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German Pages 422 Year 2014
Teresa Hiergeist Erlesene Erlebnisse
Lettre
Teresa Hiergeist (Dr.) forscht und lehrt im Bereich spanische und französische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Teresa Hiergeist
Erlesene Erlebnisse Formen der Partizipation an narrativen Texten
Die Arbeit wurde im Jahr 2013 von der Fakultät für Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften der Universität Regensburg als Dissertation angenommen.
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Inhalt
Vorwort | 7 1. Literatur als Erlebnis | 11 2. Theoretische Vorüberlegungen | 15
2.1 Der Beteiligungsgedanke in der literarischen Hermeneutik | 15 2.2 Die Idee der Partizipation in der empirischen Rezeptionsforschung | 33 2.3 Das Interaktionsmodell der Partizipation | 41 2.4 Methodisches Vorgehen | 49 2.5 Typologie der Beteiligungsmöglichkeiten | 57 2.6 Zielformulierung und Aufbau der Arbeit | 60 3. Formen der Partizipation an narrativen Texten | 65
3.1 Emotionale Beteiligungsmöglichkeiten | 65 3.2 Kognitive Beteiligungsmöglichkeiten | 174 3.3 Evaluative Beteiligungsmöglichkeiten | 241 3.4 Ästhetische Beteiligungsmöglichkeiten | 286 3.5 Syntheseanalyse | 357 4. Abschließende Betrachtungen | 369 Literaturverzeichnis | 379 Anhang | 409 Ausführliches Inhaltsverzeichnis | 417
Vorwort
Wenn ein Leser die letzte Seite eines Romans umwendet, so ist das für ihn meist ein besonderer Moment: Von der Atmosphäre der Handlung, der ungeduldigen Erwartung des Ausgangs noch belebt, vermag er erstmals in vollem Umfang zu beurteilen, auf welches Abenteuer ihn die Lektüre mitgenommen hat. Vorsichtig befühlt er den Buchdeckel – das untrügliche Zeichen dafür, dass er die Fiktion nun verlassen und in die Realität zurückkehren wird. Einen Moment lang hält er inne. Er schließt das Buch noch nicht. Fast drängen sie sich auf: die Parallelen zwischen der Romanlektüre und dem Verfassen einer Dissertation. Emotionale Intensität, wechselnde Motivationen, kognitive Herausforderungen, Evaluationen sowie das Bemühen um Stimmigkeit prägen beide Prozesse. Und auch eine Doktorarbeit gelangt irgendwann unweigerlich zu ihrer letzten Seite. So gespannt man sie zunächst herbeigesehnt haben mag, so ungläubig betrachtet man sie, wenn sie nun vor einem liegt. Diese Seite enthält meinen Dank an vier wesentliche Adressaten: An meinen Doktorvater Jochen Mecke, der für mich in vieler Hinsicht ein Vorbild ist, für die freie Hand bei der Abfassung dieser Arbeit, für seine ehrliche und konstruktive Kritik und für seine ermunternde und direkte Art. An Sabine Friedrich, bei der ich in einem überaus anregenden, aufgeschlossenen und harmonischen Rahmen forschen und unterrichten darf. An meine akademischen Lehrer Jochen Mecke, Ralf Junkerjürgen, Hubert Pöppel und Matei Chihaia, die für mich die Faszination der Literatur(wissenschaft) verkörpern und bei denen ich keine Kursminute versäumt haben möchte. Nicht zuletzt an meine Kollegen, meine Freunde und meine Familie, die mich bei meinem Projekt stets unterstützt haben. Manchmal möchte man die letzte Seite festhalten, man möchte sie immer wieder lesen, weil man meint, dass sie ein Stück Wahrheit enthält, das einem nicht abhanden kommen darf. Doch dann wird einem bewusst, dass man das Buch getrost zur Seite legen kann. Weil ein Roman nach der Lektüre nicht endet. Weil eine Dissertation mehr ist als Papier. Weil auch über den Buchdeckel hinaus eines bleibt: Erlesene Erlebnisse.
Qu’importe dès lors que les actions, les émotions de ces êtres d’un nouveau genre nous apparaissent comme vraies, puisque nous les avons faites nôtres, puisque c’est en nous qu’elles se produisent, qu’elles tiennent sous leur dépendance, tandis que nous tournons fiévreusement les pages du livre, la rapidité de notre respiration et l’intensité de notre regard. Et une fois que le romancier nous a mis dans cet état, où comme dans tous les états purement intérieurs, toute émotion est découplée, où son livre va nous troubler à la façon d’un rêve mais d’un rêve plus clair que ceux que nous avons en dormant et dont le souvenir durera davantage, alors, voici qu’il déchaîne en nous pendant une heure tous les bonheurs et tous les malheurs possibles dont nous mettrions dans la vie des années à connaître quelquesuns, et dont les plus intenses ne nous seraient jamais révélés parce que la lenteur avec laquelle ils se produisent nous en ôte la perception. Marcel Proust: Du côté de chez Swann
1. Literatur als Erlebnis
Sie ist nahezu legendär, so oft wurde sie erzählt: die Geschichte der ersten Filmvorführung der Brüder Auguste et Louis Lumière im Jahr 1896. Bei L’arrivée d’un train à la Ciotat handelt es sich um einen 50-sekündigen Ausschnitt, der einen Zug bei seiner Einfahrt in den Bahnhof zeigt. Die Szene ist vom Bahnsteig aus abgedreht, die Position der Kamera entspricht der eines wartenden Passagiers. Während sich die Lok vom oberen rechten Rand diagonal in die Bildmitte bewegt, wird sie zunehmend größer. Geläufig ist auch die Reaktion der Zuschauer bei jener Premiere: Einen Augenblick lang wähnten manche, es komme tatsächlich ein Zug auf sie zu. Von Angst ergriffen verließen sie im Laufschritt den Kinosaal. Obgleich sie wussten, dass sie lediglich einer Leinwand gegenübersaßen, übersahen sie momentan den Zeichencharakter des Films und verspürten eine reale Bedrohung. Doch nicht nur der siebten Kunst gelingt es, ihre Rezipienten auf derart magische Weise in den Bann zu ziehen. Auch Romanen wird gemeinhin die Kraft zugeschrieben, die Leser so in die Fiktion eintauchen zu lassen, dass sie ihren Alltag mit anderen Augen zu sehen beginnen: Cervantes’ Don Quijote beschreibt den Fall eines betagten Landadeligen, der sich durch die übermäßige Lektüre höfischer Romane kurzerhand selbst in einen Ritter verwandelt und auszieht, um die gelesenen Abenteuer an eigenen Leib zu erfahren. Obgleich hierbei im Gegensatz zum ersten Beispiel von einer fiktionalen Begebenheit die Rede ist, so impliziert ihre Existenz und ihr Erfolg in den vergangenen Jahrhunderten doch, dass die Transformation durch die Lektüre den Rezipienten zumindest ansatzweise nachvollziehbar erscheint. Einen weiteren Beweis für die Unmöglichkeit, sich dem Zauber des literarischen Werks vollständig zu entziehen, lieferten manche Werther-Leser der ersten Stunde. Was sich für Don Quijote lediglich auf dem Papier zuträgt, wurde für sie Realität: So stark war ihre emotionale und moralische Identifikation mit der Hauptfigur aus Goethes Roman, dass sie sich wie sie kleideten, verhielten und in Extremfällen obendrein ihren Freitod imitierten. Die Vorstellung, dass literarische Erzeugnisse nicht an den Grenzen der Leinwand oder des Buchdeckels haltmachen, dass sie einen angreifen und packen, einen
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verwandeln und verändern, ist faszinierend, aber ebenso unheimlich. So fühlte man sich etwa im 18. Jahrhundert, als sich die Leserschaft um das Bildungsbürgertum merklich erweiterte, von der Macht der Romane häufig bedroht. Es entbrannten hitzige Debatten, in denen nicht selten vehement von der Lektüre abgeraten wurde. Der Arzt Simon-André Tissot beispielsweise warnte in De la santé des gens de lettres vor der Suchtgefahr narrativer Texte. Speziell Frauen würden häufig dermaßen von der Illusion gefangen genommen, dass sie ihre Alltagsverpflichtungen vernachlässigten: [U]ne lecture continuée produit toutes les maladies nerveuses; peut-être que de toutes les causes qui ont nui à la santé des femmes la principale a été la multiplication infinie des romans depuis cent ans. Dès la bavette jusques à la vieillesse la plus avancée, elles les lisent avec une si grande ardeur qu’elles craignent de se distraire un moment, ne prennent aucun mouvement, & souvent veillent très tard pour satisfaire cette passion; ce qui ruine absolument leur santé;1
Sicherlich: Bei den angeführten Beispielen handelt es sich um Extreme. Spontan ist man geneigt anzunehmen, das Verhalten der ersten Kinogänger und Leser sei in ihrer Unerfahrenheit mit den neuen Medien begründet und den heutigen Rezipienten liege es fern, sich auf ähnliche Weise der Lächerlichkeit preiszugeben, weil sie Realität und Fiktion nicht unterscheiden können. Man möchte meinen, der Umgang mit Literatur sei mittlerweile alltäglich geworden und konventionalisiert; es hätten sich Seh- und Lesestrategien herausgebildet, die einen das Rezipierte automatisch als sema auffassen und als mittelbare Botschaft interpretieren ließen. Diese Objektivierung schaffe eine gewisse Distanz, die einen Kontrollverlust durch unreflektiertes Erleben verhindere. Doch so merkwürdig die genannten Fälle anmuten, sie sind zumindest in abgeschwächter Form Teil aller Beschäftigung mit Literatur. Jeder kennt sie aus der eigenen Erfahrung, die Momente, in denen Signifikat und Signikant zusammenzufallen scheinen, in denen man vom Roman mitgerissen wird oder mit Figuren oder Handlung interagiert, als wären sie real. Wenn eine gruslige Atmosphäre einen so in Angst und Schrecken versetzt, dass man nach der Lektüre nicht einschlafen kann; wenn man eine Verabredung verschwitzt, weil ein spannender Krimi einen die Zeit vergessen lassen hat; wenn man Emma Bovarys Ehebruch befürwortet und herbeiwünscht, obwohl man im Alltagsleben radikaler Verfechter der Treue ist; wenn man für einen Moment lang ästhetische Intensität erfährt – dann lebt man den Roman, man lässt sich auf ihn ein, man beteiligt sich an ihm.
1
Tissot, Simon-André: De la santé des gens de lettres, Paris: Grasset & compagnie, 1769, S.199.
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Vorliegende Arbeit setzt es sich zum Ziel, die unterschiedlichen Formen der Partizipation des Rezipienten an narrativen Texten zu systematisieren und literaturwissenschaftlich nutzbar zu machen. Sie beobachtet, wie sich die Interaktion von Werk und Leser im Einzelfall gestaltet, rekonstruiert, welche Funktionsmechanismen dieser zugrunde liegen, und untersucht, wie sich über das Zusammenspiel der Mithandlungsoptionen eine textspezifische Beteiligungsstruktur konstituiert. Darauf gründend entwickelt sie ein operables Analyseinstrumentarium für das Spektrum an Partizipationsmöglichkeiten an narrativen Texten. Dieses Vorhaben oszilliert zwischen drei Komponenten: Einerseits gehen Lektüreerlebnisse vom Leser aus. Narrative Texte existieren nicht autonom, sondern benötigen zur Entfaltung ihrer Wirkung einen Rezipienten, der sie realisiert. Erst wenn dieser sie aufführt, werden sie als Erlebnis gegenwärtig; erst wenn er eine emotionale und kognitive Beziehung zu ihnen eingeht, konstituiert er sie. Andererseits sind seine Reaktionen keine subjektiven, spontanen Impulse, sondern gründen auf textuellen Vorgaben und Perzeptionsmustern. Insgesamt kann die Lektüre somit als interaktiver und performativer Prozess betrachtet werden, die aus der Verarbeitung des Texts durch den Leser auf Basis kognitiver und emotionaler Vorbedingungen resultiert. Die Herangehensweise an dieses Thema löst sich von den Axiomen der literaturwissenschaftlichen Hermeneutik, zumal nicht die Bedeutungen von Werken, sondern ihre Erlebnispotenziale im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Für diese methodische Ausrichtung werden in der theoretischen Annäherung zunächst die Grundideen in der Romanistik gängiger leserorientierter Denkrichtungen wie der Rezeptions- und Wirkungsästhetik, dem Poststrukturalismus und der Empirischen Literaturwissenschaft aufgegriffen und im Sinne des Beteiligungsgedankens weiterentwickelt. Gestützt auf die aktuellen phänomenologischen Diskussionen um die Präsenzdimension von Literatur wird ein Interaktionsmodell entworfen, das dem Leser, dem Text und der Verarbeitung gleichermaßen Rechnung trägt. Auf Basis dieser Reflexionen entwickelt sich im Anschluss eine Methodik, die textzentrierte und empirische Paradigmen im Stile einer kognitiven und emotiven Literaturwissenschaft miteinander verkettet und mithin die Weichen für die analytische Erfassung von Lektüreerlebnissen wie Gefühlen/Atmosphären/Motivationen, Kognitionen, Bewertungen und ästhetischen Erfahrungen stellt. Den zweiten Teil der Arbeit bilden exemplarische Analysen zu den einzelnen Dimensionen der Leserbeteiligung. In der teilweise vergleichenden Betrachtung von Ausschnitten aus der französischen und spanischen Literatur werden auf induktive Weise und in Abgleich mit kognitions- und emotionswissenschaftlichen Erkenntnissen zur Textverarbeitung die Grundstrukturen der Beteiligungsformen profiliert und verfeinert. Die dabei besprochenen Passagen können freilich die Werke, aus denen sie stammen, lediglich schlaglichtartig beleuchten und erheben nicht den Anspruch auf eine erschöpfende Demonstration des Erlebnismusters des jeweiligen Romans. Vielmehr werden sie gewissermaßen zur Illustration einzelner Partizipati-
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onstypen instrumentalisiert. Um das Risiko des Reduktionismus, das ein solches Prozedere birgt, zu schmälern, schließt die Arbeit mit der synthetisierenden Analyse eines Abschnitts aus Marcel Prousts A la recherche du temps perdu, die den Fokus auf das Zusammenspiel der unterschiedlichen Beteiligungsmöglichkeiten legt. Insgesamt sind die folgenden Ausführungen als Vorschlag zur systematischen Erfassung des Mithandelns des Rezipienten an narrativen Texten zu betrachten und möchten zutage treten lassen, inwiefern die erlesenen Erlebnisse das literaturwissenschaftliche Arbeiten bereichern.
2. Theoretische Vorüberlegungen
2.1 D ER B ETEILIGUNGSGEDANKE H ERMENEUTIK
IN DER LITERARISCHEN
Der Leser ist eine relativ junge Entdeckung der Literaturwissenschaften. Bis in die 60er Jahre wurde sein Beitrag zum literarischen Text fast vollständig ausgeblendet. Die Aufmerksamkeit der Forschung galt entweder dem biographischen bzw. gesellschaftlichen Hintergrund des Autors oder blieb auf eine werkimmanente Perspektive begrenzt. Im Fokus des Interesses standen Produktion und Darstellung des literarischen Werks, die mit hermeneutischen Mitteln untersucht wurden.1 Siegfried Schmidt beschreibt in „Literary Studies from Hermeneutics to Media Culture Studies“ die methodische Konstanz auch über den Zweiten Weltkrieg hinweg als Ausdruck eines spezifisch deutschen Traditionalismus: They favored exclusively text-immanent analysis or hermeneutic approaches which excluded the contexts in which literary texts are produced, distributed, received, and post-processed. Literary texts were treated as if they were ontological self-contained entities whose interpretation could only be achieved by specially gifted scholars. […] As a consequence, literary scholarship was closely connected with structures of social hierarchies of leadership and followership: the „great interpreters“ were adored and imitated – thus social patterns from recent German history were continued.2
1
Vgl. Haefner, Gerhard: „Rezeptionsästhetik“, in: Nünning, Ansgar (Hrsg.): Literaturwissenschaftliche Theorien, Modelle und Methoden. Eine Einführung, Trier: WVT, 2004, S.107.
2
Schmidt, Siegfried: „Literary Studies from Hermeneutics to Media Culture Studies“, in: Comparative Literature and Culture, 12.1 (2010), http://docs.lib.purdue.edu/cgi/view content.cgi?article=1569&context=clcweb (19.02.2014), S.2.
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Erst vor dem Hintergrund des Existenzialismus, des Verlusts des Vertrauens in die Demokratie sowie der Mediatisierung der Gesellschaft habe eine Sensibilisierung eingesetzt, die einen Generationenkonflikt nicht nur in gesellschaftlicher, sondern auch in literaturwissenschaftlicher Hinsicht nach sich gezogen habe: Textlinguistische, semiotische und strukturalistische Methoden hätten eine Abweichung von der hermeneutischen Linie eingeläutet; marxistische und sozialgeschichtliche Ansätze hätten durch die Integration des gesellschaftlichen Kontexts in die Interpretation die Werkimmanenz aufgebrochen.3 Auf diesem Nährboden sprießt 20 Jahre nach Kriegsende die Idee vom Leser als Motor des Literaturgeschehens. Die Theorien der Rezeptions- und Wirkungsästhetik erwachsen also dem Willen zur Neuorientierung innerhalb einer darstellungsästhetisch orientierten Literaturwissenschaft.4 Texte sollen nicht mehr ästhetisch autonom und ahistorisch begriffen werden, sondern in ihrem konkreten kulturellen Rezeptionsumfeld Verankerung finden. Nicht das Werk selbst birgt bereits die Deutung, sondern diese wird ihm bei der Lektüre erst zugeschrieben. Der Text fungiert lediglich als „Leerform, an der sich die in der Wirkung realisierende Aktualisierung durch den individuellen Interpreten vollzieht“5. Die Rolle des Lesers erfährt somit eine merkliche Aufwertung, zumal Literatur nun ausschließlich durch und für ihn existiert. An die Stelle des passiven Rezipienten, der die vom Autor fixierte Bedeutung gleich einem Gefäß in sich aufnimmt, tritt einer, der das Werk mitkonstruiert. In der Konsequenz wird eine Neudefinition des Forschungsgegenstands erforderlich. Nicht mehr der Text, sondern vielmehr „die Bedingungen, Modalitäten und Ergebnisse der Begegnung von Werk und Adressat“6 rücken in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit. Rainer Warning betont, wie wichtig es sei, „daß der Interpret sein eigenes Dasein, seine eigene Geschichtlichkeit und die in ihr gründenden Vorurteile, Vormeinungen nicht auszublenden, nicht zu überwinden ha[t] im Interesse einer möglichst objektiven Erfassung seines Gegenstandes, sondern daß er die Vorurteile als positiven Faktor in den Verstehensprozess einbringen m[uß].“7 Sowohl das gesellschaftliche System ‚Literatur‘ als auch der Lektüreprozess werden hier als Dialog zwischen Produktions- und Rezeptionsseite gedacht. Als Impulsgeber für die verstärkte literaturwis-
3 4
Vgl. ebd., S.3. Vgl. Wiemann, Robert: „Rezeptionsästhetik und die Krise der Literaturgeschichte. Zur Kritik einer neuen Strömung in der bürgerlichen Literaturwissenschaft“, in: Weimarer Beiträge, 19 (1973), S.6.
5
Mandelkow, Karl Robert: „Probleme der Wirkungsgeschichte“, in: Jahrbuch für Interna-
6
Warning, Rainer: „Rezeptionsästhetik als literaturwissenschaftliche Pragmatik“, in: Ders.
tionale Gemanistik, 1 (1970), S.74. (Hrsg.): Rezeptionsästhetik, München: Fink, 1975, S.9. 7
Ebd., S.19.
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senschaftliche Beschäftigung mit dem Leser werden im Folgenden die Ansätze von Wolfgang Iser und Hans Robert Jauß vorgestellt und es wird überprüft, inwiefern sie für das Partizipationsmodell fruchtbar gemacht werden können. 2.1.1 Partizipation und Wirkungsästhetik Es ist ein einfacher Schluss, der den Ausgangspunkt von Isers Überlegungen bildet: Da sich bei der Auslegung eines Texts durch mehrere Interpreten häufig divergente Bedeutungen ergeben, können diese dem Werk unmöglich inhärent sein, sondern müssen von einer externen Instanz generiert sein.8 Nichtsdestotrotz tritt diese Überlegung tiefgreifende Veränderungen in der Literaturwissenschaft los. Die ästhetische Autonomie, auf die sich die Forschung bis dato berufen hat, enthüllt sie als Illusion, was eine unmittelbare Neudefinition des Begriffs ‚Lektüre‘ erfordert: Wurde diese zuvor als bloße Assimilation textuell fixierter Informationen verstanden, so verwandelt sie sich nun in eine produktive Aktivität. Daraus folgt, dass die Aufgabe der Literaturwissenschaft nicht im Entschlüsseln der Wahrheit eines Texts liegen kann, sondern in der Veranschaulichung von Sinnpotenzialen bestehen muss, die dieser für den Leser bereithält. Die Pluralität möglicher Lektüreerfahrungen erfährt somit eine Betonung.9 Das Ziel von Isers Ausführungen besteht nun in der Ergründung der Regeln der Kommunikationsform ‚Lektüre‘, die unabhängig davon gelten, ob der Rezipient professioneller Kritiker oder Hobbyleser ist.10 Insofern enthierarchisiert dieser den Literaturprozess, indem er erstens die Grenzen zwischen Produktion und Rezeption, zweitens die Differenzierungen zwischen verschiedenen Leserklassen verwischt. Zur Beschreibung der Möglichkeiten des Rezipientenbeitrags lehnt sich Iser argumentativ an Roman Ingardens Grundidee der Unbestimmtheitsstellen in Das literarische Kunstwerk an. Bereits mehr als 30 Jahre zuvor hatte dieser gegen eine verfasserzentrierte Forschung Position bezogen: „Wie dem auch sei, ist der Versuch, das literarische Werk mit einer Mannigfaltigkeit von psychischen Erlebnissen des Autors zu identifizieren, ganz absurd. Die Erlebnisse des Autors hören ja gerade in dem Momente auf zu existieren, in welchem das von ihm geschaffene Werk erst zu existieren anfängt.“11 Für Ingarden besteht ein literarisches Werk nicht nur aus dem Inhalt des Texts, sondern auch aus den Ergänzungen des Lesers: Es könne aufgrund
8
Vgl. Iser, Wolfgang: Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa, Konstanz: Universitätsverlag, 1971, S.7.
9
Vgl. Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München: Fink, 1976, S.42.
10 Vgl. ebd., S.34. 11 Ingarden, Roman: Das literarische Kunstwerk, Tübingen: Niemeyer, 1960, S.11.
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seiner Begrenztheit nie alle Einzelheiten erschöpfend ausführen, sondern müsse zur Komplexitätsreduktion zwangsweise Auslassungen vornehmen, wodurch im Grunde zahlreiche Details unbestimmt blieben.12 In der Vorstellung des Rezipienten aber entsteht bei der Lektüre nichtsdestotrotz ein kohärentes vollständiges Bild von Erzähltem und Erzählung. Daraus schließt Ingarden, dass der Leser die inhaltlichen Lücken konkretisierend komplettiert: Er rezipiere nicht bloß, sondern konstruiere das Werk auf Basis der textuellen Vorgaben individuell mit.13 Diesen Gedanken, dass das Werk nicht alle Sinnanteile explizit ausführe, sondern Freiräume lasse, in die die Betätigung des Lesers trete, greift Iser auf. Jedoch geht sein Konzept in mehreren Punkten über Ingardens hinaus. Erstens begründet er Aussparungen nicht negativ. Wenn Lücken entstünden, so geschehe dies nicht aus Platzgründen, sondern weil es sich dabei um ein Spezifikum literarischer Kommunikation handle, das die Beteiligung erst ermögliche. Unbestimmtheitsstellen seien somit gewollte Appelle an den Rezipienten.14 Zweitens erweitert Iser den Aktionsbereich der Unbestimmtheit. Bei der Lektüre müssten nicht nur Inhalte vervollständigt werden, auch die Beziehungen der inhaltlichen Elemente untereinander (‚Leerstellen‘) erforderten, wenn sich ein kohärenter Sinn ergeben solle, Realisierung.15 Insofern dient die Komplettierung im Sinne Isers nicht nur der Konstruktion einer lückenlosen Geschichte, sondern auch der kognitiven Bindung des Lesers an den Text.16 Fasse ein Roman beispielsweise in sich viele Rätsel, so werde der Leser dadurch zur Suche nach einer Lösung angehalten.17 Integriere er zahlreiche Leerstellen, so könne dies die Frustration des Lesers zur Folge haben.18 Insofern ist die Beseitigung von Leerstellen als eine Art evaluative Positionierung gegenüber dem Text zu verstehen, die sich freilich dynamisch in dessen Verlauf entwickelt.19
12 Vgl. ebd., S.267. 13 Vgl. Ingarden, Roman: „Konkretisation und Rekonstruktion“, in: Warning, Rainer (Hrsg.): Rezeptionsästhetik, München: Fink, 1975, S.45. 14 Vgl. Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München: Fink, 1976, S.39. 15 Vgl. Iser, Wolfgang: Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa, Konstanz: Universitätsverlag, 1971, S.15. 16 Vgl. Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München: Fink, 1976, S.248. 17 Vgl. ebd., S.27. 18 Vgl. ebd., S.30. 19 Vgl. Haefner, Gerhard: „Rezeptionsästhetik“, in: Nünning, Ansgar (Hrsg.): Literaturwissenschaftliche Theorien, Modelle und Methoden. Eine Einführung, Trier: WVT, 2004, S.110.
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Um die komplettierende Aktivität des Lesers fassbar zu machen, entwickelt Iser die Kategorie des ‚impliziten Lesers‘. In jeden literarischen Text sei eine Art Verhaltensaufforderung an den Rezipienten eingeschrieben, die die Ergänzungsaufgabe steuere und somit eine „kontrollierte Betätigung des Lesers“20 erlaube. Damit distanziert er sich von den existierenden Modellen zur Erforschung der Lektüre: Er grenzt sich einerseits von der Vorstellung eines ‚idealen Lesers‘ ab, einer hypothetischen Instanz, deren Intentionen sich mit denen des Autors decken und die deshalb die im Produktionsprozess kodierten Informationen auf dieselbe Weise wieder entschlüsselt. Für Iser ist ein solches Konzept uninteressant, zumal jeglicher kommunikativer Mehrwert nur der „mangelnden Deckung von Sender- und Empfängercode“21 erwachsen könne. Aus dem gleichen Grund stellt er auch Stanley Fishs ‚informierten Leser‘ in Frage, der ein Maximum an literarischen Kompetenzen besitzt und deshalb ein optimales Verständnis des Texts erreicht. Andererseits weist er aber auch empirische Rezipientenmodelle zurück, wie Michael Riffaterres ‚archilecteur ‘, der eine Synthese der bei unterschiedlichen Lesern beobachteten Wirkungen dar stellt und insofern über die Maximierung von Lektüreerfahrungen eine Minimie rung individueller Unterschiede zu erreichen sucht. Ihm widerstrebt die Idee der Berechnung einer universell gültigen Leserschablone aus einem statistischen Mittel wert.22 Um die Scylla der Hypostasierung eines Ideals und die Charybdis einer empirischen Herangehensweise zu umschiffen, entscheidet er sich für die Veror tung des Rezipienten im literarischen Text selbst. Der Vorteil des ‚impliziten Lesers‘ im Vergleich zu den anderen Lesermodellen besteht in seiner großen wissenschaftlichen Operabilität. Weder muss ein idealer Rezipient konstruiert, noch ein realer befragt werden. Allein die Analyse des „im Text vorgezeichneten Aktcharakter[s] des Lesens“23 liefert Hinweise auf die Wirkung. Iser treibt die Objektivierung des Rezipienten sogar noch einen Schritt weiter, indem er konstatiert, es lasse sich im diachronen Vergleich eine Typologie der ‚impliziten Leser‘ entwerfen. Die Konkretheit der Leserrolle, so heißt es, habe im Laufe der Literaturgeschichte kontinuierlich abgenommen: Während der Rezipient im 18. Jahrhundert die Appelle des Texts problemlos zu definieren gewusst habe, seien diese ab dem 19. Jahrhundert mehrdeutig. Es gehöre seitdem zur Leistung der Lektüre, sich die eigene Funktion aus dem Text erst zu deduzieren. Im 20. Jahrhundert
20 Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München: Fink, 1976, S.30. 21 Ebd., S.53. 22 Vgl. ebd., S.55. 23 Iser, Wolfgang: Der implizite Leser, München: Fink, 1972, S.8.
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wiederum bestehe die Leserrolle meist in der Reflexion über die Kategorie des ‚impliziten Lesers‘.24 An diesem Punkt der Argumentation angelangt wird ersichtlich, dass der ‚implizite Leser‘ eine gewisse Erstarrung des Beitrags des Rezipienten zum literarischen Werk bedeutet. Die produktive und dynamische Aktivität, die am Ausgangspunkt von Isers Überlegungen stand, ist eingedämmt, da der Leser als eine Art Teig erscheint, der sich in die vorgefertigte Textform legt, um sich dieser anzupassen. Es wird folglich ein gewisses Ungleichgewicht zwischen den theoretischen Grundgedanken und der methodischen Umsetzung ersichtlich: Wenn die Leserrolle dem Werk inhärent ist, werden die Variationen der Lektüreerfahrung nicht erklärbar. Im Bewusstsein dieser Problematik versucht Iser, seiner Theorie eine flexible Komponente beizufügen: Der Text liefere diverse Rollenangebote, dem Leser sei es überlassen, welche er davon realisieren wolle.25 Die Idee ermöglicht die Integration der Individualität der Rezeption ins Konzept, ohne dass dessen textuelle Determinierung angetastet würde: Der Text garantiert als Gefäß für die Leserrolle die Nachprüfbarkeit der über ihn getroffenen Aussagen; die Auswahl der zu realisierenden Leerstellen sichert die Idee der Dynamik. Als etwas problematisch erweist sich allerdings die Umsetzung dieser theoretischen Grundlegungen in die Praxis: In den Textanalysen finden die unterschiedlichen Realisierungsoptionen literarischer Werke kaum Erwähnung und die Argumentation entspinnt sich ausschließlich von der Textseite aus, so dass die Dynamik der Rezeption kaum mehr spürbar ist. Der Grund hierfür liegt erstens in der Leerstellentheorie, die – so Wilhelm Solms und Norbert Schöll – bewirkt, „dass der Leser die ihm gewährte Freiheit nicht beliebig, sondern in eindeutiger Weise bestätigt“26. Kritiker wie Michel Picard sehen zweitens in der Funktionalität und Abstraktheit des impliziten Lesers eine Degradierung des Rezipienten zum „décodeur automatique“ und „ordinateur biologique“27, der einer Maschine gleich den Text einscannt und im Anschluss die Bedeutung ausspuckt. Die Integration der Subjektivität und Gesellschaftlichkeit der literarischen Kommunikation in die Interpretation bereitet Schwierigkeiten, zumal die Textimmanenz des ‚impliziten Lesers‘ dessen
24 Vgl. ebd., S.10. 25 Vgl. Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München: Fink, 1976, S.65. 26 Solms, Wilhelm/Schöll, Norbert: „Rezeptionsästhetik“, in: Nemec, Friedrich/Kayser, Ruth (Hrsg.): Literaturwissenschaft heute. 7 Kapitel über ihre methodische Praxis, München: Fink, 1979, S.181. 27 Picard, Michel: La lecture comme jeu, Paris: Minuit, 1986, S.146.
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Performativität reduziert und ihn zum Objekt erstarren lässt.28 Drittens konzeptualisiert Iser das Mithandeln durchwegs als kognitives Faktum: Sie umfasst Orientierung, Erinnerung, Planung und Aufmerksamkeitslenkung, kurz: datenverarbeitende Prozesse. Der Gedanke, dass Literatur dem Leser auch andere Reaktionen entlocken könnte, klingt bei Iser höchstens entfernt an,29 wird jedoch nicht eingehender behandelt. Insofern ist die Rolle des Rezipienten bei Iser eine ähnliche wie in der traditionell hermeneutischen Herangehensweise.30 Eben hierin liegt der Kernaspekt des wirkungsästhetischen Ansatzes. Indem er suggeriert, dass die Bedeutung des Texts bereits vorab fixiert sei und in der Übernahme der Leserrolle nur noch realisiert werden müsse, erweckt er den Eindruck der Möglichkeit neutraler und eindeutiger Aussagen über literarische Werke. Vor diesem Trugschluss warnt Stanley Fish in „Literatur im Leser“: Selbst wenn die Reaktionen des Lesers mit einiger Präzision beschrieben werden können, bleibt fraglich, weshalb man sich mit ihnen beschäftigen soll, wenn die greifbarere Objektivität des Texts direkt verfügbar ist. Meine Antwort darauf ist einfach. Die Objektivität des Texts ist eine Illusion, und mehr noch, sie ist eine gefährliche Illusion, weil seine materiale Gegenwart so überzeugend ist. Es ist die Illusion der Selbstständigkeit und Vollständigkeit. 31
Dieses Argument wirft die Frage auf, ob der ‚implizite Leser‘ nicht einen Versuch darstellt, die Wissenschaftlichkeit literarischer Interpretationen zu unterfüttern, indem er ihnen den Anstrich der Wahrhaftigkeit verleiht. Da seine exakte Beobachtung die Romanbedeutung liefert und verlässliche Erkenntnisse produziert, erscheint er als rezeptionsseitiges Pendant zur Autorintention und somit als diskursive
28 Sven Strasen zufolge rührt die Unflexibilität des Lesers daher, dass Iser die Kontexte der Sprachverwendung in sein Konzept nicht mit einfließen lässt und von ihrer normativen Fixierung ausgeht (vgl. Strasen, Sven: Rezeptionstheorien. Literatur-, sprach- und kulturwissenschaftliche Ansätze und kulturelle Modelle, Trier: WVT, 2008, S.82.). 29 So heißt es beispielsweise in Die Appellstruktur der Texte noch, Literatur habe „ohne Zweifel stimulierende Momente, die beunruhigen und Nervosität verursachen“ (Iser, Wolfgang: Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa, Konstanz: Universitätsverlag, 1971, S.5.). Fünf Jahre später in Der Akt des Lesens hingegen ist diese affektive Komponente zugunsten einer Zentrierung auf das Kognitive verschwunden. 30 Vgl. Link, Hannelore: Rezeptionsforschung. Eine Einführung in Methoden und Probleme, Stuttgart: Kohlhammer, 1976, S.135. 31 Fish, Stanley: „Literatur im Leser. Affektive Stilistik“, in: Warning, Rainer (Hrsg.): Rezeptionsästhetik, München: Fink, 1975, S.210.
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Taktik zur Rechtfertigung der Literaturwissenschaften.32 Möglicherweise realisiert der Ansatz die zunächst proklamierte Beteiligung des Lesers also deshalb nicht in vollem Umfang, weil ihm die Lösung von einem szientistisch gefärbten Wissenschaftsideal nicht unumschränkt gelingt. Die Rhetorik des objektivierbaren Aktcharakters des Texts wäre so gesehen eine Taktik zur Verschleierung der Tatsache, dass Aussagen über literarische Werke zunächst stets auf den persönlichen Lektürewahrnehmungen des Forschers beruhen.33 Eingehendere Betrachtung erfordert fürderhin das Leerstellenkonzept, das ein gegenseitiges Komplettieren von Text und Leser suggeriert, indem der Leser das vom Text Ausgesparte ergänzt. Die Lektüre erreicht hier kaum interaktiven Charakter, da die eine Instanz nur in Abwesenheit der anderen agiert. Wie zwei Puzzleteile fügen sich Werk und Rezipientenaktivität zusammen, existieren nebeneinander, ohne gegenseitigen Einfluss.34 Zu hinterfragen gilt hier die Annahme, dass der Text und seine Konkretisationen gleichwertig und auf derselben logischen Ebene angesiedelt seien. Bei einem Musikstück läge es gewiss fern zu behaupten, dass sich Spieler und Partitur alternierend ergänzen. Vielmehr entsteht bei der Aufführung etwas Neues, das nicht auf dem ontologischen Niveau der Partitur, sondern im Bewusstsein des Hörers anzusiedeln ist. Ebenso verhält es sich für die Lektüre: Die Vorstellung des Lesers vom Roman ist mit dem geschriebenen Text nicht identisch, womit freilich nicht gemeint ist, dass das Geschriebene keinen entscheidenden Einfluss auf die Imaginationen des Rezipienten nähme, sondern vielmehr, dass ein literarisches Werk nicht als Addition von Text und Rezipient verstanden werden kann, wie Isers Leerstellenmetaphorik teilweise suggeriert. Beteiligung findet somit an jedem Punkt der Lektüre statt, da die Vorstellung des Lesers das Werk erst erschafft. Zur Erforschung der Partizipationsmöglichkeiten an narrativen Texten muss
32 In eine ähnliche Richtung argumentiert Marcus Willand, die im Text angelegte Wirkung könne sich unmöglich auf einen aktuellen Leser beziehen, sondern visiere indirekt konform mit der Hermeneutik die Wirkung des Entstehungskontexts an: „Iser untersucht die Produktionsbedingungen literarischer Texte, um das Zustandekommen – nicht die Auswirkungen – der im Text formulierten Wirkungsbedingungen zu erklären“ (Willand, Marcus: Lesermodelle und Lesertheorien. Historische und systematische Perspektiven, Berlin: de Gruyter, 2014, S.283.). 33 Darauf, dass das Streben nach objektiver Interpretation eine Vermeidung der significance, also der präsentischen Leserbeteiligung, zur Folge hat, weist Manfred Frank hin (vgl. Frank, Manfred: Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur deutschfranzösischen Hermeneutik und Texttheorie, Frankfurt: Suhrkamp, 1990, S.133.). 34 Spinnt man diesen Gedanken weiter, so könnte er in letzter Konsequenz zur Annahme verleiten, es existierten literarische Werke, die vollständiger seien als andere, weil sie weniger Leerstellen enthielten.
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die Fragestellung der Wirkungsästhetik also präzisiert werden: Herauszufinden gilt es nicht, an welchen Stellen der Leser Ergänzungen vornimmt und wie sich diese klassifizieren lassen, sondern, welche Möglichkeiten der Text-Leser-Interaktion die Realisierung des jeweiligen Romans in sich birgt. Zu analysieren ist nicht nur die Leerstelle, sondern auch das Erlebnispotenzial des im Text Vorhandenen. 2.1.2 Partizipation und Rezeptionsästhetik Hans Robert Jauß gilt als Gründungsvater der Rezeptionsästhetik. Seine Idee, dass literarische Werke dem Dialog von Produktions- und Rezeptionsseite entspringen, energetisiert das Literaturgeschehen und verleiht dem Leser Bewegungsfreiheit. „Das Werk ist“ – so heißt es in „Der Leser als Instanz einer neuen Geschichte der Literatur“ – nicht ohne seine Wirkung, seine Wirkung setzt Rezeption voraus, das Urteil des Publikums konditioniert wiederum die Produktion der Autoren. Die Geschichte der Literatur stellt sich hinfort als Prozess dar, an dem der Leser als tätiges, obschon kollektives Subjekt dem individuell produzierenden Autor gegenübersteht und als vermittelnde Instanz in der Geschichte der Literatur nicht übersehen werden kann.35
Seine Überlegungen macht Jauß sowohl auf der Makroebene für gesellschaftliche Handlungen im Literatursystem als auch auf der Mikroebene für die individuelle Direktkonfrontation mit Texten geltend. Für erstere entspinnt er in Literaturgeschichte als Provokation folgende Argumentation: Das Verfassen einer Literaturgeschichte erschöpfe sich nicht in der Akkumulation empirischer Daten, vielmehr ergäben die Einzelinformationen ihren Sinn erst über die Konstruktionsarbeit eines Betrachters.36 Automatisch fließe somit eine Stellungnahme in die Bewertung von Werken ein, da der Schreiber das Gelesene vom Standpunkt der literarischen und kulturellen Erfahrungen seiner Zeit aus beurteile. Eine Literaturgeschichte müsse folglich stets in Abhängigkeit von denjenigen gedacht werden, die für ihre teleologische Ausrichtung verantwortlich seien. Die Vorstellung, dass die Werke selbst über Merkmale verfügten, die sie aus der Masse der übrigen Texte abhoben und zum Meilenstein der Literaturgeschichte machten, sei eine Illusion der Produktionsund Darstellungsästhetik.37 Vielmehr weise erst der Rezipient in Abhängigkeit von
35 Jauß, Hans Robert: „Der Leser als Instanz einer neuen Geschichte der Literatur“, in: Poetica, 7 (1975), S.335. 36 Vgl. Jauß, Hans Robert: Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt: Suhrkamp, 1979, S.143. 37 Vgl. ebd., S.168.
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seiner Lektüreerfahrung Urteile zu, die den Status eines Texts innerhalb einer sozialen Gemeinschaft rechtfertigten. Nicht der „Zusammenhang literarischer Fakten“ konstituiere folglich die Literaturgeschichte, sondern die historisch perspektivierte Textwahrnehmung des Lesers.38 Konsequenterweise versucht Jauß daraufhin die Determinanten der Lektüreerfahrung zu ergründen. Er geht davon aus, dass die Erwartungen des Rezipienten an einen Text hierfür eine wichtige Rolle spielten, zumal der Kontakt von Rezipient und Text stets auf einem konventionalisierten Vorverständnis hinsichtlich dessen Gattung sowie formalen und inhaltlichen Ausgestaltung basiere.39 Jauß beschreibt dieses Phänomen folgendermaßen: Ein literarisches Werk, auch wenn es neu erscheint, präsentiert sich nicht als absolute Neuheit in einem informatorischen Vakuum, sondern prädisponiert sein Publikum durch Ankündigungen, offene und versteckte Signale, vertraute Merkmale oder implizite Hinweise für eine ganz bestimmte Weise der Rezeption. Es weckt Erinnerungen an schon Gelesenes, bringt den Leser in einen bestimmte emotionale Einstellung und stiftet schon mit seinem Anfang Erwartungen für Mitte und Ende, die im Fortgang der Lektüre nach bestimmten Spielregeln der Gattung und Textart aufrechterhalten oder abgewandelt, umorientiert oder auch ironisch aufgelöst werden können. Der psychische Vorgang bei der Aufnahme eines Texts ist im primären Horizont der ästhetischen Erfahrung keineswegs nur eine willkürliche Folge nur subjektiver Eindrücke, sondern der Vollzug bestimmter Anweisungen in einem Prozess gelenkter Wahrnehmung, der nach seinen konstituierenden Motivationen und auslösenden Signalen erfasst und auch textlinguistisch beschrieben werden kann.40
Überschreite ein Werk die Erwartungen des Lesers signifikant, so könne dies als Indiz für dessen ästhetischen Wert erachtet werden. Allerding werde dieser nicht immer sofort und von allen Gesellschaftsmitgliedern wahrgenommen. Manche Werke durchbrächen die literarischen Kodes so vehement, dass der Prozess der Akzeptanz viel Zeit in Anspruch nehme, zumal eine Transgression eine schrittweise Anpassung des Rezipientenhorizonts an die neue literarische Realität erfordere. Gelinge die Rekonstruktion des historischen Erwartungshorizonts zum Erscheinenszeitpunkt eines Werks, so lasse sich daraus dessen literaturgeschichtliche Relevanz ableiten.41 Der Verdienst von Literaturgeschichte als Provokation liegt im Verständnis der Lektüre als Teil eines gesellschaftlichen Dialogs zwischen Produzent und Rezipi-
38 Vgl. ebd., S.171. 39 Vgl. ebd., S.173. 40 Ebd., S.175. 41 Vgl. ebd., S.177.
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ent. Die beiden Instanzen beeinflussen sich gegenseitig, indem der Autor das Verhältnis des Lesers zur Literatur verändert und andersherum die Erwartungshaltung des Lesers das Schaffen des Autors mitbestimmt. Insofern eignet Jauß’ Konzept ein interaktionaler Charakter. Indem es die Aufmerksamkeit auf die Regeln des Systems ‚Literatur‘ richtet, bildet es ein Gegengewicht zu einer Literaturwissenschaft, die ihre Interpretationen textimmanent und ahistorisch anlegt. Gleichwohl eignen sich die Ideen nicht unumschränkt zur Erfassung einer dynamischen und präsentischen Partizipation des Rezipienten. Literaturgeschichte als Provokation erfasst mit der Attribuierung eines ästhetischen Werturteils lediglich eine von vielen Beteiligungsformen, wodurch die Mithandlungsoptionen auf eine recht globale Ebene begrenzt bleiben: Der Leser agiert aus einer reflexiven Distanz zum Text heraus und nicht zwangsweise während der Lektüre, so dass keine direkte Begegnung mit einzelnen Sätzen und Wörtern stattfindet und somit die Immunität des Texts als abgeschlossenes Bedeutungssystem unangetastet bleibt. Dies holt Jauß in Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik nach, wo er konstatiert, dass die Teilnahme des Lesers nicht erst bei der Bewertung oder Rekonstruktion der Autorintention gefordert sei. Bereits während der Rezeption vollziehe sich zwischen Leser und Text ein gleichberechtigter Dialog, aus dem ästhetische Erfahrung resultiere.42 Jauß versucht zunächst das Wesen dieser ästhetischen Erfahrung zu ergründen. In ihrer Definition stellt er sie in Kontrast zur Alltagserfahrung: Zwar erlebe man die gelesenen Inhalte mit, der Effekt sei aber ein anderer als bei realen Ereignissen, da die Lektüre für den Rezipienten weder ernsthafte Konsequenzen habe, noch mit Zwängen verbunden sei und somit ludischen Charakter trage.43 Die ästhetische Erfahrung erfordere vom Leser kein Aufgehen im Werk, sondern eine Teilnahme bei gleichzeitiger Distanz, was die Formel „Selbstgenuss im Fremdgenuss“44 pointiert. Jauß führt hierzu genauer aus: Auf der kommunikativen Seite ermöglicht ästhetische Erfahrung sowohl die eigentümliche Rollendistanz des Zuschauers als auch die spielerische Identifikation mit dem, was er sein soll oder gerne sein möchte: Sie lässt genießen, was im Leben unerreichbar oder auch schwer erträglich wäre; sie gibt den exemplarischen Bezugsrahmen für Situationen und Rollen vor, die in naiver Nachahmung, aber auch in freier Nachfolge übernommen werden können; sie bietet schließlich die Möglichkeit, gegenüber allen Rollen und Situationen die Verwirklichung seiner selbst als einen Prozess ästhetischer Bildung zu begreifen.45
42 Vgl. Jauß, Hans Robert: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, München: Fink, 1977, S.9. 43 Vgl. ebd., S.27. 44 Ebd., S.59. 45 Ebd., S.32.
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Dieser Begriffsbestimmung folgt eine Ausdifferenzierung der ästhetischen Erfahrung in die Kategorien ‚Poiesis‘, ‚Aisthesis‘ und ‚Katharsis‘. ‚Poiesis‘ meint die ästhetische Erfahrung der Produktionsseite, das Bedürfnis des Autors nach künstlerischem Ausdruck, aber auch die Konstruktionsleistung des Lesers bei der Wahrnehmung eines Gegenstandes als Kunstwerk. ‚Aisthesis‘ heißt die Lust, die dem Wiedererkennen der Realität im literarischen Werk sowie der Revidierung der Wirklichkeitsauffassung des Rezipienten im Abgleich des Texts mit historisch wandelbaren Perzeptionsmustern entspringt. ‚Katharsis‘ schließlich bezeichnet das kommunikative Produkt der ästhetischen Beteiligung: den Genuss, den der Leser aus den erlesenen Affekten zieht und der eine „Befreiung seines Gemüts“46 nach sich ziehen kann. Diese dritte Form der ästhetischen Wahrnehmung behandelt Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik nun genauer. ‚Katharsis‘ stehe, so Jauß, eng mit Identifizierungsprozessen in Verbindung, weil sie dem Wunsch des Lesers nach Vorbildern Raum gebe.47 Mit dem Begriff ‚Identifikation‘ wird dabei gerade nicht – wie häufig in der Psychologie – die Übernahme eines textuell vorgegebenen Verhaltensmusters durch den Leser verstanden, sondern dessen prozessual ausgehandelte Beziehung zum Helden, die sich auf einem Kontinuum zwischen quasi-kultischer Partizipation und reiner ästhetischer Reflexion (Assoziation → Bewunderung → Mitleid → Erschütterung → Ironie) bewegt.48 Eine gewisse Distanz, so betont Jauß, bleibe aber bei all diesen Formen bestehen, da dem Leser die Fingiertheit seiner Erfahrung stets bewusst sei. Lust gewinne er folglich gewiss im Erleben, besonders aber in dessen Reflexion.49 Jauß legt mit seinen Überlegungen zur ästhetischen Erfahrung den Grundstein für die Erforschung der ästhetischen und evaluativen Beteiligung. Indem er die Lektüre als dialogisches Frage- und Antwortspiel zwischen Text und Rezipient denkt, erweitert er im Vergleich zur traditionellen hermeneutischen Herangehensweise den Aktionsradius des Lesers, so dass das prozessuale und präsentische Merkmal der Rezeption erstmals zugleich in den Forschungsfokus rücken. Dennoch entsprechen die Ausführungen nicht in jeder Hinsicht der Partizipationsidee, wie sie eingangs definiert wurde. So wirkt die Festlegung der Beteiligungsmöglichkeiten des Lesers auf die ästhetische Erfahrung begrenzend. Jauß integriert mit der Identifikation einen Erlebnisaspekt in das Literaturgeschehen, tut dies jedoch nicht, ohne ihn an eine Metaposition zu koppeln. Selbst die ausgeprägteste Sympathie für den Protago-
46 Jauß, Hans Robert: Kleine Apologie der ästhetischen Erfahrung, Konstanz: Universitätsverlag, 1972, S.14. 47 Vgl. Jauß, Hans Robert: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, München: Fink, 1977, S.138. 48 Vgl. ebd., S.212f. 49 Vgl. ebd., S.221.
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nisten ist auf diese Weise ohne den Rückzug auf die intellektuelle Analyse undenkbar; auch der anschaulichste Roman behält stets seinen Darstellungscharakter. Demnach kann die Lektüre nicht zum emotionalen Erlebnis avancieren, da das literarische Werk in der reflexiven Distanz des Lesers dem interpretierenden Subjekt äußerlich bleibt und einen Objektstatus bewahrt. Jauß gestaltet seine Definition der ästhetischen Erfahrung vermutlich darum ambivalent, weil er so dem Lesen Dynamik zu verleihen vermag, ohne deswegen mit der reflexiven Distanz und der Sinnproduktion das Zentrum der hermeneutischen Mentalität antasten zu müssen. Das zwingt ihn allerdings dazu, Präsenzerfahrungen bei der Lektüre aus seiner Einteilung auszuschließen. Da sie statt Erkenntnis Erlebnis bereithalten, sind sie mit den literaturwissenschaftlichen Traditionen inkompatibel. Zu dieser Auffassung passt die von Jauß gewählte Metaphorik der Lektüre als ‚Dialog zwischen Text und Leser‘: Ein Gespräch kann dem bloßen Informationsaustausch dienen, es kann auf einer rein geistigen Ebene durchgeführt werden und relativ statisch sein, wenn es lediglich indirekt seinen Gegenstand referiert. Insofern amalgamiert Jauß im Grunde in seiner Vorstellung von der ästhetischen Erfahrung zwei Dimensionen der literarischen Kommunikation, das Verstehen und die Partizipation. Um das Mithandeln des Rezipienten in seiner Reinform zu erfassen, müsste der Präsenzaspekt der ästhetischen Erfahrung gesondert betrachtet werden. 2.1.3 Exkurs: Partizipation und Poststrukturalismus Die Rezeptions- und Wirkungsästhetik entwickeln sich in Deutschland etwa zeitgleich mit dem Poststrukturalismus im europäischen Ausland. In der kritischen Auseinandersetzung mit dem strukturalistischen Credo, der Öffnung der Bedeutung literarischer Texte zum Rezipienten hin und in der Kritik des Logozentrismus rücken beide Strömungen auch inhaltlich zumindest partiell zusammen. Es soll deshalb in diesem Kapitel überprüft werden, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen und inwiefern die Theoriekonzepte aus Frankreich und den Vereinigten Staaten einen Beitrag zur Erforschung der Partizipation leisten können. Das elementare Ziel des Poststrukturalismus besteht im Aufbrechen der Abgeschlossenheit der Zeichen, die Ferdinand de Saussure mit seiner SignifikantSignifikat-Zuordnung vermeintlich postuliert. Die Strömung distanziert sich von der Vorstellung, Sprache gehorchte einem statischen Kode, der der Kommunikation vorausgehe. Keine Bedeutung könne, so Jacques Derrida in L’écriture et la différance, allgemeingültig fixiert werden, zumal die gesellschaftlichen Konventionen, auf denen sie beruhe, variabel seien. Durch Rekombination oder Erweiterung veränderten Zeichen ihren Spielraum, in ihrer Bezogenheit auf den Nicht-Sinn ergebe sich ihr Sinn jedes Mal aufs Neue:
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C’est alors le moment où le langage envahit le champ problématique universel; c’est alors le moment où, en l’absence de centre ou d’origine, tout devient discours – à condition de s’entendre sur ce mot – c’est-à-dire système dans lequel le signifié central originaire ou transcendantal, n’est jamais absolument présent lors d’un système de différences. L’absence de signifié transcendantal étend à l’infini le champ et le jeu de la signification.50
Weil Zeichen offen seien, ließe sich über ihre Bedeutung nur im Plural sprechen, so dass die Diversifikation der Interpretationsmöglichkeiten zum fundamentalen Charakteristikum der Verständigung avanciert. Analog zu diesen semiotischen Überlegungen wehrt sich der Poststrukturalismus gegen die Vorstellung vom Roman als abgeschlossenem Bedeutungskonstrukt, das einen transzendentalen Sinn berge. Während die klassische Literaturwissenschaft eine möglichst einheitliche Deutung anstrebt, legt es die Dekonstruktion gerade auf die Fülle möglicher, zuweilen widersprüchlicher Interpretationen an. Julia Kristeva definiert literarische Werke in diesem Sinne als Mosaike von Zitaten. Da sie in mannigfachen, dynamischen Beziehungen zu anderen (gesellschaftlichen, literarischen etc.) Texten stünden, könne aus ihnen keine unstrittige Bedeutung herausgelesen werden. Jede Interpretation sei ausschließlich vorläufig möglich, als kurzes Innehalten, bevor sich die Zeichen und ihre Beziehungen zueinander erneut im Universum der Bedeutungen zerstäubten.51 Wenn der Rezipient bei der Interpretation eines Texts eine Sinnstruktur herausgreift, dann betreibt er folglich eine Selektion; er reduziert willkürlich eine ganze Palette von Verständnisoptionen auf einen einzigen Ton. Insofern verfälscht die Auslegung die Bedeutungsvielfalt des Texts. Harald Bloom geht mithin so weit, jede Interpretation als ‚Fehllesen‘ zu denken. Aufrichtig sei die Literaturwissenschaft nur, solange sie die Unbestimmtheit und Unabgeschlossenheit literarischer Werke nicht leugne, sondern unablässig auf sie verweise.52 Die Pluralität des Texts stellt eine zentrale Voraussetzung für die Anerkennung der Lektüre als produktive Tätigkeit dar. Da der Rezipient eine Auswahl trifft, bringt er sich kreativ in das Werk ein, seine Lektüre wird zur écriture.53 Die Vorstellung vom literarischen Werk als abgeschlossenes Sinnkonstrukt, das der Rezipient wie ein Gefäß aufnimmt, ist also passé. „Lire cependant“, formuliert Roland Barthes in S/Z, „n’est pas un geste parasite, le complément réactif d’une écriture
50 Derrida, Jacques: L’écriture et la différence, Paris: Seuil, 1967, S.411. 51 Vgl. Kristeva, Julia: „Probleme der Textstrukturation“, in: Blumensath, Heinz (Hrsg.): Strukturalismus in der Literaturwissenschaft, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1972, S.245. 52 Vgl. Bloom, Harold: Eine Topographie des Fehllesens, Frankfurt: Suhrkamp, 1997, S.9. 53 Vgl. Barthes, Roland: „La mort de l’auteur“, in: Ders.: Le bruissement de la langue, Paris: Seuil, 1984, S.61.
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que nous partons de tous les prestiges de la création et de l’antériorité“.54 Vielmehr bedeutet Lektüre die produktive Bedeutungskonstruktion beim Kontakt von Text und Leser, wobei letzterer auf einer Aktivitätsstufe mit dem Autor steht: Sur la scène du texte, pas de rampe: il n’y a pas derrière le texte quelqu’un d’actif (l’écrivain) et devant lui quelqu’un de passif (le lecteur); il n’y a pas un sujet et un objet. Le texte périme les attitudes grammaticales: il est l’œil indifférencié dont parle un auteur excessif: L’œil par où je vois Dieu est le même œil par où il me voit.55
Das Verständnis der Lektüre als relationaler Prozess stellt auch einen zentralen Gedanken in Umberto Ecos L’opera aperta dar: Literarische Werke seien nicht abgeschlossen, sobald ihr Autor sie in Druck gebe, sondern erst, wenn sie vom Leser verstanden worden seien.56 Eco trifft dabei eine Unterscheidung zwischen Texten, die die Handlungsmacht des Lesers tendenziell einschränken, und solchen, die sie vergrößern: Erstere lehnten sich an inhaltliche und gestalterische Stereotype an; zweitere generierten bewusst Ambivalenz und Unvorhersehbarkeit, indem sie dies unterließen.57 Vor allem die moderne Literatur tendiere zur Offenheit und überantworte dem Leser, so Eco, größeren Aktionsspielraum.58 Das poststrukturalistische Denken entspricht insofern den Ideen der Rezeptionsund Wirkungsästhetik, als es die Illusion der Selbstgenügsamkeit des Texts für die Bedeutungskonstruktion zerstreut. Es flexibilisiert die Beschäftigung mit Literatur, indem es die Abhängigkeit der Interpretation von der historischen, gesellschaftlichen, situativen und individuellen Conditio des Lesers anerkennt. Dadurch wird das komplexitätsreduzierende Ursache-Wirkungsprinzip überwunden, wonach der Roman das Subjekt, der Leser das Objekt des Literaturprozesses darstellt. Ebenfalls vergleichbar mit den deutschen Theoretikern ist die Beschränkung auf die Bedeutungsdimension: Zwar nähern sich die Ansätze durch die Betonung des dynamischen Charakters der Literatur der Idee einer Interaktion von Leser und Text an, dennoch sparen auch sie die Dimension des präsentischen Erlebens aus ihren Überlegungen aus.59 Wenngleich sie der Autorintention den Leser als Sinnproduzenten
54 Barthes, Roland: S/Z, Paris: Seuil, 1970, S.17. 55 Barthes, Roland: Le plaisir du texte, Paris: Seuil, 1973, S.29. 56 Vgl. Eco, Umberto: L’œuvre ouverte, Paris: Seuil, 1965, S.18. 57 Vgl. ebd., S.128. 58 Vgl. ebd., S.17. 59 Es soll an dieser Stelle keinesfalls suggeriert werden, dass sich Rezeptionsästhetik und Poststrukturalismus in allen Aspekten ähnlich wären. Während die Rezeptionsästhetik die Offenheit lediglich in Bezug auf die Sinnzuschreibungen des Lesers konstatiert und der Text eine Konstante bildet, sieht sie der Poststrukturalismus als Charakteristikum des
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entgegenstellen und die literaturwissenschaftliche Perspektive dadurch erweitern, besteht ihr Ziel nach wie vor im Freileigen von Bedeutungen in der Fundgrube des Texts. Eine Erforschung der unterschiedlichen Beteiligungsmöglichkeiten an Romanen müsste sich im Gegensatz hierzu von der interpretativen Ebene lösen und auf spontane emotionale oder kognitive Leserreaktionen konzentrieren, die unabhängig von hermeneutischen Operationen ablaufen. 2.1.4 Literarische Hermeneutik als Beschränkung der Beteiligungsidee Es hat sich gezeigt, dass ein zentrales Anliegen der Rezeptions- und Wirkungsästhetik sowie des Poststrukturalismus darin besteht, Literatur als dynamischen Aushandlungsprozess zwischen Text und Leser zu begreifen. Die Vorstellung, dass Werke nicht außerhalb ihres Rezeptionskontexts existieren, revolutioniert und dynamisiert die Literaturwissenschaften der späten 60er Jahre in ganz Europa. Gezeigt hat sich allerdings auch, dass die Umsetzung dieser Orientierung in die Praxis teilweise von methodischen Inkonsequenzen begleitet ist: Die Festlegung auf textuelle Merkmale verringert das Handlungspotenzial des Lesers, das Insistieren auf der ästhetischen Distanz beschneidet das Werk um die Präsenzdimension literarischer Erfahrung. Rezeptions- und Wirkungsästhetik sind somit für die Erforschung der Beteiligung nicht unumschränkt geeignet. Sie fassen die Lektüre nicht als performativen Prozess, in dem der Leser breitere Aktionsmöglichkeiten besitzt und in direkter Interaktion mit dem Text steht. Ähnlich gelagert ist der Fall der poststrukturalistischen Literaturwissenschaft. Zwar sind infolge der Pluralisierung der Bedeutungen eine Aktivierung des Rezipienten sowie eine Vergrößerung seiner Reichweite spürbar und die Autonomie des literarischen Werkes wird aufgebrochen; andererseits aber fehlt, um eine Partizipationsorientierung des Ansatzes konstatieren zu können, der Ereignischarakter. Hinsichtlich der Frage, was die Rezeptions- und Wirkungsästhetik sowie den Poststrukturalismus von einer erlebnisbasierten Literaturanalyse abhält, hat sich gezeigt, dass die Bedenken immer dann zunehmen, wenn die Grundsätze der literarischen Hermeneutik angetastet werden. Schließlich werden mit der Werkimmanenz, der ästhetischen Distanz sowie der Bedeutungszentrierung Werte aufrechterhalten, die für eine hermeneutisch geprägte Literaturwissenschaftskultur konstitutiv sind. An dieser Stelle soll deshalb ermittelt werden, inwie-
Texts selbst (vgl. Warning, Rainer: „Interpretation, Analyse, Lektüre. Methodologische Erwägung zum Umgang mit lyrischen Texten“, in: Ders. (Hrsg.): Lektüren romanischer Lyrik. Von den Trobadors zum Surrealismus, Freiburg: Rombach, 1997, S.14f.). Nichtsdestotrotz kann hinsichtlich der Rolle des Lesers eine Vergleichbarkeit der beiden Strömungen attestiert werden.
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fern dieser Gestus dem Konzept der Partizipation abträglich ist; die Hermeneutik soll als prioritärer Zugang zur Literatur hinterfragt werden. Die Hermeneutik sieht den literarischen Text als Kode, der entschlüsselt werden will. Die Aufgabe des Lesers besteht in der Beobachtung der Bedeutung aus der Distanz und ihrer schrittweisen Extraktion. Hans-Georg Gadamer etwa beschreibt dieses Verstehen folgendermaßen: „Es wird nicht nur eine immanente Sinneinheit vorausgesetzt, die dem Lesenden die Führung gibt, sondern das Verständnis des Lesers wird auch ständig von transzendenten Sinnerwartungen geleitet, die aus dem Verhältnis zur Wahrheit des Gemeinten entspringen.“60 Von einer Beteiligung kann in diesem Zusammenhang nicht gesprochen werden, zumal der Rezipient für das literarische Werk nicht konstitutiv scheint. Dies ist vor allem dem Insistieren der literarischen Hermeneutik auf werkimmanente Bestandteile geschuldet. Die Konzentration auf statische Komponenten wie Semantik, Form und Aufbau des Werks sowie auf die Auffassung der Ästhetik als distanziertes Werturteil suggerieren – wie Charles Grivel in Production de l’intérêt romanesque herausstreicht –, der literarische Text könne in Einzelsegmente aufgefächert werden, die die Bedeutungsbestandteile in sich tragen.61 Einem solchen „atomistischen“ Verständnis von Literatur entgeht, dass jeglicher Interpretation ein Erlebnis vorausgehen muss, ohne die literarische Texte lediglich Druckerschwärze auf Papier bleiben. Insofern reduziert eine traditionelle Literaturwissenschaft den produktiven Charakter der Begegnung von Text und Leser und beschneidet sich dadurch der Hälfte ihres Untersuchungsgegenstands. So argumentiert auch Susan Sontag in ihrem Aufsatz „Against interpretation“, wo statt einer Hermeneutik für eine „erotics of arts“ plädiert wird: „In most modern instances, interpretation amounts to the philistine refusal to leave the work of art alone. Real art has the capacity to make us nervous. By reducing the work of art to its content and then interpreting that, one tames the work of art. Interpretation makes art manageable, conformable.“62 Wie Sontag andeutet, ist der Kontakt des Lesers mit dem Werk in der Hermeneutik ein blutleerer, weil rein vernunftbasierter. Wer das Ziel der Beschäftigung mit Literatur in der Generierung einer Bedeutung sieht, die das Gelesene transzendiert und abstrahiert, übersieht leicht das produktive Wechselspiel von Rezipient und Werk. Wer annimmt, dass der Text lediglich etwas repräsentiert, das aus ihm
60 Gadamer, Hans-Georg: „Vom Zirkel des Verstehens“, in: Ders.: Gesammelte Werke. Hermeneutik II. Wahrheit und Methode, Tübingen: Mohr, 1993, S.62. 61 Vgl. Grivel, Charles: Production de l’intérêt romanesque, Amstelveen: Hoekstra, 1973, S.13ff. 62 Sontag, Susan: „Against interpretation“, in: Dies.: Against Interpretation and other Essays, New York: Farrar, 1966, S.8.
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herausgeschält werden muss, dem entgeht sein interaktiver Charakter.63 Die direkte Beziehung zum Text, die den Leser verändert wie die Lektüre von Ritterromanen den Don Quijote und ihm ein spezifisches Erlebnis verschafft wie den ersten Kinogängern bei L’arrivée d’un train à la Ciotat, bleibt außen vor. Das meint Jochen Hörisch, wenn er in Die Wut des Verstehens konstatiert: „Hermeneutische Interpretationen vervielfältigen Reden um den Preis, dass Wesentliches schweigt, weil es durch erzwungene Deutung einer Bedeutung zum Schweigen gebracht wurde.“64 Solange eine rigide Konzentration auf ein Verstehen auf der Metaebene erfolgt, solange literarische Texte ausschließlich im Dienst der Produktion neuer Welterfahrung oder Erkenntnis stehen, bleibt der Blick auf die unmittelbaren Partizipationsmöglichkeiten verstellt. Solange das Werk als semiotisches System verstanden wird, ist der Leser ein peripherer, abdingbarer Faktor literarischer Kommunikation.65 Die bisher untersuchten Konzepte fassten die Lektüre schwerpunktmäßig als Phänomen der Bedeutungsfindung auf berücksichtigten ihren Erlebnischarakter eher am Rande. Wenn der Rezipient allerdings von einem spannenden Roman in den Bann gezogen wird, ihm über einer melodramatischen Textpassage die Tränen in die Augen steigen oder er ob eines komischen Abschnitts laut loslacht, lässt sich dies nicht ausschließlich über den Sinn des Gelesenen erklären. Ein Bruch mit der Bedeutung und die Konzentration auf die präsentische Partizipation versprechen so gesehen die Erweiterung des literaturwissenschaftlichen Aktionsradius. Die Relevanz einer Literaturwissenschaft, die sich dem Ereignis ‚Lektüre‘ zuwendet, liegt in der Bereitstellung einer Erklärung für die Faszination, die literarische Werke auf Rezipienten ausüben und die den Ausschlag dafür gegeben hat, dass die Lektüre zu einer Kulturtechnik langer Dauer werden konnte.
63 Auf das Übergewicht des verständniszentrierten Zugangs vor dem aktionsorientierten weist auch Karlheinz Stierle hin, der in Text als Handlung zwischen zwei Arten der Auffassung von Literatur differenziert: als Sprache und als Aktion. Der Fokus der Forschung liege vor allem auf ersterer, während die pragmatischen Formen der Literatur oft vernachlässigt würden (vgl. Stierle, Karlheinz: Text als Handlung, München: Fink, 1975, S.31.). 64 Hörisch, Jochen: Die Wut des Verstehens, Frankfurt: Suhrkamp, 1988, S.23. 65 Eine mögliche Erklärung für das Festhalten an hermeneutischen Strukturen liefert Roland Barthes in „Les deux critiques“. Demnach diene eine an positivistische Idealen angelehnte Literaturwissenschaft dem universitären Machterhalt: „L’université décerne des diplômes; il lui faut donc une idéologie qui soit articulée sur une technique suffisamment difficile pour constituer un instrument de sélection.“ (Barthes, Roland: „Les deux critiques“, in: Ders.: Essais critiques, Paris: Seuil, 1964, S.251.)
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2.2 D IE I DEE DER P ARTIZIPATION R EZEPTIONSFORSCHUNG
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Die Erfassung der Präsenzdimension literarischer Texte erfordert die Verlagerung der Beteiligung des Lesers in den Roman hinein. Wie Gebhard Rusch betont entsteht ein face-to-face-Eindruck für das Medium ‚Buch‘ gerade nicht bei der Übermittlung einer Bedeutung zwischen Autor und Rezipient, da es diesen Instanzen an kommunikativer Nähe fehlt, sondern bei der Interaktion des Lesers mit dem Romaninhalt: „Wie im Falle des Werther ist es gerade nicht der Autor Goethe, der zur Kultfigur wird, sondern der Held seines Romans. Para-soziale Beziehungen und Identifikationen beginnen das Verhältnis von Text und Leser immer stärker zu bestimmen. Der Text tritt nicht als Brücke zwischen Autor und Leser, sondern als eine eigene Wirklichkeit.“66 Einer der ersten Fachbereiche, der verstärkt Interesse für die Präsenzdimension von Literatur entwickelt, ist die Empirische Literaturwissenschaft, die sich in den frühen 70er Jahren mit dem Ziel der Integration der performativen Ideenanteile der Rezeptions- und Wirkungsästhetik in die Forschungspraxis etabliert. Sie verortet den Leser dort, wo er Motivation zur Lektüre schöpft: in seinem jeweiligen historischen, sozialen und situationalen Kontext. Die Rezeption begreift sie als Handlung, die auf kulturelle und literarische Wissenssysteme rekurriert und über Konventionen formalisiert ist.67 Ausgehend von dem konstruktivistischen Gedanken, dass das Individuum keine Aussagen über die Realität, sondern lediglich über seine Vorstellung von und sein Erleben in ihr treffen könne und dass deshalb auch das Werk als Sinnzuweisung vonseiten des Rezipienten zu verstehen sei, wird eine leserbezogene Konzeption der Literaturwissenschaft angestrebt.68 Das Erkenntnisinteresse solle, so Siegfried Schmidt, nicht mehr der Frage nach der Bedeutung gelten, sondern den „Prozessen, die an und mit Texten in einer Gesellschaft stattfinden“69,
66 Rusch, Gebhard: From Face-to-Face to Face-to-‚Face‘. Zehn Schritte von der mündlichen Kommunikation zum Cyberspace, Siegen: Lumis, 1998, S.11. 67 Vgl. Schmidt, Siegfried: „Empirische Literaturwissenschaft in der Kritik“, in: Viehoff, Reinhold (Hrsg.): Alternative Traditionen. Dokumente zur Entwicklung einer empirischen Literaturwissenschaft, Braunschweig: Vieweg, 1991, S.336. 68 Vgl. Schmidt, Siegfried: „The Empirical Study of Literature. Why and why not?“, in: Tötösy de Zepentnek, Steven/Sywenky, Irene (Hrsg.): The Systemic and Empirical Approach to Literature and Culture as Theory and Application, Balatonvilágos: Zepetnek Printing, 1997, S.143. 69 Schmidt, Siegfried: „Der Radikale Konstruktivismus. Ein neues Paradigma im interdisziplinären Diskurs“, in: Ders. (Hrsg.): Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, Frankfurt: Suhrkamp, 1987, S.67.
