendem und Erkanntem verpflichtet zu sein. Hier wird das, was ursprünglich der Historismus gegenüber dem aufklärerischen Universalismus stark machte: das Individualitätsprinzip, dermaßen outriert, dass geradezu Barrieren gegenüber angeblich zum Verstehen Unbefugten errichtet werden. Man will dabei zunächst offenbar vereiteln, dass im Vollzug des Verstehens die Individualität der Opfer den Vormeinungen derjenigen anverwandelt wird, die sie zu verstehen suchen. Letztlich führt eine solche Hermeneutik aber dazu, dass man sich nicht nur dem Verstandenwerden durch Andere verweigert, sondern auch jeder Art von Kritik gegenüber immunisiert.18

IV. Über den radikalen Universalismus und Relativismus im Verstehen des Anderen Auf die hier erörterte Form der Verstehensrestriktion, wenn nicht gar der Verstehensverweigerung aus Gründen einer vermeintlichen Identitätsbewahrung trifft man in verschiedenen Zusammenhängen. Sie begegnet uns nicht nur im Kulturrelativismus von Ethnologen, die auf die Heterogenität von Kulturen Bezug nehmen, sondern auch in den verschiedenen Ausformungen einer oft recht bemühten Binnenethnisierung: so zum Beispiel in den wechselseitigen Vorbehalten zwischen religiösen Gemeinschaften oder auch in der Abweisung exogener Interpretationen durch die jeweiligen radikalen Sprach-, Brauchtums- und Geschlechtergruppierungen. Ganz allgemein geht es hier um die Auszeichnung bestimmter, angeblich besonders erkenntnisbefähigter „insiders“ gegenüber den „outsiders“. Meinen die Vertreter des radikalen Universalismus in den Kulturwissenschaften in allem Menschlichen stets das Eigene, welches das Allgemeine repräsentiere, erkennen und somit die Erfahrung der Differenz negieren zu können, so orten die Vertreter des radikalen Relativismus in der Standortgebundenheit jedes einer bestimmten Kultur oder Subkultur Angehörigen den Grund für die Unmöglich­keit, das aus seiner Sicht Andere zu verstehen. Für den radikalen Universa­listen ist dieses Andere gar nicht anders: die Ähnlich­keit von Merkmalen in dem Eigenen und dem Fremden wird durch die Behauptung ihrer Gleich18 Nicht zu Unrecht bemerkt deshalb Arno Mohr im Zusammenhang mit der gelegentlich vertretenen Auffassung bezüglich der Heterogenität des Erlebens, Verstehens und Erkennens von jüdischen und nichtjüdischen Autoren, dass „aufgrund solcher Argumentation stillschweigend eine imaginäre Demarkationslinie zwischen jüdischen und nichtjüdischen Autoren gezogen wird“; dadurch werde aber „die Mystifizierung des Judentums perfekt und alle Aufklärung darüber obsolet“. Wechselseitiges Verstehen scheitere unausweichlich an dem Verdikt über eine Kritik, die man bereits im Voraus als eine „Manifestation antisemitischen Denkens oder [als] eine Vorstufe davon“ zu bezeichnen geneigt ist. – Arno MOHR: Das Auschwitz-Syndrom – Geschichte der Juden in Deutschland nach 1945, in: Neue Politische Literatur 40 (1995), S. 62–94, hier S. 88.

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heit abgelöst; letztlich ist ohnehin überall alles gleich. Für den Vertreter des radikalen Universalismus ist das Andere also streng genommen nur ein scheinbar Anderes. Da man meint, das Eigene zu kennen, erübrigt sich in letzter Instanz eine geistige Auseinandersetzung mit dem Anderen. – Vom radikalen Relativisten wird hingegen das im Hinblick auf bestimmte Merkmale dem Eigenen gleiche Andere als ein nur scheinbar Gleiches, in Wirklichkeit aber Verschiedenes aufgefasst. Um das zu erkennen, sei es aller­dings nötig, die richtige Perspektive einzunehmen. Was Johann Martin Chladenius in seiner Allgemei­ nen Geschichtswissenschaft aus dem Jahre 1752 nachzuweisen bestrebt war,19 dass nämlich Standortgebundenheit nicht von vornherein richtige Erkenntnis ausschließe und dass so­ gar verschiedene „Sehe-Punckte“ von Historikern nicht notwendigerweise einen logischen oder faktischen Widerspruch zur Folge haben müssten, wird durch den radikalen Relati­ visten für obsolet erklärt. In seinem Aufsatz „Insiders and Outsiders“, aber auch in seinem Buch On Social Structure and Science, hat Robert K. Merton den radikalen Relativismus in Form eines Gedanken­ experimentes bis an sein aporetisches Ende gedacht. Merton geht es darum, die Impli­ kationen jener Denkweise darzustellen, der zufolge eine bestimmte Art des Erlebens als konstitutiv für Verstehensakte und für die sich wiederum darauf beziehenden Erkenntnisse anzusehen sei. Wenn man eine derartige Denkweise generalisiert, so müsse folgerichtig gelten, dass nur schwarze Gelehrte Schwarze verstehen können, und nur weiße Gelehrte Weiße. Wenn man nun nicht nur Rassen, sondern auch Nationen, soziale Schichten und Wissenschaftlergemeinschaften in diese Art von Erkenntnistheorie integrierte, so müssten zum Beispiel die Angehörigen bestimmter Nationen nur von ihren Landsleuten verstanden werden können, Frauen nur von Frauen, und Männer nur von Männern, fer­ ner Katholiken nur von Katholiken, und Juden nur von Juden, sowie – absurder-, wenn auch konsequentermaßen – Soziologen nur von Soziologen.20 In all diesen Anwendungen eines hermeneutischen Exklusivitätsprinzips zeigt sich nach Merton eine Art Glaubensstandpunkt. Denn Respektabilität als Interpret lässt sich in solchen Fällen nicht durch irgendwelche kognitiven Leistungen erwerben. Die Fähigkeit des Verstehens und des zutreffenden Erkennens resultiert hier vor allem aus der Tatsache der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gemeinschaft. Deren Angehörigen kommt ein Insider-Status nach Art einer Gemeinschaft von Auserwählten zu. Dieser Insider-Doktrin gemäß zeichnet den Outsider ein grundlegendes Unvermögen aus, fremde Gruppen, Schichten, Kulturen und Gesellschaften zu verstehen.

19 Johann Martin CHLADENIUS: Allgemeine Geschichtswissenschaft [1752]. Mit einem Vorw. v. Reinhart Koselleck und einer Einl. v. Christoph Friederich, Wien-Köln-Graz 1985. 20 Vgl. Robert K. MERTON: On Social Structure and Science, Chicago 1996, S. 245 f.

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Wie Merton zeigt, kann die Innenansicht eine echte Einsicht oftmals sogar erschwe­ ren.21 Aber ungeachtet dieser heuristischen Schwierigkeiten stellt sich die Frage, was denn eigentlich die eigene Perspektive konstituiert: Was ist es, das es dem Anderen unmöglich macht, mich zu verstehen, und was verunmöglicht es mir, ihn zu verstehen? Für die radikale Feministin ist das unterschiedliche Geschlecht zur unüberwindlichen Er­kenntnisschranke geworden, für den radikalen Sozialisten die unterschiedliche Stellung der Klassen im Produktionsprozess, für den radikalen Kulturrelativisten schließlich die unterschiedliche ethnisch-kulturelle Zugehörigkeit. Nun gehören wir jedoch erfahrungsgemäß nicht nur einem ganz bestimmten sozialen Kreis an, sondern mehreren sozialen Kreisen. Und so mag man sich veranlasst fühlen, die Standortgebundenheit im Falle von Individuen zu pluralisieren, die unterschiedlichen sozialen Kreisen angehören. Zugleich damit ergibt sich aller­ dings ein Insider-Paradox, welches Merton klar zum Ausdruck bringt. Wenn nämlich nur weiße Gelehrte Weiße und nur schwarze Gelehrte Schwarze verstehen können, und wenn ferner Männer nur von Männern und Frauen nur von Frauen verstan­den werden können, dann ergibt sich die skurrile Situation, dass diese beiden Prämissen von Verstehensakten einander wechselseitig limitieren: „for it then turns out, by implication, that some Insiders are excluded from understanding other Insiders with white women being condemned not to understand white men, and black men, not to understand black women, and so through the various combinations of status-subsets“.22 Der Kulturrelativismus definiert die ethnisch-kulturelle Perspektive als die in kulturwissenschaftlichen Erkenntnisbelangen maßgebliche. Kulturelle Zugehörigkeit gilt als die entscheidende Voraussetzung für adäquate Erkenntnis. Der Mensch mag zwar verschiedene Rollen in einer Gesellschaft spielen, nur eine erfülle ihn allerdings insofern durchgehend, als sie sein gesamtes Verstehen und Erkennen präge. Er sei in seinem Denken ein Spiegelbild seiner Kultur, damit aber auch unfähig, sein unmittelbares Leben gedanklich zu trans­ zendieren. Wahrhaft schöpferisch ist gemäß diesem übersozialisierten Menschenbild der kulturrelativistischen Hermeneutik allein die Kultur, während das Individuum sie lediglich widerspiegelt. Neben dieser deterministischen Vorstellung beruht das Weltbild des Kulturrelativismus noch auf einer weiteren Grundannahme: Eine Kultur darf mit anderen Kulturen nichts gemeinsam haben, was sich auf essentielle Wertinhalte bezieht. Hier stellt sich allerdings die Frage, wie es zu den doch hinreichend bekannten Tauschakten zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen hat kommen können, wenn die Angehörigen dieser Kulturen, in miteinander inkommensurable Sprach- oder Wertwelten eingebettet, nur als 21 Vgl. Robert K. MERTON: Insiders and Outsiders. A Chapter in the Sociology of Knowledge [1972], in: Werner Sollors (Hg.), Theories of Ethnicity. A Classical Reader, Basingstoke 1996, S. 325  –369, hier S. 365. – In ähnlicher Absicht warnte schon Hegel davor, das Bekannte mit dem Erkannten zu identifizieren. (Vgl. Georg Wilhelm Friedrich HEGEL: Phänomenologie des Geistes. Vorrede, in: Theorie-Werkausgabe, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1970, S. 35.) 22 Robert K. MERTON: On Social Structure and Science (Anm. 20), S. 252.

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gleichsam fensterlose Monaden einander gegenüber gestanden sein sollen. Jeder Tausch setzt ein Aushandeln von äquivalenten Güterwerten sowie Reziprozitätsannahmen, also einen virtuellen Perspektivenwechsel voraus. Man mag nun einwenden, dass hier ein Zerrbild des Kulturrelativismus wiederge­ geben werde, nicht aber jener humanistische Relativismus in den Blick komme, der von der Autar­kie der eigenen Kultur auf die Autarkie der anderen schließt und damit alle Kulturen als gleich auffasst. Dies sei der Kerngehalt der Toleranz. Es ist jedoch fraglich, inwiefern einer solchen Ansicht nicht lediglich eine Haltung der axiologischen Indifferenz entspricht, die nur so lange eingenommen wird, wie die eigene Kultur nicht in Gefahr ist, von einer anderen bedrängt zu werden.

V. Jenseits von Indifferenz und Fanatismus Wie Leszek Kołakowski in einem dem Problem des Eurozentrismus gewidmeten Aufsatz gezeigt hat,23 kann der Satz „Alle Kulturen sind gleich“ – wenn er nicht nur den trivialen Tatbestand formuliert, dass die Menschen gleichermaßen in unterschiedlichen Traditionen gelebt haben und leben – sehr Verschiedenartiges bedeuten: „Entweder will ich damit sagen, daß ich in einer besonderen Kultur lebe und daß mich die anderen nicht interessieren, oder daß es keinen absoluten, außerhalb der Geschichte stehenden Maßstab gibt, um irgendeine Kultur zu beurteilen, oder im Gegenteil, daß es eben einen solchen gibt, und daß nach diesem Maßstab alle die Normen, die miteinander unvereinbar sind, ebenfalls Gültigkeit haben.“24 Es wird sich also im Falle der Behauptung, dass alle Kulturen gleich sind, vor allem empfehlen, danach zu fragen, ob der dies Behauptende damit meint, alle Kulturen seien gleich viel wert, oder ob er damit meint, dass alle anderen ihm gleichgültig sind, und dass er mit seiner eigenen Kultur zufrieden ist. In der Tat würden ja die meisten, die zunächst ein sehr indifferent formuliertes Gleichheitspostulat vertreten, kaum damit einverstanden sein, dass man beispielsweise ihnen, als rechtschaffenen Europäern, einfach die Hände für ein Finanzvergehen abhackte oder dass man sie, als rechtschaffene Europäerinnen dafür steinigte, dass sie Ehebruch begangen haben. Die meisten, die die Auffassung vertreten, dass alle Kulturen gleich sind, würden wohl, wenn man sie folgerichtig mit der Möglichkeit des Kulturtausches bzw. der Übernahme derartiger fremder Kulturmuster konfrontierte, diesen gegenüber ihren Abscheu bekunden. Wie Kołakowski bemerkt, meinen sie, wenn sie die kulturimmanente Gesetzlichkeit gewisser islamischer Staaten betonen, die 23 Leszek KOŁAKOWSKI: Wo sind die Barbaren? Ein Lob des Eurozentrismus oder Die Illusion des kulturellen Universalismus, in: Der Monat Nr. 277 (= Jg. 1980, H. 2), S. 69 – 83. 24 Ebd., S. 75.

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angeblich unsere Achtung verdienen, auch wenn wir selbst nicht das Gesetz des Koran befolgen, eigentlich: „Das wäre entsetzlich für uns, aber es ist schon richtig für die Wilden.“ Damit äußere man aber weniger Achtung als vielmehr Verachtung für andere Traditionen, und der Satz „Alle Kulturen sind gleich“ ist als Beschreibung für ebendiese Einstellung, wie Kołakowski bemerkt, am unpassendsten.25 Wenn man unter historisch-soziologischer Perspektive danach fragt, wie es um die europäische Fähigkeit bestellt ist, Toleranz gegenüber anderen Kulturen zu üben und sich selbst in Frage zu stellen, dann wird man grundlegende exogene Bedrohungen, aber auch endogene Konflikte in Betracht zu ziehen haben. Wahrscheinlich hat Europa vor allem aufgrund der Bedrohung durch die Araber, die Mongolen und die Türken nach und nach ein Bewusstsein der eigenen kulturellen Identität erworben. (Für die von Europäern Erober­ten und Drangsalierten gilt wohl Ähnliches.) Andererseits ist es, insbesondere ­unter dem Einfluss der Reformation und der anschließenden Religionskriege, von Montaigne an bis hin zu den Denkern des Aufklärungszeitalters von jener ­allgemeinen skeptischen Denkbewegung erfasst worden, welche die Überlegenheit seiner eigenen Werte in Frage stellte und damit den Prozess der ständigen Selbstkritik in Gang setzte. Diese Fähigkeit sollte für Europa sowohl zur Quelle seiner Macht als auch seiner Verwundbarkeit und seiner mitunter geradezu selbstzerstörerischen Neigungen werden. Nicht zufällig kann man die Ethnologie als eine wahrhaft europäische Wissenschaft bezeichnen, da sie den Versuch darstellt, die eigenen moralischen und ästhetischen Gewohnheiten und Normen in den Hintergrund treten zu lassen und sich soweit wie möglich das Sichtfeld, das Wahrnehmungsvermögen und die Denkweise der Angehörigen ande­ rer Kulturen anzueignen. Gemeint ist dabei allerdings nicht sosehr die evolutionistische Ethnologie des 19. Jahrhunderts, wie sie exemplarisch von Lewis H. Morgan und James G. Frazer vertreten wurde, sondern insbesondere die unter dem Einfluss des Historismus stehende Völkerpsychologie und Ethnologie, wie sie vor allem im Werk von Moritz Laza­rus, Heymann Steinthal, Wilhelm Wundt und Franz Boas Ausdruck gefunden hat. In der Tat behauptete sich die europäische Kultur – spätestens seit dem 18. Jahr­ hun­dert – gerade durch das Vermögen, sich selbst gegenüber eine kritische Distanz zu wahren und sich auch mit den Augen der Anderen betrachten zu wollen. Tole­ranz bedeutet dabei nicht, die der fremden und der eigenen Kultur entstammenden Argumente zusammenzustellen, und gleich zu gewichten, sondern keines von ihnen von vornherein auszuschließen. Sie besagt nicht den Verzicht darauf, die Stärken und Schwächen die­ ser Argumente zu überprüfen und gegeneinander abzuwägen. Toleranz bedeutet aber damit, kurz gesagt, den Spielraum der Unsicherheit offen zu lassen und die Entscheidung gegebenenfalls nach Maßgabe besserer Alternativen zu revidieren. Wir werden zu Barbaren, wenn wir unsere Exklusivität bis zu einem solchen Grad behaupten, dass 25 Vgl. ebd., S. 76.

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wir – ganz im Sinne von Fanatikern – die Gründe der Anderen nicht mehr abwägen und unsere eigenen Vormeinungen nicht mehr in Frage stellen wollen. Wir können uns aber nicht für tole­rant halten, wenn wir die Anderen, die Gefangene ihrer Exklusivität sind, beispielsweise den Vertretern des Fallibilismus in Recht und Wissenschaft gleichsetzen; denn das wäre axiologische Indifferenz, und damit ein Ausdruck intellektu­eller und moralischer Schwäche. „Man kann nicht so skeptisch sein, daß man nicht einmal mehr den Unterschied zwischen Skepsis und Fanatismus erkennt; in der Tat würde das ja bedeuten, derartig ‚skeptisch‘ zu sein, daß man es gar nicht mehr ist.“ 26 In diesem Sinne ist ein inkonsequenter oder limitierter Skeptizismus zu befürworten, der sich dieser Aporie entzieht, indem er nicht über die Grenze hinausgeht, die zwischen Skepsis und Indifferenz verläuft.

Schlussbemerkung Die Überzeugung, dass bestimmte, für die europäische Kultur charakteristische Werte, nämlich ihre Fähigkeit zur Selbstkritik und zum Fallibilismus, aber insbesondere bestimm­ te politische und soziale Grundrechte nicht nur verteidigt, sondern notfalls auch anderen Kulturen gegenüber vertreten werden müssen, lässt sich nicht einfach per Dekret durchsetzen. Ob jene Werte geglaubt und mit Leben erfüllt werden, ist eine Frage, deren Beantwortung nicht von der Wissenschaft denen abgenommen werden kann, die sich zu entscheiden haben. In besonderem Maße sind unter den Kulturwissenschaften, wie die vorangegangenen Ausführungen nahe legen, die vergleichenden geschichts- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen, und gerade die Ethnologie, dazu prädestiniert, im Vorfeld solcher Entscheidungen einen Sinn für Eigenes und Fremdes, für kulturelle Ähnlich­keiten und Unterschiede zu entwickeln. Solche empirischen Arbeiten belegen auch, dass eine Ethnologie in der Sackgasse mündet, die sich als Agentur entweder eines radikalen Relativismus oder eines radikalen Universalismus versteht. In der Welt des radikalen Relativisten erscheint nämlich der Versuch, das Andere zu verstehen, als absurd, weil sich uns das Fremde nie in seiner Eigenart erschließen könne – Ethnologie wird damit zu einem sinnlosen Unterfangen. Andererseits existiert in der Welt des radikalen Universalisten das Andere letztlich überhaupt nicht als etwas Besonderes, da das Eigene und das Fremde Ins­tanzen eines Identischen, nämlich der gleichen Menschennatur seien – Ethnologie ist daher überflüssig. Die beiden extremen Positionen sind als diskursive Abbruchspunkte des ethno­logischen Denkens zu verstehen, 26 Ebd. – In ähnlichem Sinne Ludwig MARCUSE: „Jede Skepsis enthält den individuellen Umriß ihrer Grenze: wo ist ein Skeptiker nicht mehr skeptisch?“ (Argumente und Rezepte. Ein Wörter-Buch für Zeitgenossen, Zürich 1973, S. 52)

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weil durch sie das eine Mal die Gemeinsamkeiten zwi­schen den Kulturen, das andere Mal die Besonderheiten der Kulturen geleugnet wird.27 In einer Welt ohne Gemeinsamkeiten kann es keine Ethnologie geben; in einer Welt ohne Besonderheiten wiederum ist es gar nicht nötig, eine Ethnologie zu haben.

27 Zur Dialektik von Eigenem und Fremdem vgl. die Analysen und Überlegungen von Wolfgang RAIBLE: Alterität und Identität, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 28, H. 10 (Juni 1998), S. 7–22.

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9. RELEVANZGESICHTSPUNKTE Vorbemerkung Schon in der antiken Naturphilosophie stellte sich folgende grundlegende Frage: Was ist es, das die Vielfalt der Erscheinungen ermöglicht? Oder mit anderen Worten: Was ist die invariante „Substanz“, die allen Metamorphosen der Materie zugrunde liegt? Es ging dabei, wie der Physiker Gernot Eder ausführt,1 darum, zu erkunden, wie denn durch fundamentale Kräfte und durch die Wechselwirkungen zwischen den elementaren Bestandteilen der Mate­rie nicht bloß die Farbenpracht der unbelebten Natur, sondern auch die Formenvielfalt des Lebendigen erklärt werden könne.2 Um 500 v. Chr. sind die Ansichten über das Verhältnis zwischen den variablen Phänomenen und ihren stabilen Grundlagen, zwischen Erscheinung und Wirklichkeit, Schein und Sein bereits stark polarisiert und äußern sich in den extremen Positionen der Naturphilosophie von Heraklit im Osten und von Parmenides im Westen des antiken Griechenland. Heraklit lehrt in Ephesos, dass alles im Fluss sei, und dass der Fluss, aus dem man heraussteigt, bereits ein anderer sei als der, in den man hineingegangen ist.3 Parmenides andererseits lehrt in Elea, dass das Seiende unveränderlich und jede Veränderung in der phänomenalen Welt bloßer Schein sei. Die beiden Extrempositionen von Heraklit und Parmenides waren der Entwicklung der Naturphilo­sophie nicht besonders förderlich. Erst mit Empedokles von Akragas tritt in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. ein originaler und diese einseitigen Auffassungen vermittelnder Geist auf, für den die unveränderlichen Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer die Basis der materiellen Vielfalt bilden. Seine Lehre wurde in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts wesentlich verfeinert durch die Atomisten Leukipp von Milet und Demokrit von Abdera. Atome gelten nun als die letzten materiellen Grundbausteine, die sich in ihren Eigenschaften nicht ändern und 1 Vgl. zum Folgenden Gernot EDER: Metamorphosen der Materie, in: Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, math.-naturwiss. Kl., Abt. II: Mathematische, Physikalische und Technische Wissenschaften, Bd. 207, Wien 1998, S. 3 –22. 2 Dieser Differenzierung von Substanz und Metamorphosen in der frühen Naturphilosophie entspricht in gewisser Weise die zwischen dem Genotyp und den Phänotypen in der heutigen Biologie. 3 Seine Ideen werden von Kratylos weitergeführt, der sogar meint, dass der Fluss bereits beim Hineinsteigen mit jedem Schritt ein anderer werde, weshalb auch Kategorisierungen und gültige Aussagen grundsätzlich nicht möglich seien. Wahrscheinlich haben die Auffassungen des Kratylos seinen Schüler Platon zu der gegensätzlichen Vorstellung vom Bestand eines ewigen Reichs der Ideen veranlasst.

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9. RELEVANZGESICHTSPUNKTE

nicht mehr aus Teilen zusammengesetzt sind.4 Trotz empirischer Erhärtungen der Atomtheorie setzte bereits im 4. Jahrhundert harte Kritik am Atomismus ein, formuliert vor allem von Aristoteles von Stageira. Wie bereits im zweiten Kapitel ausgeführt wurde, lag auch den Kontroversen über die Grundlagen der Kulturwissenschaften um 1900 die Unterscheidung von Erscheinung und Wesen, Besonderem und Allgemeinem zugrunde. Es war dies ein Streit um das wissenschaftlich Relevante. Nach Ansicht der Anwälte des Besonderen, für die das Wesen der Kulturwissenschaften in der idiographischen Methode besteht, haben ihre Kontrahenten, die Anwälte des Allgemeinen und der nomothetischen Methode, immer nur „den“ Menschen als ein transkulturelles Wesen im Blick, nicht jedoch die Vielgestaltigkeit konkreter Individuen. Den Anwälten des Allgemeinen zufolge, für die das Wesen jeglicher Wissenschaft im Auffinden und in der Anwendung von Gesetzmäßigkeiten in und zwischen den in Betracht stehenden Phänomenen bestehe, haben wiederum die Vertreter des Besonderen nur riesige Massen von Faktenmaterial angehäuft, und die Ablehnung von genera­ lisierenden Verfahren durch sie stehe der Wissenschaftlich­keit der Kulturwissenschaften diametral entgegen. Nach Wilhelm Windelband galt die von ihm so bezeichnete „idiographische“ Betrach­ tungs­weise dem Einzelnen, Singulären, im Unterschied zum Universellen und Allgemei­ nen, auf welches sich die „nomothetischen“ Aktivitäten der Positivisten bezögen. Im Streit um den logischen Status und das Wesen der historischen Sozialwissenschaft zielte auch Max Webers „verstehende Soziologie“, die er – im Unterschied zur „Gesetzeswissenschaft“ Comtes – als „Wirklichkeitswissenschaft“ verstand, nicht ab auf die Formulierung nomologischer Hypothesen, sondern auf das Erkennen des „So-und-nicht-anders-Gewordenseins“ singulärer Handlungen und Ereignisse.5 Natürlich seien dafür Idealtypisierungen und andere Formen von Generalisierungen unverzichtbar, aber sie seien eben als Erkenntnismittel anzusehen, nicht aber als die für seine Soziologie wesentlichen Erkenntnisziele. Diese Auffassung steht im Gegensatz zu derjenigen von Henry Thomas Buckle, der, wie andere auch, als das wesent­liche Er­kenntnisziel einer Wissenschaft von der gesellschaftlich-geschicht­ lichen Welt gerade nomologischesWissen angesehen hat. Nicht nur in der Wissenschaftsphilosophie der Geistes- und Sozialwissenschaften, sondern auch in der konkreten Arbeit ihrer Vertreter spielt die Kontroverse um Erschei­ nung und Wesen, Besonderes und Allgemeines eine bedeutende Rolle, nämlich überall dort, wo ein „Eigentliches“ zur Diskussion steht, das von etwas „Uneigentlichem“ unterschieden werden soll. Seit langem wogt so etwa bereits der Streit darüber hin und her, ob der Poli4 Damit entsprechen die Atome Demokrits eher den heutigen Fundamentalteilchen und weniger den Atomen der chemischen Elemente, welche aus Atomkernen und Hüllenelektronen gebildet sind. 5 Vgl. Max WEBER: Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 3. Aufl., Tübingen 1968, S. 146  –214, hier S. 186.

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Vorbemerkung

tik oder der Wirtschaft der Primat bei der Erklärung gesellschaftlicher Zustände und Ereignisse zukomme; auch am Schluss der folgenden Abhandlung spielt er eine heraus­ ragende Rolle. Die Frage nach dem Wesen zeitigt vor allem bei der Erklärung mensch­ lichen Handelns kontroverse Antworten. Denn hier ist das, was als sachhaltig – als objektiv relevant – ausgegeben wird, und das, was der persönlichen Präferenz des Forschers oder der Forscherin – also der subjektiven Relevanz – geschuldet ist, häufig bis zur Ununterscheid­ barkeit vermengt. So kann sich beispielsweise die Frage danach, was die Hand­lung einer Person „in Wirklichkeit“ oder „eigentlich“ ausmacht, auf sehr Verschiedenes beziehen: auf die Bedingungen, Umstände oder Ursachen, unter denen ein Akteur zu einem bestimmten Handeln veranlasst wurde; auf dessen Motive oder Gründe; darauf, mit ­welcher Absicht, Zielsetzung oder Intention der Akteur so handelte, wie er gerade handelte. Doch zu diesen drei Aspekten einer Handlung – ihren Ursachen, ihren Gründen und ihren Intentionen – kommt noch ein weiterer: die nicht-intendierten Folgen der Handlung selber. Vielleicht ist in solchem Zusammenhang wieder einmal das Wort eines Autors erhellend, dessen philosophischer Ehrgeiz nicht in die Richtung der Erstellung eines Rankings von Handlungsmerkmalen geht, um dadurch etwas „Wesentliches“ oder „in letzter Instanz Bedeutsames“ als anthropologisches Merkmal besonders herauszustellen. Die Rede ist von Salman Rushdie und dessen Beantwortung der alten Frage „Wer oder was bin ich?“, die in der Version Kants bekanntlich lautet: „Was ist der Mensch?“ In seinem Ent­wicklungsroman Midnight’s Children beantwortet er sie folgendermaßen: I no longer want to be anything except what who I am. Who what am I? My answer: I am the sum total of everything that went before me, of all I have been seen done, of everything done-to-me. I am everyone everything whose being-in-the-world affected was affected by mine. I am anything that happens after I’ve gone which would not have happened if I had not come.6

6 Salman RUSHDIE: Midnight‘s Children, London 1995, S. 488.

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9. RELEVANZGESICHTSPUNKTE

Schein und Wirklichkeit „Die Philosophen haben kaum einen Irrweg versäumt, indem sie bald die Wirklichkeit durch die Erscheinung zu erklären suchten, bald die Erscheinung durch die Wirklichkeit. Schon Cicero bemerkte, daß es nichts so Absurdes gäbe, das nicht ein Philosoph schon gesagt hätte.“ Rivarol, Maximen, in: Ernst Jünger, Rivarol, Frankfurt a. M. 1956

Einleitung Die Unterscheidung von Erscheinung und Wirklichkeit, von Schein und Sein führt zurück zu den Anfängen der Philosophie – nicht nur in der europäischen, sondern auch in der indischen Tradition. Die Frage nach dem Wesen oder dem Immergleichen in der Verschiedenartigkeit der Erscheinungen ist offensichtlich dem Menschen eigentümlich. So unterscheidet er beispielsweise den mit farbigen Stiften gezogenen geraden Strich von dem, was die Gerade im eigentlichen Sinne ausmacht, also von der Definition der Geraden als der kürzesten Verbindung von zwei Punkten. Was ist in diesem Falle „wirklich“, was „Schein“? Ist es das Besondere der empirisch erfahrbaren gezeichneten Geraden oder ist es das Allgemeine der begrifflich erfassbaren Idee dieser Geraden? Wir haben es hier mit zwei Wirklichkeiten zu tun: mit einer empirischen und mit einer ideellen Wirklichkeit. Der empirischen Wirklichkeit entspricht das Kontingente und Zufällige, der ideellen Wirklich­ keit das Notwendige und Wesentliche; der empirischen Wirklichkeit das Besondere, der ideellen Wirklichkeit das Allgemeine als das allen Besonderungen Gemeinsame; der empirischen Wirklichkeit die Existenz, der ideellen Wirklichkeit die Essenz. In der Geschichte der Philosophie korrespondieren dieser Unterscheidung die beiden Hauptströmungen der Erkenntnistheorie und der Ontologie: der Empirismus und der Rationalismus. Eine besondere Ausformung erfuhr diese Thematik von Erscheinung und Wirklichkeit durch die Einbeziehung von bewegten Dingen in der Zeit. Denn die Frage stellte sich nun, ob das Statische oder das Veränderliche das „Wirkliche“ oder „Wesentliche“ sei. Häufig wird die leitende Frage gemäß der persönlichen Wertpräferenz, also der subjektiven Rele­ vanz beantwortet, dann aber wieder gemäß dem Gesichtspunkt der objektiven oder kausalen Relevanz eines Dinges, einer Handlung oder eines Ereignisses. Die Antworten auf die Frage, was jeweils das „Wirkliche“ oder „Wesentliche“ sei, sind daher oft sehr vielfältig. Die folgende Studie will an einigen Beispielen vor Augen führen, dass sich in dieser Alltagsfrage ganze Knäuel von Problemen überlagern, die nur in Angriff zu nehmen sind, wenn man sich zunächst einmal klar macht, dass es nicht den Dingen anzusehen ist, wo ihr „Wesen“ steckt, sondern dass es an uns liegt, was wir unter dieser Bezeichnung suchen und finden

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Schein und Wirklichkeit

wollen; und dass wir dann fürs Erste einmal Wertungs- und Sachgesichtspunkte voneinander unterscheiden.

I. Das Wirkliche als Wirkmächtiges 1. Einwirkungen und Auswirkungen Nach Parmenides, einem der frühen griechischen Denker, ist das wahrhaft Seiende, Wirkliche dasjenige, das keine Ursache hat, immer war und immer sein wird und zudem vollkommen ist. Als uneigentlich und als Schein galten ihm alles Bewegte und der Wandel, somit auch die Genese und die Wirkungen von Dingen, als das Eigentliche aber das Unveränderliche und Dauernde. Zeitlichkeit stand so gegen Substantialität.7 Eine offene Frage blieb es allerdings für lange Zeit, was dieses Substantielle sei. Insbesondere seit dem 16. Jahrhundert hat man in den Naturwissenschaften versucht, Dauerndes im Wandel zu finden und dabei neben den Strukturgesetzen auch die Ent­ wicklungsgesetze der sich ändernden Dinge aufzuzeigen. In den Geisteswissenschaften bemühte man sich vor allem um die Typisierung von Charakteren und Handlungssitua­ tionen sowie um den Nachweis von wirkungsgeschichtlichen Zusammenhängen, denen zwar, wie man fand, gewisse Regelmäßigkeiten des menschlichen Verhaltens, aber keine Entwicklungs­gesetze im strengen Sinne zugrunde lägen. Für diesen Nachweis bedurfte es einerseits der Bezugnahme auf die Umstände, unter denen ein Ereignis zustande kommt, andererseits der Bezugnahme auf das, was durch dieses Ereignis bewirkt wird. Das eine Mal betrachtete man als das „Wirkliche“ an einem der­artigen Sachverhalt das, woher er stammt und woraus er besteht, also Einwirkungen, das andere Mal das, was er bewirkt, also Auswirkungen. (Das „Wirkliche“ ist im Deutschen, wie man daraus ersieht, in seiner semanti­ schen Bedeutung eng mit dem Verbum „wirken“ verbunden.) Hier stellt sich allerdings ein Problem, das den ontologischen Status eines Menschen, eines Dinges, Zustandes oder Ereignisses betrifft. Ziehen wir beispielsweise einen Menschen in Betracht, so können wir uns in Bezug auf ihn fragen: Ist dieser Mensch in seiner „Wirklich­keit“ dadurch hinreichend erfasst, dass man das eine Mal zeigt, welche ­Faktoren auf ihn einwirkten, wodurch er also in seinem Was (etwa in seiner Berufsposition und seiner sozialen Rolle) und seinem Wie (etwa in seiner Tugendhaftigkeit oder Sorglosigkeit) „verursacht“ wurde, dass man das andere Mal aber darlegt, was er – bewusst oder unbewusst 7 Siehe dazu Nicolai HARTMANN: Zeitlichkeit und Substantialität, in: Blätter für deutsche Philosophie 12 (1938 –39), S. 1–38; wieder abgedruckt in: Ders., Kleinere Schriften, Bd. I: Abhandlungen zur Systematischen Philosophie, Berlin 1955, sowie in: Ders., Der philosophische Gedanke und seine Geschichte. Aufsätze, Stuttgart o. J. [1968], S. 79 –132.

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9. RELEVANZGESICHTSPUNKTE

– selber „bewirkte“? Ist denn damit nicht unter Umständen die Gefahr verbunden, dass gerade seine Persönlichkeit, sein „wirklicher“ Charakter, nicht gesehen wird, weil dieser das eine Mal genetisch, das andere Mal effektorisch missverstanden wird? Denn in jenem Fall wird das, was der Mensch „ist“, mit seinen Ursachen identifiziert, in diesem aber mit seinen Wirkungen.

2. Genetischer und funktionalistischer Fehlschluss Sowohl mit dem Verweis auf die kausale Verursachung eines Sachverhalts, als auch mit dem Nachweis von dessen Wirkungen sind häufig zwei Formen der Relativierung oder „Hinwegerklärung“ des Eigenwertes von Sachverhalten verbunden; diese werden dann entwe­der bloß als Derivate von Sachverhalten anderer Art oder aber nur als Vorbedingung für das Eintreten bestimmter Zustände, Ereignisse und Prozesse aufgefasst. Das Denken, Fühlen und Wollen eines Menschen wird dementsprechend als ein entweder abgeleitetes oder instrumentelles Phänomen angesehen. Mit Theorien, welche das Wesen menschlicher Handlungen in einem gewissen Umfang auf deren Genese oder Wirkung bzw. deren kausale oder funktionale Bedeutung zurückführen, arbeiten unter anderem Darwin, Freud, Marx und Durkheim. Darwin bezieht den Sinn unseres Verhaltens, einschließlich unseres Denkens, auf seine Funktion für das biologische Überleben, Freud auf seine Funktion für die Befriedigung libidinöser Bedürfnisse, Marx erklärt unser Erleben und Denken aus der Klassenlage und dem je­weiligen Klassenbewusstsein und bezieht auch den Sinn unseres Handelns auf unsere Rolle im Klassenkampf, während Durkheim und die von ihm inspi­ rierte französische Wissenssoziologie die Ideenwelten, einschließlich ihrer Logiken, aus dem Kollektivbewusstsein der jeweiligen Gesellschaft ableiten. „Diese Relationierung“, so führt Niklas Luhmann dazu aus, „bringt an den Tag, daß das Erlebte auch anders möglich ist. Ein anderes Leben würde sich in anderen Symbolen ausdrücken, seine unbefriedigten Triebe in anderen Vorstellun­gen sublimieren. Andere biologische Umwelten würden zu anderen Lebensordnungen führen, andere Produktionsverhältnisse zu anderen Ideologien.“8 Wenn aber alles Erleben auch anders möglich ist, ist seine Dignität nur eine von den dafür konstitutiven Umständen und Bedingungen entlehnte. Als „wahrhaft wirklich“ gelten dann die Erlebnisinhalte nicht mehr, und so verstellt hier der behauptete ontologische Primat der Genese oft den Weg zu einer sorgfältigen phänomenologischen Analyse jener Inhalte. Doch weder die Ursachen eines Zustandes oder Ereignisses, noch dessen 8

Niklas LUHMANN: Wahrheit und Ideologie. Vorschläge zur Wiederaufnahme der Diskussion, in: Der Staat I, H. 4 (1962); wieder abgedruckt in: Hans-Joachim LIEBER (Hg.): Ideologie – Wissenschaft – Gesellschaft. Neuere Beiträge zur Diskussion, Darmstadt 1976, S. 35 –54, hier S. 38 f. – Siehe dazu bereits die Ausführungen in Kap. 5, Abschn. IV.

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Schein und Wirklichkeit

Wirkungen sind mit dem Zustand oder Ereignis identisch, und auch nicht Ursachen und Wirkungen zusammen. Und so gewinnt in Anbetracht möglicher genetischer oder effektorischer Fehlschlüsse – wenn auch anders als in der antiken Astronomie – die „Rettung der Phänomene“ wieder an Aktualität.9

II. Zu einigen Wirklichkeitsfestlegungen 1. Beispiele aus der Philosophie Unerschöpflich ist die Zahl normativer Festlegungen im Falle von Wesensbestimmungen. An nur zwei Beispielsgruppen seien solche im Folgenden dargestellt. Zunächst soll die in Politik und Moral wirkmächtige Tradition des Platonismus kurz in Betracht gezogen werden. Platon ist in seinem Denken von mathematisch-geometrischen Sachverhalten ausgegangen. Wie man weiß, bedarf ein Dreieck keines durch Zeichnen und Zählen erbrachten Nachweises, dass die Summe seiner Winkel auf einer als plan gedachten Fläche 180° beträgt. Reale Zeichnungen im Sinne der darstellenden Geometrie nähern sich wohl einem bestimmten approximativen Wert an, die „Idee“ des Dreiecks kann aber in der empirischen Realität nicht „Wirklichkeit“ werden. Daher verwandelte Platon den Begriff „Wirklichkeit“ radikal und erklärte das als nur scheinbar wirklich, was landläufig für wirklich gehalten wird; das Verhältnis von „Sein“ und „Schein“ veränderte sich auf diese Weise grundlegend. Von nun an galt: Je mehr „Idee“ oder Ideali­tät, umso mehr „Sein“, und je näher man der „Idee“ komme, umso näher komme man der „Wahrheit“. Friedrich Nietzsche, der im Gegensatz dazu die Welt der Ideen als etwas Fiktives und nur Scheinbares ansah, bezeichnete dies als die „ größte Umtaufung“, da Platon im Grunde „den Schein, als Artist, der er war, dem Sein vorgezogen“ und jenem die Attribute „Sein“, „Gutheit“, „Wahrheit“, kurz: alles beigelegt habe, dem man Wert beimisst.10 Platon war auch bestimmend für die Zweiteilung, welche die politische Philosophie der Neuzeit charakterisiert: für die Unterscheidung von normativer und faktischer Geltung politischer Werte und Normen, aber auch von idealem und faktischem Konsens. Als einer der großen Kritiker der Staatslehre von Thomas Hobbes hat in Bezug darauf JeanJacques ­Rousseau versucht, den politischen Nominalismus des faktischen Wollens und des faktischen Konsenses mit dem Idealismus eines „wahren“ Wollens und des vernünftigen 9 Zum genetischen Fehlschluss siehe Norwood R. HANSON: The Genetic Fallacy Revisited, in: American Philosophical Quarterly 4, No. 2 (1967), S. 101–113; dt. unter dem Titel: Neue Überlegungen zum genetischen Fehl­schluss, in: Karl Acham (Hg.), Methodologische Probleme der Sozialwissenschaften, Darmstadt 1978, S. 68 –101. 10 Siehe Friedrich NIETZSCHE: Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, in: Ders., Werke in drei Bänden, Bd. 3, Darmstadt 1963, S. 415  –925, hier S. 880.

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9. RELEVANZGESICHTSPUNKTE

Konsenses zu versöhnen. Der Begriff der volonté de tous steht dabei für den faktischen Konsens, der Be­griff der volonté générale für den vernünftigen, auf der Basis zwangsfreier und leidenschafts­loser Vernunft gebildeten Konsens. Auch hier wird der empirische Befund des „Willens aller“ als Schein, als eine defiziente Repräsentation des „allgemeinen Willens“, aufgefasst, dieser jedoch als das (ideale) Sein, das eigentlich Wirkliche des politischen Geschehens. Die volonté de tous kann nach Auffassung von Rousseau irren, und daher sei es nötig, die volonté générale als Resultat eines faktischen Konsenses tugendhafter Bürger herzustellen, denen es bei ihren Voten um das Allgemeine geht. Was Rousseau meint, ist – mit den Worten von Robert Spaemann – folgendes: „[D]ie volonté de tous, der faktische Konsens der meisten, ist die einzige Repräsentation der volonté générale, des vernünftigen Konsenses. Aber sie repräsentiert ihn nicht notwendig und nicht immer; und wenn sie ihn nicht repräsentiert, dann bleibt die volonté générale stumm. Mit anderen Worten: das Schlechte bleibt immer schlecht, auch wenn alle es wollen; aber das Gute ist nicht das Gute, solange es nicht von allen gewollt wird.“11 In diesem Denken wird vorausgesetzt, dass das Gute wahrheitsfähig ist; dass es als solches durch den konsentierenden Allgemeinwillen gestiftet wird; dass deshalb jede partikuläre, also subjektive oder schichtspezifische Deutung des Guten oder des Allgemeinwohls nicht wahr sein kann, und auch ein Mehrparteiensystem nur der irrenden volonté de tous Ausdruck verleiht. Denn wie es im Sinne Platons nur einen Winkelsummensatz für die unterschiedlichen Dreiecke gibt, so bei Rousseau und seinen Nachfolgern letztlich nur eine wahre Idee des Gemeinwohls. Der Kommunikations­prozess, welcher den Willen aller in den allgemeinen Willen transformiert, hat den Sinn, das immer schon prinzipiell Wissbare als etwas, das den Suchenden und Irrenden noch mehr oder weniger verborgen ist, an den Tag zu bringen. Bei Rousseau – wie schon lange zuvor bei Platon, wie aber auch bei Hegel und Marx später – sind die um das wahrhaft „Wirkliche“ und „Vernünftige“ in der Politik Bescheid Wissenden zur Herrschaft berufen. Jenes als das Wesen des Politischen begriffene „Wirkliche“ bedürfe nur der entspechenden Aufweisungs­analyse. Rousseau ist Vertreter einer idealistischen Staatstheorie, welche die Legitimation von Herrschaft auf ein an und für sich Wahres gründet, und steht damit im Gegensatz zu empiristischen Gesellschaftstheoretikern wie Machiavelli, Hobbes oder Locke. Die Idee eines vernünftigen Konsen­ses über die gelten sollenden Werte und Normen ist in der zeitgenössi­ schen Diskussion der ­politischen Philosophie durch Karl-Otto Apel initiiert und durch Jürgen Habermas prominent geworden. An die Stelle der Idee einer unstrittig gerechten Herrschaft wird hier die Idee des „herrschaftsfreien Diskurses“ einer „idealen Kommunikationsgemeinschaft“ gesetzt, welche die Grundbedingung der Ermöglichung eines echten Konsenses sei; dieser ist nach Robert Spaemann „das Resultat eines durch keinerlei privile­ 11 Robert SPAEMANN: Die Utopie der Herrschaftsfreiheit, in: Ders., Zur Kritik der politischen Utopie. Zehn Kapitel politischer Philosophie, Stuttgart 1977, S. 104 –126, hier S. 114.

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gierte Position verzerrten, zeitlich und personell unlimitierten Diskurses“. Legitimität könnte eine nach dem Modell dieser idealen Kommunikationsgemeinschaft organisierte Gesamtgesellschaft beanspruchen. Da dann aber, wie Spaemann feststellt, „in ihr keine Asymmetrie in der Verteilung normativer Macht mehr stattfindet, bedürfte sie gar ­keiner Legitimation“. 12 Hier ist gar vieles an transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit vorausgesetzt – zu fragen bleibt daher: Wie ist es um die reale, empirische Freiheit jedes einzelnen diesem Konsens Unterworfenen bestellt, der ja nur virtuell jener transzendenta­ len Kommunikationsgemeinschaft angehört, die sich um die Begrün­dung von Werten und Normen und um die Herstellung ihrer Geltung bemüht?

2. Beispiele der Textinterpretation Andere Fälle normativer Festlegungen von „Wirklichkeit“ oder „Wesentlichem“ finden sich in Interpretationen von Texten und betreffen bestimmte im Argumentationsgang eines ­Autors oder Diskussionspartners auftretende Darstellungen oder Wertungen. Der sprachliche Ausdruck verführt dabei die Interpreten mitunter zu einer eigentümlichen Verschiebung der Aufmerksamkeitsrichtung. Dies kann bis zu einer der auktorialen Intention entgegengesetzten Fixierung auf das in einem Argumentationsgang angeblich Wesentliche führen. Zu erinnern wäre hier an den siebenten und letzten Abschnitt von Ludwig Wittgensteins Tractatus, der nur aus dem einen und viel zitierten Satz besteht: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Häufig legte man ihn so aus, als sei es Wittgenstein allein um Klarheit gegangen, und als wäre das sprachlich nicht klar Formulierbare irrelevant. Wittgenstein geht es jedoch überhaupt nicht darum, allein das Sagbare als wichtig anzusehen. So hat denn dieser Satz auch eine einmal transzendentalphilosophische, dann aber eine moralphilosophische Bedeutung. Das eine Mal besagt er nämlich, dass das, was Sprechen oder Denken ermöglicht, nicht dessen Gegenstand sein kann; damit verweist Wittgenstein auf die Grenzen der philosophischen Rede, ähnlich wie dies etwa Hugo von Hofmannsthal in seinem Chandos Brief im Hinblick auf die Grenzen der dichterischen Ausdrucksmöglichkeiten tut. Das andere Mal hat Wittgenstein aber die Bedeutsamkeit der Moral im Blick, die sich nicht mit den Mitteln der logisch-empirischen Sprache ausdrücken lasse – das wahrhaft Bedeutende ist nach ihm nicht sagbar. So schrieb er im Oktober 1919 an Ludwig von Ficker, dass der Sinn des Tractatus ein ethischer und dass dieser als zweiteiliges Werk anzusehen sei, dessen ethischer Teil nicht geschrieben worden ist. Denn das Geschriebene – nicht aber die Ethik! – würde nur Unsinn, weil letztlich belanglos sein. Zur Ethik schreibt er daher im Tractatus (6.42): „Darum kann es auch keine Sätze der Ethik geben. Sätze können nichts Höheres ausdrücken.“ 12 Ebd., S. 116.

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9. RELEVANZGESICHTSPUNKTE

Auf eine ähnliche Wertverschiebung trifft man bei einer Reihe von Kritikern der Gegenüberstellung von Recht und Moral, wie sie für Rechtspositivisten in der Nachfolge von Georg Jellinek charakteristisch ist. Ihnen selber, so erklären jene Kritiker, gelte die Moral als das Wesentliche in der Regelung zwischenmenschlicher Beziehungen, den Rechtsposi­ tivisten dagegen die Gegebenheiten der jeweiligen Rechtssatzungen. So wird bis heute ohne Unterlass gegen den Rechtspositivismus von Hans Kelsen und Herbert L. A. Hart geltend gemacht, dass deren „Trennungsthese“ nicht nur zur begrifflichen Trennung von Recht und Moral geführt habe, sondern auch zur Ent- oder zumindest Amoralisierung des Rechts. Aber gerade dies ist von den Kritisierten nicht intendiert. Zwar können nach Ansicht von Kelsen und Hart die scheußlichsten Normen zum Gegenstand geltenden Rechts werden, es wäre jedoch abwegig, den beiden Rechtsphilosophen unterstellen zu wollen, ihr Begriff der „Rechtsgeltung“ impliziere notwendig die Befolgung solcher Regeln. Dem Rechtspositivismus ist es vielmehr darum zu tun, durch die Trennung von Recht und Moral dem praktizierenden Juristen eine Rückzugslinie zu eröffnen, die dann nicht mehr besteht, wenn eine Koinzidenz zwischen dem faktisch geltenden Recht und der als richtig angesehenen Moral behauptet wird. „Recht ist nicht Moral; lass es nicht die Moral verdrängen!“,13 lautet daher die Devise bei Hart, die gerade den Vorrang der Moral behauptet. Daher ist es absurd, den Positivisten generell, wie dies immer wieder geschieht, eine Vergötzung der Faktizität des Rechts vorzuwerfen.

III. Erleben und Erkennen 1. Verstand und Gefühl In der Geschichte des philosophischen Denkens der Neuzeit kam es wiederholt dazu, dass nur solche Beschreibungen und Erklärungen als für die Wissenschaft „wesentlich“ angesehen wurden, die im Sinne des mos geometricus, des geometrischen Denkstils, formu­ liert sind. Derartiges geschah bekanntlich unter dem Einfluss der scienza nuova des frühen 17.  Jahr­hunderts, als alle „sekundären Qualitäten“: die Empfindungen, Gefühle und Willens­regungen, auf die „primären Qualitäten“ der physikalischen Welt zurückgeführt wurden. Schon bei Descartes waren Gefühle und Stimmungen Dinge, über die nicht viel mehr zu sagen sei, als dass sie von uns passiv erlitten werden und nicht selten die Klarheit unserer Gedanken stören, während der Verstand oder das rationale Denken aktiv auf die Welt hin ausgerichtet ist. Dagegen bezog bereits Pascal Stellung. Zwar besteht bekanntlich auch nach ihm alle Würde des Menschen im Denken, wie er in den Pensées ausführt. Denn 13 Vgl. H. L. A. HART: Recht und Moral – Drei Aufsätze, hrsg. von Norbert Hoerster, Göttingen 1971, S. 42 f.

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dessen ­Pflicht sei es, richtig zu denken.14 Das Denken umfasst nach Pascal allerdings nicht allein den Bereich des Verstandes, sondern auch den der Vernunft, der durch Gefühl und Willen mitbestimmt sei. Und so spricht Pascal von einer „Logik des Herzens“, welches Gründe habe, die der Verstand nicht kennt.15 Auch heute akzeptieren wir, dass die psycho­logischen Gründe und Motive auf einer anderen Ebene liegen als auf jener der natürlichen Ursachen, und daher ist Pascal, wie Kant auch, ein Gewährsmann für die Kritik an Verkürzungen der Vernunft. Er, der große Mathematiker und Physiker, weist uns darauf hin, dass die Wissenschaft sich nicht auf Science, also auf Naturwissenschaft, Technik und Medizin, begrenzen lässt, sondern dass auch die bildende und darstellende Kunst, die Musik und die Literatur – gleich wie Moral und Jurisprudenz – eine spezifi­sche Rationalität aufweisen. Das, was als „wirkliche“ und „bedeutsame“ Erkenntnis gelten kann, bemisst sich also an den Erfordernissen der Sache, nicht aber an denen einer wie immer gearteten methodi­schen Vorentscheidung. Von hier führt eine Ideenlinie über Vico und Herder zu Dilthey und Gadamer, denen zufolge den Geisteswissenschaften ein spezifischer Wissenschaftsstatus zukommt. Dass in diesen auch der künstlerischen Art der Präsentation bestimmter Inhalte Aufmerksamkeit geschenkt wird, ist bekannt, desgleichen die Tatsache, dass damit des öfteren auch das Fiktive als Einfallstor des Unwissenschaftlichen in die Geisteswissenschaften zum Thema wurde.

2. Erfahrenes, Fiktionales, Erkanntes Reinhart Koselleck hat sich, wie nach ihm etwa auch Franz K. Stanzel,16 die Frage ge­stellt, ob und unter welchen Bedingungen es möglich ist, dass uns historische Fiktionen zu Realitäts­ erfahrungen und wissenschaftlich relevanten Einsichten verhelfen können, und ab wann die Geschichte zur Fabel und zum bloßen „Schein“ wird. Hier interessiert vor allem der Reali­ tätscharakter des Fiktiven und dessen Beziehung zur distanziert-nüchternen Fakto­graphie. Irgendwie geht es auch hier um das Verhältnis von Pascal zu Descartes. Reinhart Koselleck berichtet in einem 1997 erschienenen Aufsatz17 über eine Brief­­­ samm­lung von deutschen Soldaten aus Stalingrad,18 welche nicht heimgekehrt  sind, 14 Siehe [Blaise PASCAL:] Pascal’s Gedanken über die Religion und einige andere Gegenstände, Berlin 1840, I. Teil, 4. Abschnitt, Absatz 6. 15 Siehe ebd., II. Teil, 17. Abschnitt, Absatz 5. – Vgl. dazu bereits Kap. 5, Abschn. III. 16 Siehe Franz Karl STANZEL: Welt als Text. Grundbegriffe der Interpretation, Würzburg 2011. – Hier auch einschlägige weiterführende Literatur. 17 Reinhart KOSELLECK: Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, in: Merkur 51 (1997), S. 319 –334; wieder abgedruckt in: Ders., Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten. Hrsg. u. mit e. Nachwort v. Carsten Dutt, Frankfurt a. M. 2010, S. 9 –31. 18 Letzte Briefe aus Stalingrad, Frankfurt a. M.-Heidelberg 1950; 2. Aufl. Gütersloh 1954.

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9. RELEVANZGESICHTSPUNKTE

de­ren  Nach­richten aber mit den letzten Postsäcken nach Deutschland ­verbracht  worden sind. Reichs­­propagandaminister Goebbels hielt diese Post zurück in der Erwartung, daraus beizeiten eine Auswahl diktieren zu können, die vom Heldentum der in Stalingrad Gefalle­nen und Vermissten zeugen sollte. Diese vier oder fünf Postsäcke von Briefen, die nie ihre Adressaten erreichten, reichen in ihrer Aussage, wie Koselleck schreibt, „von der absoluten Verzweiflung über sarkastische Kommentare und ironische Bemerkungen hin zu zynischen Bonmots der dort demnächst Sterbenden und weiter über lethargische und zurückhaltende Nachrichten bis zu Zeichen der Demut oder tiefer Frömmigkeit. Verlassenheit und Hilf­losigkeit dominieren, und es finden sich nur wenige Bekenntnisse zum NS-System, dessen Durchhalteparolen die offizielle Öffentlichkeit beherrscht hatten.“19 Die Wirklichkeit der Schlacht, so zeigen uns diese Briefe, welche ein breit gestreutes Wahrnehmungsspektrum umfassen, ließ eine Sinnstiftung der Ereignisse von Stalingrad aus deutscher Sicht nicht zu. Diese Deutung deckte sich mit derjenigen der wenigen Stalingradkämpfer, die später aus den russischen Lagern kamen. „Das Ärgerliche an dieser aufregenden Quellensammlung“, so stellt Koselleck fest, „ist nur, daß sie eine Fälschung ist. Es war ein Propagandamann im Dienst von Goebbels ge­ wesen, der zwar Kenntnis von diesen letzten Briefen hatte – aber die, die er veröffentlicht hatte, sind offenbar aus seiner eigenen Feder geflossen.“20 Die geschickt gemachte Fiktion der Briefe reichte hin, um bei den Lesern, bei denen diese Briefsammlung großen Anklang fand, Zustimmung dafür zu finden, dass aus der Sicht der in Stalingrad kämpfenden deutschen Soldaten Stalingrad ein sinnloses Unternehmen war und diese „Sinnlosigkeit“ auch als solche erfahren wurde. Zunächst ist hier vor allem von Bedeutung, dass Fiktionales, Illusionäres, „Scheinbares“ eine Erlebniswirklichkeit mitunter besser spiegelt als Statistiken – einfach weil auch hier gilt, dass Begriffe ohne Anschauungen leer sind. Sodann zeigt sich aber auch, dass die Bestimmung des Verhältnisses von Schein und Wirklichkeit häufig mit der Zuordnung zum Begriffspaar Erlebnis und Erkenntnis verknüpft ist, wobei das eine Mal das Erlebte als das Wirkliche und Wesentliche für das Erfassen eines Ereignisses angesehen wird, das andere Mal jedoch die distanzierte Erkenntnis des Ereignisses in seiner Vorund Wirkungs­geschichte. Die Unterscheidung von „Schein“ (oder Erscheinung) und „Wirklich­keit“ (oder Wesen) sagt dabei mehr über unsere Bedeutsamkeits- oder Interessengesichtspunkte aus als über einen unabhängig davon bestehenden ontologischen Status des mit dem Be­griffspaar Gemeinten. Dies gilt – nicht nur, aber vor allem – für das historische Gedächtnis.21 So wäre es, um wieder auf Stalingrad zurückzukommen, vermessen, 19 Reinhart KOSELLECK: Vom Sinn und Unsinn der Geschichte (Anm. 17), S. 9 f. 20 Ebd., S. 10. 21 Statt umfangreicher Hinweise auf das boomende Genre zeitgenössischer Erinnerungs-Literatur sei hier nur ein kurzes Zitat aus Salman Rushdies Midnight’s Children als Beleg angeführt: „Memory has its own special kind.

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beispielsweise als das „Wesent­liche“ der Schlacht von Stalingrad die „subjektive“ gegenüber der „objektiven“ Seite des Geschehens ausspielen zu wollen, oder, umgekehrt, das Erleben und Leiden der in das Kampfgeschehen involvierten Soldaten als zweitrangig gegenüber der historischen Kausalität dieses Geschehens anzusehen. Das, was als „wesentlich“, als ein das Denken und Handeln wirkungsvoll Bestimmendes und in diesem Sinne als das „Wirkliche“ angesehen wird, kann sich sonach entweder auf das Erleben und Handeln der Kämpfenden oder aber auf die Strukturbeschreibungen und Wirkungszusammenhänge des Geschehens beziehen. Was als „wesentlich“ erscheint, ist eine Sache des Interessengesichtspunktes und der ihm entsprechenden Art der Darstellung. Die Feststellung des „Wirklichen“ und „Realen“ (im Sinne des Wesentlichen) – im Unterschied zum „Schein“ und zum „Scheinbaren“ (im Sinne des Unwesentlichen) – ergibt sich nicht aus dem Ereignis selbst. Die Antwort auf die Frage, was jeweils in Bezug worauf als wesentlich angesehen wird, hängt vom Fragesteller ab. Diese Feststellung gilt nicht nur für die Beziehung von Schein und Wirklichkeit, sondern auch für die von „Möglichkeit“ und „Wirklichkeit“. Jede Gegenwart ist auch eine Unsumme von Möglichkeiten und Phantasien des Kommenden. Vieles daran erweist sich im Nachhinein als bloß phantastisch, fiktional und unrealistisch – aber oft einfach deshalb, weil es nicht Wirklichkeit geworden ist. Mit jenen „Fiktionen“ muss sich jedoch der Historiker auch befassen; gerade dann, wenn er sich dessen bewusst ist, dass der Gegenstand seiner Untersuchungen, die Vergangenheit, nur ein schmales Segment bildet, dem man heute ansehen kann, was von ihr aus der Vorvergangenheit entstanden ist. Man soll daher nach Möglichkeit aus der Sicht der in der Vorvergangenheit Lebenden die Vergangenheit, und aus der Sicht derer, für die die Vergangenheit von heute Gegenwart war, unsere Gegenwart betrachten, um auf diese Weise festzustellen: was unter den damaligen Bedingungen an Phantasien des Kommenden zu verwirklichen unmöglich oder irreal war, was alles potentiell hätte werden können, und wie aus mehreren nicht irrealen Möglichkeiten dann Bestimmtes unsere Wirklichkeit geworden ist.

It selects, eliminates, alters, exaggerates, minimizes, glorifies, and vilifies also; but in the end it creates its own reality, its heterogeneous but usually coherent version of events; and no sane human being ever trusts someone else’s version more than his own.“ – Salman RUSHDIE: Midnight’s Children (Anm. 6), S. 268.

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9. RELEVANZGESICHTSPUNKTE

IV. Der Streit um den Primat von Politik oder Ökonomie – eine Wertungs- oder eine Tatsachenfrage? Ein treffliches Beispiel für normative Festlegungen, die oft als rein sachliche Feststellungen präsentiert werden, bilden bestimmte Gewichtungen im derzeit aktuellen Streit über den Primat des Ökonomischen und den der Politik in den Ländern der sogenannten westlichen Welt. Hiermit stellt sich auch die Frage nach dem Verhältnis von Schein und Wirklichkeit in der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt aufs Neue. Dabei gerät bei der Beantwortung der ­Frage nach dem für sie „wesentlichen“ Faktor häufig einiges durcheinander, wie dies bei Fragen nach der Relevanz allgemein üblich ist. Denn unklar bleibt häufig, ob diese Relevanz im Sinne der persönlichen Wertpräferenzen oder im Sinne der kausalen Bedeutsamkeit zu verstehen ist, und in welchem Maße die persönliche Präferenz die Einschätzung der Relevanz des kausalen Faktors beeinflusst. Besehen wir uns kurz die Sachlage.

1. Der Ökonomie kommt der Primat zu: contra Derzeit lassen sich in der politischen Philosophie und der Sozialphilosophie, aber auch in der sozialwissenschaftlichen und politökonomischen Analyse zwei Positionen ausmachen. Den Proponenten der einen Auffassung zufolge komme der Ökonomie eine politisch nicht gebändigte Wirkungsmacht zu. Nie zuvor sei es denkbar gewesen, Rating­agenturen, Finanz­ analysten oder irgendwelchen Spitzenbankern die Bewertung demokratischer Prozesse, ja selbst der Prinzipien unserer demokratischen Gemeinwesen zu überlassen. Daher sei eine Verankerung und die Legitimierung des Ökonomischen durch die Entschei­ dung des Volkes als des wahren Souveräns unverzichtbar. Für die Europäer sei es in diesem Zusammenhang, wie Jürgen Habermas meint, nötig zu erkennen, dass angesichts der „Systemimperative des verwilderten Finanzkapitalismus“ und der gerade „zerberstenden“ regionalen „Lebenswelten“ frei kommunizieren­der Bürger „die fehlende supranationale Handlungsfähigkeit“ der „Schamfleck“ einer europäischen „Währungsgemeinschaft ohne Politische Union“ sei.22 Die andere Fraktion in dieser Auseinandersetzung ist davon überzeugt, dass es nicht genüge, dem verwilderten Finanzkapital die Lebenswelt gegenüberzustellen. Damit indiziere man zwar, wie Ernst-Joachim Mestmäcker gegen Habermas einwendet, den Feind, trage aber weder etwas zu den überfälligen Reformen des Bankwesens in Europa und den USA bei, noch mache man sich zureichend die Verantwortung der Politik an der 22 Jürgen HABERMAS: Rettet die Würde der Demokratie, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. November 2011, S. 31.

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ökonomischen Malaise klar.23 Hier nur den Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft einzufordern wirkt ja in Anbetracht der Versäumnisse der Politik in der Tat sonderbar. Das Misstrauen gegenüber dem Primat der Politik hat vor allem auch mit der Tatsache zu tun, dass die zeitgenössische politische Elite in vielen Ländern Europas im Bestreben nach Anerkennung (und das heißt: Wiederwahl) von einer geradezu unverantwortlichen Großzügigkeit bestimmt war. So erst kam der Kapitalmarkt ins Spiel und mit ihm eine eigentümliche Symbiose von Wirtschaft und Politik. Der Ablauf der symbiotischen Interaktion von Politik und Ökonomie gestaltete sich folgendermaßen: Die Banken halfen den Politikern, die Wachstumsraten der vergangenen Jahrzehnte und – über eine großzügige Sozialpolitik – auch die Zustimmung der Wähler zu kaufen. So sind eine völlig aus dem Ruder gelaufene Politik des  deficit spending und die Exzesse an den Finanzmärkten24 nur die beiden Seiten derselben Medaille: Die Schuldenexzesse der Politik wären nicht denkbar ohne die Finanzindustrie, und die Politiker arbeiten – ungeachtet der öffentlichen Einforderung des „Primats der Politik“ – ins­geheim bestens mit den Finanzindustriellen zusammen, ja sie stellen sich sogar schützend vor diese.25 Und so retten die Politiker die Banken mit jenem Geld, das sie sich zuvor bei ihnen geliehen haben. Das aber entspricht nicht der von linken Sozialphilosophen so gerne kritisierten „Marktwirtschaft“, vielmehr ist dies der blanke Verrat an deren Prinzipien. Der Markt ist nicht entfesselt, sondern er wird durch eine eigentümliche Allianz von Poli23 Ernst-Joachim MESTMÄCKER: Der Schamfleck ist die Geldverachtung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. November 2011, S. 33. – Nicht ausgeschlossen werden sollte aber beispielsweise – als Alternative zur parlamentarisch eingeführten Schuldenbremse – eine alle Eurostaaten umfassende Volksabstimmung zur Einführung einer klar definierten Schuldenbremse im Euro-Raum. So würde wohl die demokratische Legitimität und die Wahrscheinlichkeit der mit dieser Bremse verbundenen Unterlassungen erhöht. 24 Die Finanzwirtschaft generiert derzeit mitunter höchst groteske Dinge. So fürchten sich Aktionäre der deutschen Commerzbank zwar vor einem Absturz auf Pennystock-Niveau, Kunden der Bank können jedoch mit zwei neuen Zertifikaten dagegen Gewinne machen, wenn dieser Ernstfall eintritt. Im Handelsblatt online vom 25. November 2011 ist in diesem Zusammenhang zu lesen: „Die Commerzbank lädt zur Spekulation auf ihren eigenen Untergang ein. Im riesigen Zertifikate-Sortiment der zweitgrößten deutschen Bank finden sich seit gestern zwei Papiere, mit denen Anleger Gewinne machen, wenn die Commerzbank-Aktie auf Pennystock-Niveau, also unter einen Euro, gefallen ist. Je tiefer das Papier stürzt, desto mehr können CrashPropheten verdienen. Prozentual gewinnen sie sogar deutlich mehr, als die Aktionäre im Gegenzug verlieren. Dafür sorgt die Hebelwirkung der Optionsscheine mit den Kennnummern CK5NBM und CK5NBS.“ – Siehe http://www.handelsblatt.com/finanzen/zertifikate/nachrichten/optionsscheine-commerzbank-bietetwette-auf-den-eigenen-untergang/5885692.html 25 Der Streit darüber, wem die höhere Wirkmächtigkeit zukomme: der Ökonomie oder der Politik, erinnert so an die Auseinandersetzungen darüber, was das „Wesentliche“ am Menschen sei: das genetische Erbe oder die soziale Umwelt. Die zeitgenössische Biologie erachtet diese Frage in dieser allgemein gehaltenen Formulierung, nicht zuletzt im Lichte der jüngeren Forschungen zur Epigenetik, als eine Scheinalternative. – Zur Erbe-Umwelt-Thematik siehe als kurze Übersicht Edward O. WILSON: Die Einheit des Wissens. Aus dem Amerikanischen von Yvonne BADAL, Berlin 1998 [Taschenbuchausgabe München 2000], Kap. 7.

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tik und Finanzindustrie eingeschränkt. „Die öffentliche Aufarbeitung dieser unheilvollen Allianz von Bankern und Politikern, von Schuldenmachern und Kreditverkäufern, wäre“, wie Gabor Steingart vermutet, „eine Debatte, die sich lohnte.“26 Die Ökonomisierung des Politischen ist in der EU auch in einer anderen Hinsicht eine Konsequenz der Politik: nämlich in Bezug auf die unterbliebene politische Einigung Euro­pas. Hätten sich nämlich, so meint der Ökonom Bertram Schefold, die Engländer dem Euro-Raum angeschlossen, so wäre „Euroland“ mit der Europäischen Union im Wesent­ lichen identisch gewesen: Schweden, Dänemark und einige noch fehlende Länder wären dem Vorbild Englands bald gefolgt.27 „Gäbe es […] eine Identität von Euroland und EU, würde die jahrzehntelange Bemühung, die europäischen Institutionen in Brüssel zur Staatlich­keit auszubauen, in einen selbsttragenden Prozess der Staatenbildung übergehen. […] Dadurch legitimiert hätte die Kommission in Brüssel, umgebildet zu einer Regierung, auch die Macht, jene fiskalischen Entscheidungen durchzusetzen, ohne die es so schwer ist, die europäische Wirtschaft zu ordnen, ob es nun um die Banken geht, die Rechte und Pflichten der Mitgliedstaaten bei der Verwaltung ihrer Haushalte oder die Lohn- und Arbeitsmarktpolitik.“28 Wäre also, so lässt sich daraus folgern, die Politik in Europa auf andere Weise tätig geworden, hätte sie wohl den Primat behalten und wäre nicht in jene Abhängigkeit von ökonomischen Folgen des eigenen Handelns geraten. Aber vielleicht antizipierte die politische Klasse des historisch versierten Vereinigten Königreichs schlicht die Ineffektivität und Ineffizienz der für die Außen- und die Verteidigungspolitik sowie für die Immigration nach Europa zuständigen Entscheidungsträger der EU ? Wie auch immer es sich im einzelnen dabei verhält – von einem Primat des Ökonomischen zu sprechen erscheint voreilig.

2. Der Ökonomie kommt der Primat zu: pro und contra „Das Leben“, so fand Alexander Herzen im 19. Jahrhundert, „ist nichts anderes als ein Börsenspiel geworden, alles hat sich in Wechselbuden und Märkte verwandelt: die Redaktionen der Zeitungen, die Wahlversammlungen, die Parlamente.“29 Gelegentlich möchte man meinen, er hätte dies erst vor kurzem gesagt, und man ist nicht selten geneigt, ihm recht 26 Gabor STEINGART: Der Angriff auf die Marktwirtschaft, in: Handelsblatt online, 17. 12. 2011: http:// www.handelsblatt.com/politik/international/angriff-auf-die-marktwirtschaft/5808584.html 27 Schefold spricht bewusst nicht von Großbritannien – vor allem wegen der andersartigen Einstellung der Schotten zur politischen Einigung Europas. – Bertram SCHEFOLD: Die Engländer sind schuld, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. November 2011, S. 12. 28 Ebd. 29 Alexander HERZEN: Memoiren und Reflexionen, Bd. 2, Fünfter Teil. Westliche Arabesken, Berlin (DDR) 1963, S. 158.

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zu geben. Was den Streit um den Primat des Ökonomischen oder des Politischen im Leben der Gesellschaften anlangt, so wurde dieser vor allem durch das Schrifttum von Karl Marx inauguriert. Dessen Überlegungen sind in gewissem Maße auch heute noch fruchtbar. Marx zeigte nämlich in einer Reihe von Einzelanalysen die Praktiken und die Folgen eines allzu freizügigen Kapitalismus auf, wobei er den negativen Aspekt der Politik hervorhob, nämlich ihre Instrumentalisierung durch die herrschende Klasse für deren eigene ökonomische Interessen. Problematisch wurde die Sache allerdings durch die Gene­ralisierung dieser Sicht und deren Stützung durch die Basis-Überbau-Lehre. Mit ihr und durch sie wich die Fähigkeit zur konkreten ökonomischen Analyse, die Marx verschiedent­lich auszeichnete, einer metaphysischen Spekulation. In ihr brechen sich besonders stark Hegelsche Einflüsse Bahn, vor allem die alte Unterscheidung von Erscheinung und Wirk­lich­keit bzw. von Zufälligem und Wesentlichem. Dies hat zur Folge, dass es Marx für nötig erachtete, alle Institutionen und die ihnen korrespondierenden Ideen in Klassengesellschaften dadurch zu „erklären“, dass er sie auf den sogenannten Grundwiderspruch in den sozio­ökonomischen Bedingungen zurückführte. Da er diesen Nachweis aber immer nur von Fall zu Fall erbrachte, blieb die Behauptung einer generellen Determiniertheit der Politik durch die Ökonomie letztlich eher ein Postulat als eine Hypothese. Eine Theorie der Politik – was sowohl deren Ideen und Institutionen als auch die Möglichkeiten politischen Handelns betrifft – wurde so von Marx nie erarbeitet, sondern unter den Darstellungen der moralischen Übel des Politischen begraben. Jegliche Politik unter den Bedingungen von Klassengesellschaften wurde nur als eine Widerspiegelung der ungerechten sozioökonomischen Verhältnisse verstanden; erst später einmal, nach der Abschaffung des bürgerlichen Staates, würde sie, wie schon bei Saint Simon, einer bloßen Verwaltung von Sachen Platz machen. Dennoch erschien die Marxsche Behauptung einer Determiniertheit der Politik durch die Ökonomie kaum je so plausibel wie zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die Wirtschaft sei es, so finden verschiedentlich auch Nichtmarxisten, die den Takt des sozialen Lebens bestimmt, aber vor allem auch das Handeln der Politiker. Unter Beweis gestellt werde dies durch den Umstand, dass die Finanzkrise in den beiden ersten Dekaden jenes Jahrhunderts zu Staatskrisen geführt habe. Eine nähere, wenn auch nur kursorische Betrachtung liefert allerdings ein differenzierteres Bild. Der Ökonomie – oder genauer: der Finanzindustrie – kommt zwar zu bestimmten Zeiten der Primat gegenüber der Politik zu, aber keineswegs immer. Denn oft verhält es sich gerade umgekehrt. Zu Beginn der jüngsten Finanzkrise schien es zunächst, als würde der Staat von der Finanzindustrie vor sich hergetrieben werden: Die Politik hat seit 2008 mit den Milliarden nur so um sich geworfen, um einer Krise des Finanzsystems Herr zu werden. Dies geschah, als sich die Banken mit riesigen Abschreibungsverlusten auf die immobilienbesicherten Wertpapiere amerikanischer Herkunft konfrontiert sahen. Nachdem Lehman Brothers im September 2008 Konkurs angemeldet hatte und die schleichende Krise des internationalen

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Bankensystems offenkundig geworden war und zudem bereits Dutzende Banken weltweit durch Konkurse und Übernahmen liquidiert oder verstaatlicht worden waren, kam man im Oktober jenes Jahres überein, keine systemrelevante Bank mehr pleite gehen zu lassen. Die Politik schien also in ihren Aktionen völlig von den Banken abhängig zu sein. Jahre da­nach, nämlich im August 2015, schien es wiederum, als würde nun die Finanzindustrie gegenüber den politischen Institutionen in der Defensive sein: Für die Finanzskandale der vergangenen Jahre haben Banken in den Vereinigten Staaten und in West­europa rund 260 Milliarden Dollar an Strafen und anderen Rechtskosten gezahlt, wobei man zu jenem Zeitpunkt damit rechnete, dass weitere 65 Milliarden dazu kommen.30 Darzulegen, was in der Finanzkrise zu Beginn des 21. Jahrhunderts, der gravierendsten seit 1929, geschah und wie sie zustande kam, ist hier nicht der Ort; eine sehr beeindrucken­ de Analyse dieses Ereignisses hat Hans-Werner Sinn mit seinem Buch Kasino-Kapitalismus geleistet, worauf auch die folgenden Ausführungen wiederholt Bezug nehmen.31 Hier soll lediglich im Blick auf den Streit um den Primat von Politik oder Wirtschaft im Leben der Gesellschaften gezeigt werden, dass es – längerfristig betrachtet und ungeachtet der Tatsache nachweislich schuldhaften Verhaltens von nicht wenigen sogenannten Finanz­ dienstleistern – strukturelle Fehler im Bankensystem selber waren, die die Krise bewirkten, und dass für deren Entstehung und bislang unzureichende Behebung die Politik hauptverantwortlich ist.32 Nicht lag, wie gerne vermutet wird, die Ursache der Finanzkrise in der Korrumpierung der politischen Klasse, sondern das eine Mal in einer mit Inkompetenz gepaarten Sozialpolitik, das andere Mal im nationalen Egoismus der politischen Elite einiger Staaten, die sich gegen ihrer Ansicht nach allzu weitreichende Regulationen des Banken­ sektors verwahrte und noch verwahrt. Ein sozialpolitisch-moralisches Motiv lag insbesondere der Novelle eines US-amerikanischen Gesetzes zugrunde, das darauf abzielte, auch Hausbesitzer aus finanzschwachen Bevölkerungskreisen mit Krediten zu bedienen. Wenn dabei das Volumen des sehr großzügig den Hausbesitzern gewährten Kredits den Hauswert überstieg, war es möglich, einfach die Schlüssel seines Hauses bei der Bank abzugeben und schriftlich den Verzicht auf sein Eigentum und die Nichtbedienung des Kredits zu erklären. Diese Gesetzes­novellierung kam auf Betreiben des US-Präsidenten Bill Clinton zustande und trat 1995 in Kraft. Durch sie wurden Banken unter Druck gesetzt, auch an Kunden mit geringer Bonität Kredite zu 30 So zu lesen in einem Bericht mit dem Titel: „Banken zahlen 260 Milliarden. Trotzdem sind noch nicht alle Skandale abgegolten“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. August 2015, S. 25. 31 Hans-Werner SINN: Kasino-Kapitalismus. Wie es zur Finanzkrise kam, und was jetzt zu tun ist, 3. Aufl., Berlin 2012. 32 „Wenn innerhalb eines Jahres“, so bemerkt in diesem Zusammenhang Hans-Werner Sinn, „über hundert Banken untergehen oder teilverstaatlicht werden und 60 % der großen amerikanischen Investmentbanken verschwinden, weil sie offenbar nicht mehr in der Lage waren, die eingegangenen Risiken zu schultern, muss etwas grundlegend falsch gelaufen sein.“ – Ebd., S. 108.

