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German Pages 160 [206] Year 2011
H A NS R E IC H E N BAC H
Ziele und Wege der heutigen Naturphilosophie Fünf Aufsätze zur Wissenschaftstheorie
Mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von nikolay milkov
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
PHI LOSOPH ISCH E BIBLIOT H EK BA N D 621
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet abrufbar über . ISBN 978-3-7873-2144-5
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INHALT
Hans Reichenbachs wissenschaft liche Philosophie . . . . . . . . vii Von Nikolay Milkov 1. Die wissenschaftsanalytische Methode viii | 2. Reichenbach und Schlick xi | 3. Reichenbach und Kurt Lewin xiii | 4. Die Berliner Gruppe und der Wiener Kreis xv | 5. Reichenbachs Naturalismus xx | 6. Reichenbach als Popularisator der Wissenschaft xvi | 7. Philosophische Irrtümer und endgültige Lösungen xxi | 8. Zu dieser Ausgabe xxxii | 9. Zur Edition xl | 10. Nachweis der Erstdrucke xli | 11. Bibliographie xli
hans reichenbach I. Die neue Naturphilosophie 1.1 Neue Wege der Wissenschaft (1929) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1.2 Die philosophische Bedeutung der modernen Physik
(1930) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.3 Ziele und Wege der heutigen Naturphilosophie
(1931) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 II. Radikaler Empirismus 2.1 Der logistische Empirismus in Deutschland und der
gegenwärtige Stand seiner Probleme (1936) . . . . . . . . . . . 95 2.2 Rationalismus und Empirismus: Eine Untersuchung
der Wurzeln philosophischen Irrtums (1948) . . . . . . . . 123 Anmerkungen des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
HANS REICHENBACHS WISSENSCHAFTLICHE PHILOSOPHIE
Hans Reichenbach ist heutzutage in Deutschland wenig bekannt. Die deutsche Ausgabe seiner Gesammelten Werke, von denen zwischen 1977 und 1999 sieben Bände erschienen sind, ist noch nicht abgeschlossen – die Bände acht und neun warten auf Fertigstellung. Eine Studienausgabe eines Buchs von Reichenbach wurde in Deutschland zuletzt vor mehr als vierzig Jahren veröffentlicht.1 Die Situation in Nordamerika ist eine völlig andere. Allein in den letzten fünf Jahren wurden drei Bücher Reichenbachs neu aufgelegt: (i) Experience and Prediction,2 (ii) seine Dissertation in zweisprachiger Edition3 und (iii) eine Sammlung von Aufsätzen, die Reichenbach zur Verteidigung und Erklärung der Einsteinschen Relativitätstheorie geschrieben hat. 4 Ein Grund für die Vernachlässigung Reichenbachs in Deutschland ist, daß keiner seiner Schüler hierzulande an der Universität Karriere gemacht hat.5 Ganz anders in den USA, wo Reichenbachs Studenten Carl Hempel, Hilary Putnam und Wesley Salmon zahlHans Reichenbach, Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie, übersetzt von Maria Reichenbach, Braunschweig: Vieweg, 1968. 2 Hans Reichenbach, Experience and Prediction, intr. by Alan W. Richardson, Notre Dame: University of Notre Dame Press, 2006. 3 Hans Reichenbach, The Concept of Probability in the Mathematical Representation of Reality, ed. and transl. by Frederick Eberhardt and Clark Glymour, Chicago: Open Court, 2008. 4 Hans Reichenbach, Defending Einstein: Hans Reichenbach’s Writings on Space, Time, and Motion, ed. by Steven Gimbel and Anke Walz, Cambridge: Cambridge University Press, 2006. 5 Eine Ausnahme war Martin Strauss, der 1952 zum Professor für Physik an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin befördert wurde. Aus verständlichen Gründen hatte er jedoch keinen Einfluß auf die Entwicklung der wissenschaft lichen Philosophie. 1
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reiche Wissenschaftstheoretiker ausgebildet haben, von welchen einige heute zu den führenden Figuren zählen – es genügt, hier John Earman, Bas van Fraassen, Larry Laudan und Philip Kitcher zu erwähnen. Ziel dieser Ausgabe ist es, in Reichenbachs wissenschaft liche Philosophie einzuführen und das Interesse an ihr zu beleben. Die Texte, die der Band enthält, behandeln allgemeine Gegenstände und setzen kein spezielles Wissen voraus; um so mehr aber ist eine gute Orientierung in Reichenbachs Werk hilfreich, die wir mit dieser Einleitung bieten möchten.
1. Die wissenschaftsanalytische Methode 1920 entwickelte Reichenbach das Programm der »wissenschaftsanalytischen Methode«. Der Philosoph unterzieht dabei die Ergebnisse der Naturwissenschaft einer »logischen Analyse« und nimmt an der Präsentation wissenschaft licher Theorien, wie sie vom Forscher (beispielsweise vom Physiker) vorgelegt werden, wichtige Korrekturen vor. Die neue Methode »ist bestrebt, den Sinn der physikalischen Theorien zu klären, und zwar unabhängig von deren Interpretation durch ihre Schöpfer«. 6 Aufgabe der Wissenschaftsanalyse ist es zum einen, die »logische Struktur« der wissenschaft lichen Theorien ans Licht zu bringen. Am Anfang hatte Reichenbach dabei vor allem die Axiomatisierung7 – insbesondere die Axiomatisierung der Raum-Zeit-Lehre – im Sinn: eine Aufgabe, mit der sich Reichenbach in drei Büchern (Relativitätstheorie und Erkenntnis apriori (1920), Axiomatik der relativistischen Raum-Zeit-Lehre (1924) und Philosophie der Raum-Zeit-Lehre (1928)) beschäftigt hat. Der Hans Reichenbach, »The Philosophical Significance of the Theory of Relativity«, in: Paul Arthur Schilpp (ed.), Albert Einstein: Philosopher – Scientist, La Salle (Ill.): Open Court, 1949, S. 289–311; hier S. 293. 7 Daß Reichenbach Hilberts Axiomatik besonders schätzte, wird deutlich im Beitrag 1.1, S. 17. 6
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maßgebliche Einfluß von David Hilberts Axiomatik – und nicht von Russells Logistik, wie es bei Carnap in diesen Jahren der Fall war – ist hier nicht zu übersehen. Wie wir sehen werden, ist Reichenbachs Interesse an der Logik erst nach 1929 erwacht. Zum anderen sah Reichenbach sein Programm als Korrektur zu Kants Epistemologie. Er behauptete, »der Begriff des Apriori hat bei Kant zwei verschiedene Bedeutungen. Einmal heißt es soviel wie ›apodiktisch gültig‹, ›für alle Zeiten gültig‹, und zweitens bedeutet er ›den Gegenstandsbegriff konstituierend‹«. 8 Kant habe diese beiden Bedeutungen vermischt. 1920 ließ Reichenbach die erste Bedeutung völlig fallen, hielt jedoch an der zweiten vor allem im Sinne von Zuordnungsprinzipien fest. Diese konstituieren die Elemente der Begriffssysteme der Wissenschaft (z. B. die räumlichen und zeitlichen Verhältnisse in der RaumZeit-Lehre), indem sie letztere mit Elementen der Erfahrung verbinden (d. h. ihnen zuordnen). Die Zuordnungsprinzipien müssen vom Wissenschaft ler (bzw. vom Wissenschaftsanalytiker) selbst aufgestellt werden: Sie sichern das Vorhandensein der Gegenstände der Wissenschaft.9 Kants Apriori, das für alle möglichen Wissenschaften gültig ist, wurde so durch »relativierte, und dynamische, konstitutive Prinzipien [ersetzt,] die von einer zu der anderen Theorie sich zusammenhanglos ändern«.10 Der springende Punkt war die Ablehnung der Kantschen These, daß die Erkenntnis als solche allgemeine Voraussetzungen hat. »Es gibt nur Voraussetzungen der jeweiligen Erkenntnis« – der jeweiligen Theorie;11 und genau diese einzelnen Voraussetzungen müssen herausgearbeitet werden. Daraus folgt zum einen, daß wir die Entdeckungen und Hans Reichenbach, Relativitätstheorie und Erkenntnis apriori, Berlin: Springer, S. 46. 9 Diese Auff assung zeigt, daß Reichenbachs Empirismus verfeinerter war als der von Ernst Mach. Vgl. Abschnitt 8 unten, letzter Absatz. 10 Michael Friedman, »Ernst Cassirer and Contemporary Philosophy of Science«, in: Angelaki 10 (2005), S. 119–28; hier S. 125. 11 Beitrag 1.3, S. 52. 8
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neuen Theorien der Wissenschaft immer aufs Neue mit Mitteln der Logik analysieren müssen. Zum zweiten können wir, da diese Prinzipien sich von Theorie zu Theorie auch im Rahmen einer Wissenschaft ändern, nicht eine Wissenschaft strikt von der anderen unterscheiden, so daß die Prinzipien, die für eine Wissenschaft gültig sind, für die anderen Wissenschaften nicht gelten. Die neuen Naturphilosophen müssen also die Prinzipien aller Wissenschaften untersuchen. Diese zweite Aufgabe führte Reichenbach zur Umgestaltung der Berliner »Gesellschaft für empirische Philosophie«,12 die eine klar interdisziplinäre Orientierung bekam. Innovative Wissenschaft ler wie der führende Vertreter der Gestaltpsychologie Wolfgang Köhler, der Gehirnforscher Oskar Vogt, aber auch der Wiener Biologe Ludwig von Bertalanff y und andere suchten in ihrem Rahmen interdisziplinäre und zugleich philosophische Auseinandersetzung. Sie versprachen sich von ihren Untersuchungen, neue strukturelle Voraussetzungen der Wissenschaft zu erkennen, die ihrerseits bei weiteren theoretischen Analysen hilfreich sein könnten. Reichenbach behauptete, daß seine wissenschaftsanalytische Methode bereits in seiner Dissertation von 1915 Verwendung gefunden habe. Der Grundgedanke der Dissertation war nicht mehr und nicht weniger, als Kant zu vervollständigen: Die Gesetze der Physik könnten nicht hinreichend durch das Kausalprinzip begründet sein – sie müßten durch das Wahrscheinlichkeitsprinzip ergänzt werden.13 Darüber hinaus setzt Reichenbach in seiner Arbeit das »Axiom von [der] Anwendbarkeit der Wahrscheinlichkeitsgesetze […] als Prinzip der Verteilung neben das Kausalgesetz als Prinzip der Verknüpfung«.14 Vgl. Abschnitt 4, unten. Siehe Hans Reichenbach, »Der Begriff der Wahrscheinlichkeit für die mathematische Darstellung der Wirklichkeit«, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 161 (1916), S. 210–239; 162, S. 222–239. 14 Hans Reichenbach, Relativitätstheorie und Erkenntnis apriori, a. a. O., S. 72. 12 13
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1938 ergänzte Reichenbach seine Wissenschaftsanalyse durch die Dichotomie Entdeckungszusammenhang/Rechtfertigungszusammenhang.15 Kurz gesagt, ist der Entdeckungszusammenhang der Zusammenhang, in dem neue wissenschaft liche Theorien entstehen; er wird von den Wissenschaftspsychologen und -soziologen untersucht. Der Philosoph untersucht den Rechtfertigungszusammenhang; er setzt sich die Aufgabe, die Folgerichtigkeit der neuen wissenschaft lichen Entdeckungen und Theorien »logisch« zu prüfen.
2. Reichenbach und Schlick 1920 lernte Reichenbach Moritz Schlick kennen. Schlick gelang es, Reichenbach davon zu überzeugen, statt über Gegenstand konstituierende Prinzipien über Gegenstand konstituierende Definitionen im Sinne von Henri Poincarés Konventionalismus zu sprechen. Diese Korrektur war mit verstärkten anti-kantischen Implikationen verbunden. Die Hauptidee war, daß die neue Wissenschaft und Mathematik – allen voran Einstein und Hilbert – Kant endgültig widerlegten: Sie zeigten, daß für ihre Begründung kein Wissen a priori notwendig ist. Die Jahre 1922 bis 1924 waren die Zeit der größten Übereinstimmung zwischen Schlick und Reichenbach. Reichenbach ersetzte Zuordnungsprinzipien durch Zuordnungsdefi nitionen, die an sich konventionell sind. 1925 kam es allerdings zu einer Wende in Reichenbachs »naturphilosophischem« Denken. Reichenbach hat angefangen, die kausale Beziehung als Wahrscheinlichkeitsbeziehung – sein altes Thema – aufzufassen. An die Stelle der Kausalkette trat die Wahrscheinlichkeits-
Siehe Hans Reichenbach, Erfahrung und Prognose, übersetzt von Maria Reichenbach und Hermann Vetter, Band 4 von: ders., Gesammelte Werke, Braunschweig: Vieweg, 1983 (1. Ausgabe in Englisch 1938), S. 3. 15
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implikation. Gleichzeitig erklärte sich Reichenbach zum Realisten: Die Wissenschaft untersuche die Wirklichkeit und nicht Sinneseindrücke oder Symbole (die Sprache). Diese Wende ist in dem Aufsatz »Die Kausalstruktur und der Unterschied von Vergangenheit und Zukunft« gut zu beobachten.16 Reichenbachs Hauptargument ist, daß der Determinismus falsch sei: Die Zukunft sei unbestimmt – eine Unbestimmtheit, die Voraussetzung menschlichen Handelns überhaupt sei. Reichenbachs neue Theorie führte zum Bruch mit Moritz Schlick. Schlick, der seinerseits nach und nach unter Wittgensteins Einfluß geriet, fand Reichenbachs neue Auffassung »ganz irrig« und empfahl ihm, Wittgensteins Tractatus zu lesen. Reichenbach befolgte diesen Rat offensichtlich nicht. Die Unstimmigkeit zwischen den beiden Freunden ist gut dokumentiert in Schlicks Aufsatz »Erleben, Erkennen, Metaphysik«, wo dieser behauptet, daß alle Erkenntnis ihrem Wesen nach Erkenntnis von Formen und Beziehungen sei und nicht Erkenntnis der Wirklichkeit, wie Reichenbach meinte.17 Dies war die erste Auseinandersetzung zwischen Schlick und Reichenbach, die öffentlich ausgetragen wurde.18 Der Streit hatte ein wichtiges Nachspiel. Als im Herbst 1925 eine neugeschaffene Dozentur in Wien besetzt werden sollte, Siehe Hans Reichenbach, »Die Kausalstruktur der Welt und der Unterschied von Vergangenheit und Zukunft«, Sitzungsberichte, Bayerische Akademie der Wissenschaften, mathematisch-naturwissenschaftliche Abteilung, München, Nov. 1925, S. 133–175. Parallel erschien eine populäre Version dieses Aufsatzes, »Metaphysik und Naturwissenschaft«, in: Symposion 1:2 (1925), S. 158–176. Siehe auch »Das Kausalproblem in der Physik«, in: Die Naturwissenschaften 19 (1931), S. 713–722. 17 Siehe Moritz Schlick, »Erleben, Erkennen, Metaphysik« (1926), in: Michael Stölzner und Thomas Uebel (Hg.), Wiener Kreis, Hamburg: Felix Meiner, 2006, S. 169–186; hier S. 176. 18 Sie haben dabei jedoch ihre Namen nicht speziell erwähnt. Das änderte sich 1931 in Reichenbachs Aufsatz »Das Kausalproblem in der Physik« und in Schlicks Werk »Die Kausalität in der gegenwärtigen Physik«, in: Stölzner/Uebel (Hg.), op. cit., S. 543–588. 16
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hatte Reichenbach gegenüber Rudolf Carnap das Nachsehen. Obwohl Reichenbach zu diesem Zeitpunkt mehr Veröffentlichungen als Carnap vorweisen konnte und obwohl Schlick (der auf die Besetzung Einfluß hatte) ihn viel länger kannte, erhielt Carnap die Stelle. Carnap galt einfach als der Prophet einer »neuen Philosophie«, die mit Hilfe von Russells Logik und der Theorie der Relationen aufgebaut war; Reichenbach zeigte daran, zumindest zu diesem Zeitpunkt, wenig Interesse. Es ist jedoch zu bemerken, daß Reichenbach weiterhin Schlick als Verbündeten gegen die »Feinde der Wissenschaft« betrachtete.19 Am wichtigsten für Reichenbach war, daß im Unterschied zur Mehrheit der deutschsprachigen Philosophen seiner Zeit sein Wiener Freund ebenfalls die Wissenschaft als Ausgangspunkt und Prüfstein der Philosophie sah.
3. Reichenbach und Kurt Lewin Nach dem herkömmlichen Bild vom Logischen Empirismus hat Reichenbach immer, auch schon vor der Gründung des Wiener Kreises, vor allem mit Schlick und Carnap zusammengearbeitet. In Wirklichkeit wirkte er jedoch von 1920 bis 1929 auch mit anderen wissenschaft lich orientierten Philosophen. Hervorzuheben ist insbesondere der Psychologe und Philosoph Kurt Lewin und ihre gemeinsame Arbeit an verwandten, sich aber auch klar unterscheidenden Programmen.20 1928 veröffentlichte Reichenbachs Freund Kurt Grelling einen Aufsatz über die exakte Philosophie in Deutschland. Er stellte Hans Reichenbach und Kurt
Das ist z. B. klar in seinem Nachruf an Schlick zu sehen. Siehe Hans Reichenbach, »Moritz Schlick«, in: Erkenntnis 6 (1936), S. 141. 20 Man kann diese Verwandtschaft zwischen den Arbeiten Lewins und Reichenbachs an der Häufigkeit der reziproken Zitation der beiden erkennen. Siehe Simone Wittmann, Das Frühwerk Kurt Lewins, Frankfurt a.M.: Peter Lang, 1998, S. 184. 19
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Lewin – nicht Schlick oder Carnap – als die führenden Philosophen der exakten Wissenschaft vor.21 Wichtiger Teil dieser Arbeit waren die gemeinsamen Pläne Lewins und Reichenbachs (zusammen mit Wolfgang Köhler), eine Zeitschrift für exakte Philosophie (beim Springer Verlag, Berlin) zu gründen. Die Idee entstand während der Erlanger Tagung im März 1923, wo Reichenbach auch Carnap kennengelernt hatte, und wurde unmittelbar danach weiterentwickelt. Carnap, der noch keine Stelle hatte, kam als Herausgeber nicht in Betracht. Schlick dagegen blieb dem Projekt fern.22 Er hatte »sehr starke Zweifel an der buchhändlerischen Möglichkeit der Durchführung und Aufrechterhaltung des Planes«.23 Kurt Lewins philosophisches Programm der »vergleichenden Wissenschaftslehre«24 bestand unter anderem darin, neue Begriffe in die Wissenschaft einzuführen, die die herkömmlichen Begriffe wie »Kausalität« ersetzen können und dabei alternative Wissenschaftsstrukturen ans Licht bringen. Ein Beispiel ist der Begriff der Genidentität, der die Beständigkeit eines Gegenstands der Physik oder der Biologie von einem Zeitpunkt zum anderen umfaßt und der unter den wissenschaft lichen Philosophen jener Zeit populär wurde.25 Das Programm imponierte Siehe Kurt Grelling, »Philosophy of the Exact Sciences: Its Present Status in Germany«, in: The Monist 38 (1928), S. 97–119; hier S. 98. 22 Schlick hat wenig Interesse gezeigt, der Tagung beizuwohnen. Schon am 26. Dezember 1922 schrieb er an Carnap: »Leider aber muß ich fürchten, daß es mir unmöglich sein wird, im März nach Deutschland zu reisen, denn amtliche und außeramtliche Verpflichtungen nehmen mich für die nächste Monate in stärkstem Masse in Anspruch« (RC 029-32-54). Nach der Tagung aber behauptete Schlick (in einem oft zitierten Brief von 26.03.1923; HR 016-42-24), daß der Grund, warum er ihr nicht beigewohnt habe, eine schlimme Grippe gewesen sei. 23 Derselbe Brief Schlicks an Reichenbach vom 26.03.1923. 24 Siehe Kurt Lewin, »Über Idee und Aufgabe der vergleichenden Wissenschaftslehre«, in: Symposion 1:1 (1925), S. 61–93. 25 Z. B. in Hans Reichenbach, Philosophie der Raum-Zeit-Lehre, Berlin: de Gruyter, 1928; Rudolf Carnap, Der logische Aufbau der Welt, 21
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Reichenbach, der, wie eben gesehen, ab 1925 die Kausalbeziehung als Wahrscheinlichkeitsbeziehung verstand. Ein anderer Wissenschaft ler, mit dem Reichenbach und Kurt Lewin in dieser Zeit zusammenarbeiteten, war der Chemiker und Philosoph Paul Oppenheim. Reichenbach lernte ihn um 1921 kennen. In seinem 1926 erschienenen Buch Die natürliche Anordnung der Wissenschaft dankt Oppenheim Reichenbach mit den Worten: »Denn er [Reichenbach] war es, der […] immer wieder auf das wirksamste geholfen hat, das ganze Buch in seine jetzige Form zu bringen.«26 Um 1929, als die erste Periode von Reichenbachs philosophischer Entwicklung zu Ende ging, vermittelte er Oppenheim eine Zusammenarbeit mit seinem Schüler Carl Hempel. Aus dieser Arbeit entstand unter anderem eines der einflußreichsten Dokumente des Logischen Empirismus, Hempels und Oppenheims Aufsatz »Studies in the Logic of Explanation«.27
4. Die Berliner Gruppe und der Wiener Kreis Die Gründung des Vereins Ernst Mach im November 1928 in Wien beeindruckte Reichenbach tief. Er hatte immer von einer Zusammenarbeit mit wissenschaftsorientierten Philosophen geträumt. Jetzt bekam der Traum konkrete Züge, zumal sich schon um diese Zeit seine Berliner Gruppe28 – eine Diskussionsgruppe um Reichenbachs Seminare an der Universität zu Berlin, zu de-
Berlin: Weltkreisverlag, 1928; Hans Hermes, Eine Axiomatisierung der allgemeinen Mechanik, Leipzig: Hirzel, 1938. 26 Paul Oppenheim, Die natürliche Anordnung der Wissenschaft : Grundgesetze der vergleichenden Wissenschaft slehre, Jena: Fischer, 1926. 27 In: Philosophy of Science 15 (1948), S. 135–175. 28 Siehe Karin Gerner, Hans Reichenbach: sein Leben und Wirken. Eine wissenschaftliche Biographie, Osnabrück: Phoebe, 1997, S. 85.
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ren Mitgliedern Dubislav, Herzberg, Grelling und Reichenbach selbst zählten – gebildet hatte.29 Reichenbachs erste Reaktion (am 5. Mai 1929) war, sich als Kandidat – zusammen mit seinen Freunden Dubislav und Herzberg – für den Vorstand der »Gesellschaft für empirische Philosophie« aufstellen zu lassen: Reichenbach wurde Vorsitzender, Dubislav Geschäftsführer der Gesellschaft. Man achte darauf, daß die »Gesellschaft für empirische Philosophie« diesen Namen nur zeitweise und nur durch Zufall hatte: Sie war von dem Machianer Joseph Petzold gegründet worden,30 und zwar als ein Zweig (»Berliner Ortsgruppe«) der »Internationalen Gesellschaft für empirische Philosophie«, die 1925 von Raymund Schmidt in Frankfurt am Main initiiert worden und als Rettungsaktion für die Zeitschrift Annalen der Philosophie gedacht war. Noch Ende Juni 1929 aber war Reichenbach sich nicht sicher, ob es nicht besser wäre, wenn die Berliner Gruppe sich als »Berliner Sektion« des Ernst-Mach-Vereins verstand. Joseph Petzoldts Erkrankung im Sommer 1929 und schließlich sein Tod am 1. August 1929 sowie die Gründung des Wiener Kreises und die Veröffentlichung seines Manifestes »Wissenschaft liche Weltauffassung« im September 1929 änderten diese Pläne. Reichenbach verstand die »Gesellschaft für Empirische Philosophie« jetzt als eine Art Antwort auf den Wiener Verein und sah und präsentierte seine Berliner Gruppe als Alternative zum Wiener Kreis. Nachdem Reichenbach die Führung der Gesellschaft übernommen hatte, wurde die Bezeichnung ihrer theoretischen Einstellung als »empirisch« zunehmend als einschränkend empfunden, bis sie Ende 1931, einer Anregung David Hilberts folgend, in »Gesellschaft für wissenschaft liche Philosophie« umbenannt wurde. Dieser Name brachte den Charakter der Gesellschaft viel deutlicher zum Ausdruck, denn vor 1933 war Reichenbach wenig geneigt, den Empirismus als bestimmend für seine Siehe Beitrag 2.1, S. 99. Vgl. Rainer Hegselmann und Geo Siegwart, »Zur Geschichte der Erkenntnis«, in: Erkenntnis 35 (1991), S. 461–71; hier S. 462 29
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Wissenschaftstheorie anzusehen. Er sah sie einfach als Anti»Aprioritätsphilosophie«. Noch in Ziele und Wege der heutigen Naturphilosophie (Beitrag 1.3) betrachtete er die neue Naturphilosophie als einen Triumph des Rationalismus:31 eines Rationalismus, der jedoch »wandelbar« sei – er verlange ständige Anpassung an die Erfahrung. Nach der Gründung des Wiener Kreises und der Berliner Gruppe und den mit ihnen verbundenen Einrichtungen (Verein und Gesellschaft) folgten zwei »Tagungen für Erkenntnislehre der exakten Wissenschaften«, die erste in Prag (Sept. 1929), die zweite in Königsberg (Sept. 1930). Das Thema der beiden Tagungen selbst zeigt,32 daß es in Berlin ausformuliert wurde. In Berlin war auch die Zeitschrift Erkenntnis »begründet worden und auch von dort aus geleitet worden«33 – obwohl Reichenbach sie offiziell gemeinsam mit Carnap edierte. In der Tat gingen alle Manuskripte zuerst durch Reichenbachs Hände, so daß trotz der im Vertrag vereinbarten gemeinsamen Leitung der tolerante »Carnap nicht gleichberechtigter Herausgeber war«.34 Schon während der »Diskussion über Wahrscheinlichkeit« auf der Prager Tagung kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen der Berliner Gruppe und dem Wiener Kreis. Carnap zeigte Interesse an der Rechtfertigung wissenschaft lichen Wissens durch das »Prinzip der Verifi kation«. Reichenbach und Grelling betonten dagegen, daß die aktuelle Wissenschaft (die »Wissenschaftspraxis«) immer auf einem Induktionsprinzip beruhe, das die wissenschaft liche Prognose begründe.35 Gleichzeitig waren
Beitrag 1.3, S. 86. Siehe Anmerkung 25 zum Beitrag 1.3. 33 HR 013-39-34. Hans Reichenbachs Brief an Ernst von Aster vom 3. Juni 1935. 34 Gerner, op. cit., S. 94. Dies spiegelt sich darin wider, daß auf der Umschlagseite der ersten vier Bände der Zeitschrift Reichenbachs Name mit größeren Buchstaben gedruckt wurde als der von Carnap. 35 Siehe »Diskussion über Wahrscheinlichkeit«, in: Erkenntnis 1 (1930), S. 260–287; hier S. 278. 31
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sich die beiden bewußt, daß die Induktion epistemologisch nicht gerechtfertigt ist: das hatte seinerzeit schon Hume gezeigt. Ende 1932 glaubte Reichenbach, die Lösung des Induktionsproblems gefunden zu haben. Die wissenschaft lichen Theorien seien nichts anderes als Setzungen, die auf Prognosen über zukünft ige Ereignisse basierten. Diese Setzungen seien nicht wahr oder falsch, sondern mehr oder weniger wahrscheinlich. Genauer gesagt, setzten wir sie als wahr, obwohl wir nicht wirklich wüßten, ob sie wahr seien oder nicht. Von solcherart Setzungen aber hinge unsere Handlungsfähigkeit ab. Viel später veranschaulicht Reichenbach seine Auffassung mit der folgenden Metapher: Wer induktive Schlüsse benutzt, gleicht einem Fischer, der sein Netz an einer unbekannten Stelle des Meeres auswirft – er weiß nicht, ob er Fische fangen wird, aber er weiß auch, daß er sein Netz auswerfen muß, falls er Fische fangen will. Jede induktive Voraussage gleicht einem Netz, das man in das Meer physikalischer Ereignisse hineinwirft.36 Im Februar 1933 trug Reichenbach seine neue Idee seinen Freunden in Wien vor. Es gibt nicht nur keine allgemeinen Prinzipien a priori der Wissenschaft und auch keine »Grundprinzipien« der einzelnen Wissenschaften und Theorien (sie sind nichts anderes als konventionale Definitionen), sondern auch die Induktion, sine qua non für jede Wissenschaft, basiert auf nichts anderem als auf Setzungen, die eigentlich ein Produkt unserer Willensentscheidungen sind: Wir machen sie nach eigener Einschätzung des Sachverhalts – nach seiner sorgfältigen Prüfung. Unglücklicherweise stieß Reichenbachs Vorschlag zur Lösung des Induktionsproblems in Wien auf allgemeine Ablehnung. Er selbst aber war zuversichtlich. Folgerichtig änderte er seine ganze Terminologie. Von nun an betrachtete er seine Epistemologie als »radikalempiristisch«: Hans Reichenbach, Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie, a. a. O., S. 277. 36
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Ich fühle mich jetzt erst berechtigt, für einen radikalen Empirismus einzutreten, nachdem ich gezeigt habe, daß auch das Induktionsprinzip keine synthetisch-apriorischen Bestandteile enthält, und nachdem es mir gelungen ist, durch die Wahrscheinlichkeitslogik und den Begriff der Setzung eine befriedigende Theorie der Zukunftsaussage zu geben.37 Nach dieser Wende und bis Anfang der 1940er Jahre wurde die Auseinandersetzung mit dem Wiener »logischen Positivismus« Reichenbachs wichtigste Aufgabe. Daraus folgte eine tiefgreifende Änderung in seinen philosophischen Interessen, die Alan Richardson so formuliert hat: »Reichenbach’s attempt at a less technical exposition of a general epistemological point of view was surprising to some of the readers of the book [Experience and Prediction] who were familiar with his early writings.«38 In der Tat hat Reichenbach für etwa acht Jahre keine logischen Analysen der aktuellen Wissenschaft mehr angestellt und sich statt dessen der allgemeinen Erkenntnistheorie und Theorie der Bedeutung gewidmet. Es gilt zu bemerken, daß er den Logischen Positivismus nicht nur kritisierte, sondern auch versuchte, ihn in einer sorgfältigen Ausarbeitung zu korrigieren. Reichenbach war überzeugt, daß z. B. Carnaps Konstitutionstheorie ein ernsthafter Versuch sei, die Philosophie auf wissenschaftlicher Grundlage zu entwickeln. Deshalb unterstützte er das von Carnap im Logischen Aufbau der Welt formulierte Programm und wandte nur ein, daß die Welt auf der Grundlage der physischen Gegenstände (Konkreta) und nicht der Sinnesdaten aufgebaut werden müsse:39 Diese Korrektur entsprach seinem philosophischen Realismus.
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HR 013-39-34. Hans Reichenbachs Brief an von Aster vom
3. Juni 1935 (meine Kursivierung, N.M.). Alan Richardson, »Introduction«, in: Hans Reichenbach, Experience and Prediction, a. a.O., S. vii–xxxviii; hier S. ix. 39 Reichenbachs physikalistisches Programm wurde in Kapitel 4 von Erfahrung und Prognose dargestellt. 38
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Man darf auch nicht außer acht lassen, daß Reichenbachs Auseinandersetzung mit seinen Freunden aus Wien für ihn neue Wege eröff nete. Vor allem weckte dieser Dialog ein starkes Interesse an der Logik, dessen Früchte in den Elements of Symbolic Logic (1947) und den Nomological Statements and Admissible Operations (1954) zu finden sind.
5. Reichenbachs Naturalismus Reichenbach wird meist als enger Freund und Insider des Wiener Kreises betrachtet, gar als sein Mitglied. Wir haben eben angedeutet, daß es jedoch zwischen ihm und den Wiener Empiristen Differenzen gab, die erheblich größer waren als die Unterschiede zwischen den Mitgliedern des Wiener Kreises selbst. Besonders klar zeigt sich dies daran, daß sein Abstand zu dem, was er »Philosophie des täglichen Lebens« nannte, 40 deutlich größer ausfiel als der Schlicks und Carnaps. In der Tat vermied Reichenbach es, über Erlebnisse, Sinnesdaten usw. zu sprechen: das seien Begriffe des vie quotidienne. Statt dessen analysierte er direkt das Gegebene der Wissenschaft – ihre neuesten Theorien. Für Carnap dagegen waren die Erlebnisse und die aus ihnen abgeleiteten Sinnesdaten die Bausteine seiner Konstitutionstheorie von 1928, die Anfang der 1930er Jahre zu seiner Version des Projekts einer »logischen Analyse der Wissenschaft« führte. Aus der Perspektive dieses Projekts kritisierte Carnap Reichenbachs klar naturalistische Einstellung. Er behauptete im Gegensatz zu Reichenbach, daß »die Untersuchung der Fakten die Aufgabe der realwissenschaft lichen, empirischen Forschung, die der Sprachformen […] die Aufgabe der logischen, syntaktischen Analyse« sei.41 Einige Historiker der Wissenschaftsphilosophie warfen Reichenbach vor, daß er dem, was später die »linguistiVgl. Abschnitt 8 (A), unten. Rudolf Carnap, »Von der Erkenntnistheorie zur Wissenschaftslogik«, in: Stoeltzner/Uebel (Hg.), op. cit., S. 260–266; hier S. 265. 40 41
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sche Wende« genannt wurde, nicht folgen würde. Reichenbach habe es versäumt, »die Fregeschen Standards in der Semantik zu erreichen«.42 Eine Folge davon war, daß der Terminus »meaning« so, wie er in Beitrag 2.1 benutzt wird, sowohl mit »Sinn« als auch mit »Bedeutung« übersetzt werden kann: Die beiden Termini haben kein präzises Signifi kat. Reichenbach war dieser deutliche Unterschied zwischen Wien und Berlin43 wenig bewußt. Ein Grund dafür war das Doppelleben der Terminologie der frühanalytischen Philosophie: Sie konnte streng sprachanalytisch verwendet oder aber von radikalen wissenschaft lichen Philosophen benutzt werden. Ersteres taten Wittgensteins Freunde Schlick und Carnap, 44 letzteres Reichenbach. In der Tat sprach Reichenbach oft von »logischer Analyse«, »Analyse der Begriffe«, »Klärung von Begriffen«, »begrifflichen Verwechselungen«, »logischen Formen« und sogar von der Philosophie als »Analyse der Wissenschaftssprache«, meinte aber meistens etwas deutlich anderes als die sprachanalytisch orientierten Wissenschaftsphilosophen in Wien. Reichenbach selbst sah es als Hauptunterschied zwischen der Berliner Gruppe und dem Wiener Kreis an, daß er und seine Berliner Freunde sich tatsächlich mit der aktuellen, lebendigen Wissenschaft beschäft igten. Das kann man vom Wiener Kreis mit seinen Auseinandersetzungen über das Problem des Verifi kationsprinzips und die Protokollsätze nicht behaupten: Er beschäftigte sich mit Problemen der »gewordenen« (abgeschlossenen) Wissenschaft.45 Übrigens zeigt ein Vergleich der VorlesungsAlberto Coffa, »Erläuterungen, Bemerkungen und Verweise zum Buch ›Erfahrung und Prognose‹«, in: Hans Reichenbach, Erfahrung und Prognose, a. a. O., S. 255–297; hier S. 259. 43 Erst zuletzt wurde der Unterschied zwischen Berlin und Wien ernsthaft untersucht. Vgl. insbesondere Friedrich Stadler, »The Road to Experience and Prediction from within: Hans Reichenbach’s Scientific Correspondence from Berlin to Istanbul«, Synthese, 2009. URL = . 44 Das alles in einer bestimmten Periode ihrer Entwicklung. 45 Siehe Beitrag 2.1, S. 111. 42
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programme des Ernst-Mach-Vereins und der Gesellschaft für wissenschaft liche Philosophie diesen Einstellungsunterschied deutlich: Die Vorlesungen der Berliner Gesellschaft waren sichtlich enger mit der führenden Wissenschaft der Zeit verbunden.46 Auf ihren Sitzungen trug die wissenschaft liche Prominenz vor, etwa die Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald, Otto Meyerhoff und Max von Laue. Ein wichtiges Ergebnis von Reichenbachs naturalistischer Haltung war die Einführung einer Reihe von Themen: – die Grundlagen von Raum und Zeit; – die Grundlagen der Quantenmechanik; – Probleme der Richtung der Zeit; – Probleme der statistischen Mechanik; – logische Grundlagen der Wahrscheinlichkeitslehre, die die Entwicklung der wissenschaft lichen Philosophie auch in deren post-logisch-empiristischer Phase (nach etwa 1965) bestimmten. Heute sieht man immer deutlicher, daß die Logischen Empiristen im Bereich der Philosophie der Physik insgesamt wenig beigetragen haben. Es blieben nur »important works of Reichenbach’s, a few of Schlick’s, mostly from his pre-Vienna days, and one or two others, recognizably belonging to philosophy of physics«.47 Natürlich waren einige Mitglieder des Wiener Kreises bestens mit der Physik vertraut. Das gilt insbesondere für Schlick, der bei Max Planck in Berlin mit Auszeichnung promoviert hatte. Schlicks Interessen änderten sich aber radikal, Siehe Lutz Danneberg und Wilhelm Schernus, »Die Gesellschaft für wissenschaft liche Philosophie: Programm, Vorträge und Materialien«, in: Lutz Danneberg et al. (Hg.), Hans Reichenbach und die Berliner Gruppe, Braunschweig: Vieweg Verlag, 1994, S. 391–481; und Friedrich Stadler, Studien zum Wiener Kreis, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1997, S. 379–381. 47 Thomas Ryckman, »Logical Empiricism and the Philosophy of Physics«, in Alan Richardson and Thomas Uebel (eds.), The Cambridge Companion to Logical Empiricism, Cambridge: Cambridge University Press, 2007, S. 193–227; hier S. 193 – meine Kursivierung, N.M. 46
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nachdem er um 1924 angefangen hatte, sich mit Wittgensteins Ideen intensiv auseinanderzusetzen.48 Reichenbach hat eigentlich ein neues philosophisches Programm ins Leben gerufen, welches sehr eng mit der Wissenschaft verbunden war und schnell seine Nacheiferer fand. Dies, und nicht die Doktrin des radikalen Empirismus, war Reichenbachs wahre und große Leistung und bestimmte auch seinen Einfluß. Hierzu ein klares Zeugnis von Adolf Grünbaum: While I was a graduate student, Robert S. Cohen, who was a serendipitous bibliophile, brought me an out-of-print copy of Hans Reichenbach’s classic 1928 German work on spacetime philosophy, titled Philosophie der Raum-Zeit-Lehre. […] When I read it in German, its effect on me was truly electrifying, and I was swept into working on the sort of issues that Reichenbach had treated so magisterially in that book.49 Hilary Putnam erinnert sich: I did a year of graduate work at Harvard in 1948–49, where I came under influence of Quine’s views on ontology and his scepticism concerning the analytic/synthetic distinction. At that point, I was in a mood that is well known to philosophy teachers today: is seemed to me that the great problems of philosophy had turned out to be pseudoproblems. […] Within a few months of my arrival in Los Angeles in the fall of 1949 these philosophical »blahs« had totally vanished. What overcame my »philosophy is over« mood, what made the field come alive for me, made it more exiting and more challenging
Siehe dazu Massimo Ferrari, »Moritz Schlick in Wien: Die Wende der Philosophie«, in: Fynn Ole Engler und Mathias Iven (Hg.), Moritz Schlick: Leben, Werk und Wirkung, Berlin: Parerga, 2008, S. 91–113. 49 Adolf Grünbaum, »An Autobiographical-Philosophical Narrative«, in: Aleksandar Jokic (ed.), Philosophy of Religion, Physics, and Philosophy. Essays in Honor of Adolf Grünbaum, Amherst (NY): Prometheus Books, 2009, S. 11–155; hier S. 38. 48
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than I had been able to imagine, was Reichenbach’s seminar, and his lecture course on the philosophy of space and time.50 Hilary Putnam, Adolf Grünbaum, sein Schüler Bas van Fraassen und auch viele andere sind diesem Programm gefolgt. Sie schätzten Reichenbach zuallererst als Philosophen der Physik, der sein Augenmerk immer auf die neuesten Entdeckungen in dieser Wissenschaft richtete, in der er philosophische Einsichten zu erkennen und einzuordnen wußte; für sie war er »a great evangelist of science«.51 Carnap, im Vergleich, begeisterte seine Anhänger – Quine und Nelson Goodman etwa – auf eine ganz andere Art und Weise. Nichts kann den Unterschied zwischen Wiens sprachphilosophischer Einstellung und Berlins Naturalismus besser beleuchten als ihre Beziehung zu Wittgenstein bzw. Einstein. Man kann mit Recht behaupten, daß in den späteren 1920er Jahren Einstein das für Reichenbach war, was Wittgenstein für Schlick und Carnap gewesen ist. In der Tat hat Reichenbach zwischen 1926 und 1929 oft mit Einstein diskutiert – genauso wie Schlick ab 1926 (Carnap ab 1927) philosophische Probleme mit Wittgenstein besprochen hat. Wenn man Schlicks Vorlesungen an der Londoner Universität von 1932 Form und Inhalt liest, 52 stellt man fest, daß sie nichts anderes sind als eine brillante Darstellung von Wittgensteins sprachanalytischer Philosophie. Gleichermaßen hat sich 1920–1928 Reichenbach intensiv mit der Erklärung der Einsteinschen Relativitätstheorie befaßt. Er machte sich einen Namen als ein eifriger »Verteidiger der Relativitätstheorie«53 und gehörte zum sogenannten »Verteidigungsgürtel« um Einstein. Hilary Putnam, »Reichenbach’s Metaphysical Picture«, in: Erkenntnis 35 (1991), S. 61–75; hier S. 61. 51 Bas van Fraassen, The Empirical Stance, New Haven (Con.): Yale University Press, 2002, S. 224. 52 Siehe Moritz Schlick, »Form und Inhalt. Eine Einführung in philosophisches Denken«, in: ders., Philosophische Logik, Hg. von Bernd Philippi, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1986, S. 110–222. 53 Klaus Hentschel, »Zur Rolle Hans Reichenbachs in den Debatten 50
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Unglücklicherweise kam es bald zu einem Streit zwischen Reichenbach und Einstein, der in vielem dem Streit zwischen Carnap und Wittgenstein ähnelte. Wir erinnern uns, daß 1932 Wittgenstein Carnap beschuldigte, daß er in seinem programmatischen Aufsatz »Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft«54 Wittgensteins Ideen benutzt habe, ohne dies zu erwähnen.55 Zum Streit zwischen Reichenbach und Einstein kam es auf ähnliche Weise: Ende der 1920er Jahre arbeitete Einstein an der allgemeinen Feldtheorie, die die Gesetze der Mechanik mit denen der Elektrizitätstheorie zusammenbringen sollte. Die Früchte dieses Projekts kamen jedoch nicht in Sicht. Reichenbach berichtete über diese Probleme in der Vossischen Zeitung.56 Einstein zeigte sich verbittert und schrieb am gleichen Tag an den Herausgeber dieser Zeitung: Herr Dr. Reichenbach hat mich um Mitteilungen über meine neue Arbeit gebeten und ich habe ihm bereitwilligst die gewünschten Auskünfte erteilt. Er hat darauf, ohne das Erscheinen abzuwarten und ohne mich zu fragen oder auch nur zu benachrichtigen, in der Öffentlichkeit darüber berichtet, was den akademischen Sitten durchaus zuwiderläuft.57 Die Konflikte mit Wittgenstein bzw. mit Einstein waren offensichtlich kein Zufall. Sie zeigen zum einen die echte Verschmelzung mit den Ideen der Lehrer der neuen sprachanalytisch orientierten bzw. sprachanalytisch naiven wissenschaftlichen Philosophen; die Grenze zwischen dem geistigen Eigentum des
um die Relativitätstheorie«, in: Lutz Danneberg et al. (Hg.), Hans Reichenbach und die Berliner Gruppe, a. a. O., S. 295–324; hier S. 298. 54 In: Erkenntnis 2 (1932), S. 432–465. 55 Cf. RC 102-78-03. Wittgensteins Brief an Carnap von 20. August 1932, in: Michael Nedo und Michele Ranchetti, Wittgenstein, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1983, S. 381 f. 56 Hans Reichenbach, »Einsteins neue Theorie«, in: Vossische Zeitung, 25. Januar 1929. 57 Zit. nach Gerner, op. cit., S. 81.
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Lehrers und dem seines Schülers ist im Bewußtsein des Schülers verwischt. Sie zeigt zum zweiten, wie deutlich verschieden die Hauptinteressen und die Hauptthemen von Reichenbach und seinen Wiener Freunden um 1929 waren.
6. Reichenbach als Popularisator der Wissenschaft Als resoluter Gegner von Reichenbachs Berufung an die Universität zu Berlin nannte ihn 1926 Ludwig Biberbach (später aktives Mitglied der Bewegung für eine »Deutsche Mathematik«) einen »Popularphilosophen«. Mit diesem Schlagwort wurde damals vor allem Ernst Haeckel von den Universitätsphilosophen herabgesetzt. Reichenbach war sich jedoch bewußt, daß seine Wissenschaftsanalyse nicht einfach ein Programm für die populäre Darstellung der Wissenschaften war. Zum einen ist ihre Durchführung technisch genauso verwickelt wie die Arbeit in der Wissenschaft bzw. in der Physik. Die Präsentation der Ergebnisse der Wissenschaft in einer »logisch« kohärenten Form ist für den Philosophen mit erheblichem Aufwand verbunden. Der Aufwand ist aber gerechtfertigt, weil die Wissenschaft ler selbst auf die »Entdeckungsjagd« konzentriert sind: »Die wissenschaftliche Forschung läßt einem Menschen nicht die genügende Zeit, sich mit logischen Analysen zu beschäftigen.«58 Das Projekt, daß zwei exakte akademische Disziplinen – Wissenschaft und Philosophie – die »Karre der Erkenntnis« gemeinsam ziehen sollten, hatte jedoch mäßigen Erfolg. Reichenbachs angestrebte Methode – die Axiomatisierung naturwissenschaft licher Theorien – hat unter den Wissenschaft lern selbst wenig Anerkennung gefunden. Aus Einsteins Briefen an Moritz Schlick läßt sich erkennen, daß Einstein Reichenbachs Axiomatik der Relativitätstheorie nicht akzeptiert hat. Das glei-
Hans Reichenbach, Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie, a. a. O., S. 143 f. 58
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che gilt für Hermann Weyl, der Reichenbachs Projekt als »unsachgemäß« einschätzte.59 Gleichzeitig haben jedoch führende Physiker wie Max Planck, Max von Laue, Erwin Schrödinger und Werner Heisenberg große Achtung für Reichenbachs Bemühungen gezeigt, die neue Naturphilosophie mit der Physik in Übereinstimmung zu bringen. Reichenbach war besonders stolz darauf, daß die von ihm »zuerst im Rahmen naturphilosophischer Überlegungen zum Kausalprinzip aufgedeckte Verallgemeinerungsmöglichkeit 60 von der modernen Quantenmechanik aufgegriffen und als tatsächlich vorliegend bezeichnet worden ist.«61 Es kann und soll aber nicht verschwiegen werden, daß Reichenbach auch als wissenschaft licher Publizist gearbeitet hat. Hierzu gehören seine Rundfunkvorträge, die ab 1924 vom Süddeutschen Rundfunk und von 1926 bis 1932 von Radio Berlin ausgestrahlt wurden. Zumindest am Anfang wollte er damit lediglich sein Einkommen aufbessern. Reichenbach hat jedoch »immer deutlicher den Eindruck gewonnen, daß damit doch eine gute und wichtige Sache getan wird«62 – Bekanntmachung eines breiten Teils der Bevölkerung mit den neuesten Errungenschaften der Wissenschaft. Die Radioreihen, in welchen er zu hören war, waren sehr beliebt, was auch für ihre Qualität spricht. Aus dieser Tätigkeit sind drei Bücher hervorgegangen: Was ist Radio? (1924), 63 Von
Hermann Weyl, »Hans Reichenbach, Axiomatik der relativistischen Raum-Zeit-Lehre«, in: Deutsche Literaturzeitung 30 (1924), Kolumnen 2122–2128; hier K. 2127. 60 Reichenbach meinte damit vor allem die Ersetzung der Kausalität durch die Wahrscheinlichkeitsimplikation. Siehe FN 16. 61 Beitrag 1.3, S. 76. Es gilt zu bemerken, daß andere Wissenschaft ler und Wissenschaftstheoretiker diesen Anspruch bestritten haben. 62 HR 014-59-04. Hans Reichenbachs Brief an Erich Regener vom 6. Dezember 1930. 63 Hans Reichenbach, Was ist Radio?, Berlin–Stuttgart: SchmidtKahn, 1924. 59
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Kopernikus bis Einstein (1927)64 und Atom und Kosmos (1930).65 Besonders erfolgreich war Atom und Kosmos (geschrieben etwa gleichzeitig mit den Beiträgen 1.1–1.3), das gleich nach seinem Erscheinen ins Spanische (1931), Englische (1932), Französische (1934) und Ungarische (1937) übersetzt wurde. Von Kopernikus bis Einstein wurde 1942 in die englische Sprache übersetzt. Die Öffentlichkeit zeigte großes Interesse, was eigentlich keine Überraschung war: Berlin war weltweit das führende Zentrum der Wissenschaft, dort wurden in den zwanziger Jahren wirklich revolutionäre Entdeckungen in Mikrophysik und Astronomie gemacht. Reichenbach kannte diese Entwicklungen aus erster Hand. Hinzu kamen sein Anliegen, das breite Publikum mit den neuen Errungenschaften der Wissenschaft bekannt zu machen, und auch sein Talent als Popularisator der Wissenschaft. Letzteres bringt gut sein ehemaliger Professor und Betreuer in Stuttgart, Erich Regener, in seiner Besprechung von Atom und Kosmos für Die Naturwissenschaften zum Ausdruck: Das Buch sei in einer »hervorragend eindringlichen, schönen Sprache [geschrieben], die keinen Augenblick den Leser aus ihrem Banne läßt. […] Das gibt der Darstellung eine Wärme, die den Leser packt und geeignet erscheint.«66 Eine Besonderheit seiner Veröffentlichungen ist allerdings, daß er in ihnen oft nicht klar zwischen theoretischen und populären Themen trennt und beide in ein und demselben Werk behandelt. Eine Folge davon ist, daß Reichenbach genau so, wie er in seinen populären Arbeiten den Sachverhalt in einer übersichtlichen, umfassenden Form darstellt und die Überblicksperspektive wählt, er diesen zusammenfassenden Blick auch auf philosophische Probleme der Wissenschaft wirft. Dieses Merk64
Hans Reichenbach, Von Kopernikus bis Einstein, Berlin: Ullstein,
1927. Hans Reichenbach, Atom und Kosmos. Das physikalische Weltbild der Gegenwart, Berlin: Deutsche Buch-Gemeinschaft, 1930. 66 E. Regener, »Hans Reichenbach, Atom und Kosmos«, in: Die Naturwissenschaften 26 (1931), S. 577. 65
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mal von Reichenbachs Arbeit hat seine Philosophie maßgeblich geprägt – was ihn noch deutlicher von seinen Wiener Freunden unterscheidet. Hierzu folgende vier Beispiele: (i) 1925 führt Reichenbach die Handlungstheorie in seine Wissenschaftstheorie ein. Wissenschaft darf nicht einfach als eine kognitive Angelegenheit betrachtet, sondern sie muß in Verbindung mit unseren Handlungen gebracht werden. 67 In der Tat brauchen wir die Ergebnisse der Wissenschaft hauptsächlich, um handeln zu können. Wir können jedoch nur handeln, wenn die Zukunft offen, d. h. wahrscheinlich und nicht streng determiniert ist. Reichenbachs Schlußfolgerung ist, daß die Wissenschaft notwendigerweise mit Wahrscheinlichkeiten zu tun hat. (ii) In Elements of Symbolic Logic (1947) versucht Reichenbach als Erster überhaupt die Normalsprache und ihre Grammatik mit Hilfe der neuen symbolischen Logik zu analysieren. Für ihn ist es unzulässig, die Normalsprache außer Betracht zu lassen – das hätte bedeutet, daß auch seine Logik nicht umfassend und vollständig gewesen wäre. Es sei hier bemerkt, daß Reichenbachs Logik der Normalsprache große Popularität unter den Sprachwissenschaft lern erreichte.68 (iii) Reichenbach setzte sich auch dafür ein, Gedankenexperimente in die erkenntnistheoretische Analyse mit einzubeziehen, z. B. »daß der menschliche Körper so klein wie ein Atom oder so groß wie das Planetensystem werden könnte«. 69 Die Logischen Positivisten dagegen gehen in ihren Untersuchungen von Gegenständen des täglichen Lebens aus, wie Sinnesdaten oder
Eine gut ausgearbeitete Handlungstheorie wurde erst in den 1960ern von Donald Davidson aufgestellt. 68 Vgl. Clark Glymour and Frederick Eberhardt, »Hans Reichenbach«, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2008 Edition), Edward N. Zalta (ed.), URL = . Vgl. auch William McMahon, Hans Reichenbach’s Philosophy of Grammar, Den Haag: Mouton, 1976. 69 Hans Reichenbach, Erfahrung und Prognose, a. a. O., S. 96. 67
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Erlebnissen, die laut Reichenbach ein Überbleibsel der Metaphysik sind. (iv) Hauptgedanke von Reichenbachs wissenschaft licher Philosophie nach 1933 war, daß die Physik und auch die Mathematik radikal empirisch sind. Die physischen und mathematischen Gesetze stammen aus der Erfahrung und sind keine logischen Notwendigkeiten – solche sind nur die logischen Gesetze. Die Verbindung der Erfahrung mit logischen Gesetzen ist eine Sache der Willensentscheidung: Wir bestimmen ihre Zuordnung. Logik selbst besteht aus Tautologien und ist demnach nicht informativ – neue Kenntnisse bringen nur die Wissenschaften. Die Tautologien ihrerseits sind ein Spiegelbild der Regeln, die für diese festgesetzte Logik gelten. Umfassend, wie seine Denkweise war, schloß Reichenbach in seine Betrachtung auch die Ethik ein: Auch sie ist seiner Meinung nach empirisch. Ethische Meinungen und Einstellungen folgen nicht Gesetzen a priori, sondern bilden sich als Folge von Handlungen, bei welchen verschiedene Willensrichtungen aufeinanderprallen. Was wir brauchen, ist eine beschreibende Ethik, die die Handlungen empirisch untersucht und eigentlich Teil der Soziologie ist. Reichenbachs weitläufige Schlußfolgerung war, daß die Aufgabe der Philosophie sei, sowohl die Naturwissenschaft als auch die Mathematik, aber auch die Ethik von überflüssigen Regeln a priori »zu befreien, die ihre Wurzeln [eigentlich] in Erfahrung und Tradition haben«.70 Wir müssen sozusagen die Krücken wegwerfen, die wir bisher zum Gehen gebraucht haben.71
Hans Reichenbach, Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie, a. a. O., S. 162. 71 Siehe ebd., S. 326. 70
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7. Philosophische Irrtümer und endgültige Lösungen Auch Reichenbachs Qualitäten als Dozent waren überragend. Einer seiner zahlreichen Studenten, der spätere Publizist und Sozialphilosoph Günther Anders, erinnert sich: Reichenbach war ein genialer Lehrer. Wenn ein Student bei Max von Laue die Relativitätstheorie nicht verstanden hatte, sagte man ihm: Geh zu Reichenbach, da verstehst du sie bestimmt. Er verwandte gerne Beispiele aus der Technik, war ebenso Ingenieur wie Naturwissenschaft ler und malte sehr schöne Zeichnungen an die Tafel.72 In diesem Zusammenhang sei es erlaubt zu bemerken, daß Reichenbach drei Jahre lang zwischen 1917 und 1920 als »Laboratoriumsingenieur« bei der Gesellschaft für Funktelegraphie in Berlin gearbeitet hat. Diese Tatsache erklärt teilweise, wieso er das folgende vernichtende Urteil gegenüber der Geschichte der Philosophie abgegeben hat:73 »Wer aber an der neuen Philosophie mitarbeitet, schaut nicht zurück, denn seine Arbeit würde aus historischen Überlegungen keinen Nutzen ziehen. […] Man soll nie vergessen, daß sie Geschichte und nicht Philosophie ist.«74 Alte philosophische Theorien waren für ihn einfach wie alte Radiogeräte – überholt und voller Konstruktionsfehler.75 Reichenbach glaubte, daß es in der Philosophie, genauso wie in der Ingenieurskunst, Irrtümer und Problemlösungen gäbe –, »daß es unter mathematischen Philosophen keine Meinungs-
Zit. nach Gerner, op. cit., S. 122. Übrigens teilte Reichenbach diese Einschätzung mit Carnap. Siehe Rudolf Carnap, Mein Weg in die Philosophie, übersetzt von W. Hochkeppel, Stuttgart: Reclam, 1993, S. 64 ff. 74 Hans Reichenbach, Aufstieg der wissenschaft lichen Philosophie, a. a. O., S. 364. 75 Über das Verhältnis zwischen Philosophie und Technik bei Reichenbach siehe Beitrag 1.1, S. 18. 72
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verschiedenheiten geben kann«76 und auch keinen Platz für verschiedene Deutungen. Zudem endete sein Interesse an einem Problem, wenn er einmal überzeugt davon war, daß er dessen »Lösung« gefunden hatte. Das führte dazu, daß er oft bemerkenswerte Entdeckungen in der Wissenschaft nicht registrierte, wenn ihm ein Problem gelöst schien und das Thema deshalb aus seinem Fokus geraten war. Typisches Beispiel dafür ist, daß Reichenbach Kolmogoroffs formalistische Axiomatik der Wahrscheinlichkeitsrechnung77 in seinem Buch von 1935 Wahrscheinlichkeitslehre 78 nicht in die Betrachtung einbezog, obwohl sie klar einschlägig für seine Arbeit war. Auch Reichenbachs Glaube – der allgemeinen Meinung zum Trotz –, daß seine Leistungen im Bereich der Wahrscheinlichkeitslehre und Induktion viel bedeutender wären als seine Ausführungen über die Relativitätstheorie, war ein Ergebnis dieser Einstellung. Reichenbach war davon überzeugt, daß seine Wahrscheinlichkeitslehre die Induktion – das sine qua non jeder Wissenschaft – endgültig und völlig rechtfertige.