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also dem Aneignungsvorgang selbst. Zu ergründen sei, wie genau Leser über ihr intersubjektiv geteiltes operationales Wissen Bedeutungen konstruierten und „was Leute tatsächlich getan haben und heute tun, wenn sie mit literarischen Werken umgehen“70, und hieraus allgemeine Muster abzuleiten. Dieser Prozess der Sinnherstellung bei der Lektüre erfordert die Verarbeitung des Texts auf orthographischer, lexikalischer und semantischer Ebene, seine Übersetzung in eine mentale Repräsentation der Romanwelt sowie seine wertmäßige und emotionale Strukturierung über Rahmen des Alltagswissens.71 Die Intention der Empirischen Literaturwissenschaft liegt insofern in der Systematisierung der Operationen des Lesers und nicht wie bei der Wirkungsästhetik in der Systematisierung des Texts.72 Diese Neuausrichtung des literaturwissenschaftlichen Forschungsinteresses geht mit einer methodischen Renovatio einher. Erreicht werden soll eine Forschung, die kohärent, logisch und für jedermann nachvollziehbar sei und auf „independent forms of observation“ beruhe, was eine personale Trennung von Rezeption und Interpretation, von Daten und Deuten impliziert.73 Hieraus ergibt sich eine empirische Orientierung vergleichbar mit den Sozialwissenschaften oder der Psychologie: Durchgeführt werden quantitative Studien und Tests, in denen „ein standardisiertes Messinstrument für den Objektbereich einer Theorie der literarischen Kommunikation“ entwickelt wird, das im Optimalfall erlaubt, „prognosefähige und intersubjektiv nachprüfbare Hypothesen von Konzepten bzw. Objekten in seinem Wissenschaftsbereich zu formulieren“.74 Im Interview mit Rezipienten oder in deren schriftlicher Befragung ermittelt der Forscher die bewussten und unbewussten Leserreaktionen. Die Probanden können hierfür entweder zur Paraphrase ihrer Lektüreerfahrung oder zur freien Assoziation aufgefordert werden. Emotionale Haltungen des Lesers zum Text soll beispielswei-
70 Schmidt, Siegfried: Grundriß der empirischen Literaturwissenschaft (Bd.1), Braunschweig: Vieweg, 1982. S.VII. 71 Vgl. Schacht, Annekathrin/Pollmann, Katrin/Bayer, Mareike: „Leseerleben im Labor? Zu Potential und Limitationen psycho(physio)logischer Methoden in der empirischen Literaturwissenschaft“, in: Ajouri, Philip/Mellmann, Katja/Rauen, Christoph (Hrsg.): Empirie in der Literaturwissenschaft, Münster: Mentis, 2013, S.432. 72 Vgl. Groeben, Norbert: „Was kann/soll ‚Empirisierung (in) der Literaturwissenschaft‘?“, in: Ajouri, Philip/Mellmann, Katja/Rauen, Christoph (Hrsg.): Empirie in der Literaturwissenschaft, Münster: Mentis, 2013, S.50. 73 Peer, Willie van/Hakemulder, Frank/Zyngier, Sonia: Scientific Methods for the Humanities, Amsterdam: Benjamins, 2012, S.7. 74 Zobel, Reinhard: „Das Semantische Differential. Ein Bedeutungsmessinstrument im Theater?“, in: Schmidt, Siegfried (Hrsg.): Empirie in Literatur- und Kunstwissenschaft, München: Fink, 1979, S.141.
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se das semantische Differenzial ergründen: Einzelne Wörter werden hinsichtlich einer Reihe von Kriterien auf einer Skala eingeordnet und einander vergleichend gegenübergestellt, bis sich ihre affektive Wertigkeit bestimmen lässt.75 Außerdem stehen vor allem in den letzten Jahren als Erhebungsinstrumente auch psycho- und neurophysiologische Messgeräte zur Verfügung, die die Intensität und Entwicklung der Gehirnaktivität, der Herzfrequenz oder der Leitfähigkeit der Haut oder die Reaktionszeit als Indikatoren der emotionalen und kognitiven Erregung bei der Textverarbeitung aufzeichnen.76 Im Anschluss an die Datensammlung wird die Erarbeitung von Prinzipien versucht, die den gewonnenen Informationen zugrunde gelegen haben mögen, indem die Reaktionen der Rezipienten auf ausgewählte Reize katalogisiert, typisiert und mit den Textmerkmalen in Zusammenhang gebracht werden.77 Die gewonnenen Erkenntnisse sollen möglichst auf soziale und situative Parameter sowie das sprachliche und enzyklopädische Wissen des Rezipienten hin differenziert werden. Eine vergleichbare theoretische Orientierung und Herangehensweise verfolgen eine Reihe anderer Disziplinen, die einen empirisch Umgang mit Literatur pflegen, hierunter die Medienwissenschaften, die Psychologie und die Kognitionswissenschaften.78 Das Erkenntnisinteresse verschiebt sich bei ihnen jeweils etwas mit den Untersuchungsgegenständen: Die Medienwirkungsforschung möchte die Effekte von Medienbotschaften auf Nutzer ergründen.79 Ihre traditionellen Domänen liegen im Bereich der Persuasionsforschung, also der Auslotung der Möglichkeiten und Voraussetzungen zur Stimulierung von Einstellungs- und Verhaltensänderungen beim Rezipienten, sowie auf dem Gebiet der Mediengewaltforschung, also der Fra-
75 Vgl. Groeben, Norbert: „Zur Relevanz empirischer Konkretisationserhebungen für die Literaturwissenschaft“, in: Schmidt, Siegfried (Hrsg.): Empirie in Literatur- und Kunstwissenschaft, München: Fink, 1979. 76 Vgl. Groeben, Norbert: „Was kann/soll Empirisierung (in) der Literaturwissenschaft heißen?“, in: Ajouri, Philip/Mellmann, Katja/Rauen, Christoph (Hrsg.): Empirie in der Literaturwissenschaft, Münster: Mentis, 2013, S.58. 77 Vgl. Aumüller, Matthias: „Empirische und kognitivistische Theorien“, in: Martínez, Matías (Hrsg.): Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte, Stuttgart: Metzler, 2011, S.126. 78 Jüngst widmen sich auch die Neurowissenschaften dem Rezeptionsprozess. Die bisherigen Veröffentlichungen konzentrieren sich verstärkt auf die bildende Kunst. Zur neuroästhetischen Perspektive auf Literatur siehe: Gellhaus, Axel: „Kognitive Aspekte der Literatur“ und Wenzel, Peter: „Schlüsse über Schlüsse. Zur Struktur der Schlussgebung in Literatur und Kunst“, in: Herrmann, Karin (Hrsg.): Neuroästhetik. Perspektiven auf ein interdisziplinäres Forschungsgebiet, Kassel: University Press, 2011, S.77-86/S.121-128. 79 Vgl. Schenk, Michael: Medienwirkungsforschung, Tübingen: Mohr 2007, S.11.
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ge nach den (meist negativen) Auswirkungen des Medienkonsums auf die Mitglieder einer Gruppe.80 Insofern gilt das ursprüngliche Interesse des Fachbereichs weniger dem Aufnahmeprozess selbst als dessen möglichen Konsequenzen für das Konsumverhalten und das soziale Miteinander.81 Die Psychologie konzentriert sich schwerpunktmäßig auf die Bedürfnisse und Erregungen der Rezipienten und geht dabei unter anderem den Fragen nach dem Gebrauch von Medienangeboten zur Stimmungsmodulation (uses and gratifications-Ansatz, mood management), den emotionalen Reaktionen auf filmisches oder literarisches Input (excitation-transfer, Spannung etc.) oder den Beziehungen zu Figuren (Empathie, Identifikation, parasoziale Interaktion) nach.82 Das Interesse der Kognitionswissenschaften gilt im Wesentlichen den Verarbeitungsprozessen bei der Rezeption. Sie versuchen zu klären, wie der Proband Informationen in Wissensstrukturen umwandelt, im Gedächtnis speichert und aus ihnen eine mentale Repräsentation der fiktiven Welt schafft.83 Mittlerweile ist eine klare inhaltliche Abtrennung der drei Disziplinen nicht mehr ohne Weiteres möglich: Es herrscht zwischen Medienwissenschaften, Psychologie und Kognitionswissenschaften aber auch den Empirischen Literaturwissenschaften ein reger interdisziplinärer Austausch, so dass die Wissensgebiete synergetisch miteinander verschmelzen.84 Insofern widmen sich auch die Medienwissenschaften in den letzten Jahrzehnten verstärkt den Wirkungen während der Mediennutzung und weiten ihre Interesse auf Emotionen und Kognitionen aus,85 wofür der rege Modell-
80 Vgl. Jäckel, Michael: Medienwirkungen. Ein Studienbuch zur Einführung, Wiesbaden: VS, 2008, S.50. 81 Wie das Individuum zu Kaufhandlungen und zu wünschenswertem Verhalten (Umweltschutz, politische Orientierung etc.) bewegt werden kann, steht dabei im Zentrum des Interesses (vgl. Schweiger, Wolfgang: „Grundlagen. Was sind Medienwirkungen? – Überblick und Systematik“, in: Schweiger, Wolfgang/Fahr, Andreas (Hrsg.): Handbuch Medienwirkungsforschung, Berlin: Springer, 2013, S.21.). 82 Vgl. Krämer, Nicole/Schwan, Stephan/Unz, Dagmar/Suckfüll, Monika: „Vorwort“, in: Dies. (Hrsg.): Medienpsychologie. Schlüsselbegriffe und Konzepte, Stuttgart: Kohlhammer, 2008, S.11f. 83 Vgl. Tsur, Reuven: Poetic Rhythm. Structure and Performance. Empirical Study in Cognitive Poetics, Bern: Peter Lang, 1998, S.356. 84 Die analogen Erkenntnisinteressen sind den Fächern durchaus seit geraumer Zeit bewusst, was sich erstmals in der Gründung der interdisziplinären Zeitschrift Poetics 1971 niederschlägt, die sich der empirischen Erforschung medialer Kommunikationsprozesse verschreibt. 85 So definiert Winfried Schulz den medienwissenschaftlichen Gegenstand offen als „Veränderungen, die – wenn auch nur partiell oder in Interaktion mit anderen Faktoren – auf Medien bzw. deren Mitteilungen zurückgeführt werden können“ (vgl. Schulz, Winfried:
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und Begriffsimport aus der Psychologie und den Kognitionswissenschaften symptomatisch ist.86 Auch methodisch lassen sich zwischen den Fächern auf dem Gebiet der Rezeptionsforschung lediglich tendenzielle Unterschiede feststellen: Während die Medienwissenschaften oftmals die Erklärung übergreifender Beziehungen versuchen und deshalb häufig zu quantitativen, teilweise auch qualitativen Umfragen neigen,87 weisen die Psychologie und vor allem die Kognitionswissenschaften eine Disposition zum Experimentellen auf und fokussieren eher Wirkungsnuancen.88 Den empirisch orientierten Annäherungen ist generell gemeinsam, dass sie zur Erforschung der Rezeption ein unidirektionales Modell bedienen. Sie setzen meist voraus, dass die Nutzer entsprechend einem Reiz-Reaktions-Schema agieren: Vom Computerspiel, Film oder Text geht also eine bestimmte Wirkung aus, die diese je nach sozialem oder situativen Kontext realisieren.89 Die Studien versuchen, die verborgenen Korrelationen zwischen den Medieninhalten und deren persuasiver, emotionaler oder kognitiver Wirkung aufzudecken. So knüpfen sie beispielsweise Verbindungen zwischen den Motiven der ‚Rettung in letzter Minute‘ oder der ‚Verfolgungsjagd‘ und der Intensität des Spannungserlebens90, zwischen der Gewaltdar-
Medienwirkungen. Einflüsse von Presse, Radio und Fernsehen auf Individuum und Gesellschaft, Weinheim: VCH, 1982, S.51f.). Hierzu zählen eben auch Erlebnisse während der Rezeption. 86 Begriffe wie ‚Identifikation‘, ‚Empathie‘, ‚priming‘, ‚framing‘ oder ‚kognitive Dissonanz‘ finden in diesem Zusammenhang Eingang in das Fach (vgl. Trepte, Sabine: „Psychologie als Grundlagenfach der Medienwirkungsforschung“, in: Schweiger, Wolfgang/Fahr, Andreas (Hrsg.): Handbuch Medienwirkungsforschung, Berlin: Springer, 2013, S.98. 87 Nichtsdestotrotz spielen qualitative Methoden in der Medienwirkungsforschung nach wie vor eine vergleichsweise randständige Rolle und dienen vielfach lediglich zur Vorbereitung einer quantitativen Studie (vgl. Fahr, Andreas: „Zur Einführung: Gegenstandsbezogen, simultan und integrativ – Qualitative und quantitative Ansätze in der kommunikationswissenschaftlichen Forschungspraxis“, in: Ders. (Hrsg.), Zählen oder Verstehen? Diskussion um die Verwendung quantitativer und qualitativer Methoden in der empirischen Kommunikationswissenschaft, Köln: von Halem, 2011, S.10.). 88 vgl. Trepte, Sabine: „Psychologie als Grundlagenfach der Medienwirkungsforschung“, in: Schweiger, Wolfgang/Fahr, Andreas (Hrsg.): Handbuch Medienwirkungsforschung, Berlin: Springer, 2013, S.100. 89 Vgl. Jäckel, Michael: Medienwirkungen. Ein Studienbuch zur Einführung, Wiesbaden: VS, 2008, S.23. 90 Vgl. Jenzowsky, Stefan/Wulff , Hans: „Suspense & Spannung im Spielfilm“, in: Medienwissenschaft, 13.1 (1996), S.14.
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stellung und der Aggressivität des Zuschauers91 oder zwischen Bildschirmgröße und dem involvement-Eindruck92. Dieses kausallogische Prinzip impliziert eine gewisse Erstarrung der Rezipientenreaktion: Zwar verfügen die Versuchspersonen in den Messungen über die Freiheit, sich nach Belieben zum Text oder Film zu verhalten. Sobald diese aber ausgewertet und Regelmäßigkeiten sowie Wahrscheinlichkeiten aus ihnen abgeleitet sind, ist diese kreative Aktivität nicht mehr spürbar, zumal in den Publikationen allein die Wirkung und nicht mehr der Beitrag des Subjekts zu dieser im Vordergrund steht. Das Lektüreerlebnis des Einzelnen besitzt hier keine Relevanz mehr, sie ist zu einem Modell schematisiert, so dass die Produktivität und Performativität in den Hintergrund rücken. Dieser Umstand erinnert gewissermaßen an die Rezeptions- und Wirkungsästhetik: Obwohl die Methodik der Strömungen grundverschieden ist, gleichen sie einander in der Annahme, dass von der Werkstruktur eine schablonisierte Wirkung ausgeht, die der Leser ausführt. Um dem entgegenzuwirken und der Pluralität möglicher Reaktionen auf Medienerzeugnisse Rechnung zu tragen, entwickeln vor allem die Medienwissenschaften in den 90er Jahren auch rezeptionsorientierte Ansätze. Durch die verstärkte Berücksichtigung der Individualität oder Gruppenspezifität der Reaktionen sollen sie den Kontakt von Leser und Medium flexibilisieren und präzisieren.93 Diese Ausdifferenzierung verkompliziert freilich den Datenerhebungsprozess und verkleinert das Untersuchungsfenster, so dass experimentelle Verfahren nur noch Segmente des Wirkungsprozesses erfassen können.94 Doch so sehr das Interesse für die Wechselbeziehungen zwischen Kommunikator und Empfänger eine kleinschrittigere und dadurch beweglichere Konzeption der Rezeption begünstigt: An der grundsätzlichen zweckorientierten Beziehung zwischen Medienbotschaft und Wirkung ändert es nur wenig.95 Erst der dynamisch-transaktionale Ansatz, der es sich zum Ziel setzt, die Veränderungen der Wahrnehmung während der Aufnahme einzubeziehen, bricht mit der simplifizierenden Kausallogik, indem er basierend auf einem konstruktivistischen Grundgedanken die Einstellung und Interpretation des Rezipienten zwischen
91 Vgl. Beispielsweise: Zillmann, Dolf: Hostility and Aggression, Hillsdale: Erlbaum, 1979. 92 Vgl. Lombard, Matthew/Ditton, Theresa: „At the Heart of it all. The Concept of Presence“, in: Journal of Computer-Mediated Communication, 3.2 (September 1997),
(14.03.2014) 93 Vgl. Sturm, Helga: Fernsehdiktate. Die Veränderung von Gedanken und Gefühlen, Gütersloh: Bertelsmann, 1991, S.32. 94 Vgl. Jäckel, Michael: Medienwirkungen. Ein Studienbuch zur Einführung, Wiesbaden: VS, 2008, S.86. 95 Vgl. Schenk, Michael: Medienwirkungsforschung, Tübingen: Mohr 2007, S.55.
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Inhalt und Wirkung schiebt.96 Nicht bereits der Text, sondern die Auffassung des Nutzers von diesem und seine „kreativen Veränderungen oder Erweiterungen der Textbedeutung“97 ermöglichten eine Reaktion. Die Verwirklichung dieser theoretischen Vorstellungen erfordert dem Import kognitionswissenschaftlicher Modelle wie der Schematheorie, die es ermöglichen, das Vorwissen und den sich durch die Lektüre verändernden Wissensstand in die Analyse einzuschließen – insofern ein interaktives und performatives Modell. Problematisch erweist sich die Herangehensweise allerdings in ihrer Umsetzung: Sie erfordert, da sie die individuelle Wahrnehmung in ihrem Verlauf berücksichtigen möchte, ein überaus nuanciertes Untersuchungsdesign, so dass sie aus Finanz- und Zeitgründen nur in wenigen Untersuchungen wirklich zum Einsatz kommt.98 Insofern erscheint der Partizipationsgedanke in den empirischen Annäherungen ähnlich wie in der Rezeptions- und Wirkungsästhetik nur eingeschränkt bzw. mit großem Aufwand realisierbar. Die Methodik und die Fragestellung der empirischen Disziplinen verlangen, dass diese einzelne Details der Medienbotschaft wie die Bildschirmbeschaffenheit, Motive oder Handlungen fokussieren. Ihre Erkenntnisse sind somit meist punktuell und monokausal und lassen kaum Aussagen über längere Text- und Filmpassagen oder das Zusammenspiel unterschiedlicher Wirkungsoptionen für ein spezifisches Werk zu.99 Möchte man die Lektüre als ganzheitliche Erfahrung betrachten, die der Begegnung von Text und Leser entspringt, so erscheint eine solch kleinschrittige Herangehensweise nicht prädestiniert. Frank Kellekter betont in „A Tale of Two Natures“, dass Kunstwerke als kulturelle und historische Entitäten nur eingeschränkt über Messungen erfassbar seien.100 Ein Beispiel hierfür liefert Benedikt Schick: „Geht es um den Erfolg bei einem Computerspiel, wird es vermutlich ein passionierter Nerd sein, dessen Verständnis und Benutzerkompetenz am besten
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Ausgegangen wird hierbei davon, dass sich das Verständnis, die Motivation und der Wissensstand mit dem Ablauf des Lektüreprozesses wandeln, weshalb von einer einfach angelegten und punktuell gemessenen Wirkung nicht gesprochen werden kann (vgl. Früh, Werner: Medienwirkungen. Das dynamisch-transaktionale Modell. Theorie und empirische Forschung, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1991, S.52f.).
97
Vgl. ebd., S.239.
98
Vgl. Erbring, Lutz: „Kommentar zur Klaus Krippendorff“, in: Bentele, Günter/Rühl, Manfred (Hrsg.): Theorien öffentlicher Kommunikation. Problemfelder, Positionen, Perspektiven, München: Ölschläger, 1993, S.36.
99
Vgl. Köppe, Tilmann/Winko, Simone: Neuere Literaturtheorien, Stuttgart: Metzler, 2008, S.297.
100 Vgl. Kelleter, Frank: „A Tale of Two Natures. Worried Reflections on the Study of Literature and Culture in an Age of Neuroscience and Neo-Darwinism”, in: Journal of Literary Theory, 1.1 (2007), S.161.
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sind, und das, obwohl er vom Betriebssystem wenig und von der zugrunde liegenden Physik gar nichts weiß.“101 Zur Erhellung des Beteiligungspotenzials literarischer Texte reicht die Rekonstruktion kognitiver oder psychologischer Prozesse nicht aus. Gewiss sind Hirnaktivitäten und Erregungsniveaus die Voraussetzung für jegliche Lektüreerfahrung; gleichzeitig vernachlässigt eine zu starke Konzentration auf sie die Verbindung zum Erlebnischarakter,102 wodurch so manchem unklar wird, „ob und in welchem Ausmaß die auf empirischen Befunden basierenden Modelle tatsächlicher Lese- und Verstehensprozesse überhaupt Auswirkungen auf den literaturwissenschaftlichen Umgang mit Texten haben könnten und sollten.“103 So gesehen ist das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit ein anderes als das empirischer Studien: Ihr Ziel besteht darin, Aussagen über die dominante Reaktion eines Leserpools auf ein bestimmtes Textmerkmal zu treffen und nicht, diese Reaktion für eine Einzelwerk zu rekonstruieren. Empirische Methoden allein eignen sich also nur bedingt zur Erforschung des Partizipationserlebnisses. Überdies scheint das andere Erkenntnisinteresse der empirischen Studien mit einer gewissen Fixierung der Argumentation auf den Inhalt des Texts oder Films einherzugehen, so dass die Wirkung fast ausschließlich vom repräsentierten Gegenstand abhängt. So heißt es etwa in Katja Mellmanns Erklärungsmodell für Emotionen bei der Lektüre, wenn der Rezipient ebenso auf Gelesenes reagiere wie auf Wirkliches, dann deshalb, weil Literatur eine Attrappenwirkung ausübe: Ein bestimmter Inhalt löse bei ihm automatisch angeborene Emotionsprogramme aus.104 Die Frage, wie der Leser den gedruckten Text in eine Vorstellung umwandelt und in diesem Zusammenhang als Reizauslöser überhaupt erst erkennt, bleibt ungestellt, weil schlichtweg davon ausgegangen wird, dass allein die Handlung die Reaktion determiniere. Auch die literaturpsychologischen Konzepte ‚Empathie‘ und ‚Identifikation‘ sind zumeist an rein substanziellen Kriterien festgemacht: Wenn ein Leser
101 Schick, Benedikt: „Neurobiologie und Lebenswelt – unvermischt und ungetrennt?“, in: Herrmann, Karin (Hrsg.): Neuroästhetik. Perspektiven auf ein interdisziplinäres Forschungsgebiet, Kassel: Kassel University Press, 2011, S.63. 102 Vgl. Böhme, Gernot: „Ästhetik als Wissenschaft sinnlicher Erfahrung“, in: Tröndle, Martin/Warmers, Julia (Hrsg.): Kunstforschung als ästhetische Wissenschaft. Beiträge zur transzdisziplinären Hybridisierung von Wissenschaft und Kunst, Bielefeld: Transcript, 2012, S.327. 103 Huber, Martin/Winko, Simone: „Literatur und Kognition. Perspektiven eines Arbeitsfeldes“, in: Dies. (Hrsg.): Literatur und Kognition. Bestandsaufnahmen und Perspektiven eines Arbeitsfeldes, Paderborn: Mentis, 2009, S.13. 104 Vgl. Mellmann, Katja: „Schemakongruenz. Zur emotionalen Auslöserqualität filmischer und literarischer Attrappen“, in: Poppe, Sandra (Hrsg.): Emotionen in Literatur und Film, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2012, S.111.
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einer Figur ähnlich sei und die gleichen Werte pflege wie diese, komme eine Übereinstimmung der Perspektiven zustande.105 Das spezifische Potenzial literarischer Texte, Inhalte auf unterschiedliche Weise zu inszenieren, bleibt dabei weitgehend außer Acht. Insgesamt stellen die empirischen Annäherungen an Literatur in Bezug auf die Dynamisierung des Lesers einen Fortschritt dar. Sie gleichen die Inkonsequenzen der Rezeptions- und Wirkungsästhetik dahingehend aus, als sie die Lektüreerfahrung auf der Seite der realen Mediennutzer verorten. Nichtsdestotrotz bleiben sie hierbei in einem vergleichbar statischen Konzept verhaftet wie diese, indem auch sie vom Vorhandensein bestimmter Reize im Text ausgehen, die quasi automatisch entsprechende Reaktionen hervorriefen. Dies führt – auch bei einer Differenzierung nach Gesellschaftsgruppen oder Aufnahmeverlauf – zu einer Entflexibilisierung des Beitrags des Rezipienten. Überdies erweisen sich empirische Methoden allein per se zur Erforschung einer ganzheitlichen Lektüreerfahrung als weniger geeignet, zumal sie nicht die Analyse des Erlebnisses eines spezifischen Werks, sondern die Herstellung allgemeiner Korrelationen im Blick haben.
2.3 D AS I NTERAKTIONSMODELL
DER
P ARTIZIPATION
Partizipation wurde zu Beginn dieser Überlegungen als Zusammenspiel von Text und Leser definiert, in dessen Verlauf sich das literarische Werk erst konstituiert. Die bisher untersuchten Konzepte fassten die Lektüre schwerpunktmäßig als Wirkungstransfer vom Werk auf den Rezipienten auf und berücksichtigten ihren interaktiven und performativen Erlebnischarakter eher am Rande. Dieses Kapitel beschäftigt sich deshalb mit der Frage nach den theoretischen Voraussetzungen, damit aus dem Informationscharakter literarischer Texte ein Interaktionscharakter wird, damit an die Stelle von Statik Performanz tritt. Einen unabdinglichen Beitrag hierzu leistet Hans Ulrich Gumbrecht mit seiner Monographie Diesseits der Hermeneutik, welche die Möglichkeiten zur Überwindung des „Bedeutungszentrismus“ auslotet. Die Ausgangsthese besteht in der Unterscheidung zweier Formen menschlichen Wirklichkeitsbezugs, der Sinnkultur und der Präsenzkultur: Die Sinnkultur konstituiere ihre Identität über den Gehalt, den sie aus der Interpretation der Wirklichkeit ziehe. Der Geist spiele in ihr eine zentrale Rolle, zumal ihm die Aufgabe der Extraktion von Sinn aus dem Beobachteten
105 Vgl. Holt, Nadine van/Groeben, Norbert: „Emotionales Erleben beim Lesen und die Rolle text-sowie leserseitiger Faktoren“, in: Klein, Uta/Mellmann, Katja/Metzger, Steffanie (Hrsg.): Heuristiken der Literaturwissenschaft. Disziplinexterne Perspektiven auf Literatur, Paderborn: Mentis, 2006, S.122f.
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zukomme. Das Verhältnis des Subjekts zu seiner Umwelt lasse sich als exzentrisch qualifizieren, da dieses beim Deuten auf eine ihm äußerliche Wirklichkeit referiere.106 Das Ziel der sinnkulturellen Welterkenntnis liege in der Umgestaltung des Lebensumfelds gemäß der Bedürfnisse des Individuums. Der Alltag sei klar von ludischen Kontexten getrennt, weil sie keinen Zugang zur Wahrheit ermöglichten. Die Präsenzkultur hingegen definiere sich über die unmittelbare körperliche Beteiligung an der Realität. Das Individuum könne sich in ihr nicht isoliert denken, sondern betrachte sich als Ergebnis des dynamischen Kontakts mit seinem Umfeld. Das Wissen, das die Präsenzkultur anstrebe, sei nicht begrifflich, vielmehr trete es in Erscheinung, ohne einer Bezeichnung oder Interpretation zu bedürfen. Die Absicht der Präsenzkultur liege darin, Abwesendes oder Entferntes präsent zu machen, es gehe ihr um das Erlebnis der Umwelt.107 Tabelle 1: Sinn- und Präsenzkultur
Weltbezug
Sinnkultur
Präsenzkultur
Subjekt-Objekt-Spaltung
Mensch als Teil der Umwelt
Zugang
Geist
Körper
Wissen
Wahrheit der Erkenntnis
Wahrheit des Erscheinens
Ziel
Umgestaltung der Welt
Erlebnis von Präsenz
Zwar geht Gumbrecht davon aus, dass die beiden Kulturtypen in der Realität niemals in ihrer Reinform vorkommen, allerdings könnten die Anteile stark variieren: Die zeitgenössischen westlichen Kulturen seien tendenziell sinnkulturell geprägt, da sie Präsenzelemente systematisch aus den relevanten gesellschaftlichen Praktiken und Diskursen ausschlössen.108 Dies lasse sich unter anderem an ihrem Zugang zur Literatur ablesen, den sie dominant hermeneutisch wähle. Damit einher gehe eine Distanz des Lesers zum literarischen Text. Der Interpret erlebe das literarische Werk nicht, sondern versuche, seine Oberfläche zu durchdringen, um zu einer Wahrheit vorzustoßen, die in seinen tieferen Schichten begraben liege.109 Gumbrecht nennt mehrere Beispiele für das Primat des Sinnkulturellen in den Philologien: Symptomatisch sei erstens der Erfolg des Saussureschen Zeichenmodells, das in der Verknüpfung eines rein Materiellem mit einem rein geistigen Signifikat
106 Vgl. Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik. Über die Produktion von Präsenz, Frankfurt: Suhrkamp, 2004, S.100. 107 Vgl. ebd., S.100f. 108 Vgl. ebd., S.103. 109 Vgl. ebd., S.45f.
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Trennung von Subjekt und Welt widerspiegle.110 Zweitens mute die häufige Formulierung typisch an, literarische Texte seien „überbestimmt“ oder „mehrfach kodiert“, da sie suggeriere, ihr Kern sei der sinnträchtige Inhalt, während die formale Ebene lediglich verstärkend und unterstreichend wirke.111 Nicht zuletzt sei auch der unablässige Versuch einer klaren Grenzziehung zwischen Fiktion und Wirklichkeit ein Anzeichen für den sinnkulturellen Einschlag, da die ontologische Trennung der beiden Sphären ein direktes Erleben von Literatur unterbinde.112 Anders als die vorherrschende Forschungspraxis suggeriere, existiere aber eine bislang vernachlässigte Präsenzdimension literarischer Texte, die in der physischen Austragung des Werks durch den Leser bestehe. Um zu ihr zu gelangen, müsse der Rezipient aus einer distanzierten Analyse heraustreten und sich stattdessen auf die Evokationen des Texts einlassen. Indem er seinen Körper als Aufführungsort zur Verfügung stelle, gebe er seine Metaposition auf und verstricke sich selbst in das Werk.113 Sicherlich kann diesen Überlegungen nur mit Einschränkungen zugestimmt werden. So entbehrt beispielsweise die Annahme, die Komplexität von Kulturen ließe sich in ein dualistisches Schema pressen, nicht des Reduktionismus. Indem Gumbrecht Sinn und Präsenz als Extrempole kultureller Handlungen definiert und für eine präsenzorientierte Literaturwissenschaft in Abgrenzung von der sinndominierten plädiert, zementiert er die binäre Opposition zwischen beiden. Sein bisweilen etwas nostalgisch vorgetragener Wunsch, die Präsenzdimension vor ihrem Verschwinden zu bewahren und die Bedeutungsdimension in ihre Schranken zu weisen, erinnert an die kartesianische Dichotomie von Geist und Körper mit umgekehrten Vorzeichen.114 Die Argumentation bleibt somit an einem überkommenen philosophischen Denkmuster haften. Überdies könnte man Diesseits der Hermeneutik an mancher Stelle mangelnde Konsequenz vorwerfen. Der Vorstoß in das Neuland der Präsenz wird teilweise nur zögerlich vollzogen, wie sich etwa an folgendem Zitat ablesen lässt: „Durch den Wunsch nach Präsenz werden wir dazu bewogen, auf die Sinnfrage zu verzichten, uns statt dessen auszumalen, wie wir uns theoretisch und körperlich zu bestimmten Gegenständen verhalten hätten, wenn wir in ihrer eigen historischen Alltagswelt auf
110 Vgl. ebd., S.100. 111 Vgl. ebd., S.35. 112 Vgl. ebd., S.105. 113 Vgl. ebd., S.107. 114 Vgl. Pierpaolo, Antonello: „The Materiality of Presence. Notes on Hans Ulrich Gumbrecht’s Theoretical Project“, in: Mendes, Victor/de Castro, Rocha/Cezar, Joao (Hrsg.): Producing Presences. Branching out from Gumbrecht’s Work, Dartmouth: University of Massachusetts, 2008, S.20.
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sie gestoßen wären.“115 Die Präsenzerfahrung an literarischen Texten wird hier als Erproben von Handlungen zur leichteren Bewältigung des Alltags verstanden; sie fungiert lediglich als Simulation, die von der Realität klar abgesetzt ist. Mit dieser strikten Trennung von Fiktion und Wirklichkeit gehorcht Gumbrecht selbst einem sinnkulturell Argumentationsmuster, so dass eine Lösung von der Dominanz der Bedeutung und den mit ihr verbundenen Denkmustern lediglich angedeutet wird. Diese möglichen Einwände stehen allerdings der grundsätzlichen Prägnanz von Gumbrechts Ausführungen nicht im Weg: Ein Paradigmenwechsel der Literaturwissenschaft hin auf die Präsenz vermag den Aktionsradius der Forschung zu erweitern. Die Betrachtung des interaktiven, erlebenden Direktkontakts von Leser und Text öffnet den Blick für die Partizipation am literarischen Werk. Im Folgenden soll deshalb ein theoretischer Rahmen für die Erforschung des Mithandelns des Lesers an narrativen Texten abgesteckt werden. Als Denkanstoß sollen hierbei die Erkenntnisse einer Denkrichtung fungieren, die ihre Blütezeit lange vor Rezeptionsund Wirkungsästhetik hatte und in den letzten Jahrzehnten eine Art Comeback erlebt hat: die Phänomenologie und ihr Vorläufer, der Einfühlungsdiskurs. Der Begriff ‚Einfühlung‘ meint die Tatsache, dass die Wahrnehmung der Umwelt von der emotionalen Haltung des Subjekts und nicht von der Akkumulation externer Daten abhängt. Sowohl Lebewesen als auch Gegenständen wie zum Beispiel Kunst- oder Bauwerken trete man stets mit einer affektiven Involvierung entgegen. Man sehe sie nicht als leblose Objekte, sondern animiere sie automatisch in der Perzeption.116 Welche Gefühle ein Kunstwerk im Betrachter auslöse, sei, so Robert Vischer in „Kritik meiner Ästhetik“, nicht an der Qualität eines Objekts ablesbar, sondern ergebe sich erst in seiner Mischung mit der Einstellung des Rezipienten.117 Theodor Lipps beschreibt diesen Hybridisierungsvorgang in Einfühlung und ästhetischer Genuss: „Indem ich die Dinge verstandesmäßig auffasse, durchdringe ich sie nothwendig mit solchem Streben, solcher Thätigkeit, solcher Kraft. Als vom Verstand aufgefasste, tragen sie Dergleichen als eine Seite ihres Wesens in sich. Es liegt in ihnen, sofern sie ‚meine‘ Gegenstände sind, dies Stück von mir.“118 Einfühlung besteht demnach nicht nur in der Wahrnehmung, sondern gleichzeitig in der
115 Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik. Über die Produktion von Präsenz, Frankfurt: Suhrkamp, 2004, S.146. 116 Vgl. Curtis, Robin/Koch, Gertrud: „Vorwort“, in: Curtis, Robin/Koch, Gertrud (Hrsg.): Einfühlung. Zur Geschichte und Gegenwart eines ästhetischen Konzepts, München: Fink, 2009, S.7. 117 Vgl. Vischer, Friedrich Theodor: „Kritik meiner Ästhetik“, in: Vischer, Robert (Hrsg.): Kritische Gänge (Bd.4), München: Meyer & Jessen, 1922, S.383. 118 Lipps, Theodor: „Einfühlung und ästhetischer Genuss“, in: Utitz, Emil (Hrsg.): Ästhetik, Berlin: Pan, 1924, S.160.
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Begegnung des Ichs mit sich selbst, insofern als dieses seine Gefühle auf das Werk projiziert und sie ihm von dort aus entgegenschlagen. Sie ist, wie Wilhelm Worringer formuliert, als „objektivierter Selbstgenuss“119 zu verstehen.120 Durch das Hineinversetzen in den Gegenstand entspring ihm ein ästhetisches Erlebnis, das einerseits von außen kommt, gleichzeitig aber das Subjekt in sich enthält.121 Eine mögliche Anwendung dieser Gedanken auf die Literatur zeigt Roman Ingarden in Das literarische Kunstwerk auf: Werke ließen sich nicht auf den Text reduzieren. Sie könnten erst als Zusammenspiel des Gedruckten mit der emotional getönten Vorstellung des Lesers Gegenwärtigkeit erlangen.122 Ein Roman werde lebendig, wenn sich im Rezipientenbewusstsein die im Text erwähnten Gegenstände, Personen, Gefühle, Aussagen etc. zu einer von ihm gestalteten Seinssphäre zusammenschlössen.123 Selbst ästhetische Werturteile könnten nicht im luftleeren Raum getätigt werden, sondern bildeten sich auf Basis dieser Empfindungen.124 Dieses theoretische Gerüst böte im Grunde die ideale Basis für die Erforschung der Partizipationsmöglichkeiten des Lesers an Romanen. Da es sich gegen die Objektivierung des Texts, gegen die Ausklammerung der dynamischen Rolle des Lesers sowie gegen eine rein distanzierte Rezeptionshaltung positioniert, wird es sowohl dem interaktionalen als auch dem präsentischen Kriterium gerecht. Wenngleich der Grundstein des Mithandelns des Rezipienten am literarischen Werk somit bereits im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gelegt ist, hat sich dessen Erforschung im Anschluss daran stark in Grenzen gehalten. Vor allem narrative Texte sind in der Geschichte der Literaturwissenschaft für eine phänomenologische Herangehensweise für ungeeignet befunden worden, während in der Bildenden Kunst, der Musik und der Poesie die Hinweise auf die Erlebnisdimension durchaus vorkommen. So befindet Emil Staiger in Grundbegriffe der Poetik, es sei ein Merkmal des Lyrischen, den Leser zum „Mitschwingen“ zu bringen, da es Gefühle
119 Die Formulierung erinnert an Hans Robert Jauß’ bereits zitierte Formel vom „Selbstgenuss im Fremdgenuss“. Obschon die Rezeptionsästhetik die Einfühlung als Vorläufer tunlichst verschwiegen hat, da ihr mangelnde Objektivität attestiert wurde, ist ein zumindest unterschwelliger Einfluss doch spürbar. 120 Vgl. Curtis, Robin: „Einführung in die Einfühlung“, in: Curtis, Robin/Koch, Gertrud (Hrsg.): Einfühlung. Zur Geschichte und Gegenwart eines ästhetischen Konzepts, München: Fink, 2009, S.17. 121 Vgl. Voss, Christiane: „Einfühlung als epistemische und ästhetische Kategorie bei Hume und Lipps“, in: Curtis, Robin/Koch, Gertrud (Hrsg.): Einfühlung. Zur Geschichte und Gegenwart eines ästhetischen Konzepts, München: Fink, 2009, S.43. 122 Vgl. Ingarden, Roman: Das literarische Kunstwerk, Halle: Niemeyer, 1931, S.14. 123 Vgl. ebd., S.220. 124 Vgl. Ingarden, Roman: Erlebnis, Kunstwerk und Wert, Tübingen: Niemeyer, 1969, S.3.
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und Stimmungen erzeuge, die der Rezipient unmittelbar teile: „Es ist nicht möglich, sich mit dem Lyrischen eines Gedichts ‚auseinander-zu-setzen‘. Es spricht uns an oder lässt uns kühl. Wir werden davon bewegt, sofern wir uns in der gleichen Stimmung befinden. Dann klingen die Verse in uns auf, als kämen sie aus der eigenen Brust.“125 Anders jedoch verhalte es sich für das Epische: Während Gedichte häufig ahistorisch, und deshalb für die Stimmungserzeugung geeignet seien, erfordere die Prosa das Verfolgen einer komplexen, teleologisch ausgerichteten Geschichte.126 Aus diesem Grund ermögliche sie Einfühlung in geringerem Maße und schaffe keine direkte Beteiligung des Lesers an der Diegese. Während die Poesie zur Erzeugung von Atmosphären prädestiniert sei, stelle die Epik gerade eine Reflexion, also die Entfernung des Lesers von der unmittelbaren Emotion dar.127 Auch die Literaturtheorie Jean-Paul Sartres weist die Erlebnisdimension betreffend eine klare Gattungshierarchie auf. In Qu’est-ce que la littérature? klingt an, der Sinn eines Musikstückes sei nichts anderes als die Melodie, die der Zuhörer nachempfinde. Auch der Poesie könne man Unmittelbarkeit zubilligen: Die einzelnen Worte verwandelten sich bei der Lektüre direkt in Dinge und Gefühle.128 Für Romane wird eine solche Präsenzebene jedoch bewusst ausgeschlossen. Worte realisierten sich in der Prosa nicht zu Gegenständen und Erlebnissen, sondern zu Zeichen: „L’écrivain […], c’est aux significations qu’il a affaire. Encore faut-il distinguer: l’empire des signes, c’est la prose; la poésie est du côté de la peinture, de la sculpture, de la musique.“129 Begründen lässt sich dies über den gesellschaftlichem Nutzen narrativer Texte: Aus ihnen solle der Leser Maximen für sein Handeln in der Wirklichkeit ableiten. Ihre Funktion bestehe in der Kommunikation eines Appells, in der Provokation einer politischen Stellungnahme.130 Die Zurückweisung der Präsenz für Romane speist sich folglich aus einer ideologischen Quelle: Sartre betont die Sinndimension der Prosa deshalb so kompromisslos, weil er am Ausgang des Zweiten Weltkriegs nach einem Mittel zur politischen und ethischen Mobilisierung sucht. Ein reines Erleben scheint sich gegen solche Interessen zu sperren. Wenn Staiger und Sartre von einem beschränkten Lektüreerlebnis an der Prosa ausgehen, so liegt das vor allem daran, wie sie die Rolle des Lesers auffassen. Zwar
125 Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik, Zürich: Atlantis, 1946, S.52. 126 Staiger meint mit ‚dem Lyrischen‘ und ‚dem Epischen‘ zwar explizit nicht die Gattungen, dennoch betont er die Affinität des ersteren zur Poesie und des zweiteren zur Prosa. Lädt ein Roman zum Mitschwingen ein, dann deshalb, weil sein lyrischer Anteil hoch ist und er sich wesentlich einem Gedicht annähert. 127 Vgl. Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik, Zürich: Atlantis, 1946, S.162. 128 Vgl. Sartre, Jean-Paul: Qu’est-ce que la littérature?, Paris: Gallimard, 1948, S.19. 129 Ebd., S.17. 130 Vgl. ebd., S.16f.
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definieren sie die Rezeption als einen Kommunikationsprozess, an dem der Leser teilhat, aber sie verorten diesen zwischen ihm und dem Autor. Konzepte, die davon ausgehen, dass die Lektüreerfahrung im Optimalfall mit der Idee des Autors identisch sei, sehen zwangsweise eine Abschwächung der Präsenz im Dazwischentreten von Erzähler und Figuren. Solche, die annehmen, dass der Leser den Text als Exempel verstehe, das ihm moralische Instruktionen für den Alltag vermittle, behindern notgedrungen jede Unmittelbarkeit. Die Singularität und Sukzessivität der Kommunikationssituation erlauben keinen reziproken Einfluss der beiden Instanzen. Die lokale und temporale Trennung der Dialogpartner ermöglicht lediglich eine distanzierte Fühlungnahme, was zur Vernachlässigung des Moments der Lektüre führt. Das literarische Werk selbst erscheint so fast als Störfaktor, versperrt es doch den Direktkontakt zum Autor, indem es sich zwischen ihn und den Leser stellt. Ein Blick auf die existierenden Modelle narrativer Kommunikation bestätigt dies. Fast alle sind unidirektional angelegt, eine Romanbotschaft mit Appell-, Ausdrucks- oder Darstellungscharakter wird vom Autor auf den Leser übertragen. Auf ontologisch davon geschiedenen Ebenen findet ein Informationstransfer zwischen Erzähler und Adressat oder zwischen den Figuren statt, so dass die Rolle des Rezipienten in Bezug auf das Romangeschehen nicht performativ genannt werden kann. Exemplarisch dokumentiert dies folgende Darstellung: Abbildung 1: Modell der narrativen Kommunikation nach Manfred Pfister
S4 S3 S2 S1
empirischer Autor impliziter Autor fiktionaler Erzähler Figur
E4 E3 E2 E1
empirischer Leser intendierter Leser fiktionaler Leser/Zuhörer Figur
Quelle: Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse, München: Fink, 2001, S.20.
Zwei Faktoren sind es hier, die die Präsenzdimension des narrativen Texts verhindern: Erstens bekleidet der Leser lediglich die Rolle des Empfängers. Die Botschaft des Autors erreicht ihn – wie die Pfeile suggerieren – als etwas Äußerliches. Indem er das Gesagte nachvollzieht, dekodiert er diese mithilfe seines literarischen und gesellschaftlichen Wissens. Von ihm selbst jedoch gehen keine kreativen Impulse aus. Zweitens kommt er mit den tieferen Ebenen narrativer Kommunikation gar nicht in Kontakt. Die unterschiedlichen Schraffuren und die durchgezogenen Linien
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signalisieren, dass er nicht mit den Figuren oder der Vermittlungsinstanz interagiert, sondern auf der Ebene der Realität ein- bzw. ausgeschlossen bleibt. Insofern ist der Handlungsspielraum des Rezipienten sowohl hinsichtlich der Beschaffenheit seiner Aufgabe als auch des Tätigkeitsfelds limitiert. Die Partizipationsidee erfordert eine andere Konzeption der narrativen Kommunikation. Sie ordnet dem Leser nicht den Autor zu, da dieser im Moment der Lektüre abwesend ist und keinerlei Einfluss auf die Realisierung des Werks durch den Rezipienten nimmt. Stattdessen fokussiert sie die direkte Interaktion zwischen Leser und Text, aus der das ganzheitliche Erlebnis des Romans resultiert: Der Leser begegnet in der virtuellen Romanwelt seiner Vorstellung von Figuren, Chronotopos, Handlung und Erzähler. Darüber hinaus gilt es, das Ungleichgewicht zwischen Sender- und Empfängerseite zu nivellieren. Ausgehend von der Tatsache, dass der Roman erst entsteht, wenn der Leser ihm sein Bewusstsein leiht und Emotionen, Kognitionen, Evaluationen und ästhetische Erfahrungen realisiert, soll das Werk als unzerlegbare Gemeinschaftshandlung betrachtet werden, angesichts derer es unmöglich ist, eine Seite als passiv, die andere als aktiv zu fassen. Text und Leser tragen gleichermaßen zur Geburt des Romans in der Aufführung bei. Es bedarf folglich der Ersetzung des ausdrucksorientierten traditionellen Modells durch ein ‚Eindrucksschema‘131, dessen Schwerpunkt nicht auf der Informationsübertragung, sondern auf dem Zusammenspiel von Text und Leser zur Bildung des gemeinsamen Produkts ‚Roman‘ liegt.132
131 Ein Kommunikationsmodell des Eindrucks entwirft erstmals der Kommunikationswissenschaftler Gerold Ungeheuer. Es handelt sich dabei um ein Modell, das die Tätigkeit des Rezipienten als gleichrangig mit der des Senders betrachtet. Eine bestimmte Wirkabsicht könne sich nur verwirklichen, „wenn der Hörer das vom Sprecher Hervorgebrachte durch eigene Tätigkeit zu seinem ‚Eindruck‘ gemacht hat“ (Ungeheuer, Gerold: Kommunikationstheoretische Schriften I. Sprechen, Mitteilen, Verstehen, Aachen: Alano, 1987, S.295.). 132 Paul Zumthor schlägt in „Körper und Performanz“ zur Differenzierung des Bedeutungsund des Aufführungscharakters von Literatur in ‚Text‘ und ‚Werk‘ vor (vgl. Zumthor, Paul: „Körper und Performanz“, in: Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, Karl Ludwig (Hrsg.): Materialität der Kommunikation, Frankfurt: Suhrkamp, 1988, S.705.). Diese Einteilung soll auch in dieser Arbeit aufgegriffen werden. Im Unterschied zu Zumthor zählt sie allerdings nicht nur für laut vorgetragene Texte, sondern auch für die Realisierung des Romans beim stillen Lesen.
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Abbildung 2: Interaktionsmodell der Partizipation
Text Angaben zu Figuren, Handlung, Chronotopos und Erzähler sowie deren Inszenierung
Werk Mentale Repräsentation der Romanwelt
Leser - Erinnerungen - Kontextwissen - emotionale und kognitive Verarbeitungsstrategien
2.4 M ETHODISCHES V ORGEHEN Wie lässt sich die mehrfach angesprochene Gleichberechtigung, Interaktivität und Performativität von Text- und Leserseite nun methodisch greifbar machen? Die bisherigen Überlegungen haben ergeben, dass die Herangehensweise weder rein auf dem Gedruckten, noch auf individuellen Rezipientenreaktionen gründen, dass sie weder rein textbezogen, noch rein empirisch argumentieren darf: Zur Verwirklichung des Partizipationsgedankens muss sie auf der Grenze zwischen beiden liegen. Vorgeschlagen wird deshalb eine Mischung rezeptions- bzw. wirkungsästhetischer und empirischer Herangehensweisen in Form der Kombination einer Textanalyse mit den Ergebnissen aus Experimenten zu den Verarbeitungsprozessen bei der Lektüre. Dadurch soll eine Forschung möglich werden, die einerseits die Thematisierung der romanexternen Komponenten des Lektüreerlebnisses erlaubt, ohne dabei ins Spekulative abzugleiten; und die andererseits eine textnahe, werkspezifische Interpretation ermöglicht. Drei Komponenten sind in diesem Zusammenhang für das methodische Konzept von Relevanz und beeinflussen die wissenschaftliche Darstellung: •
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Der Text: Er übt entscheidenden Einfluss auf das Lektüreerlebnis aus, da seine Struktur die Partitur bildet, anhand derer ein spezifisches Beteiligungserlebnis zur Aufführung kommt. Insofern lassen sich Aussagen über die Beteiligung nach wie vor an ihn knüpfen, obschon in indirekterer Form, als dies etwa bei der Wirkungsästhetik der Fall ist. Das Verhältnis zwischen Text und Erlebnis ist kein kausales, zumal die Verarbeitung und Repräsentation des Gelesenen durch den Rezipienten, als Scharnier zwischen den Roman und seine Wirkung tritt. Die empirischen Ergebnisse: Die Erkenntnisse zur Textverarbeitung aus der Psychologie, den Kognitions- und den Medienwissenschaften dienen zur Absicherung, dass Annahmen über die Partizipation nicht auf einer bloß subjektiven Basis stattfinden, dass also nicht die persönlichen Erfahrungen, die aktuelle
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Stimmung oder Lektüresituation des Interpreten diese dominieren. Sie garantieren die prinzipielle Möglichkeit zur intersubjektiven Nachvollzieh-, Überprüfund Wiederholbarkeit der präsentierten Beteiligung dadurch, dass diese für vergleichbare Rezeptionskontexte mehrfach quantitativ dokumentiert wurde.133 Der Interpret: Der Forschungsprozess erfordert zunächst ein Ausgehen von den eigenen Lektüreerfahrungen und deren sich schrittweise systematisierende Verbindung mit empirischen Erkenntnissen. Auch der interpretative Prozess, der in Kombination vom Text und den Prinzipien der Textverarbeitung eine bestimmte Beteiligung rekonstruiert, ist ohne ein organisierendes Subjekt undenkbar. So gesehen sind die nachfolgenden Analysen sicherlich dadurch getönt, dass sie von einer weißen Leserin aus der Mittelklasse vorgenommen wurden, die sich überdies mit fremdsprachlichen Texten beschäftigt. Durch die empirische Beglaubigung der Annahmen über die Wirkung allerdings, ist mit „dem Leser“ der nachfolgenden Ausführungen nicht nur eine persönliche Meinung oder ein individuelles Empfinden impliziert, sondern eine prinzipiell für alle Rezipienten offenstehende Option der Realisierung.
Fassbar wird über die Verquickung dieser drei Komponenten eine Tendenz der Partizipation, die bei der Lektüre eines spezifischen Romans zutage treten kann, aber nicht muss; ein Beteiligungspotenzial, das sich als eine mehrerer Möglichkeiten des Texterlebens verstanden wissen möchte. In welcher Intensität sich dieses in anderen Lesesituationen manifestiert und inwiefern es von der Biographie, dem Geschlecht, dem Alter, der sozialen oder kulturellen Provenienz des jeweiligen Rezipienten überlagert wird, bleibt in diesem Zusammenhang selbstredend dahingestellt.134 Schließlich besitzen die Ergebnisse empirischer Studien nicht für sämtliche Einzel-
133 Sicherlich wäre auch eine empirische Überprüfung der Wirkungsannahmen für die bearbeiteten Ausschnitte durch eigene Befragungen zur weiteren Absicherung der Ergebnisse möglich gewesen. Dies wurde jedoch angesichts der Fülle an besprochenen Beteiligungsphänomenen aus pragmatischen Gründen unterlassen. Überdies erfordert das Ziel dieser Arbeit eine solche Erhebung m.E. nicht unbedingt: Die Beglaubigung der Lektürewirkung per Experiment würde zwar bewirken, dass in den Analysen mit der dominanten statt mit einer möglichen Beteiligungsoption operiert wird, was das Risiko schmälert, mit einer eventuell randständigen Version aufzuwarten. Da aber das Erkenntnisinteresse der Arbeit nicht darin liegt, Aussagen über die treffendste Partizipation für ein Werk zu liefern, sondern darin, die generelle Palette an Beteiligungsformen abzustecken, da kurz gesagt: die Systematik vor der Einzeltextanalyse rangiert, stünde die Effektivität einer empirischen Erhebung in keiner Relation zu dem mit ihr verbundenen Zeit- und Ressourcenaufwand. 134 Ihre Erforschung bleibt dem Aufgabenbereich der empirischen Disziplinen überlassen.
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personen automatisch Validität, sondern geben lediglich Reaktionswahrscheinlichkeiten an135, so dass ein ähnliches oder identisches Erlebnis zwar denkbar, aber nicht zwingend ist. Der Potenzialcharakter der Partizipation impliziert selbstredend auch Wertungsfreiheit: Es wird keinerlei Anspruch darauf erhoben, die richtige, beste oder einzige Möglichkeit der Beteiligung am jeweiligen Ausschnitt herauszuarbeiten. Die Qualität der präsentierten Ergebnisse lässt sich somit ausschließlich an der Plausibilität der Verknüpfung von Textmerkmalen und empirischen Ergebnissen festmachen. Dieses Vorgehen birgt die Vorteile der empirischen Literaturerforschung und der Rezeptions-/Wirkungsästhetik gleichermaßen: Einerseits gestattet es Aussagen über den Beitrag des realen Lesers zum Werk, andererseits konzeptualisiert es diesen nicht als statisches Medium, auf dem ein invariables Reiz-Reaktions-Schema abgespult würde. Stattdessen erlaubt die „qualitative“ Komponente des Verfassers in seiner Funktion als Rezipient und Interpret die flexible Anwendung der empirischen Modelle und somit die Berücksichtigung der Variationen, die aus der Interaktion von Leser und Text resultieren.136 Dem Lektüreerlebnis wird sich somit von zwei Seiten genähert: Rückschlüsse werden von der Perzeption auf Textphänomene und von der textuelle Struktur auf das Erlebnis gezogen, solange bis die beiden Komponenten in der Mitte aufeinandertreffen. Über diese Methodenmischung gelingt die Integration der performativen und interaktiven Aspekte des Lektüreerlebens. Aber mit den beiden Methoden multipliziert man nicht nur deren Chancen, sondern auch deren Risiken. Nicht nur die Unwägbarkeiten der narratologischen Vorgehensweise müssen mitbedacht, sondern auch die Gültigkeit und Anwendbarkeit der Ergebnisse aus den empirischen Disziplinen hinterfragt werden. Ihre Verwendung kann in mehrerlei Hinsicht problematisch sein: Erstens mag, wie Michael Schenk betont, die Künstlichkeit der Laborsituation, bei der in kurzer Zeit in einer fremden sozialen Umgebung singuläre kommunikative Akte isoliert werden, eine
135 Die Ergebnisse der empirischen Disziplinen stellen Wahrscheinlichkeiten dar, zumal sie die heterogenen Reaktion der Gruppe in der Auswertung auf einen Mittelwert oder ein dominantes Resultat reduzieren (vgl. Früh, Werner: „Wissenschaftstheoretische Grundlagen empirischer Forschung“, in: Schweiger, Wolfgang/Fahr, Andreas (Hrsg.): Handbuch Medienwirkungsforschung, Berlin: Springer, 2013, S.49f.). 136 Gemeint ist hier die Tatsache, dass sich die mentale Repräsentation des Rezipienten mit seiner emotionalen und kognitiven Beteiligung am Text verändert, welche sich wiederum im Laufe der Lektüre wandelt. Für eine rein experimentelle Herangehensweise wäre die Erfassung dieser subtilen Modulationen für ein Einzelwerk über die Maßen aufwändig.
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Verzerrung bewirken.137 Wenn beispielsweise im semantischen Differenzial einzelne Wortbedeutungen aufgeschlüsselt werden, so sagt dies nicht unbedingt etwas darüber aus, wie der Rezipient diese bei der Lektüre eines literarischen Texts wahrnehmen würde, zumal die Partizipation nicht über die Addition des Sinns singulärer Wörter, sondern über ein ganzheitliches Erleben zustande kommt. Insofern besteht die Gefahr, dass die Ergebnisse aus Experimenten auf den realen Lektüreprozess nicht reibungslos übertragbar sind. Zweitens kann, laut Wolfgang Schweiger, die Selektivität der empirischen Fragestellung die Verlässlichkeit mindern. Da zunächst eine Hypothese gebildet wird, die anschließend im Experiment überprüft wird, engt sich der Fokus meist bereits im Vornherein auf den Nachweis einer einseitigen Rezipientenreaktion ein, so dass der Forscher einer monokausalen Erklärung und somit der Simplifizierung der Ergebnisse verleitet wird, wo eigentlich multikausale Beteiligungszusammenhänge bestünden.138 Es kann folglich zu einer vorschnellen Verbindung formaler Charakteristika mit Lektüreerlebnissen kommen, welche die Komplexität der Rezeption reduziert. Ein drittes Risiko besteht im post hoc ergo propter hoc, also der Konstatierung von Effekten, obwohl lediglich Korrelationen vorliegen. Viertens können Scheinkorrelationen die Resultate verfälschen: Möchte der Forscher beispielsweise die Erhöhung der Aggression durch Gewaltdarstellungen untersuchen, so hat er seinen Blickwinkel bereits auf diese Frage verengt und er berücksichtigt möglicherweise nicht, dass sich besonders gewaltbereite Personen für die Studie angemeldet haben könnten.139 Diese methodischen Unwägbarkeiten sind umso heikler, als man als Philologe die Validität empirischer Ergebnisse in der Regel nur in begrenztem Maße abzuschätzen vermag. Rüdiger Zymner spricht in „Körper, Geist und Literatur“ das Problem an, dass der Enthusiasmus für eine empirisch abgesicherte Literaturwissenschaft eine unreflektierte Übernahme von Informationen oder nur dürftig bewiesenen Hypothesen begünstige.140 Die mangelnde Vertrautheit mit der Methode kann zu leichtfertigen Verwertung von Resultaten auf ungesicherter Basis führen. Eine Qualitätsgarantie kann in diesem Zusammenhang lediglich über die Minimierung der Unsicherheitsfaktoren erreicht werden, weshalb sich in den folgenden Analysen
137 Vgl. Schenk, Michael: Medienwirkungsforschung, Tübingen: Mohr 2007, S.133. 138 Vgl. Schweiger, Wolfgang: „Grundlagen. Was sind Medienwirkungen? – Überblick und Systematik“, in: Schweiger, Wolfgang/Fahr, Andreas (Hrsg.): Handbuch Medienwirkungsforschung, Berlin: Springer, 2013, S.27. 139 Vgl. Ebd., S.34. 140 Vgl. Zymner, Rüdiger: „Körper, Geist und Literatur. Perspektiven der ‚Kognitiven Literaturwissenschaft‘ – eine kritische Bestandsaufnahme“, in: Huber, Martin/Winko, Simone (Hrsg.): Literatur und Kognition. Bestandsaufnahmen und Perspektiven eines Arbeitsfeldes, Paderborn: Mentis, 2009, S.144.
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ausschließlich auf Modelle und Ergebnisse berufen wird, die bereits mehrfach empirisch bestätigt und innerhalb der Psychologie, den Kognitions- und den Medienwissenschaften kanonischen Status besitzen.141 Auch die Transferfrage darf vor diesem Hintergrund nicht unbedacht bleiben: Die empirische Wirkungsforschung dominieren aktuell die audiovisuellen Medien, während Printerzeugnisse eher eine marginale Rolle spielen. Unklar ist hierbei, inwiefern sich Erkenntnisse zu diesen auf geschriebene Texte übertragen lassen oder ob dabei die Spezifika der literarischen Kommunikation verfehlt werden. Auch Markus Hartner unterstreicht die Wichtigkeit, die empirisch gewonnenen Resultate nicht kontextentfremdet und unkritisch für die eigene Theoriebildung zu verwenden. Eine „Gratwanderung zwischen den zwei akademischen Kulturen“ sei nur über große „methodische […] Aufmerksamkeit und inhaltliche[…] Redlichkeit“ möglich.142 Insgesamt ist also ein zurückhaltender und vorsichtiger Umgang mit den Ergebnissen angezeigt. Vielleicht mag in diesem Kontext die große forschungsgeschichtliche Distanz der Literaturwissenschaft zur Empirie auch von Vorteil sein, da sie für eine gewisse Reserve und Skepsis garantiert. Versuche, die empirisch und traditionell philologisch orientierten Paradigmen trotz der genannten Probleme zu verbinden, werden aktuell von mehreren literaturwissenschaftlichen Strömungen vorgenommen: den Cognitive Poetics, der kognitiven Narratologie oder der Psychonarratology, wobei die Bezeichnungen die dominant amerikanistische Provenienz der Forschungsbeiträge bereits vermuten lassen.143 Die Ansätze sind momentan zwar weit davon entfernt, eine dominante Rolle in den Literaturwissenschaften zu spielen, leisten aber, wie Gerhard Lauer anmerkt, nichtsdestotrotz einen signifikanten Beitrag zur aktuellen Theoriebildung, indem sie
141 Als Referenz dient hierbei ihre Präsenz in Lehrbüchern und Lexika. 142 Hartner, Markus: Perspektivische Interaktion im Roman. Kognition, Rezeption, Interpretation, Berlin: de Gruyter, 2012, S.45. 143 Zu nennen sind in diesem Zusammenhang auch biopoetische Ansätze, die evolutionsbiologische Ergebnisse mit Literatur verbinden. Ihnen zufolge bietet die Lektüre dem Rezipienten die Gelegenheit zur Schärfung seiner Alltagsfähigkeiten und zur Einprägung der Verhaltensnormen seiner Gruppe (vgl. Cooke, Brett: „Edward O. Wilson on Art“, in: Cooke, Brett/Turner, Frederick (Hrsg.): Biopoetics. Evoluationary Explorations in the Arts, Lexington: Icus, 1999, S.113.). Insofern sei sie ein „artspezifisches Phänomen“, das dem survival of the fittest diene (vgl. Tooby, John/Cosmides, Leda: „Schönheit und mentale Fitness. Auf dem Weg zu einer evolutionären Ästhetik“, in: Klein, Uta/Mellmann, Katja/Metzger, Steffanie (Hrsg.): Heuristiken der Literaturwissenschaft. Disziplinexterne Perspektiven auf Literatur, Paderborn: Mentis, 2006, S.219.). Die Strömung ist hier allerdings aus dem Fließtext ausgenommen, da ihr Ziel nicht in der Erklärung der Rezeption von Einzeltexten, sondern des Lesens an sich lokalisiert ist.
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für eine Erneuerung innerhalb des konventionellen Interpretationsbetriebs sorgen: „Cognitive approaches in literary studies may still be very big razors that have little relation to the art of interpretation when it comes to normative issues of interpretation, but they are methodological razors for more than a few current theories.“144 Untersucht wird die Interaktion von Rezipient und Text „mit explikativem Bezug auf oder durch kreative Operationalisierung von empirischem/erfahrungswissenschaftlichem Kognitionswissen“145. Indem die Erkenntnisse aus der Kognitionsforschung oder der Psychologie als Modelle verwendet werden, mittels derer sich Texte lesen lassen, bleibt die Vorgehensweise auf das Einzelwerk zentriert, ermöglicht aber gleichzeitig Aussagen über die Beteiligung.146 Das erklärte Ziel besteht darin, die „Kluft zwischen der kognitiven und der stilistischen Ebene, zwischen kognitiven Prozessen und textuellen Merkmalen […] zu schließen“147, indem eine Verbindung zwischen dem Geschriebenen und der Vorstellung des Lesers geschaffen wird. Bottom-up- (der Schluss von der Wahrnehmung auf das Textmerkmal) und top-down-Vorgänge (Interpretation von Sinnesdaten auf Basis von Wissen und Erwartungen) bestimmen dabei das Vorgehen gleichermaßen.148 Angestrebt wird hierdurch keine Umstrukturierung der Literaturwissenschaft zu einer empirischen Disziplin und der Ersetzung bestehender narratologischer oder textanalytischer Kategorien, sondern vielmehr deren schrittweise Erweiterung um eine kognitive Komponente.149 Empirische Ergebnisse sollen einfließen, ohne dass deshalb das Spezifikum des Einzelwerks aus dem Blick verloren würde. Möglich wird auf diese Weise
144 Lauer, Gerhard: „Going Empirical. Why we need Cognitive Literary Studies“, in: Journal of Literary Theory, 3.1 (2009), S.150. 145 Wege, Sophia: „Aufgehender Mond und der Kubikinhalt des Herzens. Zum Verhältnis von Empirie und Literatur in der Kognitiven Literaturwissenschaft“, in: Ajouri, Philip/Mellmann, Katja/Rauen, Christoph (Hrsg.): Empirie in der Literaturwissenschaft, Münster: Mentis, 2013, S.415. 146 Vgl. Zerweck, Bruno: „Der cognitive turn in der Erzähltheorie. Kognitive und ‚Natürliche‘ Narratologie“, in: Nünning, Ansgar/Nünning, Vera (Hrsg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie, Trier: WVT, 2002, S.220f. 147 Eder, Thomas: „Kognitive Literaturwissenschaft“, in: Feger, Hans (Hrsg.): Handbuch Literatur und Philosophie, Stuttgart: Metzler, 2012, S.312. 148 Freißmann, Stephan: „Kognitive Narratologie als neuer Ansatz in der Erzählforschung. Zentrale Konzepte und Anwendungsbeispiele“, in: Altnöder, Sonja/Nünning, Ansgar/Hallet, Wolfgang (Hrsg.): Schlüsselthemen der Anglistik und Amerikanistik, Trier: WVT, 2010, S.349. 149 Vgl. Zerweck, Bruno: „Der cognitive turn in der Erzähltheorie. Kognitive und ‚Natürliche‘ Narratologie“, in: Nünning, Ansgar/Nünning, Vera (Hrsg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie, Trier: WVT, 2002, S.226.).
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eine Literaturwissenschaft, die nicht nur erklärt, was sie versteht, sondern auch darlegt, warum sie dies tut, indem sie den „die impliziten Voraussetzung des Textverstehens, das größtenteils unbewusst abläuft, explizit greifbar macht“150. Die Aufmerksamkeit gilt den mentalen Repräsentationen und kognitiven Dispositionen und Prozessen, die sich für die Sinnbildung an Erzähltexten als unabdinglich erweisen.151 In den Blick genommen wurden in diesem Zusammenhang bislang, wie Leser eine mentale Repräsentation der Figuren, Ereignisse, des diegetischen Raums erstellen, wobei auf die Relevanz der kognitiven Rahmen (des sozialen, literarischen und des textuell erzeugten Wissens) ebenso eingegangen wurde wie auf Modelle der Wissensstrukturierung (die Schematheorie, die theory of mind, das mental mapping, das blending etc.).152 Auch die Vermittlungsinstanz ist bereits mehrfach Neubetrachtungen unterzogen worden, wobei auch hier die Vorstellungsbildung, aber ebenso Fragen nach einer kognitiven Bestimmung von Fokalisierung und Glaubwürdigkeit im Zentrum standen.153 Insgesamt betrachtet unternehmen diese Publikationen neben Reflexionen zum Nutzen der kognitiven Literaturwissenschaft, die legitimierenden Charakter haben, immer wieder Versuche, die Fülle der kognitionswissenschaftlichen Modelle gemäß ihrer Anwendbarkeit auf Literatur zu systematisieren und so für den literaturwissenschaftlichen Analysealltag nutzbar zu machen. Von diesem institutionalisierenden Impetus zeugt auch die Reihe an theoretischen Grundlagenwerken und Sammelbänden, die in den letzten Jahren erschie-
150 Freißmann, Stephan: „Kognitive Narratologie als neuer Ansatz in der Erzählforschung. Zentrale Konzepte und Anwendungsbeispiele“, in: Altnöder, Sonja/Nünning, Ansgar/Hallet, Wolfgang (Hrsg.): Schlüsselthemen der Anglistik und Amerikanistik, Trier: WVT, 2010, S.363. 151 Vgl. Herman, David: Storytelling and the Sciences of Mind, Cambridge: MIT Press, 2013, S.13. 152 Siehe hierzu: Fludernik, Monika: Towards a ‚Natural‘ Narratology, London: Routledge, 2005. Schneider, Ralf: Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption am Beispiel des viktorianischen Romans, Tübingen: Stauffenburg, 2000. Rath, Brigitte: Narratives Verstehen. Entwurf eines narrativen Schemas, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2011. Dennerlein, Katrin: Narratologie des Raumes, Berlin: de Gruyter, 2009. 153 Siehe hierzu: Wege, Sophia: Wahrnehmung, Wiederholung, Vertikalität. Zur Theorie und Praxis der Kognitiven Literaturwissenschaft, Bielefeld: Aisthesis, 2013. Hartner, Marcus: Perspektivische Interaktion im Roman. Kognition, Rezeption, Interpretation, Berlin: de Gruyter, 2012. Und Nünning, Ansgar: „Unreliable, compared to what? Toward a Cognitive Theory of Unreliable Narration. Prolegomena and Hypotheses“, in: Grünzweig, Walter/Solbach, Andreas (Hrsg.): Grenzüberschreitungen. Narratologie im Kontext, Tübingen: Narr, 1999, S.53-73.
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nen sind.154 Eine solche Konzentration auf die Theorie führt allerdings in vielen Fällen dazu, dass konkrete Interpretationen, in denen die Ergebnisse zur Anwendung kommen, einen reduzierten Raum einnehmen oder gänzlich fehlen.155 Es gilt also für die anschließende Forschung, Wege der Übertragung der mittlerweile recht dichten theoretischen Grundlage in die Praxis aufzuzeigen. Die praktische Ausrichtung dieser Arbeit, die zahlreiche Textbeispiele integriert, möchte hierzu beitragen. Auffällig ist überdies, dass sich die Cognitive poetics, die kognitive Narratologie und Psychonarratology in ihren Ausführungen fast ausschließlich den geistigen Interaktionsprozessen bei der Lektüre widmen und keine Öffnung zur Emotion vollziehen. Zwar werden Figurengefühle mehrfach thematisiert, jedoch stets im Kontexts ihres Nachvollzugs durch den Rezipienten und nicht in Bezug auf die Beteiligungsmöglichkeiten an ihnen. Nichtsdestotrotz besteht ein Unterschied, ob man als Leser lediglich von der Wut des Protagonisten weiß, oder, ob man diese bei der Lektüre selbst verspürt. Für viele Rezipienten bildet die emotionale Erlebnisdimension das zentrale Movens der Beschäftigung mit literarischen Texten, so dass ihre Aussparung aus dem Forschungsgeschehen einen Verlust bedeutet, wie David Miall in Literary Reading andeutet: „Restriction to a cognitive approach has almost entirely eliminated consideration of the role of feeling in literary response.“156 Emo-
154 Siehe hierzu für die Cognitive Poetics: Stockwell, Peter: Cognitive Poetics. An Introduction, London: Routledge, 2002. Gavins, Joanna/Steen, Gerard (Hrsg.): Cognitive Poetics in Practice, London: Routledge, 2003. Oder: Tsur, Reuven: Toward a Theory of Cognitive Poetics, Brighton: Sussex Academic Press, 2008. Für die Psychonarratology: Bortolussi, Marisa/Dixon, Peter: Psychonarratology. Foundations for the Empirical Study of Literary Response, Cambridge: University Press, 2003. Oder: László, János: The Science of Stories. An Introduction to Narrative Psychology, London: Routledge, 2008. In puncto Sammelband: Herman, David (Hrsg.): Narrative Theory and the Cognitive Sciences, Stanford: CSLI, 2003. Jaén, Isabel/Simon, Julien Jacques: Cognitive Literary Studies. Current Themes and New Directions, Austin: University of Texas Press, 2012. Huber, Martin/Winko, Simone (Hrsg.): Literatur und Kognition. Bestandsaufnahmen und Perspektiven eines Arbeitsfeldes, Paderborn: Mentis, 2009. Ajouri, Philip/Mellmann, Katja/Rauen, Christoph (Hrsg.): Empirie in der Literaturwissenschaft, Münster: Mentis, 2013. Oder: Bruhn, Mark/Wehs, Donald (Hrsg.): Cognition, Literature, and History, London: Routledge, 2014. 155 Auch Sophia Wege spricht an, dass die textanalytische Praxis in der kognitiven Literaturwissenschaft aktuell etwas aus den Augen verloren würde (vgl. Wege, Sophia: Wahrnehmung, Wiederholung, Vertikalität. Zur Theorie und Praxis der Kognitiven Literaturwissenschaft, Bielefeld: Aisthesis, 2013, S.17.). 156 Miall, David: Literary Reading. Empirical and Theoretical Studies, New York: Lang, 2006, S.3.