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geben und sie ermöglichte es, sogar Banken auf Diskriminierung zu verklagen und gegen sie gerichtlich vorzugehen, wenn sie sich weigerten, dies zu tun. Hier erwies sich die Politik als treibende Kraft. Doch in der Folge wendete sich das Blatt, und die Banken wurden die maßgeben­den Agenturen des gesellschaftlichen Geschehens. Zunächst einmal ging ein hurtiges Spiel zwischen den Banken und bestimmten ihrer Kunden los: „Die Kunden kauften überteuerte Häuser, und die Banken scherten sich nicht drum. Die Banken waren hemmungslos auf Neugeschäft aus und nahmen auch die dubiosesten Kunden auf, weil sie ja wussten, dass sie die Ansprüche anschließend verkaufen und ihre Bilanzen damit wieder von den übernommenen Risiken säubern konnten.“33 Die Kreditnehmer waren häufig nicht in der Lage, ihre erste Rate zu bezahlen. So wurde ein vom Prime-Markt unterschiedenes Marktsegment für problematische Kredite geschaffen, der Subprime-Markt, also der Markt für zweitklassige Kredite. Vom Subprime-Markt übertrug sich die Krise auf den gesamten Immobilienmarkt. Als immer deutlichere Warnungen vor einem Platzen der Hauspreisblase hörbar wurden, wuchs auch die Furcht, dass normale Hypothekenschuldner ihre Kredite nicht zurückzahlen würden. Die Hypothekenbanken suchten die Lösung in der Verbriefung der Kreditansprüche. „Statt die Kreditansprüche gegen die Häuslebauer selbst zu halten und geduldig auf die unsichere Rückzahlung zu warten, teilten die Banken ihre Schuldner in verschiedene Bonitätskategorien ein und verkauften die Kreditansprüche an andere Banken oder Finanzinvestoren am Kapitalmarkt.“34 Dabei wurden Subprime­Risi­ken fast vollständig verbrieft und verkauft, wobei es zur Bündelung guter und schlechter Darlehensansprüche und zur Bündelung von höchst komplexen Papieren verschiedener Güteklassen kam. Die Endprodukte, die als sogenannte Derivate bei diesem Prozess entstanden, waren selbst für viele Investmentbanker unverständlich.35 Die staatlich anerkannten Rating-Agenturen in den USA hätten allerdings ohne Zweifel aufklärend wirken können, stattdessen wurden gerade durch sie zahlreiche Fehlbewertungen vorgenommen.36 33 Ebd., S. 166. 34 Ebd., S. 162. 35 In diesem Zusammenhang spielte auch eine bestimmte Variante von sogenannten credit default swaps (CDS), also Kreditbürgschaften, eine große Rolle. „Geradezu pervers ist die Möglichkeit, sich mittels eines CDS gegen den Konkurs einer anderen Firma zu versichern. Der Käufer des CDS-Kontrakts zahlt eine laufende Prämie an den ,Sicherungsgeber‘, und der bezahlt ihm die Versicherungs- oder Garantiesumme, wenn diese andere Firma in Konkurs geht. Man kann sich leicht ausmalen, was das bedeutet, wenn der Käufer über wirtschaftliche Möglich­ keiten verfügt, die Konkurswahrscheinlichkeit durch seine eigenen Aktionen zu beeinflussen.“ – Ebd., S. 260. 36 Dazu führt Hans-Werner Sinn aus: „Um die Ursache zu erahnen, muss man sich klarmachen, dass die RatingAgenturen selbst private Großunternehmen, ja börsennotierte Aktiengesellschaften sind, die […] von den bewerteten Unternehmen bezahlt werden. Da sie für die Arbeitszeiten der Mitarbeiter, die sie zu den Firmen schicken, um die Bewertungs- und Beratungsleistungen vorzunehmen, fürstliche Honorare einstreichen, während sie selbst nur recht bescheidene Gehälter zahlen, machen sie erhebliche Gewinne.“ – Ebd., S.  181; vgl. dazu auch die Ausführungen ebd., S. 177–180.

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In dem hier geschilderten Geschehen erwies sich also die Finanzwirtschaft als die Kraft, die die Politik vor sich hertrieb, welche dann eben, nachdem der Markt der dubiosen Wert­ papiere kollabiert war, mit Hilfen und Bürgschaften für die Banken einsprang, um der Krise des Finanzsystems Herr zu werden. Wer allerdings bei dem Versuch einer Beantwortung der Frage, welcher Bereich des gesellschaftlichen Lebens für dessen Entwicklung der „wesentliche“ sei, ohne nähere Spezifizierung der (Finanz-)Wirtschaft diese Rolle zuweist (und dann dieses Urteil nicht selten mit einem moralischen Caveat versieht), neigt in der Regel dazu, zweierlei zu übersehen: dass die Banken auch von ihren Aktionären abhängig sind, und dass für die Ermöglichung einer Reihe ihrer Verfehlungen die Politik die Verantwortung trägt. Was die häufig übersehene Rolle der Aktionäre betrifft, so sei darauf hingewiesen, dass die Unterkapitali­ sierung die Investmentbanken krisenanfällig gemacht hat, da sie in kritischen Zeiten zu wenig Eigenkapital zur Verfügung hatten, um Verluste abfedern zu können. Der Grund für die niedrigen Eigenkapitalquoten lag aber nicht zuletzt im Bestreben der Aktionäre, soviel an Dividenden wie möglich ausgeschüttet zu bekommen und dabei so wenig Kapital wie möglich in der Bank zu lassen, da dieses in turbulenten Zeiten ja verloren gehen könnte. Es sind auch die Aktionäre, welche durch den Aufsichtsrat die Entlohnungssysteme für die Manager so gestalten lassen, dass ein Anreiz entsteht, diese auf hohe Renditeziele zu verpflich­ten und gegebenenfalls die dazu nötigen riskanten Geschäftsmodelle zu verwirklichen. Was andererseits die Verantwortung der Politik in der Finanzkrise angeht, so stellt sich die Frage, warum die Regulierungsbehörden versagt haben. Gewiss standen die jeweiligen Organe der nationalen Bankenaufsicht, insbesondere was die Zulassung von Finanz­ produkten dubioser Art anlangt, insofern unter Druck, als staatliche Aufsichtsbehörden miteinander im Standortwettbewerb standen und dazu neigten, die eigenen Banken groß­ zügiger zu regulieren als dies in den Nachbarstaaten geschieht, um den eigenen Finanzplatz zu stärken. „Der Wettbewerb der Staaten oder Regulierungsbehörden degeneriert zu einem Laschheitswettbewerb.“37 Die den Banken gewährte Erlaubnis, ihr Geschäft mit nur wenig Eigenkapitalunterlegung zu betreiben, war und ist einer der gravierends­ten Nachteile des Wettbewerbs im Falle der Bankenregulierung. Da im Finanzsektor Vermögensbesitzer ihr Kapital über die Länder hinweg zu diversifizieren trachteten, um die Risiken klein zu halten, wurden die von einer Bank ausgegebenen Schuldverschreibungen, mit Hilfe de­rer sie sich finanziert hatte, von ihr auf dem internationalen Kapitalmarkt gehandelt und verteilten sich

37 Ebd., S. 216. – Und Sinn weiter: „Deshalb hat die nationale Regulierungsbehörde in der Tat nicht allzu viel davon, wenn sie Strenge obwalten lässt. Strengere Regeln würden nur dazu führen, dass zu Hause Jobs, Gewinne und Steuereinnahmen wegfielen, während die Vorteile aus der Verminderung der externen Lasten irgendwo in der Ferne von den Bürgern fremder Staaten genossen werden.“ (Ebd., S. 218 f.)

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über die ganze Welt.38 Und so verteilten sich vor allem auch die nicht bedien­ten Kredit­ ansprüche und Folgeschäden weltweit, und dies aufgrund einer Systemkrise, und nicht sosehr wegen individueller moralischer Verfehlungen von Finanz­dienstleistern. Der Kern des Übels liegt für Hans-Werner Sinn „in der Möglichkeit der Bankeigentümer, sich durch die Minimierung ihrer Eigenkapitalbestände des Haftungs­risikos weitgehend zu entledigen. Eine Reform der Bankenaufsicht muss deshalb bei den Eigenkapitalregeln ansetzen […].“39 Die Fehlentwicklungen der Finanzindustrie seien Systemfehler, die allesamt in den gesetz­ lich-regulatorischen Bereich zu liegen kommen. Sie ließen sich nur durch eine Verände­ rung der institutionellen Rahmenbedingungen des Wirtschaftens, nicht jedoch allein durch moralische Appelle bewältigen. Das besage keines­wegs, diejenigen, welche die Gesetze übertreten haben, nicht zur Rechenschaft zu ziehen – aber die Defekte des Bankensystems werde man nicht durch die Ahndung individueller Schuld in den Griff bekommen. Daher bedarf es, wie Sinn ausführt, eines Systems von Spielregeln, die auf nationaler Ebene durch einen starken Staat definiert werden, der auch ihre Einhaltung überwacht und deren Verletzung sanktioniert: „Marktwirtschaft ist schließlich keine Anarchie, wo jeder tun und lassen kann, was er will.“40 Den Vertretern der ordoliberalen Orientierung des ursprünglichen Neoliberalismus, welcher nicht mit der heute unter diesem Namen firmierenden und sich mehr und mehr Manchester-liberalen Vorstellungen nähernden Orientierung identifiziert werden darf, erschien es als unabdingbar, sich für einen Ordnungsrahmen stark zu machen, innerhalb dessen der Wirtschaftsprozess abläuft. Dieser Rahmen wird aber nicht von der Wirtschaft selber geschaffen. Ein solcher Ordnungsrahmen, wie er von den Ordoliberalen für die nationalen Volkswirtschaften konzipiert wurde, wäre im Sinne länderübergrei­fender Vereinbarungen nötig, um die Defizite im Wettbewerb der Staaten zu überwinden, auf die soeben kurz hingewiesen wurde. Die bisher in dieser Richtung unternommenen politischen Bemühungen sind unzureichend, da man bei den Verhandlungen jeweils darauf geachtet hat, dass die Regulierung derjenigen Geschäftsfelder der nationalen Banken, auf denen man selbst stark war, nicht zu streng ausfiel. „So kam in der Summe nur eine recht lasche Gesamtregulierung zustande. Im Übrigen beteiligten sich die USA sowie weite Teile der restlichen Welt nur wenig oder gar nicht an den Vereinbarungen, was für die Signatarstaaten im Umkehrschluss den Anreiz erzeugte, nicht allzu streng mit sich selbst zu sein.“41 Dass der Wettbewerb der Regulierungsbehörden im Ergebnis versagt hat, ist eine Folge des Umstandes, dass es für die Interaktion der Staaten keine übergeordnete politische Instanz gibt, die einen geeigneten Ordnungs­ 38 Daher ist auch die Maximierung des Aktienwertes einer Bank wegen der massiven Externalitäten des Bankgeschäfts nicht mit der Maximierung des Beitrags dieser Bank zur sozialen Wohlfahrt gleichzusetzen. 39 Ebd., S. 128. 40 Ebd., S. 221. 41 Ebd., S. 220.

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rahmen definieren und seine Einhaltung überwachen würde. Derzeit ist noch nicht einmal klar, ob sich dafür in absehbarer Zeit entsprechende Spielregeln formulieren lassen. Fassen wir also die Ausführungen zur Frage danach, ob der Wirtschaft oder der Politik der Primat in einer Gesellschaft zukomme, ob also die Wirtschaft deren „Wesen“ ausmache, während die Politik nur den epiphänomenalen Charakter einer „Erscheinung“ habe, oder ob es sich umgekehrt verhält, zusammen: Die Fehlentwicklungen der Finanzindustrie sind Systemfehler, die im gesetzlich-regulatorischen Bereich der Politik anzusiedeln sind. Auch trägt nicht die (Finanz-)Wirtschaft die Hauptverantwortung für das Nichtzustandekommen eines international verbindlichen Ordnungsrahmens für die Interaktion der Staaten im Finanzbereich, sondern die Politik, zumal im Falle einiger Staaten auch nationale wirtschaftliche Interessen von der politischen Klasse für deren Machterhaltung instrumentalisiert werden. So besteht also nach wie vor eine zumindest weitgehende Gestaltungsmöglichkeit auf Seiten der Politik, und diese ist es, die hier säumig ist. Oft ist die Säumigkeit der Politik in den zeitgenössischen Demokratien nichts anderes als eine Art zögerlicher Kalkulation. Die politische Klasse bewegt sich dann nach den Grundsätzen eines demoskopisch fundierten Opportunismus. Diesem zufolge wird nur gewollt, was demokratiekompatibel, weil „zumutbar“ ist, weswegen Politiker eingehend erwägen, was gemocht wird, ehe sie etwas zu wollen versuchen. Politik weicht damit einem Optimierungsverfahren, bei welchem sich „der Nutzen“, wie Alexander Demandt einmal sagte, „aus der Zahl der Zustimmenden und dem Grad ihrer Zustimmung ergibt, während die Kosten sich nach der Zahl der Geschädigten und dem Grade der Schädigung bemessen. Den ,Grad‘ bestimmt das Echo in den Massenmedien.“42

Schlussbemerkung Was ganz allgemein den Streit um das „Wesentliche“ und „Unwesentliche“ in der Philo­ sophie und in den Kulturwissenschaften betrifft: über Sein und Schein, Wirklichkeit und Erscheinung, und wie die entsprechenden Begriffspaare auch immer lauten mögen, so verbirgt sich dahinter auch oft eine Tendenz zu monokausalen Erklärungen. Anwälte eines solchen Denkens sind in der Regel von der Überzeugung geleitet, dass jemand, der unter bestimmten Bedingungen von der Wichtigkeit eines bestimmten Faktors spricht, damit schon die Wichtigkeit anderer Faktoren verwirft. So verwandelten sich ja auch häufig die Diskussionen zwischen den Nativisten und den Anhängern der Milieu-Theorie in einen Streit über die Frage: „Was ist das Wesentliche am Menschen, was ,konstituiert‘ ihn in seiner anthropologischen Bestimmung – die Vererbung oder das Milieu?“, statt dass danach gefragt wurde, was in einer bestimmten Situation oder im Hinblick auf diese oder 42 Alexander DEMANDT: Endzeit? Die Zukunft der Geschichte, Berlin 1993, S. 179.

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jene Umstände für eine Beschreibung von Menschen wichtiger oder für die Erklärung ihres Verhaltens kausal bedeutsamer ist. Die dann in Kontroversen über das Verhalten einzelner Menschen und Menschengruppen auftretenden monistischen Erklärungen, in denen von der „wesent­lichen“, der „wirklichen“, der „wahren“, der „eigentlichen“ oder einfach von „der“ Ursache gesprochen wird, stellen logische Verkürzungen dar und entbehren des kognitiven Gehalts, wenn sie so uneingeschränkt formuliert werden. So sind beispielsweise die in der Diskussion über die Beziehung von Milieu und biologischem Erbe gestellten Fragen „Was ist wichtiger?“, „Was ist kausal bedeutsamer?“ und „Was ist das wirklich Rele­vante?“ unterbestimmt. Diese Unterbestimmt­heit ist charakteristisch für die allermeisten Fragen nach dem „Wesen“, dem „Eigentlichen“ oder dem wahrhaft „Wirklichen“. Aus demselben Grund ist beispielsweise auch die Aussage, wonach die wirkliche Ursache des Todes eines Kranken eine Überdosis eines Medikaments gewesen sei, nicht mehr wert als der Satz, die wirkliche Ursache seines Todes sei der Zustand seines Herzens in dem Augenblick gewesen, als er die Arznei einnahm. Aber jene Aussage ist deshalb noch nicht „sinnlos“, da mit ihr ein praktischer Sinn verbunden werden kann. Zwar ist es sehr wahrscheinlich, dass gewisse organische Funktionen notwendige Bedingungen dafür waren, dass bei der Einnahme des Medikaments der Tod eintrat. Und doch kann die Behauptung, wonach die wirkliche Ursache für den Tod des Kranken ein überdosiertes Medikament gewe­sen sei, in praxeologischer Hinsicht wertvoll sein: sie kann Ärzte oder Pfleger dazu veranlassen, größere Vorsicht bei der Dosierung von Medikamenten walten zu lassen. „Aussagen über die ,eigentliche Ursache‘ oder über die ,in letzter Instanz entscheidenden Faktoren‘ bekommen erst dann einen Sinn, wenn wir erläutern, daß wir die ,Eigentlichkeit‘ der Ursache und die ,letzte Instanz‘ im Hinblick auf praktische Direktiven beurteilen; daß es hier um die Wirksamkeit der Mittel geht, mit denen wir im Rahmen der Möglichkeiten, über die wir unter konkreten Bedingungen verfügen, etwas bewirken oder verhindern können; dass wir unter der Ursache tout court eine solche Ursache verstehen, die uns im Rahmen der Möglichkeit wirkungsvollen Handelns besonders interessieren muß.“43 So kommt ­­ hinter vielen vermeintlich rein theoretischen Fragen nach dem Wesen und der Relevanz ein praktisches Er­kenntnisinteresse im Sinne des Verfügungs- oder auch des Herrschaftswissens zu liegen.

43 Stanisław OSSOWSKI: Die Besonderheiten der Sozialwissenschaften (Aus dem Polnischen übersetzt von Friedrich Griese), Frankfurt a. M. 1973, S. 114.

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10. GESCHICHTSTHEORIE Vorbemerkung Es ist die vorrangige Aufgabe des Historikers, im Lichte der Quellen die Handlungen (und Unterlassungen) historischer Akteure und das Milieu sowie die Institutionen darzustellen, in denen sich jene Handlungen vollzogen, und zu zeigen, welche Wirkungen sie zeitigten. Zudem wird er auch die mit ihnen verbundenen Gedanken und Annahmen zu identifizieren suchen sowie die Bedingungen oder Umstände, unter denen sie entstanden, um so den Akteur und sein Tun zu verstehen und zu erklären. Dabei ist es nötig, die Dinge nach Art des Akteurs oder mehrerer Akteure sehen zu lernen, und das heißt: sich deren Begriffe, die von ihnen getroffenen Unterscheidungen, ihre Ziele oder Absichten, sowie die von ihnen geltend gemachten Handlungsgründe oder Motive zu vergegenwärtigen. Um der Gefahr anachronistischer oder ethnozentrischer Projektionen zu entgehen, ist es nötig, mit unterschiedlichen Denkstilen vertraut zu sein. Denkstile beziehen sich auf ein Gefüge von Überzeugungen und für sie maßgeblichen Standards kognitiver, ethischer oder ästhetischer Art, welche es beispielsweise gestatten, eine Aussage als wahr, eine Handlung als moralisch gut oder ein Kunstwerk als schön zu beurteilen. Durch ihre Vertrautheit mit unterschiedlichen Denkstilen oder Weltanschauungen können Historiker mitunter die unbeabsichtigten Verfestigungen des jeweils gegenwärtigen Wissens sowie der Methoden, die zu ihm führten, aufklären und so gegenüber der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt eine Art „Möglichkeitsbewusstsein“ entwickeln. Aus der Vielfalt historisch realisierter Möglichkeiten wählt der Historiker oder die Historikerin bedeutsam Erscheinendes aus. Bedeutung hat hier entweder in der subjektiven Werthaltung der Forscher ihren Grund oder in den objektiven Wirkungen ­irgendwelcher Vorkommnisse auf bestimmte Zustände oder Ereignisse. Die Sprache der Historiker ist in dieser Hinsicht nicht immer hinreichend klar, und so kommt es dann des öfteren zur Konfundierung der beiden Arten von Bedeutung. Es verwundert nicht, dass Fragen der Geschichtstheorie von früh an eng mit Fragen der Sprachtheorie verbunden waren, ist doch die Sprache das Medium des Historikers, in welchem und durch welches er die Rekonstruktion eines Teils der vergangenen Welt gestaltet. Die Vertreter der analytischen Geschichts­ philosophie teilten diese sprachphilosophische Orientierung mit mehreren Vertretern der historistischen Geschichtstheorie des 19. Jahrhunderts. Allerdings suchten sie den episte-

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mologischen Relativismus, wie er durch einige Vertreter des Historismus auf den Weg gebracht wurde, durch eine logische Analyse der Sprache des Historikers zu beseitigen. Nicht selten landeten sie dabei in einem unhistorischen Theoretizismus und einer Art Neoscholastik. Auf Kritik trafen sie häufig im eigenen Lager. Im übrigen ist vieles von der Dynamik der analytischen Philosophie der Bereitschaft nicht weniger ihrer Vertreter zur Selbstkritik zuzuschreiben.

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Die analytische Geschichtsphilosophie und ihr Nutzen „Die Geisteswissenschaften müssen von den allgemeinsten Begriffen der gene­ rellen Methodenlehre aus durch das Probieren an ihren besonderen Objekten zu bestimm­teren Verfahrensweisen und Prinzipien innerhalb ihres Gebietes gelangen, wie es die Naturwissenschaften eben auch getan haben. Nicht dadurch erweisen wir uns als echte Schüler der großen naturwissenschaftlichen Denker, daß wir die von ihnen erfundenen Methoden auf unser Gebiet übertragen, son­ dern dadurch, daß unser Erkennen sich der Natur unserer Objekte anschmiegt und wir uns so zu diesem ganz so verhalten, wie sie zu dem ihrigen. Natura parendo vincitur.“ Wilhelm Dilthey, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie [1894], in: Gesammelte Schriften, Bd. V, 8. Aufl., Stuttgart - Göttingen 1990

Einleitung Wollte man der thematischen und geographischen Vielfalt der mit der Bezeichnung „analytische Geschichtsphilosophie“ verbundenen Positionen gebührend Rechnung tragen, müssten die folgenden Ausführungen heillos zerfließen. Daher wird nur versucht, in ihnen eine Übersicht über die zentralen Themen der einschlägigen Erörterungen zu geben, und dies zudem nur im Blick auf den englischen und den deutschen Sprachraum. Der deutsche Althistoriker Christian Meier fand einmal, dass man nur allzu oft den Eindruck gewinne, „die historische Praxis wäre heute kaum anders, wenn es die Theorie, und die historische Theorie wäre kaum anders, wenn es die heutige historische Praxis nicht gäbe“;1 und er fügt hinzu, dass „die historische Theorie so notwendig wie problematisch“ sei, folglich zwinge „sich die Wendung zur Theorie so auf wie die Abwendung von der Theorie sich nahe legt“.2 Das Verhältnis des Historikers zur Theorie ähnelt damit demjenigen des Trinkers zum Alkohol, wenn man den Trinker so definiert, wie dies der Wiener Psychiater Hans Hoff einmal tat: „Ein Alkoholiker ist ein Mensch, der ein Glas weder voll noch leer vor sich stehen haben kann.“3

1 Christian MEIER: Der Alltag des Historikers und die historische Theorie, in: Seminar: Geschichte und ­Theorie. Umrisse einer Historik. Hrsg. von Hans Michael Baumgartner und Jörn Rüsen, Frankfurt a. M. 1976, S. 36 –58, hier S. 36. 2 Ebd., S. 37. 3 Zitiert nach Walther BIRKMAYER, Gottfried HEINDL: Der liebe Gott ist Internist oder Der Arzt in der Anekdote, Wien-Berlin 1978, S. 161.

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Unter Historikern hat also die Geschichtstheorie nicht immer eine gute Presse. Ein Grund­dafür liegt in der Begriffsmolluske „Theorie“, worunter man sich sehr Verschieden­ arti­ges vorstellen kann: erstens Theorien der Geschichte, die sich – z. B. nach Art der Ent­wick­ lungs­gesetze von Marx oder Comte sowie der Geschichtsmorphologie Spenglers – auf den geschichtlichen Prozess als Ganzes, also das früher mit dem Begriff res gestae Gemeinte, beziehen; zweitens Theorien in der Geschichte, die sich auf bestimmte historische Handlun­gen, Zustände und Ereignisse beziehen und zum Teil aus anderen Disziplinen, beispielsweise der Psychologie oder Ökonomik, entlehnt werden, aus denen sich aber kein Entwicklungsgesetz der erwähnten Art konstruieren lässt. Es ist die Geschichtswissenschaft, die sich im Unterschied zur rein darstellenden Historiographie auch auf Theorien beruft, die von jenen Dis­ ziplinen für die Erklärung der historischen Ereignisse als bedeutsam angesehen werden. Die Theorien der ersten Art werden im allgemeinen Thema der spekulativen Geschichts­ philosophie, die der zweiten Art – gleich wie die gesamte Arbeit des Historikers an der histo­ ria rerum gestarum – Thema der allgemeinen Geschichtstheorie oder Historik.4 Eine Variante dieser Geschichtstheorie bildet die analytische Geschichtsphilosophie. Diese ist wiederum nur ein Forschungsbereich dessen, was man „ analytische Philosophie“ nennt. Auf deren Geschichte kurz einzugehen, wird im Folgenden nützlich sein, um sodann die Verschieden­ artigkeit des mit „analytischer Geschichtsphilosophie“ Bezeichneten besser zu erfassen.5

I. Was heißt analytische Geschichtsphilosophie und wie entwickelte sie sich? Die analytische Philosophie verfolgte im Laufe ihrer Entwicklung zwei gegensätzliche Tendenzen: die eine, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der Sprachanalyse George Edward Moores und vom Logischen Atomismus Bertrand Russells und des jungen Ludwig 4 An jüngeren deutschsprachigen Darstellungen der Geschichtstheorie siehe z. B. Stefan JORDAN: Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft. Orientierung Geschichte, Paderborn 2009; Lutz RAPHAEL: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, München 2003; Jörn RÜSEN: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft, Köln-Weimar-Wien 2013; Erhard WIERSING: Geschichte des historischen Denkens: zugleich eine Einführung in die Theorie der Geschichte, Paderborn 2007. 5 Aus der mittlerweile ungemein reichhaltigen Literatur zur analytischen Philosophie siehe exemplarisch Rudolf HALLER: Neopositivismus. Eine historische Einführung in die Philosophie des Wiener Kreises, Darmstadt 1993; Dagfinn FØLLESDAL: Analytic Philosophy: What Is It and Why Should One E ­ ngage in It ?, in: Ratio 9 (1996), S. 193 –208, dt.: Was ist analytische Philosophie?, in: Georg Meggle (Hg.), Analyo­men II, Bd. 1: Logic, Epistemology, Philosophy of Science, Berlin 1997, S. 15 –28; Aloysius P. MARTI­NICH, E. David SOSA (Hgg.): A Companion to Analytic Philosophy, Oxford 2001; Hans-Johann GLOCK: What is analytic philosophy ?, Cambridge 2008; Michael BEANEY: The Oxford Handbook of The History of Analytic Philosophy, Oxford 2013; Karl SIGMUND: Sie nannten sich Der Wiener Kreis. Exaktes Denken am Rand des Untergangs, Wiesbaden 2015.

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Wittgenstein ihren Ausgang nahm, richtete sich gegen bestimmte Denkformen und Denk­ inhalte des philosophischen Idealismus; die andere richtete sich als Kritik analy­tischer Philosophen gegen jene ihrer neopositivistischen Kollegen, die ihrer Ansicht nach dem Verständnis geschichtlich-gesellschaftlicher Sachverhalte und deren Erklärung deshalb nicht gerecht würden, weil sie ihre Forschungsmethoden und Überprüfungskriterien nach dem Muster der exakten Naturwissenschaften formen und generell auf die Kulturwissenschaften zur Anwendung bringen. Ludwig Wittgenstein hat die ursprünglich auch von ihm selbst vertretene logisch-empiristische Auffassung in seinem Blue Book, das Vorstudien zum Spätwerk seiner Philosophischen Untersuchungen enthält, gegeißelt, da sie gerade zu jener Metaphysik führe, die nach Ansicht der Neopositivisten bekämpft werden sollte: „Philosophers constantly see the method of science before their eyes, and are ir­resistibly tempted to ask and answer questions in the way science does. This tendency is the real source of metaphysics, and leads the philosopher into complete darkness.“ 6 Max Black zeigte in seinem bereits 1938 erschienenen Aufsatz „Relations between Logical­Positivism and the Cambridge School of Analysis”,7 dass die analytische Philosophie ihren Ursprung einerseits in Cambridge um circa 1900, andererseits in Wien um circa 1930 hat. Bertrand Russell scheint der Erste gewesen zu sein, der von der „logisch-analytischen Methode“ gesprochen hat, und auch George Edward Moore hat sein Vorgehen in der Philosophie „Analyse“ genannt. Doch Russell und Moore verfolgten mit der Philosophie – wie nach ihnen in Wien vor allem Rudolf Carnap und Otto Neurath auf der einen, Moritz Schlick und Friedrich Waismann auf der anderen Seite – sehr verschiedenartige Ziele: Russell und die seiner Denkweise im Wiener Kreis korrespondierenden Vertreter des Logischen Empirismus, also vor allem Carnap und Neurath, verstanden sich als Vertreter einer „wissenschaftlichen Weltauffassung“, die nach Erkenntnis, also nach wahren Sätzen strebt, auf deren Grundlage sich auf höherer Stufe Theorien bilden lassen; für Moore und die in Wien von Ludwig Wittgensteins linguistischer Philosophie Inspirierten wiederum, also insbesondere für Schlick und Waismann, lag das Ziel der philosophischen Tätigkeit nicht im Auffinden von Sätzen, die wahr sind – das sei Aufgabe der E ­ inzelwissenschaften –, 6 Ludwig WITTGENSTEIN: Preliminary Studies for the „Philosophical Investigations“, Generally Known as the Blue & Brown Books, Oxford 1958, S. 18. – Wittgenstein ist auch in einer anderen Hinsicht die personifizierte Wende: Vertrat er als Verfasser des Tractatus eine meristische Orientierung, der zufolge Ganzheiten aufgrund der Eigenschaften oder der Wirkungsweise ihrer Teile zu begreifen sind, so in seinem Spätwerk die Auffassung von der Verschiedenartigkeit der in „Lebensformen“ gründenden „Sprachspiele“; dabei machte er sich eine holistische Betrachtung zu eigen, welcher gemäß die Teile von der Ganzheit aus begreiflich zu machen seien. Der Charakter der analytischen Philosophie hatte sich damit gewandelt. Deren Spätform ist nicht mehr durch die ursprüngliche Bedeutung von „Analyse“ bestimmt, nämlich durch die Zerlegung einer Ganzheit in voneinander verschiedene Bestandteile. – Siehe dazu die Ausführungen in Abschn. IV/1 und IV/3 der vorliegenden Studie. 7 In: Erkenntnis 8 (1938), S. 24 –35.

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sondern im Klarwerden von Sätzen. Geht es im einen Fall insbesondere um einen Zuwachs unserer Erkenntnis von der Außenwelt, so im anderen Fall um einen Zuwachs innerer Klarheit; stehen im einen Fall Fragen der empirischen Wahrheit im Vordergrund, so im anderen Fragen der Bedeutung von Begriffen und des Sinnes von Aussagen. Moritz Schlick hat diese Grundunterscheidung in seinem berühmten Aufsatz „Die Wende der Philosophie“ klar zum Ausdruck gebracht: „Durch die Philosophie werden Sätze geklärt, durch die Wissenschaften verifiziert. Bei diesen handelt es sich um die Wahrheit von Aussagen, bei jener aber darum, was die Aussagen eigentlich meinen.“8 Dieser Unterschied ist, wie Georg Henrik von Wright gezeigt hat, für das Verstehen der Eigenart der sogenannten analytischen Philosophie von größter Wichtigkeit; er spricht das eine Mal von einer logisch-kon­ struktivistischen, das andere Mal von einer logisch-analytischen Tendenz der analytischen Philosophie.9 Innerhalb dieser philosophischen Strömung entwickelten sich im Laufe des 20. Jahrhunderts drei Denkschulen: 1. Die Logischen Analytiker: exemplarisch vertreten einerseits durch den Wittgenstein des Tractatus (welche Schrift während des Ersten Weltkriegs verfasst, aber erst 1921 publiziert wurde) und durch Bertrand Russells Principia Mathematica (veröffentlicht zwischen 1910 und 1913), andererseits durch George Edward Moore. Waren der junge Wittgenstein und Russell Vertreter einer Analyse der Idealsprache, so war Moore – vor allem bekannt für seine Analysen moralphilosophischer Grundbegriffe – ein Analytiker der Realsprache und Vorläufer der Ordinary language analysis. Innerhalb dieser Gruppe von Logischen Analytikern finden sich also bereits die Frühformen der beiden folgenden Denkschulen. 2. Die Logischen Konstruktivisten: exemplarisch vertreten durch die Logischen P ­ ositivis­ten Rudolf Carnap und Hans Reichenbach, Hauptvertreter des „Wiener Kreises“ bzw. der Berliner „Gesellschaft für wissenschaftliche Philosophie“. Die Gesamtheit sinnvoller Aussagen bestehe aus den Tautologien von Logik und Mathematik sowie aus Aussagen mit empirischem Gehalt, also den prinzipiell verifizierbaren Sätzen der Wissenschaft. Ein Erkennt­ nisanspruch für Aussagen der Metaphysik, aber auch der Ethik und der Ästhetik sei unhaltbar, da diese Aussagen weder wahr noch falsch, mithin „sinnlos“ seien. Karl ­Poppers Bestehen auf der Rolle der Falsifizierung sowie auf der prinzipiellen Möglichkeit einer Überprüfung gewisser von den Neopositivisten als „sinnlos“ verworfener Aussagen aus den erwähnten philosophischen Disziplinen führte zu einer Spaltung innerhalb der logisch-konstruktivistischen Richtung. Doch beiden Lagern ist einerseits die Annahme eines Erkennt8 Moritz SCHLICK: Die Wende der Philosophie, in: Erkenntnis 1 (1930); wiederab­gedruckt in: Ders., Gesammelte Aufsätze 1926 –1936, Wien 1938; Nachdruck Hildesheim 1969, S. 31–39, hier S. 36. 9 Georg Henrik von WRIGHT: „Analytische Philosophie“ – eine historisch-kritische Betrachtung, in: Ders., Erkenntnis als Lebensform. Zeitgenössische Wanderungen eines philosophischen Logikers. Aus dem Englischen übersetzt v. Joachim Schulte, Wien-Köln-Weimar 1995, S. 37– 65, hier S. 49.

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nisfortschritts der Wissenschaften gemeinsam, andererseits die Überzeugung, dass es in der Wissenschafts­theorie nicht nur um eine logisch-deskriptive Analyse der Wissenschaft gehe, also um den Nachweis dessen, wie diese ist, sondern um die im Lichte erfolgreicher Musterfälle erfolgende Proklamation dessen, wie diese sein soll. 3. Die Analytiker der Alltagssprache („ordinary language“): exemplarisch vertreten durch die in der Nachfolge Moores, insbesondere aber des späten Wittgenstein stehenden Repräsen­tanten der Oxford philosophy John Langshaw Austin und Gilbert Ryle. Im Unterschied zur „logischen Analyse“ im Sinne Russells und des jungen Wittgenstein, die beide durch die Konstruktion von Idealsprachen die Fallen und Täuschungen der natürlichen Sprache vermeiden wollten, setzten jene Philosophen auf die Analyse der geschichtlich variablen Alltagssprache, deren Subtilität von der herkömmlichen Philosophie ignoriert worden sei. Die analytische Geschichtsphilosophie, die sich seit den 1940er Jahren entwickelte, war für lange Zeit gekennzeichnet durch die Auseinandersetzung zwischen Vertretern des Logi­ schen Konstruktivismus und solchen der Analyse der Alltagssprache. Im Folgenden sei eine Zuordnung von einigen ausgewählten Vertretern der analytischen Geschichtsphilosophie zu den beiden idealtypisch konzipierten Richtungen versucht, wobei allerdings, wie bereits erwähnt, eine Einschränkung auf den angelsächsischen und den deutschen Sprachraum vorgenommen wird. Gelegentlich erfolgt auch eine Bezugnahme auf Sozialtheoretiker und Ethnologen (oder Kulturanthropologen) sowie auf Historiker, die der analytischen Geschichts­philosophie nahe stehen. Von den Logischen Konstruktivisten seien aus dem englischen Sprachraum vor allem Carl G. Hempel, Paul Oppenheim, Karl R. Popper, Ernest Nagel, Morton White, George C. Homans und Nicholas Rescher genannt,10 aus Deutschland insbesondere Wolfgang Stegmüller, Günther Patzig, Hans Albert, Michael Schmid und Thomas Haussmann. – Carl Hempels Aufsatz „The Function of General Laws in History“ aus dem Jahr 1942 war es wohl, der das Interesse von Vertretern der analytischen Philosophie für Fragen der historischen Erkenntnis nachdrücklich stimuliert hat. Als Analytiker der Alltagssprache im Sinne des späten Wittgenstein sind vor allem Walter B. Gallie, Arthur Danto, Peter Winch, David Bloor, Barry Barnes, Hayden White und Louis O. Mink zu erwähnen. Als Vermittler zwischen diesen beiden Positionen oder – was häufiger der Fall war – als Rezipienten gewisser ihrer Ansichten sind im englischen Sprachraum insbesondere William H. Walsh, Patrick Gardiner, William H. Dray, Michael Scriven, Georg Henrik 10 Ergänzend seien hier noch erwähnt: John W. N. Watkins, Rolf Gruner, Ian C. Jarvie, Joseph Agassi, Robin Horton und Alexander Rosenberg.

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von Wright, Ronald F. Atkinson, Martin Hollis und Quentin Skinner anzu­sehen.11 Aus Deutschland und Österreich sind vor allem Hermann Lübbe und Karl-Georg Faber bzw. Ernst Topitsch, Gerhard Frey, Reinhold Bichler und Karl Acham zu nennen. Nicht alle diese der analytischen Geschichtsphilosophie zuzurechnenden oder ihr doch – zumindest vorübergehend – Nahestehenden haben ihr Problembewusstsein ausschließlich aufgrund der inneranalytischen Konfrontationen entwickelt. Insbesondere auf eine Reihe der vorhin genannten Vermittler und Rezipienten trifft dies nicht zu. Exemplarisch sei hier Patrick Gardiner, der Autor des bereits 1952 erschienenen Buches The Nature of Historical Ex­planation und Herausgeber eines gewichtigen Sammelbandes mit dem Titel Theories of History (1959) erwähnt, der Monographien über Schopenhauer, Kierke­gaard und die Philo­ sophie des 19. Jahrhunderts verfasst hat, welcher er sich in besonderer Weise verbunden zeigt. Auch bei anderen Autoren ist das Geschichtsdenken und die Histo­rik des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts höchst präsent geblieben, sodass diese „voranalytische“ Geschichtsphilosophie bei jenen auf vielfältige Weise nachwirkte. Zu deren bedeutendsten Repräsentanten zählen in Großbritannien Herbert Butterfield und Robin George Collingwood, in den USA Carl L. Becker und Charles Beard; für Deutschland sind in diesem Zusammenhang vor allem Johann Gustav Droysen und Wilhelm Dilthey, Friedrich Meinecke, Otto Hintze und Max Weber zu nennen, und für Österreich, wo die soeben genann­ ten deutschen Geschichtstheoretiker ebenfalls wirksam waren, insbesondere Heinrich von ­Srbik, Fritz Wagner, Alfred Stern und Friedrich Engel-Jánosi.12

II. Womit befassen sich analytische Geschichtsphilosophen? Die Historiker beschreiben und erzählen das, was der Fall war, und sind zumeist bemüht, durch Erklärungen darzulegen, warum dies im Wissen um die relevanten Faktoren gerade so der Fall war, und nicht anders. Der Kerngehalt der Überlegungen von analytischen Geschichtsphilosophen, die sich auf das Schrifttum jener Histo­ riker beziehen, jedenfalls von ihm ihren Ausgang nehmen, soll im Folgenden – gegliedert nach sieben Themenkreisen – kurz skizziert werden. 11 Ferner seien noch genannt: Maurice Mandelbaum, Isaiah Berlin, John Passmore, Alan Donagan, Charles Taylor, Roger Trigg und Steven M. Lukes. 12 Um zu veranschaulichen, wie wirkmächtig allein die deutsche Tradition in Bezug auf die Geschichtstheorie auch in der Zeit nach der Rezeption der bereits voll entfalteten analytischen Philosophie war, möge es genügen, auf die folgende Liste von häufig nicht nur in Deutschland bekannten Namen zu verweisen: Alfred Heuß, Hermann Heimpel, Reinhard Wittram, Hans-Georg Gadamer, Reinhart Koselleck, Christian Meier, Thomas Nipperdey, Golo Mann, Rudolf Vierhaus, Ernst Nolte, Wolfgang Mommsen, Hans-Ulrich Wehler, Jürgen Kocka, Jörn Rüsen, Winfried Schulze, Manfred Riedel, Frithjof Rodi, Gunter Scholtz und Gerhard Oexle. (Die Auflistung ist natürlich, wie alle obenstehenden auch, erweiterungsfähig.)

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1. Intentionalität und Kausalität, Verstehen und Erklären Wie sich anhand von Arbeiten von Patrick Gardiner über William H. Dray bis zu Quentin Skinner13 exemplarisch zeigen lässt, war es vor allem die Befassung mit Fragen der Intentionalität, die zu subtilen Analysen von Gründen, Motiven und Ursachen in der Historie Anlass gab.14 In Verbindung damit kam es auch zu einer Wiederbeschäftigung mit Fragen des Verstehens, und dies in Auseinandersetzung mit Physikalisten, Marxisten und Strukturalisten. Im Unterschied zu deren Erklärungen, denen Gesetze zugrunde liegen, beruht das Verstehen auf Regeln, denen man im Akt des Verstehens der linguistischen sowie der Kulturbedeutung von Handlungen und Ereignissen folgt. Ein Beispiel für die auch von zahlreichen anderen analytischen Philosophen betriebene neuerliche Beschäftigung mit der Beziehung von Verstehen und Erklären ist das einschlägige Schrifttum von Wittgensteins Nachfolger auf dem Lehrstuhl in Cambridge, Georg Henrik von Wright.15 Solange man überall Strukturen, anonyme Prozesse und komplexe Konstellationen sah, die man mit Kollektivbegriffen, Statistiken und nomologischen Hypothesen unterschied­ licher Art darzustellen und zu erklären suchte, galt ein historisches Individuum gewissermaßen als „Durchlauferhitzer, Relaisstation, Schauplatz überpersönlicher Kräfte“, wie sich Rüdiger Safranski ausdrückt.16 Nun aber erfolgte mit dem wachsenden Interesse am Individuellen auch eine Revitalisierung älterer hermeneutischer Auffassungen. In gewisser Anlehnung an Wilhelm Diltheys Unterscheidung von Verstehen und Erklären konzi­pierte so etwa William H. Dray seine Theorie der historischen Erklärung. Ihr zufolge werden Ereignisse durch die Handlungen historischer Akteure, die Handlungen aber wiederum in Bezug auf deren Ziele, Motive und Überzeugungen erklärt. Solche intentionalen Erklärun­ gen seien, wie es heißt, nicht kausale sondern rationale Erklärungen, und zwar wegen des von kausalen Erklärungen verschiedenen Bezugs auf mentale Variablen. Die zur Erklärung 13 Siehe v. a. Patrick GARDINER: The Nature of Historical Explanation, London 1952; William H. DRAY: Laws and Explanation in History, 2. Aufl., Oxford 1964; Quentin SKINNER: Meaning and Understanding in the History of Ideas, in: History and Theory 8 (1969), S. 3 –53, wiederabgedruckt in: Ders., Visions of Politics, vol. I: Regarding Method, Cambridge 2002, S. 57– 89; Motives, intentions and interpretation, ebd., S. 90 –102. 14 Der Ursprung für diese auf Franz Brentano zurückgehende Befassung mit Fragen der Intentionalität und der philosophy of mind ist allerdings nicht bei Geschichtsphilosophen, sondern bei Erkenntnistheoretikern zu suchen, so vor allem in den Büchern The Concept of Mind (1949) von Gilbert RYLE, Intention (1957) von Elizabeth ANSCOMBE, und Mental Acts (1957) von Peter GEACH. – Zu einem einschlägigen klassischen Stück wurde später der Aufsatz „ Actions, Reasons, and Causes“ von Donald DAVIDSON, in: Journal of Philosophy 60 (1963), S. 685 –700. 15 Vgl. z. B. Georg Henrik von WRIGHT: Explanation and Understanding, Ithaca-London 1971; dt.: Erklären und Verstehen, Frankfurt a. M. 1974. 16 Rüdiger SAFRANSKI: Meister, ihr steht unter Verdacht!, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. August 2014, S. 13.

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einer Handlung angeführten Ziele, Motive und Überzeugungen sind nach Dray nicht Ursachen („causes“) der Hand­lung, sondern Handlungsgründe („reasons“). Historiker, so meint Dray, geben rationale Erklärungen für rationale Handlungen, Kausalerklärungen für irrationale oder arationale Handlungen: „Wir geben Gründe an, wenn wir können, und wenden uns empirischen Gesetzen zu, wenn wir müssen.“17 Der Unterschied zwischen intentionalen und nicht-intentionalen Phänomenen und Erklärungen impliziert, wie schon im Sinne der Historik des 19. Jahrhunderts, einen Unterschied zwischen den Wissenschaften: den Kultur- oder Geisteswissenschaften einerseits, den Formal- und Naturwissenschaften andererseits.18 Das Hervorheben solcher Unterschiede steht, wie es zunächst scheint, im Widerspruch zur Auffassung von der „Einheitswissenschaft“. Nun hat allerdings der Begriff der Einheitswissenschaft selbst keine einheitliche Bedeutung, da er sich entweder – wie etwa im Falle von Otto Neuraths „Physikalismus“ – auf die Übersetzung aller „sinnvollen“ Aussagen in die „physikalische Sprache“, oder aber auf eine allgemeine, die einzelnen Wissenschaften übergrei­fende Rechtfertigungsmethode wissenschaftlicher Aussagen beziehen kann. Steht der letztere Formalismus in Betracht, so ist mit der Einheitswissenschaft die allgemein in den Wissenschaften mögliche Anwendung der sogenannten hypothetiko-deduktiven Methode gemeint. Dieser Methode galt bekanntlich bereits Karl Poppers Interesse in seinem Buch Logik der Forschung aus dem Jahr 1934. Ein Ereignis kausal zu erklären, so führt er dort aus, heiße einen Satz, der es beschreibt, aus zumindest einem allgemeinen Gesetz und bestimmten singulären Sätzen, den Anfangsbedingungen, deduktiv ableiten. Damit erfuhr der Kausalbegriff eine Ausweitung nach zwei Richtungen: weder war er mit der Verwendung natura­listischer Variablen notwendig verknüpft, noch erschien es erforderlich, die Allgemeinheit des in Betracht stehenden Kausalgesetzes auf deterministische Nahwirkungsgesetze zu beschränken. Nomologische Allgemeinheit und Wahrscheinlichkeit schließen einander nicht aus. Dieser für alle Wissenschaften als gültig angesehene Formalismus sollte gewissermaßen die Folie bilden, vor der sich die Eigenart von Erklärungen in den verschiedenen Wissenschaftsbereichen genauer bestimmen lässt. 17 William H. DRAY: Laws and Explanation in History, (Anm. 13), S. 138: „We give reasons if we can, and turn to empirical laws if we must.“ – Hier ist es nützlich, der oft nicht zureichend erfolgten Klärung des mit „Gründen“ oder „Motiven“ Gemeinten Aufmerksamkeit zu schenken. Häufig werden „Absichten“ oder „Ziele“ bedeutungsmäßig den „Gründen“ oder „Motiven“ gleichgesetzt, doch mit diesen Begriffen wird sehr Unterschiedliches bezeichnet: Ein Ziel mag es etwa sein, jemanden in einem Wettkampf zu besiegen, das dabei leitende Motiv aber kann das Streben nach Geld oder Ehre sein. Auch die Verwendung des Wortes „Zweck“ verdient eine terminologische Notiz. Denn entweder wird dieser Ausdruck mit „Ziel“ identifiziert oder aber er wird als die nicht-beabsichtigte Folge absichtsgeleiteten Handelns, also einer Zielverwirklichung, verstanden. 18 Siehe dazu auch die Ausführungen in der Einleitung sowie in Kap. 4, Abschn. I und Kap. 6, Abschn. III des vorliegenden Buches.

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Die analytische Geschichtsphilosophie und ihr Nutzen

Bezogen auf ihren Allgemeinheitsgrad gibt es zwei grundlegend unterschiedliche Typen von Gesetzesaussagen: strikt-universelle (oder deterministische) und statistische. Was die Geschichte anlangt, so sind für historische Erklärungen, welche menschliches Entscheidungs­ handeln betreffen, sofern man sich nicht auf triviale Vorbedingungen für solches bezieht – wie etwa auf die Unverzichtbarkeit von Luft und Nahrung –, statistische Hypothe­sen von Belang.19 Zwischen Erklärungen aufgrund von streng determi­­nistischen Gesetzen und solchen aufgrund von statistischen Gesetzen besteht allerdings insofern ein gravierender Unterschied, als die letzteren nicht das Eintreten eines Zustandes oder Ereignisses angeben, sondern die Wahrscheinlichkeit von dessen Eintreten – also die Häufigkeit in einer Klasse von gleichartigen Erscheinungen. Die sich daraus ergebenden Schwie­rigkeiten für Prognosen sind bekannt.20 Der Dermatologe Philippe Ricord, ein Zeitgenosse Pasteurs und ein Mann von sarkastischem Witz wurde einmal nach den Heilungsaussichten eines Patienten befragt. „Er wird davonkommen“, antwortete Ricord, „denn er leidet an einer Krankheit, die nur ein Patient unter 100 überlebt. 99 habe ich schon sterben gesehen – er ist der hundertste.“21

2. Die Relativität von Begriffen und Erklärungen Die Relationierung von Begriffen und Erklärungen zählt zu den fundamentalen Merkmalen der analytischen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. a. Begriffe. Begriffe werden erst durch die Herstellung ganz bestimmter Beziehungen verständlich. Schon um die Bedeutung so einfacher Ausdrücke wie „oben“ und „unten“ zu verstehen, müssen wir diese Ausdrücke relationieren: zwar nicht im Alltag, beispielsweise in einer Küche, wenn wir den Ausdruck „oben“ intuitiv klar finden, jedoch etwa in der Geophysik oder der Astronomie. Hier reicht es nicht zu sagen, „oben“ sei dort, wo der Himmel, und „unten“ dort, wo die Erde ist – denn von uns aus gesehen ist bei den Antipoden, den „Gegenfüßlern“, die Erde oben und der Himmel unten. Da bedarf es näherer Angaben oder Zusätze, die sich auf bestimmte Bezugskörper oder Raumdimensionen beziehen. Diese Auffassung von Begriffen steht im Gegensatz zu einer verkürzten, aber wirkmächti19 Macht man die Bedeutungseinschränkung des Begriffs „kausal“ nicht mit, der zufolge man dann von kausalen Erklärungen sprechen soll, wenn nur deterministische Gesetzesaussagen in ihren Prämissen vorkommen, so wird man auch statistische (probabilistische, stochastische) Gesetzesaussagen in kausalen Erklärungen für zulässig halten. – In diese Richtung gingen schon David Humes Ansätze einer historischen Theorie der Wahrscheinlichkeit in seiner zwischen 1754 und 1761 erschienenen History of England. 20 Mit ihnen haben es Historiker in der Regel allerdings nur dann zu tun, wenn sie sich im Blick auf historische Akteure die Eintrittswahrscheinlichkeit von Handlungsfolgen vergegenwärtigen wollen, um eine Mehrzahl allenfalls möglicher Handlungsoptionen aufzuzeigen, die den Akteuren zum Zeitpunkt der Handlung offenstanden. 21 Zitiert nach Walther BIRKMAYER, Gottfried HEINDL: Der liebe Gott ist Internist (Anm. 3), S. 87.

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gen platonisch-idealistischen Theorie der Bedeutung.22 Auch Begriffe oder allgemeine Prinzipien wie „Freiheit“ oder „Demokratie“ – um nur zwei Beispiele zu nennen – bleiben mehrdeutig, solange wir nicht Ergänzungen hinzufügen, die logisch dieselbe Rolle spielen wie die „relativierenden“ Zusätze in dem vorhin genannten Beispiel des Ausdrucks „oben“. Was bedeutet also beispielsweise „Freiheit“? Wovon will jemand frei sein und wozu hält er sich in ihrem Namen für befähigt, wenn vom „Kampf für die Freiheit“ die Rede ist? Also: Freiheit in Bezug worauf? Kampf unter welchen Umständen?23 Die Rela­tivierung oder Relationierung unbestimmter Begriffe durch Angabe von spezi­fizierenden Bedingungen hat mit einem Relativismus der Beliebigkeit nichts zu tun. b. Erklärungen. Ein ganzes Bündel von Ursachen wird oft von Historikern und Wissenschaftsphilosophen als kausal relevant für das Eintreten eines singulären historischen Ereignisses bezeichnet. So widmete beispielsweise der Historiker Alexander Demandt den ungemein zahlreichen Hypothesen über den Fall Roms eine eindrucksvolle und umfang­reiche Monographie.24 Und in ähnlicher Absicht wiesen etwa der Historiker und Geschichtstheoretiker Karl-Georg Faber25 und der Wissenschaftstheoretiker Thomas Haussmann26 auf eine ganze Reihe von Ursachen und Gründen für den Ausbruch des ­Ers­ten Weltkriegs hin: auf die Schwierigkeiten des österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaates, die machtpolitischen Gegensätze im europäischen Staatensystem, den Rüstungs­ wettlauf der großen Mächte und die deutsch-englische Rivalität im Flottenbau, Russlands Balkanpolitik, das System militärischer Beistandspakte, die überstürzten Mobilmachungen und Ultimaten, die Preisgabe des defensiven Charakters der europäischen Bündnisse etc. Bestimmten der hier exemplarisch genannten Ursachen wird oft eine derart dominante Rolle zugeschrieben, dass die verschiedenen auf ihnen beruhenden Erklärungen disjunkt erscheinen. 22 Nach Platon ist ein Begriff das Abbild einer Idee, die in einer Welt außerhalb der Welt unserer Erfahrung ihr Korrelat hat. Im Gegensatz zu dieser Bedeutungstheorie des metaphysischen Idealismus hat die Erkenntnislehre des für die analytische Philosophie maßgeblichen Operationalismus beispielsweise den Begriff der Länge nicht als Abbild einer „Idee der Länge“ aufgefasst, sondern als eine Reihe von Operationen, mit deren Hilfe die Länge gemessen wird. Dieses Verfahren, das auch auf Begriffe der Geistes- und Sozialwissenschaften zur Anwendung kommt, weist eine große Ähnlichkeit mit der Vorgehensweise des Pragmatismus von William James und Charles S. Peirce auf. 23 Siehe dazu Philipp FRANK: Wahrheit – relativ oder absolut? Mit einem Vorwort von Albert Einstein (Relativity – A Richer Truth, Boston 1950; übers. von Gertrud Deuel), Zürich 1952, v. a. S. 34 –  48. 24 Alexander DEMANDT: Der Fall Roms. Die Auflösung des römischen Reiches im Urteil der Nachwelt, 2., erw. u. aktualisierte Aufl., München 2014. – Bestimmend für die Vielzahl an Hypothesen über Vergangenes ist auch ein von Demandt sentenziös formulierter Umstand: „Die Vielzahl der Möglichkeiten, die Vergangenheit zu deuten, beruht auf der Vielzahl an Möglichkeiten, die Zukunft zu gestalten.“ (Alexander DEMANDT: Zeit und Unzeit. Geschichtsphilosophische Essays, Köln-Weimar-Wien 2002, S. 310.) 25 Karl-Georg FABER: Theorie der Geschichtswissenschaft, München 1971. 26 Thomas HAUSSMANN: Erklären und Verstehen: Zur Theorie und Pragmatik der Geschichtswissenschaft, Frankfurt a. M. 1991.

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Die analytische Geschichtsphilosophie und ihr Nutzen

Doch häufig sind die präsen­tierten Erklärungen gar nicht disjunkt, sondern zueinander komplementär, wobei, wie im Folgenden noch gezeigt werden soll, die Relationierung von Ursachen gemäß der jeweils leitenden Frage­stellung besonders von Belang ist. Das Er­kenntnisinteresse konstituiert als erkenntnispragmatische Orientierung das jeweilige kausale Feld, und die Bezugnahme auf dieses verhilft zur angemessenen Gewichtung der ursächlich wirkenden Faktoren. Auch hier kann so die Relativierung zu einem Erkenntnisgewinn führen.

3. Zur Gewichtung von Ursachen und Gründen

Edward H. Carr 27 und nach ihm verschiedene andere Autoren haben unter Hinweis auf ein Beispiel aus dem Straßenverkehr darauf hingewiesen, dass Erklärungen nicht nur von einem bestimmten Erkenntnisstand, sondern auch von dem Kontext abhängen, in dem sie gegeben werden.28 So mag der Unfall eines Autofahrers, nachdem dieser in leicht alko­ holisiertem Zustand mit seinem Fahrzeug, das noch dazu mit schlechten Reifen ausge­ stattet war, mit hoher Geschwindigkeit in einer scharfen Kurve von der regennassen Straße abgekommen und gegen einen Baum geprallt war, unter Hinweis auf ganz verschiedene Ursachen erklärt werden: Ein Polizist wird so zum Beispiel auf die überhöhte Geschwin­ digkeit Bezug nehmen, ein Arzt hat die Wucht des Aufpralls als Ursache im Blick sowie das reduzierte Reaktionsvermögen des Lenkers wegen seines Alkoholkonsums, ein PKWSachverständiger wird auf die abgefahrenen Autoreifen und die Nässe der Fahrbahn verweisen, wieder ein anderer auf die extrem spitz angelegte Kurve etc. Welche „Faktoren“ als relevante Ursachen angesehen werden, ist daher vom Kontext abhängig, in dem eine Er­ klärung gegeben wird. Diese „Kontexte“ sind die jeweiligen kausalen Felder der Erklärung: die Regeln der Straßenverkehrsordnung und die Gesetze des Verkehrsstraf­rechts für den Polizisten, die Gesetze der Mechanik und der Physiologie für den Arzt, für den PKW-Sachverständigen wiederum die Gesetze der Kinetik und der Festigkeitslehre, die Aufschluss geben über das Widerstandsverhalten eines Werkstoffes gegen Verformung etc.29 Man wird kaum behaupten können, nur einer von den erwähnten Faktoren sei kausal relevant, und nur eine Erklärung sei richtig. Allerdings wird man im Blick auf den erörterten Beispielsfall unter Umständen nach einer experimentellen Prüfung sagen können, welche von den gegebenen Erklärungen die beste ist, und dies deshalb, weil sie das relative Gewicht oder die kausale Signifikanz von Ursachen am zutreffendsten formuliert. 27 E. H. CARR: Was ist Geschichte? (1. engl. Aufl. 1961), Stuttgart 1963. 28 Siehe dazu Bas C. van FRAASSEN: The Scientific Image, Oxford 1980, v. a. Kap. 5: The pragmatics of explanation. 29 Vgl. in diesem Zusammenhang den Begriff des kausalen Netzes („ causal net “) bei Bas C. van FRAASSEN, ebd., v. a. S. 112–126. – Siehe auch John L. MACKIE: The Cement of the Universe. A Study of Causation, Oxford 1974, v .a. Kap. 2, 3 und 10.

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Die Sachlage ist in der Geschichtswissenschaft oftmals ähnlich den hier geschilderten Gegebenheiten, allerdings mit dem gravierenden Unterschied, dass sich nur in sehr seltenen Fällen, wie zum Beispiel im Falle der Rekonstruktion eines Pistolenattentats, so etwas wie experimentelle Geschichtswissenschaft bewerkstelligen lässt. Aus diesem Grund sind aber eben manche Historiker nicht bereit, explizit anzuerkennen, dass gewisse Ursachen für den Ausgang eines Ereignisses bedeutender sind als andere. Nicht selten ist dann auch von einer Abwehr monokausaler Erklärungen die Rede. Doch eine Gewichtung von Ursachen hat keineswegs mit Monokausalismus zu tun.30 Und so ist es beispielsweise bis heute eine viel diskutierte und keineswegs abwegige Frage, ob der Kriegseintritt des Vereinigten Königreichs im Jahr 1914 eher durch die Befürchtung zustande kam, bezüglich seines wirtschaftlichen Vorsprungs und seiner maritimen Vorrangstellung gegenüber Deutschland ins Hintertreffen zu geraten, als durch Deutschlands Verletzung der belgi­ schen Neutralität.31 Neben kurzfristig wirksamen Handlungsgründen oder Ursachen gibt es in tieferen Zeitschichten liegende langfristig wirksame Faktoren, von welchen man meint, dass sie gewisse Entwicklungen auf lange Sicht zwar nicht unausweichlich, so doch sehr wahrscheinlich machen. In diesem Sinne hat schon Montesquieu zwischen allgemeinen Ursachen und partikularen Ursachen unterschieden und festgestellt: „Wenn der Zufall einer Schlacht, d.h. eine partikulare Ursache, einen Staat ruiniert hat, so gab es immer eine allgemeine Ursache, die es bewirkte, daß dieser Staat durch eine einzige Schlacht zugrunde gehen mußte.“32 In solchem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Unterscheidung von notwendigen und hinreichenden Bedingungen.33 Dabei sind wir geneigt, Ereignisse als 30 Zur Hierarchisierung von Ursachen siehe Ernest NAGEL: The Structure of Science. Problems in the Logic of Scientific Explanation, London 1961, S. 582–588. 31 Kontrovers wird in diesem Zusammenhang bis heute bekanntlich die Frage diskutiert, ob sich das Vereinigte Königreich aus dem Krieg hätte heraushalten können. Die Kontroverse ist ja nicht nur eine unter Historikern gewesen: Nicht weniger als vier Minister traten wegen der von Außenminister Sir Edward Grey im Kabinett durchgesetzten englischen Kriegserklärung an das Deutsche Reich zurück, und Grey selber hatte alle Anstrengungen unternommen, Art und Umfang der mit Russland getroffenen Verabredungen vor den Kabinettsmitgliedern geheim zu halten. 32 MONTESQUIEU: Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence [1734], in der Ausgabe Paris 1826, zitiert nach Fritz WAGNER: Geschichtswissenschaft, Freiburg -München 1951, S. 118. 33 Ein Antecedens A (zum Beispiel eine Handlung oder ein Ereignis) gilt als eine notwendige, aber nicht hinrei­ chende Bedingung für ein Consequens B, wenn A eine Bedingung darstellt, ohne welche B nicht eingetreten wäre; d.  h. allerdings nicht, dass A eine Bedingung darstellt, in deren Gegenwart B stets eintritt, da zu A noch andere Bedingungen hinzutreten müssen, um B zu bewirken. Wenn andererseits A eine hinreichende, aber nicht notwendige Bedingung für B ist, so heißt das, dass bei Vorliegen von A auch B stets vorliegt. Es handelt sich bei A jedoch nicht um eine Bedingung, ohne deren Präsenz B nicht eingetreten wäre, da auch andere Bedingungen als A B bewirkt haben könnten. Schließlich ist noch zu klären, was darunter zu verstehen ist,

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hinreichende Bedingungen zu betrachten, längerfristig wirksame Zustände aber als notwendige Bedingungen. Eine Analyse von notwendigen und hinreichenden Bedingungen in historischen Erklärungen zählt zu den bedeutsamsten Aufgaben der analytischen Geschichtsphilosophie, wenn es um die Gewichtung von Ursachen in der Historie geht.

4. Historische Interpretation Verschiedentlich kommt es zur Gleichsetzung historischer Erklärungen mit historischen Interpretationen. Erklärungen sind dadurch charakterisiert, dass in ihrem Explanans Antecedensbedingungen und eine Gesetzesaussage stehen und, wenn die Erklärung zutreffend ist, aus dem Explanans das Explanandum als Conclusio folgt. Interpretationen sind da­ von verschieden. In der Regel handelt es sich bei ihnen um die Ermittlung der Beziehung eines Teils zu einem Ganzen. So wird das eine Mal z. B. die Bestimmung der semantischen Bedeutung eines Ausdrucks innerhalb eines Satzes oder des Sinnes eines Satzes inner­halb eines umfangreicheren Textes als Interpretation bezeichnet, das andere Mal etwa die Deutung einer singulären Handlung (und ihres Resultats) in einem bestimmten Lebensabschnitt oder aber die Bestimmung der Bedeutung dieses Lebensabschnitts im Lebenslauf.34 Beispielsweise kann man zunächst den sprachlichen Sinn von Dantes Göttlicher Komödie oder Rousseaus Bekenntnissen erschließen, danach aber im Rahmen einer historischen Interpretation die wirkungsgeschichtliche Bedeutung jener Werke. Und dies dadurch, dass man sie einerseits von ihrem Autor her und diesen selber inner­halb seiner Zeit, ande­ rerseits in ihrem Entstehen aus ihrer Zeit und in ihrer Wirkung auf ihre Zeit – mit Max Weber gesprochen – „erklärend zu verstehen“ sucht. Dabei wird man unter anderem mit den von den Autoren vertretenen Wertge­sichtspunkten vertraut und auch damit, inwie­ fern diese mit der Zeit dieser Autoren, aber auch mit der Zeit der Interpreten ihrer Werke koinzidieren, und inwiefern dies nicht der Fall ist. Nicht selten geschieht es, dass uns solwenn ein Antecedens A als notwendige und hinreichende Bedingung für ein Consequens B bezeichnet wird: A ist eine notwendige und hinreichende Bedingung für B, wenn ohne Vorliegen von A B nicht eingetreten wäre, und wenn darüber hinaus immer dann, wenn A vorliegt, B eintritt. A hat also eine Doppelfunktion: Die Präsenz von A ist notwendig, damit B der Fall ist, und die Präsenz von A reicht hin, um sicherzustellen, dass B der Fall ist. Hier ist also Bedingung A nicht bloß irgendeine Determinante von B, sondern die Determinante von B. Es bedarf wohl kaum des Hinweises, dass der Nachweis derartiger notwendiger und hinreichender Bedingungen in der geistes- und sozialwissenschaftlichen Ursachenforschung so gut wie nie möglich ist. – Vgl. dazu John L. MACKIE: Causes and conditions, in: American ­Philosophical Quarterly 2 (1965), S. 254   –264. 34 Beide Typen der Interpretation sind dem ähnlich, was Max Weber als „aktuelles Verstehen“ und als „erklärendes Verstehen“ bezeichnet. – Vgl. Max WEBER: Soziologische Grundbegriffe, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre [1922], 3. Aufl., Tübingen 1968, S. 541–581, hier S. 546 –552.

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che Interpretationen veranlassen, uns beispielsweise für bestimmte bislang fremde Wert­ haltungen aufgeschlossener und unseren eigenen, bislang für universell gültig gehaltenen Überzeugungen gegenüber vorsichtiger zu machen. Eine weitere Verwendungsweise des Ausdrucks „historische Interpretation“ ist mit dem Namen von Karl Popper verbunden. In seinem Buch Das Elend des Historizismus spricht dieser von historischen Interpretationen als von nicht im strengen Sinne prüfbaren, also kritisierbaren Hypothesen;35 sie seien dies deshalb nicht, weil sie einer möglichen Falsifikation entzogen sind. Doch im Falle von historischen Interpretationen handelt es sich nicht immer nur um solchermaßen immunisierte „Theorien“, sondern oft auch um heuristisch durchaus fruchtbare Fokussierungen des historischen Interesses nach Art eines regulativen Prinzips. Man denke hier an die sogenannten Fortschritts- oder Dekadenztheorien, die als Vorschläge angesehen werden können, denselben Gegenstand – zum Beispiel eine Epo­che oder die Weltgeschichte als ganze – unter zwei konträren Gesichts­punkten zu betrachten. Sie sind seit altersher bekannt und uns auch heute vertraut. Der zeitgenössische Fortschrittsglaube ist eng mit den Ideen von Wohlfahrt und Selbstverwirklichung verknüpft, und diese spiegeln sich einerseits exemplarisch in den Leistungen der Medizin, andererseits in dem weitgehend als unverzichtbar angesehenen Waren- und Freizeitangebot. Dekadenztheorien wiederum stellen Gegenpositionen zum Fortschrittsglauben dar, und auch heute mangelt es nicht an solchen. „Die Klage über die gesunkene Gegenwart“, so bemerkt Alexander Demandt, „betraf in der Bibel den Abfall von Gottes Gebot, bei Homer den Verlust an Heldenkraft und Heldenmut, bei Hesiod das Verschwinden der Recht­lichkeit. Bei den Römern war das Lamento über den Sittenverfall ein Dauerthema vom älteren Cato bis zum Kirchenvater Salvian, mithin über sechshundert Jahre.“36 Doch wer wollte leugnen, dass solche Interpretationen Realitätsgehalt haben, auch wenn wir keineswegs damit die Ansicht von einem unausweichlichen Gang der Geschichtsentwicklung verbinden? Ist nicht die Beobachtung im Sinne der Dekadenzkonzeption zutreffend, dass die Annehmlichkeiten der Zivilisation die Abwehrbereitschaft mindern?37 Wer wird andererseits den Realitätsgehalt der Fortschrittskonzeption in Abrede stellen, der zufolge eine durch Wissenschaft und Technik bewirkte Entlastung von bestimmten Formen des Realitätsdrucks eingetreten ist?38 35 Vgl. Karl R. POPPER: Das Elend des Historizismus, Tübingen 1965, S. 118. (Es handelt sich dabei um die vom Verfasser autorisierte Übersetzung nach der 2. englischen Buchauflage von The Poverty of Historicism, London 1960, von Dr. Leonhard Walentik.) 36 Alexander DEMANDT: Philosophie der Geschichte. Von der Antike zur Gegenwart, Köln-Weimar-Wien 2011, S. 348. 37 Alexander DEMANDT verweist ebd. auf die Niederlage von Kulturvölkern gegenüber „Barbaren“ und denkt dabei an Mykene, das den Doriern, an die Perser, die den Arabern, an die Chinesen, die den Mongolen, an Byzanz, das den Hunnen und Türken unterlag. 38 Zwischen den Argumenten für den Fortschritt der Geschichte und für deren Dekadenz ist eine Bilanz

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Popper selbst lieferte bekanntlich eine historische Interpretation, indem er die Geschichte als Auseinandersetzung zwischen der „offenen“ und der „geschlossenen Gesell­ schaft“ aufgefasst hat; ihr hat er bekanntlich zwei Bände gewidmet. Popper war es unter anderem auch, dem die analytische Geschichtsphilosophie sorgfältige Analysen generalisie­ render Annahmen: der theoretischen Gesetze, induktiven Verallgemeinerungen und Trends, verdankt.39 Diese Unterscheidung nicht vorgenommen zu haben, macht er den Vertretern geschichtsteleologischer Interpretationen, die er als „historizistisch“ bezeichnet, zum Vorwurf. Der locus classicus der einschlägigen Kritik ist sein erstmals 1957 in engli­scher Sprache erschienenes Buch Das Elend des Historizismus. Popper zeigte, dass nach dieser Geschichtsinterpretation Entwicklungsgesetze die aufeinanderfolgenden Epochen verbinden, wobei die sich in der Gesellschaft vollziehenden Änderungen mit unerbitt­licher Notwendigkeit im Voraus bestimmt seien und daher zwangsläufig eintreten würden. Im Zentrum seiner Kritik stehen der Bolschewismus und der Nationalsozialismus. Popper zufolge dienten deren Geschichtsinterpretationen mit der durch sie verbürgten Gesetzmäßigkeit des Geschichtsablaufes der ideologischen Selbstlegitimierung totali­tärer Rassen- bzw. Klassenpolitik.40 Was schwer zu ziehen. Denn bei jedem Fortschritt gibt es, mit Alexander DEMANDT gesprochen, „Verlust und Verlierer, bei jeder Dekadenz Genuß und Gewinner. Der Unterschied liegt nur darin, daß die Verlierer beim Fortschrittsprozess innerhalb, die Gewinner bei Dekadenzvorgängen außerhalb der jeweiligen Gesellschaft stehen. Im zweiten Fall profitieren die robusteren Barbaren von der Erschöpfung einer verfeinerten Zivilisation; im ersten Fall bleiben die Schwächeren in der Konkurrenz auf der Strecke, erkennen Weiter­ blickende die langfristigen Schäden kurzfristiger Vorteile.“ (Ebd., S. 350.) Entsprechendes gilt mitunter wohl auch für offene und geschlossene Gesellschaften im Sinne Poppers. – Siehe auch Friedrich RAPP: Fortschritt, Entwicklung und Sinngehalt einer philosophischen Idee, Darmstadt 1992. 39 Popper betrachtete jedoch, wie auch Max Weber, die Historie im Unterschied zu den Vertretern des klassischen Positivismus nie als „Gesetzeswissenschaft“. Er erweist sich vielmehr, obschon er die sehr pauschale Abneigung gegen Generalisierungen auf Seiten gewisser Vertreter des Historismus nicht gebilligt hätte, als Anwalt einer historistischen Erkenntnisorientierung. Denn zum einen lehnte er Globaltheo­rien der Geschichte im Sinne von „unerbittlichen Gesetzen eines weltgeschichtlichen Ablaufs“ ab, zum anderen galt ihm „die Geschichtswissenschaft [als] durch ihr Interesse für tatsächliche, singuläre, spezifische Ereignisse im Gegensatz zu Gesetzen oder Verallgemeinerungen charakterisiert“. (Karl R. POPPER: Das Elend des Historizismus [Anm. 35], S. 112.) – Damit ist Popper durchaus in Übereinstimmung mit dem „klassischen Historismus“, der nach Georg G. Iggers lehrte, „die Einmaligkeit des historischen Gegenstandes zu würdigen“, wodurch er „erst die Entwicklung der Historie zu einer vollgültigen Wissenschaft“ ermöglicht habe. (Georg G. IGGERS: Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart, 2. Aufl., München 1972, S. 365.) 40 Geradezu exemplarisch ist das von Hermann Lübbe wiedergegebene Zitat aus dem Buch von P. N. FEDOSSEJEW: Kommunismus und Philosophie (russ. 1971), Berlin/DDR 1973, S. 90 : „Wie die Entwicklung der Weltgeschichte verlaufen, auf welchen Wegen und über welche Etappen der Vormarsch der Gesellschaft zum Kommunismus erfolgen wird – auf all diese grundlegenden Fragen geben das vom XXII. Parteitag angenommene Parteiprogramm sowie die Beschlüsse der darauffolgenden Parteitage und Plenar­tagungen des Zentralkomitees wissenschaftlich fundierte Antworten.“ – Zitiert in: Hermann LÜBBE: Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie [1977], 2., um eine neue Einleitung er­w. Aufl., Basel 2012, S. 157.

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den pro­gnostischen Wert historizistischer Geschichtstheorien betreffe, so handle es sich bei ihnen nicht um bedingte, also prinzipiell falsifizierbare Vorhersagen, sondern um unbedingte historische Prophetien. Popper weist darauf hin, dass unter der Voraussetzung der Aner­ken­nung einer Einflussnahme der Wissenschaft auf das gesellschaftliche Leben langfristi­ge Vorhersagen – im Unterschied zu Szenarien oder Trendaussagen – schon aus logischen Gründen deshalb nicht durchführbar sind, weil wir nicht heute schon die Inhalte unseres künftigen Wissens kennen können.41

5. Objektivität und Wertungsabstinenz „Objektiv“ bedeutet in ontologischer Hinsicht: zum Gegenstand, Sachverhalt oder Objekt (lat. obiectum, Gegenstand) gehörig, vom Objekt herrührend; in gnoseologischer Hinsicht: das Objekt frei von subjektiven Vorurteilen und Wertungen darstellend, also verstanden als ein Gütekriterium für Wahrnehmungsurteile; in wissenschaftsethischer Hinsicht: eine Einstellung des Forschers, welche dazu führen soll, bloß subjektive auf einen Gegenstand bezogene Vorstellungen als solche zu erkennen, um diesen in allgemeingültigen Urteilen darstellen zu können. Die Analyse der Objektivität beginnt landläufig mit der Analyse des Begriffspaares „objektiv-subjektiv“; dabei ist nicht zu übersehen, dass es sich hier um mehrdeutige Begriffe handelt. Denn neben der pejorativen Bedeutung von „Subjektivi­tät“ (im Sinne eines subjektivistischen Vorurteils) gibt es auch die aus keinem Erkenntnisprozess wegzudenkende Rolle des Subjekts; dessen Analyse verhilft uns erst dazu, genauer zu bestimmen, was das Subjekt in den Prozess der Erkenntnis des Objekts hineinträgt. Eine solche Analyse der Subjektivität ist genauso wenig subjektivistisch, wie etwa das mit ihr verwandte soziogenetische Verfahren von Karl Mannheims „Relationismus“ relativistisch ist.42

41 Siehe v. a. Karl R. POPPER: Das Elend des Historizismus (Anm. 35), S. XI f. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die einschlägigen Ansichten von Ernest NAGEL: The Structure of Science (Anm. 30), S. 592– 606. 42 Karl MANNHEIM: Ideologie und Utopie [1929], 5. Aufl., Frankfurt a. M. 1969. – Dennoch wird man Karl R. Popper zustimmen können, dass sich in der Wissenssoziologie – ähnlich wie in der Wissenschaftspsychologie und der Wissenschaftssoziologie – die Mode herausgebildet hat, oft erst gar nicht Argumente als solche ernst zu nehmen und deren Triftigkeit zu untersuchen, sondern sogleich nach den unbewussten Beweggründen und Determinanten im sozialen Standort des Denkers zu fragen. – Vgl. Karl R. POPPER: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen (= Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band II), Bern 1958, Kap. 13. (Die erste engl. Veröffentlichung erfolgte 1944/45 in der Zeitschrift Economica in London.)

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Objektivität wird sehr verschiedenartig verstanden.43 Unter anderem wird sie manchmal mit Richtigkeit, manchmal mit Werturteilsfreiheit identifiziert. Doch was die Richtigkeit anlangt, so können auch Aussagen, welche den Blick auf das Ganze des mit ihnen Gemeinten verstellen, als sogenannte Partialaussagen richtig sein, sie sind jedoch nicht triftig. Objektivität hat nämlich mit Richtigkeit und Repräsentativität zu tun, Repräsentativität aber mit dem Wissen um den umfassenderen Zusammenhang, in dem die in Betracht gezogenen Dinge und Sachverhalte stehen. Daher kann es ja auch oftmals wichtiger sein, mehr darauf zu achten, was jemand nicht sagt, als nur darauf, was er sagt. Was andererseits die Werturteilsfreiheit betrifft, so ist diese nicht notwendig schon durch die Abstinenz von expliziter Parteinahme verbürgt. John Seeley hat in diesem Zusammenhang vom „Prinzip der Normativität der letzten Ursache“ gesprochen, welches auch hinter vielen werturteilsfrei dargestellten Sachverhalten zu liegen komme.44 Immer dort, wo ein Forscher seine Suche nach den „Ursachen“ einer sozialen Erscheinung abbricht, lasse er unausgesprochen und oft sogar unbeabsichtigt Verantwortliche und Schuldige zurück. Häufig wird dabei jedoch irgendeine Stellungnahme suggestiv dadurch aufgedrängt, dass man „die Tatsachen sprechen lässt“.45 Dies ist auch oft dort der Fall, wo die Quellenlage mehrere Deutungen zulässt. „Für den Mediziner“, so bemerkte in diesem Zusammenhang der französische Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler François Simiand, „wird eine Epidemie als Ursache die Verbrei­ tung eines Virus haben und als Bedingung die durch den Pauperismus hervorgerufene mangelnde Sauberkeit und schlechte Gesundheit; für den Soziologen und Philanthropen werden die Ursache der Pauperismus und die Bedingung die biologischen Faktoren sein.“46 Die Entscheidung darüber, welche Faktoren zählen (sollen) und welche nicht, fällt zunächst auf der Ebene der Theorie, und es kann sein, dass die Quellenlage unterschied­liche Zugänge zum historischen Geschehen als möglich erscheinen lässt. Ob also eine Geschichte, wie 43 Die Bedeutung von Objektivität wird, wie Alan Montefiore zeigte, sehr häufig konfundiert mit den Bedeutungen der Begriffe Neutralität, Unparteilichkeit und Uneigennützigkeit. Besteht Objektivität im Wesentlichen darin, dass man von einem Sachverhalt ein möglichst repräsentatives Bild hinsichtlich der Beschreibungs- und Erklärungskomponenten vermittelt und dabei so nah wie möglich an intersubjektiv nachprüfbaren Tatsachen bleibt, so besteht Neutralität im Wesentlichen darin, sich angesichts eines Konfliktes zwischen mindestens zwei Parteien so zu verhalten, dass man keiner Seite hilft und, was die Handlungsbereitschaft anlangt, moralisch-politisch indifferent bleibt; Unparteilichkeit liegt vor, wenn man bestrebt ist, gleiche Fälle nach allgemein erkennbaren Regeln gleich zu beurteilen; Uneigennützigkeit ist dadurch bestimmt, dass in jemandes Handlung keine persönlichen Interessen im Spiele sind. – Siehe Alan MONTEFIORE (Hg.): Neutrality und Impartiality. The University and Political Commitment, London 1975. 44 John R. SEELEY: The Making and Taking of Problems, in: Social Problems 14 (1967), S. 382 –389. 45 Vgl. dazu bereits Max WEBER: Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (Anm. 34), S. 489 –540, hier v. a. S. 498. 46 Zitiert nach Marc BLOCH: Apologie der Geschichte oder Der Beruf des Historikers. Hrsg. von Lucien Febvre (übersetzt nach der 6. Aufl., Paris 1967, von Siegfried Furtenbach, revidiert durch Friedrich J. Lucas), München 1985, S. 147.