8. Zu dieser Ausgabe Im Zentrum dieses Bandes steht Reichenbachs Broschüre Ziele und Wege der heutigen Naturphilosophie, die 1931 im Felix Meiner Verlag, Leipzig, veröffentlicht wurde. Hinzu kommen vier Aufsätze, die Reichenbachs Vorstellung über das Verhältnis zwischen der Wissenschaft – in ihrer neuen, revolutionären Form – und der Philosophie darstellen. Die ersten drei Werke (Beiträge 1.1–1.3) präsentieren Reichenbachs Ideen in der Zeit, in Hans Reichenbach, Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie, a. a. O., S. 156. 77 Vgl. Andrei Kolmogoroff, Grundbegriffe der Wahrscheinlichkeitsrechnung, Berlin: Springer, 1933. 78 Hans Reichenbach, Wahrscheinlichkeitslehre, Leiden: Sijthoff ’s Uitgeversmaatschappij, 1935. 76
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der auch die Berliner Gesellschaft für wissenschaft liche Philosophie sich etablierte (1929–1932); die letzten zwei (Beiträge 2.1–2.2) zeigen Reichenbach in seiner radikal-empiristischen Phase (1933–1953). A. »Neue Wege der Wissenschaft« (1.1), »Die philosophische Bedeutung der modernen Physik« (1.2) und »Ziele und Wege der Naturphilosophie« (1.3). Am 11. November 1928 trug Reichenbach in Frankfurt am Main einen Aufsatz auf Einladung des Assistenten von Hans Cornelius, Max Horkheimer, dem späteren Gründer und Führer der Frankfurter Schule, vor. Der Titel des Vortrags lautete »Gegenwärtige Probleme der Naturphilosophie«, und der Vortrag läßt sich als »eine Vorarbeit zur ersten populären Darstellung seiner Philosophie […], den ›Zielen und Wegen der heutigen Naturphilosophie‹« interpretieren.79 1929 und 1930 arbeitete Reichenbach weiter in dieser Richtung. Teile seiner Untersuchungen fanden Ausdruck in den Beiträgen 1.1 und 1.2. Hauptgegenstand war die Kluft zwischen wissenschaft lichem Denken und dem Denken des täglichen Lebens. Sie wurde erst Anfang des 19. Jahrhunderts von solchen Philosophen wie Hegel aufgerissen, die die neuesten Ergebnisse der Naturwissenschaft und der Mathematik klar mißachteten; Plato, Leibniz und Kant kannten dagegen die Naturwissenschaften ihrer Zeit gut. Die neuen Entdeckungen der Wissenschaft Anfang des 20. Jahrhunderts, die eine »Revolution begrifflichen Denkens«80 verursachten, machten diese Spaltung noch größer. Es ist nicht verwunderlich, daß viele Philosophen, insbesondere die, die stark an Kunst und Literatur interessiert waren, der wissenschaft lichen Philosophie gegenüber Abneigung zeigten. Reichenbachs Schlußfolgerung war, daß die Philosophie – aber auch das Denken des täglichen Lebens – erneuert werden und daß sie Hans-Joachim Dahms, »Hans Reichenbachs Beziehungen zur Frankfurter Schule«, in : Lutz Danneberg et al. (Hg.), Hans Reichenbach und die Berliner Gruppe, a. a. O., S. 333–349; hier S. 336. 80 Beitrag 1.1, S. 16. 79
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sich die neuen Theorien der Wissenschaft und Mathematik zu eigen machte müsse. Dieses Anliegen hatte er auch als wissenschaft licher Publizist. Wichtig dabei sei, daß die Philosophen sich auf die neue Theorielage einstellen und den Willen zur Umstellung zeigen müssten. Die Aufgabe sei, die neuen begrifflichen Veränderungen in der Wissenschaft in das Denken des täglichen Lebens einzuführen. Der heutzutage große Unterschied zwischen ihnen solle sie nicht entmutigen. Allem voran dürfe das Denken des täglichen Lebens sein Bedürfnis, nur Anschauungsformen zu verstehen und sich in solchen Formen zu artikulieren, nicht aufgeben, sondern müsse seine Anschauung so ändern, daß es den neuen Entdeckungen der Wissenschaft – den zwei Relativitätstheorien insbesondere – entspreche. Das sei eine durchführbare Aufgabe, zumal an jedes begriffliche Schema – auch an das der neuesten Kosmologie – sich eine Anschauung anknüpfen lasse: das sei lediglich eine Gewöhnungssache.81 Die Verschmelzung der Erkenntnistheorie des täglichen Lebens mit der der Wissenschaft sollte eine neue »Naturphilosophie« (so bezeichnete Reichenbach 1929–1932 seine Philosophie 82) schaffen, die sich völlig von der alten Naturphilosophie Schellingscher Art unterscheidet. Ihre Aufgabe sollte nicht nur sein, die naturwissenschaft lichen Grundbegriffe zu klären, sondern auch die überkommenen philosophischen Vorstellungen umzudeuten und so die »Kontinuität zwischen Tageswelt und Welt der Fachwissenschaft [aufzuzeigen]«. 83 Ziele und Wege der heutigen Naturphilosophie wurde am 4. November 1930 vor der Gesellschaft für wissenschaft liche (damals noch »empirische«) Philosophie vorgetragen. Es war kein Zufall, daß diese kurze Arbeit als Broschüre veröffentlicht wurde, und zwar im Felix Meiner Verlag, wo auch die Zeitschrift Reichenbach brachte diese Idee mit der Relativität der sozialen Normen in Verbindung. Vgl. Anmerkung 4 zum Beitrag 1.2. 82 Vgl. Anmerkung 3 zum Beitrag 1.3. 83 Beitrag 1.2, S. 21. 81
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Erkenntnis erschien – denn Reichenbach maß der Arbeit großen Wert zu. Sie fungierte quasi als Programmschrift für die Gesellschaft. 84 Im Herbst 1930 hatte die Entwicklung der Gesellschaft ihren Höhepunkt erreicht. Der Text wurde ein Jahr später als La philosophie scientifique: vues nouvelles sur ses buts et ses méthodes ins Französische übersetzt. 85 Bedauerlicherweise wurde das Buch in Frankreich von zwei Rezensenten als »positivistisch« mißverstanden86 – wie wir bereits gesehen haben, war Reichenbach ein Gegner des Positivismus. Die französische Übersetzung wurde auf englisch von Julius Weinberg besprochen, der zumindest richtig gesehen hat, daß Reichenbachs Ansatz ein Versuch ist, »to discover the postulates of a particular scientific system merely, and not the postulates of all science«.87 1936 bemerkte Reichenbach: »My little book of 1931, Ziele und Wege der heutigen Naturphilosophie was programmatic in character.« Hans Reichenbach, »Autobiographical Sketches for Academic Purposes«, in: idem, Selected Writings, 2 vols., ed. by Maria Reichenbach and R. S. Cohen, vol. 1, S. 1–8; hier S. 7. 85 Paris: Hermann, 1932. Die Übersetzung wurde von Général Ernest Vouillemin erstellt und von Reichenbach selbst autorisiert. Die Einleitung schrieb Marcel Boll. 86 Vgl. A. Sesmat, »Hans Reichenbach, La philosophie scientifi que: vues nouvelles sur ses buts et ses méthodes«, in: Revue de philosophie 4 (1933), S. 499–500; G. de Giuli, »Solovine, Pacotte, Reichenbach, Liebert, Tommaseo«, in: Scientia 27 (1933), S. 51–53. Eine dritte Rezension auf französisch von Ludwig von Bertalanff y ist sehr positiv ausgefallen. Vgl. Ludwig von Bertalanff y, »Hans Reichenbach, Ziele und Wege der heutigen Naturphilosophie (La philosophie scientifique: vues nouvelles sur ses buts et ses méthodes)«, in: Scientia 27 (1933), S. 352 f. Das war kein Zufall, da Reichenbach selbst klare Sympathie für von Bertalanff ys Bemühungen hatte, interdisziplinäre Voraussetzungen der Wissenschaft zu suchen. Ein Zeichen dafür ist, daß Reichenbach von Bertalanff ys Buch Kritische Theorie der Formbildung (1928) in der kurzen Bibliographie zum Beitrag 1.3 hinzugefügt hat. Vgl. Beitrag 1.3, S. 93. 87 Julius Weinberg, »Hans Reichenbach, La philosophie scientifique: vues nouvelles sur ses buts et ses méthodes«, in: The Philosophical Review 84
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In Deutschland dagegen fand das Buch wenig Resonanz, keine einzige Rezension ist in deutscher Sprache erschienen. Der schon erwähnte Vortrag Reichenbachs vor der Gesellschaft für wissenschaft liche Philosophie unter dem gleichen Titel wurde jedoch von Richard Wolf bedacht, und zwar in einer Besprechung, die selbst viel darüber sagt, warum die Broschüre hierzulande wenig beachtet wurde: Eine andere Philosophie als diese Erkenntnistheorie der Naturwissenschaft und Mathematik erscheint dem Redner überflüssig, und die Andersdenkenden, die ihr weitere Aufgaben zuschreiben und andere Aufschlüsse von ihr verlangen, versucht er als Literaten abzutun. Sich damit auseinanderzusetzen, müßte in ein zu weites Feld führen, wir begnügen uns daher hier mit der Bemerkung, daß eine auf den Reichenbachschen Fragenkreis beschränkte Philosophie, so notwendig sie ist und so schöne Forschungsgegenstände sie darbietet, doch mit der Zeit von unserem menschlichen Schicksal und tiefen Erleben soweit fortführen müßte, daß es ihr zuletzt an lebendigen Kräften mangeln müßte. Für uns, die wir bewußt in einer Zeit leben, die mit Grauen verhängt ist, in der die Politik zum Schicksal geworden ist, ist solche Philosophie ein blutarmes Wesen. Blutarm und ein wenig des Tiefgangs ermangelnd, erschien sie auch trotz aller schönen Klarheit der Darstellung in dem abgezirkelten Bereich, wo sie legitim ist, und wo ihr Darsteller als Fachmann zu Hause ist. 88 Es ist also kein Wunder, daß das Büchlein in Deutschland bald in Vergessenheit geriet. Hinzu kommen zwei weitere Fakto46 (1937), S. 452. Julius Weinberg, Professor an der University of Ohio, war bewandert in der jungen Geschichte des logischen Positivismus. 1936 veröffentlichte er das gelungene Buch An examination of logical positivism, London: Kegan Paul. 88 Richard Wolf, »Die neue Naturphilosophie – Zum Vortrag Hans Reichenbachs ›Ziele und Wege der heutigen Naturphilosophie‹«, in: Deutsche Allgemeine Zeitung (Berliner Rundschau), 7. November 1930.
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ren für diesen Umstand. Zum einen mußten Reichenbach und fast alle anderen wissenschaft lichen Philosophen 1933 aus politischen Gründen Deutschland verlassen; die Gesellschaft für wissenschaft liche Philosophie hörte praktisch auf zu existieren. Zum zweiten trat Reichenbachs wissenschaft liche Philosophie mit seiner Wende zum radikalen Empirismus in eine neue Phase ein. Die Folge war, daß er einige seiner Thesen nicht mehr vertrat. Unter anderem betrachtete er die neue Naturphilosophie nicht mehr als einen Triumph des Rationalismus; auch zeigte er wenig Interesse an interdisziplinären Forschungen. B. »Der Logistische Empirismus in Deutschland und der gegenwärtige Stand seiner Probleme« (2.1) und »Rationalismus und Empirismus: eine Untersuchung der Wurzeln philosophischen Irrtums« (2.2). Reichenbachs Philosophie nach der radikal-empirischen Wende von 1932/1933 wird in den Beiträgen 2.1 und 2.2 präsentiert. Diese sind eigentlich Vorarbeiten zu Reichenbachs Büchern Erfahrung und Prognose (1938) bzw. Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie (1951). Beitrag 2.1. ist die erste ausführliche und öffentlich ausgetragene Auseinandersetzung Reichenbachs mit dem logischen Positivismus des Wiener Kreises. Wir haben schon am Ende von Abschnitt 4 über diese Auseinandersetzung berichtet. Es sei erlaubt zu erwähnen, daß zum einen Reichenbachs Wiener Freunde sich dadurch heft ig angegriffen fühlten. Otto Neurath insbesondere »war sehr betroffen über vieles« in Erfahrung und Prognose. 89 Andererseits gibt Reichenbach, seinem philosophiegeschichtlichen Skeptizismus zum Trotz, im V. Abschnitt von 2.1 eine sehr gute und präzise Darstellung der kurzen Geschichte des Logischen Empirismus. Kürzlich wurde Beitrag 2.1 als das »Berliner Manifest im Exil« eingestuft, welches dem Wiener Manifest Wissenschaftliche Weltauffassung nacheiferte.90 Diese Einschätzung ist un89 90
RC 102-54-25. Neuraths Brief an Carnap von 18. Mai 1938. Vgl. F. Stadler, »The Road to Experience and Prediction from
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haltbar, vor allem, weil der Aufsatz eher eine historische als eine programmatische Ausrichtung hat: Reichenbach berichtet 1936 post hoc, was zwischen 1929 und 1933 geleistet wurde. Als Programm der Berliner Gruppe ist eher der Band Ziele und Wege der heutigen Naturphilosophie zu verstehen (s.o.). Auch dieses Werk ist jedoch keine echte Programmschrift, sondern formuliert Tendenzen in der Philosophie und der Wissenschaft, die es unterstützt.91 Zum Ende seiner philosophischen Entwicklung stellt Reichenbach – in Beitrag 2.2 und im Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie – allgemeinste Theorien des radikalen Empirismus auf. Sein Hauptargument gegen die herkömmliche Philosophie ist, daß sie, statt ihre Wahrheiten Schritt für Schritt zu suchen, voreilig Systeme aufbaue. Das Ergebnis sei, daß sie nie Theorien aufstellen könne, die, ähnlich den wissenschaft lichen Theorien, allgemein anerkannt seien. Reichenbach ist aber Systemen gegenüber nicht generell abgeneigt: Wenn die Argumente der Philosophen vorsichtig und »logisch sauber« gemacht seien, dann könne ein System gerechtfertigt sein. Er selbst war davon überzeugt, daß er solche Schritte bereits hinter sich habe. So glaubte er nach 1928, daß das philosophische Problemgebiet der Raum-Zeit-Lehre abgeschlossen sei92 – man könne auf ihm weiter aufbauen. Der Beitrag 2.2 und der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie sind besonders aufschlußreich in Bezug auf Reichenbachs Schreibweise: Sein Streben nach überblicksartiger Darstellung wird kombiniert mit dezidierter Problemlösung. Das Ergebnis ist eine »cartoon-like history of empiricism«,93 die wenig überzeugt. Selbst Anhänger Reichenbachs äußern die Kritik, daß »it would be better if Reichenbach had never written this within: Hans Reichenbach’s Scientific Correspondence from Berlin to Istanbul«, a. a. O., S. 10. 91 Vgl. Beitrag 2.1, S. 96. 92 Siehe Beitrag 1.3, S. 63. 93 Bas van Fraassen, op. cit., S. 220.
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book which is without any doubt his worst production«.94 Sie bewundern Reichenbachs Werke zur Philosophie der Physik, finden aber den geradlinigen Tenor des Aufstiegs, der keinen Raum für Kritik und alternative Deutungen läßt, befremdlich. Kurzum, Reichenbach behauptet klipp und klar, daß die Entdeckungen der Wissenschaft vom Anfang des 19. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts sowohl den alten Rationalismus als auch den alten Empirismus endgültig widerlegt haben. Allen voran wird die Forderung, daß die Erkenntnis wahr sein muß, zurückgewiesen und statt dessen postuliert, daß Erkenntnisse nur einen gewissen Grad an Wahrscheinlichkeit beanspruchen können. Diese Form der Erkenntnis wird von Setzungen vermittelt, die die einzigen synthetischen Elemente des Wissens sind. Zum Schluß sei auch gesagt, daß die Bezeichnung »radikaler Empirismus« nicht geglückt, gar irreführend ist. In der Tat blieben Spuren von Reichenbachs Kantianismus und Apriorismus fest in seinem Denken verankert.95 Allem voran war Reichenbach (aber auch Schlick) der Meinung, daß die wissenschaft liche Untersuchung von der Bildung der wissenschaft lichen Begriffe begleitet wird. Damit vertrat er klar ein konstruktivistisches Programm und so »a new kind of empiricism, one that negotiates a careful path between a crudely reductive Machian (HuUlrich Rösberg, »The Rise of Scientific Philosophy Revisited«, in: Dionysios Anapolitanos et al. (eds.), Philosophy and the Many Faces of Science, Lanham (MA): Rowman & Littlefield, 1998, S. 196–205; hier S. 196. Wesley Salmon, vielleicht Reichenbachs eifrigster Student und Anhänger, gab zu: »Th is book, which was quite widely read, aroused considerable antipathy among philosophers of other persuasion.« Wesley Salmon, »The Philosophy of Hans Reichenbach«, in: idem (ed.), Hans Reichenbach: Logical Empiricist, Dordrecht: Reidel, 1977, S. 1–84; hier S. 9. 95 Siehe Andreas Kamlah, »The Neo-Kantian Origin of Hans Reichenbach’s Principle of Induction«, in: Nicholas Rescher (ed.), The Heritage of Logical Positivism, Lanham (MD): University Press of America, 1985, S. 157–169. 94
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mean) positivism and the excesses of Kantian apriorism«.96 Der Term »radikaler Empirismus« dagegen erweckt den Anschein einer Verwandtschaft etwa mit Ernst Machs naiver Epistemologie, für welche Reichenbach wenig Sympathie aufbrachte.
9. Zur Edition Die ersten drei Beiträge der vorliegenden Studienausgabe geben den Text nach den jeweiligen Erstveröffentlichungen wieder. Eindeutige Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert; die Interpunktion wurde modernisiert. Sperrungen wurden kursiv gesetzt und die Hervorhebung von Eigennamen wurde nicht übernommen. Die Beiträge 2.1 und 2.2 wurden von Andreas Kamlah übersetzt. Für diese Ausgabe wurden die Übersetzungen neu durchgesehen und an einigen Stellen geändert. Aus Gründen der Vereinheitlichung haben wir die drei Folgen des Beitrags 1.1 als drei mit arabischen Ziffern numerierte Kapitel wiedergegeben. Auch die Kapitel in den anderen Beiträgen sind mit arabischen Ziffern numeriert, was der Originalnumerierung der Beiträge 1.2, 1.3 und 2.1 entspricht; Beitrag 2.2 hat keine Kapitelteilung. Anmerkungen Reichenbachs sind als Fußnoten wiedergegeben. Anmerkungen des Herausgebers folgen am Schluß des Bandes.
Don Howard, »Einstein, Kant, and the Origins of Logical Empiricism«, in: Wesley Salmon and Gereon Wolters (eds.), Logic, Language, and the Structure of Scientific Theories, Pittsburgh/Konstanz: University of Pittsburgh Press/Universitätsverlag Konstanz, 1994, pp. 45–105; hier p. 47. 96
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10. Nachweis der Erstdrucke 1.1 »Neue Wege der Wissenschaft« erschien in drei Teilen in der Vossischen Zeitung (Berlin) am 31. März, 16. Juni und 18. August 1929. 1.2 »Die philosophische Bedeutung der modernen Physik«, in: Erkenntnis 1 (1930), S. 49–71. 1.3 Ziele und Wege der heutigen Naturphilosophie, Leipzig: Felix Meiner, 1931. 2.1 »Logistic Empiricism in Germany and the Present State of its Problems«, in: The Journal of Philosophy 33 (1936), S. 141–160. Die deutsche Übersetzung wird hier erstmals veröffentlicht. 2.2 »Rationalism and Empiricism: An Inquiry into the Roots of Philosophical Error«, in: The Philosophical Review 57 (1948), S. 330–346. Die hier gedruckte Übersetzung wurde zuerst in Reichenbachs Gesammelten Werken, Bd. 1, S. 451–465, veröffentlicht.
11. Bibliographie Ausgewählte Werke Reichenbachs 1916
1920 1921 1924 1925
1928 1929
»Der Begriff der Wahrscheinlichkeit für die mathematische Darstellung der Wirklichkeit«, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 161, S. 210–239; 162, S. 222–239. Relativitätstheorie und Erkenntnis apriori, Berlin: Springer. »Der gegenwärtige Stand der Relativitätsdiskussion«, in: Logos 10, S. 316–378. Axiomatik der relativistischen Raum-Zeit-Lehre, Braunschweig: Vieweg. »Die Kausalstruktur der Welt und der Unterschied von Vergangenheit und Zukunft«, in: Sitzungsberichte, Bayerische Akademie der Wissenschaften, mathematisch-naturwissenschaftliche Abteilung, Nov., München, S. 133–175. Philosophie der Raum-Zeit-Lehre, Berlin: de Gruyter. »Ziele und Wege der physikalischen Erkenntnis«, in:
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1932a 1932b
1935 1938
1944
1947
1951
1954
1956 1977–
1978
Nikolay Milkov
Handbuch der Physik (hg. von H. Geiger und K. Scheel), Band 4, Berlin: Springer, S. 1–80. »Axiomatik der Wahrscheinlichkeitsrechnung«, in: Mathematische Zeitschrift 34, S. 568–619. »Wahrscheinlichkeitslogik«, in: Sitzungsberichte, Preußische Akademie der Wissenschaften, Physikalische und Mathematische Klasse 29, S. 476–490. Wahrscheinlichkeitslehre, Leiden: Sijthoff ’s Uitgeversmaatschappij, 1935. Experience and Prediction, Chicago: University of Chicago Press. Deutsche Übersetzung als Erfahrung und Prognose von M. Reichenbach und H. Vetter, in: Gesammelte Werke, Band 4, 1983. Philosophic Foundations of Quantum Mechanics, Berkeley (CA): University of California Press. Deutsche Übersetzung unter dem Titel Philosophische Grundlagen der Quantenmechanik, Basel: Birkhäuser, 1949. Elements of Symbolic Logic, New York: Macmillan. Deutsche Übersetzung als Grundzüge der symbolischen Logik, in: Gesammelte Werke, Band 6, 1999. The Rise of Scientific Philosophy, Berkeley (CA): University of California Press. Deutsche Übersetzung unter dem Titel Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie von M. Reichenbach, Berlin: Herbig, 1953. Nomological Statements and Admissible Operations, Amsterdam: North-Holland. Second, expanded issue as: Laws, Modalities, and Counterfactuals, with a foreword by W. C. Salmon, Berkeley (CA): University of California. The Direction of Time, hg. von M. Reichenbach, Berkeley (CA): University of California Press. Gesammelte Werke in 9 Bänden, hg. von M. Reichenbach und A. Kamlah, Braunschweig. Vieweg. Bis 1999 wurden die ersten sieben Bände dieser Ausgabe veröffentlicht. Selected Writings: 1909–1953, 2 Bände, hg. von M. Reichenbach und R. S. Cohen: Dordrecht: Reidel.
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Weiterführende Werke Danneberg, Lutz et al. (Hg.): Hans Reichenbach und die Berliner Gruppe, Braunschweig: Vieweg, 1994. Friedman, Michael: Dynamics of Reason, Stanford (CA): CSLI Publications, 2001. Grünbaum, Adolf: Philosophical Problems of Space and Time, New York: Knopf, 1963. Hentschel, Klaus: Interpretationen und Fehlinterpretationen der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie durch Zeitgenossen Albert Einsteins, Basel: Birkhäuser, 1990. Kamlah, Andreas: »Hans Reichenbach: Prinzipien, Konventionen, Wahrscheinlichkeit«, in: Joseph Speck (Hg.), Grundprobleme der großen Philosophen, Band 6, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1992, S. 67–109. Poser, Hans und Dirks, Ulrich (Hg.): Hans Reichenbach: Philosophie im Umkreis der Physik, Berlin: Akademie Verlag, 1998. Putnam, Hilary: »Reichenbach’s Metaphysical Picture«, in: Erkenntnis 35 (1991), S. 61–75. Putnam, Hilary: »Hans Reichenbach: Realist and Verificationist«, in: J. Floyd und S. Shieh (Hg.), Future Pasts: The Analytic Tradition in Twentieth-Century Philosophy, Oxford: Oxford University Press, 2001, S. 277–287. Ryckman, Thomas: »Einstein Agonists: Weyl and Reichenbach on Geometry and the General Theory of Relativity«, in: Minnesota Studies in Philosophy of Science 16 (1996), S. 165–209. Ryckman, Thomas: »Logical Empiricism and the Philosophy of Physics«, in: Alan Richardson und Thomas Uebel (Hg.), The Cambridge Companion to Logical Empiricism, Cambridge: Cambridge University Press, 2007, S. 193–227. Salmon, Wesley (Hg.): Hans Reichenbach: Logical Empiricist, Dordrecht: Reidel, 1979. Schickore J. und Steinle, F. (Hg.): Revisiting Discovery and Justification, Dordrecht: Springer, 2006.
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Danksagung Die redaktionelle und herausgeberische Arbeit an diesem Band wurde im Rahmen des Projekts »Die Berliner Gruppe« gewährleistet und von der Fritz-Thyssen-Stiftung großzügigerweise unterstützt. Die ersten Danksagungen gehen an zwei Kollegen aus Paderborn: Volker Peckhaus hat das ganze Buch gelesen und wichtige sowohl stilistische als auch inhaltliche Verbesserungsvorschläge gemacht. Katharina Gefele hat zunächst alle fünf Beiträge gescannt und sodann die Einleitung und die Anmerkungen sorgfältig korrigiert. Ich bedanke mich auch bei Marion Lauschke für die wirksame Unterstützung bei der Erledigung der urheberrechtlichen Fragen sowie bei Manfred Meiner für seine Hilfe bei der gesamten Gestaltung des Bandes. Der Lektor des Meiner Verlags, Marcel Simon-Gadhof, hat unschätzbare Hilfe bei der stilistischen Verbesserung des Buches geleistet. Andreas Kamlah hat sowohl zwei von ihm gefertigte Übersetzungen von Reichenbachs Texten für diese Edition zur Verfügung gestellt als auch bei der gesamten editorischen Arbeit mit Rat und Dokumenten geholfen. Drei der »Anmerkungen des Herausgebers« (Nos. 10 zum Beitrag 2.1 sowie 1 und 10 zum Beitrag 2.2) sind von ihm verfaßt worden. Olaf Engler hat mich auf einige Briefe Hans Reichenbachs an Moritz Schlick aufmerksam gemacht. Brigitte Parakenings vom Philosophischen Archiv der Universität Konstanz und Brigitta Arden vom Special Collections Department, University Library System, University of Pittsburgh waren hilfreich bei der Besorgung von Archivmaterialien. Die Briefe von und an Carnap und Reichenbach, die in der »Einleitung« herangezogen wurden, sind zitiert mit der Genehmigung der Universität Pittsburgh. Alle Rechte vorbehalten. Last but not least bedanke ich mich bei meiner Frau Michaela für die ständige emotionelle und moralische Unterstützung.
H A N S R E IC H E N BAC H
NEUE WEGE DER WISSENSCHAFT
I. Physikalische Forschung *
Mit diesem Aufsatz1 beginnen wir eine Reihe von Beiträgen, die sich mit den neuen Forschungsmethoden der Einzelwissenschaften befassen werden. *** Die große Entwicklung, welche die exakteste aller Naturwissenschaften im letzten Jahrhundert, und besonders im letzten Vierteljahrhundert, genommen hat, hat sich nicht nur im Besitzstande ihres Wissens, sondern ebenso sehr in einer Umgestaltung ihrer Arbeitsweise ausgeprägt. Vielleicht ist gerade diese Veränderung für den weniger an Einzelheiten als vielmehr am Gesamtbild interessierten Beschauer von besonderem Reiz; vermag doch ein Blick auf die Methode einer Wissenschaft manchmal tiefere Einblicke zu gewähren als eine Zusammenstellung inhaltlicher Resultate. Denn es ist die Entwicklung des menschlichen Denkapparates selbst, von der ein solcher Einblick Kunde gibt. Ungefähr um die Jahrhundertwende vollzog sich bereits die Trennung in theoretische und experimentelle Physik, die dem heutigen Physiker bereits eine Selbstverständlichkeit bedeutet. Sie ist eine Trennung im Sinne des Unterschieds von abstrakt und konkret; der theoretische Physiker beschäft igt sich mit dem bloßen Nachdenken über Naturphänomene, während der Experimentalphysiker in manuellem Eingriff Naturphänomene erzeugt oder beobachtet. Ist das Werkzeug des Experimentalphysikers die handwerkliche Technik selbst – er muß Glas blasen können und elektrische Schaltungen verlegen und Maschinen bedienen –, so ist andererseits das Werkzeug des Theoretikers die Mathematik, die er in ihren subtilen Verzweigungen beherrschen muß. Eine so große Verschiedenheit des Werkzeugs hat die Verteilung der Funktionen auf verschiedene Personen not-
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I. Die neue Naturphilosophie
wendig gemacht. Doch sei ausdrücklich betont, daß damit nicht etwa eine Teilung der Wissenschaften ausgesprochen ist; im Gegenteil gehören theoretische und experimentelle Physik als Teile einer einzigen Wissenschaft aufs engste zusammen. Es ist wirklich nur eine aus der Begrenztheit menschlichen Könnens entsprungene Arbeitsteilung, die sich hier vollzogen hat. Inzwischen ist die Entwicklung weiter fortgeschritten, indem sich innerhalb der getrennten Arbeitsgebiete besondere Arbeitsmethoden ausgebildet haben, wie sie die frühere ungegliederte Physik nicht kannte. Verfolgen wir zunächst die experimentelle Seite. Hier ist es zunächst das Eindringen der modernen Technik, welche den Arbeitsvorgang charakterisiert.2 Das rein handwerkliche Arbeiten, sowenig es auch entbehrt werden kann, ist an Bedeutung doch weit zurückgetreten neben der Verwendung moderner Maschinen und feinmechanischer Geräte. Hat die Technik durch das Aufblühen der Physik eine ungeahnte Bereicherung ihres Besitzstandes erfahren, so stattet sie jetzt der Mutterwissenschaft ihren Dank ab, indem sie ihr technisierte Apparate zurückliefert, mit welchen die physikalische Forschung an neue Aufgaben herangehen kann. Wurde die erste Röntgenröhre von einem Physiker im Laboratorium konstruiert, so verwendet heute umgekehrt jeder Röntgenphysiker mit höchstem Raffi nement von Feinmechanik, Glasbläserkunst und Vakuumtechnik in Fabriken hergestellte Röntgenröhren, um mit ihnen Röntgenstrahlen für Forschungszwecke herzustellen. Eine entsprechende Entwicklung ist auf allen Gebieten eingetreten; die Galvanometer und Vakuumpumpen, die Verstärkerröhren, die optischen Apparate usw. werden heute in Fabriken hergestellt und von dem Experimentalphysiker im Laboratorium zu Versuchsanordnungen zusammengesetzt. Eine moderne Versuchsanordnung ist deshalb unübersehbar für jeden, dem Spezialkenntnisse fehlen; und experimentellen Erfolg wird nur derjenige Physiker haben, der mit geschicktem Griff industriell erzeugte Apparate an der richtigen Stelle eines Versuchsplanes einzusetzen versteht. Fehlen dem theoretischen Physiker diese Kenntnisse, so ist ihm an Stelle dessen die Beherrschung moderner mathemati-
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1.1 Neue Wege der Wissenschaft
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scher Methoden notwendiges Werkzeug. Die Verfeinerung des mathematischen Denkens in unserer Zeit muß ja der Verfeinerung der Experimentierkunst durchaus an die Seite gestellt werden; es gibt wirklich so etwas wie einen Parallelismus des soziologischen Typs auch auf diesen extrem rationalen Gebieten. Ohne die Einspannung in den Begriffsapparat der modernen Mathematik wären die physikalischen Probleme der Gegenwart nicht mehr zu lösen. Der physikalische Theoretiker von heute muß Differentialgleichungen verwickeltster Struktur, höherdimensionale Geometrien allgemeinsten Typs usw. mit Virtuosität beherrschen, wenn er die Ausbreitung elektrischer Wellen oder den inneren Aufbau des Atoms durchschauen will. Das hat zur Ausbildung eines besonderen Begriffsapparates geführt, sozusagen zu einer Technisierung des Denkens; ähnlich wie der Experimentalphysiker technisch fabrizierte Maschinen in den Dienst seiner Forschungsanordnungen stellt, verwendet der theoretische Physiker die Methoden der modernen Analysis wie subtilste Rechenmaschinen, deren virtuoser Leistung er Resultate verdankt, die dem naiven anschaulichen Denken immer verschlossen bleiben würden. Ja es ist schon mehrfach vorgekommen, daß die Begriffsmaschine,3 die der Mensch sich geschaffen hat, sozusagen klüger wird als ihr Schöpfer, daß sie von selber weiter rechnet und automatisch das Resultat an den Tag bringt, das der inhaltlich denkende Mensch nicht zu erraten vermochte. Bei den bedeutendsten theoretischen Leistungen der letzten Jahrzehnte haben derartige Tendenzen mitgespielt. So ist die allgemeine Relativitätstheorie erst dadurch über den Standpunkt eines programmatischen Gedankens hinaus zu einer Theorie geworden, weil ihr von Minkowski ein besonderer mathematischer Apparat geschaffen wurde; und die in den letzten Jahren entstandene Quantenphysik verdankt ihren Erfolg ebenfalls der Ausbildung eines besonderen mathematischen Apparates. Gerade hier läßt sich das Selbständigwerden der Begriffsmaschine besonders deutlich verfolgen: So wurde von Schrödinger auf Grund von Überlegungen rein mathematischer Art eine neue Wellentheorie der Materie geschaffen, deren inhaltliche Deutung erst später erfol-
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I. Die neue Naturphilosophie
gen konnte.4 Es ist eine Art mathematischer Experimentierkunst in der theoretischen Physik üblich geworden, dem Probieren des Experimentalphysikers gar nicht so unähnlich, der seine Resultate oft mals erst hinterher versteht. Vom Standpunkt klassischer physikalischer Arbeitsweise mag das unbefriedigend erscheinen, aber bei der Komplikation moderner Problemstellung dürfte ein solches technisiertes Verfahren nicht zu entbehren sein; auch hat gedankliches Schöpfertum noch Raum genug dabei, denn es wird sich gerade in der Schaff ung neuer mathematischer Mechanismen auswirken. Mit der Verfeinerung der Arbeitsmethoden geht nun eine weitere Differenzierung der Arbeitsgebiete parallel. Gibt es heute schon keinen Universalphysiker mehr, der noch, wie etwa ein Helmholtz, experimentelle und theoretische Physik in umfassendem Geiste zu verschmelzen vermag, so gibt es unter der jüngsten Generation kaum noch einen Experimentalphysiker, der die gesamte Experimentalphysik kennt, und kaum noch einen theoretischen Physiker, der die gesamte theoretische Physik kennt. Einstweilen ist der damit notwendig gewordenen Spezialisierung offi ziell noch wenig Rechnung getragen. Einigen Erfolg hatten nur die technischen Physiker, die, getragen von den Bedürfnissen der Industrie, die Schaff ung einiger besonderer Lehrstühle für technische Physik durchsetzten. Auf theoretischem Gebiet ist einstweilen das Interesse an dem Kreis der quantentheoretischen Probleme so überwiegend, daß die Bearbeitung anderer Spezialgebiete dagegen zurücktritt; insbesondere ist die Notwendigkeit einer besonderen Bearbeitung der begrifflich-philosophischen Probleme physikalischer Erkenntnis noch wenig erkannt worden. Der Physiker glaubt, daß hier mit gelegentlichen Äußerungen allgemeineren Inhalts von seiten hervorragender Vertreter der theoretischen Physik genügend getan sei; aber das ist eine ähnlich kurzsichtige Beurteilung der begrifflichen Problemstellung, wie sie etwa der Experimentalphysiker vor einigen Jahrzehnten erkennen ließ, wenn er glaubte, daß die Theorie von den Experimentalphysikern sozusagen im Nebenfach zu erledigen sei. Auf die Dauer wird sich dieser Zu-
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1.1 Neue Wege der Wissenschaft
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stand jedoch nicht halten lassen und man wird die Bearbeitung dieser Spezialprobleme besonders geschulten Vertretern überlassen müssen, zumal gerade diese Arbeit ja noch im Rahmen einer anderen Wissenschaft, der Philosophie, eine überragende Bedeutung besitzt. Es wäre verkehrt, wollte man eine Wissenschaftsentwicklung wie die geschilderte mit Werturteilen kritisieren, die sie anderen Wissenschaftsepochen gegenüberstellen. Auch die Wissenschaft, und sei es die abstrakteste, ist an den Schritt der Zeit gebunden, und sie wird in ihrer Entwicklung allgemeine soziale Tendenzen wie Abstraktion und Differentiation zum Ausdruck bringen. Was man allein tun kann, ist, sich über diese Entwicklung klar zu werden; erst im Rahmen einer wertenden Einstellung zum Strom der Zeit überhaupt wird man dann letzte Werturteile auch über moderne Wissenschaft fällen können.
II. Philosophische Forschung
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Es mag allein schon als ein Charakteristikum moderner Philosophie angesehen werden, daß wir heute von einer philosophischen Forschung sprechen können. Denn das Wort Forschung kennzeichnet bereits eine Methode; mit dem Bekenntnis zur Forschung stellt sich die Philosophie ihrer Methode nach in die Reihe der Einzelwissenschaften, deren Verfahren darin besteht, Schritt für Schritt in stetigem Fortgang Einzelprobleme zu lösen und erst auf dem Wege einer Aneinanderfügung von Einzelerkenntnissen zu einem Gesamtbild zu gelangen.5 In der Tat ist dieser Weg für die Philosophie neu, zumindest wenn man an die philosophische Arbeitsweise des vergangenen Jahrhunderts denkt. Für jene älteren Philosophengenerationen stand das Gesamtbild im Vordergrund, und Philosophie ging darin auf, ein System zu konstruieren, welches Erkenntnis und Bewußtsein in eigenartiger Ordnung zergliederte und Welt und Mensch in großartiger Perspektive zusammenschaute. Man hat solche Weltbildphilosophie lange Zeit für die einzig erlaubte
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I. Die neue Naturphilosophie
Form wahrer Philosophie gehalten, und wenn wir im folgenden die Auffassung entwickeln wollen, daß der Weg der heutigen Philosophie grundsätzlich ein anderer ist, so wollen wir damit nicht sagen, daß diese Meinung sich bereits allgemein durchgesetzt hätte. Das System-Ideal spielt heute noch eine gewisse Rolle; und die ältere Generation macht noch immer den Versuch, es gegen die Jüngeren zu verteidigen. Trotzdem glauben wir nicht, daß sich damit der Wandlungsprozeß aufhalten läßt. Im Gegenteil glauben wir, daß das nicht zu verkennende Zurückbleiben der Philosophie vor der Entwicklung der Einzelwissenschaften, ihre offensichtliche Stagnation daher rührt, daß man dem System-Ideal noch allzu lange nachgehängt hat. Nachdem man bald erkannt hatte, daß der Versuch, ein unserer Zeit gemäßes philosophisches System zu konstruieren, an der Fülle des Erkenntnismaterials scheitern mußte, hat sich der Weg der Systemphilosophie mit innerer Notwendigkeit in einen unproduktiven Historismus verwandelt. In der Vergangenheit allein schienen die großen Männer zu existieren, denen der Wurf eines philosophischen Systems gelungen war; und man vergaß ganz, daß dieser Wurf eben nur angesichts eines relativ umfangarmen einzelwissenschaft lichen Besitzstandes, besonders in den Naturwissenschaften, gelingen konnte. Man predigte die Rückkehr zu den großen Systemen der Vergangenheit und glaubte, daß in der Gegenwart keine andere Aufgabe für die Philosophie bestehen könnte als die, einige Abänderungen und Erweiterungen an den klassischen Systemen anzubringen, um sie moderner Wissenschaft anzupassen. Solche Überbewertung der vergangenen Größen mußte die Initiative lähmen, mußte den Blick von den Möglichkeiten der eigenen Gegenwart weglenken und jenes unproduktive Epigonentum erzeugen, dessen Anblick jeden abschrecken muß, der in dem reichen Arbeitsleben einer Einzelwissenschaft steht und von da aus einmal die Augen auf die zeitgenössische Philosophie zu wenden sucht. Man braucht ja nur einmal einen hervorragenden Naturwissenschaft ler um seine private Meinung über den Wert der Philosophie zu fragen, und man wird erstaunt sein, auf welche Beurteilung man
1.1 Neue Wege der Wissenschaft
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da stößt. Nur teilweise mag dieses Mißtrauensverhältnis aus der Verschiedenheit der Fächer zu erklären sein; zum größeren Teil ist es der historisierende Betrieb, das unkritische Nachtreten der alten Systemgeleise, welches den Naturwissenschaft ler von der Philosophie unserer Zeit zurückstößt. Dabei kann man nicht einmal sagen, daß Historismus schon bei jenen älteren Philosophen vorhanden gewesen sei, die uns heute als Vorbild entgegengehalten werden. Im Gegenteil sind die großen philosophischen Systematiker, vielleicht von Hegel abgesehen, ausgesprochen unhistorische Köpfe gewesen, und man darf mit einigem Recht die Vermutung aussprechen, daß gerade darauf ihre große Wirksamkeit beruht. Ihre große Leistung besteht in der originalen Verarbeitung des Erkenntnisbestandes ihrer Zeit, und sie würden es abgelehnt haben, ein überkommenes System so lange zu weiten und zu verbiegen, bis es sich einem neuen Erkenntnisstande einfügt. Andererseits kann man dem unhistorischen Philosophen der heutigen jüngeren Philosophengeneration – und diese ist wirklich unhistorisch – nicht den Vorwurf machen, daß er die geistige Leistung der philosophischen Klassiker geringschätzt. Im Gegenteil beobachtet man gerade bei den originalen Denkern ein ausgeprägtes Gefühl für die geistige Leistung der Älteren; nur jene lähmende Überwertung wird abgelehnt, die den Blick für die Besonderheit der eigenen Probleme trübt. Kann man die Philosophie der Gegenwart durch diesen negativen Zug, die Ablehnung der Bindung an Systeme, ziemlich einheitlich charakterisieren, so ist es freilich um so schwieriger, nach gemeinsamen positiven Zügen zu suchen. Mehr als andere Wissenschaften ist die Philosophie heute in Richtungen »zerspalten«, und kaum wird auf einem anderen Gebiet der Kampf der Richtungen mit größerer Heftigkeit geführt. Zeigt sich darin, daß wir eine allgemein anerkannte Philosophie als Wissenschaft gegenwärtig nicht besitzen, so können wir in dieser Zerrissenheit doch keineswegs ein Zeichen des Niedergangs anerkennen. Wenn eine Wissenschaft sich aus den Fesseln einer Tradition befreit, so muß sich das zunächst immer in einer Zersplitterung
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I. Die neue Naturphilosophie
äußern. Die Philosophie befindet sich eben gegenwärtig in einer Entwicklungsperiode, die aus der Periode der Systeme überführt in die Periode der positiven Forschung, und nur der rückwärtsgewandte Blick kann den darin liegenden Gesundungsprozeß verkennen. Man kann von der Größe eines Plato oder eines Kant durchdrungen sein und doch die Überzeugung vertreten, daß der Weg der zukünft igen Philosophie nicht durch eine neue Auseinandersetzung mit den Systemen dieser Großen gefunden werden wird, sondern nach eigenen Gesetzen aus dem Chaos der gegenwärtigen Meinungen herausgesteuert werden muß. Ist die antisystematische Tendenz der erste Grundzug moderner Philosophie, so mußte sie mit Notwendigkeit in einen zweiten Grundzug einmünden, der sich heute immer deutlicher abzuzeichnen beginnt. Wir meinen die enge Anlehnung der Philosophie an die Einzelwissenschaften, wie wir sie besonders bei den naturwissenschaftlich und psychologisch orientierten Philosophen beobachten. Denn der von uns für die Philosophie geschilderte Entwicklungsgang ist ja kein anderer als der der Naturwissenschaft. Dort ist die Umstellung von der Konstruktion der Systeme auf die Erforschung der Einzelprobleme, von der bildhaft verschwommenen Synthese auf die begrifflich scharfe Differentiation, 6 von der Spekulation auf die Konzentration bereits durchgeführt, und es sind gerade die aus der Berührung mit solcher produktiver Fachwissenschaft in philosophischen Köpfen freiwerdenden Kräfte, welche in erster Linie an einer Erneuerung der gegenwärtigen Philosophie arbeiten. Ja, wer genauer in die Fachwissenschaften hineinblickt, der findet, daß in ihr bereits philosophische Kräfte am Wachsen sind, daß in ihr bereits Problemstellungen gesehen und zum Teil gelöst sind, die früher in weniger präziser Form bei den Philosophen auftraten und dort nicht über den Stand begriffl icher Spekulation hinausgeführt wurden. Wir erinnern nur an die Diskussion des Atombegriffs, der Raum-Zeit-Probleme, des Lebensproblems; es ist in diesen fachwissenschaft lichen Diskussionen so viel begriffliches Material verarbeitet und angehäuft worden, daß der Philosoph kurzsichtig wäre, der hier nicht gern als Lernender
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1.1 Neue Wege der Wissenschaft
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in die Einzelwissenschaft ginge. Wenn man gesagt hat, daß in den statischen Konstruktionen der modernen Technik mehr von einer bildenden Kunst der Gegenwart zu spüren sei, als in den Werken heutiger Künstler, so kann man eine Parallele zu diesem Gedanken in dem Verhältnis von Einzelwissenschaft und Philosophie finden: In den naturwissenschaft lichen Entdeckungen unseres Jahrhunderts ist mehr Philosophie enthalten als in den bewußten philosophischen Produktionen. Freilich braucht diese Erkenntnis keinen Verzicht auf bewußtes philosophisches Arbeiten zu bedeuten. Das Verhältnis braucht nicht zu bleiben; im Gegenteil scheint es so, daß diese Periode jetzt ihrem Ende zugeht – schon deshalb, weil man sich der philosophischen Bedeutung der Einzelwissenschaft bewußt wird. Und wie heute schon Architektur und bildende Kunst von der reinen Sachlichkeit der Technik neue Formen entlehnen, so ist auch eine neue Philosophie im Werden, die selbst nicht mehr Naturwissenschaft ist, wenn sie auch von dieser eine Fülle von Problemen und begrifflichen Mitteln übernommen hat.7 Ein dritter Grundzug endlich folgt mit Notwendigkeit aus der geschilderten Wendung. Die Umstellung von der Konstruktion auf Einzelforschung bringt mit ihrer Spezialisierung auch eine Differenzierung mit sich. Die Konzentration auf das spezielle Problem verlangt eine so genaue Kenntnis von Einzelheiten und von Arbeitsmethoden, daß der Einzelne das Gesamtgebiet nicht mehr zu umfassen vermag. Es gibt heute schon Spezialisten für Philosophie der Mathematik, für Philosophie der Physik, für Philosophie der Psychologie, für Philosophie der Biologie; und wer in diese Verhältnisse näher hineingeschaut hat, der weiß, daß die Differenzierung weitergehen wird. Von mancher Seite ist sie als ein Verzicht auf eigentlich philosophische Arbeit angesehen worden, weil es nach dieser Auffassung der Philosophie gerade um ein Gesamtbild alles Wissens, um Totalität zu tun sei. Doch scheint es uns, daß solche Beurteilung ihr Ziel gänzlich verfehlt. Eine Erscheinung, die in dem wachsenden Umfange alles geistigen Besitzstandes im Verhältnis zu der Kapazität des Einzelgehirns begründet liegt, kann man nicht dadurch abtun,
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I. Die neue Naturphilosophie
daß man ihr den Namen der wahren Philosophie bestreitet; man wird vielmehr seinen Begriff von Philosophie angesichts solcher Tatsachen zu ändern haben. Im übrigen kommt es auf den Namen auch gar nicht an. Die Philosophie ist der Mutterboden vieler Einzelwissenschaften gewesen, und wie sich aus ihr durch Spezialisierung immer wieder besondere Disziplinen abgelöst haben, so werden sich auch in unserer Zeit neue Einzeldisziplinen ablösen. Man mag für diese die Namen Naturphilosophie, Erkenntnistheorie, Wissenschaftslehre usw. benutzen, aber man sei sich dann darüber klar, daß dem philosophischen Rumpf, den man dann noch als sogenannte reine Philosophie retten möchte, damit ganz wesentliche Glieder genommen sind. Gerade die großen Probleme von Erkenntnis und Außenwelt, wie sie in den Systemen der Klassiker an erster Stelle stehen, wird man dann künft ig nicht in jener »reinen Philosophie«, sondern in den neuen Spezialdisziplinen zu suchen haben, wo sie mit neuen begrifflichen Mitteln ihren Lösungen zugeführt werden. Es läßt sich doch gar nicht bestreiten, daß z. B. die Probleme, welche Kant in der transzendentalen Ästhetik seiner Kritik der reinen Vernunft bearbeitete, heute in der philosophischen Diskussion der Relativitätstheorie eine ganz neue Lösung gefunden haben; und auch die Probleme von Kants Kategorienlehre haben durch die philosophische Diskussion der modernen Physik entscheidende Wendungen erfahren. Oder man denke daran, wie die logischen Probleme der klassischen Philosophie, insbesondere der Eleaten, in der Hand der mathematischen Mengentheoretiker unserer Tage ein ganz neues Gesicht gewonnen haben. Diesmal handelt es sich deshalb um eine Differenzierung, die man besser nicht als Abspaltung neuer Disziplinen, sondern als Unterteilung der Philosophie bezeichnen wird, wenn man nicht auf die Zugehörigkeit einiger wesentlicher Probleme zur Philosophie verzichten will. Wir wollen nicht sagen, daß unsere Art, die Philosophie der Gegenwart zu sehen, von der Gesamtheit der Philosophen geteilt würde; im Gegenteil trennen wir uns damit von einer Reihe gegenwärtig verbreiteter philosophischer Strömungen, die Me-
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taphysik und Spekulation erneut als Domäne der Philosophie ergreifen wollen und den Niedergang des wissenschaft lichen Rationalismus verkünden. Aber diese Propheten einer neuen philosophischen Mystik vergessen, daß der von ihnen bekämpfte Gegner allein der Rationalismus aus der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts ist, daß jener kritische Rationalismus, 8 wie er gegenwärtig aus der Naturphilosophie herauswächst, dagegen von ihren Waffen nicht getroffen wird, weil er ihnen im Ernst der Probleme gewachsen, an Schärfe der Begriffsbildung aber überlegen ist. Nicht in erneuter Reflexion über das Wesen der Dinge in Selbstbeschauung und Analyse primitiver Erlebnisse sehen wir den Weg philosophischer Erkenntnis vorgezeichnet, sondern allein in disziplinierter Forschung und in der Fruchtbarmachung wissenschaft licher Methoden für erkenntnistheoretische Ziele. Technisierung und nicht Dialektik ist das Werkzeug moderner Philosophie; mag sie darum nüchterner sein als die Weltbildphilosophie der Metaphysiker – es kommt allein darauf an, den Weg der Wahrheit zu gehen.