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tionen galten lange als ‚weicher‘ Gegenstand, über den wissenschaftliche Aussagen unmöglich sind, und wurden deshalb außen vor gelassen. Dass sie sehr wohl für das akademische Geschehen fruchtbar gemacht werden können, lassen etliche neuere Publikationen zum Thema ‚Literatur und Emotion‘ erahnen, die im deutschen Forschungsgebiet vor allem, aber nicht nur im ehemaligen Exzellenzcluster Languages of Emotion entstanden sind.157 Insofern lehnt sich diese Arbeit an die Prinzipien der kognitiven Literaturwissenschaft an, möchte diese aber um einen Vorschlag zur Erfassung erlesener Emotionen erweitern.
2.5 T YPOLOGIE
DER
B ETEILIGUNGSMÖGLICHKEITEN
Wenngleich die partizipativen und präsentischen Aspekte der Romanlektüre in den letzten Jahren mit dem Aufschwung der kognitiven Literaturwissenschaften merklich an Raum gewonnen haben, so wurden sie doch bislang nicht in ein operables Analysemodell übersetzt, das die gesamte Palette an Beteiligungsformen an narrativen Texten abdecken würde. Nichtdestotrotz existiert aus romanistischen Reihen ein Versuch, der dem relativ nahe kommt: Rolf Kloepfers Überlegungen zur ‚Sympraxis‘, also zum „Mithandlungsangebot des Texts“158 an den Leser, die der Forscher seit Ende der 70er Jahre in mehreren Aufsätzen zu diversen Themen und Medien verfolgt hat. Sie sollen im Folgenden als Basis für die Entwicklung einer Einteilung der Partizipationstypen fungieren, wofür die Ergebnisse der Einzelanalysen synthetisiert, sodann überprüft und zu einer Gliederung verarbeitet werden. Kloepfer unterscheidet in seinen Ausführungen zwischen energetischen (‚reaktiven‘ und ‚evaluativen‘) und emotiven (‚aisthetischen‘ und ‚existenzialen‘) Modi der Sympraxis:
157 Die literaturwissenschaftlichen Publikationen im Rahmen von Languages of Emotion lassen sich in drei Gruppen einteilen: Den Großteil machen Veröffentlichungen zur Emotion als Thema literarischer Texte aus; danach folgen empirische Studien zur Medienwirkung; nur wenige Texte beschäftigten sich mit den affektiven Erlebnissen bei der Lektüre. Hierzu zählen beispielsweise Meyer-Sickendiek, Burkhard: Lyrisches Gespür. Vom geheimen Sensorium moderner Poesie, München: Fink, 2011. Oder: Schrott, Raoul/Jacobs, Arthur: Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeit konstruieren, München: Hanser, 2011. 158 Kloepfer, Rolf: „Für eine Geschichte der Literatur als Kunst – Sympraxis am Beispiel Diderots“, in: Titzmann, Michael (Hrsg.): Modelle des literarischen Strukturwandels, Tübingen: Niemeyer, 1991, S.249.
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Unter ‚reaktiven Verfahren‘ versteht er die Tatsache, dass Literatur den Leser zur Bedeutungsproduktion veranlasse.159 Damit nimmt er konzeptuell auf die Komplettierung von Leerstellen im Sinne Wolfgang Isers Bezug, weshalb neben dem Eindruck der inhaltlichen Unvollständigkeit an einer Stelle auch die Inkohärenz als Auslöser für sie erwähnt wird.160 Unter den ‚evaluativen Verfahren‘ subsumiert das ‚Sympraxis‘-Konzept die Aktivierung gesellschaftlicher, literarischer und individueller Wertvorstellungen des Rezipienten angesichts des Gelesenen. Der Leser nähere sich dem Roman mit spezifischen Erwartungen, die bei der Lektüre entweder bestätigt oder aktualisiert würden, was erneute Protentionsprozesse auslöse.161 Mit fortschreitender Seitenzahl konstituiere sich auf diese Weise zwischen ihnen eine facettenreiche Interaktionssituation.162 Unter den ‚aisthetischen Verfahren‘ fallen Elemente, die den Rezipienten auf einer vorreflexiven Ebene emotional ansprechen.163 Über die Konnotationen und Assoziationen, die man mit Wörtern, Stilfiguren164, Sätzen oder ganzen Passagen verbinde, entstehe eine affektive Gestimmtheit. Der Begriff ‚existenziale Verfahren‘ schließlich bezeichnet ein Mithandeln des Lesers, das der perspektivierten Darstellung der Ereignisse entspringt. Der Text erzeuge je nach Übereinstimmungsgrad der Darstellung mit den Gefühlsregungen der Akteure eine stärkere oder schwächere emotionale Betroffenheit des Rezipienten. Maximal werden diese, wenn der Zeichenkörper die Emotion imi-
159 Vgl. Kloepfer, Rolf: „Mimesis und Sympraxis. Zeichengelenktes Mitmachen im erzählerischen Werbespot“, in: Kloepfer, Rolf/Möller, Karl-Dietmar (Hrsg.): Narrativität in den Medien, Münster: MAKS, 1986, S.154. 160 Vgl. Kloepfer, Rolf: „Mimetische Inkohärenz und sympraktische Kohärenz in moderner Dichtung“, in: Petöfi, János/Olivi, Terry (Hrsg.): Von der verbalen Konstitution zur symbolischen Bedeutung, Hamburg: Buske, 1988, S.276. 161 Vgl. Kloepfer, Rolf: „Mimesis und Sympraxis. Zeichengelenktes Mitmachen im erzählerischen Werbespot“, in: Kloepfer, Rolf/Möller, Karl-Dietmar (Hrsg.): Narrativität in den Medien, Münster: MAKS, 1986, S.144. 162 Vgl. Kloepfer, Rolf: „Dynamic Structures in Narrative Literature. The Dialogic Principle“, in: Poetics Today, 1.4 (1980), S.128. 163 Vgl. Kloepfer, Rolf: „Mimesis und Sympraxis. Zeichengelenktes Mitmachen im erzählerischen Werbespot“, in: Kloepfer, Rolf/Möller, Karl-Dietmar (Hrsg.): Narrativität in den Medien, Münster: MAKS, 1986, S.150. 164 Zum aisthetischen Potenzial der Metapher siehe: Kloepfer, Rolf: „Das trunkene Schiff. Rimbaud – Magier der kühnen Metapher“, in: Romanische Forschungen, 80.1 (1968), S.167.
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tiere, was über die sprachliche Gestaltung, die Erzählstrategie oder die Wahl des gezeigten Wirklichkeitsausschnitts erreicht werden könne.165 Insgesamt ist Kloepfers Typologie der Sympraxis für die Systematisierung der Beteiligungsformen sicherlich hilfreich,166 nichtdestotrotz scheint in mancher Hinsicht eine Aktualisierung indiziert. Zunächst mangelt es der Einteilung im Allgemeinen etwas an Konsequenz: Bisweilen bezieht sie sich auf das textuelle Wirkungspotenzial (existenziale und reaktive Verfahren), bisweilen auf die Reaktion des Lesers (evaluative und aisthetische Verfahren) – eine Tatsache, die vom Dilemma der Verortung der Wirkung auf Text- oder Leserseite zeugt.167 Soll dem Partizipationsgedanken Rechnung getragen werden, ist eine Anbindung der Beobachtungen an die Erfahrung des Rezipienten angezeigt, weshalb sich eine Gliederung nach Erlebnisformen (Emotion, Evaluation, Kognition etc.) anbietet. Fürderhin gilt es die Haltbarkeit der Kategorie der ‚reaktiven Verfahren‘ als Partizipationsmöglichkeit zu hinterfragen, zumal sie eine Vielzahl von Interaktionsformen integriert: Erzeugt eine Aussparung Spannung, so dient sie der Entwicklung einer Erwartung, steht insofern mit der Kognition in Verbindung; ruft sie Gefühle hervor, so liegt ihre Intention im emotionalen Bereich; provoziert sie den Rezipienten zu einer Stellungnahme, so ist sie an das evaluative Mithandeln geknüpft. Folglich ist das Komplettieren von Leerstellen weniger ein separater Modus der Beteiligung als ein Schema, in das sich jegliche Leseraktivität fügt, die dem Skelett des Texts Leben einhaucht und in irgendeiner Form auf ihn antwortet. Dadurch büßt das Etikett freilich an Aussagekraft ein. Darüber hinaus ist nicht ganz ersichtlich, warum die Bewertung des Gelesenen zu den ‚energetischen Verfahren‘ gezählt und somit von den emotiven Beteiligungsmöglichkeiten abgesetzt wird. Nach der aktuellen Forschungsmeinung der
165 Kloepfer, Rolf: „Für eine Geschichte der Literatur als Kunst. Sympraxis am Beispiel Diderots“, in: Titzmann, Michael (Hrsg.): Modelle des literarischen Strukturwandels, Tübingen: Niemeyer, 1991, S.250. 166 Sicherlich finden sich zu den einzelnen Modi der Sympraxis in Kloepfers Ausführungen überwiegend punktuelle Angaben, die meist auf einer abstrakten Ebene bleiben und nicht in die konkrete Analyse einsteigen; eine präzise Erklärung der Muster sowie deren Ausdifferenzierung bleibt aus, was sicherlich auch teilweise der Tatsache geschuldet ist, dass die Gattung ‚Artikel‘ nur ein reduziertes Eintauchen in die Materie zulässt. 167 Die Einteilung der Formen der ‚Sympraxis‘ erfolgt bei Kloepfer nach Verfahren und nicht nach Leseerlebnissen. Dadurch wird suggeriert, die Romanmerkmale lösten beim Rezipienten automatisch eine bestimmte Wirkung aus. In diesem Punkt unterläuft die ‚Sympraxis‘ ähnlich wie die Wirkungsästhetik, auf deren theoretischem Gerüst sie aufbaut, die Idee der gleichberechtigten Einbindung des Lesers in das literarische Werk.
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Kognitionswissenschaften integrieren Bewertungen einen affektiven Anteil und sind somit nicht ausschließlich auf geistiger Ebene lokalisierbar.168 Kognition und Emotion bedingen sich gegenseitig und beleuchten die evaluative Tätigkeit lediglich aus unterschiedlicher Perspektive. Zuletzt erfordert Kloepfers Modell eine Ergänzung, zumal sie mit der ästhetischen Erfahrung einen essentiellen Bereich der Teilhabe an Literatur außer Acht lässt. Einen Zugang zu diesem Partizipationsmodus eröffnen Jochen Meckes Überlegungen zur ‚Faszination‘ in Roman-Zeit: Ästhetische Erfahrung könne sich einstellen, wenn der Roman dem Leser stimmig erscheine, d.h. wenn er trotz der eventuellen zeitweiligen Dissonanz der einzelnen Romanbestandteile Harmonie vermittle. Diese Einheit müsse nicht unbedingt der Handlung entspringen, sondern könne auch „durch die innere Stimmigkeit verschiedener Momente einer dekonstruierten Geschichte und deren Kombination“169 zustande kommen.
2.6 Z IELFORMULIERUNG UND AUFBAU
DER
A RBEIT
Die vorliegende Arbeit beabsichtigt die Entwicklung eines operablen Modells zur literaturwissenschaftlichen Erfassung der Präsenzdimension narrativer Texte. Ihr Ziel besteht in der Systematisierung potenzieller Lektüreerlebnisse an Romanen sowie in der Erhellung der ihnen zugrunde liegenden Prinzipien. Die Methodik erwächst der Entscheidung gegen rein textimmanente und rein empirische Ansätze und für ein interaktives Zusammenspiel von Text und Leser im Sinne einer kognitiven Literaturwissenschaft. Untersucht werden sollen die Partizipationsmöglichkeiten gruppiert nach Erlebnisformen (Emotionen, Kognitionen, Evaluationen und ästhetische Erfahrungen), denen jeweils ein Kapitel des Hauptteils gewidmet ist. Die wesentlichen Beteiligungsmuster werden anhand der (teilweise vergleichenden) Analyse unterschiedlicher Ausschnitte aus der spanischen und französischen Prosa profiliert und verfeinert. Erreicht werden sollen auf diese Weise drei Dinge: • •
eine Begegnung der Romanistik mit der bisher unberücksichtigte Herangehensweise der kognitiven Narratologie, das Starkmachen der emotionalen Erlebnisdimension gegenüber der bereits etablierten kognitiven und die Untersuchung der zwischen ihnen bestehenden Wechselbeziehungen; indirekt damit verbunden die Komplettierung des Unter-
168 Vgl. Damasio, Antonio: L’erreur de Descartes. La raison des émotions, Paris: Odile Jacob, 1995, S.188f. 169 Mecke, Jochen: Roman-Zeit. Zeitformung und Dekonstruktion des französischen Romans der Gegenwart, Tübingen: Narr, 1990, S.60.
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suchungsgegenstands um die evaluative und ästhetische Partizipation, so dass eine vollständige Kategorisierung der Möglichkeiten der Beteiligung an narrativen Texten entsteht. die Erhöhung der Anwendbarkeit der Theorien der kognitiven Narratologie durch eine praxisorientierte Konzeption der Argumentation.
Partizipation wird in den nachfolgenden Ausführungen als maßgebliche Funktion von Literatur verstanden: Die prinzipielle Möglichkeit, in einen Text einzutauchen, sich von ihm verwandeln zu lassen, sich nicht von ihm loseisen zu können, sich zu ihm zu positionieren und aus ihm etwas mitzunehmen, stellt eine Konstante dar, die in der Forderung nach einem prodesse aut delectare ebenso spürbar ist wie etwa im Streben des nouveau roman nach einem „présent perpétuel“170. Insofern verstehen sich die Ergebnisse, die in den ‚Kontextualisierenden Resümees‘ am Ende der einzelnen Kapitel präsentiert werden, als universell gültig, was sich in der relativ heterogenen und vielfältigen Textauswahl widerspiegeln soll, die unterschiedliche literarische Gattungen (vom Kriminalroman bis zur Phantastischen Literatur), Klassen (von der Populärliteratur bis zur Hochliteratur) und Epochen (vom 19. bis 21. Jahrhundert) umfasst. Die Auffassung der Beteiligung als Universalie der literarischen Kommunikation bedeutet freilich nicht deren Ahistorizität oder Akulturalität; die Existenz epochen- und kulturspezifischer Beteiligungsmuster wird keinesfalls in Frage gestellt. Allerdings ist deren Aufarbeitung nicht das Ziel der Arbeit, zumal zunächst das Schaffen einer allgemeinen Grundlage der Beteiligungsforschung notwendig ist. Von dieser ausgehend ergibt sich prinzipiell jedoch eine Fülle an Möglichkeiten zur Verfeinerung über Anschlussforschungen im literarhistorischen und kulturvergleichenden Bereich. Die Argumentation gliedert sich in fünf Teile: Das erste Kapitel behandelt die emotionalen Beteiligungsmöglichkeiten, hierunter Atmosphären, Gefühle und Motivationen. Begibt man sich im Alltag in eine neue Situation, so nimmt man diese nicht als objektive Gegebenheit wahr, sondern erfährt sie stimmungsmäßig getönt. Ebenso ist der virtuelle Raum des literarischen Werks nicht neutral, sondern er erscheint dem Rezipienten unheimlich oder fröhlich, freundlich oder kalt. Die Atmosphäre ist ein diffuses Erlebnis, die auf den ersten Blick oftmals keinen unmittelbaren Auslöser zu haben scheint und sich quasi automatisch zwischen dem Subjekt und seinem Umfeld einstellt. Es gilt in diesem Kontext also zu eruieren, wie Atmosphären bei der Lektüre entstehen, wovon sie abhängen und welche Funktionen ihnen innerhalb der Literatur zukommen. Im alltäglichen Sprechen zögert man als Leser nicht, Figuren Gefühle zuzuschreiben, als wären sie Personen mit einer komplexen Psychologie in einer sozia-
170 Robbe-Grillet, Alain: Pour un nouveau roman, Paris: Minuit, 1961, S.18.
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len Situation. In Wirklichkeit sind die Gefühle des Romanpersonals allerdings nicht ohne die des Lesers denkbar, da sie erst existieren, sobald, wenn sie ihm bei der Lektüre aufscheinen. Es wird hier der Frage auf den Grund gegangen, wie sich erlesene Gefühle ausformen und was ihre Intensität und Qualität bestimmt. Der Leser bildet im Laufe der Rezeption eines narrativen Texts in Abhängigkeit von Atmosphären- und Gefühlserlebnissen Wünsche an den Fortgang der Handlung oder die Entwicklung des Protagonisten aus: Er sehnt den glimpflichen Ausgang eines Romans, ein glückliches Ereignis für die Hauptfigur oder die Bestrafung des Bösewichts herbei. Diese Motivationen gehen stets mit der Erhöhung des Erregungs- und Spannungsniveaus einher. Wie sich dieses in der Aufführung des Romans einstellen kann und auf welchen emotionalen Strukturen die Motivation basiert, ist der dritte Teil der emotionalen Partizipation gewidmet. Die Aufmerksamkeit des zweiten Kapitels gilt den kognitiven Beteiligungsmöglichkeiten. Die zentrale Aufgabe des Rezipienten bei der Textverarbeitung besteht in der Herstellung einer mentalen Repräsentation der Romanwirklichkeit, wozu er Informationen verarbeiten, Wissen generieren, Assoziationen bilden, Erinnerungen wachrufen etc. muss. Jegliche Vorstellungsbildung wird erst möglich, wenn der Leser sein sprachliches, kulturelles, literarisches und situationales Wissen mit dem Text kombiniert und daraus ein Erlebnis generiert. Zunächst ist also eine Rekonstruktion der Determinanten der Vorstellungsbildung angezeigt. Darüber hinaus beansprucht die Lektüre das Zeitbewusstsein des Rezipienten. Schließlich erfordert sie die Prognosenbildung in Bezug auf den folgenden Handlungsverlauf sowie die Ausbildung von Erwartungen, vor deren Hintergrund weitere Informationen aufgenommen werden. Zusätzlich wirkt das Gelesene auch auf Vergangenes zurück, da der Leser den Roman ausgehend von neu eintreffenden Daten rekontextualisiert und ordnet. Insofern ist er während der gesamten Lektüre kognitiv gefordert: Wenn er die Auflösung eines Rätsels herbeisehnt, bei unerwarteten Wendungen vor Überraschung erschrickt, sich langweilt oder gespannt ist. Die Voraussetzungen zur Bildung dieser Lektüreerlebnisse werden in diesem Zusammenhang geklärt. Das dritte Kapitel widmet sich der evaluativen Partizipation, einer Mischform aus emotionaler und kognitiver Beteiligung. Der Rezipient nähert sich literarischen Texten nicht als unbeschriebenes Blatt, sondern gleicht das Gelesene mit seinem verinnerlichten Normensystem ab: Er kann das Denken und Handeln der Figuren oder des Erzählers gutheißen und im Geiste unterstützen oder sich, wenn es in ihm negative Emotionen wie Abscheu oder Aggression hervorruft, davon distanzieren. Wovon diese Urteile abhängen und in welcher Verbindung sie mit der Bewertung von Erzähler oder Figuren stehen, sind die zentralen Fragen dieses Abschnitts. Die ästhetische Beteiligung steht im Blickpunkt des vierten Kapitels. Sie wird als ein Metaerlebnis betrachtet, das auf den Schultern der emotionalen, kognitiven und evaluativen Beteiligung stattfindet. Manche Romane erscheinen bei der Rezep-
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tion auf Anhieb harmonisch; andere erlauben die Herstellung von Stimmigkeit erst aus der zeitlichen Distanz, wenn sich eine Einheit der Partizipationsmomente in der übergreifenden Zusammenschau konstituiert; wieder andere widersetzen sich den Rezeptionsgewohnheiten dermaßen, dass sie das Versinken in der Fiktion zeitweise systematisch torpedieren und den Leser aus der Ereignisdimension des Texts herauskatapultieren. In diesem Rahmen werden die Prinzipien des ästhetischen Erlebens, die Vorbedingungen von Stimmigkeit und Unstimmigkeit sowie ihre literaturwissenschaftliche Erfassbarkeit untersucht. Auch wenn die einzelnen Partizipationsformen aus heuristischen Gründen zunächst isoliert voneinander behandelt werden, wird davon ausgegangen, dass eine ganzheitliche Lektüreerfahrung nur über das Zusammenspiel emotionaler, kognitiver, evaluativer und ästhetischer Beteiligung erreicht wird. So besteht etwa zwischen Gefühlen und Evaluationen eine enge Verflechtung, Gefühle oder Atmosphären können die Motivation unterstützen, das emotionale, kognitive und evaluative Erleben bilden die Basis für die ästhetische Erfahrung. Die Arbeit sieht ihre Aufgabe nicht nur in der Untersuchung der einzelnen Formen der Beteiligung und ihrer unterschiedlichen Ausformungen, sondern auch in der Auslotung ihrer Beziehung zueinander. Deshalb bildet das abschließende Kapitel ihre Synthese in der exemplarischen Analyse einer Szene aus Marcel Prousts Sodom et Gomorrhe.
3. Formen der Partizipation an narrativen Texten
3.1 E MOTIONALE B ETEILIGUNGSMÖGLICHKEITEN Seine Augen wandern von der einen Seite zur anderen. Er verharrt in der stets gleichen Position, den Blick auf ein beschriebenes Blatt Papier gerichtet. Er bewegt sich nicht, er spricht nicht. Allenfalls wechselt er hin und wieder seine Sitz- oder Liegeposition, schaut auf und unterbricht seine Tätigkeit. Von außen betrachtet ist es kaum zu glauben, dass der Rezipient beim Lesen handelt, da sich seine Partizipation am Romangeschehen in den seltensten Fällen extern manifestiert. Nichtsdestotrotz ist er hochgradig aktiv: Die Beteiligung am Text wandelt seine Stimmung, seine Gefühle und Haltungen oder wirkt sich physiologisch in Form eines beschleunigten Herzschlags oder eines veränderten Temperatur- oder Zeitempfindens aus. Bisweilen ist er von der Literatur so ergriffen, dass er loslacht, ihm die Tränen kommen, er vor Angst oder Anspannung unruhig wird. Doch woher stammen die Emotionen des Lesers bei der Lektüre? Wie erwächst aus graphischen Zeichen eine affektive Partizipation? Trotz des Booms des Themas ‚Emotion‘ in den Wissenschaften während der letzten zwei Jahrzehnte liegt bislang kein überzeugendes narratologisches Konzept zu deren Erfassung vor.1 Teilweise dominiert nach wie vor die Meinung, an Texten könnten „keine Emotionen, sondern nur sprachliche und schriftliche Zeichen für Emotionen analysiert werden“2. Diejenigen Publikationen, die nichtsdestotrotz eine Annäherung an den Gegenstand wagen, argumentieren weitgehend auf inhaltlicher Ebene3 und lassen die Darstellung in ihren Überle-
1
Vgl. Schnell, Rüdiger: „Historische Emotionsforschung. Eine mediävistische Standortbestimmung“, in: Frühmittelalterliche Studien, 38 (2004), S.180f.
2
Eming, Jutta: Emotion und Expression. Untersuchungen zu deutschen und französischen
3
Das liegt häufig daran, dass sich die Annäherungen an den psychologischen Konzepten
Liebes- und Abenteuerromanen des 12.-16. Jahrhunderts, Berlin: de Gruyter, 2006, S.65. der ‚Empathie‘ oder ‚Identifikation‘ orientieren, die der Mehrebenenstruktur narrativer Texte nur bedingt Rechnung tragen.
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gungen außen vor.4 Das aktuelle Kapitel versucht dem entgegenzuwirken, indem es ergründet, von welchen Faktoren die emotionale Interaktion zwischen Rezipient und Roman abhängt. Es untersucht die Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, damit die Lektüre einen Leser melancholisch oder fröhlich stimmt, ihn in Rage oder Aufregung versetzt oder ihn einen bestimmten Handlungsausgang herbeisehnen lässt. Hergestellt werden soll eine Verbindung zwischen dem gedruckten Text und dem emotionalen Erleben des Lesers. Die Psychologie definiert Emotionen im Allgemeinen als Veränderungen des Erregungsniveaus, der kognitiven Prozesse und des Verhaltens, die auftreten, wenn ein Individuum etwas als persönlich bedeutsam wahrgenommen hat.5 Sie gelten als Zustand erhöhter Intensität, der mehr oder weniger bewusst erlebt wird und eine Verschiebung der Aufmerksamkeit bedingt.6 Da sie eine kognitive, motivationale, physiologische und subjektive Dimension integrieren, sind sie vielschichtige Phänomene.7 Innerhalb der Emotionen lässt sich zwischen Gefühlen und Stimmungen unterscheiden, 8 wobei Gefühle im Normalfall eine starke Objektgerichtetheit und einen hohen Grad an Bewusstheit erreichen, Stimmungen hingegen als low-levelEmotionen gelten, eher diffus und im Hintergrund ablaufen.9 Emotionen bewegen sich auf der Schnittstelle zwischen Biologie und Kultur: Einerseits sind die Voraus-
4
Vgl. Nünning, Vera: „Introduction to Cognitive Approaches to the Study of Narratives“, in: Dies. (Hrsg.): New Approaches to Narrative. Cognition, Culture, History, Trier: WVT, 2013, S.25.
5
Vgl. Kleinginna, Paul/Kleinginna, Anne: „A Categorized List of Emotion Definitions, with Suggestions for a Consensual Definition“, in: Motivation and Emotion, 5.4 (1981), S.350.
6
Vgl. Hielscher, Martina: Emotion und Textverstehen. Eine Untersuchung zum Stim-
7
Vgl. Mees, Ulrich: „Zum Forschungsstand der Emotionspsychologie. Eine Skizze“, in:
mungskongruenzeffekt, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1996, S.16. Schützeichel, Rainer (Hrsg.): Emotionen und Sozialtheorie. Disziplinäre Ansätze, Frankfurt: Campus, 2006, S.107f. 8
Das zentrale Problem des Begriffs ‚Emotion‘ ist seine Unschärfe. Bereits 1981, also bevor der emotional turn die Natur- und Geisteswissenschaften erfasste, zählte dieser mehr als hundert verschiedene Definitionen. Dabei verstehen ihn manche Publikationen synonym zu Gefühl oder Affekt, andere hingegen fassen ihn als hierarchisch höherstehend auf (vgl. Kleinginna, Paul/Kleinginna, Anne: „A Categorized List of Emotion Definitions, with Suggestions for a Consensual Definition“, in: Motivation and Emotion, 5.4 (1981), S.345-379.). In dieser Arbeit wird Emotion in einer weiten Definition, als Oberbegriff zu Gefühl, Motivation und Atmosphäre gebraucht.
9
Vgl. Euler, Harald/Otto, Jürgen/Mandl, Heinz: „Begriffsbestimmungen“, in: Dies. (Hrsg.): Emotionspsychologie. Ein Handbuch, Weinheim: Beltz, 2000, S.12.
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setzungen, um sie zu empfinden, genetisch bedingt und der Mensch kommt bereits mit einem gewissen Repertoire an Grundemotionen wie Ärger, Angst und Freude zur Welt; andererseits müssen die Kontexte, in denen diese angebracht sind, erlernt werden und komplexe Emotionen wie etwa Eifersucht bilden sich erst im Lauf der Sozialisierung aus.10 Im Folgenden wird untersucht, wie die unterschiedlichen Dimensionen und Formen der Emotion bei der Romanlektüre zustande kommen. Der erste Abschnitt widmet sich den Atmosphären narrativer Texte, der zweite den Gefühlen, der dritte den Motivationen. Ermittelt werden soll dabei, wie die sprachliche Vermitteltheit des Romans überwunden werden kann, so dass sich für den Leser der Eindruck von Präsenz einstellt,11 sowie, von welchen Faktoren die Qualität und Intensität des emotionalen Erlebens abhängen. Ziel ist die Entwicklung eines Instrumentariums zur Erfassung der emotionalen Partizipation an narrativen Texten. 3.1.1 Atmosphäre „A lo lejos, una campana toca lenta, pausada, melancólica. El cielo comienza a clarear indeciso. La niebla se extiende en larga pincelada blanca sobre el campo“ – es reicht, diese wenigen Worte zu lesen, um vor seinem inneren Auge nicht nur unmittelbar eine bestimmte Landschaft zu sehen, sondern auch die atmosphärische Energie des geschilderten Tagesanbruchs zu verspüren. Gertrud Lehnert betont in „Raum und Gefühl“, Räume würden im Laufe der Zeit ihre eigene Aura ausbilden, weil sie „Vergangenheit speichern und etwas von den Gefühlen und Stimmungen absorbieren, die in ihnen gelebt worden sind“12. Was für den Alltag gilt, gilt auch für den Chronotopos von Romanen: In dem Moment, in dem die expliziten und impliziten Angaben zur Diegese auf die Vorstellungskraft des Lesers treffen, formiert sich ein mentaler Raum.13 Gemeinsam mit den Worten scheinen Erfahrungen und Erlebnisse auf, denen eine emotionale und atmosphärische Tönung eignet. Doch wovon hängt die Qualität dieser Atmosphäre ab? Welche Faktoren konstituieren das Stimmungserlebnis am narrativen Text? Diese Fragen sind bislang in der Forschung
10 Vgl. Kochina, Alexander: Emotionstheorien. Begriffliche Arbeit am Gefühl, Bielefeld: Transcript, 2004, S.36. 11 Die Medienwissenschaften widmen sich dem Eintauchen in die virtuelle Realität und dem Aufgehen im Medienhandeln seit einigen Jahren unter den Schlagworten ‚involvement‘, ‚immersion‘, ‚presence‘, ‚transportation‘ oder ‚simulation‘. Auf die Ergebnisse soll im Laufe des Kapitels wiederholt zurückgegriffen werden. 12 Lehnert, Gertrud: „Raum und Gefühl“, in: Dies. (Hrsg.): Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung, Bielefeld: Transcript, 2011, S.9. 13 Vgl. Oatley, Keith: „A Taxonomy of the Emotions of Literary Response and a Theory of Identification in Fictional Narrative“, in: Poetics, 23 (1994), S.70.
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weitgehend ungeklärt. Selbst im Kontext des emotional turn ist das Thema ‚Atmosphäre‘ aus literaturwissenschaftlicher Perspektive nahezu unangetastet geblieben.14 Mit dem Ziel, das zu ändern, untersucht dieses Kapitel, wie Atmosphären bei der Lektüre narrativer Texte zustande kommen und welche Erlebnismöglichkeiten sie für den Leser bereithalten. 3.1.1.1 Definition Der Begriff ‚Atmosphäre‘15 taucht erstmals im Laufe des 17. Jahrhunderts in der Meteorologie und Physik auf. Als griechisches Buchwort (atmos=‚Dunst‘, spaira=‚Kugel‘) bezeichnet es zunächst die Lufthülle der Erde, die die Atmung ermöglicht. Erst nach und nach weitet sich die Bedeutung auf Landschaften, Objekte, ja sogar Personen aus. Analogien zwischen dem ursprünglichen und heutigen Atmosphärenverständnis lassen sich dahingehend ziehen, dass die Atmosphäre etwas Umgebendes, aber dennoch Unsichtbares ist; etwas Fließendes ohne feste Grenzen; etwas, das bei Verdichtung eine spezifische Qualität ausbildet.16 In den Geisteswissenschaften findet ‚Atmosphäre‘ in den 70er Jahren im Rahmen der phänomenologischen Philosophie Hermann Schmitz’ erstmals stärkere Beachtung. Er bezeichnet etwas „randlos im Raum Ergossenes“17 in der Umgebung des Menschen. Was damit gemeint ist, lässt sich anhand des Beispiels des Klimas erklären: Die Temperaturwahrnehmung variiert von Person zu Person, die Grenze zwischen angenehmer oder unangenehmer Erfahrung verläuft bei jedem anders. Trotz dieses individuellen Eindrucks hat die Temperatur ihren Ursprung außerhalb des Subjekts, in seiner
14 Vgl. Gisbertz, Anna-Katharina: „Wiederkehr der Stimmung?“, in: Dies. (Hrsg.): Stimmung. Zur Wiederkehr einer ästhetischen Kategorie, München: Fink, 2011, S.9. 15 ‚Atmosphäre‘ steht in der Alltagssprache in Konkurrenz mit ‚Stimmung‘. Beide beschreiben ein Erlebnis in Kontakt von Subjekt und Umwelt, jedoch mit einer etwas anderen Akzentsetzung: ‚Stimmung‘ ist in erster Linie ein innerliches Konzept; Tradition hat sie vor allem in der Psychologie, wo man sie als konstanten und wenig intensiven affektiven Zustand definiert, der das Individuum die Welt getönt wahrnehmen lässt. Sie wird von der Psychologie nicht als Interaktion zwischen Mensch und Welt erforscht, sondern ist unidirektional angelegt, so dass der Begriff keine intersubjektive Gültigkeit garantieren kann. Aus diesem Grund wird in den vorliegenden Ausführungen das Konzept ‚At-mosphäre‘ vorgezogen. 16 Vgl. Henckmann, Wolfhart: „Atmosphäre, Stimmung, Gefühl“ , in: Goetz , Rainer/ Graupner, Stefan (Hrsg.): Atmosphäre(n). Interdisziplinäre Annäherungen an einen unscharfen Begriff, München: Kopaed, 2007, S.48. 17 Schmitz, Hermann: Der Leib, der Raum und die Gefühle, Ostfildern: Tertium, 1998, S.66.
F ORMEN DER P ARTIZIPATION AN NARRATIVEN T EXTEN
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Umwelt.18 Dennoch ist die Temperatur aber auch nichts Objektivierbares, das sich beispielsweise aus der Landschaft ergäbe, sondern lediglich etwas, das in ihr wahrgenommen wird. Schmitz definiert die Atmosphäre deshalb als ‚Halbding‘, als Gegenstand, der sich weder von subjektiven, noch von objektiven Gegebenheiten bestimmen lässt. Die Atmosphäre „ergreift“ das Individuum und bewirkt in ihm eine „affektive Betroffenheit“.19 Ein Problem, das sich aus dieser Atmosphärenkonzeption ergibt, spricht Gernot Böhme an: Wenn man die Atmosphäre als von der Umgebung unabhängig definiere, dann seien über sie keinerlei Aussagen möglich, weshalb Schmitz bei der Beschreibung von Atmosphären stets auf eine als-ob-Formel zurückgreifen müsse („Ein Tal bezeichnen wir danach als heiter, weil es so aussieht, als ob es leiblich von Heiterkeit ergriffen sei.“20). Insofern sei die Atmosphäre weder lokalisier-, noch wissenschaftlich greifbar.21 Um dieses Problem zu umgehen, entwickelt Böhme ein eigenes AtmosphärenKonzept, das aufgrund seiner Operabilität in den letzten Jahren in zahlreichen Disziplinen Popularität erlangt hat. Er verortet die Atmosphäre als Phänomen auf der Grenze zwischen Umgebung und Subjekt, so dass sie weder bloß in den Empfindungen besteht wie der Stimmungsbegriff der Psychologie, noch als quasigegenständlich aufgefasst wird wie bei Schmitz: Atmosphären sind nicht freischwebend gedacht, sondern als etwas, das von den Dingen, von Menschen oder deren Konstellationen ausgeht und geschaffen wird. Die Atmosphären sind so konzipiert weder als etwas Objektives, nämlich Eigenschaften, die die Dinge haben, und doch sind sie etwas Dinghaftes, zum Ding Gehöriges, insofern nämlich die Dinge durch ihre Eigenschaften – als Ekstasen gedacht – die Sphären ihrer Anwesenheit artikulieren. Noch sind die Atmosphären etwas Subjektives, etwa Bestimmungen eines Seelenzustandes. Und doch sind sie subjekthaft, gehören zu Subjekten, insofern sie in leiblicher Anwesenheit durch Menschen gespürt werden und dieses Spüren zugleich ein leibliches Sich-Befinden der Subjekte im Raum ist. 22
18 Vgl. Schouten, Sabine: Sinnliches Spüren. Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater, Berlin: Theater der Zeit, 2007, S.23. 19 Schmitz, Hermann: System der Philosophie. Der leibliche Raum (Bd.3,1), Bonn: Bouvier, 1964, S.343. 20 Zit. nach Böhme, Gernot: „Atmosphäre als Grundbegriff einer neuen Ästhetik“, in: Friedrich, Thomas/Gleiter, Jörg (Hrsg.): Einfühlung und phänomenologische Reduktion. Grundlagentexte zu Architektur, Design und Kunst, Berlin: Lit, 2005, S.295. 21 Vgl. Böhme, Gernot: Atmosphäre, Frankfurt: Suhrkamp, 1995, S.31. 22 Ebd., S.33.
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Indem die Atmosphäre als etwas konzipiert ist, das der Interaktion von Subjekt und Umgebung erwächst und im Moment ihres Aufeinandertreffens ausgehandelt wird, lässt es such an die Partizipationsidee anschließen. Die Atmosphäre narrativer Texte wäre somit ein Produkt der Realisierung des Texts durch den Rezipienten im Moment der Lektüre. Nach der Begriffsdefinition geht Böhme den Entstehungsbedingungen von Atmosphären auf den Grund. Er kommt zu dem Schluss, dass Farben, Beleuchtung und Materialien zwar eine wichtige Rolle für diese spielten, dass sie sie aber nicht ausmachten. Die Atmosphäre sei keine Addition der Daten aus den einzelnen Sinnesorganen; die visuelle, akustische, olfaktorische und taktile Reizleitung arbeiteten nicht isoliert voneinander, sondern würden vielmehr im Bewusstsein zu einer Einheit verschmolzen. Das Ergebnis sei eine Art Synästhesie, die es unmöglich mache anzugeben, aus welchen Wahrnehmungen und Gegenständen sie sich konstituiere.23 Für die Übertragung auf die Romanlektüre bedeutet dies, dass Atmosphären nicht direkt aus dargestellten Inhalten oder Formstrukturen ableitbar sind. Nicht einzelne Merkmale des narrativen Texts, sondern das ganzheitliche Wahrnehmungserlebnis im Moment der Aufführung bestimmt sie. So unkompliziert sich die Übertragung von Böhmes Konzept auf die Erforschung der Atmosphäre narrativer Texte gestaltet, seine Extension erfordert eine Revidierung, zumal es das atmosphärische Erleben von kognitiven Prozessen abkoppelt. Die Atmosphäre wird nicht als Zusammenspiel der sinnlichen Erfahrung und der Bedeutung des Gegenstands gedacht, sondern als rein leibliche Angelegenheit. Mehr noch: Böhme nimmt an, Atmosphären verschwänden bei einer Approximation auf geistiger Ebene.24 Insofern fußen seine Ausführungen durch die konsequente Trennung aisthetischer und reflexiver Wahrnehmung auf der Annahme eines Dualismus von Geistigem und Körperlichem.25 Dabei ist es weder nötig, noch möglich, die mentalen Vorstellungen und das Wissen des Individuums über Objekte und Umgebungen aus der Atmosphärenfrage auszuklammern. Wie schwer beispielsweise ein Bleistift ist, wie sich sein Material anfühlt, welches Geräusch er verursacht, wenn er auf den Tisch fällt, weiß man, ohne ihn berührt und ausprobiert zu haben. Dennoch trägt die Kenntnis dieser Eigenschaften zur Konstitution der Atmosphäre des Arbeitsplatzes bei, auf dem er sich befindet.26 Eine Erweiterung des Atmosphärenbegriffs in Hinblick auf die Integration der Erfahrung liefert Elisabeth Blum: Ihr zufolge bestimmt historisches, ästhetisches, politisches, geographi-
23 Vgl. ebd., S.96. 24 Vgl. ebd., S.175. 25 Vgl. Schouten, Sabine: Sinnliches Spüren. Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater, Berlin: Theater der Zeit, 2007, S.77. 26 Vgl. ebd., S.53.
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sches, mythologisches, sichtbares, erinnertes, vergessenes, verdrängtes und tabuisiertes Wissen die atmosphärische Wahrnehmung ebenso mit wie die Sinneseindrücke.27 Auch die Atmosphärenerfahrung von Romanen profitiert von der Integration der kulturellen Infrastruktur in ihr theoretisches Konzept, sie konstituiert sich über die Verbindung des Weltwissens des Lesers mit dem gedruckten Text. Insgesamt lässt sich also festhalten, dass die Atmosphäre literarischer Texte ein Produkt der Interaktion von Leser und Text im Moment der Lektüre darstellt. Sie ist folglich nicht direkt aus dem Inhalt oder der Form ableitbar, sondern ergibt sich erst durch das synästhetische Erleben bei der Aufführung des Texts. Sowohl sinnliche Erfahrungen als auch kulturelles Wissen bestimmen sie. 3.1.1.2 Die Atmosphäre als Gegenstand der Literaturwissenschaft Soweit zur allgemeinen Definition des Begriffs, doch wie lässt sich mit ihm im Analysealltag hantieren? Bislang existieren nur geringfügige Bemühungen der Fruchtbarmachung des Atmosphärenkonzepts für die Literaturwissenschaft. Michael Hauskeller trifft in Atmosphären erleben Vorüberlegungen zu seinem Transfer auf Filme: Diese könnten atmosphärisch wirken, zumal die Zuschauer meist keine Bilder vor sich sähen, sondern reale Menschen, Räumen und Situationen, zumal der Zeichencharakter bei der Rezeption momentan vergessen würde.28 Sicherlich, so argumentiert er, sei die atmosphärische Wahrnehmung im Vergleich zur Wirklichkeit eingeschränkt, da lediglich der taktile, gustatorische und olfaktorische Kode nicht aktiviert würden; dennoch könnten etwa Geräusche, Stimmen, Formen, Farben, Bewegungen sowie die Zeitdarstellung und Perspektive zur Steuerung des atmosphärischen Erlebens der Zuschauer eingesetzt werden.29 Elisabeth Schouten beschäftigt sich in Sinnliches Spüren mit der Erzeugung von Atmosphären in Theaterstücken. Dabei geht sie davon aus, dass die Atmosphäre ein Mischphänomen zwischen den objektiv vorhandenen Elementen wie Figuren, Stimme, Kostümen, Beleuchtung, Dekor etc. und dem individuell und kulturell bedingten Erlebnis des Zuschauers sei. Die Atmosphäre ergebe sich, wenn diese Komponenten intersensoriell ihre Wirkung entfalteten.30 In Bezug auf die Anwendung des Atmosphärengedankens auf bildliche oder präsentische Medien scheinen folglich keine unumgänglichen Hindernisse zu beste-
27 Vgl. Blum, Elisabeth: Atmosphäre. Hypothesen zum Prozess der räumlichen Wahrnehmung, Baden: Lars Müller, 2010, S.28. 28 Vgl. Hauskeller, Michael: Atmosphären erleben. Philosophische Untersuchungen zur Sinneswahrnehmung, Berlin: Akademie, 1995, S.184. 29 Vgl. ebd., S.187. 30 Vgl. Schouten, Sabine: Sinnliches Spüren. Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater, Berlin: Theater der Zeit, 2007, S.147.
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hen. Doch wie verhält es sich mit der Atmosphäre in geschriebenen Texten? Schließlich weisen diese im Vergleich zu einem Film oder einer Theateraufführung ein „Wirklichkeits-Defizit“ auf, da sie auf die Sinne nicht primär mit Bildern und Geräuschen einströmen, sondern lediglich als gedruckter Text. Gernot Böhme streift diese Frage in Atmosphären: Seines Erachtens spricht nichts gegen die Übertragung des Konzepts auf geschriebene Literatur, zumal auch der Sprache eine Atmosphäre eigne. Ein Gespräch beispielsweise erscheine aggressiv oder entspannt, da die Konversationssituation durch die Wahl der Worte und ihren Tons stimmungsmäßig getönt werde. Betrachte man den literarischen Text als kommunikative Äußerung, so könne auch er auf die genannte Weise eine Atmosphäre bilden.31 Allerdings erfasst diese Anmerkung das atmosphärische Potenzial des literarischen Texts lediglich hinsichtlich seiner Funktion als Erzähleräußerung. Den Bestandteilen der Makrostruktur hingegen fehlt es an Möglichkeiten der atmosphärischen Offenbarung. Ansätze zur Erforschung dieser Dimension finden sich in Emil Staigers Grundbegriffe der Poetik: Vor allem bei lyrisch konzipierten Texten schwinge der Leser stimmungsmäßig mit, sauge die Atmosphäre in sich auf und werde dabei eins mit dem Gelesenen.32 Auf dieser Annahme wiederum baut Hans Ulrich Gumbrecht in Stimmungen lesen auf – eine Monographie, die die Erfahrbarkeit von Stimmungen auf alle Gattungen und Textsorten ausweitet und sogar als zentrales Movens der Beschäftigung mit Literatur erachtet. Es gelte bei der Lektüre Stimmungen aufzuspüren, „sich affektiv und auch körperlich auf sie einzulassen und auf sie zu zeigen“33. Das klingt auf den ersten Blick vielversprechend, dennoch widerspricht Gumbrechts Verständnis von Stimmung in der Umsetzung dem, was in dieser Arbeit unter Partizipation verstanden wird. Die Stimmungen, die Gumbrecht aus den Werken herausliest, besitzen nur wenig interaktiven Charakter oder Gegenwärtigkeit, da sie als Widerspiegelungen einer früheren Realität aufgefasst werden. Beim Lesen berühre einen – so die Formulierung – die „substantielle[…] Präsenz von Vergangenheiten“34, die als Indiz für eine spezifische soziale Realität gelesen werden könne. In diesem Sinne wird etwa konstatiert, die novela picaresca, die sich stimmungsmäßig durch eine komische Desillusion des Rezipienten kennzeichne, fungiere als Echo der Zerrissenheit der siglo-de-oro-Gesellschaft zwischen Alltagsleben und Religion.35 Die nostalgische
31 Vgl. Böhme, Gernot: Atmosphäre, Frankfurt: Suhrkamp, 1995, S.77. 32 Vgl. Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik, Zürich: Atlantis, 1946, S.46. 33 Gumbrecht, Hans Ulrich: Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur, München: Hanser, 2011, S.30f. 34 Ebd., S.25. 35 Vgl. ebd., S.44f.
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Stimmung romantischer Texte wiederum reflektiere die Abneigung der Menschen des 19. Jahrhunderts gegen die Kälte der Moderne.36 Demnach schildert Gumbrecht einerseits persönliche Assoziationen, bindet sie andererseits gleichzeitig an die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des Entstehungskontexts des Werks zurück. Die Analysen basieren auf individuellen Rezeptionserlebnissen, die ohne weitere Erklärung als gegeben vorausgesetzt und als Basis für allgemeine Aussagen zur Literaturgeschichte herangezogen werden. Bevor Stimmungen für interpretative Operationen fruchtbar gemacht werden, sollten diese zunächst durch eine Rückbindung an die Textstruktur und kognitiven Verarbeitungsprozesse beglaubigt werden. In Frage zu stellen ist außerdem Gumbrechts Annahme, die Stimmung, die ihm aus den Texten entgegenschlage, sei ein Hauch konservierter Vergangenheit. Stimmungen lesen beschäftigt sich so gesehen nicht – wie zunächst angekündigt – mit der Präsenzdimension literarischer Texte, sondern mit der Rekonstruktion ihrer Erwartungshorizonte. Nicht ein Erleben von Atmosphären, das die Bedeutungszentrierung von Hermeneutik und Poststrukturalismus überwindet, ist sein Gegenstand, sondern die Beziehung von Literaturgeschichte und allgemeiner Geschichte, wie sie auch Hans Robert Jauß in den 1970er Jahren proklamiert - eine Zielsetzung, für die die Kategorie ‚Stimmung‘ im Grunde nicht erforderlich ist. Im Folgenden soll die Erfassung einer auf den Interaktions- und Präsenzgedanken ausgerichteten Atmosphärenerfahrung in Angriff genommen werden. Das Ziel liegt dabei nicht im bloßen Aufzeigen der Stimmung einzelner Texte, sondern in der Ausarbeitung der Voraussetzungen und der Funktionsweise des atmosphärischen Erlebens. Was veranlasst den Rezipienten zur Wahrnehmung der Bedrohlichkeit, Heiterkeit, Dynamik oder Enge bei der Lektüre einer Textpassage? Diese Frage möchte der kommende Abschnitt beantworten. Eine heuristische Differenzierung wird dabei hinsichtlich der Erzeugung von Atmosphären über kulturelles Wissen und sinnliche Erfahrung vorgenommen. 3.1.1.3 Das Atmosphärenerleben an narrativen Texten 3.1.1.3.1 Die atmosphärische Qualität der Sprache Wenn einem Text Atmosphären erwachsen können, dann deshalb, weil der Sprache eine gewisse Bildlichkeit innewohnt. Der Nebel über dem Land aus dem Eingangsbeispiel dieses Kapitels scheint bei der Lektüre in der Vorstellung des Rezipienten unmittelbar auf. Jean-Paul Sartre beschreibt dieses Phänomen in L’imaginaire: Lire [un roman], c’est réaliser sur les signes le contact avec le monde irréel. Dans ce monde il y a des plantes, des animaux, des campagnes, des villes, des hommes: d’abord ceux dont il est question dans le livre et puis une foule d’autres qui ne sont pas nommés mais qui sont à
36 Ebd., S.88f.
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l’arrière-plan et qui font l’épaisseur de ce monde. […] Ces êtres concrets sont les objets de mes pensées: leur existence irréelle est corrélative des synthèses que j’opère guidé par les mots. C’est que, ces synthèses même, je les opère à la façon des synthèses perceptives et non de synthèses signifiantes.37
Bei der Romanrezeption spielen sich vor dem inneren Auge des Lesers Bilder ab, Ereignisfolgen entrollen sich. Da er das Gelesene nicht ausschließlich auf erkenntnisrelevante Informationen hin verarbeitet, sieht, beobachtet und erlebt er es. Obgleich diese Wahrnehmungen nichts Äußerliches, Anwesendes oder Konkretes sind, ist es, als stünde er Dingen, Menschen und Handlungen gegenüber und nicht bloß Wortketten. Das Imaginieren sei insofern, so Sartre, ein quasi-magischer Akt, als es abwesende Objekte präsent mache und den Text durch seine Verwandlung in ein Bild animiere.38 Ähnliche Beobachtungen finden sich in Wolfgang Isers Der Akt des Lesens. Dieser betrachtet den Text als Grundgerüst, anhand dessen der Rezipient sich eine Romanwelt vorstellt. Wenn in ihm beispielsweise von einer Figur die Rede sei, bemerke der Leser die Abwesenheit des Referenzobjekts und imaginiere es deshalb.39 Ähnlich verhalte es sich für Bestandteile des Chronotopos oder den Erzähler: Da sie bloß textuell ausgeführt seien, ohne über eine reale Entsprechung zu verfügen, ergänze der Rezipient sie in seiner Vorstellung und vergegenwärtige sie dadurch.40 Diese Annahmen Sartres und Isers bestätigen sich durch die Ergebnisse der Kognitionswissenschaften: Bereits bei den ersten Sätzen einer Erzählung entwerfe der Leser ein mentales Modell der Welt, das eine räumliche, zeitliche, figurale und inhaltliche Komponente integriere.41 Dieses bilde er allerdings – entgegen Isers Annahme – nicht nur beim Fehlen des Bezugsobjekts, sondern unweigerlich. Innere Bilder kämen durch Wahrnehmung ebenso zustande wie durch Vorstellung und bildeten die Repräsentation der Wirklichkeit, an der sich das Subjekt für sein Handeln
37 Vgl. Sartre, Jean-Paul: L’imaginaire, Paris: Gallimard, 1940, S.88. 38 Vgl. ebd., S.161. 39 Vgl. Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München: Fink, 1994, S.195. 40 Vgl. ebd., S.202. 41 Vgl. Dennerlein, Katrin: „Über den Nutzen kognitionswissenschaftlicher Forschungsergebnisse für eine Narratologie des Raumes“ in: Huber, Martin/Winko, Simone (Hrsg.): Literatur und Kognition. Bestandsaufnahmen und Perspektiven eines Arbeitsfeldes, Paderborn: Mentis, 2009, S.187.
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orientiere.42 Die Anschaulichkeit der Lektüre erklärt sich nach Philipp Soldt in Denken in Bildern aus dem Ablauf des Spracherwerbs: Als Kleinkind versteht man Wörter nicht als Zeichen, sondern bringt sie mit dem Kontext in Verbindung, in dem die Eltern sie verwenden. Sprache ist folglich zunächst direkt an sinnliches Erleben gekoppelt; erst nach und nach erreicht der Lernende die Fähigkeit zur Abstraktion und Symbolisierung, so dass er Äußerungen auch außerhalb der mit ihnen verknüpften Situation gebrauchen und verstehen kann und etwa in der Lage ist, über eine Emotion zu sprechen, ohne diese selbst gerade zu empfinden. Ein Rest der Situationsgebundenheit der Sprache bleibt allerdings bis ins Erwachsenenalter erhalten.43 Vor allem bei stark affektiv aufgeladenen Äußerungen produziert man Imaginationen zur Rekonstruktion des besprochenen Handlungskontexts.44 Überdies erscheint die gebildete Vorstellung nicht neutral, sondern atmosphärisch getönt; ihr eignet nicht nur ein semantischer Gehalt, sondern unweigerlich auch der emotionale Zusammenhang, den man in der Erinnerung mit ihr verknüpft. Diese memorierte Gestimmtheit durchdringt den Imaginierenden im Moment der Vorstellung.45 Die Tatsache, dass Begriffe im Gedächtnis nicht wie in einem Lexikon, sondern über Erlebniszusammenhänge abgespeichert sind, ist auch für die Atmosphäre narrativer Texte bestimmend: Bei der Rezeption formieren sich keine abstrakten Bedeutungen, sondern – abhängig von den Erinnerungen, dem Wissen und den Wahrnehmungsmustern, die sich aus der Verwendung von Wörtern oder
42 Vgl. Huppauf, Bernd/Wulf, Cristoph: „Introduction. The Indispensability of the Imagination“, in: Dies. (Hrsg.): Dynamics and Performativity of Imagination. The Image between the Visible and the Invisible, New York: Routledge, 2009, S.3. 43 In kognitiver Hinsicht besteht kein Unterschied, ob man eine Handlung beobachtet oder liest, die Reaktionen des Gehirns sind die gleichen (vgl. Schrott, Raoul/Jacobs, Arthur: Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeiten konstruieren, München: Hanser, 2011, S.31.). Hierauf weist auch Marcel Proust hin und nimmt damit in Du côte de chez Swann die Ergebnisse der Kognitionsforschung vorweg, wenn er formuliert: „Il est vrai que les personnages qu’ils affectaient n’étaient pas ‚réels‘ comme disait Françoise. Mais tous les sentiments que nous font éprouver la joie ou l’infortune d’un personnage réel ne se produisent en nous que par l’intermédiaire d’une image de cette joie ou de cette infortune“ (Proust, Marcel: Du côté de chez Swann, Paris: Gallimard, 1988, S.129.). 44 Vgl. Soldt, Philipp: Denken in Bildern. Zum Verhältnis von Bild, Begriff und Affekt im seelischen Geschehen, Lengerich: Pabst, 2005, S.83. 45 Vgl. Pöppel, Ernst: Lust und Schmerz. Vom Ursprung der Welt im Gehirn, München: Siedler, 1993, S.229.
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Sätzen im Sprachspiel ergeben – stimmungsmäßig getönte Vorstellungsbilder.46 Hierbei kommen freilich je nach Lebenserfahrung intersubjektive Variationen bei der Verbildlichung vor. Je detaillierter und präziser eine Umgebung jedoch beschrieben wird, desto stärker ähneln sich auch die Imaginationen. Ausgehend von diesen Überlegungen, soll nun direkt am literarischen Text untersucht werden, welche Faktoren die Partizipation an der Atmosphäre bestimmen. Hierfür werden zwei Ausschnitte aus Julien Gracqs Le château d’Argol (Anhang Text 1) und Émile Zolas Au Bonheur des Dames (Anhang Text 2) einander kontrastiv gegenübergestellt. Beide Texte weisen eine ähnliche Ausgangssituation auf: Ein Protagonist nähert sich einem beeindruckenden Gebäude. Im ersten Fall ist es Albert, der das Schloss bezieht, auf dem er mit Herminien und Heide mehrere mysteriöse Tage verbringen wird; im zweiten sind es Denise und ihre Brüder auf dem Weg zum künftigen Arbeitsplatz, einem großen Pariser Kaufhaus. Dennoch entspringen dieser Situation recht unterschiedliche stimmungsmäßige Eindrücke. Sicherlich besteht bereits hinsichtlich des Gegenstandes ein Unterschied, der sich auf die Atmosphären der beiden Texte auswirkt. Ein Schloss in einer verlassenen Gegend bedingt andere Vorstellungen als ein Kaufhaus mitten in der Stadt. Ersteres übt aufgrund seiner Geschichtsträchtigkeit eine gewisse Faszination aus; als einstiger Wohnsitz von König und Adel besitzt es eine ehrwürdige Aura; als typischer Schauplatz für Märchen und Gruselgeschichten haftet ihm eine magische und unheimliche Komponente an. Diese bestätigt sich durch das Umfeld des Bauwerks, denn die freie Natur konnotiert Unkontrollierbarkeit und Gefahr. Das Kaufhaus hingegen evoziert als modernes Gebäude Helligkeit, Offenheit und Belebtheit und weckt Assoziationen mit Urbanität und Konsumgenuss; seine Stellung im Zentrum der Zivilisation vermittelt Sicherheit. Darüber hinaus ist es nicht durch den stereotypisierten Gebrauch als literarisches Motiv befangen. Insofern lassen bereits die kulturellen und literarischen Erfahrungen Tendenzen für die Bestimmung der Beziehung des Lesers zum Raum zu: für das Schloss erhabene bis magische Gehalte, für das Kaufhaus dynamische bis fortschrittliche. Dennoch erschöpft sich das atmosphärische Erlebnis nicht im generellen kulturellen Wissen über die beiden Gegenstände. Auch die Wörter, mit denen sie besetzt sind, fallen ins Gewicht.47 Im Grunde reichten die Begriffe ‚château‘ und ‚magasin‘
46 Vgl. Lobsien, Eckhard: „Bildlichkeit, Imagination, Wissen. Zur Phänomenologie der Vorstellungsbildung in literarischen Texten“, in: Bohn, Volker (Hrsg.): Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poetik, Frankfurt: Suhrkamp, 1990, S.112. 47 Guillemette Bolens arbeitet in Le style du geste heraus, dass literarische Texte über eine eigene kinesische Struktur verfügten, über eine Art atmosphärische Gebärde, die beim unmittelbaren Kontakt mit dem Rezipienten zutage trete und sowohl durch die Wortwahl als auch durch das Assortiment der beschriebenen Elemente determiniert sei (vgl. Bolens,
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zur Vorstellungsbildung bereits aus. Die Information, dass ein Schloss eine Fassade, einen Turm, steinerne Mauern, ein Dach oder Fenster besitzt oder dass sich ein Kaufhaus durch Auslagen, Türen, gläserne Vitrinen und Produkte auszeichnet, stellt für den Leser kein Novum dar. Nichtsdestotrotz ergibt es einen Unterschied, ob diese Elemente ausgespart, genannt oder gar ausführlich beschrieben werden. Wenn selbstverständliche Details in eine Deskription Eingang finden, so steigert dies die Konkretheit, mit der ein räumliches Element dem Rezipienten bewusst wird. Je mehr Einzelheiten ihm vor Augen geführt werden, desto mehr Zeit kann er auf die Visualisierung der Gegenstände verwenden und desto präsenter und anschaulicher erscheint das Raumelement in seiner Vorstellung.48 In dem Moment, wo von einer „épaisse muraille de grès bleus maçonnés à plat et enrobés dans un ciment grisâtre“ die Rede ist, sieht der Leser diese Mauer in all ihren Nuancen vor sich. Er mag im Wachrufen kultureller und persönlicher Erfahrung die Dicke des Bauwerks, die Materialität des Sandsteins und des Zements, die Farben, aber auch den Vorgang des Mauerns sowie das Erlebnis des Eingefasstseins spüren – Vorstellungen, die von Natürlichkeit, Wärme und direktem Kontakt geprägt sind. Vergleicht man dies mit dem Kaufhaus, so ist der Eindruck ein ganz anderer: „la haute porte, toute en glace, montait jusqu’à l’entresol, au milieu d’une complication d’ornements, chargé de dorures“. Glas und Gold sind Stoffe, die mit Kälte, Künstlichkeit und Modernität in Verbindung gebracht werden können. In beiden Fällen handelt es sich um Impressionen, die dem Leser ohne die Beschreibung in der Form und Intensität nicht präsent gewesen wären. Insofern vermögen deskriptive Textanteile die Eindringlichkeit und Greifbarkeit von Atmosphären zu befördern. Die Anreicherung der Anschaulichkeit der Wahrnehmung durch Einzelinformationen kann einen ähnlichen Eindruck erzeugen wie die Nahaufnahme im Film: Das Schloss und das Kaufhaus werden konkreter, scheinen näher zu rücken. Auf dieses Phänomen weist Roland Barthes in seinem Aufsatz „L’effet de réel“ hin: Details ohne jegliche Funktion für die Aktions- oder Kommunikationsziele des literarischen Werks bewirkten, sorgten für die Plastizität und Authentizität des dargestellten Ortes.49 Allein die Thematisierung der
Guillemette: Le style des gestes. Corporéité et kinésie dans le récit littéraire, Lausanne: BHMS, 2008, S.19f.). 48 Analog hierzu unterstreicht Pierre Gander in Bezug auf den Film, Detailbilder und Großaufnahmen trügen zum Immersionseffekt bei (vgl. Gander, Pierre: „Two Myths about Immersion in New Storytelling Media“, in: Lund University Cognitive Studies, 80 (1999), S.13.). 49 Vgl. Barthes, Roland: „L’effet de réel“, in: Ders.: Œuvres complètes (Bd.3), Paris: Seuil, 2002, S.31. Auch Mieke Bal greift die Idee auf, dass Beschreibungen der Authentifizierung und Naturalisierung narrativer Inhalte dienten (vgl. Bal, Mieke: Narratology. Introduction to the Theory of Narrative, Toronto: University Press, 1997, S.37.).
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Umgebung vermag den Eindruck von Präsenz zu erwecken oder wie es Julien Gracq in En lisant, en écrivant ausdrückt: „Décrire, c’est substituer à l’appréhension instantanée de la rétine une séquence associative d’images déroulée dans le temps.“50 Diese Überlegungen liefern zwar eine erste Orientierung in Bezug auf die Qualität und Gegenwärtigkeit von Atmosphären, behandeln sie jedoch nicht gründlich. Ein Vergleich der Beschreibungsstile der beiden Texte soll daher weiteren Aufschluss geben. Zolas Abschnitt tendiert zum Kumulativen, er bringt auf vergleichbarem Raum mehr Details unter als Gracqs Passage. Vor allem im letzten Drittel des Texts ermöglichen die langen, aber parataktisch konstruierten Sätze die Anhäufung eines Maximums an Konsumgütern: Mais Denise demeurait absorbée, devant l’étalage de la porte centrale. Il y avait là, au plein air de la rue, sur le trottoir même, un éboulement de marchandises à bon marché, la tentation de la porte, les occasions qui arrêtaient les clientes au passage. Cela partait de haut, des pièces de lainage et de draperie, mérinos, cheviottes, molletons, tombaient de l’entresol, flottantes comme des drapeaux, et dont les tons neutres, gris ardoise, bleu marine, vert olive, étaient coupés par les pancartes blanches des étiquettes. À côté, encadrant le seuil, pendaient également des lanières de fourrure, des bandes étroites pour garnitures de robe, la cendre fine des dos de petit-gris, la neige pure des ventres de cygne, les poils de lapin de la fausse hermine et de la fausse martre. Puis en bas, dans des casiers, sur des tables, au milieu d’un empilement de coupons, débordaient des articles de bonneterie vendus pour rien, gants et fichus de laine tricotés, capelines, gilets, tout un étalage d’hiver aux couleurs bariolées, chinées, rayées, avec des taches saignantes de rouge.51
Die teleologische Strukturierung des Abschnitts ist zurückgeschraubt, er zielt weniger auf den Fortschritt des Plots ab als auf ein kontemplatives Innehalten vor dem Überfluss an Produkten im Schaufenster. Hierzu sind die übrigen Wortarten zugunsten einer hohen Dichte an Substantiven reduziert. Die Quantifizierung des Gezeigten nimmt auf Kosten der Qualifizierung überhand, so dass – wie Rainer Warning in Die Phantasie der Realisten betont – eine „imaginäre Fusion physikalischer Energetik mit vitalistischer“ eintritt, die zum Nachempfinden des Kaufrauschs verleitet.52 Darüber hinaus charakterisieren sich die erwähnten Einzelobjekte nicht durch eine starke emotionale Aufladung, vielmehr handelt es sich um Alltagsgegenstände, denen man als Leser mehr oder weniger neutral gegenübersteht. Unterstrei-
50 Gracq, Julien: „En lisant, en écrivant“, in: Hamon, Philippe (Hrsg.): La description littéraire. De l’Antiquité à Roland Barthes. Une anthologie, Paris: Macula, 1991, S.179. 51 Zola, Emile: Au Bonheur des Dames, Paris: Flasquelle, 1928, S.8. 52 Warning, Rainer: Die Phantasie der Realisten, München: Fink, 1999, S.291.
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chung erfährt diese Objektivität dadurch, dass die Dinge kaum durch Adjektive oder Appositionen spezifiziert werden und somit allesamt gleichwertig wirken. Wie ein Puzzle sind die isolierten Gegenstände zusammengesetzt und bilden in diesem Nebeneinander ein homogenes und relativ wertfreies Präsenzfeld. Anders verhält sich dies in Au château d’Argol. Der Text reduziert die Anzahl der Einzeldetails zugunsten der Genauigkeit ihrer Bearbeitung. Die Einzelheiten des Schlosses werden nicht bloß aufgezählt, sondern zueinander in eine lokale oder funktionale Beziehung gesetzt („appuyée à gauche à la haute tour ronde“, „de rares fenêtres s’ouvraient dans la muraille“). Sie wirken auf diese Weise nicht isoliert, sondern scheinen miteinander zu interagieren, woraus sich bereits ein dreidimensionaler, tieferer Eindruck als im Vergleichstext ergibt. Außerdem ist das Vokabular expressiver gewählt als in Au Bonheur des Dames: Während mit den Produktnamen keine ausgeprägten Affekte verbunden waren, ist die Wortwahl in Gracq Text illustrativ. Häufig finden sich in den Beschreibungen des Schlosses und seiner Umgebung Metaphern und Katachresen, deren Bildspender dem Bereich der Körperlichkeit entstammen („la langue du plateau“, „un second corps de bâtiment“, „cette aile“ etc., Hvg. T.H.), so dass in der Eindruck einer Animierung des Schauplatzes entstehen kann, wodurch dieser dynamischer, gleichzeitig aber auch unheimlicher wirkt. Maurice Blanchot weist in „Grève désolée, obscur malaise“ darauf hin, dass Gracqs plastischer, bisweilen ausladender Stil zwar die Orientierung im Text erschwere, gleichzeitig aber einen emotionalen Mehrwert transportiere: Man sehe diffuser, fühle aber mehr.53 Insofern vergegenwärtigen Beschreibungen nicht nur die Romanwelt, sondern befördern auch eine atmosphärische Qualität. Für die Deskriptionsstile lässt sich folglich festhalten: Während Au Bonheur des Dames den Eindruck der Quantität erzeugt, arbeitet Au château d’Argol qualitativ. Analoge Unterschiede lassen sich für den Gebrauch der Adjektive konstatieren: Tabelle 2: Adjektive in Au château d’Argol und Au Bonheur des Dames Au château d’Argol Farben
Größe
Au Bonheur des Dames
blanc, bleu (2x), brillant, clair,
bleu, bleu marine, gris ar-
grisâtre, rouge, vert brillant,
doise, neige pure, pâle, sai-
violette
gnant de rouge, vert olive
bas (2x), épais, élevé, étroit
étroit, haut
(2x), haut (3x), inégal
53 Konkret heißt es bei Blanchot: „Il est bien possible que ces descriptions soient très ennuyeuses, mais on peut se demander si elles ne tendent pas toujours, quelle que soit leur nullité, à introduire une vague (très vague) impression magique“ (Blanchot, Maurice: „Grève désolée, obscur malaise“, in: Les cahiers de la pléiade, 1.2 (April 1947), S.136.).
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Form
allongé, carré, élancé, entier,
-
plat, régulier, rond, triangulaire Dynamik Materialqualität
rapide
vif
dur, élastique, moelleux, plein,
doux, fin, nu, vide
pluvieux, raide, ras Wertung
bizarre, élégant, étonnant, frap-
bon marché, neutre, riant
pant, harmonieux, indéfinissable, monotone, noble, imposant, rare (4x), riant lokal-temporale Verortung Sonstige
dernier, horizontal, intérieur,
intérieur, matinal
second, vertical archaïque, difficile, fort ancien,
bariolé, chiné, double,
parfait
fausse, rayé, renversé
Die Konfrontation zeigt, dass Gracqs Text trotz ähnlicher Länge ungleich mehr Adjektive verwendet als Zolas, wodurch er eine exaktere und anschaulichere Sicht auf die einzelnen Bestandteile des Schlosses und seine Umgebung erreicht. Zu den augenfälligsten Unterschieden gehört die stärkere Betonung der Größe des Schlosses im Vergleich zum Kaufhaus. Da diese zusätzlich in Verbindung mit der Enge der Fenster und Türen erwähnt wird, kann der Eindruck eines wuchtigen und mächtigen Steinkörpers entstehen, der den Betrachter winzig erscheinen lässt. Dadurch erzielt das Schloss eine bedrückende und erhabene Atmosphäre. Die mehrfache Wiederholung der Adjektive „haut“ und „étroit“ hat in diesem Kontext eine emphatische Funktion erhöht die Erinnerlichkeit der Qualitäten. Überdies ist feststellbar, dass Au château d’Argol zahlreiche Adjektive mit negativem Erlebniswert integriert („raide“, „pluvieux“, „dur“), während Au Bonheur des Dames mit neutralen bis positiven Elementen verbunden ist, wodurch sich die Schauerlichkeit des Schlosses und der Reiz des Kaufhauses steigern.54 Ein dritter Unterschied ergibt sich hinsichtlich der Adjektive, die eine affektive Bewertung des beschriebenen Gegenstandes vornehmen. Sie sind in Gracqs Passage weitaus häufiger und ausdrucksstärker, da sie semantisch allesamt in die Richtung des Unheimlichen tendieren. Geht man also davon aus, dass die Realisierung der Adjektive bei der Lektüre ein Erlebnis auslöst, so lässt sich eine intensivere Wirkung des Schlosses auf den Rezipienten annehmen,
54 Dieser positive Erlebniswert ist unter anderem dafür verantwortlich, dass Au Bonheur des Dames zu den wenigen Romanen Zolas mit optimistischem Grundton gerechnet wird. Sein Ziel liegt nicht im Anprangern der Opfer des Fortschritts, sondern vielmehr in der Inszenierung seiner Nebeneffekte (vgl. Gumbrecht, Hans Ulrich: Zola im historischen Kontext. Für eine neue Lektüre des Rougon-Macquart-Zyklus, München: Fink, 1978, S.78f.).