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in dem Beispiel von Simiand, biologisch oder sozialökonomisch gedeutet und erklärt werden soll, ist zunächst nicht eine Frage des Quellenbestandes, sondern der theoretischen Vorentscheidung. Sobald aber diese Entscheidung gefallen ist, beginnen die Quellen zu sprechen. So erzwingt der Primat der Theorie, wie Reinhart Koselleck dargelegt hat, auch den Mut zur Hypothesenbildung, ohne die eine historische Forschung nicht aus­kommt: „Damit wird freilich der Forschung kein Freibrief erteilt. Denn die Quellenkritik behält ihre unverrückbare Funktion. […] Streng genommen kann uns eine Quelle nie sagen, was wir sagen sollen. Wohl aber hindert sie uns, Aussagen zu machen, die wir aufgrund der Quellen nicht machen dürfen. Die Quellen haben ein Vetorecht.“ 47 Da also in der Geschichtswissenschaft – bei allem möglichen Dissens über die theoretischen Zugangsweisen zum Gegenstand der Betrachtung – ein Konsens darüber besteht, was im Verlauf der einschlägigen Deutungen und Erklärungen nicht erlaubt ist, weil es dem Inhalt der vorhandenen Quellen nicht entspricht, sind der Beliebigkeit in historischen Deutungen und Interpretationen Grenzen gesetzt. Eine „objektive Einstellung“ des Wissenschaftlers ist in solchen Belangen allerdings noch keine Erfolgsgarantie. Und so wird, wie etwa Karl Popper dargelegt hat, Objektivität weder dadurch erreicht, dass man sich der expliziten Wertung enthält, noch durch die Konditionierung des Bewusstseins von Wissenschaftlern im Sinne einer neutralen oder auch unparteiischen Einstellung, so wichtig eine Charakterschulung von Wissenschaftlern auch sein mag, sondern durch deren wechselseitige Kritik sowie durch bestimmte, diese Kritik ermöglichende gesellschaftliche und politische Verhältnisse.

6. Kausalität und moralische Zurechnung Den Ansatzpunkt für jede Art von moralischer Zurechnung bildet das intentionale Verstehen, also die Rekonstruktion der Absichten und Ziele eines historischen Akteurs. Deren Berücksichtigung als möglicher Ursachen ist in all jenen humanwissenschaftlichen Berei­ chen unverzichtbar, wo es um den Zusammenhang von Kausalität, Schuld und Vergeltung beziehungsweise von Handlung, Handlungsfolgen und moralischer Zurechnung geht. Dies zu untersuchen, gehört insbesondere zu den Aufgaben von Juristen, und so kommt es nicht von ungefähr, dass gerade die Rechtsphilosophie zur Analyse des Zusammenhangs von Kausalität und Moralität auch für die analytische Geschichtsphilosophie bedeutende Beiträge geleistet hat; exemplarisch sei hingewiesen auf Vergeltung und Kausalität von Hans

47 Reinhart KOSELLECK: Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt, in: Objektivität und Parteilichkeit. Hrsg. von Reinhart Koselleck, Wolfgang J. Mommsen und Jörn Rüsen (= Beiträge zur Historik, 1), München 1977, S. 17–  46, hier S. 45.

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Kelsen und Causation and the Law von Herbert L. A. Hart und Anthony M. Honoré.48 Alle drei Autoren zeigen auf überzeugende Art, dass kausale Fragestellungen unser Rechtsdenken seit altersher durchdringen, wobei Hart und Honoré verschiedene kausale Ansätze an einer großen Zahl von aktuelleren Rechtsfällen veranschaulichen. Ähnlich wie Historiker oftmals für ein und dasselbe Ereignis eine Mannigfaltigkeit von – natürlich nicht nur physikalisch verstandenen – Ursachen aufzeigen, können auch verschiedene Rechtsexperten ein und derselben menschlichen Handlung eine Mehrzahl von Ursachen unterlegen. So mag man sich in Anbetracht eines Mordes, der mit einer Schusswaffe ausgeführt wurde, fragen: Wer oder was verursachte den Tod des Opfers? Für den Leichenbeschauer steht fest, dass die Todesursache aus der Schusswunde ersichtlich sei, während der Staats­ anwalt die Ursache beim Angeklagten sieht, genauer gesagt: bei dessen Motiv, das ihn zur Tötung des Opfers veranlasste. Der Verteidiger wiederum mag in dem Klima der Gewalt, in dem der Angeklagte aufgewachsen ist, also in dessen trister Jugend die Ursache finden.49 Selbst wenn im konkreten Fall die Frage nach der Ursache eindeutig formuliert und die Problemexposition klar ist, mag unter Umständen jede der drei Personen in der von ihr vorgebrachten Erklärung die besonders relevante Ursache in dem für das Eintreten des Ereignisses bestimmenden Geflecht von Bedingungen erblicken. Und daran gibt es zunächst auch nichts zu kritisieren, solange nicht versucht wird, eine der genannten Bedin­gungen als den einzigen kausal relevanten Faktor für den Tod des Opfers auszuzeichnen. Was in der Jurisprudenz wie in der Historie immer wieder besonders interessiert, ist der von Friedrich Meinecke apostrophierte Zusammenhang von „Kausalitäten und Werten“,50 oder mit anderen Worten: von Erklärungen, mit denen disjunkte moralische Bewertungen verknüpft sind. Wer, so lautet bekanntlich die immer wieder erörterte die Frage, hat den Ersten Weltkrieg verursacht und wer ist deshalb für dessen Ausbruch moralisch verantwortlich? Bei der Beantwortung dieser Frage gehen also auf eine bestimmte Ursache (oder zumindest Hauptursache) bezogene Erklärungsansprüche mit moralischen Bewertungen einher. Es ist nötig zu erkennen, dass die Auszeichnung einer bestimmten Ursache unter mehreren denkbaren dieser im Laufe der Zeit erst jenen „absoluten“ Charakter verleiht, der für moralische Zurechnungen fälschlicherweise oft als unverzichtbar angesehen wird. 48 Hans KELSEN: Vergeltung und Kausalität. Eine soziologische Untersuchung [1941], 2. Aufl., Wien-GrazKöln 1982; H. L. A. HART, A. M. HONORÉ: Causation and the Law, Oxford 1959. 49 Dass hier rechtlich oder historisch relevante Tatsachen als psychische Tatsachen aufgefasst werden, heißt nicht zu leugnen, dass die menschlichen Schicksale in die physische Welt und in Institutionen hinein verwoben sind und deren Einflüssen unterliegen. Marc Bloch stellte dazu fest: „Man würde in der Geschichtsforschung das Problem der Ursachen schwer mißverstehen, wenn man es immer und überall auf ein Problem der Motive reduzierte.“– Marc BLOCH: Apologie der Geschichte oder Der Beruf des Historikers. (Anm. 46), S. 148. 50 Friedrich MEINECKE: Kausalitäten und Werte in der Geschichte, in: Historische Zeitschrift 137 (1928), S. 1–27.

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Wie der Historiker sein Sichtfeld dimensioniert, hängt davon ab, welche Antecedensbedingungen und welche Gesetzmäßigkeiten oder soziale Regularitäten er für seine Beschreibungen, Erzählungen und Erklärungen als relevant erachtet. Diese Komponenten konstituieren zusammengenommen das jeweilige kausale Feld. Ihm gemäß wird das als relevant angesehene historische Ereignis durch eine bestimmte Klasse von Variablen erklärbar. Illustriert seien dieser Sachverhalt und die sich daraus ergebenden erkenntnislogischen und moralischen Konsequenzen unter Bezugnahme auf einige von dem Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmansegg angestellte Überlegungen. In einer anregenden Erörterung geht er der Frage nach, welche politischen Akteure und welche Umstände für das Zustandekommen des Ersten Weltkrieges verantwortlich sind. Dabei leistet er einen wertvollen Beitrag zur Aufweisung verschiedener kausaler Felder in Geschichtserklärungen, wodurch es möglich wird, auch die monolithischen Begriffe „Verantwortlichkeit“ und „Schuld“, ganz nach Art der analytischen Philosophie, zu relationieren.51 Kielmansegg nennt als Vorbild für seine Studie den amerikanischen Politikwissenschaftler Graham T. Allison und dessen 1971 erschienenes Buch über die Kuba-Krise Essence of Decision.52 Habe man in Bezug auf die fünf Wochen zwischen dem 28. Juni und dem 1. August 1914 die Abfolge von Entscheidungen der fünf Großmächte und Serbiens im Visier, so sei die Verantwortung an bestimmten Entschlüssen einzelner Akteure festzumachen. Richte man sein Augenmerk hingegen, zweitens, auf die für den Verlauf und das Ergebnis der soge­nannten Julikrise maßgeb­lichen Umstände, so werde man sich der Rekonstruktion der Hand­lungsspielräume zuwenden, also den Möglichkeiten, die in einer bestimmten Konstellation gegeben waren. Wesentlich sei dann die Frage, welche Entscheidungsmöglich­keiten eine bestimmte Konstellation in sich barg und wie das Tableau ihrer Optionen von den histo­rischen Akteuren selbst wahr­genommen wurde. Drittens könne man in der histo­ rischen Betrachtung den Grad der Determiniertheit des Krisenverlaufs in das Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, und dann werde man die Entscheidungen nicht nur von den Akteuren und von deren näheren Umständen her analysieren, sondern in ihrer systemischen Bedingtheit. Im erstgenannten Fall, in dem die Kette der Entscheidungen in Betracht gezogen wird, bestimmen nach Kielmansegg fünf Schlüsselereignisse das Geschehen im Sommer 1914: die Entscheidung der Doppelmonarchie, das Attentat von Sarajevo mit einem Krieg gegen Serbien zu beantworten; die deutsche Entscheidung, Österreich-Ungarn Rückendeckung selbst für den wahrscheinlichen Fall russischen Eingreifens zuzusichern; die Entscheidung Russlands, Serbien für den Fall, dass dieses von Österreich angegriffen wird, zu Hilfe zu kommen; Frankreichs Bereitschaft, Russland für den Ernstfall vorbehaltlos Beistand zu 51 Peter Graf KIELMANSEGG: Schuld und Halbschuld, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. Juni 2014, S. 6. 52 Graham ALLISON: Essence of Decision: Explaining the Cuban Missile Crisis, Boston 1971.

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leisten; schließlich Serbiens Entscheidung, in Anbetracht der russischen Rückendeckung das österreichische Ultimatum in einigen entscheidenden Punkten zurückzuweisen.53 – Fünf Schlüsselentscheidungen also und fünf Gruppen von Hauptakteuren: Wenn man diese Sequenz zur Grundlage seines Urteils mache, so findet Kielmansegg, werde man die Hauptlast der Verantwortung Österreich-Ungarn und Deutschland zuschreiben können, deren Entscheidungen die Kettenreaktion in Gang setzten. Ziehe man, zweitens, die Bedingungen in Betracht, unter denen im Juli 1914 die Entscheidungen der Nationen erfolgten, so komme man zu einem anderen Urteil. Auszugehen sei davon, dass die Doppelmonarchie sich vom Ehrgeiz Serbiens existentiell herausgefordert fühlte, da sie um die südslawischen Gebiete der Monarchie bangte. Deutschland wiederum habe zwar die Schwäche seines Bundesgenossen gesehen, doch fühlte es sich noch stark, wenn auch zunehmend weniger stark im Verhältnis zu den vermeintlich wachsenden militärischen Anstrengungen des Zarenreichs, und zusätzlich sah es sich vom französischrussischen Bündnis umklammert, von dem man fürchten musste, dass es sich zur TripleEntente erweitert. Russland, das sich als Schutzmacht der Balkanslawen verstand, und Frankreich, das im Bündnis mit Russland den Garanten seiner Sicherheit erblickte, hatten, so Graf Kielmanseggs Ansicht, mit dem Rückhalt der seebeherrschenden Weltmacht England hinsichtlich einer möglichen Bewahrung des Friedens größeren Handlungsspielraum als die Gegner. Russlands Interessen als Schutzmacht der Balkanslawen und Österreichs Überlebensinteressen seien nicht von gleichem Rang gewesen, und dennoch habe Raymond Poincaré bei seinem Besuch in Sankt Petersburg Mitte Juli dem Zaren keinen anderen Rat gegeben als den der Unnachgiebigkeit („ fermeté “). Ernsthaft habe die Entente, deren Handlungsspielraum größer war als der der Gegner, in keinem Augenblick erwogen, der Doppelmonarchie entgegenzukommen, wie übrigens auch England nicht. – Dieser zweite Blick auf die Krise sieht daher nach Kielmansegg die Verantwortung anders verteilt als der erste. Rücke man, drittens, die systemischen Gegebenheiten in ihrer Einwirkung auf die historischen Akteure in das Zentrum der Aufmerksamkeit, so sind nach Kielmansegg insbesondere die Struktur des Mächtesystems und bestimmte vorherrschende Denkweisen in Betracht zu ziehen: ein hochgradig kompetitives Staatensystem, das in zwei einander misstrauisch beobachtende Lager gespalten gewesen sei, innerhalb derer die p ­ olitischen Hauptakteure zu wissen meinten, dass der Krieg zwischen den beiden Mächtegruppen irgendwann unausweichlich sei. Jede Seite schob die Verantwortung für den Frieden der anderen zu. – Der dritte Blick zeige uns mithin ein Europa, in dem jedenfalls die Großmächte in ihren Denk- und Verhaltensmustern einander erstaunlich ähnlich waren. 53 Dass das Vereinigte Königreich in der Abfolge dieser Ereignisse nicht vorkommt, hat damit zu tun, dass nach Kielmanseggs Überzeugung in diesem Fall eher von Nichtentscheidungen als von Entscheidungen gesprochen werden müsse.

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So richtet Graf Kielmansegg aus drei Perspektiven seinen Blick auf ein Geschehen, dessen verschiedene Rekonstruktionen der Juli-Krise einander nicht widersprechen, die aber seiner Ansicht nach zeigen, dass einfache Urteile über Schuld und Unschuld die Wirklichkeit dieser Krise verfehlen. Resümierend stellt er fest: „Dass kein einfaches Urteil möglich sei, heißt nicht, dass kein Urteil möglich sei. Aber der Gestus schroffer Wahrheitsgewissheit, der die Jahrhundertdebatte über lange Strecken bestimmte, passt schlecht zu den Realitäten.“54 Aus Kielmanseggs Studie wird klar, dass, so wie beispielsweise die Begriffe „Freiheit“ und „Demokratie“, auch die Begriffe „Verantwortung“ und „Schuld“ nicht absolute Begriffe sind, sondern relativ zu dem kausalen Feld, in dem sich das Handeln der historischen Akteure vollzieht.

7. Erklären durch Erzählen Wie etwa Walter B. Gallie,55 Morton G. White,56 Arthur C. Danto57 und danach Hay­ den White behaupteten, sei es für die Erklärung eines Ereignisses unverzichtbar, dass dessen Antezedentien durch den Historiker erzählend dargelegt werden, um Entwicklungen einsich­tig zu machen, die dem Leser andernfalls nur rätselhaft oder unglaubwürdig erscheinen. So erreiche man mit narrativen Erklärungen eine Kohärenz zwischen den oft nur unvermittelt nebeneinander liegenden Splittern der quellengestützten historischen Erinnerung. Es war zweifellos von Vorteil, dass sich die analytische Geschichtsphilosophie wie­ der für derartige Einsichten öffnete. Verbunden war dieser Vorgang mit der Abkehr von der Auffassung bestimmter Neopositivisten, der Philosophie der Geschichtswissenschaft soll­e es vorrangig um die Validierung der von Historikern benutzten und gefundenen Gesetze und Regelmäßigkeiten gehen, die für eine adäquate Erklärung von Handlungen und Ereignissen nötig seien. In Gegenstellung zu solchen Direktiven entwickelte sich eine von der Sache her nahegelegte Beziehung zwischen der Phänomenologie und bestimm­ ten dem Logischen Konstruktivismus gegenüber kritischen Vertretern der a­nalytischen Geschichts­philosophie, die beispielsweise im Schrifttum von Wilhelm Schapp58 und Her54 Peter Graf KIELMANSEGG: Schuld und Halbschuld (Anm. 51). – Vgl. in diesem Zusammenhang aus der Vielzahl einschlägiger Darstellungen auch Hans FENSKE: Der Anfang vom Ende des alten Europa. Die alliierte Verweigerung von Friedensgesprächen 1914 –1919, München 2013. 55 W. B. GALLIE: Philosophy and the Historical Understanding, London 1964. 56 Morton G. WHITE: Foundations of Historical Knowledge, New York-Evanston-London 1965. 57 Arthur C. DANTO: Analytical Philosophy of History, Cambridge 1965; dt.: Analytische Philosophie der Geschichte. Aus d. Engl. von Jürgen Behrens, Frankfurt a. M. 1974. 58 Wilhelm SCHAPP: Philosophie der Geschichten, Leer 1959.

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mann Lübbe­59 Ausdruck fand. Besondere Aufmerksamkeit wurde im weiteren Verlauf von einigen analy­tischen Geschichts­philosophen den von der Literaturtheorie untersuchten Erzählstrukturen geschenkt – man denke neben Hayden White60 vor allem an Louis O. Mink,61 die beide das in die Wege leiteten, was später als „linguistic turn in the philosophy of history“ bezeichnet wurde. Doch zu diesem und zu seinen Folgen mehr im vierten Abschnitt der vorliegenden Studie.

III. Wozu studiert man analytische Geschichtsphilosophie? Die Antwort auf diese Frage kann fürs Erste recht kurz gehalten werden: um sich Wissen darüber anzueignen, das dazu dient, Fragen und Probleme der im vorangegangenen Abschnitt skizzierten Art zu erörtern. Aber diese Antwort ist für denjenigen ungenügend, der mit der Frage nach dem Wozu der analytischen Geschichtsphilosophie auch jenen intellek­ tuellen Habitus meint, der sich als Resultat des Studiums von solchen Fragen und Problemen ergibt. Im Hinblick darauf sollen hier nun zwei Eigenschaften des einschlägigen Schrifttums untersucht werden, denen zugleich eine geistige Haltung entspricht: Klarheit62 und Wissenschaftsnähe.

1. Klarheit Auch wenn im Hinblick auf die Funktion der Philosophie unter den analytischen Philosophen die Meinungen keineswegs immer einheitlich waren, so bestand doch Über­ einstimmung bezüglich der geradezu moralischen Verpflichtung zu sprachlicher Klarheit. Diese Einstellung lässt sich bereits im philosophischen Schrifttum der englischen Aufklärer des 17. Jahrhunderts nachweisen. Die erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Orientierung, die für die analytische Geschichtsphilosophie mehrheitlich kennzeichnend ist, hat ihre Wurzeln in der philosophischen Tradition des britischen Empirismus, nament­ 59 Hermann LÜBBE: Bewußtsein in Geschichten. Studien zur Phänomenologie der Subjektivität. Mach, Husserl, Schapp, Wittgenstein, Freiburg i. Br. 1972; Ders.: „Sprachspiele“ und „Geschichten“. Neopositivis­mus und Phänomenologie im Spätstadium, in: Kant-Studien 49 (1957/58), S. 225 –237. 60 Siehe v. a. Hayden WHITE: Metahistory: The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore [u. a.] 1973; dt.: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Aus dem Amerikanischen von Peter Kohlhaas, Frankfurt a. M. 1994. 61 Louis O. MINK: Narrative Form as a Cognitive Instrument, in: Historical Understanding. Ed. by Brian Fay, Eugene O. Golob and Richard T. Vann, Ithaca, N.Y. 1987, S. 182 –203. 62 Siehe dazu exemplarisch Matthias KROSZ: Klarheit als Selbstzweck. Wittgenstein über Philosophie, ­Religion, Ethik und Gewißheit, Berlin 1993.

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lich in den Schriften von Locke, Hume und Mill. Diese Tradition wurde von den Vertretern einer idealistischen Bedeutungs- und einer zumal transzendentalphilosophischen Geschichtstheo­rie im deutschen Sprachraum oft abschätzig als flach und inhalts­leer be­ zeichnet. Natürlich kann es gelegentlich sein, dass man in Anbetracht gewisser zum Selbstzweck gewordener logischer Formalismen und syntaktisch-semantischer Glasperlenspiele bereit ist, dem – übrigens gelegentlich auch im angelsächsischen Sprachraum – der analy­tischen Philosophie gegenüber erhobenen Vorwurf zuzustimmen, dass Klarheit allein „nicht genug“ sei.63 So berechtigt ein solcher Vorwurf mitunter auch sein mag, so sehr muss eine pauschalierende Kritik und insbesondere der Vorwurf der Flachheit und „Seichtigkeit“ den befremden, der nicht willens ist, geschichtsphilosophische Gedanken allein deshalb schon für tief zu halten, weil sie sich dem Verstehen entziehen. Als exemplarisch für ein solches Denken seien hier die folgenden Worte eines gewisse sprachliche Konventionen und eine empirische Orientierung in der Philosophie verachtenden Meisterdenkers wiedergegeben: „Die Historie ist in ihren Vorformen, ihrer Ausbildung zur Wissenschaft, in der Verflachung und Verständlichung dieser zum gemeinen Rechnen durch­aus eine Folge der Metaphysik. Dieses aber sagt: der Geschichte des Seyns, des Seyns als Geschichte, wobei aber das Seyn und die Geschichte völlig verborgen bleiben, ja sogar in die Verborgenheit sich zurückhalten. – Das Seyn als Er-eignis ist die Geschichte; von hier aus muß deren Wesen, unabhängig von der Werdens- und Entwicklungsvorstellung, unabhängig von der historischen Betrachtung und Erklärung, bestimmt werden.“64 Angesichts solcher Sätze, wie der hier aus Martin Heideggers Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis) entnommenen, welches Buch der Verfasser als sein eigentliches Hauptwerk betrachtete, kommen einem die Worte des Schriftstellers Jean Améry in den Sinn, der als ehemaliger Schüler von Moritz Schlick bemerkte: „Wenn die Verbalgewitter niedergehen, deren Kraft gespeist ist aus der Wortkunst von Mallarmé bis Heidegger, von Hegel bis zu jenen Poeten, die die Wörter wie Nüsse aufknacken, sage ich mir wie ehedem: Alle sinnvollen Sätze müssen rückführbar sein auf Sätze mit wahrnehmbaren Prädikaten. Oder: Der Sinn eines Satzes ist der Weg seiner Verifizierung.“65 Geschichtsdenker, deren Produkte sich – entgegen der hier formulierten Forderung – der Überprüfung entziehen und nur ahnungsvoll erschließbar sein wollen, setzen sich zumeist nicht nur dem Verdacht der Sprachmagie aus, sondern auch dem der mangelnden intellektuellen Redlichkeit.

63 Vgl. z. B. Hywel David LEWIS: Clarity is Not Enough, London 1963. 64 Martin HEIDEGGER: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Frankfurt a. M. 1989 (= Martin Heidegger Gesamtausgabe, Bd. 65), S. 494. 65 Jean AMÉRY: Die scheinbaren Scheinfragen, in: Ders., Unmeisterliche Wanderjahre, Stuttgart 1971, S. 32 –54, hier S. 35.

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2. Wissenschaftsnähe Was die behauptete Wissenschaftsnähe der analytischen Geschichtsphilosophie anlangt, so besteht eine solche vor allem auf Seiten der Logischen Kon­struk­tivisten. Trotz aller gele­ gentlichen Verengung der geschichtsphilosophischen Zielsetzung, die sie praktizierten, ermöglichte ihre Differenzierung von vollständigen und unvollständigen Erklärungen, Er­ klärungsskizzen und Pseudoerklärungen eine begründete Einschätzung der Erklärungskraft von Theorien in den Humanwissenschaften. Zudem boten Analysen der Theoriebildung sowie der Theorienvergleich eine Grundlage für die Übernahme gewisser Erkenntnisse der theoretischen Sozialwissenschaften in den Bereich der Geschichtswissenschaft. Ludwig Wittgenstein hat dagegen in seiner Spätphilosophie, wie man weiß, die Fixie­ rung der Logischen Empiristen auf die naturwissenschaftliche Methode kritisiert, deren Ver­ absolutierung nur zu einer neuen Form von Metaphysik geführt und überdies den Status der Philosophie beschädigt habe. Philosophie schaffe ja nicht neues Wissen, sondern leiste einen Beitrag dazu, die „logische Geographie“ des bereits bekannten Wissens zu berichtigen, wie Gilbert Ryle sich in seinem Buch The Concept of Mind ausdrückte.66 Bertrand Russell und Rudolf Carnap, die für die Philosophie durchaus auch eine erkenntniserweiternde Rolle proklamiert haben, hätten hingegen kaum daran gezweifelt, dass eine Korrektur der „logischen Geographie“ unseres bereits vorhandenen Wissens dieses durch Veränderung unserer Weltbetrachtung durchaus verändert, und daher unter Umständen auch die Welt, sodass die Philosophie doch nicht notwendig, wie Wittgenstein meinte, „alles“ so „lässt [...] wie es ist“.67 Ungeachtet der Bedeutung, welche die durch ihn initiierten Kontroversen bezüglich der Abgrenzung von Philosophie und Wissenschaft erlangten, hat es Wittgenstein der ana­lytischen Philosophie nicht leicht gemacht: einerseits hat er sie als eine sich selbst auf län­gere Sicht überflüssig machende Tätigkeit der Klärung des Sinnes unklarer Sätze verstanden, andererseits aber mit seinen Überlegungen zum Verstehen des Fremdseelischen, wie noch dargelegt werden soll, in den Zustand einer veritablen erkenntnistheoretischen Unsicherheit versetzt.

66 „The philosophical arguments which constitute this book are intended not to increase what we know about minds but to rectify the logical geography of the knowledge we already possess.“ (Gilbert RYLE: The Concept of Mind, London 1949, S. 1.) 67 Ludwig WITTGENSTEIN: Philosophische Untersuchungen, in: Ders., Schriften, Frankfurt a. M. 1960, S. 277–544, hier S. 345 (§ 124).

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IV. Die Wende der analytischen Philosophie und die veränderten Voraussetzungen ihrer Geschichtstheorie Bestimmend für die Wende, die die analytische Philosophie vollzogen hat, war einerseits eine Revision des herkömmlichen Rationalitätsbegriffs, andererseits die durch Wittgenstein in bestimmtem Umfang mit auf den Weg gebrachte Erzähltheorie, die mehr und mehr mit einer Unschärfe der Grenzziehung zwischen den Bereichen des Faktischen und des Fiktionalen einhergehen sollte.

1. Pluralität der Lebensformen, Pluralität der Rationalitäten Carl G. Hempel, um nur einen der Autoren zu nennen, denen es um Analysen der rationalen Erklärung in der Geschichtswissenschaft ging, befand sich noch im Lager der traditionalis­tischen Richtung der Rationalitätstheorie.68 Die antitraditionalistische Richtung erfreute sich vor allem seit Wittgensteins 1967 erstmals veröffentlichten, doch bereits im Sommer 1931 verfassten Remarks on Frazer’s Golden Bough / Bemerkungen über Frazers Golden Bough69 eines beachtlichen Zuspruchs. Peter Winch, David Bloor und Barry Barnes 68 Die Vertreter der traditionalistischen Schule sehen insbesondere folgende Bedingungen als notwendig an, um eine Handlung als rational bezeichnen zu können: Der Handelnde benutzt nur empirisch begründete Annahmen, welche die von ihm ins Auge gefassten Mittel und Ziele verknüpfen; er orientiert sich an einer expliziten und kohärenten Präferenzordnung; er besitzt in dem Moment der Entscheidung einen hinreichenden Überblick über die relevanten Komponenten seiner Handlungssituation sowie über die Folgen seiner Entscheidung; er ist im Besitz des Wissens über die taktischen Maßnahmen, die zwischen dem Moment der Entscheidung zugunsten des von ihm als erstrebenswert angesehenen Zustandes und dem Moment, in dem dieser Zustand erreicht sein wird, erforderlich sind. – Vertreter einer dieses strenge Konzept der Rationalität abschwächenden Theorie der bounded rationality, wie Herbert Simon, betonen, dass die angeführten (Ideal-)Bedingungen: optimale Information, strenge Rangordnung und Kohärenz der Präferenzen, Kompetenz bezüglich der Einschätzung der Folgen seines Tuns etc., in der Praxis weit von ihrer Verwirklichung entfernt sind. So wirft der Rationalitätsbegriff selbst in seiner auf die Adäquatheit der Mittel in Bezug auf die Zwecke bezogenen Bedeutung Definitionsprobleme auf, da die erwähnten Bedingungen so gut wie nie gleichzeitig zu erfüllen sind. – Vgl. Herbert A. SIMON: Models of Man. Social and Rational, New York 1957; Ratio­ nality as Process and Product of Thought, in: The American Economic Review 68 (1978), S. 1–16. 69 Ludwig WITTGENSTEIN: Remarks on Frazer’s Golden Bough / Bemerkungen über Frazers Golden Bough, in: Synthese 17 (1967), S. 233 –253. – Dabei handelt es sich um eine Sammlung von Betrachtungen zu dem zweibändigen Werk von James George FRAZER: The Golden Bough. A Study in Comparative Religion [ab der zweiten Auflage: A Study in Magic and Religion], London 1890. (Umfasste die zweite Auflage aus dem Jahr 1900 bereits drei, so die zwischen 1906 und 1915 publizierte dritte Auflage 15 Bände.) Mit dieser kurzen Schrift über Frazer näherte sich Wittgenstein Überlegungen, die letztlich in seinen 1953 posthum veröffentlichten Philosophischen Untersuchungen ihren Ausdruck fanden. Bei genaueren Studien des tatsächlichen wissenschaftlichen Vorgehens in Ethnologie und Historie, davon war Wittgenstein mehr und mehr überzeugt, müssten kontextuelle und pragmatische Bedingungen in Betracht gezogen werden,

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sind als exemplarische Vertreter dieser letzteren Richtung anzusehen. Ihnen zufolge würden wir fremde Kulturen nicht verstehen können, weil unsere Lebensform mit ihren Lebensformen unvereinbar sei. Peter Winch hat diese Ansicht in seinem einflussreichen Buch The Idea of a Social Science and its Relation to Philosophy70 mit besonderem Nachdruck vertreten und damit eine intensive Diskussion – auch in der Kulturanthropologie – ausgelöst.71 Winch behauptet, obwohl er das gemäß seinen eigenen argumentativen Voraussetzungen gar nicht wissen kann, dass die Angehörigen fremder Kulturen einen von dem unsrigen vollkommen verschiedenen Wahrheitsbegriff hätten und dass es so etwas wie subjekt- und kontextunabhängige Wahrheit gar nicht gebe. „Das hält ihn aber“, wie Thomas Haussmann kritisch bemerkt, „nicht davon ab, für diese seine Behauptung zu beanspruchen, sie sei subjekt- und kontextunabhängig wahr.“ 72 Für die Vertreter des antitraditionalistischen Rationalitätskonzepts sind Handlungen (als nicht-reflexhafte Formen des Verhaltens) unter folgenden Bedingungen rational: wenn sie den Umständen des Akteurs angemessen sind; wenn die Umstände das sind, wofür sie der Akteur hält; wenn die Annahmen des Akteurs über seine Umstände und das, was er unter diesen Umständen will, die Gründe für sein Handeln ausmachen. Im Wesent­lichen handelt es sich dabei um das, was Max Weber als „subjektive Zweckrationalität“ im Unterschied zur „objektiven Richtigkeitsrationalität“ bezeichnete.73 Auf diese ist hingegen das

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die nicht einer logischen Formalisierung zugänglich sind. Wolle man verstehen, so sei es nötig, sich fremde „Lebensformen“ zu vergegenwärtigen, die letztlich dafür bestimmend seien, welchen Evidenzen welches Gewicht in der Deutung und in der Rechtfertigung von Handlungen, Zuständen und Ereignissen beigemessen werde. Diese Relativierung des Wirklichkeitsbegriffs, die bei Wittgenstein (ähnlich wie bei Thomas S. Kuhns Paradigmen-Konzept) bis zu Behauptungen der unausweichlichen begrifflichen Inkommensurabilität kulturwissenschaftlicher Befunde reicht, hat nicht nur zu lebhaften Diskussionen unter Kulturanthropologen, sondern auch zur Frage Anlass gegeben, ob die auf diesem Wege erzielten Einsichten noch als im eigent­ lichen Sinne „philosophisch“ betrachtet werden sollten. Peter WINCH: The Idea of a Social Science and its Relation to Philosophy, London 1958, dt.: Die Idee der Sozialwissenschaft und ihr Verhältnis zur Philosophie, Frankfurt a. M. 1974; siehe auch Ders.: Was heißt „eine primitive Gesellschaft verstehen“?, in: Magie. Die sozialwissenschaftliche Kontroverse über das Verstehen fremden Denkens. Hrsg. v. Hans G. Kippenberg und Brigitte Luchesi, Frankfurt a. M. 1987, S. 73  –119. (Orig.: Understanding a primitive society, in: American Philosophical Quarterly 1/1964). Vgl. z. B. den Sammelband von Martin HOLLIS, Steven LUKES (Hgg.): Rationality and Relativism, Oxford 1982. Thomas HAUSSMANN: Erklären und Verstehen (Anm. 26), S. 184, Fußnote. – Vgl. dazu in ähnlichem Sinne Quentin SKINNER: Interpretation, rationality and truth, in: Ders., Visions of Politics, vol. I: Regarding Method (Anm. 13), S. 27–56. Vgl. Max WEBER: Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie [1913], in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (Anm. 34), v. a. S. 432 f. – Auch William H. Dray steht dieser Position nahe. Denn um gute Gründe handelt es sich nach ihm, wenn die Handlung in Anbetracht der Ziele, Motive und Überzeugungen des Handelnden rational war, dass sie mithin das war, was aus den gegebenen Gründen zu tun war, und nicht bloß das, was normalerweise in solchen Situationen getan wird. Wörtlich heißt es bei

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traditionalistische Rationalitätskonzept bezogen. Es besteht in der Normierung heuristisch fruchtbarer, idealisierter Kriterien für Rationalität, und darin besteht seine Stärke. Seine Schwäche hat ihren Grund darin, dass seine Idealitätsannahmen nur unter selten auftretenden realen Konstellationen zu verwirklichen sind. Die Stärke des antitraditionalistischen Rationalitätskonzeptes wiederum besteht darin, dass vieles sogenannte irrationale Verhalten tatsächlich als schwache oder partielle Rationa­ lität angesehen werden kann, und dass jenes Konzept dazu beiträgt, Handlungen, auch wenn sie fremd erscheinen, so zu betrachten, als ob sie rational wären. Die Schwäche des antitraditionalistischen Rationalitätskonzeptes liegt aber darin, dass es das Kriterium der Nachvollziehbarkeit von Handlungen überstrapaziert und zu deren geradezu willkürlicher Zuordnung zu „evidenten“ Handlungsregeln ermutigt; ferner wird das „Als ob“-Prinzip, das ein heuristisches Mittel zur Ermöglichung einer Einsichtnahme in zunächst unverständliches Verhalten ist, mit substantiellen Aussagen über die Eigen­art konkreter Ver­ haltensweisen vermengt.74 – Wie eng dieses antitraditionalistische Rationalitätskonzept mit den im Anschluss an Wittgensteins Spätphilosophie formulierten Behauptungen einer Inkommensurabilität von „Lebensformen“ verbunden ist, zeigt sich vor allem in der Art, wie das Konzept der Erzählung von Adepten Wittgensteins in die Geschichtsphilosophie eingeführt wurde.

2. Realismus und Fiktionalismus Historiker werden in der Regel nicht bestreiten, dass historische Tatsachen unabhängig von deren Darstellung nicht erkenntnismäßig erfassbar sind. Demgemäß rücken ja beispielsweise der einer histo­rischen Darstellung inhärente unterschiedliche Maßstab der Zeiterfahrung wie auch die unterschiedliche „Beobachtungshöhe“ sehr Verschiedenartiges in den Blick: im großen Maßstab der longue durée wird ganz anderes sichtbar als in einer auf kurze Zeiträume bezogenen Ereignisgeschichte, in der Makrohistorie anderes als in der Mikrohistorie.75 William H. DRAY: Laws and Explanation in History (Anm. 13), S. 124: „The goal of such explanation is to show that what was done was the thing to have done for the reasons given, rather than merely the thing that is done on such occasions […].“ – Zur Diskussion zwischen Carl G. Hempel und William H. Dray über die Voraussetzungen einer gültigen rationalen Erklärung siehe Alan DONAGAN: The Popper-Hempel Theory Reconsidered, in: William H. Dray (Hg.), Philosophical Analysis and History, New York-London 1966; wieder abgedruckt unter dem Titel: Neue Überlegungen zur Popper-Hempel-Theorie, in: Seminar: Geschichte und Theorie (Anm. 1), S. 173 –208, hier v. a. S. 203 f. 74 Vgl. Percy COHEN: Art. „Rationalität“, in: Josef SPECK (Hg.), Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe, 3 Bde., Göttingen 1980, Bd. 3, S. 531–537, hier S. 536. 75 „In großen Maßstäben überwiegt eine eher deterministische Sichtweise, in kleinen überwiegen Situationen der Ungewissheit, in denen die Akteure das ganze Potential an Berechnung, Imagination, Risiko und willkürlicher Initiative ausschöpfen.“ – Paul RICŒUR: Art. „Wahrheit, historische“, in: Stefan Jordan (Hg.), Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2010, S. 316 –320, hier S. 318.

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In Bezug auf das Problem der historischen Erkenntnis sind die von Wittgensteins Theorie der „Sprachspiele“ kommenden Einflüsse von ähnlich grundlegender Bedeutung ge­ wesen wie später jene von Michel Foucault, der das Geschichtswissen auf die formierende Kraft des „Diskurses“ zurückführte.76 Die historische Wirklichkeit erschien zunehmend weniger als ein factum, sondern als ein fictum, da sie aus der Beziehung erwachse, welche der Historiker mit den Mitteln der Sprache zu den Quellen als dem primären Material aus der Vergangenheit eingeht. In diesem Sinne hat beispielsweise Hayden White in seinem Buch The Content of Form77 darauf hingewiesen, dass erst die narrative Form, also die Art der erzählerischen Gestaltung, die Quellen mit jenem Sinn ausstatte, der es erlaube, sie als Elemente einer historischen Darstellung zu bezeichnen; diese historische Darstellung wiederum konstruiere und konstituiere das, was uns als historisches Geschehen gilt. Schon vor Hayden White war es der vom späten Wittgenstein beeinflusste Arthur C. Danto, der das realistische Konzept der Geschichte qua res gestae angesichts einer Vielzahl möglicher „Erzählungen“ von Geschichte, also verschiedener Formen einer historia rerum gestarum, thematisierte. Doch im Unterschied zu ihm wird nun bei White Historiographie zu etwas, das sich nicht retrospektiv auf Geschichte als etwas Geschehenes bezieht, sondern als ein erst durch die sprachliche Darstellung Erschaffenes.78 Die narrative Erklärung, die nach White die Besonderheit der historischen Darstellung ausmacht, wird von ihm als ein Sprachspiel aufgefasst, das in fiktionalen Darstellungen ebenso gut funktioniere wie in historiographischen. Mit Wissenschaft habe das historische Erzählen nichts zu tun, wie White in der Vorrede von Metahistory ausführt, vielmehr sei das mit Erklärungsanspruch auftretende narrative Verfahren nur eine Strategie der Historiker, um sich einen Anschein von Wissenschaftlichkeit zu geben. Historiographie sei, so fanden im Anschluss daran andere Autoren, als eine Textsorte zu verstehen, welche sich in ihrem Wirklichkeitsbezug überhaupt nicht von literarischen Fiktionen unterscheide, sondern bestenfalls in rhetorischer oder textpragmatischer Hin76 Michel FOUCAULT: L’Archéologie du savoir, Paris 1969; dt.: Die Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1973. 77 Hayden WHITE: The Content of Form: Narrative Discourse and Historical Representation, Baltimore [u. a.] 1987; siehe auch Ders.: Tropics of Discourse. Essays in Cultural Criticism, Baltimore-London 1978; dt.: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen, Stuttgart 1986. 78 Auch bei Ian Hacking findet man Erörterungen der Beziehung von Darstellung und Realität, die in gewisser Weise an Wittgenstein erinnern, aber nicht den Boden der Überprüfbarkeit verlassen, wie dies bei Hayden White der Fall ist. Hacking zufolge entwickeln wir einen Begriff der Wirklichkeit erst unter der Voraussetzung, dass wir bereits ein Darstellungsvermögen entwickelt haben. Nicht müssten wir einen Begriff von Realität haben, um deren Darstellungen als Abbilder zu identifizieren, sondern Darstellungen seien als eine Praxis vonnöten, um überhaupt „das Reale als Eigenschaft von Darstellungen“ begreifen zu können. – Vgl. Ian HACKING: Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften, Stuttgart 1996, v. a. S. 229. (Dieses Buch ist erstmals 1983 unter dem Titel Representing and Intervening. Introductory Topics in the Philosophy of Natural Science in Cambridge erschienen.)

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sicht, also zum Beispiel bezüglich der auf bestimmte Adressaten bezogenen moralischen oder politischen Intention des Textproduzenten. Denn die reale Geschichte, welche sie fälschlich zu beschreiben vorgeben, werde durch die Historiographen erst hervorgebracht, und dies eben nicht nur hinsichtlich ihrer Form, sondern auch hinsichtlich ihrer Inhalte.79

3. Unterwegs zu verschiedenen Wirklichkeiten Eine bedeutsame Wende in der analytischen Philosophie vollzog sich durch Wittgensteins Abkehr von der Meristik der Frühzeit und durch seine Zuwendung zum Holismus des Spätwerks, vor allem der Philosophischen Untersuchungen. Alle Erkenntnis, auch die der Naturwissenschaften und der durch sie festgestellten Tatsachen, ist für ihn eingeschmolzen in unsere „Sprachspiele“ („language games“) und hat dort ihre Grundlage. Die Sprachspiele konstituieren jenes „Bezugssystem“ („ frame of reference “), innerhalb dessen jeweils die Wahr­heit von Aussagen feststellbar ist;80 das Sprachspiel selber ist aber „etwas Unvorhersehbares […]. Es ist nicht begründet. Nicht vernünftig (oder unvernünftig). – Es steht da – wie unser Leben.“81 So erschiene es wohl nicht sinnvoll, beispielsweise zwischen den Sprachspielen der Wissenschaft, der Kunst und der Religion Hierarchien der Rationalität zu bilden. Sprachspiele können nicht als vergleichsweise vernünftiger oder unvernünftiger, r­ationaler oder irrationaler angesehen werden – sie seien eben einfach da „wie unser Leben“. Sie sind letztlich immer in „Lebensformen“ eingebettet, „das Sprechen der Sprache [ist] ein Teil […] einer Tätigkeit,

79 So etwa Robert F. BERKHOFER: Beyond the Great Story. History as Text and Discourse, Cambridge, Mass.-London, UK 1995. – Eine mit dieser geschichtstheoretischen Position verwandte Orientierung im englischen Sprachraum, deren Proponenten sich unter Hinweis auf erzähltheoretische Überlegungen weigern, streng zwischen tatsächlichen und fiktionalen Inhalten in Darstellungen von Vergangenem zu unterscheiden, ist die literaturtheoretische Richtung des New Historicism. Historische und fiktionale Texte seien Darstellungsformen, für die nicht irgendwelche „externen“ Kriterien der Wahrheit von Belang seien, sondern lediglich solche der „immanenten“ Plausibilität, bezogen auf die Sicht jener Personen, die histo­ rische Zustände und Ereignisse im Sinne des für sie subjektiv Relevanten darzustellen suchen. – Zur Auffassung des New Historicism siehe Stephen GREENBLATT: Renaissance Self-Fashioning, Chicago-London 1980; Stephen GREENBLATT, Catherine GALLAGHER: Practicing New Historicism, Chicago-London 2000; H. Aram VEESER (Hg.): The New Historicism, New York-London 1989. – Dazu kritisch Richard J. EVANS: In Defence of History, London 1997; dt.: Fakten und Fiktion. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis, Frankfurt a. M. 1998. Siehe in diesem Zusammenhang auch Reinhart KOSELLECK: Fiktion und geschichtliche Wirklichkeit [2007], in: Ders., Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten, Frankfurt a. M. 2010, S. 80  –95. 80 Vgl. Ludwig WITTGENSTEIN: Über Gewißheit. Hrsg. v. G. E. M. Anscombe und G. H. von Wright, Frankfurt a. M. 1977, S. 29 (§ 83). (Orig.: On Certainty, Oxford 1969.) 81 Ebd., S. 144 (§ 559).

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oder einer Lebensform“.82 Und so ist es für Wittgenstein auch naheliegend, die Idee der Gewissheit und der Wahrheit mit dem Begriff der Lebensform zu verbinden: „‚So sagst du also, daß die Übereinstimmung der Menschen entscheide, was richtig und was falsch ist?‘ – Richtig und falsch ist, was Menschen sagen; und in der Sprache stimmen die Menschen überein. Dies ist keine Übereinstimmung der Meinungen, sondern der Lebensform.“ 83 Lebensformen und Sprachspiele sind nach Wittgenstein autarke Systeme, die wie die „Volksgeister“ der Romantik nur von innen zutreffend erfahren werden können. Der logische Status des Konzepts der „Lebensform“ erinnert an Oswald Spengler und dessen Geschichtsmorphologie mit voneinander getrennten Kulturkreisen – Spengler war ja ein von Wittgenstein respektierter Geschichtsdenker 84 –, aber auch an zwei Autoren der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: an Thomas S. Kuhn und dessen Konzept der „Paradigmen“85 sowie an Nelson Goodman und dessen Weisen der Welterzeugung.86 Ähnlich wie im frühen Historismus, als jeder Epoche ein fundamental neuer Zugang zu den Erfahrungsinhalten der Vergangenheit sowie ein ganz charakteristischer Standpunkt zugeschrieben wurde, von dem aus die Einschätzung der Evidenz von Tatsachen, Sachverhalten und Schlussfolgerungen vorgenommen wird, erscheint bei Wittgenstein jede Lebensform als ein bestimmtes, von anderen Lebensformen unterschiedenes „Bezugssystem“. Die Pointe von Wittgensteins Argument liegt nicht in einer Weltanschauungstypo­logie nach Art von Wilhelm Dilthey, der den drei von ihm analysierten Weltanschauungen die Wissenschaft, dann die Kunst und die Religion, und schließlich die Moral, das Recht und die 82 Ludwig WITTGENSTEIN: Philosophische Untersuchungen (Anm. 67), S. 300 (§ 23); siehe auch S. 296 (§ 19): „eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen.“ – Zur Analyse der Lebensformen siehe exemplarisch Newton GARVER: This Complicated Form of Life: Essays on Wittgenstein, Chicago and La Salle, Illinois 1994; Rudolf HALLER: Form of Life or Forms of Life? A Note on N. Garver’s „The Form of Life in Wittgenstein’s Philosophical Investigations“, in: Ders., Questions on Wittgenstein, London 1988, S. 129 –135. – Bei Eduard Spranger, der sich eingehend mit der Analyse von „Lebensformen“ befass­ te, werden diesem Begriff folgende „ideale Grundtypen der Individualität“ zugeordnet: der theoretische Mensch, also der Wissenschaftler, ferner der ökonomische, der ästhetische, der soziale, der religiöse Mensch und der Machtmensch, also der politische Mensch. – Vgl. Eduard SPRANGER: Lebensformen. Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persönlichkeit [1914], 9. Aufl., Tübingen 1966, S. 121–276. 83 Ludwig WITTGENSTEIN: Philosophische Untersuchungen (Anm. 67), S. 389 (§ 241). 84 Zum Verhältnis von Wittgenstein zu Spengler siehe Rudolf HALLER: Wittgenstein und Spengler, in: Revista Portuguesa de Filosofia 38 (1982), S. 71–78; Was Wittgenstein Influenced by Spengler?, in: Ders., Questions on Wittgenstein (Anm. 82), S. 74 – 8 9; Kevin M. CAHILL: Wittgenstein and Spengler, in: Wittgenstein und die Zukunft der Philosophie. Eine Neubewertung nach 50 Jahren/24. Internationales Wittgenstein Symposium, Kirchberg am Wechsel, 12.–18. August 2001 (= Beiträge der Österreichischen Ludwig Wittgenstein Gesellschaft, Bd. IX, 1, hrsg. v. Rudolf Haller und Klaus Puhl), Kirchberg am Wechsel 2001, S. 131–136. 85 Vgl. Thomas S. KUHN: The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 1962; dt.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a. M. 1967. 86 Vgl. Nelson GOODMAN: Ways of Worldmaking, Indianapolis 1978; dt.: Weisen der Welterzeugung. Übers. von Max Looser, Frankfurt a. M. 1984.

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10. GESCHICHTSTHEORIE

Politik zuordnete. Wittgenstein zielt auch nicht auf eine Typologie der Kulturen im Stile Spenglers ab, sondern auf die Unterminierung einer realistischen Metaphysik. Man könnte zunächst meinen, die Annahme von „Bezugssystemen“ sei dem Verfertigen von Landkarten ähnlich, welche ein und dieselbe Region auf verschiedenartige Weise abbilden, je nachdem, ob man beispielsweise physische, politische, ökonomische oder demographische Gegebenheiten für wichtig erachtet. Verschiedenheiten in der perspektivischen Wahrnehmung der Wirklichkeit sind so lange nicht problematisch, wie man an der Eindeutigkeit der Wirklich­keit selbst und damit an der potentiellen „Umrechenbarkeit“, also einer wechselseitigen Transponierung der Perspektiven festhält, wie es Karl Mannheim in Ideologie und Utopie vorschlägt.87 Wenn man jedoch jene perspektivisch zustande gekommenen Bilder der Welt als be­ grifflich inkommensurabel ansieht, wird die Situation eine völlig andere. „Dann“, so stellt Georg Henrik von Wright in Bezug auf den späten Wittgenstein fest, „handelt es sich nicht mehr nur um verschiedene Weisen, sich die Wirklichkeit vorzustellen, sondern – wie man die Sache ein bißchen zugespitzt ausdrücken könnte – um die Anerkennung verschiedener Wirklichkeiten.“ 88 Doch die reale Welt – auch die der Geschichte – hört nicht auf zu bestehen, nur weil erkannt wurde, dass verschiedene Hinsichten auf sie möglich sind. Denn „über den Geschichten ist“, mit Droysen gesprochen, „die Geschichte“.89 Und so kann hier vielleicht ein Gleichnis das oft stillschweigend akzeptierte Einverständnis konterkarieren, wonach die Anerkennung verschiedener „Lebensformen“ oder „Paradigmen“ unausweichlich mit einer antirealistischen Position in der Geschichtsphilosophie verknüpft sei. Alexander Demandt hat dieses Gleichnis an das Ende des letzten Kapitels seiner im Jahr 2011 erschienenen Philosophie der Geschichte ge­stellt: „Buddha […] wurde eines Tages von seinen Schülern gefragt: Meister, wie ist die Welt? Darauf erzählte der Erleuchtete die Elefantenparabel: Der König von Shravasti ließ einmal zehn Blindgeborene herbeiholen. Er stellte sie um einen Elefanten herum, gab jedem einen Körperteil des Tieres in die Hand und fragte sie, wie der Elefant beschaffen sei. Der den Zahn fühlte, sagte: ein Elefant ist glatt und spitz. Der den Schwanz fühlte, sagte: ein Elefant ist rauh und buschelig. Der das Bein fühlte, sagte: ein Elefant ist rund und länglich. Der das Ohr fühlte, sagte: ein Elefant ist flach und schlabbrig – und so fort. Dann begann die Diskussion. Dabei gerieten die Blinden untereinander im Streit und schlugen sich die Köpfe 87 Vgl. Karl MANNHEIM: Ideologie und Utopie (Anm. 42), S. 258. – Gewiss macht es einen Unterschied, wer was von welcher Position aus sieht: „ob man ein betrogener Bauer ist wie Hesiod, ein Staatsmann in der Verbannung wie Thukydides, ein Günstling des Kaisers wie Vergil, ein frommer Gottsucher wie Augustinus … Und es kommt darauf an, ob wir in der Geschichte Trost suchen oder Bestätigung, Ermunterung oder Erkenntnis…“ (Alexander DEMANDT: Philosophie der Geschichte [Anm. 36], S. 360.) 88 Georg Henrik von WRIGHT: „Analytische Philosophie“ – eine historisch-kritische Betrachtung (Anm. 9), S. 61. 89 Johann Gustav DROYSEN: Grundriß der Historik [1868]. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. v. P. Leyh, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, S. 441.

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wund, weil jeder meinte, er hätte Recht. Der König aber brach in ein großes Gelächter aus. Und wenn er nicht gestorben ist, dann lacht er noch heute.“ 90 Die Parabel macht uns auf das Erfordernis historischer Synthesebildung bei Vorliegen unterschiedlicher Bilder der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt aufmerksam, deren Rea­ lität ja nicht wegen des Vorhandenseins der sie jeweils nur partikulär repräsentierenden Bilder geleugnet werden kann. Unsere verschiedenen Perspektiven sind nicht Kerker unserer monadischen Subjektivität, sondern Mittel zur Erlangung von Erkenntnissen über die Vielgestaltigkeit der Welt. Zweifellos ist es ein Desiderat der analytischen Geschichts­ philosophie, trotz des sie charakterisierenden Adjektivs neben der historischen Analyse auch der historischen Synthese vermehrt Aufmerksamkeit zu schenken.

V. Der Kulturrelativismus der späten analytischen Philosophie und die Aufgabe der Philosophie Die von Wittgenstein behauptete Inkommensurabilität der Lebensformen sowie der ihnen korrespondierenden Denkformen führte zur Revitalisierung des Systemdenkens gegenüber dem Problemdenken. Die große Affinität zwischen Lebensform und Stil 91 bei Wittgenstein und einer ganzen Reihe seiner Adepten verweist auf Orientierungen, die mit der Systemphilosophie verbunden waren: auf ein Denken, dem es um die Einheit des Gedan­ kenbaus geht, mehr um die Geschlossenheit des Synchronen als um Übergänge im Diachronen, auch wenn dem Studium von Übergängen unter dem eidetischen Gesichts­punkt von „Familienähnlichkeiten“ nachgegangen wird – ein dem Problemdenken äußerlicher Gesichtspunkt. Und so kommt es in der Philosophie zur Wiederbelebung einer Tendenz, die bereits seit der antiken Doxographie bekannt ist und die in einer Aneinanderreihung von Systemen, Weltbildern, Lehrmeinungen und Ismen bestand. Die Konsequenz dieser Betrachtungsweise besteht darin, als „wahr“ in jeder Zeit das anzusehen, was zu jenen Tendenzen und Faktoren passt, durch die die jeweilige Zeit und die in ihr auftretenden Gedankengebilde bedingt sind. Doch nicht nur die Inhalte von Metaphysik, Naturrecht, Anthropologie und Transzendentalphilosophie wurden als im Laufe der Geschichte veränderliche Sachverhalte angesehen, sondern – im Sinne eines Historismus zweiten Grades – auch das Erkennen jener vielfältigen Inhalte der Philosophie90 Alexander DEMANDT: Philosophie der Geschichte (Anm. 36), S. 364. 91 Zum Stil in der bildenden Kunst siehe Alois RIEGL: Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik, Berlin 1893; zur Beziehung von „Lebenschancen“ und „Stilisierung des Lebens“ siehe Max WEBER: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen 1972, Kap. VIII, §  6, u. a. S. 531f. und S. 534 –538.

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10. GESCHICHTSTHEORIE

geschichte selbst. In der Folge beließ es der akademische Betrieb nicht selten einfach bei dieser Einsicht in die geschichtliche Kontingenz. Dem heute weitgehend vergessenen Nicolai Hartmann zufolge haben in ähnlicher Weise die Klassiker der Philosophiegeschichte im 19. Jahrhundert die Lehrmeinungen und Systembauten schon für das Wesen der Philosophie gehalten – daher ihr geschärfter Sinn für Originalität und Geschlossenheit der Weltbilder, für das Wandern der Gedankenmotive und ihren Gestaltwandel. Dagegen stellt er „die Forderung einer Geschichtsforschung, die es mit den philosophischen Einsichten und Errungenschaften zu tun hat.“92 Und so sei nicht die immanente Rekonstruktion von Meinungen und Anschauungen, die selbst wiederum zum Gegenstand von Meinungen und Anschauungen gemacht würden, ausschlaggebend, sondern die Reife des Blicks für Erkenntnis und Irr­tum.93 Schon im Jahr 1936 charakterisierte Hartmann die Situation der Philosophie mit Worten, die beispielsweise auch Karl Popper über die in der Nachfolge des späten Wittgenstein stehende analytische Geschichtsphilosophie hätte sagen können: „Die Philo­sophie unserer Tage hat sich […] in eine fälschlich zugespitzte Opposition gegen die Naturwissenschaften begeben. Die Opposition war gesund, so weit sie der im Positivismus über­spannten Orientierung am Verfahren der exakten Wissenschaften zu begegnen suchte. Sie ist aber ins Extrem gefallen und hat so die Fühlung mit dem Grundphänomen des stetigen Ganges der Erkenntnis auf eindeutiger Problemlinie verloren. Hier liegt ein Grund ihrer Desorien­tierung im Verhältnis zu ihrer Geschichte.“94 Dabei ist nicht die historische Relativität unseres Erkennens das Problem der Geschichtsphilosophie. Denn keine Er­kenntnis ist unabhängig vom Wissensstand und den Interessen sowie von den Bedrängnissen und Hoffnungen ihrer Zeit zustande gekommen,95 und doch hat jede historisierende Er­kenntnis logisch-epistemische Voraussetzungen, die allem Argumentieren – jedenfalls solange es dauert – als gültig zugrunde liegen. Wir können nie als selber im historischen Wandel befindliche Philosophen und Wissenschaftler von endgültig gesicherten Sätzen ausgehen. Otto Neurath charakterisierte diese Situation zu Anfang der 1930er Jahre metaphorisch mit den Worten: „Es gibt keine tabula rasa. Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können.“96 Und, 92 Nicolai HARTMANN: Der philosophische Gedanke und seine Geschichte, in: Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, Jg. 1936, Nr. 5; wieder abgedruckt in: Ders., Der philosophische Gedanke und seine Geschichte, Stuttgart 1993, S. 3 –77, hier S. 19. 93 Vgl. ebd., S. 21 und S. 55 f. 94 Ebd., S. 20, Fußnote. 95 Zur entsprechenden „Historisierung“ der analytischen Philosophie vgl. Erich H. RECK (Hg.): The Historical Turn in Analytical Philosophy, New York 2013; Michael BEANEY (Hg.): The Oxford Handbook of the History of Analytic Philosophy (Anm. 5). 96 Otto NEURATH: Protokollsätze, in: Erkenntnis 3 (1932/33), S. 204  –214; wiederabgedruckt in: Ders.,

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Die analytische Geschichtsphilosophie und ihr Nutzen

so muss man hinzufügen, nicht nur das Schiff wird sich verändern, um seiner funktio­ nellen Bestimmung weiterhin gerecht werden zu können, sondern mitunter auch die In­ strumente, deren sich die Besatzung bedient, um unerwarteten Herausforderungen bei der Nutzung der Bestandteile im Verlauf der Reparatur in bester Weise Rechnung zu tragen. So ist zwar nicht alles, aber doch einiges im Wandel begriffen. Doch Wandel und Invarianz sind nicht ein Problem für den, der sich sozusagen jenseits von Heraklit und Parmenides an die Analyse der Zeitlichkeit und der Geschichte macht. Das aber besagt: „Nicht über geschichtliche Bedingtheit und Relativität gilt es umzulernen, sondern über das, was sich in ihr erhält und über sie hinaus als gültig erweist.“97



Gesammelte philosophische und methodologische Schriften. Hrsg. von Rudolf Haller und Heiner Rutte, 2 Bde., Wien 1981, Bd. 2, S. 577–585, hier S. 579. 97 Nicolai HARTMANN: Der philosophische Gedanke und seine Geschichte (Anm. 92), S. 23; siehe auch ebd., S. 53 –57.

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11. MENSCHENNATUR Vorbemerkung Das menschliche Verhalten zu erklären und vorherzusagen ist ein uraltes Bedürfnis der Menschen. Dieses zu befriedigen fällt umso leichter, je deterministischer jenes Gefüge geartet ist, in dem sich dieses Verhalten ereignet. In einer Zeit, in der sich, wie man glaubte, die göttliche Allmacht und Allwissenheit vor allem auch in der Konstellation der Gestirne manifestierte, haben Astronomie, Astrologie und Theologie in Symbiose miteinander gelebt. Weit davon entfernt, aus der Bestimmtheit der Gestirnskonstellationen auf die moralische Bestimmung des Menschen schließen zu wollen, hat auch der große Johannes Kepler der kosmologischen Alltagsmetaphysik des ausgehenden 16. Jahrhunderts Rechnung getragen und aus ihr Nutzen gezogen: Neben der Lehrtätigkeit als Mathematiker an der protestantischen Landschaftsschule in Graz erstellte er die beliebten astrologischen Jahreskalender, welche angeblich „günstige“ sowie „kritische“ Tage voraussagten. Er selber bekundete, dass er von diesem Teil seines Werks nicht viel halte, warnte also in gewisser Weise seine Leserschaft. Und so meinte er, dass für ihn die Astrologie das „närrische Töchterlein“ sei, das für den Unterhalt seiner Mutter, der Astronomie, die Grundlage schaffe. Sah man zu Keplers Zeit – man denke nur an Kaiser Rudolf II. oder an Wallenstein – die menschliche Natur als weitgehend durch die Gestirne bestimmt an, so haben sich die popu­lären Vorstellungen bezüglich der das menschliche Wesen bestimmenden Determinanten im Laufe der Zeit entscheidend gewandelt; diese wurden aus dem Bereich der Astrophysik in den der Gesellschaft, des Biotischen und des Psychischen verlagert. Es waren zunächst vor allem Helvétius, Marx, Darwin und Freud, die mit ihren Ideen das Bild vom Menschen veränderten: Helvétius durch seine Lehre von der prägenden Wirkung der gesellschaftlichen Umwelt und ihrer Institutionen auf den Einzelnen; Marx mit seinem Konzept des Individuums, dessen Wesen durch seine Funktion im Produktionsprozess bestimmt werde; Darwin durch seine Lehre vom menschlichen Gattungswesen als dem Resultat einer von Mutation und Selektion geprägten phylogenetischen Entwicklung; Freud durch seine Analysen der menschlichen Triebstruktur und der Möglichkeiten und Grenzen der Triebsublimierung. Der landläufig den individuellen Handlungen unter-

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11. MENSCHENNATUR

legte Sinn wurde durch diese Bestimmungen nicht selten zum bloßen Schein oder auch zu einer vordergründigen „Rationalisierung“ der grundlegenden und für das Handeln und Denken der Menschen wesentlichen Triebkräfte umgedeutet. Ähnliches kennt man heute von bestimm­ten Endokrinologen, Gehirnforschern und Molekularbiologen, wenn diese alles intentionale Handeln wie auch die Handlungsgründe der Individuen so in den Hormonen, im Gehirn oder in den Genen verankern, dass diese als die grundlegenden anthropologischen Determinanten erscheinen. Zu den naturwissenschaftlichen Wesensbestimmungen der Menschen gesellten sich bereits im 19. Jahrhundert unter dem Eindruck der Erfahrungen des Kolonialismus kulturwissenschaftliche Ansichten, welche die Natur des Menschen als ein durch ethnischkulturelle Bedingungen geformtes Produkt verstehen. Der Einzelne erscheint hier als das Ergebnis eines langen, die Gemeinschaft sowie die in ihr lebenden Einzelnen in ihren Wert­orientierungen und Absichten prägenden Geschichtsprozesses. Was die hier exemplarisch erwähnten Auffassungen immer wieder zur Ideologie machte, ist nicht ihre heuristisch oft fruchtbare Einseitigkeit. Zur Ideologie werden sie dadurch, dass ihr monistischer Erklärungsanspruch mit bestimmten gesellschaftlichen Interessen verbunden und versucht wird, ihn politisch durchzusetzen und gegen mögliche Kritik zu immunisieren. Im Folgenden wird es darum gehen, einige der mit den erwähnten Deutungen menschlichen Denkens und Handelns verbundene Fehlentwicklungen kurz zu schildern und zugleich zu fragen, auf welche Weise deren Kritik für die philosophische Anthropologie fruchtbar werden kann.1

1 Teile der folgenden Studie sind unter dem Titel „Historische, soziale und biologische Bestimmtheit und moralische Bestimmung“ erschienen in: Gehirne und Personen. Beiträge zum 8. Internationalen Kongress der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie in Graz, Bd. 1, hrsg. von M. Fürst, W. Gombocz, C. Hiebaum, Frankfurt a. M. [u. a.] 2009.

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Weltanschauliche Voraussetzungen der philosophischen Anthropologie „In ihrer bewundernswerten Weisheit verhängte die Natur, daß das, was allen Menschen gemeinsam ist, wesentlich, und das, was sie unterscheidet, unwesentlich sei. Es ist aber nicht zu leugnen, daß dieses Unterscheidende das Gemeinsame in einen ganz anderen Rang erheben kann.“ Rivarol, Maximen, in: Ernst Jünger, Rivarol, Frankfurt a. M. 1956

I. Einiges zum Begriff der menschlichen Person heute Alle Vorstellungen von der Natur des Menschen oder dem doch für sie besonders Charakteristischen haben damit zu tun, dass sie das für signifikant erachtete anthropologische Merkmal entweder innerhalb des Menschen (als Triebe oder genetische Disposition) oder außerhalb desselben (in den sozialen, ökonomischen oder geschichtlich-kulturellen Umständen) verankern. Diese Kontraposition ist so alt wie die menschliche Zivilisation, und Gleiches gilt für die Versuche ihrer Überwindung. So ist bereits im Neuen Testament, im Gleichnis vom Sämann (Matthäus 13,1-30), davon die Rede, dass die Frucht nicht allein vom Samen abhängig ist, da die Saat nur aufgehen könne, wenn sie auf gutes, fruchtbar gemachtes Land fällt. Trotz allem war, wie später noch gezeigt werden soll, bis herauf in die jüngste Vergangenheit der Streit zwischen Nativisten und Milieutheoretikern aktuell, der sich auf die Entwicklung der menschlichen Person und ihrer Merkmale bezieht. Hier stellt sich aber zunächst einmal die Frage, unter welchen Bedingungen von einer „Person“ gesprochen wird. Der Begriff der Person weist, neben einer nicht ganz geklärten Etymologie – wahrscheinlich stammt er jedoch aus dem etruskischen phersu, Maske  –, eine Mehrzahl an Definitionen auf und ist hierin Begriffen ähnlich, mit denen er sich bedeutungsmäßig überschneidet: Mensch, Individuum, Persön­lichkeit, Selbst.2 Im philoso2 Naturgemäß würden sich hier klare nominaldefinitorische Bedeutungsfestlegungen als günstig erweisen. So schlägt der Kulturanthropologe und Ethnologe Wilhelm Mühlmann vor, den Begriff der Person von demjenigen der Individualität abzugrenzen. Sein mir fruchtbar erscheinender Definitionsvorschlag lautet: „Die Individualität ist der einzigartige Bestand eines menschlichen Organismus an erblichen Anlagen. Sie steckt die Grenzen ab, innerhalb deren ein Mensch sinnvoll auf die Reize der Umwelt zu antworten vermag; sie gibt ein Rahmengesetz seines Verhaltens. Die Ausfüllung dieser Grenzen selber in ihrem zeitlichen Ablauf macht den Inhalt dessen aus, was wir ‚Person‘ nennen. Wir möchten Person als die zeitliche Variation eines menschlichen Lebewesens innerhalb der durch die Individualität (erblich) gesteckten Grenzen definieren. In dieser Begriffsfassung kommen Erblichkeit und Umwelt gleichermaßen zu ihrem Recht.“ – Wilhelm E.

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11. MENSCHENNATUR

phischen Sinn bezeichnet „Person“ den Menschen, insoweit ihm eine gewisse Freiheit der Entscheidung und Verantwortlichkeit für sein Handeln zuge­schrieben werden kann. So meint Peter Singer, dass zwischen Mensch und Person zu unterscheiden sei, da als Person nur jener Mensch zu gelten habe, der in der Lage ist, sich im Diskurs zu äußern, wohingegen Kritiker wie Robert Spaemann die Unterscheidung zwi­schen Mensch und Person in Frage stellen. Da für sie die biologische Zugehörigkeit zum Menschengeschlecht als alleiniges Kriterium für Personalität gilt, die Existenz des Menschen aber mit dem Zeitpunkt der Zeugung beginne, sei auch eine Graduierung zwischen „etwas“ und „jemandem“ im Sinne Singers unmöglich.3 So verstanden ist der Mensch an sich schon immer Person und soll es im vollen Sinne insofern werden, als er in die Lage versetzt wird, von seiner Freiheit Gebrauch zu machen und sich innerhalb der ihm auferlegten Grenzen selbst zu bestimmen. Wann ist nun aber – zeitlich verstanden – ein Mensch ein Mensch? Diese Frage kann phylogenetisch, aber auch ontogenetisch verstanden werden. Beginnen wir mit der Phylogenese und fragen wir uns: Wann beginnt der Mensch? Die Emergenz des sehr andersartigen Wesens Mensch aus einem menschenäffischen Vorfahren heraus hat unter anderem die für manche noch immer unangenehme Konsequenz, dass die heute in synchroner Betrach­ tung so klar erscheinende Unterscheidbarkeit der Spezies Mensch und der Spezies Affe in der diachronen Betrachtung verschwimmt. Abhängig davon, woran wir die Unterscheidung zwischen Tier und Mensch zeitlich festmachen – irgendwann vor zwei Millio­nen oder auch erst vor 200.000 Jahren –, erscheint ein bestimmtes Merkmal oder eine Gruppe von Merkmalen als bestimmend dafür, was als Mensch gelten soll. Nicht die Natur selber ist es, welche die Unterscheidung von Tier und Mensch vornimmt, sondern der ordnende, klassifizierende und Merkmale bestimmende Mensch ist dies. Sogleich stellt sich nun die für unseren Zusammenhang noch wichtigere Frage: Wann beginnt – ontogenetisch betrachtet – der Mensch? Wie bekannt, ist mit der Vereinigung der beiden Vorkerne von Ei- und Samenzelle die genetische Identität des neu entstande­ nen Lebens, auch des menschlichen, eindeutig bestimmt. Aber nicht alle Biologen, Mo­ raltheologen und Philosophen sind damit einverstanden, dem embryonalen Vorläufer des geborenen Menschen bereits zum Zeitpunkt der Befruchtung die Bezeichnung „Mensch“ zu verleihen. Denn es ist ein Streit darüber entbrannt, ob bereits die Zygote ganz und gar Mensch ist, das heißt: ausgestattet mit voller unantastbarer Menschenwürde und allen unveräußerlichen Menschenrechten, oder ob das erst frühestens für den Embryo nach der Nidation, also nach der Einnistung in die Gebärmutter einer Frau, gilt. MÜHLMANN: Die Entdeckung des „mittleren Menschen“, in: Ders., Homo Creator. Abhandlungen zur Soziologie, Anthropologie und Ethnologie, Wiesbaden 1962, S. 5 –11, hier S. 7. 3 Vgl. Peter SINGER: Praktische Ethik, 2. Aufl., Stuttgart 1994; Robert SPAEMANN: Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ‚etwas‘ und ‚jemand‘, 3. Aufl., Stuttgart 2006.

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Weltanschauliche Voraussetzungen der philosophischen Anthropologie

Gewiss ist die Befruchtung ein entscheidender Zeitpunkt, aber erst mit der Einnistung in den Uterus der Mutter, so betont Christiane Nüsslein-Volhard, hat der Embryo das volle Entwicklungsprogramm. Erst während dieser Symbiose wird das Programm der Menschwerdung ausgeführt: „Das Programm des Embryos ist zwar vollständig, was die genetische Ausstattung betrifft. Jedoch bedarf es zusätzlicher erheblicher und unersetzbarer Beiträge durch den mütterlichen Organismus, in dem der Embryo sich entwickelt. Zum Programm gehören nämlich nicht nur Gene, sondern auch zytoplasmatische Faktoren, die die Aktivität der Gene während der Entwicklung steuern, sowie Nährstoffe, die Wachstum und Differenzierung ermöglichen und anderes mehr. Die befruchtete Eizelle alleine aber kann nicht mehr als eine Blastocyste – ein Bläschen aus wenig mehr als hundert mensch­ lichen Zellen – bilden. Dazu reicht die Information in ihrem Zytoplasma aus, – aber nicht weiter.“4 Beim Säugetier weiß man wenig Genaues von dem, was der mütterliche Organis­ mus an Informationen zur Entwicklung beiträgt. Wie Nüsslein-Volhard feststellt, ist es jedoch durchaus möglich, dass jene stofflichen Faktoren und Signale bei Säugetieren von den umgebenden Zellen des mütterlichen Organismus im Uterus beigesteuert werden, die bei bestimmten Nicht-Säugetieren, wie etwa Hühnern oder Fliegen, als Orientierungs­hilfen bereits dem Ei selber mitgegeben werden.5 Gene, so scheint es, sind also nicht alles, was der Mensch zur Menschwerdung braucht, und so ist es wohl voreilig, die Identität eines Menschen mit dem individuellen Chromo­ somensatz einer menschlichen Zelle gleichzusetzen.6 Aber im selben Sinn sind, wie im Folgenden gezeigt werden soll, auch Geschichte und Gesellschaft nicht alles. Vorschnelle Identifizierungen des Menschen als eines „Natur-“ oder „Kulturwesens“ waren es, die immer wieder eine Teil-Identität des Menschen – die historische, die soziale, die biologische – ins Zentrum der anthropologischen Bestimmungen rückten. Entsprechende Auffassungen des Historismus, der soziologischen Milieu- und Verhaltenstheorie sowie des Nativismus fanden seit dem 18. und frühen 19. Jahrhundert starken Zuspruch. In der Folge erschien Freiheit im Sinne der Möglichkeit der Wahl unterschiedlicher Handlungs­optionen oft nur als Trugbild, als die „höchste Potenz des Fatums“ (Nietzsche). Die Kritik an solchen Auffassungen blieb nicht aus. – Betrachten wir nun kurz die drei erwähnten Denkweisen des Historismus, des Soziologismus und des Nativismus.

4 Christiane NÜSSLEIN-VOLHARD: Wann ist ein Tier ein Tier, ein Mensch kein Mensch?, in: Karl Acham (Hg.), Vermächtnis und Vision der Wissenschaft. Über deren Ziele, Folgen und Folgenabwehr, Wien 2005 (= Zeitdiagnosen. Studien zur Geschichts- und Gesellschaftsanalyse, Bd. 7), S. 105 –111, hier S. 105. 5 Vgl. ebd., S. 106. 6 Vgl. als exemplarisch für diese hier kritisierte Ansicht Josef WISSER: Einzigartig und komplett. Der Em­ bryo aus biologischer Sicht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. Juli 2001, S. 44.

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11. MENSCHENNATUR

II. Historismus und historische Kontingenz Kant unterscheidet in der Einleitung in die Metaphysik der Sitten zwischen psychologischer und persönlicher Identität: „Person ist dasjenige Subject, dessen Handlung einer Zurechnung fähig ist. Die moralische Persönlichkeit ist also nichts anders, als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen (die psychologische aber bloß das Vermögen, sich der Identität seiner selbst in den verschiedenen Zuständen seines Daseins bewußt zu werden), woraus dann folgt, dass eine Person keinen anderen Gesetzen als denen, die sie (entweder allein, oder wenigstens zugleich mit anderen) sich selbst giebt, unterworfen ist.“7 Und mit Rücksicht auf den die Menschen als Vernunftwesen charakterisie­renden Glauben führte er 1786 in der Schrift „Was heißt: Sich im Denken orientiren?“ aus: „Ein reiner Vernunftglaube ist […] der Wegweiser oder Compaß, wodurch der speculative Denker sich auf seinen Vernunftstreifereien im Felde übersinnlicher Gegenstände orientiren, der Mensch von gemeiner, doch (moralisch) gesunder Vernunft aber seinen Weg sowohl in theoretischer als praktischer Absicht dem ganzen Zwecke seiner Bestimmung völlig angemessen vorzeichnen kann; und dieser Vernunftglaube ist es auch, der jedem anderen Glauben, ja jeder Offenbarung zum Grunde gelegt werden muß.“8 Das war, kurz gefasst, das Programm der Aufklärung, worin die Vernunft als das für die Fragen der Ethik und Religionslehre zuständige Organ in Anspruch genommen wurde. Aber einige Jahrzehnte später hatte sich die Szene schon dramatisch verändert: Die Vernunft selbst war als ein historisches Produkt erkannt worden. Und was auch immer die Triebkräfte in oder hinter der Geschichte sein mochten – ob bei Schopenhauer und Nietz­sche der Wille, bei Marx die Produktivkräfte und Klassenverhältnisse, bei Darwin der Kampf ums Dasein oder bei Pareto und Freud die Instinkte oder Triebe –: Die Geschichte war es, deren verändernder, alles Feste verflüssigender Wirkung, wie man meinte, sich we­der Kollektive noch Individuen entziehen konnten. Als bedeutsam ist hier der Umstand anzusehen, dass seit dem 19. Jahrhundert die Geschichte von zahlreichen philosophischen, geistes- und sozialwissenschaftlichen Zeitdiagnostikern nicht als ein bloßes Abenteuer, sondern als Schicksal aufgefasst wurde, dem das Individuum nicht entrinnen kann. Noch 1967 sagte Alfred Stern von seinen Zeitgenossen: „Wenn sie die Bedeutung des Geschichtsverständnisses erkennen, so handelt es sich weniger um vergangene als um gegenwärtige Geschichte, weniger um die historia rerum gestarum als um Geschichte als res agendae, als die Gesamtheit der kollektiven Kräfte, die wirken und uns dabei verschlingen. 7 Immanuel KANT: Die Metaphysik der Sitten [1797], in: Kants Werke (Akademie-Textausgabe. Unveränderter photomechanischer Abdruck des Textes der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnenen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften), Bd. VI, Berlin 1968, S. 203  –  494, hier S. 223. 8 Immanuel KANT: Was heißt: Sich im Denken orientieren? [1786], in: Kants Werke, ebd., Bd. VIII, Berlin 1968, S. 131–148, hier S. 142.