III. Mathematische Forschung Wenn man nach den Wegen der mathematischen Forschung unserer Zeit fragt, so liegt die Fragestellung nahe, wie weit das Anwachsen der Technik, das für die Naturwissenschaften so weittragende Bedeutung besessen hat, auch in die Entwicklung dieser abstraktesten Wissenschaft eingegriffen hat; wird doch die Mathematik von jeher in eine Parallele zu den Naturwissenschaften gebracht. Im strengen Sinne läßt sich nun freilich die Mathematik nicht als Naturwissenschaft bezeichnen, da ihre Gegenstandswelt nicht durch die Dinge der Natur, sondern durch abstrakte Begriffsbildungen gegeben wird; mit größerem Rechte hätte man die Mathematik deshalb als eine Geisteswissenschaft zu bezeichnen. Aber die Angliederung an die Naturwissenschaften hat doch ihre tiefe Berechtigung, denn die von dem Mathematiker bearbeitete Begriffswelt ist gerade diejenige, welche der
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Naturforscher, speziell der Physiker, für die Erkenntnis der Natur benötigt; von jeher hat sich deshalb Mathematik im engen Zusammenhang mit der exakten Naturwissenschaft entwickelt, und in gegenseitiger Befruchtung hat sich ein Austausch der Problemstellungen und Lösungsmethoden vollzogen. Dabei darf man nicht etwa denken, daß mathematisches Denken nur dem theoretischen Teil der Naturwissenschaft nahesteht; im Gegenteil hat auch die andere Seite der Naturwissenschaft, ihr an die Technik stoßendes Grenzgebiet, mathematische Methoden gefordert und ausgebildet. Für die Mathematik hat dies zu der Ausbildung eines technischen Spezialgebiets geführt, zu der sogenannten angewandten Mathematik, in deren zunehmendem Wachsen man deshalb einen Ausdruck des Zuges zur Technisierung sehen darf, der die Wissenschaft der Gegenwart durchzieht. Freilich ist die Idee der angewandten Mathematik nicht etwa neu; im Gegenteil ist ja die praktische Mathematik die ältere Schwester, da die Mathematik des Altertums aus praktischen, d. h. geodätischen und astronomischen Problemen erwachsen ist. Ein deutlicheres Kennzeichen der Gegenwart ist deshalb viel eher die bewußte Abtrennung der angewandten Mathematik als einer Sonderdisziplin: ist doch Differenzierung und Spezialisierung das charakteristische Kennzeichen modernen Wissenschaftsbetriebes, in dem sich Arbeitsteilung und damit Erzielung von Höchstleistungen ebenso durchsetzt wie in Wirtschaft und Technik. Diese Tendenz läßt sich deshalb auch in dem rein theoretischen Teil der Mathematik verfolgen, und das Ideal eines Gauß, der noch Algebra, Analysis, Zahlentheorie, Geometrie, Astronomie und Wahrscheinlichkeitsrechnung in seinem Riesengeist produktiv zu umfassen vermochte, dürfte für unsere Zeit nicht mehr zu erwarten sein. Man begrüßt es heute schon als eine außerordentliche Leistung, wenn ein Forscher wenigstens auf zweien dieser innerlich sehr verschiedenen Gebiete Bedeutenderes zu leisten vermag. Noch in einer anderen Hinsicht hat der Zug zur Technisierung seinen Ausdruck gefunden. Er tritt hervor in der außerordentlichen Virtuosität der begriffl ichen Mittel, mit welcher der mo-
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derne Mathematiker seine Probleme behandelt. Es gibt heute, wenn man einmal diesen Vergleich wagen darf, sozusagen keine mathematischen Handwerker mehr, sondern man arbeitet mit der Maschinerie eines Begriffsapparates, der automatisch eine Reihe von Schlüssen vollzieht,9 die dem anschaulich direkten Denker verborgen bleiben würden. Damit hängt es zusammen, daß eine große rezeptive Arbeit der mathematischen Produktivität vorangehen muß. Darum gibt es in der Mathematik heute kaum noch »Außenseiter«; wer den schulmäßigen Weg nicht durchlaufen hat, kann das umfangreiche begriffl iche Werkzeug nicht durch eigene Produktivität ersetzen. Parallel mit dieser Technisierung des Begriffsapparates läuft nun ein weiterer Zug, der durch die technisierten Kräfte ausgelöst worden ist. Wir meinen die begriffliche Schöpferkraft,10 wie sie in dem Reichtum neugeschaffener Begriffe, der Überfülle gedanklicher Gebilde zum Ausdruck kommt. Die Verallgemeinerung der euklidischen Geometrie zur Riemannschen und ihre moderne Weiterführung, die Einführung höherdimensionaler Räume, die auch vor der Unendlichkeit der Dimensionszahl nicht haltgemacht hat, die Behandlung des Unendlichkeitsproblems mittels einer Stufenordnung unendlicher Mengen, die nach Mächtigkeiten geordnet sind, alle diese gedanklichen Gebilde sind Zeugen einer reichen begrifflichen Schöpferkraft, für die es scheinbar Schranken überhaupt nicht mehr gibt. Hatte man früher geglaubt, in den mathematischen abstrakten Gebilden den allgemeinsten Typus menschlicher Denkmöglichkeiten vor sich zu haben, so hat sich unter dem Eindruck dieser Überfülle von noch wesentlich verallgemeinerten und abstrakteren Begriffsgebilden immer deutlicher die Auffassung herausgebildet, daß es eine Grenze höchster Allgemeinheit nicht gibt, daß menschlichem Denkvermögen Grenzen nicht gesetzt sind und unser Wissen begrifflicher Möglichkeiten schon jetzt die Anforderungen weit übersteigt, die die Erfassung der Natur an uns stellt. So fand die Einsteinsche Relativierung der Zeit und seine Zusammenfassung von Raum und Gravitation ihren mathematischen Ausdruck in einer vierdimensionalen Geometrie, und auch die
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I. Die neue Naturphilosophie
eigenartige Erkenntnislage der modernen Quantenmechanik hat bereits in Anlehnung an bestehende mathematische Lehrsysteme ihren besonderen mathematischen Apparat gefunden. Der Fernerstehende, der von diesen abstrakten Begriffsgebilden zum erstenmal hört, fühlt sich gewöhnlich von ihrer Fremdheit erdrückt; ihm scheint es, als ob das anschauliche, klare Denken, wie es die antike und die klassische Mathematik charakterisierte, in dieser Welt abstrakter Spekulationen keinen Ort mehr hätte, und in der Tat hört man auch von Mathematikern die Meinung ausgesprochen, daß Anschaulichkeit in der modernen Mathematik nicht mehr durchgängig gewährleistet werden könnte. Dieses Urteil dürfte freilich nur eine Übergangserscheinung sein. In einer Zeit derartiger Umstellung und Erweiterung wird der Gegensatz zu der vorangehenden naiveren Begriffswelt immer als ein Bruch mit anschaulichen Forderungen empfunden werden; erst allmählich wird, in der Handhabung des wiederholten Gebrauchs, der neue Begriffsapparat sich mit anschaulichem Inhalt erfüllen,11 und schließlich wird er ebenso vertraut und anschaulich erscheinen wie der alte. Die Einsicht, daß die Erde eine Kugel ist und als kleiner Ball die viel größere Kugel der Sonne umkreist, muß denen, die diese Revolution begrifflichen Denkens miterlebt haben, als ein Bruch mit aller anschaulichen Vorstellbarkeit erschienen sein, so schwer es uns Heutigen umgekehrt auch sein mag, in der anschaulichen Vorstellbarkeit dieser Behauptung auch ein Problem zu sehen. Dieselbe Entwicklung zeigt sich auf anderen Gebieten; man kann heute bereits nicht mehr sagen, daß die nichteuklidische Geometrie weniger anschaulich sei als die euklidische, wenn auch der Fernerstehende eine solche Behauptung noch gar nicht glauben will; und es läßt sich nicht absehen, warum nicht das anschauliche Vorstellungsvermögen des Menschen mit seiner begrifflichen Schöpferkraft Schritt halten soll und schließlich auch die gegenwärtige Mathematik, in einem höheren Sinne freilich, wieder anschaulich werden soll. Neben der Technisierung der Methoden und der Schöpferkraft der begrifflichen Mittel ist nun noch ein dritter Zug anzu-
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1.1 Neue Wege der Wissenschaft
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führen, der einer ganz anderen Grundhaltung entspringt und doch für die gegenwärtige Zeit ebenso charakteristisch ist: das ist die kritische Einstellung, die logisch-erkenntnistheoretische Analyse der Grundlagen mathematischen Denkens, die in unserer Zeit besonderen Ausbau gefunden hat. Im Anschluß an die Schöpfung der Mengenlehre, an eine Periode von besonderer Schöpferkraft also, setzte diese Kritik ein. Sie erwuchs als eine Reaktion auf allzu selbstsichere Produktivität und spielte sich – wie Hilbert es einmal ausgedrückt hat – »sehr dramatisch« ab. Man war in der Freude über die neuen und reichen Resultate hinsichtlich der Zulässigkeit der Schlußweisen offenbar zu wenig kritisch verfahren; denn es stellten sich bei bloßer Anwendung der allmählich üblich gewordenen Begriffsbildungen und Schlußweisen Widersprüche heraus, zuerst vereinzelt, allmählich immer schärfer und immer ernster: die sogenannten »Paradoxien der Mengenlehre«. Die exakteste aller Wissenschaften, die von jeher als Prototyp logischen Denkens gegolten hatte, fand sich plötzlich in ihrem ureigensten Gebiete bedroht; sie verstrickte sich in Widersprüche und verletzte damit das einzige Kriterium, das über die Wahrheit mathematischer Schöpfungen zu entscheiden hat: die Logik. Ja, die Logik selbst erschien bedroht, denn auf dieser Stufe sind Mathematik und Logik kaum zu trennen, und eine Revision der mathematischen Methoden mußte zugleich immer eine Revision der logischen Grundlagen bedeuten. Die Typenlehre Russells und die axiomatische Methode Hilberts versuchten, aus dieser Situation einen Ausweg zu finden, und vor allem Hilberts Plan eines Beweises für die Widerspruchslosigkeit der Arithmetik bedeutet den großartigen Versuch, Logik und Mathematik auf eine neue Grundlage zu stellen.12 In eine ähnliche Richtung weisen die Angriffe des Intuitionismus, der mit noch schärferer Kritik an Logik und Mathematik herangeht und gewisse alte, sehr einleuchtend scheinende Begriffsbildungen verbieten will; er trägt eine geradezu spartanische Härte in die Grundlagenkritik hinein und scheut sich nicht, den reichsten Besitzstand mathematischen Wissens zu zertrümmern, wenn er seiner Kritik nicht standhält.
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I. Die neue Naturphilosophie
So treffen wir am Ende unserer kurzen Durchleuchtung mathematischer Forschung auf einen philosophischen Zug; und es ist in der Tat für das Denken unserer Zeit charakteristisch, daß es neben aller Wendung ins Technische, neben der Technisierung der Methoden und der aus ihr fl ießenden überquellenden Produktivität zugleich den Blick aufs Philosophische richtet, daß es sich über sich selbst besinnt und neben naivem Positivismus der Produktivität einer Kritik des eigenen Tuns, der eigenen Sinnhaft igkeit zu stellen versucht. Es ist derselbe Grundzug, der auf anderen Gebieten, in der Naturwissenschaft, in der Kunst sichtbar wird.13 Vielleicht wird man eines Tages verstehen, daß philosophische Grundhaltung nicht als Gegensatz zu technisierter Produktivität aufgefaßt zu werden braucht, so sehr beide in erster Betrachtung auseinanderstreben, daß vielmehr Kritik und Technisierung nur verschiedene Ausdrucksformen ein und derselben Grundhaltung sind, die in unserer Zeit reif geworden ist und deren soziologisches Werkzeug unsere Gehirne bedeuten.
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DIE PHILOSOPHISCHE BEDEUTUNG DER MODERNEN PHYSIK
I. Stärker als je ist in unserer Zeit eine Entfremdung zwischen der Welt der Wissenschaft und der Welt des täglichen Lebens eingetreten. Die außerordentliche Verfeinerung wissenschaft licher Methoden hat auf den Gebieten der physikalischen ebenso wie der biologischen Wissenschaften eine solche Wandlung aller Wissensbestände mit sich gebracht, daß der Nichtwissenschaftler sie nicht mehr mit den Erfahrungen des täglichen Lebens zusammenzuschließen vermag; er hört wohl staunend von den Ergebnissen der Relativitätstheorie oder der Biochemie, er wagt auch nicht zu bezweifeln, was ihm mit dem Autoritätsanspruch fachwissenschaft licher Wahrheit vorgetragen wird, aber er vermag mit solchen Berichten über ihm fremde Welten nichts anzufangen, er sieht nicht, wie sie mit den Erlebnisbeständen zusammenhängen sollen, die er Welt, Umwelt, Wirklichkeit, Leben nennt, und kann deshalb bei aller Bewunderung ein Gefühl der Leere nicht überwinden, welches ihn trotz bestem Willen zu einer inneren Anteilnahme an den Gütern der Wissenschaft nicht kommen läßt. Mehr als für den Gebildeten, der durch reichliche Schulung nur allzusehr daran gewöhnt ist, zwischen Geist und Herz eine Grenze zu ziehen, gilt dies für die großen Schichten derjenigen, denen höhere Bildung durch die Not sozialer Verhältnisse verschlossen blieb und die in unverbildetem Instinkt sich nicht daran gewöhnen können, ein Doppelleben zwischen der Welt der Wissenschaft und der Welt des Tages zu führen. Die geschilderte Tatsache ist nur allzu bekannt; und es sind schon immer Bemühungen dagewesen, jene Spannung durch besondere Bildungseinrichtungen, seien es Volkshochschulen, Arbeitsgemeinschaften oder populäre Literatur zu überwinden. Wenn diesen Versuchen trotzdem bisher kein durchgreifender Erfolg beschieden war, so müssen tiefere Gründe am Werke sein.
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I. Die neue Naturphilosophie
In der Tat glauben wir, daß durch bloße Organisation, durch den Versuch, weitere Schichten in pädagogischen Kunstgriffen mit den Resultaten der Wissenschaft vertraut zu machen, nichts Entscheidendes geleistet werden kann. Vielmehr scheint uns die Quelle dieser Spannung in der Schicht der Geistigen selbst zu liegen, da es auch dieser Schicht keineswegs gelungen ist, Fachwissenschaft und tägliches Leben zu innerer Einheit zu bringen. Solange sich der Gebildete mit einem Doppelleben abfindet, so lange wird der Ungebildete, der zu solcher intellektueller Unredlichkeit nicht aufgelockert ist, die Wissenschaft als ein totes Gut betrachten. Wir sehen deshalb die eigentliche Wurzel dieser kulturellen Spannung darin, daß es innerhalb der Schicht der Geistigen nicht gelungen ist, wissenschaft liche Entdeckungen mit der Welt des täglichen Lebens zu einem einheitlichen Weltbild zusammenzufügen. Die entscheidende Schuld hieran aber trägt die Philosophie. Denn anstatt die Resultate der Fachwissenschaft zu verarbeiten und umzusetzen in eine neue Art, die Wirklichkeit zu sehen, hat die Philosophie die Grenzen zwischen Wissenschaft und Tageswelt nur um so schärfer aufgerichtet. Sie hat nicht gemerkt, daß sich in der Fachwissenschaft nur eine stetige Abwandlung jener Grundbegriffe vollzogen hat, die wir im täglichen Leben genau so anwenden, und hat anstatt dessen eine Zweiwelten-Theorie begründet. Da sie nicht imstande war, fachwissenschaft liche Erkenntnis philosophisch zu deuten, hat sie in blinder Beschränkung die naive Erkenntnisform der Tageswelt zu Denknotwendigkeiten, zu apriorischen Kategorien gestempelt; sie mußte deshalb der Wissenschaft ein Sonderdasein einräumen, in dem man sich um Denknotwendigkeiten nicht zu kümmern braucht, das eine Art Sportplatz für Gehirnturnen bedeutet und das deshalb bei aller oft betonten Bewunderung für die Kunst solchen Geistesturnens von der Wahrheit im philosophischen Sinn durch eine unübersteigbare Scheidewand abgetrennt ist. Wenn die Philosophen Entdeckungen wie die relativistische Zeitlehre, die nicht-euklidischen Raumformen, die quantenmechanische Begrenzung des Kausalitätsgedankens
1.2 Die Philosophische Bedeutung der modernen Physik
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Arbeitshypothesen oder begriffliche Fiktionen genannt haben, so haben sie eben damit diesen Grenzstrich gezogen. Hier liegt deshalb die Quelle jener unglücklichen Spaltung, und der wissenschaft lich Ungeschulte wird sie bei aller Tapferkeit seines Lernbedürfnisses nicht überbrücken, wenn nicht von seiten der Philosophie her zuvor der Weg zur Einheit aufgezeigt worden ist. Wir sehen deshalb die Arbeit neuer Naturphilosophie nicht nur unter dem Gesichtspunkt ihrer fachwissenschaft lichen Bedeutung, als eine Klärung naturwissenschaft licher Grundbegriffe, wir sehen sie vielmehr zugleich auch unter dem sozialen Gesichtspunkt, daß Klärung der Grundbegriffe1 zugleich Umdeutung überkommener philosophischer Vorstellungen darstellt und daß nur die Aufzeigung der Kontinuität zwischen Tageswelt und Welt der Fachwissenschaft jene Eingliederung wissenschaft lichen Kulturgutes zu vollziehen vermag, unter deren Unvollziehbarkeit wir gegenwärtig noch leiden müssen. Es geht nicht an, den Raum der Physiker, oder ihre Substanz, oder ihre Gesetzlichkeit, etwas für sich Bestehendes, etwas Fiktives zu nennen, das von dem grundsätzlich verschieden ist, was der Mensch des täglichen Lebens mit denselben Worten bezeichnet. Nur allzu deutlich stellt sich heraus, daß eine Philosophie, die dies behauptet, nichts anderes bedeutet als dogmatisches Festhalten an dem Raum, der Substanz, dem Gesetzesbegriff, den die Physik vor 300 Jahren geschaffen hat und der nun einmal vor der Fülle und Tiefe heutigen Wissens nicht mehr zu halten ist. Erst wenn diese Einsicht Allgemeingut der Führenden geworden ist, wenn die Führenden ihre Philosophie nicht mehr aus den philosophischen Systemen der Vergangenheit, sondern aus den natur wissenschaft lichen Theorien der Gegenwart konstruieren, erst dann wird die künstliche Grenze zwischen Wissenschaft und Person, zwischen der Welt der Formeln und der Welt der Erlebnisse, verschwinden, und man wird begreifen, daß jene Formeln nichts sind als eine Deutung von Erlebnissen, eine Deutung, zu der den Wissenschaft ler derselbe Weg geführt hat, den jeder von uns im täglichen Leben auf Schritt und Tritt geht.
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I. Die neue Naturphilosophie
Es soll deshalb an dieser Stelle der Versuch gemacht werden, unter Verzicht auf entsprechende Überlegungen für die Biologie, in großen Zügen darzulegen, wie das physikalische Weltbild der Gegenwart zu begreifen ist und wie es sich mit Begriffen der Tageswelt zusammenschließt, wenn man die Ansprüche der Aprioritätsphilosophie fallen läßt.
II. Zunächst: daß ein Unterschied zwischen Weltbild der Wissenschaft und Weltbild des täglichen Lebens besteht, soll von uns nicht bestritten werden. Im Gegenteil wollen wir hier einmal in aller Schärfe diesen Unterschied herausstellen. Die Welt des Tages ist eine Welt greifbarer und sichtbarer Dinge um uns herum, die aus massiver Substanz gebildet sind und einige einfache und zuverlässige Gesetzmäßigkeiten in sich tragen. Wir können aus Holz, Eisen, Steinen Geräte oder Maschinen bauen, in denen wir jene Gesetzmäßigkeit verwerten. Wir wissen, daß die Substanz fest, flüssig oder gasförmig sein kann, daß es Wärme und Kälte gibt, daß es Licht, Farbe und Schall gibt, von welchen Dingen allen uns unsere Sinne lebendige Kunde vermitteln. Es gibt für dieses Weltbild auch so etwas wie Elektrizität, die man zwar nicht sehen kann, mit der man aber so viel zu tun hat, daß man ihren abstrakteren Charakter ganz vergessen hat;2 man kann sie ja in Maschinen erzeugen, durch Drähte schicken und mit ihr z. B. das Zimmer erleuchten. Auch gibt es für dieses Weltbild eine einfache Kosmologie. Es gibt den Himmel über uns, an dem die Gestirne ihre Bahn ziehen, und das ganze Weltall ist in Raum und Zeit eingebettet, deren Grundeigenschaften uns in selbstverständlicher Sicherheit vertraut sind; haben wir doch alle schon in der Schule als Geometrie und Mechanik jene einfachen Gesetze gelernt, deren Inbegriff uns die menschliche Weisheit von Raum und Zeit zu erschöpfen scheint. Versetzen wir uns von diesem naiven Standpunkt in das Welt-
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bild der Wissenschaft, so ist mit einem Schlage alles ins Unkenntliche verzaubert. Die gleichmäßig erfüllte Substanz des naiven Weltbildes gibt es dort nicht; es gibt vielmehr im Grunde nichts als kleine Körnchen, die in heftiger Bewegung durcheinander schwirren. Das ruhige klare Wasser im See entspricht nach der Auffassung des Wissenschaft lers vielmehr einem Mückenschwarm, in dem alles durcheinander wirbelt; eine Oberfläche hat es nicht, sondern nur eine unscharfe Grenze, aus der heraus ständig Wasserteilchen in die Luft schießen und durch welche umgekehrt andere Wasserteilchen aus der Luft eintreten. Auch der eiserne Brückenpfeiler, der dort aus dem Wasser emporragt und als das Symbol von Ruhe und tragender Kraft gilt, enthüllt sich schärferem Zusehen als ein zitterndes Gebilde, dessen Teilchen wie die feinen Ästchen einer Rispe durcheinander zittern, ja, dabei nicht einmal durch Verbindungen gehalten sind, sondern sich allein durch gegenseitige Anziehungskraft aus der Entfernung festhalten. Wenn eine Eisenbahn über die Brücke fährt, so darf man sich nicht vorstellen, daß ihre Räder die Schienen berühren; vielmehr kommen dann lediglich zwei solche Zitterrispensysteme in ihrer Oberfläche so nahe, daß abstoßende Kräfte die Teilchen auseinander treiben. In dieser Welt der Zitterrispen und Mückenschwärme gibt es auch kein Licht, keine Farbe, keinen Schall; auch das sind wieder nur Zittererscheinungen anderer Art, die sich allein durch ihre Zitterfrequenz unterscheiden. Was wir sonst Licht nennen, ist nämlich nichts als Elektrizität. Auch ist der Unterschied von Energie und Masse zweifelhaft geworden, beides ist im Grunde dasselbe, und da im Grunde die Masse wieder nichts anderes ist als Elektrizität, so besteht überhaupt die ganze Welt aus Elektrizität. Die Gesetze dieser elektrischen Zitterwelt sind von denen der groben Dinge des täglichen Lebens vollständig verschieden; diese enthüllen sich als Durchschnittsgesetze einer im Grunde wesentlich komplizierteren Welt, die nur durch die große Zahl der beteiligten Einzelteilchen einen so einfachen Charakter annehmen. Und endlich sind auch die Gesetze von Raum und Zeit, die allgemeinsten Gesetze also, die diese Welt regieren, wesentlich anders, als
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wir sie in der Schule gelernt haben; der Raum ist krumm, die Winkelsumme im Dreieck von zwei Rechten verschieden, die gerade Linie läuft schließlich in sich selbst zurück, und die Zeit umschließt eine eigenartige Unbestimmtheit, sowie man sie zu messen versucht. Das sind wirklich verschiedene Weltbilder, und man muß zugeben, daß es eine weitgehende Zumutung an den Nichtwissenschaft ler bedeutet, das alles zu glauben. Wie kommt die Wissenschaft dazu, Dingen, die sich dem Erlebnis des täglichen Daseins in so einfacher klarer Gestalt zeigen, eine derart absurd scheinende Umdeutung zu geben? Ist es nicht bloße Spekulationssucht, phantasievolle Freude an zweckloser Komplikation, die den Wissenschaft ler in solche Gedankenschöpfungen hineintreibt? Woher nimmt die Wissenschaft das Recht zu solcher Entfernung von der unmittelbaren Anschauung der Welt? Kann man wirklich noch von Kontinuität sprechen, wenn die Wissenschaft sich in solche Abstraktionen versteigt, die nur gerade die ganze Autorität der Fachwissenschaft davor zu schützen vermag, daß man sie nicht öffent lich unsinnig, absurd, lächerlich nennt? Wenn wir jetzt versuchen wollen, all dieser Gegensätzlichkeit zum Trotz zu beweisen, daß es die gleiche Denkweise ist, die den Menschen des täglichen Lebens zu dem ersten Weltbild, den der Wissenschaft zu dem zweiten Weltbild geführt hat, dann werden wir uns zunächst die Frage vorlegen müssen, wodurch der Wissenschaft ler eigentlich zu seinem Weltbild gekommen ist. Dabei müssen wir vier Quellen aufzählen, aus denen das Wissen moderner Natur wissenschaft geflossen ist. Als erste Quelle ist zu nennen die Verschärfung der Beobachtungsmittel im Vergleich zur Kraft der einfachen Sinneswahrnehmung. Das Mikroskop hat uns Einblicke in die Struktur des Kleinen verschafft, wo das bloße Auge gleichförmige strukturlose Substanz vermutete. Das Fernrohr hat uns die Gestalt ferner Weltkörper ent hüllt, die dem Auge nur als Punkte erschienen. Die moderne Meßtechnik vermag die Millionstel eines Millimeters oder Tausendstel einer Sekunde noch zu unterscheiden, und
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der billionste Teil des elektrischen Stroms, der durch eine Glühlampe fließt, ist für ein modernes Galvanometer noch bequem nachweisbar. Man darf sich nicht wundern, wenn die derart verschärften Beobachtungen anderes lehren als die grobe Kunst der Sinnesorgane allein. Die zweite Quelle unseres Wissens ist das Experiment. Die Naturwissenschaft beschränkt sich nicht darauf, die Natur zu beobachten, wie sie gerade ist; vielmehr versucht sie, die Natur durch künstlichen Eingriff, also durch das Experiment, in ganz neue Bedingungen zu versetzen. So werden Eisenstäbe gezerrt und verbogen, damit man ihre Festigkeit kennenlernt. Der elektrische Strom wird durch Wasser geschickt und enthüllt auf diese Weise die Bestandteile jener für das naive Auge einheitlichen Substanz. Man schickt die Elektrizität auch durch luftleere Glasröhren und entdeckt auf diesem Wege ihre eigene Natur. Man setzt eine Pflanze in einen Boden, dem ein bestimmtes Nährsalz entzogen ist, und beobachtet, was dann aus der Pflanze wird. So wird durch absichtliche Veränderungen der Naturbedingungen unser Wissen von den Dingen außerordentlich vermehrt; erfährt man doch dabei vieles, was uns beim bloßen Abwarten niemals zur Beobachtung kommen würde. Die dritte Quelle ist die zahlenmäßige Beschreibung beobachteter Zusammenhänge. Daß ein Gas, wenn man es in einen kleineren Raum bringen will, dafür entsprechend zusammengedrückt werden muß, lehrt schon das tägliche Leben; der Wissenschaft ler aber erforscht das zahlenmäßige Gesetz für den Zusammenhang von Volumen und Druck. Hat er dieses Gesetz gefunden, so nimmt er noch die Temperatur als weitere Veränderliche hinzu und bezieht sie in ein allgemeineres Gesetz ein. So hat der Astronom die Bewegung der Himmelskörper in zahlenmäßige, also mathematische Formen gebracht. So wird etwa an den Verstärkerröhren, die man beim Rundfunkempfang benutzt, die Abhängigkeit von elektrischem Strom und elektrischer Spannung zahlenmäßig studiert. In solcher quantitativen Erfassung der Naturzusammenhänge liegt nicht nur eine ganz außerordentliche Verschärfung unseres Wissens; es werden vielmehr da-
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mit zugleich auch neue Zusammenhänge aufgedeckt, an die man sonst nicht denken würde. Man erinnere sich etwa, daß die Einführung der Atomtheorie in der modernen Chemie wesentlich auf quantitativer Erfassung der Verbindungsgewichte beruht. Die vierte Quelle endlich ist die gedankliche Durchdringung der Tatsachen, wie sie in der modernen Naturwissenschaft weitgehend geglückt ist. Wir begnügen uns nicht mit der Aufzählung vieler einzelner Gesetzlichkeiten; wir machen vielmehr den Versuch, die Vielheit zu verringern und mit möglichst wenig Voraussetzungen einen möglichst weiten Umfang von Tatsachen zu erfassen. Dieser Prozeß ist ganz eigentlich das, was wir Erklärung nennen; erklären, begreifen heißt im Grunde nichts anderes als Zusammenfassen unter ein einheitliches Gesetz.3 Als Musterbeispiel dürfen wir das Newtonsche Gravitationsgesetz nennen, welches die Gesetze eines Kopernikus, eines Galilei, eines Kepler in einer einzigen Formel vereinigt. Gerade dieser Teil des wissenschaft lichen Arbeitsprozesses ist nicht möglich ohne den von uns beschriebenen Prozeß der quantitativen Erfassung; andererseits ist der Prozeß der gedanklichen Durchdringung gerade der interessanteste Teil der Forschung, weil er erst zu dem Zusammenhang führt, den wir ein Weltbild nennen. Fassen wir diese Übersicht über die Quellen wissenschaft licher Forschung zusammen, so können wir sie auf die Formel bringen, daß der Wissenschaftler viel mehr von der Welt wissen und viel genauer begreifen will als der naive Verstand. Kein Wunder, daß er zu anderen Resultaten kommt. Vor allem haben denn auch die beiden ersten Quellen große Unterschiede ergeben zwischen dem Wissen des täglichen Lebens und dem feineren Befund der Natur. Aber ebenso haben die beiden letzten Quellen Einblicke in die Natur gelehrt, wie sie das kurzatmige Denken des täglichen Lebens niemals zu enthüllen vermochte. Und diese Diskrepanz gilt nicht nur für die Wissenschaft der letzten Jahrhunderte, wo sie zwar auch schon auft ritt; sie gilt in überraschender Schärfe in unserer Generation von neuem, wo wir den Übergang einer klassischen Physik zu einer Quantenphysik erleben.
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Als Ergebnis dieser Umstellung dürfen wir formulieren: Wir wissen heute, daß die Welt im kleinen und im großen wesentlich anders aussieht als in den mittleren Größenbereichen, die unserer Wahrnehmung direkt zugänglich sind. Für das Große hat dies vor allem die Einsteinsche Relativitätstheorie gelehrt, als sie den Nachweis erbrachte, daß der Weltraum von nichteuklidischer Struktur ist, daß die Gleichzeitigkeit für kosmische Dimensionen einer Willkür unterliegt, daß also Maßstäbe und Uhren irdischer Herkunft bei Ausführung derselben Meßoperationen, wie sie uns auf der Erde geläufig sind, im Himmelsraum zu wesentlich anderen raumzeitlichen Maßbeziehungen führen würden. Für die Welt des Kleinen wurde das genannte Resultat vor allem durch die Quantentheorie begründet, welche gezeigt hat, daß das Geschehen im kleinen jene Stetigkeit verliert, die wir makroskopisch beobachten, und daß sogar die strenge gesetzmäßige Bindung, wie wir sie als Kausalprinzip für die Welt der mittleren Dimensionen kennengelernt haben, im kleinen nicht mehr besteht. Solche Wandlungen wären verhältnismäßig harmlos, wenn sie nichts anderes bedeuten würden als eine inhaltliche Neuausfüllung von Vorstellungen, wie wir sie uns schon sonst vom Großen oder vom Kleinen gemacht haben. Daß der Weltraum im großen nicht mit kompakter Materie ausgefüllt ist, wie unsere Umwelt, daß die Materie im kleinen aus getrennten Körnchen besteht und der kontinuierliche Charakter der makroskopischen Körper nur vorgetäuscht ist – das alles wäre noch verhältnismäßig leicht zu verwinden. Ist doch auch jeder Bericht eines Weltreisenden über Menschen und Dinge ferner Länder mit solchen Seltsamkeiten inhaltlicher Art er füllt; man wird sie glauben müssen, wenn sie glaubwürdig begründet werden können. Aber viel schwerer ist es uns zu glauben, wenn der Reisende von einer Verletzung derjenigen Sitten und Gebräuche berichtet, die unserer Umwelt als unantastbare Grundlagen menschlicher Weltordnung erscheinen; und wäre nicht der Bericht über die fernen Länder durch so viele Zeugen immer wieder erhärtet worden, es gäbe sicherlich noch unter uns manchen Prediger, der gewisse
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Tatsachen über sexuelle Bräuche bei Naturvölkern oder über ihre Eigentumsverhältnisse für unmöglich erklären würde.4 Es ist eben mit den Entdeckungen der modernen Physik nicht nur die neue inhaltliche Ausfüllung eines bestehenden begrifflichen Rahmens vollzogen worden, sondern es ist dieser begriffliche Rahmen selbst zur Diskussion gestellt und umgearbeitet worden. Auch unsere Begriffswelt enthüllte sich als angepaßt allein mittleren Größendimensionen. Die Begriffe von Raum und Zeit mußten für die Welt des Großen, die Begriffe der Substanz und der Gesetzlichkeit für die Welt des Kleinen einer Umwandlung unterzogen werden, welche die entsprechenden Begriffe, wie sie bisher aus der Welt der mittleren Dimensionen entwickelt worden waren, als Näherungen aufweist, die nur innerhalb von Gebieten mittlerer Größenordnung anwendbar sind. Es ist dies eine Wendung, wie man sie nur jener schon zum Symbol gewordenen Entdeckung des Kopernikus vergleichen kann: Die Erkenntnis, daß die alten Grundbegriffe der Naturwissenschaft nur für mittlere Größenbereiche anwendbar sind, ist die kopernikanische Wendung unserer Zeit. Sie entthront eine Welt von Begriffen, so wie Kopernikus die Erde entthront hat; sie weist diese Begriffe auf als zu eng, als entsprungen allein aus der Beschränkung unserer Größendimensionen im Weltall.
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III. Aber wie ist eine solche Wandlung möglich? Hatte nicht die Aprioritätsphilosophie eine Reihe von Beweisen zusammengetragen, welche die Unwandelbarkeit der Grundbegriffe für alle Zeiten fest legte? Die Gedankengänge der Aprioritätsphilosophie sind ja manchen Wandlungen unterworfen worden; wir wollen hier nur auf jene Form näher eingehen, die sich in Fortführung, allerdings auch Veränderung kantischer Gedanken herausgebildet hat. 5 Danach sind die Grundbegriffe, wie Raum, Zeit, Kausalität, Substanz, methodische Prinzipien, die wir im Gebrauch der Wissen-
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schaft ständig voraussetzen. Zwar muß es zweifelhaft erscheinen, ob man sie unter diesem Gesichtspunkt überhaupt noch als wahr zu bezeichnen hat, weil sie, als methodische Prinzipien, nichts über die Welt des Wirklichen besagen, sondern nur Ordnungsformen des menschlichen Denkens sind; sicher aber wäre es nach dieser Auffassung, daß jedenfalls ohne diese Prinzipien Naturerkenntnis überhaupt nicht möglich wäre. Wenn man Erkenntnis treibt, so muß man den Stoff der Erfahrung nach gewissen Gesichtspunkten ordnen; darum muß es unmöglich scheinen, die bei der Ordnung benutzten Prinzipien jemals durch Erfahrung zu widerlegen. Wenn wir etwa den Raum ausmessen, so müssen wir dabei Meßinstrumente benutzen, für deren Konstruktion, für deren mechanische Herstellung bereits die euklidische Geometrie vorausgesetzt wurde; darum erscheint es widerspruchsvoll, wollten wir durch Messung jemals die Geltung einer nichteuklidischen Geometrie begründen. Ebenso steht es mit den anderen Kategorien oder Grundbegriffen; wollen wir z. B. den Grundsatz der Kausalität prüfen, so müßten wir dazu Experimente machen, für welche wir das Kausalprinzip bereits vorausgesetzt haben. Darum scheint ein Widerspruch gleicher Art zu entstehen, wollten wir jemals auf eine Ungesetzlichkeit der Natur schließen. Diese auf Kant zurückgehende Begründung für die Unwandelbarkeit gewisser Grundsätze der Naturerkenntnis hat in der Philosophie eine große Rolle gespielt, und sie wird heute noch von der Mehrheit der Philosophen vertreten. Die moderne Physik freilich hat mit ihrer Entwicklung auch den Weg zur Widerlegung dieses Gedankens gefunden. Wenn wir Experimente machen; so spielt sich unsere Beobachtung stets in der Welt der mittleren Dimensionen ab; das gilt sowohl für die Erforschung der Weite des Himmelsraums, bei der unsere Beobachtungsdaten schließlich Fernrohrbilder oder, noch deut licher, Photographien sind, und es gilt auch für die Welt der Atomdimensionen, die von uns erschlossen wird durch Messungen von Druck und Temperatur, also Angaben von Instrumenten mittlerer Größenordnung, oder auch durch
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photographische Bilder von Flecken und Streifen, wie etwa bei der Kristalldurchleuchtung oder den Wilsonschen Nebelstreifen. 6 Wenn wir diese Beobachtungsmittel gedanklich auswerten, so dürfen wir dabei deshalb die Begriffswelt der mittleren Dimensionen benutzen. Wir können aber trotzdem auf eine wesentlich anders strukturierte Welt in andern Dimensionen schließen, wenn diese Welt derart strukturiert ist, daß die Struktur für mittlere Dimensionen mit großer Näherung in die alte Form übergeht. Um das gleich deutlicher zu zeigen: Wir wissen, daß die nicht-euklidische Geometrie sich in kleinen Bereichen von der euklidischen Geometrie nicht nennenswert unterscheidet, wir können deshalb, auch wenn für das Weltall im ganzen eine nichteuklidische Geometrie gilt, in der Größenordnung der astronomischen Instrumente ruhig mit den euklidischen Grundsätzen weiter rechnen, ohne dabei einen merklichen Fehler zu machen. Es ist deshalb kein Widerspruch, wenn wir unter der Voraussetzung der euklidischen Geometrie im kleinen auf die Geltung einer nicht-euklidischen Geometrie im großen schließen. Entsprechend liegt es bei dem Schluß auf die Welt im kleinen. Wir wissen, daß bei Massenerscheinungen von Elementarprozessen Gesetze von nahezu strenger Sicherheit resultieren, obgleich der Elementarvorgang selbst nur die Unsicherheit des Wahrscheinlichkeitsvorganges besitzt. Die Beobachtungen, welche wir von den Quantenvorgängen machen, vollziehen sich aber wieder mit Hilfe von Instrumenten mittlerer Dimensionen, d. h. also mit Hilfe von Prozessen, bei welchen eine große Zahl von Elementarakten beteiligt ist; wir dürfen deshalb für die Theorie dieser Instrumente den strengen Kausalbegriff voraussetzen und können trotzdem auf Abweichungen von der Kausalgesetzlichkeit im kleinen schließen, ohne damit einen Widerspruch zu begehen. So können wir etwa, wenn wir Interferenzerscheinungen im Fernrohr beobachten, den Strahlengang im Innern des Fernrohres nach den strengen Gesetzen der geometrischen Optik berechnen, ohne daß wir dabei auf den im Grunde quantenhaften Prozeß der Lichtausbreitung mit seinen einzelnen Stößen und seine Unregelmäßigkeiten Rücksicht neh-
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men; und es ist kein Widerspruch, wenn wir auf Grund solcher Beobachtungen auf den Wahrscheinlichkeitscharakter des elementaren Quantenvorganges schließen. Auch wenn wir auf die statistischen Vorgänge in der kinetischen Theorie der Wärme schließen, benutzen wir dabei Thermometer und Manometer, deren Veränderungen zwar in strenger Betrachtung nur Durchschnittsbildungen von Elementarprozessen bedeuten, von uns aber als thermische und mechanische Prozesse im Sinne der makroskopischen Physik behandelt werden. Das Verfahren, welches die Physik zur Abwandlung ihrer Voraussetzungen eingeführt hat, kann deshalb als ein Verfahren stetiger Erweiterung bezeichnet werden. Es gelingt, für die Welt des Großen und des Kleinen eine wesentlich andere Struktur aufzuzeigen, wenn diese Struktur so beschaffen ist, daß sie in der Welt der mittleren Dimensionen mit der bisherigen Struktur nahe zusammenfällt. Dieses Zusammenfallen vollzieht sich für die Welt des Großen dadurch, daß die bisherige Struktur als Infinitesimalprinzip angenommen wird, d. h. als gültig für das Kleine. Für die Welt des Kleinen muß dagegen gerade umgekehrt die bisherige Struktur als Integralprinzip, d. h. als gültig für das Große, angesetzt werden. Der Riemannsche Aufbau der nicht-euklidischen Geometrie aus dem Postulat der euklidischen Geometrie im Infinitesimalen und das Bohrsche Korrespondenzprinzip, welches für größer werdende Quantenzahlen einen allmählichen Übergang des quantenhaften Atommodells in das klassische, d. h. das mittleren Dimensionen nachgebildete, ausspricht, bedeuten typische Anwendungsformen dieses Gedankens. Und es ließen sich noch viele Beispiele nennen. In der Durchführung des Verfahrens stetiger Erweiterung hat die Physik eine virtuose Kraft begrifflicher Verallgemeinerung entdeckt, von der sie in ihren neueren Theorien ständig Gebrauch macht und der sie die überraschend neuen Züge ihres Weltbildes verdankt.
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IV. Diese Aufk lärung für die Möglichkeit, neue Grundbegriffe in die Wissenschaft einzuführen, entwickelt zugleich eine große Tragweite, wenn es sich darum handelt, die psychologischen Gründe für die Unbedingtheitsansprüche aufzudecken, mit welchen die alten Grundbegriffe auft reten.7 Denn es wird durch die geschilderten Überlegungen deutlich, daß die älteren Grundbegriffe nur deshalb in dem Menschen entstehen konnten, weil die Umwelt gewisse allgemeine Verhaltungsweisen in sich trägt, die eine Anwendung dieser Begriffe nahelegen. So ist es eine Eigentümlichkeit der starren Körper, daß sie bei Messungsoperationen in Gebieten mittlerer Dimensionen gewisse Gesetze befolgen, die Euklid dann als Axiome der Geometrie formuliert hat; die Vorstellung des euklidischen Raumes ist also aus der Beschäft igung mit Dingen der Umwelt entstanden, die entsprechende Gesetze in sich tragen. Ebenso ist auch der Begriff der strengen Kausalität durch die große Regelmäßigkeit nahegelegt worden, welche sich in den raumzeitlichen Veränderungen makroskopischer Materie, in der Mechanik also, zeigt. Wenn man darüber hinaus diese Begriffe für das Große und für das Kleine ebenso postulierte, so hat man falsch extrapoliert. Aber zu sagen, daß das Große und das Kleine für uns deswegen nicht begreiflich seien, weil es sich den älteren Begriffen nicht fügt, heißt den Ursprung jener Begriffe in der physikalischen Welt verkennen, heißt physikalische Tatsächlichkeit irrtümlich in Denknotwendigkeit umzudeuten. Unsere sogenannten Grundbegriffe sind umweltbedingt; die täglich wiederholte Anwendung hat sie zur Vertrautheit gebracht, und solche Gewöhnung hat man für Denknotwendigkeit gehalten. Ist dies einmal erkannt, so steht nichts im Wege, daß eine entsprechende Gewöhnung sich schließlich auch einmal für Begriffe anderer Art einstellt. Würden wir in einer Umwelt leben, deren starre Körper die Lagerungsverhältnisse der nicht-euklidischen Geometrie befolgen, so würde uns die nicht-euklidische Geometrie genau so anschaulich erscheinen wie die euklidische.
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Wir würden gelernt haben, die Kongruenz anders als jetzt in den Raum hineinzusehen, und würden deshalb die Axiome einer Riemannschen Geometrie ebenso aus der Raumanschauung herauslesen können, wie wir dies heute für die euklidische Geometrie vermögen. Und würden die Körper unserer Umwelt, wenn wir sie durch mechanische Kräfte in andere Lagen zu bringen versuchen, dabei nicht die strenge Gesetzmäßigkeit der Mechanik, sondern die Zufallsgesetzlichkeit geschleuderter Würfel realisieren, so würden wir uns bald daran gewöhnt haben, daß man nicht durch Herstellung gewisser Ursachen das zukünft ige Geschehen eindeutig vorschreiben kann, sondern dabei nur auf Wahrscheinlichkeitserfolge hoffen kann.1 Es besteht deshalb keine grundsätzliche Schwierigkeit, die allgemeineren Begriffsgebilde der heutigen Physik in der gleichen Weise mit anschaulichem Inhalt zu belegen, wie dies mit den Grundbegriffen der klassischen Physik möglich ist. Es gehört dazu nichts als das Ausmalen entsprechender Umweltverhältnisse; denn es zeigt sich, daß für eine Umstellung nicht einmal die Realisierung solcher Verhältnisse erforderlich ist, sondern daß das bloß vorstellungsmäßige Ausmalen entsprechender Erlebnisse 1
Es ist gar nicht schwer, sich derartige Sachverhalte auszumalen. Man stelle sich zum Beispiel vor, daß ein Stuhl, den wir mit der Hand nach bestimmter Richtung drücken, nur manchmal an dem beabsichtigten Ort, gelegentlich aber auch an ganz anderen Orten ankommen würde oder daß etwa ein von einer Maschine getriebenes Fahrzeug nicht eindeutig gesteuert werden könnte, sondern Zickzackkurven beschreiben würde wie ein Brownsches Teilchen unter dem Mikroskop. In einer solchen Welt würde sich der Begriff der strengen Kausalität nicht entwickelt haben; aber man hätte gelernt, Mechanismen zu konstruieren, die wenigstens im Durchschnitt mit einiger Wahrscheinlichkeit an ihr Ziel kämen. Dabei ist der Unterschied einer solchen Welt gegen die unsere nur graduell. Auch unsere Fahrzeuge erreichen ihr Ziel nicht immer; wir müssen uns mit Wahrscheinlichkeitsaussichten begnügen, und wenn der Grad der Wahrscheinlichkeit auch verhältnismäßig hoch ist, so bleibt doch stets ein Rest von Versagern zu tragen, wie er in jener gedachten Welt nur in größerem Umfange auft räte.
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genügt, um die innere Umstellung zu vollziehen. Wenigstens gelingt eine Veranschaulichung derartiger fremder Verhältnisse für den, dessen Vorstellungsvermögen durch abstraktes Denken hinreichend geschult und dessen Wille auf die Umstellung fest eingestellt ist. 8 Die erkenntnistheoretische Kritik der sogenannten apriorischen Begriffe lehrt also, wie wir erkennen, nicht nur die Möglichkeit ihrer logischen Überwindung: Sie lehrt zugleich den Weg für die anschauliche Realisation von neuen Begriffen. Hier liegt der Kerngedanke, aus dem das Weltbild der neuen Physik konstruiert werden muß. Es ist nicht wahr, daß die Physik in ihren neuen Resultaten unanschaulich sei; es gelingt, auch die Physik des Großen und des Kleinen anschaulich zu machen, wenn wir uns nur für die Welt der mittleren Dimensionen Erlebnisse vorstellen, wie sie dem Verhalten der Körper in großen und kleinen Dimensionen entsprechen. Sind diese Gedanken zwar aus der Fachwissenschaft entstanden, so sind sie doch noch nicht etwa in der Fachwissenschaft allgemein anerkannt. Vielmehr hat sich unter Fachwissenschaft lern die unglückliche Vorstellung ausgebildet, daß Anschaulichkeit etwas sei, worauf man zugunsten der Exaktheit zu verzichten habe, daß Anschaulichkeit sozusagen ein Bedürfnis des Laien sei, von dem der Fachwissenschaft ler sich freigemacht haben müsse. So haben denn die Physiker auf ihrem Wege in die neue Begriffswelt hinein zahlreiche Verbotstafeln aufgerichtet, die an kritischen Stellen eine Veranschaulichung verbieten und den Glauben erwecken sollen, daß die eigentliche Physik nur noch aus mathematischen Formeln bestehe. Dieses Verbotssystem hat sich für die Praxis zweifellos bewährt; es hat nämlich verhindert, daß überkommene Anschauungen sich mit unberechtigten Geltungsansprüchen in die neue Begriffswelt eindrängen. Die Konstruktion neuer Anschaulichkeit kann im allgemeinen erst einsetzen, wenn das begriffliche Gerüst gefestigt ist;9 es gibt einen Weg, traditionelle Anschauungen auf Begriffen gleichsam zu umklettern und dann zu neuen Anschauungen vorzudringen. Die Entwicklung der modernen Physik ist
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ein überzeugendes Beispiel für dieses psychologische Faktum. Dennoch kann das System der Verbotstafeln nur provisorische Bedeutung besitzen; es bedeutet ein Arbeitsprinzip, aber kein Endstadium, und es wird schließlich doch ein Zustand erstrebt werden müssen, in dem alles ebenso veranschaulicht werden kann, wie es begrifflich formulierbar ist. Und man braucht sich nicht damit zu begnügen, daß die Änderungen der Welt im großen und im kleinen den Bereich der mittleren Dimensionen so wenig beeinflussen, daß hier die Änderung von Anschauungsbildern überflüssig wird; dies würde überhaupt keine echte Veranschaulichung bedeuten, sondern vielmehr den Verzicht auf anschauliches Erfassen von Unterschieden, die sich erst in extremen Dimensionen bemerkbar machen. Wir müssen schon deshalb an einer weitergehenden Möglichkeit der Veranschaulichung festhalten, weil es nicht grundsätzlich ausgeschlossen erscheint, daß jene Änderungen eines Tages auch die Welt der mittleren Dimensionen merk lich ergreifen. Das Ausmalen entsprechender Verhaltungsweisen für die Welt der mittleren Dimensionen ist deshalb grundsätzlich durchführbar; aber es ist zugleich auch alles, was für eine Veranschaulichung gefordert werden kann, was sinnhaft überhaupt Anschaulichkeit genannt werden kann. Hier trifft sich die Überlegungskette der Philosophie mit der Tendenz des Laien, Wissenschaft aus einem Abstraktum mathematischer Formeln zu dem Konkretum anschaulicher Erlebnisse zu machen. Nicht diese Forderung des Ungelehrten ist es, die ihn von der Wissenschaft trennt; denn die Forderung ist berechtigt – nur ihre Durchführung sieht wesentlich anders aus, als der Ungeschulte glauben möchte. Und doch ist das Ausmalen möglicher Erlebnisse etwas so Anschauliches und Überzeugendes, daß es auch den zu gewinnen vermag, den Unkenntnis mathematischer Formeln von der exakten Wissenschaft trennt. Gehört doch zu solcher Umstellung nichts als die Bereitschaft, die Erlebnisse der Tageswelt in ihrer Situationsbedingtheit zu erkennen; eine Bereitschaft, welcher die überrasche Entwicklung moderner Technik schon erfolgreich vorgearbeitet hat. Wer, sei
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er Philosoph, sei er Physiker, die Möglichkeit zur Veranschaulichung der modernen Physik nicht zugibt, der allein, und nicht die Physik, trägt die Schuld, wenn der Ungeschulte an die Tore der neuen Wissenschaft vergeblich pocht. In der Auflösung des Anschaulichkeitsproblems, wie sie in der neuen Naturphilosophie vollzogen wurde, liegt deshalb die Quelle, aus der eine Vereinigung von Wissenschaft und Tageswelt allein fl ießen kann.
V. Einen wichtigen Einwand der Aprioritätsphilosophie müssen wir noch widerlegen. Es mag sein, so wird argumentiert, daß die Physik die Möglichkeit zur Überwindung apriorischer Vorstellungen besitzt; aber hat die Physik das Recht, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen? Stellt sie nicht damit den Erkenntniswert ihrer Ergebnisse überhaupt in Frage? Erkenntnis bedeutet, so argumentiert man, nicht die blinde Konstruktion eines Formelsystems, sondern Erkenntnis bedeutet die Einordnung des Erkenntnisstoffes in vorgegebene feste Formen, eben die apriorischen Kategorien; wenn die Physik diese Kategorien außer acht läßt, so sei ihr Ergebnis bestenfalls eine praktisch brauchbare Fiktion, niemals aber die Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Welt, niemals eine echte Erkenntnis. Man kann diese Auffassung dahin charakterisieren, daß es besondere Wahrheitskriterien gibt, zusammengefaßt in einem System von Kategorien, deren Erfüllung in ihrer Gesamtheit dem physikalischen Weltbild erst Wahrheitscharakter verleiht. Aber diese Auffassung beruht auf einem Irrtum,10 wie man leicht zeigen kann. Es ist nämlich a priori nicht vorauszusehen, ob das System von Kategorien nicht in seiner fortgesetzten Anwendung auf Erfahrungsbestände schließlich zu Widersprüchen führt. Zwar wird es immer Erfahrungsbestände geben, die mit dem System vereinbar sind; das ergibt sich für uns schon aus der historischen
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Entstehung dieses Systems als Denkform der Physik vergangener Jahrhunderte. Aber was bewiesen werden müßte, ist eine sehr viel weitergehende Forderung: nämlich, daß das System mit allen denkbaren Wahrnehmungsbeständen vereinbar ist. Erscheint ein derartiger Beweis in völliger Allgemeinheit schon kaum möglich, so ist es um so leichter, für einzelne Fälle den Gegenbeweis zu erbringen. Man braucht sich nur eine Wahrnehmungswelt auszumalen, in der Widersprüche auft reten, wenn man die Gesamtheit der apriorischen Begriffe fest halten will. Solche denkbaren Erfahrungsbestände sind konstruiert worden; es läßt sich vor allem zeigen, daß für solche Erfahrungsbestände die Kategorien der normalen Kausalität und der euklidischen Geometrie in Widerspruch treten. Der geschilderte Gedanke der Aprioritätsphilosophie, daß Erkenntnis wesenhaft an ein System von Kategorien gebunden sei, ist deshalb unhaltbar, weil er in Widersprüche führt.2 Aber wie ist es möglich, daß die Erfahrung, und sei es in konstruierten Welten, so weitgehende Entscheidungen liefert? Erfahrung liefert doch stets nur vereinzelte Beobachtungsdaten. Besteht da nicht die Möglichkeit, durch Einführung verborgener Ursachen, hypothetischer Kräfte, das Kategorienschema zu retten? Es gäbe in der Tat diese Möglichkeit, wenn die Naturerkenntnis nicht über ein Prinzip verfügte, welches gestattet, solche künstlichen Annahmen auszuschließen. Das ist das Prinzip der Induktion.3 Dieses Prinzip muß freilich vorausgesetzt werden, wenn unser obiger Beweis für die Widerspruchsmöglichkeit des Kategoriensystems schlüssig sein soll. Aber dieses Prinzip kann schlechterdings nicht entbehrt werden, denn es bedeutet das eigentliche 2
Für eine genauere Begründung sei verwiesen auf die folgenden Schriften des Verfassers: Relativitätstheorie und Erkenntnis apriori, Berlin 1920, und Philosophie der Raum-Zeit-Lehre, Berlin 1928, S. 83. 3 Genauer bezeichnet man diesen Schluß auch als unvollständige Induktion im Gegensatz zur vollständigen Induktion, die in der Mathematik vorkommt.