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da Au château d’Argol quantitativ und qualitativ eine stärkere atmosphärische Aufladung aufweist. Diese Tatsache findet ihren Widerhall in der zur Beschreibung verwendeten Verben. Häufig ist ihnen eine Personifizierung oder Animierung inhärent („la masse entière du château sortit des derniers buissons qui la cachaient“, „appuyée à gauche à la haute tour ronde“, „une tour carrée venait joindre la muraille“, „où serpentait le sentier“, „où l’on entendait murmurer les eaux“, Hvg. T.H.), wodurch ein kreatürliches Verhalten des Gebäudes suggeriert wird. Hieraus resultiert eine gewisse Bedrohung: Würde das Schloss tatsächlich zum Leben erwachen, wäre ihm der Protagonist Albert unterlegen und hilflos ausgeliefert. Dieser Anschein von Gefahr konkretisiert sich durch die häufigen Vergleiche und Illustrationen („comme les murs d’un palais détruit par l’incendie“, „l’architecte s’était inspiré du dessin de certaines meurtrières pratiquées dans les châteaux forts anciens pour le tir des couleuvrines“, „dans les interstices desquels un grimpeur habile eût pu trouver une prise suffisante pour s’élever jusqu’au toit“, Hvg. T.H.). Diese Situationen weisen eine semantische Nähe zu ‚Gefahr‘ und ‚Lebensbedrohung‘ auf, woraus sich der mysteriöse und phantastische Charakter ergibt, der Gracqs Beschreibungen häufig zugeschrieben wird.55 Es wurde bislang expliziert, dass Unterschiede in der Intensität der Atmosphäre über den Erlebniswert der zur Beschreibung verwendeten Wörter ausgelöst werden. Au Bonheur des Dames schafft auf diese Weise eine relativ neutrale Atmosphäre des Überflusses, während Au château d’Argol mit einer bedrohlichen Stimmung einhergeht. Ein weiterer Unterschied kann abschließend noch hinsichtlich der Einflechtung der Beschreibungen in den Resttext ausgemacht werden. In beiden Fällen ist das deskriptive Moment nicht autonom, sondern inhaltlich dadurch gerechtfertigt, dass auch die Protagonisten in kontemplativer Haltung vor den Gebäuden innehalten; jedoch erfolgt der Einbezug der Figuren auf unterschiedliche Weise. In Gracqs Text erreicht die Beschreibung des Schlosses eine größere Selbstständigkeit. Alberts Reaktion wird erst zum Schluss erwähnt, wenn man sich als Rezipient bereits eine eigene atmosphärische Vorstellung gebildet hat. In Au Bonheur des Dames sind die Beschreibung und das Verhalten der Figuren eng miteinander verknüpft, so dass sich eine Art Dialog zwischen beiden entspinnt. Die kommentierenden direkten Reden, die in regelmäßigen Abständen die deskriptiven Passagen unterbrechen, bringen Denise in engen Kontakt mit den Waren, wodurch sie von Be-
55 Vgl. beispielsweise: Douchin-Shahin, Andrée: „L’univers ludique gracquien“, in: Université d’Angers (Hrsg.): Julien Gracq. Actes du colloque international, Angers: Presses de l’Université, 1981, S.365. Oder: Le Scanff, Yvon: „Julien Gracq. Une traversée de l’espace romanesque. Le paysage emblématique: Au château d’Argol“, in: Etudes, 2 (Februar 2005), S.224.
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ginn an als potentielles Opfer des Kaufrauschs und gleichzeitig auf einer Stufe mit der Ware in Erscheinung tritt.56 In dieser Anlage verwirklicht sich Zolas poetologischer Vorsatz, Schilderungen keine Autonomie zu verleihen, sondern sie lediglich zur Charakteristik der Figuren und ihres Milieus zu tolerieren.57 Die Passage aus Au château d’Argol hingegen ermöglicht einen Informationsvorsprung des Lesers gegenüber der Hauptfigur Albert. Zwar spürt auch jener die Anomalie des Schlosses („ne laissa pas de surprendre fortement Albert“, Hvg. T.H.), aber er scheint dessen Bedrohung nicht wahrzunehmen. Während er sich offensichtlich noch nicht entschieden hat, ob er eine positive oder negative Haltung zum Gebäude einnehmen soll, mag der Leser bereits ahnen, dass ihn an einem solchen Schauplatz nichts Gutes erwartet. Mystery kann sich entwickeln.58 Insofern kombiniert der Textausschnitt mit einer intensiven Atmosphäre kognitive Beteiligungsmöglichkeiten, wodurch sich der Rezipient verstärkt das präsentische Erlebnis der Handlung gebunden fühlen kann.59 In Au Bonheur des Dames verhält es sich gegenteilig. Die relativ neutrale Atmosphäre steht in Kontrast zur Erregung der Figuren, die in deren wörtlichen Reden zum Ausdruck kommt. Diese wird zum einen durch die zahlreichen Interjektionen („Ah! bien!…en voilà un magasin!“, „Fichtre!“) spürbar, zum anderen durch die Ikonisierung der Ergriffenheit Denises in der erzählten Rede („ce magasin […] lui gonflait le cœur, la retenait, émue, intéressé, oublieuse du reste“). Indem die asyndetische Reihung der Adjektive einen atemlosen Rhythmus erzeugt, tritt die Emotionalität der Figur zutage. Während der Rezipient folglich einen relativ objektiven
56 Vgl. Schößler, Franziska: Börsenfieber und Kaufrausch. Ökonomie, Judentum und Weiblichkeit bei Theodor Fontane, Heinrich Mann, Thomas Mann, Arthur Schnitzler und Émile Zola, Berlin: Aisthesis, 2009, S.281. 57 In Zolas „De la description“ heißt es: „Décrire n’est plus notre but; nous voulons simplement compléter et déterminer. Par exemple, le zoologiste qui, en parlant d’un insecte particulier, se trouverait forcé d’étudier longuement la plante sur laquelle vit cet insecte, dont il tire son être, jusqu’à sa forme et sa couleur, ferait bien une description; mais cette description entrerait dans l’analyse même de l’insecte, il y aurait là une nécessité du savant, et un exercice de peintre“ (Zola, Émile: „De la description“, in: Hamon, Philippe (Hrsg.): La description littéraire. De l’Antiquité à Roland Barthes. Une anthologie, Paris: Macula, 1991, S.159.). 58 Auf die Ermöglichungsbedingungen von mystery geht das Kapitel 3.2.4.1 genauer ein. 59 Christoph Klimmt, Tilo Hartmann und Peter Vorderer weisen auf den Anstieg des involvement bei erhöhten kognitiven Anforderungen hin (vgl. Klimmt, Christoph/Hartmann, Tilo/Vorderer, Peter: „Macht der Neuen Medien? ‚Überwältigung‘ und kritische Rezeptionshaltung in virtuellen Medienumgebungen“, in: Publizistik, 4 (Dezember 2005), S.423.).
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Eindruck vom Kaufhaus behält, zeigen sich die Figuren beeindruckt – eine Diskrepanz, die als ironisches und kritisches Element gelesen werden und eine Distanzierung von den Figuren bewirken kann. Als roman expérimental ist es dem Text weniger daran gelegen, den Leser emotional mitzureißen, als ihn vielmehr in einer kühlen Distanz zum Geschehen verharren zu lassen und ihm im Optimalfall wissenschaftliche Einsichten und Erkenntnisgewinn zu vermitteln.60 Während Gracqs Atmosphäre zu einer Verschmelzung der Wertperspektiven des Lesers mit denen des Romans anstiftet, führt Zolas zu einer Abgrenzung.61 Nicht das Erlebnis des Kaufhauses soll übertragen, sondern die Absurdität des Handelns der Figuren exemplarisch vorgeführt werden. Für die emotionale Partizipation des Lesers an narrativen Texten lässt sich insgesamt festhalten: Indem das kulturelle Wissen des Lesers im Prozess der Rezeption mit den textuellen Vorgaben verschmilzt, entsteht eine Roman-Atmosphäre, d.h. ein stimmungsmäßig getöntes Vorstellungsbild des Erzählten. Wie dieses beschaffen ist, hängt von mehreren Faktoren ab: Die Qualität der Atmosphäre wird vom Erlebniswert des besprochenen Gegenstandes sowie von den zu seiner Beschreibung verwendeten Äußerungen beeinflusst. Ihre Intensität kann durch die Länge deskriptiver Passagen, die Beziehung der Details zueinander, die Bildlichkeit der Formulierungen sowie durch Wiederholungen gesteigert werden. Die Gegenwärtigkeit eines atmosphärischen Eindrucks schließlich hängt davon ab, ob Dissonanzen mit dem umgebenden Text eine Distanzierung erzeugen oder ein unverstelltes Erleben erfolgt. 3.1.1.3.2 Das sinnliche Erleben von Atmosphären Es wurde aufgezeigt, dass bei der Verarbeitung des Texts die Vorstellung des Lesers ein emotional getöntes Bild der Romanwelt entstehen lässt. Doch diese kognitive Komponente reicht zur erschöpfenden Erklärung des atmosphärischen Empfindens an narrativen Texten nicht aus. Schließlich ermöglicht Literatur oft intensivere Stimmungserfahrungen als Gebrauchstexte – ein Unterschied, der sich allein über den Erlebniswert sprachlicher Äußerungen nicht rechtfertigen lässt. Medienwissenschaftlichen Untersuchungen zur immersion und transportation weisen wiederholt auf die Relevanz des Ansprechens der sinnlichen Wahrnehmung für den Eindruck der Präsenz hin.62 Deshalb beleuchtet dieses Kapitel Sinneserfahrungen – Visualität, Akustik und Rhythmik – als Triebfedern der Partizipation an Atmosphären.
60 Vgl. Zola, Émile: Le roman expérimental, Paris: François Bernouard, 1928, S.12. 61 Die Phänomene ‚Übereinstimmung‘ und ‚Distanzierung‘ werden im Kapitel 3.3.2.1 ausführlicher beleuchtet. 62 Vgl. etwa: Petersen, Anita/Bente Gary: „Situative und technologische Determinanten des Erlebens virtueller Realität“, in: Zeitschrift für Medienpsychologie, 13.4 (2001), S.138f.
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Dass zur Schrift eine visuelle Komponente gehört, dürfte am ehesten einleuchten. Vor allem Handschriften besäßen, so Roman Jakobson, eine spezifische Physiognomie, aus der sich beispielsweise die Gemütsverfassung des Schreibers ablesen lasse.64 Aleida Assmann weist auf die erweiterten Möglichkeiten der sinnlichen Wahrnehmung von Geschriebenem hin, die ältere literarische Texte in Form von verzierten Initialen oder Illustrationen bieten.65 Aber auch moderne maschinengeschriebene Dokumente können ins Auge stechen: Die Wahl der Schriftart(en) und Schriftgröße(n) verleiht dem Text eine Individualität, die unterschwellig auf den Leser wirkt. Doch nicht nur die Schrift spricht ihre eigene Sprache, auch die Leerräume sind eloquent: Eine mehr oder weniger harmonische Linie zwischen Text und Nicht-Text könne, so Werner Wolf, dem Text Charakter verleihen und dadurch atmosphärische Bedeutsamkeit jenseits des signifiant erlangen.66 Darüber hinaus spricht die Lektüre auch den akustischen Kanal an. Das mag auf den ersten Blick verwundern, ist die Lektüre doch heutzutage eine Aktivität, die 63
Bisweilen wird auf die gattungsmäßige Unterlegenheit geschriebener Texte im Vergleich mit audiovisuellen Medien hingewiesen, zumal bei ihnen jegliches sensorische Feedback entfalle (vgl. Hartmann, Tilo/Böcking, Saskia/Schramm, Holger/Wirth, Werner/Klimmt, Christoph/Vorderer, Peter: „Räumliche Präsenz als Rezeptionsmodalität. Ein theoretisches Modell zur Entstehung von Präsenzerleben“, in: Gehrau, Volker/Bilandzic, Helena/Woelke, Jens (Hrsg.): Rezeptionsstrategien und Rezeptionsmodalitäten, München: Fischer, 2005, S.23f.). Dass es sich dabei um ein Vorurteil handelt, das die Spezifika narrativer Kommunikation verkennt, soll im Folgenden aufgezeigt werden. 63 Helmut Glück bestreitet in seinem Aufsatz „Ikonizität der Schrift?“, dass Schrift die von ihr bezeichnete Realität aufscheinen lassen könne. Schließlich müssten Zeichen, um Schrift zu werden, ihren ikonischen Charakter gerade verlieren (vgl. Glück, Helmut: „Ikonizität der Schrift?“, in: Loprieno, Antonio (Hrsg.): Bild, Macht, Schrift. Schriftkulturen in bildkritischer Perspektive, Weilerswist: Velbrück, 2011, S.71.). Hier gilt es zu differenzieren: Der Text selbst weist keine Ikonizität auf, er ist ein fixer Kode, der ein Referenzobjekt repräsentiert. In seiner Aufführung bei der Lektüre hingegen ist die Wahrnehmung optischer Auffälligkeiten sehr wohl möglich. 64 Vgl. Jakobson, Roman/Waugh, Linda: Die Lautgestalt der Sprache, Berlin: de Gruyter, 1986, S.78. 65 Vgl. Assmann, Aleida: „Die Sprache der Dinge. Der lange Blick und die wilde Semiose“, in: Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, Karl Ludwig (Hrsg.): Materialität der Kommunikation, Frankfurt: Suhrkamp, 1995, S.241. 66 Vgl. Wolf, Werner: „Non-supplemented Blanks in Works of Literature as Forms of Iconicity“, in: Maeder, Constantino/Fischer, Olga/Herlofsky, William (Hrsg.): OutsideIn. Inside-Out. Iconicity in Language and Literature, Amsterdam: Benjamins, 2005, S.126.
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sich wesentlich im Stillen und somit bar jeglichen Klangerlebnisses vollzieht. Man möchte zunächst wie Paul Zumthor die These vertreten, Romane könnten nur dann ein auditives Erlebnis bergen, wenn sie über Stimme und Mimik körperlich realisiert würden.67 Sicherlich tritt die sinnliche Wahrnehmung in diesem Fall intensiver zutage; doch ist dies kein Grund für einen kategorischen Ausschluss des Hörens aus dem leisen Lesen. Roman Jakobson weist in Die Lautgestalt der Sprache darauf hin, dass die Schrift den Benutzer stets zu einer Assoziation mit gesprochener Sprache und einer Umsetzung in mündliche Performanz veranlasse. Bei der stillen Lektüre höre man deshalb eine Art innere Stimme, die das Gelesene mitspreche.68 Auch Peter Kivy plädiert in The Performance of Reading für die Unabhängigkeit des akustischen Erlebnisses von physikalisch messbaren Geräuschen. Wenn ein geübter Musiker sich vor einem Konzert anhand einer Partitur das gleich zu spielende Stück noch einmal vergegenwärtige, leugne niemand, dass dem imaginierten Klang eine wichtige Funktion zukomme. Ebenso sei die stumme Lektüre eine Darbietung des Romans durch den Rezipienten, wobei die Klänge die Vorstellung als Artikulationsort wählten.69 Prinzipiell könne der Leser folglich in der Lautqualität eine atmosphärische Tönung erfahren. Ähnlich gelagert ist der Fall für den Lektürerhythmus. Auch ihn spürt man erst in der Performanz, er ist im Normalfall nicht im Text selbst sichtbar; vielmehr stellt er eine synästhetische Erfahrung dar, deren Vollzug des Erlebnisses bedarf.70 Der Rhythmus besteht in der Verbindung unterschiedlicher visueller, akustischer, semantischer etc. Elemente und spielt aufgrund seiner energetisierendem Wirkung, eine wichtige Rolle in Bezug auf die Atmosphärenerfahrung. Wenn ein Leser eine Dynamik – sei sie lautlicher oder kognitive Art – bei der Lektüre sinnlich wahrnimmt, wird er selbst von dieser bewegt: körperlich und emotional. Welche Ausprägungen die sinnliche Wahrnehmung an narrativen Texten erreichen kann und welches Beteiligungspotenzial sie birgt, soll sogleich am Einstieg von Azoríns La voluntad exemplifiziert werden – einem Roman, dem aufgrund seiner hohen lexikalischen, syntaktischen, phonologischen und rhythmischen Dichte bisweilen eine Nähe zum Prosagedicht und wegen seiner starken Visualität zur Ma-
67 Vgl. Zumthor, Paul: „Körper und Performanz“, in: Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, Karl Ludwig (Hrsg.): Materialität der Kommunikation, Frankfurt: Suhrkamp, 1995, S.708. 68 Jakobson, Roman/Waugh, Linda: Die Lautgestalt der Sprache, Berlin: de Gruyter, 1986, S.141. 69 Vgl. Kivy, Peter: The Performance of Reading. An Essay in the Philosophy of Literature, Oxford: Blackwell, 2006, S.1. 70 Vgl. Helbling, Hanno: Rhythmus. Ein Versuch, Frankfurt: Suhrkamp, 1999, S.25.
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lerei71 attestiert wurde. Beim besprochenen Ausschnitt handelt es sich um die Beschreibung des Sonnenaufgangs über Yecla, der mit der allmählichen Belebung der Kleinstadt einhergeht: A lo lejos, una campana toca lenta, pausada, melancólica. El cielo comienza a clarear indeciso. La niebla se extiende en larga pincelada blanca sobre el campo. Y en clamoroso concierto de voces agudas, graves, chirriantes, metálicas, confusas, imperceptibles, sonoras, todos los gallos de la cuidad dormida cantan. En lo hondo, el poblado se esfuma al pie del cerro en mancha incierta. Dos, cuatro, seis blancos vellones que brotan de la negrura, crecen, se ensanchan, se desparraman en cendales tenues. El carraspeo persistente de una tos rasga los aires; los golpes espaciados de una maza de esparto resuenan lentos. Poco a poco, la lechosa claror del horizonte se tiñe en verde pálido. El abigarrado montón de casas va de la oscuridad saliendo lentamente. Largas vetas blanquecinas, anchas, estrechas, rectas, serpenteantes, se entrecruzan sobre el ancho manchón negruzco. Los gallos cantan pertinazmente; un perro ladra con largo y plañidero ladrido. El campo – claro ya el horizonte – se aleja en amplia sábana verde, rasgado por los trazos del ramaje sombrajoso, surcado por las líneas sinuosas de los caminos. El cielo, de verdes tintas, pasa a encendidas nacaradas tintas. Las herrerías despiertan con su sonoro repiqueteo; cerca, un niño llora; una voz grita, colérica. Y sobre el oleaje pardo de los infinitos tejados, paredones, albardillas chimeneas, frontones, esquinazos, surge majestuosa la blanca mole de la iglesia Nueva coronada, por gigantesca cúpula listada en blancos y azules espirales. La ciudad despierta. Las desiguales líneas de las fachadas fronterizas a Oriente resaltan al sol en vívida blancura. Las voces de los gallos amenguan. Arriba, en el santuario, una campana tañe con dilatadas vibraciones. Abajo, en la ciudad, las notas argentinas de las campanas vuelan sobre el sordo murmullo de voces, golpazos, gritos de vendedores, ladridos, canciones, rebuznos, tintineos de fraguas, ruidos mil de la multitud que torna a la faena. El cielo se extiende en tersa bóveda de joyante seda azul. 72
Im Fokus steht zunächst lediglich der erste Satz des Abschnitts – „A lo lejos una campana toca lenta, pausada, melancólica“. Betrachtet man ihn hinsichtlich seiner sinnlichen Wirkung, so sticht vor allem der Rhythmus hervor, den die asyndetische Reihung der Adjektivtrias am Ende erzeugen mag. Der anfängliche Lesefluss wird an dieser Stelle durch die Zäsuren zwischen den Wörtern unterbrochen. Dieser mehrfache Wechsel von Geräusch und Pause bzw. von Wort und Komma kann an das Schlagen einer Glocke erinnern. Es wird in diesem Fall also nicht nur die Existenz des Objekts erwähnt, was sein Aufscheinen in der Vorstellung des Rezipienten
71 Vgl. Martín, Francisco José: Las novelas de 1902, Madrid: Biblioteca Nueva, 2003, S.219f. 72 Azorín: La voluntad, Madrid: Biblioteca nueva, 1965, S.9.
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bewirkt, sondern es wird zusätzlich dessen typisches akustisches Muster imitiert, so dass sich die Gegenwärtigkeit der Glocke erhöht. Der Leser kann sie am eigenen Leib spüren, da er im Moment der Lektüre ihr Spiel gewissermaßen nachahmt.73 Doch der Text unternimmt noch mehr zur Präsentifizierung des Gegenstands: Auch der Klang des Satzes nimmt das Läuten auf. Die Adjektive beschränken sich auf die Vokale ‚a‘, ‚o‘ und ‚e‘, die in fast vollständig durchgehaltenem regelmäßigen Alternieren in der Kombination i → a und e → a auftreten. Diese Alternanz zwischen den geschlossen und offen realisierten Lauten gleicht einem Glockenschlag, der eine Kombination aus einem klaren, hellen und einem dumpfen Klang, einem hohen und einem tiefen Ton bildet.74 In dem Moment, als der Leser den Text ausspricht oder bei der leisen Lektüre vor seinem inneren Ohr realisiert, produziert er die melodischen Eigenschaften der Glocke und erfährt sie dadurch sinnlich.75 Aber damit nicht genug: Die Lexeme „lenta, pausada, melancólica“ weisen eine zunehmende Silbenanzahl auf, was sich entsprechend auf die Lesedauer auswirkt und auch visuell wahrgenommen werden kann. Wenn dem Rezipienten die Adjektive als rhythmische und klangliche Aufnahme der Glockenschläge zu Bewusstsein kommen, so kann er das Zunehmen ihrer Länge in Analogie dazu mit der anwachsenden Schlaganzahl in Verbindung bringen. Er wird auf diese Weise in den kognitiven Zustand einer Person versetzt, die die Schläge mitzählt oder in die Lage der Glocke selbst, die diese realisiert. Der Anstieg der Silben setzt ihn somit in Interaktion zum imaginierten Gegenstand und macht diesen direkt erfahrbar. Das dargelegte Verfahren lässt sich nicht nur für den ersten Satz, sondern als Konstante des gesamten Ausschnittes nachweisen. Die Imitation des Klangs eines Objekts zeigt sich etwa im Satz „Un perro ladra con largo y planidero ladrido“.
73 Jens Eder spricht im Kontext der Filmrezeption von einer ‚somatischen Empathie‘: Unerwartete Bewegungen oder Geräusche könnten ein Zusammenzucken des Zuschauers, die Mimik des Schauspielers sein facial feedback provozieren (vgl. Eder, Jens: „Die Wege der Gefühle“, in: Brütsch, Matthias/Hediger, Vinzenz/von Keitz, Ursula/Schneider, Alexandra/Tröhler, Margrit (Hrsg.): Kinogefühle. Emotionalität und Film, Marburg: Schüren, 2005, S.237.). Die für La voluntad beschriebenen sinnlichen Erfahrungen rangieren auf einer analogen Ebene. 74 Auch das Onomatopoetikum für das Läuten einer Glocke ‚Dingdong‘ oder im Spanischen ‚din don‘ weist diese Vokalqualität auf. 75 Sabine Friedrich weist darauf hin, dass Darstellungen, die die Involvierung des betrachtenden Subjekts in die Beschreibung vor einer körper- und subjektlosen Inszenierung privilegieren, symptomatisch für einen Paradigmenwechsel der Wahrnehmungstheorie an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert ist (vgl. Friedrich, Sabine: Transformationen der Sinne. Formen dynamischer Wahrnehmung in der modernen spanischen Großstadtlyrik, München: Fink, 2007, S.21.).
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Nicht nur durch die vorwiegend dunklen Vokale, sondern auch durch die Häufung von Frikativen wird das Geräusch des Bellens (im Spanischen: ‚guao, guao‘) hervorgebracht.76 Auch im Fall von „carraspeo“ erzeugt der Lautkörper das für das signifié typische Geräusch, da der Plosiv zu Beginn und die darauffolgenden Reibelaute das Hüsteln ikonisieren. Der Abschnitt treibt diese Ähnlichkeitsbeziehung zwischen akustischer Realisierung und Gegenstand auf die Spitze, indem es die Laute des Worts über den Satz verteilt wiederaufgreift: „El carraspeo persistente de una tos rasga los aires“ enthält zahlreiche ‚r‘ und ‚s‘ sowie dunkle Vokale. Das kratzende Geräusch des Räusperns hört der Leser, indem er es bei der Lektüre selbst produziert. Abgesehen von Rhythmus, Klang und Silbenzahl sind auch optische Phänomene prädestiniert für die Aufnahme der Eigenschaften der Romanwelt. Wenn im Satz „y en clamoroso concierto de voces agudas, graves, chirriantes, metálicas, confusas, imperceptibles, sonoras, todos los gallos de la cuidad dormida cantan“ die Fülle an Adjektiven die Konventionen des alltäglichen Sprachgebrauchs signifikant überschreitet, so vermag der Leser in dieser Diversität die Vielzahl unterschiedlicher Hahnstimmen am eigenen Leib zu erfahren. Es ergibt sich eine Analogie zwischen der Dauer, die zur Verarbeitung oder visuellen Erfassung der vielen Adjektive erforderlich ist, und der Menge bzw. Lautstärke der krähenden Tiere;77 eine Quantitätsfigur vermittelt einen akustischen Eindruck. Gleichzeitig kann die Heterogenität des Lauteindrucks atmosphärischen Charakter annehmen: Die Wörter enthalten eine Mischung heller und dunkler Vokale (z.B. ‚grave‘ vs. ‚chirriante‘) und stammen aus divergenten Bedeutungsbereichen (Stimmqualität: ‚agudo‘, ‚grave‘, ‚chirriante‘, ‚metálico‘, ‚sonoro‘; Lautstärke: ‚imperceptible‘; Gesamteindruck: ‚confuso‘). Die-
76 Dass ‚a‘, ‚u‘ und ‚o‘ die Qualitäten ‚Dunkelheit‘, ‚Ferne‘, ‚Größe‘, ‚Tiefe‘, ‚Schwere‘ und ‚Dichte‘ vermitteln, während ‚i‘ und ‚e‘ von Leser als ‚hell‘, ‚nah‘, ‚klein‘, ‚hoch‘, ‚dünn‘ und ‚leicht‘ wahrgenommen werden, wurde in mehreren empirischen Tests nachgewiesen, jüngst in: Tsur, Reuven: Towards a Theory of Cognitive Poetics, Brighton: Sussex Academic Press, 2008, S.233f. 77 Suggeriert werden soll hier nicht, die Wörter des Satzes würden seriell und in der Chronologie ihrer Nennung vom Leser aufgenommen. Wie etliche Studien zur Textverarbeitung gezeigt haben, wird der Text bei der Lektüre in Wortgruppen erfasst, so dass sich die Wahrnehmung in Form von Sakkaden vollzieht. Ebenso erfolgt die Verarbeitung nicht isoliert, sondern im Satzkontext (vgl. Schrott, Raoul/Jacobs, Arthur: Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeiten konstruieren, München: Hanser, 2011, S.55.). Nichtsdestotrotz erfordert ein komplexerer Satz wie der vorliegende eine längere Verarbeitungsdauer als ein kurzer und einfacher (vgl. Strube, Gerhard/Herrmann, Theo: „Sprechen und Sprachverstehen“, in: Spada, Hans: (Hrsg.): Lehrbuch Allgemeine Psychologie, Bern: Huber, 1990, S.305.).
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se visuellen, kognitiven, akustischen und semantischen Reize mag der Rezipient auf die Situation projizieren, so dass die Aufführung des Satzes das Erlebnis der chaotischen Krähsituation birgt. Betrachtet wurde bislang, wie einzelne Objekte oder ihre Eigenschaften über die sinnliche Erfahrung des Texts Präsenz erlangen und dadurch die Intensität von Atmosphären gesteigert werden kann, wobei punktuelle Phänomene hervorgehoben wurden. Nun zeichnet sich die Atmosphäre im vorliegenden Ausschnitt aber nicht nur durch die Konkretheit ihrer einzelnen Objekte, sondern auch durch die Entwicklung aus, die sie durchläuft, oder wie Francisco José Martín in Las novelas de 1902 bemerkt: „Azorín no ve une ciudad, sino que observa el misterio del tiempo.“78 Deshalb soll auch ein Blick auf das Erlebnispotenzial der Stimmungsveränderung geworfen werden. Hat der Rezipient sich an einem Text emotional beteiligt, so vergisst er dies nicht wieder, sondern behält es abrufbereit im Gedächtnis. Die Atmosphäre, die er mit einem Ort, einer Situation oder einem Gegenstand in Verbindung gebracht hat, taucht bei dessen nächster Erwähnung abermals auf und dient als Hintergrundfolie für den Abgleich mit neuen Eindrücken.79 Ein Beispiel hierfür liefert in La Voluntad der Sonnenaufgang. Die Passage spricht ausgewählte Elemente im Laufe des Texts mehrfach an: der Helligkeitsgrad des Himmels nimmt beständig zu; die Farben machen eine Veränderung vom Schwarz-Weiß zu einem leuchtenden Bunt durch; der Anteil der Beschreibung, der Geräuschen gilt, wächst an, was sich in der Vorstellung des Lesers als Lauterwerden der Stadt niederschlagen kann; die Qualität der beschriebenen akustischen Quellen variiert: monotone, wiederkehrende Geräusche (Glocke, Getreideschlegel) werden von singulärem Lärm abgelöst (Weinen des Babys, Schreien einer Person, Bellen eines Hundes); nicht zuletzt wandelt sich auch der Inhalt des Bilds: Während zuerst verstärkt Landschaft gezeigt wird, kommen nach und nach Tiere hinzu, zuletzt häufen sich Hinweise auf die Existenz und Aktivität von Menschen. Insofern inszeniert die Passage eine Animierung der Landschaft: Von der Stille und Leere der Anfangssituation entwickelt sie sich hin zu Volumen und Fülle. Sämtlichen genannten Elementen ist der Faktor des Anschwellens, des Größer- und Intensiverwerdens in visueller und akustischer Hinsicht gemeinsam. Im Lektüreerlebnis verstärken sie sich eventuell gegenseitig und verschmelzen auf diese Weise zum atmosphärischen Eindruck des Sonnenaufgangs. Das lässt sich darüber erklären, dass sie auch im Alltagsleben in logischem Zusammenhang stehen, da auch hier Helligkeit mit intensiver Farbe und Belebung mit
78 Martín, Francisco José: Las novelas de 1902, Madrid: Biblioteca Nueva, 2003, S.159. 79 Näher auf den Ablauf von Verstehens- und Erwartungsprozesse geht Kapitel 3.2.1 ein.
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einer volleren Geräuschkulisse einhergeht.80 Da gesellschaftliche Rahmen existieren, die die Interaktion plausibilisieren, können dem Leser alle Bestandteile als Einheit erscheinen. Bis hierher wirkt es, als sei das beschriebene Phänomen rein semantischer Natur und müsste deshalb eigentlich im Kapitel zur Atmosphärenerzeugung mittels kulturellen Wissens stehen, zumal das Zusammenspiel der Erlebniswerte der einzelnen Wörter die Morgenstimmung verursacht. Doch dem ist nicht so: Schließlich kann der Rezipient die Transformationen der Atmosphäre nur konstatieren, weil Helligkeit, Farbe, Geräuschkulisse und Aktanten als thematische Konstanten den Text durchziehen; erst im Vergleich mit bereits gelieferten Informationen kann der Eindruck der Variation gewonnen werden. Nehmen wir das Beispiel der krähende Hähne: Bei der ersten Erwähnung heißt es: „Y en clamoroso concierto de voces agudas, graves, chirriantes, metálicas, confusas, imperceptibles, sonoras, todos los gallos de la cuidad dormida cantan.“ Der Leser speichert die Information der lärmenden Tiere in seinem Gedächtnis ab. Wenn ein paar Zeilen später wieder auf sie angesprochen wird („Los gallos cantan pertinazmente“), ruft er diese Erinnerung auf und vergleicht sie mit der Neuinformation, wodurch sie sich bestätigt. Als zum dritten Mal von den Hähnen die Rede ist, wähnt er sie sogleich aus vollem Halse krähend. Die textuelle Information jedoch widerspricht dieser Annahme: „Las voces de los gallos amenguan.“ Indem der Leser seine Erwartungen modifizieren muss, verläuft seine Tätigkeit analog zum Inhalt: Nicht nur das Krähvolumen verändert sich, auch der Rezipient formt sein Vorstellungsbild um. Dadurch, dass er den Inhalt gewissermaßen an sich selbst erfährt, mag ihm dieser präsenter erscheinen. Voraussetzung für diese Erfahrung ist die Herstellung einer Konstanz mit darauffolgender Dissonanz, die Bildung eines bestimmten Erwartungshintergrundes durch die anfängliche Wiederholung und dessen plötzliche Enttäuschung. Das eben dargelegte Verfahren kann nicht nur auf makrostruktureller Ebene konstatiert werden, sondern findet sich auch in Diskurs- und Mikrostruktur. Der erste Absatz („A lo lejos, […] resuenan lentos“) zeichnet sich durch eine harmonische Strukturierung aus, die Vermittlung der Information scheint geordnet: Die Beschreibung ist durch die Lokaladverbiale „a lo lejos“ und „a lo hondo“, die jeweils zu Beginn des Satzes platziert sind, logisch gegliedert und in zwei gleich lange Ab-
80 Man denke beispielsweise an die Tatsache, dass Helligkeit aus kulturellen, aber auch biologischen Gründen untrennbar mit Leben und Aktivität, Dunkelheit mit Tod und Schlaf verbunden ist. Diese menschliche Fähigkeit der synästhetischer Verschmelzung unterschiedlicher Gegenstandsbereiche ist bereits im pränatalen Gehirn angelegt (vgl. Baudson, Tanja Gabriele: „Synästhesie, Metapher und Kreativität“, in: Dresler, Martin (Hrsg.): Kognitive Leistungen. Intelligenz und mentale Fähigkeiten im Spiegel der Neurowissenschaften, Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag, 2011, S.130.).
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schnitte geteilt; die in ihnen enthaltenen Sätze haben alle eine vergleichbare Dauer und sind durchgehend parataktisch angelegt. Der Rezipient gewöhnt sich beim Lesen an diesen Satzrhythmus sowie seine visuelle Gliederung und geht in der Folge von ihm als Nullstufe aus.81 Wenn nun im Anschluss diese gleichmäßige Struktur durchbrochen wird – indem Parenthesen den Lesefluss stören, die Absätze oder Sätze hinsichtlich der Länge variieren, indem die Kommastruktur oder Wortgruppierungen unregelmäßig werden, indem Verbellipsen erfolgen, die Blickrichtung häufig wechselt oder Partizipien die dynamische Dichte des Satzes ändern – dann kann dies als Verstoß gegen die zunächst ausgebildete Erwartung gewertet werden. Diesen Bruch zwischen dem ruhigen und dem unkontrollierbaren Rhythmus kann der Rezipient als Erwachen der Stadt empfinden. Für die sinnliche Wahrnehmung von Atmosphäre lässt sich also zusammenfassend bemerken: Indem der Rhythmus, die Lautstruktur, die Lesedauer oder die kognitive Aktivität des Lesers ikonisch die Eigenschaft eines Gegenstands widerspiegeln, erlangt dieser in seiner Vorstellung Präsenz. Dadurch, dass der Rezipient gleichzeitig hört, sieht, spürt oder erfährt, wovon die Rede ist, interagiert er mit Gelesenen nicht mehr wie mit einem Zeichen, sondern tritt ihm wie einem realen Gegenstand gegenüber. Auch Veränderungen der Atmosphäre können über die unverhoffte Abweichung von einer zuvor aufgebauten Erwartungshaltung bzw. über den Bruch mit einem gewohnten Lektürerhythmus spürbar gemacht werden. Indem der Rezipient seine Erwartung aktualisieren muss, imitiert sein Verhalten den repräsentierten Wandel. 3.1.1.3.3 Die Atmosphäre von Figuren Das Phänomen ‚Atmosphäre‘ ist nicht auf Objekte oder Raumelemente beschränkt, sondern kann auch auf Figuren ausgedehnt werden. Gernot Böhme konstatiert, dass die Physiognomik im 18. und 19. Jahrhundert, ohne sich dessen bewusst zu sein, die Atmosphäre von Personen im Blickwinkel gehabt habe. Zwar sei sie im Glauben, man könne vom Aussehen eines Menschen auf dessen Charaktereigenschaften schließen, einem Irrtum anheimgefallen, allerdings sei es richtig, dass das Aussehen stets mit einer spezifischen Stimmung verknüpft sei. Besitze eine Person eine große Nase, so müsse das kein Beweis für ihre natürliche Neigung zur Wollust sein, wie die Physiognomik suggeriert; dennoch könne ihr Erscheinungsbild bei einem Betrachter einen sinnenfreudigen Eindruck provozieren. Dieser werde dann einerseits von ihr ausgelöst, realisiere sich andererseits jedoch erst durch das wahrnehmende
81 Die Gruppierung des literarischen Texts zu rhythmischen Einheiten spielt für eine gelungene Rezeption eine zentrale Rolle (vgl. Tsur, Reuven: Towards a Theory of Cognitive Poetics, Brighton: Sussex Academic Press, 2008, S.162f.).
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Subjekt und entspräche somit der Struktur der Atmosphäre.82 In diesem Kapitel soll untersucht werden, wie sich die Atmosphäre von Figuren gestaltet, wodurch also der Eindruck der Vertrautheit mit ihrem Charakter und ihren Emotionen entsteht, obschon man lediglich Informationen zu ihrem Aussehen erhält. Dies soll an einem Ausschnitt aus Claríns La Regenta aufgezeigt werden, der die erste Begegnung des Lesers mit dem Priester Don Fermín enthält: Bismarck, detrás de la Wamba, no veía del canónigo más que los bajos y los admiraba. ¡Aquello era señorío! ¡Ni una mancha! Los pies parecían los de una dama; calzban media morada, como si fueran de Obispo; y el zapato era de esmerada labor y piel muy fina y lucía hebilla de plata, sencilla pero elegante, que decía muy bien sobre el color de la media. Si los pilletes hubieran osado mirar cara a cara a don Fermín, le hubieran visto, al asomar en el campanario, serio, cejijunto; al notar la presencia de los campaneros levemente turbado, y en seguida sonriente; con una suavidad resbaladiza en la mirada y una bondad estereotipada en los labios. Tenía razón el delantero. Da Pas no se pintaba. Más bien parecía estucado. En efecto, su tez blanca tenía los reflejos del estuco. En los pómulos, un tanto avanzados, bastante para dar energía y expresión característica al rostro, sin afearlo, había un ligero encarnado que a veces tiraba al color del alzacuello y de las medias. No era pintura, ni el color de la salud, ni pregonero del alcohol; era el rojo que brota en las mejillas al calor de palabras de amor o de vergüenza que se pronuncian cerca de ellas, palabras que parecen imanes que atraen el hierro de la sangre. Esta especie de congestión también la causa el orgasmo de pensamientos del mismo estilo.83
In Bezug auf die atmosphärische Erfahrung, die das kulturelle Wissen bei der Verbildlichung in der Vorstellungskraft erzeugt, ist die vorliegende Passage von einem Widerspruch durchzogen. Zu Beginn umgibt Don Fermín eine würdevolle Aura, die über die Untadeligkeit seines Auftretens vermittelt wird. Der Priester erscheint als Gesamtkunstwerk. Seine Kleidungsstücke sind perfekt aufeinander abgestimmt und besitzen sowohl hinsichtlich der Farbe als auch der Materialien einen respekteinflößenden Erlebniswert: Das Violett der Strümpfe konnotiert als liturgische Farbe die Enthaltsamkeit der Fastenzeit oder des Wartens auf das Weihnachtsfest und signalisiert Don Fermíns Aufgehen in seiner asketischen Rolle als Priester, wozu seine Darstellung als über die Geschlechtlichkeit erhabenes Hybridwesen („los pies parecían los de una dama“) suggeriert. Ebenso unterstreichen die edlen Schuhe seinen hohen gesellschaftlichen Rang. Nicht nur der Aufzug, auch der Teint passt in das Bild der perfekten, gottgleichen Gestalt: Durch seine Bezeichnung als „estucado“ wirkt der Würdenträger unnatürlich, fast übermenschlich.
82 Vgl. Böhme, Gernot: Atmosphäre, Frankfurt: Suhrkamp, 1995, S.128. 83 Clarín: La Regenta (Bd. I), Madrid: Cátedra, 2004, S.149f.
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Doch so sehr er am Anfang des Abschnitts als blutleerer Vertreter der Institution ‚Kirche‘ auftritt, so abrupt wandelt sich seine Ausstrahlung gegen Ende in die einer sündigen Privatperson. Dies rührt daher, dass Don Fermíns Wangen mit Wörtern besetzt sind, die der zunächst konstruierten Atmosphäre zuwiderlaufen. Das Rot bildet einen Widerspruch zum Violett der Socken, konnotiert es doch im kirchlichen Bereich die Festzeit, im alltagskulturellen Kontext die Leidenschaft und das Leben. Darüber hinaus wird die Farbe explizit mit „calor“, „amor“, „vergüenza“, „sangre“, „orgasmo“ in Verbindung gebracht – Wörter aus der Isotopie der erotischen Liebe, die für die Beschreibung eines Geistlichen atypisch sind. Die Gefasstheit wird im zweiten Teil von einer Getriebenheit abgelöst, da mit dem Vergleich der „imanes que atraen el hierro“ eine unsichtbare Anziehung verbildlicht wird, derer sich die verliebte Person nicht erwehren kann. An die Stelle der Künstlichkeit treten etwa mit dem Verb „brotar“ Dynamik und Natürlichkeit. Die widersprüchlichen Attribute in Don Fermíns Bild bestimmen seine Atmosphärenwirkung auf den Leser und vermitteln dabei bereits einen Vorgeschmack auf die nachfolgende Handlung, in der er zwischen diesen beiden Gesichtern hin und hergerissen sein wird. Das kann den Lektüreeindruck begünstigen, bereits über die Figur Bescheid zu wissen, auch wenn diese dem Leser bislang ausschließlich über die Beschreibung ihres Äußeren bekannt ist. Doch der Ausschnitt bleibt bei der Konstruktion der Atmosphäre nicht auf dieser rein kognitiven Ebene stehen, sondern wird auch sinnlich erfahrbar. Erstens: Don Fermíns ehrwürdige Erscheinung ist auch den Interjektionen „¡Aquello era señorío! ¡Ni una mancha!“ geschuldet. Die Ausrufezeichen signalisieren dem Leser als ikonische Elemente bereits optisch Erregung, worin dieser die Außergewöhnlichkeit der Figur zu spüren bekommt. Zweitens: Während Don Fermín als musterhafte Person beschrieben wird, ist auch der Lektürerhythmus ein geordneter, gleichmäßiger, so dass seine Aufgeräumtheit spürbar werden kann. In dem Moment hingegen, als sein Teint mit einer Statue verglichen wird, nimmt die Satzlänge drastisch ab, so dass sich der kognitive Aufwand zum Verständnis der Passage verringert: Zunächst an mittellange Phrasen gewohnt, kann dem Leser die geringere Aufmerksamkeitserfordernis an dieser Stelle als Mangel zu Bewusstsein kommen. Insofern ist ihm an diesem Punkt die bedürfnislose Zurückhaltung des Priesters, sein ungeschminktes Aussehen durch die Lektüreerfahrung präsent. Nachvollziehbar wird dies auch im Abschnitt „si los pilletes […] serio, cejijunto“ nachvollziehen. Während die Figur alleine nachdenkend auf dem Turm steht, sind die Adjektive „serio, cejijunto“ asyndetisch aneinandergereiht. Der Fluss des Satzes wird durch eine kurze Pause zwischen den beiden Wörtern unterbrochen, wodurch diese isoliert nebeneinander stehen. Die Nüchternheit des Priesters wird folglich über den Rhythmus für den Leser präsent. Ähnlich ist dies, als er sein zweites gefühlsbetontes Gesicht zeigt, da auch das sich in der textuellen Dynamik widerspiegelt. Bei „Da Pas […] sangre“ handelt es sich um einen Satz mit flüssigem, schnel-
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lem Rhythmus, der bereits durch seine Länge den Eindruck der Fülle und des Überquellens erzeugt. Atmosphären haften nicht nur dem Raum, sondern auch Figuren an. Wenn diesen in Beschreibungen die Erzähleraufmerksamkeit zuteil wird, generiert der Leser mittels seines kulturellen Wissens sowie der Bildlichkeit der Sprache eine spezifische Gestimmtheit. Die Atmosphäre, die Don Fermín umgibt, gewinnt ihre Qualität durch den Erlebniswert der zu seiner Beschreibung verwendeten Propositionen; ihre Präsenz durch die Erfahrung rhythmischer, visueller und akustischer Elemente. Erinnerungen und sinnliches Erleben legen sich übereinander und verstärken sich gemeinsam in Hinblick auf die atmosphärische Tönung. Übrigens kann die Tatsache, dass der Priester hierin widersprüchliche Signale sendet, zu einer zumindest partiellen Distanzierung des Lesers von ihm führen: Wie John Rutherford in La Regenta y el lector cómplice betont, keimt in der Alternanz zwischen dem Erhabenen und dem Lächerlichen eine ironische Rezeptionshaltung.84 Die Inkohärenz, die das Bild von Don Fermín ausmacht, schafft somit trotz des hohen Grads an Präsenz Skepsis gegenüber der Figur, wobei gerade diese Entfernung wieder eine Ähnlichkeit zwischen dem Rezipienten und dem Priester herstellt: Ebenso wie dessen Ausstrahlung inkohärent ist, leidet auch der Leser unter der „tensión entre la fuerza distanciadora de la ironía y la fuerza aproximativa de la proyección“85, wodurch die beiden eine Parallelisierung erfahren. 3.1.1.4 Zusammenfassung Obschon narrative Texte keine Bilder zeigen wie Filme und nicht auf körperlicher Ko-Präsenz beruhen wie das Theater, ermöglichen sie atmosphärische Beteiligung. Einerseits findet das Geschriebene bei der Lektüre seine Veranschaulichung in der Vorstellung des Rezipienten, denn dabei handelt es sich um eine von dessen kultureller Erfahrung stimmungsmäßig getönte, „gelebte“ Version des Texts. Andererseits werden die beschriebenen Gegenstände und Figuren dem Rezipienten in der sinnlichen Wahrnehmung des Romans über visuelle, akustische, kognitive und rhythmische Kanäle spürbar, so dass der Eindruck einer direkten Begegnung mit ihnen entsteht. Die beiden Formen atmosphärischer Erfahrung wurden zwar in den Analysen aus heuristischen Gründen getrennt voneinander behandelt, bei der Lektüre bilden sie jedoch eine Einheit: Eine Atmosphäre erreicht ihre Wirkung erst in der synästhetischen Verschmelzung von Kontextwissen und sinnlicher Erfahrung. Atmosphären können sich in Zusammenhang mit Orten, Objekten, Situationen oder Personen bilden. Ihre Qualität hängt von den Erlebniswerten ab, die den Wörtern der Deskription zueigen ist und die sich aus der emotionalen Aufladung im all-
84 Vgl. Rutherford, John: La Regenta y el lector cómplice, Murcia: Editum, 1988, S.52. 85 Ebd., S.96.
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täglichen Sprachspiel ergibt. Die Interaktion verschiedener Konnotationen in der Vorstellung des Lesers kann Harmonien und Disharmonien erzeugen; kann sich an die Alltagserfahrung anlehnen, aber auch unbekannte Stimmungen generieren, die die Wirklichkeit unter einem neuen Blickwinkel zeigen. Eine besondere Rolle kommt hierbei der Bildlichkeit zu: Tropen besitzen das Potenzial zur maßgeblichen Erweiterung des atmosphärischen Spielraums, da sie Emotionswerte aus unterschiedlichsten Erfahrungsbereichen zusammenzubringen vermögen. Die Intensität der Atmosphäre ist von der Dauer der Zuwendung des Erzählers oder der Figur (in der direkten Rede) zu einem Gegenstand beeinflusst. Dichte Atmosphären können zustande kommen, wenn sich ein Text ausschließlich der Beschreibung widmet. Das bedeutet allerdings nicht, dass Atmosphären an ein Anhalten der erzählten Zeit gebunden wären: Auch bei nicht-szenischen Darstellungen entfaltet das Gelesene atmosphärische Qualität, wenngleich diese etwas diffuser ist. Darüber hinaus kann die Intensität durch Wiederholungsstrukturen zunehmen, da sie für die Verfestigung der Atmosphäre im Bewusstsein des Rezipienten sorgen. Präsenz und damit Eindringlichkeit erhält die Atmosphäre über ihre sinnliche Erfahrbarkeit: Macht ein rhythmisches, visuelles, akustisches oder kognitives Erlebnis dem Rezipienten die Eigenschaft eines Gegenstands oder dessen Veränderung am eigenen Leib spürbar, dann meint er, diesem zumindest partiell tatsächlich zu begegnen. Das ikonische Erleben des Romans ist ausgehend von allen Ebenen des literarischen Texts möglich: In der Mikrostruktur birgt die Verarbeitung von Satzlänge, -komplexität oder Stilmittel, in der Diskursstruktur Veränderungen der Erzählerperspektive, Ordnung oder Fokalisierung, in der Makrostruktur semantische Modulationen und im Paratext die Typographie Erlebnispotenzial. Eine Atmosphäre besteht nur so lange, als die Instanz, die sie vermittelt, nicht als Subjekt markiert ist. In den drei besprochenen Beispielen lag ein heterodiegetischer, dominant null- bzw. extern fokalisierter Erzähler vor, der hinter seiner Beschreibung verschwand und dem Raum dadurch Autonomie verlieh. In dem Moment allerdings, als die Perspektive des beobachtenden Subjekts in den Vordergrund rückt, nimmt der Rezipient die emotionale Qualität deskriptiver Elemente nicht mehr als Atmosphäre, sondern als Ausdruck der Gefühle oder der Haltung von Erzähler oder Figur wahr.86
86 Manche Roman(ausschnitte) bewegen sich auf der Grenze zwischen beiden Formen emotionaler Beteiligung, so dass die Unterscheidung, ob die Atmosphäre eines Orts oder die Projektion der Gefühle einer Figur nach außen erlebbar wird, unmöglich ist. Der Fall ist dies zum Beispiel in der Erschießungsszene aus Albert Camus’ L’étranger, wo die Stimmung des Sommertags die Figur so stark beeinflusst, dass sie regelrecht zum Mord gezwungen wird. Vorstellbar wäre umgekehrt auch eine Szene, in der die Atmosphäre so charakteristisch getönt ist, dass sie als Gefühlsausdruck des Subjekts erscheint. So gese-
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3.1.2 Gefühl Dass das Gefühl eines der elementaren Erlebnisse darstellt, das die Literatur für den Rezipienten bereithält, lässt sich bereits aus seiner starken Präsenz in den Geschichte der Ästhetik ablesen: Bereits in Aristoteles’ Poetik tauchen zwei Gefühle, eleos und phobos, als Säulen des Erlebens bei der Tragödie auf. Indem der Zuschauer diese im Theater erfahre, so die Argumentation, werde er vom negativen Einfluss affektiver Erregung im Alltag befreit.87 Auch in Georg Friedrich Hegels Vorlesungen über die Ästhetik nehmen Gefühle eine prominente Position ein. Literatur verfolge das Ziel, die schlummernden Gefühle, Neigungen und Leidenschaften aller Art zu wecken und zu beleben, das Herz zu erfüllen und den Menschen, entwickelt oder noch unentwickelt, alles durchfühlen zu lassen, was das menschliche Gemüt in seinem Innersten und Geheimsten tragen, erfahren und hervorbringen kann, was die Menschenbrust in ihrer Tiefe und ihren mannigfaltigen Möglichkeiten und Seiten zu bewegen und aufzuregen mag.88
Auch wenn Hegels Ästhetik natürlich nicht primär auf Emotionen abhebt, sondern ihren Schwerpunkt im geistigen Bereich setzt, nimmt sie diese als konstitutiv wahr. Manche poetologische Reflexionen der Moderne wiederum versuchen zwar, sich von den Affekten loszusagen, bleiben dabei jedoch ex negativo auf sie bezogen. Ortega y Gasset beispielsweise kritisiert in seinen Ausführungen zu La deshumanización del arte die zu gefühlsbetonten Rezeptionsgewohnheiten der breiten Masse: „[A] la gente le gusta un drama cuando ha conseguido interesarse en los destinos humanos que le son propuestos. Los amores, odios, penas, alegrías de los personajes conmueven su corazón: toma parte en ellos como si fuesen casos reales de la vida.“89 Stattdessen fordert er einen Zugang zu Kunst jenseits des Affekts, eine Konzentration auf Formfragen zugunsten der Autonomie von Literatur. Diese Ausklammerung des Gefühls als Störfaktor der ästhetischen Erfahrung ist die emotionale Partizipation als Hintergrundfolie eingeschrieben. Die Vehemenz, mit der eine Distanzierung von ihr gesucht wird, ist gerade symptomatisch für dessen Relevanz im Rezeptionsalltag. Die zeitgenössische Literatur schließlich hat sich von einer
hen verwischen eine expressionistische oder impressionistische Chronotoposgestaltung die Grenzen zwischen Atmosphäre und Gefühl. 87 Vgl. Aristoteles: Poetik, Stuttgart: Reclam, 2005, S.19. 88 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik, Berlin: Duncker und Humblot, 1835, S.61. 89 Ortega y Gasset, José: La deshumanización del arte y otros ensayos de estética, Madrid: Espasa-Calpe, 1987, S.52.
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affektleeren Schreibkultur teilweise wieder losgesagt. Was manche modernen Texte übermittelten sei, so Dieter Wellershoff in Wahrnehmung und Phantasie, „unpersönlich und abstrakt ungefähr wie das, was die Dame ohne Unterleib von der Liebe weiß“.90 Auch wenn diese exemplarisch herausgegriffenen Texte zur Ästhetik das Gefühl alle in irgendeiner Form in ihre Argumentation integrieren, so mangelt es doch an Entsprechungen in der literaturwissenschaftlichen Praxis. Diese scheint sich schwerpunktmäßig um das prodesse literarischer Texte zu kümmern und das delectare systematisch auszuklammern. So existieren bislang nur wenige Erklärungsansätze für die Frage nach den emotionalen Beteiligungsmöglichkeiten des Rezipienten an Romanen. Gegen dieses Missverhältnis arbeitet das vorliegende Kapitel an, indem es ein Modell für die affektive Einbindung von Lesern liefert. 3.1.2.1 Die Angst vor dem Gefühl in den Literaturwissenschaften Gefühle spielen seit einigen Jahren in den Geisteswissenschaften eine zunehmend wichtige Rolle. Während sie zuvor lange als unkontrollierbarer und subjektiver Gegenstand von der Wissenschaft schlichtweg übergangen wurden, hat sich das Blatt heute gewendet und sie haben sich zu einem Kristallisationspunkt des Forschungsinteresses vieler Disziplinen entwickelt. Ob Philosophie, Psychologie, Neuro- oder Kognitionswissenschaften – nahezu jedes Fach ist auf den Zug des emotional turn aufgesprungen. Auch die Literaturwissenschaften verzeichnen eine Zunahme der Beschäftigung mit dem Thema: In den vergangenen Jahren sind nicht nur im Rahmen des ehemaligen Berliner Exzellenzclusters ‚Languages of emotion‘ mehrere Monographien und Aufsatzsammlungen zu ihm erschienen. Eine Auswahl davon soll hier kurz besprochen und auf ihr Potenzial für die Entwicklung eines Partizipationskonzepts überprüft zu werden. Einen der ersten Schritte in Richtung ‚Emotion‘ geht Henrike Alfes’ Literatur und Gefühl. Es handelt sich dabei um eine empirische Studie, deren Ziel in der Erarbeitung von Vorschlägen für die Erforschung von Affekten bei der literarischen Produktion und Rezeption besteht. Ihre These besteht darin, dass Gefühle in literarischen Texten in verschlüsselter Form vorlägen und der Leser diese mittels seines Welt-, Sprach-, und Literaturwissens herauslesen könne. Der Rezipient verfüge über Emotionsrahmen, in die er das Gelesene einordne, wozu das Wissen um emotionsstereotyp funktionierende Genres, Autoren, Themen, Schreibstile, um literari-
90 Wellershoff, Dieter: Wahrnehmung und Phantasie. Essays zur Literatur, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1987, S.66.
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sche Gefühls-Sprach-Muster sowie um Konnotations-, Klang-, Rhythmus- und Melodiefärbungen gehöre.91 Der Ansatz klingt vielversprechend, doch ist es nicht Alfes’ Anliegen, die Wissensrahmen am Einzelbeispiel zu konkretisieren. Da sie keine Textanalysen durchführt, sondern Leser befragt, bestehen ihre Ergebnisse in allgemeinen Aussagen zu Produktion und Rezeption. Darüber hinaus erfasst Alfes das Gefühl als rein kognitives Phänomen,92 indem sie allein seine Informationsdimension betont: Demnach schreibt der Autor das Affektwissen in den Text hinein, während es der Rezipient wieder herausliest. Diese Konzeption erfasst lediglich diejenigen Gefühle, die literarische Texte inhaltlich behandeln. Dennoch besteht ein Unterschied, ob der Leser einfach nur weiß, dass die Figuren Emotionen empfinden, oder, ob er selbst affektiv bei der Lektüre angesprochen wird. Die Erlebnisdimension, die für den Partizipationsgedanken fundamental ist, bleibt in Literatur und Gefühl weitgehend außer Acht. Einen der ersten textzentrierten Ansätze zur Erforschung von erlesenen Emotionen legt Simone Winko mit Kodierte Gefühle vor. Ihr Ziel besteht in der Entwicklung eines Instrumentariums zur Erfassung von Emotionen in literarischen Texten und in Reaktion darauf, so dass das Forschungsinteresse sowohl der Thematisierung als auch dem Ausdruck gilt. Winko argumentiert zwar, dass eine fundierte wissenschaftliche Analyse von Rezipientengefühlen möglich sei, weil diese auf gesellschaftlich geteiltem Wissen beruhten;93 gleichzeitig aber wird dieser Kulturalität nur bedingt Rechnung getragen, indem sich die Analysen fast ausschließlich auf die Untersuchung textueller Daten beschränken. Die Argumentation zieht sich immer wieder auf die von den Gedichten dargestellten Emotionen zurück, indem sie nach ihrer Prototypik, ihrer Attribuierbarkeit zu Figuren oder ihrer sprachlichen Manifestation fragt. Nur ein kleiner Teil der Publikation, der sich mit dem Zweck von Emotionen an literarischen Texten beschäftigt94, hat explizit die Empfindungen des Rezipienten bei der Lektüre im Blick.
91 Vgl. Alfes, Henrike: Literatur und Gefühl. Emotionale Aspekte literarischen Schreibens und Lesens, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 1995, S.148. 92 Vgl. In dieser Hinsicht ist Alfes’ Ansatz mit Wolfgang Isers Leerstellenkonzept vergleichbar, da Emotionen in beiden Fällen als kognitives Faktum betrachtet werden. Über inhaltliche oder stilistische Inkohärenzen kann dem Leser angezeigt werden, dass die Figur Gefühle empfindet. Von einer Übertragung der Emotionen auf den Leser ist jedoch keine Rede. 93 Vgl. Winko, Simone: Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900, Berlin: Schmidt, 2003, S.15. 94 Vgl. ebd., S.130.
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Ähnlich gelagert ist der Fall für Burkhard Meyer-Sickendieks Affektpoetik, einer Monographie, die sich dem Zusammenhang zwischen Gattung und Gefühlen widmet. Erstere werden dabei als Medium verstanden, in dem „sich menschliche Affekte artikulieren, transformieren und kanalisieren“95. So tendiere die Elegie zur Trauer, die Hymne zum Enthusiasmus, das Melodrama zur Sehnsucht, das Märchen zur Angst, die Utopie zur Hoffnung, die Satire zur Aggression etc.96 Etwas problematisch an dem Ansatz ist, dass Gefühle zwar ausgiebig thematisiert werden, jedoch ohne Präzisierung, wem diese zuzuschreiben sind. Dem realen oder impliziten Rezipienten? Dem Autor? Den Figuren? Die Publikation scheint dieser Frage auszuweichen, weshalb sie sich auf die Stereotypisierung der Gattungen zurückziehen und mit der Argumentation auf makrostruktureller Ebene verhaftet bleiben muss. Die besprochenen Publikationen kommen dem Partizipationsgedanken nur in Ansätzen nahe und sind insofern symptomatisch für ein vorsichtiges literaturwissenschaftliches Herantasten an die Gefühle.97 Dementsprechend meint Thomas Anz in seinem Artikel „Emotional turn?“ eine Inkonsequenz in ihnen zu erkennen: Schwerpunktmäßig würden Thematisierungen und Darstellungen von Gefühlen sowie ihre „historische[n] Rekonstruktionen kultureller Bewertungen und Repräsentationsformen“ behandelt, während die von Texten evozierten Emotionen bislang im Abseits blieben: Literaturwissenschaftliche Konzepte, die dominant textorientiert und zugleich an Standards wissenschaftlicher Rationalität orientiert sind, scheinen im Gegensatz zu empirischen Literaturwissenschaftlern eine geradezu phobische Scheu vor Aussagen über Emotionen realer Personen zu haben. Jedenfalls nehmen sie bei ihren Analysen der Zusammenhänge von Literatur und Emotionalität systematische Begrenzungen vor, die Emotionen von realen Autoren und Lesern mehr oder weniger konsequent ausklammern.98
Die Veröffentlichungen zum Thema ‚Gefühl‘ bleiben vor allem im methodischen Bereich meist undefiniert und zurückhaltend oder schöpfen dessen Potenzial nicht vollständig aus, indem sie den Bereich der Partizipation hintanstellen.
95 Meyer-Sickendiek, Burkhard: Affektpoetik. Eine Kulturgeschichte literarischer Emotionen, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2009, S.9. 96 Ebd., S.12. 97 Vgl. Steinhauer, Lydia: Involviertes Lesen. Eine empirische Studie zum Begriff und seiner Wechselwirkung mit literarästhetischer Urteilskompetenz, Freiburg: Fillibach, 2010, S.169. 98 Anz, Thomas: „Emotional turn? Beobachtungen zur Gefühlsforschung“, in: (19.02.2014).
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Diese Angst vor dem Gefühl lässt sich eventuell mit der Unklarheit seiner Bedeutung begründen: Traditionell wird das Gefühl als innerliches, subjektives Phänomen verstanden. Auch heute noch definieren manche Forscher in Psychologie oder Neurowissenschaften Emotionen separat von Kognitionen. So sieht sie etwa Joseph LeDoux in Das Netz der Gefühle als rein physiologisches Signal, das dem Organismus das Überleben erleichtert.99 Dieses bilde sich häufig ohne vorherige geistige Verarbeitung aus, etwa im Fall einer programmierten Fluchtreaktion, die bereits vollzogen sei, bevor kognitive Prozesse überhaupt einsetzten. Diese sogenannten ‚Affektprogramme‘ unterlägen geregelten Abläufen mit fixen Auslösern und körperlichen Reaktionen, die schnell, unbewusst und unwillkürlich aufträten.100 Dass sich eine solche Definition für eine Beschäftigung mit Rezipientenemotionen an narrativen Texten wenig eignet, liegt auf der Hand: Wenn das Gefühl etwas Instinktives ist, gestaltet es sich schwierig, seine Rolle für die Literatur rechtfertigen. Schließlich entbehrt diese als kulturelles Erzeugnis, mit dem der Umgang erst im Laufe der Sozialisation erlernt werden muss, der Spontaneität und Unmittelbarkeit von Affektprogrammen. Wenn Gefühle als unbewusst und vorrationell gelten, kann sich eine auf Verstehen gegründete Disziplin wie die Literaturwissenschaft kaum einen Zugang zu ihnen eröffnen: alle Aussagen müssen rein spekulativer Natur bleiben. Daher die Reserve angesichts der Emotion als unsicherem Forschungsgegenstand und daher auch die verbreitete Meinung, allein die empirische Literaturwissenschaft könne sich ihrer guten Gewissens annehmen: Gefühle könnten, da sie vorbewusst seien, höchstens über physiologische Messungen zugänglich gemacht werden, indem ein Kausalzusammenhang zwischen Gelesenem und dem Ausschlag von Maschinen hergestellt werde.101 Allerdings ist die Definition des Gefühls als physiologische Reaktion heutzutage umstritten und erfährt vielfach Kritik. Kognitivistische Ansätze betrachten dieses als intentionale und rationale Phänomene, da sie mit Überzeugungen, Urteilen und Wertungen verbunden seien und über diese erfasst werden könnten. William Lyons beispielsweise hebt hervor, Gefühle würden nicht durch ihre Objekte oder Ziele bestimmt, sondern durch die Einstellung des Subjekts zu diesem.102 Es ist also nicht die Axt in der Hand des Mörders, die Furcht auslöst, sondern das Wissen darum,
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Vgl. LeDoux, Joseph: Das Netz der Gefühle. Wie Emotionen entstehen, München: Dtv, 2001, S.57.
100 Vgl. Hartmann, Martin: Gefühle. Wie die Wissenschaften sie erklären, Frankfurt: Campus, 2005, S.119. 101 Vgl. Herrmann, Karin: „Neuroästhetik. Fragen an ein interdisziplinäres Forschungsgebiet“, in: Dies. (Hrsg.): Neuroästhetik. Perspektiven auf ein interdisziplinäres Forschungsgebiet, Kassel: University Press, 2011, S.8. 102 Vgl. Lyons, William: Emotions, Cambridge: University Press, 1980, S.48.
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was diese anrichten kann. Das Gefühl ist demnach eine Stellungnahme, mittels derer die Wirklichkeit erst konstituiert wird. Es entsteht – wie Martin Hartmann betont – nicht isoliert im Individuum, sondern als Aushandlungsprozess, in dem sich zwei Instanzen gegenseitig wahrnehmen und sich mittels der kommunizierten Gefühle aufeinander abstimmen.103 Diese Definition begünstigt die Erforschung von erlesenen Gefühlen weitaus mehr als die erste: Auch virtuelle Erlebnisse wie die der Romanlektüre können affektive Erfahrungen erzeugen, wenn ihr Zweck in der Interaktion und nicht im survival of the fittest liegt. Außerdem kann das Gefühl auf eine solidere Forschungsbasis gestellt werden, wenn es als Wertungsphänomen auf Wissensstrukturen beruht, die innerhalb einer bestimmten sozialen Gemeinschaft intersubjektive Konstanz besitzen, und nicht auf einem simplen ReizReaktionsschema.104 Wenn der affektive Zustand des Rezipienten nicht vom Inhalt des Texts abhängt, sondern von dessen Wahrnehmung, tritt die Ebene der kulturellen Konvention zwischen beide und verschafft als vermittelndes Scharnier wissenschaftliche Operabilität. Der Ausgangspunkt ist folglich, wie Manfred Clemenz in Affekt und Form konstatiert, der Blick des Lesers, der bei der Durchdringung des Texts Emotionen produziert.105 Es hat sich gezeigt, dass in den Literaturwissenschaften bislang zwar gewisse Berührungsängste mit dem Rezipientengefühl bestehen, diese aber durch eine kognitionsorientierte Begriffsdefinition abgebaut werden können. Theoretische und praktische Annäherungen an die Emotionalisierung des Lesers106 versucht etwa Katja Mellmann, die in „Gefühlsübertragung?“ die Notwendigkeit unterstreicht, sich nicht auf den Text als Forschungsgrundlage zu beschränken, sondern psychologische und kognitionswissenschaftliche Ergebnisse über das Lesen und die Wahrnehmung von Wirklichkeit in die Analyse einzubeziehen. Emotionen könnten nur greifbar gemacht werden, wenn man verstehe, wie sie den Rezipienten innerlich
103 Vgl. Hartmann, Martin: Gefühle. Wie die Wissenschaften sie erklären, Frankfurt: Campus, 2005, S.94. 104 Vgl. Wege, Sophia: Wahrnehmung, Wiederholung, Vertikalität. Zur Theorie und Praxis der Kognitiven Literaturwissenschaft, Bielefeld: Aisthesis, 2013, S.167. 105 Vgl. Clemenz, Manfred: Affekt und Form. Ästhetische Erfahrung und künstlerische Kreativität, Gießen: Psychosozial-Verlag, 2010, S.121. 106 Sandra Poppe unterscheidet in „Emotionen in Literatur und Film“ zwischen ‚Emotionsvermittlung‘ und ‚Emotionalisierung‘. Erstere bezeichnet eine Leserlenkung, die vom Text ausgeht, zweitere meint die tatsächliche oder mögliche Reaktion des Rezipienten, seine Verarbeitungs- und Erlebensprozesse bei der Rezeption (vgl. Poppe, Sandra: „Emotionsvermittlung und Emotionalisierung in Literatur und Film Eine Einleitung“, in: Dies. (Hrsg.): Emotionen in Literatur und Film, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2012, S.10.).
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bewegten.107 Eine Anwendung ähnlicher Überlegungen auf die Poesie vollzieht Burkhard Meyer-Sickendiek mit Lyrisches Gespür: Über den semantischen Gehalt einzelner Wörter, über Atmosphären sowie über den Rhythmus, also die Abfolge von Atempausen, Kommata und metrischen Auffälligkeiten würden beim Leser Emotionen hervorgerufen.108 3.1.2.2 Gefühlserleben an narrativen Texten 3.1.2.2.1 Figuren- und Lesergefühle Im alltäglichen Sprechen über Literatur zögert man als Leser nicht, Figuren Emotionen zuzuschreiben, als wären sie Personen mit einer komplexen Psychologie. „Mme Bovary hat sich vor ihrem Ehebruch furchtbar gelangweilt“ oder „Marcel war beim Tod seiner Großmutter völlig am Boden zerstört“, konstatiert man, ohne sich darüber zu wundern, wie sich Wörter in Gefühle verwandeln. Beginnt man das Thema aber zu reflektieren, so wird ersichtlich, dass eine Emotion für eine Figur nur dann konstatiert werden kann, wenn diese dem Rezipienten beim Lesen in irgendeiner Form erscheint und er sie selbst erlebt. Wie Derek Matravers in Art and Emotion herausstreicht, muss die Repräsentation „cause in the reader an experience which is appropriately related to the one he would have were he confronted with the situation“109. Nur wenn er die Gefühle anstelle der Figur realisiert, werden diese existent. Der Rezipient kann also, um sich affektiv an einem Text zu beteiligen, nicht umhin, der Figur auf Basis seiner empathischen Fähigkeiten einen mentalen Zustand zuweisen.110 Wie dies im Detail vonstattengeht, soll mittels Textanalysen geklärt werden.111 Der Thematik wird sich über die Analyse eines Ausschnitts aus Marcel Prousts La prisonnière genähert:
107 Vgl. Mellmann, Katja: „Gefühlsübertragung? Zur Psychologie emotionaler Textwirkungen“, in: Kasten, Ingrid (Hrsg.): Machtvolle Gefühle, Berlin: de Gruyter, 2010, S.110f. 108 Vgl. Meyer-Sickendiek, Burkhard: Lyrisches Gespür. Vom geheimen Sensorium moderner Poesie, München: Fink, 2012, S.24f. 109 Matravers, Derek: Art and Emotion, Oxford: Claredon Press, 1998, S.66. 110 Vgl. Altmann, Ulrike/Bohm, Isabel/Lubrich, Oliver/Menninghaus, Winfried/Jacobs, Arthur: „The Power of Emotional Valence – From Cognitive to Affective Processes in Reading“, in: Frontiers in Human Neuroscience, 6 (Juni 2012), (19.02.2014). 111 Die nachfolgenden Beispiele stehen alle in irgendeiner Form in Verbindung mit der Emotion ‚Eifersucht‘. Die Entscheidung für sie fiel, weil es sich dabei um ein relativ komplexes, in sich widersprüchliches Gefühl mit gut nachvollziehbarer Struktur handelt. Die Ergebnisse der Analysen sind aber auf andere Emotionen übertragbar.