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Weltanschauliche Voraussetzungen der philosophischen Anthropologie

Ihrer Erfahrungen in zwei Weltkriegen eingedenk […], versteht meine Generation die Geschichte im Sinne eines dauernden kollektiven Werdens, dem jedes Individuum – freiwillig oder ungewollt – sich fügen muß.“9 Die Geschichte als Geschehen und als Tat, und die Geschichte als retrospektiver Lagebericht und imaginatives Nacherleben beeinflussen einander in erheblichem Maße. Beides jedoch, also die Geschichte in dem Doppelsinn von res gestae und historia rerum gestarum, von Ereignis und Ereignisbericht, erscheint als Schöpfung des kollektiven Menschen: „Sie ist ein Produkt von Rousseaus ‚volonté générale‘, von Hegels ‚Weltgeist  ‘ und seinen ‚Volksgeistern ‘, von Renans ‚nation‘, Durkheims ‚  âme collective‘ oder Royce’s ‚ collective soul   ‘, von Le Bons ‚ foules‘ oder Marxens ‚Klassen‘. Welchen Namen wir auch wählen mögen, um jene Kraft zu bezeichnen, die die Geschichte als Wirklichkeit schafft, sie ist in jedem Falle vom individuellen Ich verschieden.“10 Diese kollektive Kraft übt auf den Einzelnen jenen Zwang aus, der nach Durkheim das typische Kennzeichen aller gesellschaftlichen Tatsachen ist. Es macht einen großen Unterschied aus, ob man die nach historischer Erkenntnis strebende Person selbst als geschichtlich bedingt oder aber als geschichtlich determiniert ansieht. Bekannt ist Hegels Diktum aus seiner Philosophie des Rechts: „Was das Individuum betrifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit; so ist auch die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfaßt. Es ist ebenso töricht zu wähnen, irgendeine Philosophie gehe über ihre gegenwärtige Welt hinaus, als ein Individuum überspringe seine Zeit […].“11 Die Frage ist hier allein, auf welche Weise und in welchem Maße jemand ein Kind seiner Zeit ist. Denn so gewiss es ist, dass kein Philosoph, aber auch kein Wissenschaftler jemals die absolute Wahrheit erfassen kann, da der Fortschritt der Erkenntnis so etwas unmöglich macht, so folgt doch daraus nicht schon historischer Fatalismus oder Opportunismus. Gegen Hegels Diktum: „was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ (ebd.), wandte sich der junge Nietzsche in seiner Zweiten unzeitgemäßen Betrachtung, weil ihm der darin ange­ legte Defätismus im Erkennen und Handeln unvertretbar erschien. Nietzsches Kritik des Hegelschen Historismus versucht, sowohl die großen Kämpfer gegen die Geschichte mora­ lisch zu unterstützen als auch den geistigen Widerstand gegen das ein für allemal als richtig und wichtig Angesehene. Für ihn waren die großen Denker der Vergangenheit mehr als „ihre Zeit in Gedanken erfaßt“. Obschon stets in ihrer Zeit wurzelnd, dachten die Größten unter ihnen immer wieder über ihre Zeit hinaus, und damit oft auch gegen sie. Natürlich kann auch hier mit einiger Hegelscher Dialektik diese Ansicht relativiert werden. Denn, so kann man sagen – ohne damit allerdings die Intention von Nietzsche zu treffen –, auch eine revolutionär gegen ihre eigene Zeit handelnde und gegenüber den dominanten Ideen 9 Alfred STERN: Geschichtsphilosophie und Wertproblem, München-Basel 1967, S. 14. 10 Ebd., S. 94. 11 Georg Wilhelm Friedrich HEGEL: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse [1833], Stuttgart 1928 (= Sämtliche Werke, Bd. 7), S. 35.

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11. MENSCHENNATUR

ihrer Zeit äußerst kritisch eingestellte Person bleibt immer noch den Lebens- und Denkformen ihrer Zeit verbunden: auch sie repräsentiert in ihrem Handeln und Denken nur die durch die Thesen ihrer Zeit bedingten Antithesen. Auf diese Art ließen sich Nietzsches gegen den Historis­ mus gerichtete Ansichten deuten „als die Antithesen der Thesen dieser Zeiten und somit als Töchter ihrer Zeiten, als Kinder der Geschichte, die ihre Mutter hassen“.12

III. Soziologismus und gesellschaftliche Kontingenz Georg Simmel bezeichnete es in seiner Soziologie als eine triviale Feststellung, „daß jedes Element einer Gruppe nicht nur Gesellschaftsteil, sondern außerdem noch etwas ist.“ Erläuternd fügt er hinzu: „Als soziales Apriori wirkt dies, insofern der der Gesellschaft nicht zugewandte oder in ihr nicht aufgehende Teil des Individuums nicht einfach beziehungslos neben seinem sozial bedeutsamen liegt, nicht nur ein Außerhalb der Gesellschaft ist […], sondern daß der einzelne mit gewissen Seiten nicht Element der Gesellschaft ist, bildet die positive Bedingung dafür, daß er es mit der andern Seite seines Wesens ist: die Art seines Vergesellschaftet-Seins ist bestimmt oder mitbestimmt durch die Art seines NichtVergesellschaftet-Seins.“13 Dieser nach Simmel triviale Tatbestand müsste nicht ausdrücklich formuliert werden, hätte nicht auch schon zur Zeit Simmels eine fühlbare Tendenz dahingehend bestanden, den Menschen oder doch das an ihm für wesentlich Erachtete auf ganz bestimmte Merkmale zurückzubeziehen und diesen den ontologischen Primat zuzuschreiben. Es waren vor allem zwei Reduktionsschritte, auf welche im Folgenden kurz Bezug genommen werden soll: die Zurückführung auf den Durchschnittstypus, wie er in der Sozialstatistik sichtbar wird (1), und die Reduktion auf den von der psycho­ logischen und soziologischen Verhaltens- oder Lerntheorie als grundlegend angesehenen Steuerungsmecha­nismus von Lust und Leid (2).

1. Der Durchschnittsmensch als Maß des Menschlichen Der später noch zu erörternden Antithese „Erbanlage versus Umwelt“ entspricht in der älteren Soziologie jene von „Individuum versus Gesellschaft“. Im Hinblick auf sie hat der belgische Astronom und Soziologe Adolphe Quetelet mit seinem Konzept des „homme moyen“ einen für die Analyse gesellschaftlicher Phänomene bedeutsamen Brückenschlag versucht, und zwar durch die Gleichsetzung des maßgebenden mit dem „mittleren“ oder Durchschnitts-Menschen. Diese Ansicht, die man mit Fug und Recht als eine Art von 12 Alfred STERN: Geschichtsphilosophie und Wertproblem (Anm. 9), S. 196. 13 Georg SIMMEL: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig 1908, S. 26.

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demokratischer Ideologie bezeichnen kann, hat der Autor nahezu durchgehend in seinem Werk, aber vor allem in der letzten, im Jahr 1869 erschienenen Auflage seiner Physique sociale formuliert.14 Da er die Werte der statistischen Normalverteilung auch als das im werthaften Sinne Normale auszuzeichnen suchte, weil sie beispielsweise zwischen den Extremalwerten groß und klein, dick und dünn, feig und mutig zu liegen kommen, erfolgte eine Gleichsetzung der statistischen Norm und der Sollensnorm. Wie Wilhelm Mühlmann zeigte, hat die theoretische Inthronisierung des Durchschnittsmenschen einen realsozio­ logischen Hintergrund in den Ereignissen der Epo­che: Quetelet ist nur ein Exponent verbrei­teter kollektiver Strömungen seiner Zeit und insofern ein lebender Beweis für seine eigene Theorie.15 Dass der „homme moyen“ vielen als Verkörperung der Mediokrität erscheinen konnte, ist allerdings nicht unplausibel.

2. Der Mensch als Reiz-Reaktions-Bündel Die auf Locke und Helvétius zurückgehende Verhaltenstheorie, für welche Lust und Leid, Lohn und Strafe die wesentlichen Mittel der Sozialisierung sind, stellt einen weiteren Versuch der Bestimmung des menschlichen Wesens dar. Fragte man im Anschluss an Quetelet16 immer öfter nicht mehr danach, welchen exzeptionellen Menschen eine normierende Funktion im gesellschaftlichen Leben zukommen solle, sondern danach, ob es statistisch normal für einen Menschen ist, dies zu denken und das zu tun, so fragte man unter dem Einfluss der behavio­ristischen Lernpsychologie nach den positiven oder negativen Reizen, mit deren Hilfe man das Denken und Handeln der Menschen modellieren zu können glaubte. Dabei blieb vor allem in ihren auf John B. Watson zurückgehenden älteren Formen außer Acht, dass Lernen und Handeln an Sinn gebunden und kein Reflexverhalten ist, und des­ halb auch Beliebiges nicht schon gelernt werden kann, nur weil es mit Belohnung oder Bestrafung verbunden wird. Heute – insbesondere nach Erwerbung einer besseren Einsicht in das Humangenom – würde wohl kaum mehr jemand der von John B. Watson in seinem Buch Behaviourism (1926) geäußerten Aufforderung folgen: “Give me a dozen healthy infants, well-formed, and my own specified world to bring them up and I’ll guarantee to take any one at random and train him to become any type of specialist I might select – doctor, lawyer, artist, merchant-chief and, yes, even beggar-man and thief, – regardless of his talents, penchants, tendencies, abilities, vocation, and race of his ancestors.”17 14 Adolphe QUETELET: Soziale Physik, oder Abhandlung über die Entwicklung der Fähigkeiten des Menschen. Nach der Ausgabe letzter Hand (1869) übers. v. V. Dorn, eingel. v. H. Waentig, 2 Bde., Jena 1921. 15 Vgl. Wilhelm E. MÜHLMANN: Die Entdeckung des „mittleren Menschen“ (Anm. 2), S. 11. 16 Vgl. Karl ACHAM: Geschichte und Sozialtheorie. Zur Komplementarität kulturwissenschaftlicher Er­ kennt­­nisorientierungen, Freiburg-München 1995, S. 266 –291. 17 John B. WATSON: Behaviourism: A Psychology Based on Reflex-Action, 2. Aufl., Chicago 1930, S. 104.

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Doch die Verhaltens- und Konditionierungstheorie hat in der Soziologie nach wie vor ihre Anhän­ger – nur hat sich die Terminologie ein wenig gewandelt. Die wesentlichen Prozesse des sozialen Lernens und des Aufbaus der Person sind, wie Fried­rich Tenbruck gegenüber dieser Soziologie kritisch feststellte, damit nicht zu ermitteln: „Die Verinner­ lichung, von der die Soziologie im Zusammenhang mit der Sozialisierung spricht, wird hier zur bloßen Gewohnheit degradiert. Die Vorstellungen, Normen, Werte und Zwecke, aus denen mensch­liches Handeln entspringt, sind nichts als erworbene Reflexe, und daß der Handelnde sie ernst nimmt, ist allein seine Selbsttäuschung über diese Tatsache. […] Wie auf diese Weise Gefühle und Bedeutungen, Vorstellungen und Werte erworben und wie gar eine dauerhafte Struktur der Person und eines sinnhaften Handelns aufgebaut werden soll, bleibt bei diesem Ansatz völlig offen.“18 Der Mensch, so findet Tenbruck, verschwindet als Person, „wenn Handeln zur Ausführung von Rollen, Erziehung zur Sozialisation, Sozialisation zur Einübung von Verhaltensmustern, Verbindlichkeiten zu sozialen Normen, Gewissen und Verantwortung zu gesellschaftlichen Verkehrsregeln, Verfehlungen zu abweichendem Verhalten herabsinken.“ Dann fehle „das, wodurch der Mensch solchen gesellschaftlichen Zusammenhängen immer voraus ist: sein eigenes Wollen“.19 Dieses ist ja nie nur ein Konditionierungseffekt.

IV. Zwischenbetrachtung: Zum Konzept der personalen Identität Hier erscheint es angebracht, kurz auf Erkenntnisse und Forschungsdirektiven Bezug zu neh­men, die im Bereich der verstehenden Psychologie und des soziologischen Interaktio­ nis­mus um 1900 und kurz danach entwickelt wurden und die das Konzept der personalen Identität auf zum Teil neue und anregende Weise entwickelten. Nietzsche hatte bereits im Ersten Teil des Zarathustra, und zwar in dem Abschnitt „Vom Freunde“, zwischen dem „Ich“ und dem „Mich“ einer Person unterschieden und damit einer Terminologie vorgearbeitet, die uns später in englischer Übersetzung als „I“ und „Me“ bei George Herbert Mead entgegentritt. Hier steht jener Unterschied von Selbst­bild und Fremdbild in Betracht, der auf exemplarische Weise von Charles Horton Cooley in seinem Buch Human Nature and the Social Order (1902) dargelegt wurde. Gemäß Cooleys Konzept des „Spiegel-Ichs“ („looking-glass self      “) hat jeder Mensch ein bestimmtes Bild von sich und den ihn seiner Meinung nach besonders kennzeichnenden Merkmalen; Cooley nennt dies die „self-idea“. Cooleys Auffassung ist besonders nützlich, um den heute so inflationär zur Anwendung kommenden Begriff der „Identität“ – als eines 18 Friedrich H. TENBRUCK: Geschichte und Gesellschaft, Berlin 1986, S. 113. (Bei diesem Buch handelt es sich um die Veröffentlichung von Tenbrucks unveränderter Habilitationsschrift aus dem Jahre 1962.) 19 Ebd., S. 234.

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sowohl persona­len als auch sozialen Phänomens – zu explizieren. Denn einerseits legt es die Idee des gespiegelten Ichs nahe, dass sich jemand dadurch bestimmt sieht, wie er im Bewusstsein der Anderen, mithin als sein eigenes Fremdbild, erscheint. Der mit dem looking-glass self      verbundene Begriff der self-idea wiederum kann zweierlei betreffen: das Bild, das einer von seiner realen Verfassung hat, also sein Selbstbild, aber auch dasjenige, das er gerne von sich reali­siert fände, also sein Wunschbild. In diesem Sinne fördert Cooleys Konzept eine Vorstellung von Identität, die in der angestrebten Identifikation von insgesamt drei „Bildern“ besteht: in dem Bestreben einer Person (oder einer Gruppe), einerseits das Selbst­bild und das Fremdbild (also das Bild, das Andere von ihr haben), andererseits das Selbstbild und das Wunschbild zur Deckung zu bringen.20 Das Selbstbild der Person – es geht nun der Einfachheit halber allein um personale Identität – stimmt bekanntlich nicht immer mit dem Bild überein, das Andere von ihr haben. Auch das Selbstbild stimmt im Allgemeinen nicht mit dem Wunschbild überein, das dem Einzelnen von sich vorschwebt; diese seelische Verfassung bringt das Sören Kier­kegaard zugeschriebene Wort zum Ausdruck: „Wehmütig grüßt der, der ich bin, den, der ich sein möchte.“ Da nun der Einzelne dazu neigt, sowohl Selbstbild und Fremdbild, als auch Selbst­ bild und Wunschbild miteinander verträglich zu machen, baut er die emotional belasten­den Inkongruenzen zwischen diesen Bildern ab, optimiert aber zugleich als in gewissem Umfang außengesteuertes Subjekt seinen public appeal   . Weiß sich der Einzelne in seinem Selbstbewusstsein durch eben jene drei Bilder oder Aspektierungen seiner Person bestimmt, so kann man sagen, er wisse um seine Identität Bescheid. Denn dieses Bewusstsein ist mit dem Wissen um das Erfordernis gekoppelt, zum Zwecke der sozialen Anerkennung zumindest eine partielle Identifizierung seiner drei Persönlichkeitsbilder vorzunehmen. Bringt er gar Selbstbild und Fremdbild sowie Selbstbild und Wunsch­bild miteinander zur Deckung, so können wir ihn wohl angesichts der Erfüllung fremder sowie eigener Erwartungen glücklich nennen­. Dass dieser Prozess der Herstellung von Identität kein einfacher ist, wird durch die Tatsache bezeugt, dass sich das Selbstbild des Menschen mit den sozialen Beziehungen wandelt. Wie er sich selbst versteht, wie er die Verbindung zwischen seinem Selbst und seinen Handlungen versteht, hängt von den Beziehungen ab, die für den Einzelnen in der jeweiligen Gruppe möglich und auf die sein Handeln und Reagieren bezogen sind. Robert Musil hat diesem Sachverhalt in seinem Tagebuch folgendermaßen Ausdruck verliehen: „Man ist 20 Man kann zeigen, wie Teile der später einflussreichen soziologischen und sozialpsychologischen Untersuchungen unmittelbar an Cooleys Überlegungen anschließen; vgl. exemplarisch David RIESMAN, Nathan GLAZER, Reuel DENNEY: The Lonely Crowd: A Study of the Changing American Character, New Haven 1950; dt.: Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters. Mit einer Einführung in die deutsche Ausgabe von Helmut Schelsky, Reinbek b. Hamburg 1956. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Erik H. ERIKSON: Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1973; Ders.: Der vollständige Lebenszyklus, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1992.

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wahrhaftig nicht so oder so, sondern wenn man mit anderen Menschen in Berührung tritt, so schlägt dieser andere Mensch in einem einen ganz bestimmten (oder ganz unbestimm­ ten) Ton an – und so ist man dann.“21 Auch das Bewusstsein von dem zeitlichen Zusammenhang, in welchem sich unsere Identität bildet, wird, wie Friedrich Tenbruck gezeigt hat, von der sozialen Dimension her, also über das Fremdbild, verständlich: „Wir erfahren unsere zeitliche Identität im Spiegel der Gruppe, welche bestimmte Handlungen von uns aufbewahrt und uns vorhält und andere nicht. Durch diese sind wir für sie in der Erinnerung festgelegt. Das macht unsere Identität aus. Wo die Gruppe das nicht leistet, zerfällt uns unser Dasein in Stücke bloßer Erinnerung, so wie uns unser Charakter in ein bloßes Konglomerat von Möglichkeiten zerstäubt, wenn die Gruppe uns kein umrissenes Selbst­ bildnis mehr zu liefern vermag.“22 Dass die Identitäts-Begrifflichkeit in den USA auch außerhalb der sozialpsychologi­ schen und soziologischen Kreise, in denen sie ursprünglich entwickelt worden war, auf so große Resonanz stieß, hat mit der Tatsache zu tun, dass es sich bei den Vereinigten Staaten um ein Land von Einwanderern mit heterogenen kulturellen Traditionen handelt. Hans Ulrich Wehler hat darauf hingewiesen, dass „in einer hochmobilen, urbanisierten, multi­ ethnischen Gesellschaft wie der amerikanischen die Ausbildung einer stabilen Identität, die sich nicht mehr an dem gewissermaßen orthodoxen Idealtypus des innengeleiteten, weißen, protestantischen Neuengländers ausrichtet, längst zu einem Dauer­problem geworden war“.23

V. Nativismus und biologische Kontingenz Im Verlauf der Suche nach den Hauptfaktoren der Persönlichkeitsentwicklung wurde der Primat sehr Unterschiedlichem zugeschrieben: der Geschichte (wie in einer bestimmten Spielart des Historismus), der Politik (die Napoleon als „unser Schicksal“ bezeichnete), der Wirtschaft (der Walther Rathenau dieselbe Eigenschaft zusprach wie Napoleon der Politik), der Gesellschaft (wie in verschiedenen Varianten des Soziologismus), oder aber der Natur (so vor allem im Anschluss an Darwin und Mendel). Das Interesse soll im Folgenden dem zuletzt erwähnten Problembe­reich gelten. Verschiedene philosophisch gemeinte 21 Robert MUSIL: Tagebücher. Hrsg. v. Adolf Frisé, Hamburg 1976, S. 72. – Die Tagebuchnotiz stammt aus der Zeit um 1900. 22 Friedrich H. TENBRUCK: Geschichte und Gesellschaft (Anm. 18), S. 170. 23 Hans-Ulrich WEHLER: Identität. Unheimliche Hochkonjunktur eines „ Plastikwortes“, in: Ders., Konflikte zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Essays, München 2003, S. 147–155, hier S. 151 f. – Vgl. in diesem Zusammenhang, wenn auch nicht allein auf personale Identität bezogen, Peter STACHEL: Identität. Genese, Inflation und Probleme eines für die zeitgenössischen Sozial- und Kulturwissenschaften zentralen Begriffs, in: Archiv für Kulturgeschichte 87 (2005), S. 395  – 425.

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Erörterungen des Zusammenhangs von Determinismus und Zwang, Indeterminismus und Freiheit, wie sie insbesondere im Blick auf die jüngsten Entwicklungen der Molekularbio­ logie angestellt wurden, verlangen eine in zwei unterschiedliche Richtungen gehende Stellungnahme: einerseits in Bezug auf Er­kenntnistheorie und Methodologie, andererseits in Bezug auf die Folgen molekularbio­logischer Befunde für die Freiheit menschlicher Hand­ lungen.

1. Zur Säkularisierung der göttlichen Gesetze Deterministen gehen bekanntlich davon aus, dass alles in der Welt streng nach dem Kausal­­prinzip determiniert ist. Mit anderen Worten: Wenn jetzt die für einen bestimmten Weltzustand maßgeblichen Gesetze und Randbedingungen vollständig bekannt wären, so folgte daraus die Möglichkeit, auf das notwendige Eintreten der Zustände des nächsten Augenblicks schließen zu können. Wenn dieses Prinzip auch für menschliches Handeln gelten soll, so müssten dessen Resultate in jedem Augenblick vollständig durch die geneti­ sche Disposition des Handelnden und dessen Umwelt bestimmt sein. Nun sind allerdings die profiliertesten Vertreter der Naturwissenschaft bereits seit der sogenannten probabilistischen Revolution in der Physik des 19. Jahrhunderts, und heut­zutage vor allem aufgrund der mit der Sequenzierung des Humangenoms möglich gewordenen Einsichten der Biologie der Überzeugung, dass eine solche Ansicht unhaltbar ist. Keines­ wegs herrsche in der gesamten Natur ein strenger Determinismus nach Art der nur für einen bestimm­ten Raum-Zeit-Bereich geltenden Nahwirkungsgesetze. Zudem macht sich in den meisten Fällen, in denen die Naturgesetze als im Widerspruch zur Willens- oder Handlungsfreiheit stehend aufgefasst werden, eine Unklarheit der Sprechweise bemerkbar, die mit der Übertragung des juristischen Gesetzesbegriffs auf denjenigen der Naturwissenschaften zu tun hat. Moritz Schlick macht auf die erkenntnislogische Problematik dieser doppelten Unklarheit in der philosophischen Sprechweise aufmerksam, wenn er im Hinblick auf die Kontraposition des Satzes „Der Mensch ist gezwungen“ zum Satz „Der Mensch ist frei“ sagt: „Es werden erst die Naturgesetze mit Staatsgesetzen verwechselt und dann der Zwang mit Naturnotwendigkeit, also Allgemeinheit; weiter wird dann verwechselt die Freiheit als Gegensatz zum Zwang mit dem Gegensatz zur Naturnotwendigkeit, also dem Fehlen von Gesetzen.“24 Da immer wieder einige Philosophen der Ansicht sind, dass der Mensch nur dann frei sei, wenn er nicht den Naturgesetzen unterworfen ist, stellt sich die Frage, was es für die praktische Philosophie heißen würde, wenn der menschliche Wille von Kausalität frei, also etwas Akausales wäre. Da müsse man sich zunächst einmal fragen, so Schlick, was Kausali­ 24 Moritz SCHLICK: Die Probleme der Philosophie in ihrem Zusammenhang. Vorlesung aus dem Winter­ semester 1933/34. Hrsg. von H. Mulder, A. J. Kox, R. Hegselmann, Frankfurt a. M. 1986, S. 177.

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tät bzw. Akausalität mit Verantwortlichkeit zu tun hat: „Den Menschen zur Verantwortung ziehen oder nicht zur Verantwortung ziehen heißt […], ihn als Gegenstand nehmen, auf den man einwirken kann, um bestimmte Handlungen zu verhindern oder hervorzurufen […]. Würde […] der Wille des Menschen nicht dem Kausalprinzip unterliegen, so müßte man einen solchen Menschen auch von jeder Verantwortung freisprechen. Verantwortlich ist nur ein Mensch, den man beeinflussen kann. […] Der Begriff der Freiheit im Sinne des Nichtunterworfenseins unter die Kausalität widerspricht also sogar dem Begriffe der Moral und der moralischen Freiheit.“25 Es scheint, dass eine eigentümliche Ersetzung der Theologie als der Wissenschaft von Gott durch die Wissenschaft von der Natur sowie die Ersetzung der Gesetze Gottes durch die Gesetze der Natur dazu führte, einen Widerspruch zwischen der Kausalität auf der einen, und der menschlichen Entscheidungsfreiheit auf der anderen Seite zu sehen. Waren es zunächst die physikalischen Gesetze der äußeren Natur, einschließlich der sogenannten „Naturgesetze des Sozialgeschehens“ in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, welche die göttlichen Gesetze ersetzen sollten, so sind es nun, seit der Entdeckung der molekularen Struktur der DNA im Jahre 1953, zusätzlich die physiko-biologischen Gesetze unserer inneren Natur. Die wissenschaftliche Skepsis veranlasst dazu, vor derartigen Vergottungen im Prozess der Säkularisierung zu warnen.

2. Zum Sachgehalt der Nativismus-Diskussion: Genom und Willensfreiheit Als am 26. Juni 2000 Präsident Bill Clinton und Premierminister Tony Blair in einem gemeinsamen Fernsehauftritt verkündeten, die chemische Struktur des gesamten mensch­lichen Genoms sei aufgeklärt, schwirrten allerlei Hoffnungen und Befürchtungen durch die von Fernsehen und Rundfunk mehr oder weniger informierte Öffentlichkeit. Durch die Dechiff­ rierung des Genoms als der Gesamtheit aller Erbanlagen einer Zelle – also all ihrer Gene, die in den fadenförmigen DNS-Molekülen niedergeschrieben sind – wurde der Reichtum unseres biologischen Erbes sichtbar: Unser Genom besteht aus 3,2 Milliarden Buchstaben, entsprechend einer 50 Meter langen Bücherreihe. Jede unserer Körperzellen enthält zwei Exem­plare dieser Bücherreihe – ein Exemplar von der Mutter und eines vom Vater. Wie Gott­fried Schatz in diesem Zusammenhang bemerkt, können wir unser Genom zwar lesen, verstehen aber den größten Teil des Gelesenen noch nicht, so dass wir unter anderem auch noch nicht wissen, wie viele verschiedene Proteine unsere Zellen theoretisch herstellen können – vielleicht sind es 100.000, vielleicht sind es mehr.26 Der Reichtum unseres Genoms 25 Ebd., S. 178 f. 26 Vgl. Gottfried SCHATZ: Genomforschung und die Würde des Lebens, in: Karl Acham (Hg.), Vermächtnis und Vision der Wissenschaft (Anm. 4), S. 113 –121, hier S. 116.

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liege aber nicht nur in seiner Größe, sondern auch in der Meisterschaft unserer Zellen, dieses Genom in vielen Variationen lesen zu können: „Unsere Zellen ähneln dabei einem Musiker des 17. und 18. Jahrhunderts, der dank seiner Phantasie aus einem vorgegebenen Generalbaß viele verschiedenartige Musikstücke hervorzaubern kann. Die Größe eines Genoms ist also kein verläßliches Maß für den biologischen Informationsgehalt. Einige Pflanzen und Amphibien haben Genome mit wesentlich mehr Buchstaben als wir, haben aber trotzdem nicht mehr, sondern sehr wahrscheinlich weniger genetische Information als wir.“27 Der Informationsgehalt des Genoms bestimmt die Stellung eines Organismus in der Hierar­chie des Lebens, wobei, wie Schatz ausführt, nichts unerbittlicher ist als die „Tyrannei des kleinen Genoms“: „Es verbietet jede biologische Freiheit, jede Individualität. Je informationsreicher ein Genom, desto größer die Freiheit, desto größer die Möglichkeit zur Individualität.“ 28 Der Reichtum des Genoms sei daher ein wichtiges Maß für die Würde eines Lebewesens. Wichtig seien in diesem Zusammenhang die Umwelteinflüsse, insbesondere die Wechselwirkung mit anderen Menschen, die die Anheftung von Phosphorsäuregruppen an die von den Gehirnzellen produzierten Proteine, wenn nicht sogar die Produktion dieser Proteine beeinflussen. „Das Variationspotential unserer Zellen steigt damit“, wie Schatz ausführt, „ins Unermessliche, so daß jeder von uns ein unverwechselbares Individuum ist. Dies gilt selbst für eineiige Zwillinge. Ein eineiiger Zwillings­bruder von Roger Federer würde zwar Roger ähnlich sehen, könnte aber ohne weiteres nur ein mäßiger Tennisspieler sein. Der Informations­ reichtum unseres Genoms ist die Gnade, die jedem von uns Einmaligkeit schenkt.“29 Schatz, der selbst als junger Forscher an der Entdeckung des Genoms der Mitochondrien, also der Verbrennungsmaschinen unserer Zellen, mitwirkte, sieht auch die hohe philosophische Bedeutung, welche der Informationsfülle unseres Genoms zukommt. Sie eröffne uns neue Möglichkeiten, um darüber nachzudenken, wie unsere Individualität, aber auch unsere Entscheidungsfreiheit mit der Tatsache vereinbar ist, dass jeder von uns letztlich „eine biochemische Maschine“ ist: „Diese intellektuelle Herausforderung hat viele große Denker beschäftigt, bis herauf zu Henri Bergson. Die Überlegungen dieser Denker haben heute viel von ihrer Überzeugungskraft verloren, denn keiner von ihnen konnte ahnen, wie komplex die Materie ist, aus der wir bestehen. Alle uns bekannten Naturgesetze gelten nur innerhalb bestimmter Grenzen; außerhalb dieser Grenzen versagen sie. Newtons mechanische Gesetze, die Gesetze der Thermodynamik, und selbst das Axiom der Kausali­ tät versagen in der Welt subatomarer Teilchen oder im Bereich der Lichtgeschwindigkeit. Warum sollte Ähnliches nicht für unsere Zellen gelten, deren Komplexität so viel größer ist als alles, was wir bisher gekannt haben?“30 27 Ebd. 28 Ebd., S. 117. 29 Ebd. 30 Ebd.

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In der Tat könnte es ja durchaus sein, dass wir beim quantitativen Studium unserer Zellen Gesetzmäßigkeiten entdecken, die nur für hochkomplexe Systeme gelten, für deren Analyse die heutigen Erkenntnisse der Chaostheorie nur einen Anfang darstellen. Unsere Zellen sind jedenfalls nach Auskunft kompetenter Fachwissenschaftler so komplex, dass wir sie mit unseren heutigen Methoden als Gesamtsystem noch nicht hinreichend präzise analysieren können. Denn die Zellen werden in jedem Augenblick mit äußeren Reizen bombardiert, welche die menschliche Intelligenz nicht im Vorhinein erkennen kann: „Je­ der dieser Vorgänge kann Kaskaden von mikroskopischen Geschehnissen nach sich ziehen, die jeweils zu wieder völlig neuen Nervenmustern führen. Ein Computer, der diese Folge­ erscheinungen aufspüren könnte, müßte von gewaltigen Ausmaßen sein und außerdem in der Lage, Operationen durchzuführen, die noch um ein Vielfaches komplexer sind als die des Gehirns.“31 Eben deshalb ist es den Menschen möglich, weiterhin leidenschaftlich an ihren eigenen freien Willen zu glauben. Und wenn wir Edward O. Wilson glauben dürfen, ist dies auch ein Glück: „Denn das Vertrauen auf freien Willen führt zu biologischer Anpassung. Hätten wir es nicht, würde sich der im Fatalismus gefangene Verstand verlangsamen und schließlich abbauen.“32

VI. Gehirn, Person, moralische Zurechnung Vorhin, im Zusammenhang der Ausführungen über die Grundmerkmale der personal­en Identität, war von der Möglichkeit die Rede, dass einerseits das Selbstbild und das Fremd­ bild, ande­rerseits das Selbstbild und das Wunschbild von jemandem miteinander zur Deckung gebracht, mithin „identifiziert“ werden können. Diese Bestimmung der persona­ len Identität ist charakterisiert durch die Einbeziehung des Anderen, also der sozialen Dimension, aber auch durch die Bezugnahme auf eine in die Zukunft verlagerte und unter bestimmten Bedingungen konkretisierbare Vorstellung seiner selbst. Was aber, wenn das Selbst, welches die verschiedenen Bilder: das Selbst-, das Fremd- und das Wunschbild, zur Deckung zu bringen sucht, scheitert, weil es nicht ein Ich, sondern mehrere Iche gibt, deren mitunter heterogene Bestrebungen sich gar nicht miteinander kombinieren lassen? Wie die Pathologie zeigt, muss das Gehirn nicht von vornherein als ein individuelles, also unteilbares System verstanden werden, sondern kann als ein durchaus teilbares aufgefasst werden, mithin als „Dividuum, als teilbares System“.33 So kann man bei Patienten, denen der Balken durchtrennt oder denen er aufgrund eines Geschwürs oder einer Blutung zerstört wurde, eine Dissoziation von Handlungen nachweisen, welche – voneinander 31 Edward O. WILSON: Die Einheit des Wissens. Aus dem Amerik. v. Yvonne Badal, München 2000, S. 162. 32 Ebd., S. 162 f. 33 Detlef B. LINKE: Das Gehirn, 4. Aufl., München 2006, S. 12.

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isoliert – von verschiedenen Hirnhälften gesteuert werden. Wie Detlef Linke in diesem Zusammenhang ausführt, kann es so etwa passieren, „daß ein derartiger Patient mit einer Hand einen Liebesbrief schreibt und mit der anderen unwillentlich den Bleistift zerbricht oder daß er mit einer Hand einen Pullover anzuziehen versucht, während die andere Hand den Pullover auf den Tisch zurückzulegen versucht.“ Dieses Phänomen der alien hand   be­ legt nach Ansicht des Autors die Trennbarkeit von Willensimpulsen und spricht klar „gegen das interaktionistische und dualistische Modell […], demzufolge der Geist als eine Art unzerstörbarer Klavierspieler gegenüber einem wohl zerstörbaren Klavier gedeutet werden soll“.34 Die Hirnforschung zeige uns, dass – metaphorisch gesprochen – auch der Klavierspieler inhomogen und gespalten sein kann. Die das Ich pluralisierende Auffassung könnte in der Tat zu einer Verabschiedung des herkömmlichen Ich-Begriffs führen, weil die Neurowissenschaften bei ihren Analysen eher erfolgreich sind, wenn sie von einem inhomogenen und teilbaren Ich ausgehen als von einem homogenen und unteilbaren. Das muss jedoch nicht auch auf die Abschaffung der Begriffe der Person und des Selbst hinauslaufen – und zwar trotz des möglichen Scheiterns beim Versuch, die Iche miteinander kompatibel zu machen. Man sollte nicht übersehen, dass die Person auf der Ebene der moralisch-politischen Kategorisierung eine andere Rolle spielt als das Ich auf der neurobiologischen Ebene. Dabei kommt auch die Formulierung der Rechte von Einzelnen – beispielsweise auch von alien hand -Patienten und Schizophrenen – ins Spiel. Noch immer ist in diesem Zusammenhang John Lockes Konzept der Person von Interesse, da er diese nicht auf die bio-psychologische Ebene von Lust und Leid reduziert, sondern auch mit den Vorstellungen von Bewusstsein und Justiziabilität verknüpft. Dies macht es möglich, Fragen der moralischen Verantwortung zu stellen, und damit etwa Personen, die von multiplen Ich-Störungen betroffen sind, sowohl als Menschenrechts-Subjekte zu behandeln, als auch jeweils auf ihre strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit hin zu untersuchen. Lockes in dieser Hinsicht aufschlussreichste Formulierung findet sich im zweiten Buch seines Essay concerning human understanding: „Person, as I take it, is the name for this self. Where-ever a Man finds, what he calls himself, there I think another may say is the same Person. It is a Forensick Term appropriating Actions­and their Merit; and so belongs to intelligent Agents capable of a Law, and Happiness and Misery.“35 34 Ebd. 35 John LOCKE: An Essay Concerning Human Understanding. Hrsg. von P. H. Nidditch, Oxford 1975, B. II, S. 27 f. – Vgl. in diesem Zusammenhang die Ausführungen zu Lockes Theorie personaler Identität bei Udo THIEL: The Early Modern Subject. Self-Consciousness and Personal Identity from Descartes to Hume, Oxford 2011, Teile II und III; ferner Reinhard BRANDT: Locke und Kant, in: M. P. Thompson (Hg.), John Locke und/and Kant. Historische Rezeption und gegenwärtige Relevanz, Berlin 1991, S. 87–108; Ders.: “Personal identity” by John Locke, in: Philosophia practica universalis. Festschrift für Joachim Hruschka zum 70. Geburtstag, Berlin 2006, S. 45 – 61.

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Schlussbemerkung Angesichts verschiedener durchaus ideologischer Spielarten des Nativismus regt sich vereinzelt wieder eine oft nicht minder ideologische milieutheoretische Gegenbewegung. Deren Vertreter sind der Meinung, dass die Akzeptanz von uns angeborenen Ver­ haltensdispositionen letztlich zum Fatalismus führen müsse, da gegen Angeborenes nichts zu unternehmen sei. Davon kann natürlich nach dem vorhin Ausgeführten gleich wenig Rede sein wie beispielsweise von einer völligen Resistenz der biologischen Dispositionen gegen­über der sozialen Umwelt. Ganz allgemein ist nicht von einer zwingenden Wirkung geschichtlicher, sozia­ler und biologischer „Faktoren“ auf unser Handeln auszugehen. Allerdings auch nicht davon, dass alle irgendwie unsere Handlungsoptionen einschränkenden Bedingungen schon Unfreiheit und Entmündigung bedeuten. Es kommt natürlich auf die Art und den Umfang jener Einschränkungen sowie auf die Regeln an, denen gemäß sie vorgenommen werden. Abstrakt, also ohne nähere Prüfung betrachtet, ist die Situation der Regelbefolgung eine ähnliche wie im Fall der Sprachverwendung. Zweifellos sind wir auch beim Sprechen an das mitunter starre Regelsystem der Grammatik gebunden und an den uns vorgegebenen Wortschatz. „Dennoch zweifelt wohl keiner“, wie Irenäus Eibl-Eibesfeldt in diesem Zusammenhang feststellt, „daß man im Rahmen der strengen Regeln der Grammatik und mit dem vorgegebenen Wortschatz Aussagen formulieren und Ge­dichte schreiben kann, die noch nie zuvor gemacht wurden. Ja, erst das internalisierte Instrumentarium der Sprache erlaubt es, höhere gedankliche Operationen durchzuführen.“ 36 Auch eine selbstbestimmte Persönlichkeit gibt es nur auf der Grundlage gewisser das Selbst beschränkender Regeln. Für jene ist charakteristisch, dass sie in gewissen Handlungssituationen etwas Bestimmtes tut, damit aber anderes nicht tut. Sie tut das Eine und unterlässt das Andere, weil sie eine bestimmte Geschichte, eine bestimmte Sozialisation, eine bestimmte Prädisposition mitbringt, welche zusammen den Rahmen ihrer Erwartungen und Handlungsziele bestimmen. Aber das geschichtlich und sozial Erworbene und das biologisch Vererbte gestatten eben keineswegs nur die Verwirklichung ganz bestimm­ter Handlungsmöglichkeiten. Dies vor allem dann nicht, wenn das Individuum in der Lage ist, durch Einsicht in die Genese und Wirkungen eigener Handlungen und durch Frei­ legung der mit ihr verbundenen Wertüberzeugungen zur Selbstbesinnung zu gelangen.

36 Irenäus EIBL-EIBESFELDT: Der Mensch – das riskierte Wesen. Zur Naturgeschichte menschlicher Unvernunft, München 1988, S. 131. – Analoges gilt auch für das Regelwerk der Musik, die von Nikolaus Harnoncourt als „Klangrede“ verstanden wird. Siehe Nikolaus HARNONCOURT: Musik als Klangrede. Wege zu einem neuen Musikverständnis. Essays und Vorträge, Salzburg 1982; 7. Aufl., Basel 2014.

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12. IDEEN Vorbemerkung Dass Ideengeschichte nicht mit Begriffsgeschichte identisch ist, ist daraus ersichtlich, dass in ihr nicht allein Texte den Gegenstand der Betrachtung bilden. So macht es ja beispielsweise auch Sinn, eine musikalische Idee oder die Idee eines Bildhauers zu rekonstruieren. Ideengeschichte ist ein vielgestaltiges Unternehmen. Robert Darnton, ein bekannter USamerikanischer Vertreter der Kultur- und Geistesgeschichte, hat verschiedene Formen der Ideengeschichte untersucht. Er meint, dass die Ideengeschichte nicht etwas in sich Geschlossenes sei, dem eine ganz bestimmte Forschungsthematik zugeordnet werden kann: „Ihre Anhänger teilen nicht das Gefühl, sie hätten gemeinsame Themen, Methoden und konzeptuelle Strategien. Im Extremfall analysieren sie auf der einen Seite die Systeme von Philosophen; auf der anderen Seite untersuchen sie die Rituale von Analphabeten.“1 Darnton unterscheidet ein vier Forschungsschritte umfassendes und sich über vier Schich­ten erstreckendes „vertikales Spektrum“ von Ideengeschichte, wie er es nennt: – erstens die Geschichte der Inhalte des systematischen Denkens, welche für die semanti­ sche Dimension wissenschaftsgeschichtlicher und philosophischer Traktate über die Lehren großer Wissenschaftler und Gelehrter charakteristisch seien; – zweitens die eigentliche Geistesgeschichte (intellectual history), der es um die Unter­ suchung des informellen Denkens, der literarischen Bewegungen sowie der verschie­ denen Meinungsklimata gehe; – drittens die Sozialgeschichte, der es um die Herausbildung, Rezeption und Verbreitung von ideologischen, also das Selbstverständnis von Gesellschaften charakterisieren­den und stabilisierenden Denkformen und Denkinhalten zu tun sei; – viertens die Kulturgeschichte – „Kultur“ verstanden im Sinne der Kulturanthropologie oder Ethnologie –, in der vor allem elementare Ansichten von Kulturen auf früheren Zivilisationsstufen im Vordergrund der Betrachtung stehen: Ansichten über die Menschen und deren Mentalitäten sowie über die Welt und das Überirdische. 1 Robert DARNTON: Ideengeschichte und Kulturgeschichte, in: Ders., Der Kuß des Lamourette. Kulturgeschichtliche Betrachtungen. Aus dem Amerikanischen von Jörg Trobitius, München-Wien 1998, S. 135  –165, hier S. 151.

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12. IDEEN

Die Ideengeschichte hat im Laufe der Zeit alle vier von Darnton erwähnten Formen ­ achzugehen, was man unangenommen – ein guter Anlass, zunächst einmal den Fragen n ter „Idee“ und „Ideengeschichte“ außerdem noch verstanden hat, und welche Konzeption der Ideengeschichte sich für die Lösung welcher Art von Problemen als fruchtbar erweist. Ausgehend von der Erörterung der Bedeutung der beiden Begriffe und von bestimmten Versuchen ihrer Operationalisierung soll im Folgenden einiges bezüglich der Möglich­ keiten der historischen sowie systematischen Behandlung einer ganz bestimmten Klasse von Ideen ausgeführt werden: von Ideen der praktischen Vernunft, die unser Handeln im Sinne von regulativen Prinzipien oder von Idealen beeinflussen (sollen). Werden die mit der Reali­sierung solcher Ideen verbundenen Folgen ins Auge gefasst, erschließen sich die nicht beabsichtigten Konsequenzen absichts­geleiteten Handelns, also das, was Hegel als die „List der Idee“ und Wilhelm Wundt als die „Heterogonie der Zwecke“ bezeichnete. Kein Denker ist in der Lage, alle logischen Konsequenzen seiner Überlegungen zu erfassen, zumal sich einige erst im Laufe der Zeit offenbaren, wenn die ideellen Gehalte seiner Überlegungen von anderen Individuen unter anderen Umständen gedeutet und umgesetzt werden. Exemplarisch werden im Folgenden in der gebotenen Kürze die Ideen der Freiheit, der Gleichheit und der Gerechtigkeit erörtert.2 Um in Anbetracht des oft immanent-ideengeschichtlichen Charakters der folgenden Aus­führungen nicht den Eindruck zu erwecken, dass sich über Geistiges nur nach Art eines realitätsenthobenen Idealismus sprechen lasse, sei der Leser bereits an dieser Stelle auf die Ausführungen im nächsten Kapitel hingewiesen. In ihm wird die Auffassung kriti­ siert, man könne das moralisch-politische Geschehen zutreffend unter Bezugnahme auf das ­geistige erklären, ohne die Genese und Umsetzung der Ideen in ihrer Beziehung zu den dabei wirksamen Institutionen hinreichend geklärt zu haben.

2 Teile der folgenden Studie sind unter dem Titel „Die Idee der Ideengeschichte und die Geschichte politischer Ideen“ erschienen in: Michel Henri KOWALEWICZ (Hg.), Formen der Ideengeschichte, Münster 2014.

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Formen und Sinn der Ideengeschichte „Der Ideen-Kampf wird nie im Reich der Ideen entschieden.“ Ludwig Marcuse, Argumente und Rezepte. Ein Wörter-Buch für Zeitgenossen, Zürich 1973

„Die Dinge werden die Ideen schon berichtigen, wenn man Ideen hat; aber Sie schenken uns keine.“ Alain, Sich beobachten heißt sich verändern. Betrachtungen. Auswahl, Übers. u. Nachw. v. Franz Joseph Krebs, Frankfurt a. M.-Leipzig 1994

I. Einiges zum Begriff der Idee und zur Idee der Ideengeschichte Definitionen von Begriffen sind zumeist Kodifikationen der Bedeutung, die sie in einer bestimm­ten Zeit haben, Ideen hingegen entziehen sich dem, was eine Definition eindeutig macht, da sie nicht einen definitiven Befund darstellen, sondern einen Bereich von in der Geschichte entfalteten Möglichkeiten anzeigen, in welchem Funde gemacht und Befunde erstellt werden können. „Alle Begriffe“, sagt Nietzsche, „in denen sich ein ganzer Prozeß semiotisch zusammenfaßt, entziehen sich der Definition; definierbar ist nur das, was keine Geschichte hat.“3 Dies gilt es auch in Bezug auf die Trias von Wertideen zu bedenken, die im zweiten Teil dieser Untersuchung in Betracht gezogen wird: Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Denn jener historisierenden Auffassung zufolge markieren Begriffe die Etappen der Entwicklung dieser Ideen der praktischen Vernunft, sie haben ihre Zeit und ihren Raum, in dem sie eine bestimmte Bedeutung haben. Anders ist die Sachlage in der platonischen Tradition. Hier geht es nicht um geschichtlich gewordene und wandelbare Ideen, die in verschiedenen Begriffen Ausdruck finden, sondern um ein Invariantes, dem die Vielgestaltigkeit seiner Erscheinungen nur näherungsweise entspricht. Diese Substantialität der Idee zu erkunden, wenn auch in den Sachen selbst, und nicht in einer Art Überwelt, war das Ziel gewisser Phänomenologen. In der folgenden Kurzdarstellung der Beziehung zwischen zentralen Ideen der praktischen Vernunft und ihrer Geschichte werden jedoch andere Auffassungen im Vordergrund der Betrachtung stehen.

3 Friedrich NIETZSCHE: Zur Genealogie der Moral, in: Werke in drei Bänden, Bd. 2, Darmstadt 1963, S. 761–900, hier S. 820.

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1. Hegels „Idee“ Die Frage danach, was einmal mit der Übereinstimmung von Idee und Erfahrung, Seinsollendem und Seiendem gemeint war, lässt sich philosophiegeschichtlich durch eine Bezugnahme auf Hegel gut erläutern. In dem mit „Die Idee“ überschriebenen dritten Abschnitt des zweiten Teils seiner Wissenschaft der Logik (1812–1816)4 weist er im Anschluss an Kant auf den Unterschied zwischen Vernunft und Verstand sowie zwischen der Idee, die, wie er sich ausdrückt, „dem Vernunftsbegriff vindiciert“ wird, und dem auf die Erfahrung bezogenen Begriff hin. Zwar manifestiert sich die Idee nur in Begriffen, sie hat, wie Hegel bemerkt, „um ihrer Unmittelbarkeit willen die Einzelnheit zur Form ihrer Existenz“; betrachtet man allerdings die den Ideen zuordenbaren Begriffe in ihrem Prozesscharakter, so wird dieses Geschehen „von dem Scheine der zwecklosen Veränderlichkeit befreit“. Insbesondere im Blick auf die „praktischen Ideen“ findet er mit Kant, dass „nichts Schädlicheres und eines Philosophen Unwürdigeres gefunden werden könne, als die […] Berufung auf die vorgeb­lich gegen die Idee widerstreitende Erfahrung“. Denn die Idee, so meint Hegel, werde von Kant als das Bestreben angesehen, ein „Urbild für ein Maximum aufzustellen und dem Zustand der Wirklichkeit immer näher zu bringen“. Und so erkenne der reflektierende Geist die Idee des Wahren und des Guten als etwas an, das seine Erfüllung findet, wenn es „an und für sich ist“. Die mögliche Einheit von Idee und Erfahrung liege aber erst in der Zukunft. Ist bei Hegel das der Idee inhärente Verlangen nach Vollkommenheit als etwas konzipiert, das sich als Fortgang der Geschichte im Bewusstsein der Freiheit vollzieht, so fehlt eine derartige Teleologie bei späteren Geschichtsdenkern.

2. Zur Koinzidenz von Idee und Erfahrung bei Denkern des 20. Jahrhunderts Carl Schmitt ist hier, weil gewissen Ansichten Hegels nahe, ein interessantes Beispiel. Ideen weisen auch bei ihm nicht die Eigenschaft auf, dass ihnen jederzeit ein reales Korrelat entspricht, sie also jederzeit „wirklich“ werden können; vielmehr hält es Schmitt mit Heraklit, wonach „eine geschichtliche Wahrheit nur einmal wahr ist.“5 Diese Wahrheit liegt aber im Unterschied zu Hegel nicht notwendig erst in der Zukunft, ihr Ort kann auch die Vergangenheit sein, und gegebenenfalls sogar die Gegenwart. Die Übereinstimmung einer Idee 4 Georg Wilhelm Friedrich HEGEL: Wissenschaft der Logik, in: Ders., Werke in 20 Bänden (Theorie-Werkausgabe), Bd. 6: Wissenschaft der Logik II, Frankfurt a. M. 1986. 5 Siehe dazu Henning RITTER: Notizhefte, 6. Aufl., Berlin 2011, S. 361; vgl. auch Armin MOHLER: Carl Schmitt und die „Konservative Revolution“, in: Helmut Quaritsch (Hg.), Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt. […], Berlin 1988, S. 129 –151, hier S. 145.

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der praktischen Vernunft mit der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit auf Dauer sicherstellen zu wollen, verriete nach Schmitt jedoch nur ein von Voluntarismus geleitetes, letztlich ungeschichtliches Denken. Die Herstellung einer dauernden Koinzidenz von Sollen und Sein, von normativer und faktischer Geltung führe zum Dogmatismus. Ausgehend von der Annahme, dass – wie jede Äußerung, jeder Satz – auch jede Idee im Grunde erst dann angemessen verstanden ist, wenn sie als Antwort auf eine mögliche, aus der Situation erwachsene Frage aufgefasst werden kann, haben, wie Carl Schmitt, auch Robin George Collingwood und Hans-Georg Gadamer die Frage-Antwort-Struktur des Verstehens analysiert.6 Ähnliches gilt für die ideengeschichtliche Methode der sogenannten Cambridge School der Ideengeschichte und Theorie des politischen Denkens. Einer ihrer Hauptvertreter, Quentin Skinner, der Verfasser der zweibändigen Foundations of Modern­ Political­ Thought (1978), sucht die Bedeutung von Texten nicht nur durch das zu bestimmen, was sie aussagen, sondern auch durch das, was sie als Antworten auf jeweils aktuelle Fragen bewirken. Die Konfrontation von Texten mit den uns vielleicht fremden ursprünglichen Lebensumständen vermag, wie Skinner am Beispiel alter und neuer Freiheitskonzepte zeigt, unser Wissen um die gesellschaftlich-geschichtliche Bedingtheit unseres eigenen Denkens zu schärfen und so für unser Handeln bedeutsam zu werden.7 Der Synchronizität von normativem Begriff und Sachverhalt, von Erwartung und Erfahrung sowie der Frage danach, inwiefern Ideen und Ideologien „ihrer Zeit gemäß“ sind, ist in der deutschen Geschichtstheorie des 20. Jahrhunderts, ähnlich wie zuvor der Wissens­soziologe Karl Mannheim in seinem Buch Ideologie und Utopie (1929) und wie eben auch Carl Schmitt, vor allem Reinhart Koselleck nachgegangen. Unter Bezugnahme auf eine von seinem Mitarbeiter Heiner Schultze entwickelte Systematisierung führte er in einem Beitrag zur Programmatik der Begriffsgeschichte aus, dass es – aus rein logischen Gründen – vier und nur vier Möglichkeiten gebe, um die Beziehungen von Wandel und Konstanz zwischen „Geschichtsbegriffen“ und Sachverhalten zu analysieren. Die Ähnlichkeit zwischen dieser Art von Begriffen und den Ideen Hegels ist nicht zu übersehen. In Anlehnung an Koselleck sind folgende ideengeschichtlich relevanten Beziehungen zwischen den Geschichtsbegriffen und den Sachverhalten oder „Wirklichkeiten“, auf die sie sich beziehen, als möglich anzusehen:8

6 Siehe Robin George COLLINGWOOD: The Idea of History, Oxford 1946; revised edn., with an intro­ duction by Jan van der Dussen, Oxford 1993; Hans-Georg GADAMER: Wahrheit und Methode [1960], 3., erw. Aufl., Tübingen 1975. 7 Vgl. Quentin SKINNER: Liberty before Liberalism, Cambridge 1998. 8 Vgl. Reinhart KOSELLECK: Begriffsgeschichte und Geschichtsbegriffe, in: Karl Acham (Hg.), ­Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften, Bd. 1: Historischer Kontext, wissenschaftssoziologische ­Be­funde und methodologische Voraussetzungen, Wien 1999, S. 341–356, hier S. 344.

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1. Die den Begriffsinhalt betreffende (intensionale) Bedeutung des normativen Geschichtsbegriffs und der Sachverhalt – der Begriffsumfang (die Extension des Begriffs) – bleiben sich gleich, und dies sowohl synchron als auch diachron. 2. Die Bedeutung des normativen Begriffs bleibt sich gleich, aber der Sachverhalt ändert sich. 3. Die Bedeutung des normativen Begriffs ändert sich, aber der Sachverhalt bleibt unverändert. 4. Die Bedeutung des normativen Begriffs, aber auch der Sachverhalt entwickeln sich völlig auseinander, so dass die ehemalige Zuordnung nicht mehr nachvollzogen werden kann. Geschichtsbegriffe (oder Ideen) sind gewissermaßen als „erfüllt“ anzusehen, wenn der erstgenannte Fall realisiert ist: wenn die Bedeutung mit dem korrespondierenden Sachverhalt koinzidiert. Hier sei ein auf die Idee der Gleichheit bezogenes Beispiel angeführt: Über Jahrhunderte hinweg erachteten die im bäuerlich-handwerklichen Leben Stehenden die gemeinsame Nutzung von Kommunalbesitz (Almenden, common land ) als einen Grundzug der ihrem gemeinschaftlich vertretenen Gleichheitsideal entsprechenden Lebensform. Wo aber nach Änderung der ehemals bestehenden gesellschaftlich-politischen Gegebenheiten die alte Idee nicht mehr realisierbar ist, also die Koinzidenz von normativem Begriff und mit ihm gemeintem Sachverhalt nicht mehr besteht, dringt das Bewusstsein der historischen Akteure auf eine Änderung ihrer Lebenswirklichkeit. Es kann aber auch sein, dass nicht die gesellschaftlich-politische Wirklichkeit geändert, sondern der normative Begriffsinhalt der Idee an die nunmehr bestehende Wirklichkeit bedeutungsmäßig angepasst wird. Wenn diese zweite Art der Anpassung unter Beibehaltung des Wortlauts der alten normativen Begriffe erfolgt, kommt es zu jenen Formen von newspeak, wie sie von George Orwell in dem Roman 1984 exemplarisch geschildert wurden. – Wenn sich jedoch, wie im Fall der vierten bei Koselleck angeführten Möglichkeit, die normativen Bedeutungen und die ihnen korrelierenden Sachverhalte völlig auseinander entwickeln, so dass die ursprünglich bestehende Zuordnung nicht mehr einsichtig ist, hilft nur noch, wie Koselleck ausführt, die begriffs­historische Methode; durch sie soll ermittelt werden, „welche Wirklich­keit ehedem wie auf welchen Begriff gebracht worden war“. Ideen im Sinn der hier präsentierten „Geschichtsbegriffe“ stellen also implizit oft einen defizienten Modus der Gegenwart fest und eröffnen – mit Koselleck gesprochen – einen Erwartungshorizont. Als solche betreffen sie etwas werthaft Positives, etwas, das man affir­ mieren kann – wenn auch nur für eine gewisse Zeit. Denn auch Ideen haben ihren Kairos.

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3. Ideen als „Weichensteller“ oder „Schleusen“ Untersucht man den soziologischen Status und die Funktion von Ideen in der jeweiligen Gegenwart, so kann es nicht darum gehen, die mit ihr befasste Disziplin in zwei Teile auseinander zu reißen: in eine den „Sachen“ und „Umständen“ gewidmete Realsoziologie und in eine die „Ideen“ behandelnde Idealsoziologie. Auch erscheint die bekannte Metaphorik als nicht angemessen, wonach Ideen oder „Gedanken“ den „Blitzen“ gleichen, auf welche dann die „Tat“ als „Donner“ folge, deren sich Heinrich Heine im Dritten Buch seines 1834 erschienenen Essays Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland bediente. Vielmehr wird es sich empfehlen, Ideen nach Art von Max Weber als „Weichensteller“9 oder im Sinne von Max Scheler als „Schleusen“10 aufzufassen, welche vor allem den verschiedenen sozialen Interessen die Richtung weisen. Sie determinieren gleichwohl nicht das Ziel dieser Interessen. Ideen einzelner, wenn auch noch so angesehener Persönlichkeiten als notwendige und hinreichende Bedingungen für das Eintreten eines bestimmten realen Geschehens aufzufassen, wäre einseitig ideologisch. Es ist nicht möglich, aus den persönlichen Idealen dieser Einzelnen politisch-historische Ereignisse einfach zu „deduzieren“. Um z. B. Revolutionen oder politische Umstürze angemessen zu begreifen, erscheint es vielmehr unverzichtbar, Ideen Einzelner als intervenierende Größen in Betracht zu ziehen, welche den Interessen und Neigungen ganzer Gruppen eine bestimmte Richtung verleihen.

4. Die Idee als eine den Begriff konkretisierende Konzeption Das, was bei Koselleck als „Sachverhalt“ und „Begriff  “ eine Rolle spielt, begegnet zum Beispiel in der Rechts- und Sozialphilosophie von John Rawls als Auffassung oder Konzeption („conception“) von Gerechtigkeit im Unterschied zum Begriff („concept“) von Gerechtigkeit11; man könnte hier auch von der extensionalen bzw. der intensionalen Bedeutung von Gerechtigkeit sprechen. So mag es sein, dass man sich über einen in der jewei­ligen Sprachgemeinschaft als selbstverständlich geltenden allgemeinen Bedeutungsinhalt des Begriffs der „Gerechtigkeit“ einig ist, zugleich aber uneinig darüber, was den konkreten Bedeutungs­ umfang oder Sinngehalt einer besonderen Gerechtigkeitskonzeption betrifft. Ähnlich verhält es sich bei Urteilen außermoralischer Art. So muss man zum Beispiel die allgemeinen intensionalen Bedeutungen von „gut schmecken“ und „schlecht schmecken“ schon erfasst 9 Siehe Max WEBER: Einleitung in die Wirtschaftsethik der Weltreligionen [1916], in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. I, 6. Aufl., Tübingen 1972, S. 237–275, hier S. 252. 10 Max SCHELER: Die Wissensformen und die Gesellschaft [1926], 2. Aufl., Bern-München 1960 (= Gesammelte Werke, Bd. 8), S. 40. 11 Vgl. John RAWLS: A Theory of Justice, Cambridge, Mass. 1971, S. 5 f.

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haben, um dann in einer konkreten Situation unter Hinweis auf besondere extensionale Bedeutungen dieser Ausdrücke beispielsweise sagen zu können, dass dem Einen dies, dem Anderen jedoch jenes gut schmeckt. Die (intensionale) Bedeutung eines Begriffs ist dabei nicht abhängig von der (extensionalen) Bedeutung einer ihn konkretisie­renden Auffassung. Wie Peter Koller im Anschluss an Rawls zeigt,12 werden unter dem Begriff der Gerech­ tigkeit solche elementaren Bedeutungskomponenten der auf sie Bezug nehmenden Aussagen verstanden, über welche allgemeine Übereinstimmung besteht, während den verschiedenen Auffassungen oder Konzeptionen der Gerechtigkeit in Aussagen über solche besonderen Eigenschaften oder Verhaltensweisen Ausdruck verliehen wird, die über jene als selbstverständlich geltend vorausgesetzten Begriffsinhalte hinausgehen. Die Idee der Gerechtigkeit enthält Koller zufolge beides: sowohl den Begriff von Gerechtigkeit als auch die auf sie bezogenen Konzeptionen. Betrifft jener die konstanten Bedeutungs­ komponenten der Gerechtigkeit, die ihr durchgängig von der Antike bis heute innewohnen, so sind Gerechtigkeitskonzeptionen zwar veränderliche Auffassungen, aber in dem jeweiligen historisch-kulturellen Kontext, in dem sie in Gebrauch stehen, ebenso konsti­ tutiv für die Idee der Gerechtigkeit wie der Gerechtigkeitsbegriff. Zu den konstanten Bedeutungskomponenten zählt Koller das interpersonale Handeln unter Bedingungen der Interessenkonkurrenz der Beteiligten, einen allseitig akzeptablen Ausgleich von deren wider­streitenden Interessen, schließlich das Prinzip, Gleiches gleich zu behandeln. Als für die moderne Konzeption von Gerechtigkeit charakteristisch betrachtet er hingegen folgende drei Merkmale: die Ausdehnung des durch den Begriff der Gerechtigkeit erfassten Gegenstandsbereichs auf die institutionelle Rahmenordnung sozialen Handelns; die Einbettung dieses Begriffs in eine Moral der gleichen Achtung; eine Verstärkung der ­Präferenz für Gleichheit durch das Postulat, über die formelle Gleichbehandlung der Beteiligten hinaus­gehend auch eine materielle Gleichbehandlung aller Mitglieder eines gesellschaft­ lichen Gemeinwesens durch dessen soziale Ordnung zu verlangen.13 Diese moderne Gerechtigkeitskonzeption als das variable Moment der Idee der Ge­ rechtigkeit hat sich freilich weder zufällig noch plötzlich herausgebildet, sondern allmählich in Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen. Zu ihnen zählt Koller vor allem die Herausbildung des modernen Staates mit seinem Gewaltmonopol, die Entwicklung der Städte, sodann die fortschreitende Expansion der wirtschaftlichen Arbeitsteilung und der Markt­ökonomie, welche das Verlangen nach einer Angleichung und Ausweitung der privaten Rechte und Freiheiten der Menschen genährt habe. Ein angemes­senes Verständnis 12 Peter Koller, der statt von „Begriffen“, wie dies Rawls tut, von „dünnen Begriffen“, und statt von Auffassun­ gen oder Konzeptionen von „dicken Begriffen“ spricht, unternimmt es, das moderne Verständnis von Gerechtigkeit der letzteren Art von Begriffen zuzuordnen und in seiner sozialgeschichtlichen Entwicklung zu analysieren. – Vgl. Peter KOLLER: Zur Sozialgeschichte der Gerechtigkeit in der Neuzeit, in: Zeitschrift für Praktische Philosophie 1 (2014), S. 11–50. 13 Vgl. ebd., S. 14   –16.

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der Idee der Gerechtigkeit von heute sei dadurch zu erlangen, dass man deren variable Komponenten, also die neuzeitlichen Gerechtigkeitskonzeptionen, mit den sozialen Tatsachen in Beziehung setzt, die ihr Auftreten bedingen und ihnen Wirksamkeit verschaffen. Dies seien insbesondere die gesellschaftlichen Konflikte und Probleme, auf deren Regelung jene Gerechtigkeitskonzeptionen zielen; sodann die Möglichkeiten von deren Realisierung durch geeignete rechtliche Regeln und Institutionen, die ihre Geltung sichern; schließlich die Organisationsfähigkeit und Durchsetzungsmacht jener sozialen Gruppierungen, deren Interessen jene Konzeptionen entsprechen.14

5. Die Einheit der „Idee“ und die Vielheit ihrer Auslegungen: das Paradigma der „Generalklausel“ Auf eine geradezu idealtypische Weise begegnet man dem, was in der Philosophie des Deutschen Idealismus als die Einheit der „Idee“ und die Vielzahl der sie repräsentierenden „Begriffe“ erscheint, in der juristischen Verfassungslehre, und zwar unter dem Namen der Generalklausel. Die Sachlage ist hier gleich geartet wie im Falle der Ideen der praktischen Vernunft. Wie zum Beispiel die Geschichtsbegriffe „Freiheit“, „Gleichheit“, „Gerechtigkeit“ oder auch die von Fortschritt und Demokratie, so sind auch Generalklauseln ohne einen Ausgangspunkt oder Zusammenhang höchst unbestimmt und entziehen sich einer klaren sprachlichen Erfassung. Man muss sich, wie der Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmansegg in dem Buch Die Grammatik der Freiheit bemerkt, nur wenige Schlüsselsätze des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, auf welches er exemplarisch zu sprechen kommt, in Erinnerung rufen, um zu erkennen, dass dessen normativer Kern einen aus derartigen Klauseln gebildeten Rahmen abgibt. Von diesem kann ohne Konkretisierungsentscheidung keine Wirkung ausgehen – oder anders gesagt: Ohne begriffliche Präzisierung kann die Idee nicht Wirklich­keit werden. Von Kielmansegg führt in diesem Zusammenhang einige exempla­rische Artikel des Grundgesetzes an: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung“ (Art. 6); „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“ (Art. 14); „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“ (Art. 20).15 Diese General­ klauseln sind regulative Prinzipien oder Leitideen, die der konkreten begrifflichen Bestimmung ermangeln. „Immer“, so bemerkt von Kielmansegg, „stellt sich die Frage: Was folgt 14 Vgl. ebd., S. 17–33; zum Gegenwartsbefund und zu den Zukunftsperspektiven der Gerechtigkeitsidee siehe ebd., S. 33  – 41. 15 Peter Graf KIELMANSEGG: Die Grammatik der Freiheit. Acht Versuche über den demokratischen Verfassungsstaat, Baden-Baden 2013, S. 155.

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daraus? Und nie lässt sich diese Frage durch logisch zwingende Deduktionen beantworten, sondern immer nur durch die – freilich begründungspflichtige – Wahl einer von mehreren, häufig höchst unterschiedlichen Konkretisierungsoptionen.“16 Jene Generalklauseln sind aber nicht alle in dem Sinne schon Leerformeln, dass sie der Beliebigkeit überhaupt keine Grenzen setzen. Denn von diesen Sätzen geht trotz ihrer Unbestimmtheit und obwohl sie semantisch offen sind, eine Dynamik der Verfassungsentwicklung aus, die jeweils eine situa­tionsabhängige Neubestimmung erheischt. Wie sehr Generalklauseln im Rang von Ideen auf verfassungsgerichtliche Kon­kre­ tisierungen, also auf hinreichend klar definierte Begriffe und deren argumentative Verknüpfungen angewiesen sind, stellt insbesondere die Rechtsprechung des US-amerikanischen Supreme Court unter Beweis. Ein hervorragendes Beispiel bildet die Auslegung der in ihrem Wortlaut eindeutig prozessual verstandenen Rechtsschutzklausel des Amendment XIV: „nor shall any state deprive any person of life, liberty, or property, without due process of law“. Hatte man in diese Klausel zunächst einen weitreichenden materiellen Eigentumsschutz hinein­gelesen, wodurch nicht zuletzt die Versuche Franklin D. Roosevelts vereitelt werden sollten, durch wirtschaftsregulierende und sozialstaatliche Maßnahmen die Weltwirtschafts­ krise zu bekämpfen, so wurde aus ihr später das Recht des Staates auf Intervention in den Wirtschaftsprozess abgeleitet. Ja, der Supreme Court ging mit Bezug auf Amendment XIV sogar noch weiter: er hat in dieses ein Recht auf eine geschützte private Lebenssphäre hin­ein­­ gelesen, obschon sich im Wortlaut des Artikels darüber nicht einmal im Ansatz etwas fin­ det.17 – Ein Paradebeispiel ersten Ranges ist auch die Rechtsprechung zur Rassenfrage. Wie Graf Kielmansegg darlegt, hat der Supreme Court „im Verlauf eines guten halben Jahrhunderts aus dem gleichen Verfassungstext die Erlaubtheit wie das Verbot der Rassentrennung und schließlich auch noch das Gebot zu ihrer aktiven Überwindung herausgelesen. Er hat sich, heißt das, im Zeitablauf nicht nur für verschiedene, sondern für entgegengesetzte Optionen der Interpretation des Textes entschieden.“18 In solchen Fällen ist allerdings der Tatbestand der Leerformelhaftigkeit der ursprünglich formulierten Generalklausel kaum mehr zu leugnen.

II. Zu einigen historisch-systematischen Analysen politischer Leitideen Im Sinne des bisher Ausgeführten sind Ideen als allgemeine Geschichtsbegriffe insofern auch Möglichkeitsbegriffe, als sie immer über die Wirklichkeit hinausgehen und nicht mit einer ihrer von der Zeit und den Umständen abhängigen inhaltlichen Bestimmungen 16 Ebd., S. 155 f. 17 Siehe dazu ebd., S. 161. 18 Ebd.

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zusammenfallen. So wird etwa das Potential der Idee der Ge­rechtigkeit auf neue Weise aktualisiert, wenn zum Beispiel die Spannung zwischen einer bestimmten Tarifpolitik und der Vorstellung von ausgleichender Gerechtigkeit auf Seiten der davon betroffenen Menschen als unzumutbar erscheint und nach Änderung verlangt. Die Ideengeschichte ist, sofern sie Themen der praktischen Philosophie betrifft und sich nicht mit historischer Lexikographie begnügt, im Wesentlichen die Geschichte derartiger Spannungen und Konflikte sowie der nicht immer erfolgreichen Versuche, sie zu beseitigen. Die drei Wertideen, die im Folgenden in Betracht stehen: Freiheit, Gleichheit und Ge­ rechtigkeit, haben eine eindrucksvolle Geschichte. Im Falle der Gerechtigkeit beginnt sie spätestens mit deren Auszeichnung als der wichtigsten Tugend durch Aristoteles. Mehr als einige Glanzlichter auf die Geschichte der drei Wertideen und deren Behandlung durch Sozialphilosophen und Soziologen zu werfen wird im Folgenden nicht möglich sein.

1. Freiheit Freiheit erscheint als etwas, von dem im Allgemeinen intuitiv angenommen wird, dass es sich jeder wünscht, und deshalb rubriziert man darunter – ähnlich wie im Fall der Demokratie – viele gute Dinge. Die Idee der Freiheit erfuhr in der jüngeren Sozialphilosophie und Soziologie eine Vielzahl von Bedeutungsfestlegungen.19 1.1. Negative Freiheit. Isaiah Berlin aktualisierte die alte Bestimmung der Idee der Freiheit durch Bezugnahme sowohl auf den Begriff der negativen, als auch auf den der positiven Freiheit.20 Negative Freiheit soll dabei besagen, von bestimmten Zwängen und Behinde­ rungen frei zu sein, positive Freiheit hingegen, sich für bestimmte Ziele einzusetzen und sie nach Möglichkeit zu verwirklichen. Beide Konzepte sind verschiedentlich moralisch und politisch verzerrt worden: Die unbegrenzte (negative) Freiheit einiger zerstört, wie schon Thomas Hobbes wusste, die Freiheit aller anderen, und so hielt er es für unverzichtbar, die Schwachen vor den Starken zu schützen. Negative Freiheit muss beschnit19 Vgl. dazu Clemens SEDMAK (Hg.): Freiheit. Vom Wert der Autonomie, Darmstadt 2013; vgl. zum antiken Bedeutungsgehalt von „Freiheit“ exemplarisch Alexander DEMANDT: Die Erfindung der Freiheit. Ein Blick auf Athen und Rom, in: Politisches Denken. Jahrbuch 2014, S. 137–153. – Das Bestehen einer Vielzahl von Bedeutungen gilt auch für die Ideen der Gleichheit und der Gerechtig­keit; erwähnt seien hierzu aus der Vielzahl an einschlägigen Arbeiten: Clemens SEDMAK (Hg.): Gleichheit. Vom Wert der Nichtdiskriminierung, Darmstadt 2013; Ders. (Hg.): Gerechtigkeit. Vom Wert der Verhältnismäßigkeit, Darmstadt 2014; Gert MELVILLE, Gregor VOGT-SPIRA, Mirko BREITENSTEIN (Hgg.): Gerechtigkeit (= Europäische Grundbegriffe ­im Wandel, Bd. 1), Köln-Wien-Weimar 2013. 20 Siehe v. a. Isaiah BERLIN: Freiheit. Vier Versuche [engl. Orig. 1969]. Übers. von Reinhard Kaiser, Frankfurt a. M. 1995, Kapitel III: Zwei Freiheitsbegriffe, S. 197–256.

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ten werden, wenn eine hinreichende Verwirklichung der positiven Freiheit möglich sein soll. Aber auch die Deklaration der positiven Freiheit nahm immer wieder eine Form an, womit sich Missbrauch treiben ließ. So wurden beispielsweise von politischen Führern für ihre als nur unzureichend informiert angesehene Gefolgschaft auf paternalistische Weise Hand­lungsziele proklamiert, die angeblich deren Freiheit zuträglich waren. Widerständen gegen derartige Bevormundungen begegnete man in der Regel mit dem Argument, dass die Uneinsichtigen nicht ihre „wahren Bedürfnisse“ erkennen könn­ten, dass sie aber den vorgeschlagenen Zielen zustimmen würden, wenn sie nicht in ihrem Denken und Handeln durch ein „falsches Bewusstsein“ bestimmt wären. Hier ist es nach Isaiah Berlin geboten, Schutzrechte im Sinne der negativen Freiheit gegen Bevormundungen ins Treffen zu führen. Wenn es keine allgemeinen die persönliche Freiheit sichernden Regeln gibt, dann kann man Menschen weder vor Ausbeutung noch vor Despotismus oder Chaos schützen. Erst solche Regeln bewahren den Einzelnen vor den noch bis ins 18. Jahrhundert als „Freiheiten“ (libertates) bezeichneten Vorrechten privilegier­ter Stände, aber auch vor dem Wirksamwerden ähnlicher Ansprüche bestimmter Gruppierungen in nachfeudalen Gesellschaftsordnungen. Ähnlich wie Berlin argumentiert der Ökonom Fried­rich August von Hayek in seinem vielbeachteten Buch Die Verfassung der Freiheit.21 Wie jener unterscheidet Hayek verschiedene Arten der Freiheit: politische Freiheit (oder Freiheit der Wahl), metaphysische Freiheit (manchmal auch – im Sinne von Martin Luthers Freiheit eines Christenmenschen – als „innere“ Freiheit bezeichnet), die Freiheit zu tun, was man will (im Sinne der Libertinage),22 und Freiheit als Wohlhabenheit (als Voraussetzung einer möglichst uneingeschränkten Selbstverwirklichung).23 Der für ihn maßgebliche Begriff deckt sich allerdings mit dem, was als individuelle oder persönliche Freiheit bezeichnet wird; sie ist durch einen Zustand charakterisiert, „in dem ein Mensch nicht dem willkürlichen Zwang durch den Willen eines anderen oder anderer unterworfen ist“.24 Dieser von Hayek ebenfalls als „negativ“ bezeichnete Freiheitsbegriff gehe durchaus mit Zwang zusammen, insofern sich das Handeln eines freien Menschen auf Umstände gründet, die „nicht von einem anderen Willen so gestaltet werden können, daß sie dem 21 Friedrich August von HAYEK: Die Verfassung der Freiheit [engl. Orig. 1960], 2. Aufl., Tübingen 1983. 22 Diese kritisiert Hayek (ebd., S. 21–23) mit ähnlichen Argumenten wie Isaiah Berlin; vgl. z. B. Isaiah B ­ ERLIN, Ramin JAHANBEGLOO: Den Ideen die Stimme zurückgeben. Eine intellektuelle Biographie in Gesprächen. Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser, Frankfurt a. M. 1994, S. 187 f. 23 Friedrich August von HAYEK: Die Verfassung der Freiheit (Anm. 21), S. 17–25. 24 Ebd., S. 14. – Nicht selten geschieht dies heute in Ansätzen selbst in sogenannten westlichen Gesellschaften durch eine Homogenisierung von Meinungen nach Maßgabe der Kriterien einer zumindest offiziös verfügten political correctness. So etwas führt zu der für sogenannte pluralistische Demokratien höchst bedenklichen Verpflichtung der Staatsangehörigen auf eine bereits im voraus festgelegte Konsensposition, von der abzuweichen – meist unter Hinweis auf die Sicherung von Toleranz – recht intolerant mit Sanktionen belegt werden kann.