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Mittel für den Wahrheitsentscheid der Wissenschaft. Würden wir das Induktionsprinzip aufgeben, so würde damit Willkür in die Wissenschaft einziehen11 und jede beliebige Behauptung über die physikalische Natur mit vorliegenden Beobachtungen vereinbar sein. Denn das Induktionsprinzip erlaubt erst den Schluß von den Tatsachen auf das allgemeine Gesetz. Wir beobachten etwa, daß ein durch eine Drahtschleife geschickter Strom einen Magneten ablenkt, und schließen, daß dies immer der Fall sein wird; wir beobachten, daß bei allen uns bisher bekannten Vorgängen die Energie niemals kleiner oder größer geworden ist, und schließen, daß die Energie in allen überhaupt vorkommenden Fällen konstant bleibt. Auch in komplizierteren gedanklichen Verbindungen kann dieser Schluß auftreten, wenn der Beobachtungsbefund in einen größeren theoretischen Zusammenhang eingebettet ist und dadurch indirekt Voraussetzungen ganz anderer Art bestätigt. So beobachtet man die Lichtablenkung an der Sonne oder die Perihelverschiebung des Merkur und sieht darin eine indirekte Bestätigung der Einsteinschen Behauptung, daß für den Weltraum eine nicht-euklidische Geometrie gilt. Auch dies ist ein Induktionsschluß, da hier von einem Beobachtungsbefund auf ein allgemeineres Gesetz geschlossen wird; nur ist dieses Gesetz nicht einfach die Verallgemeinerung des Beobachteten auf weitere ähnliche Fälle, sondern der Übergang auf ein tiefer liegendes Gesetz.12 Ohne Benutzung des Induktionsprinzips wäre es allerdings nicht möglich, von Beobachtungen auf allgemeine Gesetzlichkeiten zu schließen. Denn das im einzelnen Beobachtete könnte dann immer Ausnahmefall sein; daß z. B. jedesmal, wenn in der Drahtspule der elektrische Strom eingeschaltet wird, auch die Magnetnadel ausschlägt, könnte ein zufälliges Zusammentreffen von Ereignissen sein, ohne daß damit ein Gesetz ausgesprochen wäre. So könnte es auch ein Zufall sein, daß die von der Einsteinschen Gravitationstheorie gelieferte Perihelverschiebung des Merkur gerade 43 Bogensekunden beträgt und damit genau soviel, wie die Astronomen unabhängig von der Einstein-
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schen Theorie gefunden hatten; oder es könnte ein Zufall sein, daß die Spektrallinien der glühenden Stoffe, soweit man dies bisher beobachtet hat, gerade die Gesetzmäßigkeit in sich tragen, die von der Bohrschen Formel ausgesprochen wird. Aber das glaubt nun einmal der Physiker nicht, ja, diese Möglichkeit scheint so absurd, daß kein Mensch sie ernsthaft in Betracht ziehen würde; man glaubt nun einmal nicht an so sonderbare Zufälle, zumal wenn die Übereinstimmung nicht nur einmal, sondern, wie etwa bei den Spektrallinien, in zahlreichen Fällen beobachtet worden ist. Es ist aber nichts anderes als das Prinzip der Induktion, was hinter dieser Schlußweise steht. Man hat dagegen eingewandt, daß die Physik in zahlreichen und gerade bedeutungsvollen Fällen die Entscheidung zwischen widersprechenden Theorien nicht erst durch eine Anzahl von Beobachtungen fällt, sondern schon durch ein einziges Experiment trifft. So genügt nach dieser Ansicht etwa ein einziger Versuch, der die Interferenz von Lichtwellen zeigt, zur Widerlegung der Newtonschen Emissionstheorie. Aber man erkennt bei tieferem Nachsehen, daß es sich hier nur um eine scheinbare Ausschaltung des Induktionsprinzips handelt. Denn indem man der Versuchsanordnung diejenige Bedeutung beilegt, die man für das Resultat braucht, also etwa den Durchgang des Lichts im Fernrohr nach den Gesetzen der geometrischen Optik berechnet oder die Zeigerangabe eines Amperemeters als Maß der elektrischen Stromstärke benutzt, hat man bereits das Induktionsprinzip für ältere Erfahrungsbestände vorausgesetzt. Es gibt eine Reihe von primären Erfahrungsbeständen, die auf Grund der Induktion einen so hohen Grad von Wahrscheinlichkeit für eine bestimmte zugehörige Deutung gewonnen haben, daß wir sie nur einmal zu realisieren brauchen, um dann eine hohe Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen der zugehörigen Deutungsbehauptung zu besitzen. Das experimentum crucis kann sich deshalb mit einer einmaligen Realisierung begnügen,13 weil für seine Deutung eine Reihe von primären Deutungen seiner Komponenten zugrunde gelegt werden kann; aber in diesen primären Deutungen steckt wieder das Induktionsprinzip. Und genauer
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betrachtet, zeigt sich das Auft reten des Induktionsprinzips noch einmal, sowie es sich darum handelt, im Experiment quantitative Angaben zu gewinnen. Denn für die Ausschaltung der Beobachtungsfehler, die nur auf statistischem Wege erfolgen kann, ist eine große Menge von Messungen nötig. Ein moderner physikalischer Versuch sieht deshalb wesentlich anders aus, als der Laie sich vorstellt. Das berühmte Experiment von Michelson,14 ein Musterbeispiel für ein experimentum crucis, stützt sich in seiner neueren Ausführung auf 5000 Einzelbeobachtungen; der »eine« Versuch bedeutet also in Wirklichkeit 5000 Versuche. In der Anwendung der Fehlertheorie drückt sich deshalb das Induktionsprinzip noch einmal wieder aus; es ist hier nur in den schmalen Bereich der Genauigkeitsregulation hineingeraten, weil der große Bereich weiterer Möglichkeiten durch die primären Induktionen in den primären Versuchskomponenten bereits ausgeschlossen wird. Wir wollen an dieser Stelle die Bedeutung des Induktionsprinzips nur aufzeigen, können dagegen nicht in die Untersuchung der Frage eintreten, woher die Wissenschaft das Recht für den Induktionsschluß nimmt. Es handelt sich hier um eins der schwierigsten Probleme der modernen Naturphilosophie; das folgende Heft der Zeitschrift wird Ausführungen des Verfassers zu diesem Problem bringen.15 Hier sei nur betont, daß das Induktionsprinzip von der gesamten Wissenschaft rückhaltlos anerkannt wird und daß es keinen Menschen gibt, der dieses Prinzip, auch für das tägliche Leben, ernstlich bezweifelt. Wir nannten das Induktionsprinzip den Schritt von den Tatsachen zu dem allgemeinen Gesetz. Aber worin besteht der Anspruch auf Allgemeingeltung, der mit den Naturgesetzen verbunden wird? Die Naturwissenschaft ist fern davon, unter Allgemeingeltung irgendeinen geheimnisvollen Anspruch von metaphysischer Not wendigkeit zu verstehen. Wenn sie einem Gesetz Geltung zusprechen will, so soll dies nichts anderes heißen als nur das eine, daß das Gesetz Schlüsse zuläßt auf zukünftige Wahrnehmungen. Dieser Schluß kann von sehr einfacher Form sein; wenn z. B. die Ablenkung der Magnetnadel durch
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den elektrischen Strom ein Gesetz genannt wird, so besagt dies, daß nicht nur bei den bisherigen Beobachtungen, sondern auch bei allen zukünft igen Beobachtungen das Zusammentreffen der beiden Ereignisse »Einschalten des elektrischen Stroms« und »Ausschlagen der Magnetnadel« stattfi nden wird. Wenn wir vorher sagten, daß dieses Zusammentreffen kein zufälliges sein könnte, so ergibt sich hierdurch die nähere Bestimmung dieses Begriffs: daß hier kein Zufall, sondern ein Gesetz vorliegt, soll nichts anderes heißen, als daß das Zusammentreffen sich immer wiederholen wird. Und entsprechend liegt es bei komplizierteren Zusammenhängen. Wenn die Geltung der nicht-euklidischen Geometrie in astronomischen Bereichen behauptet wird, so besagt dies, daß nicht nur die beobachteten Erscheinungen der Lichtablenkung und Perihelverschiebung des Merkur zutreffen, sondern daß auch eine Reihe anderer Erscheinungen zutrifft, die man aus dem Begriffskreis der nicht-euklidischen Geometrie berechnen kann, bisher aber noch nicht direkt prüfen konnte. Der Geltungsanspruch natur wissenschaft licher Gesetze besteht also in einer Prophezeiung,16 und das Induktionsprinzip, auf welches sich der Geltungsanspruch stützt, bedeutet deshalb nichts anderes als den Schluß vom beobachteten Fall auf unbeobachtete Fälle. IV.
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In nichts prägt sich die antimetaphysische Haltung der modernen Naturwissenschaft17 so sichtbar aus wie in dieser Auffassung des Geltungsproblems. Es kommt der Naturforschung nicht darauf an, Erfahrungen in ein bestimmtes, von der Vernunft vorgegebenes Schema zu pressen, wie etwa Kant geglaubt hatte; es kommt ihr nicht darauf an, die Beobachtungen in Raum und Zeit einzuordnen oder unter dem Zwang eigentümlicher Begriffsbildungen wie Substanz und gesetzlicher Notwendigkeit zusammenzufassen, sondern es kommt ihr allein darauf an, aus beobachteten Erfahrungen zu künftige zu prophezeien. Weil sie nichts weiter will als dieses, ist die moderne Naturfor-
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schung in der Lage, auf den Ballast althergebrachter Vorstellungen zu verzichten, mit dem der historische Entwicklungsgang das Denken angefüllt hat. Um diesen entscheidenden Schritt ist das Weltbild des täglichen Lebens noch hinter dem der Wissenschaft zurück. Wenn das Weltbild des täglichen Lebens angefüllt ist von bildhaften Beschreibungen, in denen die Natur nach dem Wesen des Menschen konstruiert wird, wenn man etwa die Kraft einer angespannten Feder der Anspannung eines Menschen vergleicht, der eine schwere Last emporschleppt, wenn man die Einordnung des fallenden Steins in das galileische Fallgesetz der Einordnung des Menschen in Polizeigesetze vergleicht, wenn man das Licht als einen feinen und farbigen Stoff ansieht, sowie er unserem Auge erscheint, so sind das Ausfüllungen von Naturgesetzen mit Anschauungsinhalten, die aus andern Erlebniszusammenhängen zu Unrecht auf die physikalische Welt übertragen sind. Auf solche unberechtigte Extrapolation zu verzichten, ist die Grundforderung, die an jeden zu stellen ist, der das physikalische Weltbild begreifen will. Man mag diese Entmenschlichung der Natur bedauern, man mag sie eine Entseelung nennen und die physikalische Natur deshalb lebensfern und uninteressant – das sind Begriffe, an die sich der Physiker nicht kehrt, weil sie die Naturforschung mit Maßstäben messen, die aus der Welt des Dichters und Malers genommen sind und deshalb eine Bedeutung auch nur für eine andere Sphäre besitzen. Es muß vielmehr als eine Angelegenheit intellektueller Sauberkeit anerkannt werden, daß solche Maßstäbe auf wissenschaft liche Forschung nicht anwendbar sind; und gerade der künstlerisch empfi ndende Mensch sollte die Kraft zu solcher Reinigung in sich aufbringen18 – ist doch künstlerisches Schaffen von einer moralischen Reinigungskraft ähnlicher Art durchzogen. Solche Ablehnung gefühlsbetonter Einstellungen in der Naturerkenntnis bedeutet nicht, daß wir der Welt des Künstlers ihren Wert absprechen wollen; es heißt vielmehr nur, daß wir es ablehnen, Begriffe des Künstlers in eine Sphäre zu tragen, in die sie nicht gehören. Das künstlerische Erfassen der Natur trägt seinen Wert in sich; dafür vermag es jedoch gerade das nicht zu
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leisten, was die Wissenschaft vermag: nämlich die Voraussage künft iger Ereignisse. Wir nannten diesen Grundzug einen antimetaphysischen; wir können ihn auch eine Entgötterung der Natur nennen. Die alten Völker haben sich die Natur durch Hinzudenken von Göttern und Dämonen belebt, sie konnten sich das Zustandekommen von Natur vorgängen eben nicht anders denken als nach dem Bilde menschenähnlicher Wesen, die das Geschehen regieren und deren Willenszusammenhänge uns als Naturgesetze erscheinen. Ist dieses poly theistische Weltbild der naiven Völker auch schon seit langem überwunden, so bedeutet die Erfüllung der Naturwissenschaft mit Begriffsbildungen metaphysischer Art im Grunde doch nichts anderes. Auch der Raum- und Zeitbegriff, der Substanzbegriff, der Kraft- und Gesetzesbegriff der Metaphysik, alle in ihrer unverkennbar anthropomorphen Herkunft, bedeuten heute nur noch bildhafte Zutat, die in keinem Zusammenhang steht mit den Erlebnissen, auf die die physikalische Erkenntnis wirklich gestützt ist. Nur diese Erlebnisse aber, und ihre Ordnung zum Zusammenhang einer vorausschauenden Theorie, machen den Inhalt moderner Naturforschung aus. Vielleicht gibt es keine größere Revolution in der Geschichte der Menschheit als diesen allmählichen Übergang von der Götternatur der Primitiven über die metaphysische Natur der Philosophen bis zu der nüchternen Natur der heutigen Physik, in der es nur noch Tatsachen und begriffliche Zusammenhänge zwischen Tatsachen gibt. Freilich sieht ein solches Weltbild anders aus als das Weltbild des täglichen Lebens; aber es ist doch nur ein gradueller, nicht ein prinzipieller Unterschied. Denn das letzte Kriterium wissenschaft licher Wahrheit, der Erfolg in der Voraussage künftiger Ereignisse,19 ist ebenso für das tägliche Leben letzte Wurzel aller erkenntnismäßigen Stellungnahmen; es gibt keine Behauptung, keinen Glauben, die sich im täglichen Leben halten könnten, wenn sie nicht durch das Zutreffen bestätigender Erlebnisse gestützt würden. Es gibt deshalb nicht zwei Welten verschiedener Erkenntnisarten, sondern es gibt nur eine Wahrheit, und
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ihre Forderung bestimmt in gleicher Weise das Verhalten des Gelehrten und des Ungelehrten. Wenn die Anerkennung dieses Wahrheitskriteriums die Wissenschaft zu so veränderten Aussagen über die Welt zwingt, so verbindet sie mit dem Glauben an die neuen Einsichten die Überzeugung, daß prinzipiell jeder zu dem gleichen Resultat kommen würde, der mit gleicher Gründlichkeit, gleichem Ernst und gleicher Unvoreingenommenheit die Erlebnisse der Erfahrung zu begreifen sucht. Und wenn der Weg der Wissenschaft dabei ein Weg der Ernüchterung war, ein Weg, dessen Entfernung von traditionellen Phantasiewelten nicht ohne moralische Kraft ertragen werden konnte, so liegt gerade darin ein Zug, der sich in gleicher Form in dem Entwicklungsprozeß wiederfindet, den das Weltbild des Tagesmenschen seit einiger Zeit mit soziologischer Notwendigkeit durch läuft. Denn die Entseelung und Entzauberung der Welt ist Grundzug nicht nur der Naturforschung, sie ist zugleich Grundzug unseres täglichen Daseins, ist die Kategorie, unter der wir unsere Gegenwart zu sehen haben. Man mag auch hier den Verlust von Gefühlswerten bedauern, wie sie die naive und technisch noch nicht rationalisierte Welt früherer Jahrhunderte ausfüllten; aber man gewinnt sie dadurch nicht zurück, sowenig wie man in den Jahren der Reife die Kindheit zurückzaubern kann. Wer aber genug Lebenskraft in sich fühlt, die Gegenwart zu bejahen, der wird auch angesichts einer ernüchterten Welt nicht den Blick in die Vergangenheit richten. Was unser Wissen von der Welt anbetrifft, so gilt für uns nichts als die Wahrheit; nicht aber können uns Ressentiments überholter Gefühlsbestände binden. Und was die Gefühle anbetrifft, so gibt es noch genug, worauf wir sie richten, wodurch wir ihnen Ausdruck schaffen können. Nicht das theoretische Weltbild, das Leben selbst sei es, wohin Gefühle ihre Form prägen. Und hier scheint sich deshalb die gleichsam moralische Möglichkeit zu eröff nen,20 daß auch der Nichtwissenschaft ler in seinem Weltbild den entscheidenden Schritt tut, der ihn bisher von der Welt der neuen Physik trennte. Der Zusammenbruch traditioneller Gefühlswelten ist heute das Problem für das Leben
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jedes Einzelnen, für das Leben des Tages, und die physikalische Wissenschaft, sosehr ihre Wendung logischer Kritik entsprang, vollzieht darin nichts anderes als ihre Eingliederung in eine soziologische Tendenz unserer Zeit. Der Einsturz des Systems apriorischer Kategorien und ihr Ersatz durch das nüchterne Prinzip der Induktion, durch das Postulat der Prophezeibarkeit, bedeutet die klarste Spiegelung von Erlebnissituationen des Tages, und es sind dieselben Kämpfe zwischen überkommener Lehre und neuen Erfahrungen, die hier wie dort geführt werden. Wer das einmal begriffen hat, der hat die Zweiweltentheorie überwunden. Es ist ja nicht wahr, daß die Fachwissenschaft eine fremde Welt, eine unpersönliche Welt ohne Erlebnisgrundlagen sei. Wer die Physik nur von weitem kennt, wer nur fremde Namen in ihr hört und mathematische Formeln, der wird freilich zu der Ansicht kommen, daß sie eine Angelegenheit der Gelehrten allein sei, mit Scharfsinn und Klugheit aufgebaut, aber ohne Bedeutung für Menschenkreise anderer Interessen, anderer Fragestellungen. Nichts hieße jedoch die Physik mehr verkennen als solches Abprallen an der harten Schale der Fachbegriffe, mit denen sie sich ummauert hat. Wem es gelingt, hinter diese Mauer zu blicken, der wird dahinter eine Wissenschaft voll lebendiger Fragestellungen erkennen, voll innerer Bewegtheit und voll der großen Spannung, Antwort zu finden auf die Fragen des Erkenntnis suchenden Geistes. Wenn diese Antwort auch ganz anders aussieht, als man ursprünglich vermutet hatte, so ist sie darum nicht weniger wert; im Gegenteil bedeutet es eine der allergrößten Leistungen, daß hier mit dem Inhalt des Naturwissens zugleich neue Formen für das gedankliche System geschaffen wurden, in dessen Rahmen die Natur durch den Erkenntnisvorgang eingespannt wird. Und vielleicht darf man es als das größte Resultat moderner Naturerkenntnis ansehen, daß das Weltbild, zu dem sie geführt hat, zugleich ein neues Bild vom Menschen als denkendem Geist ans Licht gestellt hat: Denn die Naturwissenschaft hat uns gelehrt, daß Vernunft nicht ein starres Gerüst logischer Schubfächer, daß Denken nicht die ewige Wiederholung überkommener Normen bedeutet, sondern daß
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der Mensch mit der Erkenntnis wächst und in sich die Möglichkeit zu Denkformen trägt, die er auf früherer Stufe noch nicht zu ahnen vermochte.
ZIELE UND WEGE DER HEUTIGEN NATURPHILOSOPHIE
I.
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Der Name Naturphilosophie gewinnt in unseren Tagen einen neuen Klang. Herausgewachsen aus den Resultaten naturwissenschaft licher Forschung, beginnt eine neue philosophische Wissenschaft, erfüllt von Intensität und Strenge, ihr Dasein zu gestalten; sie hat bereits eine Reihe von alten Problemen zu ungeahnter Wendung geführt und ebenso eine Anzahl neuartiger Probleme aufgewiesen, deren Existenz man früher übersehen hatte. Es ist diese neue Naturphilosophie, deren Problemlage in dem folgenden Umriß dargelegt werden soll. Was ist das Neue an dieser Naturphilosophie? Nicht so sehr das Ziel, als vielmehr der Weg. Ihr Ziel ist die Lösung einer Reihe erkenntnistheoretischer Grund fragen, die z. T. schon in der älteren Philosophie eine Rolle gespielt haben, z. T. allerdings in unseren Tagen erst gesehen worden sind. Ihr Weg aber ist grundsätzlich anders als der der traditionellen Philosophie. Denn sie will diese erkenntnistheoretischen Probleme nicht durch abstrakte Spekulation, nicht durch Versenkung in reines Denken, nicht durch eine Analyse der Vernunft lösen, wie dies von allen bisherigen Philosophen mehr oder weniger versucht worden ist – sie glaubt vielmehr, nur im engsten Zusammenhang mit natur wissenschaft licher und mathematischer Forschung ihre Probleme lösen zu können, und Analyse der positiven wissenschaft lichen Erkenntnis ist der Weg, den sie sich im Gegensatz zu aller Analyse der Vernunft gewählt hat. Eine so grundsätzlich neue Wendung, wie sie mit diesem Programm ausgesprochen ist, muß den Widerspruch älterer philosophischer Richtungen herausfordern. Wer in der Philosophie eine den Fachwissenschaften übergeordnete Wissenschaft sieht, welche aus reiner Vernunft, aus Wesensschau1 oder aus ähnlich anspruchsvollen Erkenntnisquellen ein Wissen eige-
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ner Art schöpft, wer im Glauben an eine solche Überwissenschaft auf die »nur fachlichen« Erkenntnisse der übrigen Wissenschaften herabsieht, der wird Einwände konstruieren, die in der Verbundenheit von Philosophie und Fachwissenschaft eine hemmende Fessel sehen; und wenn so manches kühne Ergebnis älterer Philosophie heute sogar von den Fachwissenschaften widerlegt wurde, so veranlaßt diese Tatsache solche Überwissenschaft ler nicht etwa zu einer Revision ihrer Gedankengänge, sondern nur zu stärkerem Widerstand gegen die Einführung der wissenschaftsanalytischen Methode. In der Verteidigung solcher Gedankengänge hat man die Leistung der wissenschaft lichen Erkenntnis herabzusetzen versucht. Man hat einen prinzipiellen Unterschied zwischen dem Erkenntnisbegriff der Wissenschaft und dem des täglichen Lebens konstruiert 2 und behauptet, daß der eigentliche Ausgangspunkt aller Erkenntnistheorie allein der Erkenntnisbegriff des täglichen Lebens sein könne; das Denken der Wissenschaft sei viel zu abstrakt, viel zu weit von echten Erkenntnisprozessen entfernt, als daß man auf dem Wege einer Analyse der Natur wissenschaften eine echte Erkenntnistheorie schaffen könne. Methodenlehre der Naturforschung, aber kein Wissen um die Kategorien der Natur sei auf diese Weise zu erzielen; »Naturwissenschaftsphilosophie«, aber nicht »Naturphilosophie« sei das Produkt einer solchen Forschungsrichtung1 – wahre Philosophie müsse von Naturwissenschaft unabhängig sein.3 Wir erwähnen diesen Einwand gegen die neue Naturphilosophie gleich zu Beginn unserer Darlegungen, weil sich in ihm ein tiefgehendes Mißverständnis wissenschaft licher Denkweise verbirgt, wie es leider für das schulphilosophische Denken unserer Zeit charakteristisch geworden ist. Die Unfähigkeit der Schulphilosophie, das naturwissenschaft liche Erkenntnisver1
So etwa bei Helmut Plessner, »Das Problem der Natur in der gegenwärtigen Philosophie«, in: Die Naturwissenschaften 18 (1930), S. 869–879. Auch Theodor Haering, Philosophie der Naturwissenschaft, München 1923, vertritt ähnliche Anschauungen.
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1.3 Ziele und Wege der heutigen Naturphilosophie
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fahren in seiner gegenwärtigen, höchst komplizierten Form noch zu durchschauen, hat zu solcher Trennung zwischen einem Erkenntnisbegriff des täglichen Lebens und einem Erkenntnisbegriff der Naturwissenschaft geführt. Gewiß kann man von Erkenntnisoperationen des täglichen Lebens sprechen; aber diese Operationen sind, wenn man sie auf ihren wirklich erkenntnismäßigen Gehalt untersucht und von emotionalen Begleithaltungen trennt, prinzipiell nicht verschieden von jenem Erkenntnisbegriff, den die Naturwissenschaft ausgebildet hat. Der Unterschied ist hier nur graduell, die benutzten Grundbegriffe, wie etwa der Existenzbegriff oder der Wahrheitsbegriff, sind durchaus die gleichen; und wenn das nicht immer deutlich zu erkennen ist, so liegt dies allein daran, daß in dem komplexen Bau wissenschaft licher Theorien die erkenntnistheoretische Konstruktion nicht von solcher Primitivität ist wie im Erkenntnisbegriff des täglichen Lebens. Wir können deshalb einen Unterschied zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaftsphilosophie nicht anerkennen; im Gegenteil ist es unsere Auffassung, daß eine Naturphilosophie, die nicht von vornherein die Begriffsbildungen der Wissenschaft und des täglichen Lebens unter prinzipiell einheitlichem Gesichtspunkt sieht, sich den entscheidenden Weg zur Einsicht in die Natur des Erkenntnisvorgangs versperrt. Denn gerade weil der Erkenntnisbegriff des täglichen Lebens verhältnismäßig primitiv ist, verwischt er gewisse wesentliche Zusammenhänge, die in der wissenschaft lichen Erkenntnis klar zutage treten; das Verhältnis von Anschauung und Begriff, Erlebtem und Erschlossenem wird erst in der wissenschaft lich formu lierten Erkenntnis erschöpfend deutlich, und es stellt sich heraus, daß umgekehrt erst die Durcharbeitung des wissenschaft lichen Erkenntnisbegriffs verständlich macht, was sich in der Erkenntnis des täglichen Lebens an Denkoperationen wirklich vollzieht. Es hieße auf die gewaltige logisch-kritische Arbeit, die in dem weitverzweigten Bau mathematisch-naturwissenschaft licher Erkenntnis implizit mitgeleistet worden ist, blindlings verzichten, wollte man bei jener naiven Naturphilosophie stehenblei-
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ben, die die Naturwissenschaft von der Philosophie abtrennen möchte. Aber es hieße auf noch Wichtigeres verzichten: es hieße vorbeisehen an den Ergebnissen eines Umwandlungsprozesses, dem menschliches Denken seit der Zeit wissenschaft licher Forschung unterworfen wurde. Denn im Unterschied zur alltäglichen Erkenntnis besitzt der wissenschaft liche Erkenntnisbegriff den Vorzug, daß er mitgegangen ist und Schritt gehalten hat mit der Entwicklung, welche die Naturwissenschaft in der Zeit von zwei Jahrtausenden durchlaufen hat. Es ist ja nicht wahr, daß der allgemeine Rahmen erkenntnismäßigen Denkens ein für allemal feststeht und der Fortschritt der Naturwissenschaft allein in der inhaltlichen Ausfüllung dieses Rahmens besteht; die Vernunft ist kein System fertiger Schubfächer, in welches der Wissenschaft ler stets nur neue Inhalte packt, sondern dieses Fächersystem ist historischem Wandel unterworfen und wird ständig derart umkonstruiert, daß es dem Erfahrungsmaterial gerecht wird. Die Wandlung von Grundvorstellungen, wie Raum und Zeit, Kausalität usw., das ständige Auftauchen erkenntnistheoretischer Fragestellungen inmitten rein physikalischer oder biologischer Fachuntersuchungen beweist diesen engen Zusammenhang von Inhalt und Form der Naturerkenntnis; und man würde den in Jahrhunderten fachwissenschaft licher Forschung vollendeten philosophischen Reifungsprozeß negieren, wollte man eine Theorie der Naturerkenntnis von der Theorie der Naturwissenschaft abtrennen und anstatt dessen an primitivere Erkenntnisstufen anschließen. Und blickt man genauer hin, so bemerkt man leicht, daß auch der Erkenntnisbegriff des täglichen Lebens demselben Entwicklungsprozeß unter worfen ist, nur daß er in seinem Entwicklungsstand ständig um ein Stück nachschleppt. Man rechnet heute die Vorstellung der um die Sonne kreisenden Planeten mit zu dem selbstverständlichen Wissen des täglichen Lebens, obgleich dies erst eine Entdeckung der Wissenschaft ler früherer Jahrhunderte gewesen ist und obgleich ganz zweifellos der unmittelbare Augenschein den Sternenhimmel als eine mit Lichtpünktchen besäte Glocke zeigt; die Vorstellung, daß
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diese Lichtpünktchen riesenhafte Weltkörper bedeuten und in sich eine Tiefenordnung besitzen, die vollständig verschieden von ihrer perspektivischen zweidimensionalen Anordnung in der Himmelssphäre ist, muß durchaus als eine wissenschaft liche Abstraktion angesehen werden – nur ist sie dem heutigen Menschen schon so vertraut geworden, daß er sie in sein tägliches Weltbild aufgenommen hat. In der Tat, was uns jene Philosophen des naiven Weltbilds als Erkenntnistheorie vorführen, ist nichts anderes als die Analyse derjenigen wissenschaft lichen Elemente, die von den Gebildeten unserer Zeit bereits assimiliert worden sind; und was solche Erkenntnistheorie des täglichen Lebens zutage fördert, ist deshalb nichts anderes als der Erkenntnisbegriff einer um einige Jahrhunderte zurückliegenden Wissenschaftsstufe. So werden Galilei und Kopernikus anerkannt, Einstein und Heisenberg aber abgelehnt. Da möchten wir doch eine Erkenntnistheorie vorziehen, die ihren Ausgangspunkt bewußt in der Naturwissenschaft der Gegenwart nimmt und deren philosophische Ergebnisse von gleichem historischem Rang sind wie die naturwissenschaft lichen Ergebnisse unserer Zeitgenossen. Die Einsicht von der Entwicklungsfähigkeit philosophischer Grundbegriffe bildet deshalb die Grundlage der neuen Naturphilosophie. Wenn wir mit Kant und anderen darin übereinstimmen, daß eine Analyse des Erkenntnisverfahrens notwendig ist, so besteht doch der schon genannte entscheidende Unterschied: nicht eine Analyse der Vernunft, sondern nur eine Analyse der Wissenschaft kann die zeitgemäße Antwort liefern. Die Selbstbeschau der Vernunft ist unfruchtbar, denn sie fördert nur frühere Entwicklungsstadien wissenschaft lichen Denkens zutage; die Naturphilosophie setzt ihre Analyse deshalb nicht am Denken als einem Vermögen an, sondern an den Produkten dieses Denkens, an seinen Kristallisationen, wie sie als ausgeführte naturwissenschaft liche Theorien vor uns liegen. Überall, wo das Denken in dieser kristallisierten Form vorliegt, zeigt es eine viel höhere Mannigfaltigkeit, einen ganz anderen Grad von Anpassungsfähigkeit, als eine Selbstbeschau der Vernunft jemals
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zutage gefördert hat. Man mag über die psychologischen Gründe dieser Tatsache noch diskutieren, die Tatsache selbst ist unbestreitbar; denn stets hat sich am konkreten Objekt der Naturerkenntnis menschliches Erkenntnisvermögen zu ganz anderen gedanklichen Leistungen gesteigert, als es alle Philosophie aus reiner Vernunft je vermutet hätte. Es gibt deshalb keine allgemeinsten Voraussetzungen der Erkenntnis, sondern es gibt nur Voraussetzungen der jeweiligen Erkenntnis. Die Tatsache, daß es für jedes wissenschaft liche Erkenntnissystem Voraussetzungen gibt, hat die Philosophie zu dem Trugschluß geführt, daß es Voraussetzungen für alle Wissenschaft gibt. Die Unterscheidung von alle und jede, die hier gemacht werden muß, ist ja der modernen Logik geläufig; auf das vorliegende Problem angewandt, führt sie zu der Formulierung: Es gibt zwar zu jedem vorliegenden Wissenschaftssystem ein System zugehöriger Voraussetzungen, aber umgekehrt läßt sich zu jedem System von Voraussetzungen auch ein System möglicher wissenschaft licher Erfahrungen konstruieren, welches sich in diese Voraussetzungen nicht mehr einfügt. Diese Formulierung tritt in der modernen Naturphilosophie an die Stelle der alten Idee eines Kategoriensystems. Angesichts solcher Tatsachen den Begriff des Apriori noch aufrechtzuerhalten und philosophische Gesetze »vor aller Wissenschaft« aufzustellen bedeutet nichts als eine hoff nungslose Kurzsichtigkeit. Und es offenbart eine vollständige Verkennung der gesamten Situation, wenn die Schulphilosophie gegenwärtig noch an dem Gedanken einer Autonomie der Philosophie festhalten will.4 Eine Philosophie, welche unabhängig von fachlicher Forschung Gesetze für alle Erkenntnis aufstellen will, wird schließlich mit der Fachwissenschaft zur Kollision kommen. Es ist vielmehr eine Autonomie der Probleme, was heute als Grundlage aller Erkenntnis und Erkenntnisforschung heraustritt. Denn noch immer hat sich gezeigt, daß eine unvoreingenommene Analyse der Probleme, sei es, daß sie unter philosophischem oder mathematischem oder physikalischem usw. Gesichtspunkt durchgeführt wird, in dieselben Resultate
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einmündet. Die Probleme zerreißen den Zwang jedes Systems und setzen ihre Eigengesetzlich keit durch, unabhängig von überlieferten Meinungen. Mit solcher Autonomie der Probleme wird die Philosophie in den unaufhaltsamen Auflösungsprozeß hineingezogen, der für das wissenschaft liche Denken unserer Zeit charakteristisch ist und in die weitgehende Differenzierung und Spezialisierung aller Fachwissenschaften ausgemündet ist. Manche wollen darin den Untergang philosophischer Denkweise sehen; sie verlangen ein »Totalitätsbewußtsein«, Systemkonstruktion als Kennzeichen der Philosophie. Uns scheint dagegen gerade in dieser Auflösungstendenz der Gesundungsprozeß der Philosophie zutage zu treten. Denn dieser Prozeß der Differenzierung bedeutet den Übergang von der intuitiven zur wissenschaft lichen Arbeitsweise, 5 und damit von der individualistischen Arbeit zur sozial-organisierten Arbeit; die Philosophie wandelt sich von einer genialen Überschau hervorragender Köpfe in eine stetig vorrückende Wissenschaft. Dabei soll der Zusammenschluß der Einzeluntersuchungen zum System keineswegs ausgeschlossen werden; er wird nur auf eine spätere Zeit hinausgeschoben.6 Ist erst die Durcharbeitung der Einzelprobleme weitgehend durchgeführt, so wird auch der Zusammenschluß zum System möglich werden; aber es entsteht damit ein System von ganz anderer Spannkraft und Erkenntnistiefe, als es die allzufrühe Vorwegnahme der systematischen Einheit zu konstruieren vermocht hätte. Dieser starke Bruch mit der philosophischen Arbeitsweise der Vergangenheit, die noch im letzten Jahrhundert eine Reihe von Systemen produzierte, bewirkt, daß die Naturphilosophie auf jede bewußte Anknüpfung an historische Vorgänger verzichtet. Auch der Name Naturphilosophie soll nicht etwa historische Reminiszenzen wachrufen, weder an Schelling noch an Haeckel, noch an die alten Jonier. Hat doch dieser Name bisher stets nur das Stoffgebiet bezeichnet, nicht die Methode seiner Behandlung; und was z. B. ein Schelling, ein Hegel unter Naturphilosophie verstanden, steht in diametralem Gegensatz zu der neuen Naturphilosophie.7 Mag es den Historiker beschäft igen,
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zu ermitteln, wo in der älteren Philosophie schon verwandte Gedanken geäußert wurden; für die Arbeitsweise der neuen Naturphilosophie ist diese Frage irrelevant. Mit dieser unhistorischen Denkweise soll allerdings keine Mißachtung der Leistung früherer Denker ausgesprochen sein; im Gegenteil wird derjenige die größte Achtung vor den Philosophen der Vergangenheit in sich tragen, der selbst in den philosophischen Problemen produktiv arbeitet – aber wir suchen unsere Probleme nicht bei jenen Denkern der Vergangenheit, sondern in der lebendigen Gegenwart. 8 Die Situation ist gegen damals so vollständig verändert, daß bei den Alten nichts mehr gefunden werden kann. Gewiß kann man heute, neben den bekannten Ergebnissen, noch allerhand rückwärts in die alten Philosophen hineininterpretieren, und sicher haben diese Männer mehr gewußt, als ihre Nachfolger in ihnen gesehen haben; aber wenn wir es heute in ihnen sehen, dann können wir dies nur, weil wir die entsprechenden Einsichten zuvor aus eigener Kraft neu gelernt haben. Wenn wir ein Beispiel nennen dürfen: Wir wissen heute, daß Leibniz bereits die Kausaltheorie von Raum und Zeit besessen hat,9 die in unseren Tagen aus der philosophischen Weiterführung der Relativitätstheorie gewonnen wurde. Trotzdem diese Schriften von Leibniz bekannt waren, konnten sie in ihrer Bedeutung und in ihrem Wahrheitsgehalt erst begriffen werden, als ohne jede direkte Kontinuität aus dem Gedankenkreis der Relativitätstheorie heraus diese Theorie neu entwickelt worden war2 . Heute können wir rückwärts schauend den tiefen Spürsinn eines Leibniz bewundern; aber lernen können wir selbst von diesem Riesengeist nichts mehr, obwohl er von allen alten Philosophen der modernen Naturphilosophie vielleicht am nächsten steht. Die Heroen-Philologie sei deshalb denen überlassen, denen, um ein Wort Kants zu benutzen, »die Geschichte der Philosophie selbst ihre Philosophie ist«10; wir nehmen jene großen Männer lieber darin zum Vorbild, daß sie alle außerordentlich unhistorische 2
Vgl. hierzu H. Reichenbach, »Die Bewegungslehre bei Newton, Leibniz und Huyghens«, in: Kantstudien 29 (1924) S. 416–438.
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Denker waren und sich um die Meinungen älterer Vorgänger wenig zu kümmern pflegten. Was von ihnen an gedanklichen Einsichten in die Welt gesetzt worden ist, hat seine Auswirkung gehabt, ist Tradition geworden und hat gewiß auch indirekt die Gegenwart in ihrer Denkweise geschult. Aber was jetzt zu tun ist, kann nur ohne Rücksicht auf Tradition unmittelbar vor den Problemen gefunden werden, die die naturwissenschaft liche Erkenntnis dem Philosophen aufgibt. Ob dabei trotzdem unbewußt eine historische Kontinuität entsteht, das zu entscheiden mag späteren Zeiten vorbehalten bleiben; aber wenn diese Frage vermutlich einmal positiv beantwortet werden wird, so ist doch die Einstellung auf solche Kontinuität nicht Aufgabe derer, die die neue Naturphilosophie erst zu schaffen haben. Den Schaffenden geht es um den logischen Zusammenhang; der historische Zusammenhang stellt sich von selbst ein. Diese vorausgehenden Bemerkungen allgemeiner Art sollten die innere Haltung der modernen Naturphilosophie in großen Zügen kennzeichnen. Im folgenden soll nun der Kreis der Probleme geschildert werden, die gegenwärtig den Inhalt der Naturphilosophie ausmachen. Wir folgen in dieser Darlegung dem natürlichen Zusammenhang, indem wir die Problemkreise nach den einzelnen Fachwissenschaften unterteilen, aus denen sie herausgewachsen sind.
II. Wir beginnen mit dem biologisch-psychologischen Problemkreis. Noch immer steht hier das uralte philosophische Problem des Lebens im Brennpunkt des Interesses. Bekanntlich hat dieses Problem seine bisher entscheidendste Förderung durch Darwins Entwicklungslehre erfahren, und wenn diese Lehre heute bereits so selbstverständliches Allgemeingut der Biologen geworden ist, daß man sie kaum noch als eine naturwissenschaft liche Entdekkung empfindet, so muß sich gerade der Philosoph doch immer wieder vor Augen halten, welch weittragenden Eingriff Darwins
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Entdeckung für das philosophische Problem des Lebens bedeutet. Als dieses philosophische Resultat dürfen wir aussprechen, daß mit der Entwicklungslehre das Lebensproblem auf ein einziges Problem reduziert wird. Alles Leben ist von einheitlicher Natur, denn es ist in ständiger Entwicklung aus niederen Formen hervorgegangen; es gibt kein besonderes Lebensproblem etwa für Pflanzen oder für Tiere oder für Menschen, sondern es gibt nur ein Problem, das Problem des Lebendigen überhaupt. Diese einfache Konsequenz der Darwinschen Entwicklungslehre kann zugleich als ein Beispiel angesehen werden, wie naturwissenschaft liche Forschung philosophische Problemstellungen beeinflussen kann. Man denke etwa daran, wie die ganze mittelalterliche Philosophie dem Menschen eine selbstverständliche Sonderstellung unter allem Lebendigen einräumte, wie noch Descartes den Menschen als ein beseeltes Wesen von dem maschinenhaften Tier unterschied. Gerade wenn heute unter Biologen die Darwinsche Lehre einer in vielem berechtigten Kritik begegnet und ihre Unzulänglichkeiten sich nicht länger verhüllen lassen, soll man sich doch immer wieder klar vor Augen halten, welch ungeheure Entdeckung allein in der nicht mehr bezweifelbaren Tatsache der Deszendenz ausgesprochen liegt und welche Wendung damit dem philosophischen Problem des Lebens gegeben wurde. Diese Unzulänglichkeiten gelten vor allem dem engeren Teil der Darwinschen Theorie, demjenigen Teil, der das »Wie« der Deszendenz erklären will: seiner Selektionstheorie. Man hat gefunden, daß die Auswahl durch den Kampf ums Dasein, obwohl sie als regulativer Faktor immer am Werke ist, nicht hinreicht, um die verwickelte und vielfach unzweckmäßige Formbildung des Organischen zu erklären. Berühmte Musterbeispiele Darwins, wie etwa die Mimikry und andere, mußten fallen gelassen werden. Und doch scheint uns, daß diese Argumentation, so bedeutsam sie für die innerbiologische Problemstellung ist, gar nicht so sehr den philosophischen Grundgedanken berührt, der mit Darwins Selektionsprinzip ausgesprochen war. Philosophisch genommen, bedeutet Darwins Lehre vom Kampf ums
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Dasein den Versuch, die Formbildung der Organismen nicht mehr durch Zweckbestimmtheit, sondern durch eine Ursachbestimmtheit zu erklären.11 Die Zweckmäßigkeit der späteren Formen wird nicht länger als treibende Tendenz der vorangehenden Entwicklung aufgefaßt, sondern als Ergebnis rein kausal wirkender Faktoren in Verbindung mit einer einseitig wirkenden statistischen Auswahl. Mag man nun auch die spezielle Form, die Darwin mit der Alleinherrschaft des Kampfes ums Dasein diesem philosophischen Prinzip gegeben hat, heute als unzulänglich empfinden, so scheint es doch sehr wohl möglich, den philosophischen Grundgedanken auch weiterhin festzuhalten und ihn lediglich durch besser zutreffende biologische Inhalte auszufüllen. Eine große Reihe unter den gegenwärtig herrschenden biologischen Theorien läßt sich durchaus diesem Gesichtspunkt einordnen. Immer ist es der Grundzug, die Gesetzmäßigkeiten der organischen Entwicklung durch kausal wirkende Faktoren zu begreifen und auf eine Bestimmung durch die vorgeahnte Zukunft zu verzichten, der für die wissenschaftliche Biologie charakteristisch ist. Wichtig erscheint in diesem Zusammenhange vor allen Dingen die Entdeckung, daß der Begriff des Zweckmäßigen selbst viel zu eng gefaßt ist, als daß er einen biologischen Arbeitsbegriff abgeben könnte. Die organismische Entwicklung produziert nicht nur neben zweckmäßigen eine Reihe höchst unzweckmäßiger Formen, vielmehr muß für jede Ent wicklungsstufe von einer relativ höchsten Zweckmäßigkeit gesprochen werden, die in ihren besten Vertretern erreicht ist und der gegenüber die sogenannten höheren Formen vielmehr als ein Rückschritt erscheinen. Erst innerhalb ihrer eigenen Stufe können diese höheren Formen wieder zweckmäßig genannt werden. Zweck mäßigkeit wird zu einem Relativbegriff und kann nicht länger die Richtungstendenz der Entwicklung bestimmen. Es scheint vielmehr eine dem Organischen innewohnenden Tendenz der Wucherung, der Produktion immer komplizierterer Formen am Werke zu sein, deren Struktur erst einmal klar aufgedeckt werden muß, wenn man die organismische Entwicklung verstehen will.
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Nun ist zwar in den letzten Jahrzehnten der Gedanke des Vitalismus mit großem Nachdruck durchgebildet worden, und Driesch hat geglaubt, durch biologische Experimente die Unmöglichkeit einer kausalen Erklärung des Lebens beweisen zu können. Für die biologische Forschung waren diese Experimente von großer Bedeutung; wenn Driesch z. B. zeigte, daß aus dem halben Seeigelei ein ganzer Seeigel werden kann,12 so war damit die allzu eng gefaßte Maschinentheorie des Lebens widerlegt, welche an eine Präformation aller künft igen Organe in lokalisierten Stellen des Eies glaubte. Man versteht noch heute die Überraschung und Bewunderung, die diese epochemachenden Entdeckungen vor 30–40 Jahren hervorgerufen haben. Für die philosophische Deutung des Lebensproblems haben diese Untersuchungen jedoch nicht die Bedeutung gehabt, die ihr Autor ihnen zuschrieb. Wenn Driesch glaubte, damit die besondere Natur des Organischen entdeckt zu haben, so hat er die gefundene Entwicklungsstruktur doch weit überschätzt; vor allem müssen wir die metaphysische Ausdeutung, welche Driesch seinen Versuchen durch Einführung des Begriffs der Entelechie gegeben hat, als ganz unhaltbar ablehnen. Die Entelechie bedeutet weiter nichts als ein fingiertes Gebilde, welches die Zweckbestimmtheit organischer Entwicklung im Sinne eines Kausalfaktors hervorbringen soll. An Stelle einer Bestimmtheit durch die Zu kunft wird hier die Bestimmtheit durch eine metaphysische Wesenheit eingeführt, deren ganze Funktion sich in der Vorahnung der Zukunft erschöpft und die den Organismus auf das künft ige Ziel hinsteuert. Das ist aber nur eine verkleidete Form für eine Zukunftsbestimmtheit des Geschehens. Die nachfolgende biologische Entwicklung hat gezeigt, daß eine derartige Folgerung aus den Drieschschen Versuchen unberechtigt ist. Es hat sich nämlich herausgestellt, daß die Ent wicklung des Tieres aus dem halben Embryo keineswegs durch das zukünft ige Ziel bestimmt ist, sondern daß sie vielmehr durchaus von kausalen Faktoren bestimmt ist, nur von komplizierterer Art, als es die Maschinentheorie annahm. Das Schicksal einer einzelnen Zelle innerhalb des Eies ist, wie man jetzt weiß, nicht durch diese Zelle
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allein bestimmt, sondern ebensosehr durch die biologische Umgebung dieser Zelle, ihre Einbettung innerhalb des Eiganzen; und darum muß aus derselben Zelle des Seeigeleis etwas anderes werden, je nachdem diese Zelle in ein ganzes oder ein isoliertes halbes Ei, also eine andere Ganzheit eingebettet ist. Der Biologe vermag heute bereits genau vorauszusagen, unter welchen Umständen aus dem halben Ei das halbe Tier, unter welchen Umständen das ganze Tier entsteht. Es handelt sich hier also lediglich um eine kompliziertere Form von Kausalgesetzlichkeit; das Geschehen an einer Stelle eines Bereiches ist eine Funktion nicht dieser Stelle allein, sondern zugleich der Struktur des Gesamtbereichs – das ist alles, was als biologisches Ergebnis von den vitalistischen Theorien übrigbleibt. Dem Physiker sind übrigens derartige Verhältnisse gar nicht neu; er weiß schon längst, daß bei stationären oder quasistationären Prozessen solche Ganzheitsbestimmtheit auftreten kann – ein Beweis übrigens, daß die Formulierungen Drieschs einen Unterschied von biologischem und physikalischem Geschehen nicht getroffen haben. Wenn man nun weiter die Frage aufwirft, ob wir mit unserer Ablehnung des Vitalismus die Behauptung aussprechen wollen, daß das organische Geschehen durch physikalische Gesetzlichkeit verstanden werden muß, so müssen wir darauf antworten, daß dies eine viel zu ungenaue Frage ist, als daß man sie präzis beantworten könnte. Was soll es heißen, daß die Lebensprozesse durch physikalische Gesetze bestimmt sind? Daß die bekannten physikalischen Gesetze zum Verständnis der Lebensprozesse ausreichen, das wird wohl am wenigsten der Physiker selbst auszusprechen wagen, denn noch immer hat sich gezeigt, daß mit der Aufdeckung eines neuen physikalischen Gegenstandsgebiets auch neue physikalische Gesetze notwendig wurden. Man denke etwa an die Radioaktivität. Und der Kreis der Lebensphänomene ist von der bisherigen Physik so bewußt gemieden worden, daß es ein großer Zufall wäre, wenn die bekannten physikalischen Gesetze bereits alles für das Verständnis des Lebens Notwendige enthalten sollten. Man müßte das Problem schon dahin formu lieren, daß es wenigstens Gesetze von physikali-
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schem Typ sein müßten, die das Lebensgeschehen regieren. Aber was ist ein Gesetz von physikalischem Typ? Wir haben es erlebt, und wir werden noch später davon zu sprechen haben, daß die Physik selbst den Typus ihrer Gesetze umgewandelt hat, indem sie von Kausalgesetzen zu Wahrscheinlichkeitsgesetzen übergegangen ist. Es ist also gar nicht einzusehen, warum nicht etwa bei der Durchforschung des Organischen auch eine derartige Abwandlung des Gesetzestyps eintreten sollte. Vielleicht kann man den von uns im Vorangehenden ausgeführten Gedanken einer Bestimmtheit alles Geschehens durch die jeweilige Gegenwart (bzw. auch durch die jüngste Vergangenheit, d. h. also auch durch die zeitlichen Ableitungen der Parameter) als allgemeines Kennzeichen physikalischer Gesetze ansehen. Dann würde die gegenwärtige Lage der Biologie, so wie wir sie geschildert haben, für diesen Typus von Gesetzlichkeit auch in der Biologie sprechen. Doch kann man natürlich darüber keine Prophezeiungen machen; wir wollen auf keinen Fall die Meinung aufkommen lassen, als ob wir hier a priori eine Bestimmung durch die Zukunft ausschließen wollten. Wir wollen nur sagen, daß uns die Bestimmtheit durch Gesetze von kausalem Typus als eine der am weitesten sichergestellten Eigenschaften der Natur erscheint und daß wir sie erst aufgeben würden, wenn ganz eindeutige Entscheidungen dafür sprechen; würden doch damit einige der sichersten Pfeiler unseres naturwissenschaft lichen Weltbilds umgestürzt werden, vor allen Dingen der Zeitbegriff (vgl. hierzu den folgenden Abschnitt). Weiterhin gehören in den Kreis der biologischen Probleme auch die philosophischen Probleme der Psychologie hinein, die Fragen also nach der Eigenart des Bewußtseins, das wir ja in der biologischen Entwicklungslinie erst auf ziemlich hohen Stufen beobachten. Hier hat sich in letzter Zeit eine interessante Weiterentwicklung angebahnt, welche das psychologische Geschehen unter den Gestaltbegriff stellt.13 Man versteht hier unter Gestalt die Ganzheitsstruktur psychologischer Inhalte, wie sie sich z. B. in dem Phänomen einer Melodie ausspricht, die zwar durch eine Reihe von Tönen gegeben ist, nicht aber mit dieser
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Reihe von Tönen identisch ist (wie man z. B. aus der Transformierbarkeit in eine andere Tonart ersieht). Im Zusammenhang damit wird das Prinzip der Superposition für die Psychologie abgelehnt. Kennt man etwa die Gesetzlichkeit der Elemente eines psychologischen Vorgangs, so ist der Gesamtvorgang nicht durch Superposition der Einzelvorgänge gegeben (so wie etwa eine komplizierte Schwingungskurve nach Fourier durch Superposition ihrer harmonischen Elementarschwingungen gegeben ist), sondern es treten besondere Wirkungen auf, die durch das Gesamtphänomen bestimmt sind. Die Ausbildung derartiger Gedankengänge in der Psychologie ist für den Naturphilosophen von außerordent lichem Interesse; er erkennt in ihnen Begriffsbildungen wieder, wie sie in der Physik und Mathematik schon seit längerer Zeit üblich sind und dort bereits eine weitgehende formale Durchbildung gefunden haben.14 So kennt der Physiker Abweichungen von dem Superpositionsprinzip der geschilderten Art, wie sie sich bei der Superposition wechselseitig abhängiger Vorgänge ergeben; und der Mathematiker kennt Gestaltbegriffe, wie z. B. den Begriff der topologischen Gestalt, die ebenfalls als Invarianten gegenüber Transformationen definiert werden. Auch der Begriff der Struktur, wie ihn die moderne Logik faßt, gehört hierher.15 Was sich hier in der Psychologie vollzieht, ist also eine Verallgemeinerung des Gesetzlichkeitsbegriffs in ähnlicher Richtung, wie sie die Mathematik und Physik schon länger kennt 3. Übrigens werden mit diesem Vergleich gewisse philosophische Fragen nahegelegt, auf die die Psychologie bisher noch keine Antwort gegeben hat. Der Physiker weiß, daß das Auft reten von Gestalteigenschaften auf stationäre Prozesse beschränkt ist und daß hier die Ganzheitsbestimmtheit zurückgeführt werden kann auf Nahwirkungsvorgänge, in denen nur die unmit3
Dieser Gedanke ist von einem der führenden Vertreter der Gestalttheorie, Wolfgang Köhler, in den Vordergrund gestellt worden. Vgl. Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand: Eine naturphilosophische Untersuchung, Braunschweig 1920.
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telbare räumliche Nachbarschaft bestimmend ist, die also selbst keinen Ganzheitscharakter besitzen. Man denke etwa daran, wie in einem elektrostatischen Feld der Einfluß eines entfernten Leiters auf den Potentialverlauf einer Feldstelle erst durch einen Ausbreitungsvorgang des Feldes zustande kommt, der durch die Maxwellschen Differentialgleichungen bestimmt ist und keinen Gestaltcharakter besitzt. Es entsteht die Frage, ob auch die psychologischen Gestaltvorgänge sich grundsätzlich in eine Nahwirkungstheorie auflösen lassen, die den Gestaltbegriff noch nicht kennt. Es muß der psychologischen Forschung überlassen bleiben, wie sie zu diesem Problem Stellung nehmen wird. Ein weiterer Problemkreis sei hier nur gestreift. Das Problem des Individuums hat in der Philosophie immer eine große Rolle gespielt; in letzter Zeit ist es durch biologische und psychologische Forschungen um ganz neue Resultate bereichert worden. Man denke hier zunächst an die eigenartigen Ergebnisse psychiatrischer Forschung, in denen das Bewußtsein einem Unterbewußtsein entgegengestellt wird oder in denen Spaltungen des Ich-Bewußtseins unverkennbar festgestellt werden. Weiterhin ist neuerdings rein biologisch das Problem des Individuums unter neue Gesichtspunkte gestellt worden. So ist es gelungen, Individuen einer Molchart ineinander zu operieren, so daß aus zwei Individuen eines wird; man konnte gemeinsame Blutkreisläufe, ja sogar gemeinsames Nervensystem herstellen. 4 Man male sich einmal aus, was es bedeuten würde, wenn derartige Experimente auch für höhere Tiere gelingen. Hatte die Philosophie früher den Satz ausgesprochen, daß die Monaden keine Fenster haben, so wird hier im Gegensatz dazu die völlige Verschmelzung zweier Monaden zu einem einzigen Innenleben durchgeführt, eine Verschmelzung, die zugleich aller Zwischenstufen fähig ist, so daß von einem stetigen Übergang individualistischer Bewußtseinssphären gesprochen werden muß. Angesichts solcher Tatsachen noch von einer Unabhängigkeit der Philosophie von der Biolo4
Vgl. hierzu Julius Schaxel, »Das biologische Inidividuum«, in: Erkenntnis 1 (1930), S. 467–492.