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Quand Albertine revint dans ma chambre, elle avait une robe de satin noir qui contribuait à la rendre plus pâle, à faire d’elle la Parisienne blême, ardente, étiolée par le manque d’air, l’atmosphère des foules et peut-être l’habitude du vice, et dont les yeux semblaient plus inquiets parce que ne les égayait pas la rougeur des joues. „Devinez, lui dis-je, à qui je viens de téléphoner: à Andrée. – À Andrée?“ s’écria Albertine sur un ton bruyant, étonné, ému, qu’une nouvelle aussi simple ne comportait pas. „J’espère qu’elle a pensé à vous dire que nous avions rencontré Mme Verdurin l’autre jour. – Mme Verdurin? je ne me rappelle pas“, répondis-je en ayant l’air de penser à autre chose, à la fois pour sembler indifférent à cette rencontre et pour ne pas trahir Andrée qui m’avait dit où Albertine irait le lendemain. Mais qui sait si elle-même, Andrée, ne me trahissait pas, si demain elle ne raconterait pas à Albertine que je lui avais demandé de l’empêcher coûte que coûte d’aller chez les Verdurin, et si elle ne lui avait pas déjà révélé que je lui avais fait plusieurs fois des recommandations analogues? Elle m’avait affirmé ne les avoir jamais répétées, mais la valeur de cette affirmation était balancée dans mon esprit par l’impression que depuis quelque temps s’était retirée du visage d’Albertine la confiance qu’elle avait eue si longtemps en moi. [1] La souffrance dans l’amour cesse par instants, mais pour reprendre d’une façon différente. Nous pleurons de voir celle que nous aimons ne plus avoir avec nous ces élans de sympathie, ces avances amoureuses du début, nous souffrons plus encore que, les ayant perdus pour nous, elle les retrouve pour d’autres; [2] puis de cette souffrance-là nous sommes distraits par un mal nouveau plus atroce, le soupçon qu’elle nous a menti sur la soirée de la veille, où elle nous a trompés sans doute; ce soupçon-là aussi se dissipe, la gentillesse que nous montre notre amie nous apaise; mais alors un mot oublié nous revient à l’esprit, on nous a dit qu’elle était ardente au plaisir, or nous ne l’avons connue que calme; nous essayons de nous représenter ce que furent ses frénésies avec d’autres, nous sentons le peu que nous sommes pour elle, nous remarquons un air d’ennui, de nostalgie, de tristesse pendant que nous parlons, nous remarquons comme un ciel noir les robes négligées qu’elle met quand elle est avec nous, gardant pour les autres celles avec lesquelles au commencement, elle cherchait à nous éblouir. Si au contraire elle est tendre, quelle joie un instant! mis en voyant cette petite langue tirée comme pour un appel des yeux, nous pensons à celles à qui il était si souvent adressé que, même peut-être auprès de moi, sans qu’Albertine pensât à elles, il était demeuré, à cause d’une trop longue habitude, un signe machinal. Puis le sentiment que nous l’ennuyons revient. Mais brusquement cette souffrance tombe à peu de chose en pensant à l’inconnu malfaisant de sa vie, aux lieux impossibles à connaître où elle a été, est peut-être encore dans les heures où nous ne sommes pas près d’elle, si même elle ne projette pas d’y vivre définitivement, ces lieux où elle est loin de nous, pas à nous, plus heureuse qu’avec nous. [3] Tels sont les feux tournants de la jalousie. [4]112
112 Proust, Marcel: La Prisionnière, Paris: Gallimard, 2010, S.93f.
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Die Passage konzentriert sich inhaltlich auf den Eifersuchtsanfall des Protagonisten. Dabei lassen sich vier verschiedene Formen der Gefühlsgegenwart ausmachen, die beim Leser ein unterschiedlich intensives Mitempfinden hervorrufen können. Sie sind durch Ziffern im Text markiert und sollen zunächst isoliert voneinander betrachtet werden. Den schwächsten Eindruck von Eifersucht erreicht Abschnitt [4]. Das mag damit zusammenhängen, dass es sich hierbei um die direkte und kurze Qualifizierung des affektiven Zustands über ein Gefühlswort handelt. Sicherlich ist ‚jalousie‘ für den Leser mit einem gewissen gesellschaftlichen, aber auch individuellen Erlebniswert verbunden, den er im Moment der Lektüre abruft und der für eine entsprechende Atmosphäre sorgt.113 Ein besonderer Nachdruck ist mit dieser direkten Nennung des Gefühls allerdings nicht verbunden: Man wird als Leser nicht rasend vor Eifersucht, nur weil das Wort ‚jalousie‘ fällt. Schwerer wiegt wohl die Metapher „les feux tournants“, die die emotionale Tönung der Passage um die Konnotationen dieser beiden Wörter erweitert: ‚Feu‘ impliziert Hitze und Gefahr, ‚tournants‘ vermittelt Dynamik – ein fortgeschrittener Wert auf der Skala der emotionalen Intensität. Insofern intensiviert die begleitende Trope die Wirkung von ‚jalousie‘. Die Worte interagieren miteinander, so dass ein affektives Netz entsteht.114 Neue Perspektiven bietet der Vergleich mit Abschnitt [2]. Hier wird der Gefühlszustand nicht direkt genannt, sondern umschrieben. Der Erzähler liefert eine allgemeine Definition der Eifersucht, ohne die Emotion selbst zu nennen, er bindet sie an eine Situation und gewährt dadurch mehr Spielraum für die Konstruktion eines Vorstellungsbilds. Dennoch bleibt auch hier die Eifersucht nur vage definiert. Schließlich handelt es sich um eine Aufsplitterung des Gefühls in Einzelkomponenten: Die zentralen Begriffe – „souffrance“, „amour“, „sympathie pour d’autres“ – stellen selbst Affektbezeichnungen dar und erreichen damit wiederum nur eine be-
113 Monika Schwarz-Friesel geht in Sprache und Emotion davon aus, dass die sprachliche Gestaltung eines Texts beim Rezipienten Gefühle erzeugen und im Extremfall eine identifikatorische Beziehung zwischen ihm und den beschriebenen Personen herstellen könne. Möglich sei dies durch das gemeinsame Weltwissen, das allen Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft zugänglich sei (vgl. Schwarz-Friesel, Monika: Sprache und Emotion, Tübingen: Francke, 2007, S.213.). 114 Die Metapherntheorie, die einer partizipationsorientierte Erforschung von Literatur am nächsten kommt, ist aufgrund ihres performativen Charakters die kognitive Interaktionstheorie im Sinne Bipins (vgl. Indurkhya, Bipin: Metaphor and Cognition. An Interactionist Approach, Dordrecht: Kluver, 1992.). Die Hierarchisierung, die den Bezeichnungen ‚Bildspender‘ und ‚-empfänger‘ der Substitutionstheorien inhärent ist, mag sich für bedeutungszentrierte Ansätze eignen; im Kontext der Erforschung der Partizipation jedoch ist eine Theorie von Vorteil, die eine Verarbeitung der Bilder durch den Leser voraussetzt.
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schränkte Konkretheit in der Vorstellung des Lesers.115 Darüber hinaus besteht – wie in [4] – keinerlei Verbindung zur persönlichen Situation des Protagonisten. Die Verwendung des Personalpronomens ‚nous‘ referiert nicht auf spezifische Figuren, sondern suggeriert die Universalität der Emotion. Es handelt sich um eine allgemeine Darstellung der Eifersucht, um eine distanzierte Reflexion in berichtendem Stil. Eine Kongruenz von Figuren- und Leseremotion steht schon deshalb nicht zur Debatte, weil die beiden Abschnitte isoliert betrachtet niemanden enthalten, an den sich das thematisierte Gefühl knüpfen könnte. Die Eifersucht bleibt eher eine diffuse Atmosphäre, so dass der Rezipient nur ansatzweise affektiv erfasst werden mag. Eine weitere Stufe der gefühlsmäßigen Implikation scheint in Absatz [3] erreicht. Hier setzt der Erzähler zwar seinen unpersönlichen Diskurs mit dem Personalpronomen der 1. Person Plural fort, behält seinen objektiven Ton bei und nennt auch weiterhin Gefühlszustände, die mit Eifersucht in Verbindung stehen („soupçon“, „gentillesse“, „plaisir“, „ennui“, „nostalgie“, „tristesse“, „joie“); dies sind jedoch nicht nur solche, die das Subjekt der Eifersucht empfindet, sondern auch solche, die das Objekt betreffen. Durch den alternierenden Fokus auf die Aktion der Frau und die Reaktion ihres Partners und den damit einhergehenden Wechsel der Nachvollzugsposition beim Lesen kann der Eindruck der Interaktion der beiden Individuen entstehen. Darüber hinaus konkretisiert sich die Emotion eventuell dadurch, dass die Sympathie der Frau für andere Männer anhand ausgewählter Beispiele veranschaulicht wird („les robes négligées […] nous éblouir“, „en voyant cette petite langue […] un signe machinal“). Eine erhöhte Emotionalität mag außerdem dadurch erreicht werden, dass der Erzähler mehrmals seinen universalisierenden Diskurs durchbricht und Elemente aus seiner persönlichen Geschichte einfließen lässt. So nennt er an einer Stelle, statt wie sonst das neutrale ‚elle‘ Albertines Namen, wodurch diese als Figur Präsenz erreicht. Darüber hinaus integriert sein Erzählstil Signale der Emotionalität. Das Ausrufezeichen von „quelle joie un instant!“ fungiert als visuelles Zeichen für die Erregung der Figur, die sich auf den Rezipienten übertragen kann.116 Insofern befindet sich der dritte Abschnitt auf der Schwelle zu einer vielschichtigen Partizipation.
115 Gefühlswörter dienen, so Monika Schwarz Friesel, der Thematisierung von Affekten, sie besitzen jedoch kein emotionalisierendes Potenzial. Dieses sei eher Interjektionen, Wörtern mit intensiven Konnotationen, der Syntax sowie der Rhetorik (hierunter besonders Vergleichen und Metaphern) zuzuweisen (vgl. Schwarz-Friesel, Monika: Sprache und Emotion, Tübingen: Francke, 2007, S.213.). 116 Das ‚!‘ ist ein konventionalisiertes Zeichen zum Anzeigen von Gefahr und tritt in Situationen auf, die eine erhöhte Konzentration des Individuums verlangen. Insofern ist mit ihm ein gewisser Emotionswert verknüpft, den es auch als Satzzeichen nicht verliert.
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Der erste Teil des Texts [1] schließlich ermöglicht die affektive Annäherung an die Figur am stärksten. Der Leser kann hier Albertine und Marcel in einer greifbaren Interaktionssituation beobachten, in der das Ich die typischen Symptomen der Eifersucht aufweist: Es konzentriert seine Aufmerksamkeit verstärkt auf Albertines Aussehen und ihre Reaktionen, wobei es Details als Indizien für ihre Untreue auslegt (das schwarze Kleid als Zeichen ihrer Lasterhaftigkeit, ihre Reaktion auf das Telefonat als verborgene Bedrängnis). Der in den anderen Passagen eher distanzierte Erzähler ist nun nicht von der subjektiven Perspektive der Figur zu trennen, so dass auch der Leser nicht klar beurteilen kann, ob Albertine den Protagonisten wirklich betrügt oder ob er sich dies einbildet. Einerseits suggeriert der Erzählstil die Verlässlichkeit der Informationen, andererseits charakterisieren sein Argwohn auch gegenüber Andrée, seine mauvaise foi („ayant l’air de penser à autre chose“) sowie der Verhörcharakter des Gesprächs den Erzähler als überempfindlich. Diese Widersprüche verschleiern die Legitimität des Verdachts bzw. die eindeutige Bestimmung einer unreliable narration, so dass sich der Rezipient in diesem Abschnitt in der gleichen Position wie die Hauptfigur befindet: Nicht wissend, ob er Albertine des Betrugs bezichtigen muss, schwankt er ebenso wie das von Eifersucht geplagte Ich zwischen Mitgefühl und Misstrauen ihr gegenüber. Die Anpassung der Informationsvergabe an den Wissensstand der fühlenden Figur bewirkt eine Parallelisierung des Lesers mit ihr. Der besprochene Abschnitt enthält insofern vier Intensitätsstufen der Emotionserfahrung: Die ‚Gefühlsbenennung‘ mag eine eher geringe emotionale Beteiligung beim Leser hervorrufen. Mit der ‚allgemeinen Gefühlsbeschreibung‘, der ‚personalisierten Gefühlsbeschreibung‘ und der ‚Gefühlsübertragung anhand einer konkreten Interaktionssituation‘ jedoch nimmt diese zu.117 Es lässt sich festhalten, dass die affektive Intensität des Lektüreeindrucks mit der Situationsbezogenheit der Inhalte steigt: Wird eine Emotion nur allgemein verhandelt, so ergeben sich weniger Anknüpfungspunkte zur Partizipation, als wenn diese exemplarisch von den Figuren vorgeführt wird. Maximale Beteiligung wird in einer ausdifferenzierten Interaktionssituation möglich, die sich an die Wahrnehmung der fühlenden Figur anlehnt.
117 Diese Kategorisierung möglicher Emotionserfahrungen entspricht derjenigen Reinhard Fiehlers: Auch er unterscheidet zwischen Emotionsbenennungen und -beschreibungen, wobei letztere in deklarativer oder metaphorischer Form vorgebracht werden können (vgl. Fiehler, Reinhard: „Wie kann man über Gefühle sprechen? Sprachliche Mittel zur Thematisierung von Erleben und Emotionen“, in: Ebert, Lisanne/Gruber, Carola/Meisnitzer,
Benjamin/Rettinger,
Sabine
(Hrsg.):
Emotionale
Grenzgänge.
Konzeptualisierungen von Liebe, Trauer und Angst in Sprache und Literatur, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2011, S.22f.). Unerwähnt bleibt jedoch die Möglichkeit der Gefühlsübertragung.
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Als Kriterium für die Anschaulichkeit der Gefühlserfahrung wurde bereits die Bindung der Beschreibung an die Figuren genannt, doch sie hängt nicht nur von dieser ab. Bei der Analyse der vorliegenden Passage fällt eine Variation der vier Abschnitte hinsichtlich der Detailfülle, mit der die Gefühlssituation geschildert wird, auf. Eine Zusammenschau der Wörter, mit denen der Erzähler das Objekt seiner Eifersucht belegt, ergibt Folgendes: Tabelle 3: Wörter zur Bezeichnung des Objekts der Eifersucht [1]
Albertine, robe de satin noir, pâle, Parisienne blême, ardente, étiolée, le manque d’air, l’atmosphère des foules, l’habitude du vice, les yeux inquiets, rougeur des joues, un ton bruyant, étonné, ému, retirer la confiance
[2]
elle
[3]
elle, menti, trompés, gentillesse, ardente au plaisir, frénésies, un air d’ennui, nostalgie, de tristesse, robes négligées, tendre
[4]
-
Die Anzahl der Attribute, mit denen Albertine belegt ist, steigt proportional zur Konkretheit der Nachvollzugssituation, so dass eine Korrelation zwischen ihnen und der affektiven Beteiligung des Lesers anzunehmen ist. Je mehr Details eine Szene enthält, desto mehr Aufmerksamkeit wird ihr vom Rezipienten zuteil und desto präsenter erscheint sie vor dessen geistigem Auge. Hier kann ähnlich wie für die Atmosphäre festgestellt werden, dass ein Plus an Beschreibung zwar nicht unbedingt informativen Mehrwert birgt, jedoch die Vorstellung verlebendigt und so die Gegenwärtigkeit der Eifersucht steigert.118 Doch das Gefühlserlebnis variiert nicht nur hinsichtlich seiner Extension, sondern auch hinsichtlich seiner Intension; sprachliche Äußerungen übermitteln nicht nur einen Sachverhalt, sondern auch eine Emotion. Sie lösen, wenn sie in einem Text auftauchen, laut Claudia Hillebrandt in Das emotionale Wirkungspotenzial von Erzähltexten, automatisch affektiv getönte Vorstellungen aus.119 So ist beispielsweise das schwarze Satinkleid – wie Jean-Pierre Richard in Proust et le monde sensible
118 In diesem Sinne schreibt Christoph Bode, „die wirkungsvollste Weise, eine Figur zu charakterisieren ist, sie in Aktion zu zeigen, sie unvermittelt zu präsentieren, so dass der Rezipient sie sozusagen direkt kennenlernt und sich selbst ein Bild von ihr machen kann“ (Bode, Christoph: Der Roman. Eine Einführung, Stuttgart: Francke, 2005, S.132.). Die Menge der Detailangaben zur Figur trägt hierzu wohl entscheidend bei. 119 Vgl. Hillebrandt, Claudia: Das emotionale Wirkungspotenzial von Erzähltexten. Mit Fallstudien zu Kafka, Perutz und Werfel, Berlin: Akademie, 2011, S.76f.
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herausstreicht – erotisch konnotiert: Die Farbe, die Leichtigkeit und der Glanz des Stoffs stünden mit Verführung in Verbindung und luden zum Berühren ein.120 Proust unterstreicht diesen Emotionswert, indem er Elemente der gleichen Isotopie („ardente“, „vice“) beifügt und so ein Geflecht der Sinnlichkeit spinnt. Das Zusammenspiel einzelner Wörter im Bewusstsein des Lesers kann also eine Tönung des Erlebnisfeldes hervorrufen, so dass sich bereits eine Idee der Eifersucht der Figuren auf ihn überträgt. Darüber hinaus spielt wie bei der Atmosphäre die sinnliche Erfahrung für die gefühlsmäßige Partizipation eine entscheidende Rolle, was sich für La prisionnière in der globalen Betrachtung der Passage feststellen lässt: Die vier oben herausgearbeiteten Gefühlsintensitäten werden bei der Lektüre nicht isoliert voneinander, sondern sukzessiv wahrgenommen. Die dynamische Gesamtstruktur des Paragraphen kann, indem sie verschiedene Grade der Gefühlsinszenierung und damit der emotionalen Beteiligung integriert, beim Rezipienten ein Schwanken zwischen Involviert- und Distanziertheit hervorrufen.121 Dabei handelt es sich um eine Bewegung, die charakteristisch für die Eifersucht ist: Das Subjekt ist zwischen starker emotionaler Erregung ob seiner Verlustangst, seiner Rachegedanken, seines Hasses und den Zweifeln, ob diese nicht eingebildet und übertrieben sind, hin und her gerissen.122 Indem der Leser diesen Rhythmus vollzieht, wird er letztendlich in die affektive Disposition des Protagonisten versetzt. Das Kommen und Gehen der Intensität der Beteiligung imitiert ikonisch den Gefühlszustand des eifersüchtigen Ichs, das um einen neutralen Blick und Abstraktion bemüht wiederholt von seinen Anfällen übermannt wird. Indem der Leser die Bewegung der Eifersucht verspürt und bei der imaginierenden Realisierung mit dem Inhalt des Texts verbindet, kann er zumindest teilweise das Gefühl des eifersüchtigen Partners mitempfinden.123
120 Vgl. Richard, Jean-Pierre: Proust et le monde sensible, Paris: Seuil, 1974, S.58. 121 Rainer Warning streicht die „Dynamik, die die stilistische Kontinuität sprengt“, als Charakteristikum von Prousts Stil heraus. Im Gegensatz zu Flaubert kopple die Recherche ihre Perspektive nicht an Gegenstände, sondern moduliere den Text entsprechend eines subjektiven affektiven Gehalts (vgl. Warning, Rainer: Proust-Studien, München: Fink, 2000, S.62.). 122 Auf den rhythmischen Charakter der Eifersucht zwischen Zärtlichkeit und Wut, Unschuld und Laster weist auch Julia Kristeva in Le temps sensible hin. Der Takt des Kommen und Gehens der Anfälle des Protagonisten belebe und animiere die Lektüre (vgl. Kristeva, Julia: Le temps sensible. Proust et l’expérience littéraire, Paris: Gallimard, 1994, S.105.). 123 Insofern gleicht die Partizipation in diesem Fall einer immersion im medienwissenschaftlichen Sinne, die sich als „sensation of being surrounded by a completely other reality that takes over all of our attention, our whole perceptual apparatus“ definiert
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Insofern ermöglichen Romane auf zwei Arten die Partizipation an Gefühlen: Indem sie diese erstens über den sprachlichen Emotionswert evozieren und indem sie den Rezipienten über die ikonische Qualität des Lektürerhythmus in eine ähnliche emotionale Lage versetzen wie die Figur. Prinzipiell ist es möglich, dass das Gefühlserleben aus diesen beiden Formen divergiert, ein und derselbe Abschnitt kann gleichzeitig emotionale Kühle und auf einer allgemeineren Ebene Involviertheit evozieren. Eben hierin liegt der ästhetische Reiz der Recherche, wie Hans Ulrich Gumbrecht formuliert: „Gerade diese Spannung macht wohl die fortdauernde Faszination durch Prousts Werk aus, um derentwillen wir die Recherche klassisch nennen: Sie kommt der Sehnsucht nach dem Erleben von Körper und materieller Umwelt entgegen, aber sie hält zugleich als Buch Körper und Umwelt auf literarischer Distanz.“124 3.1.2.2.2 Lektürerhythmus und affektive Beteiligung Der Analyse zu La prisionnière hat gezeigt, dass literarische Texte Gefühle auf unterschiedliche Weise in Szene setzen können und dass die emotionalste Möglichkeit hierfür in ihrer sinnlichen Erfahrung mittels des Lektürerhythmus besteht. Im Folgenden wird diese zur Auslotung des Spektrums ihrer Ausprägungen auf den einzelnen Romanebenen etwas genauer unter die Lupe genommen. Die Beispiele hierfür entstammen Ernesto Sabatos El Túnel – einem Text, der sich durch hohe Gefühlsamplituden und plötzliche Affektumschläge auszeichnet, da er die krankhaft werdende Eifersucht des Protagonisten gegenüber seiner Geliebten María als Geständnis,125 in der Zerrissenheit zwischen erzählendem und erlebendem Ich, inszeniert, und dem von der Sekundärliteratur eine „honda introspección y de crear un personaje de carne y hueso que arrastra al lector a su propio abismo“126 attestiert wird. Beim ersten Ausschnitt handelt es sich um eine Szene, in der sich der Protagonist nach einem Streit von Schuldgefühlen geplagt verzweifelt auf die Suche nach María macht:
(vgl. Murray, Janet: Hamlet on the Holodeck. The Future of Narrative in Cyberspace, Cambridge: MIT Press, 1997, S.98.). Indem der Abschnitt den Wahrnehmungsapparat des Lesers anspricht und dem dargestellten Inhalt entsprechend in Beschlag nimmt, wird affektive Partizipation möglich. 124 Gumbrecht, Hans Ulrich: „Wie sinnlich kann Geschmack in der Literatur sein?“, in: Kapp, Volker (Hrsg.): Marcel Proust. Geschmack und Neigung, Tübingen: Stauffenburg, 1989, S.121. 125 Für ausführlichere Überlegungen zum Geständnis siehe Kapitel 3.3.2.2. 126 Negra, Joaquín: Ernesto Sabato por Joaquin Negra, Buenos Aires: Ediciones Culturales, 1983, S.74.
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Corrí a la calle, pero María ya no se veía por ningún lado. Corrí a su casa en un taxi, porque supuse que ella no iría directamente y, por lo tanto, esperaba encontrarla a su llegada. Esperé en vano durante más de una hora. Hablé por el teléfono desde el café: me dijeron que no estaba y que no había vuelto desde las cuatro (la hora en que había salido para mi taller). Esperé varias horas más. Luego volví a hablar por teléfono: me dijeron que María no iría a la casa hasta la noche. Desesperado, salía a buscarla por todas partes, es decir, por los lugares en que habitualmente nos encontrábamos o caminábamos: la Recoleta, la Avenida Centenario, la Plaza Francia, Puerto Nuevo. No la vi por ningún lado, hasta que comprendí que lo más probable era, precisamente, que caminara por cualquier parte menos por los lugares que le recordasen nuestros mejores momentos. Corrí de nuevo hasta su casa, pero era muy tarde y probablemente ya hubiera entrado. Telefoné nuevamente: en efecto había vuelto; pero me dijeron que estaba en cama y que le era imposible atender el teléfono. Había dado mi nombre sin embargo. Algo se había roto entre nosotros. 127
Im Vergleich zum Rest des Romans verkürzt sich in diesem Abschnitt die Dauer, während der die Hauptfigur an einem Ort verweilt, drastisch: Blieben die Räume in den vorherigen Szenen relativ konstant und fanden Wechsel nur nach abgeschlossenen Handlungssequenzen und Ellipsen statt, so kann die Aufzählung unterschiedlicher, bislang teilweise unbekannter Orte („la Recoleta […] Puerto Nuevo“) den Eindruck der Beschleunigung vermitteln. Nachdem der Leser an den langsamen Rhythmus gewohnt war und nun das imaginäre Dekor in kurzen Abständen wechseln muss, erhöht sich seine kognitive Aktivität. Darin lässt sich eine Entsprechung zum erhöhten Erregungszustand des Protagonisten sehen. Die Verzweiflung der Figur angesichts des Streits mit ihrer Freundin kann sich durch die von der Nullstufe abweichende Dynamik des Romans und die damit verbundene erhöhte Nachvollzugsleistung auf den Leser übertragen. Doch nicht nur die kognitiven Erfordernisse sorgen für die Nervosität des Rezipienten, auch klangliche Auffälligkeiten mögen zu ihr beitragen. Die dreifach wiederholte corri-Anapher, die jeweils an eine Alliteration gekoppelt ist („Corrí a la calle“, „corrí a su casa“, „corrí de nuevo hasta su casa“, Hvg. T.H.), verleiht den Sätzen Musikalität und beschleunigt den Leserhythmus. Die asyndetische Reihung der Ortsangaben („la Recoleta, la Avenida Centenario, la Plaza Francia, Puerto Nuevo.“) mag eine gewisse Atemlosigkeit dadurch erzeugen, dass die Elemente durch Kommata voneinander getrennt sind und demnach visuelle und klangliche Leerstellen in hoher Frequenz wiederkehren. Diese Dynamik wird durch den dreimalig aufgenommenen Artikel ‚la‘ verstärkt, der jeweils den neuen Satzteil mar-
127 Sabato, Ernesto: El túnel, Madrid: Cátedra, 2009, S.87f.
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kiert. Sein Fehlen an vierter Stelle („Puerto Nuevo“) kann wie ein Stolpern anmuten, da dies der zunächst aufgebauten Regelmäßigkeit zuwiderläuft. Insofern parallelisiert das sinnliche Erleben des Abschnitts die erhöhte Erregung und Aktivität der Figur mit dem Gefühlserlebnis des Rezipienten. Nicht zuletzt kann die heterogene, disharmonische Textstruktur die Bewegtheit der Szene simulieren. Der Leser erfasst diese bereits visuell: Der Abschnitt weist im Vergleich zum restlichen Roman einen erhöhten Grad an Doppelpunkten und Einschüben in Form von Kommata und Parenthesen auf, so dass sich ein relativ uneinheitliches Textbild ergibt. Auch kognitiv stellen diese Elemente eine gewisse Herausforderung dar: Die Doppelpunkte ziehen Sätze zusammen, die theoretisch auch über einen Punkt getrennt stehen könnten, wodurch vom Leser eine größere Aufmerksamkeitsspanne verlangt wird als im vorhergehenden Vergleichstext, wo jeweils nur die halbe Satzlänge zur Verarbeitung steht. Diese erhöhte Anstrengung führt möglicherweise zum Eindruck der schlechteren Kontrollierbarkeit des Abschnitts. Einen ähnlichen Effekt können die runden Klammern befördern: Sie verkomplizieren einerseits die Äußerung des Erzählers inhaltlich, indem sie Zusatzinformationen integrieren, fungieren aber andererseits auch visuell als Indikator für eine Digression. Die Unfähigkeit des Erzählers, sich auf ein Thema zu konzentrieren, bekommt man als Leser somit am eigenen Leib zu spüren; die erhöhte Verarbeitungskomplexität ermöglicht das Miterleben der Verwirrung der Figur. Letztendlich können auch die paratextuellen Besonderheiten das Gefühlserleben des Lesers beeinflussen. So findet sich beispielsweise die Tatsache, dass der Erzähler im letzten Satz des Abschnitts einen Bruch zwischen dem erlebenden Ich und seiner Geliebten thematisiert, typographisch widergespiegelt. Nach einer längeren Passage ohne Absatz, wird für die letzte Proposition des Kapitels eine andere Zeile begonnen. Dadurch wird der Beginn einer neuen Sinneinheit suggeriert, obgleich der Satz rein inhaltlich gesehen sehr wohl noch zum vorherigen Abschnitt gerechnet werden könnte. Der Leser kann folglich durch den visuellen Einschnitt eine Trennung erfahren, wodurch er in Ansätzen das Erlebnis der Figur wiederholt. Durch die bildhafte Integration des Eindrucks der Funkstille zwischen Ich und Maria in die Typographie, erlebt er das Gefühl partiell mit.128 Besonders stark mag die Wirkung sein, weil der Satz am Ende des Kapitels platziert ist und somit auch danach die leere Seite und die Ellipse zwischen den beiden Kapiteln einen Einschnitt signalisieren. Indem das affektive Erleben des Protagonisten auf mehreren Ebenen
128 Auf das emotionale Potenzial der Typographie des Texts weist auch Reuven Tsur hin: „[T]he further away a syntactic unit is removed, the greater the tension it generates (provided that it is not so far removed that the reader cannot relate it to its context)“ (Tsur, Reuven: Towards a Theory of Cognitive Poetics, Brighton: Sussex Academic Press, 2008, S.151.).
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des Romans ikonisiert wird, so dass es in der Aufführung des Texts für den Rezipienten erlebbar wird, entsteht der Eindruck der „comunión total entre personaje y lector“129. Man verführe reduktionistisch, würde man diese lediglich der autodiegetischen Erzählerinstanz oder dem emotionsreichen Inhalt zuschreiben. Vielmehr können bis in die Mikrostruktur des Ausschnitts hinein emotionalisierende Elemente ausgemacht werden. Weitere Möglichkeiten zur affektiven Beteiligung über den Lektürerhythmus illustriert folgendes Beispiel. In seinem Eifersuchtswahn gefangen schreibt der Protagonist seiner Geliebten einen Brief, der ihre Schuldgefühle wecken und eine Trennung von ihrem Ehemann erzwingen soll: Salí del baño, me desnudé, me puse ropa seca y comencé a escribir una carta a María. Primero escribí que deseaba darle una explicación por mi fuga de la estancia (taché „fuga“ y puse „ida“). Agregué que apreciaba mucho el interés que ella se había tomado por mí (taché „por mí“ y puse „por mi persona“). Que comprendía que ella era muy bondadosa y estaba llena de sentimientos puros, a pesar de que, como ella misma me lo había hecho saber, a veces prevalencían „bajas pasiones“. Le dije que apreciaba en su justo valor el asunto de la salida de un barco o el asistir sin hablar a un crepúsculo en un parque pero que, como ella podía imaginar (taché „imaginar“ y puse „calcular“), no era suficiente para mantener o probar un amor: seguía sin comprender cómo era posible que una mujer como ella fuera capaz de decir palabras de amor a su marido y a mí, al mismo tiempo que se acostaba con Hunter. 130
Um ihre Gefühlsbewegung und damit die starke Zuneigung für María zu verbergen, bemüht sich die Hauptfigur um eine möglichst objektive Formulierung, weshalb sie mehrfach Wörter mit hohem Emotionswert durch solche mit neutraleren Konnotationen ersetzt. Die Thematisierung dieser Ersetzungen bewirkt, dass der Leser – im Gegensatz zu María – die Überlegungen der Figur vorgeführt bekommt und somit über deren Wissensstand verfügt. Auf diese Weise ergibt sich eine kognitive Parallele von Leser- und Figurenperspektive, d.h. eine interne Fokalisierung. Doch die Passage impliziert nicht nur einen Nachvollzug vom Standpunkt der Figur aus, sondern auch die emotionale Beteiligung am Eifersuchtsanfall. Die Einschübe in Klammern unterbrechen den Lektürefluss und erfordern eine Umkonstruktion und Neuverarbeitung des Satzes. Auch der Rezipient erstellt somit zwei Versionen des Briefs und imaginiert deren möglichen Effekt auf María und führt insofern die gleichen Operationen aus wie der Protagonist. Über den Wechsel des Erlebniswerts der verwendeten Wörter kann er darüber hinaus auch den spezifischen Rhythmus der Eifersucht nachempfinden, wo eine impulsive Gefühlseruption (das unmittelbare
129 Castagnino, Raúl: Arte y ciencia de la expresión, Buenos Aires: Mora, 1970, S.36. 130 Sabato, Ernesto: El túnel, Madrid: Cátedra, 2009, S.122f.
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Notieren eines Einfalls) sich mit dem Versuch ihrer rationalen Kontrolle abwechselt (die Ersetzung). Die Vorläufigkeit der Äußerungen des Protagonisten lösen Prozesse im Bewusstsein des Lesers aus, die denen ähneln, die man für die Figur annehmen würde. Diese Analogie verlagert das Gefühl der Eifersucht in den Rezipienten hinein. Affektives Beteiligungspotenzial besteht weiterhin in der Erfahrung diskursstruktureller Modulationen. Die gesteigerte Unkontrollierbarkeit der Gefühle kann in El túnel auch über den Wechsel zwischen interner und Null-Fokalisierung spürbar werden: In den ersten Kapiteln ist der Protagonist noch gefasst und lässt seinen Gedanken und Emotionen nur freien Lauf, wenn er allein ist und sich explizit für Reflexionen Zeit nimmt. Nach dem Kennenlernen Marías hingegen tendiert er zur gehäuften Kundgabe seiner subjektiven Meinung. Mit zunehmender Eifersucht beginnen Null- und interne Fokalisierung zu alternieren, woraus ein permanentes Umschwenken von Außen- und Innensicht, von Öffnung und Beschränkung der Erzählperspektive resultiert. Wie blitzartige Impulse drängen sich die Gedanken des Protagonisten zwischen die objektiv geschilderte Handlung. Diese Erhöhung der Frequenz des Moduswechsels im Vergleich zum Beginn des Romans kann sich auch auf das Lektüreerlebnis auswirken: Der Rezipient muss selbst wiederholt die Nachvollzugssituation ändern, wodurch die Verarbeitung und Einordnung der eintreffenden Daten und das Abschätzen des weiteren Verlaufs der Handlung erschwert wird. Diese Aktivierung kann ihm als Steigerung der Intensität des affektiven Erlebens der Hauptfigur zu Bewusstsein kommen. Darüber hinaus haben die Passagen mit interner Fokalisierung einen anderen Erlebniswert als die nullfokalisierten; die Wörter, die in ihnen verwendet werden, sind subjektiver und expressiver. Insofern kommt ein Gefühlsrhythmus zustande, der sich durch ein Schwanken zwischen hoher und gemäßigter affektiver Intensität auszeichnet und über den das Auf und Ab zwischen Eifersuchtsanfällen und Beruhigungsphasen für den Leser spürbar wird. Auch die Dauer kann als Quelle der Vergegenwärtigung der Romanwelt fungieren. El túnel weist eine starke thematische Fixierung auf die Liebesgeschichte zwischen dem Protagonisten und María auf. Das bedeutet, dass die Begegnungen der beiden ausführlich, meist szenisch dargestellt werden, während sonstige Ereignisse gerafft oder ausgespart sind, wodurch eine konstante Selektion der Information in Hinblick auf die Relevanz stattfindet.131 Je mehr sich der Leser an dieses Schema gewöhnt, desto selbstverständlicher setzt er es als Nullstufe voraus. Das wiederum ist für diejenigen Stellen entscheidend, an denen es bewusst aufgebrochen wird, was beispielsweise der Fall ist, als das Ich nach einem heftigen Streit mit seiner
131 Auf diesen kognitiven Prozess des foregrounding geht wiederholt das Kapitel 3.2., insbesondere 3.2.5.2. ein.
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Freundin zu dieser fährt, um sich mit ihr zu versöhnen. Die Zeit des Wartens, bis sie ihn bei sich im Zimmer empfängt, wird als ereignisloser Moment nicht etwa elliptisch dargestellt, sondern szenisch als Gespräch zwischen Marías Cousin, einer Freundin und dem Protagonisten. – Fíjate que nunca he podido acabar una novela rusa. Son tan trabajosas… Aparecen millares de tipos y al final resulta que no son más que cuatro o cinco. Pero claro, cuanto te empiezas a orientar con un señor que se llama Alexandre, luego resulta que se llama Sacha y luego Sachka y luego Sachenka, y de pronto algo grandioso como Alexandre Alexandrovitch Bunine y más tarde es simplemente Alexandre Alexandrovitch. Apenas te has orientado, ya te despistan nuevamente. Es cosa de no acabar: cada personaje parece una familia. No me vas a decir que no es agotador, mismo para ti. – Te vuelvo a repetir, Mimí, que no hay motivos para que digas los nombres rusos en francés. ¿Por qué en vez de decir Chékhov no decís Chéjov, que se parece más al original? Además ese „mismo“ es un horrendo galicismo. – Por favor – suplicó Mimí –, no te pongas tan aburrido, Luisito. ¿Cuándo aprenderás a disimular tus conocimientos? Eres tan abrumador, tan épuisant… ¿no le parece? – concluyó de pronto, dirigiéndose a mí. – Sí – respondí casi sin darme cuenta de lo que decía.132
Der Ausschnitt läuft der romaneigenen Konvention, Informationen hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Liebesgeschichte zu selektieren, zuwider. Die plötzliche Reduktion der Informationsdichte zugunsten der Häufung belangloser Details kann die Erwartung enttäuschen, da sie die Neugier bezüglich des Handlungsfortschritts unbefriedigt lässt. Ungeduld und Frustration können sich also nicht nur beim Protagonisten, sondern auch beim Leser einstellen: Ebenso wie der Wunsch des Ichs nach einem Gespräch mit der Geliebten durch die Episode aufgeschoben wird, verwirklicht sich auch seine Erwartung der Begegnung der beiden Hauptfiguren nicht. Die mangelnde Anpassung der Dauer an die Ereignisdichte mag so emotionale Beteiligung generieren. Wie auch Jochen Mecke in Roman-Zeit herausarbeitet, hängt die Wahrnehmung der Dauer somit nicht nur vom Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit ab, sondern auch von der Relation zwischen der erwarteten und eintretenden Qualität des Ereignisses. Eine szenische Darstellung kann lang- oder kurzweilig erscheinen, je nachdem ob sie auf eine ereignisreiche oder -arme Passage angewandt wird.133
132 Ebd., S.100f. 133 Vgl. Mecke, Jochen: Roman-Zeit. Zeitformung und Dekonstruktion des französischen Romans der Gegenwart, Tübingen: Narr, 1990, S.44.
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In der vorliegenden Szene wird die Qual des Wartens zusätzlich dadurch verstärkt, dass das Gespräch der Figuren auch inhaltlich um Langeweile kreist; mehrfach fallen Adjektive wie „agotador“, „abrumador“, „épuisant“. Wenngleich diese nicht in Bezug auf die Situation des Protagonisten genannt werden, sondern in Bezug auf russische Romane, so können sie doch über ihren Emotionswert die Atmosphäre der Szene färben und zur Partizipation am Gemütszustand der Hauptfigur beitragen. Auch die Ausdrücke „ya te despistan nuevamente“, „te vuelvo a repetir“, „es cosa de no acabar“ passen hinsichtlich ihrer Konnotationen zur Ungeduld und Monotonie des Stillstands und wirken sich dementsprechend auf die affektive Tönung der Passage aus. Insofern verstärken sich hier Lektürerhythmus und sprachlicher Erlebniswert gegenseitig. Dass mikrostrukturelle Veränderungen als Motoren der Gefühlssimulation fungieren können, wurde bereits weiter oben kurz angesprochen in dem Kontext, dass der Rhythmus von Äußerungen die Möglichkeit der Übertragung einer bestimmten affektiven Dynamik auf den Leser birgt. Damit allein allerdings ist das Potenzial der Mikrostruktur zur Gefühlserzeugung noch nicht ausgeschöpft, wie an folgendem Beispiel gezeigt wird: Bajaron lentamente, como quienes no tienen ningún apuro. „¿Apuro de qué?“, pensé con amargura. Y sin embargo, ella sabía que yo la necesitaba, que esa tarde la había esperado, que había sufrido horriblemente cada uno de los minutos de inútil espera. Y sin embargo, ella sabía que en ese mismo momento en que gozaba en calma yo estaría atormentado en un minucioso infierno de razonamientos, de imaginaciones. ¡Qué implacable, qué fría, qué inmunda bestia puede haber agazapada en el corazón de la mujer más frágil! Ella podía mirar el cielo tormentoso como lo hacía en ese momento y caminar del brazo de él (¡del brazo de ese grotesco individuo!), caminar lentamente del brazo de él por el parque, aspirar sensualmente el olor de las flores, sentarse a su lado sobre la hierba; y no obstante, sabiendo que en ese mismo instante yo, que la habría esperado en vano, que ya habría hablado a su casa y sabido de su viaje a la estancia, estaría en un desierto negro, atormentado por infinitos gusanos hambrientos, devorando anónimamente cada una de mis vísceras. ¡Y hablaba con ese monstruo ridículo! ¿De qué podría hablar María con ese infecto personaje? ¿Y en qué lenguaje?134
El túnel bedient im Allgemeinen einen eher einfachen, umgangssprachlichen Stil. Zwar werden die Richtigkeit und Vollständigkeit an keiner Stelle angetastet, dennoch wirken die Äußerungen aufgrund ihrer Wortwahl und Komplexität nähesprachlich. Die ersten zweieinhalb Zeilen des Beispiels entsprechen dieser Beschreibung noch, weisen sie doch keinerlei mikrostrukturelle Auffälligkeiten im
134 Sabato, Ernesto: El túnel, Madrid: Cátedra, 2009, S.147.
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Vergleich zum Resttext auf. Ab „Y sin embargo“ allerdings beginnt sich die Passage rhetorisch aufzuladen: Anaphern wie („qué implacable, qué fría, qué inmunda“) oder Geminationes („del brazo de el (¡del brazo de ese grotesco individuo!)“) rhythmisieren den Text und dynamisieren dadurch den Lesefluss. Darüber hinaus verlängern sich die Sätze und verzichten weitgehend auf eine Strukturierung durch Paragraphen oder Punkte. Die einzelnen Gedanken werden mittels ‚y‘ oder Semikolon aneinandergereiht, was zusätzlich zum Eindruck der Rhythmusbeschleunigung beitragen kann. Zu verzeichnen ist außerdem eine Zunahme von Interjektionen und Fragen: Bereits rein optisch mögen ‚!‘ und ‚?‘ einen Anstieg der emotionalen Erregung auch beim Rezipienten befördern, zumal sie als kulturelle Zeichen erhöhte Erregung oder Unsicherheit singalisieren. Nicht zuletzt tragen die Metaphern zur Verdichtung des Abschnitts bei. Der Erzähler verbildlicht seine Gewissensqualen als „infierno de razonamientos“, „desierto negro“ und „infinitos gusanos hambrientos, devorando anónimamente cada una de mis vísceras“; Marías Ehemann bezeichnet er hyperbolisch als „monstruo ridículo“. Die Vorstellungen, die dadurch hervorgerufen werden können, erreichen aufgrund ihrer Konkretheit und ihres Erlebniswerts starke Intensität. Insgesamt können all diese stilistischen Elemente – die Rhythmisierung der Sätze, ihre zunehmende Länge, die Verwendung der Interpunktion sowie die Anreicherung des Texts mit Metaphern – eine veränderte Wahrnehmung des Sprechers bewirken. Indem das Ich seine Äußerungen unverhofft emotionalisiert, wird einerseits seine Verzweiflung, andererseits seine beginnende Psychopathologie manifest. Während der Stil der Nullstufe emotionale Ausgeglichenheit transportiert, wird die Erhöhung des Stilniveaus als geistige Verwirrung des Protagonisten erfahrbar. Fazit: Das Ziel dieses Kapitels lag darin, unterschiedliche Möglichkeiten der affektiven Beteiligung an narrativen Texten aufzuzeigen. Es hat sich in diesem Zusammenhang ergeben, dass der Rezipient Emotionen empfindet, wenn sein Lektüreerlebnis mit dem angenommenen Erlebnis einer Figur konvergiert. Über visuelle, akustische oder kognitive Regelmäßigkeiten und Auffälligkeiten kann die Erlebnisstruktur eines Gefühls oder eine Erregungsintensität für den Leser spürbar werden. Aus textueller Sicht vermögen sämtliche Ebenen narrativer Kommunikation als Gefühlsauslöser zu wirken, entscheidend ist hierbei die Erwartung des Rezipienten: Dieser gewöhnt sich an den Gegenstand, den Vermittlungsmodus oder die sprachliche Ausgestaltung des gelesenen Texts und geht von ihnen als Nullstufe aus. Über deren anschließende Durchbrechung bildet sich ein spezifischer Rhythmus aus, der vom Leser simultan mit dem Inhalt wahrgenommen und als affektive Energie verarbeitet wird. Solche Rhythmen umfassen sowohl Spannungen zwischen einzelnen Wörtern oder gar Buchstaben im Mikrobereich als auch Dynamiken zwischen einzelnen Abschnitten, Erzählperspektiven oder sonstigen diskursstrukturellen Modulationen. Gefühlsmäßige Partizipation wird ausschließlich in der Aufführung eines
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Romans möglich, da nur dann der Erlebniswert des Inhalts mit der Wahrnehmung eines Rhythmus zu einer synästhetischen Einheit verschmilzt. 3.1.2.2.3 Erzähler- und Lesergefühle Bislang hat sich die Analyse der affektiven Partizipation ausschließlich auf diejenigen Gefühle bezogen, die der Rezipient in Anlehnung an Figuren erlebt. Es wurde dabei aufgezeigt, dass sich hierfür alle Ebenen des narrativen Texts eignen, sobald sie diesen über einen bestimmten kognitiv oder sinnlich erfahrbaren Rhythmus ansprechen. Dennoch evozieren Romane nicht nur die Gefühle der Figuren, sondern auch die der Vermittlungsinstanz. Schließlich impliziert die emotionale Aktivierung einer Figur nicht zwangsweise die des Lesers: Selbst wenn von intensiven Gemütsregungen des Protagonisten die Rede ist, übertragen sich diese nicht unbedingt auf den Rezipienten und er wahrt möglicherweise – gemeinsam mit dem Erzähler – eine kühle Distanz. Das aktuelle Kapitel untersucht deshalb die Spezifika der Beteiligung am Gefühlserleben des Erzählers. Die Möglichkeiten hierzu sind sicherlich reduzierter als im Fall der Figuren, zumal sich das Handlungspotenzial des Erzählers auf den Akt der Narration beschränkt. Wenn dieser Gefühle übermittelt, so bestehen sie in der wertenden Stellungnahme zu den diegetischen Vorgängen oder zu seiner eigenen Rolle. Darüber hinaus ist das Hervorstechen der Erzähleremotionen häufig gar nicht beabsichtigt, da sie die Aufmerksamkeit von der Diegese abziehen würden. Realistische Romane beispielsweise versuchen über impartialité, impersonnalité und impassibilité eine starke diegetische Illusion zustande zu bringen und erlauben sie deshalb nur punktuell. Als Beispiel, wie eine Partizipation an den Affekten der Vermittlungsinstanz trotz alledem möglich ist, soll ein Ausschnitt aus Annie Ernauxs L’occupation analysiert werden. Dabei handelt es sich um die autodiegetisch angelegte Narration einer Eifersuchtsepisode aus dem Leben der weiblichen Hauptfigur. Dans l’incertitude et le besoin de savoir où j’étais, des indices écartés pouvaient être réactivés brutalement. Mon aptitude à connecter les faits les plus disparates dans un rapport de cause à effet était prodigieuse. Ainsi, le soir du jour où il avait repoussé le rendez-vous que nous devions avoir le lendemain, quand j’ai entendu la présentatrice de la météo conclure l’annonce du temps par demain on fête les Dominique, j’ai été sûre que c’était le prénom de l’autre femme: il ne pouvait pas venir chez moi parce que c’était sa fête, qu’ils iraient ensemble au restaurant, dîneraient aux chandelles, etc. Ce raisonnement s’enchaînait en un éclair. Je ne pouvais le mettre en doute. Mes mains brusquement froides, mon sang „qui n’avait fait qu’un tour“ en entendant Dominique m’en certifiaient la validité. On peut voir dans cette recherche et cet assemblage effréné de signes un exercice dévoyé de l’intelligence. J’y vois plutôt sa fonction poétique, la même qui est á l’œuvre dans la littérature, la religion et la paranoïa.
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J’écris d’ailleurs la jalousie comme je la vivais, en traquant et accumulant les désirs, les sensations et les actes qui ont été les miens en cette période. C’est la seule façon pour moi de donner une matérialité à cette obsession. Et je crains toujours de laisser échapper quelque chose d’essentiel. L’écriture, en somme, comme une jalousie du réel.135
Beim Vergleich dieses Abschnitts mit El túnel und La Prisonnière wird erkennbar, dass die typischen Möglichkeiten zur Partizipation an den Affekten der Protagonistin nicht ausgeschöpft werden: Ein Mangel ist zunächst feststellbar, was die Konkretheit der Ausführungen betrifft. Der Roman nennt zu Beginn die Eifersucht als zentrales Thema des Texts explizit, was – wie oben aufgezeigt – tendenziell in beschränkterem Maß emotionale Beteiligung hervorruft, als wenn er diese aus einer konkreten Situation und aus dem Verhalten der Figuren erst ableiten müsste. Auch weist der vorliegende Abschnitt eine Tendenz weg vom Narrativen hin zum Argumentativen auf: Die Erzählerin bewertet anfänglich zusammenfassend ihr eigenes Verhalten („Dans la certitude […] brutalement“) und belegt dieses anschließend mit dem Beispiel des Namenstages. Eine konkrete Interaktion von Figuren bildet nicht den Mittelpunkt der Passage, sondern eher ein Tatsachenbericht mit illustrierenden Elementen. Symptomatisch hierfür ist auch die Rekurrenz auf das zitierte Sprichwort („qui n’avait fait qu’un tour“), das durch die Entindividualisierung und Stereotypisierung der Kommunikation einer affektiven Parallelisierung zwischen Leser und Figur vorbeugt. Insofern verhindert der Text durch seine Anlehnung an die Struktur eines Sachtexts, dass der Rezipient sich emotional auf die Figuren einlässt. Vielmehr ist dieser durch den Informationsvorsprung in eine Metaposition gebracht: Die affektive Intensität, die normalerweise an Eifersuchtsszenen in Literatur und Alltag gekoppelt ist, begegnet ihm hier in transzendierter Form. Auch das Gefühlspotenzial durch den Emotionswert von Äußerungen bleibt im Vergleich zu den Vortexten zurückgeschraubt. Die gewählten Wörter sind so wertneutral wie möglich, die Sprache wirkt bisweilen administrativ („certifiaient la validité“), der Nominalstil camoufliert die ursprüngliche affektive Intensität des Erzählten, wodurch eine Distanz zwischen Leser und Diegese auftun mag. Darüber hinaus sind sämtliche Inhalte, die die Protagonistin betreffen, mit einer Erklärung oder einer Bewertung versehen („Dans l’incertitude et le besoin de savoir où j’étais“, „mon aptitude […] était prodigieuse“). Eine affektive Nähe zur Figur kann sich so nicht einstellen, da die diegetische Illusion durch das beständige Eindringen der Erzählermeinung gestört wird. Die Passage setzt also gerade nicht die Eifersucht, sondern – ganz im Gegenteil – eine maximale Gefasstheit in Szene, so dass sich die affektive Aktivierung des Lesers auf einem niedrigen Niveau einpendelt.
135 Ernaux, Annie: L’occupation, Paris: Gallimard, 2002, S.41f.
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Vergeblich sucht man überdies nach der ikonischen Widerspiegelung der Emotionen bei der sinnlichen Erfahrung des Texts. Zeitformung, Redewiedergabe und Stil bleiben stets konstant, ohne die erwarteten Schwankungen zwischen Gefasstheit und impulsiver Eruption. Als berichtet wird, wie sich die Phantasie der Protagonistin verselbstständigt und die Schilderung dadurch detailreicher und konkreter wird („il ne pouvait pas venir chez moi […]“), möchte man im ersten Moment einen Rhythmuswechsel wittern. Der Satz ist so angelegt, dass er eine lange, parataktische Reihung erwarten lässt, die wiederum eine gefühlsmäßige Ergriffenheit des Erzählers für den Rezipienten spürbar machen könnte. Allerdings wird diese Erwartung nicht erfüllt, da das emotionale Erlebnis brüsk durch die Abkürzung der Beschreibung per ‚etc.’ unterbunden wird, welches auch insofern einen Bruch darstellt, als es normalerweise ausschließlich in affektfreien, objektiven Kontexten Verwendung findet. Das Fehlen der gefühlsmäßigen Aktivierung in der Passage nimmt der Rezipient jedoch nicht unbedingt als Defizit wahr. Der Text wird ihm nicht unstimmig erscheinen, nur weil sein Erlebnis nicht mit dem der Figur parallelisiert ist. Vielmehr mag er in der Gefühllosigkeit und Objektivität die affektive Conditio der Erzählerin verspüren, die die Ereignisse aus der Distanz beobachtet. Dies wird dadurch begünstigt, dass die Apathie nicht ausschließlich als Mangel, sondern auch im positiven Sinne spürbar wird: Der Roman ist nicht als Fließtext arrangiert, sondern in zahlreiche Einzelparagraphen unterteilt, die so autonom sind, dass sie auch losgelöst voneinander stehen könnten. Diese ungewöhnliche typographische und logische Anordnung verhindert die Entstehung eines Leseflusses, der die Zeitstruktur der Diegese imitieren würde. Die Fragmentierung des Textraums lässt den Rezipienten kontinuierlich visuell und kognitiv den Bruch erfahren, der das erzählende vom erlebenden Ich trennt, so dass man dabei von der Simulation der Unemotionalität der Vermittlungsinstanz sprechen kann. Es stellt sich nach diesen Beobachtungen die Frage, welchen Wert die Darstellung der Eifersucht in L’occupation eigentlich besitzt. Nachdem das Thema über die Parallelisierung von Figur und Rezipient im Laufe der Literaturgeschichte intensive affektive Wirkungen hervorgerufen hat, von welchem Interesse ist ein Roman, der die Absenz dieser Emotion behandelt? Der Roman erzählt nicht einfach, dass eine Figur nicht eifersüchtig ist, sondern dass sie es nicht mehr ist. Dieser Übergang von der Erregung zur Objektivität ist als Kampf gegen eine Übermacht inszeniert, der seinen Schauplatz in der Protagonistin selbst hat.136 Die Eifersucht
136 Elise Hugueny-Léger weist auf die wichtige Rolle der Selbstentfremdung und IchAufspaltung in vielen Texten Annie Eraux’ hin. Im Fall von L’occupation habe das Objekt der Eifersucht den Geist der Protagonistin vollkommen in Besitz genommen, so
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wird nicht als Emotion in einem spezifischen Handlungskontext, sondern als Gegenstand des Romans behandelt. Die mit ihr verbundenen Gefühlsregungen werden expliziert und aus einer Metaperspektive analysiert, Reflexionen über ihr Wesen oder ihre Darstellung in literarischen Texten integriert (z.B. „Je comprenais la nécessité des comparaisons et des métaphores avec l’eau et le feu.“137). Somit erscheint sie nicht als Gefühl einer Figur, sondern ist objektiviert zu deren antagonistischem Aggressor, sie wirkt wie eine unkontrollierbare Besessenheit, die das Individuum bedrängt. Die Kühle, die auch der Leser empfindet, bedeutet einen im Erzählprozess errungenen Sieg gegen den Feind ‚Eifersucht‘. Insofern ist der Plot von L’occupation im Grunde eine traditionelle Heldengeschichte mit Happy End – nur, dass die Handlung auf die Ebene der Erzählung verlagert ist: Das Böse wird nicht durch die Tat eines Helden, sondern durch die Narration gebannt. Indem der Leser affektiv an den Erzähler gekoppelt ist, erringt er gemeinsam mit diesem den entscheidenden Sieg. Die affektive Beteiligung des Rezipienten wird in diesem Fall also gerade über die Eindämmung der emotionalen Amplitude erreicht. Folgende Ergebnisse lassen sich aus dieser Analyse ziehen: Die Gefühle des Erzählers treten in den Vordergrund, wenn die Narration die Beteiligung an den Emotionen der Figuren verhindert. Dies ist der Fall, wenn Figurenaffekte zwar explizit thematisiert, jedoch in Äußerungen mit geringem Erlebniswert verpackt und nicht über den Lektürerhythmus auf den Rezipienten übertragen werden. Die Diskrepanz zwischen dem angenommenen Figurenempfinden und dem Leseerlebnis wird in der Regel nicht als Inkohärenz, sondern als Möglichkeit zur Partizipation an der Gefühlslage des Erzählers wahrgenommen. Da dessen grundlegende Aufgabe in der Ordnung der diegetischen Ereignisse besteht, sind neutrale und nüchterne Emotionssignale für ihn charakteristisch. Insofern existiert bei narrativen Texten kein Außerhalb der gefühlsmäßigen Partizipation: Unabhängig von der Beschaffenheit des Romanerlebnisses, wird der Rezipient stets dessen Rückkopplung an ein wahrnehmendes Bewusstsein versuchen. 3.1.2.3 Zusammenfassung Bei der Romanlektüre erscheint es häufig, als hätten die dargestellten Figuren intensive Emotionen. Diese Gefühle existieren jedoch nicht im Text selbst, sondern lediglich in seiner Aufführung, wenn der Leser dem Personal des Romans sein Bewusstsein leiht, für dieses fühlt und sein Erlebnis auf den Inhalt projiziert. Das vorliegende Kapitel untersuchte ausgehend von diesen Überlegungen die Möglichkeiten und Bedingungen der affektiven Beteiligung des Rezipienten. Es hat sich erge-
dass diese sich ihr Ich erst zurückerobern müsse (vgl. Hugueny-Léger, Élise: Annie Ernaux, une poétique de la transgression, Bern: Peter Lang, 2009, S.20.). 137 Ernaux, Annie: L’occupation, Paris: Gallimard, 2002, S.23.
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ben, dass dafür ähnlich wie für die Atmosphärenerfahrung drei Phänomene konstitutiv sind: 1. die Konkretheit des emotionalen Kontexts, 2. der Erlebniswert sprachlicher Äußerungen und 3. die sinnliche Wahrnehmbarkeit der Romanwelt. Erstens: Die grundlegende Voraussetzung zur Parallelisierung von Figuren- und Rezipientengefühl besteht im Vorhandensein von Figuren. Texte in narrativem Modus bergen somit ein größeres affektives Partizipationspotenzial als argumentative, da sie Instanzen enthalten, an die sich das Erlebnis des Lesers knüpfen kann. Damit verbunden ist auch die Direktheit des Emotionsausdrucks: Sind Gefühle Resultat der kognitiven Verarbeitung einer Beispielsituation, so laden sie stärker zu Beteiligung ein als im Fall ihrer bloßen Nennung über Gefühlswörter. Ausschlaggebend ist nicht zuletzt die Aufmerksamkeit der Erzählinstanz für die Figur. Je öfter und ausdauernder diese im Fokus des Interesses steht, desto besser stehen die Chancen für die Identifikation. Zweitens: Das Gefühlserleben hängt von der Nutzung des sprachlichen Emotionalisierungsvermögens ab. Die Realisierung des Texts durch den Rezipienten besteht in einer Vergegenwärtigung auf Basis von affektiv besetzten Erinnerungen und Wahrnehmungsmustern. Die Beteiligung geschieht über die Interaktion und gegenseitige Verstärkung mehrerer Wörter oder Äußerungen und der mit ihnen verbundenen Emotionen. Drittens: Der Rezipient verstrickt sich dadurch affektiv in die Romanwelt, dass er Gemütszustände über den Lektürerhythmus sinnlich erfährt. Indem er lesend ähnliche affektive Erfahrungen macht wie eine Figur, erlebt er die Geschehnisse der Romanwelt aus sich heraus und fühlt sich in diese hineinversetzt, wodurch die Grenze zwischen Fiktion und Realität partiell aufgehoben wird. Die Möglichkeiten der rhythmischen und damit emotionalen Erfahrung narrativer Texte liegen im visuellen, auditiven und kognitiven Bereich. Ergeben sich hier energetische Regelmäßigkeiten oder Auffälligkeiten, so können sie als Grundmuster eines Gefühls oder als Erregungsintensität zu Bewusstsein kommen. Was als Veränderung des Lektürerhythmus aufgefasst wird und deshalb auffällig wird, ist relativ: Eine Figur kann lediglich im Vergleich zu ihrer vorherigen Gleichgültigkeit nervös erscheinen oder umgekehrt nur gegenüber ihrer früheren Aufgeregtheit gelangweilt. Wenn ein Roman auf seiner Nullstufe bereits einen schnellen Rhythmus vorgibt, so wird ihn der Leser nicht als Figurenemotion wahrnehmen, höchstens als dynamische Atmosphäre. Erst wenn er sich verändert – noch schneller oder langsamer wird –, wird er ihn erspüren. Der Rhythmus ist folglich ein Phänomen, das mit anderen Passagen des gleichen Texts, anderen Werken oder der Alltagssprache korreliert; er ist abhängig von den Erwartungen des Rezipienten an den Roman und deren Durchbrechung. Das kann er Veränderungen im Mikrobereich als auch diskurs- und makrostrukturelle Dynamiken betreffen. Der Unterschied der Beteiligung am Gefühl zur der an der Atmosphäre besteht in der Gerichtetheit des Rhythmuserlebens. Die Vergegenwärtigung einer Atmo-
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sphäre verläuft eher unterschwellig. Es findet eine sinnliche Veränderung statt, jedoch ist diese nicht eindeutig an das Verhalten einer bestimmten Figur gekoppelt, sondern vollzieht sich als diffuse Tönung des Erlebnisfelds. Ein Gefühl hingegen verspürt der Leser, wenn er einen bei der Lektüre erfahrenen Rhythmus eindeutig mit einer Handlung verknüpft. Dabei kann derselbe Auslöser in unterschiedlichen Kontexten ein anderes Gefühl evozieren: Nimmt der Rezipient beispielsweise eine Beschleunigung und Atemlosigkeit des Rhythmus auf mikrostruktureller Ebene wahr, dann hängt die Interpretation dieses Erlebnisses von den textuellen Informationen ab: Ist von einer Person die Rede, die zum Rendezvous mit ihrem Liebhaber eilt, so wird er sie als Aufregung auffassen. Ist von einer verfolgten Person die Rede, eher als Angst. Insofern ist das Gefühl, das mittels Ikonisierung aufscheint, untrennbar mit dem Kontext verbunden, in dem es auftaucht. Pauschale Kausalzusammenhänge lassen sich daher nicht herstellen, die affektive Partizipation kann nur am Einzelwerk geklärt werden. Schließlich ist der Rhythmus als Brücke zwischen Text und Gefühlen an die Aufführung gebunden. Erst in der ganzheitlichen Erfahrung aller Beteiligungsoptionen, konstituiert sich der Eindruck des Gefühls. 3.1.3 Motivation Man stelle sich einen Protagonisten vor, dessen Gefühle der Rezipient verstärkt über den Rhythmus miterlebt hat und der sich in Gefahr befindet: Als Leser ist man darüber im Bilde, dass hinter der Küchentür sein ärgster Feind mit einer auf ihn wartet. Er begibt sich nichtsahnend in Richtung Küche. Der Verbrecher hebt sein Mordwerkzeug. Die Figur legt die Hand an die Türklinke. Man mag in diesem Moment den Wunsch verspüren, in das Romangeschehen einzugreifen, die Figur von ihrem Vorhaben abzuhalten. Sicherlich kann man am Fortgang der Geschichte nichts ändern, da er ohnehin bereits festgeschrieben steht; dennoch entwickelt man eine aversive Motivation bezüglich der erwarteten Handlung und beteiligt sich über sie am Gelesenen. Ähnlich in folgendem Szenario: Der Protagonist hat nach einer langen Periode der Entbehrungen und Probleme und nach großer Kraftanstrengung sein Ziel erreicht und einen definitiven Sieg über seinen Rivalen davongetragen. Es ist möglich, dass in einer solchen Situation nicht nur die Figur, sondern auch der Leser Befriedigung ob des Erfolgs empfindet. Wenn er diesen seit langem herbeigesehnt hat und eine große Motivation diesbezüglich entwickelt hat, erfährt er den Ausgang selbst als lustvoll. Die Motivation spielt eine zentrale Rolle bei der Lektüre, das aktuelle Kapitel klärt, wie diese Form der Beteiligung des Lesers zustande kommt und fassbar gemacht werden kann.
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3.1.3.1 Motivation in Psychologie und Medienwissenschaften Motivation ist ein psychologisches Konstrukt zur Erklärung, warum sich Menschen für ein bestimmtes Verhalten entscheiden und warum sie dieses mit Ausdauer und Intensität verfolgen. Ist eine Person motiviert, so hat sie ein konkretes Ziel vor Augen, strengt sich an und bleibt ablenkungsfrei bei der Sache, als wäre sie von ihrer Tätigkeit besessen.138 Zu Beginn des 20. Jahrhundert begründete man Motivation über die Triebe. Bestimmte Reize versprächen, so der Psychologe Wilhelm Wundt, den Instinkten des Individuums eine Befriedigung und erzeugten dadurch Motivation. Es bestehe folglich eine direkte Korrelation zwischen dieser, dem Reiz und der Aneignungshandlung.139 Diese Theorie weist allerdings gewisse Ungereimtheiten auf: Wenn Motivationen das Handeln des Individuums bestimmen, so müssen sie diesem vorausgehen. Wie erklärt man in diesem Fall aber, dass der Mensch Zwecke und Ziele verfolgt? Und vor allem: Wie lässt sich ein Verhalten begründen, das nicht auf Instinkten, sondern auf Lernprozessen beruht?140 Die heutige Forschung geht deshalb von der Motivation nicht als Voraussetzung, sondern als Ziel menschlicher Handlungen aus. Auf Basis ihrer eigenen Befriedigungs-, Erregungs- und Spannungslage unternähmen Individuen – so Rosa M. Puca – gezielt Handlungen, die einen angenehmen emotionalen Zustand herbeiführten. Sie strebten danach, „ihr Wohlbefinden durch eine Optimierung der Affektbilanz zu maximieren, indem sie Ereignisse, die positive Affekte anregen, herbeiführen und andere verhindern“141. Hierfür stehe ihnen ein System zur Verfügung, das sie zum Aufsuchen von Reizen, die Lust erwarten ließen, und zur Vermeidung solcher, die Unglück verhießen, veranlasse. Selbst eine anstrengende Aufgabe werde bei entsprechender Motivation in Kauf genommen.142 Alles in allem energetisiere die Motivation auf diese Weise das menschliche Verhalten und richte es auf Ziele aus.143 Diese Sicht auf das menschliche Handeln gesteht dem Individuum eine größere Autonomie zu, als dies in den Anfangszeiten der Motivationsforschung der Fall war: Auf Basis der eigenen Erfahrungen muss dieses zunächst abschätzen, von welcher mehrerer Handlungsalterna-
138 Vgl. Heckhausen, Heinz: „Entwicklungslinien der Motivationsforschung“, in: Heckhausen, Jutta/Heckhausen, Heinz (Hrsg.): Motivation und Handeln, Berlin: Springer, 2006, S.12. 139 Vgl. Wundt, Wilhelm: Grundriß der Psychologie, Leipzig: Kröner, 1918, S.231. 140 Vgl. Rheinberg, Falco: Motivation, Stuttgart: Kohlhammer, 2008, S.33f. 141 Puca, Rosa/Langens, Thomas: „Motivation“, in: Müsseler, Jochen (Hrsg.): Allgemeine Psychologie, Spektrum: Heidelberg, 2008, S.192. 142 Vgl. Sokolowski, Kurt: „Sequentielle und imperative Konzepte des Willens“, in: Psychologische Beiträge, 39 (1997), S.359f. 143 Vgl. Schmalt, Heinz-Dieter/Langens, Thomas: Motivation, Stuttgart: Kohlhammer, 2009, S.17.
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tiven es den höchsten Gewinn erwarten kann, und sich mehr oder weniger aktiv dafür entscheiden. John William Atkinson versteht als Vertreter einer kognitiv orientierten Psychologie Motivation als Zusammenspiel von Erwartung und Wert (d.h. die Erwartung bestimmter Handlungsergebnisse und -folgen in Abhängigkeit von deren Bewertung).144 Damit ist Motivation definitiv nicht mehr von einem Gegenstand, sondern von der Einschätzung des Individuums abhängig. Welche Reize bewertet der Mensch nun aber als erstrebenswert, welche sucht er zu vermeiden? Während frühere Motivationstheorien von der hedonistischen Sicht ausgingen, dass ausschließlich Lust, Entspannung und Lösung, also angenehme Emotionen, für das Individuum günstig seien – weshalb ‚positive‘ Emotionen gesucht und ‚negative‘ umgangen würden –, ist man heute dazu übergegangen, auch der Unlust Relevanz im Motivationsprozess einzuräumen. Unter mehreren Handlungsoptionen werden diejenigen selektiert, von denen Emotionen zu erwarten sind, die dem psychischen Gleichgewicht und damit dem optimalen „Funktionieren“ des Individuums zuträglich sind: Ist es erregt und angespannt, so wird es sich beruhigende Reize suchen; fühlt es sich gelangweilt, so begibt es sich unter den Einfluss anregender Stimuli, um den Mangel an Input auszugleichen. Die Erwartung von Lust und Unlust, Erregung und Hemmung sowie Anspannung und Entspannung bildet also jeweils den Ausgangspunkt für motivationale Aktivitäten.145 Diese Ergebnisse der Motivationsforschung sind für den Umgang mit Literatur nicht irrelevant. Dolf Zillmann demonstriert in seiner mood-management-Theorie, dass auch Medien dem Prozess der Affektoptimierung dienen: Mediennutzer wählten Romane, Filme oder Musik so aus, dass diese ihren Emotionshaushalt unterstützten. Gewünschte physiologische Erregungszustände würden veranlasst und unwillkommene Affekte vermieden.146 Je nach Ausgangslage und individueller Präferenz versuche der Rezipient, sein Erregungsniveau zu steigern, es aufrecht zu erhalten oder zu senken und dadurch seine Stimmung zu regulieren.147 So wählt er im Zustand kognitiver Unterforderung etwa einen spannenden Kriminalroman oder einen anspruchsvollen Kanontext, im Zustand emotionaler Ausgeglichenheit ein aufwühlendes Melodram. Der Erfolg dieser Operation sei vom anfänglichen emotionalen Zustand des Individuums – eine exzessive Erregung kann selbst durch ein
144 Vgl. Atkinson, John William: „Motivational Determinants of Risk-taking Behaviour“, in: Psychological Review, 64 (1957), S.359f. 145 Vgl. Schmalt, Heinz-Dieter/Langens, Thomas: Motivation, Stuttgart: Kohlhammer, 2009, S.15. 146 Vgl. Zillmann, Dolf: „Mood Management through Communication Choices“, in: American Behavioral Scientist, 31 (1988), S.238. 147 Vgl. Vorderer, Peter: „Rezeptionsmotivation. Warum nutzen Rezipienten mediale Unterhaltungsangebote?“, in: Publizistik, 41.3 (1996), S.314.