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Handelnden keine andere Wahl lassen als die, die der andere vorschreibt“. Aus diesem Grunde kann gemäß Hayek auch „Zwang […] nicht völlig vermieden werden, weil die einzige Methode, ihn zu verhindern, die Androhung von Zwang ist“.25 1.2. Menschenrechte, Verfassungsstaat und die Idee der Freiheit. Mit dem Näherrücken und gemeinschaften taucht im dem Vergleich voneinander höchst unterschiedlicher Rechts­ 18. Jahrhundert wieder – wie schon im Hellenismus und in der Philosophie der Stoa, sowie später zur Zeit der frühneuzeitlichen Kolonisation und der jesuitischen Naturrechtstheoretiker im Spanien des 16. Jahrhunderts – der Gedanke eines die partikulären Formen des Rechts übersteigenden von Natur aus Rechten auf. Der Einfluss, der im Hinblick darauf bereits im 17. Jahrhundert vom englischen Recht auf die Naturrechtsdiskussion ausgeübt wurde, kann in seiner Bedeutung kaum überschätzt werden. Dies gilt im Besonderen für Sir Edward Coke (1552 –1633), den bedeutendsten Rechtsgelehrten seiner Zeit, die treibende Kraft hinter der Petition of Rights des Jahres 1628, welche den König auf Respekt vor dem Verfassungsrecht festlegte. In ihr ist auch das klassische Grundrecht verankert, das für die enge Verknüpfung der Idee der Freiheit mit jener des Naturrechts bestimmend war: der Schutz vor willkürlicher Verhaftung (Habeas corpus). Die historische Bedeutung, die Coke auch für die Geschichte des amerikanischen Rechts­, damit aber für die Entwicklung des modernen Verfassungsstaates zukommt, ist nicht zu übersehen. Dies gilt schon für die Verfassung von Rhode Island aus dem Jahre 1647, aber auch für die auf sie folgenden amerikanischen Verfassungstexte. In diesen stellen die anderen Grundfreiheiten, wie zum Beispiel die Freiheit der Religion, der Rede, der Presse, der Petition, der Versammlung etc., Anwendungen der Cokeschen Formel auf jene Lebensbereiche dar, in denen die Geltung des in ihr formulierten Prinzips besonders verteidigt werden musste. Dem gemäß standen die persönlichen Freiheitsrechte in einem unlösbaren Zusammenhang mit dem Prinzip eines kompetenzverteilenden Verfassungsstaates. Folge­richtig hat auch der Menschenrechtskatalog von Virginia aus dem Jahr 1776 die Festlegung von Gewaltenteilung und richterlicher Unabhängigkeit enthalten. Die Philosophie der französischen Aufklärung, sieht man von Montesquieu ab, stand indes den Prinzipien des Verfassungsstaates englischer und amerikanischer Provenienz fern. Dies ergibt sich insbesondere aus dem Verhältnis von Einzelwillen und Allgemeinwillen, wie es exemplarisch im Schrifttum von Jean-Jacques Rousseau zum Ausdruck kommt. Wie dieser im Gesellschaftsvertrag ausführt, bestehe oftmals ein großer Unterschied zwischen dem Willen aller (volonté de tous) und dem allgemeinen Willen (volonté générale); dieser betreffe das allgemeine Interesse, während jener nur das private Interesse in Betracht ziehe und nichts anderes sei als die Summe der besonderen Willen (volontées particulières). Der einzelne Bürger gibt hier dem allgemeinen Willen seine Zustimmung, also dem vernünf­ 25 Ebd., S. 28.

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tigen Konsens, nicht schon dem Willen aller, dem faktischen Konsens. Der Inhalt des vernünftigen Konsenses ist indifferent dagegen, wie viele Bürger ihn ausdrücklich zum Inhalt ihres besonderen Willens machen. Denn der allgemeine Wille entspreche der wahren Freiheit, und folglich war der Überstimmte nicht frei. Carl Schmitt veranlasste diese Argumentation zur Feststellung: „Mit dieser Jakobiner­ logik kann man [...] auch die Herrschaft der Minderheit über die Mehrheit rechtfertigen und zwar gerade unter Berufung auf die Demokratie. Der Kern des demokratischen Prinzips bleibt dabei gewahrt, nämlich die Behauptung einer Identität von Gesetz und Volks­willen, und für eine abstrakte Logik macht es eigentlich gar keinen Unterschied, ob man den Willen der Mehrheit oder den Willen der Minderheit mit dem Willen des Volkes identifiziert […].“26 Auch der amerikanische Sozialphilosoph und Soziologe Robert Nisbet sah in Rousseau, ähnlich wie Schmitt, einen der großen Wegbereiter des totalitären Etatismus, dessen Anwälte, wie er findet, sich erfahrungsgemäß und oft nicht ohne Erfolg der „Camou­flage einer Rhetorik der Freiheit“ bedienen.27 Der deutsche Moral- und Sozial­philosoph Robert Spaemann sucht hingegen derart harte Urteile zu mildern, indem er Rousseaus Ideen als häufig missverstanden dargelegt. Dieser sage doch nur, dass die volonté de tous, der faktische Konsens der meisten, die einzige Repräsentation der volonté générale, des vernünftigen Konsenses, sei. „Aber sie repräsentiert ihn“, wie Spaemann erklärt, „nicht notwendig und nicht immer; und wenn sie ihn nicht repräsentiert, dann bleibt die volonté générale stumm. Mit anderen Worten: das Schlechte bleibt immer schlecht, auch wenn alle es wollen; aber das Gute ist nicht das Gute, solange es nicht von allen gewollt wird. Niemand kann aber die volonté générale gegen die Mehrheit der Bürger zu repräsentieren beanspruchen.“28 Nun besteht allerdings das fundamentale Defizit in der politischen Theorie Rousseaus darin, dass ihr zufolge in dem Abstimmungsvorgang, wie er in politischen Gremien statt­ findet, vorausgesetzt ist, dass das Gute als etwas Wahrheitsfähiges bereits im vorhinein feststeht. Das Abstimmungsverfahren selbst erscheint dann als ein der Wahrheit äußerlicher Prozess, da es allein die Funktion hat, das prinzipiell schon im voraus als richtig Erkenn26 Carl SCHMITT: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus [1923], 5. Aufl., Berlin 1979, S. 35. – Völlig abwegig erschien diese Kennzeichnung des Jakobinischen an Rousseau auch einigen seiner Zeitgenossen nicht, zumal der jakobinische Wohlfahrtsausschuss Rousseaus sterbliche Überreste im Jahr 1794 triumphal ins Pariser Panthéon überführen ließ. 27 Robert NISBET: The Present Age. Progress and Anarchy in Modern America, New York [u. a.] 1988, S. 52; siehe auch S. 53 f. und S. 114 –116. 28 Robert SPAEMANN: Die Utopie der Herrschaftsfreiheit, in: Ders., Zur Kritik der politischen Utopie. Zehn Kapitel politischer Philosophie, Stuttgart 1977, S. 104 –126, hier S. 114. – Spaemann vergleicht Rousseaus Theorie der irrenden volonté de tous mit der christlichen Lehre vom irrenden Gewissen, wie sie Thomas von Aquin formuliert hat: Derjenige, dessen Gewissen irrt, kann das Gute nicht tun. Wie bei dem Kirchenlehrer gibt es bei Rousseau, gleich wie auch bei Diderot, das Gute in Gestalt des allgemeinen Willens als ein an und für sich Geltendes, während die volontées particulières, die besonderen Willen der Einzelnen, aus denen sich die volonté de tous bildet, durchaus fehlbar seien; damit gelte für den Einzelwillen Ähnliches wie für das Gewissen bei Thomas.

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bare für alle an den Tag zu bringen. Ganz im Sinne Rousseaus spricht der später mit ihm verfeindete Denis Diderot ausdrücklich davon, „welche Verehrung man jenen erhabenen Sterblichen schuldig ist, deren besonderer Wille die Autorität und die Unfehlbarkeit des allgemeinen Willens vereint“.29 Diese Naturrechtstheorie, welcher die Idee eines Gemeinwohls zugrunde liegt, über das man sich vernünftig verständigen kann, über dessen Inhalt gleichwohl wenige Auserlesene bereits Bescheid wissen, stellt uns auf geradezu exem­ plarische Weise jene politische Ordnung vor Augen, die Martin Kriele als „‚Menschen­ rechte‘ ohne Verfassungsstaat“ bezeichnete. Zwar ging die Erklärung der Menschenrechte von 1789 – als eine erweiterte Version der schon von Coke formulierten Grundfreiheiten – zunächst in die französische Verfassung vom 3. September 1791 ein, die einen gewaltenteilenden Verfassungsstaat schuf, aber schon im August 1792 wurde sie suspendiert. Als im September 1792 das Königtum abgeschafft wurde, war die Gewaltenteilung beseitigt, und die Menschenrechte blieben leere Deklamation. Und nicht nur das: „Sie pervertierten in ihr Gegenteil, indem sie zur intellektuellen Rechtfertigung der Terrorherrschaft des Wohlfahrtsausschusses unter ihrem Inspirator Robespierre herhalten mußten.“30

2. Gleichheit Wie die Idee der Freiheit, so haben auch die Ideen der Gleichheit und der Gerechtigkeit eine Geschichte, die bis in die griechische Antike zurückreicht. Grundlegend und kontrovers diskutiert wurden seit altersher die Fragen: Was bedeutet Gleichheit? Wer oder was soll in Bezug worauf als gleich gelten? Dabei musste von allem Anfang an die Tatsache, ob eine Person oder eine gesellschaftliche Gruppe anderen Personen oder gesellschaftlichen Gruppen in bestimm­ ter Hinsicht gleich ist, von dem Wert oder Unwert unterschieden werden, der mit der Aussage verbunden ist, dass Gleichheit zwischen ihnen in der betreffenden Hinsicht bestehen soll. 29 Denis DIDEROT: Art. „Naturrecht (Moral)“, in: Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Bd. V, 1755; in: Ders., Philosophische Schriften. Erster Band, Berlin/DDR 1961, S. 378 –382, hier S. 382. 30 Martin KRIELE: Einführung in die Staatslehre. Die geschichtlichen Legitimitätsgrundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, 3. Aufl., Opladen 1980, S. 164. – Apropos Robespierre: Die Geschichte ist voll von Forderungen einer herrschaftsgierigen Aristokratie, die, wie der Soziologe Arnold Gehlen einmal sagte, „nur deswegen als solche nicht erkannt wird, weil sie im Namen von Freiheit und Gleichheit polemisiert“, solange sie noch im Angriff ist, die aber „schließlich absolute Freiheit für sich und Gleichheit für die anderen“ will, „und vor allem Macht“. (Vgl. Arnold GEHLEN: Freiheit heute [1972], in: Ders., Einblicke [= Arnold Gehlen Gesamtausgabe, Bd. 7], Frankfurt a. M. 1978, S. 365 –373, hier S. 372 f.) – Für die Zeit nach 1800 hat Joachim Rückert die Entwicklung des Freiheitskonzepts an der Abfolge von drei Etappen an der juristischen Umstellung der Arbeitsverträge anschaulich dargelegt. – Siehe Joachim RÜCKERT: „Frei“ und „sozial“: Arbeitsvertrags-Konzeptionen um 1900 zwischen Liberalismen und Sozialismen, in: Zeitschrift für Arbeitsrecht 23 (1992), S. 223 –294, v. a. Kap. IV.

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2.1. Über die Ausdifferenzierung der Gleichheitsidee. Die Idee der Gleichheit hat im Laufe der Zeit sehr verschiedene Formen angenommen. Forderungen nach Herstellung egali­ tärer Besitz- und Einkommensverhältnisse traten in der Geschichte immer wieder auf, und das schon lange vor den Egalitaristen und den etatistischen Frühkommunisten der Großen Revolution in Frankreich. In dieser gelang in ihrer bürgerlichen Phase die Herstellung der formalen Rechtsgleichheit: Gleichheit vor dem Gesetz und gleicher Zugang zu allen öffentlichen Ämtern waren die grundlegenden Forderungen im Gleichheitsprogramm der frühen Revolutionäre.31 Bald regte sich Kritik an dem Prinzip der formalen Rechtsgleichheit, schien es doch mit nahezu jeder materialen Ungleichheit vereinbar zu sein; ja oftmals konnte es schei­ nen, als diene es dazu, materiale Ungleichheit durch rechtliche Neutralisierung zu befestigen.32 Karl Marx vertrat in diesem Zusammenhang die Ansicht, dass Rechtsgleichheit in Anbetracht der Verschiedenheit der Menschen, ihrer Fähigkeiten und Bedürfnisse immer nur besage, Ungleiches gleich zu behandeln. Das aber heiße wiederum, wie er in der „Kritik des Gothaer Programms“ (1875)33 ausführt, dass gerade die trotz aller Verschieden­ artigkeit gleichen Menschen ungleich behandelt werden. Dieser Dualismus von Mensch und Bürger soll nach Marx später, im Kommunismus, definitiv aufgehoben werden. Auf dem Wege zu diesem Ziel soll in der Phase des Sozialismus noch das Proportionalitäts­ prinzip im Sinne der ausgleichenden Gerechtigkeit bei der Verteilung des planmäßig Erwirtschafteten maßgeblich sein: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Leistungen.“ Erst in der Phase des Kommunismus, der klassenlosen Überflussgesellschaft, soll ein neues Prinzip in Kraft treten: „Jedem nach seinen Bedürfnissen.“ Da allerdings nicht auszuschließen sei, dass versucht wird, „unnatürliche“ Bedürfnisse zu verwirklichen, erfordert das kommunistische Proportionalitätsprinzip, wie Lenin in Staat und Revolution (1917) zeigte, vor seinem Inkrafttreten eine Homogenisierung und Standardisierung der Bedürfnisse; erst dann sei es möglich, dass diese miteinander harmonieren. Dass die Herstellung einer derartigen Harmonie nicht frei von bestimmten erzieherischen Maßnahmen ist, welche im Namen der Gleichheit die Freiheit einschränken, war eingeplant. „Die Sphäre der Rechts­gleichheit,“ bemerkt Robert Spaemann in diesem Zusammenhang, „die auf der Anerkennung irreduzib­ler Subjekte beruht, verschwindet zugunsten des kollektiven Prozesses der Wegarbeitung der Differenzen.“34 31 Siehe dazu Peter Graf KIELMANSEGG: Die Grammatik der Freiheit (Anm. 15), S. 206  –212. 32 Dass die formale Gleichheit vor dem Gesetz prinzipiell einer materialen Konkretisierung fähig ist, die dann eine Gleichheit je nach Verschiedenheit meint, gemäß welcher z. B. der Reiche mehr Steuern zahlt als der Arme, sei hier allerdings ausdrücklich festgehalten. 33 Karl MARX: Kritik des Gothaer Programms, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 19, 4. Aufl., Berlin/DDR 1973, S. 13 –32. 34 Robert SPAEMANN: Bemerkungen zum Problem der Gleichheit, in: Ders., Zur Kritik der politischen Utopie (Anm. 28), S. 158 –166, hier S. 163.

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Die Behauptung, alle Menschen seien gleich und sollten deshalb auch gleich behandelt werden, ist nicht nur eine unzulässige Konklusion einer Sollens- aus einer Seinsaussage, sondern sie täuscht insbesondere auch hinweg über die faktische Ungleichheit der Menschen. Eine Gleichheit tout court, wie sie etwa Bakunin35 und nach ihm Mao Zedong oder Pol Pot vorsahen, geht, wie auch die abgeschwächte Gleichheitskonzeption der Leninisten, an der individuellen und gesellschaftlichen Realität vorbei. „Ungleichheit hat“, wie Peter Graf Kielmansegg darlegt, „offensichtlich so tiefe anthropologische wie gesellschaftsstrukturelle Wurzeln, dass der Versuch, sie mit politischen Mitteln nicht nur abzuschwächen sondern sie abzuschaffen, notwendig mit der vollständigen Negation von Freiheit endet.“ So kann man unter „Gleichheit“ in faktischer und in normativer Hinsicht recht Unterschiedliches verstehen: – „Gleich“ können, erstens, bestimmte Dispositionen der Menschen sein; – zweitens kann man den Ausdruck auf die Behandlung der Menschen beziehen; so ist im Falle der formalen Rechtsgleichheit gleiche Behandlung dann gegeben, wenn gleiches ­Recht für alle ohne Unterschied der Geburt oder des Standes zur Anwendung kommt; man muss ja nicht gleich sein, um gleich behandelt zu werden;36 – drittens kann „Gleichheit“ aber „Gleichmacherei“ im Sinne der radikalen Wegdressur der Unterschiede zwischen den Menschen bedeuten; – und viertens kann damit die Gleichheit der Startbedingungen oder die „Chancengleichheit“ (equality of opportunity) gemeint sein. Unter „Chancengleichheit“ versteht man im Allgemeinen die Gleichheit der politischen Teilnahmerechte sowie der Möglichkeiten, im Wirtschaftsleben zu bestehen. Zusammen mit der Gleichheit vor dem Gesetz bildet die Chancengleichheit das Gleichheitsminimum, durch das Freiheit sich als demokratische Freiheit definieren lässt.37 Zu ihrer Gewährleistung erfolgt in vielen Staaten vorgängig bereits eine materielle Sicherstellung der gleichen Ausbildungsmöglichkeiten. Das entspricht alles unserem Gerechtigkeitsempfinden, und doch warnt der Ökonom Wilhelm Röpke vor überspannten Hoffnungen. Diese Warnungen erfolgen nicht, weil er das Ideal der Chancengleichheit für obsolet ansieht, sondern um es gegenüber erwartbaren Enttäuschungen in Schutz zu nehmen: wenn nämlich 35 Der Anarchist Michail Bakunin, dessen radikaler Egalitarismus von den Marxisten als „Gleichmacherei“ abgelehnt wurde, wollte beispielsweise die Universitäten unterdrücken, weil sie intellektuell überlegene Menschen hervorbringen, welche sich anderen gegenüber als Herren aufspielen und damit Ungleichheit herstellen könnten. 36 Darauf hat bereits John LOCKE nachdrücklich in seinem Second Treatise of Civil Government (1690) hingewiesen. – Zu damit zusammenhängenden Fragen vgl. Arnold BRECHT: Politische Theorie. Die Grundlagen politischen Denkens im 20. Jahrhundert. Stellenweise rev. u. erg. deutsche Ausgabe übers. von Irmgard Kutscher u. d. Verfasser, Tübingen 1961, S. 367–376. 37 Vgl. Peter Graf KIELMANSEGG: Die Grammatik der Freiheit (Anm. 15), S. 224.

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dessen volle Realisierung nicht möglich ist. Einerseits, so meint er, sei es reine und ungerechte Willkür, eine Gleichheit nur in den materiellen Startbedingungen anzustreben, während man beispielsweise ungleiche Intelligenz oder ungleiche Charaktereigenschaften einfach als nicht weiter relevante Sachverhalte hinzunehmen geneigt ist. Andererseits verdiene der Umstand besondere Beachtung, dass angesichts der Sozialisierung der Ausbildungsmöglich­keiten die Gleichheit der Startbedingungen Neid, Ressentiment oder einfach tiefe Enttäuschung zur Folge haben kann, weil den im Erziehungsprozess Zurückbleibenden ihre intellektuelle oder auch ihre charakterliche Schwäche nicht selten mit brutaler Nacktheit als Ursache des verlorenen Rennens enthüllt werde.38 Vergleichsweise entlastend war es da, an Tyche, die Moiren, die Nornen, das Fatum oder das Schicksal zu glauben. In Anbetracht der ungleichen Verteilung bestimmter Fähigkeiten und Leistungen, so darf man also vermuten, werden gerade unter der Voraussetzung der durchaus zu begrüßenden Startgerechtigkeit im Erziehungswesen zwar viele davon profitieren, viele aber auch mit sich unglücklich sein. Nicht wenige dieser Unglücklichen werden aber für ihr persönliches Versagen wohl in der „Gesellschaft“ die Ursache sehen wollen. Ihrem Gerechtigkeitsempfinden oder dem ihrer Vertreter entspricht es dann gelegentlich, die „Bessersituierten“ einer kompensatorischen Ungleichbehandlung nach Art der affirmative action-Programme zu unterziehen. 2.2. Liberale und libertäre Gleichheit. Auch die Sozialphilosophie der letzten Jahrzehnte steht im Zeichen der sozialpolitischen Idee von Chancengleichheit. Das Problem, um das diese Politik kreist, lässt sich in die Frage kleiden: Wie viel Ungleichheit ist für eine Maximierung des Sozialprodukts in Kauf zu nehmen, wenn durch dessen entsprechende Verteilung mehr Chancengleichheit als bisher unter den Mitgliedern der Gesellschaft ermöglicht wird? Exemplarisch dafür, wie diese Frage in der jüngeren sozialphilosophischen und sozio­ logischen Literatur von Vertretern der liberalen Gleichheit erörtert wird, sind die Ansich­ten von John Rawls, die er 1971 in dem zu einem Klassiker der ­Moral- und Sozialphilosophie gewordenen Buch A Theory of Justice dargelegt hat. Es beruht auf einer modifiziert utilitaristischen Grundlage und richtet sich insbesondere gegen sozialphilosophische Orientierungen in der Tradition des US-amerikanischen Sozialdarwinis­mus. Nicht zufällig zog es just von Seiten derjenigen Vertreter des Libertarismus die heftigste Kritik auf sich, die, wie etwa Robert Nozick mit seinem Buch Anarchy, State, and Utopia aus dem Jahr 1974, jener Richtung nahe stehen. Es ist hier auch nicht in Ansätzen möglich, die mittlerweile ganze Bibliotheken füllende Diskussion zwischen jenen beiden Lagern zu rekonstruieren. Nur skizzenhaft sei 38 Vgl. Wilhelm RÖPKE: Jenseits von Angebot und Nachfrage, Erlenbach-Zürich 1958, v. a. S. 293 und S. 317.

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hier nachgezeichnet, was das Ideal der Chancengleichheit nach Rawls besagt: Unterschiede des Einkommens oder Prestiges seien genau dann gerechtfertigt, wenn die Positionen, die sie gewähren, in einem fairen Wettbewerb erworben wurden. Ausgeschlossen ist eine Benachteiligung oder Bevorzugung von Bewerbern, die sich auf für irrelevant erachtete Faktoren wie Geschlecht, Herkunft oder Religion stützen. Rawls charakterisiert sein eige­ nes System mithilfe zweier Grundsätze und zweier Vorrangregeln. Diesen zufolge ran­ gieren gleiche Freiheiten, also politische Bürgerrechte, vor der Chancengleichheit, und diese wiederum vor gleichen Ressourcen. Die Grundsätze stehen dabei in einer lexikali­ schen Ordnung, d. h. es kann zum Beispiel keine Einschränkung der Bürgerrechte damit ge­rechtfertigt werden, dass höhere Chancengleichheit im Ausgleich dafür gewährt wird. Zudem herrscht in allen gesellschaftlichen Bereichen das Differenzprinzip; dieses verlangt, kurz gesagt, dass eine Gleichverteilung (im Sinne der distributiven Gerechtigkeit) vorzuneh­men ist, es sei denn, eine Ungleichverteilung stellt die am wenigsten Begünstigten besser als eine Gleichverteilung. Die meisten der jüngeren sozialphilosophischen und soziologischen Studien, bei welchen Chancengleichheit und Verteilungsgerechtigkeit im Mittelpunkt stehen, entziehen sich dem Versuch der Auflösung einer vor nun schon mehr als einem halben Jahr­ hundert von Arnold Brecht formulierten Aporie, mit der er Gleichheitsemphatiker konfrontierte: „Es ist unmöglich, daß beliebige zwei der folgenden Zustände innerhalb einer großen Be­völkerung gleichzeitig bestehen: Gleichheit pro Kopf, Gleichheit nach Bedürfnis, Gleichheit nach Arbeitsmenge, Gleichheit nach Arbeitsqualität, Gleichheit der Gelegenheit [d. h. Chancengleichheit].“39 Zudem bleibt eine grundlegende Frage in vielen einschlägigen Untersuchungen unbeantwortet: wie viel Gleichheit gegeben sein muss, und zwar in welchen Gleichheitsdimensionen und auf welchem Niveau, damit von verwirklich­ ter Chancengleichheit gesprochen werden kann.

3. Gerechtigkeit Wie die Idee der Gleichheit durch einen partikulären Begriff von Gleichheit nie vollständig repräsentiert wird, so gilt Entsprechendes auch für die Idee der Gerechtigkeit. 3.1. Über einige Gerechtigkeitsideale. Gerechtigkeit ist, ob nun als individuelles Handlungsoder als gesellschaftliches Strukturkonzept verstanden, mit einem bestimm­ten Verständnis von Gleichheit oder Gleichverteilung verbunden. An vier Grundarten der Gerechtigkeit soll hier zunächst kurz erinnert werden.

39 Arnold BRECHT: Politische Theorie (Anm. 36), S. 515.

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Wenn man etwa bei einem Kindergeburtstag einigen der zwölf anwesenden gleich­ altrigen und gleichermaßen auf Torten erpichten Kinder von den zwölf gleich großen Tortenstücken zwei Stück davon gibt, anderen aber nur eines oder gar keines, so verstößt dies – wenn dies ohne triftige Gründe erfolgt – gegen das Prinzip der distributiven oder Verteilungs-Gerechtigkeit. Wenn man andererseits, wie dies etwa in Lenins noch junger Sowjetunion und im Falle von Mao Zedongs China für einige Zeit der Fall war, Einheits­ löhne auch für nach Art und Ausmaß der Arbeit ungleiche Leistung zahlte, so mochte dies zwar einer radikalen Form des Egalitarismus ­entsprechen, wurde aber von vielen Bürgern der Sowjetunion bzw. Chinas als eminent ungerecht empfunden und war darüber ­hinaus auch der revolutionären Effektivität abträglich. Kommutative oder ausgleichende Gerechtig­ keit wurde daher gefordert und schließlich auch im Interesse der proletarischen Revolution praktiziert; ziemlich bald waren die Staatsorgane bemüht, höher qualifizierter Arbeit wenigstens durch Auszahlung zusätzlicher Leistungsprämien Rechnung zu tragen. Ganz allgemein kommt im Zusammenhang mit der kommunikativen Gerechtigkeit auch dem Ausgleich bei Nichterfüllung und Störung von formell oder informell eingegangenen Verträgen besondere Bedeutung zu. Die retri­butive oder vergeltende Gerechtigkeit wiederum stellt den strafrechtlichen Sonderfall der ausgleichenden Gerechtigkeit dar. Bei ihr geht es darum, dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit dadurch zu entsprechen, dass das Ausmaß der Strafe tunlichst der Schwere des Delikts entspricht. – Alle drei erwähnten normativen Begriffe von Gerechtigkeit finden sich bereits bei Aristoteles; in späterer Zeit kam noch die prozedurale oder Verfahrens-Ge­rechtigkeit hinzu, wobei das Hauptaugenmerk auf faire und in gleicher Weise zur Anwendung kommende Verfahren insbesondere der Strafge­richtsbarkeit, so etwa bei der Bearbeitung von Tatbestanderhebungen, von Ein­ gaben der Beschuldigten und ihrer Anwälte, bei der Strafzumessungen etc., gelegt wird; dieses formale Prinzip wurde nicht selten in seiner Bedeutung gegenüber den materialen Gerechtigkeits­prinzipien unterschätzt.40 Als eine von keiner Ethik eindeutig entscheidbare Frage bezeichnete Max Weber die Konsequenzen der hier als kommutative und distributive Gerechtigkeit bezeichneten Wertorientierungen: „Ob man z. B. […] dem, der viel leistet, auch viel schuldet, oder umgekehrt von dem, der viel leisten kann, auch viel fordert, ob man also z. B. im Namen der Gerechtigkeit […] dem großen Talent auch große Chancen gönnen solle, oder ob man umgekehrt (wie Babeuf ) die Ungerechtigkeit der ungleichen Verteilung der geistigen Gaben auszugleichen habe durch strenge Vorsorge dafür, daß das Talent, dessen bloßer Be40 Vgl. in diesem Zusammenhang Peter KOLLER: Soziale Gerechtigkeit – Begriff und Begründung, in: Erwägen – Wissen – Ethik 14 (2003), S. 237–250; Ders.: Die Arbeitswelt im Lichte sozialer Gerechtigkeit. Ein kritischer Kommentar zu Michael Walzers Überlegungen über Arbeitsmarkt und harte Arbeit, in: Manuel Knoll, Michael Spieker (Hgg.), Michael Walzer – Sphären der Gerechtigkeit. Ein kooperativer Kommentar, Stuttgart 2014, S. 149 –162.

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sitz ja schon ein beglückendes Prestigegefühl geben könne, nicht auch noch seine besseren Chancen in der Welt für sich ausnützen könne: – dies dürfte aus ‚ethischen‘ Prämissen unaustragbar sein.“41 Die auf solche sozialmoralischen und sozialpolitischen Fragen gegebenen Antworten sind nach Weber, wie immer auch unsere Stellungnahme zu dem mit ihnen verbundenen Anspruch ausfallen mag, „mit den Mitteln keiner ‚Wissenschaft‘ beweisbar oder ‚widerlegbar‘“.42 Die Idee der Gerechtigkeit bezieht sich im Falle ihrer drei erstgenannten Grundformen auf die Verteilung von knappen Gütern, Entschädigungen, Belastungen und Strafen. Als wesentlich erscheint dabei die Art der in Betracht stehenden Güterwerte: ob es sich um materielle oder immaterielle Güter handelt; und wenn um materielle Güter, ob es öffent­ liche oder private Güter sind. Ein Mangel in Anbetracht der Analyse von Gütern besteht zudem in der Vernachlässigung jener Verfahren, die zur Ermittlung von Präferenzen hin­ sichtlich der Bewertung von Gütern führen. 3.2. Die Bedeutung des Prozeduralen für die „gerechte“ Ermittlung von Wertpräferenzen. Gerade weil die auf die materiellen und immateriellen Güter bezogenen Präferenzen der Individuen sehr verschieden sind, gewinnen Verfahrensfragen an Bedeutung, und damit Fragen der prozeduralen Gerechtigkeit: einerseits Fragen danach, wie wir unsere mit unterschiedlichen Präferenzen verbundenen Konflikte austragen, andererseits aber schon Fragen danach, wie unsere Präferenzen ermittelt werden. Dass der Erörterung des Procedere von Entscheidungen gegenüber der Ermittlung von aus ihnen resultierenden Befunden nur eíne untergeordnete Bedeutung beigemessen wird, verrät einiges an Oberflächlichkeit. Anschaulich belegt wird dies durch Beispiele aus der Wahlforschung. Wie man weiß, ist die Ermittlung von Präferenzen nicht nur in der Marktforschung, sondern auch in der Politikwissenschaft von Bedeutung. Aber die Frage, aufgrund welcher oft nie explizierten Vorentscheidungen man von Wahlergebnissen sagt, sie brächten die Präferenzen des Wahlvolks „objektiv“ – also in einer „gerechten“ komparativen Ordnung – zum Ausdruck, wird so gut wie nie thematisiert. Wählen kann man auf unterschiedliche Art und Weise, und Wahlresultate auslegen ebenfalls. Das geläufigste Verfahren ist gleichzeitig das einfachste: Jeder Wähler und jede Wählerin stimmt für eine von mehreren Alternativen, wobei jene mit den meisten Stimmen gewinnt. Daher auch der Name dieses Verfahrens: „Plurality Rule“, also Mehrheitsregel. Die nach dem berühmten 1794 der Französischen Revolution zum Opfer gefallenen Mathematiker und Philosophen benannte Condorcet-Methode baut hingegen auf paarweisen Vergleichen zwischen den Alternativen auf: Wer, so wird gefragt, hat lieber A statt 41 Max WEBER: Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre [1922], 3. Aufl., Tübingen 1968, S. 489 –540, hier S. 505. 42 Ebd., S. 507.

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B, wer aber lieber B statt A? Im Fall der Borda-Regel wiederum – benannt nach Charles de Borda, einem Zeitgenossen und Kontrahenten von Marquis de Condorcet – werden individuelle Reihungen von alternativen Optionen berücksichtigt, wobei der erstgereihten eine höhere Punkteanzahl zugeordnet wird als der zweitgereihten. Diese Methode ist in gewisser Weise subtiler und verrät im Allgemeinen mehr über die individuellen Vorlieben der Wählerinnen und Wähler als die einfache Mehrheitsregel. Alle drei unterschiedlichen, aber sehr plausiblen Wahlverfahren (Verfahren der Auswertung von Wahlakten) können nun, wie ein Beispiel von Christian Klamler und Ulrich Pferschy belegt, zu extremen Unterschieden in der Deutung des Wahlergebnisses – der Reihung von je drei Gütern durch fünf Personengruppen – führen. Die Anwendung unterschiedlicher Wahlverfahrensregeln macht es möglich, dass dem Wahlvolk völlig unterschiedliche Güterpräferenzen durch die das Resultat Deutenden zugeschrieben bzw. unterlegt werden können. Deutlich zeigt dies die folgende Tabelle:

Fallbeispiel der Wahlverfahren Die Getränke Milch, Bier und Wein werden von 33 Personen wie folgt gereiht:

1. 2. 3.

6 Personen

4 Personen

11 Personen

6 Personen

6 Personen

Wein Bier Milch

Wein Milch Bier

Bier Wein Milch

Milch Wein Bier

Milch Bier Wein

Je nach Wahlverfahren sind die Ergebnisse ganz unterschiedlich, bei Plurality Rule und Borda Rule sogar konträr. Plurality Rule: 1 Punkt für die erstgereihte Alternative, keine Stimme für die anderen Alternativen Ergebnis: 1. Milch (12 Punkte), 2. Bier (11 Punkte), 3. Wein (10 Punkte) Borda Rule: 2 Punkte für die erstgereihte Alternative, 1 Punkt für die zweitgereihte Alternative Ergebnis: 1. Wein (37 Punkte), 2. Bier (34 Punkte), 3. Milch (28 Punkte) Condorcet Rule: Reihung nach paarweisen Vergleichen: Wer hat lieber Bier als Wein, wer lieber Wein als Bier etc.? Bier: Wein (17:16), Bier: Milch (17:16), Wein: Milch (21:12) Ergebnis: 1. Bier, 2. Wein, 3. Milch

Quelle: Die Qual der Wahl, in: UNIZEIT. Das Forschungsmagazin der Karl-Franzens-Universität Graz. Quelle: Christian Jg. 2008, Heft KLAMLER, 2, S. 14 f. Ulrich PFERSCHY: Die Qual der Wahl, in: UNIZEIT. Das Forschungs­magazin der Karl-Franzens-Universität Graz, Jg. 2008, Heft 2, S. 14 f.

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Würde man sich in diesem Fall beispielsweise mit der schlichten Angabe begnügen, dass die Mehrheit Wein gewählt hat, so bliebe völlig ungeklärt, dass diese Entscheidung das Ergebnis eines ganz bestimmten Wahlverfahrens ist. Man hätte, wie man s­ ieht, nach Auswahl des entsprechenden Verfahrens jederzeit auch eine Entscheidung zugunsten einer Milch- oder einer Bier-Majorität zustandebringen können. Das, was gefunden wurde, ist also ein Resultat dessen, wie danach gesucht wurde. Nichts ist also – auch im Zusammenhang mit Fragen nach der Gerechtigkeit – verkehr­ ter, als Fragen nach dem Wie, dem Procedere, dem Formalen gegenüber den Fragen nach dem Was, dem Inhaltlichen, dem Materialen als zweitrangig anzusehen. In diesem Zusammenhang ist an Ludwig Wittgensteins berühmten Satz zu erinnern: „Sage mir, wie du suchst, und ich werde dir sagen, was du suchst.“ 43 3.3. Gerechtigkeit und Gemeinwohl. Die Frage „Was ist Gerechtigkeit?“ wird oft auf Individuen bezogen, und dann hat man menschliches Handeln im Blick. Sie kann aber auch auf Handlungsbedingungen und Strukturen bezogen sein, wie etwa auf soziale Ordnungen. Dabei mag sich dann unter Umständen herausstellen, dass die Vorstellungen, die sich mit dem Konzept einer approximativen Gleichverteilung von Einkommen und Besitz verbinden, mit denen kollidieren, die sich auf das Gemeinwohl beziehen.44 Gemeinwohlorientierung kann, wie der Ökonom Alfred Amonn einmal bemerkte, „unter Umständen den Verzicht auf Verwirklichung [einer bestimmten Form] von Gerechtigkeit verlangen, weil sonst das gesamte Interesse schwer Schaden leiden würde. So kann z. B. das Gerechtigkeits­ interesse eine hohe Besteuerung hoher Einkommen erfordern, eine solche Besteuerung aber das individuelle Leistungsinteresse so schwer beeinträchtigen, daß der Gesamtwohlstand und damit auch der Wohlstand vieler Einzelner, und vielleicht gerade solcher, die ohnehin auf tieferer Stufe stehen, wesentlich vermindert wird.“ 45 Dieses Beispiel zeigt, dass die Idee der Gerechtigkeit stets über die Begrenztheit eines unter sie fallenden Begriffs von Gerechtigkeit, welcher bestimmten partikulären sozialen Interessen korrespondiert, hinausgeht. Nicht soll hier, wie Amonn ergänzend bemerkt, 43 Ludwig WITTGENSTEIN: Philosophische Bemerkungen, Frankfurt a. M. 1964, S. 66. 44 Siehe zu Fragen des Gemeinwohls exemplarisch Herfried MÜNKLER, Harald BLUHM (Hgg.): Gemeinwohl und Gemeinsinn. Historische Semantiken politischer Leitbegriffe, Berlin 2001; Dies. (Hgg.): Gemeinwohl und Gemeinsinn. Zwischen Normativität und Faktizität, Berlin 2002; Gunnar Folke SCHUPPERT, Friedhelm NEIDHARDT (Hgg.): Gemeinwohl – Auf der Suche nach Substanz, Berlin 2002. 45 Alfred AMONN: Nationalökonomie und Philosophie, Berlin 1961, S. 207. – Ähnlich ist es mitunter mit der Wahrhaftigkeit bestellt. Vor allem Gesichtspunkte der Philanthropie, aber auch solche der therapeutischen Zweckmäßigkeit lassen es so mitunter geboten erscheinen, bestimmte Patienten nicht über das volle Ausmaß ihrer Erkrankung zu unterrichten, um sie nicht in die totale Verzweiflung zu treiben. So werden den Ärzten, aber auch den Angehörigen der Patienten oft die gebotenen Grenzen einer Verwirklichung des Ideals der Wahrhaftigkeit deutlich bewusst.

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das Prinzip „Fiat justitia, pereat mundus“ im Sinne fanatischer Partikularisten gelten, sondern das Prinzip „Fiat justitia, ne pereat mundus“. Gerechtigkeit könne nur im Dienst des Ganzen der Gesellschaft verwirklicht werden – auch wenn wir im Voraus nicht mit Sicherheit sagen können, worin genau die Ordnung besteht, die wir als gerecht anzusehen gewillt sind. Denn die Unwägbarkeiten der jeweiligen Situationen und der Reaktionen darauf gestatten stets nur eine optimale, nicht aber eine maximale Lösung des Problems der Gerechtigkeit. – Vorausgesetzt wird dabei implizit ein durch staatliche Macht abgesichertes Ideal, das notfalls gegen Widerstand durchzusetzen ist. Denn Gerechtigkeit ohne Macht ist mitunter ein so arges Übel wie Macht ohne Gerechtigkeit. Ein anderer Aspekt des Verhältnisses von Gerechtigkeit und Gemeinwohl betrifft in der Gegenwart die Spannung im Verhältnis von Demokratie und Marktwirtschaft. Die für die verfassungsstaatliche Demokratie grundlegende Einhegung staatlicher Macht ist, wie man leicht einsehen kann, unverzichtbar; man denke nur daran, wie übermächtig ein Staat ist, der seinen Bürgern nicht nur mit dem Monopol legitimen physischen Zwanges, sondern auch als einziger Arbeitgeber und als Besitzer der Produktionsmittel gegenübertritt. Und doch ist nicht zu übersehen, dass derzeit die Marktkräfte weltumspannend immer öfter das politische Geschehen im engeren Sinne bestimmen, und dass die Politik Mühe hat, nicht unter deren Räder zu kommen. Die Politik ist einerseits im Eigeninteresse zur Konzilianz gegenüber der Wirtschaft genötigt, da sie ohne deren Leistungsfähigkeit unter demokratischen Bedingungen auch nicht auf die Zustimmungsbereitschaft der Wähler hoffen kann; für diese Bereitschaft bedarf es aber auf Seiten der Wahlbürger der Überzeugung, dass distributive und kommutative Gerechtigkeit in einem vertretbaren Maße herrschen. Das ist ein Sachzwang, dem die Politik schwer­lich entgehen kann. Anderseits ist die nicht selten beklagte Abhängigkeit der Politik in bestimmtem Umfang durchaus von dieser selbst verursacht. Der Politologe Peter Graf Kiel­mansegg verweist in diesem Zusammenhang auf die Staatsverschuldung. In der demo­kratischen Politik der Gegenwart werde die Tendenz des Staates offenkundig, sich immer höher zu verschulden. „Denn der politische Wettbewerb hat notorisch zur Folge, dass die Regierenden den Wählern mehr an Leistungen versprechen, als sie ihnen an Steuern abzufordern wagen. Es ist, anders formuliert, im demokratischen Wettbewerb nützlich, an die nächste Wahl und nicht eine nächste Generation zu denken; es ist nützlich, heißt das, um Wählerstimmen nicht mit steuerfinanzierten, sondern mit kreditfinanzierten Leistungen zu werben.“46 Zu alledem zeigt sich hier aber auch noch eine tendenzielle Asymmetrie im p ­ olitischen Handeln: Während sich die Politik derzeit nur höchst unzureichend gegenüber der global agierenden Finanz­industrie, auf deren anonymen Märkten sich kaum noch jemand für 46 Peter Graf KIELMANSEGG: Die Grammatik der Freiheit (Anm. 15), S. 195. – Siehe in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen in Kap. 9, Abschn. IV.

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Formen und Sinn der Ideengeschichte

irgendetwas verantwortlich fühlt, die Handlungsmöglichkeiten sichert, die sie braucht, scheut sie sich nicht, mitunter tief in die Prozesse der sogenannten Realökono­mie einzugreifen. Arbeitsmärkte sind in vielen Demokratien ein augenfälliges Beispiel für diese Tendenz.47 Daher sieht sich die güterproduzierende Wirtschaft im Unterschied zur Finanz­ industrie, die das nicht nötig hat, mitunter veranlasst, sich gegen die „totale Demokratie“ und deren kontraproduktive Interventionen in ihren Bereich zu behaupten. So haben wir es im Verhältnis der Politik zu den Bereichen der das eine Mal Güter, das andere Mal oft dubiose Finanzprodukte herstellenden Wirtschaft bislang mit einem asymmetrischen Ver­halten zu tun, damit aber mit einer spezifischen Form der Ungerechtigkeit. Sie zu beseitigen ist für die Politik unerlässlich, ist es doch unstrittig der Fall, dass die ver­fassungsstaatliche Demokratie nur mit einer die Produktivität und die Arbeitsplätze sichern­den Marktwirtschaft eine sowohl funktionsfähige als auch politisch legitimierte Symbiose zuwege bringen kann.48 Was es deshalb derzeit zu zähmen gilt, ist die Herrschaft der Finanz­wirtschaft außerhalb ihrer Sphäre. Ordnungspolitisch betrachtet geht es, wie namhafte Vertreter der Sozialwissenschaften festzustellen nicht müde werden, darum, die Marktergebnisse nach Gerechtigkeits- und Nützlichkeitserwägungen zu korrigieren, ohne dabei den Marktmechanismen ihre Wirksamkeit zu nehmen – was auf einen Balanceakt im Verhältnis von Politik und Markt­ wirtschaft hinausläuft.49

Schlussbemerkung Nach Jahrzehnten der relativen Ignoranz gegenüber Fragen der Ideengeschichte im deutschen Sprachraum und im Unterschied zu den einschlägigen Entwicklungen beispielsweise in den USA, in Italien oder im Umkreis der Cambridge School of Intellectual History untersucht man seit den 1990er Jahren auch im deutschen Sprachraum wieder Ideen als gesell­schaftliche Gestaltungskräfte.50 Ganz im Sinne von Max Weber und Max Scheler 47 So beklagten sich italienische Unternehmer darüber, dass es in ihrem Land zunehmend schwerer sei, in den Betrieben Disziplin und Produktivität zu garantieren. Selbst Mitarbeiter, die sich für Wochen oder Monate krankschreiben lassen, ja sogar solche, die stehlen oder Sabotageakte verüben, können nicht einfach entlassen werden, da sie nicht nur unter dem Schutz bestimmter Gewerkschaften stehen, sondern auch unter dem von Gerichtsentscheidungen. – Siehe dazu Tobias PILLER: Italiens Konzerne fliehen vor radikalen Gewerkschaften, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. August 2013, S. 11. 48 Entsprechend gilt umgekehrt, „dass der demokratische Verfassungsstaat die für die Marktwirtschaft konstitutiven Individualrechte wie die für die Markttransaktionen unentbehrliche Rechtssicherheit mit einer Verlässlichkeit gewährleistet, die kein anderes System bieten kann“. – Peter Graf KIELMANSEGG: Die Grammatik der Freiheit (Anm. 15), S. 199. 49 Siehe z. B. ebd., Sechster Versuch, v. a. S. 200. 50 Vgl. in diesem Zusammenhang als eine aktuelle Übersicht über Tendenzen der Ideengeschichte aus dem angelsächsischen Bereich Anthony GRAFTON: Die Macht der Ideen, in: Die Neue Geschichte. Eine Einfüh-

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12. IDEEN

werden die Wirkungen von Ideen untersucht, an denen sich soziales Handeln sinnhaft orientiert. Auf diese Weise hat sich die Ideengeschichte gegenüber ähnlich gearteten Bestrebungen wie der Diskurs- und der Mentalitätsgeschichte sowie der historischen Anthropologie behaupten können. Was den Ideenhistoriker beeindruckt, ist einerseits die Inkongruenz, andererseits jedoch die in bestimmten Phasen der Geschichte nachweisbare Kongruenz von Idee und Wirklichkeit, normativer und faktischer Geltung. Im Hinblick auf diese Kongruenz sprechen dann manche auch von zur „Wahrheit“ gewordenen Ideen der praktischen Vernunft. Ein Reiz der Ideengeschichte besteht darin, den Wechsel zwischen jenen Inkongruenzen und den Kongruenzen zu verfolgen. Die Geschichte dieser „Wahrheiten“ nachzuzeichnen, treibt den Ideenhisto­riker an. Er ist damit in der gleichen Lage wie der Forscher in irgendeinem anderen Wissenschaftsbereich, der sich des historischen Wandels der in seiner Disziplin formulierten Wahrheits- oder Geltungsansprüche bewusst wird. „Wenn der Forscher“, so bemerkte in ähnlichem Zusammenhang einmal Erwin Chargaff, „sagt, er strebe ­ nach Wahrheit, indem er Wahrheiten bestimme, hat er recht. Ein Mensch kann den ewi­ gen Singular nicht festlegen; er kann ihn nur umkreisen. Ein Skeptiker mag jedoch zu dem Schlusse kommen, zu viele Wahrheiten seien des Weisen Tod.“ 51

rung in 16 Kapiteln. Hrsg. von Ulinka Rublack. Mit einem Vorwort von Jürgen Osterhammel (A Concise Companion to History, dt.), Frankfurt a. M. 2013, S. 446  –  475. 51 Erwin CHARGAFF: Über die Liebe zur Wahrheit, in: Ders., Abscheu vor der Weltgeschichte. Fragmente vom Menschen, 5. Aufl., Stuttgart 2002, S. 7–25, hier S. 7.

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13. IDEOLOGIE Vorbemerkung Die Geschichte des mit „Ideologie“ Gemeinten ist älter als dieser Begriff, und der Begriff ist mehrdeutig.1 Er wird sowohl abwertend verwendet als auch wertneutral; wertneutral dann, wenn mit ihm ganz allgemein weltanschauliche Positionen bezeichnet werden sollen. Der Begriff wurde 1796 von dem französischen Philosophen Antoine Destutt de Tracy als Bezeichnung für das Projekt einer einheitlichen Wissenschaft der Vorstellungen und Wahrnehmungen geprägt, in dessen Zentrum eine Analyse der Entstehung von Ideen stehen sollte. Dadurch hofften die idéologistes oder Ideen-Forscher Gedanken der Aufklärungsphilosophie weiterzuentwickeln. Von Napoleon in polemischer Abgrenzung abwertend als „idéologues“ bezeichnet, verloren sie an Einfluss, und der Begriff der Ideologie erwarb zugleich das Stigma der Weltfremdheit und Lächerlichkeit. In gewisser Weise knüpft das Konzept der Ideologie von Karl Marx und Friedrich Engels hier an, wobei in deren Kritik der „deutschen Ideologie“2 solche von der Lebenswirklichkeit abgehobenen historischen Deutungen und Erklärungen stehen, in denen eine Bezugnahme auf Absichten und Handlungsgründe, also auf „Ideelles“, als hinreichend angesehen wird. Allerdings erwiesen sich auch die Geschichtsinterpretationen und -erklärungen der historisch-materialistischen Kritiker jener „Idealisten“ gegen Einseitigkeit nicht gefeit. Es sind solche Einseitigkeiten in der Beschreibung, Deutung, Erklärung und Vorhersage von Zuständen und Ereignissen der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt, womit sich die dominante Bedeutung des Ausdrucks „Ideologie“ heute verbindet. Der Umstand, dass jene der Erkenntnis abträglich sind, hat unter anderem dazu geführt, Ideologien als Aussagen und Aussagensysteme anzusehen, mit denen bestimmte partikuläre gesellschaftliche Interessen und eine entsprechend partikularistische und inadäquate Realitätsdeutung verbunden sind. Da diese Interessen auch oft in emotionalen Deklarationen und Appellen zum Ausdruck gebracht werden, haben bestimmte positivistische Ideologiekritiker, wie etwa Theodor Geiger, 1 Siehe dazu Kurt LENK (Hg.): Ideologie – Ideologiekritik und Wissenssoziologie, 3. Aufl., Neuwied-Berlin 1967 (= Soziologische Texte, Bd. 4); Hans-Joachim LIEBER (Hg.): Ideologie – Wissenschaft – Gesellschaft. Neuere Beiträge zur Diskussion, Darmstadt 1976. 2 Karl MARX, Friedrich ENGELS: Die deutsche Ideologie, verfasst 1845 –1846; erstmals in deutscher Sprache nach dem Originalmanuskript veröffentlicht vom Marx-Engels-Lenin-Institut, Moskau, im Jahr 1932.

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13. IDEOLOGIE

solche Aussagen als ideologisch bezeichnet, in denen der emotionale mit dem kognitiven Gehalt vermengt wird und Werturteile (im Sinne subjektiv wertender Stellungnahmen) im Gewande von Tatsachenaussagen präsentiert werden. Vielen Ideologiekritikern ist die Überzeugung gemeinsam, dass die einem ideologischen Denken entsprungenen Aussagen nicht immer interessierten Lügen gleichzusetzen sind, sondern, dem sich Äußernden oft nicht bewusst, durch dessen jeweilige soziale Einbettung bedingt sind. Max Weber suchte idealistischen wie materialistischen Einseitigkeiten mit seiner „verstehenden Soziologie“ dadurch zu begegnen, dass er den Zusammenhang von Interessen, Ideen und Institutionen darzustellen und zu begreifen suchte. Er hat die Ereignisse der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt nie ausschließlich als Resultat von „Ideen“ aufgefasst: „Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die ‚Weltbilder‘, welche durch ‚Ideen‘ geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte.“3 Wie die materialistische Geschichtsauffassung wegen ihrer Blindheit gegenüber der Wirksamkeit von Ideen, so kritisierte er eben auch eine idealistische Geschichtsbetrachtung wegen ihrer Abgehobenheit von den realen Gegebenheiten der gesellschaftlichen Welt. Und so hätte er, wie anzunehmen ist, wohl auch Ernst Cassirers Buch Der Mythus des Staates, auf das sich die Ausführungen des folgenden Kapitels beziehen, als eine des kon­kreten Bezugs zu den politischen Institutionen ermangelnde Darstellung empfunden. Cassirer zufolge ist die Unterbindung einer rationalen Politik im Dritten Reich von den irrationalen Ideologien der Romantik ausgegangen. Aber er untersucht nicht, warum ähnliche Ideologien in anderen Ländern andersartige Wirkungen hatten. Hier begegnet man einer Philosophie, die den „Marsch durch die Institutionen“ scheut. Einen solchen haben gleichwohl namhafte philosophisch ambitionierte Vertreter der historischen Sozialwissenschaften unternommen, so neben Max Weber beispielsweise Ernst Troeltsch, Norbert Elias und Otto Brunner, ­Vilfredo Pareto, Raymond Aron und Marc Bloch, Reinhard Bendix, Robert Nisbet und Robert K. Merton.

3 Max WEBER: Einleitung in die Wirtschaftsethik der Weltreligionen [1916], in: Ders., Gesammelte ­Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. I, 6. Aufl., Tübingen 1972, S. 237–275, hier S. 252.

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Geschichte als Ideenprodukt – Ein Fallbeispiel „Diese Illusion, die die Idee mit der Kausalität verwechselt, […] die Ideologie[,] vertauscht die Wirkung mit der Ursache und hält für die letztere, was nur die äußerste Erscheinung des wahren Geschehens sein kann: wenn z. B. die Geschichte wirklich die wachsende Realisierung der Freiheit wäre, so wäre das nur der jeweilige Erfolg, in dem die tatsächlichen Vorgänge gipfeln, oder der Begriff, der diese zusammenfaßt, während die Vorgänge selbst die Wirkung viel greifbarerer Kräfte sind.“ Georg Simmel, Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische Studie [1892], 5. Aufl., München  -Leipzig 1923

Einleitung: Zu Ernst Cassirers Mythus des Staates Gleich zu Beginn seines im Jahr 1946, also ein Jahr nach seinem Tod, in den USA pub­ lizierten Buches Der Mythus des Staates bezeichnet Ernst Cassirer „das Zutagetreten […] der Macht des mythischen Denkens“ als den wichtigsten und beunruhigendsten Zug in der Entwicklung der Politik des 20. Jahrhunderts.4 In kritischen Augenblicken des sozia­len Lebens komme es zum Wiedererwachen alter mythischer Vorstellungen. Der Mythus sei latent immer vorhanden und warte auf seine Gelegenheit, die immer dann gekommen sei, wenn die rationalen Kräfte im Menschen ihrer selbst nicht mehr sicher sind: „Wenn die Vernunft uns im Stiche gelassen hat, bleibt immer die ultima ratio, die Macht des Wunderbaren und Mysteriösen.“5 Der Glaube daran bildet nach Cassirer zugleich die Grundlage und die Rechtfertigung für die Entwicklung und den Bestand jenes totalitären Systems, das in Deutschland im Jahr 1933 Wirklichkeit geworden ist. Der Nachweis der Ursprünge dieses Systems ist das Ziel des hier in Betracht stehenden Buches, der Nachweis der Ergänzungsbedürftigkeit von Cassirers eindrucksvoller ideengeschichtlicher Darstellung der Genese des deutschen Totalitarismus hingegen die Absicht der vorliegenden Abhandlung.

4 Ernst CASSIRER: Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens, Frankfurt am Main 1985, S. 7. – Es handelt sich dabei um die lizenzierte Taschenbuchausgabe der erstmals 1949 im Artemis Verlag (Zürich und München) erschienenen deutschen Übersetzung der amerikanischen Originalausgabe (The Myth of the State, New Haven 1946). 5 Ebd., S. 363. – Im Folgenden wird, wie in der deutschen Übersetzung von Cassirers letztem Buch durchgehend, das Wort „Mythus“ statt des geläufigeren Ausdrucks „Mythos“ verwendet.

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13. IDEOLOGIE

I. Zur Eigenart des mythischen Erlebens Während wissenschaftliche Erkenntnis und technische Beherrschung der Natur immer neue Siege verbuchen, ging, wie Cassirer ausführt, im praktischen und sozialen Leben der Menschen in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen die Wahrnehmung ernster Krisen des politischen und sozialen Lebens mit der Zurückdrängung des rationalen Denkens einher. Ein eigentümlicher Atavismus sei die Folge gewesen, denn man ermahnte den Menschen, auf die primitivsten Stufen menschlicher Kultur zurückzugehen.6 Was dabei von Analytikern des politischen Geschehens – sehr ähnlich wie von Kulturanthropologen sogenannter primitiver Gesellschaften – häufig übersehen werde, ist der emotionale Hintergrund, in dem Mythen ihren Ursprung haben. Auf den ersten Blick, so führt Cassirer schon in seinem 1944 in englischer Sprache erschienenen Buch Versuch über den Menschen aus, erscheint der Mythus „als schieres Chaos – als formlose Anhäufung zusammenhangloser Ideen. […] Wenn irgend etwas für den Mythus bezeichnend ist, dann die Tatsache, daß er ‚ohne Sinn und Verstand‘ ist.“7 Dieser Eindruck dränge sich auf, wenn man die konzeptionelle Struktur des Mythus betrachtet. Ziehe man allerdings seine Wahrnehmungsstruktur in Betracht, so sei er keineswegs ohne Sinn und jede Vernunft, und damit auch keinesfalls völlig inkohärent. Seine Kohärenz beruht allerdings „eher auf einer Einheit des Fühlens als auf logischen Regeln“, wie Cassirer bemerkt.8 Denn der wirkliche Inhalt des Mythus sei kein Gedanken-, sondern ein Gefühlssubstrat: „Der Mythus ist ein Abkömmling der Emotion, und sein emotiona­ ler Kontext durchtränkt seine Hervorbringungen mit seiner spezifischen Färbung.“9 Ergänzend stellt Cassirer fest, dass es kaum einen stärkeren Kontrast geben könne als „zwi­ schen dieser ursprünglichen Tendenz unseres Erlebens und dem von der Wissenschaft aufgerichteten Wahrheitsdeal.“10 Vorrangig müsse es darum gehen, die soziale Funktion des Mythus zu bestimmen. Cassirer bezeichnet es als „tiefe und brennende Sehnsucht der Individuen, sich selbst mit dem Leben der Gemeinschaft und mit dem Leben der Natur zu identifizieren. Diese Sehnsucht wird durch die religiösen Riten befriedigt. Hier sind die Individuen in eine einzige Form geschmolzen – in ein ununterscheidbares Ganzes.“11 Ergänzend dazu stellt Cassirer fest, 6 Vgl. ebd., S. 8. 7 Ernst CASSIRER: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur. Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser, Frankfurt a. M. 1990, S. 116. – Dieses Buch ist erstmals 1944 unter dem Titel Essay on Man. An Introduction to Philosophy of Human Culture bei Yale University Press in New Haven erschienen. 8 Ebd., S. 129. 9 Ebd., S. 131. 10 Ebd., S. 123. 11 Ernst CASSIRER: Der Mythus des Staates (Anm. 4), S. 53.

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Geschichte als Ideenprodukt – Ein Fallbeispiel

dass es sich dabei um die „Sehnsucht des Individuums handle, von den Fesseln seiner Individualität befreit zu werden, sich in den Strom des universalen Lebens zu tauchen, seine Identität zu verlieren, im Ganzen der Natur aufzugehen […].“12 Diesen Feststellungen ähnlich sind die Ausführungen von Eric Hoffer in dem einst als Klassiker der Sozialpsychologie angesehenen und erstmals 1951 erschienenen Buch The True Believer (deutsch: Der Fanatiker), wo davon die Rede ist, dass der „Glaube an eine heilige Sache […] in beträchtlichem Ausmaß Ersatz für verlorenes Selbstvertrauen“ sei, wobei die „aktive Masse“ durch „die Sehnsucht nach Gemeinschaftlichkeit, die Sehnsucht, einen Feind zu haben und das verwünschte Einzelwesen in der Majestät und Größe des Ganzen aufzulösen“, bestimmt werde.13 Es seien insbesondere ständig Unangepasste, die nur in der endgültigen Trennung von ihrem Ich Erlösung finden: „Sie wird ihnen in der Regel zuteil, wenn sie sich im geschlossenen Kollektiv einer Massenbewegung verlieren. Indem sie auf ihren Einzelwillen, ihr Urteil und ihren Ehrgeiz verzichten und alle ihre Kräfte dem Dienst einer ewigen Sache weihen, werden sie schließlich befreit aus der endlosen Tretmühle, die sie nie zur Erfüllung zu führen vermag.“14 Dabei erleben die Anhänger einer solchen Bewegung, wie Hoffer ausführt, ein „starkes Gefühl der Befreiung […], obgleich sie sich in einer Atmosphäre strengster Bindung an Dogmen und Befehle bewegen. Das Gefühl der Befreiung rührt daher, daß sie den Bürden, Ängsten und der Hoffnungslosigkeit der unhaltbaren Einzelexistenz entronnen sind. Eben dieses Entronnensein empfinden sie als Befreiung und Erlösung.“15 Für vieles, so findet auch Cassirer, schaffen Mythen Ersatz und für vieles eine Ver­ klärung. Kennzeichnend für sie sind affektuelle Haltungen gegenüber dem für schön oder hässlich, wahr oder falsch, gut oder böse Gehaltenen, nicht aber geben sie eine Antwort auf die Frage, die gemäß der sokratischen Tradition wirklich relevant sei: „ auf die Frage nach Gut und Böse“, oder genauer gesagt: auf die Frage nach der Rechtfertigung des für gut oder böse Gehaltenen.16

12 Ebd., S. 58. 13 Eric HOFFER: Der Fanatiker. Eine Pathologie des Parteigängers [1. amerik. Aufl. 1951], Reinbek bei Hamburg 1965, S. 19 und S. 122. 14 Ebd., S. 45. 15 Ebd., S. 33. 16 Siehe Ernst CASSIRER: Der Mythus des Staates (Anm. 4), S. 80.

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13. IDEOLOGIE

II. Komponenten der politischen Theorie des totalen Staates Cassirer geht es in seinem Mythus des Staates darum aufzuzeigen, wie es im 20. Jahrhundert unter Bezugnahme auf bestimmte Denker der Romantik und durch deren gelegentliche Herauslösung aus dem Kontext ihrer Zeit zu einer Abkehr von den aufklärerischen Bestrebungen einer rationalen Lösung politischer Probleme, und damit zu einer affektgesteuer­ten Regression im politischen Denken gekommen sei, die einer Willkür des politischen Handelns den Weg bereitet habe. Die eigentlichen Vorarbeiten zum Mythus des 20. Jahrhunderts – im Sinne des im Buch Cassirers an keiner Stelle erwähnten, aber gemeinten Alfred Rosenberg17 und seiner geistigen Parteigänger – seien von drei Autoren des 19. Jahrhunderts geleistet worden: von Thomas Carlyle, Arthur de Gobineau und Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Auch wenn keiner von ihnen die Praktiken des modernen totalen Staates gutgeheißen hätte, ist ihnen doch, wie Cassirer meint, eine Ablehnung der rationalistischen Denkweise der Aufklärung und die Auszeichnung von Prinzipien politischen Handelns gemeinsam, welche jeglicher argumentativen Rechtfertigung entzogen seien. Bei Carlyle ist es das Prinzip der großen historischen Persönlichkeit (der grand man history), bei Gobineau das Prinzip der Überlegenheit der arischen Rasse, und im Falle von Hegel das Prinzip der Macht, wie es sich aus der Gleichsetzung des Wirklichen mit dem Vernunftgemäßen ergebe. Diese aller rationa­len Erörterung enthobenen Prinzipien der praktisch-politischen Tätigkeit entsprechen in mehrfacher Hin­ sicht dem, was Cassirer allgemein als charakteristisch für Mythen ansieht. Eine der Wurzeln für die in der Romantik erfolgte Rehabilitierung und Aktualisierung von Mythen liegt nach Cassirer im Wunsch nach der Rückkehr zu den vermeintlich unverbildeten Anfängen der zwischenmenschlichen Beziehungen. Diese Mythisierung des Sozialen und Politischen habe unter anderem dazu geführt, sich den Abfall von den frühen Anfängen, also die im Laufe der Geschichte stattfindende „Entfremdung“, historisch er­klären zu wollen. So sollten sich nach Hegel auch die disparatesten Phänomene in der Geschichte, richtig betrach­ tet, insofern als vernünftig erweisen, als sie – unter Bezugnahme auf die besonderen Umstände ihrer Zeit und die Motive der in ihr tätigen Akteure – der rationalen Deutung und Erklärung zugänglich sind. Wie der Rationalität des Geschichtsverlaufs gegenüber den Volksgeistern, so soll auch der für objektiv erachteten Sittlichkeit des Staates gegenüber der subjektiven Moral des Einzelnen der Primat zukommen. Was in der Früh­romantik als Respektierung des Individuellen begonnen hatte, endete mit dessen Stabilisierung im Überindividuellen. Dieses Überindividuelle, welches bei Hegel als Staat erscheint, hat sein Äquivalent in personifizierter Form in Carlyles großen historischen Individuen, bei Gobineau wiederum in der bio-psychischen Grundlage der Rasse, in welcher alles Individuelle seine Wurzeln habe. 17 Alfred ROSENBERG: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, München 1930; 33.–34. Aufl. 1934.

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Geschichte als Ideenprodukt – Ein Fallbeispiel

1. Carlyle In seinem Buch On Heroes and Hero Worship and the Heroic in History (1841) hatte Carlyle den Helden zum „universalen Menschen“ erklärt. „Es war jedoch“, wie Cassirer hier­zu bemerkt, „eine schwere Aufgabe, diese Universalität zu beweisen, nicht nur im Fall eines Samuel Johnson oder John Knox, sondern sogar im Fall Luthers oder Cromwells. […] Dennoch sollten wir nicht zu viel Nachdruck auf diese Ungereimtheiten legen.“18 Carlyle sei nämlich ein klassischer Zeuge für jene philosophische Haltung, die später Existenz­ philosophie genannt wurde.19 Cassirer nimmt kritisch auf eine Reihe von Studien aus den 1930er Jahren und der Kriegszeit Bezug, in denen Carlyle als Vertreter eines „Rassenmystizismus“ angesehen oder überhaupt gleich für die Ideologie des Nationalsozialismus verantwortlich gemacht wurde. Er lässt keinen Zweifel daran, dass viel Wahres in der Beschreibung der Wirkungen von Carlyles Auffassungen liege, mit welchen dieser zu einer „Vergöttlichung der politischen Führer und zur Gleichsetzung von Macht und Recht“ ge­ langt sei. Dennoch gibt sich Cassirer Mühe, die Wirkungen von Carlyles Ansichten von den diesen Autor leitenden Motiven zu unterscheiden: „Vielleicht keine andere philosophische Theorie hat so viel getan in der Vorbereitung des Weges für die modernen Ideale politischer Führerschaft. […] Die modernen Verteidiger des Fascismus […] konnten leicht Carlyles Worte in politische Waffen verwandeln. Aber Carlyle für alle Folgerungen, die aus seiner Theorie gezogen wurden, verantwortlich zu machen, wäre gegen alle Regeln der historischen Objektivität“; immerhin sah dieser, wie Cassirer erklärt, „die wahre Größe einer Nation in der Intensität und Tiefe ihres moralischen Lebens und ihrer geistigen Großtaten, nicht in ihren politischen Aspirationen“.20

2. Gobineau Anders geartet ist nach Cassirer Gobineaus Mischung von Rassenkult und Selbstkult. Dessen Essai sur l’inégalité des races humaines (1853 –55) stelle insofern einen neuen und höchst folgenreichen Schritt in der Ideengeschichte dar, „als die Heldenverehrung ihre ursprüng­ liche Bedeutung verlor und mit einer Rassenverehrung vermischt wurde, und als beide integrierende Bestandteile desselben politischen Programms wurden“.21 Es war Gobineaus feste Überzeugung, dass die weiße Rasse die einzige ist, die den Willen und die Macht hat, ein kulturelles Leben im vollen Sinne des Wortes aufzubauen. Die besten Eigenschaf18 19 20 21

Ernst CASSIRER: Der Mythus des Staates (Anm. 4), S. 256. Vgl. S. 257. Ebd., S. 281 und S. 288. Ebd., S. 290.

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13. IDEOLOGIE

ten der großen Männer seien dabei nichts als die Verkörperungen der tiefsten Kräfte der Rasse, zu der sie gehören. Und mit seiner eigenen Familiengeschichte, die er 1879 vorlegte, bezeugte er seine Zugehörigkeit zur Suprematie der arischen Rasse.22 Die schwarze und die gelbe Rasse hingegen seien nichts als tote Masse, die von den höheren Rassen bewegt werden müsse. Für Gobineaus monistische Geschichtsauffassung war die Rasse der einzige Herr und Lenker der historischen Welt; selbst die Tugend sei nichts, das erworben werden kann, denn sie sei eine Gabe des Himmels, oder – im Sinne Gobineaus – besser: eine Gabe der physischen und geistigen Qualitäten der Rasse. Die Rasse geht hier der Tugend, das Außermoralische der Moral voraus: „Nicht was ein Mensch tut, sondern was er ist, gibt ihm sei­ nen moralischen Wert.“23 Cassirer meint, dass Gobineau zu denjenigen gehört habe, „die auf indirekte Weise das meiste getan haben, die Ideologie des totalitären Staates vorzuberei­ ten. Es war der Totalitarismus der Rasse, der den Weg absteckte zu den späteren Auffassungen vom totalitären Staat.“24

3. Hegel Kein anderes philosophisches System hat nach Ansicht von Ernst Cassirer einen so star­ ken und nachhaltigen Einfluss auf das politische Leben geübt wie das von Hegel.25 Für diesen ist der Staat, wie er in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Erst­ veröffentlichung 1837, hrsg. v. E. Gans) ausführt, nicht nur ein Teil, sondern das We­ sen des historischen Lebens, und er leugnet, dass man außerhalb und vor dem Staate von historischem Leben sprechen könne. Nach Cassirer finden wir bei Hegel eine sonderbare Mischung von zwei entgegengesetzten Tendenzen: „Was er in seinem System zu enthüllen sucht, ist nicht der Geist einer einzelnen Nation, sondern der allgemeine Geist, der Weltgeist. […] Doch in seinem politischen System und in der praktischen Politik war Hegel dieser allumfassenden Aufgabe nicht gewachsen. Er betonte immer, daß der Philosoph die Grenzen seiner gegenwärtigen Welt nicht vermeiden könne und diese ‚gegenwärtige Welt‘ Hegels war eine recht enge. Sie war an Deutschland und Preußen gebunden.“26 Dem entspricht es, dass Hegel einerseits keine höhere ethische Ordnung anerkennt als die, welche in der Sitte des jeweiligen Volkes erscheint, dass für ihn aber andererseits jede bestimmte Existenz untergehen muss und nur als aufgehobenes Moment im dialektischen Prozess be22 Siehe Arthur de GOBINEAU: Histoire d’Ottar Jarl et de sa descendance, Paris 1879, und die Bemerkungen dazu von Ernst CASSIRER: Der Mythus des Staates (Anm. 4), S. 318 f. 23 Ebd., S. 309. 24 Ebd., S. 301. 25 Vgl. ebd., S. 322. 26 Ebd., S. 327 f.

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wahrt wird, um neuen und vollendeteren Gestalten Platz zu machen. Alles Bestehende ist somit zwar ein Vorläufiges, da es aber als etwas Wirkliches ein Moment der Vernunft sei, läuft nach Cassirer, wie schon für Rudolf Haym um die Mitte des 19. Jahrhunderts, jenes Wort von der Vernünftigkeit des Wirklichen und der Wirklichkeit des Vernünftigen aus Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) letztlich darauf hinaus, das Bestehende als Bestehendes heiligzusprechen.27 Dem entspricht es, wenn Hegel in § 347 dieses Werks ausführt, dass in jeder Epoche der Geschichte eine und nur eine Nation die wirkliche Repräsentantin des Weltgeistes sei und dass diese Nation das Recht habe, über alle anderen zu herrschen: „Gegen dies sein absolutes Recht, Träger der gegenwärtigen Ent­ wicklungsstufe des Weltgeistes zu sein, sind die Geister der anderen Völker rechtlos, und sie, wie die, deren Epoche vorbei ist, zählen nicht mehr in der Weltgeschichte.“ Die bedenklichste Konsequenz dieser Anerkennung der Faktizität bei gleichzeitiger Einbettung derselben in eine die Epochen übergreifende Geschichtsphilosophie erblickt Cassirer in der Entmoralisierung des Staates, nachdem Hegel zunächst eine scharfe Unterscheidung zwischen Moralität und Sittlichkeit eingeführt habe. Der Staat sei bei Hegel „der selbstsichere, absolute Geist […], der keine abstrakten Regeln von Gut und Böse, Schamvoll und Schamlos, List und Trug anerkennt“.28 Aufgrund dieser Neuwertung gebe es keine moralischen Verpflichtungen für den Staat mehr: „Moralität gilt für den individuellen Willen, nicht für den universalen Willen des Staates. Wenn es irgendeine Pflicht für den Staat gibt, dann ist es die Pflicht der Selbsterhaltung.“29 Hegel sei es, wie Cassirer unter Hinweis auf dessen Diktum aus dem Jahre 1801 ausführt, um „die Wahrheit, die in der Macht liegt“, zu tun. Diese Worte, so findet Cassirer, enthalten „das klarste und unbarmherzigste Programm des Fascismus, das jemals durch irgendeinen politischen oder philosophischen Schriftsteller vorgetragen wurde“.30 Das Prinzip der Macht gelte nicht nur für die Handlungen der Nationen und Staaten, sondern auch für jene exzeptionellen Individuen, die den Lauf der politischen Welt bestimmen. Auch sie sind, wie Cassirer in Bezug auf Hegel ausführt, von allen moralischen Forderungen ausgenommen; ihre Taten mit unserem herkömmlichen moralischen Maßstab zu messen, wäre lächerlich.31 Cassirer konzediert ausdrücklich, dass Hegels Staat noch nicht omnipotent ist wie der totalitäre Staat des 20. Jahrhunderts. Wie Hegel sagt, bleibe der Staat im Bereich des Endlichen und könne sich die Kunst, die Philosophie und die Religion nicht unterordnen. Es gibt nach ihm also eine höhere Sphäre, die über dem durch den Staat verkörperten objektiven Geist steht, und nie solle der Staat die jener Sphäre zugehörigen geistigen Ener27 28 29 30 31

Vgl. ebd., S. 325 f. Ebd., S. 344. Ebd., S. 344 f. Ebd., S. 347. Vgl. ebd., S. 347 f.

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13. IDEOLOGIE

gien unterdrü­cken, sondern sie vielmehr anerkennen und freisetzen.32 So bestehe ein klarer Unterschied zwischen Hegels Idealisierung der Macht des Staates und jener Art von Staatsvergötzung, welche das Kennzeichen des modernen totalitären Systems sei.33 Und doch erscheint Hegel für Cassirer vor allem als Bewunderer der „Wahrheit, die in der Macht liegt“, und als solcher sei er nun einmal durch sein System der Ethik und Rechtsphilosophie zum Vertreter eines unbarmherzigen Nationalismus und Imperialismus geworden.34

III. Zu den Grenzen von Cassirers Analyse des modernen Totalitarismus Cassirer macht uns, wie bereits erwähnt, darauf aufmerksam, dass ein Widerstreit zwischen den rationalen Kräften der Wissenschaft und den irrationalen Kräften des Mythus bestehe. Mythen seien, wie der französische Islamwissenschaftler Edmond Doutté es formulierte, „le désir collectif personnifié“ – der personifizierte kollektive Wunsch –, ­welcher sich im Führer verkörpere.35 Die Zeit der Weimarer Republik sei nun eine historische Phase ge­ wesen, in der der im Dunkel und auf seine Stunde und Gelegenheit wartende Mythus ans Licht getreten sei. In einer Zeit der Inflation und der Arbeitslosigkeit war, wie Cassirer ausführt, das ganze soziale und ökonomische System Deutschlands vom vollständigen Zusammenbruch bedroht. Nun bildeten die Ansichten und Lehrmeinungen von Machiavelli und Hobbes, aber insbesondere Carlyles Theorie der Heldenverehrung und Gobineaus These der fundamentalen moralischen und intellektuellen Verschiedenheit der Rassen im Verbund mit Hegels Idealisierung der Macht des Staates ein Amalgam von Ideen, welches nicht mehr als akademisch zu erörterndes Ideenkonglomerat, sondern als Werkzeug und Waffe der Politik verstanden wurde. Es musste nur noch, wie Cassirer meint, eine neue Technik entwickelt werden, die sowohl die Instrumente eines neuen, auf Ritus und Kult beruhenden kollektiven Handelns, als auch die mit den Mitteln der moder­nen Massenmedien erfolgende Verbreitung der weltanschaulichen Normierungen und ideo­logischen Rechtfertigungen betraf. Die Folgen sind uns bekannt. Was kann nun aber angesichts der Wirksamkeit politischer Mythen die Philosophie leisten? Cassirers Antwort lautet: „Es geht über die Macht der Philosophie hinaus, die politischen Mythen zu zerstören. Ein Mythus ist in gewissem Sinne unverwundbar. Er ist für rationale Argumente undurchdringlich; er kann nicht durch Syllogismen widerlegt werden. Aber die Philosophie kann uns einen anderen wichtigen Dienst leisten. Sie kann uns den Gegner verstehen machen. Um einen Feind zu bekämpfen, muß man ihn ken32 33 34 35

Vgl. ebd., S. 358. Vgl. ebd., S. 360. Vgl. ebd., S. 357. Vgl. ebd., S. 364 f.

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Geschichte als Ideenprodukt – Ein Fallbeispiel

nen. […] Ihn zu kennen bedeutet nicht nur, seine Fehler und Schwächen zu kennen; es bedeutet, seine Stärke zu kennen. […] Wir sollten dem Gegner ins Angesicht sehen, um zu wissen, wer zu bekämpfen ist.“36 Cassirer verweist am Schluss seines Buches auf das Erfordernis, „den Ursprung, die Struktur, die Methoden und die Technik der politischen Mythen“ sorgfältig zu studieren. Ist dies in Cassirers Buch in hinreichendem Maße geschehen? Man wird diese Frage – bei allem Respekt für Cassirers stupendes ideengeschichtliches Wissen – verneinen müssen. Allerdings ist zuzugestehen, dass wir Heutigen, wie es im Englischen so schön heißt, with the benefit of hindsight urteilen. Und dennoch: Einiges an sachhaltigen Analysen zu den institutionellen Aspekten der Entstehung totalitärer politischer Systeme, insbesondere des von ihm in den Blick genommenen Dritten Reiches, war auch den Zeitgenossen Cassirers schon möglich. – Auf fünf Problembereiche wird im Folgenden Bezug genommen, deren Berücksichtigung für ein angemesse­nes Verständnis totaler Herrschaft unerlässlich erscheint.

1. Zum behaupteten Zusammenhang von Mythus, Irrationalität und Gewalt Zunächst bleibt unklar, wie Cassirer, wenn er von der Rationalität der Wissenschaft und der Irrationalität des Mythus spricht, den Geltungsbereich der rationalen Argumentation bestimmt. Umfasst die Rationalität nur die Untersuchungen der logischen Kohärenz und der syllogistischen Korrektheit sowie der empirisch zu ermittelnden Zweckrationalität, also der Richtigkeit des Mitteleinsatzes bei vorgegebenen Zwecken? Oder auch so etwas wie die Letztbegründung von Werten, wie sie Vertreter des Wertkognitivismus leisten zu können behaupten? Kann man überhaupt auf nicht-rationale Voraussetzungen sowohl in unseren Handlungen als auch in Überlegungen zur praktischen Vernunft verzichten? Diese Unklarheit gibt Anlass dazu, kurz auf einen anderen Gebrauch des Schlüsselbegriffs „Mythus“ Bezug zu nehmen. Eine von Cassirer abweichende Verwendungsweise des Ausdrucks „Mythus“, die diesen nicht auf eine Kombination von Riten, Gefühlen und moralisch zweifelhaften Folgen einschränkt, begegnet uns in Robert M. MacIvers bekanntem Buch The Web of Government, welches ein Jahr nach Erscheinen von Cassirers Mythus des Staates veröffentlicht wurde. MacIver dehnt den Sinn oder die Bedeutung des Wortes „myth“ aus. Dieses wird seiner werthaft-negativen Aura dadurch entkleidet, dass es neutralisiert und für alle „wertgetränkten Meinungen und Begriffe, die die Menschen haben“,37 oder, wie MacIver an anderer 36 Ebd., S. 388. 37 Robert M. MACIVER: The Web of Government, New York 1947, S. 4.