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gie sprechen zu wollen, erscheint geradezu unbegreiflich. Wer auch nur ein wenig in die biologische Fachwissenschaft hineingeblickt hat, bemerkt auf Schritt und Tritt ihre nahe Verflechtung mit philosophischen Problemen. Eine Naturphilosophie, die sich dessen nicht bewußt ist, kann den Anforderungen der Gegenwart nicht gerecht werden.
III. Wir wenden uns jetzt zu dem Kreis derjenigen Probleme, die aus der Physik herausgewachsen sind, also zu dem physikalischen Problemkreis der Naturphilosophie. Als erstes Gebiet haben wir hier die Probleme von Raum und Zeit zu nennen, die bekanntlich durch die Relativitätstheorie und ihre philosophische Weiterführung in unserer Zeit eine ganz besonders eingehende Verarbeitung gefunden haben. Diese eingehende Verarbeitung hat das philosophische Raum-Zeit-Problem zu einem gewissen Abschluß geführt, und wir haben deshalb in diesem Problemkreis zum erstenmal ein relativ abgeschlossenes Problemgebiet vor uns, für welches vorläufig keine Weiterentwicklung mehr zu erwarten ist; die philosophischen Fragen, die sich hier stellen ließen, sind beantwortet. Wir sprechen freilich von einer relativen Abgeschlossenheit, weil wir natürlich nichts darüber festlegen wollen, was spätere Jahrhunderte zu unseren Resultaten sagen werden; aber beurteilt von dem Stand unseres gegenwärtigen Wissens, können wir hier von einer gewissen Vollständigkeit sprechen. Wenn wir das Ergebnis dieser neueren Durcharbeitung des Raum-Zeit-Problems auf eine kurze Formel bringen sollen, so dürfen wir dies Ergebnis etwa folgendermaßen aussprechen: Raum und Zeit sind nicht, wie die ältere Philosophie glaubte, Ordnungsformen, die das erkennende Subjekt in die Realität hineinträgt, sondern sie sind Ordnungseigenschaften der Wirklichkeit selbst und von dem erkennenden Menschen aus der Wirklichkeit entnommen. Das ist freilich ein starker Bruch mit der traditionellen philosophischen Auffassung, wie sie sich
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besonders seit Kant entwickelt hatte; aber die Entwicklung der physikalisch-mathematischen Wissenschaften hat so eindeutig in dieses Resultat geführt, daß wir zu einem solchen weittragenden Schritt berechtigt sind. Das soll nicht etwa die historische Leistung eines Kant herabsetzen; im Gegenteil, Kants Philosophie des Raumes bedeutet den genialen Versuch, den damals vorliegenden Tatbestand des Wissens vom Raum durch eine philosophische Theorie zu rechtfertigen. Kant nahm mit Recht an der sonderbaren Tatsache Anstoß, daß wir einerseits in der Geometrie eine schlechthin sichere Wissenschaft vom Raum besitzen und daß andererseits diese Wissenschaft für den Raum der Natur Geltung besitzen soll. Diese Doppelheit von Wirklichkeitsgeltung und Apodiktizität, die Kant zu seinem Begriff des synthetischen Urteils a priori geführt hat, wollte er durch die Vorstellung lösen, daß der Raum in der subjektiven Struktur der Vernunft entspringt, also a priori ist, zugleich aber als notwendige Voraussetzung in jede Wirklichkeitsaussage eingeht und darum von der Natur gültig ist. Man muß anerkennen, daß diese Konstruktion einen genialen Lösungsversuch für den damals vorliegenden Tatbestand bedeutet; aber für uns besteht heute jener Tatbestand nicht mehr, und dies ist der Grund, warum die Kantsche Lösung für uns ganz unbrauchbar geworden ist. Daß die eine Geometrie des Euklid zugleich notwendig und für die Wirklichkeit gültig war, hatte seinen Grund darin, daß man nur eine Geometrie kannte; aber seit etwa 100 Jahren kennen wir eine Mannigfaltigkeit von Geometrien, und wir können nichts mehr darüber a priori ausmachen, welche von diesen Geometrien für die Wirklichkeit zutrifft. Vielmehr enthüllt das mathematische Denken in dieser Mannigfaltigkeit der Geometrien nur eine Anzahl von Möglichkeiten, und erst die Erfahrung kann darüber entscheiden, welche dieser Möglichkeiten in der Natur realisiert ist. Damit aber hat das Problem der Wirklichkeitsgeltung für die Geometrie eine empiristische Lösung gefunden, und die Geometrie unterscheidet sich in dieser Hinsicht von keiner anderen physikalischen Gesetzlichkeit. Vielmehr läßt sich der Entscheid der Erfahrung stets in der Form darstellen,
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daß die Erfahrung eine Auswahl aus mehreren nebeneinander bestehenden Denkmöglichkeiten trifft, derart, daß diese Denkmöglichkeiten zwar in sich von logischer Notwendigkeit sind, daß aber die Auswahl der Erfahrung nur den Charakter der Empirie besitzt. So lehrt etwa das mathematische Denken, wie sich ein Massenpunkt unter dem Einfluß einer Anziehungskraft bewegt, die mit der 1. oder 2. oder 3. oder usw. Potenz des Abstandes vom Mittelpunkt abnimmt; die Erfahrung entscheidet, daß für die Planetenbewegung von diesen Möglichkeiten nur die zweite zutrifft. In gleicher Weise haben wir heute den Entscheid für die Wirklichkeitsgeltung der Geometrie als einen Auswahlakt der Erfahrung anzusehen5. Und durch diesen Auswahlakt, also durch die Zuordnung einer bestimmten begrifflichen Struktur zur Wirklichkeit,16 erfaßt das physika lische Denken eine Eigenschaft der Natur. Worin besteht nun diese in der Geometrie formu lierte Eigenschaft der Realität? Seit Helmholtz kennen wir die Antwort hierauf: Die Geometrie formuliert nichts anderes als die Lagerungseigenschaften starrer Körper. Wir finden diese starren Körper als Dinge der Natur vor und können mit ihnen Meßoperationen ausführen. Wir konstruieren etwa auf einem ebenen Feld einen großen Kreis, indem wir eine Schnur mit dem einen Ende an einem Pflock befestigen und das andere Ende nach der Art eines Zirkels herumführen. Dann nehmen wir einen Meterstab
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Zwar kompliziert sich dieses Problem etwas, weil der Entscheid über die Geometrie erst bestimmt ist, wenn zuvor gewisse Festsetzungen getroffen wurden; aber es läßt sich zeigen, daß hier nicht etwa eine Sonderstellung des Geometrieproblems besteht, sondern eine entsprechende Unbestimmtheit für alle physikalischen Sätze gilt und daß sie beseitigt wird, wenn man die Notwendigkeit von Zuordnungsdefinitionen für die Physik beachtet. Der sog. Konventionalismus hat hier zu irreführenden Deutungen und zu einer unberechtigten Verteidigung des geometrischen Apriori geführt. Wir müssen für eine nähere Begründung verweisen auf Hans Reichenbach, Philosophie der Raum-Zeit-Lehre, Berlin 1928, § 4 bis § 8.
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und tragen ihn längs des Kreisumfanges und nachher längs eines Kreisdurchmessers ab. Es ist eine Tatsache, daß wir für das Verhältnis der dabei ermittelten Zahlen die Zahl 3,14 erhalten, eine Tatsache, nicht aber eine logische Notwendigkeit. In dieser Tatsache spricht sich eine Eigenschaft der starren Körper aus, die man weiterhin als System der euklidischen Geometrie formuliert hat. Würde aber diese Tatsache nicht bestehen, so hätten wir für die Entdeckung der nichteuklidischen Geometrie nicht erst auf Bolyai und Lobatschewskij zu warten brauchen, sondern die alten Ägypter hätten bereits jene kompliziertere Beziehung zwischen Kreisumfang und Kreisdurchmesser gefunden, und Euklid hätte ein komplizierteres geometrisches System axiomatisiert. Aber nicht nur die Mathematiker hätten sich an jene komplizierte Geometrie gewöhnt, sondern ebenso jeder einzelne Mensch; wir hätten alle in uns schon längst eine Fähigkeit zur anschaulichen Erfassung nichteuklidischer Geometrien entwikkelt. Die anschauliche Erfaßbarkeit der euklidischen Geometrie ist lediglich als ein Produkt der Gewöhnung anzusehen, einer nicht nur ontogenetischen, sondern natürlich auch phylogenetischen Gewöhnung, die aus der Tatsache entspringt, daß die Welt unserer starren Körper mit sehr großer Näherung euklidische Struktur besitzt. Ist man sich dieses Zusammenklangs von anschaulicher Erfassung und Wirk lichkeitsgeltung der Geometrie bewußt, so ist es übrigens nicht schwer, eine entsprechende Veranschau lichung auch für die nichteuklidische Geometrie durchzuführen. Wir dürfen es heute als ein philosophisches Resultat aussprechen, daß die Veranschaulichung der nichteuklidischen Geometrie in genau dem gleichen Sinne durchgeführt werden kann wie die Veranschau lichung der euklidischen Geometrie6 . Übrigens gilt die Vorherrschaft für die Wirklichkeit nur näherungsweise, in astronomischen Dimensionen gilt nicht die euklidische, sondern die Riemannsche Geometrie.
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Zur näheren Begründung muß auf die eben genannte Schrift des Verfassers verwiesen werden, §§ 9–13.
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Analoges wie für den Raum gilt für die Zeit. Auch die Zeit ist keine Ordnungsform der erkennenden Vernunft, sondern eine Eigenschaft der Natur, die wir durch ein Begriffssystem abbilden. Das korrespondierende Reale, welches den starren Körpern in bezug auf den Raum entspricht, sind die Kausalketten.17 Unter Kausalkette ist jede Form der Wirkungsausbreitung zu verstehen, z. B. die Übertragung eines Telegrammes durch ein elektromagnetisches Signal oder auch der Transport eines materiellen Körpers selbst. Das Wirklichkeitsgeschehen ist aus solchen Kausalketten aufgebaut und trägt daher eine Struktur in sich, es ist sozusagen gefasert. Diese Faserungsstruktur ist es, die wir als Zeitordnung erfassen. Man kann die Gesetze dieser Faserungsstruktur ganz präzis darstellen. Eine der wichtigsten Eigenschaften der gefaserten Welt ist es z. B., daß diese Fasern, also die Kausalketten, niemals in sich selbst zurücklaufen. Wir meinen mit Zurücklaufen eine Rückkehr nicht nur an denselben Ort, sondern an dasselbe Punktereignis, also Rückkehr an denselben Ort zu derselben Zeit. Es ist nicht leicht, sich überhaupt vorzustellen, was damit gemeint ist, so sehr sind wir an die andersartige Struktur der Wirklichkeit gewöhnt. Derartige, in sich selbst geschlossene Kausalketten würden zu überaus merkwürdigen Folgerungen führen, so könnte es uns in einer solchen Welt passieren, daß wir eines Tages auf der Straße unserem früheren Ich begegnen und mit ihm in eine peinliche Auseinandersetzung darüber gerieten, ob wir miteinander identisch wären. Erfreulicherweise ist unsere Welt so konstruiert, daß dies niemals eintreten kann; aber man kann nicht sagen, daß diese Eigenschaft eine apriorische Notwendigkeit sei, sondern es handelt sich hier nur um eine erfahrungsmäßig konstatierbare Eigenschaft der Realität. Weil die Realität diese Eigenschaft besitzt, weil in ihr also geschlossene Kausalketten nicht vorkommen, besitzen wir eine eindeutige Zeitordnung. In diesem Sinne gilt die Behauptung: Die Zeitordnung ist die Kausalstruktur der Welt. Und wenn überhaupt die Frage nach dem »Wesen der Zeit« einen Sinn hat, so ist ihre Beantwortung durch diese Entdeckung gegeben.
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Wir wenden uns jetzt zu dem zweiten Teilgebiet des physikalischen Problemkreises, das im Gegensatz zu dem Raum-ZeitProblem gegenwärtig von höchst aktueller Bedeutung ist, da es noch ganz im Flusse ist und deshalb noch keineswegs in abgeschlossener Form dargelegt werden kann, wenn auch einige wichtige Grundzüge bereits feststehen. Es ist das Problem der Gesetzlichkeit der Natur. Wenn wir dieses Problem verstehen wollen, müssen wir in der Entwicklung der Physik ein Stück zurückgreifen. Man hat in dem Gedanken der strengen Gesetzlichkeit alles Geschehens den charakteristischen Grund zug moderner Naturwissenschaft gesehen, und gewiß bedeutet dieser Zug einen entscheidenden Fortschritt über die Naturforschung älterer Zeiten hinaus. So hat das Altertum den Begriff des Naturgesetzes noch nicht in unserer heutigen Form gehabt; Naturgesetze waren bloße Regeln, und man wunderte sich gar nicht, wenn einmal eine Ausnahme von der Regel eintrat – in diesem Fall galt das Gesetz eben nicht. Im Gegensatz dazu hat die neuere Naturwissenschaft den Grundsatz ausgesprochen, daß es keine Ausnahme von den Gesetzen gibt. Was uns als Ausnahme erscheint, ist vielmehr auf das Eingreifen komplizierterer Faktoren zurückzuführen, und wir würden den streng gesetzmäßigen Charakter auch des Ausnahmefalles sofort erkennen, würden wir nur die Gesamtheit aller vorliegenden Faktoren durchschauen und in unsere Rechnung einbeziehen. Dieses Prinzip der ausnahmslosen Gesetzlichkeit alles Geschehens hat in der Naturforschung große Triumphe gefeiert, und die Bewunderung, ja vielfach religiös zu nennende Verehrung, die die Naturforschung bei so vielen ihrer Anhänger von jeher genossen hat, hat gerade hier ihren Grund; in der Tat verleiht die Vorstellung des streng gesetzlichen Ablaufs alles Geschehens der Natur einen Zug von übermenschlicher Erhabenheit, der gegenüber die Unvoll kommenheit menschlichen Wissens und Handelns in erschütternder Deutlichkeit heraustritt. Diese gefühlsmäßigen Begleitvorstellungen muß man sich vor Augen halten, wenn man verstehen will, warum gerade hervorragende Forscher aus der
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älteren Generation der neueren Entwicklung der Physik ablehnend gegenüberstehen, nachdem in ihr die Strenge des Gesetzesbegriffs aufgegeben worden ist; sie sehen darin einen Verzicht auf einen Wesenszug physikalischer Forschung und möchten es als eine Art von religiösem Postulat aussprechen, daß der Glaube an die strenge Kausalität aufrechterhalten werden soll, auch wenn die gegenwärtige Situation der Naturforschung diesem Postulat nicht gerecht werden kann. Die jüngere Generation freilich teilt diesen Standpunkt nicht; aber wir müssen, wenn wir die von ihr entwickelte Auffassung des Gesetzesbegriffs jetzt darlegen wollen, zunächst auf die logische Bedeutung desjenigen Begriffs eingehen, um den sich gegenwärtig das Kausalproblem konzentriert: des Wahrscheinlichkeitsbegriffs. Der Begriff der Wahrscheinlichkeit ist zuerst im Zusammenhang mit Problemen der Glücksspiele einer mathematischen Theorie unterworfen worden; er ist aber bald aus diesem wissenschaft lich natürlich höchst unwichtigen Gebiet hinausgewandert und in die Physik eingezogen. Zunächst trat er dort in der Theorie der Beobachtungsfehler auf; aber auch hier hat man ihn noch als eine verhältnismäßig unwesentliche Begleiterscheinung angesehen, da er dort, wie es schien, nur für den schmalen Bereich der Genauigkeitsregulation Bedeutung besaß. Erst das Auft reten des Wahrscheinlichkeitsbegriffs in der kinetischen Gastheorie brachte eine entscheidende Wendung, weil der Begriff hier in prinzipieller Bedeutung auft rat. Es handelt sich vor allem um sein Auft reten in der Boltzmannschen Auffassung des zweiten Hauptsatzes der Wärmetheorie. Dieser Hauptsatz, der die Gerichtetheit aller thermischen Vorgänge besagt, war ursprünglich ebenso wie der erste Hauptsatz, das Gesetz von der Erhaltung der Energie, ein Gesetz von streng kausalem Typ gewesen. Zu dieser Formulierung hatte man den Begriff der Entropie in Analogie zu dem Begriff der Energie gebildet und seinen Inhalt dahin ausgesprochen, daß bei allen thermischen Umsetzungen die Entropie des Gesamtsystems stets wachsen muß. Boltzmann zeigte nun, daß dies Gesetz als ein statistisches Gesetz zu verstehen ist, als ein Mischungs-
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gesetz für Massenerscheinungen. Wir wollen in einem Beispiel zeigen, was damit gemeint ist. Hat man etwa in ein Gefäß, durch eine Scheidewand getrennt, auf der einen Seite Sauerstoff, auf der anderen Seite Stickstoff eingebracht und zieht dann die Scheidewand heraus, so werden sich die Moleküle beider Gase durcheinandermischen. Warum werden sie dies eigent lich tun? Wir können hierfür kein Kausalgesetz als Grund angeben, vielmehr handelt es sich um ein statistisches Gesetz, von dessen Geltung wir allerdings fest überzeugt sind. Freilich, es kann nicht unmöglich genannt werden, daß auch einmal das Umgekehrte eintritt, daß also etwa in einem Zimmer die Sauerstoff moleküle der Luft sich alle auf der einen Seite versammeln, die Stickstoff moleküle auf der anderen Seite; so unangenehm freilich die Konsequenzen wären, die ein solches Geschehen für die im Zimmer anwesenden Personen mit sich brächte – wir kennen kein Naturgesetz, das diesen Fall ausschließt. Der Fall ist allerdings äußerst unwahrscheinlich – das ist der einzige Trost, den wir gegenüber der geschilderten Möglichkeit vorbringen können. Für das praktische Leben ist dieser Trost allerdings völlig ausreichend. Wir sind im Leben überhaupt nicht sehr anspruchsvoll in bezug auf Sicherheit. Wir wissen z. B., daß jedes Jahr ein bestimmter Prozentsatz von Eisenbahnunfällen eintritt; obgleich also jedesmal, wenn wir uns in die Eisenbahn setzen, eine bestimmte Unfallswahrscheinlichkeit auch für uns besteht, kümmern wir uns nicht darum. Wir behandeln eine kleine Wahrscheinlichkeit als Unmöglichkeit, eine große Wahrscheinlichkeit als Gewißheit und vergessen damit ganz, daß es sich hier eben doch nur um Wahrscheinlichkeiten handelt. Was die Eisenbahn anbetrifft, so haben wir hier freilich den Wahrscheinlichkeitscharakter noch nicht ganz vergessen; das zeigt sich darin, daß viele es für eine Notwendigkeit halten, sich gegen Unfall zu versichern. Aber damit ist auch weiter nichts geleistet, als daß man die an sich schon große Wahrscheinlichkeit eines günstigen Ausgangs durch eine noch größere Wahrscheinlichkeit ersetzt hat; denn unmöglich ist es natürlich nicht, daß die Versicherungsgesellschaft Bankrott macht,
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z. B. deshalb, weil zufällig einmal alle ihre Versicherungsnehmer am gleichen Tage einen Eisenbahnunfall erleiden. Sehen wir uns einmal die Aussagen des täglichen Lebens an, so werden wir finden, daß sie alle die Vernachlässigung einer kleinen Wahrscheinlichkeit für ein negatives Resultat enthalten. Es gibt in der Tat nicht eine einzige inhaltvolle Aussage über die Natur von Gewißheitscharakter – stets handelt es sich um mehr oder weniger deutlich gekennzeichnete Wahrscheinlichkeitsaussagen. In der Boltzmannschen Auffassung des zweiten Wärmesatzes wird nicht nur die Mischung der Moleküle, sondern auch die Mischung ihrer Geschwindigkeiten angenommen, aber prinzipiell ist dies natürlich das gleiche. Die Entropie wird als die Wahrscheinlichkeit eines thermodynamischen Zustands gedeutet; wir können sie etwa durch »Ausgleichungsgrad« übersetzen. Man hat den Boltzmannschen Gedanken s. Zt. als eine großartige physikalische Entdeckung angesehen, und mit Recht, denn in ihr wird für das Gesetz der Entropievermehrung eine Erklärung gegeben; was vorher nur als eine Tatsache der Natur hinzunehmen war, wird jetzt mit einem Schlage begreiflich, wird durch die Zurückführung auf das Wahrscheinlichkeitsprinzip erklärt. Aber diese Erklärung durch das Boltzmannsche Prinzip erwies sich doch als ein Danaergeschenk. Denn mit ihr war ein vorher für streng gehaltenes Gesetz in ein nur mit Wahrscheinlichkeit gültiges Gesetz verwandelt worden, und in die sicherste aller Naturwissenschaften war damit eine Unsicherheit eingezogen; wenn die Physik derartige Wahrscheinlichkeitsgesetze zuließ, konnte sie nicht länger den Anspruch auf die Strenge ihrer Gesetzlichkeit aufrechterhalten, der bis dahin ihren größten Wert bedeutet hatte. In dieser Situation erfand man einen Ausweg, der nahelag. Man machte einen Unterschied zwischen der an sich streng gesetzlich verlaufenden Natur einerseits und dem unvollkommenen menschlichen Wissen um diese Gesetzlichkeit andererseits. Man erklärte, daß der Wahrscheinlichkeitsbegriff lediglich in der Unvollkommenheit menschlichen Wissens seinen Grund habe, also ein Aushilfsmittel menschlicher Unwissenheit dar-
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stelle, aber in einer idealen Physik vermeidbar wäre. Würden wir in der Lage sein, die Anfangslagen und Anfangsgeschwindigkeiten aller Gasmoleküle zu einer bestimmten Zeit völlig genau zu ermitteln, und würden wir ferner in der Lage sein, das Zusammenwirken aller dieser Körperchen mathematisch durchzurechnen, so würden wir auch in der Lage sein, die Vorgänge im Gas mit derselben Sicherheit vorauszusagen, wie der Astronom eine Sonnenfinsternis voraussagt. Schon früher hat Laplace diesem Gedanken ein klassisches Bild geschaffen in seiner Vorstellung einer übermenschlichen Intelligenz, die die Zukunft mit Sicherheit vorausberechnen könnte und den Wahrscheinlichkeitsbegriff nicht benutzen würde. Man nennt diese Auffassung die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie,18 weil nach ihr der Wahrscheinlichkeitsbegriff aus dem subjektiven Unvermögen des Menschen entspringt, jedoch nichts für die Wirklichkeit selbst bedeutet. Aber die subjektive Theorie kann unmöglich dem Wahrscheinlichkeitsbegriff gerecht werden; denn sie verkennt, daß sich ja die Wahrscheinlichkeitsgesetze in der Form von Häufigkeitsaussagen für die Wirklich keit hervorragend bewähren und daß diese Wirklichkeitsgeltung nicht gerechtfertigt werden kann, wenn der Wahrscheinlichkeitsbegriff lediglich aus dem Unvermögen des erkennenden Menschen entspringt. Wenn wir die statistischen Gesetze der Gastheorie nur deshalb formulieren, weil wir über den Verlauf der Molekülbewegung nichts Genaues wissen, so ist nicht einzusehen, warum diese Gesetze trotzdem das Verhalten der Gase beschreiben. Man kann sich jedenfalls nicht vorstellen, daß die Natur in derart weitgehendem Maße auf menschliches Unvermögen Rücksicht nimmt. Dieser Einwand ist entscheidend gegen die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie, und es wurde deshalb eine objektive Wahrscheinlichkeitstheorie begründet, welche versucht, die Geltung der Wahrscheinlichkeitsgesetze in gleichem Sinne als eine objektive Tatsache des Naturgeschehens hinzustellen, wie die Geltung der Kausalgesetze eine solche Tatsache bedeutet. Danach bedeutet die Regelmäßigkeit statistischer Vorgänge, wie z. B. der Molekül-
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gesamtheiten, einen selbständigen Grundzug des Naturgeschehens, dessen Gesetze zu erfassen ebenso Aufgabe der Naturwissenschaft ist, wie dies für die Kausalgesetze gilt. Auch erscheint es danach sinnlos, in der Benutzung statistischer Gesetze etwas bloß Vorläufiges zu sehen; auch der Laplacesche Übermensch würde – so hat in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts übrigens bereits der französische Mathematiker Cournot bemerkt – auf die Benutzung der statistischen Gesetze nicht verzichten, da er bei seiner genauen Berechnung ja für den Durchschnitt auch nichts anderes herausbekommen würde, als was die statistischen Gesetze ermittelt haben. Seine Übermenschlichkeit würde sich lediglich darin ausdrücken, daß er die Wahrscheinlichkeitsmathematik noch viel besser zu handhaben verstünde als wir. Mit solchen erkenntnistheoretischen Überlegungen war das statistische Prinzip als eine gleichberechtigte Form von Gesetzlichkeit neben das kausale Prinzip gestellt worden. Schon damals tauchten übrigens Vermutungen auf; ob das statistische Prinzip nicht eines Tages als primär gegenüber dem kausalen Prinzip betrachtet werden würde, ob das Schicksal, das den zweiten Hauptsatz aus einem strengen Gesetz in ein statistisches Gesetz verwandelt hatte, nicht in gleicher Weise einmal alle strengen Gesetze der Physik erfassen würde7. Die begrifflich strenge Fassung dieses Gedankens konnte allerdings erst später gegeben werden, als die kritische Analyse des Kausalbegriffs weiter fortgeschritten war; wir werden in kurzem darauf zurück kommen. Die Position der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie wurde jedoch endgültig erschüttert erst durch die Untersuchungen zum Begriff der Kausalgesetzlichkeit, die im Hinblick auf den Wahrscheinlichkeitsbegriff durchgeführt wurden. Es stellte sich nämlich heraus, daß der Wahrscheinlichkeitsbegriff auch für die sogenannten strengen Gesetze der Physik nicht entbehrt werden kann, so wie man die Zuordnung dieser Gesetze 7
Es dürfte heute kaum noch zu ermitteln sein, wer diesen Gedanken zuerst ausgesprochen hat.
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zur Wirklichkeit formulieren will – und diese Zuordnung zur Wirklichkeit ist ja gerade der Inhalt der physikalischen Erkenntnis. Es ist ja bekannt, daß die Bedingungen, für welche wir den Ablauf eines physikalischen Geschehens durchrechnen, in der Wirklichkeit niemals genau erfüllt sind; so können wir etwa bei der Berechnung der Bewegung eines Massenpunktes, z. B. eines ausgeschleuderten Geschosses, niemals sämt liche mitwirkenden Faktoren in die Rechnung einbeziehen. Wenn wir trotzdem recht gute Voraussagen dieser Art machen können, so verdanken wir dies allein der Geltung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs. Er spricht nämlich ein Gesetz aus für die in der Rechnung nicht berücksichtigten Faktoren. In der Theorie der Beobachtungsfehler tritt die Bedeutung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs noch deutlich erkennbar hervor. Man irrt jedoch, wenn man glaubt, daß hier die Wahrscheinlichkeit auf ein schmales Genauigkeitsintervall beschränkt sei; in diesem schmalen Bereich ist die Wahrscheinlichkeit nur merklich von 1 verschieden, während sie außerhalb des Bereichs der 1 sehr naheliegt. Die Gaußsche Exponentialkurve mit ihrem asymptotischen Abklingen trifft genau diesen Gedanken; wir dürfen stets nur behaupten, daß der Wert der gesuchten Größe mit großer Wahrscheinlichkeit in dem betreffenden Intervall liegt, niemals aber, daß er mit Gewißheit darin liegt. Jede Anwendung von Kausalgesetzen auf wirk liche Dinge enthält also den Wahrscheinlichkeitsbegriff. Auch die Aussage der sogenannten Kausalgesetze, als Aussage über reale Dinge und nicht über fi ktive Dinge von den geforderten Eigenschaften formuliert, ist eine Wahrscheinlichkeitsaussage. Nun hat allerdings die bisherige Physik den Gedanken festgehalten, daß die Voraussagewahrscheinlichkeit immer besser wird, je mehr mitwirkende Faktoren man in dem mathematischen Ansatz berücksichtigt. Aber auch diese Aussage läßt sich selbst nur mittels des Wahrscheinlichkeitsbegriffs machen. Sie bedeutet eine Konvergenzaussage, die sich der vorangehenden Aussage über die wahrscheinlichkeitsmäßige Beziehung zwischen Ursache und Wirkung hinzufügt. Wir haben deshalb die strenge Kausalaussage zu ersetzen durch die beiden Aussagen:
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Beschreibt man ein Geschehen durch eine bestimmte Anzahl von Parametern, so läßt sich das spätere Geschehen, ebenfalls charakterisiert durch eine bestimmte Anzahl von Parametern, mit einer Wahrscheinlichkeit p voraussagen. Diese Wahrscheinlichkeit p wächst gegen 1, wenn man immer mehr bestimmende Parameter berücksichtigt. Diese beiden Aussagen treten an Stelle der strengen Kausalbehauptung; sie enthalten den Wahrscheinlichkeitsbegriff. Wenn man sie ersetzen wollte durch die Aussage »Das Geschehen in der Natur ist an sich streng vorausbestimmt«, so ersetzt man eine Konvergenzaussage durch eine Limesaussage. Das wäre freilich ungefährlich, wenn man sich klarmacht, daß die Limesaussage nichts anderes besagen kann als das, was ausführlich in der Konvergenzaussage formuliert wird; gewöhnlich aber wird diese Definition durch eine Konvergenzaussage vergessen, und so entstehen dann ganz falsche Vorstellungen über den Kausalbegriff, insbesondere die Vorstellung, daß der Wahrscheinlichkeitsbegriff eliminiert werden könne. Es sind ähnliche Fehlschlüsse, wie sie etwa bei dem Begriff des Differentialquotienten gemacht werden, wenn man diesen als das Verhältnis zweier unendlich kleiner Größen definiert. Weiterhin entstehen auch Fehler für die Auffassung des Zeitbegriffs, der ja mit dem Kausalbegriff aufs engste zusammenhängt; doch kann darauf an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Hat man die Formulierung des Kausalbegriffs durch die oben gegebenen Aussagen I und II erkannt, so entsteht sofort die Möglichkeit einer Verallgemeinerung. Man kann sich nämlich den Fall denken, daß die Aussage II durch eine allgemeinere ersetzt werden muß, nach der die Wahrscheinlichkeit der Vorausberechnung nicht beliebig nahe an 1 getrieben werden kann. Diese Formulierung ist zugleich die strenge Formulierung des früher erwähnten Gedankens, wonach die kausalen Gesetze auf statistische Gesetze reduziert werden könnten; denn natürlich hat diese Reduktion nur dann eine von dem bisherigen Charakter der Kausalgesetze verschiedene Bedeutung, wenn der Einzelvorgang nicht mehr kausal erfaßbar ist, d. h. eben,
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wenn seine Wahrscheinlichkeit auch durch Zunahme weiterer bestimmender Faktoren nicht beliebig nahe an 1 gebracht werden kann. Durch diese Überlegung wird deutlich, wie erst die strenge Formulierung erkenntnistheoretischer Zusammenhänge gewisse Vorurteile beseitigt, welche eine unscharfe Formulierung unter dem Namen apriorischer Notwendigkeiten mit sich gebracht hatte. Denn es muß selbstverständlich als eine Angelegenheit der Empirie angesehen werden, ob die Annahme II zutrifft oder nicht. Wir möchten es als ein erfreuliches Zeichen für die Übereinstimmung zwischen neuer naturphilosophischer Arbeitsweise und physikalischer Forschung ansehen, daß gerade diese zuerst im Rahmen natur philosophischer Überlegungen zum Kausalprinzip aufgedeckte Verallgemeinerungsmöglichkeit 8 von der modernen Quantenmechanik aufgegriffen und als tatsächlich vorliegend bezeichnet worden ist. Selbstverständ lich konnte die Tatsachenbehauptung nur von der Physik ausgesprochen werden, die Aufgabe der Naturphilosophie war damit erschöpft, daß diese Möglichkeiten aufgezeigt wurden. Diese Behauptung der Quantenmechanik ist von Heisenberg entwickelt und unter dem Namen der Ungenauigkeitsrelation formuliert worden. Auf die Begründung der Heisenbergschen Gedankengänge durch die Theorie des Beobachtungsmittels wollen wir hier nicht weiter eingehen, da sie hinreichend bekannt ist. Übrigens hat hier die Behauptung eine etwas speziellere Form erhalten, als sie mit der Verneinung der Behauptung II ausgesprochen ist; das ist freilich für den Erkenntnistheoretiker recht einleuchtend, da die Physik niemals mit schlechthin allgemeinsten Behauptungen arbeitet, sondern ihre Verallgemeinerungen bisheriger Sachverhalte immer noch so speziell wie 8
Diese Formulierung ist zuerst vom Verfasser gegeben worden in »Die Kausalstruktur der Welt und der Unterschied von Vergangenheit und Zukunft«, in: Sitzungsberichte, Bayerische Akademie der Wissenschaften, mathematisch-naturwissenschaftliche Abteilung, München, Nov. 1925, S. 133–175; hier S. 138.
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möglich macht. Nach Heisenberg ist nämlich für den einzelnen Parameter (bzw. sogar eine Gruppe von Parametern) die Wahrscheinlichkeit der Voraussage beliebig nahe an 1 zu steigern, während dann für einen anderen Para meter (bzw. eine Gruppe von Parametern) die Wahrscheinlichkeit der Voraussage entsprechend schlechter wird. Für die Kombination aller kennzeichnenden Parameter – und erst diese charakterisiert das Geschehen erschöpfend – gilt aber die Behauptung, daß die zugehörige Wahrscheinlichkeit der Voraussage, die durch das Produkt der Einzelwahrscheinlichkeiten gegeben ist, an eine Grenze unterhalb von 1 gebunden ist. Die Physik hat sich damit für einen allgemeineren Typus von Gesetzlichkeit entschieden, als ihn der bisherige Kausalbegriff darstellt. Manche Physiker, und darunter gerade hervorragende Forscher, denen die Physik einen überragenden Teil ihres gegenwärtigen Besitzstandes verdankt, haben darin ein Scheitern der physikalischen Forschung erblicken wollen, einen Verzicht auf Erkenntnis; und sie haben die Hoff nung ausgesprochen, daß die Beschränkung auf Wahrscheinlichkeitsgesetzlichkeit nur eine vorübergehende Stufe physikalischer Entwicklung sei. Wir halten diese Auffassung des Gesetzlichkeitsproblems für irrtümlich und sehen sie entstanden durch eine falsche erkenntnistheoretische Einstellung zum Problem der Kausalität, wie sie durch die früher gekennzeichnete falsche Idealisierung des Erkenntnisvorganges entsteht. Es kann nicht Aufgabe der Erkenntnistheorie sein, der Natur Vorschriften über ihre Struktur zu machen. Wenn sich herausstellt, daß die strenge Kausalität im Sinne der Behauptung II nicht gilt, so ist dies eine Tatsachenkonstatierung, die unserer gefühlsmäßigen Wertbeurteilung nicht unterliegt; diese Tatsache bedeutet nicht einen Mangel physikalischer Forschung, sondern eine Eigenschaft der Natur. Im Gegenteil, wenn es der Physik gelungen ist, diese Eigenschaft der Natur aufzudecken, so bedeutet dies eine Erkenntnis von allerhöchstem Range, und ihr gebührt unsere Bewunderung wie irgend je einer physikalischen Entdeckung.
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IV. Wir wenden uns jetzt zu dem mathematischen Problemkreis der Naturphilosophie. Hier handelt es sich vor allem um die Durchbildung der Logik, während erkenntnistheoretische Probleme dabei zunächst zurücktreten. Die Logik hatte ja, wie noch Kant behauptete, seit den Zeiten des Aristoteles keine nennenswerte Förderung erfahren; wir können diese Behauptung Kants voll anerkennen, wenn wir sie eben als eine Behauptung Kants, d. h. als den Standpunkt des 18. Jahrhunderts auffassen. Seitdem aber hat sich die Logik unter dem Einfluß der mathematischen Entwicklung derart verändert, daß demgegenüber die Aristotelische Logik nur noch als eine primitive Anfangsstufe erscheint.19 Von dieser neuen Logik und ihren Problemen haben wir jetzt zu berichten. Rein äußerlich kennzeichnet sich die neue Logik schon dadurch, daß sie eine formelmäßige Schreibweise benutzt, die der Schreibweise mathematischer Formeln ähnlich ist. Man hat in dieser Eigentümlichkeit einen unwesentlichen Zug sehen wollen, eine Art von Pedanterie; und manche Philosophen haben den Gedanken ausgesprochen, daß diese symbolische Logik niemals zu anderen Resultaten kommen könne als die in Worte gefaßte Logik früherer Zeiten, weil alles, was in Formeln ausdrückbar ist, auch in Worten ausgedrückt werden kann. Diese Bemerkung ist prinzipiell richtig, menschlich-psychologisch aber so außerordent lich unzutreffend, daß man nicht verstehen kann, wie sie heute noch ernstlich vertreten werden kann. Denn menschliches Denken bedarf aus psychologischen Gründen des Hilfsmittels symbolischer Schreibweise, weil es sonst einfach nicht mehr seine Inhalte durchschauen kann. Was wäre aus der Mathematik geworden, wenn sie niemals ein Kalkül eingeführt hätte? Und doch gilt auch hier, daß das Kalkül prinzipiell vermeidbar ist, weil jede mathematische Formel in Worten ausgesprochen und darum auch in Worten geschrieben werden kann. In der Tat hat die Einführung eines Kalküls in die Logik mit einem Schlage eine ganze Reihe von neuen logischen Ent-
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deckungen zutage gefördert, die die alte Logik nicht gekannt hat. Wir nennen nur einige Beispiele. Die alte Logik kannte als Form des Urteils, des Satzes, nur die Subjektprädikatform »S ist ein P«. Wir wissen heute, daß dies eine sehr spezielle Form von Sätzen ist, entstanden aus Funktionen einer Variablen, während sich Funktionen mit mehreren Variablen in dieses Schema nicht einfügen; und derartige Funktionen mehrerer Variablen treten nicht bloß in der Wissenschaft, sondern ebenso in der Sprache des täglichen Lebens immerfort auf. Weiter: Die alte Logik kannte nicht die unterschied liche Bedeutung des »ist ein« in Sätzen wie »Sokrates ist ein Mensch« und »Ein Neger ist ein Mensch«, eine Verwechslung, die zu ganz falschen Vorstellungen vom Begriff der Klasse geführt hat und vermutlich Mitursache eines falschen Begriffsrealismus geworden ist. Weiter: Die neue Logik hat den entscheidenden Unterschied von Satz und Satzfunktion aufgedeckt: Die Satzfunktion ist ein allgemeineres Gebilde, welches Variable enthält. Durch den Begriff der Satzfunktion wird nicht nur das mathematische Denken, sondern auch das Denken der Umgangssprache erst deutlich, weil die Struktur einer großen Anzahl von Sätzen erst erfaßt wird, wenn man Satzfunktionen als ihre Bestandteile ansieht (der sog. generalisierenden Sätze). Kurz, die formelmäßige Schreibweise hat mit einem Schlage eine Reihe logischer Entdeckungen geliefert, zu welchen die an die Sprache gebundene Logik aus menschlich-psychologischen Gründen niemals kommen konnte. Die symbolische Logik erwies sich weiterhin als notwendig, um die Theorie der Mathematik durchzuführen, deren Notwendigkeit sich unabweisbar herausgestellt hatte; war man doch in dieser sichersten aller Wissenschaften auf Widersprüche gestoßen. In der Mengenlehre konnte man Begriffsbildungen durchführen, die scheinbar völlig korrekt waren und doch durch logisch einwandfreie Folgerungen in widerspruchsvolle Begriffsbildungen führten. Das Auft reten dieser Paradoxien der Mengenlehre hat die Mathematiker sehr beunruhigt.20
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Versuchte man zunächst sich ihrer zu entledigen, indem man entsprechende Begriffsbildungen als verboten bezeichnete, so entstand doch bald das Problem, ob damit nicht zuviel verboten war; eine Reihe wertvoller und fruchtbarer mathematischer Beweismethoden war durch derartige Verbote in ihrem Bestande bedroht. Die Durchführung dieser Untersuchungen hat bekanntlich die Mathematiker in mehrere Lager gespalten. Der Intuitionismus Brouwers ist in diesen Verboten am radikalsten; er will sogar den unbeschränkten Gebrauch des ter tium non datur verbieten, und rüttelt damit an Grund lagen der aristotelischen Logik selbst. Russell hat durch seine Typenlehre, deren wichtigster Grundsatz der Begriff der sinnfreien Wortverbindung im Gegensatz zu wahren oder falschen Sätzen ist, versucht, der Schwierigkeiten Herr zu werden. Eine gewisse Verbindung Russellscher und Brouwerscher Denkweise findet sich bei Wittgenstein, für den eine Theorie der Sprache am Anfang der Logik steht.21 Hilbert endlich hat den Versuch gemacht, durch axiomatische Fundierung den Bestand der klassischen Mathematik zu retten, indem er den kühnen Plan faßte, die Widerspruchslosigkeit seiner axiomatisch begründeten Mathematik zu beweisen. Ist auch Hilberts Beweis der Widerspruchslosigkeit bisher nicht vollständig durchgeführt worden – neuerdings sind sogar Zweifel entstanden, ob er jemals durchführbar sei 22 –, so bedeutet allein schon diese Problemstellung und die Methode ihrer Durchführung einen philosophischen Erkenntnisfortschritt von außerordentlicher Bedeutung. Als wichtigste philosophische Entdeckung ist hier die Unterscheidung von formalem und inhaltlichem Denken zu nennen.23 Wenn wir einen Gedanken zunächst inhaltlich denken, so können wir ihn durch eine Zeichenverbindung symbolisch ausdrükken. Diese Zeichenverbindung können wir nun formal auffassen, indem wir dabei den Inhalt des Satzes ganz vergessen und sie lediglich als eine Verknüpfung von Zeichen betrachten. Mit diesen Zeichen können wir Operationen ausführen, welche etwa den Zügen im Schachspiel analog zu denken sind; es gibt da Vorschriften über das Auflösen von Klammern, über das Einsetzen
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neuer Zeichen für Verbindungen alter Zeichen usw. – eine richtige Algebra der Logik,24 in der mit den Formeln operiert wird, ohne daß auf ihre inhaltliche Bedeutung zurückgegangen wird. Das Widerspruchslosigkeitsproblem wird nun in der Weise behandelt, daß das Auft reten eines Widerspruchs mit dem Auft reten eines bestimmten Zeichens verbunden wird, und die Widerspruchslosigkeit ist bewiesen, wenn der Nachweis gelingt, daß dieses Zeichen niemals auftreten kann. Für elementare Teilgebiete der Logik konnte der Nachweis der Widerspruchslosigkeit bereits erbracht werden. Auf diese Weise gelingt es, durch Übertragung in formales Denken Sätze von allergrößter Tragweite aufzustellen, die durch Rückübertragung dann wieder für das inhaltliche Denken gültig sind. Wenn man früher geglaubt hat, die Widerspruchslosigkeit logischen Denkens a priori postulieren zu können, so liegt dieser Auffassung, wie wir jetzt übersehen können, die Verwechslung zweier ganz verschiedener Behauptungen zugrunde. Als logisch not wendig einzusehen ist der Satz des Widerspruchs, die Aussage, daß ein Satz und sein Gegenteil nicht zugleich behauptet werden dürfen. Aber aus der Geltung dieses Satzes läßt sich nicht beweisen, daß die Logik niemals in derartige Widersprüche hineinführen könne. Es läßt sich vielmehr auf Grund des Satzes vom Widerspruch nur fordern, daß dies nicht eintreten darf; aber ob es tatsächlich nicht eintreten kann, ist eine ganz andere Frage. Eine derartige Behauptung, die wir Satz der Widerspruchslosigkeit nennen wollen, ist in keiner Weise logisch einsichtig; es bedarf einer besonderen Untersuchung, ob das System der logischen Axiome diesem zweiten Satz genügt, und der Satz der Widerspruchslosigkeit bedarf daher eines besonderen Beweises. Eben dies ist die Erkenntnis, zu der die neue Logik, zumal unter Hilberts Einfluß, sich durchgefunden hat, und es ist die Durchführung dieses Programms, die zu der formalistischen Behandlung logischer Aussagen geführt hat. Die Entdeckung des Unterschiedes von formalem und inhaltlichem Denken müssen wir als ein philosophisches Resultat von allererstem Rang werten. Sie gestattet Einsichten in die Natur
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des menschlichen Denkprozesses, von denen man vorher nichts ahnen konnte. Das inhaltliche Denken wird hier übrigens nicht überall ausgeschaltet, sondern es wird gleichsam auf eine höhere Sphäre reduziert, auf die Sphäre des Metamathematischen, für welche die Formeln Objekte sind. Aber dieses metamathematische Denken ist von wesentlich einfacherer Struktur als das inhaltliche Denken erster Stufe; jenes letzte natürliche Vertrauen des Denkens zu sich selbst, das wir sicherlich auch hier nicht entbehren können, wird auf eine einfachere Schicht des Denkens beschränkt, und es gelingt, damit die Rechtmäßigkeit des komplizierteren Denkens zu beweisen. Übrigens ist der Prozeß der Formalisierung, welcher hier benutzt wird, dem Denken des täglichen Lebens gar nicht so fern. Wir benutzen ihn z. B. bei elementaren Rechenoperationen, wenn wir etwa mehrstellige Zahlen multiplizieren und dabei die Ziffernreihe vor der Addition nach links einrücken; inhaltlich gedacht bedeutet dieses Einrücken eine Multiplikation mit 10, aber niemand ist sich bei der Ausführung der Multiplikation dieser inhaltlichen Bedeutung bewußt – erfreulicherweise übrigens, denn erst durch diesen Formalisierungsprozeß erhält das praktische Rechnen seine Sicherheit. Andere Beispiele solcher Formalisierung im täglichen Leben sind die Gebrauchsanweisungen, die etwa der Anwendung von chemischen Mitteln oder Maschinen im Haushalte beigegeben werden. Auch hier wird das Denken auf die Handhabung äußerer Kennzeichen eingestellt, etwa das Drehen eines bestimmten Zeigers, ohne Erinnerung an die damit inhaltlich gemeinte sinnhafte Funktion. Die Durchführung der mathematisch-logischen Probleme hat einen großen Kreis von Mathematikern und Logikern auf den Plan gerufen, und wir sehen hier eine lebendige Wissenschaft am Werke, in der ein wichtiger Teil der neuen Naturphilosophie, die neue Logik, ihre Ausbildung fi ndet. Es muß als eine außerordentliche Verkennung philosophischer Problematik angesehen werden, wenn diese Untersuchungen als »rein innermathematisch« und »unphilosophisch« bezeichnet werden – werden doch in ihnen Probleme behandelt und weitergeführt,
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die von jeher der Philosophie zugerechnet wurden, die aber bisher nur eine sehr unbefriedigende Antwort gefunden haben.
V. Endlich behandeln wir in einem weiteren Abschnitt einige übergreifende Probleme, die man nicht unmittelbar einer Einzelwissenschaft zuordnen kann, da sie über mehrere Einzelwissenschaften hinweggreifen. Selbstverständlich hat die Naturphilosophie auch mit solchen Problemen zu tun, der Übergang von den Problemen der Einzelwissenschaften zu derartigen übergreifenden Problemen ist ja nur ein gradueller; so kann z. B. das Problem des Naturgesetzes nicht allein auf die Physik beschränkt werden, da wir es bereits in der Biologie anschneiden mußten. Im folgenden möchten wir zuerst das Realitätsproblem erwähnen, welches in seiner Kritik des Existenzbegriffs die gesamte Naturwissenschaft betrifft. Auch dieses Problem ist ja uralt; es hat bekanntlich im vergangenen Jahrhundert eine sehr interessante Wendung durch den Gedanken des Positivismus gefunden, der von Ernst Mach, Avenarius, später Cornelius und anderen ausgebildet wurde. Der Positivismus behauptet, daß das in der Wahrnehmung vorliegende Erlebnis das Element sei, an welches alle Realitätsaussagen allein angeknüpft werden können. Was wir dem Wahrnehmungserlebnis als sogenannte Dinge der Außenwelt hinzufügen, ist nur gedankliche Konstruktion, die wir zwischen die Wahrnehmungselemente einschalten. Wenn etwa der Astronom eine Sonnenfinsternis prophezeit, so vollzieht sich dies folgendermaßen: Er beobachtet Gestirne, d. h. er hat gewisse Wahrnehmungserlebnisse von hellen und dunklen Flecken am Himmel; er deutet nun diese Wahrnehmungserlebnisse durch eine Theorie, in welcher riesenhafte Weltkörper wie Sonne, Erde und Mond vorkommen, die umeinander kreisen, und schließt aus ihren Gesetzen auf neue Wahrnehmungserlebnisse, nämlich gewisse helle und dunkle Flecken, wie wir sie dann bei der Fin-
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sternis tatsächlich beobachten. Nach dem Gedanken des Positivismus ist nun der ganze »außenweltliche« Teil dieses Prozesses lediglich ein Hilfsmittel zur Konstruktion eines Zusammenhanges zwischen dem ersten und zweiten Wahrnehmungserlebnis; es sei danach nicht nötig, von existierenden Dingen außer uns zu sprechen, sondern mit der Behauptung des Zusammenhangs zwischen den Wahrnehmungserlebnissen sei bereits alles gesagt, was hier überhaupt zu sagen ist. Während der Positivismus in seiner ursprünglichen Form noch wesentlichen Einwänden unterlag, die auch von den älteren Positivisten niemals befriedigend widerlegt wurden, ist dem Positivismus neuerdings durch Carnap eine Form gegeben worden, für die diese Einwände nicht mehr gültig sind. Für Carnaps Verfahren ist es charakteristisch, daß er die Methoden der mathematischen Logik auf das Erkenntnisproblem in positivistischer Verfassung anwendet – und damit zu einem »logistischen Neupositivismus« kommt, der nun mit ganz anderer Festigkeit dasteht. Vor allem ist es der logistische Gedanke der Definition durch Aussagenzuordnung, den Carnap benutzt und zu einer Konstitution der Begriffe verwendet. Danach werden nicht mehr einzelne Begriffe definiert, so wie es etwa die alte Logik macht, wenn sie durch genus proximum und differentia specifica definiert (etwa: der Löwe ist ein Raubtier von den und den Eigenschaften), sondern es wird ein Satz, der den neuen Begriff enthält, zugeordnet einem Satz (oder einer Satzgruppe) von gänzlich anderer logischer Struktur, um damit eine Definition des ersten Satzes zu geben. Hier wird also nicht ein Begriff, sondern ein Satz definiert, in dem der Begriff vorkommt. So definiert Carnap auch den Satz »die Dinge existieren« durch den Satz »zwischen Wahrnehmungen besteht eine bestimmte Gesetzlichkeit«. Die üblichen Einwände gegen den Positivismus, wonach die Dinge für den Positivisten nicht existieren würden, wenn sie nicht gerade wahrgenommen werden usw., werden durch diesen Gedanken hinfällig. Wir wollen damit nicht sagen, daß wir deshalb die Carnapsche Fassung des Realitätsproblems
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für zutreffend halten; im Gegenteil scheint es uns, daß sich einige prinzipielle Einwände auch gegen die Carnapsche Formulierung erheben lassen, deren Diskussion hier jedoch zu weit führen würde.25 Unabhängig davon jedoch möchten wir feststellen, daß durch die Carnapsche Fassung das Realitätsproblem überhaupt erst eine greifbare Form angenommen hat; die Erkenntnistheorie wird an dieser Fassung ihren Ausgang zu nehmen haben und durch systematische Kritik zu einer Lösung dieses uralten philosophischen Problems aufsteigen müssen. Endlich seien in dem Kreis der übergreifenden Probleme noch kurz die Probleme von Wollen und Tun gestreift, wie sie sich um das Problem der Willensfreiheit konzentrieren. Dieses Problem ist bisher von philosophischer Seite stets unter dem Gesichtspunkt gesehen worden, daß für das Naturgeschehen strenge Kausalität gilt; und alle vorgebrachten Lösungen haben in einer Auseinandersetzung mit dieser für selbstverständlich angesehenen Auffassung der Kausalität bestanden, gleichgültig ob sie nun zu einer Verneinung der Willensfreiheit oder zu ihrer Bejahung geführt haben oder ob sie das Willensfreiheitsproblem als ein Scheinproblem hingestellt haben. Nachdem nun durch die Kritik der physikalischen Erkenntnis diese Voraussetzung gefallen ist, entsteht für das Willensfreiheitsproblem eine ganz neue Fragestellung. Freilich wäre es kurzsichtig, in der Aufhebung des strengen Kausalgeschehens und der Einführung des Wahrscheinlichkeitszusammenhanges schon eine Rechtfertigung für die Freiheit des Willens zu sehen. Denn die Unbestimmtheit des zufälligen Ereignisses ist nicht ohne weiteres das, was wir mit Unabhängigkeit des Willens meinen. Andererseits erscheint es uns ebenso kurzsichtig, die neue Problemstellung für die Frage der Willensfreiheit damit abzulehnen, daß es sich bei psychologischen Vorgängen stets um Massenerscheinungen molekularer Prozesse handelt und wir es deshalb dort mit Vorgängen von so großer Wahrscheinlichkeit zu tun haben, daß wir sie praktisch als Gewißheit betrachten können. Wenn für das tägliche Leben zwischen großer Wahrscheinlichkeit und Gewißheit praktisch
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kein Unterschied besteht, so gilt dies doch keinesfalls für das theoretische Denken; im Gegenteil kommt für das Willensproblem gerade auf diesen Unterschied alles an. Und zudem ist es keineswegs ausgemacht, daß wir es in psychologischen Vorgängen stets mit großen Wahrscheinlichkeiten zu tun haben. Wir glauben deshalb, daß auch dieses uralte philosophische Problem im Rahmen der neuen Auffassung von Naturgesetzlichkeit eine neue Lösung finden wird, obwohl wir noch nicht in der Lage sind, hierzu Näheres zu sagen. Was sich bisher feststellen ließ, ist, daß sich unter Berücksichtigung des Wahrscheinlichkeitszusammenhangs der Ereignisse ein eigenartiger Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft ergibt, der für das Problem der Willensfreiheit von allergrößter Bedeutung ist und von dessen Auswertung wir eine Auflösung auch für das Willensfreiheitsproblem erhoffen.