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entspannendes Fernsehprogramm nicht ausgeglichen werden – sowie vom Absorptionspotenzial des Mediums abhängig.148 Voraussetzung für das Funktionieren des mood management sei über die Antizipationsfähigkeit des Konsumenten, da er im Vorfeld projektiv ermessen müsse, inwiefern ein zur Verfügung stehendes Medienerzeugnis seine Stimmung beeinflussen könne.149 Doch die Motivationen, die Rezipienten in Interaktion mit narrativen Texten ausbilden können, sind komplexer als die mood-management-Theorie annimmt. Für diese endet die Rezipientenaktivierung an den Buchdeckeln, was aus literaturwissenschaftlicher Perspektive reduktionistisch wirken kann. Indem sie davon ausgeht, dass Medienerzeugnisse aktiv wegen ihres erregenden, traurigen oder spannenden Charakters ausgewählt werden, wirft sie einen globalen Blick auf die Motivation des Konsumenten und vermittelt eine Vorstellung vom Medium ähnlich einem Medikament, das gesucht und einverleibt wird und daraufhin seine regulierende Wirkung entfaltet. Fernsehprogramme, Musikstücke und Romane scheinen nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip auf ihre jeweiligen Zuschauer, Zuhörer und Leser zu passen. Mag dies für ein Musikstück aufgrund seiner Kürze eventuell noch funktionieren, so kann man einem Roman doch in den seltensten Fällen ein einzelnes Etikett (‚erregend‘, ‚spannend‘, ‚traurig‘) aufheften. Wie sich bereits in den vorherigen Kapiteln gezeigt hat, weben narrative Texte mit dem Rezipienten komplexe Emotionsnetze, die mit ebenso vielschichtigen Motivationen einhergehen. Deshalb setzt das vorliegende Kapitel an dem Punkt an, an dem die mood-management-Theorie stehen bleibt, indem es sich der Untersuchung der motivationalen Beteiligungsmöglichkeiten des Lesers im Verlauf der Lektüre widmet. Es legt dar, wie der Rezipient gegenüber narrativen Texten Wünsche entwickelt und welche spezifischen Erlebnismöglichkeiten sich aus deren Befriedigung und Frustration ergeben. Ziel ist ein Einblick in die Bedeutung der Motivation bei der Rezeption. 3.1.3.2 Motivationserleben an narrativen Texten 3.1.3.2.1 Figuren- und Lesermotivationen Die Grundannahme dieses Kapitels besteht darin, dass Leser auch bei der Beschäftigung mit literarischen Texten auf den Ausgleich ihres Emotionshaushalts bedacht sind. Deshalb bilden sie während ihrer Lektüre abhängig von der atmosphärischen
148 Vgl. Bryant, Jennings/Zillmann, Dolf: „The Mediating Effect of the Intervention Potential of Communications on Displaced Aggressiveness and Retaliatory Behavior“, in: Ruben, Brent (Hrsg.): Communication yearbook (Bd.1), New Brunswick: ICATransaction Press, 1977, S.304. 149 Vgl. Zillmann, Dolf: „Affect, Mood and Emotion as Determinants of Selective Exposure“, in: Zillmann, Dolf/Bryant, Jennings (Hrsg.): Selective Exposure to Communication, Hilsdale: Erlbaum, 1985, S.161.
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und gefühlsmäßigen Beteiligung mehr oder weniger intensive Motivationen bezüglich der Handlung, genauer gesagt: bezüglich des Erlebniswerts der Handlung aus, die im Verlauf der Lektüre befriedigt oder frustriert werden. Je nachdem, ob Szenarien Lust oder Unlust, Erregung oder Beruhigung, Spannung oder Lösung erwarten lassen, reagieren sie mit motivationaler oder aversiver Beteiligung. Zunächst sollen die Determinanten der Befriedigung bzw. die Frustration einer durch den Roman erzeugten Motivation betrachtet werden. Hierfür werden zwei Romanausschnitte aus Alexandre Dumas’ Le comte de Monte Cristo (Anhang Text 3) und Jean Echenoz’ Je m’en vais (Anhang Text 4) miteinander verglichen. In beiden Passagen ist inhaltlich von der Entdeckung eines Schatzes die Rede; die Befriedigung jedoch, die der Leser bei der Lektüre daraus zieht, kann divergieren. Wenn die motivationale Beteiligung an narrativen Texten aus den Bewegungen und Schwankungen der Affektbilanz des Rezipienten bei der Lektüre resultiert, erweist sich eine Partizipation zu Beginn der Lektüre als schwierig, da eine Grundstimmung sich erst einmal einstellen muss, damit sie variieren und somit als Veränderung wahrgenommen werden kann. Für den weiteren Romanverlauf allerdings lässt sich annehmen, dass der Leser, falls er zunächst starke Unlust vermittelt bekommen hat, im Anschluss zur Annäherung an eine Lustquelle motiviert ist und dass er umgekehrt nach ausgeprägtem Lustempfinden zum Ausgleich Unlust erwartet. Insofern müssen Romane, wenn sie motivationale Aktivierung, Befriedigung oder Frustration erreichen möchten, einem zyklischen Muster gehorchen, das sich beliebig oft wiederholt.150 In beiden vorliegenden Ausschnitten ist die Tendenz Unlust → Lust unterschiedlich präzise vorgezeichnet. Dies ergibt sich bereits aus der Einbettung der Textbeispiele in ihren Romankontext: In Le comte de Monte Cristo geht der Passage der Schatzfindung, die man auf Basis kulturellen Wissens tendenziell als genussvoll einstufen würde, die Episode der mehrjährigen Einkerkerung des Protagonisten voraus. Dabei handelt es sich um einen langen, entbehrungsreichen und auch für den Leser eher frustrierenden, zumal mit negativen Erlebnissen verbundenen Handlungsabschnitt. Je m’en vais hingegen enthält im Vorfeld der Schatzsuche weder besonders lust-, noch unlustvolle Ereignisse. Vielmehr zeichnet sich der Roman durch Ereignislosigkeit und einen neutralen Erlebniswert aus. Rein inhaltlich gesehen vollführt Dumas’ Episode folglich eine deutlichere emotionale Bewegung als
150 Die excitation-transfer-Hypothese geht davon aus, dass sich Rezipienten den negativen Erregungen und Emotionen bei der Mediennutzung deshalb so bereitwillig aussetzen, weil diese die Lust des Happy Ends maximieren (vgl. Hastall, Matthias: „Spannung“, in: Schweiger, Wolfgang/Fahr, Andreas (Hrsg.): Handbuch Medienwirkungsforschung, Berlin: Springer, 2013, S.272.). Insofern ist die episodische Struktur der emotionalen und kognitiven Erregung für jede Lektüre charakteristisch.
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Echenoz’ und gibt dadurch der Motivation des Lesers eine stärkere Richtung vor. Da dieser zunächst den ungerechten Gefängnisaufenthalt Dantès’ als unbehaglich und abwechslungslos miterlebt hat, sucht er zum Ausgleich ein Ereignis, das diese Erfahrung wettmacht.151 Ferrers Vorgeschichte hingegen erfordert keine Bereinigung der Affektbilanz: Da die Emotionen des Lesers nicht aus dem Gleichgewicht geraten sind, besteht auch kein Anlass zu ihrer Balancierung. Doch nicht nur die kontextuell erzeugte Erwartung, auch die Inszenierung des Schatzes in beiden Texten trägt zu einer Versteilerung der emotionalen Amplitude im Fall von Dumas und ihrer Abflachung in Bezug auf Echenoz bei. Le comte de Monte Cristo erzeugt mittels der bekannten Verfahren der emotionalen Beteiligung ein Begehren in Bezug auf den Schatz. Aufgrund ihrer sprachlichen und rhythmischen Gestaltung erinnert die Passage mehr an eine Verführungsszene als an das Öffnen einer Schatzkiste. Zunächst widmet sich der Abschnitt der lobenden Beschreibung des Gegenstands: Au milieu du couvercle resplendissaient, sur une plaque d’argent que la terre n’avait pu ternir, les armes de la famille Spada, c’est-à-dire une épée posée en pal sur un écusson ovale, comme sont les écussons italiens, et surmonté d’un chapeau de cardinal. […] tout cela était ciselé comme on ciselait à cette époque où l’art rendait précieux les plus vils métaux. (Hvg. T.H.)
Ähnlich wie in einem traditionellen Liebesgedicht das Äußerliche der Frau über die Beschreibung der Haare und des Gesichts glorifiziert wird, ist die Truhe durch edle Metalle, ihren Glanz, Insignien der Macht und des Ruhms sowie ihre kunstvolle Verarbeitung ausgezeichnet. Bereits hier wird der Diskurs zweideutig: Das Schwert ist nicht nur mit Macht und Stärke assoziierbar, sondern erinnert in seiner Form auch an einem Phallus, vor allem da es direkt unter dem Hut platziert ist, der der Gestalt eines weiblichen Geschlechtsorgans entspricht.152 Diese Doppelsinnigkeit der Bildsprache, die Simultanität von Verhüllung und Entdeckung der sexuellen Botschaft entspricht dem Modus der Koketterie. An die Schmeicheleien schließt sich das schrittweise Vordringen ins Innere der Kiste an:
151 Überdies richtet die bereits paratextuell angekündigte Zweiteilung des Romans – die Bände heißen „Le prisonnier du château d’If“ und „La vengeance“ – die Erwartung des Lesers auf die Struktur ‚Schlag-Gegenschlag‘ aus (vgl. Klotz, Volker: AbenteuerRomane. Eugène Sue, Alexandre Dumas, Gabriel Ferry, Sir John Retcliffe, Karl May, Jules Verne, Reinbek: Rowohlt, 1989, S.60.). 152 Die textuelle Beschreibung realisiert sich in der Vorstellung des Lesers bildhaft, weshalb solche Analogien erfahrbar werden.
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En un instant un emplacement de trois pieds de long sur deux pieds de large à peu prés fut déblayé, et Dantès put reconnaître un coffre de bois de chêne cerclé de fer ciselé. […] Dantès les [les armes de la famille Spada] reconnut facilement: l’abbé Faria les lui avait tant de fois dessinées! Dès lors il n’y avait plus de doute, le trésor était bien là; on n’eût pas pris tant de précaution pour remettre à cette place un coffre vide. En un instant tous les alentours du coffre furent déblayés, et Dantès vit tour à tour apparaître la serrure du milieu, placée entre deux cadenas, et les anses des faces latérales; tout cela était ciselé comme on ciselait à cette époque où l’art rendait précieux les plus vils métaux. Dantès prit le coffre par les anses et essaya de le soulever: c’était chose impossible. Dantès essaya de l’ouvrir: serrure et cadenas étaient fermés: les fidèles gardiens semblaient ne pas vouloir rendre leur trésor. Dantès introduisit le côté tranchant de sa pioche entre le coffre et le couvercle, pesa sur le manche de la pioche, et le couvercle après avoir crié éclata. Une large ouverture des ais rendit les ferrures inutiles, elles tombèrent à leur tour, serrant encore de leurs ongles tenaces les planches entamées par leur chute, et le coffre fut découvert.
Dieses erscheint zunächst unmöglich: Da sie aus harten und festen Stoffen, Eiche und Eisen, gefertigt ist, vermittelt die Truhe den Eindruck absoluter Unzugänglichkeit. Die Thematisierung dieses materiellen Widerstands fungiert als Verzögerung des Verführungsprozesses, mittels derer das Begehren gesteigert werden soll. Eine regelrechte Sexualisierung erfährt das Objekt schließlich bei Dantès’ Öffnungsversuchen: Stück für Stück enthüllt der Protagonist die Kiste, befreit sie von den umgebenden Erdschichten wie von einem Gewand, bis er zum Zentrum vorstößt, den das Schloss bildet. Dieses scheint – „placée entre deux cadenas et les anses des faces laterales“ – wie an vier Gliedmaßen gekoppelt. Die Assoziation der Truhe mit einem menschlichen Körper drängt sich förmlich auf, zumal sich vor allem gegen Ende der Beschreibung Personifikationen häufen („les fidèles gardiens semblaient ne pas vouloir rendre leur trésor“, „et le couvercle après avoir crié éclata“, „elles [les ferrures] tombèrent à leur tour, serrant encore de leur ongles tenaces les planches entamées par leur chute, et le coffre fut découvert“, Hvg. T.H.). Die Truhe wirkt wie eine Frau, die sich schreiend einer Bedrängung zu erwehren sucht, um ihren Widerstand schließlich aufzugeben. Die Wortwahl ist zweideutig und dient der Parallelisierung der beiden („les ongles“ als Werkzeug und Körperteil, „tenaces“ als Adjektiv, das für Personen und Dinge gleichermaßen verwendet werden kann, „découvert“ in der Bedeutung ‚aufgemacht‘ und ‚ausgezogen‘). Insgesamt trägt die erotisierende Inszenierung der Truhenöffnung entscheidend zur Motivation des Lesers bei. Über Worte, die der Isotopie der Sexualität entstammen und mit entsprechendem Erlebniswert bestückt sind, und über Vorstellungsbilder, die offensichtliche phänomenale Analogien zum Geschlechtsakt schaffen, kann sich
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eine Erregung auf den Leser übertragen. Da ein Verführungsprozess simuliert wird, mag dieser Lust auf den Inhalt der Truhe entwickeln. Die Beschreibung des Truheninhalts letztlich treibt den erotischen Grundgedanken auf die Spitze: Dans le premier brillaient de rutilants écus d’or aux fauves reflets. Dans le second, des lingots mal polis, mais rangés en bon ordre, et qui n’avaient de l’or que le poids et la valeur. Dans le troisième enfin, à demi plein, Edmond remua à poignée les diamants, les perles, les rubis, qui, cascade étincelante, faisaient, en retombant les uns sur les autres, le bruit de la grêle sur les vitres. Après avoir touché, palpé, enfoncé ses mains frémissantes dans l’or et les pierreries, Edmond se releva et prit sa course à travers les cavernes avec la tremblante exaltation d’un homme qui touche à la folie.
Die Passage ist klimaktisch aufgebaut. Sie ist in drei Teilen angelegt, die durch das anaphorische „Dans le…“ und den Zeilenumbruch rhythmisch und optisch gegliedert sind. Bei jedem Neuansetzen ist eine Steigerung sowohl hinsichtlich des Inhalts („écus“ → „lingots“ → „diamants“/„perles“/„rubis“) als auch hinsichtlich der Länge der Abschnitte zu verzeichnen. Der dritte bildet auch in rhythmischer Hinsicht den Höhepunkt, da er mehrere dreigliedrige Wortreihungen („les diamants, les perles, les rubis“, „touché, palpé, enfoncé“) integriert, die durch ihre asyndetische Reihung den Satzrhythmus dynamisieren. Insofern kann das Bewegungsmuster der Beschreibung an einen Geschlechtsakt erinnern, der nach mehreren, sich jeweils steigernden Neuansätzen zum Orgasmus führt. Bestätigung erfährt dieser Eindruck durch die häufig zweideutige Wortwahl („cascade“ verleiht dem Schwall der Edelsteine die Konsistenz einer Flüssigkeit; „retombant les uns sur les autres“, „touché, palpé, enfoncé ses mains“ „frémissantes“ sowie „tremblante exaltation d’un homme qui touche à la folie“ wären auch im Kontext der Beschreibung eines Sexualkontaktes nicht fehl am Platz). Der Leser kann somit durch den Rhythmus und den sprachlichen Erlebniswert Erregung und zumindest in Ansätzen auch Befriedigung erfahren. Das Glück, das Dantès im Moment der Inbesitznahme des Schatzes verspürt, erlebt er möglicherweise mit, besser gesagt: er generiert es, indem er es bei der Lektüre zur Aufführung bringt. Über die erotische Aufladung der (an sich unerotischen) Handlung wird eine motivationale Beteiligung möglich.153 Festzuhalten ist also, dass Gegenstands-
153 Die Aufladung eines Gegenstands zum Lustobjekt kann nicht nur über sexuelle Erlebniswerte vonstattengehen. Vorstellbar ist auch eine Aufladung mit anderen biogenen oder soziogenen Motiven, wie Hunger/Durst, sozialem Anschluss oder Macht. Insofern könnte beispielsweise ein sexuelles
Begehren über
eine
Essens-
oder
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bereiche mit divergierendem Emotionswert bei ihrem simultanen Auftauchen in einem Text auch hinsichtlich ihres Erregungspotenzials interagieren und aufeinander abfärben. Vergleicht man hiermit die Inszenierung des Schatzes in Je m’en vais, so bekommt man das radikale Gegenteil zu spüren. Die Aneignung gestaltet sich – wie bereits die Kürze der darauf verwendeten Passage ikonisiert – relativ nüchtern: Puis, descendant visiter les cales, il trouva tout de suite ce qu’il cherchait. Tout semblait bien là comme prévu, serré dans trois grosses cantines métalliques qui avaient honnêtement résisté au temps. Ferrer eut du mal à faire jouer leurs couvercles soudés par le froid puis, ayant sommairement vérifié leur contenu, il remonta sur le pont pour appeler ses guides.
Die Struktur der Schatzfindung ist alles andere als die einer Verführung. An der Stelle der frenetischen Suche und des schrittweisen, klimaktisch angelegten Vordringens zum begehrten Gegenstand steht der einfache Zugang („tout semblait bien là comme prévu“, „il trouva tout de suite ce qu’il cherchait“); hier verweist kein schönes Äußeres auf ein lustvolles Inneres – die Metallbehälter sind nicht von edler Materialqualität und sind zusätzlich mit dem unerotischen Adjektiv „gros“ besetzt – und erzeugt dadurch beim Leser wohl auch kein Verlangen nach dem Schatz; die eisige Kälte des Nordpols übernimmt den Platz emotionaler Erhitzung; der Inhalt des Gefäßes wird mit keinem Wort erwähnt, so dass über den sprachlichen Erlebniswert kaum Begehren aufkommen wird. Auch der Lektürerhythmus transportiert keinerlei Erregung, vielmehr ist das Erlebnis durch die hypotaktische und vollständige Syntax ein langatmiges und sachliches. Insofern erreicht die Episode aus Je m’en vais mit großer Wahrscheinlichkeit eine geringere motivationale Beteiligung als die aus Le comte de Monte Cristo. Da im Vorfeld kein Verlangen nach dem Schatz erzeugt wird, empfindet der Leser wohl lediglich Ernüchterung bei seiner Inbesitznahme. Man könnte sogar so weit gehen zu behaupten, Echenoz’ Text bemühe eine Rhetorik der Frustration. Statt ein Streben zum Schatz hin vorzuzeichnen, gebraucht er bremsende, dämpfende Bewegungs- und Sprachmuster, so dass es wirkt, als wolle Ferrers Umfeld regelrecht vor den Kunstgegenständen fliehen: Ce qui avait dû être deux papiers froissés, traînant jadis sur le pont parmi des nœuds de cordages, était devenu deux roses des sables sur fond de couleuvres cryonisées, le tout pris dans une couche de glace qui ne se fendilla même pas sous les bottes de Ferrer. […] [C]e serait toute une histoire pour les [les conteneurs] hisser sur le pont avant de les débarquer. On les fixa du mieux qu’on put sur les remorques des skidoos […]
Trinkensmetaphorik für den Leser intensiviert oder die Einverleibung von Objekten, die Aneignung eines Raumes über eine Initiationsmetaphorik spürbar werden.
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[…] la cabine, qu’aucun regard n’avait plus traversée depuis plus de quarante ans, […] Il s’agissait donc d’un petit bateau de commerce. (Hvg. T.H.)
Die hier zitierten Auszüge enthalten Wörter oder Phrasen, die für eine negative Tönung des Erzählten sorgen. Meistens bringen sie eine Enttäuschung und Desillusion („même pas“, „jadis“, „ne…plus“) oder einen Mangel an Motivation zum Ausdruck („ce serait toute une histoire“, „du mieux qu’on put“, „donc“). Auf den Leser überträgt sich dadurch höchstens der Erlebniswert der Lethargie, wodurch das Heimholen des Kunstschatzes als leidige, fast deprimierende Aufgabe erscheint. Analog zur Modulation des Faktors ‚Lust-Unlust‘ spielen auch Erregung und Beruhigung eine entscheidende Rolle für die motivationale Partizipation des Rezipienten. Auch diesbezüglich weisen die beiden Textstellen Differenzen auf. Sie ergeben sich erstens inhaltlich, das Verhalten der Figuren angesichts des Schatzes betreffend. In Le comte de Monte Cristo besitzt der Protagonist eine starke Motivation zum Finden und Öffnen der Kiste; ohne Rücksicht auf eventuelle Gefahren kämpft er sich zu ihr vor. Edmond Dantès wirkt, als befände er sich in einer Art Flow, in dem er alles für den Schatz zu opfern bereit ist. Diese Erregung des Protagonisten wird auch für den Leser spürbar: Da keine Hindernisse oder möglichen Schwächen thematisiert sind, nimmt er auch keine wahr, sondern konzentriert sich selbst unmittelbar auf das Ziel. Der Rezipient kann sich am Begehren des Helden beteiligen, da die Darstellung dessen Perspektive simuliert. Zweitens mag der Rezipient die Aufregung des Protagonisten dadurch erleben, dass die sprachliche Ausgestaltung der Episode den Erlebniswert ‚Dynamik‘ aufweist. Niemals verweilt jener in Kontemplation, sondern ist ausschließlich bei zielstrebigen Tätigkeiten zur Erringung des Schatzes dargestellt („En un instant tous les alentours du coffre furent déblayés“, „En un instant un emplacement de trois pieds de long sur deux pieds de large à peu prés fut déblayé“, Hvg. T.H.). Über die häufigen Verben der Bewegung sowie die Geschwindigkeitsangaben mag sich eine gewisse Unruhe auf den Leser übertragen und die Weichen zur Entwicklung einer motivationalen Beteiligung an der Schatzfindung stellen. Drittens wird Edmond Dantès’ Erregung des auch deshalb erlebbar, weil der Ausschnitt sie über den Lektürerhythmus vergegenwärtigt. Die Exklamativsetzung im Grunde konstativer Aussagen („Dantès les reconnut facilement: l’abbé Faria les lui avait tant de fois dessinées!“), die Subjektivierung der Narrationsanteile durch das ‚on’und rhetorische Fragen („on n’eût pas pris tant de précaution pour remettre à cette place un coffre vide“, „seulement rêvait-il ou était-il éveillé?“), die Akkumulation von Adjektiven und Wiederholungen und damit einhergehende die Verlängerung der Satze sowie die Skandierung des Rhythmus durch häufige Kommata („il était seul, bien seul, avec ces richesses incalculables, inouïes, fabuleuses, qui lui appartenaient“) simulieren eine gewisse Rastlosigkeit, die sich bei der Lektüre im Rezipienten realisiert.
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Im Vergleich dazu ist in Je m’en vais die Erregung des Protagonisten nicht spürbar. Die Textstellen, in denen Ferrer aktiv handelt, sind auf ein Minimum reduziert. Seine Haltung ist eher kontemplativ und wirkt deshalb nicht so zielgerichtet wie die Edmond Dantès’. Während jener seine Motivation herausstreicht, indem er sich die Reichtümer mit großem Aufwand erarbeitet, vermittelt Ferrer den Eindruck von Lethargie. Während die Lust auf den Schatz in Dumas’ Text eindeutig erfahrbar wird, erzeugt Jean Echenoz’ eine gewisse Gleichgültigkeit, was besonders an folgendem Ausschnitt ersichtlich wird: „Ferrer ne disait rien, les deux guides rigolaient en échangeant des plaisanteries intraduisibles. De tout cela, ils avaient plutôt l’air de se foutre alors que lui, Ferrer, était assez ému. Voilà. C’est fait. Il n’y a plus qu’à rentrer.“ Ferrer zeigt keinerlei äußerliche Indizien der Erregung ob des gefundenen Schatzes. Der Erzählerhinweis auf seine affektive Bewegtheit – der freilich durch ein „assez“ abgeschwächt ist – kann sich kaum auf den Leser übertragen, da erstens die Gefühlsnennung nur über geringes Emotionalisierungspotenzial verfügt und sie zweitens nicht durch den Lektürerhythmus beglaubigt wird. Vielmehr wird der Fluss des Satzes durch die Apposition („alors que lui, Ferrer, était […]“) zusätzlich ins Stocken gebracht. Die Einsilbigkeit der Erzählung sowie die Wahl von Passepartout-Wörtern („Voilà. C’est fait.“) transportieren Nüchternheit und damit gerade keine intensive Emotion. Eine Motivation hinsichtlich der Handlung entwickelt der Leser auf diese Weise wohl kaum, sondern eher die distanzierte Kühle, die für den roman impassible charakteristisch ist.154 Unterschiede bezüglich der Motivation des Lesers sind letztlich auch auf die Modulation des Faktors ‚Anspannung/Entspannung‘ zurückzuführen. Bei Anspannung konzentriert sich das Subjekt intensiv auf einen relevanten Gegenstand, während es anderen Reizen gegenüber unempfindlich bleibt. Le comte de Monte Cristo erzeugt einen ausgeprägten Anschein der Reizabschirmung, so dass die Diegese der Passage aus nichts anderem als dem Schatz zu bestehen scheint. Diese Wirkung kommt über die Auswahl der Erzählinhalte zustande. Die Vermittlungsinstanz selektiert alle Informationen so, dass sie nicht bloß thematisch an den Schatz geknüpft sind, sondern den Leser gleichzeitig mit jedem Satz an diesen annähern. Die Narration ist vollständig auf die Truhe und die Erlangung der Reichtümer ausgerichtet. Holz/Metall → Truhe → Truhenschloss bilden eine logische Reihe, die einem Zoom auf die Juwelen ähnelt und die Aufmerksamkeit des Lesers fast zwangsweise auf den Schatz richtet. Zusätzliche Dramatisierung erfährt die Spannungsfrage durch die Tatsache, dass der Ausschnitt offen die Möglichkeit des Scheiterns von Edmond Dantès’ Vorhaben
154 Vgl. Eberlen, Oliver: Roman impassible. Der subversive und undogmatische Umgang mit Narration, Sprache, Realität und Zeit in den Romanen Jean-Philippe Toussaints und Patrick Devilles, Hamburg: Kovac, 2002, S.11.
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thematisiert: „Dantès prit le coffre par les anses et essaya de le soulever: c’était chose impossible“, „Dantès essaya de l’ouvrir: serrure et cadenas étaient fermés: les fidèles gardiens semblaient ne pas vouloir rendre leur trésor.“ Die Aufmerksamkeitszentrierung auf den Schatz mag die Relevanz des Erfolgs der Operation für den Rezipienten erhöhen. Dadurch, dass durch die Unsicherheit des Ausgangs, die Kleinschrittigkeit der Zielannäherung oder die bewusste Verzögerung („il ferma les yeux…“) die Erfüllung der Motivation in Frage gestellt wird, kann die Anspannung steigen. Insofern wird der Leser ebenso wie Dantès versuchen, durch eine stärkere Konzentration auf den Schatz, die Chancen auf seine Erringung zu erhöhen.155 Gemessen daran entsteht in Jean Echenoz’ Textausschnitt eine verhältnismäßig geringe Anspannung, was auf die andere Behandlung des Schatzes durch die Vermittlungsinstanz zurückzuführen ist. Die Wahrnehmung von Figur und Erzähler wird nicht unumschränkt von den Kunstschätzen angezogen; vielmehr bleibt die Aufmerksamkeit des Erzählers mehrfach an Details und Daten hängen, die die Suche mitnichten vorwärtstreiben (der Schiffsname, ein Erotikkalender etc.), oder erreicht in Umgebungsbeschreibungen sogar einen Anschein absoluter Stagnation, was sich beispielsweise in den Formulierungen der Sekundärliteratur, Je m’en vais bestehe in der „Bewegung erstarrter Bilder“ oder die Figuren führten „eine graue Existenz“, widerspiegelt.156 Obgleich die beiden Passagen aus Le comte de Monte Cristo und Je m’en vais inhaltlich ein ähnliches Ereignis behandeln, ermöglichen sie motivationale Beteiligung in recht unterschiedlichem Maße. Hieraus lässt sich folgern, dass die Motivation nicht an die Handlung eines Romans geknüpft ist, sondern an die mit ihr verbundenen Emotionen. Der Abenteuerroman, der nach Volker Klotz elementare Wunsch- und Schrecksituationen anspricht und den Leser aufs Mitfühlen trimmt,157 zelebriert die Modulation der Emotionen, der postmoderne Text hingegen, der Verfremdung erzeugen und zur Reflexion über die Darstellungskonventionen anregen möchte158, vermeidet sie. Die Motivation definiert sich als Veränderung der Affektbilanz des Rezipienten von der Unlust zur Lust, als Erregungs- und Spannungssteigerung mit – im Falle
155 Eine ausführliche Besprechung des Phänomens suspense erfolgt in Kapitel 3.2.3.3. 156 Semsch, Klaus: „Banaler Alltag in exotischer Begegnung. Versuch über postmoderne Erzähllust im Romanwerk von Jean Echenoz“, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, 23 (1999), S.174f. 157 Vgl. Klotz, Volker: Abenteuer-Romane. Eugène Sue, Alexandre Dumas, Gabriel Ferry, Sir John Retcliffe, Karl May, Jules Verne, Reinbek: Rowohlt, 1989, S.81. 158 Vgl. Blanckeman, Bruno: „Je m’en vais, theoretisch“, in: Getz, Andreas/Ette, Ottmar (Hrsg.): Der französischsprachige Roman heute. Theorie des Romans – Roman der Theorie in Frankreich und der Frankophonie, Tübingen: Stauffenburg, 2002, S. 88.
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der Befriedigung – anschließender Beruhigung und Lösung. Je größer die erwartete oder verspürte emotionale Amplitude ausfällt, desto stärker erscheint sie. Damit eine motivationale Beteiligung zustande kommt, muss der Text den Leser die Bewegung von der Unlust zur Lust sowie den Anstieg von Erregung und Spannung im Moment der Lektüre miterleben lassen. Dies ermöglicht erstens der Emotionswert der Inhalte und Wörter; durch die Verwendung sprachlicher Elemente, die im alltäglichen Sprachspiel als lustvoll, erregend oder spannend gelten, kann das Motivationspotenzial eines Gegenstands erhöht werden. Zweitens spielen Veränderungen im Lektürerhythmus eine essentielle Rolle, da sie das Potenzial zur ikonischen Widerspiegelung emotionaler Bewegungen besitzen. Drittens ist auch die Perspektivierung des Erzählten auf einen bestimmten Gegenstand entscheidend: Simuliert der Text eine Reizabschirmung, so kann der Rezipient in eine ähnliche Gemütslage wie die Figur geraten und deren Motivation für ihn spürbar werden. Lässt ein Roman hingegen wider Erwarten keine motivationale Partizipation zu, so mag dies Frustrations-, Gleichgültigkeits- und Unterforderungserfahrungen zur Folge haben. 3.1.3.2.2 Aversive Motivation Für die Psychologie umfasst das Gebiet der Motivationsforschung nicht nur diejenigen Handlungsdispositionen, die auf das Erreichen von Lust abzielen, sondern auch diejenigen, die der Vermeidung von Unlust dienen.159 Im Folgenden soll beispielhaft dargelegt werden, wie bei der Lektüre literarischer Texte aversive Motivation nicht nur für die Figuren angenommen, sondern auch als Lektüreerlebnis erfahrbar wird. Nachdem appetitive Motivation durch die Möglichkeit einer Bewegung zur Lust gekennzeichnet ist, muss im Umkehrschluss aversive eine Tendenz zur Unlust aufweisen, die keine Entspannung oder Lösung erwarten lässt, obschon der Leser sie sich wünscht. Untersucht wird dies anhand einer Passage des Romans Pierre et Jean von Guy de Maupassant. Pierre hat den Verdacht, dass seine Mutter Ehebruch begangen und dem Vater ein Kuckuckskind untergeschoben habe. Seit mehreren Kapiteln kämpft er mit sich, ob er diese Bedenken um der Moral willen aussprechen und dadurch das Leben der Mutter zerstören soll. Diese ahnt bereits aufgrund böswilliger Anspielungen, dass Pierre über ihre Lüge im Bilde ist und wird von starken Schulgefühlen geplagt. Die Tatsache, dass Pierre ihren Ehebruch offenlegen könnte, stellt für sie eine Quelle aversiver Motivation dar, die es um jeden Preis zu vermeiden gilt. Bei der besprochenen Szene handelt es sich um ein Gespräch zwischen M. und Mme Roland sowie Pierre:
159 Vgl. Schmalt, Heinz-Dieter/Langens, Thomas: Motivation, Stuttgart: Kohlhammer, 2009, S.44.
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[M. Roland:] „Vraiment, Louise, tu as mauvaise mine, tu te fatigues trop sans doute à installer Jean! Repose-toi un peu, sacristi! Il n’est pas pressé, le gaillard, puisqu’il est riche.“ Elle remuait la tête sans répondre. Sa pâleur, ce jour-là, devint si grande que Roland, de nouveau, la remarqua. „Allons, dit-il, ça ne va pas du tout, ma pauvre vieille, il faut te soigner.“ Puis se tournant vers son fils: „Tu le vois bien, toi, qu’elle est souffrante, ta mère. L’as-tu examinée, au moins?“ Pierre répondit: „Non, je ne m’étais pas aperçu qu’elle eût quelque chose.“ Alors Roland se fâcha: „Mais ça crève les yeux, nom d’un chien! A quoi ça te sert-il d’être docteur alors, si tu ne t’aperçois même pas que ta mère est indisposée? Mais regarde-la, tiens, regarde-la. Non, vrai, on pourrait crever, ce médecin-là ne s’en douterait pas!“ Mme Roland s’était mise à haleter, si blême que son mari s’écria: „Mais elle va se trouver mal! - Non… non…ce n’est rien…ça va passer…ce n’est rien.“ Pierre s’était approché, et la regardant fixement: „Voyons, qu’est-ce que tu as?“ dit-il. Elle répétait, d’une voix basse, précipitée: „Mais rien…rien…je t’assure…rien.“ Roland était parti chercher du vinaigre; il rentra, et tendant la bouteille à son fils: „Tiens…mais soulage-la donc, toi. As-tu tâté son cœur, au moins?“ Comme Pierre se penchait pour prendre son pouls, elle retira sa main d’un mouvement si brusque qu’elle heurta une chaise voisine. „Allons, dit-il d’une voix froide, laisse-toi soigner puisque tu es malade.“ Alors elle souleva et lui tendit son bras. Elle avait la peau brûlante, les battements du sang tumultueux et saccadés. Il murmura: „En effet, c’est assez sérieux. Il faudra prendre des calmants. Je vais te faire une ordonnance.“ Et comme il écrivait, courbé sur son papier, un bruit léger de soupirs pressés, de suffocation, de souffles courts et retenus le fit se retourner soudain. Elle pleurait les deux mains sur la face. Roland, éperdu, demandait: „Louise, Louise, qu’est-ce que tu as? mais qu’est-ce que tu as donc?“ Elle ne répondait pas et semblait déchirée par un chagrin horrible et profond. Son mari voulut prendre ses mains et les ôter de son visage. Elle résista, répétant: „Non, non, non.“ Il se tourna vers son fils: „Mais qu’est-ce qu’elle a? je ne l’ai jamais vue ainsi. - Ce n’est rien, dit Pierre, une petite crise de nerfs.“160
160 De Maupassant, Guy: Pierre et Jean, Paris: LGF, 2008, S.125f.
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Die ärztliche Untersuchung der Mutter durch Pierre wird als Bewegung von der Lust zur Unlust inszeniert. Der Beginn der Passage steht im Zeichen positiver Konnotationen: Er handelt vom Bruder Jean und dessen Plänen zur Einrichtung einer Wohnung gemeinsam mit seiner Verlobten. Die Assoziationen, die der Leser mit diesem Handlungsstrang verbindet, sind durchgehend hedonistisch, zumal sich Jean bislang konsequent zum Wohl seiner Familie eingesetzt und nie für UnlustSituationen gesorgt hat. Mittels dieser positiven Besetzung hat im Laufe der Lektüre eine Art emotionale Konditionierung des Rezipienten stattgefunden,161 so dass die bloße Nennung des Namens ‚Jean‘ zu Beginn des Ausschnitts trotz der personalen Abwesenheit der Figur in der Szene ein Lustmoment integrieren mag. Dieser Effekt wird zusätzlich durch die Konnotationen unterstrichen, in deren Zusammenhang Jean erwähnt ist: „gaillard“ und „riche“ erinnern an seine Unkompliziertheit. Diese anfängliche Leichtigkeit wird allerdings von Pierre beschwert, der sprechend und handelnd immer mehr Raum einnimmt und damit den Erlebniswert verdunkelt. Dem Leser werden, bevor er an die vorliegende Stelle des Romans gelangt, zahlreiche Szenen vorgeführt, in denen der junge Arzt beständig im Kampf gegen seine Destruktionswut scheitert, in denen er versucht, eine glänzende Fassade aufrecht zu erhalten, um schließlich doch von seinen Rachegefühlen in Besitz genommen zu werden und die Harmonie der Familie Roland zu stören. Durch die häufige Wiederholung dieses Schemas wird Pierre zum bedingten Reiz für eine Unlusterfahrung. Betont wird dieser Effekt durch die unangenehmen Konnotationen der Wörter, mit denen Pierres Verhalten bedacht ist („la regardant fixement“, „d’une voix froide“). Insgesamt lässt sich folglich für den Ausschnitt eine Bewegung von anfänglicher Lust zur Unlust konstatieren, deren Vehikel der Konzentrationsumschwung von Jean auf Pierre darstellt. Diese Zunahme der Unlust korreliert mit dem Verhalten der Mutter, deren Befinden sich im Laufe der Szene merklich verschlechtert. Während zunächst lediglich von ihrem ungesunden Aussehen und ihrer Blässe die Rede ist, weist sie später immer augenfälligere Symptome des Unwohlseins auf (Japsen, überstürztes Sprechen, hoher Blutdruck, Fieber, Weinen), so dass die Mutter in der Szene als Opfer des negativen Einflusses ihres Sohnes erscheint. Zweitens ist eine Zunahme der Erregung zu verzeichnen. Die gesamte Passage nimmt im Vergleich zur Nullstufe des Romans bereits durch die Redewiedergabe eine Sonderstellung ein. Normalweise kommen die Figuren in Pierre et Jean nur zu Wort, wenn ihre Äußerungen für den Fortgang der Handlung relevant sind. Die Tatsache, dass sich der Anteil wörtlicher Rede im aktuellen Absatz signifikant erhöht, beeinflusst die Bewertung der Szene und die Aufmerksamkeit des Rezipienten für sie.162 Innerhalb dieser herausragenden Situation ist nun fernerhin eine Zunahme
161 Zu solchen Kontiguitätsphänomenen siehe auch Kapitel 3.2.5.3. 162 Genauer auf das foregrounding geht Kapitel 3.2.5.2 ein.
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der Erregung im Laufe des Absatzes spürbar, die über die steigende Emotionalität M. und Mme Rolands transportiert wird. Zu Anfang der Szene spricht M. Roland in beschwichtigendem Tonfall, der Rhythmus seiner Sätze ist relativ fließend. Mittels Koseworten („ma pauvre vieille“) evoziert er Mitgefühl und Zuneigung für seine unpässliche Ehefrau zum Ausdruck. Nach und nach jedoch wächst seine Bedrängnis. Immer mehr Imperative und Exklamativsätze durchziehen seine Äußerungen, der Lektürerhythmus gerät ins Stocken. Indem M. Roland seine Sätze deutlicher phraseologisiert („tu le vois bien, toi, qu’elle est souffrante, ta mère“ statt „tu vois bien que ta mère est souffrante“), Wiederholungen einflicht („mais regarde-la, tiens, regarde-la“, Hvg. T.H.) und die Teleologie seiner Aussagen abnimmt („Tiens…mais soulage-la donc, toi.“, Hvg. T.H.), was visuell auch durch die wachsende Anzahl der Auslassungspunkte spürbar wird, kann sein Ton als atemlos und verzweifelt wahrgenommen werden. Ein Höchstmaß an Dramatik mag die Szene erreichen, als M. Roland schließlich nur noch schreiend mit Apostrophen gespickte Fragmente hervorstößt, was mit einer erneuten Beschränkung des Gehalts und einer Zunahme der Wiederholungen einhergeht („Louise, Louise, qu’est-ce que tu as? mais qu’est-ce que tu as donc?“, „Mais qu’est-ce qu’elle a? je ne l’ai jamais vue ainsi.“). Insofern weisen die Äußerungen des Ehemanns einen deutlichen Erregungsanstieg auf, der auch für den Rezipienten spürbar wird, zumal ihn der Rhythmus ikonisch aufnimmt. Auch für Mme Roland lässt sich eine eindeutige Verdichtung der Bedrängnis ausmachen. Während sich ihr Beitrag zur Konversation zunächst auf eine Schweigereaktion beschränkt, ergreift mit steigender Vehemenz ihres Ehemannes auch sie das Wort. Dabei simulieren die stoßweise hervorgebrachten, oft einsilbigen Phrasen, ihre Tendenz zur Wortwiederholung und die häufig verwendeten Auslassungspunkte ihre gestiegene Verzweiflung („- Non…non…ce n’est rien…ça va passer…ce n’est rien.“, „Mais rien…rien…je t’assure…rien.“) – eine Entwicklung, die im „Non, non, non.“ gipfelt. Drittens lässt sich für die Passage auch eine Zunahme der Spannung registrieren. Während eingangs die Konversationen noch das Befinden der Mutter und Maßnahmen zur Abhilfe betreffen, engt sich der Blickwinkel im Laufe der Szene zunehmend ein. Durch das Hinzuziehen der Ärztemeinung und die Ratlosigkeit M. Rolands konzentriert sich die Aufmerksamkeit der Figuren mehr und mehr auf die Frage „Qu’est-ce que tu as?“, die allein in der zweiten Passagenhälfte vier Mal formuliert wird. Die Sorge um die Ehefrau verwandelt sich auf diese Weise zu einer peinlichen Befragung. Diese erhöhte Aufmerksamkeit für den Grund der Unpässlichkeit der Mutter kann den Effekt einer Reizabschirmung erzeugen. Insgesamt besitzt der vorliegende Abschnitt somit die Voraussetzung zur Erzeugung einer aversiven Motivation, indem es eine Abnahme der Lust bei gleichzeitiger Zunahme von Erregung und Spannung übermittelt. Auf diese Weise vermag Mme Rolands Untersuchung durch Pierre zu einem unangenehmen Ereignis
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für den Leser zu werden: Dadurch, dass sein Erlebnis mit den angenommenen Emotionen Mme Rolands parallelisiert ist, möchte er das Aufdecken ihres Geheimnisses vermeiden.163 Insofern ist die aversive Motivation ein Generator von Mitgefühl, gleichzeitig hat sie aber auch eine normzementierende Funktion: Wenngleich der Ehebruch aus dem Roman ausgespart ist, bleibt sein negativer Effekt deutlich spürbar. Im Zentrum steht also weniger die naturalistische Beschreibung von Figuren des bürgerlichen Milieus, sondern vielmehr der affektive Eindruck, den diese hinterlassen.164 Hierin trägt Pierre et Jean bereits ein Stück weit moderne Züge. 3.1.3.3 Zusammenfassung Der Leser kann im Laufe der Lektüre in Abhängigkeit von Atmosphären- und Gefühlserlebnissen Motivationen ausbilden. Diese äußern sich meist als Wünsche an den Fortgang der Handlung oder die Entwicklung des Protagonisten, sind genauer gesagt aber an den Ausgleich der Affektbilanz und damit an die Erwartung einer bestimmten Erlebnisqualität gekoppelt. Die Motivation ist eine Emotionsbewegung; sie charakterisiert sich über die Erhöhung des Erregungs- und Spannungsniveaus sowie bei appetitiver Motivation durch den Fluss von Unlust zur Lust, bei aversiver durch die Tendenz von der Lust zur Unlust. Je höher die Amplitude des erwarteten Lustanstiegs oder -abfalls, desto stärker die Motivation. Motivationale Beteiligung an Romanen wird möglich, wenn der Rezipient bei der Lektüre eine Emotionsbewegung erlebt. Dies ist der Fall, wenn der Erlebniswert der sprachlichen Äußerungen eine entsprechende Veränderung moduliert und wenn der Lektürerhythmus oder verschiedene ikonische Elemente sie spürbar machen. Erhöhte Erregung vermag durch Dynamik in der Wortwahl, die Konzentration des Erzählers auf die Aktivität der Figur oder durch einen beschleunigten Rhythmus auf den Leser übertragen zu werden. Anspannung kann der Rezipient bemerken, wenn der Roman eine Reizabschirmung simuliert, d.h. wenn sich die Fixierung des Protagonisten auf einen Gegenstand in der Perspektive der Narration widergespiegelt findet. Die Intensität der Partizipation kann darüber hinaus gesteigert werden, indem die Aussicht auf eine Balancierung des Affekthaushalts zwar präsent gemacht, aber verzögert oder bedroht wird.
163 Pierre et Jean erschöpft sich nicht in der Vermeidung des Aufdeckens, sondern erzeugt gleichzeitig auch den Wunsch, dass Pierre das Geheimnis preisgibt. Hierauf wird im Kapitel zur 3.2.3.3 ausführlicher eingegangen. 164 Vgl. Dussart, Delphine/Hervé-Montel, Cathérine: Maupassant romancier, Paris: Ellipses, 1999, S.14.
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3.1.4 Kontextualisierendes Resümee Dass der Emotion in literarischen Kommunikationsprozessen eine Schlüsselrolle zukommt, beweist ihre Präsenz in den einschlägigen semiotischen Theorien. Karl Bühler etwa illustriert mit seinem Organonmodell den Gedanken, dass Sprechen nicht nur in der Mitteilung von Information über Gegenstände und Sachverhalte (Darstellungsfunktion) besteht, sondern auch der Aktivierung des Gegenübers (Appellfunktion) sowie der Exteriorisierung der Haltung des Senders zum Gesagten (Ausdrucksfunktion) dient. Ob man wolle oder nicht, würden beim Kontakt zweier Subjekte stets auch emotionale Anteile transportiert, Jede Äußerung artikuliere die Persönlichkeit des Sprechers und spiegle in Form und Stil dessen Gemütszustand wider.165 Auch Roman Jakobson integriert in sein Kommunikationsmodell eine ‚emotive Sprachfunktion‘: Diese weise den Rezipienten auf die affektive Haltung des Produzenten hin, indem sie auf intersubjektiv geteilte Konventionen des Gefühlsausdrucks rekurrierten.166 Doch die Aufmerksamkeit, die die Kommunikationstheorien der Emotion zuteil werden lassen, richtet sich nicht auf die Partizipation. Die Modelle betrachten jene als Regung der Senderseite, deren Existenz dem Empfänger mittels Kodes angezeigt wird. Der Leser identifiziert die Gefühle seines Gegenübers, ohne sich jedoch mit ihnen zu identifizieren. Insofern besteht die Emotion in einer unilateralen Bewegung vom Adressant zum Adressaten, die die affektiven Regungen des Rezipienten nicht aufs Tapet bringt. Angesichts der Tatsache, dass der Rezipient den Text in seiner Vorstellung zur Aufführung bringt und ihm Leben einhaucht, kann dieser nicht als bloßer Dekodierer einer emotionalen Romanbotschaft gedacht werden, sondern muss gleichzeitig selbst als Sender verstanden werden muss. Schließlich können Emotionen nur dann für Romane konstatiert werden, wenn der Leser diesen sein Bewusstsein leiht: Erst wenn die Angaben zum Chronotopos mit seiner Gemütslage eine produktive Verbindung eingehen, entsteht eine Atmosphäre; erst wenn er ein Gefühl oder eine Gefühlsbewegung bei der Lektüre spürt, kann diese auch für eine Figur oder den Erzähler Realität werden. Folglich besteht die Romankommunikation nicht in der unidirektionalen Übertragung von Affektdaten und der Reaktion darauf, sondern in der Bildung eigener Emotionen in Interaktion mit dem Text. Im alltäglichen Sprechen über Romane wirkt es, als wären dem Text Atmosphären, Gefühle und Motivationen inhärent. Orte und Figuren scheinen diese zu besitzen, so dass sie dem Leser in objektivierter Form begegnen. In Wirklichkeit handelt es sich dabei
165 Vgl. Bühler, Karl: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Stuttgart: Fischer, 1982, S.32. 166 Vgl. Jakobson, Roman: „Closing Statement. Linguistics and Poetics“, in: Sebeok, Thomas Albert (Hrsg.): Style in Language, New York: Wiley, 1960, S.357.
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jedoch um eine Postkonstruktion: Literatur kann nur dann Emotionen ausbilden, wenn der Rezipient seinen Erfassungsapparat und seine kulturelle Erfahrung als Austragungsort des Romans zur Verfügung stellt und das Gelesene animiert.167 Der Leser ist dahingehend nicht nur Beobachter einer sich abspielenden Handlung, sondern beteiligt sich als Akteur an ihr. Wie Alonso Quijano durch die Lektüre zum Ritter wird, wird auch er lesend Teil des Romans. Das vorliegende Kapitel untersuchte die unterschiedlichen Formen und Ausprägungen der emotionalen Beteiligung des Rezipienten an narrativen Texten. Das Ziel bestand in der Erarbeitung eines Modells zur Erklärung, warum Leser bisweilen in ihrer Rezeptionstätigkeit aufgehen, sich in das Gelesene hineinversetzen und emotionale Bindungen zum Raum, den Figuren oder der Handlung eingehen. Anhand etlicher Beispielanalysen wurde herausgearbeitet, wie Atmosphären, Gefühle und Motivationen vom Leser erfahren werden können und er durch sie Teil der Romanwelt wird. Als Quellen der Partizipation haben sich dabei zwei Faktoren als bestimmend erwiesen: der Erlebniswert der Sprache und der Lektürerhythmus. Ersterer beruht auf dem Rückgriff auf kulturelles Emotionswissen auf kognitiven Prinzipien, zweiterer wirkt unmittelbar über die sinnliche Wahrnehmung. 3.1.4.1 Der emotionale Erlebniswert der Sprache Der Rezipient beteiligt sich emotional am Roman, indem er ihn als Partitur benutzt, die er in seiner Vorstellung zur Aufführung bringt. Dies geschieht über die Schaffung eines mentalen Modells der Romanwelt und ihrer Ereignisse. Wie Ursula Christmann und Norbert Groeben in „Psychologie des Lesens“ betonen, erzeugt der Rezipient nicht nur eine symbolische Repräsentation des Texts, indem er dessen Bedeutung extrahiert, sondern er bringt gleichzeitig ein virtuelles Abbild hervor,
167 Raul Schrott und Arthur Jacobs weisen in Gehirn und Gedicht darauf hin, dass die Attribuierung von Emotionen durch den Rezipienten kein Spezifikum des Umgangs mit literarischen Texten, sondern eine anthropologische Konstante ist: Die Tendenz zur Personifizierung seines Umfelds und zur Attribuierung von Intentionen sei dem Menschen angeboren. Körperliche Voraussetzung hierfür seien die Spiegelneuronen, die einen das Gelesene oder Gesehene aus der Perspektive des Gegenübers empfinden ließen (vgl. Schrott, Raoul/Jacobs, Arthur: Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeiten konstruieren, München: Hanser, 2011, S.30.). Fritz Breithaupt geht in Kulturen der Empathie sogar so weit, die Spiegelung der Emotionen und Motivationen der Hauptfiguren als unabdingliche Voraussetzung eines jeden Lektüreprozesses zu denken: „Wir lassen Empathie zu, wenn wir in Geschichten denken und wir fühlen uns in Narrationen dadurch ein, dass wir Empathie mit anderen und fiktiven Charakteren entwickeln“ (Breithaupt, Fritz: Kulturen der Empathie, Frankfurt: Suhrkamp, 2009, S.114.).
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das das Gelesene „analog, ganzheitlich, inhaltsspezifisch und anschaulich“168 verkörpert. Romane erfordern folglich Aktivität auf zwei Ebenen: auf der propositionalen, in Form der semantischen Erfassung einer sprachlichen Struktur und auf der bildgenerierenden, durch die Herstellung einer mentalen Illustration des Beschriebenen.169 Wie der „Film“ aussieht, der sich während der Lektüre im Kopf des Lesers abspielt, hängt mit der sprachlichen Kodierung zusammen, genauer gesagt mit kulturellen Erfahrungen, Erinnerungen und Wahrnehmungsmustern, die dieser mit den verwendeten Wörter assoziiert und aufgrund der Abwesenheit eines Referenzobjekts in seiner Vorstellung ergänzt.170 Auch wenn der Roman per se nicht zu den bildlichen Medien gerechnet wird, so ist ihm in seiner Performanz durch den Doppelcharakter der Sprache als Lautkörper und als Imagination dennoch eine gewisse Anschaulichkeit inhärent.171 Das mentale Modell des Rezipienten ist nicht wertneutral, sondern emotional profiliert. Wie Ernst Pöppel betont, existiert keine Vorstellung, die nicht mit einem Gefühlserlebnis in Verbindung stünde.172 Vielmehr übernehmen Affekte die Funktion von Schleusen zur Regulierung der Repräsentationen im Kopf des Lesers: Da Emotionen und Informationen gemeinsam abgespeichert werden, werden sie auch zusammen reaktiviert.173 Das lässt sich dahingehend begründen, dass Sprecher den Gebrauch von Wörtern nicht erlernen, indem sie deren Bedeutung wie in einem Lexikon abspeichern, sondern indem sie ein bestimmtes Erlebnis mit ihnen verknüpfen. Dessen affektiver Wert erlischt niemals vollständig, auch wenn das Individuum mit der Routine die Fähigkeit zur Abstraktion gewinnt. Sprache bleibt stets partiell situationsgebunden, ihr sind bereits „konventionelle Sichtweisen auf die Welt eingelagert […], die bei jedem Gebrauch dieser Formen ihre Wirksamkeit entfal-
168 Christmann, Ursula/Groeben, Norbert: „Psychologie des Lesens“, in: Franzmann, Bodo/Hasemann, Klaus/Löffler, Dietrich/Schön, Erich (Hrsg.): Handbuch Lesen, Baltmannsweiler: Schneider, 2006, S.170. 169 Vgl. Dijk, van Teun/Kintsch, Walter: Strategies of Discourse Comprehension, New York: Academic Press, 1983, S.336. 170 Vgl. Petersen, Jürgen: Erzählsysteme. Eine Poetik epischer Texte, Stuttgart: Metzler, 1993, S.405. 171 Vgl. Gabriel, Gottfried: „Der Erkenntniswert der Bilder“, in: Nortmann, Ulrich/Wagner, Christoph (Hrsg.): In Bildern denken? Kognitive Potentiale von Visualisierung in Kunst und Wissenschaft, München: Fink, 2010, S.19. 172 Vgl. Pöppel, Ernst: Lust und Schmerz. Vom Ursprung der Welt im Gehirn, München: Siedler, 1993, S.229. 173 Vgl. Ciompi, Luc: Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwürfe einer fraktalen Affektlogik, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1997, S.97.
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ten“174. Insofern sind Gefühle „in der Erinnerung gespeicherte körperliche Verhaltenswerte und Erfahrungszustände“175, die den Leser einen Roman atmosphärisch getönt wahrnehmen lassen. Die Analysen haben gezeigt, dass die emotionale Intensität, die der Leser der imaginierten Romanwelt entgegenbringt, von drei Faktoren abhängt: der Konkretheit, der Detailfülle und dem Grad der emotionalen Aufladung der verwendeten Wörter. Erstens: Wird von einem Ereignis erzählt, ohne dass dieses an einen konkreten Raum oder Figur geknüpft ist, dann erscheint dieses dem Rezipienten im Normalfall wenig präsent. So gehen allgemeine Reflexionen oder argumentative Passagen tendenziell mit einer geringen emotionalen Aktivierung einher, da der Leser einer Projektionsfläche für seine Lektüreerlebnisse entbehrt.176 Ist das Erzählte hingegen in einen greifbaren Kontext integriert, so erscheint es anschaulicher, die Vorstellung füllt sich mit Bildern. Eine bekannte Figur oder ein bekannter Ort mögen hierbei den Emotionsgrad zusätzlich erhöhen: Da der Rezipient mit ihnen bereits affektive oder atmosphärische Erfahrungen verknüpft, kann sich die Beteiligung intensiver gestalten. Zweitens: Das emotionale Partizipationspotenzial eines Ausschnitts steigt proportional zur Quantität an Text, der auf die Beschreibung eines Orts, einer Figur, einer Handlung oder eines Ereignisses verwendet wird. Sind diese en détail behandelt, so ist der Leser ausgeprägter mit ihnen konfrontiert und allein wegen der gestiegenen Lektüredauer dazu gezwungen, sich stärker mit ihnen zu befassen, wodurch sie gegenwärtiger erscheinen. Wird ein Gegenstand jedoch nur kurz erwähnt, so wird er dem Leser kaum bemerkenswert erscheinen; da ihm die Vermittlungsinstanz keine Aufmerksamkeit zuerkennt, verwehrt auch er sie ihm. Insofern ermöglicht die Informationsauswahl die Steuerung der Präsenz und damit der Eindringlichkeit der erlesenen Emotionen.177 Drittens: Die Qualität der emotionalen Beteiligung resultiert aus dem Erfahrungsschatz des Rezipienten. Nicht allen Äußerungen eignet eine gleich starke Af-
174 Köller, Wilhelm: Perspektivität und Sprache. Zur Struktur von Objektivierungsformen in Bildern im Denken und in der Sprache, Berlin: de Gruyter, 2004, S.22. 175 Schrott, Raoul/Jacobs, Arthur: Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeiten konstruieren, München: Hanser, 2011, S.64. 176 Die Tatsache, dass die Intensität reduziert ist, ist nicht gleichbedeutend mit einer geringeren Beteiligung. Schließlich kann auch eine emotionsarme Passage die Gefühle einer Figur oder des Erzählers oder die Beschaffenheit einer Atmosphäre widerspiegeln. 177 Übertragbar ist dies auch auf den Erzähler: Solange er unpersönlich bleibt und hinter der Diegese verschwindet, wird er nur eingeschränkt Gefühle provozieren können. Je mehr Raum er allerdings einnimmt, desto stärker steigt seine Emotionalisierungsfähigkeit.
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fektivität, sondern diese variiert mit ihrem Verwendungskontext. Der Roman ist in diesem Sinne kein Kode, der neutrale Bedeutungen transportieren würde, sondern er entzündet im Rezipienten Haltungen und Gefühle. Je nachdem, welchen Erlebniswert dieser mit bestimmten Worten, Formulierungen und Sätzen verbindet, enthält seine Vorstellung eine mehr oder weniger ausgeprägte Färbung.178 Die Linguistik beschäftigt sich seit den 90er Jahren unter dem Konzept ‚emotive meaning‘ sporadisch mit der Fähigkeit des Lexikons zur Evokation von Emotionen.179 Die meisten Beiträge hierzu betrachten emotionale Gehalte als den Wörtern inhärent: Am stärksten ausgeprägt sei, so etwa Silke Jahr in Emotionen und Emotionsstrukturen in Sachtexten und Monika Schwarz-Friesel in Sprache und Emotion, die emotionale Intensität in Interjektionen (wie ‚Ah!‘ oder ‚Jipiiehh!‘), da sie kaum Informationen transportierten, sondern ausschließlich der Evokation von Emotionen dienten. Daneben spielten Diminutiva und Aumentativa, Pejorativa, Kose-, Schimpf-, Tabu-, Schlagwörter (‚Menschenwürde‘), superlativische Ausdrücke, Prä- und Suffixe (‚Mistwetter‘), Adverbien (‚zum Glück‘), Modalpartikeln (‚sogar‘), Modalverben, Anführungsstriche, metaphorische Komposita (‚Profitgeier‘) sowie die doppelte Verneinung eine wichtige Rolle. Auch beim Vergleich von Synonymen für ein Signifikat werde der emotionale Mehrwert mancher Lexeme sichtbar (z.B. die stärkere emotionale Bedeutung von ‚Bude‘ im Relation zu ‚Haus‘). Auf syntaktischer Ebene vermittelten Optativ-, Exklamativ- und Fragesätze häufig Emotionalität, darüber hinaus Wortwiederholungen, syntaktische Parallelismen, die Anfangsstellung, die Hervorhebung von Wörtern oder Satzteilen (durch Anführungszeichen, Fettdruck etc.) sowie alle Formen rhetorischer Stilfiguren Emotionalität.180
178 Dass die Gefühlsfärbung des Lexikons nicht bloß das Resultat individueller Erfahrungen ist, sondern dass durchaus von einer intersubjektiven Teilbarkeit innerhalb des gleichen kulturellen Kontexts ausgegangen werden kann, beweist die „Berlin Affective Word List“. Beim empirischen Test der emotionalen Wertigkeit und des Erregungspotenzials von 2900 deutschen Wörtern blieben die Variationen meistens relativ gering (in: (19.02.2014). 179 Vgl. Hermanns, Fritz: „Dimensionen der Bedeutung (Bd.3). Aspekte der Emotion“, in: Cruse, Alan/Hundsnurscher, Franz/Job, Michael/Lutzeier, Peter Rolf (Hrsg.): Lexikologie. Ein internationales Handbuch zur Natur und Struktur von Wörtern und Wortschatz, München: de Gruyter, 2005, S.357. 180 Vgl. Jahr, Silke: Emotionen und Emotionsstrukturen in Sachtexten, Berlin: de Gruyter, 2000, 61f. Sowie: Schwarz-Friesel, Monika: Sprache und Emotion, Tübingen: Francke, 2007, S.213f.
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Es gilt zu berücksichtigen, dass eine solche Liste lediglich Emotionswahrscheinlichkeiten anzugeben vermag. Im Grunde kann über die emotionale Energie eines Worts pauschal nichts ausgesagt werden, da sein Erlebniswert kontextabhängig ist. Selbst auf den ersten Blick affektiv indifferente Worte könnten, so Magdalene Konstantinidou, je nach Bezugsrahmen emotionale Reaktionen auslösen.181 Umgekehrt können solche mit hohem Gefühlspotenzial in bestimmten Kontexten der Emotionalität völlig entkleidet sein. Ein Beispiel hierfür liefert folgender Ausschnitt aus Jean-Philippe Toussaints La salle de bain: „Ainsi est-il possible de se représenter que le mouvement, aussi fulgurant soit-il en apparence, tend essentiellement vers l’immobilité, et qu’en conséquence, aussi lent peut-il parfois sembler, entraîne continûment les corps vers la mort, qui est immobilité. Olé.“182 Das ‚Olé.‘ am Ende der Passage zählt als Interjektion eigentlich zur Klasse der Redeteile stärkster emotionaler Intensität. Dennoch büßt es in diesem Zusammenhang – in Kontrast mit der Reflexion über den Tod und ohne Ausrufezeichen – an Potenz ein. Statt affektiver Involviertheit schafft es Distanz, zumal es das zuvor Gesagte ironisiert. Insofern lässt sich eine eindeutige Trennlinie zwischen emotionsschweren und emotionslosen Wortarten nicht ziehen. Das Ausmaß der vom Rezipienten erlebten Emotionen ergibt sich erst in der Aufführung des Texts und variiert somit situativ. Wie Ludwig Wittgenstein in Philosophische Untersuchungen feststellt, sind alle Äußerungen von kontextuellen Faktoren determiniert: Verstehen, auch emotionales, konstituiert sich erst vor dem Hintergrund der jeweiligen Kommunikationssituation. Außerhalb ihres Gebrauchs beinhaltet Sprache nichts.183 In Romanen ist diese Fähigkeit von Wörtern, sich mit der emotionalen Spannung ihres Umfelds aufzuladen, häufig in besonderem Maße ausgeprägt. Bei polysemen Äußerungen etwa, deren Anteil in der literarischen Kommunikation tendenziell höher ist als in der alltäglichen, legen sich nicht nur mehrere Bedeutungsschichten übereinander, sondern es interagieren auch die mit ihnen verbundenen emotionalen Qualitäten. Ein weiteres Beispiel für die emotionale Neubesetzung stellen Neologismen und Metaphern dar. Auch hier färben die Erlebniswerte mehrerer bekannter Begriffe aufeinander ab, woraus sich eine neue Gefühlsqualität ergibt. Neuschöpfungen, die durch Komposition und Derivation entstehen, bringen zwei zunächst unabhängige Emotionseinheiten zusammen, wodurch nicht nur eine Benennungslücke geschlossen, sondern auch ein neuer affektiver Wert gebildet
181 Vgl. Konstantinidou, Magdalene: Sprache und Gefühl. Semiotische und andere Aspekte einer Relation, Hamburg: Buske, 1997, S.58. 182 Toussaint, Jean-Philippe: La salle de bain, Paris: Minuit, 2005, S.38. 183 Vgl. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt: Suhrkamp, 2001, S.797f.
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wird.184 Bei der oben zitierten Metapher „Tels sont les feux tournants de la jalousie“ aus La Prisonnière erfährt das Wort ‚jalousie‘ dadurch eine Intensivierung, dass es mit der Gefährlichkeit des Feuers und der Dynamik des Drehens in Verbindung gebracht wird. Die emotionalen Implikationen der Eifersucht werden auf diese Weise für den Rezipienten deutlicher spürbar als durch das bloße Gefühlswort. Insofern sind Neologismus und Metapher als synästhetische Wahrnehmungsformen zu verstehen, zumal sie durch die Bildung einer neuen kognitiven Verbindung zwischen den Gegenstandsbereichen auch eine emotionale Verschmelzung erreichen.185 Indem sich zwei Lexeme gegenseitig semantisch befruchten, multiplizieren sie also gleichermaßen ihr emotionales Potenzial.186 Abgesehen davon zeichnet sich die Literatur dadurch aus, dass sie die Interaktion zwischen Wörtern befördert, die man in der Alltagssprache nicht miteinander in Beziehung bringen würde. Roman Jakobson zeigt in „Linguistik und Poetik“ auf, dass Enunziate über die Herstellung eines lautlichen oder syntaktischen Parallelismus zueinander gruppiert werden. Als Beispiel hierfür nennt er die Bezeichnung „ekliger Erik“, in der die Wörter durch ihr ähnliches Aussehen und den gleichartigen Klang auch inhaltlich verschmölzen: In dem Moment, in dem sie nebeneinander genannt würden, wirke es, als wäre Erik sein ekelhaftes Wesen inhärent. Durch die Äquivalenz entsteht ein Sinn, der in einem anderen Kontext (z.B. „ekliger Hans“) nicht augenfällig geworden wäre.187 Diese Gewohnheit des Rezipienten, im Grunde unabhängige Begriffe über ihre akustischen oder visuellen Eigenschaften miteinander zu vernetzen, wirkt sich auch auf das Emotionserlebnis aus: Erik wird von der affektiven Energie des ‚eklig‘ angesteckt, sie haftet ihm von nun ab an. Diese Vermischung der Erlebniswerte von Äußerungen mit ihrem Auftretenskontext ist auch der Grund dafür, warum Wörter, die dem Rezipienten aus dem alltäglichen Sprachgebrauch unbekannt und deshalb gefühlsmäßig unbesetzt sind – wie etwa die Bezeichnungen von fiktionalen Figuren oder Orten –, dies nicht den ganzen Roman über bleiben müssen. Solange der Leser nichts über sie weiß, verbindet er mit ihnen keinen spezifischen Erlebniswert; wird eine Figur al-
184 Überdies verstärkt sich das Emotionalisierungspotenzial bei Neologismen insofern, als diese durch ihre Fremdheit auch die kognitive Aufmerksamkeit des Rezipienten bündeln und dadurch die Präsenz der Vorstellung erhöhen. 185 Vgl. Baudson, Tanja Gabriele: „Synästhesie, Metapher und Kreativität“, in: Dresler, Martin (Hrsg.): Kognitive Leistungen. Intelligenz und mentale Fähigkeiten im Spiegel der Neurowissenschaften, Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag, 2011, S.147. 186 Vgl. Kurz, Gerhard: Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2004, S.8. 187 Vgl. Jakobson, Roman: „Linguistik und Poetik“, in: Ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze, Frankfurt: Suhrkamp, 1979, S.93.
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lerdings beispielsweise unablässig in positiver Atmosphäre gezeigt, beweist sie einen sympathischen Charakter oder suggeriert der umgebende Lektürerhythmus ein Lusterleben, so können sich diese erlesenen Erfahrungen dem Namen anheften. Insofern stammt das affektive Potenzial des Wortschatzes nicht nur aus dem Alltagsgebrauch, sondern auch der Roman kann es generieren. Über einen Lernprozess, der mit dem des Spracherwerbs vergleichbar ist, fusionieren Äußerung und emotionale Befindlichkeit.188 Das gleiche Schema lässt sich auf globalerer Ebene in Bezug auf die Intertextualität wiederfinden. Ganze Romansituationen laden sich atmosphärisch, gefühlsmäßig oder motivational auf, sobald sie den Rezipienten an andere literarische Texte erinnern oder er in ihnen ein stereotypes Muster wiedererkennt.189 Sie können auf diese Weise eine emotionale Wertigkeit erhalten, die sie von sich aus nicht besäßen.190 Das Potenzial narrativer Texte zur Generierung von Emotionen über den sprachlichen Erlebniswert realisiert sich erst in der Aufführung des Romans bei der Lektüre, da die Interaktion von Wörtern, Äußerungen, Sätzen oder Darstellungsmustern des Bewusstseins eines Rezipienten bedarf, der sie vollzieht. Damit einher geht die Tatsache, dass die emotionale Beteiligung nicht am Text selbst ablesbar ist, sondern lediglich in Abhängigkeit vom zeitlichen Verlauf des Werks beschrieben werden kann. Die Emotionen, die der Rezipient bei der Lektüre verspürt, kann er von dem Moment an zu seinem kulturellen Wissen zählen und er ruft sie gegebenenfalls auch ab, wenn ihn die Realität an die rezipierte Situation erinnert. Auf diese Weise endet die Partizipation nicht an den Buchdeckeln, sondern kann auch die emotionale Wahrnehmung der Wirklichkeit mitprägen. 3.1.4.2 Die sinnliche Wahrnehmung als Quelle der Emotion Der Erlebniswert der Sprache bildet nicht die einzige Möglichkeit zur emotionalen Beteiligung. Wäre dem so, dann unterschiede sich das affektive Erlebnis nicht signifikant von dem einer ungeplanten Alltagserzählung. Nun ruft Literatur aber häufig viel intensivere Reaktionen hervor als etwa die Erzählungen des Nachbars im Treppenhaus – man denke an das Verhalten der Zuschauer von L’arrivée d’un train à la Ciotat. Das liegt weniger daran, dass ihr Gegenstand interessanter wäre, als daran, dass literarische Texte über spezifische Mittel zur Vergegenwärtigung des Ge-
188 Vgl. Battacchi, Marco/Suslow, Thomas/Renna, Margherita: Emotion und Sprache. Zur Definition der Emotion und ihren Beziehungen zu kognitiven Prozessen, dem Gedächtnis und der Sprache, Frankfurt: Peter Lang, 1996, S.84. 189 Vgl. Colm Hogan, Patrick: The Mind and Its Stories. Narrative Universals and Human Emotion, Cambridge: University Press, 2003, S.65. 190 Diesen Gedanken führt Kapitel 3.2.3.1 genauer aus.
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schehens verfügen, die dem Leser den Eindruck vermitteln, keine Semiose zu vollführen, sondern die Romanwelt quasi-real zu erleben. Als Triebfeder für dieses Präsenzerlebnis hat sich die sinnliche Wahrnehmung des Werks erwiesen. Im Saussureschen Zeichenmodell ist die Möglichkeit der Erfahrung der Materialität sprachlicher Zeichen noch nicht angelegt. Zwar findet der Zeichenkörper darin Erwähnung, jedoch ist er reines Mittel zum Zweck der Durchdringung des Inhalts und bleibt in seiner spezifischen Phänomenalität unreflektiert, wie Dieter Mersch hervorkehrt: „Indem sie [die Zeichen] – struktural – einen Platz in einer Struktur besetzen, ihn einnehmen, vermögen sie sowenig das mit zu bezeichnen oder zu bedeuten, was sie austrägt, als sie den Ort oder die Stelle markieren können, die sie innerhalb ihrer Strukturalität bewohnen. Ihnen entgeht, was sie ermöglicht: ihre Materialität, das Ereignis ihrer Setzung.“ 191 Etwas stärkere Berücksichtigung erfährt die Materialität in den semiotischen Überlegungen Jacques Derridas. Zeichen gehen hier nicht in der Bedeutungszuschreibung auf, sondern es hinterbleibt stets die Spur eines Undechiffrierbaren und damit Widerständigen, das die Interpretation nicht zu fassen vermag.192 Dazu lässt sich auch die Materialität rechnen, die einer bestimmten Bedeutung zur Erscheinung verhilft.193 Dennoch erreicht auch bei Derrida die sinnliche Präsenz keine entscheidende Relevanz: Da sprachliche Zeichen stets auf etwas Abwesendes verweisen, kann es in ihnen kein gegenwärtiges Ereignis geben, sondern lediglich Effekte der Gegenwärtigkeit.194 Insofern bleibt auch dieser Ansatz schwerpunktmäßig symbolisch und schließt die Tatsache, dass der Zeichenkörper bei der Lektüre Autonomie erreichen, die Sinnkonstruktion untergraben oder steigern kann, weitgehend aus. Gehäufte Hinweise auf die Bedeutungsträchtigkeit der Materialität tauchen im poststrukturalistischen Umfeld auf: Roland Barthes spricht vom „grain“ als dem körperlichen Anteil musikalischer oder literarischer Äußerungen195, Julia Kristeva von der „significance“ oder der „chora“ als lautlichen, melodischen, visuellen oder semantischen Energieströmen, die das literarische Werk durchziehen und unbe-
191 Mersch, Dieter: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München: Fink, 2002, S.29. 192 Vgl. Derrida, Jacques/Waldenfels, Bernhard: „Punktierungen. Die Zeit der These“, in: Gondek, Hans-Dieter/Waldenfels, Bernhard (Hrsg.): Einsätze des Denkens. Zur Philosophie von Jacques Derrida, Frankfurt: Suhrkamp, 1997, S.24. 193 Vgl. Mersch, Dieter: „Geschieht es? Ereignisdenken bei Derrida und Lyotard“, in: (19.02.2014). 194 Vgl. Derrida, Jacques: Grammatologie, Frankfurt: Suhrkamp, 1974, S.123. 195 Vgl. Barthes, Roland: „Le grain de la voix“, in: Ders.: Œuvres complètes (Bd.2), Paris: Seuil, 1994, S.1436.