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Stelle sagt, für jedes Wertsystem außerhalb des exakten Wissens38 benutzt wird. Mythen dieser Art durchziehen das gesamte politische Leben seit altersher. Kirchen, Herrscherhäuser und Staaten ganz verschiedener Art kennzeichnet bis heute der Glaube an Grün­ dungsmythen, aber nicht alle von ihnen waren – jedenfalls nicht immer – in ihren Folgen autoritär oder totalitär. In Österreich war es etwa der Mythus des Gottesgnadentums, worauf „Seine Kaiserliche und Königliche Apostolische Majestät“ Franz Joseph I., „von Gottes Gnaden Kaiser von Österreich“, den Herrschaftsanspruch gründete. Als rationallegale Herrschaft wird man die späte Donaumonarchie gewiss nicht bezeichnen können, und doch war in gewisser Hinsicht in ihr um 1900 mehr politische Vernunft am Werk als unter jenen republikanischen Kontrahenten jeglicher Monarchie, die der Vernunft ein Jahr­hundert zuvor in Frankreich Altäre errichteten. So haben also politische Mythen keineswegs immer schon deshalb Horribles zur Folge, nur weil sie Mythen sind. Ebendies scheint jedoch Cassirer zu unterstellen, wenn er den Mythus als etwas, das „versteckt im Dunkel und auf seine Stunde und Gelegenheit wartend“ kennzeichnet und zudem stets auf den engen Zusammenhang zwischen politischem Mythus und totalitärer Herrschaft verweist.39 Um die Nähe der Mythen zum Totalitarismus unter Beweis zu stellen, hätte es also bei Cassirer einer ausführlicheren Bezugnahme auf den von ihm dargelegten Zusammenhang von Irrationalität und totalem Staat sowie von Rationali­tät und Demokratie bedurft. Denn von vornherein einsichtig ist der von ihm behauptete Zusammenhang nicht.

2. Zur ungeklärten Beziehung von Rationalität, Aufklärung und Gewalt Bezüglich des zuletzt erwähnten Sachverhalts ist ein vergleichender Blick auf Jacob L. Talmons Geschichte der totalitären Demokratie am Platz.40 Der Titel dieses dreibändigen Werkes klingt in den Ohren vieler Zeitgenossen wie eine contradictio in adiecto, doch sollte man sich daran erinnern, dass bereits in der Antike der Demokratie keineswegs nur positive und friedfertige Eigenschaften zugeschrieben wurden. Thukydides war sogar der Ansicht, dass die schlimmsten Gräueltaten im Peloponnesischen Krieg den unberechenbaren Leidenschaften der demokratischen Masse von Athen anzulasten wären. 38 Vgl. ebd., S. 447 f. 39 Siehe CASSIRER: Der Mythus des Staates (Anm. 4), S. 364 bzw. S. 376. 40 Jacob L. TALMON: Die Geschichte der totalitären Demokratie, 3 Bde., hrsg. von Uwe Backes, Göttingen 2013. – Der erste Band, Die Ursprünge der totalitären Demokratie, erschien in englischer Sprache 1952 in London; 1960 folgte, ebenfalls in englischer Sprache, der zweite Band (dt. Titel: Politischer Messianismus), der dritte Band (dt.: Der Mythos der Nation und die Vision der Revolution) erschien 1980, im Todesjahr Talmons, abermals in London.

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Talmons Studie über den Totalitarismus kommt zwischen dem Ansatz von Hannah Arendt, welche den Totalitarismus namentlich durch die Eigenschaften des Terrors und der Ideologie charakterisiert, und jenem von Eric Voegelin zu liegen, der in einer bestimm­ten Form von innerweltlicher Geschichtsteleologie den Weg zu den „politischen Religionen“ vorgezeichnet sieht. Daher versteht Talmon seine umfangreiche Monographie, wie er bereits einleitend feststellt, nicht als Ideengeschichte; sein Gegenstand sei vielmehr eine Geisteshaltung, ein Ideenklima, ein Glaube. Die eigentümliche Sprengkraft, welche der Entwicklung des Demokratiebegriffs seit dem 18. Jahrhundert innewohnt, sucht er im Stile einer philosophischen Geschichtsschreibung darzulegen. Dabei unterscheidet er im Jahrhundert der Aufklärung eine liberale Entwicklungslinie, welche ein politisches System im Sinne der Trial and error-Methode hervorgebracht habe, von einer totalitären Linie. Nicht nur gewisse Auffassungen von Vertretern des Deutschen Idealismus – vor allem von Fichte und Hegel –, sondern auch bestimmte Ideen der Aufklärung sind nach Talmon für die Entwicklung der totalitären Demokratie bedeutsam geworden. Bei aller Ähnlichkeit in der Beurteilung gewisser Ansichten von Vertretern des Deutschen Idealismus unterscheidet sich Talmon von Cassirer hinsichtlich seiner Einschätzung von Tendenzen der totalitären Demokratie unter bestimmten Vertretern der Aufklärungsphilosophie. Im Unterschied zu Cassirer41 machte Talmon beispielsweise auf einschlägige politische Implikationen von Rousseaus Contrat social aufmerksam, wo der Ablehnung des politischen Mehrparteiensystems zum Zwecke der Herstellung eines homogenen allgemeinen Willens eine Tendenz zur Diktatur der Mehrheit im Namen des demokratischen Konsenses innewohnt. Denn nach Rousseau sollte die den Allgemeinwillen (die volonté générale) repräsentierende Körperschaft die Macht besitzen, im Namen der „Gerechtigkeit“ alles anzuordnen, was ihr beliebt, da ihre Macht als die Macht des souveränen Volkes keiner Beschränkung durch Regeln unterworfen sei.42 Wie im Falle Rousseaus, so gründen auch spätere Vertreter der totalitären Demokratie ihre Lehre, wie Talmon schon zu Beginn des ersten Bandes seiner Trilogie ausführt, auf eine einzige „Wahrheit“ in der Politik, die alle anderen politischen Auffassungen als notwendig falsch und verfehlt erscheinen lässt. Dabei komme dem „nationalen Mythus der unterdrückten Nationen“ eine besondere Rolle zu. Dieser ist nach Talmon bestimmt durch eine Mischung aus nostalgischer Rückwendung zu vergangenem Ruhm und der Vision einer nicht minder glorreichen Restauration, die es durch eine gerechte soziale Ordnung und eine geistige Neugeburt auf Dauer zu stellen gelte. – Der hier gegebene Hinweis auf eine 41 Zu dessen Charakterisierung von Rousseaus Denken siehe Ernst CASSIRER: Der Mythus des Staates (Anm. 4), S. 141 f. und S. 231 f. 42 Zum Einfluss, den dieser Typus von Mehrheitsherrschaft bis in die Gegenwart ausübt, siehe Friedrich August von HAYEK: Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Bd. 3: Die Verfassung einer Gesellschaft freier Menschen. Aus dem Amerikanischen übertragen von Dr. Martin Suhr, Landsberg am Lech 1981, z. B. S. 183 –185.

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gerechte soziale Ordnung weckt das Bedürfnis nach der Beantwortung der allgemeiner gehaltenen Frage: Wie ist es institutionell um die Rechtsordnung im totalen Staat bestellt?

3. Institutionelle Merkmale des Totalitarismus Wie Wolfgang Reinhard ausführt, gehen im totalen Staat „die totale Mobilisierung der Gesellschaft für den Staat und die unbegrenzte Kompetenz- und Machtausweitung des Staates Hand in Hand. Das Ergebnis ist eine totale Politisierung aller Lebensbereiche, die schließlich die Organisation einer totalen Herrschaft über die Seelen anstrebt.“43 Eine Viel­ zahl von Studien zur Merkmalsbestimmung totalitärer politischer Systeme ist vor allem in der Zeit des Kalten Krieges entstanden, aber auch bereits während des Zweiten Weltkriegs – und das Thema gilt offensichtlich auch heute noch nicht als erledigt.44 Als kennzeichnend für totalitäre politische Ordnungen gelten vor allem – eine umfassende, mit Wahrheitsanspruch und Absolutsetzung eines Grundwertes auf­ tretende Ideologie, – die Fiktion der Einheit von Volk und Führung, – die Aufhebung der Gewaltenteilung, – die Preisgabe des Prinzips einer unter dem Recht stehenden Regierung, – die Leugnung der Herrschaft oder Souveränität des Rechts, – die Missachtung des Rechtsstaats, insbesondere der richterlichen Unabhängigkeit und der überparteilichen Regeln des Gerichtsverfahrens,45 – die Aufhebung des Unterschieds zwischen privatem und öffentlichem Recht, – die Einschränkung der persönlichen Grund- und Freiheitsrechte, – die rücksichtslose Durchsetzung des Herrschaftsanspruchs unter Einsatz von physi­ scher Gewalt und Terror, – die moralische Hochschätzung sowohl der Subordination des Einzelnen unter die Herrschaft als auch seiner Selbsteinordnung in die verordnete Konsensgemeinschaft im Namen der Solidarität mit dem Volk,

43 Wolfgang REINHARD: Geschichte des modernen Staates. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 2007, S. 104. 44 Vgl. in diesem Zusammenhang exemplarisch Karl Dietrich BRACHER: Die totalitäre Erfahrung, München 1987, und Wolfgang WIPPERMANN: Totalitarismustheorien, Darmstadt 1997. Vgl. dazu auch Norbert LESER: Sozialphilosophie. Vorlesungen zur Einführung, bearbeitet und zusammengestellt von Michael ­Potacs, Wien 1984, S. 224–243. 45 Nicht mehr ist also das Recht das Maß der Macht, sondern ihr Instrument.

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– die Errichtung der Herrschaft einer Einheitspartei und die Ausschaltung der Opposi­ tion,46 – die Einrichtung einer Geheimpolizei und eines Sicherheitsapparats mit weitgehenden Vollmachten, – die Kontrolle und „Gleichschaltung“ der Massenmedien nach dem Motto: „Keine freie Presse, aber dafür der ‚gläserne Bürger‘ “, und die Errichtung eines Informations­mono­ pols,47 – die Planung, Steuerung und Kontrolle der Ökonomie auf der Grundlage einer wirtschaftlichen Zentralverwaltung, – die Kontrolle des kulturellen Lebens, also vornehmlich der Bereiche des Erziehungs­ wesens, der Religion und der Kunst. Natürlich wird niemand die Rolle bestimmter Mythen im Verlauf der geistigen Aufrüstung totalitärer Staaten ignorieren, denn Mythen stiften Identität. Zur Identität aber gehört, wie Wolfgang Reinhard bemerkt, Alterität: „Daher braucht der totale Staat den totalen Feind und notfalls sogar den totalen Krieg. Wenn er ihn nicht mitbringt wie der nationalsozialis­ tische Rassismus den Juden, dann muss er ihn erfinden, wie es unter kommunistischen Regimes mit der Produktion von immer neuen Klassenfeinden und Verschwörern geschah. Das war bereits mit der Formel von der ‚permanenten Revolution‘ gemeint, mit der die Jakobiner 1792 –1794 ihren Terror legitimierten.“48 Im Unterschied zu dieser bei Reinhard gegebenen Kennzeichnung lässt Cassirer jenes Element außer Acht, das man am ehesten als manichäische Produktion von Feindbildern bezeichnen könnte. Gemeint ist – die Einstimmung der Bevölkerung auf die Überzeugung, von Feinden sowohl im Inneren des Staates als auch von außerhalb seiner Grenzen angegriffen zu werden, 46 Denn die „Staatsführung übt ihre Herrschaft“, wie Ernst Topitsch in solchem Zusammenhang einmal bemerkte, „aus eigener Machtvollkommenheit oder als Beauftragte einer übermenschlichen Instanz aus. Ein Recht auf Kritik und Kontrolle durch die Staatsangehörigen kann es daher nicht geben.“ – Ernst TOPITSCH: Grundformen antidemokratischen Denkens, in: Ders., Mythos – Philosophie – Politik. Zur Naturgeschichte der Illusion, 2. Aufl., Freiburg i. B. 1969, S. 142 –169, hier S. 142. 47 Man sollte allerdings auch nicht übersehen, dass der zeitgenössische Informationskapitalismus auf der Enteignung und Ausbeutung der Daten einer dauerüberwachten Gesellschaft durch immer weniger Konkurrenten auf dem digitalen Markt beruht. Es bedarf dann letztlich nur der gekonnten Kaperung der Informationsoligopole durch die Politik, um die alles durchdringende Informationskontrolle solcher Unternehmen den totalitären Ambitionen eines Herrschaftsapparates gefügig zu machen. Die Sache erinnert an die Träume vorrevolutionärer Kommunisten: Wenn das Monopol hinreichend diversifiziert und funktionstüchtig ist, schlägt seine Stunde – der Staat akquiriert und sozialisiert es. 48 Wolfgang REINHARD: Geschichte des modernen Staates (Anm. 43), S. 105 f.

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– die strenge Bipolarität von Gut und Böse, also eine fundamentalistische Gesinnung in moralisch-politischen Belangen,49 – die Herstellung nicht nur einer neuen Gesellschaft, sondern eines neuen Menschen durch die Transformation der herkömmlichen menschlichen Natur, wie sie in der überkommenen, angeblich zum Untergang verurteilten Gesellschaft ausgebildet wurde. Cassirer hat in seinem hier erörterten Buch einiges Wertvolle geleistet, aber der Akzent liegt eben doch ausschließlich auf der Auszeichnung der Ideen der großen Männer (Carlyle), der Rassen (Gobineau) und der Macht von zur Suprematie gelangten Staaten (Hegel), und weder geht es dem Autor um eine Analyse rechtlicher und politischer Institutionen in totalitären Systemen, noch um eine angemessene Darstellung der für diese charakteristischen Praxis, den politischen Gegner zum kriminellen Subjekt hochzustilisieren. Leider fehlt in diesem Zusammenhang bei Cassirer auch jegliche Gegenüberstellung und vergleichende Analyse von Bolschewismus und Nationalsozialismus, welche Systeme doch einander als wechselseitig kriminalisierte Feinde gegenüberstanden. Cassirer nimmt Lenin, Stalin und die Theorie und Praxis des Bolschewismus nicht wahr oder zumindest nicht zur Kenntnis – weder bezüglich gewisser struktureller Ähnlichkeiten mit dem Nationalsozialismus, noch vor allem hinsichtlich der unübersehbaren Wechselwirkungen zwischen den beiden Systemen. Doch wer über den Nationalsozialismus und seine Genese spricht, sollte über den Bolschewismus nicht schweigen.50

49 Hier ist ein Hinweis auf Carl SCHMITT: Der Begriff des Politischen [1927], 2. erw. Aufl., Berlin 1932, mit der berühmten und geächteten Formel von der Unterscheidung zwischen Freund und Feind am Platz. Denn dieses Werk erscheint gefärbt durch die Vorahnung des Bürgerkrieges und des aus ihm resultierenden totalen Staates. Steht dem Staat das Recht auf die Freund-Feind-Bestimmung zu – äußerstenfalls aufgrund der Entscheidung über den Ausnahmezustand –, so macht der totale Staat Feinde zu Verbrechern. 50 So hat der Austromarxist Karl Renner, der in der Ersten Republik in Österreich als Staatskanzler, in der Zweiten Republik als Bundespräsident tätig war, sogar den Faschismus als ein „Reflexphänomen auf den russischen Bolschewismus“ gedeutet und die Auffassung vertreten, dass es dem Faschismus und dem Natio­ nalsozialismus wohl kaum gelungen wäre, die Massen zu mobilisieren, ohne unter Hinweis auf die Folgen der Oktoberrevolution damit drohen zu können, dass sich ein solches Ereignis auch in Mitteleuropa wiederholen könne. In der Folge habe so auch, wie er bemerkte, der „westliche Sozialismus […] die Unkosten des russischen Experimentes bezahlt“. – Karl RENNER: Wandlungen der modernen Gesellschaft (= Nachgelassene Werke, Bd. III), Wien 1953, S. 65. – Psychologisch interessant erscheint in diesem Zusammenhang der Umstand, dass heute gewisse Historiker, Soziologen und Philosophen den Menschen der 1920er und frühen 1930er Jahre nicht zugestehen wollen, ein ähnliches Entsetzen über die Praxis des Bolschewismus empfunden zu haben wie sie selber heute im Rückblick über den Nationalsozialismus.

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4. Zum Verhältnis von Technokratie und Totalitarismus Was man in Cassirers Ausführungen zur Heraufkunft des deutschen Totalitarismus vermisst, und zwar unter sowohl ideengeschichtlichen als auch wissenssoziologischen Gesichts­punkten, sind Hinweise auf die fortschrittsfreudige Haltung bestimmter Vertreter der technischen Intelligenz und auf deren Affinität zu gesellschaftlicher Totalplanung. Diese verhalfen durch ihre an Thomas Hobbes erinnernde Gleichsetzung des sozialen mit dem physikalischen Körper der Idee eines gesellschaftlichen und politischen Totalplanes zu hohem Ansehen. So beklagten, wie Hartmut Berghoff zeigt, Inge­nieure regelmäßig, bei der Verteilung von Macht und Prestige zu kurz gekommen zu sein, weil man von ihren für den Verlauf der Geschichte bedeutsamen technischen Kompetenzen abgesehen habe.51 Sie reklamierten für sich „eine überlegene, universell einsetzbare Planungs- und Lenkungs­ kompetenz, die sich allein auf Sachlichkeit und Zweckmäßigkeit gründe“, und wollten als vermeintlich unpolitische und ideologieresistente Experten die allgemeine Wohlfahrt optimieren.52 Techniker erschienen in Deutschland, wie auch in anderen europäischen Ländern, vielfach geradezu als „Repräsentanten reiner Vernunft“. Neben dem für sie charakteristischen Argument, sie wüssten das Räderwerk der Macht nach Gesichtspunkten wertfreier Effizienz und Effektivität zu bedienen, machten diese Vertreter der Technokratie für sich geltend, sie verstünden es auch, den Wirkungsgrad von Herrschaft zu maxi­ mieren.53 Diese expertokratisch argumentierenden und naturwissenschaftlich ausgebildeten Sozialtechniker hingen einem konstruktivistischen Denken an, das im Sinne strenger, sich auch auf die Politik erstreckender Eindeutigkeit maßgeblich von den Lehren der SaintSimonistischen „Technokraten“ sowie vom Positivismus Auguste Comtes geformt wurde. Nun ist Cassirer nicht blind für Comtes Glauben an eine exakte Sozialwissenschaft.54 Er spricht ferner von der planmäßigen Erzeugung politischer Mythen mithilfe der techni­ schen Massenmedien im 20. Jahrhundert,55 er sieht auch sehr wohl die dadurch ermög­

51 Hartmut BERGHOFF: „Dem Ziele der Menschheit entgegen“. Die Verheißungen der Technik an der ­Wen­de zum 20. Jahrhundert, in: Ute Frevert (Hg.), Das Neue Jahrhundert. Europäische Zeitdiagnosen und Zu­kunftsentwürfe um 1900, Göttingen 2000, S. 47–78, hier S. 51. 52 Ebd., S. 52. 53 Siehe in diesem Zusammenhang auch Michael SALEWSKI, Ilona STÖLKEN-FITSCHEN (Hgg.): Moderne Zeiten. Technik und Zeitgeist im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1994; Peter WILDING: Verheißungen der Technik. Der Modernisierungsprozess im Blick der technischen Eliten und ihre Kritiker um die Jahrhundertwende (1900), in: Sabine A. Haring, Katharina Scherke (Hgg.), Analyse und Kritik der Modernisierung um 1900 und um 2000, Wien 2000 (= Studien zur Moderne, 12), S. 85 –107. 54 Vgl. CASSIRER: Der Mythus des Staates (Anm. 4), S. 386. 55 Vgl. ebd., S. 367 f.

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lichten propagandistischen Effekte einer neuen Sprachpolitik56 und neuer Riten.57 Was er jedoch nicht thematisiert, ist die Art und Wirkungsweise des Denkens in den Kate­gorien einer technokratischen „Sozialphysik“, das – seit Beginn des 19. Jahrhunderts mit zunehmender Intensität – einer Gesellschaftslehre den Weg bereitete, welche den Staat nach dem Muster einer Maschine und die Politiker nach dem Muster von Ingenieuren des Sozialgeschehens aufzufassen erlaubte. Wie sich diese szientistische Konzeption der Saint-Simonisten und Positivisten zum Auto­ritarismus des totalen Staates auswuchs, hat insbesondere Friedrich August von Hayek in seinem Buch Mißbrauch und Verfall der Vernunft ausführlich untersucht.58 Die Inten­ tionen des Technikers gelten, wie Hayek zeigt, „typischen, durch objektive Tatsachen defi­ nier­ten Situationen, nicht dem Problem, […] welches die relative Wichtigkeit verschiedener Bedürfnisse ist. Seine Schulung galt objektiven Möglichkeiten ohne Rücksicht auf die besonderen Umstände von Zeit und Ort, galt der Kenntnis jener Eigenschaften der Dinge, die überall und zu allen Zeiten gleich bleiben und die sie ohne Rücksicht auf eine besondere menschliche Situation besitzen.“59 Insbesondere die für totalitäre Staaten kenn­zeichnende zentrale Wirtschaftsplanung sei nichts anderes als eine solche „Anwen­dung von techni­ schen Grundsätzen auf das Gesellschaftsganze“, der die Annahme zugrunde liege, dass eine vollständige Konzentration alles relevanten Wissens möglich ist.60 Doch weder die „verfügbaren“ Mittel noch die „bestehenden“ Bedürfnisse seien im selben Sinn objektive Tatsachen wie jene, mit denen es der Ingenieur in seinem abgegrenzten Gebiet zu tun hat: „Sie können nie einer Planungsbehörde in allen relevanten Einzelheiten direkt bekannt sein.“61 Alle diese Feststellungen Hayeks sind, wie er mit Nachdruck bemerkt, nicht gegen den Wissenschaftler in seinem Spezialgebiet, in dem er kompetent ist, gerichtet, sondern ausschließlich gegen einen Missbrauch der technischen Wissenschaften, nämlich gegen die Anwendung der Denkgewohnheiten einer bestimmten Art von Technikern auf Gebiete, denen sie nicht angemessen sind.62

56 Vgl. ebd., S. 368 –370. 57 Vgl. ebd., S. 371–374. 58 Friedrich August von HAYEK: Mißbrauch und Verfall der Vernunft. Ein Fragment (The Counter-Revolution of Science, Glencoe, Ill. 1952; dt.), 2. Aufl., Salzburg 1979, v. a. Zweiter Teil sowie die Kap. IX und X des Ersten Teils. 59 Ebd., S. 131. 60 Ebd., S. 134. 61 Ebd., S. 136. 62 Siehe ebd., S. 141 f. – Umgekehrt erweisen sich immer wieder auch gewisse Geistes- und Sozialwissenschaftler als methodische Autisten, wenn sie über technische oder ökologische Belange urteilen, ohne auch nur über das minimale dazu erforderliche forschungstechnische Rüstzeug zu verfügen.

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5. Die ausgeblendete Beziehung des Totalitarismus zum radikalen Liberalismus Noch etwas hätte es verdient, im Zusammenhang mit der Entstehung des totalen Staates im 20. Jahrhundert erwähnt zu werden: die Gegentendenzen, die ein aus dem Ruder gelaufener Laissez-faire-Kapitalismus und ein ausufernder politischer Laissez-faire-Pluralismus in Euro­pa auslösten. Max Weber erschien seine Epoche als Übergangsstadium zu einem Zeitalter, das entweder durch kapitalistische Monopole und Kartelle oder durch sozialistische Syndikate und staatswirtschaftliche Organisationen gekennzeichnet sein würde. Und daher drängte er die Kräfte des politischen Liberalismus, den bürokratischen Zentralismus zu bekämpfen und an der Durchdringung der Massen mit dem alten individualistischen Grundgedanken der „unveräußerlichen Menschenrechte“ zu arbeiten, um der sich anbahnenden Unfreiheit entgegenzuarbeiten. Webers Liberalismus ist nicht zu identifizieren mit der als „liberal“ und „pluralistisch“ etikettierten antietatistischen Haltung bestimmter Verfassungstheoretiker von der Art des seinerzeit vieldiskutierten Harold Laski. Laskis „pluralistische Staatstheorie“ kam geradezu einer Aufkündigung der Prinzipien des liberalen Staates alter Art gleich. Sein Vortrag vom 27. November 1915 an der Colum­ bia University mit dem Titel „The Sovereignty of the State“63 traf auf ungemein große Reso­ nanz unter Staatstheoretikern, aber auch in der politischen Öffentlichkeit. Laski stellte die Souveränität des Staates generell zur Disposition, da er nach der Legitimität des allgemei­ nen postulierten Loyalitätsanspruchs des Staates fragte. Seine „pluralistische Staatstheo­ rie“, so stellt er ausdrücklich fest, „verneint die Rechtmäßigkeit der Gewalt. Sie hebt […] den inhärenten Anspruch des Staates auf Gehorsam auf. Sie besteht nachdrücklich darauf, daß der Staat – wie jeder andere Verband – sich durch seine Leistungen bewähren muß. Sie setzt gegen die Gruppe den Gruppenwettbewerb und erzeugt so einen unaufhörlichen Wettstreit um Fortschritt und Wachstum. […] Die pluralistische Theorie […] fordert von jedem Staatsangehörigen, die moralischen Fundamente des Staates ständig zu prüfen. Sie versucht nicht, mit ermüdender Spitzfindigkeit die jeweiligen Sphären von Staat, Gruppe oder Individuum abzugrenzen […]. Sie erkennt die Existenzberechtigung eines jeden Willens an und fordert nicht mehr, als daß die Menschen in Konfliktsituationen dem Willen die Treue halten sollten, der über ein höheres moralisches Ziel verfügt.“64 Der monistische Souveränitätsanspruch des Staates setzt nach Laski eine real nicht exis­ tierende gesellschaftliche Homogenität voraus. Daraus zieht dieser den Schluss, dass in einer heterogen strukturierten Gesellschaft nur eine Pluralität der Souveränitäten legitim ist. Wie Winfried Steffani bemerkt, tritt hier das Dilemma klar zutage, das der von Laski 63 Wiederabgedruckt in Harold LASKI: Studies in the Problem of Sovereignty, New York 1986; ungekürzte deutsche Übersetzung in: Franz NUSCHELER, Winfried STEFFANI (Hgg.), Pluralismus. Konzeptionen und Kontroversen, München 1972 (= Piper Sozialwissenschaft, Bd. 13), S. 62–76. 64 Ebd., S. 75.

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vertretenen Lehre von der Pluralität der Souveränitäten mit dem Recht auf freie Loyali­ tätsentscheidung des gruppenverpflichteten Individuums inhärent sei: „Wenn der Staat seine Staatsqualität verliert, falls ihm die juristische Souveränität entzogen wird, bedeutet die Pluralität der Souveränitäten als einzige Alternative zur monistischen Souveränität die Liquidation des Staates. Eine pluralistische Staatslehre, die den Staat liquidiert, führt zur Selbstaufhebung als Staatslehre.“65 Diese Lehre von der Depotenzierung des Staates zum Zwecke der Aufsplitterung poli­ tischer Macht auf ganz unterschiedliche Institutionen erreichte jedoch nicht das von ihr ange­strebte Ziel, vielmehr wurde sie von Vertretern der politischen Linken wie der politi­ schen Rechten zum Ziel ideologiekritischer Analysen und vehementer Angriffe gemacht. Bestand die Kritik von links, wie Steffani ausführt, darin, „im Pluralismus der Verbände und in der pluralistischen Demokratietheorie den Versuch der herrschenden Klasse zu erblicken, den tatsächlichen Klassenantagonismus der spätkapitalistischen Gesellschaft zu verschleiern, um ihre Herrschaftspositionen wirksamer absichern zu können“,66 so sahen die Kritiker von rechts im Pluralismus primär eine Gefährdung staatlicher Einheit und Autorität. Sie neigten dazu, „alle sozialen Verhaltensweisen von Verbänden und Vereinigungen, soweit sie nach ihrem Urteil desintegrierend und paralysierend auf den politischen Entschei­dungsprozeß einwirken und die Entscheidungsfreiheit des Staates, insbesondere seiner Exekutivorgane, ‚auf Kosten ihrer dem Gesamtwohl verpflichteten Verantwortlich­ keit‘ eingrenzen, als Pluralismus bzw. pluralistisch zu bezeichnen“.67 Es war insbesondere Carl Schmitt, der in der 1932 erschienenen Ausgabe seiner berühmten Schrift Der Be­ griff des Politischen in der Auseinandersetzung mit Laskis Theorie von der „Pluralität der Treuever­pflichtungen und der Loyalitäten“ diese Position vertrat, wobei er allerdings den Eindruck vermittelte, es handle sich bei jener Staatslehre um die pluralistische Theorie schlechthin. Schmitts Kritik kam den Vorläufern und Sympathisanten des totalen Staates sehr zupass, obschon sie auch eine Reihe von Rechts- und Staatstheoretikern nachhaltig beeindruckte, welche jeder Art von Totalitarismus fernstanden. – Auf die nicht nur für die europäische Ideengeschichte sondern auch für die Realgeschichte bedeutsame dialektische Beziehung zwischen der radikalen „pluralistischen Staatstheorie“ und den Theoretikern des totalen Staates finden sich leider keine Hinweise in Cassirers Mythus des Staates.

65 Winfried STEFFANI: Einleitung, in: Franz Nuscheler, Winfried Steffani (Hgg.), Pluralismus (Anm. 63), S. 9 –  46, hier S. 20. – In der 4. Auflage seines erstmals 1925 erschienenen Buches A Grammar of Politics hat Harold Laski im Jahr 1938 die Konsequenzen aus der Einsicht in dieses Dilemma, aber wohl auch aus der Erkenntnis gezogen, dass die Spielart seines Pluralismus im realen Kampf der Mächte unerwünschten, dem Pluralismus gegenüber feindlichen politischen Kräften den Weg bereiten kann. 66 Winfried STEFFANI: Einleitung (Anm. 65), S. 36. 67 Ebd., S. 24.

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Schlussbetrachtung: Politischer Pluralismus und totalitärer Staat Die Ordnung der politischen Welt gründet sich im totalitären Staat auf Gewissheit. Zweifel an der Geltung seiner Verfassungsnormen wird für ausgeschlossen gehalten. Aus dieser Überzeugung heraus hat bereits Robespierre in einer seiner großen Reden vor dem National­ konvent den Wunsch ausgesprochen, dass die in der Französischen Revolution erkannten und durchgesetzten „heilbringenden Wahrheiten“ nicht auf Frankreich allein beschränkt bleiben mögen.68 Peter Graf Kielmansegg weist darauf hin, dass mit dieser Kenn­zeichnung den Wahrheiten der Demokratie unverkennbar eine quasi-religiöse Deutung verliehen worden sei, welchem Umstand auch die Tatsache entsprochen habe, dass auf den „Vaterlandsaltären“ die Vernunft als Gottheit des revolutionären Kultus verehrt wurde.69 Im 20. Jahrhundert galt auch für die beiden totalitären Ideologien des Bolschewismus und des Nationalsozialismus, also für die „Volksdemokratie“ Lenins und seiner Nachfolger bzw. für die „Volksgemeinschaft“ Hitlers, nicht die Verfassungsform des Zweifels, sondern die der Gewissheit. Diesen Einparteienregimes entsprach also eine „politics of faith“, die Michael Oakeshott als Gegensatz zu einer „politics of scepticism“ ansah.70 Diese politics of scepticism des politischen Pluralismus hat jedoch nichts gemein mit der ur­sprünglichen Auffassung von Harold Laskis „pluralistischer Staatstheorie“, welche ­angesichts der robusten Etatismen auf Seiten der politisch rechten und linken Bewegungen geradezu als Vorarbeit für diese im Sinn einer politics of defeatism erscheinen konnte. Von einer solchen ist Oakeshott gleichermaßen weit entfernt wie schon zuvor Hans Kelsen, der in seiner geradezu als klassisch zu bezeichnenden Schrift Vom Wesen und Wert der Demokratie 71 zwar die Demokratie nicht als Verfassungsform der Gewissheit, sondern als Verfassungsform des Zweifels ansah,72 der aber – im Unterschied zu Harold Laski – nie den Unterschied zwischen juristischer und allgemeinpolitischer staatlicher Souveränität aufgegeben hat. 68 Siehe dazu Walter GRAB (Hg.): Die Französische Revolution. Eine Dokumentation, München 1973, S. 191. 69 Siehe Peter Graf KIELMANSEGG: Die Grammatik der Freiheit. Acht Versuche über den demokratischen Verfassungsstaat, Baden-Baden 2013, S. 14. 70 Michael OAKESHOTT: The Politics of Faith and the Politics of Scepticism. Ed. and with introduction by T. Fuller, New Haven 1996. 71 Hans KELSEN: Vom Wesen und Wert der Demokratie; erstmals in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 41 (1920/21), S. 50  – 85. Die 2. erw. Auflage erschien als selbständige Monographie 1929 in Tübingen. 72 Weil wir – im Unterschied zur Auffassung der Vertreter totalitärer Staats- und Gesellschaftsordnungen – keine Gewissheit haben, weil also unsere eigenen politischen Überzeugungen und Einsichten ebenso wenig den Rang von unbezweifelbaren Wahrheiten haben wie die Überzeugungen und Einsichten anderer, muss das Prinzip der Offenheit in das Zentrum einer liberalen Demokratie gerückt werden. Denn da man nicht wissen kann, ob die Mehrheit im Recht ist, muss der Minderheit prinzipiell die Chance offen gehalten werden, selbst Mehrheit zu werden.

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Es scheint so, als würden wir vor allem durch die Einsicht in die wechselvolle Geschichte der Institutionen des Rechts ein tieferes Verständnis des Totalitarismus, und zwar sowohl bezüglich seiner Begriffsbestimmung als auch seiner Wirksamkeit erlangen, als nur durch die Ideengeschichte nach Art Cassirers. Entsprechendes gilt beispielsweise auch für die ganz anders gelagerte Rekonstruktion der Genese des Nationalsozialismus durch Franz Blei. Auch sie verbleibt im rein Ideengeschichtlichen. Blei bemühte sich um den Nachweis, dass der Nationalsozialismus, was den Glauben betrifft, auf das Judentum zurückgehe: Hitlers „deutscher Herrgott“ sei als „Gott der Rache“ auf „eine Wesenheit des Jehova“ reduziert, und es gebe keinen Grund, „im Antisemitismus der Nationalsozialisten etwas anderes zu sehen als Ablehnung und Kampf gegen eine Religion, die mit ihren Grundbe­griffen eines nationalen Gottes und des von ihm auserwählten Volkes vom Nationalsozialis­mus übernommen wurde“.73 Die Geschichte der Ideen ist zwar für die genetische Erklärung des Totalitarismus unverzichtbar, aber um etwa zu verstehen, warum die Aneignung gewisser Inhalte des Alten Testaments, wie im Falle der Interpretation von Franz Blei, oder warum die Ideen Carlyles, Gobineaus und Hegels, wie im Falle der Interpretation von Ernst Cassirer, in einem Staat totalitäre Konsequenzen, in anderen Staaten aber keine solchen hatten, ist es nötig, auf die unterschiedlichen institutionellen Gegebenheiten Bezug zu nehmen, die eine bestimmte Rezeption jener Ideen und deren Umsetzung hier ermöglicht und gefördert, dort aber vereitelt haben.

73 Vgl. Franz BLEI: Viertes Intermezzo, aus: Ders., Zeitgenössische Bildnisse, Amsterdam 1940, S. 274 –282; wieder abgedruckt in: Zweiundzwanzigste Etappe. Almanach für Politik, Kultur & Wirtschaft, Bonn 2013/2014/2015, S. 104  – 109, hier S. 105 f. – In der im Jahr 1963 in München erschienenen Neuauflage von Bleis Buch fehlt der Abschnitt „Viertes Intermezzo“.

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14. POLITIK Vorbemerkung Wahrhaftigkeit garantiert bekanntlich nicht Wahrheitserkenntnis, denn Wahrhaftigkeit ist gegen Irrtum nicht gefeit, weder in der Politik noch sonst wo. Irrtum wiederum beruht auf unwahren oder unrichtigen Annahmen, ist aber im Unterschied zur Lüge nicht einer Haltung der Unwahrhaftigkeit entsprungen. Wahrhaftigkeit und Irrtum setzen beide das Verständnis der Bedeutung von „Wahrheit“ bereits voraus. Dazu wurde schon im Verlauf der Ausführungen über Wissenschaft und Verwertbarkeit in Kapitel 1 einiges gesagt, so zum semantischen und ontologischen Wahrheitsbegriff sowie zu den Wahrheitskriterien. In der ontologischen Wahrheitstheorie, die ihren Ursprung in der platonischen Ideen­ lehre hat, wird die für die Korrespondenztheorie konstitutive Beziehung der Adäquatheit von Aussage und Sachverhalt ersetzt durch die Isomorphie von Idealem und Realem: Ein Mensch, ein Lebewesen, ein Ding, eine Eigenschaft sind umso „wahrer“, je näher sie dem auf sie bezogenen Ideal kommen. So spricht man von einem wahren Freund, von wah­ rer Tapferkeit etc. Als das Ideale gilt das Wesen im Unterschied zur Erscheinung des in ­Betracht stehenden Sachverhalts, das Sein im Unterschied zum Schein. Die Frage, die sich hier stellt, lautet: Wer definiert diese platonische Idee? Wer bestimmt, was das Ideal ist? Re­ ligion und Politik, aber auch Kunst sind bezüglich dessen, was von ihren Repräsen­tanten als Botschaft oder Verheißung, als Programm oder Vision bezeichnet wird, dem ontolo­ gischen Verständnis von Wahrheit verbunden. So ist beispielsweise die politische Diskus­ sion beherrscht von Debatten darüber, was „wahre Gleichheit“, „wahre Freiheit“, „wahre Gerechtigkeit“ und „wahre Demokratie“ ist. Doch immer wieder wird von Repräsentanten der Religion, der Politik und der Kunst diese Art von Wahrheit mit dem semantischen Wahrheitsbegriff konfundiert, wie er für die Wissenschaft konstitutiv ist. Dagegen vor al­ lem richtet sich die Kritik der folgenden Studie. Für diejenigen, die sich als Vertreter einer geschichtsteleologischen Verheißung im Ein­ klang mit den Zielen der Geschichte wähnen, stellt sich nicht das Problem der Koordination von zueinander im Widerspruch stehenden Gruppeninteressen und Handlungsorien­ tierungen in einer Gesellschaft, da man solche Unverträglichkeiten einfach durch die wahr­ heitsgewisse Tat überwinden zu können glaubt. Wohl jedoch stellt sich das Problem einer solchen Koordination in politischen Verbänden, die dem Erfordernis einer möglichst frik­

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tionsfreien Austragung von gesellschaftlichen Interessenkonflikten Rechnung zu tragen suchen. Verbunden ist ein solches Bestreben mit der Einrichtung des Rechtsstaates, als des­ sen Merkmale nach heutigem Verständnis insbesondere die Garantie der Gewaltenteilung, die Verbürgung von Grundrechten, die Bindung von Exekutive und Judikative an Gesetz und Recht sowie die Unabhängigkeit der Richter anzusehen sind. Dass sich alles staatliche Handeln in der Weise des Rechts vollzieht, besagt aber noch nicht, dass der Rechtsstaat ein Gerechtigkeitsstaat ist. Die dem staatlichen Handeln durch den Rechtsstaat gezogenen Grenzen bezwecken zunächst die Freiheitssicherung, und erst in diesem Rahmen soll sich dann beispielsweise die Verwirklichung der Idee der verteilenden und der ausgleichenden Gerechtigkeit vollziehen. Unter bestimmten Bedingungen kann es sogar sein, dass für die Gestaltung der Zukunft Rechtssicherheit für wichtiger gehalten wird als die Umsetzung bestimmter Vorstellungen von Gerechtigkeit. Überhaupt kann der demo­kratische Rechtsstaat Gerechtigkeit nicht umfassend gewährleisten, es gehört aber zu sei­ner Natur, sie anzustreben. Folgerichtig neigt auch die ihm korrespondierende politische Theo­rie nicht der Idee einer Ordnung der Gewissheit, sondern einer Ordnung der „tätigen Skepsis“ (J. W. v. Goethe) zu.

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Wahrheit und pluralistische Demokratie „In gleichem Abstand zu den Dogmatikern (die glauben, im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein) und den Nihilisten (die die Existenz der Wahrheit leugnen) befinden sich diejenigen, die die Wahrheit so sehr lieben, dass sie ständig auf der Suche nach ihr sind. Dies – die Fehlbarkeit des Wissens akzeptieren, sich mit dem Zweifel messen, mit dem Irrtum leben – bedeutet nicht, dem Irrationalismus und der Willkür anzuhängen. Sondern es bedeutet im Gegenteil, im Namen des Pluralismus unser Recht auf Kritik auszuüben und das Bedürfnis zu verspüren, auch mit jenen in Dialog zu treten, die sich für andere Werte als die unseren streiten.“ Nuccio Ordine, Von der Nützlichkeit des Unnützen. Ein Manifest.Warum Philosophie und Literatur lebenswichtig sind […], 2. Aufl., Berlin 2015

Das alte Diktum „Veritas filia temporis“, das von Aulus Gellius stammen soll (Noctes Atti­ cae, Buch XII, 11,7), besagt soviel wie: „Mit der Zeit kommt die Wahrheit ans Licht.­“ 1 Aber was besagt das? Dass Wahrheit, weil es den Erkenntnisfortschritt gibt, eigentlich ein Wahrheitsgeschehen und das Wahre etwas Wandelbares ist? Oder aber, dass das Wahre seinem „Wesen“ nach zwar invariant und mit der Idee der Substantialität verknüpft ist, uns aber durch lange Zeit hindurch nur als „Erscheinung“, also unzureichend oder auf defi­ ziente Weise bewusst wird? Ist also Wahrheit relativ oder ist sie absolut? Im Folgenden wird zu zeigen versucht, welche Art von Wahrheit jeweils in Religion, Wissenschaft und Politik eine Rolle spielt und welche Beziehungen zwischen diesen Arten der Wahrheitserkenntnis bestehen.

I. Wahrheit in Religion und Wissenschaft In der Religion wird Wahrheit im Sinne des ontologischen Wahrheitsbegriffs als etwas „Wah­ res“, insbesondere als etwas Geoffenbartes verstanden. So heißt es in Johannes 14, 6: „Jesus sagte zu ihm (d. i. Thomas): Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich.“ Und gemäß Johannes 8, 31.32 sprach „Jesus zu den Juden, die an ihn glaubten: So ihr bleiben werdet an meiner Rede, so seid ihr meine rech­ ten Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ „Erkennen“ heißt hier soviel wie: einer Sache in ihrer Unverhülltheit oder Unverborgen­ heit ansichtig werden. Sie ist als etwas verstanden, das geglaubt wird oder geglaubt werden muss, „et quia absurdum est“: selbst wenn es widersinnig erscheint (ist), wie Tertullian meint. Das Heil ist das Wahre, und der Heilsweg führt aus dem Unheil ins Heil, aus dem 1 So Georg Fritz WEISZ in seiner Übersetzung von Aulus GELLIUS: Noctes Atticae, Leipzig 1875, S. 156.

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irdischen Jammertal in das Reich der Freiheit. Nach Luther besteht die eigentliche Freiheit in der „inneren Freiheit“ des Christenmenschen: in der Bereitschaft, gegebenenfalls auch unter äußerem Druck den richtigen Weg zu Gott zu finden. Luther zufolge ist der Mensch zudem frei vom Erfordernis einer durch Priester und das Institut der Beichte erfolgenden Herstel­ lung einer Beziehung zu Gott. Es sei dem Einzelnen möglich, in ein persönliches Verhältnis zu Gott zu gelangen, vor dem er für sein Tun und Unterlassen selbst einzustehen habe. Man weiß hinreichend Bescheid über die Kollision der religiösen Wahrheit mit den wis­ senschaftlichen Wahrheiten als den wissenschaftlich für wahr gehaltenen Auffassungen. Ibn Sina (oder: Avicenna), Ibn Ruschd (oder: Averrhoës) sowie Pietro Pomponazzi mit seinem Tractatus de immortalitate animae (1516) sind herausragende Vertreter der Lehre von der „doppelten Wahrheit“: einerseits einer wissenschaftlichen, andererseits einer glaubensmä­ ßigen Wahrheit. Im Schutz dieser dualen Wahrheitskonzeption sollte es möglich sein, den wissenschaftlichen Wahrheiten nachzuspüren, ohne dabei den höherwertigen religiösen zuzusetzen. Die behauptete Kategoriendifferenz schützte vor der Orthodoxie. Im weiteren historischen Verlauf waren es einerseits die Naturwissenschaften, welche mit bestimmten sachhaltigen Aussagen der Heiligen Schrift – insbesondere solchen der Kosmogonie und Kosmologie – in Widerspruch gerieten, andererseits die historisch-vergleichenden Geistes­ wissenschaften, welche die als unwandelbar betrachteten und durch die Religion gestützten Gesellschaftsordnungen und Wertorientierungen destabilisierten.2 Hier war es vor allem der Historismus, der die Erschütterung der bislang bestehenden Gewissheiten bewirkte. In der Wissenschaft wird Wahrheit verstanden im Sinne des semantischen Wahrheits­ begriffs oder der Korrespondenztheorie. Die Wahrheit der Wissenschaften ist eine von Aussagen, welche mit dem von ihnen in Betracht gezogenen realen Sachverhalt überein­ stimmen. Ein grundlegender Unterschied betrifft den logischen Status von Tatsachen­ aussagen und von Normen: Tatsachenaussagen (Seinsaussagen) sind wahr, Werte und Normen (Sollenssätze) gelten. Mit jeder Wahrheitserkenntnis sind spezifische Vorausset­ zungen verbunden, unter denen ein Wahrheitsanspruch proklamiert werden kann. Das ist der Sinn der Rede von der Relativität oder dem Relationismus in den Wissenschaften; mit dem negativ konnotierten „Relativismus“ der Beliebigkeit hat das nichts zu tun. So spricht man beispielsweise von der Relativität von Erklärungen, wenn in diesen ihr Gegenstand je nach wissenschaftlicher Disziplin, aber oft auch innerhalb ein und derselben Disziplin un­ terschiedlich zur Sprache gebracht wird: so beispielsweise in der Physik in der Sprache der Korpuskulartheorie oder der Theorie der Wellenmechanik, in der Geschichtswissenschaft 2 Siehe dazu exemplarisch August Maria KNOLL: Katholische Kirche und scholastisches Naturrecht, 2. Aufl., Neuwied-Berlin 1968; Ders.: Zins und Gnade, Neuwied-Berlin 1967. – Diese beiden seit langem vergriffe­ nen Bände sind enthalten in August Maria KNOLL: Glaube zwischen Herrschaftsordnung und Heilserwar­ tung. Studien zur politischen Theologie und Religionssoziologie. Mit einer Einleitung von Ernst Topitsch und einem Nachwort von Reinhold Knoll, Wien-Köln-Weimar 1996.

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in der Sprache der Ökonomie, der Politik oder der Psychologie etc. Wahr ist dabei eine Aussage zunächst einmal immer nur in Bezug auf ein bestimmtes Sprachsystem. Darüber, ob Tatsachenaussagen und Normen als wahr bzw. als geltend anzusehen sind, befinden die jeweiligen Kriterien. Das Kriterium wahrer Tatsachenaussagen ist die intersub­jektive Überprüfung: so zum Beispiel die der Bremsen eines Autos, der Finanzen eines Betriebs, des Gödelschen Beweises, des Alibis eines Tatverdächtigen, des Vorhanden­ seins von Mikroben. Dabei ist offen, was bei den Überprüfungen an (vorläufig) für wahr Gehaltenem herauskommt. Es handelt sich hier um die Wahrheitssuche als einen geord­ neten Umgang mit Ungewissheit. Das Kriterium geltender Normen und Werte besteht hingegen entweder in deren Setzung durch einen Gesetzgeber, also in der Legalität der Normen und Werte, oder in deren bewusster Anerkennung durch jene, auf die sie sich be­ ziehen, wodurch die Legitimität der Normen und Werte konstituiert wird.3 Hier handelt es sich um Gel­tung kraft Übereinkunft. Ob diese als Ordnung der Gewissheit oder der Unge­ wissheit Gestalt annimmt, ist eine Frage der Empirie und noch Gegenstand der folgenden Ausführungen.

II. Wahrheit in der Politik In der langen Geschichte des politischen Denkens trifft man bis heute immer wieder auf eine eigentümliche Amalgamierung des in politisch-moralischer Hinsicht Geltenden mit dem im wissenschaftlichen Sinne Wahren. So werden Werte, wie beispielsweise Freiheit oder Gleichheit, worauf die Normen und Verhaltensregeln in der Politik und im Rechts­ leben bezogen sind, nicht nur als geltend, sondern als wahr angesehen. Wahrheitsansprü­ che werden dabei mit jenen „Höchstwerten“ verbunden, welche dann eben nicht nur als Ideale, sondern als etwa kulturanthropologisch oder biologisch begründete Verhaltensregu­ lative aufgefasst werden.4 Häufig erfolgt dabei eine sonderbare Identifizierung des Wahren mit dem aus weltanschaulichen Gründen Erwünschten. Für das Verhältnis einer solchen Politik zur Wissenschaft gilt Ähnliches wie für das Verhältnis bestimmter Religionen zu dieser: Interventionen in den Bereich der Wissenschaft sind häufig der Fall.5 Wie immer 3 Siehe dazu Hasso HOFMANN: Legitimität und Rechtsgeltung. Verfassungstheoretische Bemerkungen zu einem Problem der Staatslehre und der Rechtsphilosophie, Berlin 1977. 4 Solche Höchstwerte sind, wie Arnold Brecht in seiner Politischen Theorie darzulegen suchte, beispielsweise für Sozialisten der Wert der Gleichheit, für Liberale der der Freiheit, für Konservative seien es die Werte von Tradition, Ruhe und Ordnung etc. – Siehe Arnold BRECHT: Politische Theorie. Die Grundlagen politi­ schen Denkens im 20. Jahrhundert, Tübingen 1961, S. 188; siehe auch S. 364 f. 5 Ein bizarres Beispiel für eine solche Intervention bilden die gegen Gregor Mendel und die Genetik gerich­ teten Ansichten von Trofim Lyssenko, der sich als Trivial-Lamarckist der kräftigen Förderung durch Stalin und Chruschtschow erfreute. Die Zustimmung zu Mendels Theorien kostete damals zahlreiche Genetiker in der UdSSR Jahre ihres Lebens, die sie im Gulag verbrachten. – Siehe dazu Rudolf HAUSMANN: Die

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unsere Stellungnahme zu der mit moralischem Anspruch auftretenden Politik ausfallen mag – deren „Wahrheit“ ist jedenfalls, wie schon Max Weber sagte, „mit den Mitteln kei­ ner ‚Wissenschaft‘ beweisbar oder ‚widerlegbar‘“.6 Andernfalls würden ja die deskriptiven Codes der Wissenschaft („wahr – falsch“) mit den normativen Codes von Moral („gut – böse“) und Politik („mächtig – ohne Macht“) gleichgesetzt; dies aber wären Kategorien­ fehler.7 Nietzsche erklärte bereits in ähnlichem Zusammenhang: „An einem Philosophen ist es eine Nichtswürdigkeit zu sagen, ‚das Gute und das Schöne sind eins‘; fügt er gar noch hinzu ‚auch das Wahre‘, so soll man ihn prügeln. Die Wahrheit ist häßlich.“8

1. Einige historische Bemerkungen zur jüngeren Demokratiegeschichte Es waren die Vertreter der Auffassung von einer feststehenden und homogenen Volks­ meinung, dem so genannten „allgemeinen Willen“ (der volonté générale) im Sinne von Jean-Jacques Rousseau (1712 –1778), die im 18. Jahrhundert Politik im Sinne einer Ein­ parteiendemokratie konzipierten; denn die politische Wahrheit sei etwas Einheitliches und bestehe nicht aus vielen Wahrheiten, und sie sei deshalb auch einmütig zu vertreten. Die Anwälte dieser vor allem in Frankreich vertretenen Auffassung erblickten sowohl in der Mehrparteiendemokratie als auch in der Teilung der drei Gewalten (der legislativen, der exekutiven und der judikativen Gewalt), und zwar in Abkehr von Montesquieus Lehre, eine Zersplitterung des einheitlichen und allgemeinen Willens. Der anderen, vor allem von John Locke (1632–1704) und später von den Vätern der US-amerikanischen Verfassung vertretenen Auffassung entsprach die Konzeption einer Mehrparteiendemokratie, in der die Rolle des Volkes darin bestehen sollte, eine Regierung hervorzubringen (oder eine intermediäre Körperschaft, die ihrerseits eine nationale Re­ gierung hervorbringt). In diesem Sinne definierte Joseph Alois Schumpeter die „demokra­ tische Methode“ als „diejenige Ordnung der Institutionen zur Erreichung politischer Entdeckung des Lebens. Wege und Irrwege großer Forscher, Darmstadt 2009, S. 130 –137. 6 Vgl. Max WEBER: Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre [1920], 3. Aufl., Tübingen 1968, S. 489 –540, hier S. 507. 7 Zu den unterschiedlichen Codes von Wissenschaft, Moral, Religion, Kunst, Politik, Recht und Wirtschaft siehe Niklas LUHMANN: Einführung in die Systemtheorie. Hrsg. von Dirk Baecker, Heidelberg 2002; Einführung in die Theorie der Gesellschaft. Hrsg. von Dirk Baecker, Heidelberg 2005. 8 Friedrich NIETZSCHE: Werke in drei Bänden. Dritter Band, Darmstadt 1963, S. 832. – Damit wird von Nietzsche die Konfundierung der deskriptiven Codes der Wissenschaft („wahr – falsch“) mit den normati­ ven Codes von Moral („gut – böse“) und Kunst („schön – hässlich“) kritisiert. Nur weil wir uns an bestimm­ te Kategorienfehler bereits gewöhnt haben und an Fragen danach, wie wahr das Gute oder wie wahr das Schöne sei, keinen Anstoß mehr nehmen, klingen solche Codierungs-Unverträglichkeiten nicht so bizarr wie etwa die ihnen sprachlogisch durchaus verwandten Fragen nach der Gerechtigkeit der Kunst, nach der Macht der Geometrie oder nach der Heiligkeit der Physik.

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Entscheidungen, bei welcher einzelne die Entscheidungsbefugnis mittels eines Konkur­ renzkampfs um die Stimme des Volkes erwerben“. Zentrales Kriterium zur Identifizierung der demokratischen Methode ist der freie Wettbewerb zwischen den Führungsanwärtern um die Stimmen der von ihnen repräsentierten Wählerschaft,9 und dies unter der Voraus­ setzung der vorgängig erfolgten Sicherung persönlicher Schutz- und Freiheitsrechte. Es ist hier nicht der Ort, die vor allem auf die Magna Carta Libertatum aus dem Jahr 1215 und deren Revitalisierung durch Sir Edward Coke in der Petition of Rights von 1628 zurückgehende Geschichte von Freiheitsrechten darzulegen. Erwähnt sei hier nur das klas­ sische Grundrecht des Schutzes vor willkürlicher Verhaftung (Habeas corpus), das Coke in der erwähnten Petition of Rights in eine Formel gekleidet hat, die als englisches Verfas­ sungsrecht anerkannt wurde: „No man can be taken, arrested, attached, or imprisoned but by due process of law and according to the law of the land.“10 Dass danach die ver­ schiedenen Freiheiten – Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Freiheit der Religionsausübung, Versammlungsfreiheit – nicht nur Gegenstände einer Philosophie der Freiheit blieben, sondern Eingang in eine Gesetzgebung fanden, welche die Freiheit garantiert, ist nicht, wie verschiedentlich behauptet, der französischen Erklärung der Menschenrechte des Jah­ res 1789 zuzuschreiben, sondern der US-amerikanischen Verfassung und ihrer durch die Institution der Gewaltenteilung verbürgten Sicherung der Grundrechte. Wo, wie in Frank­ reich, die Institutionalisierung von Rechtsstaat und Gewaltenteilung nicht gelungen ist, sind die Menschenrechtskataloge Ideen und Forderungen geblieben, während es darauf angekommen wäre, aus den Menschenrechten – als den sogenannten überpositiven Rech­ ten – Grundrechte zu machen.

2. Demokratie als Ordnung der Gewissheit und der absoluten Wahrheit Die mit dem Begriffspaar „Wahrheit“ und „pluralistisch verfasste Demokratie“ verbunde­ nen positiven Begleitvorstellungen drängen oft das Erfordernis einer Beantwortung der Frage in den Hintergrund, welches Verständnis von Wahrheitsgewissheit denn dabei vor­ 9 Vgl. Joseph A. SCHUMPETER: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie [1. amerik. Aufl. 1942]. Ein­ leitung von Edgar Salin, 3. Aufl., München 1972, 22. Kapitel, v. a. S. 428. – In diesem Zusammenhang grundlegend Hasso HOFMANN: Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Anti­ ke bis ins 19. Jahrhundert, Berlin 1998. 10 Siehe dazu Martin KRIELE: Einführung in die Staatslehre. Die geschichtlichen Legitimitätsgrundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, 3. Aufl., Opladen 1980, II. Teil, 3. Kap., v. a. S. 151–165. – In diesem Zusammenhang wäre vor allem auch – was unter der Ägide der heute unter Historikern häufig praktizierten westernisation der europäischen Geschichte unterbleibt – auf den durch das Heilige Römische Reich Deut­ scher Nation inspirierten Föderalismus, ein Gegenmodell zum britischen und französischen Unitarismus, eingehender Bezug zu nehmen, aber ebenso auf die den westeuropäischen Formen der Volksherrschaft vor­ ausgehende Ordnung der Schweizer Eidgenossenschaft.

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herrschend ist: Beruht die moderne verfassungsstaatliche Demokratie auf Gewissheit oder auf Zweifel? Ist sie also, in der Formulierung des englischen Sozialphilosophen Michael Oakeshott, „politics of faith“ oder „politics of scepticism“?11 Beim Eintritt der modernen Demokratie in die Geschichte, also mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776, wurde der zwischen der Demokratie und der Wahrheit behauptete Zusammenhang klar formuliert: „We hold these truths to be selfevident that all men are created equal; that they are endowed by their Creator with certain­ inalienable rights; that among these are life, liberty and the pursuit of happi­ness; that to secure these rights, governments are instituted among men, deriving their just powers from the consent of the governed.“ Dies zeigt mit aller Klarheit, dass sich die moderne, aus den Menschenrechten hergeleitete Demokratie in ihrer Gründungsurkunde selbst als „Wahr­ heit“, oder besser: als evidente, allgemein einleuchtende und keiner weiteren Begründung bedürftige Idee der praktischen Vernunft, darstellt. Der mit diesem Gründungsdokument der modernen Demokratie verbundene Wahrheitsanspruch hat in einer Art säkularer Heilsgeschichte seinen Ursprung. Dies wird nicht nur in den amerikanischen Anfängen deutlich, sondern auch bei Robespierre, wenn dieser in einer seiner großen Reden von den „heilbringenden Wahrheiten“ spricht, von denen er hofft, dass sie „nicht auf unseren engen Raum beschränkt blieben, sondern bei allen Völkern den gleichen Widerhall fänden“.12 Bekanntlich wurden ja nach Konstituierung der Republik am 22. September 1792 die Tex­ te der Menschenrechte und der Verfassung auf den so genannten „Altären des Vaterlands“ eingraviert, welche dem Kultus der als Gottheit verehrten Vernunft dienten. Das Gemein­ wesen, das sich auf die als göttlich verehrte Vernunft gründete, war seinem Selbstverständnis nach auf Wahrheit gegründet. Zweihundert Jahre später tönt das Wahrheitspathos – jeden­ falls in Europa – nicht mehr so emphatisch wie zu Ende des 18. Jahrhunderts. Aber faktisch gilt heute das „self-evident“ viel unbefragter als in der Zeit des Anfangs, als es in eine feudal geschichtete Welt hineingerufen wurde. Wer heute Demokratie sagt, braucht sein Bekennt­ nis zu ihr nicht mehr zu begründen, sie wird von weiten Teilen der Weltöffentlichkeit als die normative politische Wahrheit schlechthin wahrgenommen. Wenn Demokratie als wahrheitsfähig angesehen wird, so stellt sich die Frage, was denn eigentlich der Gegenstand der Wahrheitszuschreibung ist: Sind dies bestimmte mit der Bedeutung von „Demokratie“ verbundene und als wertvoll angesehene Ziele oder sind es die damit verbundenen Prozeduren ? Der Versuch einer Beantwortung dieser Frage führt zu einer grundlegenden Unterscheidung zweier Typen von Verfassungen: einerseits eines apodiktisch-axiologischen Typus, der die Ziele der Demokratie festlegt; andererseits eines 11 Michael OAKESHOTT: The fortunes of scepticism, in: The Times Literary Supplement, March 15, 1996, S. 114 –115. – Zur Erörterung dieser Fragen siehe Peter Graf KIELMANSEGG: Die Grammatik der Frei­ heit. Acht Versuche über den demokratischen Verfassungsstaat, Baden-Baden 2013, S. 11–38. 12 Zitiert nach Walter GRAB (Hg.): Die Französische Revolution. Eine Dokumentation, München 1973, S. 191.

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hypothetisch-prozeduralen Typus, der Verfassungen als Regelwerke für den demokratischen Prozess konzipiert und lediglich festlegt, aufgrund welcher Verfahren das Gemeinwesen zu allgemein verbindlichen, legitimen Entscheidungen kommt. Peter Graf Kielmansegg trifft eine Zuordnung zu den beiden soeben genannten Verfassungstypen und erklärt: „Es ist klar, dass apodiktische Politik – idealtypisch – ein dem von normativer Gewissheit bestimmten Demokratieverständnis entsprechender Politikstil ist, während experimentelle Politik der Demokratie gemäß ist, die sich als Regelwerk des Umgangs mit Ungewissheit versteht.“13 Im Sinne der apodiktisch als „Ordnung der Wahrheit“ verstandenen Demokratie gibt es eine ganze Reihe von eindrucksvollen Proklamationen. Ein Schlüsselsatz, mit dem R ­ obespierre in ­einer Rede im November 1793 die „heilbringenden Wahrheiten“ der Revolution ankün­ digte, lautet: „Ach, wer von uns fühlte nicht seine Kräfte erstarken und wer glaubt sich nicht über die Menschheit hinausgewachsen, wenn er daran denkt, daß wir nicht nur für ein Volk, sondern für die Welt, und nicht nur für die Menschen, die heute leben, sondern für die gan­ ze kommende Menschheit kämpfen?“14 Etwas mehr als zwei Jahrhunderte später suchte Prä­ sident George W. Bush seinem Interventionskrieg im Irak mit den f­olgenden Worten eine menschheitsgeschichtliche Deutung zu geben: „Unser demokratischer Glaube ist mehr als das Credo unseres Landes, es ist die angeborene Hoffnung unseres Menschengeschlechtes.“15 Sät­ ze, wie die hier wiedergegebenen formuliert nur jemand, der sich im Besitz der Wahrheit im emphatischen Sinne weiß. Und aus dieser Wahrheitsgewiss­heit erwächst ein Missionsauftrag. Damit geht nicht selten ein Unverständnis bezüglich der Besonderheiten fremder Kulturen einher und die Neigung, sie alle über den Kamm der eigenen Wahrheitsansprüche zu scheren. Der Angriffskrieg der USA und ihrer Alliierten gegen den Irak im Jahre 2003, der sich in eine ganze Reihe unseliger westlicher Interventionen in der islamischen Welt davor und danach fügt, hat, wie Peter Scholl-Latour in seinem postum erschienenen Buch zeigt, eine Büchse der Pandora geöffnet.16 Was andererseits der wahrheitsgewisse volksdemokratische 13 Peter Graf KIELMANSEGG: Die Grammatik der Freiheit (Anm. 11), S. 22. 14 Zitiert nach Walter GRAB (Hg.): Die Französische Revolution (Anm. 12), S. 191. 15 Zitiert nach Peter Graf KIELMANSEGG: Die Grammatik der Freiheit (Anm. 11), S. 13. – Auch die Selbst­ rechtfertigungen einiger Befürworter von „erweiterten Verhörmethoden“, wie sie in dem im Dezember 2014 veröffentlichten Bericht des Geheimdienstausschusses des US-amerikanischen Senats (dem so genannten Feinstein-Report) zur Sprache gebracht wurden, gehören in diesen Zusammenhang. „Was mich betrifft“, erklärte der frühere Vizepräsident Dick Cheney im Hinblick auf die mit Folteraufgaben betrauten Agenten, „sollten diese Leute ausgezeichnet und nicht kritisiert werden.“ Und der letzte CIA-Direktor in der Regie­ rungszeit von George W. Bush, Michael Hayden, sagte, offenbar im Wissen um den Sinn des weltgeschicht­ lichen Geschehens: „Es geht uns nicht darum, Folter zu verteidigen. Wir verteidigen die Geschichte.“ (Vgl. Andreas ROSS: Unerwünschte Wahrheiten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. Dezember 2014, S. 3.) – Siehe dazu auch die Ausführungen in Abschn. IV/2 unten. 16 Peter SCHOLL-LATOUR: Der Fluch der bösen Tat. Das Scheitern des Westens im Orient, Berlin 2014. Vgl. in diesem Zusammenhang insbesondere auch Michael LÜDERS: Wer den Wind sät. Was westliche Politik im Orient anrichtet, 6. Aufl., München 2015.

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Klassenkampf Leninschen Typs bedeutete, wird durch die Erklärung des aus Lettland stammenden Leiters der Tscheka an der östlichen Bürgerkriegsfront in Russland nach der Oktoberrevolution, Martin Iwanowitsch Latsis, offenkundig, die er im November 1918 in der Zeitschrift Krasnyi terror (Der rote Terror) veröffentlicht hat: „Wir führen nicht Krieg gegen individuelle Personen. Wir vernichten die Bourgeoisie als Klasse. Während der Untersuchung suchen wir nicht nach individuellen Schuldbeweisen, ob der Beschul­ digte in Taten oder Worten gegen die Sowjetmacht gehandelt hat. Die ersten Fragen, die gestellt werden sollten, sind: Zu welcher Klasse gehört er? Was ist seine Klassenherkunft? […] Und es sind diese Fragen, welche das Schicksal des Beschuldigten bestimmen soll­ ten. Darin liegt die Bedeutung und das Wesen des roten Terrors.“17 Entsprechendes galt bekanntlich für das Vorgehen der NS-Organe gegenüber den Juden, deren Leistungen und deren moralischer Leumund angesichts der Faktizität des Ahnenpasses für irrelevant gehalten wurden. Manchmal erfolgt die Umsetzung sogenannter politischer Wahrheiten durch Terror, manchmal auch auf dem Weg einer Verkündigung künftigen Glücks. Unbedenklich ist auch das nicht, da ja immerhin von den einen die Entscheidung für die anderen darüber getroffen wird, was deren Glück sei. Karl Popper verweist auf die mögliche Gefahr, die mit dem politischen Ideal verbunden ist, die Menschen glücklich zu machen: „Ein sol­ cher Wunsch führt unvermeidlich zu dem Versuch, anderen Menschen unsere Ordnung ‚höherer‘ Werte aufzuzwingen, um ihnen so die Einsicht in Dinge zu verschaffen, die uns für ihr Glück am wichtigsten zu sein scheinen; also gleichsam zu dem Versuch, ihre Seelen zu retten.“18 Der mit solchen Glücksverheißungen einhergehende Anspruch auf norma­ tive Gewissheit wird von Popper auf ähnliche Weise zurückgewiesen wie der Anspruch auf absolute Wahrheit in der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Die Ähnlichkeit zwischen dieser und Poppers Sozialethik ist offenkundig. Wie der Mensch nicht unmittelbar der Wahrheit einsichtig wird, sondern sich ihr erst über die Falsifizierung unwahrer Sätze und Hypothesen schrittweise annähere, so sei ihm auch das Glück nicht als Evidenzerlebnis a priori zugänglich, vielmehr nähere er sich dem Glück erst durch die Kritik und Beseiti­ gung von Unglück, also von als vermeidbar erkanntem Leid: von Hunger, ökonomischer Ausbeutung, politischem Zwang, Versagung der sozia­len Anerkennung und physischem sowie seelischem Schmerz. Die Bereitschaft zur Kritik und die Offenheit für immer neue Antworten sei, wie in der Wissenschaft, so auch in der Politik die angemessene Art, mit 17 Zitiert in Klaus-Georg RIEGEL: Der Marxismus-Leninismus als „politische Religion“ in: Gerhard Besier, Hermann Lübbe (Hgg.), Politische Religion und Religionspolitik. Zwischen Totalitarismus und Bürgerfrei­ heit, Göttingen 2005, S. 28; siehe auch Jörg BABEROWSKI: Der Rote Terror. Die Geschichte des Stalinis­ mus, Bonn 2007 (Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für Politische Bildung), S. 38 f. 18 Karl Raimund POPPER: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Zweiter Band: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen (The Open Society and Its Enemies, II. The High Tide of Prophecy, London 1945. Übers. v. Dr. P. K. Feyerabend), Bern 1958, S. 291 f.

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der unvermeidlichen Ungewissheit umzugehen. In beiden Berei­chen sei die Fähigkeit und Bereitschaft zum Zweifel als eine Tugend anzusehen.19 Nach alledem wird man zum Abschluss der Ausführungen über politische Ordnun­ gen der Gewissheit der Feststellung Kielmanseggs zustimmen können: „Wer Demokra­ tie als Ins­titutionalisierung von Wahrheiten begreift, für den gelten im Verhältnis von Demokratie und Nicht-Demokratie zueinander offensichtlich andere Regeln als für den, der Demokratie als ein Regelsystem im Umgang mit Ungewissheit versteht. Umgekehrt, wer in der Unvollendetheit, der Vorläufigkeit alles menschlichen Wissens, in der Relativi­ tät aller unserer Urteile die eigentliche Demokratieprämisse sieht, der wird schwerlich ein missio­narisches Selbstverständnis entwickeln […].“20

3. Demokratie als Ordnung der Ungewissheit und der relativen Wahrheit Die klassische literarische Quelle einer skeptischen Konzeption von Demokratie, in der diese als ein Regelsystem im Umgang mit Ungewissheit verstanden wird, ist Hans Kel­ sens Buch Vom Wesen und Wert der Demokratie aus dem Jahre 1920. Die hier vertretene Auffassung hat zur Voraussetzung, dass es Wahrheitsgewissheit in Bezug auf ultimative Werte in moralisch-politischen Belangen nicht gibt. „Das ist nämlich die große Frage: Ob es eine Erkenntnis absoluter Wahrheit, eine Einsicht in absolute Werte gibt. Das ist der prinzipielle Gegensatz der Welt- und Lebensanschauungen […]: Der Glaube an absolute Wahrheit und absolute Werte schafft die Voraussetzung für eine metaphysische und ins­ besondere religiös-mystische Weltanschauung. Die Negation dieser Voraussetzung aber […] führt zur Welt­anschauung des Kritizismus und des Positivismus, sofern man darunter jene Richtung der Philosophie und Wissenschaft versteht, die vom Positiven, d. h. vom Gegebenen, Erfassbaren, von der wandelbaren und stets sich wandelnden Erfahrung aus­ geht […]. Diesem Gegensatz der Weltanschauungen entspricht ein Gegensatz der Wertan­ schauungen, speziell der politischen Grundeinstellung. Der metaphysisch-absolutistischen Weltanschauung ist eine autokratische, der kritisch-relativistischen die demokratische Hal­ tung zugeordnet.“ Derjenige aber, der absolute Wahrheit und absolute Werte menschlicher Erkenntnis für verschlossen hält, müsse auch die fremde, gegenteilige Meinung zumin­dest für möglich halten und daher auch „jeder politischen Überzeugung die gleiche Möglich­ keit [geben], sich zu äußern und im freien Wettbewerb um die Gemüter der Menschen“ sich geltend zu machen.21 Die Mehrheitsregel sei es, die unter diesen Bedingungen zu einer legitimen Entscheidung führe, also auch den zur Verwirklichung jeglicher politischen Ge­ 19 Man mag sich in diesem Zusammenhang an den Wahlspruch erinnern, der den Eingang des Collegium maius der Universität Krakau ziert: „Dubitare necesse est.“ 20 Peter Graf KIELMANSEGG: Die Grammatik der Freiheit (Anm. 11), S. 25 f. 21 Hans KELSEN: Vom Wesen und Wert der Demokratie [1920], 2. Aufl., Tübingen 1929, S. 100 f.

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meinschaft unvermeidlichen Zwang zu rechtfertigen vermöge. Diese Zwangsordnung darf jedoch nach Kelsen „nur so beschaffen sein, dass auch die Minderheit, weil nicht absolut im Unrecht, nicht absolut rechtlos, jederzeit selbst zur Mehrheit werden kann“.22 Immer wieder wurde gegen das Prinzip der Offenheit, der Relativität und des Vorbe­ halts gegenüber absoluten Wahrheitsansprüchen geltend gemacht, dieses Prinzip würde sich durch die Selbstanwendung selbst erledigen: Wenn alles relativ sei, dann eben auch das Prinzip der Relativität. Deshalb, so meinte man, käme das Prinzip der Relativität und des Wahrheitsvorbehaltes letztlich einer Selbstpreisgabe gleich.23 Für Hans Kelsen, wie später auch für Karl Popper, war jedoch das erwähnte Prinzip weder ein aporetisches, das unver­ meidlich zu seiner Selbstzerstörung führt, noch eines, das den Einzelnen in eine Haltung der moralisch-politischen Indifferenz treibt. So bemerkt Kelsen gegen Ende seines Buches Was ist Gerechtigkeit? aus dem Jahr 1953: „Demokratie kann sich nicht dadurch verteidi­ gen, daß sie sich selbst aufgibt. Aber es ist das Recht jeder, auch einer demokratischen Regierung, Versuche, sie mit Gewalt zu beseitigen, mit Gewalt zu unterdrücken und durch geeignete Mittel zu verhindern. Die Ausübung dieses Rechts ist weder mit dem Prinzip der Demokratie noch mit dem der Toleranz in Widerspruch.“24 Natürlich setzt die Bereitschaft, ein bestimmtes politisches System und die ihm kor­ respondierende Gesellschaftsform zu verteidigen, einen Willensentschluss voraus, dem letztlich Wertaxiome zugrunde liegen, die nicht durch einen logischen oder empirischen Beweis „wissenschaftlich“ zu rechtfertigen sind. Aber das heißt nicht, dass Diskussionen über Werte und mit ihnen verbundene Handlungen deshalb schon sinnlos sind. Solche Diskussionen haben unter anderem zur Voraussetzung, dass man eigenes Handeln anderen gegenüber zu rechtfertigen gewillt ist; dass man andere Handlungen und Argumente nach gleichen Regeln behandelt, also Fairness praktiziert; dass man ferner zu einer gewissen Em­ pathie befähigt und auch willens ist, sich in die Lage eines Anderen zu versetzen; und dass es auf dieser Grundlage reziproker Erfahrung prinzipiell möglich ist, die für das eigene Handeln vorgebrachten Gründe auch von anderen akzeptiert zu finden. Die solcherart möglichen Wertdiskussionen scheitern keineswegs an der für jede Fällung von Werturteilen gültigen Voraussetzung, dass sie in letzter Instanz auf unbeweisbare Wertaxiome und ihnen korrespondierende Werthaltungen zurückführbar sind. In der Logik, der Mathematik oder der Geometrie vereiteln ja die axiomatischen Grundannahmen auch nicht eine Diskussion über die aus ihnen abgeleiteten Theoreme. Auf eine bis heute exemplarische Weise hat Max Weber in seinem berühm­ten Auf­ satz „Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften“ 22 Ebd., S. 101 und S. 103. 23 Vgl. in diesem Zusammenhang die Ausführungen zum Verhältnis von apodiktischem und skeptischem De­ mokratieverständnis bei Peter Graf KIELMANSEGG: Die Grammatik der Freiheit (Anm. 11), S. 26 –31. 24 Hans KELSEN: Was ist Gerechtigkeit?, Wien 1953, S. 42.

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(1917) gezeigt, wie die Deduktion der Konsequenzen von zuvor explizierten Wertaxiomen zu bestimmten Feststellungen faktischer und logischer Sachverhalte führen kann, welche zur Bekräftigung oder aber zur Revision jener Wertaxiome Anlass geben: zum Nachweis der Verfügbarkeit oder Unverfügbarkeit von Mitteln zur Realisierung bestimmter an­ gestrebter Ziele sowie zum Nachweis der mit ihrer Verwendung verbundenen Nebenfol­ gen; zur Feststellung der mehr oder minder großen Wahrscheinlichkeit, das angestrebte Ziel auch zu realisieren; zum Nachweis der logischen Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit zwischen den Werturteilen über die Handlungsziele und den Werturteilen über die zur Anwendung kommenden Mittel; zur Konsta­tierung der logischen Verträglichkeit oder Unverträglichkeit zwischen den auf Ziele und den auf nicht inten­dierte Nebenfolgen der Mittelverwendung bezogene Wertungen.25 Wertungsdiskussionen sind also keineswegs „sinnlos“, wie beispielsweise einige Hauptvertreter des Neopositivismus glaubten, sondern haben einen sehr erheblichen Sinn, sofern ihre argumentative Struktur richtig verstanden wird. Vieles an logischer und empirischer Kritik ist also in der Moralphilosophie und der Philosophie der Politik möglich, obschon die Wertaxiome, auf die hin oder von wo her die einschlägigen Zielformulierungen erfolgen, nicht wissenschaftlich „beweisbar“ sind. Wie Arnold Brecht ausführte, „verdunkeln [wir] die Sache nur, wenn wir für die Wissenschaft etwas in Anspruch nehmen, was sie nicht leisten kann. Die Wissenschaft selbst sollte dies klar herausstellen, während sie gleichzeitig Ihre Bemühungen fortsetzt, 1. universale Merk­ male der menschlichen Natur aufzudecken […], 2. irrige Ideen über nur scheinbare Unter­ schiede zu widerlegen (Rassenfrage) und 3. die Konsequenzen sowohl der ungleichen wie der gleichen Behandlung der Menschen in den verschiedenen Sphären und Situationen des Gemeinschaftslebens aufzuweisen.“26 Dass sich in der Philosophie, aber auch in anderen dadurch beeinflussten Kulturwissenschaften verschiedentlich eine Abstinenz gegenüber Wertfragen breitmachte, hat auch mit der wissenschaftsgeschichtlich bedeutsamen Ver­ lagerung des philosophischen Erkenntnisinteresses von Sachproblemen auf methodolo­gi­ sche Probleme zu tun. Insbesondere seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert tritt unter Philoso­phen allenthal­ben das Bestreben zutage, ihre Hauptaufgabe in der Ergründung der allgemeinen Vor­­aus­­set­zungen der Wissenschaften zu suchen, also in der Wissenschaftstheorie und Wissen­­schaftslogik. So wichtig und sinnvoll dieses Unternehmen einer Reflexionswissenschaft auch war, so ging der Fortschritt der einschlägigen Systematisierung, Logifizierung und Formalisierung doch mit einer nicht unbedenklichen Schwerpunktverlagerung in Wertdiskussionen vom Inhaltlichen auf das Formale einher. Die Methodologisierung hatte insbesondere im Logischen Empiris­ 25 Max WEBER: Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften (Anm. 6), v. a. S. 510  –512. 26 Arnold BRECHT: Politische Theorie (Anm. 4), S. 375 f.