VI. Wir sind damit am Ende unserer Durchmusterung der gegenwärtigen Naturphilosophie angekommen. Daß es echte philosophische Probleme sind, die hier mit neuen wissenschaft lichen Methoden behandelt werden, dürfte hinreichend deutlich geworden sein. Fassen wir noch einmal ihre methodischen Grundzüge in kurzer Charakterisierung zusammen. Zunächst bedeutet solche Naturphilosophie einen großartigen Triumph des Rationalismus.26 Für das menschliche Erkenntnisvermögen sind keine Grenzen gezogen, es vermag alle Probleme, soweit wir dies bisher beurteilen können, mit überwältigender Durchleuchtungskraft zu durchdringen. Aber die ratio, von der hier die Rede ist, ist nicht jene dogmatische ratio des älteren Rationalismus, die aus einem System kategorialer Schubfächer bestand, in welche alle Erkenntnis gewaltsam hineingepreßt wird; sondern diese ratio ist selbst wandelbar, ist einer Entwicklung unterworfen, zu der sie durch die Forderung der ständigen Anpassung an die Erfahrung gezwungen wird. Diese Entwicklung
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des Denkens über seine eigenen Grenzen hinaus scheint uns den hervorragendsten Grundzug zu enthalten, den moderne philosophische Forschung in der Analyse wissenschaft licher Erkenntnis aufzudecken vermochte. Ebensosehr muß aber diese Naturphilosophie als ein Triumph des Empirismus angesehen werden, denn die Erfahrung wird als entscheidende Instanz für alle Wirklichkeitsaussagen festgehalten. Wird doch die Erfahrung sogar herangezogen, um die Geltung jener letzten Kategorien zu beurteilen, welche die ältere Philosophie a priori genannt hat. Moderner Empirismus ist aber kein Widerspruch zu Rationalismus; denn Erkenntnis wird hier als ein von der Vernunft konstruier tes System gefaßt, 27 für welches die Erfahrung nur eine regulative, eine auswählende Funktion besitzt. Verzichtet wird aber, wie wir schon sagten, auf notwendige Voraussetzungen der konstruierenden Vernunft; diese selbst unterliegt vielmehr ebenfalls der regulativen Funktion der Erfahrung. Endlich möchten wir als einen wesentlichen Zug der neuen Naturphilosophie noch das Prinzip der Technisierung nennen, durch welches sie groß geworden ist. Sie hat sich Werkzeuge geschaffen, technische Hilfsmittel, wie die symbolische Logik, die axiomatische Methode u. a.; sie ist in eine großartige Maschinisierung des Denkens ausgemündet, indem sie die gewaltige Denkmaschine der positiven Wissenschaften für philosophische Zwecke eingespannt hat.28 Manche Philosophen wollen diese Entwicklung bedauern, indem sie der früheren intuitiven Form des Philosophierens den menschlichen Vorrang geben. Uns erscheint solche Einstellung als Romantik, als Belastung der Gegenwartssituation mit Gefühlswerten, die in vergangene Epochen gehören. Es hat keinen Sinn, die Situation, in die wir historisch gesetzt sind, mit Wertmaßstäben vergangener Zeiten zu messen; wir können uns unser Schicksal nicht aussuchen, wir stehen darin und müssen mit ihm gehen, wenn wir leben wollen. Wer sich in diesem Sinne in die neue Naturphilosophie hineingelebt hat, wer die gewaltigen Kräfte, die in ihr am Werke sind, einmal als Quelle zu wirklicher Erkenntnis gespürt hat, der ist
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frei von Ressentiments des Vergangenen und fügt sich ein in ihre technisierte und organisierte Arbeitsweise. So steht die neue Naturphilosophie da, noch jung, durchaus in den Anfängen, und doch schon von scharf umrissener Prägung und klarem Fortschreiten. Noch ganz im Wachsen, ist sie doch schon heft ig umstritten. Die einen erkennen in ihr die Fortsetzung der großen erkenntnistheoretischen Entwicklungslinie der Vergangenheit, nur mit ganz neuen, aus dem Reichtum des fachwissenschaft lichen Erkenntnisschatzes gewonnenen Arbeitsmethoden; die anderen können zwar der logischen Schärfe solcher Philosophie nichts entgegensetzen, nennen sie aber uninteressant, abwegig und vermissen in ihr gewisse Fragen und Antworten, die ihnen wesent lich erscheinen. Wie ist es möglich, daß so verschiedene Meinungen über dieselbe Sache sich bilden können? Man muß sich darüber klar sein, daß es in diesem Streit nicht um sachliche Leistung oder Richtigkeit geht, sondern um eine ganz persönliche Stellungnahme, eine persönliche Bewertung wissenschaft lichen Denkens überhaupt. Zwei Menschentypen stehen sich hier in solcher Stellungnahme gegenüber. Der naturwissenschaft liche Mensch ist der eine; ihm geht es um das Wissen, um das Erkennen von Sachverhalten, und er wird deshalb in einer Philosophie, die von dem gleichen Geist getragen ist wie die naturwissenschaft liche Forschung selber, den allein möglichen Weg philosophischer Forschung sehen. Der literarische Mensch ist der andere Typ; ihm geht es um den Menschen, um das Verstehen seiner emotionalen Erlebnisse, und das objektive Betrachten logisch-erkenntnistheoretischer Verhältnisse ist ihm wesensfremd. Diesem zweiten Typ gehören diejenigen an, die die Naturphilosophie bekämpfen und ihr die Lebensberechtigung absprechen wollen. Ich nenne diesen Typ den literarischen Menschen, weil der Literat sein extremer Vertreter ist; er fi ndet sich jedoch in schwächerer Ausprägung unter Menschen aller Berufsklassen, merkwürdigerweise sogar vereinzelt unter Naturwissenschaft lern oder Mathematikern selbst; wenigstens zeigen einzelne Vertreter dieser Fächer gelegentlich, sowie sie
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sich mit Philosophie beschäft igen, mit besonderem Stolz den Typus des literarischen Menschen zur Schau. Nun soll hier keineswegs die Meinung vertreten werden, daß die Einstellung auf das Verstehen menschlicher Erlebniszusammenhänge eine überflüssige oder gar sinnlose Tätigkeit sei; was wir nur bekämpfen, ist der Versuch dieser Richtung, ihr Gebiet zu überschreiten und an jener wissenschaft lich orientierten Philosophie Kritik zu üben, die die naturwissenschaft lichen Menschen geschaffen haben. Ich stelle gern fest, daß dieser Vorwurf nicht den literarischen Menschen schlechthin trifft, denn es gibt hier einen erfreulichen Kreis weiter Blickender, der das Eigenrecht des anderen Typs und zugleich die Grenzen des eigenen Typs erkannt hat; aber die überwiegende Zahl der literarischen Menschen steht der Naturphilosophie ablehnend gegenüber. Ja, es geht hier nicht nur um eine Kritik; vielmehr wird von dieser Seite eine Philosophie von eigenartiger Struktur konstruiert, die mit dem Anspruch, erst die eigentliche Philosophie zu sein, der Welt vorgelegt wird. Diese Philosophie muß man bezeichnen als einen rationalen Überbau über den emotionalen Erlebnissen des Menschen. Es wird eine Theorie der Erkenntnis, eine Auffassung vom Sein, ja zuweilen eine Art Kosmogonie entwickelt, welche offensichtlich ohne jede Rücksicht auf logisch-erkenntnistheoretische Einsichten aufgerichtet und zu nichts anderem da sind, als gefühlsmäßige Einstellungen in das Scheingewand eines wissenschaft lichen Begriffssystems einzukleiden. Es mag sein, daß diese Form von Begriffsdichtung den Kreis ihrer Verehrer in gleichem Grade innerlich beglückt, wie dies theologische und mythologische Systemkonstruktionen schon seit Jahrtausenden für ihre Gläubigen vermocht haben; aber es ist die Tragik aller Verfechter solcher Denkweisen, daß sie die Grenzen ihres Tuns nicht erkennen, daß sie den bildhaften Ausdruck von Gefühlserlebnissen für wissenschaft liche Erkenntnis halten und einer wissenschaft lichen Philosophie entgegenzusetzen wagen. Es gibt freilich historische Vorgänger genug für solche Verwechslung gefühlsmäßiger, oft religiöser Stellungnahme mit wissenschaft licher Erkenntnis. Eine Ethik nach geometrischer Methode
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zu entwickeln, ist vielleicht der markanteste Versuch dieser Art gewesen. Gerade in diesem Fall ist übrigens die Ethik von hohem menschlichem Niveau – nur die geometrische Methode ist vollständig mißlungen. Heute ist zwar die geometrische Methode in diesem Kreise weniger modern; dafür wählt man andere Methoden. Der bildhafte Charakter solcher Philosophie liegt trotz aller wissenschaft lichen Verbrämung offen zutage. Was uns heute als neue Metaphysik oder Ontologie29 mit den größten Ansprüchen vorgesetzt wird, und sei es durch Persönlichkeiten von menschlichem Format, ist durchweg nichts anderes als solche Scheinwissenschaft. Was soll es eigentlich heißen, daß das Sein sich auf die Sorge gründet 30 oder daß die Negation und das Nichts mit dem Phänomen der Angst zusammenhängt, wenn damit etwas anderes als eine Art begriffsmusikalische Widerspiegelung von Gefühlserlebnissen gemeint sein soll? Für den theoretischen Denker sind solche Behauptungen inhaltsleer, auch wenn ihnen heute eine große Schar von Anhängern bewundernd nachgeht – in der leider durch nichts gerechtfertigten Hoff nung, dadurch das Wesen von Sein und Zeit jemals verstehen zu können. Wenn die moderne Naturphilosophie auf jeden Wettstreit mit solcher literarischen Philosophie verzichtet, so soll damit keineswegs die Beschäftigung mit Problemen der Wertordnung des Gefühlslebens als sinnlos hingestellt werden. Was wir bestreiten, ist nur die Möglichkeit einer wissenschaft lichen Behandlung solcher Fragen. Und blickt man genauer hin, so hat die Entwicklung des sozialen Lebens unserer Zeit schon von sich aus die Nutzlosigkeit solcher scheinphilosophischen Versuche dargetan. Denn immer deutlicher hat sich gezeigt, daß die entscheidenden neuen Einsichten vom Sinn des Lebens, seien es neue Vorstellungen vom Leben in der menschlichen Gemeinschaft oder von der Stellung der Frau zum Mann oder von der Erziehung der Kinder und dem Sinn der Jugend oder von dem Sinn des Tageslebens mit seiner Teilung in Arbeit und Freizeit – daß alle diese Einsichten nicht von spekulierenden Philosophen gefunden wurden, sondern von den Menschen, die im praktischen Leben stehen, denen aus ihrer Tätigkeit heraus neue Wert vorstellungen erwachsen,
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die sie durch die Macht ihrer Persönlichkeit auf andere zu übertragen wußten. Gerade die Entfremdung von den umwälzenden soziologischen Prozessen unserer Zeit ist der Grund, warum so vieles, was von akademischer Seite über diese Dinge gesagt wird, so eigentümlich dürr und lebensfern erscheint. Erst im konkreten Tun können Werteinsichten erwachsen, wie sie die pseudowissenschaft liche Ana lyse emotionaler Haltungen niemals zutage fördert. Es liegt nahe, hier eine Parallele zu der von uns dargelegten Entwicklung der Erkenntnistheorie zu ziehen. Hatten wir dort gezeigt, daß nicht die Analyse der Vernunft, sondern erst die Tätigkeit der positiven wissenschaft lichen Forschung jene neuen Einsichten logisch-erkenntnistheoretischer Art hervorzurufen vermag, auf denen sich moderne Erkenntnistheorie gründet, so dürfen wir die Entwicklung der wertenden Haltung des heutigen Menschen unter ähnlichen Gesichtspunkten sehen: Auch hier erweist sich, daß unter Umständen Tun ein besserer Weg zur Einsicht ist als Denken, 31 zumindest wenn das Denken sich in den Maschen eines pseudo-erkenntnistheoretischen Systems verfängt. Wer heute über den Sinn des Daseins etwas sagen will, der hüte sich vor Begriffsanalysen; er gehe als Angestellter oder Arbeiter in die Fabriken oder als Lehrer in die Schulen oder als Arzt unter die Kranken oder als Mit kämpfer in soziale Bewegungen – dann hat er zur Wertbildung unseres Zeitalters etwas zu sagen. Aber er verzichte auf rationale Konstruktionen – die überlasse er dem theoretischen Denken, der wertfreien Erforschung der Sachverhalte, in der allein wissenschaft liche Philosophie bestehen kann. Erst solche reinliche Scheidung vermag den Streit um das Wesen der Philosophie zu klären. Wer der Naturphilosophie zum Vorwurf macht, daß sie »den letzten Dingen« geflissentlich aus dem Wege ginge, der trägt damit nichts als die falsche Anforderung in die Philosophie hinein, durch rationale Systemkonstruktion gewisse wertende Einstellungen zur Welt zu rechtfertigen. Die wissenschaft liche Naturphilosophie lehnt solche unmögliche Aufgabe bewußt ab. Wenn man ihr deshalb den Namen der Philosophie bestreitet, in der Ansicht, daß traditionell alle
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Philosophie sich gerade solche Ziele gesteckt habe, so heißt dies, die philosophischen Ansätze der Vergangenheit entscheidend mißverstehen. Gewiß hat es solche Tendenzen in der Philosophie immer gegeben; aber der Name Philosophie bezeichnet einen so umfassenden Komplex von gedanklichen Ansätzen, daß man ihn keinesfalls auf gerade solche unmögliche Zielsetzung beschränken kann. Mindestens ebenso mächtig, ja, wie uns scheint, von unvergleichlich tieferer Fundierung ist in der traditionellen Philosophie der Wunsch, zu erkennen,32 gewisse Grundprobleme von Natur und Leben zur theoretischen Auflösung zu bringen, sei es, indem man die Fragen erst einmal richtig stellen lehrt, sei es, indem man sie in ganz bestimmter inhaltlicher Weise beantwortet. Gerade die überragenden Persönlichkeiten unter den Philosophen haben sich diese Aufgabe gestellt; und eben dieser Zielsetzung verdanken sie ihre historische Auswirkung. Viele von diesen alten Problemen haben wir in unserer Darlegung über die Problemlage moderner Naturphilosophie gefunden: Ich nenne nur das Lebensproblem, das Raum-Zeit-Problem, das Problem der Gesetzlichkeit der Natur, das Problem der Realität der Außenwelt, das Problem der Willensfreiheit. Viele weitere Probleme, welche über diesen Kreis hinaus die moderne Naturphilosophie beschäft igen, sind organische Weiterentwicklungen auf dem Wege theoretischer Erkenntnisforschung; ich nenne nur das Wahrscheinlichkeitsproblem, die ganze symbolische Logik oder auch das Problem der Erfassung psychologischer Erscheinungen mit Hilfe von Gestaltbegriffen. Nur wer im Sinne solcher theoretischen Einstellung, mit dem Ziele der Erkenntnis von Sachverhalten, an die Philosophie herangeht, kann über die neue Naturphilosophie und ihre Leistungen urteilen. Das Recht zu ihrer Arbeit aber braucht solche theoretische Philosophie nicht zu begründen, auch wenn sie für wertende Einstellungen im Leben keine direkte Basis abgeben kann. Denn theoretische Erkenntnis trägt ihren Wert in sich; sie ist eine lebensnotwendige Triebbefriedigung wie andere Lebensnotwendigkeiten auch.33 Freilich, dem ausschließlich literarisch eingestellten Menschen wird diese Einsicht nie vollziehbar sein; aber
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er spricht doch nur wie ein Blinder von der Farbe, wenn er erkenntnistheoretische Besinnung, logische Bewußtmachung von Erkenntnismethoden unwesentlich oder lebensfern nennt. Das Leben der Wissenschaft ler ist voll von diesen Dingen, und sie zu fassen und zu deuten ist tiefster Wunsch aller derer, deren Augen einmal den philosophischen Blick getan haben. Das haben auch die Philosophen vor 2000 Jahren schon gewußt – wenn einem unhistorischen Philosophen eine historische Bemerkung einmal gestattet ist – und sie haben die Antwort auf ihre Weise, mit ihren Denkmitteln zu geben versucht. Die Antwort, die uns zu finden aufgegeben ist, werden wir allein mit den Denkmitteln unserer Zeit geben können, wie sie vor allem in der mathematischen und naturwissenschaft lichen Methode ausgebildet worden sind. Solche gegenwartsbestimmte Einstellung ist der Weg, solche gegenwartsbewußte Wendung der theoretischen Philosophie ist das Ziel der neuen Naturphilosophie.
Zum genaueren Studium der einzelnen naturphilosophischen Probleme seien die folgenden Schriften empfohlen, die jedoch nur eine kurze Auswahl darstellen: Bertalanff y, Ludwig von: Kritische Theorie der Formbildung, Berlin 1928. Carnap, Rudolf: Physikalische Begriffsbildung, Karlsruhe 1926. –: Scheinprobleme in der Philosophie, Leipzig 1928. –: Der logische Aufbau der Welt, Berlin 1928. Dubislav, Walter: Die Definition, 3. Aufl., Leipzig 1931. Feigl, Herbert: Theorie und Erfahrung in der Physik, Karlsruhe 1929. Reichenbach, Hans: Relativitätstheorie und Erkenntnis apriori, Berlin 1920. –: Philosophie der Raum-Zeit-Lehre, Berlin 1928. –: »Ziele und Wege der physikalischen Erkenntnis«, in: Handbuch der Physik, hrsg. von Hans Geiger und Karl Scheel, Bd. 4. Berlin 1929, S. 1–80.
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–: Atom und Kosmos. Das physikalische Weltbild der Gegenwart, Berlin 1930. Russell, Bertrand: Einführung in die mathematische Philosophie, übersetzt von E. J. Gumbel und W. Gordon, München 1923. –: Unser Wissen von der Außenwelt, übersetzt von Walther Rothstock, Leipzig 1926. –: Die Probleme der Philosophie, übersetzt von Paul Hertz. Leipzig 1926. –: Die Analyse des Geistes, übersetzt von Kurt Grelling, Leipzig 1927. –: Philosophie der Materie, übersetzt von Kurt Grelling, Leipzig 1929. Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, 2. Aufl. Berlin 1925. Zeitschrift Erkenntnis, hrsg. von Rudolf Carnap und Hans Reichenbach, Leipzig: Dort auch ausführliche Literaturverzeichnisse.
DER LOGISTISCHE EMPIRISMUS IN DEUTSCHLAND UND DER GEGEN WÄRTIGE STAND SEINER PROBLEME
I. Bereits seit dem Beginn des philosophischen Denkens im antiken Griechenland entwickelten viele Denker das Programm des Empirismus. In unseren Tagen hat sich in der historischen Entwicklung des Empirismus eine Wende vollzogen, die neue Sichtweisen alter Probleme eröffnet, so wie sie auch auf neue Probleme ein Licht wirft, und die so zu einer neuen Epoche der philosophischen Analyse geführt hat. Diese Wendung wurde durch Entwicklungen in den Naturwissenschaften im letzten Jahrhundert eingeleitet. Während die Philosophen eifrig metaphysische Systeme aufbauten – Hegel etwa glaubte auf diese Art die endgültige Wahrheit gefunden zu haben –, gaben die Natur wissenschaften die speku lative Konstruktion auf und begannen mit einer kritischen Untersuchung ihrer Grundbegriffe. Diese erkenntnistheoretische Wende der Naturwissenschaft wurde durch eine Reihe wissenschaft licher Entdeckungen angestoßen, die zu einer Revision des Stils des herkömmlichen philosophischen Denkens zwangen. Es waren die Jahre, als Riemann und Helmholtz angesichts der Entdekkung nichteuklidischer Geometrien die Grundlagen der Geometrie erörterten; als Darwin zeigte, daß die scheinbar zielgerichteten Tendenzen des organischen Lebens durch Einführung der statistischen Auslese, des sogenannten Kampfes ums Dasein, auf kausale zurückgeführt werden konnten; als Mathematiker wie Boole, de Morgan, Hamilton und Schröder eine mathematische Form für die alte Wissenschaft der Logik schufen. Später fanden diese Tendenzen eine bewußte philosophische Formulierung in den von Mach und anderen geschaffenen Systemen des Positivismus und in den von Peirce, James und Dewey verkündeten und ausformulierten Lehren des Pragmatismus.
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Die Bewegung, einmal im Gange, nahm an Stoßkraft zu. Cantor entwickelte in der Mathematik einen allgemeinen Mengenkalkül. Russell gelang eine fruchtbare Synthese aller neuen Ansätze in der Logik und Mathematik. Mathematiker wie Hilbert übernahmen diese Ergebnisse und versuchten, sie der Schaff ung besserer Grundlagen für die Mathematik dienstbar zu machen. Da die Gewißheit der Mathematik zum ersten Mal in der Wissenschaftsgeschichte in Frage gestellt worden war, wollte er einen Widerspruchsfreiheitsbeweis fi nden. Einstein griff die Ideen von Riemann und Helmholtz auf, verband sie mit einer überraschenden Kritik des Zeitbegriffs und setzte die Welt mit einer neuen Theorie der Raum-Zeit in Erstaunen, die alle herkömmlichen Betrachtungsweisen der Philosophen weit hinter sich ließ. Die Quantentheorie legte in den Händen von Heisenberg und Bohr endgültig die Axt an den dogmatischen Kausalitätsbegriff, der bereits durch erkenntnistheoretische Kritik ins Wanken geraten war.1 Dies ist der allgemeine Hintergrund, den wir bei unserem Versuch beachten müssen, Ursprung, Absicht und Entwicklungstendenz der neuen Bewegung unter den deutschsprachigen Philosophen zu bestimmen, die eine wissenschaft liche Philosophie verbreiteten. Die Mitglieder dieser Gruppe verbindet nicht das Festhalten an einem philosophischen »System«, sondern die Gemeinsamkeit ihrer Arbeitsmethoden – die Ansicht, daß philosophische Probleme als wissenschaft liche zu behandeln sind, deren Lösungen dann allgemeiner Anerkennung fähig sind. Mit anderen Wor ten, philosophische Probleme unterscheiden sich nicht grundsätzlich von Problemen in den positiven Wissenschaften. Die Stärke dieser Gruppe liegt in ihrem gemeinsamen Arbeitsprogramm und nicht in einer gemeinsamen Doktrin – einem Programm, das sie von philosophischen Sekten unterscheidet und einen Fortschritt der Forschung ermöglicht. Dieses Programm entstammt keiner spontanen Eingebung. Es ist nichts weiter als die Ausformulierung der Tendenz, die oben bereits skizziert wurde. Der einzige bedeutende Fortschritt, den es beisteuert, liegt in der bewußten Ausarbeitung
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einer bisher nur instinktiv ak zeptierten Methode und in der organisierten Zusammenarbeit auf der Grundlage einer gemeinsamen Methode an Stelle unzusammenhängender vereinzelter Bemühungen. Diese Kooperation hat zu einigen interessanten wissenschaft lichen Ergebnissen geführt wie auch zu wachsendem Interesse einer breiten Öffentlichkeit an der Theorie und der Logik der wissenschaft lichen Methode.
II.
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Das Programm der Analyse der Wissenschaft als philosophische Methode wurde im Rahmen der hier interessierenden Bewegung zuerst vom Verfasser im Jahre 1920 veröffentlicht.1 Er forderte die Einführung einer »wissenschaftsanalytischen Methode« in die Philosophie, im bewußten Gegensatz zur Kantischen Auffassung der Philosophie als einer Methode zur Analyse der »Vernunft«. Weiterhin behauptete er, daß die Kantische Methode im besten Falle nichts anderes als eine Analyse der Newtonschen Mechanik im Gewande eines Systems der reinen Vernunft sei. Nach der neuen Sichtweise war die »Vernunft« nur in der konkreten Form wissenschaft licher Aussagen faßbar – ein Gedanke, der später eine genauere Formulierung in der Carnapschen Konzeption der Philosophie als Analyse der Wissenschaftssprache fand.2 Der Verfasser machte sich dann sofort daran, dieses Programm in die Tat umzusetzen, und wandte sich einer eingehenden Analyse der Einsteinschen Theorie zu. Das Ergebnis war ein systematischer Aufbau der Raum-Zeit-Lehre2 mit einer Dar1
Siehe Hans Reichenbach, Relativitätstheorie und Erkenntnis apriori, Berlin: Springer, 1920, Kap. 7, S. 72. 2 Siehe Hans Reichenbach, »Bericht über eine Axiomatik der Einsteinschen Raum-Zeit-Lehre«, in: Physikalische Zeitschrift 22 (1921): 683– 687; Axiomatik der relativistischen Raum-Zeit-Lehre, Braunschweig: Vieweg, 1924; Philosophie der Raum-Zeit-Lehre, Berlin: de Gruyter 1928.
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stellung des methodologischen Charakters von Raum und Zeit (einer Kausaltheorie von Zeit und Raum) und einer philosophischen Begründung von Einsteins physikalischen Gedanken. Einige Jahre später entwickelte Carnap seine grundlegenden Gedanken des logischen Positivismus, die 1928 veröffentlicht wurden.3 Er verband die erkenntnistheoretischen Ideen Machs und anderer Positivisten mit Russells Logizismus; das Ergebnis ist seitdem unter dem Namen des logischen Positivismus bekannt. Diese Konstruktion wurde meist als ein neues »philosophisches System« rezipiert; doch ihre Bedeutung lag in Wirklichkeit in erster Linie darin, daß sie zwei getrennte Zweige der wissenschaft lichen Philosophie zusammenbrachte. Diese Verbindung von Logik und Empirismus wurde die Grundlage des für unsere Gruppe charakteristischen Forschungsprogramms. Carnaps Ideen gerieten in enge Berührung mit den Gedanken Wittgensteins, dessen 1922 veröffentlichte Theorien einige Jahre später in Wien in dem Kreis um Schlick grund legend weiterentwickelt wurden. Schlick hatte ursprünglich eine realistische Auffassung der Physik vertreten, 4 sich aber von Wittgensteins Ideen beeindruckt zum Positivismus bekehrt.3 Es war sein großes Verdienst, zusammen mit Carnap, für den er eine Dozentur an der Universität Wien erwirkte, eine Schule des Positivismus gegründet zu haben. So entwickelte sich der Wiener Kreis und gewann unter anderem Leute wie Hahn, Neurath und Waismann. Sollte ich die Gedanken dieses Kreises auf eine einfache Formel bringen, so würde ich sagen: Man versucht zu zeigen, daß ein Satz nur dann eine Bedeutung hat, 4 wenn er verifizierbar ist. Dieser Grundsatz, der in jeder Veröffentlichung des Kreises betont wurde, führte Carnap zum Positivismus; und er führte Wittgenstein und Schlick zur Leugnung der Existenz einer eigenständigen Philosophie, Carnap zur Reduktion der Philosophie auf Sprachanalyse – und alle zu ihrem Kampf gegen die 3
Siehe Rudolf Carnap, Der logische Aufbau der Welt, Berlin: Weltkreisverlag, 1928. 4 Moritz Schlick, Allgemeine Erkenntnislehre: Springer, Berlin, 1918.
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Scheinprobleme.5 Dieser Grundsatz hatte sogar einen großen erzieherischen Einfluß auf eine breite Öffentlichkeit. Die Idee einer wissenschaft lichen Philosophie gewann in diesen Jahren auch in Berlin an Boden. Es entstand die »Berliner Gruppe«, zu deren Mitgliedern Dubislav, Herzberg, Grelling und der Verfasser zählten. Man traf sich in Seminaren an der Universität Berlin und in der »Gesellschaft für wissenschaft liche Philosophie«, 6 deren öffentliche Sitzungen viele gebildete Laien anzogen. Im Sinne eines konkreteren Arbeitsprogramms, das auf die Analyse spezieller Probleme innerhalb der Wissenschaften abzielte, mied man alle theoretischen Grundsätze wie die von der Wiener Schule aufgestellten und widmete sich ausführlichen Untersuchungen im Bereich der Logistik, Physik 5 , Biologie und Psychologie. Im Zentrum der Ana lyse standen die Probleme der Wahrscheinlichkeit und der Induktion. Dazu wurde eine Verallgemeinerung der Logik entwickelt, in der die beiden Wahrheitswerte der Sätze, »wahr« und »falsch«, durch ein Kontinuum von Wahrscheinlichkeitswerten ersetzt wurden. 6 Die Wiener und die Berliner Gruppe wurden durch persönliche Freundschaften zusammengehalten, die die gemeinsame Arbeit begünstigten. Der erste öffentliche Ausdruck ihrer gemeinsamen Interessen und Arbeiten war die »Tagung für Erkenntnislehre der exakten Wissenschaften« in Prag 1929. Von 5
Eine mehr allgemeinverständliche Darstellung der modernen Physik in ihrem Verhältnis zur Philosophie durch den Verfasser ist Atom und Kosmos: Das physikalische Weltbild der Gegenwart, Berlin: Deutsche Buch-Gemeinschaft , 1930.nschaft, Berlin, 1930, 6 Zunächst stellte Dubislav dreiwertige Wahrheitstafeln für den Aussagenkalkül auf in: Journal für die reine und angewandte Mathematik 161 (1929), S. 107–112; hier S. 107. Die Analyse der Wahrscheinlichkeit und die Aufstellung einer »Wahrscheinlichkeitslogik« stammt vom Verfasser: »Axiomatik der Wahrscheinlichkeitsrechnung«, in: Mathematische Zeitschrift 34 (1932), S. 568–619; »Wahrscheinlichkeitslogik«, Sitzungsberichte, Preußische Akademie der Wissenschaften, physikalisch-mathematische Klasse 29 (1932), S. 479–490; vgl. auch sein Buch Wahrscheinlichkeitslehre, Leiden: Sijthoff Uitgeversmaatschappij, 1935.
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da an wurde diese Stadt zu einem weiteren bedeutenden Zentrum der Bewegung. Ihre deutsche Universität eröff nete Carnap ein Wirkungsfeld, und Frank war ihm eine fähige Stütze. 1930 folgte ein Kongreß in Königsberg, 1934 ein weiterer in Prag. Die Zusammenarbeit der beiden Gruppen fand einen wichtigen Ausdruck in der Gründung der Zeitschrift »Erkenntnis«, die gemeinsam von Carnap und dem Verfasser herausgegeben wurde.7
III. Ich möchte jetzt versuchen, die Ergebnisse dieser fünfzehn Jahre »wissenschaftsanalytischer Methode« in der Philosophie zusammenzufassen. Diese Ergebnisse könnte man in Form zweier großer Kreise anordnen, in deren Mittelpunkten das Problem des Apriori und das Problem der Bedeutung von Sätzen stehen. Das heißt nicht, daß keine anderen Probleme behandelt worden wären, doch fast alle lassen sich einem der beiden Kreise zuordnen. Es heißt auch nicht, daß man den ganzen Problemkomplex nicht auch anders, mit anderen Schwerpunkten, anordnen könnte. Doch die vorgeschlagene Einteilung dürfte für die Darstellung der Methoden, denen gefolgt wird, und der Ergebnisse, die erreicht wurden, brauchbar sein. Ich beginne mit dem ersten Problemkreis. Der Begriff des Apriori spielt eine wichtige Rolle in vielen wissenschaft stheoretischen Diskussionen. Hier macht sich der Einfluß Kants nicht nur in den verschiedenen Formen des Neukantianismus bemerkbar, sondern in fast jeder philosophischen Strömung, auch in denen, die angeblich gegen den Kantianismus eingestellt sind.7 Der letzte große Philosoph des Jahrhunderts der 7
Erscheint seit 1930 im Verlag Felix Meiner, Leipzig. Weitere Bemerkungen zur Geschichte der Bewegung fi nden sich in Otto Neurath, »Historische Anmerkungen«, in: Erkenntnis 1 (1930), S. 311–314, sowie in der »Chronik« in den folgenden Jahrgängen.
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Aufk lärung hatte in der Tat gute und hinreichende Gründe für die Entwicklung der Lehre vom synthetischen Apriori. Er nahm wahr, wie die menschliche Vernunft zu einem leistungsfähigen Werkzeug der Erkenntnis heranwuchs; er sah, wie die empirischen Gesetze der Ga lileischen Mechanik in der Newtonschen Gravitationstheorie eine vernünft ige Begründung erfuhren; er erkannte die Sonderstellung der Euklidischen Geometrie, die gleichzeitig ein deduktives System der Vernunft und Beschreibung einer beobachtbaren Eigenschaft der räumlichen Ausdehnung war; und er erlebte das Scheitern von Humes Versuchen mit, eine Rechtfertigung der Induktion zu finden, nachdem er ihre Rätsel dargelegt hatte. Kants Theorie des synthetischen Apriori schien eine sehr glückliche Erklärung für die gesetzgebende Kraft der menschlichen Vernunft zu sein. Doch seit den Tagen Kants haben die wissenschaft lichen Probleme eine tiefgreifende Ent wicklung erfahren. Die Ant wort auf die Kantische Frage war die völlige Ausschaltung des synthetischen Apriori. Diese Antwort wurde Schritt für Schritt erarbeitet: durch die Entdeckung nichteuklidischer Geometrien, durch die logische Theorie der Mathematik, durch die Verwerfung der mechanischen Grundlage der Physik und durch die relativistische Kritik des Zeit- und Raumbegriffs. Man kann die Entwicklung der Naturwissenschaft im letzten Jahrhundert als stetige Auflösung des Kantischen synthetischen Apriori ansehen. Ich möchte das alles hier nicht behandeln, sondern mich auf die Beiträge beschränken, die der Bewegung aus der Wiener und der Berliner Schule der heutigen deutschen Philosophie zuflossen. 8 Vom Auftauchen eines philosophischen Gedankens bis zu seiner endgültigen Formulierung ist es ein weiter Weg. Er ist gekennzeichnet durch kritischen Widerstand, verbesserte Darlegung und Neuformulierung auf umfassenderer und besserer Grundlage. Die Auflösung des Apriori hat alle diese Stadien durchschritten. Es gab Arbeit genug für eine Gruppe von Forschern, für die die Analyse wissenschaft licher Aussagen mit der philosophischen Methode zusammenfiel. Man widmete sich
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der Ausmerzung früherer Fehler und der Ent wicklung einer abschließenden Erkenntnistheorie, in der es kein synthetisches Apriori gab. Diese Arbeit wurde um so wichtiger, als neue Denkformen auftraten, deren Bedeutung noch nicht geklärt war. Die Einsteinsche Relativitätstheorie und der hitzige Streit um ihre Auslegung (dessen Hitze meist zu den natur wissenschaft lichen Kenntnissen der Gegner umgekehrt proportional war) stellte der Analyse neue Aufgaben; zunächst trat Verwirrung ein, zum Teil wegen der unzureichenden Darlegung der logischen Grund lagen der Physik durch die Physiker. Die nötige analytische Arbeit auf diesem Gebiet wurde von unserer deutschen Gruppe geleistet.9 Sie führte zur Unterscheidung der definitorischen und der empirischen Bestandteile der Relativitätstheorie, und zum erstenmal wurde ein brauchbarer Aufbau der Raum-Zeit-Lehre entwickelt, der alle philosophischen Anforderungen erfüllte.8 Dabei wurde die empirische Grund lage der Raum-Zeit-Begriffe unabhängig von Definitionen formuliert; es wurde gezeigt, daß die Raum-Zeit-Ordnung die allgemeine Ordnung der Kausalstruktur der Welt ist. Übrigens zeigte es sich, daß die Darstellungen der Theorie durch die Physiker einiger wesentlicher Korrekturen bedurften. So wurde die Abhängigkeit der Tatsachen vom Zustand des Beobachters10 beseitigt und durch den definitorischen Charakter bestimmter Festsetzungen (Zuordnungsdefinitionen) ersetzt. Auf diese Weise wurde die unhaltbare Vorstellung einer Mannigfaltigkeit individueller Zeiten ersetzt durch eine Mannigfaltigkeit von Definitionen der Zeitmessung (dieser Gedanke ist logisch völlig unabhängig von der Relativität der Bewegung), und der Terminus »Relativität« wurde nun gedeutet als Zulässigkeit jedes beliebigen Systems von Zuordnungsdefi nitionen. Auf psychologischem Gebiet gewann die Analyse des Begriffs der Anschauung immer größere Bedeutung. Im Zuge einer Weiterentwick lung der Helmholtzschen Gedanken wurde gezeigt, daß nichteuklidische Räume in genau demselben Sinne 8
Siehe FN 2.
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anschau lich sind wie der euklidische Raum.9 Damit war die sicherste Grundlage des Kantischen synthetischen Apriori, die der Anschauung, zerstört. Auf dem Gebiet der Arithmetik stand die logizistische Theorie Russells dem Brouwerschen Intuitionismus und dem Hilbertschen Formalismus gegenüber. Der Wiener Kreis (Hahn, Carnap, Waismann) trug zu dieser Diskussion bei, wobei man vom tautologischen Charakter der Logik ausging, den Wittgenstein verfocht. Auch hier wurde gezeigt, daß sich Standpunktunterschiede in Unterschiede willkürlicher Sprachdefinitionen übersetzen lassen. Der Kausalitätsbegriff, eine der Stützen von Kants Apriorismus, wurde eindringlich kritisiert. Man vertrat die antimetaphysischen Auffassungen Humes und Machs10 und untermauerte die empirische Theorie der Kausalität durch eingehende Analysen, nach denen sich das Kausalitätsprinzip als ein sehr allgemeines aposteriorisches Prinzip entpuppte. Die Vermutung, daß ein enger Zusammenhang zwischen Kausalität und Wahrscheinlichkeit besteht, wurde durch die Logik bestätigt und dabei der logische Vorrang des Wahrscheinlichkeitsbegriffs nachgewiesen. Das Kausalitätsprinzip ließ sich nur als ein Satz über die Grenzwerte von »Wahrscheinlichkeitsimplikationen« formulieren. In diesem Zusammenhang schlug der Ver fasser eine mögliche Verallgemeinerung des »Kausalzusammenhangs« der Welt zu einem »Wahrscheinlichkeitszusammenhang« vor.11 Diese wurde später in der Quanten9
Siehe Hans Reichenbach, Philosophie der Raum-Zeit-Lehre, a. a. O., 1928, S. 9–13. 10 Siehe Philipp Frank, Das Kausalgesetz und seine Grenzen, Berlin: Springer, 1932; Hans Reichenbach, »Die Kausalbehauptung und die Möglichkeit ihrer empirischen Nachprüfung«, in: Erkenntnis 3 (1932): 32–64, sowie weitere Artikel in Erkenntnis. 11 Siehe Hans Reichenbach, »Die Kausalstruktur der Welt und der Unterschied von Vergangenheit und Zukunft«, in: Sitzungsberichte, Bayerische Akademie der Wissenschaften, mathematisch-naturwis-
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mechanik durch das Heisenbergsche Unbestimmtheitsprinzip verwirklicht. Weitere Einzelheiten wollen wir uns in dieser Geschichte der kritischen Beseitigung des synthetischen Apriori ersparen. Es sei lediglich festgestellt, daß dieser Begriff auf keinem einzigen Wissenschaftsgebiet mehr Verwendung gefunden hat. Nur eine Frage widersetzte sich noch der Lösung, nämlich das Induktionsproblem. Es ließ sich allerdings zeigen, daß das Induktionsprinzip kein synthetisches Prinzip a priori war; das folgt aus dem allgemeinen Beweis, daß synthetische Voraussetzungen der Erkenntnis, auf gegebene Erfahrung angewandt, nicht notwendig zu einem widerspruchsfreien System führen.12 Doch auch der Humesche Beweis, daß das Induktionsprinzip weder analytisch noch aposteriorisch ist, blieb weiter gültig. So erschien die Tatsache, daß das Induktionsprinzip stets von der Wissenschaft (und auch im Alltagsleben) vorausgesetzt wird, als nicht vernünft ig begründet, und alle Lösungsversuche prallten ab. Nachdem alle anderen Bestandteile der Kantischen Philosophie ausgemerzt waren, stand das Humesche Problem, das zu Kants Theorie des synthetischen Apriori Anlaß gegeben hatte, immer noch so unbezwingbar da wie vor zweihundert Jahren. Ehe ich eine kurze Skizze der Antwort auf Hume gebe, möchte ich den zweiten oben genannten Problemkreis behandeln, der den Sinnbegriff zum Mittelpunkt hat.
senschaftliche Abteilung, München, Nov. 1925, S. 133–175; ders., »Das Kausalproblem in der Physik«, in: Die Naturwissenschaften 19 (1931): 713–722. 12 Vgl. FN 1; siehe auch Hans Reichenbach, »Kant und die Naturwissenschaft«, in: Die Naturwissenschaften 21 (1933), S. 601–606; S. 624– 626.
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IV. Die mit der Theorie der Bedeutung verbundenen Probleme waren anfangs das spezielle Arbeitsfeld der Wiener Gruppe. Die Diskussion ging von den Gedanken Wittgensteins und Carnaps aus. Beide bauten ihre Theorien auf zwei Grundsätzen auf, die man folgendermaßen formulieren könnte: 1. Jeder Satz muß als wahr oder falsch »entscheidbar« sein. 2. Zwei Sätze, für die angesichts beliebiger Beobachtungstatsachen stets dieselbe Entscheidung als »wahr« oder »falsch« herauskommt, haben den gleichen Sinn.
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Ich wähle diese Formulierung anstelle der Wittgensteinschen: »Einen Satz verstehen, heißt, wissen, was der Fall ist, wenn er wahr ist.«13 Es scheint mir vorteilhafter, den Grundsatz in zwei Schritten zu formulieren, indem zunächst das Postulat der Verifizierbarkeit eingeführt wird und anschließend die Definition der Sinngleichheit. So wird deut lich, daß der Begriff der Sinngleichheit dem des Sinnes vorgeordnet ist. Das Wort »Sinn« läßt sich dann definieren als die Klasse der Aussagen, die den gleichen Sinn haben. (Dieses logische Verfahren ist gebräuchlich, seit Russell es in seiner Theorie der Zahlen eingeführt hat.11) Dieser Theorie der Bedeutung fügte Wittgenstein eine Definition der Logik als der Gesamtheit der Tautologien hinzu.12 Eine Tautologie definierte er als eine Kombination von Elementarsätzen, die für alle möglichen Wahrheitswerte der Elementarsätze wahr bleibt. Damit war die Tautologie »sinnleer«, sie war wahr, sagte aber nichts aus. Die Wissenschaft wird nun definiert als die Gesamtheit der wahren oder falschen Sätze, und der »Inhalt der Wissenschaft« läßt sich definieren als die Gesamtheit der wahren Sätze einschließlich der Logik. Außerhalb der Wissenschaft gibt es nichts; alle Versuche, das »Unsagbare« zu sagen, führen zu sinnlosen Wortverbindungen (die sorgfältig von den leeren Sätzen der Logik zu unterscheiden sind). 13
Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 4.024.
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II. Radikaler Empirismus
Dieser erkenntnistheoretische Ansatz führte Wittgenstein zu einer Betonung der Negativität seiner Gedanken, insbesondere zu seiner Ablehnung einer eigenständigen Philosophie, die sich mit Sätzen »über die Wissenschaft« beschäft igt. Carnap entwikkelte ähnliche Gedanken;14 er gebrauchte den Begriff der Sinnlosigkeit zum Angriff auf die herkömmliche Philosophie und verfocht nachdrücklich die These, daß jede Art von Metaphysik sinnlos sei – nichts als ein Spiel mit Worten. Die militante Seite seiner Philosophie ist am bekanntesten geworden, doch sie ist gewiß nicht ihre wichtigste. Die große Bedeutung seiner Gedanken liegt in seiner konstruktiven Analyse der theoretischen Struktur der Wissenschaft auf einer neuen, radikalen Grundlage. In dieser konstruktiven Analyse verband Carnap seine logistische Theorie der Bedeutung mit den erkenntnistheoretischen Gedanken des Positivismus. Das »Gegebene« ist die Gesamtheit der Empfindungen, der »Erlebnisstrom«; dieses Material wird durch den Logikkalkül geordnet und umgeformt. Diese logischen Konstruktionen werden schichtweise durchgeführt, angefangen mit den elementaren Gegenständen der »Außenwelt« über komplexe Gegenstände bis hin zum »Fremdpsychischen«, d. h. zu Konstruktionen des Seelen lebens anderer Menschen. Carnap schloß sich hier den Ideen des amerikanischen Behaviorismus an; er lehnte ab, daß man Begriffe als Erlebnisse ansehen darf und ersetzte diese durch logische Konstruktionen auf der Grundlage physikalischer Tatsachen.13 Da alle diese Konstruktionen nichts als tautologische Umformungen des »Gegebenen« sind, läßt sich die Bedeutung jedes Satzes der Wissenschaft wie auch des Alltagslebens auf eine komplizierte Wiederholung gegebener Empfindungen zurückführen. Denn ein tautologischer Schluß fügt den gegebenen Sätzen nie eine neue Bedeutung hinzu; er übersetzt lediglich die gegebenen Inhalte in neue Formen. Jeder mögliche Satz läßt sich auf Sätze von dem Gattungstyp: »Ich sehe jetzt ein rotes Quadrat mit einem weißen Punkt darin« zurückführen. Es wäre völlig falsch, Sätze wie »Es 14
Vgl. FN 3.
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2.1 Der logistische Empirismus in Deutschland
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gibt Dinge unabhängig davon, ob ich sie sehe« oder »In zwölf Jahren wird der Polarstern seine Stellung relativ zur Erdachse um vier Bogenminuten verändert haben« irgendeinen anderen Signifi kat zuschreiben zu wollen als den einer Feststellung meiner augenblicklichen Empfindungen. »Ich sehe einen funkelnden Punkt auf einer schwarzen Linie und Zahlen auf einem Messinginstrument« ist alles, was die Astronomie sagen möchte; und mehr kann sie nicht sagen wollen, denn das wäre unmöglich.14 Es wäre völlig falsch, darin die geringste Tendenz zu einer Herabsetzung der Wissenschaft erblicken zu wollen. Carnap ist ein äußerst bedeutender wissenschaft licher Kopf mit der größten Bewunderung für die bemerkenswerten intellektuellen Prozesse bei der wissenschaft lichen Forschung. Er möchte lediglich darauf hinaus, daß die endgültige Bedeutung aller wissenschaftlichen Aussagen, wenn sie überhaupt eine haben, letzten Endes auf Aussagen über das Gegebene zurückgeführt werden muß. Er hat sich große Mühe gegeben, seine Theorie mit allen Feinheiten der mathematischen Logik auszuarbeiten, und der Wert von Carnaps Denken liegt genau in dieser Verbindung der älteren positivistischen Anschauung mit den neuen Methoden der Logistik. Auf diese Verbindung geht auch der Name »logistischer Positivismus« zurück, unter welchem die Philosophie des Wiener Kreises bekannt ist. Das System des logistischen Positivismus ist eine wichtige Entwicklungsstufe der neueren Erkenntnistheorie. Es ist die radikale Durchführung eines Gesichtspunkts, der als unangreifbar erscheint; es ist die konsequente Verwirklichung eines Programms, das als Inhalt der Wissenschaft nichts anderes als absolute Gewißheit gelten läßt. Gemäß einer Mode könnte man es als moderne Erfüllung der kartesischen Suche nach einer absolut sicheren Grundlage der Wissenschaft ansehen; und in der Tat erinnert Carnaps Theorie in mehr als einer Hinsicht an den kartesischen Rationalismus. Man kann ihre Bedeutung so kennzeichnen, daß sie eine der wichtigsten Erkenntnistheorien ist, die je konzipiert wurden.
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II. Radikaler Empirismus
Doch das lenkt auch die Aufmerksamkeit auf den schwachen Punkt der Konstruktion. Sie ist ein System – und nichts ist so gefährlich wie die Konstruktion eines Systems zu einer Zeit, in welcher die Analyse der Einzelheiten noch nicht geleistet ist. Es ist wie ein Gebäude mit einer soliden Stahlkonstruktion als Dach, dessen tragende Säulen noch nicht auf ihre Festigkeit geprüft worden sind. Deshalb mußte das System des logistischen Positivismus schwere Erschütterungen hinnehmen. Die Methode der wissenschaft lichen Analyse ist die Methode der Untersuchung von Einzelheiten. Die Anhänger der »wissenschaftsanalytischen Methode« – d. h., die Mitglieder der Berliner Gruppe – hatten stets daran festgehalten, daß man auf systematische Konstruktion verzichten muß, bis alle Einzelfragen analysiert sind. Sie konzentrierten sich auf die Kleinarbeit und hofften, das Ganze Schritt um Schritt voranzubringen.15 Ein großer Teil dieser Arbeit bestätigte nun die positivistische Auffassung, daß in der Wissenschaft nur tautologische Konstruktionen zulässig seien; denn das Verschwinden des synthetischen Apriori war eine ins einzelne gehende Bestätigung des positivistischen Grundsatzes. Doch andere Punkte des positivistischen Systems ließen sich nicht halten. Die Wiener Gruppe war unvoreingenommen genug, um die Schwierigkeiten ebenfalls zu sehen. Glücklicher weise hinderte sie ihr System nicht an einer stetigen For tentwicklung ihrer Gedanken. Als Ergebnis wurde das Material gegen den Positivismus sowohl in Wien als auch in Berlin zusammengetragen.
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V. Die positivistische Konstruktion wurde an zwei Punkten angegriffen. Neurath in Wien startete den Angriff auf einen davon und wurde bald von Carnap selbst geschickt unterstützt.16 Neurath wandte sich dagegen, daß »das Gegebene« ein Bewußtseinsgegenstand sei, der eine »psychische Existenz« habe. Er wollte den behavioristischen Ansatz, der nur auf das Fremd-
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2.1 Der logistische Empirismus in Deutschland
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psychische angewandt worden war, auf das Eigenpsychische ausgedehnt wissen. So wurde der »Behaviorismus für das Ich« entwickelt. Neurath fügte ihm den Gedanken hinzu, daß Sätze über das Gegebene, die sogenannten Protokollsätze, nie gewiß seien. Nach Neurath ist Gewißheit unerreichbar, selbst dann, wenn der Sinn aller Sätze auf eine tautologische Umformung von Aussagen über das Gegebene beschränkt wird. Er stützte diese Auffassung auf die Tatsache, daß eine Mitteilung über eine unmittelbare Erfahrung stets etwas später kommt als das Erlebnis selbst und deshalb falsch sein kann. Carnap begriff die Bedeutung dieser Gedanken für seine Theorie der Sprache. Die Bedeutung, das Signifi kat eines Satzes, ist kein realer Gegenstand; das Wort »Bedeutung« ist nur eine Abkürzung für eine Beziehung zwischen Symbolen physikalischer Art, etwa Kohleteilchen auf Papier, die da Buchstaben heißen, einerseits und anderen physikalischen Gegenständen, die von diesen Symbolen »beschrieben werden«, andererseits. Die Ausmerzung von Scheingegenständen war ein wichtiges Ziel von Carnaps Philosophie, und er zögerte nicht, diesen Grundsatz auf die grundlegenden »gegebenen Elemente« anzuwenden, auf die der Positivismus alle sinnvollen Aussagen zurückgeführt hatte. Dabei zeigte Carnap eine bemerkenswerte Charakterstärke, denn es ist ja nicht gerade leicht, die Grundlagen des eigenen Systems anzugreifen. Doch die Wahrheit steht höher als die Symmetrie von Systemen. Jetzt schien die Basis des Positivismus überhaupt zerstört zu sein. Ebenso wie alle anderen sogenannten psychischen Vorgänge entpuppte sich die gegebene Erfahrung als nichts anderes als ein physiologischer Vorgang in unserem Gehirn. Die Kenntnis dieses Vorgangs unterscheidet sich in nichts von meiner Kenntnis anderer physikalischer Vorgänge in der »Außenwelt«. Die Scheingegenstände, die da Wahrnehmungsinhalte heißen, sind das Ergebnis eines bedauerlichen Mißbrauchs der Sprache, der die Verwendung von Substantiven gestattet, wo Verben die Verhältnisse richtiger wiedergeben würden. Die »inhaltliche Sprechweise« muß durch die »formale Sprechweise« ersetzt werden, die diese Ungenauigkeiten vermeidet. Carnap und Neurath
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II. Radikaler Empirismus
legten diese Gedanken in einer Reihe von Artikeln in Erkenntnis vor;15 die Diskussion wurde durch das Eingreifen Schlicks befruchtet, der den »klassischen« positivistischen Standpunkt zu verteidigen suchte und Neurath zu einer genaueren Formulierung seiner Auffassung anregte. Was übrig blieb, war kein Positivismus mehr, sondern Materialismus. Denn die Identifi kation des Psychischen mit dem Physikalischen und die Analyse aller Aussagen über das Psychische als solche über physisches Verhalten ist nichts als aufpolierter Materialismus. Und so erstand eines der ältesten philosophischen Systeme zu neuem Leben – mit Hilfe der scharfen und exakten Waffen der Logistik. Der logistische Positivismus wurde zum logistischen Materialismus. Doch dieser Vergleich sollte nicht überzogen werden. Er soll nur den historischen Ort dieser neuen Gedanken bezeichnen und kann nicht als Informationsquelle über ihren Inhalt dienen. Denn historische Begriffe sind mit Begleitgefühlen beladen und haben im logischen Denken keinen Platz. Wir schlagen daher die Bezeichnung »logistischer Empirismus« vor,17 weil sie die Methode kennzeichnet, die in dem Programm der Wissenschaftsanalyse verwendet wird, und ist unabhängig von den besonderen Ergebnissen, die mit ihr gewonnen werden.
VI. Der erste angegriffene Punkt war die Basis des positivistischen Systems, der zweite das Beziehungsgeflecht der verschiedenen Aussagen innerhalb des Systems. Für die Positivisten waren diese Beziehungen bloß tautologisch. Man gelangte zu einer Analyse der Bedeutung, nach der 15
Siehe Otto Neurath, »Protokollsätze«, in: Erkenntnis 3 (1932), S. 204–214; Rudolf Carnap, »Über Protokollsätze«, in: Erkenntnis 3 (1932), S. 228–215; Moritz Schlick, »Über das Fundament der Erkenntnis«, in: Erkenntnis 4 (1934), S. 79–99; Otto Neurath, »Radikaler Physikalismus und ›wirkliche Welt‹«, in: Erkenntnis 4 (1934), S. 346–362.