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wusst auf den Leser einwirken196 oder Michel Butor von einer „physique du livre“197. Eine systematische Erforschung der sinnlichen Erfahrbarkeit von Zeichen läutet der Sammelband Materialität der Kommunikation von Karl Ludwig Pfeiffer und Hans Ulrich Gumbrecht ein. Mehrere Beiträge streichen darin den Doppelcharakter der Sprache zwischen Bedeutungstransport und materieller Präsenz heraus. So etwa Friedrich Kittler in „Signal-Rausch-Abstand“: Es gebe keinen Sinn ohne physikalischen Träger ebenso wie keine Materialität selbst informationsträchtig sei. Zeichenkörper und -inhalt zeigten sich in der Semiose untrennbar miteinander verbunden.198 Gleichermaßen sind das kognitive Verarbeiten und das sinnliche Wahrnehmen bei der Lektüre nicht voneinander isoliert vorstellbar.199 Der wissenschaftliche Diskurs gehe davon aus, so Aleida Assmann in „Die Sprache der Dinge“, dass das Ziel des Lesers nicht darin bestehe, bei der Gegenwart der Schrift zu verweilen, sondern über diese hinaus zur Bedeutung zu gelangen. Ein Zeichen müsse, „um semantisch erscheinen zu können, substanziell verschwinden“200. Dennoch gebe es Momente, in denen die Transzendierung des Materiellen unmöglich sei, so dass der Zeichenkörper präsent werde. Dies sei beispielsweise der Fall, wenn Farben, Formen oder Ornamente die Aufmerksamkeit auf die Graphie lenkten. Die Handlung des Rezipienten könne man in diesem Fall nicht mehr als ‚Lesen‘ bezeichnen, zu tun habe man es mehr mit einem ‚Starren‘. Vorübergehend strebe dieser nicht mehr
196 Vgl. Kristeva, Julia: La révolution du langage poétique, Paris: Seuil, 1974, S.55 und S.83. 197 Vgl. Butor, Michel: Essais sur le roman, Paris: Gallimard, 1960, S.127. 198 Vgl. Kittler, Friedrich: „Signal-Rausch-Abstand“, in: Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, Karl Ludwig (Hrsg.): Materialität der Kommunikation, Frankfurt: Suhrkamp, 1988, S.342. 199 Ein psychologisches Experiment, das den Doppelcharakter des Texts zwischen Materialität und Bedeutung eindeutig zutage treten lässt, ist der ‚Stroop-Test‘: Den Probanden werden bunte Farbwörter mit der Bitte vorgelegt, schnellstmöglich die Farbe der Schrift zu benennen. In den Fällen, in denen der Inhalt und die dafür verwendete Farbe nicht übereinstimmen – wenn etwa eine rote Farbe für das Wort ‚blau‘ verwendet wird –, kommt es gehäuft zu Falschantworten. Die Probanden sind zur eindeutigen Trennung der beiden Ebenen nicht in der Lage, sondern fokussieren stets beide gleichzeitig (vgl. Jensen, Arthur/Rohwer, William: „The Stroop Color-Word Test. A Review“, in: Acta Philologica, 25 (1966), S.36f.). 200 Assmann, Aleida: „Die Sprache der Dinge. Der lange Blick und die wilde Semiose“ in: Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, Karl Ludwig (Hrsg.): Materialität der Kommunikation, Frankfurt: Suhrkamp, 1988, S.238.
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nach Verstehen und Kommunikation, sondern nach einer unmittelbaren Erscheinung.201 Dieses Materialcharakters der Schrift nehmen sich eine Reihe neuerer Publikationen an.202 In Dieter Merschs Was sich zeigt und Ereignis und Aura werden unter anderem Möglichkeiten aufgezeigt, wie die Aufmerksamkeit des Rezipienten vom ‚Was‘ das Inhalts auf das ‚Dass‘ des Zutagetreten des Stofflichen gelenkt werden und der „Nicht-Sinn im Sinn“203 ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken könne: Die Wahrnehmung des Zeichenkörpers werde immer dann möglich, wenn Störungen einträten, d.h. wenn ein Rauschen oder Flimmern den Zugriff auf die Bedeutung verhinderten. Durch diese Fehlfunktionen werde die Semiose durchbrochen, das Medium verliere seine Transparenz und mache sich selbst bemerkbar.204 Bei diesen Störfällen handelt es sich um Extrembeispiele der sinnlichen Wahrnehmung, doch man muss gar nicht so weit gehen, um die Materialität eines Texts zu erfahren. Die Bedeutungsherstellung muss nicht zwangsweise unterbrochen, die romanweltliche Illusion nicht gestört sein, damit sinnliche Wahrnehmungen an Romanen möglich werden. Vielmehr zeichnet sich die emotionale Beteiligung gerade dadurch aus, dass diese beiden Dimensionen miteinander verschmelzen: Eine Emotion entsteht, wenn der Lektürerhythmus eine Erregung transportiert, die sich auf den Inhalt projizieren lässt. Ähnlich argumentieren Susanne Strätling und Georg Witte: Das Sehen der Schrift könne in vielen Fällen nicht vom Lesen abgekoppelt werden, vielmehr kippe der Leser bei der Rezeption unablässig zwischen Transparenz und Transzendenz, Körper und Körperlosigkeit, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit hin und her, wodurch ein Gesamteindruck entstehe.205 Oder wie Sybille Krämer
201 Vgl. ebd., S.242. 202 Siehe etwa: Kamper, Dietmar: Die Wiederkehr des Körpers, Frankfurt: Suhrkamp, 1982. Mersch, Dieter: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt: Suhrkamp, 2002. Mersch, Dieter: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz und Ereignis, München: Fink, 2002. Köhler, Sigrid/Metzler, Jan/WagnerEgelhaaf, Martina (Hrsg.): Prima Materia. Beiträge zur transdisziplinären Materialitätsdebatte, Königstein: Taunus/Helmer, 2004. Strätling, Susanne/Witte, Georg (Hrsg): Die Sichtbarkeit der Schrift, München: Fink, 2006. 203 Mersch, Dieter: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz und Ereignis, München: Fink, 2002, S.205. 204 Vgl. Mersch, Dieter: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt: Suhrkamp, 2002, S.63f. 205 Vgl. Strätling, Susanne/Witte, Georg: „Die Sichtbarkeit der Schrift zwischen Evidenz, Phänomenalität und Ikonizität“, in: Dies. (Hrsg): Die Sichtbarkeit der Schrift, München: Fink, 2006, S.7.
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betont: Inhalt und Bild, Repräsentation und die Präsentation hybridisieren sich in der Schrift.206 Eine Möglichkeit der Annäherung an die sinnlichen Erfahrbarkeit von Romanen, bieten Charles Sanders Peirces Ausführungen zum Ikonischen. In Phänomen und Logik der Zeichen arbeitet dieser unterschiedlichen Formen von Relationen zwischen Zeichen und Bezeichnetem heraus: Das Symbol charakterisiere sich durch eine konventionelle, arbiträre Beziehung zwischen beiden; beim Index bestehe eine kausale Relation, das Zeichen sei ein Symptom für das Bezeichnete; beim Ikon hingegen werde die Ähnlichkeit von Zeichen und Bezeichnetem so stark, dass sie momentan nicht mehr unterscheidbar seien.207 So heißt es: „For a pure icon does not draw any distinction between itself and its object. It represents whatever it may represent, and whatever it is like, it in so far is. It is an affair of suchness only.“208 Maximale Präsenz und damit maximale emotionale Beteiligung kann innerhalb einer zeichenbasierten Kommunikation erreicht werden, wenn das Vorstellungsbild des Rezipienten bei der Lektüre so konkret wird, dass es momentan seinen Zeichencharakter verliert und als Realität erscheint. Hierfür müssen die sinnliche Wahrnehmung des Romans und seine Aufführung in der Imagination eine größtmögliche Ähnlichkeit aufweisen; das Erlebnis des Lesers müsste dem Erlebnis einer Figur oder des Erzähler entsprechen. Versuche, Ikonizität konkret an Texten festzumachen, tauchen erstmals im Kontext des Prager Strukturalismus auf. Sie sind in Roman Jakobsons Vorhaben integriert, die Gültigkeit der von Ferdinand de Saussure konstatierten Arbitrarität sprachlicher Zeichen zu relativieren. Während de Saussure der Sprache eine rein symbolische und konventionelle Beziehung zu ihrem Gegenstand zuschreibt, konstatiert Jakobson, dass auch ikonische Verbindungen nicht selten seien. Demnach existierten Enunziate, die sich durch eine Erstheit zwischen Zeichen und Objekt auszeichneten, wodurch eine maximale Illusion der Präsenz erzeugt werde.209 In literarischen Texten sei die Kookkurenz von Form und Inhalt besonders häufig,
206 Vgl. Krämer, Sybille: „Zur Sichtbarkeit der Schrift oder: Die Visualisierung des Unsichtbaren in der operativen Schrift. Zehn Thesen“, in: Strätling, Susanne/Witte, Georg (Hrsg): Die Sichtbarkeit der Schrift, München: Fink, 2006, S.76f. 207 Vgl. Peirce, Charles Sanders: Phänomen und Logik der Zeichen, Frankfurt: Suhrkamp, 1983, S.60f. 208 Peirce, Charles Sanders: „Harvard Lectures on Pragmatism“, in: Ders.: The Essential Peirce (Bd.2), Bloomington: Indiana University Press, 1998, S.163. 209 Vgl. Jakobson, Roman: „Quest for the Essence of Language“, in: Diogenes, 13 (September 1965), S.26.
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mehr noch: konstitutiv.210 Die Überlegungen beziehen sich dabei vor allem auf poetische Texte, weshalb diesen in den Forschungen zur Ikonizität bis heute die größte Aufmerksamkeit zukommt.211 Die Prosa hingegen gerät ins gattungsmäßige Hintertreffen: Da sie nicht in Versen, mit Reim oder im Metrum verfasst ist, wird sie häufig nach wie vor für unsinnlich befunden.212 In Anbetracht der Ergebnisse der Analysen dieses Kapitels muss diese Annahme jedoch revidiert werden. Es wurde aufgezeigt, dass Ikonizität auch in Romanen durchaus eine wichtige Rolle spielt. Bevor allerdings ihre Ausprägungen in narrativen Texten systematisiert und kommentiert werden, ist eine Neudefinition des Begriffs im Sinne des Partizipationsgedankens vonnöten. ‚Ikonizität‘ soll hier nicht im strukturalistischen Sinn verwendet werden, demzufolge sie sich durch die formale Widerspiegelung eines inhaltlichen Elements auszeichnet. Schließlich schafft diese Auffassung eine Hierarchie zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem, da zweiteres nur der Veranschaulichung und Unterstreichung dessen dient, was ersteres bereits enthält. Darüber hinaus verstehen Strukturalisten den Begriff logozentristisch, in Ausklammerung der Rolle des Rezipienten. Im Kontext dieser Arbeit wird ‚Ikonizität‘ stattdessen als Phänomen in Zusammenhang mit der Aufführung des Texts gedacht. Ein Ikon wäre demnach ein Element, bei dessen Realisierung dem Leser ein bezeichneter Gegenstand oder eine Emotion über die sinnliche Wahrnehmung der klanglichen, visuellen, kognitiven oder rhythmischen Auffälligkeiten präsent wird. Diese sind zwar im Text angelegt, lassen sich allein über ihn jedoch nicht erklären. Erst in dem Moment, als der Leser das Ikon erfasst und ihm seinen Körper als Resonanzraum zur Verfügung stellt, entfaltet dieses seine Wirkung. Eine Einteilung in unterschiedliche Formen der Ikonizität an narrativen Texten kann hinsichtlich der Komplexität vorgenommen werden. Der einfachste Fall besteht darin, dass dem Leser über Ikonizität punktuelle Qualitäten vor Augen geführt werden, wie etwa die Vorhandenheit oder Abwesenheit eines Objekts, seine Größe, Form, Position, den Charakter oder das Aussehen einer Figur, die Ordnung oder Beschaffenheit des Chronotopos, die Eigenheit einer Handlung oder eine Atmosphäre. Die zweite Ebene ist komplexer, sie simuliert Modifikationen punktueller Qualitäten innerhalb einer bestimmten Zeitspanne, d.h. Bewegungen, Veränderungen und Gefühle, und ist damit eine Art Ikon im Fluss. Die dritte Dimension ist auf einer weiteren Metaebene zu verorten und behandelt Bewegungen von Bewegun-
210 Vgl. Jakobson, Roman: „Linguistik und Poetik“, in: Ihwe, Jens (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Linguistik (Bd.1), Frankfurt: Athenäum Fischer, 1960, S.94. 211 Bemerkbar ist dies etwa in der derzeit 13-bändigen Schriftenreihe Iconicity in Language and Literature, die sich mit dem Phänomen aus interdisziplinärer Sicht beschäftigt. 212 Vgl. Wolf, Werner: „Emergence of Iconicity in Landscape Descriptions“, in: Fischer, Olga/Nänny, Max (Hrsg.): The Motivated Sign, Amsterdam: Benjamins, 2001, S.423.
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gen, worunter etwa die Motivation als dynamische Emotion, die sich von der Unlust zu Lust wandelt, fällt. Es kann also zwischen Qualitäten, Rhythmen und Rhythmusbewegungen differenziert werden. Abbildung 3: Formen der Ikonizität an narrativen Texten Vergegenwärtigung einer Relation von Relationen (Motivation) Vergegenwärtigung einer Relation (Emotion) Vergegenwärtigung punktueller Qualitäten (Atmosphäre)
3.1.4.2.1 Vergegenwärtigung punktueller Qualitäten Punktuelle Ikonizität vermag auf drei Ebenen anzusetzen: der akustischen, der visuellen und der kognitiven. Akustische Ikonzität liegt vor, wenn die Klangqualität oder -dauer ein Element der Romanwelt wiederaufnimmt. Mehrere Möglichkeiten hierfür spricht Roman Jakobson in seinem Aufsatz „Quest for the Essence of Language“ an. In erster Instanz nennt er Onomatopoetika, da ihr Lautcharakter ein reales Geräusch imitiere.213 Indem der Rezipient bei der Lektüre den Klang vernimmt, der den Gegenstand in der Realität charakterisiert, wird dieser präsent. Daneben spielten Wörter eine Rolle, deren Klangstruktur einem realen Laut ähnle und deshalb eindeutige Assoziationen hervorrufe.214 So entsteht beispielsweise bei der Realisierung des Worts „summen“ durch die Stimmhaftigkeit des ‚s‘ und das labial ausgeführte ‚mm‘ ein ähnliches Geräusch, wie eine summende Person erzeugen würde, weil sich der Artikulationsort in beiden Fällen deckt. Insofern scheint der Rezipient bei der Realisierung der Laute ein Stück Wirklichkeit zu erleben. Bei den beiden genannten Elementen handelt es sich, laut der Peirceschen Klassifikation, um Formen bildlicher Ikonzität. Es sind Zeichen, die die akustischen, visuellen, kognitiv oder rhythmisch erfahrbaren Eigenheiten eines Objekts über denselben Kanal vergegenwärtigen. Das ist etwa der Fall, wenn der Klangcharakter eines Worts die Geräusche einer Glocke evoziert, wie es in Azoríns La voluntad geschah: Ein akustisches Element imitiert ein akustisches. Im Unterschied hierzu
213 Vgl. Jakobson, Roman: „Quest for the Essence of Language“, in: Diogenes, 13 (September 1965), S.32. 214 Vgl. ebd., S.33.
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setzt Peirce die diagrammatischen Ikone, die sich durch eine indirekte Beziehung zwischen Lektüreerlebnis und Objekt auszeichnen, so dass zwar keine Identität, aber eine Strukturähnlichkeit vorliegt. Als Beispiel fungiert hierbei die Landkarte, die zwar nicht die wirkliche Umgebung, aber die Relationen der Entfernungen einzelner Orte zueinander oder Darstellung der Beschaffenheit der Landschaft enthält.215 Im phonetischen Bereich lässt sich dies mit Jakobson anhand der Vokalqualität exemplifizieren: Träten ‚o‘ und ‚u‘ gehäuft auf, so würden sie Assoziationen an Dunkelheit, Wärme, Nachgiebigkeit, Weichheit, Stumpfheit, Schwere, Langsamkeit, Tiefe und Breite hervorrufen, während die Vokale ‚i‘ und ‚e‘ Glanz, Schärfe, Härte, Größe, Leichtigkeit, Schnelligkeit, Höhe, Enge evozierten.216 Eine Analogie mag sich hier über die Realisierungsform herstellen lassen: Helle Vokale werden oben, vorne und mit relativ enger und spitzwinkliger Lippenöffnung produziert, dunkle hinten, mit gesenkter Zunge und weiter Öffnung. Auch die Form der Buchstaben mag eine Rolle spielen, da die dunklen Vokale runder aussehen als die hellen.217 Wird eine bestimmte Vokalverteilung für eine Passage relativ konsequent durchgehalten, so aktivieren sich die genannten Erlebnisqualitäten und schaffen eine atmosphärische Qualität.218 Ein akustisches Element generiert folglich eine Emotion. Diagrammatische Ikonizität liegt überdies immer vor, wenn die Relation zweier Elemente thematisiert wird, wenn etwa klangliche Oppositionen einen inhaltlichen Kontrast wie die Ungleichheit zweier Figuren, Gegenstände oder Landschaften anzeigen. Die Zunahme von Silben kann ein inhaltliches Anwachsen simulieren, wie etwa im Fall der Zahl der Glockenschläge in Azoríns La Voluntad der Fall war. Doch die Möglichkeiten des sinnlichen Erlebens beschränken sich nicht nur auf den klanglichen Bereich, auch über Visualität lässt sich ein Gegenstand präsent machen. Auf der Mikroebene spielen hierbei Buchstabenformen eine Rolle. Sabine
215 Die Forschungen zur Lautsymbolik gehen, gestützt auf die Psychologie, davon aus, dass die genannten Attribute in einer synästhetischen Beziehung zueinander stehen. Die Häufung von ‚o‘ oder ‚a‘ kann deshalb je nach Kontext dunkel, aber auch weich oder schwer erscheinen (vgl. Jakobson, Roman/Waugh, Linda: Die Lautgestalt der Sprache, Berlin: de Gruyter, 1986, S.211.). 216 Vgl. Jakobson, Roman: „Quest for the Essence of Language“, in: Diogenes, 13 (September 1965), S.34. 217 Vgl. Fischer, Olga/Nänny, Max: „Introduction“, in: European Journal of English Studies, 5.1 (April 2001), S.7. 218 Lautliche und inhaltliche Strukturen werden im Gehirn zwar in unterschiedlichen Arealen verarbeitet, diese sind jedoch eng miteinander vernetzt (vgl. Schrott, Raoul/Jacobs, Arthur: Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeiten konstruieren, München: Hanser, 2011, S.327.). Folglich ist die Korrelierung von ikonischen Elementen und emotionalen Erlebnissen eine Konstante der menschlichen Perzeption.
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Groß weist in „Schrift-Bild“ darauf hin, dass diese dem Schüler beim Lesenlernen als Ikone nähergebracht würden: So werde der Schüler etwa darauf hingewiesen, dass das ‚O‘ die gleiche Form habe wie der Mund beim Produzieren dieses Vokals. Diese ikonische Beziehung zwischen Gegenstand und Buchstabe zu Beginn der Lesekarriere werde auch später nicht vollständig ausgeblendet.219 Dies beweist Wolfgang Köhlers gestaltpsychologische Untersuchung, in der Probanden eine runde und eine eckige Form den Worten ‚maluma‘ und ‚takete‘ zuordnen sollten. Abbildung 4: ‚maluma‘ und ‚takete‘
Quelle: Schrott, Raoul/Jacobs, Arthur: Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeiten konstruieren, München: Hanser, 2011, S.248.
Über 90 Prozent der Teilnehmer benannten die erste Zeichnung mit ‚maluma‘, die zweite mit ‚takete‘, wobei sie die Lautsymbolik und das Aussehen der Buchstaben zu ihrer Entscheidung bewogen hatte.220 Romane können diese Tendenz des Rezipienten zur Identifikation von Gegenstand und Wort zur Präsenzerzeugung nutzen. Eine weitere Möglichkeit visueller Ikonizität besteht in der Verbindung von Wort- oder Satzlänge mit der Größe eines Gegenstands. Ein großes und langes Objekt wird gegenwärtig, indem zu seiner Beschreibung Wörter mit zahlreichen Buchstaben oder lange Sätze verwendet werden, da die Dauer der Erfassung des Begriffs oder der Begriffsgruppe in dem Fall mit dem Format korreliert. Ein Beispiel hierfür wären die hyperbolischen Beschreibungen in François Rabelais’ Pantagruel: Die Menge an Essen etwa, die der Riese zu sich nimmt, wird dadurch erlebbar, dass die Quantität der verwendeten Wörter im Vergleich zur erwarteten Anzahl übersteigt.221 Potenzial zur Präsentifizierung über visuelle Elemente bergen überdies die Stilmittel. So können etwa Positionsfiguren Standpunkte von Figuren und Objekten
219 Vgl. Groß, Sabine: „Schrift-Bild. Die Zeit des Augen-Blicks“, in: Tholen, Georg Christoph/Scholl, Michael (Hrsg.): Zeit-Zeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit, Weinheim: VCH, 1990, S.232. 220 Vgl. Köhler, Wolfgang: Psychologische Probleme, Berlin: Springer, 1933, S.153. 221 Vgl. Rabelais, François: Pantagruel, Paris: Gallimard, 2009, S.336f.
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oder Atmosphären veranschaulichen (Parallelismus für parallel liegende Gegenstände, gleichgesinnte Personen, ähnliche Chronotoposqualitäten, sich gleichende Handlungen oder eine harmonische Atmosphäre; Chiasmus für eine Konfrontation von Gegenständen, Figuren, Orten oder Ereignissen, eine spannungsreiche Atmosphäre etc.); Wiederholungsfiguren eignen sich zur Visualisierung wiederkehrender Objekte, Charaktereigenschafen, örtliche Qualitäten oder Ereignisse; Erweiterungsfiguren mögen Größe, Kürzungsfiguren geringe Ausdehnung bemerkbar machen.222 Indem der Rezipient diese bei der Lektüre wahrnimmt, erlebt er die Qualität der mit ihnen verbundenen Gegenstände oder Atmosphären. Darüber hinaus bieten sich Typographie und Schriftarten zur Differenzierung von Erlebniswerten an, da ihre jeweiligen visuellen Eigenschaften mit kulturellen Erfahrungen verknüpft sind. Diese Möglichkeit zur Ikonisierung atmosphärischer Qualitäten nutzt beispielsweise Hugo Balls Karawane. Abbildung 5: Hugo Balls „Karawane“
Quelle: Ball, Hugo: „Karawane“, in: Huelsenbeck, Richard: Dada Almanach, Berlin: Reiss, 1920, S.53.
222 Stilfiguren sind häufig nicht eindeutig dem Bereich der visuellen oder der akustischen Ikonizität zuzuordnen, in den meisten Fällen sprechen sie beide Kanäle an. So wirkt sich etwa eine Wiederholung sowohl auf das Schriftbild als auch auf die Lesedauer aus.
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Da der Informationsgehalt des Texts in dadaistischer Manier minimiert ist, wird die Typographie neben den Klangeffekten zum einzigen Vehikel der Erfahrung von Emotion und Gegenwärtigkeit: Die Variation der Schriftarten befördert den Eindruck von Diversität und Chaos. Wenngleich als inhaltlicher Hinweis ausschließlich die Überschrift ‚Karawane‘ fungiert, wird deren Beschaffenheit und Atmosphäre doch über die Typographie spürbar. Dem Leser präsentiert sich ein „gefühlter Sinn, der höhere kognitive Prozesse zu unterlaufen vorgibt“223 und deshalb besonders unmittelbar wirkt. Ähnlich verhält es sich für die Ikonizität, die von der Interpunktion ausgeht. Vergegenwärtigende Funktion kommt ihr zu, wenn beispielsweise ein Punkt mit dem Abschluss einer Handlung zusammenfällt oder wenn die gehäufte Verwendung von Punkten die ruhige Stimmung oder den gleichmütigen Charakter einer Person spürbar macht. Satzzeichen, die erwarten lassen, dass etwas nachfolgt (Semikolon, Komma, Doppelpunkt), entfalten ihr ikonisches Potenzial, wenn auch inhaltlich etwas nicht aufhört, wenn etwa von der Unfähigkeit einer Person, sich zu beruhigen, die Rede ist. Auslassungspunkte fungieren als Motoren der Gegenwärtigkeit, wenn sie mit einer gegenständlichen oder zuständlichen Leere, z.B. einer offenen Situation oder der Desorientierung einer Figur oder der Vermittlungsinstanz in Verbindung stehen. Parenthesen können, sofern sie in gehäufter Form auftreten, mit der mangelnden Konzentrationsfähigkeit einer Figur oder des Erzählers sowie dem unkontrollierbaren Zustand der Diegese in Verbindung stehen. Auf diese Weise transportieren Satzzeichen, sofern ihre Verwendung auffällig und dem Rezipienten bewusst wird, emotionale Qualitäten und vergegenwärtigen die Romanwelt. Fürderhin bietet die Anordnung des Texts auf der Buchseite eine Möglichkeit zur Bildung visueller Analogien zur Realität. Dass Wörter Gegenstände formen können, demonstriert Guillaume Apollinaire mit Calligrammes. Wenn sich der Text beispielsweise zu einem Eifelturm zusammensetzt, nimmt man nicht mehr nur das Geschriebene wahr, sondern gleichzeitig das Bild.224 Diagrammatische Ikonizität im Zusammenhang mit dem Layout ergibt sich aus der Interaktion von Text und weißen Stellen im Kopf des Lesers: Figurenemotionen oder Atmosphären können durch eine mehr oder weniger harmonische Linie zwischen Text und Nicht-Text ikonisiert werden. Je regelmäßiger sich diese abwechseln, desto ausgeglichener mögen Figuren oder Erzähler, desto aufgeräumter die Diegese wirken. Integriert ein Roman allerdings Leerräume, die sich nicht über eine Konvention (z.B. ein Kapitelende) rechtfertigen lassen, so können diese einen inhaltlichen Bruch oder ein Defi-
223 Schrott, Raoul/Jacobs, Arthur: Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeiten konstruieren, München: Hanser, 2011, S.243. 224 Vgl. Apollinaire, Guillaume: „Calligrammes“, in: Ders.: Œuvres complètes de Guillaume Apollinaire, Paris: Balland & Lecat, 1966, S.203.
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zit vergegenwärtigen. Dementsprechend mag in Claude Simons Le jardin des plantes die eigenwillige Formatierung die Verwirrung des Erzählers und die Fragmentierung seiner Erinnerung realisieren.225 Die Fähigkeit zur Vergegenwärtigung kann abgesehen davon auch die Absatzstruktur bergen. Das Ende eines Paragraphen signalisiert dem Leser visuell das Ende einer Sinneinheit, sein Beginn ihren Anfang. Fällt dieser optische Abschluss bzw. Start auch inhaltlich mit einem Ende oder Neuanfang zusammen, so kann daraus ein Präsenzeffekt resultieren. Auch Absatz- und Kapitellänge mögen eine solche Wirkung erzeugen, wenn sie die Größe, Länge oder den Umfang eines Objekts, Ereignisses oder einer Figur aufzeigen. Nicht zuletzt steckt präsentifizierende Energie auch in der Kapitelanzahl oder Kapitelstruktur. Ein Beispiel hierfür liefert Julio Cortázars Rayuela: Die angegebene Rezeptionsreihenfolge der Kapitel ist nicht linear, sondern erfordert ein Springen zwischen den einzelnen Ziffern, wodurch die Lektüreerfahrung die Dynamik des Himmel-und-Hölle-Spiels imitiert.226 Bislang wurden ausschließlich Elemente genannt, die in irgendeiner Form mit Text in Verbindung standen. Allerdings sind Romane nicht zwangsweise darauf beschränkt, sondern können auch Illustrationen, Fotografien oder Zeichnungen integrieren, wie dies etwa in André Bretons Nadja oder Javier Cercas’ Soldados de Salamina der Fall ist. Auch diese eignen sich als ikonische Elemente zur Produktion von Präsenz: Indem die Form, Größe, Farbe, Qualität oder Gestimmtheit eines Gegenstands oder einer Person vom Bild aufgenommen werden, wird der Leser mit diesen unmittelbar konfrontiert. So führt beispielsweise das Foto eines Briefs als unmittelbares Zeugnis einer unwiederbringlichen Vergangenheit in Soldados de Salamina dazu, dass dieser dem Rezipienten gegenwärtig und authentisch erscheint.227 Insofern bestätigt sich, was Roland Barthes in La chambre claire formuliert: „La photo est littéralement une émanation du référent. D’un corps réel, qui était là, sont parties des radiations qui viennent me toucher, moi qui suis ici; peu importe la durée de la transmission; la photo de l’être disparu vient me toucher comme les rayons différés d’une étoile“228. Neben akustischen und visuellen Elementen spielen auch kognitive bei der Vergegenwärtigung der Romanwelt eine Rolle, also solche, die der Verarbeitung textuell gelieferter Daten entspringen. Auch hier lässt sich wieder zwischen bildlicher und diagrammatischer Ikonizität differenzieren. Erstere besteht der Tatsache, dass der kognitive Zustand des Lesers bei der Lektüre dem kognitiven Zustand einer Fi-
225 Vgl. Simon, Claude: Le jardin des plantes, Paris: Minuit, 1997. 226 Vgl. Cortázar, Julio: Rayuela, Madrid: Cátedra, 2005. 227 Vgl. Cercas, Javier: Soldados de Salamina, Barcelona: Tusquets, 2001, S.59. 228 Barthes, Roland: La chambre claire. Note sur la photographie, Paris: Gallimard/Seuil, 1977, S.126f.
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gur entspricht. Ein Möglichkeit hierfür beschreibt Michel Butor in Essais sur le roman: Werde beschrieben, wie sich eine Figur zu Bett lege und erfolge daraufhin ein Schnitt in Form eines Absatzes oder Kapitelsprungs, bevor im neuen Abschnitt mit „Le lendemain“ angesetzt werde, so entstehe eine Ähnlichkeit zur Wirklichkeit.229 Die Ellipse und der Bruch in der Formatierung des Texts führen dazu, dass der Leser zunächst einen leeren, wortlosen Raum überqueren und die Seite wechseln muss, bevor neue Erlebnisse folgen. Diese Pause in der Aufführung des Romans entspricht im Kleinen der Erfahrung der Figur, die schlafend nicht bei Bewusstsein ist. Ziehen wir ein anderes Beispiel hinzu: Verharrt eine Figur in der Betrachtung eines Objekts und bekommt auch der Leser dieses so lange geschildert, bis sie wieder handelt, wie es im Ausschnitt aus Au château d’Argol der Fall war, so stimmt die Rezeptionsdauer mit der Kontemplationszeit der Figur überein, wodurch eine kognitive Äquivalenz der beiden Instanzen zustande kommt. Das gleiche lässt sich konstatieren, wenn dem Leser die Ereignisse der Romanwelt in der Chronologie und Frequenz des Ereignisses erzählt werden. Ein prominentes und simples Beispiel hierfür ist der Caesar-Ausspruchs „Veni, vidi, vici“, bei dem die Handlungen in eben der Chronologie aufzählt werden, in der sie in Wirklichkeit erfolgt sind, und insofern eine Vergegenwärtigung stattfindet.230 Was die Redewiedergabe betrifft, so kann kognitive Ikonzität daraus resultieren, dass wichtige Äußerungen in direkter Rede präsentiert werden, weniger relevante in indirekter. Damit lehnt sich die Darstellung an den Alltagseindruck an, dass man sich auf diejenigen Personen, die einen ansprechen, stärker konzentriert als auf solche, die nicht mit einem interagieren. In diagrammatischer Hinsicht kann kognitive Ikonizität über die Kohärenz bzw. Inkohärenz der Enunziate erreicht werden. Elliptische Sätze etwa erfordern vom Leser häufig einen erhöhten Verarbeitungsaufwand, zumal er ergänzen muss, was der Text nicht liefert. Er mag je nach Grad der Fragmentierung sogar Schwierigkeiten haben, die Inhalte in seiner Vorstellung logisch zu ordnen. Sind diese an eine offene Handlung, einen unüberschaubaren Ort oder die Widersprüchlichkeit des Charakters einer Figur gekoppelt, so schieben sich die beiden Ebenen übereinander und verstärken sich gegenseitig in ihrer Wirkung. Ebenso verhält es sich mit der Satzkomplexität: Eine parataktische und kompliziert strukturierte und formulierte Proposition erfordert vom Leser große kognitive Anstrengungen, was Chaos, Unvorhersehbarkeit und Unberechenbarkeit suggerieren kann; einfache Konstruktionen hingegen sind für die Präsentifizierung klarer, unkomplizierter und einfacher Gegenstände prädestiniert.
229 Vgl. Butor, Michel: Essais sur le roman, Paris: Gallimard, 1960, S.116. 230 Vgl. Jakobson, Roman: „Linguistik und Poetik“, in: Ihwe, Jens (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Linguistik (Bd.1), Frankfurt: Athenäum Fischer, 1960, S.114.
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Zuletzt kann das Bewusstsein einer Figur oder des Erzählers dem Leser auch über den Stil zugänglich werden. Zeichnen sich diese durch eine distinguierte Sprechweise aus oder ist die Dichte der rhetorischen Figuren groß, so kann dies die kognitiven Verarbeitungsprozesse erschweren. Diese geistige Anstrengung kann der Leser als die Intellektualität der Figur/des Erzählers oder als charakterliche oder gefühlsmäßige Komplexität realisieren. Im Gegensatz hierzu ermöglicht ein einfacher Stil eine unproblematische Verarbeitung, so dass auch die Figur, die diese äußert, unkompliziert erscheinen mag. Folgende Tabelle bietet einen Überblick über die prinzipiellen Möglichkeiten der Präsenzerzeugung an narrativen Texten: Tabelle 4: Möglichkeiten der Präsenzerzeugung an narrativen Texten akustisch
bildlich
Onomatopoetika kinästhetische Elemente Lautähnlichkeit mit Objekt
diagrammatisch
Vokalqualität Lautoppositionen Positionsfiguren Erweiterungs-/Kürzungsfiguren Silbenzahl
visuell
bildlich
Buchstabenformen Anordnung des Texts auf der Buchseite
diagrammatisch
Wortlänge/Silbenzahl Positionsfiguren Erweiterungs-/Kürzungsfiguren (Un-)Abgeschlossenheit der Interpunktion Syntax Anordnung des Texts Absatzstruktur Absatzlänge Illustrationen Textformatierung
kognitiv
bildlich
Dauer Ordnung Frequenz Redewiedergabe Fokalisierung
diagrammatisch
gramm. Abgeschlossenheit der Sätze Satzkomplexität Stilhöhe Stilmitteldichte
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Die Auffassung von visuellen, akustischen und kognitiven Auffälligkeiten als ikonische Elemente wird dadurch möglich, dass der Rezipient Romane gleichzeitig versteht und wahrnimmt, dass er gleichzeitig liest und starrt, hört und mitschwingt. Dieser versteht den Text dadurch nicht nur als Information, die ihm äußerlich wäre, sondern erlebt ihn, da er in der Aufführung aus ihm herauszufließen scheint. Sicherlich ist die Beteiligung, die dabei entsteht, stets kontextabhängig: Erstens ist ein direkter Schluss beispielsweise von einer Lautopposition auf einen bestimmten Inhalt unmöglich. Ob man diese als Vergegenwärtigung einer Objekteigenschaft oder einer atmosphärischen Qualität auffasst, hängt vom Leserbewusstsein und Textverlauf ab. Zweitens richtet sich auch die Tatsache, ob ein sprachliches Element als ikonisch wahrgenommen wird, nach den Begleitumständen. Ob sich ein Leser etwa einer bestimmten Stilhöhe überhaupt bewusst wird, ob sie sich vom Resttext abhebt. Ist der gesamte Roman in distinguiertem Stil verfasst, so wird man gar nicht bemerken, wenn diesen auch eine Figur verwendet. Da die kognitive Herausforderung, die der Erzähler vom Leser erfordert, nicht gegen die des übrigen Romanpersonals abgrenzbar ist, erweist sie sich auch nicht als präsentifizierendes Merkmal. Erst wenn der Stil momentan divergiert, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass der Rezipient ihn sinnlich erfasst. Vor dem Hintergrund einer bestimmten Nullstufe muss sich ein Element als distinktiv erweisen, um seine Funktion als Vehikel zur Produktion von Gegenwart und Atmosphären annehmen zu können. Insofern hängt das Erlebnis der Romanwelt nicht nur vom Verhältnis von Materialität und Inhalt zu einem bestimmten Zeitpunkt ab, sondern von dessen Entwicklung im Laufe der Lektüre. Entgegen dem, was die eben geleistete Übersicht suggerieren mag, ist das präsentische Erleben einer Passage kaum einmal lediglich an ein einzelnes ikonisches Element geknüpft. Wie die Analysen gezeigt haben unterstützen sich meist mehrere Phänomene gleichzeitig, bis daraus eine klare Modulierung des präsentischen und atmosphärischen Erlebens resultiert. Literarische Texte bilden folglich ein vielschichtiges Partizipationsnetz, dessen Komponenten sich gegenseitig tragen. 3.1.4.2.2 Vergegenwärtigung einer Relation Den Begriff ‚Rhythmus‘ wird in der Alltagssprache, da er ursprünglich aus dem Bereich der Musik stammt, hauptsächlich mit akustischen Phänomenen in Verbindung gebracht und zur Bezeichnung der regelmäßigen Wiederkehr lautlicher Akzente verwendet. Diese Beschränkung hat dazu geführt, dass die Poesie lange Zeit als einzige literarische Gattung galt, für deren Erforschung Rhythmus als relevant erachtet wurde, zumal ihr aufgrund des Metrums und der Wiederholungsstrukturen
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die ausgeprägteste Musikalität eignet.231 In jüngerer Zeit hat sich diese Perspektive jedoch gelockert: Der Rhythmusbegriff hat eine Erweiterung erfahren, so dass man ihn heute allgemeiner als zeitliche und räumliche Gliederung von Erfahrungen definiert und sich mehr nicht nur der Schall, sondern auch andere Medien zu seiner Übertragung eignen.232 Infolge dieser Öffnung sind Arbeiten zum Rhythmus im Film233, im Theater234 und in der Prosa235 entstanden. Das zentrale Merkmal des Rhythmus ist seine Performativität. Er existiert nicht allein auf dem Papier, sondern wird erst im Prozess seiner Realisierung durch einen Rezipienten spürbar. Man verfährt in dieser Hinsicht reduktionistisch, wenn man ihn wie Émile Benveniste in seinem Artikel „La notion du rythme dans son expression linguistique“ als Formphänomen im zeitlichen Verlauf auffasst236, da man ihn dadurch lediglich als Struktur, nicht aber als Ereignis charakterisiert. Zwar trifft zu, dass der Rhythmus objektiviert im Text wahrgenommen werden kann, wenn etwa das Vorliegen einer Anapher und kurzer Sätze seine Abgehacktheit indirekt erklärt; diese Abstraktion ist jedoch erst im Anschluss an die synästhetische Erfahrung seiner Qualität bei der Lektüre möglich.237 Die Partizipation am Rhythmus besteht somit in der sinnlichen Wahrnehmung visueller, klanglicher oder semantischer Elemente des Romans und deren Verknüpfung mit den Resultaten der kognitiven Erfassung.238
231 Vgl. Link, Jürgen: „Elemente der Lyrik“, in: Brackert, Helmut/Stückrath, Jörn (Hrsg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek: Rowohlt, 2001, S.87. 232 Vgl. Baier, Gerold: Rhythmus. Tanz in Körper und Gehirn, Reinbek: Rowohlt, 2001, S.13. 233 Vgl. Schreier, Dirk: Film und Rhythmus, Boizenburg: Hülsbusch, 2008. 234 Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt: Suhrkamp, 2004. 235 Vgl. Bordas, Eric: „Le rythme dans la prose“, in: Semen, 16 (2003), (19.02.2014). 236 Vgl. Benveniste, Émile: Problèmes de linguistique générale (Bd.1), Paris: Gallimard, 1966, S.335. 237 Vgl. Helbling, Hanno: Rhythmus. Ein Versuch, Frankfurt: Suhrkamp, 1999, S.54. 238 Rhythmen sind kulturabhängig. Das Gespür für sie muss im Laufe der Sozialisation erworben werden. Die Tatsache, dass ein Rezipient etwa einen Walzer an seinem Rhythmus erkennen kann, beruht auf gesellschaftlichem Wissen. Mitglieder einer sozialen Gemeinschaft erfassen Rhythmen trotz individueller Variationen in Wahrnehmung und Bewertung größtenteils auf ähnliche Weise. Das beweist die Tatsache, dass gemeinsames Tanzen auf Musik überhaupt möglich ist (vgl. Helbling, Hanno: Rhythmus. Ein Versuch, Frankfurt: Suhrkamp, 1999, S.25.). Auch für narrative Texte kann eine Kulturalität und damit verbunden eine intersubjektive Erfahrbarkeit von Rhythmus an-
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Das zweite Definitionskriterium ist die Universalität. Die gesamte menschliche Existenz ist von Rhythmen bestimmt: Bereits grundlegende physiologische Vorgänge im Körper (Herzschlag, Puls, Atmung, Muskelkontraktionen, Hormonbewegungen, Körperbewegungen, Schlaf-Wach-Rhythmus etc.) gehorchen gleichmäßigen, wiederkehrenden Mustern239 und auch die natürliche Umgebung des Menschen ist – wie John Dewey in Art as experience beschreibt – voller Rhythmen, so etwa der Wechsel von Tag und Nacht, der Jahreszeiten oder des Wetters. Obwohl diese äußerlich seien, beeinflussten sie das Individuum emotional. Diese Überlegung überträgt Dewey auf die Kunst: Der Rezipient eigne sich Artefakte über ihren energetische Qualität an. Dabei gebe es kein Außerhalb des Rhythmus, jedes Werk besitze seinen eigenen Takt, dem man sich nur schwerlich entziehen könne.240 Die Analysen dieses Kapitel haben gezeigt, dass sich analog hierzu annehmen lässt, dass auch narrative Texte von einer spezifischen Energiestruktur geprägt sind, die die Partizipation des Lesers beeinflusst. Aus dieser Omnipräsenz ergibt sich eine dritte Besonderheit des rhythmischen Erlebens: seine Relativität. Je länger ein Rhythmus andauert, desto mehr gewöhnt man sich an ihn und nimmt ihn deshalb kaum mehr wahr. Daher auch der häufige Eindruck, in einem Text liege gar keiner vor. Bewusst wird er einem nur, wenn er sich signifikant ändert und sich dadurch vom Vorherigen abhebt.241 Ein Lektürefluss, der über lange Zeit gleich bleibt, wird irgendwann als Nullstufe des Texts nicht mehr bemerkt. Erst bei Veränderungen, kommt er dem Rezipienten zu Bewusstsein und schafft damit die Voraussetzungen für ein Erlebnis. Hierfür existieren zwei Möglichkeiten: Entweder wird die regelmäßige Wiederholung eines Elements auffällig, oder ein zur Gewohnheit gewordener Takt erfährt eine plötzliche Unterbrechung. Viertens ist der Rhythmus in jedem Fall ein spatiotemporales Phänomen. In der Vergangenheit wurde er häufig je nach Medium unabhängig von Zeit und Raum gedacht. Der Rhythmus von Gemälden beispielsweise wurde als rein lokales Phänomen verstanden, zumal hierbei die Anordnung verschiedenfarbiger Flächen eine Regelmäßigkeit erzeugt. Dennoch liegt auch hier Zeitlichkeit vor: Wenngleich die visuelle Erfassung des Gemäldes nur wenige Sekunden dauert, so springt man doch zwischen den Nuancen hin und her, vergleicht sie untereinander und agiert somit
genommen werden, da gemeinsame Rhythmus-Erlebnisse und Erfahrungsaustausche über sie vorstellbar sind. 239 Vgl. Brüstle, Christa/Ghattas, Nadia/Risi, Clemens/Schouten, Sabine: „Rhythmus im Prozess“, in: Dies. (Hrsg.): Aus dem Takt. Rhythmus in Kunst, Kultur und Natur, Bielefeld: Transcript, 2005, S.21. 240 Vgl. Dewey, John: Kunst als Erfahrung, Frankfurt: Suhrkamp, 1980, S.100. 241 Vgl. Helbling, Hanno: Rhythmus. Ein Versuch, Frankfurt: Suhrkamp, 1999, S.25.
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innerhalb einer temporalen Struktur. Für literarische Texte verhält es sich ebenso mit umgekehrten Vorzeichen: Man käme kaum auf die Idee, die Temporalität des Rhythmus in Frage zu stellen, zumal die Lektüre ist ein konsekutiver Prozess ist und sich die Imaginationen des Lesers in der Zeit entwickeln und verändern. Beschleunigt sich beispielweise der Sprechrhythmus des Erzählers, so handelt es sich dabei um ein zeitliches Phänomen, da eine bestimmte Satzstruktur, Satzlänge oder Rhetorik eine andere ablöst. Dennoch kann man auch hier den Raum nicht außen vor lassen: Das Anwachsen der gelesenen Buchseiten und die Abnahme der zu lesenden führen dem Rezipienten den Fortschritt des Romans als räumliche Ausdehnung vor Augen – oder formuliert mit Michel Butor: „Toute narration se propose à nous comme un rythme de pleins et de vide“.242 Eine Rhythmusveränderung kann in der optischen Verkürzung der Sätze oder ihrer typographischen Anordnung auf der Buchseite konkret lokalisiert sein. Selbst den unbedruckten Stellen des Texts kommt in diesem Sinn energetisierende Funktion zu.243 Der Rhythmus realisiert sich folglich im Verfließen von Zeit und im Verschleiß von Raum gleichermaßen. In Zusammenhang damit steht die Tatsache, dass die Literaturwissenschaft – wohl in Anlehnung an den Rhythmusbegriff der Lyrik – dazu neigt, den Rhythmus als lineares und horizontales Links-Rechts-Phänomen zu denken, das sich in Übereinstimmung mit dem Leseverlauf ergibt. Dass sich der Rhythmus jedoch nicht in dieses Schema pressen lässt, zeigen Texte wie Christian Garcins und Pierre AutinGreniers Quand j’étais écrivain, wo die inhaltliche Konkurrenzsituation zweier Schriftsteller dadurch erlebbar wird, dass das Buch von zwei Seiten her begonnen wird.244 Doch auch in konventionelleren Romanen ist der Rhythmus nicht zwangsweise von Linearität und Horizontalität bestimmt: Die Variation der Absatzlänge etwa kann sowohl über die Lektüredauer als auch visuell erfasst werden. Die Wahrnehmung des Rhythmus verläuft hier vertikal und eher punktuell. Darüber hinaus existiert eine dritte Dimension, in der sich ein Rhythmus herausbilden kann: entlang der kommunikativen Ebenen des Romans. So schafft beispielsweise die mise en abyme durch die Wiederholung eines inhaltlichen Elements auf mehreren Niveaus einen Rhythmus, der aus dem Roman herausführt und sich bisweilen im Leser selbst fortsetzt. Diese Möglichkeit ergibt sich allerdings nicht unmittelbar aus der Kombination spatiotemporaler Elemente, sondern vielmehr erst auf Basis kognitiver Verarbeitungsprozesse.
242 Butor, Michel: Essais sur le roman, Paris: Gallimard, 1960, S.116. 243 Vgl. Filliolet, Jacques: „Spatialisation du rythme“, in: Rythme et Ecriture, 2 (1991), S.84. 244 Vgl. Garcin, Christian/Autin-Grenier, Pierre: Quand j’étais écrivain, Bordeaux: Finitude, 2011.
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Die Analysen haben gezeigt, dass der Lektürerhythmus bei der Präsentifizierung von Romaninhalten und der emotionalen Beteiligung am Roman eine Schlüsselrolle spielt. Über ihn werden die Wahrnehmung der Veränderung einer Qualität oder einer Bewegung (z.B. die Aktivität einer Figur, die Dynamik einer Handlung oder die Belebtheit einer Atmosphäre) oder die Beteiligung an Figuren- und Erzählergefühle möglich. Indem ihn der Leser in der Aufführung des Texts erfährt und als ikonisches Element verarbeitet, lebt er die Emotionen des Romanpersonals, verwischt damit die Grenzen zwischen ihm und der Fiktion und wird dadurch ein Stück weit zum Don Quijote.245 Der Konnex zwischen einem Lektürerhythmus und einer lokalen oder emotionalen Bewegung bildet sich automatisch; er ist eine unbewusst ablaufende Verarbeitungsgewohnheit. Das bedeutet, dass ein und dasselbe rhythmische Phänomen in unterschiedlichen Kontexten verschiedene Gefühle simulieren kann. Verspürt der Rezipient beispielsweise die Beschleunigung und Atemlosigkeit des Leseflusses, dann hängt deren Deutung von den textuellen Informationen ab: Ist von zwei kämpfenden Personen die Rede, so wird man ihn eventuell als Wut empfinden; wird hingegen von einer bedrohten Person gesprochen, eher als Angst. Insofern spielt das Gefühl, das durch den Rhythmus präsent wird, mit dem inhaltlichen Kontext, in dem es auftaucht, zusammen. Das bedeutet allerdings nicht, dass der Rhythmus lediglich als eine Verpackung für einen bestimmten Gegenstand verstanden werden darf. In vielen Fällen ist unentscheidbar, ob der Inhalt den Rhythmus determiniert oder umgekehrt, da der Roman seine emotionale Wirkung nur über die Interaktion beider entfaltet.246 Die Möglichkeiten der Rhythmuswahrnehmung an narrativen Texten umfassen ein weites Feld: Sie reichen vom Lektürefluss einzelner Wörter und Sätze bis zum Rhythmus von Abschnitten, Kapiteln oder des ganzen Romans und finden in Mak-
245 Alexander Brehm weist darauf hin, dass literarische Texte zur Evokation von Liebeserfahrungen besonders geeignet seien, da eine grundsätzliche Analogie bzw. ikonische Wiederaufnahme zwischen der Struktur der Liebe und des Werks bestünde: „Liebe ist eine Emotion, die nur als Synthesis von Liebendem und Geliebtem und daher schon immer auf ‚etwas‘ verwiesen gedacht werden muss. Ebenso kann auch das Gedicht nur als Synthesis von materialisierter Aussage als Text und von sinnlich vollzogener Aussage durch den Text verstanden werden“ (Brehm, Alexander: „Ästhetische Erfahrung als Strategie emotionaler Teilhabe“, in: Ebert, Lisanne/Gruber, Carola/Meisnitzer, Benjamin/Rettinger, Sabine (Hrsg.): Emotionale Grenzgänge. Konzeptualisierungen von Liebe, Trauer und Angst in Sprache und Literatur, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2011, S.41.). 246 Rhythmus und Inhalt können natürlich auch gegeneinander wirken. Eine Rolle spielt dies in Hinblick auf die kognitive, evaluative und ästhetische Partizipation.
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ro-, Diskurs- und Mikrostruktur sowie über den Para- und Intertext statt. Im Grunde sind alle Bestandteile narrativer Texte zur Erzeugung von Bewegung in der Lage. Im konkreten Einzelfall spielen häufig mehrere zusammen und verstärken sich gegenseitig für eine klare Skandierung des Rhythmus. Überdies muss sich eine bestimmte Lektüredynamik nicht zwingend aus der Veränderung einer Bewegung innerhalb des Romans ergeben, sondern kann sich auch im Vergleich zu anderen Texten konstituieren. Als Beispiel hierfür mag Georges Perecs La disparition dienen: Der Roman spart den Buchstaben ‚e‘ vollständig aus.247 Dieses Fehlen kommt dem Leser allerdings nur dann zu Bewusstsein, wenn er den Roman vor dem Hintergrund seiner literarischen bzw. sprachlichen Erfahrung betrachtet; die rhythmische Veränderung spielt sich somit auf der Grenze zwischen dem Roman und anderen Schrifterzeugnissen ab. Nur so kann die emotionale Qualität des Verlusts, die das Lipogramm spürbar macht, etwa mit der Abwesenheit der Eltern des Protagonisten zu einer Erlebniseinheit verschmelzen. Folgende Tabelle stellt eine Zusammenschau möglicher rhythmischer Veränderungen dar, die in der Aufführung eine Präsentifizierung des Gelesenen oder ein Gefühlserlebnis bedingen können: Tabelle 5: Möglichkeiten des Erlebens von Ikonizität über den Rhythmus Makrostruktur
Veränderung der/des… …Aktivität der Figuren …Dauer der Figurenauftritte …Frequenz der Figurenauftritte …Häufigkeit der Handlung/des Sprechens …Ereignishaftigkeit …Wiederkehr von Orten …Intertextualität mise en abyme
Diskursstruktur
…Erzähleridentität …Fokalisierung …Erzähldauer …Ordnung …Frequenz …Redewiedergabe …showing-telling-Verhältnisses …Digressivität/Teleologie
Mikrostruktur
….Silbenzahl ….Klangcharakters
247 Vgl. Perec, Georges: La disparition, Paris: Gallimard, 1990.
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Mikrostruktur
….Anzahl von Adjektiven …Satzlänge …Satzkomplexität …Syntax …Stilmitteldichte …Interpunktion …grammatikalischen Abgeschlossenheit der Sätze …optischen Abgeschlossenheit …Tempusgebrauchs …Stils …Thema-Rhema-Gliederung …Wortfelder
Paratext
…Typographie …Anordnung des Texts auf der Buchseite …Absatzlänge …Absatzvisualität …Kapitellänge …Kapitelanzahl
Intertext
Abweichungen von und Gemeinsamkeiten mit anderen Texten
3.1.4.2.3 Vergegenwärtigung einer Relation von Relationen Über einen Rhythmus kann der Leser nicht nur die Opposition ‚EmotionNichtemotion‘, sondern auch graduelle Modulationen, die sich zwischen diesen Polen bewegen, also Motivationen, erleben. Dies wurde anhand der Ausschnitte aus Le comte de Monte Cristo und Pierre et Jean aufgezeigt, in denen die Gefühlsdynamik eine ansteigende Erregung mit anschließender lustvoller Erfüllung bzw. Frustration der Erwartung simulierte. Das Grundgefühl ‚Erregung‘ blieb dabei konstant, jedoch veränderte sich seine Intensität. In diesem Fall liegt also ein Rhythmus vor, der nicht auf der Stelle bleibt und sich bei jeder Wiederholung exakt gleich reproduziert, sondern sich während seines Ablaufs modifiziert. Diese Bewegung in der Bewegung kann einerseits über die Variation der Geschwindigkeit des Rhythmus erfolgen, wenn beispielsweise Sätze oder Kapitel immer kürzer werden, Stilmittel immer zahlreicher oder Erzähleridentitäten immer schneller wechseln; andererseits ist sie auch über die Intensität des Rezipientenerlebnisses generierbar: Da sich bei der Konstitution eines Rhythmus meist mehrere Elemente gegenseitig unterstützen, kann sich seine Amplitude durch die Anpassung ihrer Quantität vergrößern oder verkleinern.
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3.1.4.3 Anknüpfungsmöglichkeiten für die Narratologie Die letzte Frage, die dieses Kapitel stellen möchte, ist die nach der Anschlussfähigkeit der Ergebnisse zur atmosphärischen, affektiven und motivationalen Beteiligung des Lesers an die narratologische Praxis. Aufgezeigt werden soll, inwiefern sich der Gedanke der präsentischen Partizipation in Gérard Genettes Figures III und Nouveau discours du récit integrieren lässt.248 Die Narratologie erwächst als Disziplin der strukturalistischen Tätigkeit. Insofern leuchtet ein, dass die Beteiligung an Romanen für sie vor allem in ihren Anfängen von randständigem Interesse war. Genettes Ausführungen konzentrieren sich – wenn der Rezipient überhaupt zur Sprache kommt – auf dessen informationsverarbeitende Aktivität und klammern die emotionale Partizipation aus.249 So heißt es beispielsweise an einer Stelle in Bezug auf die Vorhalte250 in A la recherche du temps perdu: Encore faut-il tenir compte de l’éventuelle (ou plutôt variable) compétence narrative du lecteur, née de l’habitude, qui permet de déchiffrer de plus en plus vite le code narratif en général, ou propre à tel genre, ou à telle œuvre, et d’identifier ‚les germes‘ dès leur apparition.251
248 Wenn als Referenz hier Genette und kein neuerer Autor dient, dann deshalb, weil seine Systematisierung der Diskursstruktur auch rund 40 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung die Basis der meisten erzähltheoretischen Publikationen bildet. So weist Matei Chihaia darauf hin, dass die kürzlichen Veröffentlichungen sich zwar in Hinblick auf die Anwendungskontexte und den Dialog mit anderen Disziplinen postklassisch verhielten, dass sie dabei jedoch nach wie vor auf dem Grundgerüst der 80er Jahre aufbauten (vgl. Chihaia, Matei: „Introductions to Narratology. Theory, Practice and the Afterlife of Structuralism“, in: Diegesis, 1.1 (2012), S.24.). 249 Nichtdestotrotz kann Genette in anderen Kontexten eine Anerkennung der aktiven Rolle des Lesers nicht abgesprochen werden. So formuliert er in „L’utopie littéraire“ über „le postulat selon lequel une œuvre est essentiellement déterminée par son auteur, et par conséquent l’exprime“: „Cette redoutable évidence n’a pas seulement modifié les méthodes et jusqu’aux objets de la critique littéraire, elle retentit sur l’opération la plus délicate et la plus importante de toutes celles qui contribuent à la naissance d’un livre: la lecture.“ (Genette, Gérard: „L’utopie littéraire“, in: Genette, Gérard: Figures I, Paris: Seuil, 1966, S.129.) 250 Der Vorhalt ist definiert als unmerklicher Vorgriff in der Handlung, als Ansprechen von etwas, das später ausführlicher behandelt wird, oder wie Genette formuliert: „un germe insignifiant et même imperceptible, dont la valeur de germe ne sera reconnue que plus tard et de façon rétrospective“ (Genette, Gérard: Figures III, Paris: Seuil, 1972, S.113.). 251 Ebd., S.113.
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Dem Leser wird hier in Bezug auf die Herstellung der Chronologie der Handlung sowie die Differenzierung zwischen relevanten und irrelevanten Informationen, also im kognitiven Bereich, Kompetenz zuerkannt. Auch suggeriert die Formulierung „déchiffer […] le code naratif“, das Ziel einer erfolgreichen Lektüre liege in der Beseitigung aller Widersprüche zugunsten eines umfassenden Verständnisses. Dass eine problematisierte Kohärenzherstellung nicht bloß eine intellektuelle Herausforderung für den Rezipienten darstellt, sondern dass ihr spezifische Erlebnisse erwachsen,252 bleibt hingegen unerwähnt. Dabei kann gerade aus dem Übersehen des Hinweises auf eine spätere Handlungsentwicklung, also dem Verfehlen der Dekodierungsaufgabe, ein partizipativer Mehrwert etwa in Form von Überraschung resultieren. Nähme der Rezipient den Vorhalt von Anfang an als solchen wahr und wäre seine Lektüre somit im Sinne Genettes effektiv, so entginge ihm die Möglichkeit zur Beteiligung am Roman. Insofern erweist sich die Beschränkung auf Informationsverarbeitungsprozesse sowie die Ausklammerung der Präsenzdimension als reduktionistisch. Noch klarer ersichtlich wird dies an folgendem Beispiel: D’une façon plus générale, sans doute, les subtilités narratives du roman moderne, depuis Flaubert et James, comme le style indirect libre, le monologue intérieur ou la focalisation multiple, exercent plutôt, sur le désir d’adhésion du lecteur, des effets négatifs, et contribuent sans doute à brouiller les pistes, à égarer les ‚évaluations‘, à décourager les sympathies et les antipathies.253
Auch hier misst Genette, obgleich das Wort ‚Identifikation‘ fällt, mit kognitivem Maß. Die Annahme, subjektivierende Verfahren stellten Störfaktoren für die Nähe des Lesers zur Romanwelt dar, ist nur aus einer rein verstehenden Perspektive haltbar: Ein innerer Monolog kann dann nur verwirren, weil er die Verarbeitung erschwert und die Konzentration auf die zu vermittelnde Botschaft beeinträchtigt.254 Die Tatsache, dass dieser ein direktes Erleben befördern kann, wenn er den Rezipienten während der Lektüre den Gemütszustand der Figur erleben lässt, bleibt aufgrund der Skepsis gegenüber dem Emotionalen unbedacht. Dieser Gedanke soll nun für die Kategorie ‚Modus‘ genauer ausgeführt werden. Genette versteht den Modus als Regulierung des Informationsflusses durch die Variation der Nachdrücklichkeit oder des Blickwinkels der Erzählung, wobei es sich bei der ersten Option um eine Filterung der Informationen nach dem Kriterium
252 Hierauf geht das Kapitel 3.2 ausführlicher ein. 253 Genette, Gérard: Nouveau discours du récit, Paris: Seuil, 1983, S.106. 254 Die eingeschränkte Plausibilität dieses Gedankens zeigt der Umkehrschluss: Maximale Identifikation entstünde demnach, wenn die Informationen dem Leser auf eine besonders einfache, verarbeitungsarme Weise präsentiert werden.
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der Quantität, bei der zweiten nach der Perspektive des wahrnehmenden Subjekts handelt.255 Zunächst zur Nachdrücklichkeit, die Genette auch als ‚Unmittelbarkeit‘ bezeichnet: Sie oszilliert, wie folgendes Zitat zeigt, zwischen zwei Polen: „L’information narrative a ses degrés; le récit peut fournir au lecteur plus ou moins de détails, et de façon plus ou moins directe; et sembler ainsi […] se tenir à plus ou moins grande distance de ce qu’il raconte“256. Wenn sich der Erzähler zurücknehme, entstehe die Illusion eines unmittelbaren Miterlebens der Handlung; bei starker Präsenz hingegen ergebe sich der Eindruck eines verstellten, indirekten Zugangs zur histoire. Der Diskurs der Vermittlungsinstanz sei also entweder eher eine ‚Erzählung von Ereignissen‘ (Mimêsis) oder eine ‚Erzählung von Worten‘ (Diêgêsis).257 Weniger klar als diese Definition lässt Figures III allerdings, wodurch der Eindruck der Unmittelbarkeit zustande kommt. Bisweilen wirkt es, als bedinge ihn allein die Redewiedergabe: Narrativisierte und erzählte Rede seien auf der Seite der ‚Erzählung von Worten‘ angesiedelt und erzeugten ein Gefühl von Distanz, während die direkte Rede als Imitation einer szenischen Darstellung – als eine Art Auftritt der Figur über das Medium des Erzählers – zur Herstellung einer Nähe zur Diegese prädestiniert sei.258 Insofern wäre die Unmittelbarkeit als Skala zur Klassifikation von Redeformen zu verstehen, die sich am „degré de littéralité dans la reproduction des discours“259 bemisst. An anderer Stelle hingegen fasst Genette die Unmittelbarkeit als komplexeren Lektüreeindruck: So begünstigten neben der Redewiedergabe etwa der Wirklichkeitseffekt (in Anlehnung an Roland Barthes) oder der Stil die Empfindung von Nähe: Enthielte ein Text zahlreiche Details und ausladende Beschreibungen oder verwendeten Erzähler und Figuren (in der direkten Rede) divergente Varietäten (z.B. Idiolekte und Soziolekte für die Figuren, Hochsprache für den Erzähler), so trete die Diegese unmittelbarer hervor.260 Auch wenn Genette hier die Erklärung schuldig bleibt, inwiefern die beiden Elemente Gegenwärtigkeit schaffen, überschreitet diese erweiterte Konzeption des Unmittelbarkeitsbegriffs doch entschieden die Grenzen einer strukturalistischen Herangehensweise. Es liegt – obschon dies nicht expliziert wird – keine Beschreibung einer Informations-, sondern die einer Partizipationsstruktur vor. Verfolgt man diese Idee weiter, so lassen sich unter der Kategorie ‚Unmittelbarkeit‘ all diejenigen Elemente fassen, die den Eindruck eines präsentischen Miterlebens des romanweltlichen Geschehens ermöglichen, entsprechend der Analysen dieses Kapitels folglich die Ausführlich-
255 Vgl. Genette, Gérard: Figures III, Paris: Seuil, 1972, S.183. 256 Ebd., S.183. 257 Vgl. ebd., S.185. 258 Vgl. ebd., S.201. 259 Genette, Gérard: Nouveau discours du récit, Paris: Seuil, 1983, S.31. 260 Vgl. Genette, Gérard: Figures III, Paris: Seuil, 1972, S.188.
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keit der Behandlung der Romanwelt, der sprachliche Erlebniswert sowie die sinnliche Wahrnehmung des Werks. Für letztere kommen freilich nicht bloß die Redewiedergabe und der Stil, sondern alle Ebenen des literarischen Texts infrage. Analog lässt sich mit der Kategorie der Fokalisierung verfahren. Unter ihr versteht Genette den Blickwinkel, aus dem die Erzählung erfolgt; die Antwort auf die Frage ‚Wer sieht?‘ im Gegensatz zum ‚Wer spricht?‘ der ‚Stimme‘.261 Fürderhin unterscheidet er zwischen drei Typen der Fokalisierung: Eine Nullfokalisierung liege vor, wenn der Erzähler mehr wisse als die Figur; eine interne Fokalisierung bedeute die Äquivalenz des Kenntnisstands der beiden Instanzen; eine externe Fokalisierung wiederum impliziere ein geringeres Wissen des Erzählers im Vergleich zur Figur. Im ersten Fall sei die Wahrnehmung durch das Bewusstsein des Erzählers, im zweiten durch das einer Figur, im dritten durch eine Art Aufzeichnungsapparat gefiltert.262 Auch diese Definition weist zunächst eine klare Kognitionsorientierung auf, zumal als Kriterium für die Einteilung das Wissen des Erzählers in Relation zu dem der Figur dient und nicht beispielsweise das Verhältnis ihrer emotionalen Befindlichkeiten. Die Erklärung hierfür liegt in den methodischen Vorentscheidungen: Die kognitive Reichweite des Erzählers lässt sich noch als textimmanente Kategorie tarnen, da sie scheinbar an Fakten (diegetischen Ereignissen, Äußerungen von Figuren und Vermittlungsinstanz etc.) festgemacht werden kann. Bei genauerem Hinsehen jedoch erweist sich dies als Illusion: Um den Kenntnisstand von Erzähler und Figuren beurteilen zu können, muss sich der Leser imaginär in deren Lage versetzen und ihre Situation nachvollziehen, d.h. sie empathisch spiegeln. Dieser ist insofern eine Projektion des Rezipienten auf den Text und nichts, was diesem bereits ex ante inhärent wäre.263 Noch problematischer gestaltetet sich nun aber die Bindung von Emotionen an den Text: Der Versuch, Aussagen darüber zu treffen, wie sich der Erzähler im Vergleich zu den Figuren fühlt, erscheint fast zum Scheitern verurteilt, da Affekte offensichtlicher als Kognitionen als Zuschreibungen von Außen identifiziert werden. Der Ausschluss des Lesers aus dem Literaturgeschehen ließe sich demnach nicht mehr rechtfertigen, die strukturalistische Illusion von der Literatur als abgeschlossenem Bedeutungssystem zerbräche.
261 Vgl. ebd., S.203. 262 Vgl. ebd., S.207f. 263 So argumentiert auch Ansgar Nünning, wenn er die Erzählperspektive als „Persönlichkeitsbild“ definiert, „das die Rezipienten auf der Grundlage der im Text enthaltenen Informationen von einer Erzählinstanz entwerfen“ (Nünning, Ansgar: „Mimesis des Erzählers. Prolegomena zu einer Wirkungsästhetik, Typologie und Funktionsgeschichte des Akts des Erzählens und der Metanarration“, in: Helbig, Jörg (Hrsg.): Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert, Heidelberg: Winter, 2001, S.25.).
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Trotzdem: Dass eine rein kognitive Perspektive auf die Fokalisierung eindimensional ist, hat wohl auch Genette gespürt. Schließlich ersetzt er seine ursprüngliche Definition aus Figures III (‚Wer sieht?‘) in Nouveau discours du récit durch ‚Wer nimmt wahr?‘,264 worin eine gewisse Öffnung der Kategorie in Hinblick auf eine ganzheitliche Erfahrung des Texts vorgezeichnet ist.265 Diese Tendenz soll hier weitergeführt werden, indem die Fokalisierung als Lektüreeindruck der Nähe/Distanz zu einer Figur oder dem Erzähler gedacht wird, der über emotionale und kognitive Beteiligung gleichermaßen zustande kommen kann. Die Grundvoraussetzung hierfür ist die Ablösung der Kategorie vom Erzähler und ihre Anbindung an den Leser. Auch das ist ein Gedanke, der in Genettes Ausführungen im Keim bereits enthalten ist: Indem dieser die Trennung von Modus und Stimme verficht, entkoppelt er die Fokalisierung bereits ein Stück weit von der Vermittlungsinstanz. Doch man kann noch einen Schritt weitergehen und behaupten, der Erzähler sei in Genettes Fokalisierungskonzept nur eine Art Dummie, der die Aktivität des Lesers verschleiert, ohne sie jedoch adäquat zu ersetzen.266 Von allen Genetteschen Kategorien erscheint die Beschneidung des Potenzials der Fokalisierung durch eine sinnzentrierte Herangehensweise am eklatantesten, zumal gerade die Emotion zur Festlegung der Beziehung des Lesers zu den Figuren/zum Erzähler bestimmend ist. Sicherlich ist in manchen Fällen die Integration der Emotion ins Fokalisierungskonzept überflüssig: Wenn Daten weitergegeben werden, die nur die Figur bzw. nur die Vermittlungsinstanz kennen kann, ist dies ein unumstößlicher Beweis für die Anlehnung an deren Bewusstsein; die emotionale Partizipation an den Emotionen von Figur bzw. Erzähler hat hier allenfalls unterstützende Funktion. Doch dass die Fokalisierung so klar bestimmbar ist wie in genanntem Beispiel, ist eher eine Ausnahme. In den Fällen, in denen über den Wissensstand in einer Szene keine Aussage getroffen werden kann bzw. sich die Lage ambivalent zeigt, kann die affektive Partizipation entscheidenden Aufschluss über
264 Vgl. Genette, Gérard: Nouveau discours du récit, Paris: Seuil, 1983, S.51. 265 Diese Pragmatisierung von Genettes Denken im Laufe seiner Publikationen unterstreicht auch Matei Chihaia: Er entwickle sich von einer objektivierenden, strukturalistischen Perspektive etwa in Mimologiques hin zu einer, die in L’œuvre de l‘art den Rezipienten als Miturheber des Werks anerkennt (vgl. Chihaia, Matei: „Gérard Genette (*1930)“, in: Martínez, Matías/Scheffel, Michael: Klassiker der modernen Literaturtheorie, München: Beck, 2010, S.356f.). 266 Auf die Relevanz des Lektüreeindrucks für die Narratologie weist Wolf Schmidt hin: Sie könne sich „nicht darin erschöpfen, analytische Instrumente für eine scheinbar ‚voraussetzungsfreie‘, interpretationsunabhängige Deskription narrativer Texte bereitzustellen“, sondern sei vielmehr grundlegend von der Einschätzung des Lesers abhängig (vgl. Schmid, Wolf: Elemente der Narratologie, Berlin: de Gruyter, 2008, S.19.).