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mus eine weitgehende Sistierung jener die kritische Urteilskraft betreffenden Fragen zur Folge, die über die als wissenschaftlich anerkannten Befunde hinauszielten. „Aus der anfäng­ lichen Botschaft, daß die Wissenschaft dem Menschen alle seine wesent­lichen Fragen beant­ worten und ihn somit in die Wahrheit stellen wird“, so bemerkte Fried­rich Tenbruck, „wird nun umgekehrt die neue Lehre, daß nur diejenigen Fragen, welche sich strikt empirisch-lo­ gisch beantworten lassen, überhaupt als zulässige Fragen gelten dürfen.“27 Von dem Versuch, die Verwissenschaftlichung durch Methodologisierung voranzutreiben, wurden so bestimmte Bereiche der Kulturwissenschaften negativ betroffen. Als Ergebnis dieses Prozesses wurden Wertfragen nicht nur für unbedeutend, sondern zu Scheinproblemen erklärt, für welche im Kosmos der strengen Wissenschaft kein Bedarf bestehe.28

III. Demokratie und Wissenschaft Wissenschaft in ihrer heutigen Gestalt ist mit der pluralistischen Demokratie als einer Ordnung der Ungewissheit (oder: des Umgangs mit Ungewissheit) vor allem deshalb kompatibel, weil ihr Wahrheitsanspruch begrenzt ist: Als wahr gilt, was bislang auf der Grundlage anerkannter Regeln und Verfahren nicht widerlegt ist. Die Selbstbeschränkung der Wissenschaft eröffnet der Politik jenen Raum legitimen Dissenses, den Demokratie braucht. Hans Kelsen meint unter anderem deswegen, dass keine andere Staatsform der Wissenschaft so günstig sei wie gerade die Demokratie, denn die Wissenschaft könne nur gedeihen, wenn sie von politischen Einflüssen unabhängig ist.29

1. Vorschnelle Gleichsetzungen Aber ist das nicht ein allzu idealisiertes Bild gleichermaßen von der Demokratie wie von der Wissenschaft? Ist es nicht mitunter gerade die von der Politik der Wissenschaft gegenüber proklamier­te Toleranz, die Politiker in die Lage versetzt, sich Gefälligkeitsgutachten dort zu be­ sorgen, wo jene Art von fungibler Wissenschaft zu Hause ist, die dazu dient, die Durchsetzung von Machtansprüchen zu legitimieren? Nichts diskreditiert die Wissenschaft mehr, als die Füg­ samkeit der unter solchen Voraussetzungen angeheuerten „Experten“; sie sind zumeist korrum­ pierte Erfüllungsgehilfen oder aber politisch voreingenommene Advo­katen ihrer Auftraggeber. Kelsens Position ist dadurch natürlich nicht erschüttert – er würde wohl sagen, dass es 27 Friedrich H. TENBRUCK: Der Fortschritt der Wissenschaft als Trivialisierungsprozeß, in: Ders., Die kultu­ rellen Grundlagen der Gesellschaft. Der Fall der Moderne, Opladen 1989, S. 143 –174, hier S. 169. 28 Natürlich gab es immer Ausnahmen von dieser Regel. Unter den logischen Empiristen sei hier exemplarisch auf  Moritz Schlick, Viktor Kraft und Karl Menger hingewiesen. 29 Vgl. Hans KELSEN: Was ist Gerechtigkeit? (Anm. 24), S. 42 f.

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sich in solchen Fällen nicht um Wissenschaftler handelt, die diese Bezeichnung verdienen. Was die Beziehung von Demokratie und Wissenschaft anlangt, ist aber auch eine nicht korrumpierte und sach­lich fruchtbare Kooperation von Wissenschaft und Repräsentanten der modernen Mehrparteiendemokratie keineswegs immer von Erfolg begleitet. So sind die Möglichkeiten der Einwirkung der Wissenschaft auf die Politik häufig selbst da durch den demokratischen Machtwettbewerb eng begrenzt, wo sie verlässliches Wissen anzubieten hat und die Erkenntnisse der Wissenschaft auch Zustimmung von Seiten gewisser Politiker finden. „Denn in zunehmend mehr Politikbereichen“ verhindere, wie Kielmansegg betont, „der Wettbewerb um Wählerstimmen, dass die politische Debatte über die Problemlagen und die verfügbaren Lösungsoptionen auf einem angesichts des erreichten Wissensstandes angemessenen Rationalitätsniveau“ geführt wird.30

2. Ideologie und Wahrheit Analysen der Beziehung von Wissenschaft und Politik rufen immer wieder die Ideo­ logiekritik auf den Plan, die viele Gesichter hat. Eine ihrer Formen, die nichts mit der Dienst­barkeit parteiischer oder käuflicher Auftragsforscher zu tun hat, tritt besonders deutlich bei der Erörterung der unsere Zivilisation wie die Weltgemeinschaft als Ganzes beschäftigenden Gegenwartsprobleme zutage.31 Das in diesem Zusammenhang relevante Problem der Ideologisierung von Problemlagen hat oft nichts mit bewusster Fälschung zu tun, wohl jedoch mit einer Überwältigung des Könnens und Erkennens durch das mora­ lische Wollen. So wird etwa von zahlreichen Philanthropen, wie respektabel ihre Ge­sinnung auch sein mag, außer Acht gelassen, dass die Demographie der herkömmlichen Form prakti­ zierter Menschenliebe unweigerlich Grenzen setzt. Beispielsweise wird, wenn man kundigen Bevölkerungs­wissenschaftlern glauben kann, die afrikanische Bevölkerung im SubsaharaBereich von heute 900 Millionen auf 2,1 Milliarden im Jahr 2050 steigen. Wenn man die vom Meinungsforschungs­institut Gallup für 2009 ermittelten Daten, denen zufolge sich 38 Prozent der Afrikaner außerhalb Afrikas niederlassen wollen, bis 2050 extra­poliert, so kommt man auf 800 Millionen Menschen, von denen ein großer Teil gewiss Europa im Blick 30 Peter Graf KIELMANSEGG: Die Grammatik der Freiheit (Anm. 11), S. 37. 31 Hier sind insbesondere zu nennen: Probleme der Weltbevölkerungsentwicklung und Migration; der Ver­ sorgung mit Energie, Nahrung und Wasser; der Ökologie; der neuen Qualität des Finanzkapitalismus und der zunehmenden globalen und regionalen sozialökonomischen Ungleichheit; der mittels der neuen Medien ermöglichten Globalisierung der westlichen Massenkultur und der gegen sie gerichteten Restauration reli­ giös-kultureller Einstellungen; der mit dem Aufstieg Chinas zur Weltmacht verbundenen Umschichtung der globalen Machtverhältnisse; schließlich Probleme der mit den neuen ethnisch-kulturellen und politischen Machtverschiebungen einhergehenden Bereitschaft zu nicht nur kalten Kriegen, sondern auch zu heißen sog. „preemptive wars“, also zu Präventivkriegen.

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hätte. Diese könnten dann für die größte Wande­rungsbewegung aller Zeiten sorgen.32 Mas­ senhafte Zuwanderung von Menschen aus Kulturen mit anderen Gewohnheiten und Ein­ stellungen kann aber die Kooperationsfähigkeit mit den Immigranten in einer Gesell­schaft gleichermaßen erodieren wie deren institutionelle Basis, namentlich deren Sozialstaatsmo­ dell. – Ähnlich unbeachtet bleibt im sogenannten öffent­lichen Diskurs die Vorgeschichte der letzten durch den Finanzsektor ausgelösten Krise, obschon durch eine Reihe von Ex­ perten dazu eindrückliche Materialsammlungen und Analy­sen vorgelegt wurden.33 Auch hier lenkt häufig der Moralismus die Kausalanalyse wenn schon nicht in eine falsche Rich­ tung, so doch auf Nebenschauplätze. Im Banne der durchaus berechtigten Kritik an der „Gier“ bestimmter in der Finanzindustrie tätiger Einzelner stehend lässt man dann außer Acht, dass sich nicht nur in den USA, aber dort besonders, gesell­schaftliche Strukturen einer hereditären Ungleichheit herausentwickelten, wie man sie seit dem 19. Jahr­hundert nicht mehr beobachtet hat. Wie sich dadurch Mentalitäten ändern, und mit welchen Folgen, tritt in den Hintergrund einer auf die Krise und ihre offenkundigen Partialursachen bezogenen Forschung. Und doch ist das Wirksamwerden dieser Ursachen ohne eine Bezugnahme auf tiefer liegende notwendige Bedingungen auch sozialpsychologischer Art nicht zu erklären. Die auf die beiden exemplarisch angeführten Fälle bezogene Kritik richtet sich nicht gegen die stets unvermeidliche Selektivität bei der Beschreibung oder Erklärung von Zuständen und Ereignissen der gesellschaftlich-geschicht­lichen Welt, wohl jedoch gegen die Prätention, den in Betracht stehenden Gegenstand, oder doch das „Wesentliche“ an diesem, durch Bezugnahme auf die Moral in den Blick gerückt zu haben. Eine andere, hier nicht näher zu erörternde Art von Ideologie stellt die Nutzung von Wissenschaft zum Zwecke der Rationali­sierung eigener Handlungen im Sinne der morali­schen Selbst­ entlastung dar. Diesem Gebrauch wissenschaftlicher Theorien, der auf eine Minimierung der persönlichen Verantwortung hinausläuft, hat sich vor allem Vilfredo Pareto zugewandt. Bei den von ihm untersuchten Rationalisierungen handelt es sich um Schein-Rechtferti­ gungen im Sinne einer angeblich von der Wissenschaft gedeckten Entlastung von Schuld und Charakterdefekten. Man begegnet ihnen sowohl im kollektiven als auch im individu­ 32 Siehe dazu Gunnar HEINSOHN: Australien, du hast es besser, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. März 2015, S. 12. 33 Vgl. Hans-Werner SINN: Kasino-Kapitalismus. Wie es zur Finanzkrise kam, und was jetzt zu tun ist, 3. Aufl., Berlin 2012; Joseph STIGLITZ: The Price of Inequality. How Today’s Divided Society Endangers Our Future, New York 2012. – So wuchs in den USA, dem Ursprungsort der Finanzkrise, der Finanzsektor von den späten siebziger Jahren bis zum Jahr 2007 spektakulär: Nicht nur verdoppelten die Finanzkonzerne ihren Anteil am Gesamtgewinn, sondern auch die Gehälter im Finanzbereich verdoppelten sich in Bezug auf das Gesamteinkommen. Während das Einkommen der unteren Schichten stationär blieb, stieg das der Mittelschicht um 20 Prozent, und in derselben Zeit verdreifachte das oberste eine Prozent der Gesellschaft seinen Anteil am Nationaleinkommen. Jenem obersten Prozent gehörten im Jahr 2007 40 Prozent des ge­ samten Privatvermögens, während die unteren vier Fünftel zusammen bloß 7 Prozent besaßen.

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ellen Bewusstsein.34 Im Verlauf solcher „wissenschaftlichen“ Selbstdeutungen sind wir, wie Rüdiger Safranski einmal bemerkt, „nichts anderes als soziale Rollen, ökonomische Charak­ termasken, die statisti­schen Kalkülen, Triebprozessen und biologischen Verhaltensschemata unterworfen sind. Solche Wahrnehmungen […] dringen ins Alltagsbewußtsein vor, mit dem Ergebnis, daß man Verantwortung für sein Handeln von sich selbst abwälzen kann: die Ge­ sellschaft, meine frühe Kindheit, meine Natur etcetera sind schuld. Nicht ich.“35

IV. Demokratie, Rationalität und religiöser Fundamentalismus heute 1. Einiges zu Staat und Religion Mit der Autonomie des Politischen, wie sie für die zeitgenössischen liberalen Verfassungs­ staaten charakteristisch ist, kamen die monotheistischen Religionen, welche die Geschichte der letzten 2000 Jahre in Europa und im Vorderen Orient bestimmt haben, für lange Zeit nicht zurande. Die Geschichte der christlichen wie der islamischen Welt, aber auch die des Judentums, seit es den Staat Israel gibt, führt vor Augen, dass der religiöse Wahrheitsmono­ polismus des einen Gottes immer wieder nicht nur mit dem wissenschaftlichen Wahr­ heitsanspruch, sondern auch mit dem Autonomieanspruch der Politik und dem damit verbundenen Postulat einer Trennung von Staat und Kirche kollidierte. Dennoch hat sich die moderne Demokratie in der monotheistischen Welt des Christentums entwickelt und durchgesetzt. Das hat einerseits mit dem Wandel religiöser Vorstellungen zu tun, anderer­ seits auch mit dem Wandel der Demokratie. Sobald die moderne Demokratie ihre Grund­ legung in den Menschenrechten gefunden hatte, setzte sie die Autonomie des Politischen voraus: „In der Sphäre des Politischen müssen Bürger sich als Freie und Gleiche begegnen können, und sie können das nur, wenn diese Sphäre nicht fremdbestimmt ist, insbesondere nicht einem bestimmten Glaubensbekenntnis nachgeordnet. […] Ein Gemeinwesen, das auf die gleichen Freiheitsrechte aller Bürger gegründet ist, muss deshalb das Bürgerrecht vom religiösen Bekenntnis lösen.“36 34 Man kennt Entsprechendes aus der Kriminalsoziologie. So mag beispielsweise ein solchermaßen rationa­ lisierender Sozialdarwinist ein bestimmtes kriminelles Delikt als Ausdruck des für alle Lebewesen bestim­ menden „Kampfes ums Überleben“ deuten, ein Marxist als ein „letztlich“ durch die Widersprüche zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen veranlasstes Geschehen, ein Tiefenpsychologe schließlich als Manifestation eines wegen fehlerhafter Sozialisation nicht rechtzeitig kanalisierten Trieblebens. Eine be­ stimmte Ursache wird in diesen Fällen jeweils als die Ursache, weil das „Wesen“ des in Betracht stehenden Verhaltens betreffend, angesehen. 35 Rüdiger SAFRANSKI: Wieviel Wahrheit braucht der Mensch? Über das Denkbare und das Lebbare, Frank­ furt a. M. 1993, S. 196 f. 36 Peter Graf KIELMANSEGG: Die Grammatik der Freiheit (Anm. 11), S. 32.

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Natürlich muss man sich bewusst machen, dass Religion nicht gleich Religion ist, wie ja auch Demokratie nicht gleich Demokratie ist. Das Christentum hat es in einem lang­ wierigen Vorgang der Interpretation seiner Grundtexte und der konfliktreichen Anpas­ sung zuwege gebracht, sich mit der Autonomie des Politischen zu arrangieren. Erfolgte ursprünglich die Auslegung der Heiligen Schrift im Sinne des strengen Wortlauts, wobei auch solche Inhalte geglaubt werden mussten, die der Erfahrung widersprachen, so wich jener Fundamentalismus im Laufe der Jahrhunderte einer Interpretation, in die zahlrei­ che allegorische, metaphorische und analogisierende Deutungen Eingang fanden, welche den ursprünglich gemeinten Inhalt der Schrift demythologisierten und entzauberten.37 Möglich wurde dies zumindest für das Christentum in seiner weströmischen Ausformung durch spezifische historische Bedingungen, namentlich durch die von Anfang an latente, oftmals auch manifeste Konfrontation von sacerdotium und imperium, von geistlicher und weltlicher Macht. Die für das westeuropäische Verfassungsgeschehen charakteristische Ge­ waltenteilung hat der Emanzipation des Politischen den Weg geebnet. Für die Vertreter des radikalen Islamismus von heute, gleich wie für die Fundamenta­listen anderer Religionszu­ gehörigkeit, gilt das alles nicht. Insbesondere der Islam hat bis heute große Schwierigkeiten mit dem Postulat der Autonomie des Politischen und daher auch mit der Demokratie, die diese Autonomie zur Grundlage hat. Auch wissenschaftliche Wahrheitsansprüche, die der Autonomie des Religiösen entgegenstehen, sind mit dem radikalen Islam nicht vereinbar, gleich wenig wie mit den Lehren von fundamentalistischen Denominationen jüdischer und christlicher Provenienz.

2. Die „westlichen Werte“ und ihre inkonsistente Anwendung Es ist die als moralisches Anything goes verstandene Libertinage des Westens, die vor al­ lem der Lebensform verschiedener religiös orientierter Menschen widerstrebt und heute – neben bestimmten Verheißungen und dem Wunsch nach Rache und Vergeltung für er­ littenes Unrecht und vermeintliche oder reale soziale Ausgrenzung – für Zulauf zum poli­ tisch-religiösen Islamismus sorgt. Derzeit zieht der islamische Fundamentalismus nahezu die gesamte Aufmerksamkeit auf sich, wobei – häufig zu Unrecht – radikale orthodoxe Juden in Israel und gewaltbereite Hindus in Indien nur als Reaktionen auf jenen angese­ hen werden. Der Westen sieht sich heute mit einem Problem konfrontiert, dessen Darstellung sei­ nerzeit, als es der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel Huntington zu analysieren unternahm, als stark übertrieben abgewiegelt wurde: mit dem als „clash of civilizations“ bezeichneten Kulturkonflikt. Huntington hatte den Konflikt zwischen verschiedenen 37 Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 3 des vorliegenden Bandes.

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Kulturkreisen, insbesondere zwischen der westlichen Zivilisation und dem chinesischen sowie dem islamischen Kulturkreis zunächst 1993 in der US-amerikanischen Zeitschrift Foreign Affairs thematisiert. Seine Überlegungen erweiterte er in seinem 1996 erschiene­ nen Werk The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order.38 Darin stellt er die Behauptung auf, dass ein kultureller Antagonismus zwischen einzelnen Zivilisationen be­ stehe, dass dieser Gegensatz die Weltordnung nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes be­ sonders prägen und durch Interventionskriege des Westens, wie den Irak-Krieg von 1991, nur verstärkt werde. Was den Wertkonflikt anlangt, so hat dieser eine seiner Ursachen in der vom Wes­ten mitunter selbst besorgten Delegitimierung seiner Werte im Bewusstsein eines Teils der Weltbevölkerung. So darf mit Fug und Recht danach gefragt werden, wie ernst es der Wes­ten mit den vielbeschworenen „westlichen Werten“ nach dem Angriff auf den Irak in Abu Ghraib, aber auch in Guantánamo genommen hat.39 Den Feinden der offenen Gesellschaft hat die Führungsmacht des Westens durch die Tätigkeit von mit Sonderermittlungsaufgaben ausgestatteten CIA-Agenten in diesen Foltergefängnissen wie auch in Geheimgefängnissen außerhalb der USA (vor allem in Afghanistan, Usbekistan, Ägypten, Libyen, Marokko und Polen) wirkungsvoll in die Hände gearbeitet. Insbeson­ dere hat sie sich mit ihren permanenten Menschenrechts-Beschwörungen unglaubwürdig gemacht.40 Und doch ist der Unterschied zwischen den USA und einer Reihe anderer Länder, einschließlich Chinas und Russlands, nicht zu übersehen: Im einen Fall gibt es eine Opposition, die Berichte über jene Gefängnisse und das in ihnen Geschehene erar­ beiten und veröffentlichen kann, im anderen Fall haben jene, die sich allzu intensiv dafür 38 Samuel P. HUNTINGTON: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1966; dt.: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. Übersetzt von Hol­ ger Fliessbach, München 2002. 39 Es steht dafür, sich die Richtlinien der CIA für die Behandlung „besonders wichtiger Gefangener“ zu Ge­ müte zu führen – ein wahrhaft perverses Dokument bürokratischer Folteranweisungen, das in der jüngsten Geschichte der westlichen Welt nicht seinesgleichen hat. – Siehe dazu den Beitrag von Bernd GREINER: Die Abschaffung der Lager, in: Bettina Greiner, Alan Kramer (Hgg.), Welt der Lager. Zur „Erfolgsgeschich­ te“ einer Institution, Hamburg 2013, S. 328–354. 40 Durch den 6700 Seiten umfassenden Bericht des Geheimdienstausschusses des US-amerikanischen Senats über die Praktiken der CIA vom Dezember 2014, den sogenannten Feinstein-Report, kam, wie Andreas Ross in einem Zeitungsartikel unter dem Titel „Unerwünschte Wahrheiten“ (Anm. 15) darlegte, vieles an den Tag, wovon man schon zuvor in Ansätzen hörte: dass die CIA nach dem 11. September 2001 Gefan­ gene nicht nur durch Praktiken wie Schläge, Kälte und das Erzwingen schmerzhafter Sitz- oder Standposi­ tionen zum Reden zu bringen versuchte, sondern mitunter auch dadurch, dass man Gefangene – einzelne sogar weit über hundertmal – dem waterboarding aussetzte. Wenn aber das Justizministerium der CIA unter ­George W. Bush bescheinigte, dass diese Verhörmethoden nicht einer „brutalen, unmenschlichen Behand­ lung“ gleichkommen, welche durch das Völkerrecht verboten ist, so ist dies nur ein Beleg für die Hypokrisie einer bestimmten Spielart der US-amerikanischen Moralpolitik. Angesichts dieser Vorkommnisse verwun­ dert es nicht, dass, wie sich im Laufe der Untersuchungen der Feinstein-Kommission zeigte, die parlamenta­ rischen Kontrolleure durch CIA-Mitarbeiter ausspioniert wurden.

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interessieren, was eigene Landsleute oder deren Vasallen hinter Kerkermauern getrieben haben, eine reelle Chance, selber dort zu landen.41 Von der offenkundig recht selektiv zur Anwendung kommenden Geltung der Ideale von Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit einmal abgesehen, gilt es, realpolitische Fehlhandlungen des Westens auch noch Jahre nach der Irak-Invasion von 2003 in Betracht zu ziehen, um sich die Bestrebungen zur Formierung einer islamistischen Gegenmacht erklären zu können. Zu denken wäre hier vor allem an die Offensive westlicher Mächte gegen Libyen im Jahr 2011, als ein Diktator unter Hinweis auf höchst dubiose Gründe beseitigt wurde, dem noch im Jahr zuvor bei seinen bizarren Auftritten in Rom und Paris vom italienischen Ministerpräsidenten und vom französischen Staatspräsidenten gerade­ zu gehuldigt wurde. Hier, wie zuvor schon im Irak und in Syrien, waren es vor allem der sogenannte „Islamische Staat“ und Al Quaida im Maghreb, die das Machtvakuum in dem seit jeher von Stammeskonflikten geprägten Land nutzten. Je mehr westliche Interven­ tionen in den Bereich der islamischen Welt erfolgten und je heftiger hier das Gefühl der Schmach und der Demütigung gegenüber dem Westen und seinem israelischen Vorposten wurde, umso mehr beharrte jene auf der Eigenart ihrer Lebensform. Reagierte sie einst un­ ter Nasser aggressiv-nationalistisch, so einige Zeit nach dem zweiten Irak-Krieg im Sinne des in moralischer und kultureller Hinsicht atavistischen, aber übernational wirksamen Fundamentalismus. Damit geht dann häufig nicht nur eine pauschale Denunziation der Menschenrechte als Instrumente des westlichen Imperialismus einher, sondern auch Ratio­ nalitätsfeindlichkeit.

41 Nichtsdestoweniger muss danach gefragt werden, wie ernst es der Westen mit seinen in unzähligen politi­ schen Erklärungen beschworenen Werten meint. Wie verhält es sich mit dem Ideal der Menschenwürde und mit den Menschenrechten in Anbetracht der Bestrebungen, Demokratie und Menschenrechte gemeinsam mit Mächten herbeizuführen, die, wie Saudi-Arabien, selber die Menschenrechte mit Füßen treten? Und wie ist es beispielsweise mit dem stets vollmundig proklamierten Grundrecht auf Chancengleichheit in einer Zeit vererbbarer Ungleichheit bei einer gleichzeitig nach oben erfolgten massiven Umverteilung von Besitz und Einkommen bestellt? Was besagt beispielsweise noch die Verkündung von „inalienable rights“ in der Verfassung der USA angesichts der weitgehend nicht mehr bestehenden Chancengleichheit und angesichts geradezu obs­zöner Spitzeneinkommen mit fehlendem Gemeinwohlbezug, wofür die Finanzindustrie derzeit reichlich Material liefert? Laut Wall Street Journal hat der US-amerikanische Hedge-Fonds-Manager John Paulson im Jahr 2010 einen Verdienst von 5 Milliarden Dollar und damit den größten Gehaltsscheck der Geschichte bekommen. (Siehe Wall Street Journal vom 28. Jänner 2011: „Trader Racks Up a Second Epic Gain“.) Im Jahr 2013 verdiente laut der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 7. Mai 2014 am meisten Da­ vid Tepper, der Gründer des Hedgefonds Appaloosa Management, nämlich 3,5 Milliarden Dollar.

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3. Die Rationalität und deren Subordination unter den Glauben Bestimmte, auf die Wissenschaft gerichtete Hoffnungen, die sich angesichts der allenthal­ ben feststellbaren Kulturkonflikte einstellen, sind insofern trügerisch, als wissenschaftliche Wahrheit nicht die Grundlage für religiöse oder moralische Wahrheitsansprüche darstellt.42 Die Hauptursache für den clash of civilizations liegt daher nicht, wie manche meinen, in ei­ ner mangelhaften Vermittlung wissenschaftlichen Wissens begründet, sondern vor allem in der gefühlten Divergenz der kulturellen Einstellungen und Lebensformen, wobei die Aver­ sion gegenüber bestimmten Bereichen der als „westlich“ und „religionsfeindlich“ apostro­ phierten Rationalität eine besondere Rolle spielt. Ethnisch-kulturelle Konflikte waren im Kern immer Wertkonflikte. Als solche gewinnen sie ihre eigentliche Schärfe dann, wenn auch der Wert der wissenschaftlichen Wahrheit zur Disposition gestellt und in gewissem Maße religiös delegitimiert wird. Einem umfassenden Rationalismus, der sich sowohl auf logisch-naturwissenschaft­liche als auch auf kulturwissenschaftliche Inhalte bezieht, liegt, wie Karl Popper meint, das Prin­ zip zugrunde, „daß jede Annahme zu verwerfen ist, die weder ein Argument noch die Er­ fahrung unterstützen kann“.43 Jede Argumentation habe die grundsätzliche Entscheidung zur Rationalität zur Voraussetzung, die nicht wiederum selbst rational begründbar sei. Dem entspreche es, daß „nur Menschen, die bereit sind, Argumente oder Erfahrungen in Betracht zu ziehen (und die daher bereits die rationalistische Einstellung angenommen ha­ ben), […] von ihnen beeindruckt werden. Das heißt, daß man zuerst eine rationalistische Einstellung annehmen muß und daß erst dann Argumente oder Erfahrungen Beachtung finden werden; woraus folgt, daß jene Einstellung nicht selbst auf Argumente und Erfah­ rungen gegründet werden kann. […] Was immer es auch sein mag – wir können es einen irrationalen Glauben an die Vernunft nennen.“44 Wenn man sich der Rationalität verweigert, verweigert man sich auch einer bestimmten Art von Moral. Obwohl es zum Beispiel nicht eine wissenschaftliche Basis der Moral gibt, gibt es doch eine moralische Basis der wissenschaftlichen Rationalität. So führt nach Pop­ per die „Idee der Unparteilichkeit zur Idee der Verantwortlichkeit; wir haben nicht nur auf Argumente zu hören, sondern wir haben auch eine Pflicht, zu antworten, zu reagieren, so­ 42 Die Annahme, zutreffende Erkenntnis verbürge richtiges moralisches Handeln, entspricht einer bestimmten Auslegung der platonischen Überzeugung, derzufolge unmoralisches (oder moralisch unrichtiges) Handeln einem Mangel an Wissen entspringe, d. h. dem nicht vorhandenen oder mangelhaften Wissen um Voraus­ setzungen, Ziele und Konsequenzen einer Handlung. Moralisch wertvolles Handeln hat aber nicht not­ wendig mit hoch entwickelten kognitiven Kompetenzen zu tun, gleich wenig wie unmoralisches Handeln notwendig mit Unwissen oder mangelhafter kognitiver Kompetenz verknüpft ist. Empathie und Mitgefühl bzw. deren Fehlen zählen hier gewiß mehr. 43 Karl Raimund POPPER: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Zweiter Band (Anm.18), S. 283. 44 Ebd., S. 283 f.

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bald andere durch unsere Handlungen beeinflußt werden. Schließlich ist der Rationalismus auf diese Weise mit der Erkenntnis der Notwendigkeit sozialer Institutionen verbunden, die die Freiheit der Kritik, die Freiheit des Denkens und damit die Freiheit des Menschen schützen.“ 45 Wer die moralische Basis der wissenschaftlichen Rationalität ablehnt, geht im Regelfall auch von der grundsätzlichen Überlegenheit der eigenen Person, Rasse, Klasse oder Religionsgemeinschaft gegenüber anderen Individuen und Gruppen und deren Über­ zeugungen aus. Dass Einwände der Wissenschaft verworfen werden, verwundert also nicht weiter. Denn die Wissenschaft kann beispielsweise – neben der Analyse bestimmter univer­ saler menschlicher Züge 46 – mögliche Verknüpfungen rassischer, ethnischer oder religiöser Merkmale mit intellektuellen und moralischen Eigenschaften erforschen und sachlich un­ haltbare Behauptungen über behauptete Verknüpfungen zurückweisen. Überdies kann sie untersuchen, aufgrund welcher Umstände sich die Menschen wirklicher oder eingebildeter Ungleichheiten bewusst werden, zum Beispiel als Angehörige einer bestimmten Religion im Verhältnis zu den Angehörigen anderer religiöser Gemeinschaften.47 Wo aber die Rolle der diskursiven Vernunft denunziert oder überhaupt geleugnet wird, ist es müßig, darauf hinzuweisen, was die Wissenschaft an anthropologischen, religionswissenschaftlichen oder wissenssoziologischen Erklärungen beizubringen vermag. Denn diese Analysen könnten zur Relativierung von Glaubenspositionen führen, während die Ablehnung solcher em­ pirischen Erkenntnisse die wahrheitsgewisse Ausübung der Kontrollgewalt über die Dis­ sidenten begünstigt. Unter Fundamentalisten sind Argumente nicht mehr verhandelbar, der Wert der Wahrheit ist preisgegeben, sofern diese gewissen Glaubensinhalten entgegen­ steht.48 Daher wird auch von ihnen der Rationalität, sofern sie nicht allein im Sinne der technischen Rationalität verstanden wird, neben dem religiös-politischen kein ebenbürti­ ger Wahrheitsanspruch eingeräumt.

45 Ebd., S. 293 f. 46 So zeigt beispielsweise die empirische Beobachtung, dass wir Menschen nicht nur zwischen Gut und Böse unterscheiden – ungeachtet der Tatsache, was wir zunächst jeweils darunter verstehen –, sondern dass wir in der Regel auch ein Ideal darin erblicken, gleiche Fälle gleich zu behandeln. 47 Vgl. in diesem Zusammenhang Arnold BRECHT: Politische Theorie (Anm. 4), Kapitel VIII, v. a. S. 367–376. 48 Der Versuch, Menschen zu überzeugen, die gegen Argumente immun sind, ist absurd. Dies entbindet uns aber nicht der Aufgabe, danach zu fragen, welche Bedingungen, Ursachen und Gründe dafür maßgebend waren, dass rationalitätsfeindliche Bewegungen sosehr an Zulauf gewinnen konnten, wie dies derzeit in be­ stimmten Teilen der Welt wieder der Fall ist. Was den sogenannten „Islamischen Staat“ betrifft, so haben einige westliche Länder diese Frage selbstkritisch auch an sich zu richten. Diese sind, nach allem, was wir derzeit wissen, zwar nicht an dessen Ideologie schuld, wohl aber trifft sie eine Mitschuld daran, dass diese Terrormiliz entstehen und dass deren Ideologie so wirksam werden konnte.

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Wahrheit und pluralistische Demokratie

Schlussbemerkung Man kann verschiedenes Irrationale zu erklären versuchen, man sollte es aber deshalb nicht schon aus einer vermeintlich liberalen Gesinnung heraus rechtfertigen. Werthaltungen ( judgmental attitudes ) und Wertentscheidungen dort zu verwerfen, wo es – von anderem abgesehen – um die Sicherung der Möglichkeiten des Arguments angesichts einer sie an­ geblich überragenden Suprematie des Glaubens geht, kommt einer Selbstliquidierung der Liberalität gleich. Religiös-politischen Fundamentalismen gegenüber sind Überzeugungsversuche zu­ meist fehl am Platz. Doch jene veranlassen immerhin unsere weitgehend hedonistische und zu­gleich blasiert gewordene Zivilisation, sich darauf zu besinnen, was ihr geistiges und kulturelles Erbe ausmacht. Zu dessen Inhalten zählen unter anderem jene Grundrechte, die sich in einem langen konfliktreichen Prozess zunächst in der europäischen Geschichte herausentwickelt haben, dann aber auch in weiten Bereichen der außereuropäischen Welt als Richtwerte politischen Handelns Anerkennung fanden. Es sind dies vor allem Men­ schenwürde, Freiheit, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaat.49 Deren Verletzung durch Fundamentalisten – welcher Provenienz auch immer – verlangt uns allen eine Ent­ scheidung ab, die wir selbst zu vollziehen haben und die uns von keiner Entscheidungs­ agentur abgenommen wird. Es ist nötig, auf die vielfältigen Versuche, politische, soziale und kulturelle Grundrechte einzuschränken, zu reagieren und nicht so lange zu warten, bis uns eine Wissenschaft den Beweis für die „Wahrheit“ der unser Handeln bestimmenden Leitwerte gewissermaßen more geometrico erbracht hat. Einen solchen Beweis gibt es näm­ lich nicht.

49 Siehe dazu exemplarisch Robert ALEXY: Theorie der Grundrechte, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1994.

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15. KULTURERBE Vorbemerkung Wenn Max Weber es als Ziel seiner „verstehenden Soziologie“ ansah, die „Kulturbedeutung“ von Handlungen und von Ereignissen der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt zu ermitteln, so erinnert dies an die später von Johan Huizinga vorgenommene Charakterisierung der Historie. Huizinga bestimmte diese als die „geistige Form, in der eine Kultur sich Rechenschaft über ihre Vergangenheit ablegt“.1 Historiker und Vertreter der historischen Sozialwissenschaften sind in der Lage, unsere Augen für die Wirksamkeit der Ideen zu öffnen, aber auch für deren Angewiesenheit auf die Interessen der sie tragenden gesellschaftlichen Kräfte. So fragt der Althistoriker Christian Meier in einem Aufsatz über die Wissenschaft des Historikers und die Verantwortung des Zeitgenossen: „Wie kommt es überhaupt dazu, daß eine Gesellschaft durch Gedanken beeinflußt wird?“, und er stellt dazu fest: „Das hängt […] nicht einfach von den Gedanken ab, sondern wesentlich auch davon, in welcher Form sie in welche Situation treffen. Vielleicht nimmt eine Gesellschaft überhaupt nur an, wonach ihr der Sinn steht. Im Ganzen und in ihren Teilen. Vielleicht sind viele durchaus richtige Analysen und Prognosen für sie notwendig unglaublich. Vielleicht läßt sie sich wirklich nur von dem überzeugen, der sagt, wozu sie schon neigt.“2 Die Frage, die sich hier stellt, ist nicht, wie wir es anstellen sollen, uns dem vorwaltenden Common sense anzupassen, sondern wie es dazu kommt, daß sich dieser auf eine bestimmte Weise herausbildet und sich die Gesellschaft ihm zuneigt. „Und wenn wir das nicht wissen“, so fragt Christian Meier rhetorisch, „dürfen wir es schon aufgeben, diese Neigungen zu beeinflussen zu versuchen?“ Er plädiert dafür, die möglichen Leistungen seiner eigenen Disziplin, der Geschichte, ernst zu nehmen, mindestens jedenfalls so, als ob eine Chance zur Wirkung bestünde.

1 Johan HUIZINGA: Geschichte und Kultur. Gesammelte Aufsätze. Hrsg. u. eingel. v. K. Köster, Stuttgart 1954, S. 13. 2 Christian MEIER: Die Wissenschaft des Historikers und die Verantwortung des Zeitgenossen 1984, in: Verantwortung und Ethik in der Wissenschaft. Symposium der Max-Planck-Gesellschaft Schloß Ringberg/ Tegernsee, Mai 1984. Hrsg. von der Generalverwaltung der Max-Planck-Gesellschaft München, Stuttgart 1985, S. 226.

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15. KULTURERBE

Die Kulturwissenschaften haben einen bedeutenden Einfluss darauf genommen, welche „Gedanken“ und „Ideen“, also welche geistigen Bestände im Gedächtnis einer Kultur aufgehoben oder aber vergessen werden.3 Insofern sind sie wichtige Agenturen der Bewahrung des kulturellen Erbes sowie der wissenschaftlichen Befassung mit diesem. Doch ohne den politischen Willen, einem solchen Erbe im zeitgenössischen crossover der Kulturen einen Eigenwert und eine in gewissem Umfang gemeinschafts­stiftende Orientierungsfunktion einzuräumen, verlören sich die Kulturwissenschaften wohl im Wechsel der Vorläufigkeiten.

3 Vgl. ebd.

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Geschichtlicher Wandel, kulturelles Erbe und die Funktion der Kulturwissenschaften „Wissenschaft kann Erbe nicht schaffen, nicht normieren, sie würde anders zur Magd der Ideologien. Aber sie kann es bewahren, reflektieren, präsentieren. […] Geschichte als Wissenschaft hat sich gegen die Tradition durchgesetzt – das Alte als das Gute –, aber sie teilt nicht die Vermutung der Anti-Tradition, das Neue sei das Bessere. Hier steht sie quer.“ Thomas Nipperdey, Nachdenken über die deutsche Geschichte. Essays, München 1986

Einleitung Werte, die gelten und gelten sollen, sind nach Heinrich Rickert für die Kultur konstitutiv, und die damit befassten Disziplinen heißen bei ihm „Kulturwissenschaften“. Rickert führt aus, dass die Kulturwissenschaften nicht einfach Daten akkumulieren, sondern stets auch Werte voraussetzen, worauf hin sie bezogen sind. Kaum gelungen ist ihm der Nachweis jener vermeintlich a priori geltenden Werte, auf die sich sein Einspruch gegen den – wie er findet – nihilistischen Historismus gründet. Viele Menschen standen zur Zeit des Fin de siècle unter dem Eindruck der durch die neu entwickelten Kommunikationsmedien beschleunigten Informationen über fremde Völker und Kulturen sowie des dadurch ausgelösten historisch-kulturellen Relativismus. Auf der Suche nach einem sicheren Fundament, nach etwas, das Halt bietet, meinten um circa 1900 Vertreter des Neukantianismus und der phänomenologischen Wertlehre, dieses Halt Bie­tende gewissermaßen oberhalb der sich stochastisch vollziehenden menschlichen Handlungen und geschichtlichen Ereignisse zu finden, nämlich in den überhistorischen Ideen des transzendentalen Bewusstseins bzw. in der Sphäre von absolut geltenden Werten. Andere glaubten zur gleichen Zeit an einen Nachweis von etwas Konstantem und Unverbrüch­lichem unterhalb der chaotisch bewegten gesellschaftlich-geschichtlichen Welt. Was jenen die stabilisierenden Ideen und Werte waren, galt diesen lediglich als die Sublimierung oder die Kompensation von etwas Wesentlicherem; für die Marxisten waren dies die Produktionsverhältnisse, für Darwin das Überleben des Bestangepassten im „struggle for life“, für Nietzsche der Wille zur Macht, für Freud elementare Triebe und Bedürfnisse.4 4 Vgl. dazu Gunter SCHOLTZ: Zum Strukturwandel in den Grundlagen kulturwissenschaftlichen Denkens (1880 –1945), in: Geschichtsdiskurs, Bd. 4: Krisenbewußtsein, Katastrophenerfahrungen und Innovationen 1880 –1945. Hrsg. von Wolfgang Küttler, Jörn Rüsen, Ernst Schulin, Frankfurt a. M. 1997, S. 19 –50, hier S. 38 f.

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15. KULTURERBE

I. Zur geschichtlichen Dynamik von heute und zum Wandel der Kulturwissenschaften Aktuelle Entwicklungen wie eine neue Phase der Automatisierung und der damit einhergehenden Arbeitslosigkeit, die massive Entfesselung der kapitalistischen Kulturindustrie, aber vor allem die oft ziemlich euphemistisch als ethnisch-kulturelle Begegnungen bezeichneten Migrationstendenzen bewirkten einen vermehrten Schwund sowohl der herkömmlichen, durch Sitte und Gewohnheit stabilisierten Wert­orientierungen. Für uns Heutige wird insbesondere die Demographie im gleichen Sinne zum „Schicksal“, wie dies für die Generation Napoleons die Politik und die Generation Walther Rathenaus die Wirtschaft war. Die kulturellen Folgen des demographischen Wandels provozieren Fragen danach, was noch als verbindlich gelten und daher als gültiges Erbe bewahrt werden soll. Es scheint, als würden die Regierungen verschiede­ner Länder durch die mit der Globalisierung verbundenen Ent­ wicklungen oft zu einer Geschwindigkeit in ihren Anpassungsreaktionen veranlasst, die dem Erfordernis einer gründlichen Situa­tionsanalyse keineswegs Rechnung trägt. Wahrscheinlich werden es abermals, wie schon zur Zeit des Sputnik-Schocks, als die USA ihr gesamtes Bildungs­we­sen einer Generalrevision unterzogen, Gefühle der Unsicherheit und der Sorge angesichts des befürchteten Machtverlustes sein, die auch ein Umdenken in Bezug auf kulturwissenschaftliche Belange bewirken. Dass immerhin die herrschaftswissenschaftliche Funktion kulturwissenschaft­lichen Wissens zunehmend deutlicher erkannt und anerkannt wird, be­legen die in den letzten Jahren intensivierten Forschungen im Bereich der Demographie und der Analyse ethnisch-kultureller Konflikte; auf einige solcher aktuellen Themen wurde bereits in den Ausführungen zu den Kulturwissenschaften, am Schluss von Kapitel 2, Bezug genommen. Anders ist es um die bildungswissenschaftliche Funktion der Kulturwissenschaften be­ stellt. Zwar ist die anhaltende Begeisterung für den Museums- und Konzerttourismus nicht zu übersehen,5 doch dieser Tatsache korrespondiert keineswegs immer ein gleichsinniges Interesse der maßgeblichen Vertreter der Politik, die der Kultur und den Kulturwissenschaften oft erst dann etwas abgewinnen können, wenn diese einen Gewinn abwerfen – vorrangig über den Städte-, Museums- und Konzerttourismus. Die Haltung der politischen Klasse war nicht immer so, muss auch nicht immer so bleiben. Als Preußen durch Napoleon erledigt schien, haben die Geisteswissenschaften politisch nicht nur zu seiner Erneuerung beigesteuert, weil der Staat sie zur freien Bildung wie zur geistigen Deutung der Lage ermunterte; 5 Natürlich gilt es hier, seine Begeisterung unter Kontrolle zu halten. Denn wie befand bereits Ludwig Marcuse ? „Es kommt nicht darauf an, wieviel Millionen durch ein Museum geschleust werden, sondern in welchem Zustand sie aus ihm herausfließen. Man kann ganz gewiß eine Statistik des Kulturverbrauchs anlegen, aber nur schwer die Unsumme von Gleichgültigkeit feststellen, die sich hinter den schimmernden Zahlen verbirgt.“ – Ludwig MARCUSE: Argumente und Rezepte. Ein Wörter-Buch für Zeitgenossen, Zürich 1973, S. 71.

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Geschichtlicher Wandel und kulturelles Erbe – Zur Funktion der Kulturwissenschaften

sie haben sich neben den bahnbrechenden Weiterentwicklungen der Naturwissenschaften zum revolutionären Ereignis des 19. Jahrhunderts entwi­ckelt. Im Hintergrund der Geisteswissenschaften und der historischen Sozialwissenschaften standen damals Politiker, die sich selbst geistig oder kulturell gefordert fanden. Heute findet man ein derartiges Bedürfnis, wie man es in Europa etwa in den erst vor wenigen Jahrzehnten politisch emanzipierten baltischen Ländern feststellen kann, vor allem in Asien am Werk, wo in zum Teil groß angelegten Gemeinschaftsarbeiten die Kultur-, Ideen- und Institutionengeschichte ganzer Nationen neu geschrieben wird, so wie das einst die europäischen Mächte mit Rücksicht auf ihre nationalen Traditionen auch taten. Insoweit hängt, wie Friedrich Tenbruck einmal bemerkte, das, was die Geisteswissenschaften sind, vom Verständnis der öffentlichen Mächte für ihre Bedeutung ab: „Wo der Staat die Geisteswissenschaften nicht fordert, wo die Politik sie für überflüssig hält, ihrer jedenfalls selbst nicht bedarf, wo man nicht mehr weiß, daß dem Staatsmann auch und gerade heute die Aufgabe der kulturellen Selbstbehauptung gestellt ist, da ziehen sich die Geisteswissenschaften auf Fachaufgaben zurück.“ 6 Wie reagieren nun angesichts des für die Kulturwissenschaften generell bestehenden Erfordernisses, ihren öffentlichen Nutzen allgemein sichtbar unter Beweis zu stellen, einige ihrer Vertreter? Sie aura­tisieren, wie Jürgen Kaube treffend feststellt, „ihre Forschungen in großartigen Titeln, die Umbrüche, völlig neue Sichtweisen sowie den Bedarf signalisieren, alles noch einmal zu lesen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß dabei etwas herauskommt. Die Leistung der Mode in den Geisteswissenschaften besteht aber vor allem darin, daß etwas herein kommt: Drittmittel, Umbruchsgefühle, Kollektivbewußtsein.“7 Die von Gesichts­punkten technischer oder ökonomischer Innovationen geleiteten Ansinnen von wissenschafts- und kulturpolitischer Seite lösen zudem an Universitäten einen zweifelhaften Trend zu „Neuem“ aus, der in den verschiedenartigsten „turns“ sowie in Präfixen und Adjektiven wie „Post-“, „Neo-“ oder „New“ Ausdruck findet, welche der Selbst­ auszeichnung im Sinne eines Originalitätsnachweises dienlich sein sollen. Unter dieser Voraussetzung können sich daher bestimmte Kulturwissenschaftler so gut wie alles als denk­baren Gegenstand ihrer Deutungen vorstellen, und zwar auch beliebiges Alte, das einfach „neu perspektiviert“ wird. Doch keine Praxis, die nicht auch ihre Ideologie hat, und so wird die Unruhe der Gesellschaft auch die Unruhe der Disziplin rechtfertigen. Tatsächlich ist ja in der gesell­ schaftlich-geschichtlichen Welt von heute der Slogan „Vielfalt statt Einfalt“ im Schwange – manche verwenden statt „Vielfalt“ gerne das US-amerikanische Schlagwort der „diversity“, das Äquivalent der oft als Beliebigkeit missverstandenen „Pluralität“ in den Wissen6 Friedrich H. TENBRUCK: Was sind und was sollen die Geisteswissenschaften heute?, in: Ders., Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. Der Fall der Moderne, Opladen 1989, S. 175 –186, hier S. 186. 7 Jürgen KAUBE: Was die Mode streng geteilt, in: Ders., Im Reformhaus. Zur Krise des Bildungssystems, Springe 2015, S. 133 –143, hier S. 143.

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15. KULTURERBE

schaften. Unklar bleibt zumeist, was das Eine ist, das sich im Sinne des – offensichtlich für Belange der Formierung moderner Gesellschaften als vorbildlich angesehenen – Wappen­ spruchs im Hoheitszeichen der Vereinigten Staaten: „E pluribus unum“, aus der Viel­heit von Ethnien, religiösen Überzeugungen, Weltanschauungen, sexuellen Orientierungen und anderen „Identitäten“ ergeben soll. „Vielfalt“ als moralisches Gebot und als gesellschaftliches Prinzip wird geradezu zur Sinnstiftung in einer Zeit, da die Vertreter des politischen Libe­ralismus an die Grenze ihrer axiologischen Selbstentleerung stoßen, nachdem ihnen ihr Feind, der Totalitarismus, abhanden gekommen ist. Allein das Korsett der Menschen­rechte, so scheint es, verhindert bei einigen zeitgenössischen Vertretern des Libe­ ralismus die totale Beliebigkeit und Indifferenz im Wertbereich. Wie die Gesellschaft der Gegenwart, so sind auch ihre Begriffe von Kultur und Kultur­ wissenschaft fragmentiert. Hier gilt: „E pluribus quicquam“ – Aus vielem irgendwas. Besonders deutlich zeigt sich dies an der Verabschiedung des als „eng“ bezeichneten normativen Kulturbegriffs, wie er beispielsweise noch für Max Weber oder Georg Simmel charakteristisch war, zugunsten eines „erweiterten“ Begriffs von Kultur. Konkret besagt dies, dass die Kulturwissenschaften den ethnologischen Kulturbegriff, wie er exem­plarisch von dem Sozialanthropologen Edward B. Tylor und dem Kulturanthropologen Franz Boas vertreten worden war, aufgriffen und nun alles zur Kultur erklärten, was dem Denken und Handeln von Menschen entsprungen ist. Zugleich damit übernahmen sie aber das ethnologische Paradigma des kulturrelativistischen Historismus, die ­Doktrin der grundsätz­ lichen Gleichwertigkeit der menschlichen Kulturen. Damit galt das Hauptaugen­merk der Kulturwissenschaften nicht mehr den Objektivationen des morali­schen und künst­ lerischen Geschehens, die einen Geltungsanspruch über die Gruppe ihrer Träger h ­ inaus geltend machten, sondern den gesellschaftlichen Gruppen als ihrem Ursprung: „Denn parallel zum Abbau der normativen Standards der Objektivationen wuchsen die normativen Anforderungen an den Umgang mit den Gruppen, als deren kultureller Ausdruck diese Objektivationen galten. Während ‚kulturelles Engagement‘ als einseitig bewertende Stellungnahme zu Objektivationen nun als Verlust der ‚Wertfreiheit‘ von Wissenschaft gilt, ist das politische Bekenntnis vornehmlich zu den Befreiungszielen einzelner sozialer Gruppen (‚gender‘, ‚class‘, ‚post colonial‘ etc.) nun das Selektionsmerkmal, mit Hilfe dessen die Geltungsansprüche von Objektivationen begründet werden.“ 8 Diese Verlagerung der Normativität von den Objektivationen auf das Gesellschaftliche ist die Voraussetzung für die in den Kulturwissenschaften wirksame Normativität des egali­ tären Begriffs von Kultur. Kennzeichnend für dessen Akzeptanz sind soziale Bewegungen wie der Feminismus, die Unterschichtenkultur, der Postkolonialismus und dergleichen. Durchaus konsequent wird in der Folge diese Vielheit, die sich nicht zur Einheit zusam8 Clemens ALBRECHT: „Die Kunst Rembrandts, nicht die eines beliebigen Stümpers“. Georg Simmel als Philosoph der repräsentativen Kultur, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 9 (2015), S. 23 – 40, hier S. 39.

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Geschichtlicher Wandel und kulturelles Erbe – Zur Funktion der Kulturwissenschaften

menschließt, nicht als Verwirrung oder als Defizit verstanden, sondern als Gewinn einer neuen Pluralität, die Individualisierung und Emanzipation ermögliche. Nach Clemens Albrecht besteht die kultursoziologische Pointe dieser Verschiebungen in der Egalisierung der Kultur bei gleichzeitiger Diversifizierung des sozialen Raums: „Alles ist Zeichen, damit die Identitätsarbeit sozialer Gruppen Anerkennung finden kann.“ 9 Exemplarisch zeige sich dies in einem gewandelten Umgang mit klassischen Texten: „Versuche, deren inhärente Kulturbedeutung herauszuarbeiten oder zu begründen, verblassen als konkrete Leseanforderung vor der Fülle des medial Wissenswerten aus der Gegenwart. […] Alles ist Kultur, aber hat nur Bedeutung, insofern es performativer Parameter einer sozial relevanten Gruppe ist.“10 Was dies für die Tradition und die Berücksichtigung des historischen Erbes in einer von Fortschrittseifer, Originalitätsbestreben und Marketing geprägten Zeit besagt, ist offenkundig. Wo die Politik sich vornehmlich als Administrationsagentur einer um „Neues“ und um „Innovation“ bemühten Wirtschaft versteht und Altes immer mehr in den Rang des „Vorgestrigen“ und „Reaktionären“ rückt, ist auch für die Kulturwissenschaften eine neue Zeit angebrochen. Die vielfach zu cultural studies gewandelten Kulturwissenschaften mit ihren mannigfachen „post“-Positionen („post-national“, „post-human“, „postkolonial“, „post-modern“ etc.) tragen dem Rechnung: sie verabscheuen es, nicht auf der Höhe der Zeit zu sein, also hinter dem bereits Denkmöglichen zurückzubleiben. Gleiches gilt für die ständigen „turns“ – sie drehen die Dinge wie im Kaleidoskop von „Perspektive“ zu „Perspektive“, aber am liebsten sich mit ihnen zusammen gleich ins Futurum. Weder für das Verständnis von Kultur, noch für die Kulturwissenschaften ist diese Ent­ wicklung ein Gewinn. Auf längere Sicht dürfte sie auch für jene Art von Politik Folgen zeitigen, deren Vertreter blind geworden sind für die außerökonomischen, nämlich kulturellen Grundlagen jener Wirtschaft, deren Adoration sie betreiben. Und was den reichlich oberflächlichen Umgang der Politik mit „Kultur“ in Europa am Beginn einer – wenn auch nicht im streng sozioethnischen Sinn zu verstehenden – Völkerwanderung anlangt, so stellt sich insbesondere die Frage, für wie attraktiv man außer den für universell gültig gehaltenen (wenn auch interpretationsbedürftigen) Menschenrechten das hält, was Europas in Religion, Moral und Kunst gegründete Lebensformen11 ausmacht, und ob es aus Sicht jener Politik überhaupt noch vertretbar erscheint, die Zuwanderer an diese zu akkulturie­ ren.

9 Ebd., S. 40. 10 Ebd., S. 39. 11 Siehe dazu Wolfgang REINHARD: Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, 2. Aufl., München 2006.

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15. KULTURERBE

II. Massenimmigration, Toleranz und die Kompatibilität heterogener Denkweisen und Lebensformen Die oft durch kriegerische Konflikte bewirkte und immer wieder auch mit Tod und Leid verbundene Masseneinwanderung nach Europa, die im 21. Jahrhundert erst richtig begonnen hat, konfrontiert die vergleichsweise reichen europäi­schen Staaten mit Problemen, von denen sich nur mit Mühe behaupten lässt, sie wären nicht schon seit langem vorhersehbar gewesen. Ignoriert wurde für geraume Zeit auch der für den Erwerb des Asylantenstatus wesentliche Unterschied zwischen Flüchtlingen, die Anspruch auf Asyl haben, und Migranten, die sich nach den Ein- und Zuwanderungsbestimmungen des jeweiligen Ziellandes und der dort bestehenden Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt zu richten haben. Die nach Dauer und Umfang nicht genau einzuschätzende Wanderungsbewegung löst Sorgen bezüglich der ökonomischen, sozialen und politischen Stabilität sowie der kulturellen Identität der von ihr betroffenen europäischen Staaten aus. Immer deutlicher zeigt sich, dass nicht allein die Einwanderung sogenannter Wirtschaftsflüchtlinge in das europäische Sozialsystem, sondern längerfristig vor allem die Rea­lisierbarkeit des Schutzes von Flüchtlingen im eigentlichen Sinne zum gravierenden Problem wird – nicht nur in Anbetracht der wachsenden Ablehnung, die ihnen in jenen Ländern entgegenschlägt, wo sie um Aufnahme ersuchen. Es stellt sich nämlich die Frage, für wie viele Menschen und für wie viele Jahre sich eine Zuwanderung nach Europa selbst für den Fall sicherstellen lässt, dass es sich bei den Immigranten ausschließlich um Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 handelt. Es ist anzunehmen, dass zum Beispiel die Immigration aus dem an blutigen Konflikten schon jetzt nicht armen Afrika, mitbedingt durch das rasche Bevölkerungswachstum, noch zunehmen wird. Umfragen des Meinungsforschungsinstitutes Gallup haben ergeben, dass aus den Ländern südlich der Sahara durchschnittlich ungefähr ein Viertel der Bevölkerung gerne auswandern würde, was einer Anzahl von 300 bis 400 Millionen Menschen entspricht. In Asien sind es durchschnittlich sechs Prozent, die auswandern möchten, sodass sich die Zahl der Wanderungswilligen auf der Welt mit ungefähr 600 Millionen beziffern lässt. Die Zahl von derzeit weltweit ca. 60 Millionen Flüchtlingen wird sich wohl, da man auch in Zukunft blutige Konflikte in Rechnung zu stellen hat, noch steigern. Eine grenzenlose Ausdehnung des moralischen Verant­wortungshorizontes ist vor dem Hintergrund eines solchen Befundes nicht möglich. Gewiss hätte eine vorausschauende Politik, an der es in der Europäischen Union leider fehlt, das von namhaften Demographen seit langem erkannte Problem schon viel früher angepackt. „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, stellte Carl Schmitt einmal fest. In der Europäischen Union hat man sich bislang geweigert, auch nur die Möglichkeit eines Notstandes ernsthaft zu erwägen, zumal wichtige Institutionen in einigen ihrer

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Geschichtlicher Wandel und kulturelles Erbe – Zur Funktion der Kulturwissenschaften

Mitgliedstaaten – bestimmte Parteien, aber auch Kirchen12 – selbst eine länger dauernde Massenimmigration kaum als einen solchen bezeichnen würden. Wenn man jedoch eine anhaltende millionenfache Einwanderung als eine solche Notstandslage anerkennt, dann muss der Weitervollzug der Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 revidiert werden, wenn deren für universell gültig gehaltene Bestimmungen nur par­ ti­kulär – weil nicht von Staaten in allen Kontinenten – eingelöst werden. Selbst klassi­sche Einwanderungsländer verschließen sich den von der Europäischen Union als verbindlich angesehenen moralisch-politischen Verpflichtungen. Europa muss es – und das bedarf der Plausibilisierung vor der Weltgemeinschaft der Vereinten Nationen – vorrangig da­ rum gehen, die Gewährung von Asyl nur in einem quantitativ vertretbaren Umfang zu gestatten. Grundrechtsdogmatisch gesprochen, handelt es sich eben um ein Leistungsrecht, und Leistungsrechte wie das Bleiberecht oder das Anrecht auf ein menschenwürdiges Existenz­minimum stehen immer unter dem Vorbehalt des finanziell Möglichen und des sozialökonomisch, aber auch sozialkulturell Vertretbaren.13 Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und auch das Protokoll von 1967 haben die jetzige, durch eine ganze andere Dimension der Mobilität von Menschen möglich gewordene Entwicklung offensichtlich nicht im Blick gehabt und wohl auch nicht haben können; auf ganz andere Größenordnungen von Flüchtlingszahlen zugeschnitten, bedürfen sie der Revision. Rechtsanpassung ist hier, wie ja immer wieder auch in anderen Zusammenhängen, geboten. 12 Niemand wird von deren Repräsentanten verlangen können, sich gegen die von vielen ihrer Mitglieder eindrucksvoll unter Beweis gestellte Barmherzigkeit gegenüber Flüchtlingen oder anderen notleidenden Immigranten auszusprechen. Verlangen darf man jedoch, dass sich Kardinäle, Bischöfe und andere geistliche Würdenträger nicht in einer Weise im Feld der Politik hervortun, dass sie – was schon Max Weber in seinem berühmten Aufsatz „Politik als Beruf“ im Jahr 1919 kritisierte – die Bergpredigt einfach mit der Politik konfundieren. Damit unterschreiten sie das bereits einmal erreichte Niveau einiger christlicher Soziallehren, in denen ein kategorialer Unterschied zwischen der individuellen Barmherzigkeit und der staatlichen Sozialpolitik festgehalten wird. Beruht das Prinzip der Barmherzigkeit und der Nächstenliebe auf freiwilligem Verzicht, so die staatliche Fürsorge auf einer erzwungenen Umverteilung, welche in jedem politischen System irgendwann an eine Grenze stößt. – Eine ähnliche Konfundierung brachte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Anfang Oktober 2015 im Deutschlandfunk zum Ausdruck, als sie unter Bezugnahme auf eine entsprechende Äußerung von Kardinal Marx meinte, „der Herrgott“ habe „uns“, also wohl den Deutschen, die Aufgabe der Bewältigung der Massenimmigration „jetzt auf den Tisch gelegt“. Politisches Handeln erscheint hier – ähnlich wie bei manchen Imamen auch – geradezu als Vollzug der Heilsgeschichte. 13 Eine Begrenzung der Einwanderung mag so geboten sein, um die Handlungsfähigkeit des Staates zu gewährleisten und diesen nicht in eine Situation zu bringen, die James M. Buchanan als „Samariter-Dilemma“ bezeichnet: eine Situation, in der selbstlose Hilfe dazu führen kann, dass die Zahl der Hilfesuchenden zunimmt und den Helfenden überfordert. Es geht darum, ökonomische und sozialkulturelle Konflikte mit der Mehrheitsgesellschaft nicht zu provozieren, um vor allem die dringend erforderliche Unterstützung für die berufliche und gesellschaftliche Integration der Flüchtlinge zu sichern. Gerade sozialkulturelle Probleme werden sich als besonders schwierig erweisen, auch weil sie in der Regel nicht einfach durch Geldleistungen und sozialtechnisch-administrative Maßnahmen zu bewältigen sind.

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In gewisser Weise werden, so scheint es, die Europäer Opfer ihres eigenen menschenrechtlichen Universalismus, den viele Menschen aus unterschiedlichen Erdteilen jetzt ganz praktisch gegen sie wenden und von ihnen einfordern. Das Europa der Europäischen Union, das im Verein mit den USA spätestens im Kosovo-Konflikt 1999 gezeigt hat, dass es willens ist, im Ernstfall der behaupteten Universalität der Menschenrechte gegenüber der Partikularität nationaler Souveränitätsrechte den Vorrang einzuräumen, sieht sich nun – unter anderen Vorzeichen – mit dieser politisch-moralischen Maxime konfrontiert. Die für sein Selbstverständnis konstitutive Beziehung von Universalität und Partikularität wird ernsthaft herausgefordert durch ein Geschehen, bei welchem es sich nicht um eine Episode, sondern um eine neue Epoche handeln könnte.14 Nicht wenige hängen dem Glauben an, die Migranten aus aller Welt ließen sich mit viel „Willkommenskultur“ und Menschenrechts-Training zu guten EU-Europäern und Verfassungspatrioten machen. Dabei ist neben durchaus philanthropischen Motiven oft auch die Überzeugung am Werk, dass Einwanderung in den zentraleuropäischen Raum nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen unverzichtbar, sondern auch aus kulturellen Gründen wünschbar sei. Auch der deutsche Bundespräsident teilte seiner Nation im Jahr 2015 mit, sie solle sich von dem Bild einer hinsichtlich ihrer Sprache, Religion und Hautfarbe homogenen Nation lösen und müsse sich „neu definieren: als eine Gemeinschaft der Verschiedenen, die allerdings eine gemeinsame Wertebasis zu akzeptieren hat“.15 Es fragt sich jedoch, ob all die „Verschiedenen“ dies auch tun, da zunächst offen ist, ob sich ein erheblicher Teil von ihnen angesichts ihrer religiösen Prägung und gewisser tradierter Sitten auf den angesonnenen Wertekonsens einzulassen überhaupt fähig und willens ist. Nicht unwahrscheinlich ist zudem, dass die mitunter hohen Erwartungen der Immigranten, die durch die „Willkommenskultur“ und die stolzen Proklamationen, ein den philanthropischen Anforderungen gewachsener Einwanderungsraum zu sein, geweckt worden sind, umschlagen in Unzufriedenheit und Widerstand . Was ist in diesem Zusammenhang idealpolitisch wünschbar, was realpolitisch machbar? Das westlich-europäische Verständnis von Toleranz hat zur Voraussetzung, dass Menschenrechte und Menschenwürde als grundsätzlich universell und absolut geltend betrach14 Wohl nicht zufällig, weil unter dem Eindruck der Erfahrungen mit irreversibel erscheinenden sozialkulturellen Folgen einer jahrzehntelang nachlässig betriebenen Immigrations- und Integrationspolitik im eigenen Land, fand dieses Bewusstsein eines Epochenwandels vor allem in den Dystopien zweier französischer Auto­ ren Ausdruck: in dem bereits im Jahr 1973 verfassten und erstmals 1985 in deutscher Sprache veröffentlichten Buch von Jean RASPAIL Das Heerlager der Heiligen, das 2015 in Schnellroda in neuer Übersetzung erschienen ist, und in dem 2015 von Michel HOUELLEBECQ veröffentlichten Werk Soumission, das in deutscher Übersetzung im selben Jahr unter dem Titel Unterwerfung in Köln veröffentlicht wurde. 15 Siehe dazu Berthold KOHLER: Der verspätete Vielvölkerstaat, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. September 2015, S. 1. – Nicht alle in Europa wollen so werden wie Deutschland, zeigen sich aber darüber verwundert, wie Teile der deutschen politischen Elite annehmen konnten, dass es so sei.

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Geschichtlicher Wandel und kulturelles Erbe – Zur Funktion der Kulturwissenschaften

tet werden, die kulturellen Besonderheiten von religiösen Bräuchen, tradierten Sitten und Gewohnheiten aber als partikulär und relativ. Das zu tolerierende Relative sei dabei in dem Maße einzuschränken, wie die Toleranz gegenüber anderem Partikulären und Relativen dies erfordere. „Damit die Tolerierung des Relativen universell sein kann“, so führt Panajotis Kondylis dazu aus, „muss das Universelle das Relative notfalls eingrenzen können, und zwar politisch-rechtlich ebenso wie ideologisch.“ Verschiedenes Partikuläre müsse aber gleichzeitig gedeihen dürfen, soll menschenrechtlich gebotene Toleranz universell gültig bleiben: „Bei dieser Ambivalenz wird verständlich, warum Universalismus und Relativismus sich jeweils als den besten Hüter der Toleranz empfehlen und gegenseitig intoleranter Gelüste verdächtigen.“ 16 Der mit den Menschenrechten verbundene Begriff der Toleranz erscheint ähnlich wie der der Demokratie oft in einem solchen Maße wertbeladen, dass die sich auf ihn beziehenden und von erhabenen Gefühlen begleiteten Überzeugungen geradezu für ein Wahrheitskriterium in Belangen der praktischen Vernunft gehalten werden. Die Haltung einer allzu extensiv ausgelegten Toleranz generiert Spannungen, die bereits in ihrer auf individuelle Grundrechte abzielenden menschenrechtlichen Begründung angelegt sind. Universalistisch soll nämlich Frieden durch Toleranz zustande kommen, wobei alle in Betracht kommenden Subjekte unter den gemeinsamen Nenner „des“ Menschen subsummiert werden, der den Bereich des zu Tolerierenden bestimmt. Nun sind bekanntlich die Lebensformen und Werthaltungen der Menschen in ihrer Gesamtheit unterschiedlich, und für sie besteht kein absoluter Maßstab; gleichzeitig wird aber jedem Subjekt das Recht auf Bewahrung seiner Partikularität zuerkannt. Es besteht ein allgemeiner moralischer Anspruch auf den Schutz besonderer, kulturell definierter Rechte, wobei die Verträglichkeit der kulturellen Autarkie beispielsweise von Immigranten mit den im Einwanderungsland vorherrschenden religiösen Bräuchen sowie den Sitten und Gewohnheiten in der Regel nicht im Voraus ermittelt, sondern einfach postuliert wird. Diese Art von Moralpolitik hat sich durch ihre Verankerung in den Menschenrechten eine Würde angemaßt, der man mit dem durchaus möglichen Vorwurf der asymmetrischen oder widersprüchlichen Argumentation nichts mehr anhaben kann. Moralische Inappellabilität tritt da nicht selten gemeinsam mit einer Form der Tugendprahlerei in Erscheinung. Einige, die auf den Umsturz der Verhältnisse oder der Herzen hoffen, ziehen dabei als Sozialphilosophen, Politiker oder Kirchenmänner gegen die eingefahrenen Verhältnisse und den Wohlstand der Satten in einem „postnationalen Zeitalter“ zu Felde, was mitunter implizit auch die Wertschätzung für den institutionellen Bestand an Staatlichkeit vermissen lässt.17

16 Panajotis KONDYLIS: Das Politische im 20. Jahrhundert. Von den Utopien zur Globalisierung, Heidelberg 2001, S. 47 f. 17 Siehe dazu Christian GEYER: Herzensergießungen einer Nation, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. September 2015, S. 9.

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Mit den Forderungen nach kultureller Toleranz sind nicht nur argumentative, sondern auch psychologische Schwierigkeiten verbunden, vor allem aber ökonomische Voraussetzungen, durch die kulturelle Konflikte in der Latenz gehalten und nicht manifest werden. Zunächst stellt in ethnisch-kulturell zunehmend heterogenen Gesellschaften die Einlösung eines als universell gültig erachteten Bekenntnisses zur Relativität der eigenen Position, damit Toleranz herrsche, ein psychologisches Problem dar. „Kein Mensch“, so führt Kondylis aus, „kann oder muß inbrünstig und immer sagen, daß der andere womög­lich richtiger denkt als er selbst; zur Toleranz reicht es aus, wenn er meint, der andere habe ein gleiches Recht, seine Meinung ohne Gewaltanwendung geltend zu machen. Tole­ranz setzt sich also sozial nicht deshalb durch, weil die Menschen den Relativi­tätsgrundsatz verinnerlichen und entsprechend handeln, sondern deshalb, weil die Tole­ranz herrschende Ideologie und sozial sanktionierte Haltung wird.“18 Aber ob und unter welchen Bedingungen sie es bleibt, ist fraglich. Zu den realen Vorbedingungen für ein Wirksamwerden von als universell gültig aufgefassten menschenrechtlichen Prinzipien, welche allen Individuen und ihren kulturellen Wertüberzeugungen gleiche Autonomie und Würde zusprechen, stellt Kondylis – wie er sagt, „auf die Gefahr hin, unsere Ethiker, also die Ideologen unserer Gesellschaft, zu skandalisieren“ – fest, dass diese „nur in Gesellschaften gedeihen können, in denen eine hochdifferenzierte Arbeitsteilung das Kollektiv atomisiert und Massenproduktion und -konsum auf vollen Touren laufen. Entfallen diese Voraussetzungen, dann müssen die Freiräume zusammenschrumpfen, in denen sich individualistische Selbst­ verwirklichung, Toleranz, Konsens entfalten. Solche Prinzipien oder Einstellungen sind ja die Begleiterscheinungen eines abgesicherten Wohlstandes, bei dem es für keinen einzelnen existentiell entscheidend ist, was sein Nächster glaubt oder treibt.“19 Der allgemeine Ordnungsrahmen des parlamentarischen Verfassungsstaates verbürgt allen legal Zuwandernden die Möglichkeit der Ausprägung besonderer kultureller Bräuche, Sitten und Gewohnheiten sowie politischer Orientierungen, deren weitere Entwicklung dem freien Spiel der politischen Kräfte und der Demographie überlassen bleibt. Doch aus der Sicht nicht weniger Muslime ist die für den Verfassungsstaat westlicher Prägung konstitutive Trennung von Staat und Religion ein gegen den integralen Charakter ihrer Religion gerichtetes politisches Prinzip. Überhaupt erscheint auf längere Sicht einiges an Wandlungen an der gesellschaftlichen Basis möglich, das in weiterer Folge den Ordnungsrahmen der Verfassung verändern kann, und damit auch die Art und Weise, wie die Kompatibilität des Heterogenen zu verstehen ist. Der Hedonismus der sogenannten Massenkultur stellt in den Einwanderungsgesell­ schaften des Westens einen Prüfstein für solche Bemühungen um die Herstellung der Verträglichkeit des Heterogenen dar. Er steht in einem massiven Gegensatz zu der vielfach 18 Panajotis KONDYLIS: Das Politische im 20. Jahrhundert (Anm. 16), S. 54 f. 19 Vgl. ebd., S. 42.

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religiös gebundenen Lebensform der Immigranten. Was deren nicht eben seltene Aversionen gegen die von ihnen – jedenfalls auch – als Ausdruck der vielbesprochenen „west­ lichen Werte“ aufgefassten Fabrikate der massenmedialen „Kulturindustrie“ betrifft, so wird man jene nicht nur verstehen, sondern oft auch mit ihnen teilen können. Gleiches gilt für die Einstellung zu dem eigentümlichen Narzissmus, der sich im Psycho-Boom der Überflussgesellschaften niederschlägt. Kennzeichnend für die Art der Selbstbesorgt­heit von Individuen in diesen Gesellschaften ist der dort immer wieder proklamierte „Kampf um Gender-Identität“. So können beispielsweise britische Facebook-Nutzer mittlerweile in dem Kästchen, in dem sie bei der Registrierung ihr Geschlecht angeben müssen, zwi­ schen mehr als 17 Gender-Identitätsbegriffen wählen, statt wie früher nur „männlich“ oder „weiblich“ anzukreuzen.20 Auf entsprechende Weise wird von Seiten der zahlreichen, zumeist von Frauen besetzten Genderprofessuren im deutschen Sprachraum der Unterschied von Mann und Frau in Frage gestellt; und dies getreu der Grundauffassung der führenden Gender-Theoretikerin Judith Butler, die bekanntlich selbst die Anatomie nur für ein „soziales Konstrukt“ hält. Wie weit einschlägige universitäre Debatten von der gesellschaftlichen Wirklichkeit entfernt sind, zeigt sich in den Diskussionen über die stark anwachsende Zahl von Einwanderern aus vornehmlich muslimischen Ländern. Die harten Realitäten von Zwangsverheiratung, Ehrenmorden und geradezu epidemischer Apartheid von Frauen stehen dabei in krassem Gegensatz zu dem idealisierten Bild von Multikultura­ lität, das der Öffentlichkeit von den Vertretern der auf Diversität erpichten Gender- wie von Teilen der Migrationsforschung lange Zeit vermittelt wurde; und dies, obschon die Erfahrung nicht neu ist, dass Immigranten aus bestimmten muslimi­schen Regionen Asiens und Afrikas oft bis in die dritte Generation schwierig zu integrie­ren sind.21 Zusätzlich intensiviert sich die Zuwanderung aus nicht-muslimischen, aber oft von Tribalismen geprägten Gesellschaften Schwarzafrikas, was zusammengenommen einen „clash of civilizations“ in der Mitte Euro­pas mehr und mehr wahrscheinlich macht. Es ist vor allem die bürokratisch-technokratische Elite, die, von niemandem gewählt und im Unterschied zur politischen Klasse nicht an wahltaktische Rücksichten gebunden, in den supranationalen Strukturen der Europäischen Union – notfalls gegen die Interessen der Mehrheit der Bürger – an dem Projekt eines multikulturellen europäischen Bundesstaates festhält. Dieses Festhalten ist nicht den konzeptlosen Versuchen eines „muddling through“ zuzuschreiben, sondern, wie es scheint, als ein durchaus zweckrationales Strate­ gem zur Herstellung einer „postnationalen“ Ordnung in Europa anzusehen. Der Reali­ sierung des Elitenprojektes eines supranationalen europäischen Bundesstaates kommt die 20 Zudem werden Nutzer ermutigt, gegebenenfalls eine weitere Option vorzuschlagen, sollten nach ihrem Ermessen die vorhandenen nicht ausreichen. 21 Siehe z. B. Nikola ORNIG: Die Zweite Generation und der Islam in Österreich. Eine Analyse von Chancen und Grenzen des Pluralismus von Religionen und Ethnien, Graz 2006.

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Ablehnung einer selektiven Einwanderungspolitik entgegen. Wie Karl-Peter Schwarz in einem der europäischen Immigrationspolitik gewidmeten Artikel darlegt, werden nämlich auf diese Weise nationale Widerstände unterlaufen, die das „Durchregieren“ sowie jene „Konstruktion eines europäischen Demos“ behindern, die „die allmähliche Auflösung der nationalen Demen“ zur Voraussetzung habe.22 Schwarz verweist auf das Beispiel von Peter Sutherland, dem Leiter der Internationalen Katholischen Migrationskommission und ehemaligen Sonderbeauftragten für Migration des UN-Generalsekretärs, der den Multi­ kultura­lismus für ebenso unvermeidlich wie wünschenswert hält und dessen Durchsetzung als Voraussetzung für die „künftige Prosperität“ vieler Länder der Europäischen Union, einschließlich Deutschlands, ansieht. Sutherland meint, dass heute nicht mehr die Staaten die Einwanderer, sondern die Einwanderer die Staaten auswählen, und dass dies so auch richtig sei. Man müsse zudem damit aufhören, nur hochqualifizierte Migranten anziehen zu wollen. Homogenität – gleichgültig welcher Art – wird von ihm abgelehnt, und so müsse, wie er findet, die Europäische Union den Multikulturalismus mit aller Macht fördern und die Homogenität ihrer Mitgliedstaaten preisgeben, auch wenn es schwierig sei, dies deren Bürgern zu erklären.23 Wenn Europa, so könnte man diese Doktrin zusammenfassen, aus einem Staatenbund ein einheitlicher Bundesstaat werden soll, dann muss es zunächst dafür sorgen, die Besonderheiten seiner bislang bestehenden Staaten, also deren nationale Identitäten, zu beseitigen: Ethnisch-kulturelle Diversität wird sonach als der Weg zur politischen Einheit aufgefasst. Es ist nicht klar, wie diese Art von moralisch grundierter politischer Technokratie mit den sozialen Problemen zurande kommen will, die durch sie erst generiert werden. Vor allem unterlassen es ihre Vertreter darzulegen, wie man die Herausforderungen bewältigen kann, die mit der Einwanderung von bald Millionen von Afrikanern und Asiaten ohne die notwendigen kulturellen und politischen Voraussetzungen in unsere marktwirtschaftlichen Leistungsgesellschaften verbunden sind. Es wird zwar viel von Solidarität mit den Immigranten gesprochen, und die damit zumeist gemeinte Hilfsbereitschaft sollte ihnen auch zuteil werden; doch Solidarität und soziale Kohäsion bedeuten mehr als humanitäre Hilfe. Ein Solidarzusammenhang beruht auf gemeinsamen historischen Erfahrungen, Rechtsvorstellungen und kulturellen Orientierungen sowie auf gemeinsamen daraus entstandenen Prägungen; früher wurde dies „Schicksalsgemeinschaft“ genannt.24 Damit ist keineswegs so etwas wie eine harmonische Gemeinschaft gemeint, vielmehr gehört der Konflikt unter­ einander dazu; nur ist es eben nicht ein Konflikt unter Menschen, die einander in mehre­ 22 Vgl. Karl-Peter SCHWARZ: Der kulturelle Unterschied, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. Februar 2016, S. 8. 23 Vgl. ebd. 24 So etwa auch vom österreichischen Sozialistenführer Otto Bauer; vgl. Otto BAUER: Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, Wien 1907; 2. Aufl. 1924.

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ren grundlegenden Belangen fremd sind. Besteht eine allzu große kulturelle Diversität, so werden in der Regel Gefühle der Sympathie und die Bereitschaft zur Solidarität deutlich reduziert. Umgekehrt kann die Zuwanderung solche grundsätzlichen Veränderungszumutungen an Migranten stellen, dass auf ihrer Seite die Bereitschaft zu neuartigen Solidari­ tätsbindungen eingeschränkt oder gar unterbunden wird. Vor dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen der für eine bestimmte Gemeinschaft charakteristischen und der humanitär-allgemeinen Solidarität stellt sich die Frage, ob und in welcher Hinsicht diese das gleiche Maß an Zumutungen verlangen kann wie jene. Die Bereitschaft zu humanitärer Solidarität ist gewiss die notwendige Voraussetzung dafür, dass sich ein gemeinschaftliches Solidaritätsempfinden entwickeln kann. Wenn man sich fragt, wie ein solches zustande kommt, wie also Integration in ein Gemeinwesen möglich wird, so kann man auf Max Weber Bezug nehmen, der die Entwicklung des „Solidaritätsgefühls“ im Rahmen seiner Ausführungen zur „Nation“ darlegt. Das für jedes funktionierende Gemeinwesen unverzichtbare Solidaritätsgefühl werde „nur kraft der Pflege der Eigenart [von] zu bewahrenden und zu entwickelnden ,Kulturgüter[n]‘ “ verankert.25 Zumindest zwei Fragen stellen sich hier jedoch: Wie weit reicht dieser Wille zur Pflege der Eigenart von Kulturgütern unter den Bedingungen politisch forcierter Multikulturalität? Und ab wann und unter welchen Bedingungen bildet sich so etwas heraus wie eine „Gegenkultur“ im Sinne der für ein Gemeinwesen dysfunktionalen Tendenz zur Entsolidari­ sierung, zunächst auf der gemeinschaftlichen, dann aber auch auf der humanitären Ebene? Erfahrungen aus mehreren Jahrzehnten zeigen, dass in vielen Fällen die Integration von Einwanderern gelingt, in vielen Fällen aber auch nicht; dies wird vor allem durch Befunde aus dem Vereinigten Königreich, Frankreich und Belgien belegt. Kulturelle Differenz ist jedenfalls nicht nur eine Sache der kulinarischen und der volksmusikalischen Diversität. Daher bleibt abzuwarten, ob in Zukunft parallel- und subkulturelle Segregation der Preis für die Sicherung des sozialen Friedens sein wird, oder ob doch andere Formen einer gelungenen Gemeinschaftsbildung möglich sind.26 Vor allem ist es erforderlich, angesichts eines der Schlüsselprobleme des 21. Jahrhunderts beizeiten Klarheit darüber zu erlangen, was Sache des Wünschens und was Sache des Könnens, was Sache des Wortes und was Sache der Tat ist.