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2.1 Der logistische Empirismus in Deutschland
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jeder wissenschaft liche Satz nichts enthält als eine Wiederholung von »Protokollsätzen«. Da jeder solche über die unmittelbare Gegenwart spricht, stellt die Wissenschaft nichts als Beziehungen zwischen gegenwärtigen Erscheinungen fest. Doch dieses Ergebnis steht in scharfem Gegensatz zur Wissenschaftspraxis,18 in der man auch über die Zukunft spricht. Es gibt überhaupt kein wissenschaft liches Gesetz, das nicht auch eine Voraussage zukünft iger Ereignisse enthält, denn es ist gerade das Wesen eines wissenschaft liches Gesetzes, uns zu versichern, daß unter bestimmten Bedingungen bestimmte Erscheinungen auftreten. Und niemand zögert, die Voraussage, die aus einer wissenschaftlichen Behauptungen folgt, zu benutzen, sobald die entsprechenden Bedingungen erfüllt sind. Wenn etwa die Astronomen für einen bestimmten Tag eine Sonnenfinsternis ankündigen, so hat niemand den geringsten Zweifel daran, daß man sich auf diese Voraussage verlassen kann. Der tautologische Charakter des positivistischen Systems konnte somit den Voraussagecharakter der Wissenschaft nicht begründen. Dem System fehlte bei seiner verführerischen Symmetrie eine wesentliche Eigenschaft: Es entsprach nicht der Bedeutung der Sätze, wie sie sich in der Wissenschaftspraxis ausdrückt. Es konnte keine Theorie der Sätze über die Zukunft entwickeln. Genau das war der Grund, warum die Berliner Gruppe den Positivismus nicht anerkennen konnte. Ihre Mitglieder waren von der Notwendigkeit einer Theorie der Sätze über die Zukunft überzeugt. Sie behaupteten, jede Philosophie, die die Tatsache und die Funktion von wissenschaft lichen Sätzen über die Zukunft vernachlässigte, stehe in flagrantem Widerspruch zum allerersten Grundsatz des Empirismus, nämlich dem, daß er der Wissenschaftspraxis entsprechen müsse. Und der Zusammenhang zwischen dem Problem der Zu kunftsätze und den Problemen der Wahrscheinlichkeit und der Induktion war unschwer zu erkennen. Dieser Zusammenhang war natürlich von anderen schon lange vorher gesehen worden, und es ist eines der großen Verdienste des amerikanischen Pragmatismus, wie er von Peirce
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II. Radikaler Empirismus
formuliert worden ist, die Verbindung zwischen den Fragen der Induktion und der Wahrscheinlichkeit nachdrücklich betont zu haben. Doch es ist ein weiter Weg von der Erkenntnis der allgemeinen Richtung, in der die Lösung eines Problems liegt, bis zur abschließenden Lösung des Problems. In Berlin wurde jahrelang gearbeitet, in heft igen Diskussionen wurden Neuanfänge und versuchsweise Lösungen vorgetragen, ehe eine endgültige Theorie aufgestellt war.19 Auch im Wiener Kreis wurde das Problem diskutiert. Anfangs versuchte es Carnap mit einer Art intellektueller Gewalt zu lösen: Er erklärte, daß die Bedeutung eines Satzes über die Zu kunft in einem Bericht über die Tatsachen der Vergangenheit bestehe.20 Der Satz, daß die Sonne morgen aufgehen wird, so behauptet er, enthält nichts weiter als den Bericht, daß die Sonne an jedem vergangenen Tag am Morgen aufgegangen ist. Doch die Methode des Durchhauens des gordischen Knotens gilt nicht in der Wissenschaft, und Carnap sah sich bald nach angemesseneren Lösungen um. Bis zum heutigen Tag hat die Wiener Schule noch keine vollständige Theorie der Sätze über die Zukunft entwickelt. Nur gelegentlich wurde das Problem erwähnt,16 und von einer abschließenden Theorie kann man jedenfalls nicht sprechen. Daher nehme ich mir hier die Freiheit, meine eigene Theorie darzustellen. Nachdem ich mich fast zwei Jahrzehnte lang mit den undurchsichtigen Seiten des Problems herumgeschlagen habe, glaube ich endlich eine abschließende Lösung gefunden zu haben. Diese wird nachhaltig durch die Tatsache gestützt, daß sie sich auf eine Theorie der Wahrscheinlichkeit stützt, die alle einschlägigen mathematischen und logischen Fragen löst. Natür16
Kürzlich erschien ein Buch von Popper, Logik der Forschung, Berlin: Springer, 1935, das sich mit Aussagen über die Zukunft beschäft igt. Poppers Standpunkt ist mit dem des Wiener Kreises verwandt. Doch ich kann dieses Buch nicht als eine ernstzunehmende begründete Darstellung betrachten, weil es ihm an Konsistenz fehlt. Vgl. meine Kritik in: Erkenntnis 5 (1935), S. 267–284.
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2.1 Der logistische Empirismus in Deutschland
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lich kann ich nur knapp über die Theorie berichten; Einzelheiten findet der Leser in meinem kürzlich erschienenen Buch.17 In jeder Theorie der Sätze über die Zukunft scheint mir eines völlig klar zu sein. Wenn man einen Satz über die Zukunft aussagt, gibt man nie vor, daß er mit Sicherheit wahr ist. Das gilt nicht nur für Wettervorhersagen, sondern auch für die Voraussage der Astronomen, daß die Sonne morgen wieder aufgehen wird. Es gibt keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen beiden bezüglich der Grundannahmen. Eine Theorie der Sätze über die Zukunft muß daher eine neue Theorie der Bedeutung entwickeln: Von Sätzen über die Zukunft kann man nicht erwarten, daß sie sichere Wahrheiten ausdrücken. Man könnte vielleicht einwenden, ein Satz über die Zu kunft müsse wenigstens grundsätzlich als wahr oder falsch »entscheidbar« sein – so daß er nach Eintritt der betreffenden Situation als gewöhnlicher Satz behandelt werden könne. Darauf werden wir weiter unten eingehen; doch im Augenblick ist aber dies für die vertretene Auffassung ohne jede Bedeutung. Denn man möchte ja eine Beurteilung des Wahrheitswertes des Satzes in dem Augenblick haben, in dem er geäußert wird, und diese Beurteilung kann man nicht rückschauend aufgrund noch durchzuführender Beobachtungen treffen, sondern nur aufgrund von bereits vergangenen Tatsachen. Diese Beurteilung brauchen wir, weil wir vor einer Entscheidung zwischen verschiedenen Möglichkeiten des Ausfalls der zukünft igen Tatsache stehen. Wir müssen da her eine Beurteilungsskala für Sätze entwickeln, die jeden möglichen Sätzen über das zukünft ige Ereignis aufgrund der bisherigen Tatsachen einen bestimmten Wahrheitsgrad zuschreibt. Eine solche Beurteilungsskala ist vor allem für das Handeln notwendig. Ich spreche hier nicht von den Willensvoraussetzungen des Handelns; jede Handlung erfordert natürlich eine Entscheidung darüber, was wir anstreben. Doch wenn man das weiß, dann verlangt der Intellekt, daß wir et was über den 17
Hans Reichenbach, Wahrscheinlichkeitslehre, a. a. O.
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II. Radikaler Empirismus
Weg zur Verwirklichung wissen, und dieses Wissen läßt sich nur in Sätzen über die Zukunft ausdrücken. Angenommen, man möchte nach London reisen. Diese Entscheidung ist nichts Kognitives. Doch wenn man sich einmal entschieden hat, daß man nach London will, muß man wissen, welcher Dampfer einen dort hinbringt. Diese Frage läßt sich nur mit einem Satz über die Zukunft beantworten. Und als Antwort muß man einen Satz mit dem besten »Wert« wählen, nämlich dem höchsten Gewißheitsgrad – und dieser muß aus früheren Tatsachen und nicht aus dem zukünft igen Ereignis abgeleitet werden. Die Fahrpläne der Reedereien etwa liefern eine verläßliche Voraussage in der Sache; doch auch ihr Gewißheitsgrad leitet sich ausschließlich von vergangenen und nicht von zukünft igen Beobachtungen her. Es liegt nahe, die Beurteilungsskala einer Reihe möglicher Sätze mit der Wahrscheinlichkeitsskala gleichzusetzen. Denn die Wahrscheinlichkeit ist der Begriff, der uns in der Wissenschaft und im täglichen Leben eine Orientierungsskala für unsere Zukunftsurteile liefert. Die Theorie der Sätze über die Zukunft wird daher eine Theorie sein, in der die beiden Wahrheitswerte wahr und falsch durch eine stetige Wahrscheinlichkeitsskala ersetzt sind. Somit muß die oben (Abschn. IV) besprochene Theorie der Bedeutung erweitert werden; das erste Postulat, wonach jeder Satz als wahr oder falsch »entscheidbar« sein muß, ist durch das Postulat zu ersetzen, daß jeder Satz mit einem gewissen Wahrscheinlichkeitsgrad »entscheidbar« sein muß. Das zweite Postulat muß lauten, daß Sätze, für die alle möglichen beobachtbaren Tatsachen zu den gleichen Wahrscheinlichkeitswerten führen, die gleiche Bedeutung haben. Dieses logische System nenne ich »Wahrscheinlichkeitslogik«. Nur eine Wahrscheinlichkeitslogik liefert einen genügend weiten Rahmen für das System der wissenschaft lichen Sätze. Die klassische Logik ist nur auf jene Sätze anwendbar, die entweder einen sehr hohen oder einen sehr niedrigen Wahrscheinlichkeitswert haben und dann als wahr bzw. falsch angenommen werden. Die Anwendung einer zweitwer tigen Logik führt also
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zu einer vergröberten Form der Wissenschaft. Dieses Schema ist auf die Methoden und Ergebnisse der Wissenschaft nur als eine Art Näherung anwendbar; die herkömmliche Logik beging den schweren Fehler, das zweiwertige Schema für die endgültige Form der Wissenschaft zu nehmen. Es ist die Aufgabe der modernen Logik, den weiteren Rahmen der Wahrscheinlichkeitslogik aufzubauen, denn, wie schon gesagt, es läßt sich nur in diesem Rahmen eine Erkenntnistheorie gewinnen, die den tatsächlichen Verhältnissen in der Wissenschaft entspricht. Ich möchte hier nicht die mathematischen und logischen Seiten des Problems behandeln. Ich beschränke mich auf die Feststellung, daß es gelungen ist, das System der Wahrscheinlichkeitslogik von einer Fassung der Wahrscheinlichkeitsrechnung her aufzubauen, die die mathematischen und die logischen Operationen in einem Kalkül vereinigt. Die Grundlagen der Wahrscheinlichkeitslogik lassen sich in Form von Wahrheitstafeln formulieren, die Verallgemeinerung der Wahrheitstafeln der zweiwertigen Logik sind und diese als Spezialfall ent halten. Die Elemente dieser Wahrscheinlichkeitslogik sind aber keine Sätze, sondern Satzfolgen, logische Konstruktionen, die sich aus einer Satzfunktion ergeben, wenn sie mit einer Folge von Argumenten zusammengebracht wird. Hieraus ergeben sich gewisse Schwierigkeiten im Hinblick auf die Anwendbarkeit der Wahrscheinlichkeitslogik auf Sätze. Wenn man etwas darüber wissen will, ob ein bestimmtes Einzelereignis in der Zukunft stattfi nden wird, so antwortet die Wahrscheinlichkeitslogik mit einem Satz über eine ganze Klasse von Ereignissen. Will man z. B. et was über das Wetter morgen wissen, so sagt uns die Wahrscheinlichkeitslogik, daß in der Folge von Tagen mit denselben meteorologischen Bedingungen wie heute das Wetter des nächsten Tages in einem bestimmten Prozentsatz von Fällen gut sein wird. Das ist das bekannte Problem des Einzelfalls in der Häufigkeitstheorie der Wahrscheinlichkeit. Um es zu lösen, müssen wir unsere Auffassung von der Bedeutung eines Satzes über Einzelereignisse ändern.
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II. Radikaler Empirismus
Wenn man Würfel spielt und für einen einzigen Wurf bei gleichem Gewinn auf »Sechs« und »Nichtsechs« wetten soll, so wird man vermutlich auf »Nichtsechs« setzen. Warum? Man weiß nichts über das zukünft ige Einzelereignis des Würfelwurfs, das in diesem Einzelfall die Entscheidung bringt. Wettet man auf »Nichtsechs«, so kann man nicht mit Gewißheit behaupten, daß der Satz »Es wird nicht-sechs auft reten« wahr ist; man kann nur auf sie setzen. Diese Setzung ist begründet, wenn man sie oft wiederholen kann; denn auf lange Sicht wird man mehr Geld gewinnen, wenn man immer auf »Nichtsechs« setzt, als wenn man auf »Sechs« setzt. Wettet man bei einem einzelnen Wurf auf »Nichtsechs«, so kann man diese Setzung damit begründen, daß sie einem allgemeinen Grundsatz entspricht, der bei hinreichender Wiederholung am vorteilhaftesten ist. Dieses Beispiel drückt den Zusammenhang zwischen Sätzen über Einzelereignisse und der Wahrscheinlichkeitslogik aus. Ein Satz über ein zukünftiges Einzelereignis wird nicht als wahr oder falsch behauptet; es wird als Setzung aufrechterhalten.21 Diese Setzung besitzt eine wohlbestimmte Bewertung, nämlich den Wahrscheinlichkeitswert, der der Klasse von Ereignissen entspricht, zu der das fragliche Ereignis gehört. Muß man sich für eine der bestehenden Möglichkeiten entscheiden, so wählt man die mit der höchsten wohlbestimmten Bewertung und setzt auf sie. Die Theorie der Sätze über die Zukunft ist somit eine Theorie über eindeutig bewertete Setzungen. Ich möchte ein paar Worte zu der Forderung anfügen, daß Zukunftssätze wenigstens grundsätzlich »entscheidbar« sein müßten. Diese Formulierung scheint mir ein Überbleibsel der älteren Lehre zu sein, daß eine Theorie der Sätze über die Zukunft ohne Heranziehung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs aufzustellen sei. Davon gehen wir nicht aus, sondern vielmehr von dem Postulat, daß jeder Satz einen wohlbestimmten Wahrscheinlichkeitswert erhalten können muß. Das ältere Postulat ist lediglich ein Spezialfall, in dem der Wahrscheinlichkeitswert nahe bei eins oder null liegt. Es wäre falsch, sich einzubilden, die Terme »wahr«
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und »falsch« hätten jemals etwas anderes ausgedrückt als hohe oder niedrige Wahrscheinlichkeitswerte.
VII. Es bleibt noch eine Frage. Bei der Verwendung der Wahrscheinlichkeitslogik wenden wir die Gesetze und Begriffe der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf die Wirklichkeit an. Sind wir dazu berechtigt? In der Logik ist die entsprechende Frage mit der Tautologientheorie der Logik beantwortet worden. Die Logik setzt nichts über die Wirklichkeit voraus, weil ihre Formeln für alle Wahrheitswerte der gegebenen Sätze wahr sind. Doch für die Wahrscheinlichkeitslogik stellt sich die Frage neu. Die Antwort geht von einer Analyse der Voraussetzungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung aus. Ich habe im Rahmen einer axiomatischen Konstruktion der Wahrscheinlichkeitstheorie gezeigt, daß sich alle ihre Voraussetzungen auf eine zurückführen lassen, nämlich die Existenz eines Grenzwerts der relativen Häufigkeit in einer Folge von beobachtbaren Tatsachen. Dann werden alle Sätze der Wahrscheinlichkeitsrechnung tautologisch. Das Problem der Anwendbarkeit der Wahrscheinlichkeitsrechnung ist somit äquivalent mit der Frage, ob die Folgen beobachtbarer Tatsachen einem Grenzwert zustreben oder nicht. Diese Frage nun ist identisch mit dem Induktionsproblem. Denn die Induktion ist nichts anderes als der Vorgang, der uns zu der Annahme führt, daß eine beobachtete Häufigkeit auch für die zukünft igen Glieder der Folge gelten wird. In der Geschichte der Philosophie wurde diese Annahme gewöhnlich nur in Fällen gemacht, in denen die relative Häufigkeit gleich 1 ist, also in Form der Aussage: Wenn alle beobachteten Ereignisse von der Art P sind, dann werden die zukünft igen Ereignisse auch von der Art P sein. Doch das ist offenbar nichts anderes als ein Spezialfall der allgemeinen Annahme, daß eine Folge beobachtbarer Ereignisse einen Grenzwert hat.
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II. Radikaler Empirismus
Natürlich ist diese Annahme keine Tautologie. Wir müssen uns deshalb fragen, ob wir das Recht haben, sie zu machen. Die Antwort lautet: Wir haben kein Recht dazu. Die Gründe für diese negative Aussage finden sich in den Werken David Humes. Folgt nun aber, daß wir die Annahme fallenlassen müssen? Skeptische Philosophen seit den Tagen Humes haben diese These vertreten; mir scheint aber, sie haben es mit keinem größeren Recht als jene getan, die die notwendige Existenz von Grenzwerten beobachtbarer Folgen behauptet haben. Denn ein Verzicht auf die Induktionsannahme wäre nur dann not wendig, wenn wir wüßten, daß sie falsch ist. Doch dem ist nicht so – wir wissen nicht, ob sie wahr oder falsch ist. Und das ist etwas völlig anderes! Ohne an die Wahrheit oder Falschheit der Annahme zu glauben, sind wir doch berechtigt, sie im gleichen Sinne zu vertreten, in dem wir eine Setzung machen. Wir möchten die Zukunft voraussehen, und wir können es, wenn die Induktionsannahme gerechtfertigt ist – und so setzen wir auf diese Annahme. Ist sie falsch – gut, dann sind unsere Bemühungen vergeblich; doch wenn wir das Induktionsprinzip anwenden, so haben wir wenigstens eine Aussicht auf Erfolg. Wir sind in der gleichen Lage wie jemand, der in einem unbekannten Seegebiet fischen möchte. Niemand kann ihm sagen, ob es dort Fische gibt oder nicht. Soll er sein Netz auswerfen? Nun, wenn er fischen will, würde ich ihm raten, das Netz auszuwerfen und wenigstens den Versuch zu machen. Es ist besser, auch unter ungewissen Verhältnissen einen Versuch zu machen, als keinen zu machen und sicher zu sein, daß man nichts bekommt. Das ist die Antwort auf die Humesche Frage: Die Induktion ist unser Werkzeug, um die Zukunft vorauszusehen; wir wenden sie immer und immer wieder an – sie ist unsere bestmögliche Wette. Und da der Erfolg nicht von uns abhängt, ist das alles, was wir tun können. Die hinreichenden Bedingungen für die Voraussage können wir nicht verwirklichen, wohl aber die notwendigen. Es war ein Irrtum der herkömmlichen Philosophie, als Rechtfertigung der Induktion den Beweis zu verlangen, daß
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die Induktion zum Erfolg führen muß; es läßt sich aber eine befriedigende Rechtfertigung finden, sobald einmal bewiesen ist, daß uns die Induktion wenigstens eine Aussicht auf Erfolg verschafft. Ich möchte eingehender zeigen, daß die Induktion eine notwendige Voraussetzung für die Voraussage ist. Hat eine Folge von Ereignissen e1 den Grenzwert p der relativen Häufigkeit, so folgt, daß von einem bestimmten Ereignis en an die eintretende Häufigkeit hn innerhalb eines kleinen Inter valls δ um p herum liegt. Hat man eine endliche Folge e1, …,en von Ereignissen beobachtet und nimmt man nun die beobachtete Häufigkeit hn als Näherungswert, der innerhalb des Intervalls δ um den Grenzwert der Häufigkeit für die zu künft ige Folge herum liegen soll, so kann man sich natürlich irren; denn man weiß nicht, ob das n, das man zur Schätzung der Häufigkeit genommen hat, das richtige ist, damit die Nä herung δ gilt. Doch nimmt man hn nur im Sinne einer Setzung, so kann man die Beobachtungen fortsetzen und die Setzung prüfen und berichtigen, wenn sich herausstellt, daß sich die Häufigkeit ändert. Nimmt man stets das letzte hn als eine Setzung und berichtigt man sie im Lichte neuer Beobachtungen, so ist das eine Methode, die irgendwann zum richtigen Ergebnis führt – wenn überhaupt ein Grenzwert existiert. Faßt man die Induktion so auf, als ständiges Setzen, so stellt sie sich als die notwendige Bedingung für die Voraussage heraus. Natürlich kann das skizzierte Verfahren lange dauern. Man könnte deshalb fragen, ob es nicht eine Möglichkeit gibt, es zu verbessern – eine Methode zu finden, die den richtigen Grenzwert schon früher liefert. Die Antwort lautet: Die Verbesserung ist erzielbar, wenn man die Setzungen aus verschiedenen Folgen zu einem System zusammenfaßt. Ein isolierter Induktionsschluß ist noch ein recht schwaches Werkzeug; eine Kette von Induktionen im Wissenschaftssystem aber ist schon sehr leistungsfähig. Eine Induktion stützt die andere oder berichtigt sie. Der gesamte Vorgang der theoretischen Konstruktion in der Wissenschaft läßt sich auffassen als eine Ver-
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knüpfung von Induktionen, wobei der Fehlerspielraum mit jeder theoretischen Ergänzung verringert wird. Dieser Vorgang hat ein logisches Analogon im Verfahren der Korrektion, das in seiner einfachsten Form für jede Wahrscheinlichkeitsfolge durchgeführt werden kann; es liefert Wahrscheinlichkeiten höherer Stufe.18 Bemerkenswerterweise kann man so die Voraussagemethoden verbessern, ohne zu wissen, ob Voraussage an sich überhaupt möglich ist. Im Rahmen unseres obigen Beispiels heißt das: Die Aussichten auf einen Fang steigen, wenn man ein engmaschigeres Netz verwendet; deshalb sollte man ein solches Netz verwenden, auch wenn man nicht weiß, ob es im Wasser Fische gibt oder nicht. Mit diesen Überlegungen findet, wie ich meine, das Induktionsproblem seine Lösung. Sie setzt kein synthetisches Apriori voraus, wie Kant glaubte; denn unsere Kennzeichnung der Induktion als eine notwendige Bedingung der Voraussage wie auch als die Methode, induktive Schlüsse durch das Verfahren der Korrektion zu verbessern, läßt sich aus der reinen Mathematik deduzieren, das heißt, nur mit tautologischen Umformungen. Diese Lösung beruht auf einer Neudeutung des Wesens und der Bedeutung wissenschaft licher Systeme. Ein wissenschaftliches System wird nicht als wahr behauptet, sondern nur als unsere beste Setzung auf die Zu kunft.22 Ziel aller wissenschaftlichen Anstrengungen ist, herauszufinden, was in irgendeiner Forschungssituation unsere beste Setzung ist; nie können wir zu Voraussagen kommen, die gewiß sind. Die Wissenschaft ist das Netz, das wir in dem Ereignisstrom auswerfen; ob damit Fische gefangen werden, ob ihm Tatsachen entsprechen werden, das hängt nicht allein von unserer Arbeit ab. Wir arbeiten und warten ab – wenn ohne Erfolg, nun, dann war eben unsere Arbeit umsonst.
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Vgl. FN 17.
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VIII. Ich begann mit einem Überblick über den deutschen logistischen Empirismus, und ich schloß mit einer Darstellung meiner eigenen Auffassungen zu den betreffenden Fragen. Ich muß hinzufügen, daß es sich noch nicht um die gemeinsame Auffassung der Gruppe handelt und daß sie vor allem von den Mitgliedern des Wiener Kreises noch nicht anerkannt wird, obwohl sie selbst noch keine Theorie der Sätze über die Zukunft entwickelt haben. Da der Problemkomplex von irgendeinem Blickpunkt aus betrachtet werden muß, ist es vielleicht erlaubt, daß ich meine Theorie zur Urteilsgrundlage mache. Mir erscheint meine Theorie der Sätze über die Zukunft lediglich als konsequente Anwendung der Grundsätze des logistischen Empirismus und die Ablehnung der Wahrscheinlichkeitsstruktur der Welt als Verkennung der Näherungsstruktur der Erkenntnis. Wer an der Zweiwertigkeit wissenschaft licher Sätze festhält, verwechselt die Eigenschaften eines Idealschemas mit der tatsächlichen Struktur der wissenschaft lichen Theorie und Praxis. Doch die deutsche empiristische Bewegung wollte nie ein einheitliches System der Philosophie ins Werk setzen. Einhelligkeit der Meinungen ist ein Ziel, aber nicht eine Voraussetzung gemeinsamen Handelns. Man wollte eine Gruppe von Leuten zusammenbringen, die mit empiristischen Methoden und im vollen Bewußtsein ihrer geistigen Verant wortung arbeiteten. Die gemeinsame Anerkennung dieses Zieles ließ die Diskussion weitergehen, auch wenn die Meinungen weit auseinandergingen. Der Gebrauch von Wörtern mit unklarer Bedeutung ist ein zulässiges Mittel für den Dichter, wenn er bestimmte Gefühle wecken will; doch in der Wissenschaft und ebenso in der wissenschaft lichen Philosophie muß er absolut ausgeschlossen sein. Dies schien uns von der gegenwärtigen Philosophie weitgehend übersehen zu werden. Daher machten wir uns die Klärung sämtlicher wissenschaft licher Begriffe des menschlichen Verstandes zum Programm. Aber anders als zu den Zeiten, da Essays und Untersuchungen »über den menschlichen Verstand« oder Kriti-
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ken »der reinen Vernunft« geschrieben wurden, faßten wir den »Verstand« nicht abstrakt als ein menschliches Vermögen auf, sondern konkret als die positive Wissenschaft; und so entwikkelte sich unsere Methode zu einer Analyse der Wissenschaft. Wir sind uns durchaus darüber im klaren, daß sich diese wissenschaft liche Strömung nicht auf unsere deutsche Gruppe beschränkt, daß es ähnliche Bewegungen in der ganzen Welt gibt. Zu unserem Vorteil konnten wir in den letzten zehn Jahren einen aktiven Gedankenaustausch im Rahmen organisierter Diskussionen führen. Daraus ergab sich eine gewisse äußere Gleichartigkeit des Erscheinungsbildes. Wir hoffen, daß jetzt die Zeit gekommen ist, den Bereich der Diskussion zu erweitern und den Gedankenaustausch auf internationale Ebene zu bringen. Die Wissenschaft ist gewiß nicht an nationale oder rassische Grenzen gebunden – zu dieser historischen Wahrheit stehen wir trotz aller Ansprüche des modernen Nationa lismus. Wir laden also die Empiristen und Logistiker der ganzen Welt ein, sich an unseren Diskussionen zu beteiligen. Die ersten Schritte sind bereits getan: Es sind Beziehungen zwischen unserer Gruppe und polnischen Logistikern, französischen Empiristen, amerikanischen Pragmatisten und einzelnen Philosophen in der ganzen Welt geknüpft worden. Der Pariser Kongreß im September 1935 ist der erste Versuch, die internationale Einheit des logistischen Empirismus einem internationalen Publikum vorzustellen.23
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RATIONALISMUS UND EMPIRISMUS: EINE UNTERSUCHUNG DER WURZELN PHILOSOPHISCHEN IRRTUMS 1
Vielleicht fragt man, warum ich zu Hochschullehrern der Philosophie über Rationalismus und Empirismus sprechen möchte. Jeder von uns hat seinen Studenten oft genug erklärt, was Rationalismus und Empirismus ist – warum soll man dann die alte Frage wieder aufrollen? Meine Antwort ist, daß gerade die Gemeinsamkeit unseres Berufes mich anregt, über ein so altes Thema wie die Geschichte der Philosophie zu sprechen. Jeder, der Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie gehalten hat, gleichgültig, ob er es mit mehr oder weniger Enthusiasmus tat, kennt das unbefriedigte Gefühl, mit dem er oft am Ende seiner Vorlesung nach Hause ging. Wozu dient diese Geschichte des menschlichen Strebens, sich in der Erkenntnis zurechtzufinden; des abstrakten Denkens und logischer Konstruktionen, die jedes konkreten Erfahrungsgehalts entbehren und deshalb unannehmbar sind; der genialen und trockenen Schriftsteller; der tiefen Weisheiten, aber auch dunkler Wendungen, die niemand in verständliche Sprache umsetzen kann; der großen Begabungen und großen Genies, aber bei weitem weniger allgemein anerkannten Ergebnisse; der immer wiederholten Versuche, aber ohne beständigen Erfolg? Warum sollen wir sie lehren, wenn sie zu keinem Resultat und zu keiner anerkannten Wahrheit führt? Man hat eine Interpretation vorgeschlagen, nach der die Verschiedenheit der Systeme letztlich keine Verschiedenheit der Ansichten darstellt. Alle philosophischen Systeme beinhalten dasselbe, hat man behauptet; sie sind nichts weiter als verschiedene Formulierungen, die dieselbe Weisheit in verschiedenen Fassungen offenbaren. Ich glaube nicht, daß diese relativistische Interpretation ihrer Geschichte der Philosophie große Dienste leistet. Es hilft der philosophischen Forschung nicht, wenn man Unterschiede bagatellisiert, indem man in entgegengesetzte phi-
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losophische Werke Ansichten hineinliest, die man miteinander verträglich machen kann. Die Widersprüche zwischen den Systemen sind zu deutlich, und wir ziehen mehr Gewinn aus dem Studium historischer Systeme, wenn wir ihre Irrtümer erklären, statt zu versuchen, sie wegzuerklären. Ein Philosoph des zwanzigsten Jahrhunderts sollte hinreichenden geistigen Abstand zu den Konstruktionen seiner Vorgänger haben, um objektive Kritik üben zu können, und er sollte den Mut haben, auszusprechen, was an der Philosophie überhaupt falsch ist – da es klar ist, daß die Philosophie nicht in der Lage gewesen ist, eine allgemein annehmbare Lehre zu entwickeln, worin mit allgemeiner Zustimmung der Lehrenden die Studenten unterrichtet werden können. Wer von uns eine Naturwissenschaft gelehrt hat, weiß, was es heißt, auf gemeinsamem Boden zu unterrichten. Die Wissenschaften haben einen Wissensschatz entwickelt, der allgemein anerkannt ist, und wer eine Naturwissenschaft lehrt, tut das mit dem stolzen Gefühl, seine Studenten in ein Reich wohlbegründeter Wahrheiten einzuführen. Warum muß der Philosoph darauf verzichten, wohlbegründete Wahrheit zu lehren? Warum muß er in seiner Vorlesung immer vorsichtig hinzufügen »nach Ansicht des Philosophen X« und seine Objektivität auf die Aussage darüber beschränken, worin die Ansicht des Philosophen X bestanden hat? Übrigens kann nicht einmal eine solche Behauptung mit allgemeiner Zustimmung gemacht werden, da die Interpretation philosophischer Systeme nur ein weiteres Gebiet der Uneinigkeit ist. Man stelle sich nur einen Wissenschaft ler vor, der Elektronik in der Form eines Berichtes über die Ansichten verschiedener Physiker lehrt, ohne jemals seinen Studenten zu sagen, welches die Gesetze sind, die die Elektronen beherrschen. Ein lächerlicher Gedanke! Obwohl der Physiker sehr wohl auf die Geschichte seines Forschungsgebietes eingeht, treten die Ansichten der einzelnen Physiker nur als Beiträge zu einem gemeinsamen Ergebnis auf, das mit überpersönlicher Geltung bestätigt worden und allgemein akzeptiert ist. Warum muß der Philosoph auf eine allgemein anerkannte Philosophie verzichten?2
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Man bekommt die Vielfalt der Meinungen besser in den Griff, wenn man die Geschichte der Philosophie erneut mit den Augen des Kritikers betrachtet. Wenn die Philosophen viele sich widersprechende Systeme hervorgebracht haben, müssen alle außer einem falsch sein; es ist sogar wahrscheinlich, daß alle falsch sind. Die Geschichte der Philosophie sollte darum auch eine Geschichte der Irrtümer der Philosophen enthalten; die historische Forschung trägt dann zur Wahrheit bei, indem sie die Wurzeln dieser Irrtümer aufdeckt. Unter diesem Gesichtspunkt möchte ich die Probleme des Rationalismus und des Empirismus noch einmal aufrollen. Ich glaube, das Studium dieser historischen Kontroverse deckt eine der grundsätzlichsten Quellen philosophischen Irrtums auf, und es ist daher sinnvoll, sich auf der Tagung einer philosophischen Gesellschaft damit zu beschäft igen. Sowohl der Empirismus als auch der Rationalismus sind zum ersten Mal von den Griechen als philosophische Systeme formuliert worden. Obgleich der Empirismus die ein wenig ältere Form der griechischen Philosophie zu sein scheint, war es der Rationalismus, der sie berühmt gemacht hat, denn das klassische Zeitalter, das mit den Namen Sokrates, Platon und Aristoteles verbunden ist, muß als eine Periode des philosophischen Rationalismus angesehen werden. Diese Bezeichnung erscheint berechtigt, wenn unter Rationalismus eine Philosophie verstanden wird, die der Vernunft Priorität vor den Sinneswahrnehmungen einräumt, oder die die Vernunft als eine Quelle der Erkenntnis betrachtet, die unabhängig von empirischer Beobachtung und ihr überlegen ist. Es besteht kein Zweifel, daß der Grund für die Wendung der griechischen Philosophie zum Rationalismus im Erfolg der deduktiven Methode in der Mathematik, besonders in der Geometrie, zu finden ist. Die Geometrie als eine deduktive Wissenschaft ist eine Entdeckung der Griechen. Was in den Händen der Ägypter ein System praktischer Regeln war, angewandt von Feldmessern und Architekten, entwickelte sich durch griechischen Scharfsinn in eine deduktive Wissenschaft. Es ist nicht
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leicht, sich den Wandel vorzustellen, der sich in jener Zeit im griechischen Erkenntnisbewußtsein vollzogen haben muß. Zum ersten Mal wurde die Möglichkeit einer ausschließlich aus der Vernunft abgeleiteten Erkenntnis demonstriert. Gerade ihre Präzision und Zuverlässigkeit machte diese Erkenntnis der empirischen Wissenschaft überlegen. Auf der anderen Seite war diese Erkenntnis nicht leer: Sie besagte etwas über die physikalische Welt, da sie es dem Mathematiker ermöglichte, geometrische Beziehungen vorauszusagen, die durch praktische Messungen verifiziert werden konnten. Für den Philosophen bedeutet diese praktische Nutzbarkeit der Geometrie einen Beweis ihres physikalisch deskriptiven Charakters. Hier wurde die Grundlage für eine Auffassung der Mathematik gelegt, für die Kant zu einer viel späteren Zeit den Namen synthetische Erkenntnis a priori münzte. In der Mathematik wurde der Schlüssel entdeckt, der das Tor zu den Geheimnissen der physikalischen Wirklichkeit öff nete. Im Vergleich zur Macht des abstrakten Denkens erschien der Beitrag der Beobachtung zur Erkenntnis als recht unbedeutende Zugabe. Der philosophische Rationalismus erwuchs aus der Erkenntnis, daß Vernunft dazu benutzt werden kann, empirische Beobachtungen zu überprüfen und die Sinneswahrnehmungen in ein logisches System einzuordnen, mit dessen Hilfe spätere Beobachtungen voraussagbar sind. Wir müssen diese historische Entwicklung im Sinn behalten, wenn wir Platons Ideenlehre verstehen wollen. Mit den Augen eines modernen Logikers betrachtet, erscheint die Theorie absurd, unglaublich verwickelt und für die Lösung des Erkenntnisproblems ungeeignet. Aber Platon sah in ihr eine Lösung des Problems der mathematischen Erkenntnis. Die Entdeckung mathematischer Gesetze wurde als ein Analogon zur empirischen Beobachtung aufgefaßt: Wir sehen die Eigenschaften der idealen Objekte mit dem geistigen Auge in der gleichen Weise, in der wir auch die physikalischen Objekte mit unseren körperlichen Augen sehen. Da die Gesetze der idealen Objekte die Beschaffenheit der physikalischen Objekte beherrschen,
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müssen die idealen Objekte eine höhere Form von Realität besitzen, die sich nur unvoll kommen in den Eigenschaften der beobachtbaren Dinge wiederspiegelt. Der Logiker wird einwenden, dies sei Bildersprache statt Erklärung. Das ist richtig; aber was kann man von einer Philosophie erwarten, die zum ersten Mal dem Rätsel der Übereinstimmung von Vernunft und Wirklichkeit gegenübersteht? Spätere Philosophen haben versucht, die Frage dadurch zu beantworten, daß sie eine prästabilierte Harmonie angenommen oder eine transzendentale Logik konstruiert haben, nach der die Vernunft notwendige Voraussetzungen zur Erfahrung beiträgt. Solche Philosophien stellen das Problem vielleicht besser dar; ich glaube aber ebensowenig an ihre Lösungen. Besonders Kants Philosophie, auch wenn sie den Anspruch erhebt, Rationalismus und Empirismus in einer höheren Synthese zu vereinigen, erscheint dem kritischen Blick als Rationalismus reinsten Wassers ohne irgendeinen empiristischen Zusatz. Kein Rationalist hat je geleugnet, daß Sinneswahrnehmungen wertvolle Beiträge zur Erkenntnis liefern, und daß er diese Leistungen anerkennt, macht Kant noch nicht zum Empiristen. Was den Rationalisten vom Empiristen unterscheidet, ist die Lehre, es gäbe fundamentale Wahrheiten, die die Wirklichkeit beherrschen und die nur von der Vernunft, und von der Vernunft allein, gefunden werden können. Das ist der wesentliche Gehalt der Kantischen Philosophie. Kants großes Verdienst ist es, das Problem in seiner Theorie des synthetischen Apriori klarer als alle seine Vorgänger formuliert zu haben. Doch niemand, der sich mit der Entwicklung der Mathematik in den seit Kants Tod verstrichenen anderthalb Jahrhunderten befaßt hat, wird behaupten, Kant habe das Problem gelöst. Ich sagte, die Probleme des Rationalismus entstammen der Untersuchung des Wesens der mathematischen Erkenntnis. Ich muß hinzufügen, daß sich diese Probleme durch eine Grenzüberschreitung des Erkenntnisbegriffs, die aus der gleichen Quelle stammt, außerordentlich vermehren. Wir müssen wieder auf Platon zurückgreifen, um den Ursprung dieser Grenz-
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überschreitung zu sehen. Für Platon ist alle Erkenntnis letzthin mathematische Erkenntnis. Eine Erkenntnis der Außenwelt, die noch keine mathematische Form gefunden hat, wird von ihm nicht als echte Erkenntnis angesehen. Sie ist eine Meinung [δόξα], nützlich für praktische Zwecke; um aber den Namen „Wahrheit“ zu verdienen, muß sie erst in Mathematik ver wandelt werden. Diese Grenzüberschreitung war es, die den Rationalismus so gefährlich für die empirischen Wissenschaften gemacht hat. Aus ihr entspringt die Herabsetzung der empirischen Beobachtung, die Geringschätzung der Sinnesorgane als Instrumente zur Auffindung der Wahrheit und die Haltung einer Philosophie, die zu gewissen Zeiten der mittelalterlichen Philosophie zur Karikatur wurde, als die Gelehrten Fragen der Physik dadurch zu beantworten suchten, daß sie die Bücher Aristoteles] studierten, statt die physikalischen Phänomene zu beobachten. Verächtliche Bezeichnungen des Wortes »empirisch«, wie sie in Ausdrücken wie »die empirische Schule der Medizin« noch fortleben, zeugen von der rationalistischen Verzerrung des Wesens der Erkenntnis. Nachdem diese rationalistische Grenzüberschreitung zweitausend Jahre lang die philosophischen Systeme beherrscht hatte, fand sie noch einmal ihre klassische Formulierung in Kants Philosophie des synthetischen Apriori, die den Grundlagen der Physik synthetisch apriorische Gültigkeit zuerkannte. Die »metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft« spiegeln die Herrschaft der rationalistischen Auffassung der Erkenntnis zu einer Zeit wieder, als die mathematische Physik in Newtons Theorie das endgültige Naturgesetz in einer mathematischen Formel entdeckt zu haben schien. Es gibt eine zweite Grenzüberschreitung des Begriffs der mathematischen Erkenntnis, die in der Geschichte der Philosophie ebensoviel Unheil angerichtet hat wie die Ausdehnung des Begriffs der mathematischen Erkenntnis auf die Physik. Ich meine die Auffassung der Ethik als Analogon zur Mathematik. Platons Ideenlehre sollte gerade diesem Zweck dienen. Die sokratische Lehre, Tugend sei Wissen, erhielt ihre Begründung durch eine Philosophie, nach der es sowohl Ideen der guten Taten als
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auch Ideen der physischen und mathematischen Objekte gibt. Was gut ist, wird ebenso wahrgenommen wie alles, was wahr ist, und ebenso wie bei der Wahrheit ist diese Wahrnehmung ein Akt der Ideenschau und keine Sinneswahrnehmung. Der kognitiv-ethische Parallelismus3 stammt von Sokrates und Platon und ist seither ein unerläßlicher Bestandteil des Rationalismus geblieben. Man glaubte, die Erfüllung des Wunsches, die Ethik auf einer absoluten Basis zu begründen, finde äußerst wirksame Unterstützung durch eine Konzeption der Erkenntnis, welche die Vernunft zur Gesetzgeberin machte. Die Gesetzgeberin des moralischen Gesetzes wurde mit derjenigen der kognitiven Gesetze identifiziert, und das moralische Gesetz in mir schien nach derselben Anerkennung zu verlangen wie der gestirnte Himmel über mir. Die Konstruktion einer Ethik nach dem Muster der Geometrie wurde zum Programm des Rationalismus. Diese Entwicklungen hätten nur eine begrenzte Bedeutung, wenn sie lediglich die Auffassungen einer bestimmten philosophischen Schule beträfen. Damit würde die Vorherrschaft dieser Schule in die Vergangenheit verlegt, so daß für spätere Schulen die Möglichkeit bestände, vor solchen Irrtümern bewahrt zu bleiben. Was aber den Rationalismus so gefährlich macht, ist, daß seine grundlegenden Irrtümer nicht auf seine eigene Schule beschränkt geblieben sind, daß sein Hauptgegner, der Empirismus, von der gleichen Art Irrtum infiziert worden ist. Daher mußte die empiristische Philosophie in einer Sackgasse landen, weil sie gerade den Fehler nicht vermied, der den Rationalismus mit den Naturwissenschaften unvereinbar machte, nämlich Erkenntnis mit mathematischer Erkenntnis gleichzusetzen. Dieser Fehler wird zwar in der empiristischen Philosophie nicht bewußt begangen. Der Empirist hat den Rationalismus immer mit dem Argument angegriffen, der Rationalist vernachlässige den Beitrag der empirischen Beobachtung. Aber in der Entwicklung seiner eigenen Philosophie übernahm der Empirist unbewußt die fundamentale These des Rationalismus, nach der wirkliche Erkenntnis so zuverlässig sein muß wie mathematische Erkenntnis. Er wurde dadurch in die hoff nungslose Posi-
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tion gedrängt, einen Beweis dafür liefern zu müssen, daß empirische Erkenntnis ebenso streng ist wie mathematische Erkenntnis. Historisch gesehen hat diese rationalistische Verpflichtung des Empirismus ihren Ausdruck darin gefunden, daß er sich immer in Verteidigungsstellung befand, daß er immer beweisen mußte, seine Philosophie sei für die Aufstellung der absoluten Wahrheit ebenso gut wie der Rationalismus. Das Ergebnis dieser so hoff nungslosen Defensive nennen wir naiven Empirismus oder Materialismus. Andererseits endeten die Empiristen, die zu ehrlich waren, um sich selbst zu betrügen, als Skeptiker. Der empiristische Skeptiker ist ein Philosoph, der sich zwar vom Rausch des Rationalismus befreit hat, aber seine Herausforderung immer noch ernst nimmt. Er sieht den Empirismus als Versager an, weil er gerade das vom Rationalismus aufgestellte Ziel, absolute Gewißheit in der Erkenntnis zu erlangen, nicht erreichen kann. Diese unausgesprochene Voraussetzung seiner Kritik macht den Skeptiker zum Opfer desselben Irrtums, der den Rationalisten zu seinen logischen Gespinsten geführt hat, nämlich der Irrtum, mathematische Erkenntnis sei Maßstab aller Erkenntnis. Das trifft auf die Skeptiker des Altertums zu, die glaubten, sie hätten bewiesen, es gäbe überhaupt keine Wahrheit, weil sie bewiesen hätten, es gäbe keine mathematische Wahrheit für empirische Erkenntnis. Und das trifft auf den prominentesten unter den empiristischen Skeptikern, David Hume, zu, dessen Philosophie zugleich die erste logisch einwandfreie Durchführung und der Zusammenbruch des Empirismus ist. Die klassische Periode des modernen Empirismus weist alle Symptome einer Ansteckung mit rationalistischen Prinzipien auf. Francis Bacon, der Prophet der Induktion, macht es im Titel seines Hauptwerkes klar genug, daß er seine induktive Methode als Parallele zu Aristoteles] deduktiver Logik auffaßte. Sein Empirismus beruht auf dem naiven Vertrauen, die Induktion könne eine ebenso gute Erkenntnis liefern wie die des Mathematikers oder Logikers. John Locke macht den hoff nungslosen Versuch, die notwendige und nichtleere Wahrheit des Rationalisten mit einem empirischen Ursprung der Begriffe zu vereinigen und
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predigt eine Ethik, nach der die Grundsätze der politischen Demokratie aus Vernunfteinsicht abgeleitet werden können. Mit David Hume, dem bedeutendsten dieser drei, erreicht der englische Empirismus seinen Höhepunkt. Mit Hume findet der Empirismus seine endgültige Formulierung: Alle apriorische Erkenntnis ist analytisch, alle synthetische kommt von der Sinneswahrnehmung; mit anderen Worten, die Sinneswahrnehmung ist das einzige Kriterium nicht-analytischer Wahrheit. Aber gerade diese Formulierung des empiristischen Prinzips bedeutet das Versagen der empirischen Methode. Ein Wissen der Zukunft ist unerreichbar, weil die Beobachtung uns immer nur über die Vergangenheit informiert. Voraussagen können nur durch irgendwelche schlußfolgernden Methoden erreicht werden; da aber die Implikation, die von vergangenen zu zukünft igen Beobachtungen führt, synthetisch ist, kann der deduktive Schluß nicht auf die Ableitung von Zukunftsaussagen angewandt werden; als einziges Mittel für Voraussagungen bleibt der induktive Schluß. Und da der induktive Schluß weder durch die deduktive Logik noch durch die Erfahrung gerechtfertigt werden kann, haben wir keinen Grund, ihn zu akzeptieren. Der induktive Schluß scheint ungerechtfertigt. Die empirischen Methoden können keine Erkenntnis liefern. Ich habe manch ein Lehrbuch der Philosophiegeschichte gesehen, das Humes skeptisches Ergebnis bagatellisiert. Ich habe Äußerungen gelesen, in denen behauptet wird, Humes Kritik sei überschätzt worden, die Unmöglichkeit, die Induktion zu rechtfertigen, störe wenige Philosophen, oder die Induktion stelle die wissenschaft liche Methodologie vor nur unerhebliche Schwierigkeiten, die den Philosophen nichts angingen. Ein Philosoph, der so etwas schreibt, hat die Geschichte der Philosophie nicht verstanden. Er hat nicht erkannt, daß der rationalistische Versuch, die wissenschaft liche Erkenntnis zu begründen, mit der modernen Wissenschaft unvereinbar ist und daß der Empirismus, wenn er Humes Kritik nichts entgegensetzen kann, ebenso unfähig ist, eine Wissenschaftstheorie zu liefern. Humes Kritik enthält den schwerwiegendsten Einwand, der je gegen die
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Möglichkeit der Erkenntnis erhoben worden ist. Wenn er nicht beantwortet werden kann, dann ist die Geschichte der Philosophie die Geschichte des Irrtums. Die Suche nach der Wahrheit würde mit dem Eingeständnis des Unwissens enden; alles, was ich weiß, ist, daß ich nichts weiß – dieser sokratische Aphorismus, der weniger für ihn als für die Schule der Skepsis charakteristisch ist, hat seine endgültige Ausformung im Inquiry Concerning Human Understanding gefunden. Andere Philosophen hoffen, der Humeschen Skepsis durch eine Zuflucht in den Glauben [belief] zu entgehen. Sie sagen, wir hätten mehr als einen Glauben, auf den wir uns ohne Kritik verlassen; warum sollen wir dann nicht an die Induktion glauben? Wir haben so viel Erfolg damit gehabt, warum sollen wir diesen Glauben aufgeben? Eigentlich sollte ein freundliches Humesches Lächeln genügen, um dieses Argument vom Tisch zu fegen; dennoch findet es sich in heutigen Büchern über Induktion. »Glaube« ist sehr modern geworden. Manche nennen ihn »animal faith«; andere ziehen »rational belief« vor. Und der Trick bei dessen Verteidigung ist die Behauptung, wir könnten ohne Glauben nicht leben und sogar der Empirist glaube an irgend etwas. Glaube ist ein bequemes Ruhekissen – warum schlafen wir nicht darauf und haben unseren Seelenfrieden? Niemand, der die Logik ernst nimmt, kann – meine ich – die Flucht in den Glauben verteidigen. Es ist eine Binsenwahrheit, daß wir im täglichen Leben vieles glauben; es ist aber die Aufgabe des Philosophen, solche Gewohnheiten mit Hilfe der Logik einer Prüfung zu unterziehen. Wenn er zu dem Resultat kommt, daß unser grund legendster Glaube nicht gerechtfertigt werden kann, folgt daraus nicht, wir sollten lieber mit unseren logischen Untersuchungen aufhören, sondern daß wir aufhören sollten, weiter zu behaupten, wir hätten noch eine Philosophie. Von einer Metaphysik des Empirismus zu sprechen, ist ein dürft iges Argument für diejenigen, die angesichts der modernen Wissenschaft nach einer Entschuldigung dafür suchen, rationalistische Spekulationen fortzusetzen. Das Argument des Empiristen ist, wir hätten keine Methode, die Wahrheit einer Aussage zu be-
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weisen, die zukünft ige Beobachtungen voraussagt. Es ist einfach lächerlich, dieses Argument eine auf Glauben beruhende Metaphysik zu nennen. Die Probleme des Empirismus geben dem Metaphysiker nicht das Recht, eine neue Glaubensphilosophie zu predigen. Wenn der Empirist versagt, dann hat die Philosophie versagt; es gibt kein Zurück zu den Glaubensannahmen der Zeiten vor Hume. Die Lösung des Humeschen Problems muß im Rahmen des Empirismus gesucht werden, denn sonst wäre sie keine Lösung. Um sie zu finden, müssen wir genauer formulieren, was Humes Argument beweist. Es beweist, daß es keine Erkenntnis der Zukunft gibt, wenn man unter »Erkenntnis« absolute Gewißheit versteht. Dieses Argument ist nur schlüssig, wenn Erkenntnis das ist, was die Rationalisten darunter verstehen. Was Hume bewiesen hat, ist, daß das rationalistische Erkenntnisziel mit empiristischen Methoden unerreichbar ist. Das unbewußte Festhalten am rationalistischen Erkenntnisprogramm, an der Interpretation der Erkenntnis als mathematische Erkenntnis, führt zu Humes Skepsis. Der Empirist, der zum Skeptiker wird, hat sich nicht genügend vom rationalistischen Dogma befreit. Ein widerspruchsfreier Empirismus steht nur denen offen, die dazu bereit sind, empirische Erkenntnis als etwas Eigenständiges zu begreifen und das Vorurteil fallen zu lassen, die Mathematik sei der Prototyp aller Erkenntnis. Der Weg zu dieser Befreiung war lang und wäre ohne die Hilfe der Mathematik selbst nie gefunden worden. Die Geschichte dieser Befreiung ist in Wirklichkeit die Geschichte der Mathematik und mathematischen Physik des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Ich möchte diese Geschichte in einem kurzen Rückblick auf ihre wichtigsten Ereignisse skizzieren, ehe ich mich der Antwort zuwende, die wir heute auf Humes Kritik geben können. Die Auflösung des synthetischen Apriori begann mit Entwicklungen in der Mathematik. Zwanzig Jahre nach Kants Tode entdeckten Bolyai und Lobatschewskij eine nichteuklidische Geometrie. Gauß, der unabhängig davon zu ähnlichen geometrischen Ergebnissen gekommen war, erkannte sofort die
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Bedeutung dieser Entdeckung. Er sah, daß, sobald dem Mathematiker mehr als ein geometrisches System bekannt ist, die Frage, welches System auf die physikalische Wirklichkeit paßt, eine empirische ist. Die gedankliche Entwicklung, in der die Mathematik entthront wurde, ist erstaunlich einfach. Solange es nur eine Geometrie gab, schien der Mathematiker den Schlüssel zum physikalischen Raum zu besitzen, und die Vernunft erschien als Gesetzgeberin der physikalischen Wirklichkeit. Wenn es mehrere mögliche Geometrien gibt, dann ist der Mathematiker nicht in der Lage, anzugeben, welche von ihnen für den physikalischen Raum die richtige ist, und die Wahl der Geometrie, die die physikalische Welt beschreibt, bleibt dem Physiker überlassen. Diese Wahl ist zwar ein wenig kompliziert, da sie mit einer Entscheidung über gewisse Definitionen verbunden ist, die Zuordnungsdefinitionen heißen.4 Aber das macht die Bestimmung der physikalischen Geometrie nicht weniger empirisch. Wie bei allen physikalischen Hypothesen beschert die Mathematik uns nur eine Reihe von Möglichkeiten, unter denen die Beobachtung diejenige auswählt, die der Wirklichkeit entspricht. Das Kriterium der synthetischen Wahrheit ist nicht die Vernunft, sondern die Beobachtung – das empiristische Prinzip zieht die Anwendung der Mathematik auf die physikalische Welt nach sich. Die Entwicklung, die mit der Entdeckung der nichteuklidischen Geometrien angefangen hat, endete mit Russells Analyse der Arithmetik: Mathematische Wahrheit ist analytisch und nicht Beschreibung der physikalischen Realität.5 Dem Philosophen bietet die analytische Wahrheit keine Schwierigkeiten. Es ist durchaus möglich, daß die Vernunft analytische Aussagen begründen kann, denn sie antizipieren keine zukünft igen Erfahrungen und schränken den Bereich des Beobachtbaren nicht ein. Die Tautologien einer Sprache sind nur das Spiegelbild der Regeln, die in dieser Sprache gelten;6 sie sagen in der Objektsprache, was in der Struktur der Propositionen zum Ausdruck kommt und was daher eine Folge meta linguistischer Regeln ist. Das tertium non datur zum Beispiel ist in der Objekt-
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sprache nur das Äquivalent einer Regel, die der Sprache die Syntax einer zweiwertigen Logik vorschreibt.7 Das analytische Apriori setzt den Rationalismus nicht voraus und ist mit jedem noch so kritischen Empirismus vereinbar. Indem sie mathematische Wahrheiten auf analytische Zusammenhänge reduziert, zerstört die moderne Metamathematik die Grundlage, auf welcher der Rationalismus errichtet wurde; das ist eine schlichte Tatsache, die kein Philosoph übersehen kann. Es heißt, das Wesen der Mathematik mißzuverstehen, wenn man sie als das Ideal hinstellt, nach dem die Naturwissenschaften streben sollten. Eine Naturwissenschaft, die die Mathematik als Modell benutzte, wäre leer und könnte uns nichts über die physikalische Welt sagen. Alle synthetische Erkenntnis stammt aus der Beobachtung: Der Empirist bleibt am Ende siegreich, denn der Mathematiker selbst hat darauf verzichtet, synthetische Wahrheiten für sich zu beanspruchen. Ein Philosoph, der noch im zwanzigsten Jahrhundert versucht, die Erkenntnis von der Vernunft abzuleiten, hat seinen mächtigsten Bundesgenossen, den Mathematiker, verloren und ähnelt jemandem, der immer noch nach dem Perpetuum mobile sucht. Es kann nicht gelingen! Das ist die Antwort der modernen Wissenschaft auf das zweitausend Jahre alte Ringen nach einer rationalistischen Interpretation der Erkenntnis. Diese destruktive Auswirkung der modernen mathematischen Grundlagenforschung erstreckt sich auch auf das Gebiet der Ethik. Der Plan, ethische Prinzipien wie mathematische Prinzipien aus Vernunfteinsichten herzuleiten, erschien so lange plausibel, wie man die Mathematik als synthetisch a priori gültig ansah. Wenn aber alle aus der Vernunft entspringende Erkenntnis analytisch ist und die Vernunft unter verschiedenen Systemen, von denen jedes in sich widerspruchsfrei ist, aber jeweils jedem anderen widerspricht, keine Auswahl treffen kann, dann leistet der kognitiv-ethische Parallelismus der Ethik schlechte Dienste. Was hätte der Verfasser einer Ethik, die nach dem Muster der Geometrie aufgebaut ist, geantwortet, wenn man ihm gesagt hätte, die geometrische Methode könne ebensogut eine
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nichtspinozistische Ethik rechtfertigen? Ich will mich aber auf keine Prophezeiungen darüber einlassen, wie Spinoza auf die Mathematik des zwanzigsten Jahrhunderts reagiert hätte und lieber sagen, was er hätte antworten sollen: Er hätte zugeben müssen, daß moralische Prinzipien leer sind, falls sie kognitiven Charakter haben, da sie Erkenntnis bedeuten würden, die allein der Vernunft entstammt. Die Lösung, die die moderne Logik dem Problem der Ethik gibt, ähnelt der Lösung des Problems der Geometrie: Nur Implikationen zwischen Axiomen und Theoremen können bewiesen werden, aber die Axiome selbst sind durch Vernunft nicht beweisbar. Der Philosoph kann die grundlegenden ethischen Prinzipien ebensowenig begründen wie die Axiome des physikalischen Raumes. Während aber die Axiome des physikalischen Raumes wenigstens von kognitiver Natur sind und vom Physiker empirisch verifiziert werden können, sind die grundlegenden ethischen Prinzipien nicht kognitiv und verlangen eine ganz andere Behandlung, auf die ich weiter unten eingehe. Erst aber muß ich die empirische Erkenntnis näher untersuchen. Die Reduktion der Mathematik auf analytische Zusammenhänge ist ein negatives Resultat. Es muß durch eine Konzeption synthetischer Erkenntnis vervollständigt werden, die gleichzeitig das empiristische Kriterium der Wahrheit befriedigt und Humes Kritik über windet. Die Antwort auf diese Frage führt bekanntlich zur Wahrscheinlichkeitstheorie. Von Humes eigenen Untersuchungen über die Wahrscheinlichkeit bis in die heutige Zeit haben empiristische Philosophen wiederholt versucht, Wahrscheinlichkeitstheorien aufzustellen, mit der sich empirische Erkenntnis begründen läßt. Man sollte glauben, alle diese Wahrscheinlichkeitstheorien seien nach empiristischen Prinzipien aufgebaut. Aber ein Blick auf den gegenwärtigen Stand der Wahrscheinlichkeitsdiskussion zeigt, daß dies nicht der Fall ist. Die Analyse der Wahrscheinlichkeit ist mit Rückständen der rationalistischen Erkenntniskonzeption durchsetzt. Der Keim des Rationalismus ist so tief in das philosophische Denken eingedrungen, daß er
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sogar empiristisch orientierte Denker unserer Zeit infiziert hat. 8 Der Rationalismus lebt wieder auf in Versuchen von Logikern, aus reiner Vernunft eine Wahrscheinlichkeitstheorie zu errichten, eine sogenannte Theorie der induktiven Logik, mittels derer Wahrscheinlichkeitsgrade ähnlich wie die Theoreme der deduktiven Logik aus der logischen Struktur von Propositionen ableitbar sind. Diese Theorien werden manchmal mit Hilfe des sogenannten Prinzips vom mangelnden Grunde, manchmal mit Hilfe von Methoden begründet, die einen sogenannten Bestätigungsgrad festzulegen gestatten. Allen diesen Theorien ist gemeinsam, daß ihre Anhänger glauben, sie besäßen eine analytische Regel, mit der sich auf Grund von Beobachtungsmaterial angeben läßt, mit welchem Grade der Wahrscheinlichkeit sich gewisse zukünft ige Beobachtungen einstellen werden. Die rationalistische Wurzel dieser Theorien liegt klar zutage. Wenn die Logik schon die Zukunft nicht voraussagen kann, sollte sie wenigstens imstande sein, die Wahrscheinlichkeiten der verschiedenen möglichen Zukunftsereignisse anzugeben – in dieser abgeschwächten Form hat sich der rationalistische Wunsch nach einer physikalischen Welt, die von der Vernunft regiert wird, in die moderne Philosophie der Mathematik eingeschlichen. In dieser neuen Form ist der Rationalismus ebenso aktiv und gefährlich wie in der alten Form, in der er Gewißheit versprach; im Versprechen von Wahrscheinlichkeiten zeigt sich vielleicht sogar eine noch gefährlichere Form des Rationalismus, weil es so bescheiden und modern aussieht. Alle diese Theorien können mit Leichtigkeit kritisiert werden. Wie alle mathematischen Systeme ist die Wahrscheinlichkeitsrechnung analytisch; sie kann nur Wahrscheinlichkeiten von anderen Wahrscheinlichkeiten ableiten, und diese anderen Wahrscheinlichkeiten müssen gegeben sein. Um auf die physikalische Realität anwendbar zu sein, muß das Kalkül durch eine Regel vervollständigt werden, die angibt, wie man die ersten Wahrscheinlichkeiten findet. Dies kann keine mathematische Regel sein, da sie nicht analytisch sein kann. Wenn sie analytisch wäre, würde sie nichts über die Zukunft aussagen
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und könnte daher nicht als Wegweiser für Hand lungen dienen. Da umgekehrt die Wahrscheinlichkeitsaussage eine Anweisung zum Handeln bedeuten soll, muß sie etwas über die Zukunft sagen; sie kann deshalb nicht mit Hilfe der deduktiven Logik aus Beobachtungsmaterial, das sich auf die Vergangenheit bezieht, abgeleitet werden. Das ist eine sehr einfache Kritik; daß es moderne Logiker gibt, die sie nicht akzeptieren wollen, beweist nur, daß der Drang zum Rationalismus9 nicht immer der logischen Kritik untersteht. Die empiristische Wahrscheinlichkeitstheorie beruht auf der Häufigkeitsinterpretation. Die Wahrscheinlichkeitsaussage sagt die Häufigkeit von Ereignissen voraus; sie sagt etwas über die Zukunft und kann daher durch die vorausgesagten Ereignisse verifiziert werden. Die synthetische Regel, die Wahrscheinlichkeiten liefert, ehe sich die ganze Folge von Geschehnissen ereignet hat, ist die Regel der Induktion durch Aufzählung. Obgleich eine Häufigkeit etwas über Klassen aussagt, kann die Wahrscheinlichkeitsaussage auf einen Einzelfall angewandt werden, da das Leben jedes Menschen viele Einzelfälle umfaßt. Wenn man den Wahrscheinlichkeitsregeln folgt, kommt man auf die größtmögliche Anzahl von Erfolgen. Das wichtigste Mittel für diese Überlegung ist der Begriff der Setzung. Eine Wahrscheinlichkeitsaussage erlaubt uns nicht, einen Satz über ein zukünft iges Ereignis als wahr zu behaupten. Dieser Satz kann nur im Sinne einer Setzung ausgesprochen werden. Eine Aussage setzen heißt, sie als wahr zu behandeln, obgleich wir nicht wissen, ob sie wahr ist. Um eine Setzung zu rechtfertigen, brauchen wir sie nicht als wahr zu beweisen; alles, was wir beweisen müssen, ist, daß es in einem gewissen Sinne vorteilhaft ist, die Aussage so zu behandeln, als ob sie wahr wäre. Der Begriff der Setzung ist der Schlüssel zum Verständnis von Voraussagewissen. Man kann beweisen, daß alle Formen der Induktion, einschließlich des sogenannten Bestätigungsbeschlusses, auf Induktion durch Aufzählung zurückgeführt werden können, und man kann zeigen, daß der in der modernen
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Physik angewandte umfangreiche mathematische Apparat lediglich eine Verkettung einzelner Schlüsse liefert, die mit Hilfe solcher einfachen Induktionen gezogen werden. Die Bedeutung analytischen Denkens für die empirische Wissenschaft ist demnach erklärt: Die Funktion der deduktiven Operationen ist das Zusammenfügen einfacher Induk tionen in ein Netz, das als Ganzes nur eine Setzung darstellt, von der man aber beweisen kann, daß sie jeder der einzelnen Setzungen, aus denen sie aufgebaut ist, überlegen ist. Eine Erkenntnis der Zukunft ist daher begründet, wenn die Möglichkeit besteht, die Induktion durch Aufzählung zu rechtfertigen. Diese Rechtfertigung, die Hume für unmöglich hielt, kann erbracht werden, wenn der induktive Schluß nicht mit Wahrheitsanspruch, sondern als Setzung behauptet wird. Man kann leicht zeigen, daß wenn es überhaupt möglich ist, Voraussagen zu machen, der induktive Schluß ein Mittel ist, um sie zu finden: Der Schluß ist gerechtfertigt, weil seine Anwendung eine notwendige Bedingung für jeglichen Erfolg darstellt. Die rationalistische Auffassung der induktiven Logik bricht zusammen, weil sie vor der unmöglichen Aufgabe steht, ein synthetisches Prinzip durch reine Vernunft zu begründen.10 Die empiristische Auffassung der induktiven Logik ist wesentlich anders. Das Prinzip der Induktion durch Aufzählung, welches ihr einziges synthetisches Prinzip ist, wird weder als evident noch als ein Postulat angesehen, dessen Geltung logisch bewiesen werden könnte. Was die Logik beweisen kann, ist nur, daß es ratsam ist, von dem Prinzip Gebrauch zu machen, wenn man ein bestimmtes Ziel im Auge hat, nämlich die Zukunft vorauszusagen. Dieser Beweis, die Rechtfertigung der Induktion, wird mit Hilfe analytischer Überlegungen erbracht. Der Empirist darf ein synthetisches Prinzip benutzen, weil er nicht behauptet, daß es wahr ist, oder zu wahren Schlüssen führt oder zu richtigen Wahrscheinlichkeiten oder zu irgendeiner anderen Art von Erfolg; alles, was er behauptet, ist, daß die Anwendung dieses Prinzips die vorteilhafteste Handlungsweise bedeutet. Das Aufgeben jeglichen Wahrheitsanspruchs versetzt ihn in die Lage, ein syn-
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thetisches Prinzip in eine analytische Logik einzubauen und die Bedingung zu befriedigen, daß das, was er auf der Basis seiner Logik behauptet, nur analytische Wahrheit ist. Er kann das tun, weil die induktive Schlußfolgerung von ihm nicht behauptet, sondern nur gesetzt wird; was er behauptet, ist, daß die Setzung der Schlußfolgerung ein Mittel zu seinem Zweck ist. Auf diese Weise wird das empiristische Prinzip, daß die reine Vernunft nur analytische Beiträge zur Erkenntnis liefern kann und daß es keine synthetische Evidenz gibt, völlig durchgeführt. Die scheinbar unauflöslichen Schwierigkeiten des Empirismus, wie sie in David Humes Skeptizismus formuliert werden, waren das Ergebnis einer irrtümlichen Deutung des Erkenntnisverfahrens und verschwinden, wenn diese Deutung korrigiert wird – das ist das Resultat einer Philosophie, die auf dem Boden der modernen Wissenschaft erwachsen ist. Der Rationalist hatte die Welt nicht nur mit einer Reihe unhaltbarer spekulativer Systeme beschenkt, sondern er hatte auch die empiristische Deutung der Erkenntnis vergiftet, indem er den Empiristen dazu veranlaßte, unerreichbaren Zielen nachzustreben. Die Auffassung der Erkenntnis als eines Systems von Aussagen, die als wahr bewiesen werden können, mußte erst durch die Entwicklung der Wissenschaft überwunden werden, ehe eine Lösung des Problems unseres Wissens von der Zukunft gefunden werden konnte. Die Suche nach Gewißheit mußte erst in der exaktesten aller Naturwissenschaften, der mathematischen Physik, ihr Ende finden, ehe der Philosoph für die Rechtmäßigkeit der wissenschaft lichen Methode Rechenschaft ablegen konnte. Ich habe einen kurzen historischen Überblick über die Kontroverse zwischen Rationalismus und Empirismus gegeben, um die Wurzeln philosophischen Irrtums zu untersuchen. Ich bin zu dem Resultat gelangt, daß die Irrtümer der traditionellen Philosophie einer Fehldeutung der Erkenntnis entspringen, aus der Überzeugung, mathematische Erkenntnis sei der Prototyp aller Erkenntnis. Sie werden mich fragen: Wenn das der grundlegende Fehler ist, warum hat man ihn gemacht? Können wir, mit anderen Worten, die Erklärung noch einen Schritt weiter
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zurückverfolgen und nicht nur die Ursache des Irrtums, sondern auch die Ursache der Ursache des Irrtums aufdecken? Auf diese Frage gibt es eine Antwort. Zwei Ursachen sind für diese philosophische Fehldeutung der Erkenntnis verantwortlich. Die erste ist der Verlauf der geschichtlichen Entwicklung der Wissenschaft. Es hat mehrere tausend Jahre gedauert, bis die Wissenschaft eine Form angenommen hatte, die einen folgerichtigen Empirismus ermöglichte. Man kann es dem Philosophen nicht übelnehmen, daß er die mathematische mit der physikalischen Geometrie identifizierte, solange der zeitgenössische Mathematiker dasselbe tat. Wenn nichteuklidische Geometrien zu Euklids Zeiten entdeckt worden wären, hätte die Philosophie vielleicht einen anderen Weg genommen. Blickt man auf die Geschichte der Mathematik zurück, muß man eingestehen, daß eine solche Entwicklung möglich gewesen wäre. Die Grundlagen nichteuklidischer Geometrien können mit relativ einfachen mathematischen Mitteln behandelt werden, und man könnte sich sehr wohl einen Bolyai unter Euklids Schülern vorstellen. Das hellenistische und spätere römische Zeitalter waren weit genug fortgeschritten, um die für einen solchen Versuch notwendigen mathematischen Voraussetzungen zu bieten. Wir wissen, daß das heliozentrische System bereits im Jahre 280 vor Christi Geburt konzipiert worden ist. Da die Geschichte der Geometrie eine solche Vorwegnahme nichteuklidischer Systeme nicht verzeichnet, können wir nur auf diese Verzögerung der Entwicklung der Mathematik hinweisen und sie für die verzögerte Entwicklung der Philosophie verantwortlich machen. Auf der anderen Seite konnte die Ent wicklung der Physik, die zur Aufgabe der Kausalität und zum Primat der Wahrscheinlichkeit führte, nicht stattfinden, ehe es eine moderne experimentelle Wissenschaft gab. Bei ihrem letzten Schritt zu einer Auffassung der Erkenntnis als System von Setzungen war die Philosophie daher von Entwicklungen abhängig, auf die der Philosoph keinen Einfluß hatte. Die Abhängigkeit der Philosophie von der Entwicklung der Wissenschaft ist aber nicht der einzige Grund, den man für die
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II. Radikaler Empirismus
falsche rationalistische Interpretation der Erkenntnis nennen kann. Die Wissenschaft hat viele Seiten, und ihre mathematische Seite ist nur eine davon. Die Existenz empiristischer Philosophien zu allen Zeiten ist ein Zeichen dafür, daß die empirische Seite der Wissenschaft immer Aufmerksamkeit erregt hat. Die Neigung des Philosophen, den mathematischen Aspekt der Wissenschaft überzubetonen und die Mathematik als das Ideal anzusehen, dem alle anderen Wissenschaften nachstreben sollten, kann nur psychologisch erklärt werden. Und hier entdecken wir wirklich die tiefsten Wurzeln für das Mißverständnis der Erkenntnis, das zu den Irrtümern in der Philosophie geführt hat. Wenn man sich die lange Liste philosophischer Systeme ansieht, kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, daß die Männer, die diese Systeme aufgestellt haben, nicht primär an einer vorurteilslosen Interpretation der Wissenschaft interessiert waren. Für den Philosophen war die Analyse der Wissenschaft immer ein Mittel zum Zweck; er brauchte die Wissenschaft als eine Brücke, über die er andere Ziele erreichen konnte. Er unternahm das Studium der Wissenschaft mit einem vorgefaßten Ziel und las seine eigenen Zwecke in die Wissenschaft hinein. Er wollte Gewißheit und sah die Wissenschaft nur unter einem Aspekt, unter dem sie sich leicht als absolut wahre Erkenntnis verstehen ließ. Er wollte ethische Leitsätze und sah die Züge der Wissenschaft, die eine Interpretation der Erkenntnis im Sinne eines kognitiv-ethischen Parallelismus möglich machten. Selbst der Empirist, der die rationalistische Lösung nicht annahm, konnte sich nicht von dem rationalistischen Ziel befreien und wurde zum Skeptiker, wenn seine Logik einwandfrei war. Das rationalistische Mißverständnis der Erkenntnis entsprang außerlogischen Motiven, nämlich der Absicht, sich absolute Gewißheit für menschliches Wissen zu sichern und ethische Leitsätze für menschliches Handeln aufzustellen. Der Philosoph beging Irrtümer, weil seine Analyse nicht unvoreingenommen war: Ihm galt nur als Wissenschaft, was seinen Wunschvorstellungen entsprach.