25 Vgl. Max WEBER: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5., revid. Aufl., Tübingen 1972, S. 530; vgl. auch S. 527–529 sowie S. 25. 26 Wie es scheint, wird das für die Kommunitarismus-Diskussion grundlegende Problem, wie eine besondere (partikuläre) Gemeinschaft durch einen allgemeinen (universellen) Ordnungsrahmen, und wie andererseits dieser gegenüber den vermeintlichen Prärogativen einer besonderen Gemeinschaft gesichert werden kann, auch in Zukunft die sozialphilosophischen Erörterungen bestimmen.

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III. Der Sinn für das Singuläre, das Allgemeine und das Allgemeinmenschliche Es ist Angelegenheit der Kulturwissenschaften, sich mit Problemen der soeben erwähnten Art zu befassen. Doch auch unsere in vielem so libertäre Zeit hat ihre Tabus und ihre Stigmatisierten. Und so ist es vor allem für junge Geistes- und Sozialwissenschaftler inopportun, sich eines Themas anzunehmen, das dem vom juste milieu verordneten moralischen Konsens nicht oder nur unzureichend entspricht. Die Verständnislosigkeit, wenn nicht Feindschaft, von Teilen der Medien und der Politik, nicht selten wohl auch von Seiten der Wissenschaftsadministration, wäre ihnen in unserer vorgeblich tabufreien Zeit ­sicher. Nicht jedes Unverständnis gegenüber den Kulturwissenschaften ist allerdings unzeitgemäßem Eigensinn geschuldet. Auch den Geistes- und Sozialwissenschaften gegenüber Aufgeschlossene reagieren häufig mit einem ungläubigen Staunen auf manche Produkte aus diesem Wissenschaftsbereich, die man zumeist nur als Resultate eines im Schutzraum forschungsökologischer Nischen betriebenen Autismus deuten kann. Oft ist nämlich das immer wieder prokla­ mierte – und in bestimmten Grenzen durchaus sinnvolle – Prinzip der zufallsgesteuerten Neugier nur dazu dienlich, der Beschäftigung mit allerlei Quisquilien ein gutes Gewissen zu verschaffen. Diese Einstellung zur curiositas als einer frei flottierenden Neugier hat im digitalen Zeitalter eine Ergänzung durch das Prinzip der „accessability“ erfahren, also des Zugangs zur Vielfalt digitalisierter Information im Namen der uneingeschränkten Freiheit wissenschaftlicher Kommunikation. Doch weder das eine noch das andere stiftet schon Erkenntnis: Das Kennen ist noch nicht Erkennen. Um zu erkennen, bedarf es bestimm­ter Fähigkeiten und Fertigkeiten wie einerseits der Erfassung von Strukturen und der zwischen diesen bestehenden Ähnlichkeiten und Gesetzmäßigkeiten, andererseits der beschreiben­ den Darlegung von Zusammenhängen nicht-nomologischer Art. Neigen die theo­retischen Sozialwissenschaften innerhalb der Kulturwissenschaften im allgemei­nen einer Darstellungsweise zu, in welcher Strukturen, Modelle, Idealtypen, kausale Felder und Trajektorien eine herausragende Rolle spielen, so geht es den philologisch-historischen Disziplinen der Kulturwissenschaften um die Wiedergabe der Fülle, Farbigkeit und Weite der Welt – aber dies vor dem Hintergrund eines Wissens um Ähnlichkeiten und Unterschiede, um Regeln und Regelmäßigkeiten sowie um Abweichungen davon. Die Genauigkeit der Beschreibung mag dazu verhelfen, die Grenze zum Unbekannten zu klären und so der produktiven Phantasie ihren Platz zuzuweisen. Und doch bedarf die Beschreibung von Singularitäten in den Humaniora eines Gegen­ halts, um nicht zur Befriedigung einer selbstverliebten Neugier zu verkommen. Die Freude an der Abwechslung des Dargestellten gewinnt ihren Sinn erst dadurch, dass die genaue Darstellung menschlicher Singularitäten in den Zusammenhang bereits gewonne­ner Ein-

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sichten gestellt wird, die sich auf die condition humaine beziehen: auf das uns Menschen nicht nur im physiologischen Sinne Gleichartige, das uns miteinander verbindet und uns – jedenfalls in gewissem Umfang – auch wechselseitig zu verstehen ermöglicht. Es handelt sich dabei um die allen Menschen gemeinsamen, wenn auch oft unterschiedlich gedeuteten Faktizitäten ihrer Existenz, also der anthropologischen Grundmerkmale von Geburt, Freude, Leid, Schmerz, Liebe, Angst, Freundschaft, Enthusiasmus, Enttäuschung, Verfeh­ lung, Schuld, Einsamkeit, Trauer und Tod.27 Einen Sinn für dieses Allgemein-Mensch­liche zu entwickeln, das gewöhnlich als angestammtes Metier von Religion und Kunst betrach­ tet wird, ist vor allem eine der zentralen Aufgaben der Geisteswissenschaften, die ja nicht einfach zu einer blassen Restkategorie zwischen dem verkommen dürfen, was weder Naturwissenschaft noch Sozialtechnologie ist. Vor allem ihre kulturvergleichenden Disziplinen können uns zeigen, wie unser Denken und Handeln sich stets nach dem Bilde formt, das wir uns vom Menschen, von der Gesellschaft und von der Geschichte machen. Das Bild, das sich Menschen von anderen Menschen machen, ist entscheidend da­ von be­einflusst, was sie lieben, was sie schätzen, was sie nicht schätzen und was sie hassen. Diese Einstellungen formen sich in der Gemeinschaft und die menschliche Selbsterfahrung ist dementsprechend in hohem Maße abhängig von der Mitgliedschaft des Einzelnen in jenen gesellschaftlichen Gruppen, in denen er Wertschätzung und Anerkennung erfährt. Während gegenüber dem Gruppengenossen oft strenge Verhaltensregeln gelten, ist das gegenüber dem Gruppenfremden nicht oder nicht in vergleichbarem Maße der Fall. Diese Gruppensolidarität bildete insbesondere unter frühmenschlichen Daseinsbedingungen eine der grundlegenden Voraussetzungen des gemeinsamen Überlebens. In Bezug auf bestimm­ te gesellschaftliche Gruppierungen verbindet der Einzelne demgemäß Erwartungen und Befürchtungen, und dasselbe gilt auch für die Beziehungen ganzer Gruppen, Verbände und Staaten zueinander. Die Diskrepanz von Erwartungen und Erfahrungen, von Hoffnungen und Enttäuschungen charakterisiert sowohl das individuelle wie das kollektive Bewusstsein, und immer wieder war es die Fata Morgana einer Ära weitreichender, wenn nicht welt27 Diese Themen haben bekanntlich in den Künsten sowie in der Philosophie und anderen Geisteswissenschaften eine altehrwürdige Geschichte. Je mehr im Laufe ihrer Erörterung die Hoffnung auf eine einmütige Einsicht in die Ordnung jener anthropologischen Grundmerkmale sowie in die allgemeinverbindliche Geltung der für die zwischenmenschlichen Beziehungen konstitutiven Wertorientierungen schwand, desto mehr brach sich die Überzeugung Bahn, dass an die Stelle der ursprünglich erwarteten Einsicht in diese anthropologischen Belange die erkenntnislogische Einsicht in die Struktur der Aussagen über diese Belange zu treten habe. Und so führte die wissenschaftstheoretische Wende zur Verlagerung der Fragen vom Inhalt der Aussagen auf deren Form, von der Sache auf die Methode, sowie von den Erkenntnisleistungen auf die Erkenntnisprinzipien. Leider hat die Wissenschaftstheorie verschiedentlich einen methodologischen Rigorismus in der Philosophie gefördert, der nur diejenigen Fragen überhaupt als wissenschaftlich zulässig anzusehen bereit war, die sich strikt auf logisch-empirischem Wege beantworten lassen. Hierdurch sind aber so gut wie alle Wert- und Sinnfragen nicht nur für unbeantwortbar gehalten, sondern zu Unproblemen erklärt worden.

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weiter Eintracht, die einmal nahe schien, dann wieder in immer größere Ferne rückte. Die Geschichte ist voll von Hader zwischen Gemeinschaftsverbänden und Gesell­schaften über erlittenes Unrecht und zerstörte Gerechtigkeitsillusionen. Und so steckt schon ein Stück bitterer Wahrheit in den Sätzen des Melierdialoges bei Thukydides, „daß […] das Gerechte nur dann anerkannt wird, wenn beide Seiten über gleiche Gewalt verfügen, daß aber sonst das Mögliche regiert, das der Mächtige durchdrückt, der Schwache hinnimmt“.28 Leicht er­klärlich ist daher das auch heute wieder kriegerische Ereignisse flankierende Bestreben, diese als gerecht zu erweisen. Der Umstand, dass die westliche Welt sich eines bereits lange währenden Friedens erfreuen kann, macht ihre Bewohner geneigt, dem Argument sogar in Krisensituationen mehr Defensivkraft zuzutrauen als der konventionellen Verteidigungsbereitschaft. Auch Derartiges ist nicht ganz neu. Mit der Regierungszeit des im Jahr 180 verstorbenen Kaisers Marc Aurel endete eine Phase der Prosperität für das Imperium Romanum, die durch innere und äußere Stabilität des Reiches gekennzeichnet war. Die Christen wuchsen in diesem Klima auf, und dieses wurde durch ihre Religion des Friedens, der Gewaltlosigkeit und der Barmherzigkeit noch verstärkt. Aber spätestens in der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts beginnt der Überlebenskampf des Reiches, und Kaiser Aurelian muss in den Siebzigerjahren des dritten Jahrhunderts die Stadt Rom durch eine Mauer befestigen lassen. Die Pax Romana als ein großräumiges Pazifizierungsunternehmen ist, wie der Militärhistoriker Franz Uhle-Wettler ausführt, schneller beendet als dies auch den um die Erhaltung ihres Glaubens besorgten Christen recht sein konnte: „Die Forderungen, die sich aus der bösen militärischen Lage des Reiches ergeben, sind drängend. Sie sind erbarmungslos für diejenigen, die noch im Geist Tertullians oder manch anderen frühen Kirchenvaters aufgewachsen sind. Die Christen fragen, wann sie Waffen tragen, sich und die Ihrigen verteidigen dürfen. Die Heere müssen aufgestellt, ausgerichtet und bewaffnet, mit Führern aller Ebenen und Dienstgrade ver­sehen, ausgebildet, versorgt und besoldet werden – das stellt bald jede Staatsferne in Frage.“ 29 Der Konflikt zwischen antagonistischen Werthaltungen verunsichert und ängstigt die Gläubigen. Die christliche Kirche formulierte in der Folge ihre Antworten auf die durch die Inva­ sion heidnischer Völkerschaften bewirkte Gefährdung ihrer Existenz in einem mehrere Jahr­hunderte umfassenden Prozess, aus dem drei Namen herausragen: Eusebius von Caesarea, der Hoftheologe Kaiser Konstantins des Großen, im vierten Jahrhundert, Augustinus, Bischof von Hippo Regius (dem heutigen Annaba in Algerien), im fünften Jahrhundert, und der süditalienische Graf Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert. Ihnen allen ist eine Beurteilung ihrer eigenen und der Situation ihrer Glaubensgenossen gemeinsam, die die 28 THUKYDIDES: Der große Krieg, Stuttgart 1938, Buch V/89, S. 85. 29 Franz UHLE-WETTLER: Die Gesichter des Mars. Krieg im Wandel der Zeiten, Erlangen-Bonn-Wien 1989, S. 57.

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Staatsferne der frühen Kirchenväter aufgeben und zu einer Neubewertung des Kriegs­ dienstes führen musste. Thomas, der gerechte und ungerechte Kriege unterschied, sieht drei Voraussetzungen für ein bellum iustum: einen gerechten Kriegsgrund (causa iusta), eine gesetzmäßige, den Krieg leitende Autorität (potestas legitima) sowie eine rechtschaffe­ ne Absicht (intentio recta).30 Auch für Luther ist der Kriegsdienst notwendig, ja er nennt das „Schwertamt“ ein „Stück göttlicher Barmherzigkeit“: „Denn weil das Schwert ist von Gott eingesetzt, die Bösen zu strafen, die Frommen zu schützen und Frieden zu halten, so ist’s auch gewaltiglich genug bewiesen, daß Kriegen und Würgen von Gott eingesetzt ist. Was ist Krieg anders denn Unrecht und Böses strafen?“31 In Worten wie diesen, aber vor allem bereits in den viel drastischeren Propagandareden des Bernhard von Clairvaux oder in den Kreuzzugsaufrufen von Papst Urban II. und Papst Innozenz III. wird offenkundig, dass durch die hemmungslose Moralisierung des Krieges und die mit der Lehre vom bellum iustum einhergehende Abwertung des Kontrahenten die Barmherzigkeit verloren geht. Nicht mehr ist es unter solchen Voraussetzungen möglich, wie Philipp II. von Makedonien und sein Sohn Alexander dies in gewissem Umfang taten, die unterworfenen Griechen­städte bzw. den Erzfeind Persien als Gegner ritterlich zu behandeln, vielmehr wird der Gegner dadurch zum Feind, dass er als dem Reich des Bösen zugehörig erscheint. Wie Uhle-Wettler feststellt, kann die Lehre vom Gerechten Krieg den Menschen nur allzu leicht überfordern: „Bei der Frage, ob sein Krieg gerecht sei, ist jedermann Richter in eigener Sache, und der menschliche Verstand hat sich oftmals recht fügsam erwiesen. Deshalb hat wohl noch nie eine Obrigkeit einen Krieg geführt, den sie selbst als ungerecht betrachtete. Zureichende Gründe ließen sich immer finden, wenn ein fester Wille sie finden wollte.“ 32 Zudem erschien der Krieg allemal umso gerechter, je diabolischer der Gegner zu sein schien. In den kriegerischen Auseinandersetzungen der Gegenwart verhält es sich wie ehedem, nur haben wir uns angewöhnt, Kriege heute als kleinräumige und durch ökonomisch-technische Steuerung prinzipiell beherrschbare Ereignisse anzusehen. Dies gilt auch für die einzige Krise, die gegenwärtig im Sinne einer Auseinandersetzung auf Leben und Tod läuft: die zwischen radikalen Islamisten in Afrika und Asien auf der einen, und der politischen Missionierung der Welt durch den Westen auf der anderen Seite. Natürlich ist es ein Fehler, Krisen als entweder nur durch die Wirtschaft verursacht oder durch sie steuerbar und elimi­ nierbar anzusehen. Die meisten Mitglieder unserer Gesellschaften sind davon überzeugt, dass Verlauf und Ausgang von Kriegen letztlich vom jeweiligen wissenschaftlich-techni­schen 30 Siehe ebd., S. 62. – Gerade der zuletzt genannte Gesichtspunkt mag dazu beigetragen haben, das Gewissen der Kriegführenden zu schärfen, zumal ein Vernichtungskrieg, ein bellum internecinum, der Forderung nach einer intentio recta entgegenstand. Der spanische Spätscholastiker Francisco de Vitoria ergänzte im frühen 16. Jahrhundert die drei Kriterien des Thomas von Aquin durch ein viertes: Ein gerechter Krieg darf nicht ein größeres Ausmaß an Leid herbeiführen als man mit ihm zu beseitigen oder zu verhindern bestrebt ist. 31 Zit. nach Helmut THIELICKE: Theologische Ethik, 2. Band, Tübingen 1958, Seite 519 f. 32 Franz UHLE-WETTLER: Die Gesichter des Mars (Anm. 29), S. 75.

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Potential sowie insbesondere von der dadurch ermöglichten wirtschaft­lichen Produktivität abhängig sind. Doch es gab, wie Reinhart Koselleck einmal bemerkte, „viele historische Phasen, in denen der ökonomische Fortschritt nicht der stabilisierende Faktor war, sondern Faktoren anderer Art: Überzeugungskräfte, absolutistische Systeme, Terrorsysteme, Ideologien. Da gibt es viele Formen, die Gesellschaft stabil und ruhig zu halten. Durch Terror vieler Art. Und man kann nur hoffen, dass dies nicht der Fall sein wird. Aber die Chance, dass so etwas passieren kann, ist natürlich immer gegeben.“33 Der Hinweis auf außerökonomische Faktoren krisenhafter Entwicklungen gewinnt ­heute vor allem vor dem Hintergrund der Expansion des Islamismus an Bedeutung, dessen Verfechter nicht nur auf die Macht der Gewehre setzen, sondern auch auf die Macht des Wortes und der Fertilität der Rechtgläubigen, sowie auf die Effekte von deren Migration. Sie gewinnen ständig neue Territorien hinzu, ob im Irak oder in Syrien, in Ostafrika oder in der Sahara. Die Gewalt ist wohl nur eine der Facetten des Islamismus, sein eigentliches Bestreben gilt der geistigen Orientierung mit dem Ziel einer Renaissance des Islam. Für dieses Ziel steht die Nahda-Bewegung, deren Name soviel wie „Wiedererwachen“ bedeutet. Diese Bewegung hat Millionen von Anhängern, sie unterhält karitative Einrichtungen sowie Koranschulen und erfreut sich des Zuspruchs zahlreicher Politiker in islamischen Ländern. Ihr Ziel ist es, den Islam unter Einbeziehung der modernen Wissenschaft und Technik in Afrika, Asien, aber auch in Europa zu neuer Größe zu führen, also eine Art Meiji-Restauration der muslimischen Welt zu bewerkstelligen. Was die von Koselleck erwähnten Überzeugungskräfte anlangt, so ist auch in unserer heutigen Welt, wie seit jeher, an die „Plastizität“ der Moral zu denken, also an die Möglich­ keit, sie mangels fester und prüfbarer Kriterien in den Dienst ganz verschiedenartiger, auch kontroverser politischer Zielsetzungen zu stellen und diesen den Anschein höchster Dignität zu verleihen. Angestrebt werden hierbei Wirkungen im menschlichen Motivationsbewusstsein, und so sind derartige Moralismen auch ein hervorragendes Instrument psychologi­scher Kriegführung und schließlicher Unterwerfung, wie dies ja auch durch verschiedene bellum iustum-Konzeptionen eindrucksvoll belegt wird. Wie Ernst Topitsch zeigte, besteht ein häufig praktizierter Kunstgriff beispielsweise darin, den Menschen ein Schuldbewusstsein zu suggerieren, um ihr Selbstwertgefühl zu brechen und sie auf diese Weise gefügig zu machen.34 Die Kirchen haben sich solcher Methoden, die durch die Erzeugung von Höllenangst noch verstärkt wurden, mit beachtlichem Erfolg bedient. Moral kann als Waffe gleichermaßen in Auseinandersetzungen zwischen politischen Ideologien 33 Reinhart KOSELLECK: Über Krisenerfahrungen und Kritik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. Januar 2010, Seite N 4. – Hierbei handelt es sich um ein bislang unveröffentlichtes Gespräch aus dem Nachlass von Reinhart Koselleck, das Thomas Martin mit ihm führte. 34 Vgl. Ernst TOPITSCH: Macht und Moral, in: Ders., Studien zur Weltanschauungsanalyse, Wien o. J. [1996], S. 279–294, v. a. S. 290 –293.

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wie als Instrument psychologischer Kriegführung mit rein offensiver Zielsetzung benützt werden. Und wie sich zeigt, sind auch demokratische und pluralistische, stark durch Medien beeinflussbare Gesellschaften für solche Strategeme in besonderem Maße anfällig, wie sehr ihre Repräsen­tanten auch das Mantra der Aufgeklärtheit, der Modernität und der epochalen Unverwechselbarkeit vor sich hertragen mögen. Gar vieles an seit altersher recht „Mensch­ lichem“ teilt unsere Zeit mit anderen Zeiten. Dies wird uns vor allem durch verschiedene humanisti­sche Fächer eindrucksvoll vor Augen geführt. Was immer der Ursprung der Bezeichnungen „humanistische Fächer“ oder „Huma­niora“ sein mag – die Ausdrücke scheinen glücklich gewählt, weil sie auf die für die Geisteswissenschaften und die historischen Sozialwissenschaften grundlegenden anthropologi­schen Forschungsinhalte verweisen. Die historisch-anthropologisch fundierten Geistes- und Sozialwissenschaften können uns unter anderem Tendenzen und Kompensationsprozesse zu verstehen und zu begreifen helfen, die vermeintlichen Evidenzen zuwiderlaufen: so etwa die Tatsache, daß, wie und warum Regionalismus und Nationalismus genau in dem Maße wachsen, in dem sich die Weltkultur auf eine planetarische Vernetzung und Uniformierung der Wirtschaft zubewegt; ferner den Umstand, daß, wie und warum sich oft gerade dort, wo sich die rationalisierte Gesellschaft der Moderne aus den geschichtlichen Herkunftstraditionen loslöst, ein historischer Sinn und eine Tendenz zum „Ursprünglichen“ entwickeln. Vielleicht ist ja die Revitalisierung des anthropologischen Prinzips in Teilen der jüngeren Geistes- und Sozialwissenschaften selbst einer derartigen Kompensation geschuldet. Denn es könnte sein, dass die fortschreitende Versachlichung der zwi­schenmenschlichen Beziehungen zwar dazu führt, dass einerseits die extensive Erforschung der Subjektivität einen oft geradezu epidemischen Charakter angenommen hat, dass man aber andererseits die Ele­ mente der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit, in die wir uns handelnd hinein­ gestellt finden, mehr und mehr in ihrer je­weiligen Eigenart und ihrer Kulturbedeutung zu verstehen sucht und nicht nur auf einige allgemeine Variablen und Gesetzmäßigkeiten zu reduzieren trachtet.

IV. Geschichtlicher Wandel und kulturelles Erbe Mit der Formierung übernationaler politischer Einheiten in Europa wie im Weltmaßstab geht zwar nicht notwendig der Verlust des regionalen und nationalen Erbes einher, doch angesichts der Auszeichnung der als universell erachteten Werte der Demokratie, der Markt­­wirtschaft sowie der – oft recht deutungsbedürftigen und zugleich deutungsgefügigen – Menschenrechte kommt für viele dem jeweiligen kulturellen Erbe in seiner Partikularität nur mehr eine vergleichsweise eingeschränkte Wertschätzung zu. Stehen aber damit nicht auch die „alteuropäischen“ Ideale und die mit ihnen verbundenen Lebens- und

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Denkformen als solche bloß partikulären Orien­tierungen zur Disposition? Die Antworten auf die Frage nach dem kulturellen Erbe sind auch für die Wissenschaften von Bedeutung. Die Wissenschaftsgeschichte ist, wie die Kulturwissenschaften allgemein, schon des­ halb mit dieser Frage konfrontiert, weil die Gedächtnisbildung in der Wissenschaft umso pro­blematischer wird, je länger sich das Unternehmen Wissenschaft hinzieht und je brei­ ter sein Betrieb wird. Dadurch wachsen die Zwänge der Selektion des Materials, und die Quote des Vergessens muss sich zwangsläufig erhöhen, wenn überhaupt ein Überblick gewahrt werden soll. Allenthalben spricht man auch hier von Informationsüberflutung und sucht die Frage zu beantworten, was als „erinnerungswürdig“ gelten soll. Darüber, was erinnernswert ist, entscheiden Wertgesichts­punkte, deren Freilegung und Explikation Sache der Kulturwissenschaften ist. Archivierung erfolgt ja nie in einem neutralen Speicher aller Kulturbestände, sie setzt die Sichtung, Deutung und Fortsetzung dessen voraus, was lebendig bleiben soll. „Und nicht die Einigung über Tatsachen wird darüber entscheiden, welche Bestände im Spiel bleiben, welche Richtungen ins Spiel kommen, welche Zentren sich im Sog welcher Kul­turen herausbilden. So wächst die Verantwortung der Kulturwissenschaften mit der globalen Vermischung und Durchdringung der Kulturen und fordert eine Besinnung über die Aufgaben der Kultur- und Sozialwissenschaften im Licht ihrer Rolle in der modernen Kultur und als Gedächtnis der eigenen Kultur.“35 Die kulturwissenschaftliche Befassung mit Geschichte und mit den in ihr wirkenden Kräften hat den Menschen aus dem Bann jener Tradition befreit, der zufolge das Alte, einfach weil es alt ist, als ehrwürdig und gut anzusehen sei. Doch dieser Umstand nötigt nicht schon dazu, der Meinung der Anti-Traditionalisten vom Neuen als dem stets Besseren anzuhängen. Wir müssen uns auch mit den Inhalten jener Bestände unserer Vergangenheit auseinandersetzen, in denen wir für uns nichts Positives erkennen können. Hierbei kommt es darauf an festzustellen, was alles an Handlungen und Ereignissen, aber auch als deren Vorgeschichte jenem Negativen zuzuzählen ist. In vielen Fällen hat man im deutschen Sprachkulturraum mit der eigenen Geschichte so gründlich abgerechnet, dass der Satz von Edmund Burke, eine Nation sei die Gemeinschaft der Lebenden, der Toten und der Kommenden, für nicht wenige der hier Lebenden keinen Sinn ergibt. Man sondert sich voller Scham – und mitunter nicht ohne ein Kokettieren mit Schuld – von der jüngeren Geschichte ab, und oft nicht nur von dieser, da ja auch die Vorgeschichte als das sie erst Ermöglichende eine Komponente des als schändlich empfundenen Zusammenhanges sei. Gewiss, gerade dass wir uns kritisch mit uns selber und unserer Tradition auseinandersetzen können, ist ein hohes Gut und ein unverzichtbarer Bestand unseres Erbes. Aber der Sinn für dieses muss schwinden, wenn man die historische Kausalität ins Spekulative treibt und die Proportionen außer Acht lässt. Dem Erbe kommt eine zweifache Bedeutung 35 Friedrich H. TENBRUCK: Gedächtnis der Wissenschaft – Gedächtnis der Kultur, in: Ders., Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft (Anm. 6), S. 308  –317, hier S. 317.

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zu: eine auf das Methodische, und eine auf das Gegenständliche bezogene. Erbe bezieht sich einerseits auf die großen Leistungen der Rationalität, auf das Vermögen der kritischen Aufklärung und die Fähigkeit zu skeptischer Unruhe; Erbe bezieht sich jedoch andererseits auf die bedeutsamen Inhalte der geistigen Welt: der Religion, der Wissenschaft und der Kunst, einschließlich bestimmter moralisch-sittlicher Zeugnisse. Wir müssen auf beides achten, auf das Methodische und das Inhaltliche, und daher sowohl unsere rationale Kultur erhalten, als auch das Erreichte gegen den Sog des uferlosen Weitertreibens wie gegen den neuen Sog des Aussteigens aus der Tradition verteidigen.36 Was die Inhalte anlangt, so wäre es naiv anzunehmen, die heutige Pluralisierung der Lebens­formen und der ihnen entsprechenden Denkformen verbürge bereits den Erfolg im Dia­log zwischen Eigenem und Fremdem. Heimito von Doderer hat diese Situa­tion folgen­ dermaßen charakterisiert: „Zerfällt die Welt pluralistisch, dann hat der Dia­log keine ­Chancen mehr, wenngleich man auf den ersten Blick fast das Gegenteil erwarten möchte. Aber in e­ iner von gemeinsamer geistiger Aura und Spannung zusammengehaltenen und umschlosse­nen Welt gibt es eine begrenzte Zahl unendlich varia­tionsfähiger Anti­thesen. Im Pluralismus dagegen eine unendliche Zahl von Antithe­sen, die nichts mit sich anzufangen wissen, also ohne Variationsfähigkeit sind. Der Dialog geht heute ein durch Atomisierung des Antithetischen, durch dessen Zerfall in kleinste Teile: tot capita tot sensus heißt heute nicht ,soviel Köpfe soviel Gesinnungen‘, sondern, schlimmer: soviel Sinngebungen; jeder hat mindes­ tens gleich ein Weltbild gebaut.“ 37 So macht sich in der Gegenwart ein eigentümlicher Widerspruch in der Diskussion über kulturelle Identitäten bemerkbar: Einerseits plädiert man im Sinne des zeitgenössischen Dekonstruktivismus für den Abbau der be­grifflichen Schranken zwischen „Eigenem“ und „Fremdem“ sowie „Inländern“ und „Ausländern“, weil durch diese Begrifflichkeit angeblich Merkmale verfestigt würden, die nur falsche Formen von „Exklusion“ und „Inklusion“ schaffen; andererseits argumentiert man, dass es nötig sei, der „Vielfalt“ und „Diversität“ 38 in einer sich als pluralistisch verstehenden Gesellschaft dadurch Rechnung zu tragen, dass man das Eigenrecht gelebten Lebens nicht einschränkt. So werden Gruppenidentitäten und -identifikationen je nach Bedarf das eine Mal geleugnet, das andere Mal im Sinne eines Anspruchsrechts wieder ins Spiel gebracht. Statt sich assimilieren zu lassen, so findet man dann, sei es nötig, sein „Recht auf Anderssein“ offen 36 Vgl. Thomas NIPPERDEY: Neugier, Skepsis und das Erbe. Vom Nutzen und Nachteil der Geschichte für das Leben, in: Ders., Nachdenken über die deutsche Geschichte, 2. Aufl., München 1986, S. 7–20, hier v. a. S. 19 f. – Vgl. in diesem Zusammenhang auch Christian MEIER: Wandel ohne Geschichtsbewußtsein – ein Paradox unserer Zeit ?, Basel 2004. 37 Heimito von DODERER: Repertorium. Ein Begreifbuch von höheren und niederen Lebens-Sachen, 2. Aufl., München 1996, S. 102 f. ­ 38 In Bezug darauf macht sich allerlei politische Schönrednerei und Migrationskitsch breit, etwa wenn davon die Rede ist, dass jeder Zuwanderer eine „Bereicherung“, dass – gleichgültig, ob Flüchtling oder Wirtschaftsmigrant – „kein Mensch illegal“, und dass im Volk eine „Sehnsucht nach Vielfalt“ nachweisbar sei.

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„leben“ zu können. So kommt es dazu, dass man sich grundlegenden kulturellen Anpassungen an jene Gesellschaft verweigert, indem man deren liberale Spielregeln gegen sie selber wendet. Gewiss hat diesen Entwicklungen jene „Kulturrevolution“ der 1960er- und 1970er Jahre vorgearbeitet, deren Proponenten in Auseinandersetzung mit Restbeständen eines unheilvollen Nationalismus in Europa eine Ideologie der Abschaffung jedes die Idee des Weltbürgertums angeblich einschränkenden Patriotismus vertreten haben. Die in diesem Geist gegen Fremdenfeindlichkeit und zur Toleranz Erzogenen konnten sich als wohlwollende Menschen verstehen, die im Sinne einer kritischen Geschichtsbetrachtung aus den Feh­lern der Vergangenheit gelernt hatten. Allerdings haben sich in mehreren der von ihnen als „modern“ und als „bunte Republiken“ aufgefassten europäischen Staaten im Laufe von Jahrzehnten Parallelgesellschaften herausgebildet, die vor allem durch Bildungsverweigerung, Jugendkriminalität, Widerstand gegen die Staatsgewalt und mitunter auch durch eine Affinität zum gewaltbereiten Islamismus bestimmt sind. Nicht selten schufen sich in ihnen strikt der ausländischen Herkunft folgende Banden und Clans Räume, in denen die Gesetze des Staates nur noch wenig gelten; dies auch deshalb, weil die Staatsmacht nur beschränkt in der Lage zu sein scheint, die Gesetze in diesen Milieus durchzusetzen. Als eine Folge dessen wird das Thema Integration mehr und mehr mit der Frage der Gewaltprävention in Verbindung gebracht. Auch jenseits von notorisch xenophoben Positionen treffen daher in der Mehrheitsgesellschaft vor allem gewisse Formen einer religiös legitimierten Gewalt in Verbindung mit ethnisch grundierten Gruppenegoismen zunehmend auf Wider­stand. Hier will man sich nicht mehr genötigt fühlen, „ständig das Fremde zu konfrontieren und zu tolerieren und zu debattieren und zu exkulpieren und zu integrieren, und […] ständig das Eigene abzuwerten, zu hinterfragen, zu dekonstruieren, kleinzureden, wegzureden, auszureden und zu beschuldigen.“ 39 Auch wird man sich des fließenden Übergangs vom friedfertigen, soziale Konflikte meidenden Menschentyp zum Feigling bewusst, der fremde Aggressivität moralisch zu rechtfertigen sucht und die eigene Scheu vor der Mobilisierung von Gegenwehr auf dem Boden von Recht und Ordnung40 moralisch zu verkleiden versteht. Allzu lange neigte man dazu, die staatliche Gewalt nur als ein Element anzusehen, das gezähmt werden soll, und nicht auch als ein Mittel zur Bekämpfung von Gewalt in der Gesellschaft.41 39 Martin LICHTMESZ: Die Verteidigung des Eigenen. Fünf Traktate, 4. Aufl., Schnellroda 2015, S. 79. 40 Vgl. Ralf DAHRENDORF: Law and Order, London 1985. 41 Besonders prekär ist in Deutschland, dem wirtschaftlich führenden und auch politisch höchst einflussreichen europäischen Land, die Einstellung zum Wehrdienst, wie dies unter anderem durch das Erkenntnis des Bundesverfassungsgerichts der Bundesrepublik Deutschland aus dem Jahre 1995 bezeugt wird, wonach die Verwendung des umstrittenen Tucholsky-Zitats „Soldaten sind Mörder“ vom Grundrecht auf freie Meinungsäußerung gedeckt sei und keine strafwürdige Beleidigung darstelle, solange es sich um eine allgemeinpolitische Aussage handelt. Dies hat wohl vor allem damit zu tun, dass einige deutsche Politiker und Ver-

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Was verschiedentlich verloren ging, ist die von Heimito von Doderer für jeden echten Dialog als unverzichtbar angesehene gemeinsame geistige Aura, die für die Fest­stellung des Sinngehalts sowie der Triftigkeit künstlerischer Schöpfungen sowie morali­scher Haltungen und Handlungen unerlässlich ist. Die in einer solchen geistigen Aura ermittelte „Wahrheit“ im Sinne des in Kunst und Moral Geltenden ist natürlich keine Eigenschaft der Wirklichkeit, sondern eine Eigenschaft des von Menschen zu ihr – also zu anderen Menschen oder zu sich selbst – eingenommenen und sprachlich zum Ausdruck gebrachten Verhältnisses. Anders ist die Frage nach der Wahrheit in den histo­rischen Disziplinen geartet, welche sich der Darstellung und Analyse dieser Verhältnisse annehmen. Sofern sie uns bedeutsam erscheint, hängt allerdings viel davon ab, ob wir die historischen Kultur­ wissenschaften auch als „wirkliche“ Wissenschaften verstehen lernen, obschon ihre Metho­ den und Forschungstechniken nicht den strengen Anforderungen des mos geometri­cus genügen. Wenn wir sie ständig an dem Ideal der höchsten Sicherheit messen, wie es durch die Formalwissenschaften und die exakten Naturwissenschaften repräsen­tiert wird, werden sie durch das eindrucksvolle, aber zumeist inadäquate Vorbild dieser Diszipli­nen in der Ausbildung ihrer eigenen Wissenschaftlichkeit geschädigt. Man wird darauf achten müssen, dass die Idee der historischen Kulturwissenschaften nicht dem in anderen Wissenschaftsbereichen ent­wickelten Ideal von Exaktheit und Präzision geopfert wird. Wahrheit soll als das Ziel der Wissenschaften angesehen werden, nach dem sich ihre unterschied­ lichen Wege, die wissenschaftlichen Methoden, richten müssen, und nicht ist die Wahrheit einer ganz bestimmten wissenschaftlichen Methode nachgeordnet. Bereits im 19. Jahrhundert wurde durch die Telegraphie und das revolutionierte Ver­ kehrswesen jene Globalisierung eingeleitet, die vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahr­ hun­ derts den technischen, ökonomischen und kulturellen Wandel im Weltmaßstab eminent beschleunigte. Daraus, aber insbesondere aus den Folgen einer unter Umständen anhaltenden Massenimmigration, erwächst den Kulturwissenschaften in dem sich in seinen Denk- und Lebensformen wandelnden Europa eine neue Aufgabe: die Akkordierung der Inhalte und Formen des in kultureller Hinsicht Eigenen und Fremden. Die Auseinandersetzung dieser Wissenschaften mit dem Erbe ist zugleich eine Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen für ihr eigenes Bestehen. Der Umgang mit dem kulturellen Erbe, das den Kernbestand der Geisteswissenschaften ausmacht, ist nicht allein dem Wissen, sondern auch der Klugheit, der phrónesis im Verständnis der alten Griechen, geschuldet. Es ist dies die konservative Tugend, die auch der Fortschritt braucht. Erbe und Fortschritt stehen in Spanfassungsjuristen ihr Land lieber als moralische Nation denn als Staatsnation verstehen und ihm gegenüber moralische Aufträge formulieren, mit denen eine Art Ablasshandel mit der deutschen Geschichte getrieben wird. Von den Auswirkungen dieser Politik sind gleichwohl auch andere Nationen betroffen, deren Repräsentanten als Realpolitiker dem Primat einer moralischen Idealpolitik nicht unter allen Bedingungen Positives abgewinnen können.

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15. KULTURERBE

nung zueinander, schränken sich wechselseitig ein und verhindern so gleichermaßen eine Ideologie des Traditionalismus wie des Progressismus. Wir zehren, wenn auch in ­kritischer Auseinandersetzung mit ihm, von unserem Erbe. Unsere Kreativität, unsere Träume von heute, finden in ihm, da wir nicht alles selber geschaffen haben, einen Gegenhalt im Wechsel der Dinge und Eindrücke. Damit verbunden ist die Aufgabe, die geschichtliche Wirklich­keit nach Maßgabe der mit aktuellen Befindlichkeiten, Hoffnungen und Befürchtungen verbundenen Interessen je­weils so neu zu ordnen, daß die Linien entdeckt werden können, die, wie Friedrich Tenbruck einmal sagte, „aus der Vergangenheit kommend, sich zu unserer Gegenwart verschlungen haben, damit wir erkennen, zu welchen Zukünften wir uns noch entschließen können, was sich noch bewahren läßt und was dabei auf dem Spiel steht“.42

42 Friedrich H. TENBRUCK: Was sind und was sollen die Geisteswissenschaften heute? (Anm. 6), S. 184.

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Schlussbemerkungen „Der erste Schritt zur Wahrheit ist der Zweifel.“ Denis Diderots angeblich letzter Satz

„Es gibt“, wie Ludwig Marcuse einmal bemerkte, „keine Tradition mehr, nur noch Tradi­ tionen; auch keine Traditionslosigkeit, selbst sie nur im Plural.“1 Und so erscheint denn auch das Bemühen um die Sicherung eines bestimmbaren oder gar kanonisierten kulturellen Erbes vielen Zeitgenossen als ein abwegiges Bestreben, zumal es sich auf etwas richtet, das im Reich des Vergangenen liegt. Der Trend zur technisch-ökonomischen Anwendbarkeit des Wissens – und nur ein solches gilt vielen als sinnvoll, weil zukunftsweisend – erfasst in einem bislang unbekannten Ausmaß die Schule und die Universität als die Stätten des Wissens. Die Fixierung auf die Zukunft führt dabei zu einer Verengung des historischen Bewusstseins,2 was sich allerdings trefflich mit der Auffassung von der Geschichte als einem Panoptikum vormoderner Lebensweisen vereinbaren lässt, dem in der Mediengesellschaft von heute immerhin ein Unterhaltungswert zukomme. Der Wunsch, die Vergangenheit zu befragen, um sich und seine Gegenwart zu verstehen und im Lichte der vergangenen Wirklichkeit sich zukünftige Möglichkeiten und Unmöglich­keiten auszumalen, scheint allenthalben zu schwinden. So erscheint es angebracht, sich noch einmal zumindest kurz zu vergegenwärtigen, welche Aufgaben die Historie des menschlichen Denkens, Wollens und Handelns, die den Kernbestand der Kulturwissenschaften bildet, erfüllen kann. Sie liefert zunächst den Nachweis dessen, was der Mensch im Guten wie im Bösen in Religion, Wissenschaft und Kunst sowie in Politik und Wirtschaft zu leisten vermag, aber auch dessen, was seine Kräfte übersteigt. Indem sie uns dabei die Vielheit menschlichen Daseins zugänglich macht, befreit sie uns von den Blendungen durch die Gegenwart und von den Vorurteilen des Augenblicks, indem sie uns sehen lehrt, inwiefern wir dem uns zeitlich fern Erscheinenden verwandt sind, inwiefern uns aber zeitlich Nahes fremd sein kann. Schließlich ist diese Historie aber die wichtigste Instanz in der Sicherung des Anspruchs auf kritische Selbsterkenntnis durch 1 Ludwig MARCUSE: Argumente und Rezepte. Ein Wörter-Buch für Zeitgenossen, Zürich 1973, S. 129. 2 Die forcierte Beschwörung der Zukunft entspringt einem zwielichtigen Affekt: es kann dies Ausdruck eines gut begründeten Willens nach Änderung aktueller Verhältnisse sein, aber auch eineAusrede für Gegenwartsflucht, also des nicht immer bewussten Bestrebens bestimmtes Vergangene zu verbergen.

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Schlussbemerkungen

die Praktizierung von Fairness gegenüber vergangenen Zeiten, wenn nötig auch gegen alle Formen des Geläufigen und Gefälligen. Kaum jemals wurde dieser Intention auf schönere Weise Ausdruck verliehen als durch Leopold von Ranke in seiner Abhandlung „Ueber die Verschwörung gegen Venedig, im Jahr 1618“: „zur Vertheidigung derjenigen, die sich nicht mehr vertheidigen können, die Wahrheit an’s Licht zu bringen, werde ich immer für eine der wichtigsten Pflichten der Historie halten.“ 3 Der wertenden Rechthaberei der eigenen Zeit entgegenzutreten – dies ist die Aufgabe all derer, die nicht ausschließen, dass hinter dem, was die jeweilige Gegenwart für unverrückbar gewiss hält, das zuschanden werden könnte, was Wahrheitsstreben und moralische Verpflichtung ausmacht. Nur sofern man sich klar macht, dass dies beides zusammenhängt, dass man sich der Idee der Wahrheit also auch moralisch verpflichtet, wird man bestimmte Gegenwartsgewissheiten in Zweifel ziehen oder aber fälschlich für unwahr Gehaltenem zur Anerkennung verhelfen. Der dabei jeweils am Werk befindliche Zweifel ist weder ein Feind der Moralität noch ein Feind der Wahrheit, sondern ein ständiger Antrieb, nach dieser zu suchen. Er ist ein Zustand, der uns allerdings nur gefallen kann als Einsicht in die Abwesenheit falscher Überzeugungen und Annahmen, von denen wir uns befreit fühlen. Dann streben wir über die Skepsis hinaus nach richtigen Überzeugungen und Annahmen, welche wiederum nur solange gelten, als ihnen nicht auf der Grundlage neuer Erfahrungen und Einsichten abermals mit Zweifel begegnet wird. Wer sich aber dem Zweifel verschließt, weil er sich im Besitz der unverrückbaren Wahrheit wähnt, sympathisiert fast immer mit jenen Ordnungen der Unfreiheit, welche die Wahrheitssuche beeinträchtigen oder gar unmöglich machen.

3 Leopold von RANKE: Ueber die Verschwörung gegen Venedig, im Jahr 1618, Berlin 1831, S. 44.

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Personenregister ABBOTT Andrew 90, 125 ACHAM Karl 15, 16, 65, 142, 203, 225, 250, 303 ADORNO Theodor Ludwig Wiesengrund 131 ADRIAN Michael 108 AGASSI Joseph 249 ALAIN, Künstlername von Émile-Auguste Chartier 301 ALBERT Hans 249 ALBRECHT Clemens 20, 65, 376 f. ALEKSANDROWICZ Dariusz 68, 94 ALEXANDER der Große (Alexander III. von Makedonien) 389 ALEXY Robert 369 ALLISON Graham Tillett 264 AMBROSIUS von Mailand, Kirchenvater 107 AMÉRY Jean (eig. Hans Mayer) 147, 268 AMONN Alfred 321 ANDEREGG Johannes 73 ANDRESKI Stanislav 64 ANSCOMBE Gertrude Elizabeth Margaret 146, 251, 274 APEL Karl-Otto 226 ARENDT Hannah 115, 120, 185, 337 ARISTOTELES 17, 25, 34, 51, 119, 128, 181, 220, 309, 318 ARNSWALD Ulrich 128 ARON Raymond Claude Ferdinand 326 ASSMANN Aleida 73 ATKINSON Ronald F. 250 AUGUSTINUS, Bischof von Hippo Regius 200, 276, 388 AURELIAN(US) Lucius Domitius 388 AUSTIN John Langshaw 249 AVERR(H)OËS, s. Ibn Ruschd 350 AVICENNA, s. Ibn Sina 350 BABEROWSKI Jörg 356 BACH Johann Sebastian 118, 124 BACKES Uwe 336 BACON Francis 59 BADAL Yvonne 233 BAECKER Dirk 352 BAKUNIN Michail Alexandrowitsch 315 BALZAC Honoré de 122 BAMBERG Maria 96 BANGERT Sara 204 BARNES S. Barry 249, 270 BARONE Enrico 153

BAUER Otto 384 BAUMGARTNER Hans Michael 172, 245 BAYLE Pierre 100 BEANEY Michael 246, 278 BEARD Charles Austin 250 BECKER Carl Lotus 250 BEETHOVEN Ludwig van 118, 122, 124, 127 BENEDICT Ruth 105 BENN Gottfried 121, 126, 132 BERGHOFF Hartmut 341 BERGSON Henri 295 BERKHOFER Robert F. 274 BERLIN Isaiah 50, 309 f. BERMES Christian 137 BERNHARD von Clairvaux 389 BESIER Gerhard 356 BETZ Werner 137 ff., 144 BHATTI Anil 204 BIBL Viktor 58 BICHLER Reinhold 203, 250 BIERCE Ambrose 65 BINDER Thomas 142 BIRKMAYER Walther 245, 253 BIRN Ruth Bettina 211 BLACK Max 247 BLAIR Anthony „Tony“ Charles Lynton 294 BLANQUI Louis-Auguste 144 BLEI Franz 346 BLOCH Ernst 208 BLOCH Marc 261, 263, 326 BLOOR David 249, 270 BLUHM Harald 321 BOAS Franz 105, 203, 205 ff., 216, 376 BÖHM Stephan 152 BÖHME Hartmut 73 BORDA Jean-Charles de 320 BORGARDS Roland 73 BORGES Jorge Luis 96 BÖSCHENSTEIN Bernhard 117 BOUDON Raymond 117, 170 f. BOUTROUX Étienne Émile Marie 135 BRACHER Karl Dietrich 338 BRANDT Reinhard 128 f. BRECHT Arnold 315, 317, 351, 359 BREGGER Johann Georg 32

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Personenregister BREITENSTEIN Mirko 309 BREMER Claus 117 BROMAND Joachim 100 BRÜCKMANN Artur 125 BRUNNER Otto 326 BRUNO Giordano (eig. Filippo Bruno) 93, 102 BRUS Günter 122 BUCHANAN James M. 379 BUCKLE Henry Thomas 220 BUDDHA (auch: Siddhārtha Gautama) 276 BUFFON Georges-Louis Leclerc, Comte de 74, 166 BURCHARDT Matthias 63 BURCKHARDT Jacob Christoph 138 BURKE Edmund 392 BUSCH Wilhelm 46 BUSCHKOWSKY Heinz 112 BUSH George Walker 355, 365 BUTLER Judith 383 BUTLER Samuel 172 BUTTERFIELD Herbert 250 CABET Étienne 144 CAESAR (CÄSAR) Gaius Julius 100 CAHILL Kevin M. 275 CALVIN Jean (Johannes) 200 CANGUILHEM Georges 52 CARLYLE Thomas 330 f., 334, 340, 346 CARNAP Rudolf 247 f., 269 CARR Edward Hallett 255 CASARES Adolfo Bioy 96 CASSIRER Ernst 31, 55, 115, 326 ff., 330 ff., 339 ff., 344, 346 CATO der Ältere (Marcus Porcius Cato Censorius) 258 CHARGAFF Erwin 56, 60, 324 CHARTIER Émile-Auguste, s. Alain CHENEY Dick 355 CHLADENIUS (auch: CHLADNI) Johann Martin 213 CHOPIN Frédéric 118 CICERO Marcus Tullius 72, 222 CLINTON William Jefferson “Bill” 236, 294 COHEN Albert 198 COHEN Percy 272 COKE Edward 311, 313, 353 COLLINGWOOD Robin George 250, 303 COMTE Isidore Marie Auguste François Xavier 21, 75, 143 f., 220, 246, 341 CONDORCET Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis de 319 f. COOLEY Charles Horton 290 f.

CROMWELL Oliver 331 CUVIER Georges de (eig. Jean-Léopold-Nicholas Frédéric Cuvier) 74 DAHRENDORF Ralf 44, 394 DANTE Alighieri 257 DANTO Arthur Coleman 249, 266, 273 DARNTON Robert Choate 299 f. DARWIN Charles Robert 60, 93,102, 144, 149, 166, 224, 373 DASTON Lorraine 161, 169, 172 DAVIDSON Donald 251 DEMANDT Alexander 35, 240, 254, 258 f., 276 f., 309 DEMOKRIT von Abdera 139, 200, 219 f. DENNEY Reuel 291 DERICUM Christa 64 DESCARTES René 38, 228 f. DESMOULINS Camille 48 DESTUTT de Tracy (Antoine Louis Claude D., Comte de Tracy) 325 DEUEL Gertrud 254 DEWEY John 37 DIDEROT Denis 100, 312 f., 397 DIERSE Ulrich 137 DILTHEY Wilhelm 19, 21, 24, 26 f., 33, 57, 67, 70, 73, 77, 83, 101, 108, 125, 135 f., 139 ff., 146 f., 180 f., 188, 229, 245, 250 f., 275 DODERER Heimito von (Franz Carl Heimito Ritter von D.) 137, 180, 393, 395 DONAGAN Alan 250, 272 DONOGHUE Denis 132 DORN Valentine 131 DRAY William Herbert 249, 251 f., 271 f. DROSTE-HÜLSHOFF Annette von 132 DROYSEN Johann Gustav 250, 276 DURKHEIM David Émile 105, 149, 206, 224 EDER Gernot 219 EIBL-EIBESFELDT Irenäus 298 EICHMANN Adolf 185 EINSTEIN Albert 66, 254, 355, 365 EISLER Rudolf 138 ELIAS Norbert 326 EMPEDOKLES von Akragas 219 ENGEL-JÁNOSI Friedrich (von) 250 ENGELS Friedrich 143 f., 314, 325 ERIKSON Erik H. 105 EULER Leonhard 35 EUSEBIUS von Caesarea, Kirchenvater 388

400

Personenregister EVANS Richard John 274 EXPORT Valie (eig. Waltraud Stockinger) 123 FABER Karl-Georg 250, 254 FABIAN Reinhard 142 FAHRENBACH Hans 148 FAUSER Markus 73 FAY Brian 267 FEBVRE Lucien 261 FEDOSSEJEW P. N. 259 FEINSTEIN Dianne 355, 365 FENSKE Hans 266 FERGUSON Adam 75, 181 FETSCHER Iring 59 FEUERBACH Ludwig 34, 105 FEYERABEND Paul K. 172, 356 FICHTE Imanuel Heinrich 48, 72, 337 FICHTE Johann Gottlieb 72 FLAUBERT Gustave 29 FLECK Ludwik 135 f., 232 FLIESSBACH Holger 365 FÖLDÉNYI László F. 131 FØLLESDAL Dagfinn 246 FOUCAULT Michel 273 FRAASSEN Bas C. van 255 FRANK Philipp 254 FRANZ JOSEPH I., Ks. von Österreich etc. 301, 336 FRAZER James George 105, 216, 270 FREUD Sigmund 105, 149, 198, 224, 373 FREVERT Ute 341 FREY Gerhard 250 FRIEDERICH Christoph 213 FRÜHWALD Wolfgang 81 FULLER Timothy 345 FÜRST Martina 282 FURTENBACH Siegfried 261 GADAMER Hans-Georg 108, 229, 250. 303 GADENNE Volker 176 GALIANI Ferdinando 123, 204 GALILEI Galileo 38. 40, 93, 102, 165 GALLAGHER Catherine 274 GALLE Johann Gottfried 23 GALLIE Walter Bryce 249, 266 GANS Eduard 332 GARDINER Patrick Lancaster 249 ff. GARVER Newton 275 GEACH Peter 251 GEBAUER Stephan 196

GEHLEN Arnold 49, 313 GEIGER Theodor 152, 154, 157, 325 GELLIUS Aulus 36, 54 f., 132, 349 GEORGE Stefan Anton 132 GEYER Christian 381 GLAUSER Friedrich Charles 123 GLAZER Nathan 291 GLOCK Hans-Johann 246 GOBINEAU Joseph Arthur de 330 f., 334, 340, 346 GOEBBELS Paul Joseph 230 GOETHE Johann Wolfgang von 81, 116. 124, 139, 167, 348 GOFFMAN Erving 42 GOLDHAGEN Daniel Jonah 211 GOLOB Eugene O. 267 GOMBOCZ Wolfgang 282 GOMPERZ Heinrich 142, 191 ff. GONSETH Ferdinand 142 GOODMAN Henry Nelson 275 GOYA Francisco de (Francisco José de G. y Lucientes) 122 GRAB Walter 345, 354 f. GRAFTON Anthony 323 GREENBLATT Stephen 274 GREINER Bernd 365 GREINER Bettina 365 GREY Edward 256 GRIESE Friedrich 241 GRILLPARZER Franz Seraphicus 127 GRUNER Rolf 249 HABERLER Gottfried 152 HABERMAS Jürgen 38, 93, 95, 108, 142, 148, 158, 226, 232 HACKING Ian 273 HAECKEL Ernst 102 HAEFS Gisbert 96 HAJATPOUR Reza 105 HALLER Rudolf 246, 275, 279 HALMER Nikolaus 108 HAND Annika 137 HANSEN Klaus P. 73 HANSON Norwood Russell 225 HARING Sabine A. 341 HARNONCOURT Nikolaus 298 HARRIS Marvin 203 HART Herbert L. A. 228, 263 HARTMANN Nicolai 33, 223, 278 f. HAUSMANN Rudolf 351

401

Personenregister HEGELHAUSSMANN Thomas 249, 254, 271 HAYDEN Michael 355 HAYEK Friedrich August von 85, 144, 167, 181, 193, 310 f., 337, 342 HAYM Rudolf 333 HEGEL Georg Wilhelm Friedrich 25 f., 48,72, 124, 138 f., 172 f., 214, 226, 235, 260, 266, 268, 300, 302 f., 330, 332 ff., 337, 340, 346, 356 HEGSELMANN Rainer 47, 128 HEIDEGGER Martin 26, 95, 128, 173, 268 HEIMPEL Hermann 250 HEINDL Gottfried 245, 253 HEINE Christian Johann Heinrich 305 HEINSOHN Gunnar 362 HELMHOLTZ Hermann von 72 HELVÉTIUS Claude Adrien 281, 289 HEMPEL Carl Gustav 249, 270, 272 HENNIS Wilhelm 20, HERAKLIT von Ephesos 139, 219, 279, 302 HERBART Johann Friedrich 125 HERDER Johann Gottfried 21, 105, 204, 207, 229, 259 HERZEN Alexander 234 HESIOD 258, 276 HEUß Alfred 250 HIEBAUM Christian 282 HINTZE Otto 250 HIPPOKRATES von Kos 115 HITLER Adolf 211, 345 f. HOBBES of Malmesbury, Thomas 59, 139, 225 f., 309, 334, 341 HOERSTER Norbert 228 HÖFER Ulf 142 HOFF Hans 245 HOFFER Eric 329 HOFMANN Hasso 351, 353 HOFMANN Werner 154 HOFMANNSTHAL Hugo von (eig. Hugo Laurenz August Hofmann, Edler von H.) 227 HOGREBE Wolfram 100 HOHL Ludwig 121, 126 f., 130 HÖLDERLIN Friedrich HÖLDERLIN Johann Christian Friedrich 132 f. HOLLIS Martin 187 ff., 250, 271 HOMANS George Caspar 249 HOMER 258 HONORÉ Anthony Maurice 263 HORKHEIMER Max 131, 157 HORTON Robin 249 HOUELLEBECQ Michel 380

HRUSCHKA Joachim 297 HUIZINGA Johan 371 HUMBOLDT Alexander von 81, 150 HUME David 75, 100, 105, 140, 152, 165, 169, 181, 268 HUNTINGTON Samuel P. 364 f. HUSSERL Edmund 26, 267 HUXLEY Thomas H. 102 IBN RUSCHD (Abu al-Walid Muhammad ibn Ahmad ibn Rushd) 350 IBN SINA (Abu Ali ibn Sina) 350 IGGERS Georg G. 259 IGNATIUS von Loyola 144 INNOZENZ III., Papst 389 IONESCO Eugène 117 IWASAKI Soji 55 JAHANBEGLOO Ramin 310 JAMES William 37, 108 ff., 216, 254 JANET Pierre Marie Félix 190 JÁNOSKA Georg 142 JARVIE Ian C. 249 JÄSCHE Gottlob Benjamin 43 JASPERS Karl 108, 141, 189 ff., 193 JELLINEK Georg 228 JENNINGS Herbert Spencer 40 JESUS Christus (Jesus von Nazareth) 35, 100, 104, 107, 349 JOHANNES, Evangelist 23, 35, 42, 53, 349 JOHANNES CASSIANUS (auch: Johannes von Massilia) 107 JOHNSON Samuel 331 JORDAN Stefan 246, 272 JOSEPH II., Ks. des Hl. Römischen Reiches 58 JOUBERT Joseph 123, 204 JOUFFROY Théodore 123, 180, 204 JOY Bill 190 JUHOS Bela 146 KAISER Reinhard 50, 309 f., 328 KANT Immanuel 36, 43, 45, 47, 58, 83, 97, 100, 124, 137 ff., 142, 163, 165 f., 221, 229, 267, 302, 373 KAUBE Jürgen 23, 64, 80, 87, 90, 375 KELSEN Hans 49 f., 113, 145, 228,263, 345, 357 f., 360 KEPLER Johannes 32, 102 KEUTH Herbert 176 Kielmansegg Peter Graf 111, 264 ff., 307 f., 314 f., 322 f., 345, 354 f., 357 f., 361, 363

402

Personenregister KIERKEGAARD Søren (Sören) Aabye 250 KIMMICH Dorothee 204 KINKEL Gottfried 138 KIPPENBERG Hans G. 271 KITTSTEINER Heinz Dieter 73 KLAMLER Christian 320 KLEMPERER Viktor 144 KLIBANSKY Raymond 55 KNOLL August Maria 106, 350 KNOLL Manuel 318 KNOLL Reinhold 350 KNOX John 331 KOCKA Jürgen 250 KOHLER Berthold 380 KOHLHAAS Peter 267 KOLAKOWSKI Leszek 215 KOLLER Peter 306, 318 KONDYLIS Panajotis 50. 51, 56, 158 f., 381 f. KONERSMANN Ralf 73 KOPERNIKUS Nikolaus (eig. Niklas Koppernigk) 93, 102 KOSELLECK Reinhart 213, 229 f., 250, 262, 274, 300 ff., 390 KÖSTER Kurt 371 KOWALEWICZ Michel Henri 300 KOX Anne J. 47, 128 KRAFT Victor (Viktor) 146, 152, 360 KRAMER Alan 365 KRATYLOS 177, 219 KRAUS Karl 57, 66, 81, 150 KREBS Franz Joseph 301 KRIELE Martin 313, 353 KROEBER Alfred 105 KRÖNER Franz 142 KROSZ Matthias 267 KRÜGER Gerhard 23 ff. KÜHL Stefan 61, 63 KÜHN Simone 58 KUHN Thomas 175, 271, 275 KÜNNE Wolfgang 39 KUNZ Edith Anna 73 KURZWEIL Ray 190 KUTSCHER Irmgard 315 KÜTTLER Wolfgang 19, 70, 373 LAFAYETTE (Marie-Joseph Motier, Marquis de L.) 143 LANDMANN Salcia 41 LAQUEUR Walter 73 LASKI Harold Joseph 343 ff.

LATSIS Martin Iwanowitsch 356 LAUFER Berthold 203 LAZARUS Moritz (Moses) 105, 216 LE BON Gustave 287 LE PLAY Pierre Guillaume Frédéric 144 LEISEGANG Hans 142 LENIN Wladimir Iljitsch (eig. Uljanow) 144, 208 f., 314 f., 318, 325, 340, 345, 356 LENK Kurt 325 LEONARDO da Vinci 55, 117 LEROUX Pierre Henri 144 LESER Norbert 338 LEVERRIER Urbain Jean Joseph 23 LÉVY-BRUHL Lucien 205 f. LEWIS Hywel David 216, 268 LICHTENBERG Georg Christoph 163 LICHTMESZ Martin 394 LIEBER Hans-Joachim 149, 224, 325 LIESSMANN Konrad Paul 30 LINKE Detlef B. 296 f. LINNÉ Carl von (urspr. Carl Nilsson Linnæus) 74 LIST Martha 32 LISZT Franz 118 LITT Theodor 138 LOCKE John 99, 105 f., 148, 165, 226, 268, 315, 352 LOOSER Max 275 LORENZ Konrad 76 LOWE Keith 196 LOWIE Robert 206 Lübbe Hermann 100, 250, 259, 267, 356 LUCAS Friedrich J. 261 LUCHESI Brigitte 271 LÜDERS Michael 355 LUHMANN Niklas 23, 149, 224, 352 LUKÁCS Georg 26 f., 157 LUKAS, Evangelist 107 LUKES Steven M. 250, 271 LUTHER Martin 105, 200, 310, 331, 350, 389 LUYTEN Norbert Alphonse 172 LYELL Charles 74, 93, 102, 166 LYSSENKO Trofim Denissowitsch 351 MACH Ernst 135, 146, 267 MACHIAVELLI Niccolò 44, 334 MACIVER Robert Morrison 335 MACKIE John L. 255, 257 MALINOWSKI Bronislaw 203 MALLARMÉ Stéphane 268 MANDELBAUM Maurice 250

403

Personenregister MANDEVILLE Bernard de 99, 181 MANN Golo 250 MANNHEIM Karl 26 f., 141, 152, 154 ff., 206 f., 260, 276, 303 MAO Zedong 144, 195, 315, 318 MARCUSE Ludwig 49, 95, 122, 176, 217, 301, 374, 397 MARKL Hubert 190 MARQUARD Odo 154 MARTENS Ekkehard 39 MARTINICH Aloysius P. 246 MARX Karl 21, 25 f., 30, 34, 48 f., 149, 154 f., 172, 224, 226, 235, 246, 260, 314, 325, 356 MARX Reinhard, Kardinal 379 MATTHÄUS, Evangelist 63 f. MATUSSEK Peter 73 MAURITSCH Peter 116 MAUSS Marcel 206 MAUTNER Franz Heinrich 163 MAYR Ernst 40, 52, 54 MEAD George Herbert 290 MEAD Margaret 105 MEIER Christian 185, 245, 250, 371, 393 MEINECKE Friedrich 250, 263 MELVILLE Gert 309 MENDEL Gregor Johann 351 MENGER Karl 145, 360 MERKEL Angela 379 MERTON Robert King 213 f., 326 MESTMÄCKER Ernst-Joachim 232 f. MILL John Stuart 18 f., 61, 73, 125, 143 f., 175, 268 MILLAR John 75 MILLER Norbert 139 MINK Louis O. 249, 267 MIRABEAU (Honoré Gabriel Victor de Riqueti, Marquis de M.) 143 MNEMOSYNE (mytholog. Göttin der Erinnerung) 117, 132 f. MOEBIUS Stephan 73 MOHLER Armin 302 MOHR Arno 18, 211 f. MOMMSEN Wolfgang J. 250, 262 MONTEFIORE Alan 261 MONTESQUIEU (Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède et de M.) 181, 256, 311, 352 MOORE George Edward 246 ff. MOORE John A. 54 MORGAN Lewis Henry 216 MORGENSTERN Oskar 175 MOSER Shia 207

MOZART Wolfgang Amadeus 123 MUEHL Otto 122 MÜHLMANN Wilhelm E. 283 f., 289 MULDER Henk L. 47, 128 MÜLLER Lothar 73 MÜLLER Max 154 MÜNKLER Herfried 321 MURDOCK George P. 203 MUSIL Robert 116, 126 NAGEL Ernest 249, 256, 260 NAPOLEON Bonaparte 325, 374 NEIDHARDT Friedhelm 321 NESTLE Wilhelm 17 NEUBACHER Hermann 196 NEUMANN John von 175 NEURATH Otto 75, 247, 252, 278 NICOLAUS CUSANUS (auch: Nikolaus von Kues) 99, 103 NIDDITCH P. H. 297 NIETZSCHE Friedrich 37, 57, 59, 65, 73, 79 f., 105, 129, 132, 225, 301, 352, 373 NIPPERDEY Thomas 250, 373, 393 NISBET Robert Alexander 312, 326 NITSCH Hermann 122 NOHL Herman 141 NOLL Monika 52 NOLTE Ernst 250 NOZICK Robert 316 NÜNNING Ansgar 73 NUSCHELER Franz 343 f. NÜSSLEIN-VOLHARD Christiane 285 NYMAN Heikki 130 OAKESHOTT Michael Joseph 345, 354 OEXLE Gerhard 250 OLBRICH Erhard 211 OPPENHEIM Paul 249 ORDINE Nuccio Diamante 349 ORNIG Nikola 383 ORWELL George (eig. Eric Arthur Blair) 304 OSSOWSKI Stanisław 241 OSTERHAMMEL Jürgen 100, 102, 104, 324 OTTO Walter Friedrich 69 PAPCKE Sven 156 f. PARETO Vilfredo 171, 326, 362 PARMENIDES von Elea 219, 223, 279 PASCAL Blaise 110, 145, 228 f.

404

Personenregister PASSMORE John 250 PASTEUR Louis 253 PATON Herbert James 55 PATZIG Günther 249 PAUL Jean 139 PAULSON John 366 PEIRCE Charles Sanders 37, 254 PETERMANDL Werner 116 PFERSCHY Ulrich 320 PHILIPP II., Kg. von Mazedonien 389 PILATUS Pontius 35 PILLER Tobias 323 PINDAR 54 PIUS IX., Papst 102, 104 PLANCK Max 65, 371 PLATON 46, 107, 119, 125, 128, 219, 225 f., 254 PLINIUS der Jüngere (Gaius Plinius Caecilius Secundus) 132 PLOTIN 167 POINCARÉ Raymond 265 POMPONAZZI Pietro 350 PONS Alain 148 POPITZ Heinrich 163 f. POPPER Karl Raimund 39, 41, 48, 54, 157, 172, 174 f., 248 f., 252, 258 ff., 272, 278, 356, 358, 367 POUND Ezra Weston Loomis 126 PRICE Lucien 45 PRIESTLEY Joseph 171 PRZEWORSKI Adam 187 f. PUHL Klaus 275 PUTNAM Hilary 108 QUADFLIEG Dirk 73 QUARITSCH Helmut 302 QUETELET Lambert Adolphe 75, 144 RAIBLE Wolfgang 218 RAIS Gilles de 194 ff. RANKE Leopold von 205, 398 RAPHAEL Lutz 246 RAPP Friedrich 259 RASPAIL Jean 380 RATHENAU Walther 374 RAWLS John 305 f., 316 f. RECK Erich H. 278 REDFIELD Robert 203 REICHENBACH Hans 248 REIMARUS Hermann Samuel 103 REINHARD Wolfgang 338 f., 377 REMBRANDT Harmenszoon van Rijn 20, 124, 376

RENAN Joseph Ernest 103 RENNER Karl 340 RESCHER Nicholas 38, 249 RHEINBERGER Hans-Jörg 56 f. RICARDO David 75 RICHARZ Monika 210, 212 RICKERT Heinrich John 15, 19, 69, 73, 108, 146, 373 RICŒUR Paul 272 RICORD Philippe 253 RIEDEL Manfred 33, 250 RIEGEL Klaus-Georg 356 RIEGL Alois 277 RIESE Hans-Peter 123 RIESMAN David 291 RIESS Volker 211 RILKE Rainer Maria 132 RINNER Werner 51 RITTER Henning 88 f., 118, 302 RIVAROL Antoine de 123, 204, 222 ROBESPIERRE Maximilien Marie Isidore de 313, 345, 354 f. ROBSON John Mercel 175 RODI Frithjof 250 ROLLINGER Robert 116 ROMBACH Heinrich 154 ROOSEVELT Franklin Delano 308 RÖPKE Wilhelm 315 f. RORTY Richard 107 f. ROSENBERG Alexander 249 ROSENBERG Alfred 330 ROSS Andreas 355, 365 ROSS David 45 ROUSSEAU Jean-Jacques 143, 225 f., 257, 311 ff., 337, 352 ROYCE Josiah 287 RUBLACK Ulinka 324 RUDOLF II., Ks. des Hl. Römischen Reiches 281 RÜCKERT Joachim 313 RÜSEN Jörn 19, 70, 245 f., 250, 262, 373 RUSHDIE Salman 221, 230 f. RUSSELL Bertrand 47, 246 ff., 269 RUTTE Heiner 279 RYLE Gilbert 249, 251, 269 SAFRANSKI Rüdiger 43 f., 251, 363 SAINT-SIMON Henri de (eig. Claude-Henri de Rouvroy, Comte de S.) 75 f., 143 f., 341 f. SALEWSKI Michael 341 SALIN Edgar 56, 353 SALVIAN von Marseille, Kirchenvater 258 SAXL Fritz 55

405

Personenregister SAY Jean-Baptiste 75 SCHALK Fritz 123, 180, 204 SCHAPP Wilhelm 266 f. SCHATZ Gottfried 53, 64 f., 150 SCHEFOLD Bertram 234 SCHELER Max 29 f., 78 f., 93, 95, 108, 141, 157, 305, 323 SCHELSKY Helmut 291 SCHERKE Katharina 341 SCHIEL Jacob Heinrich Wilhelm 18 SCHILLER Friedrich (Johann Christoph Friedrich von S.) 122, 132 SCHLEGEL Karl Wilhelm Friedrich von 130 SCHLEIERMACHER Friedrich 97, 109 SCHLICK Moritz 47, 128, 145, 193, 247 f., 268, 360 SCHLÜTER Marguerite 121 SCHMID Michael 249 SCHMIDT Thorsten 196 SCHMITT Carl 209, 302 f., 312, 340, 344, 378 SCHNÄDELBACH Herbert 39 SCHNITZLER Arthur 42, 144 SCHOLL-LATOUR Peter 355 SCHOLTZ Gunter 19, 27 f., 70, 74, 101, 109, 120, 137, 250, 373 SCHOPENHAUER Arthur 250 SCHUBERT Franz Peter 123 SCHUBERT Rolf 52 SCHULIN Ernst 19, 70, 373 SCHULTE Joachim 39, 108, 167, 248 SCHULTZE Heiner 303 SCHULZ Walter 148 SCHULZE Winfried 203, 250 SCHUMPETER Joseph Alois 56, 152 ff., 157, 159, 352 f. SCHUPPERT Gunnar Folke 321 SCHWARZ Karl-Peter 384 SCHWARZKOGLER Rudolf 123 SCHWEITZER Albert 103 SCRIVEN Michael John 249 SEDMAK Clemens 309 SEELEY John R. 261 SENECA Lucius Aennaeus 115, 116, 186 SHAKESPEARE William 55, 124 SIEMONS Mark 131 SIGMUND Karl 246 SIMIAND François Joseph Charles 261 f. SIMMEL Georg 20 f., 83, 327, 376 SIMON Dietrich 57, 81 SIMON Herbert A. 270 SINGER Peter Albert David 284 SINGHAMMER Johannes 88 f.

SINN Hans-Werner 236 ff., 362 SKINNER Quentin 250 f., 271, 303 SMITH Adam 75, 169, 181 SOFSKY Wolfgang 194 f., 197 f. SOKRATES 72 SOLLORS Werner 214 SOLSCHENIZYN Alexander Issajewitsch 177 SOPHOKLES 54 SOSA E. David 246 SPAEMANN Robert 148, 226 f., 312, 314 SPECK Josef 272 SPELSBERG Angela 63 SPENCER Herbert 19, 102, 144 SPENGLER Oswald 205, 246, 275 f. SPIEKER Michael 318 SPINOZA Baruch de 36 SPRANGER Eduard 47, 118, 124, 142, 275 SRBIK Heinrich Ritter von 250 STACHEL Peter 292 STADLER Friedrich 146 STAMMLER Rudolf 182 STANZEL Franz Karl 229 STAROBINSKI Jean 131 STAUB Hans 117 STEFFANI Winfried 343 f. STEGMÜLLER Wolfgang 249 STEINGART Gabor 234 STEINTHAL Heymann (auch u.a.: Hermann oder Heinrich) 216 STERN Alfred 55, 205, 250 STIFTER Adalbert 123 STIGLITZ Joseph 362 STÖLKEN-FITSCHEN Ilona 341 STRAUß David Friedrich 103 ff. STÜRNER Rolf 30 SUHR Martin 337 SUTHERLAND Peter Denis 384 SZONDI Peter 117 TALMON Jacob Leib 336 f. Tambiah Stanley J. 96 TARDE Gabriel 198 TAYLOR Charles 108, 250 TENBRUCK Friedrich H. 31, 68, 169, 360, 375, 392, 396 TEPPER David 366 TERTULLIAN(US) (eig. Quintus Septimius Florens) 349, 388 TEUNE Henry 187 f. THIELICKE Helmut 389

406

Personenregister THOMAS Dorothy S. 182 THOMAS von Aquin 312, 388 f. THOMAS William Isaac 182 THOMPSON M. P. 297 THORMEYER Paul 139 THUKYDIDES 26, 51, 276, 336, 388 Topitsch Ernst 95 ff., 103, 106, 110, 113, 141, 151 f., 163 ff., 176 f., 250, 339, 350, 390 TOULMIN Stephen E. 146 TRAPPE Paul 152 TRIGG Roger 25, 147, 250 TROBITIUS Jörg 299 TROELTSCH Ernst 24, 157, 326 TUCHOLSKY Kurt 394 TYLOR Edward Burnett 105, 376 UEXKÜLL Jakob Johann von 40 UHLE-WETTLER Franz 388 f. ULF Christoph 116 URBAN II., Papst 389 VALENT Jutta 142 VALÉRY Paul 22, 87, 117, 122, 130 VALLA Lorenzo (auch: Lorenzo della Valle) 99, 103 VANN Richard T. 264 VATTIMO Gianni 107 f. VEESER H. Aram 274 VERGIL (eig. Publius Vergilius Maro) 276 VERNIÈRE Paul 100 VICO Gian Battista (Giambattista) 69, 145, 229 VIERHAUS Rudolf 250 VITORIA Francisco de (eig. F. de Arcaya y Compludo) 389 VOEGELIN Eric (Erich Hermann Wilhelm Vögelin) 337 VOGT-SPIRA Gregor 309 VOLLMER Gerhard 166 ff., 172 ff. VOLTAIRE (eig. François-Marie Arouet) 21, 148 VRETSKA Helmuth 51 WACH Joachim 141 WAENTIG Heinrich 289 WAGNER Fritz 250, 256 WAISMANN Friedrich 247 WALENTIK Leonhard 258 WALSH William H. 249 WALZER Michael 318 WATKINS John W. N. 249 WATSON John Broadus 52, 150 WEBER Alfred 157 WEBER Karsten 68

WEBER Max 15, 18, 20 ff., 24 f., 30, 45 f., 67, 69, 75, 82 f., 96, 119, 121, 142, 144 ff., 168, 171, 175 f., 181 ff., 188, 199, 220, 250, 257, 259, 261, 271, 277, 305, 318 f., 323, 326, 343, 352, 358 f., 371, 376, 379, 385 WEHLER Hans-Ulrich 250 WEILER Ingomar 116 WENDEL Hans Jürgen 176 WESTERKAMP Dirk 23 WESTERMARCK Edward 105 WHITE Hayden V. 249, 267, 273 WHITE Morton Gabriel 249, 266 WHITEHEAD Alfred North 43, 45 WIERSING Erhard 246 Wieser Friedrich (von) 98, 107 WIESSE Jörg 211 WILDING Peter 341 WILLIAMS Bernard 39, 125 f. WILSON Edward Osborne 233 WINAWER Bruno 41 WINCH Peter 249, 270 f. WINCKELMANN Johannes 18, 142 WINDELBAND Wilhelm 69, 220 WIPPERMANN Wolfgang 338 WISSER Josef 285 WIßMANN Jorunn 40 WITTFOGEL Karl August 157, 203 WITTGENSTEIN Ludwig 124, 130, 146 f., 182 f., 193, 227, 247 ff., 251, 267, 269 ff., 321, WITTRAM Reinhard 250 WOLFE Bertram D. 49 WOLFF Kurt H. 141 WOLTER Felix 170 WOOLF Adeline Virginia 123 WREDE William 103 WRIGHT Georg Henrik von 130, 146, 166 f., 170, 248, 250 f., 274, 276 WUNDT Wilhelm 19, 25, 70, 216, 300 YEATS William Butler 132 ZEHNPFENNIG Barbara 30 ZHOU Enlai 144 ZIMMER Dieter E. 65 ZINKERNAGEL Rolf 53, 150 ZSCHOKKE Matthias 123 ZUKOFSKY Louis 66 ZWINGLI Ulrich (auch: Huldrych, Huldreych, Huldreich) 200

407

KUNST UND WISSENSCHAF T AUS GR AZ

BAND 1:

BAND 3

KARL ACHAM (HG.)

KARL ACHAM (HG.)

NATURWISSENSCHAFT, MEDIZIN UND

RECHTS-, SOZIAL- UND WIRTSCHAFTS-

TECHNIK AUS GRAZ

WISSENSCHAFTEN AUS GRAZ

ENTDECKUNGEN UND ERFINDUNGEN

ZWISCHEN EMPIRISCHER ANALYSE UND

AUS FÜNF JAHRHUNDERTEN: VOM

NORMATIVER HANDLUNGSANWEISUNG:

»MYSTERIUM COSMOGRAPHICUM« BIS

WISSENSCHAFTSGESCHICHTLICHE

ZUR DIREKTEN HIRN-COMPUTER-

BEFUNDE AUS DREI JAHRHUNDERTEN

KOMMUNIKATION

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