2.2 Rationalismus und Empirismus
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143
Was können wir nun tun, um eine bessere Philosophie aufzubauen? Das Studium der Irrtümer sollte uns dazu helfen, die Wahrheit zu finden. Da die Philosophie von der Wissenschaft abhängig ist, sollten wir diese Abhängigkeit zu einer bewußten Voraussetzung unserer Arbeit machen: Wir sollten wissen, daß das Wesen der Erkenntnis durch Wissenschaftsanalyse erforscht werden kann. Der Gedanke einer philosophischen Erkenntnistheorie, die die allgemeinen Züge der Erkenntnis aus der Struktur des Geistes oder aus der Einsicht in das Wesen des Seins ableitet, sollte für immer aufgegeben werden. Es gibt keine Ontologie,11 kein selbständiges Reich einer philosophischen Erkenntnis, die den Vortritt vor der Wissenschaft hat. Die Philosophie trägt inhaltlich nichts zur Erkenntnis bei; sie erforscht nur die Art der Erkenntnis, wie sie sich im Werk des Wissenschaft lers zeigt und untersucht alle Geltungsansprüche. Wenn der Philosoph das tut, weiß er gleichzeitig, daß er nur nach einer Philosophie seiner Zeit streben kann. Die Erkenntnistheorie umfaßt ungefähr die Hälfte der Themen der traditionellen Philosophie; zur anderen Hälfte handelt sie von Werturteilen, besonders denen der Ethik. Ich sagte, die Axiome der Ethik, ebenso wie die der Geometrie, seien der Kritik des Philosophen entzogen. Nur die Folgerungsbeziehungen zwischen verschiedenen moralischen Regeln unterstehen der Logik, während die Grundregeln nicht kognitiv sind. Sie sind Imperative und daher Willensentscheidungen. Der Philosoph, der darauf verzichten mußte, physikalische Prinzipien aufzustellen, wird auch bereit sein, darauf zu verzichten, fundamentale ethische Imperative aufzustellen. Seine Aufgabe kann nur in einer logischen Analyse moralischen Verhaltens bestehen, die seiner Analyse kognitiven Verhaltens vergleichbar ist. Er wird auf die Bedeutung dieser Folgerungsbeziehungen für das moralische Verhalten und auf Zusammenhänge zwischen verschiedenen Willenszielen hinweisen, indem er Ziele jeweils anderen unterordnet. Und er wird gegenüber jedem, der Willensziele in ein geordnetes System bringen will, die Notwendigkeit betonen, Psychologie und Soziologie zu studieren. Wie in der Erkenntnis-
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II. Radikaler Empirismus
theorie besteht die Arbeit des Philosophen auf ethischem Gebiet im wesentlichen darin, Ordnung zu schaffen, in dem er die logischen Regeln des menschlichen Verhaltens in einem Bereich klar formu liert, auf dem sie ebenso umstritten wie unentbehrlich sind. Eine derartige Philosophie, die mehr Analyse als unabhängige Konstruktion ist, mag allen denen unbefriedigend erscheinen, die sich der Bewunderung der Philosophie der Systeme hingeben. Philosophische Systeme haben eine suggestive Macht, der man sich nicht leicht entziehen kann, eine Macht, die dem magischen Einfluß großer literarischer Werke vergleichbar ist. Der Verzicht auf philosophische Spekulation mag als ein Verzicht auf die Schönheit und die Größe erscheinen, der die Philosophie ihre führende Rolle in der Kultur verdankt. Ich will nicht über den ästhetischen Wert der Systeme streiten; aber ich möchte die Aufmerksamkeit darauf lenken, daß die positive Seite untrennbar verknüpft ist mit der negativen Seite der traditionellen Philosophie, mit dem Mangel an allgemeiner Zustimmung zu ihren philosophischen Theorien. Philosophische Systeme sind individualistische Schöpfungen; wie gewisse Kunstwerke fragen sie nicht nach der Zustimmung aller, sondern nach der Bewunderung der wenigen, denen sie etwas bedeuten. Die nüchterne Bemühung um die Wahrheit hat nicht den Glanz künstlerischer Schöpfungen; sie hat aber den Vorzug, daß sie den Weg zur allgemeinen Zustimmung ebnet und Ergebnisse sicherstellt, die zu guter Letzt Kontroversen und Angriffen entzogen sein werden. Die Philosophie der logischen Analyse geht den Weg der Wissenschaft. Obgleich sie einem romantischen Geist weniger attraktiv erscheint, erweist sich die Aneignung der wissenschaft lichen Methode als unerläßliche Konsequenz eines unvoreingenommenen Studiums der Geschichte der Philosophie. Er ist der einzige erfolgreiche Weg, der der Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts offensteht. Wer diesem Weg gefolgt ist, hat Erlebnisse gehabt, die ich denen ästhetischer Werte gleichsetzen möchte:12 das Erlebnis der Macht der Klarheit, welches die logische Ana lyse mit sich
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2.2 Rationalismus und Empirismus
145
bringt. Zu wissen, was man meint, und zu wissen, was Erkenntnis bedeutet, ist ein Ziel, das des Philosophen würdig ist; und ich glaube, wir wären alle froh, wenn unsere Arbeit zur Klärung von Bedeutungen beiträgt. Der Wissenschaft ler entdeckt synthetische Wahrheit; unsere Aufgabe möge sein, diese Wahrheit zu deuten und zu zeigen, wo sie in die Totalität der menschlichen Zivilisation eingeordnet werden soll. Philosophen haben immer an ihre Aufgabe als Erzieher geglaubt; so wollen wir denn Erzieher sein, welche Bedeutungen klären, indem wir Erkenntnis und Wollen je an ihren richtigen Platz stellen, deutlich aussprechen, was wir verstehen und klären, was im Halbdunkel unseres Bewußtseins nur unklar wirksam ist. Klarheit des Denkens ist eine der edelsten geistigen Freuden – setzen wir uns also als höchstes philosophisches Ziel, nicht nur die Wahrheit zu sagen, sondern sie auch mit der Klarheit auszudrücken, die der logischen Analyse entspringt.
ANMERKUNGEN DES HERAUSGEBERS
Neue Wege der Wissenschaft (S. 1–18) 1
Der »Aufsatz«, den Reichenbach meint, ist Teil 1 des Beitrages 1.1. Die »Reihe von Beiträgen« besteht noch aus den Teilen 2 und 3 von 1.1. Vgl. »Nachweis der Erstdrucke«, S. XLI. 2 Im Rahmen der Gesellschaft für wissenschaft liche Philosophie fanden auch Techniker und Ingenieure ein Forum, z. B. die Mitbegründer der Gesellschaft Graf Georg von Arco und August von Parseval. 3 Mit »moderner Analyse« meint Reichenbach hier vor allem Hilberts axiomatische Methode, die seiner Ansicht nach auch für Physiker und andere Wissenschaft ler geeignet sei. Sie soll als eine Art »Begriffsmaschine« funktionieren. Anfang des 20. Jahrhunderts war diese Vorstellung weit verbreitet; vgl. beispielsweise Aurel Voss, Über das Wesen der Mathematik, Leipzig: Teubner, 1908, S. 91: »Die bloße Benutzung der Axiome würde jener Begriffsmaschine Stanley Jevons gleichen, die nur ein mehr oder minder sinnvolles Spiel der Kombinatorik entstehen lassen würde«. 4 Eine Methode, die zuerst Bertrand Russell beschrieb: »Die Wirksamkeit der modernen Logik besteht […] darin, daß sie unsere Einbildungskraft befruchtet und uns eine unendlich große Zahl von Hypothesen an die Hand gibt, die bei der Analyse von komplexen Tatsachen nützliche Hilfsmittel sind.« (Bertrand Russell, Unser Wissen von der Außenwelt, hg. von Michael Otte, Hamburg 2004, S. 69.) 5 Das Schritt-für-Schritt-Verfahren in der Philosophie, welches nur auf »solide« Ergebnisse baut und diese weiterentwickelt, wurde zuerst von Bertrand Russell eingeführt: Die neue Philosophie behandelt ihre Probleme »Stück für Stück« (Bertrand Russell, Mystik und Logik, übers. von E. Heinzel, Wien 1952, S. 113). 6 Scharf defi nierte Begriffe wurden zuerst von Frege und dem früheren Carnap verlangt; dies wurde später von Otto Neurath und auch von J. L. Austin kritisiert. Zur neuen Kritik an den scharfen Begriffen siehe Mark Wilson, Wandering Significance, Oxford 2006.
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Anmerkungen des Herausgebers
7
Gemeint ist die »neue Sachlichkeit« in der Kunst, auf die sich ein Jahr zuvor auch Carnap bezieht. (Vgl. Rudolf Carnap, Der logische Aufbau der Welt, Berlin 1928, S. XV.) Die Beziehung der Logischen Empiristen zur »Neuen-Sachlichkeits«-Bewegung wurde zuerst von Peter Galison untersucht. Siehe P. Galison, »Aufbau/Bauhaus«, in: Critical Inquiry 20 (1990), S. 709–752. 8 Auch Philosophen anderer Richtungen, vor allem die von Jakob Friedrich Fries beeinflussten Leonard Nelson und Karl Popper, bezeichnen ihre Philosophie als »kritischen Rationalismus«. 9 Über die Begriffskalkulation siehe Walter Dubislav, »Zur kalkülmäßigen Charakterisierung der Defi nitionen«, in: Annalen der Philosophie 7 (1928), S. 136–145. 10 Über die begriffl iche Schöpferkraft siehe Walter Dubislav, »Zur Lehre von den sogenannten schöpferischen Definitionen«, in: Philosophisches Jahrbuch 41 (1928), S. 467–479; 42 (1929), S. 42–53. 11 Den Begriff sapparat, den die neue Wissenschaft erarbeitet hatte, mit anschaulichem Inhalt zu füllen war ein zentrales Anliegen Reichenbachs. Vgl. Einleitung, S. XXXIV. 12 Noch 1929 war für Reichenbach Hilberts Axiomatik und nicht Freges oder Russells Logistik die wichtigste formale Lehre. Erst seine Auseinandersetzung mit den logischen Positivisten half ihm, die Bedeutung der Logik für seine Analyse der Wissenschaft zu verstehen. Vgl. Einleitung, Abschnitt 4, die letzten zwei Absätze. 13 Siehe Anmerkung 7.
Die philosophische Bedeutung der modernen Physik (S. 19–46) 1
»Klärung der Begriffe« bedeutet für Reichenbach etwas deutlich anderes als für G.E. Moore oder Carnap. Die Aufgabe lautet einfach, unsere täglichen Begriffe mit den neuen Entdeckungen der Wissenschaft in Einklang zu bringen. Man achte auch darauf, dass Reichenbach mit »Klärung«, »Kritik« und »Analyse« praktisch das gleiche meint. 2 Reichenbach spricht über die Elektrizität als Gegenstand, den wir durch Schließen kennen, auch in Erfahrung und Prognose, a. a. O., S. 104. 3 Reichenbachs Auffassung der wissenschaft lichen Erklärung als
Die philosophische Bedeutung der modernen Physik
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»Zusammenfassen unter ein einheitliches Gesetz« wurde später von Carl Hempel und Paul Oppenheim als »covering law model of scientific explanation« weiterentwickelt. Siehe Carl Hempel und Paul Oppenheim, »Studies in the Logic of Explanation«, in: Philosophy of Science 15 (1948), S. 135–175. Vgl. Einleitung, Abschnitt 3, letzter Absatz. 4 Hier erklärt Reichenbach seine allgemeine epistemologische Auffassung der Begriffsschemata am Beispiel der gesellschaft lichen Konventionen. Siehe Anmerkung 11 zum Beitrag 1.1. 5 Reichenbach meint hier die Position der Neukantianer, die er in zahlreichen Aufsätzen und Besprechungen kritisiert hat. Siehe insbesondere Reichenbach, »Der gegenwärtige Stand der Relativitätsdiskussion«, in: Logos 10 (1922), S. 316–378. 6 Gemeint ist die Nebelkammer (oder der Teilchendetektor), die zum Nachweis von Kernreaktionen dient. Eine Nebelkammer wurde zuerst von dem schottischen Physiker Charles Wilson (1869–1959) konstruiert. 7 Reichenbach hielt die Psychologie der Philosophen für wichtig für die Entwicklung der Philosophie. Wiederholt betont er, dass »die Psychologie der Philosophen […] mehr Aufmerksamkeit« verdiene (Reichenbach, Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie, a. a. O., S. 47). Dies erklärt, warum Reichenbach die Mitarbeit von Alexander Herzberg, einem Arzt und Psychologen, in der Berliner Gruppe so hoch schätzte. Über Herzberg siehe Wilhelm Schernus, »Alexander Herzberg: Psychologie, Medizin und wissenschaft liche Philosophie«, in: Lutz Danneberg et al. (Hg.), Hans Reichenbach und die Berliner Gruppe, a. a. O., 1994, S. 33–51. 8 Der Wille spielt eine zentrale Rolle in Reichenbachs Wissenschaftstheorie. Für ihn war auch die Frage, welche Bedeutung ein Ausdruck habe, eine Frage »der Definition und damit der Willensentscheidung« (Hans Reichenbach, Erfahrung und Prognose, a. a. O., S. 40). 9 Vgl. Anmerkung 11 zum Beitrag 1.1. 10 Reichenbach war fest davon überzeugt, dass es in der Philosophie Lösungen und Irrtümer gäbe. Vgl. Beitrag 2.2 sowie Einleitung, Abschnitt 7. 11 Dieses Argument würde radikal skeptische Philosophen, etwa Wittgenstein, wenig überzeugen. 12 Vgl. dies mit Carl Hempels Charakterisierung der Gesetze der Wissenschaft als umfassend, von großer Reichweite und somit nützlich für das Aufstellen von wissenschaft lichen Erklärungen. (Carl
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Anmerkungen des Herausgebers
Hempel, Philosophie der Naturwissenschaften, üb. von W. Lenzen, München 1974 [1. amerikanische Ausgabe 1966], S. 72 ff. Siehe auch Anmerkung 3. 13 Pierre Duhem folgend, kritisirt Carl Hempel das experimentum crucis in Philosophie der Naturwissenschaften, a. a. O., S. 40–44. 14 Reichenbach meint hier das Michelson-Morley-Experiment. Es zeigt, daß das Licht sich immer mit gleicher Geschwindigkeit bewegt und daß es folglich keinen Äther gibt. 15 Vgl. Hans Reichenbach, »Kausalität und Wahrscheinlichkeit«, in: Erkenntnis 1 (1930), S. 158–188. 16 Die Prophezeiung (die Prognose) ist ein wichtiges Element in Reichenbachs Naturphilosophie. Hauptaufgabe der Wissenschaft sei, Prognosen darüber aufzustellen, wie die Wirklichkeit sich in der Zukunft verhalten würde. Vgl. Hans Reichenbach, Erfahrung und Prognose, a. a. O., passim. 17 In seiner Metaphysikkritik schließt sich Reichenbach dem Wiener Kreis an. Anders als Carnap und insbesondere Neurath betrachtet Reichenbach jedoch die Philosophie selbst nicht als »überwunden«. 18 Hier folgt Reichenbach Carnap und Neurath, die ebenfalls von der »Reinigung« (der Begriffe) sprechen. 19 Das hier dargelegte Kriterium der Wahrheit sieht im Vergleich zum »Verifi kationsprinzip« des Wiener Kreises deutlich anders aus. Vgl. Anmerkung 16. 20 Der Übergang von Wahrheiten der Physik zu ethischen Wahrheiten ist typisch für Reichenbach. Siehe dazu Einleitung, Abschnitt 6 (iv). Ziele und Wege der heutigen Naturphilosophie (S. 47–94) 1
Gemeint sind Kants »reine Vernunft« und Husserls »Wesenschau«. 2 Reichenbach meint hier Wilhelm Diltheys »Lebensphilosophie«. 3 Im Unterschied zum gleichnamigen Programm des deutschen Idealismus strebt Reichenbachs Programm für Naturphilosophie nicht an, die Kategorien der Natur spekulativ zu erforschen, sondern sie in bezug auf die neuesten Entdeckungen der Wissenschaft zu bestimmen.
Ziele und Wege der heutigen Naturphilosophie 4
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In den 1910er Jahren glaubten auch Russell und Wittgenstein, daß die Philosophie eigenständige Probleme habe: »Die Philosophie hat ihr Forschungsgebiet neben dem der anderen Wissenschaften, ihre Ergebnisse sind den anderen Wissenschaften nicht erreichbar.« Bertrand Russell, Unser Wissen von der Außenwelt, üb. von W. Rothstock, Frankfurt a.M. 1926 (1. englische Ausgabe 1914), S. 317 f. 5 Vgl. die Differenzierung zwischen Mystizismus und Logik, die Bertrand Russell in Mystik und Logik, a. a. O., eingeführt hat. 6 Ein solches System präsentiert Reichenbach in Beitrag 2.2 und auch in Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie; vgl. Einleitung, S. XXXVIII. 7 Siehe Anmerkung 3. 8 Heute teilen viele Philosophen diese Ansicht Reichenbachs. Gilbert Hartman z. B. wird die Parole «History of Philosophy: Just say No!«, zugeschrieben. Vgl. T. Sorell und J. Rogers (Hg.), Analytic Philosophy and History of Philosophy, Oxford 2005, S. 44. 9 Vgl. Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie, a. a. O., S. 126. 10 Kant, Prolegomena, S. 255. 11 Reichenbach folgt hier Ideen, die Ludwig von Bertalanff y in seinem Aufsatz »Tatsachen und Theorien der Formbildung als Weg zum Lebensproblem«, in: Erkenntnis 1 (1930), S. 361–407, entwickelt hat. 12 Vgl. Hans Driesch, Philosophie des Organischen, Leipzig 1909, S. 27 ff. 13 Reichenbach war mit der führenden Figur der Gestaltpsychologie, Wolfgang Köhler, befreundet, mit dem er um 1923/1924 eine Zeitschrift für exakte Philosophie herauszugeben plante (vgl. Einleitung, Abschnitt 3). Zur »Berliner Schule der Gestaltpsychologie« gehörte auch Reichenbachs Freund Kurt Lewin. 14 Jede wissenschaft liche Theorie hat nicht nur ihre eigenen Voraussetzungen, sondern die Voraussetzungen verschiedener Wissenschaften sind oft ähnlich oder sogar untereinander verbunden, wenngleich in einer unregelmäßigen Art und Weise. Das ist eigentlich der Tenor der Beiträge 1.1–1.3. Der Unterschied zwischen Reichenbach und Kant ist mit dieser Position nicht so groß, wie Reichenbach selbst sich das vorstellte. Es gibt zwar keine allgemeinen Erkenntnisse a priori, die für alle Wissenschaften gültig sind. Die partiellen begriffskonstituierenden Prinzipien, die die verschiedenen Wissenschaften charakterisieren, sind jedoch oft verwandt und werfen manchmal sogar ein aufk lärendes Licht aufeinander.
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Anmerkungen des Herausgebers
Über den Begriff der Struktur in der Logik siehe Walter Dubislav: Die Definition (1. Beiheft der Erkenntnis), Frankfurt a.M. 1931, S. 96–106. 16 Zu den »Zuordnungsdefi nitionen« und »Zuordnungsprinzipien« siehe Einleitung, Abschnitte 1 und 2. Siehe auch T. A. Ryckman, »Conditio sine qua non? Zuordnung in the Early Epistemologies of Cassirer and Schlick”, in: Synthese 88 (1991), S. 57–95; Michael Friedman, »Geometry, Convention, and the Relativized A Priori: Reichenbach, Schlick, and Carnap«, in: Wesley Salmon und Gereon Wolters (Hg.), Logic, Language, and the Structure of Scientific Theories, Konstanz/Pittsburgh 1994, S. 21–34. 17 Siehe Philosophie der Raum-Zeit-Lehre, a. a. O., S. 164; und Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie, a. a. O., S. 177. 18 Später nennt Reichenbach die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie »rationalistische Wahrscheinlichkeitstheorie«; vgl. Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie, a. a. O., S. 264 ff. 19 Reichenbach folgt hier Russells Einschätzung, daß die Syllogistik eine unterentwickelte Logik war, die erst Ende des 19. Jahrhunderts richtiggestellt wurde. Vgl. Bertrand Russell, Mystik und Logik, a. a. O., S. 78. 20 Reichenbachs Freund und Gründungsmitglied der Berliner Gruppe Kurt Grelling hat mehrere Beiträge über die Paradoxien der Mengenlehre verfaßt. Siehe z. B. Kurt Grelling, »Die Paradoxien der Mengenlehre«, in: Mathematik-Büchlein. Ein Jahrbuch der Mathematik, hg. von W. Bloch und J. Fuhlberg-Horst, Stuttgart 1924, S. 44–49. 21 Reichenbach faßt hier Friedrich Waismanns Vortrag über Wittgensteins Philosophie der Mathematik auf der Königsberger Tagung vom September 1930 zusammen. Vgl. Friedrich Waismann, »Über das Wesen der Mathematik: Der Standpunkt Wittgensteins«, in: ders., Lectures on the Philosophy of Mathematics, hg. von W. Grassl. Amsterdam 1982, S. 157–167. 22 Gemeint ist die Mitteilung Kurt Gödels auf der oben genannten Tagung in Königsberg, September 1930. Sie wurde ein Jahr später veröffentlicht als »Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I«, in: Monatshefte für Mathematik und Physik 38 (1931), S. 173–198. Über die Rezeption des Gödels Theorem in Berlin siehe Paolo Mancosu, »Between Vienna and Berlin: The Immediate Reception of Gödel’s Incompleteness Theorems«, in: History and Philosophy of Logic 20 (1999), S. 33–45.
Ziele und Wege der heutigen Naturphilosophie 23
153
Reichenbach meint hier insbesondere Hilberts Formalismus, aber auch die Aufstellung und die Verbreitung der symbolischen Logik. 24 Im Vergleich war Frege gegen die Vermischung seiner Begriffsschrift mit der Booleschen Algebra der Logik. Siehe G. Frege, »Über den Zweck der Begriffsschrift«; »Über die wissenschaft liche Berechtigung einer Begriffsschrift«, in: G. Frege, Begriffsschrift, hg. von I. Angelelli, Darmstadt 1973, S. 97–106; 106–114. Dieser Unterschied zu Frege zeigt, wie weit Reichenbach entfernt war von der sprachphilosophisch orientierten Wissenschaft stheorie des Wiener Kreises, die stark von Wittgenstein und letzten Endes von Frege beeinflußt war. 25 Reichenbach kritisierte – zusammen mit Kurt Grelling – den logischen Positivismus schon in der »Diskussion über Wahrscheinlichkeit« auf der Prager Tagung von 1929 (in: Erkenntnis 1 [1930], S. 260–287). In seiner Besprechung von Carnaps Aufbau vier Jahre später beanstandete Reichenbach Carnaps Behauptung, daß »wissenschaft liche Erkenntnis […] in nichts anderem bestehen [kann] als in logischen Umformungen von Elementaraussagen, die sich allein auf das Protokoll beziehen«, das heißt in Tautologien. (Hans Reichenbach, »Rudolf Carnap, Der logische Aufbau der Welt«, in: Kantstudien 38 [1933], S. 199–201; hier S. 200.) Dagegen war Reichenbach fest davon überzeugt, daß die empirische Wissenschaft synthetische Erkenntnis zutage bringe, und zwar in Form von Setzungen. Der Kritik des logischen Positivismus widmete Reichenbach den Beitrag 2.1 und das Buch Erfahrung und Prognose (1938). 26 Im Gegensatz zu dieser Aussage äußert sich Reichenbach in den Beiträgen 2.1 und 2.2 in scharfem Ton gegen den Rationalismus – nach 1933 ist der Rationalismus sein erklärter Gegner. Es gilt zu bemerken, daß nicht nur Reichenbach, sondern auch andere logische Empiristen zunächst von »empirischem Rationalismus« und nicht von »logischem (logistischem) Empirismus« sprachen. Otto Neurath z. B. meinte: »Der neue Rationalismus stimmt mit dem ›modernen Empirismus‹ überein« (ders., »Rezension von Rudolf Carnap, Der logische Aufbau der Welt und Scheinprobleme in der Philosophie«, in: Der Kampf 21 [1928], S. 624–626; hier S. 626). 27 In den Beiträgen 2.1. und 2.2 wendet sich Reichenbach jedoch (Bertrand Russell folgend – vgl. Anmerkung 5 zum Beitrag 1.1) gegen philosophische Systeme und fi ndet einen der großen Nachteile des
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Anmerkungen des Herausgebers
Wiener logischen Positivismus genau in der Bestrebung, Systeme zu bilden. Siehe auch Einleitung, Abschnitt 8 (B). 28 Vgl. Anmerkung 3 zum Beitrag 1.1. 29 Auch in Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie, a. a. O., S. 23, äußert sich Reichenbach gegen die Ontologie. Interessanterweise haben sich auch die Philosophen der normalen Sprache im Oxford der 1950er Jahre, die eigentlich wenig mit Reichenbach gemeinsam hatten, gegen die Ontologie ausgesprochen. Gilbert Ryles Argument insbesondere war: »Ontologizing is out. [… Indeed,] any assertion of the existence of something, like any assertion of the occurrence of something, can be denied without logical absurdity.« »Final Discussion«, in: David Pears (Hg.), The Nature of Metaphysics, London 1957, S. 142–163; hier S. 149 f. 30 Klare Anspielung auf Heideggers Begriff der »Sorge«, dessen Analyse in seinem Werk Sein und Zeit eine zentrale Rolle spielt. 31 »Tun ist besser als Denken« ist eine Maxime, die nah am Pragmatismus liegt und Bertrand Russells Abneigung gegen jede Form von Voluntarismus klar entgegensteht. 32 Vgl. mit Aristoteles (für den Reichenbach eigentlich wenig Sympathie zeigte): »Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen« (Met., 980a). 33 Ein klarer Fall des Epikureismus in der Epistemologie, der auch Verbindungen zur Psychoanalyse hatte. In der Tat schätzte Reichenbach die Psychoanalyse hoch. Er »war Ehrenmitglied der Psychoanalytic Study Group in Los Angeles, wo er Vorträge hielt«. Maria Reichenbach, »Erinnerungen und Reflexionen«, in: R. Haller (Hg.), Wien–Berlin–Prag: Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie, Wien 1993, S. 284–296; hier S. 292.
Der logistische Empirismus in Deutschland und der gegenwärtige Stand seiner Probleme (S. 95–120) 1
Eine Anspielung auf Reichenbachs Auffassung, daß die kausalen Beziehungen als Wahrscheinlichkeitsbeziehungen zu betrachten seien, die er zuerst in seinem Aufsatz »Die Kausalstruktur und der Unterschied von Vergangenheit und Zukunft« vertritt. Siehe Einleitung, FN 16. 2 In Wirklichkeit bestand zwischen Carnaps und Reichenbachs
Ziele und Wege der heutigen Naturphilosophie
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Begriff der Analyse der Wissenschaft Anfang der 1930er Jahre ein deutlicher Unterschied. Vgl. Einleitung, Abschnitt 5. 3 Siehe Einleitung, FN 48. 4 Reichenbachs Anwendung der Begriffe »meaning«, »sense« und »significance« in der englischen Originalfassung des Aufsatzes ist instabil und daher schwer zu übersetzen. Wir haben generell »meaning« als »Bedeutung«, »sense« als »Sinn« und »significance« als »Signifi kat« übersetzt. Vgl. Einleitung, S. XXI. 5 Vgl. Rudolf Carnap, Scheinprobleme in der Philosophie und andere metaphysikkritische Schriften, hg. von Thomas Mormann, Hamburg 2004. 6 Über die »Gesellschaft für wissenschaft liche Philosophie« siehe: Lutz Danneberg und Wilhelm Schernus, »Die Gesellschaft für wissenschaft liche Philosophie: Programm, Vorträge und Materialien«, in: Lutz Danneberg et al. (Hg.), Hans Reichenbach und die Berliner Gruppe, a. a. O., S. 391–481. Siehe auch Einleitung, Abschnitt 4. 7 Diese Einschätzung betrifft auch Reichenbach selbst. Über Reichenbachs versteckten Kantianismus siehe Einleitung, S. XXIX . 8 Für Reichenbach gab es keine eigenständige österreichische Philosophie, was schon im Titel dieses Beitrags zum Ausdruck gebracht wird. Über »österreichische Philosophie« sprach zuerst Otto Neurath 1936 und viel später Rudolf Haller. Vgl. Otto Neurath, »Die Entwicklung des Wiener Kreises und die Zukunft des logischen Empirismus«, in: ders., Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, in 2 Bänden, R. Haller et al. (Hg.), Wien 1981, 2. Band, S. 673–702; Rudolf Haller, Studien zur österreichischen Philosophie, Amsterdam 1979. 9 Gemeint sind vor allem Reichenbachs Bemühungen von 1920 bis 1928, die Relativitätstheorie zu axiomatisieren. 10 Reichenbach bezieht sich hier auf populäre Darstellungen der Relativitätstheorie, bei denen zwei Ereignisse für den einen Beobachter (der etwa in einem fahrenden Zug sitzt) gleichzeitig und für einen anderen (auf dem Bahnsteig) zu verschiedenen Zeiten stattfi nden. 11 Gemeint ist Russells Defi nition der Zahlen: »Eine Zahl ist irgend etwas, das die Zahl einer Menge ist«. Einführung in die mathematische Philosophie, üb. von E. J. Gumbel und W. Gordon, Frankfurt a.M. 1923, S. 25. Wie Russell selbst zugibt, wurde diese Defi nition schon von Frege in den Grundlagen verwendet. 12 »Die Sätze der Logik sind Tautologien« (Wittgenstein, Tracta-
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Anmerkungen des Herausgebers
tus, 6.1). Das ist eine der wenigen Ideen Wittgensteins, die Reichenbach übernimmt. 13 In Wirklichkeit war für Carnap in Der logische Aufbau der Welt (§ 59) der Behaviorismus nur eine von vielen möglichen Sprachen. Carnap hat erst um 1932 Sympathien für den Behaviorismus entwikkelt, als er, Otto Neurath folgend, die Epistemologie des Physikalismus aufgriff. 14 Reichenbach wiederholt hier seine Kritik an Carnaps Aufbau, die er in »Diskussion über Wahrscheinlichkeit« (in: Erkenntnis 1 [1930]) und auch in seiner Rezension dieses Buches entwickelt. Vgl. Anmerkung 25 zum Beitrag 1.3. 15 Vgl. Anmerkung 5 zum Beitrag 1.1. 16 Vgl. Otto Neurath, »Soziologie im Physikalismus«, in: Erkenntnis 2 (1932), S. 393–431; Rudolf Carnap, »Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft«, in: Erkenntnis 2 (1932), S. 432–65. 17 Der Terminus »logischer Empirismus« stammt von Otto Neurath (vgl. ders., »Physikalismus«, in: Scientia, Nov. 1931, S. 297– 303; hier S. 297). In den Abschnitten V und VI des Beitrags 2.1 bezeichnet Reichenbach die wissenschaft liche Philosophie, die die Berliner Gruppe entwickelte und die nah an der »Wissenschaftspraxis« war, als »logistischen (sic!) Empirismus«, um sie dem »logischen Positivismus« der Philosophie des Wiener Kreises entgegenzusetzen. Heute ist umstritten, was »logischer Empirismus« bedeutet. Einige Wissenschaftsphilosophen (Wesley Salmon und Philip Kitcher z. B.) betonen, daß ein deutlicher Unterschied zwischen dem Logischen Positivismus und dem Logischen Empirismus, der wenig später entwickelt wurde, bestand. Andere (z. B. Thomas Uebel) bezeichnen die gesamte deutschsprachige wissenschaft liche Philosophie um 1930 und ihre weitere Entwicklung in Nordamerika bis etwa 1965 als »logischen Empirismus«. 18 Die Betonung der Wissenschaft spraxis und der Einschluß von Handlungen in Reichenbachs Wissenschaft sphilosophie stimmen überein mit der Hochachtung für den amerikanischen Pragmatismus, die insbesondere in Erfahrung und Prognose zum Ausdruck kommen. Vgl. Anmerkung 31 zum Beitrag 3.1. 19 Ein Nachklang der Diskussionen über Induktion, die in der Berliner Gruppe geführt wurden, ist bei Walter Dubislav, Naturphilosophie, Berlin 1933, S. 114, FN 17, zu fi nden. 20 Vgl. Anmerkung 14.
Der logistische Empirismus in Deutschland …
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In der deutschsprachigen Philosophie Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wurde der Begriff der »Setzung« oft gebraucht, meistens aber nicht in Reichenbachs Sinn. Hermann Lotze z. B. verwendet ihn im Sinne von »Aussage« (vgl. N. Milkov, »Rudolf Hermann Lotze«, in: Internet Encyclopedia of Philosophy, ). 22 Diese These, die Reichenbach Ende 1932/Anfang 1933 aufstellt, kann als ein Vorläufer des Falsifi kationismus Karl Poppers betrachtet werden. Siehe Alberto Coffa, »Erläuterungen, Bemerkungen und Verweise zum Buch ›Erfahrung und Prognose‹«, in: Hans Reichenbach, Erfahrung und Prognose, a. a. O., S. 255–297; hier S. 267. 23 Der Aufsatz wurde aus Anlaß des Pariser »Congrès International de Philosophie Scientifique« (September 1935) geschrieben. Auf dem Kongreß selbst hat Reichenbach eine Ansprache »im Auft rage der Berliner Gruppe« gehalten. Vgl. Hans Reichenbach, »Ansprache bei der Begrüßungssitzung des Pariser Kongresses«, in: Actes du Congrès International de Philosophie Scientifique, Paris 1935, I, Philosophie scientifique et empirisme logique, Paris 1936, S. 16–18; hier S. 16.
Rationalismus und Empirismus: Eine Untersuchung der Wurzeln philosophischen Irrtums (S. 121–144) 1
Dieser Aufsatz ist die offi zielle Rede, die Hans Reichenbach am 30. Dezember 1947 als Präsident der pazifischen Abteilung der Amerikanischen Philosophischen Gesellschaft auf dem 21. Jahrestreffen an der Universität von Kalifornien in Los Angeles gehalten hat. Aus den hierin enthaltenen Gedanken entwickelte sich später das Werk Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie. 2 Reichenbach folgt hier Russell, der für eine Philosophie plädiert hat, die, »so wie es in den Wissenschaften der Fall ist, zu Teilergebnissen und Resultaten gelangen, die nicht völlig richtig sind, die aber die Forschung der Folgezeit nutzen, ergänzen und verbessern kann« (Bertrand Russell, Mystik und Logik, a. a. O., S. 113). Man beachte, daß Reichenbach Russells Philosophie gut kannte – er hat zwei Aufsätze über Russell verfaßt: »Denker der Zeit – Bertrand Russell«, Vossische Zeitung, 12. Februar 1928; »Bertrand Russell«, Obelisk-Almanach, Berlin 1929, S. 82–92.
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Anmerkungen des Herausgebers 3
Vgl. Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie, a. a. O., S. 65 ff. 4 Siehe Anmerkung 16 zum Beitrag 1.3. 5 Russell behauptete nicht nur, daß die Arithmetik analytisch sei (dies war Freges These), sondern daß auch die Geometrie analytisch sei. 6 Wittgenstein dagegen bezeichnete die Logik als »Spiegelbild der Welt« (Tractatus, 6.13). 7 Reichenbach übernimmt hier Carnaps These, daß die Logik vorteilhaft als Syntax einer Sprache betrachtet werden kann. 8 Auch die englischen analytischen Philosophen der mittleren Periode – John Wisdom, Gilbert Ryle, J. L. Austin – sprachen über »infi zierte« Begriffe. Siehe N. Milkov, A Hundred Years of English Philosophy, Dordrecht 2003, S. 158, 166. 9 Vgl. mit Wittgensteins »craving for generality« (The Blue Book, Oxford: Blackwell, 1958, p. 17). Sowohl Wittgenstein als auch Reichenbach waren der Meinung, daß philosophische Argumente von psychologischen Faktoren motiviert sind, die oft irrational sind. Siehe Anmerkung 7 zum Beitrag 1.2. 10 Von hier an ist der Wortlaut dieses und des nächsten Absatzes identisch mit den Seiten 279–280 in Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie. 11 Siehe Anmerkung 29 zum Beitrag 1.3. 12 Siehe Anmerkung 33 zum Beitrag 1.3.
PERSONENREGISTER
Aristoteles 78, 125, 128, 130 Avenarius, Richard 83 Bacon, Francis 130 Bertalanff y, Ludwig von 93 Bohr, Niels 31, 39, 96 Boltzmann, Ludwig 69, 71 Bolyai, János 66, 133, 141 Boole, George 95 Brouwers, Luitzen E. J. 80 Brown, Robert 33, 103 Cantor, Georg 96 Carnap, Rudolf 84 f., 93 f., 97 f., 100, 103, 105–109, 112 Cornelius, Hans 83 Cournot, Antoine-A. 73 Darwin, Charles 55–57, 95 Descartes, René 56 Dewey, John 95 Driesch, Hans 58 f. Dubislav, Walter 93, 99 Einstein, Albert 15, 27, 38, 51, 96 f. Eleaten 12 Euklid 15, 32, 64, 66, 101, 133, 141 Feigl, Herbert 93 Frank, Philipp 100, 103 Galilei, Galileo 26, 51, 101 Gauß, Johann C. F. 14, 74, 133
Grelling, Kurt 99 Haeckel, Ernst 53 Haering, Theodor 48 Hahn, Otto 98, 103 Hamilton, William R. 95 Hegel, Georg W. F. 9, 53, 95 Heisenberg Werner 51, 76 f., 96, 104 Helmholtz, Hermann L. F. von 6, 65, 95 f., 102 Herzberg, Alexander 99 Hilbert, David 17, 80 f., 96, 103 Hume, David 101, 103 f., 118, 130–133, 136, 139 f. James, William 95 Kant, Immanuel 12, 29, 41, 51, 54, 64, 78, 97, 100 f., 103 f., 120, 127, 133 Kepler, Friedrich J. 26 Köhler, Wolfgang 61 Kopernikus, Nikolaus 26, 28, 51 Laplace, Pierre-S. 72 f. Leibniz, Gottfried W. 54 Lobatschewskij, Nikolai I. 66, 133 Locke, John 130 Mach, Ernst 83, 103 Maxwell, James C. 62 Michelson, Albert A. 40
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Personenregister
Minkowski, Hermann 5 Morgan, Augustus de 95
Russell, Bertrand 17, 80, 94, 96, 98, 103, 105, 134
Neurath, Otto 98, 100, 108–110 Newton, Isaac 26, 39, 101, 128 Peirce, Charles S. 95, 111 Platon 125, 126, 128, 129 Plessner, Helmut 48 Popper, Karl 112
Schaxel, Julius C. E. 62 Schelling, Friedrich W. J. 53 Schlick, Moritz 94, 98 Schröder, Ernst 95 Schrödinger, Erwin R. J. A. 5 Sokrates 79, 125, 128 f., 132 Spinoza, Baruch de 136
Reichenbach, Hans 54, 65, 93 f., 97, 103 f., 113 Riemann, Bernhard 15, 31, 33, 66, 95, 96
Waismann, Friedrich 98, 103 Wilson, Charles 30 Wittgenstein, Ludwig 80, 98, 103, 105 f.