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die Verortung des Rezipienten gegenüber der Diegese liefern. Offenkundiger noch gestaltet sich die Situation für die externe Fokalisierung, für die der Wissensstand zwar ein notwendiges, jedoch kein hinreichendes Kriterium zur Bestimmung darstellt. Dass der Leser weniger weiß als die Figur, vermag allein den camera-eyeEffekt nicht zu erzeugen; vielmehr muss der Eindruck der Emotionslosigkeit hinzukommen, damit er zutage treten kann. Schließlich wäre auch eine Vermittlungsinstanz möglich, die weniger weiß als die Figur und trotzdem ein menschliches Bewusstsein besitzt, das emotional auf das Beobachtete reagiert. Von einer eindeutigen externen Fokalisierung könnte man in dem Fall allerdings nicht sprechen. Vorgeschlagen wird deshalb eine Erweiterung der Fokalisierung um die Kategorie der Emotion: Abbildung 6: Formen der Fokalisierung
Fokalisierung
Interne Fokalisierung
Leserwissen = Figurenwissen
Lesergefühl = Figurengefühl
Nullfokalisierung
Leserwissen > Figurenwissen
Lesergefühl = Erzählergefühl
Externe Fokalisierung
Leserwissen < Figurenwissen
Lesergefühl ≠ Figurengefühl ≠ Erzählergefühl
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Erst wenn sowohl das kognitive als auch das emotionale Kriterium erfüllt sind, kann von einer Fokalisierung in Reinform gesprochen werden.267 Darüber hinaus sind aber auch Mischphänomene möglich, wie etwa die Kutschfahrt in Madame Bovary oder die Nachtigallenszene in Une partie de campagne: In beiden ist zwar das kognitive Attribut für eine externe Fokalisierung vorhanden (während die Liebespaare sich einander hingeben, bekommt man als Leser lediglich neutrale Beschreibungen der monotonen Fahrt bzw. des Vogelgesangs präsentiert, so dass der Wissensstand den der Figuren unterbietet), gleichzeitig liegt aber in emotionaler Hinsicht eine interne Fokalisierung vor, da der Erlebniswert der verwendeten Wörter sowie der Lektürerhythmus die Affekte der Figuren evozieren. Genettes ursprüngliche Einteilung der Fokalisierung wird durch die Erweiterung um die Emotionskomponente zwar komplexer, aber auch präziser: Die Tatsache, dass literarische Texte über die kognitive und emotionale Beteiligung widersprüchliche Reaktionen auf die Diegese befördern und dadurch beispielsweise Ironie transportieren können, wird durch die aktualisierte Modell eher fassbar. Insgesamt lassen sich die Ergebnisse zum Kapitel der emotionalen Partizipation also im Sinne einer ‚postklassischen Narratologie‘268 an Genettes Praxis anschließen, indem man den ‚Modus‘ als Kategorie zur Qualifizierung der Nähe- bzw. Distanzbeziehung des Lesers zur Diegese definiert. Er ist als Überbegriff für den Lektüreeindruck zu verstehen, das diegetische Geschehen präsentisch mitzuerleben und emotional an ihm beteiligt zu sein. Der Modus hat zwei Dimensionen: die Unmittelbarkeit und die Fokalisierung. Erstere entspricht dem Grad der Gegenwärtigkeit der erzählten Welt, der von der Quantität des deskriptiven Anteils, von der Modulation des sprachlichen Erlebniswerts sowie von der visuellen, akustischen oder rhythmischen Realisierung der Diegese mittels ikonischer Elemente abhängt. Zweitere bezeichnet die emotionale und kognitive Nähe zu den Figuren und zum Erzähler, die sich aus der Simulation einer bestimmten Emotions- oder Kognitionsstruktur im Lektürerhythmus resultiert. Diese beiden Ausprägungen des Modus können sich gegenseitig stützen und die Beziehung des Lesers zur Diegese dadurch besonders intensiv gestalten. Möglich ist aber auch ihr Widerspruch, dem wiederum andere (beispielsweise kognitive) Romanerlebnisse entspringen können.
267 Hierin deckt sich der Vorschlag mit Shlomith Rimmon-Kenans Konzept der Fokalisierung. Auch sie befindet eine rein visuelle oder kognitive Auffassung als zu eng und schlägt deshalb eine Ausdifferenzierung in eine perzeptuelle, eine kognitive, eine emotionale und eine ideologische Komponente vor (vgl. Rimmon-Kenan, Shlomith: Narrative Fiction. Contemporary Poetics, London: Routledge, 2002, S.78f.). 268 Vgl. Nünning, Ansgar/Nünning, Vera: „Von der strukturalistischen Narratologie zur postklassischen Erzähltheorie. Ein Überblick über neue Ansätze und Entwicklungstendenzen“, in: Dies. (Hrsg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie, Trier: WVT, 2002, S.1.
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3.2 K OGNITIVE B ETEILIGUNGSMÖGLICHKEITEN Wenn ich auf ein Blatt Papier mit einer Feder die Silhouette eines Pferdes zeichne, indem ich diese Silhouette durch eine durchgezogene elementare Linie verwirkliche, wird jeder bereit sein, in meiner Zeichnung ein Pferd zu erkennen; und doch ist die einzige Eigenschaft, die das Pferd auf der Zeichnung hat (die durchgezogene schwarze Linie) die einzige Eigenschaft, die das wirkliche Pferd nicht hat.269
Mit diesen Worten exemplifiziert Umberto Eco in Einführung in die Semiotik den ambivalenten Charakter von Zeichen. Nachweisbar ist ausschließlich ihre Materialität, die greifbar ist und direkt vor Augen liegt; ihr Sinn hingegen – das, was die Striche bedeutsam macht – ist abstrakt und entsteht erst bei der Realisierung im Bewusstsein des Empfängers bei der kognitiven Verarbeitung des signifiant. Der Zeichenkörper ist präsent, dennoch gilt ihm häufig nicht primär die Aufmerksamkeit; schließlich ist die Transformation von Farbe in Bedeutung dermaßen automatisiert, dass man nicht umhin kann zu erkennen. Was für die Pferdeskizze gilt, lässt sich auch für den Roman konstatieren: Die Buchstaben und Wörter sind auf dem Blatt substanzialisiert, doch von sich aus besagen sie nichts. Ein narrativer Text gelangt erst zu Bedeutung, wenn ihn das Leserbewusstsein mit seinen kulturellen Erfahrungen und Wissensstrukturen verschmilzt. Es muss bei der Lektüre eine Verwandlung stattfinden: von der Druckerschwärze zum Sinn, vom Materiellen zum Imaginären; oder wie Roland Barthes ausdrückt: „Lire, c’est faire travailler notre corps […]à l’appel des signes du texte.“270 Das aktuelle Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, welche Verarbeitungsprozesse diesem Vorgang zugrunde liegen und welche spezifischen Erlebnisse mit ihm einhergehen können. Bislang hat die Aufmerksamkeit dieser Ausführungen den Atmosphären, Gefühlen und Motivationen als Resultat der Partizipation gegolten. Allerdings gibt es eine ganze Palette von Lektüreeindrücken, die sich unter diese emotionalen Beteiligungsmöglichkeiten nicht subsumieren lassen. Ist ein Leser etwa von einem Roman so gefesselt, dass er sich nicht von ihm loszureißen vermag, um jeden Preis seinen Fortgang erfahren möchte und darüber die Zeit vergisst, mögen zwar Affekte im Spiel sein, doch nicht ausschließlich. Das Rezeptionserlebnis geht in diesem Fall nicht in einem phänomenologischen Modus auf, sondern ist auf die Zukunft der Lektüre, auf noch nicht eingetretene Erwartungen, hin orientiert. Zur Erklärung dieser Bindung des Leserinteresses braucht es eine Kategorie der kognitiven Partizipation am Text. Zum Zwecke ihrer Entwicklung gilt es zu beleuchten, welche Erleb-
269 Eco, Umberto: Einführung in die Semiotik, München: Fink, 2002, S.204. 270 Barthes, Roland: „Ecrire la lecture“, in: Ders.: Œuvres complètes (Bd. 2), Paris: Seuil, 1970, S.962.
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nisse der informationsverarbeitenden Aktivität des Lesers entspringen, welche Verarbeitungsprozesse sie voraussetzt und in welcher Beziehung sie zu den emotionalen Beteiligungsformen stehen. ‚Kognition‘ ist ein Sammelbegriff für Prozesse des Wahrnehmens, Erinnerns, Erwartens, Lernens, Denkens, Planens oder Problemlösens. Er umfasst die Erfassung und Aneignung von Informationen, ihre Transformation zu Wissen sowie ihre Analyse und Speicherung – also Operationen, deren Ziel in der Konstruktion einer Repräsentation der Realität, in der Entwicklung von Erwartungen und der Entscheidung für ein angemessenes Verhalten besteht.271 Auch das Lesen erfordert als mentaler Akt auf neurophysiologischer Basis die kognitiven Fähigkeiten des Rezipienten. Schließlich ist die Sinnhaftigkeit – so die Argumentation der kognitiven Literaturwissenschaft – nicht im Text selbst enthalten, sondern wird durch seine Erfassung, Verarbeitung und Aneignung erst hergestellt. Das Gedruckte ist lediglich die Quelle, nicht schon das Ergebnis des Romans.272 Indem sich die mentale Repräsentation als vermittelnde Dimension zwischen Text und Bedeutung schiebt, unterminiert sie die Annahme einer Kausalbeziehung zwischen ihnen.273 So formuliert Ray Jackendoff in Language and Cognition: We must take issue with the naive position that the information conveyed by language is about the real world. We have conscious access only to the projected world – the world as unconsciously organized by the mind; and we can talk about things only insofar as they have achieved mental representation through these processes of organization. Hence the information conveyed by language must be about the projected world.274
Diese Entkopplung von Vorstellung und Gegenstand entspricht dem Romanlesen insofern, als eine reale Welt, auf die der Text referieren könnte, in den seltensten
271 Vgl. Trimmel, Michael: Allgemeine Psychologie. Motivation, Emotion, Kognition, Wien: Facultas, 2003, S.77. 272 Vgl. Ziem, Alexander: „Konzeptuelle Integration als kreativer Prozess. Prolegomena zu einer kognitiven Ästhetik“, in: Huber, Martin/Winko, Simone (Hrsg.): Literatur und Kognition. Bestandsaufnahmen und Perspektiven eines Arbeitsfeldes, Paderborn: Mentis, 2009, S.69. 273 Dass hier der Auffassung zugestimmt wird, dass Verstehen auf Basis mentaler Repräsentationen erfolgt, bedeutet nicht, dass die Position des radikalen Konstruktivismus vertreten würde, wonach nicht nur das Verstehen, sondern jegliche Form von Perzeption eine Konstruktion des Bewusstseins darstellt. Eine Differenzierung zwischen sinnlicher Wahrnehmung und Verarbeitung bleibt – wie die Einteilung in emotionale und kognitive Beteiligungsmöglichkeiten bereits suggeriert – erhalten. 274 Jackendoff, Ray: Semantics and Cognition, Cambridge: MIT Press, 1983, S.26.
176 | E RLESENE ERLEBNISSE Fällen existiert. Die Lektüre ist daher alles andere als ein unidirektionaler Informationstransfer auf den Rezipienten:275 Indem dieser das Gedruckte mit seinem Weltwissen verbindet und somit in einen Sinnzusammenhang einflicht, realisiert er die Romanwelt.276 Dementsprechend muss eine kognitive Literaturwissenschaft den Leser als Produkt aus biologischen Voraussetzungen und gesellschaftlich geteiltem Wissen verstehen, der den Text einerseits über den Wahrnehmungsapparat gefiltert erfasst, ihn andererseits in Rückgriff auf kollektive Muster der Lesepraxis und des Weltwissen kategorisiert.277 Ihr Ziel liegt in der Systematisierung und Erklärung der kognitiven Verarbeitungsprozesse bei der Lektüre.278 Trotz dieses Theoriekonzepts ließen und lassen sich die Literaturwissenschaften in Deutschland von der Kognitionswissenschaft eher zögerlich anstecken, da Vorbehalte gegen die Methodik eine breite Rezeption verhindern. Eine Fruchtbarmachung der Ergebnisse erfolgt in den 80er Jahren fast ausschließlich im angloamerikanischen Raum, wo die Fachkultur eine stärkere empirische Ausrichtung aufweist. Erst seit den späten 90er Jahren gelingt es der kognitiven Literaturwissenschaft, auch hierzulande etwas Fuß zu fassen279, was sich eventuell über den Boom der Interdisziplinarität begründen lässt, der die Grenze zwischen Natur- und Geisteswissenschaften aufgeweicht und die Skepsis eingedämmt hat. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, dass im Bereich der Leserbeteiligung die Argumentationen der Kognitionswissenschaften und der hermeneutisch oder strukturalistisch ausgerichteten Literaturwissenschaften alles andere als unvereinbar sind, dass sie sich vielmehr gegenseitig ergänzen.
275 Die Idee, dass der Roman erst durch die Konstruktion des Lesers Vollständigkeit erlangt, findet sich in Ansätzen auch in Wolfgang Isers Metapher der ‚Unbestimmtheitsstelle‘. Indem diese das Kognitive allerdings zu einem lokalen Faktum macht, materialisiert und objektiviert er die Verarbeitung. Die Konzepte der kognitiven Literaturwissenschaft sind in dieser Hinsicht partizipativer ausgerichtet: ‚mental map‘, ‚foregrounding‘, ‚framing‘ sowie ‚theory of mind‘ gehen nicht vom Text, sondern von den Wissensrepräsentationen des Lesers aus und tragen somit dessen Eigenleistung stärker Rechnung. 276 Vgl. Christmann, Ursula/Groeben, Norbert: „Psychologie des Lesens“, in: Franzmann, Bodo/Hasemann, Klaus/Löffler, Dietrich/Schön, Erich (Hrsg.): Handbuch Lesen, Baltmannsweiler: Schneider, 2006, S.146f. 277 Vgl. Brandt, Per Aage: Spaces, Domains, and Meaning. Essays in Cognitive Semiotics, Bern: Lang, 2004, S.42. 278 Vgl. Tsur, Reuven: Poetic Rhythm. Structure and Performance. Empirical Study in Cognitive Poetics, Bern: Peter Lang, 1998, S.356. 279 Vgl. Huber, Martin/Winko, Simone: „Literatur und Kognition. Perspektiven eines Arbeitsfeldes“, in: Dies. (Hrsg.): Literatur und Kognition. Bestandsaufnahmen und Perspektiven eines Arbeitsfeldes, Paderborn: Mentis, 2009, S.8f.
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3.2.1 Verstehen und Erwarten in den Kognitions- und Literaturwissenschaften Die Unabdingbarkeit der Verarbeitungsprozesse bei der Rezeption von Kunstwerken konstatiert bereits Edmund Husserl in Texte zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins. Die Wahrnehmung von Musik beispielsweise sei kein momentaner Vorgang, sondern eine zwischen Pro- und Retention aufgespannte Interaktion. Beim Hören eines Stücks erlebe man jede Sekunde einen anderen Ton, dennoch sei die Perzeption der Melodie als Einheit und nicht als Aneinanderreihung singulärer Geräusche möglich. Das ließe sich darauf zurückführen, dass die gerade gespielten Noten im Kopf noch nachhallten und ihre Wirkung nur langsam verlören. Man gewahre also nicht nur den aktuellen Klang, sondern auch seinen Zusammenhang mit den vorherigen.280 Andererseits entwickle der Rezipient eine bestimmte Erwartung an die folgenden Töne und setze diese mit dem bereits Gehörten in Beziehung. Das Musikhören sei folglich alles andere als linear und punktuell.281 Erst aus der Vereinigung der drei Bestandteile – gegenwärtiger Moment, Pro- und Retention – im Bewusstsein des Rezipienten resultiere der Gesamteindruck des Stücks. Doch damit nicht genug der Beteiligung: Die Vorstellung von der Melodie sei nicht fix, sondern verändere sich mit dem aktuell Wahrgenommenen, so dass sich das, was als präsent, vergangen und zukünftig gelte, mit jedem Ton und jeder Pause neu definiere.282 Der Hörer muss also seine Vorstellung vom Ganzen und seine Erwartung unablässig aktualisieren. Husserls Idee von der Pro- und Retention findet sich in etwas abgewandelter Form auch in Zusammenhang mit der Beschäftigung mit Texten wieder. So definiert auch die Hermeneutik das Verstehen als In-Beziehung-Setzen einzelner Abschnitte zum Gesamtwerk. Eine Aussage erschließe sich, so Hans-Georg Gadamer in Wahrheit und Methode, dem Leser nur dann, wenn er abwechselnd die Teile und das Ganze nachvollziehe. Diese Zirkelbewegung setze nicht erst nach, sondern bereits während der Lektüre ein.283 Auch in die Zukunft richte sich das Erfassen:
280 Vgl. Husserl, Edmund: Texte zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (18941917), Hamburg: Meiner, 1985, S.18. 281 Vgl. Vogt, Jürgen: Der schwankende Boden der Lebenswelt. Phänomenologische Musikpädagogik zwischen Handlungstheorie und Ästhetik, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2001, S.167. 282 Vgl. Husserl, Edmund: Texte zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (18941917), Hamburg: Meiner, 1985, S.34. 283 Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, Tübingen: Mohr, 1965, S.249.
178 | E RLESENE ERLEBNISSE Wer einen Text verstehen will, vollzieht immer ein Entwerfen. Er wirft sich einen Sinn des Ganzen voraus, sobald sich ein erster Sinn im Text zeigt. Ein solcher zeigt sich wiederum nur, weil man den Text schon mit gewissen Erwartungen auf einen bestimmten Sinn hin liest. Im Ausarbeiten eines solchen Vorentwurfs, der freilich beständig von dem her revidiert wird, was sich bei weiterem Eindringen in den Sinn ergibt, besteht das Verstehen dessen, was dasteht.284
Eine Übertragung dieses Modells auf Romane unternimmt Wolfgang Iser in Der Akt des Lesens: Während der Lektüre gewahre der Rezipient jeweils nur denjenigen Ausschnitt, der sich vor seinem inneren Auge gerade konkretisiere; dennoch vermöge er an jeder beliebigen Stelle des Texts seine Meinung zum Werk in seiner Totalität kundzutun. Dies liege daran, dass im Leserbewusstsein eine unablässige Pendelbewegung zwischen dem gegenwärtigen Erleben und der Gesamteinschätzung des Werks stattfinde. Frisch Erinnertes erzeuge einerseits in Verbindung mit dem neu Erfahrenen einen Horizont, der sich von der vorherigen Einschätzung abhebe; andererseits entwickle der Leser mit jedem Satz Erwartungen, die er im weiteren Verlauf gerne erfüllt sähe. Indem im Rezipienten bereits Gelesenes nachhalle und noch nicht Gelesenes ergänzt werde, bilde dieser eine spezifische Haltung gegenüber dem Roman aus.285 Betonung erfährt auch hier der dynamische Charakter dieser Vorgänge: Während der Roman fortschreite, positioniere sich der Leser stets aufs Neue zum Text. Hieraus ergebe sich, so Iser, ein Netz von Beziehungsmöglichkeiten, dessen Besonderheit darin liegt, dass nicht isolierte Daten verschiedener Textperspektiven miteinander verbunden werden, sondern dass weckende und geweckte Perspektiven zu Standpunktverhältnissen wechselseitiger Beobachtung zusammenlaufen. Dadurch vermag der wandernde Blickpunkt ein Beziehungsnetz zu entfalten, das in den artikulierten Leseaugenblicken potentiell immer den ganzen Text parat zu halten vermag.286
Wie genau sich Verstehen und Erwartungsbildung allerdings im Einzelfall gestalten, muss bei Iser unthematisiert bleiben. An eben diesem Punkt können die Kognitionswissenschaften ansetzen, denn auch sie betrachten das Gesamtverständnis des Werks und das Abschätzen seines weiteren Verlaufs als Ziel der Lektüre. Hierfür gleiche der Leser, so Peter Stockwell in Cognitive Poetics, das Gelesene mit seinem Weltwissen ab, wobei er zwischen den Neuinformationen sowie den Konzepten und
284 Ebd., S.251. 285 Vgl. Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München: Fink, 1994, S.111. 286 Ebd., S.192.
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Verhaltensmustern aus seiner Erfahrung hin und her kippe.287 Eine tragende Rolle spielen hierbei Schemata. Der Begriff ‚Schema‘ stammt ursprünglich aus der Computerforschung. Bei der Entwicklung einer Maschine mit der Fähigkeit zur Kommunikation stießen die Forscher auf folgendes Problem: Menschen sind zur flexiblen Reaktion in Gesprächskontexten fähig, da ihnen ihr Kontextwissen die mühelose Ergänzung von Leerstellen erlaubt; Computer hingegen können lediglich Daten abspeichern, diese jedoch nicht selbstständig untereinander vernetzen.288 Durch die Profilierung von Wissensstrukturen (schemes), die sowohl hinsichtlich ihres Inhalts als auch der Datenverknüpfung stereotyp sind, sollte dieses Defizit ausgeglichen und somit ein sprechfähiger Computer geschaffen werden. Diesen Überlegungen entsprang die Idee, dass das menschliche Verstehen ebenfalls über Schemata ablaufen könne, d.h. dass im Gedächtnis des Subjekts Erfahrungsmuster abgespeichert seien, die dem Individuum Orientierung böten und ein schnelles Verstehen ermöglichten.289 Diese sind freilich dynamischer als die Schemata von Robotern, da ihre Produktion und Aktivierung parallel verläuft, so dass diese sich synchron zu den individuellen und kulturellen Erfahrungen wandeln. Je häufiger bestimmte Elemente zusammen auftreten, desto mehr verhärtet sich die assoziative Vernetzung zwischen ihnen in der Vorstellung des Individuums sowie die Verfügbarkeit und es formiert sich ein Schema.290 Jedes Mal, wenn ein Bestandteil von diesem anschließend in der Alltagswirklichkeit vorkommt, erwartet das Subjekt automatisch gleichermaßen das Auftauchen der übrigen Komponenten.291 Auch bei der Rezeption narrativer Texte spielen mentale Muster eine grundlegende Rolle. Der Leser ruft im Moment der Lektüre kulturelles und literarisches Kontextwissen ab, durch das Wiedererkennen stereotyper Strukturen übersetzt und beherrscht er den Datenstrom.292 Das hat sowohl Auswirkungen auf das Verstehen
287 Vgl. Stockwell, Peter: Cognitive Poetics. An Introduction, London: Routledge, 2002, S.113. 288 Vgl. ebd., S.75. 289 Vgl. Rumelhart, David: „Schemata. The building Blocks of Cognition“, in: Spiro, Rand (Hrsg.): Theoretical Issues in Reading Comprehension, Hillsdale: Erlbaum, 1980, S.34f. 290 Vgl. Schemer, Christian: „Priming, Framing, Stereotype“, in: Schweiger, Wolfgang/Fahr, Andreas (Hrsg.): Handbuch Medienwirkungsforschung, Berlin: Springer, 2013, S.155. 291 Vgl. Piaget, Jean: Der Aufbau der Wirklichkeit beim Kinde, Stuttgart: Klett, 1975, S.297. 292 Dass die Gliederung des Texts mittels Schemata für den Rezipienten besondere Relevanz besitzt, beweisen mehrere empirische Studien: Schemarelevante Informationen werden aufmerksamer gelesen und länger sowie detaillierter im Gedächtnis behalten;
180 | E RLESENE ERLEBNISSE als auch auf die Erwartungsbildung: Verstehen wird möglich, wenn sich mehrere Elemente problemlos in ein oder mehrere Schemata fügen, wenn der Leser sie „einordnen“ kann. Ist ein bestimmtes Muster aktiviert, so beginnt er nach dazugehörigen Elementen zu suchen; er perspektiviert seine Wahrnehmung und entwickelt dadurch eine Erwartung.293 So konstruiert er beispielsweise eine Vorstellung von den Figuren, indem er „die Gesamtheit aller im Bewusstsein des Rezipienten vorgegebenen Informationen und Vorstellungen über Personen“ einfließen lässt.294 Das wohl prominenteste Beispiel für ein spezifisch literarisches Schema ist die Gattung. Beginnt ein Text mit „Il était une fois“ so mobilisiert der Leser anderes Kontextwissen als etwa bei „La marquise sortit à cinq heures“. Im ersten Fall stellt er sich auf Figuren mit übernatürlichen Kräften, auf einen Kampf zwischen Gut und Böse, die Rettung des Helden, die Überwindung einer Gefahr etc. ein, also auf diejenigen Elemente, die Vladimir Propp in Morphologie des Märchens als genrekonstitutiv profiliert hat.295 Im zweiten Fall können die Wahl der Adeligen als Akteurin oder das Erzähltempus die Erwartung auf einen realistischen Roman vorstrukturieren. Je häufiger die Auswahl des Schemas ‚Märchen‘ oder ‚Realismus‘ durch die Figurencharakteristik, die Handlungsmuster, die Chronotoposgestaltung, das Erzählerverhalten oder die stilistische Ausgestaltung im Laufe des Romans bestätigt wird, desto sinnhafter erscheint der Text. Hängen alle Elemente widerspruchsfrei zusammen, entsteht der Eindruck maximaler Versteh- und Planbarkeit,296 so dass der Strukturierungsaufwand des Rezipienten gering bleibt. Kommen jedoch mehrere Schemata zur Einordnung in Frage, so kann im Lauf der Lektüre eine Abänderung des ersten Eindrucks, also die Rekomposition aller eingegangenen Daten, erforderlich sein, was einen aufwändigeren Informationsverarbeitungsprozess bedeutet.297
Informationen hingegen, die sich nicht in ein Gesamtkonzept einordnen lassen, überliest man leicht und erinnert sie mit geringerer Wahrscheinlichkeit (vgl. Rath, Brigitte: Narratives Verstehen. Entwurf eines narrativen Schemas, Weilerswist: Velbrück, 2011, S.25.). 293 Vgl. Christmann, Ursula/Groeben, Norbert: „Psychologie des Lesens“, in: Franzmann, Bodo/Hasemann, Klaus/Löffler, Dietrich/Schön, Erich (Hrsg.): Handbuch Lesen, Baltmannsweiler: Schneider, 2006, S.165. 294 Grabes, Herbert: „Wie aus Sätzen Personen werden… Über die Erforschung literarischer Figuren“, in: Poetica, 10 (1978), S.412. 295 Vgl. Propp, Wladimir: Morphologie des Märchens, Frankfurt: Suhrkamp, 1986, S.31f. 296 Vgl. Culpeper, Jonathan: „Reflections on a Cognitive Stylistic Approach to Characterisation“, in: Brône, Geert/Vandaele, Jeroen (Hrsg.): Cognitive Poetics. Goals, Gains and Gaps, Berlin: de Gruyter, 2009, S.139. 297 Auch Detailinformationen, die momentan nicht in ein Schema passen, werden gespeichert. Sie stehen zwar nicht als aktiver Wissensvorrat zur Verfügung, jedoch können sie
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Ernsthafte kognitive Schwierigkeiten können sich fürderhin ergeben, wenn ein Text die Erwartung durch das gleichzeitige Bedienen widersprüchlicher Schemata so durchbricht, dass er damit das Verstehen und die Erwartung blockiert. Doch die Orientierung an Schemata erschöpft sich nicht im Phänomen der Gattung. Wie Jean-Louis Dufays in Stéréotypie et lecture herausarbeitet, sind sämtliche Ebenen des literarischen Texts in Denkschablonen eingepasst: Einzelne Formulierungen, Motive, Handlungsmuster, Erzähltechniken oder mikrostrukturelle Eigenheiten nähmen eine bedeutungsstrukturierende Funktion an, wenn sie im Gedächtnis des Rezipienten miteinander vernetzt seien und eine Konvention bildeten.298 So gesehen ist die Anwendung von Schemata die conditio sine qua non eines jeden Lektüreprozesses, zumal Pro- und Retentionsprozesse ohne sie unvorstellbar sind. Die Schematheorie allein freilich vermag das Verstehen und die Erwartungsbildung an Romanen nicht gründlich zu erklären. Müsste der Rezipient alle Informationen eines Texts gleichermaßen auf ihre Musterhaftigkeit prüfen, dann wäre die Bedeutungsfindung für ihn überaus zeitaufwändig und wenig erfolgsversprechend und er ginge in der Datenfülle wohl orientierungslos unter. Insofern erfordert die Lektüre auch eine kognitive Operation der Selektion, die eine Systematisierung der Informationen nach dem Kriterium der Relevanz garantiert. Die kognitive Literaturwissenschaft bezeichnet dieses Phänomen als foregrounding: Der Leser nimmt den Roman nicht als lineare und homogene Struktur wahr, sondern profiliert ihn, indem er einzelne Elemente selektiert, gruppiert und bewertet. Dadurch entsteht ein dreidimensionales Wissensnetz mit qualitativen Variationen.299 Vordergründigen Elementen schenkt der Rezipient besondere Aufmerksamkeit, er speichert sie dauerhaft im Gedächtnis und gründet auf sie seine Erwartungshaltung; hintergründige Textbestandteile dienen der Kontextualisierung, sie wirken als Nullstufe, vor der sich die vermeintlich wichtigen abspielen.300 Das foregrounding ist über Oppositionen gesteuert, Relevantes und Irrelevantes sind aufeinander bezogen. Wichtig erscheint ein Element erst, wenn es sich von einem bestimmten Hintergrund abhebt.301 Jonathan Culpeper beschreibt dies in Bezug auf die Unterscheidung von Haupt- und Nebenfiguren: „In order for characterisation to proceed, at some point
bei erneutem Aufruf, eine Aktivierung erfahren, Bedeutung erlangen und damit eventuell sogar einen Schemawechsel einleiten (vgl. Stockwell, Peter: Cognitive Poetics. An Introduction, London: Routledge, 2002, S.28.). 298 Vgl. Dufays, Jean-Louis: Stéréotype et lecture, Lüttich: Mardaga, 1994, S.69. 299 Vgl. Adam, Jean-Michel: Le texte narratif, Paris: Nathan, 1994, S.173. 300 Vgl. Stockwell, Peter: Cognitive Poetics. An Introduction, London: Routledge, 2002, S.15. 301 Vgl. Sanford, Anthony/Emmott, Catherine: Mind, Brain and Narrative, Cambridge: University Press, 2012, S.101.
182 | E RLESENE ERLEBNISSE the reader must decide that information arising from the text has something to do with character as opposed to something else in the context. This decision is a matter of character inferencing.“302 Eine unterschiedliche Behandlung des Romanpersonals durch die Vermittlungsinstanz lasse folglich auf Differenzen bezüglich ihrer Rolle in der Diegese schließen: Eine eingehend beschriebene Figur komme eher als Protagonist in Frage als eine, von der man lediglich den Namen kenne.303 Aber nicht nur die Quantität der Erzähleraufmerksamkeit ist für das foregrounding ausschlaggebend, sondern auch die Qualität der gelieferten Informationen, also ihr Erlebniswert. Passagen, die eine starke emotionale Partizipation des Rezipienten erlauben, werden mit größerer Wahrscheinlichkeit als relevant aufgefasst, da sie mit den unemotionalen Abschnitten hinsichtlich ihrer Intensität kontrastieren.304 Diese Korrelation der kognitiven und affektiven Eindrücke hat ihre Entsprechung im Alltagsleben, zumal auch hier auf wichtige Ereignisse meist besonders intensiv reagiert wird. Nicht zuletzt hat auch die Schemaaktivierung Einfluss auf die Reliefgebung: Ungewöhnliche oder verfremdende Elemente deautomatisieren die Wahrnehmung des Rezipienten und erhöhen dessen kognitiven Verarbeitungsaufwand. Dadurch ziehen sie die Aufmerksamkeit stärker auf sich und erscheinen deshalb wichtiger.305 Die Idee der Reliefgebung ist keine genuin kognitionswissenschaftliche, sondern taucht auch in hermeneutischen Kontexten auf, so etwa in Harald Weinrichs Tempus. Die Monographie legt dar, dass der Leser die Romanwelt in Abhängigkeit vom Zeitengebrauchs profiliert: Besprechende Tempora (im Französischen: présent, passé composé, passé simple, futur) würden sich von den erzählenden (imparfait, plus-que-parfait, conditionnel) qualitativ abheben, da erstere für punktuelle, herausragende, zweitere für gewöhnliche Ereignisse verwendet würden. Da der Rezipient mit dieser Aufteilung vertraut sei und sie erwarte, falle ihm das Herausfiltern der wichtigen Handlung leicht.306 Der Leitgedanke des foregrounding ist
302 Culpeper, Jonathan: „Reflections on a Cognitive Stylistic Approach to Characterisation“, in Brône, Geert/Vandaele, Jeroen: Cognitive Poetics. Goals, Gains and Gaps, Berlin: de Gruyter, 2009, S.140. 303 Vgl. ebd., S.149. 304 Vgl. Miall, David: „Anticipation and Feeling in Literary Response. A Neuropsychological Perspective“, in: Poetics, 23 (1995), S.283. 305 Vgl. Zymner, Rüdiger: „Körper, Geist und Literatur. Perspektiven der ‚Kognitiven Literaturwissenschaft‘. Eine kritische Bestandsaufnahme“, in: Huber, Martin/Winko, Simone (Hrsg.): Literatur und Kognition. Bestandsaufnahmen und Perspektiven eines Arbeitsfeldes, Paderborn: Mentis, 2009, S.142. 306 Vgl. Weinrich, Harald: Tempus. Besprochene und erzählte Welt, München: Beck, 2001, S.117f.
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folglich bei Weinrich angelegt, wenngleich er ihn auf die Zeitgestaltung beschränkt und als textimmanentes Phänomen versteht. Die Ausführungen zum Verstehen und zur Erwartungsbildung sollen im Folgenden als Grundlage zur Erforschung kognitiver Partizipationspotenziale aufgegriffen werden. Allerdings wird sich dabei nicht auf die Beschreibung dieser Prozesse beschränkt, sondern die Erkenntnisse hierzu sollen im Sinne des Präsenzgedankens fortgesponnen werden. Deshalb nehmen die nachstehenden Darlegungen nicht so sehr den genauen Ablauf von Pro- und Retention in den Blick als die Erlebnisse, die sich sozusagen als deren Nebenprodukte einstellen. Untersucht werden erstens Erfahrungen in Bezug auf den Schwierigkeitsgrad der kognitiven Operationen. Gestaltet sich die Schema- und Reliefbildung problemlos, so wird optimales Verstehen und Erwarten möglich. Da der Leser allerdings meist mit einer gewissen Komplexität und Herausforderung rechnet, kann einer einfachen kognitiven Beteiligung das Erlebnis der Unterforderung entspringen. Ebenso ist das Gegenteil denkbar: Eine schwierige kognitive Strukturierung Schwierigkeiten blockiert Pro- und Retention, woraus der Eindruck der Überforderung resultieren kann. Zweitens gilt es, Erlebnisse in Zusammenhang mit der Aufmerksamkeitsrichtung zu analysieren. Worauf man sich bei der Lektüre konzentriert, kann variieren: Bei manchen Textstellen liegt der Fokus auf der soeben ablaufenden Handlung, man ist im Jetzt verhaftet, ohne an Kommendes zu denken; bei anderen hingegen beachtet man verstärkt die Fortsetzung oder den Ausgang und versteht das aktuell Gelesene lediglich als Übergangsstadium. Worin die kognitiven Rahmenbedingungen von Unmittelbarkeit und suspense bestehen, soll anhand von Beispieltexten profiliert werden. Darüber hinaus wird die Überraschung als Phänomen beleuchtet, das mit dem plötzlichen Umschwenken der Aufmerksamkeit vom Zukünftigen zum Unmittelbaren zusammenhängt. Eine letzte Dimension kognitiven Erlebens bildet der Grad an Motiviertheit des Lesers zur Realisierung der Erwartung. Einige Texte verursachen Anspannung, wenn sie dem Rezipienten ein Rätsel zur Lösung vorsetzen. Darüber hinaus zählen zur Motiviertheit Erlebnisse, die aus der Erfüllung oder Enttäuschung von Protentionen resultieren, deren kognitive Voraussetzungen und Verbindungen zur motivationalen Beteiligung abschließend beantwortet werden sollen. 3.2.2 Lektüreerlebnisse in Bezug auf die Verabeitungsgeschwindigkeit In der empirischen Studie „Textoptimierung unter Verständlichkeitsperspektive“ erarbeiten Norbert Groeben und Ursula Christmann die Determinanten der kognitiven Bindung von Rezipienten an Gelesenes. Dabei kommen sie – entgegen der häufigen Annahme – zu dem Ergebnis, dass eine maximale Verarbeitungsleistung nicht mit maximaler Verständlichkeit korreliere. Sehr kohärente Texte erzeugten vor al-
184 | E RLESENE ERLEBNISSE lem bei erfahrenen Lesern Langeweile, was die Aufnahmefähigkeit beeinträchtige; andererseits störe natürlich auch starke Inkohärenz den Lesefluss. Optimale Bedingungen bestünden folglich, wenn ein Text die kognitiven Fähigkeiten des Rezipienten zwar fordere, jedoch nicht übermäßig.307 Diese Flow-Situation, die bei Gebrauchstexten angestrebt wird, ist allerdings nicht immer auch das Ziel der Romankommunikation. Vielmehr reißen manche narrativen Texte den Leser gezielt aus seiner Versenkung in das Geschehen heraus und begünstigen über die Variation des Schwierigkeitsgrads der kognitiven Verarbeitung das Erlebnis der Unter- oder Überforderung. 3.2.2.1 Langeweile Die Motivationsforschung beschreibt Langeweile als aversiven Zustand, der aufgrund der dauerhaften Abschirmung von neuen Daten eintrete. In Reaktion darauf entwickle das Individuum das Verlangen, sich einem stärkeren Informationsstrom auszusetzen.308 Anders formuliert: Man nimmt für seinen Alltag stets einen gewissen Neuigkeitswert an; bei der Enttäuschung dieser Erwartung fühlt man sich unterfordert. Das lässt sich problemlos auf die Romanlektüre anwenden: Erhält der Leser lange kein neues Daten- oder Erlebnisinput, obwohl er dieses erhofft, so ist Langeweile das Resultat. Dennoch lässt diese Definition Spielraum für Interpretationen: Wie ausgedehnt muss eine Abschirmung sein, damit Unbehagen aufkommt? Und wie lässt sich bestimmen, was ein ‚neues Ereignis‘ gelten kann? Wie viele psychologische Konzepte ist Langeweile relativ und variiert mit der Stimmung des Subjekts sowie der Situation. Besucht man einen wissenschaftlichen Vortrag, so legt man andere Maßstäbe zur ihrer Beurteilung an, als wenn man einen Nachmittag am Strand verbringt. Ebenso bei der Romanlektüre: Der Definitionsbereich dessen, was Rezipienten als monoton empfinden, verändert sich mit ihren Erwartungen an das jeweilige literarische Werk. Wer etwa von einem ereignis- und spannungsreichen Plot ausgeht, wird Le côté de Guermantes mit großer Wahrscheinlichkeit als monoton empfinden. Um dem Phänomen auf den Grund zu gehen, muss also ein Extrem als Ausgangspunkt gewählt werden, nämlich eine vom Roman „gewollte“ Langeweile. Eine literarische Strömung, die dafür berühmt geworden ist, den Rezipienten mit ihrer Abwechslungslosigkeit zur Weißglut zu treiben, ist der nouveau roman. Aufgrund seiner Tendenz zur unspektakulären Darstellung des Zuständlichen ist er in den
307 Vgl. Groeben, Norbert/Christmann, Ursula: „Textoptimierung unter Verständlichkeitsperspektive“, in: Antos, Gerd/Krings, Hans (Hrsg.): Textproduktion. Ein interdisziplinärer Forschungsüberblick, Tübingen: Niemeyer, 1989, S.174. 308 Vgl. Schmalt, Heinz-Dieter/Langens, Thomas: Motivation, Stuttgart: Kohlhammer, 2009, S.167.
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Augen mancher regelrecht zur ‚Literatur der Langeweile‘ avanciert309 und ist deshalb für das Vorhaben dieses Kapitels prädestiniert. Anhand eines Ausschnitts aus Michel Butors La Modification soll also herausgearbeitet werden, wovon die Unterforderung bei der Lektüre abhängt. Ce train qui est parti comme il part tous les jours à huit heures dix de Paris-Lyon, qui comporte un wagon-restaurant comme l’indique cette petite fourchette et ce petit couteau entrecroisés, ce wagon-restaurant même que vous venez déjà d’utiliser ainsi que les deux jeunes époux, et où vous retournerez déjeuner mais non dîner parce qu’à ce moment-là c’en sera un autre, italien, il s’arrêtera à Dijon et en repartira à onze heures dix-huit, il passera à Bourg à treize heures deux, quittera Aix-les-Bains à quatorze heures quarante et une (il y aura vraisemblablement de la neige sur les montagnes autour du lac), s’arrêtera vingt-trois minutes à Chambéry pour assurer une correspondance, et au passage de la frontière depuis seize heures vingt-huit jusqu’à dix-sept heures dix-huit pour les formalités (cette petite maison après le mot Modane, c’est le hiéroglyphe qui signifie douane), il arrivera à Turin Piazza Nazionale à dix-neuf heures vingt-six (oh, ce sera la nuit déjà depuis longtemps), en repartira à vingt heures cinq, quittera la station Piazza Principe à Gênes à vingt-deux heures trente-neuf, atteindra Pise à une heure quinze, et Roma Termini enfin demain matin à cinq heures quarantecinq, bien avant l’aube, ce train presque inconnu de vous, puisque d’habitude c’est toujours l’autre que vous prenez, celui de la colonne d’à côté, le rapide numéro 7, le Rome-express à wagon-lits, qui n’a que des premières et des secondes, qui est tellement plus rapide, puisqu’il ne met que dix-huit heures quarante pour faire le trajet, alors que celui-ci, voyons, celui-ci met vingt et une heure trente-cinq, ce qui fait deux heures cinquante de différence, et dont l’horaire est tellement plus commode, partant au moment de dîner pour arriver au début de l’après-midi suivant. Ce train dans lequel vous êtes, pour chercher de plus amples renseignements sur lui (l’autre, l’habituel, le Rome-express, vous en connaissez l’horaire presque par cœur, et lorsque vous l’utilisez vous n’avez nul besoin de ce livret carré dans lequel, malgré votre expérience, vous avez tant de mal à vous reconnaître), il faudrait vous reporter au tableau 400 dans lequel l’itinéraire est beaucoup plus détaillé, faisant mention de toutes les stations, même de celles que l’on brûle, puis, à partir de Mâcon, où l’on quitte la grande artère Paris-Marseille, au tableau 530, mais après Modane il vous faudrait un indicateur italien, car dans celui-ci il n’y a rien d’autre que cette page avec les étapes principales: Turin, Gênes, Pise, alors qu’il y aura sûrement quelques autres arrêtes, à Livourne vraisemblablement, peut-être à Civitavecchia.310
309 So heißt es etwa bei Madeleine Bouchez: „Un livre entier ne suffirait pas, fût-il épais, pour prospecter les puits de l’ennui dans ce qu’on est convenu d’appeler ,nouveau roman‘“ (Bouchez, Madeleine: L’ennui. De Sénèque à Moravia, Paris: Bordas, 1973, S.180.). 310 Butor, Michel: La modification, Paris: Minuit, 1980, S.30f.
186 | E RLESENE ERLEBNISSE Bei der Lektüre dieses Abschnitts fällt als erstes auf, dass die psychologische Definition von Langweile bereits widerlegt zu sein scheint. Von einer Abschirmung von Informationen kann keine Rede sein, vielmehr wird der Rezipient von einem Übermaß an Daten regelrecht erschlagen. Offenbar erfordert die Langeweile in der Literatur eine abgewandelte Begriffsbestimmung: Da es ihr unmöglich ist, nichts vermitteln, muss sie zu viel kommunizieren. Sie muss den Eindruck des Ereignisfortschritts verlangsamen, indem sie sich mit Detaildaten aufbläst, bis es dem Leser anmutet, als würde seine Zeit sinnlos verschwendet. Ausschlaggebend ist hierfür die Qualität der gelieferten Informationen. Diese müssen nichtig erscheinen, d.h. sich für Pro- und Retentionsprozesse als nutzlos erweisen. In dem Moment, in dem ausnahmslos alles ohne Filterung nach Relevanz – und eventuell sogar noch mehrfach – gesagt wird, bleibt für den Rezipienten nichts mehr zu erkunden; es gibt keinen Platz mehr für ein Rätsel, das seine Neugier und Emotionen an sich binden könnte. Die mangelnde Filterung der Ereignisse führt zu einer minutiösen, detailgetreuen, aber auch relieflosen Abbildung.311 Der Leser macht folglich in der vorliegenden Passage eine eindeutige Belanglosigkeitserfahrung ob der Deklination des Fahrplans ‚Paris-Rom‘ in all seinen Einzelheiten. Die zahlreichen Angaben erscheinen unbedeutend, bringen sie ihn doch nicht weiter in der Frage, wie er den Roman als Ganzes einschätzen und vorauskonstruieren soll, und sind sie doch von den Figurenemotionen losgelöst und auf diese Weise in ihrer Referenzialität autonom.312 Potenziert wird die Tendenz zur Monotonie durch die Verwendung unmittelbarkeitserzeugender Verfahren.313 Die Du-Ansprache schafft in Kombination mit den häufigen Deiktika (v.a. Demonstrativa) den Eindruck einer face-to-faceSituation, wodurch der Leser an die aktuelle Situation gebunden wird.314 Die leere Deixis und Apostrophe suggerieren ihm, er wäre im Zug verortet und handle dort.315 Insofern ist seine Beteiligung an die langweilige gegenwärtige Situation gebunden,
311 Vgl. Mecke, Jochen: Roman-Zeit. Zeitformung und Dekonstruktion des französischen Romans der Gegenwart, Tübingen: Narr, 1990, S.184. 312 Vgl. Bloch, Jean-Michel: Le présent de l’indicatif, Paris: Gallimard, 1963, S.62. 313 Eine ausführliche Behandlung des Phänomens ‚Unmittelbarkeit‘ findet sich im Kapitel 3.2.3.2. 314 Anita Petersen und Gary Bente betonen, dass die Immersion des Rezipienten besonders hoch sei, wenn der Zuschauer mit der fiktiven Welt interagieren könne (vgl. Petersen, Anita/Bente, Gary: „Situative und technologische Determinanten des Erlebens virtueller Realität“, in: Zeitschrift für Medienpsychologie, 13.4 (2001), S.142f.). Deiktische Elemente befördern den Eindruck des Mithandelns bei schriftlichen Medien am stärksten. 315 Vgl. Mecke, Jochen: „Michel Butor, La Modification – Claude Simon, La Route des Flandres“, in: Asholt, Wolfgang (Hrsg.): 20. Jahrhundert. Roman, Tübingen: Stauffenburg, 2007, S. 339.
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was die Evasion durch eine kognitive Aktivierung im Erwartungs- und Verstehensbereich verhindert.316 Jegliche Hoffnung auf eine Vermeidung des Präsens wird durch das imperativische Futur zunichte gemacht, das dem Leser vorschreibt, wo er sich um welche Uhrzeit aufhalten und wie er sich verhalten wird, und so die aktuelle Situation in die Zukunft verlängert. Dieser ist – wie Barbara Kuhn formuliert – „an die Schienen und an den Fahrplan gebunden“317. Aber es sind nicht nur die reduzierten kognitiven Beteiligungsmöglichkeiten, die dem Leser in der Passage das Gähnen auf die Lippen treiben können. Im emotionalen Bereich trägt der sprachliche Erlebniswert entscheidend zur Entstehung von Monotonie bei. Nicht zufällig spricht der Erzähler unablässig von der Gewohnheit des Zugfahrens, vom repetitiven Charakter des Orts („comme il part tous les jours“, „où vous retournerez déjeuner“ etc.) sowie von der Option eines angenehmeren, schnelleren und günstigeren Zugs. Er versucht auf diese Weise, Unzufriedenheit mit der aktuellen Situation zu erzeugen und eine Motivation des Lesers für einen Fahrzeug-, Orts- oder Zugwechsel zu entfachen. Zur Frustration mag überdies die unablässige Thematisierung von Uhrzeiten beitragen. Durch sie wird der Rezipient sozusagen genötigt, ständig imaginär auf die Uhr zu gucken, um jedes Mal festzustellen, dass sie wieder nicht vorwärtsgeschritten ist. Die Rekurrenz auf die messbare verhindert den Eindruck einer verfliegenden Zeit und kann den Leser so Langeweile spüren lassen. Auch die sinnliche Erfahrung des Abschnitts hält wenig Intensität bereit. Der eintönige Textrhythmus mag in der Kopplung an den spannungslosen Inhalt eine einschläfernde Wirkung entfalten: Da sind die überlangen, parataktischen Sätze, die sich ins Unermessliche zu dehnen scheinen und zu einer Textgliederung durch lange, blockartige Paragraphen führen. Da sind die Zeitverschwendungsstrategien des Erzählers, der zu überflüssigen Füllwörtern („voyons“) tendiert; der, statt zu pronominalisieren, bereits genannte Satzelemente stets noch einmal in voller Länge nennt („qui comporte un wagon-restaurant comme l’indique cette petite fourchette et ce petit couteau entrecroisés, ce wagon-restaurant même que vous venez déjà d’utiliser“, Hvg. T.H.) und der lieber zu Wiederholungen als zu Ellipsen greift („puisqu’il ne met que dix-huit heures quarante pour faire le trajet, alors que celui-
316 Auf die Relevanz der Unmittelbarkeit für den Eindruck der Langweile spricht auch Eberhard Lämmert an. In Bauformen des Erzählens heißt es: „Je unvermittelter eine Digression in den Fortschritt der Handlung eingesprengt wird, desto stärker wird die Stauung des Erzählverlaufs spürbar“ (vgl. Lämmert, Eberhard: Bauformen des Erzählens, Stuttgart: Metzler, 1955, S.91.). 317 Kuhn, Barbara: A la recherche du livre perdu. Der Roman auf der Suche nach sich selbst. Am Beispiel von Michel Butor: La Modification und Alain Robbe-Grillet: La jalousie, Bonn: Romanistischer Verlag, 1994, S.22.
188 | E RLESENE ERLEBNISSE ci, voyons, celui-ci met vingt et une heure trente-cinq“, Hvg. T.H.). Gerade nicht die Modifikation, sondern die Redundanz erweist sich als Stilprinzip des Ausschnitts und mag den Rezipienten in einen Zustand kognitiver Unterforderung versetzen: Da die Menge zu verarbeitender Daten durch die ineffiziente Informationsvergabe reduziert ist, kann dieser eine Leere verspüren, die eine Sehnsucht nach Neuem in ihm aufkeimen lässt. Nicht zuletzt entsteht der Eindruck einer Informationssättigung auch über die Formatierung: Die Funktion von Parenthesen liegt im Allgemeinen in der Vermittlung von Zusatzinformationen. Ihr häufiger Einsatz in der Passage kann somit als ikonisches Element dafür aufgefasst werden, dass der Text im Grund entbehrliche Daten enthält, wodurch das Erlebnis der Monotonie verstärkt.318 Festhalten lässt sich folglich: Langeweile kann sich einstellen, wenn ein Roman einerseits die pro- und retentionalen Prozesse durch die Multiplikation irrelevanter Informationen oder unmittelbarkeitsförderliche Elemente unterbindet und andererseits diese Gegenwärtigkeit nicht ausnutzt, um dem Leser einen emotionalen Höhepunkt zu verschaffen oder ihn kognitiv zu fordern. Auf diese Weise entsteht ein Missverhältnis zwischen der Informationsverarbeitungskapazität des Lesers und dem gebotenen Input. In vorliegendem Fall mag die Langweile zu einer Ausgleichsreaktion, nämlich der Flucht vor der Realität des Texts, führen.319 Es kommt dem Rezipienten also entgegen, wenn im Laufe des Romans die anfängliche lokale und temporale Geschlossenheit zur Erinnerung der Figur hin aufgebrochen wird und die klaustrophobische Atmosphäre im Imaginären eine Evasionsmöglichkeit findet. 3.2.2.2 Überforderung Wenn sich Langeweile mangels der Ausnutzung des Pro- und Retentionspotenzials eines Rezipienten und der Intensität der Beteiligung einstellt, dann erwächst Überforderung der gegenteiligen Situation: Die Anforderungen an den Leser steigen bei gleichbleibenden Fähigkeiten dermaßen an, dass er die Kontrolle über den Text zu verlieren meint.320 Dies soll anhand eines Beispiels aus Luis Martín Santos’ Tiempo
318 Es manifestiert sich an diesem Punkt deutlich die enge Verflechtung kognitiver und emotionaler Beteiligungspotenziale bei der Medienrezeption, auf die auch Werner Wirth verweist (vgl. Wirth, Werner: „Grundlagen emotionaler Medienwirkungen“, in: Schweiger, Wolfgang/Fahr, Andreas (Hrsg.): Handbuch Medienwirkungsforschung, Berlin: Springer, 2013, S.240.). 319 Vgl. Kuhn, Barbara: A la recherche du livre perdu. Der Roman auf der Suche nach sich selbst. Am Beispiel von Michel Butor: La Modification und Alain Robbe-Grillet: La jalousie, Bonn: Romanistischer Verlag, 1994, S.128. 320 Die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses ist begrenzt und wird durch eine verkomplizierte Schemaeinordnung ebenso beeinträchtigt wie durch die unübersichtliche oder unef-
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de silencio überprüft werden. Es handelt sich dabei um einen Ausschnitt gegen Ende des Romans, in dem der Protagonist Pedro die Stadt verlässt, nachdem er seine Anstellung im Labor verloren hat und seine Freundin einem Rachemord zum Opfer gefallen ist: ¡Qué bonito día, qué cielo más hermoso! No hace frío todavía. ¡Esa mujer! Parece como si hubiera sido, por un momento, estoy obsesionado. Claro está que ella está igual que la otra también. Por qué será, cómo será que yo ahora no sepa distinguir entre la una y la otra muertas, puestas una encima de otra en el mismo agujero: también a ésta autopsia. ¿Qué querrán saber? Tanta autopsia; para qué, si no ven nada. No saben para qué las abren: un mito, una superstición, una recolección de cadáveres, creen que tiene una virtud dentro, animistas, están buscando un secreto y en cambio no dejan que busquemos los que podíamos encontrar algo, pero qué va, para qué, ya me dijo que yo no estaba dotado y a lo mejor no, tiene razón, no estoy dotado. La impresión que me hizo. Siempre pensando en las mujeres. Por las mujeres. Si yo me hubiera dedicado sólo a las ratas. ¿Pero qué iba a hacer yo? ¿Qué tenía que hacer yo? Si la cosa está dispuesta así. No hay nada que modificar. Ya se sabe lo que hay que aprender, hay que aprender a recetar sulfas. Pleuritis, pericarditis, pancreatitis, prurito de ano. Vamos a ver qué tal se vive allí. Se puede cazar. Cazar es sano. Se toma la escopeta de dos cañones como el tío Miguel, el hombre de la bufanda y pum, pum, muerta. Hay muchas liebres porque los cultivos son pocos. Es una gran riqueza de caza, el monte salvaje. Cazar, cazar todos los días de fiesta y por la tarde en verano, cuando ya ha caído el sol, entre los rastrojos y la jara a por liebres.321
Die kurze Passage integriert verglichen mit dem Ausschnitt aus La Modification eine Vielzahl an Themen. Seine Gedanken treiben Pedro vom Wetter, zu einer Passantin, seiner Freundin, einer früheren Freundin, der Frage nach der Notwendigkeit der Autopsie, wissenschaftlichen Versuchen, seinem beruflichen Scheitern, der Medizin im Allgemeinen und der Jagd. Diese Konzentration zahlreicher heterogener Informationen auf geringem Raum kann den Eindruck von Komplexität erzeugen.322 Die Reizüberflutung kann die Datenverarbeitung erschweren und den Rezi-
fektive Präsentation der Informationen (vgl. Sweller, John/van Merrienboër, Jeroen/Paas, Fred: „Cognitive Architecture and Instructional Design“, in: Educational Psychology Review, 1 (1998), S.259f.). Diese beiden Komponenten lassen sich im Ausschnitt zu La Modification wiederfinden. 321 Martin Santos, Luis: Tiempo de silencio, Madrid: Bibliotex, 2001, S.217f. 322 Die Geschwindigkeit der Informationspräsentation korreliert mit dem Verarbeitungserfolg des Rezipienten: Ist diese hoch, so kann dies das Verstehen behindern (vgl. Moore, Danny/Hausknecht, Douglas/Thamodoran, Kanchana: „Time Pressure, Response Opportunity and Persuasion“, in: Journal of Consumer Research, 13 (1986), S.85f.).
190 | E RLESENE ERLEBNISSE pienten im Extremfall zwingen, Pro- und Retentionsprozesse vorübergehend ruhen zu lassen, um sich der Ordnung der aktuellen Situation zu widmen.323 Dieser Anschein der erhöhten Dichte wird durch die Inkohärenz des Abschnitts verstärkt.324 Tiempo de silencio weist bereits in seiner Nullstufe einen experimentellen, unübersichtlichen Stil auf, da die Äußerungen distanzsprachlich und von Fachtermini, Fremdwörtern sowie rhetorischen Mitteln gespickt sind,325 so dass sich die Informationsverarbeitung nicht immer einfach gestaltet. Der abgedruckte Ausschnitt allerdings treibt diese Grundanlage auf die Spitze: Während in vielen Passagen des Romans ein Bericht des Erzählers vorherrscht, was ein gewisses Maß an Teleologie garantiert, gleitet die Narration an der vorliegenden Stelle in einen inneren Monolog des Protagonisten über. Ungefiltert und ungeordnet reiht dieser seine Assoziationen aneinander; springt unablässig von einem Thema zum nächsten, ohne dass dies sprachlich oder über die Formatierung (etwa durch Absätze oder Auslassungspunkte326) angezeigt würde. So erschwert beispielsweise die unlogische Satz-
323 Leon Festinger zufolge empfinden Rezipienten dissonante Daten häufig als unbehaglich, so dass sie zu ihrer Reduktion und zur Produktion von Konsonanz motiviert sind (vgl. Festinger, Leon: A Theory of Cognitive Dissonance, Standford: University Press, 1962, S.264.), 324 Unter Kohärenz wird hier der Eindruck des sinnvollen Zusammenhängens der einzelnen Bestandteile des Texts verstanden. Er kann über Wortwiederholungen, pronominale Koreferenz, Rück- und Vorverweise, die Wiederaufnahme von Elementen durch ProFormen, einen konventionellen Thema-Rhema-Wechsel sowie die Klarheit inhaltlicher Relationen entstehen (vgl. Groeben, Norbert/Christmann, Ursula: „Textoptimierung unter Verständlichkeitsperspektive“, in: Antos, Gerd/Krings, Hans (Hrsg.): Textproduktion. Ein interdisziplinärer Forschungsüberblick, Tübingen: Niemeyer, 1989, S.158.). Fehlt eine solche Vorstrukturierung, so muss der Leser Kohärenz im kognitiven Eigenaufwand herstellen, wodurch seine Verarbeitungszeit ansteigt (vgl. Kintsch, Walter/van Dijk, Teun: „Toward a Model of Text Comprehension and Production“, in: Psychological Review, 85 (1978), S.372.). 325 Eduardo Galán Font spricht diesbezüglich vom „barroquismo“ des Romans (vgl. Galán Font, Eduardo: Claves para la lectura de Tiempo de silencio de Luis Martin Santos, Barcelona: Daimon, 1986, S.42.). 326 Die Lektüre erfolgt nicht Wort für Wort, sondern der Leser erfasst den Text in Wortgruppen. Bietet ein Text eine reduzierte visuelle Gliederung wie der Ausschnitt aus Tiempo de silencio, so ist diesem die Steuerung der Blicksprünge erschwert (vgl. Schrott, Raoul/Jacobs, Arthur: Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeiten konstruieren, München: Hanser, 2011, S.55.). Da seinem Auge wenig Pausen geboten werden, erhöht sich seine kognitive Anstrengung – eine Tatsache, die zum Eindruck der Überforderung beitragen mag.
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folge „No hace frío todavía. ¡Esa mujer!“ die Ordnungsaufgabe dadurch, dass die Pronominalisierung und die fehlende typographische Markierung zur Annahme einer inhaltlichen Kontinuität drängen. Erst nach einigen Augenblicken der Verwunderung erkennt man den thematischen Bruch, der durch ein äußerliches, nicht expliziertes und deshalb unzugängliches Ereignis angestoßen scheint. Im Fall „Pleuritis, pericarditis, pancreatitis, prurito de ano. Vamos a ver qué tal se vive allí. Se puede cazar.“ ist die inhaltliche Inkonsequenz noch eklatanter: Ein völlig neuer Gedanke blitzt hier auf, ohne dass auch nur eine assoziative Verknüpfung zum vorherigen herstellbar wäre. Indem der Ausschnitt das Fenster zur diegetischen Welt durch eine interne Fokalisierung verkleinert, ist dem Rezipienten die kognitive Orientierung erschwert und er ist beim Nachvollzug von Pedros Gedankenstrom besonders gefordert. Sein Verständnisaufwand ist folglich im Vergleich zum Romananfang erhöht: Befand er sich zuvor in einem Flow-Zustand, in dem Verarbeitungs- und Lesegeschwindigkeit einander die Waage hielten, so mag er nun durch das Ansteigen der Anforderungen in den Bereich der Überlastung abgleiten.327 Diese Erfahrung wird dadurch unterstrichen, dass das Nichtverstehen durch einen Widerspruch in der emotionalen Beteiligung auf den Leser übertragen werden kann. Die Hauptfigur hat mehrere Schicksalsschläge erlitten, die ihre bisherige Existenz obsoletieren; sie ist auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft auf dem Land. Im Grunde müsste sich Pedro ob der Erdolchung Doritas und des ungerechten Verlusts seines Stipendiums in einer verzweifelten Gefühlslage befinden. Dennoch scheint sein Bewusstsein nicht sonderlich getrübt und er gibt sich stellenweise sogar optimistisch („¡Qué bonito día, qué cielo más hermoso!“). Selbst als er auf seine tote Frau zu sprechen kommt, schlägt sich dies nicht im Lektürerhythmus nieder. Vielmehr vermitteln die Äußerungen Gelassenheit und Objektivität. Das Thema ‚Dorita‘ wird schnell auf die allgemeine Nützlichkeit von Autopsien umgelenkt, die Satzlänge bleibt konstant und es werden kaum Ausrufezeichen oder Auslassungspunkte gebraucht, die Erregung oder Verzweiflung ikonisieren würden. Für den Rezipienten kann diese Inkongruenz von erwarteter und erlebter Emotion schwer nachvollziehbar sein: Da in ihm der Schock des unmittelbar in der vorhergehenden Szene geschehenen Mords womöglich noch nachhallt, kann er Pedros
327 Die hier angesprochene Überforderung ist freilich lediglich eine tendenzielle. Tiempo de silencio gebraucht den inneren Monolog auf konventionelle Weise. Vorhanden ist der typische dialogische Charakter mit gehäuften Fragen und Exklamationen sowie häufige Wiederholungsstrukturen (vgl. Hönisch, Erika: Das gefangene Ich. Studien zum inneren Monolog in modernen französischen Romanen, Heidelberg: Winter, 1967, S.136.). Insofern bewirkt der Ausbruch aus dem Sinnsystem kein grundlegendes Missverständnis, allenfalls eine Desorientierung, die aber an die diegetische Illusion geknüpft bleibt.
192 | E RLESENE ERLEBNISSE Gleichgültigkeit, zumal sie sich kontrastiv zu seiner Erwartung verhält, als verstörend empfinden. Der Unmöglichkeit der Auflösung dieses Widerspruchs mag ein Gefühl der Überforderung mit dem Text und der darin dargestellten Situation entspringen, die letztendlich mit dem absurden Scheitern der Hauptfigur in Verbindung gebracht werden kann. Insgesamt ergibt sich also: Die Konzentration zahlreicher Neuinformationen auf kleinem Raum sowie die mangelnde Kohärenz eines Texts können den Datenverarbeitungsprozess so verkomplizieren, dass der Eindruck von Überforderung entsteht. Da die kognitiven Anforderungen an den Leser im Vergleich zum vorher Gelesenen signifikant ansteigen, kann sich dieser überlastet fühlen und gezwungen sehen, seine pro- und retentionale Aktivität zu reduzieren. Darüber hinaus mögen Verfahren der Unmittelbarkeit sowie ikonische Elemente eine kognitive Mehranstrengung begleiten und den Überforderungseffekt akzentuieren. 3.2.3 Lektüreerlebnisse in Bezug auf die Aufmerksamkeitsrichtung Narrative Texte unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich des Schwierigkeitsgrads der Verarbeitung, sondern weisen auch Variationen in Bezug auf die Aufmerksamkeitsrichtung auf. Ist ein Roman problemlos verarbeitbar, so kann der Rezipient seine kognitiven Kapazitäten im pro- und retentionalen Bereich einsetzen, während etwa in La modification und Tiempo de silencio die erschwerten Erfassungsbedingungen an eine Bindung an das aktuell ablaufende Geschehen gekoppelt waren. Welche Beteiligungsmöglichkeit der Leser momentan privilegiert – das Verstehen, die Erwartungsbildung oder das unmittelbare Miterleben – hat eindeutige Auswirkungen auf seine Wahrnehmung des Romans. Von welchen Faktoren diese Perspektivierung des Interesses determiniert sein kann und welche Erlebnisse ihr entspringen, beleuchtet dieses Kapitel. 3.2.3.1 Determinanten des Verstehens und der Erwartungsbildung Urteile über Gelesenes und Erwartungen an zu Lesendes bilden sich fortwährend. Unterbricht man einen Rezipienten bei der Lektüre und fragt ihn nach seinen Einschätzungen zum bisherigen und weiteren Verlauf des Romans, so hat er in den meisten Fällen unverzüglich eine Antwort parat, auch wenn er sich sonst seiner pround retentionalen Aktivität meist gar nicht bewusst ist. Verstehen und Vorausschauen sind weitgehend automatisierte Tätigkeiten zum Zweck der Ordnung und Kontrolle des Texts. Aber auf welchen Prinzipien beruhen sie? Was begünstigt und was behindert die Pro- und Retention an narrativen Texten? Spontan möchte man annehmen, dass eine wesentliche Funktion bei der kognitiven Strukturierung des Texts dem Weltwissen zukommt; dass das Verhalten von Figuren in Romanen den Prinzipien gehorcht, die er aus seinem Alltag kennt und
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dass er es von ihnen ausgehend verstehen und abschätzen kann. So gesehen erschlössen sich ihm nur diejenigen Inhalte, die sich in gesellschaftliche Rahmen fügen. Doch macht man die Probe aufs Exempel, offenbart sich schnell, dass die Handlungsmöglichkeiten der Figuren in der Romanwelt meist breiter gestreut sind als in der Realität. Jules Vernes lässt seine Hauptfiguren zum Mittelpunkt der Erde reisen, Charles Perrault lässt eine sprechende Katze als Protagonisten agieren – kurz: die Gesetze des Alltags werden in narrativen Texten bisweilen radikal übertreten. Wenn der Rezipient dennoch zu ihrer kognitiven Verarbeitung fähig ist, dann bedeutet dies, dass er über literarisches Wissen verfügen muss, das dem Alltagserfahrungen hierarchisch übergeordnet ist und einen Rahmen für nicht wirklichkeitskompatible Lektüreerfahrungen bildet. In seinem Gedächtnis muss abgespeichert sein, dass in Märchen und Science-Fiction-Romanen die Grenzen des Möglichen anders verlaufen. Doch wie erklärt sich aus dieser Argumentation, dass etwa Voyage au centre de la terre auch bei seinem erstmaligen Erscheinen als einer der ersten Texte seiner Gattung eine breite Leserschaft fand? Wie konnten Rezipienten, die über keinerlei oder wenig Erfahrung mit der Gattung verfügten, den Roman dennoch problemlos erfassen? Dieser Widerspruch legt nahe, dass Leser ihr Verstehen und ihre Erwartung nicht nur an die Abfolge der Romanereignisse, binden, sondern sich dafür auch an Partizipationsschemata orientieren. Wenn die Expedition zum Erdkern oder ein Tier mit menschlichen Eigenschaften sie nicht orientierungslos zurückließen und lassen, dann deshalb, weil die Möglichkeiten emotionaler und kognitiver Beteiligung an den Texten trotz des ungewöhnlichen Inhalts typisch ist, den Erwartungen entspricht und dementsprechend auch vorhergesehen werden kann.328 Diese Hypothese, dass die Schemata im Kopf des Lesers nicht als reine Wissens-, sondern auch als Erlebnismuster aufzufassen sind, soll am Roman Pierre et Jean von Guy de Maupassant überprüft werden. Dabei handelt es sich um einen Text, der einen als Leser im Grunde bezüglich des Verständnisses und der Erwartung kaum enttäuscht. Man hat vielmehr bei jedem Ereignis den Eindruck, es problemlos in die Gesamtvorstellung einordnen zu können bzw. dessen Eintreten bereits geahnt zu haben. Jean erhält die Nachricht, ein entfernter Bekannter habe ihm bei seinem Ableben eine große Summe vermacht. Sein Bruder Pierre beginnt zunächst zaghaft, dann immer resoluter zu argwöhnen, dass es sich bei diesem Unbekannten um seinen leiblichen Vater handeln könnte. Da er aber die Mutter nicht zu Unrecht des Ehebruchs bezichtigen und den Familienruf beschmutzen möchte, behandelt ein Großteil des Romans Pierres Vermutungen und Gewissensbisse. Die zentrale Frage,
328 Der Begriff ‚Makrostruktur‘ muss ausgehend von diesen Überlegungen eine Neudefinition erfahren. Er soll nicht mehr als neutrale Sukzession von Ereignissen, sondern als Erlebnisschema verstanden werden, das der Leser im Text wiedererkennt.
194 | E RLESENE ERLEBNISSE ob Mme Roland tatsächlich Ehebruch begangen und dabei ein illegitimes Kind gezeugt hat oder nicht, mag auch den Leser zu Spekulationen anregen. Doch obschon die Option des Seitensprungs lange unausgesprochen und danach unbestätigt bleibt, kann er mit großer Sicherheit ihre Richtigkeit erwarten. Bereits der Brief des Notars des Hausfreunds reicht eventuell aus, um in seiner Vorstellung eine Dreierbeziehung aufscheinen zu lassen. Hierfür lassen sind mehrere Gründe anführen. Erstens kann man argumentieren, dass es sich beim erotischen Dreieck um eines der gebräuchlichsten MakrostrukturMuster der Literaturgeschichte handelt und dass deshalb die Wahrscheinlichkeit seiner Anwendbarkeit auf Pierre et Jean angesichts der gegebenen Figurenkonstellation relativ hoch ist.329 Eine Rolle spielt zweitens auch, dass der Nachricht der Erbschaft bereits Lektüreerlebnisse vorausgehen, die den Rezipienten auf eine menage-à-trois hin orientieren. Die Eingangsszene des Romans schildert den Angelausflug der Familie Roland mit der jungen, hübschen Mme Rosémilly, bei dem die beiden Brüder ein auffälliges Konkurrenzverhalten um die Gunst der Dame an den Tag legen. Diese indessen schafft bereits über ihren Namen, der das gängigste Symbol für Liebe, die Rose, in sich enthält, die passende Rahmung für den Streit. Folglich schwört der Romananfang den Rezipienten bereits im Vorfeld auf die Handlung ein und erfüllt dabei seine expositorische Funktion auch in emotionaler Hinsicht. Die Erlebnisstruktur des Einstiegs färbt auf die nachfolgende Sequenz ab, so dass ein Ehebruch als zentrale Handlung von Anfang an plausibel erscheint.330 Ähnlich verhält es sich mit den intertextuellen Referenzen, die ebenfalls literarische Schemata darstellen, auf die der Rezipient bei der Prognosenbildung rekurriert. Die Problematik des Ehebruchs ist ein gängiges Thema der realistischen Literatur. Der Leser mag sich unmittelbar an Gustave Flauberts Madame Bovary oder Guy de Maupassants Une partie de campagne, Une vie oder Bel-Ami erinnert fühlen, da auch sie den Ausbruch einer Frau aus dem Gefängnis einer kleinbürgerlichen Ehe inszenieren. Diese gedankliche Verknüpfung ergibt sich aber nicht erst nach der
329 Kommunikationswissenschaftlich gesprochen wäre das erotische Dreieck ein Schema mit hohem Involvement, also starker Rekurrenz und Relevanz in der Erfahrung des Rezipienten, weshalb er es besonders leicht aktiviert, darauf konzentriert bleibt und es intensiver verarbeitet (vgl. Schenk, Michael: Medienwirkungsforschung, Tübingen: Mohr, 2007, S.71.). 330 Die kognitionsorientierte Literaturwissenschaft betrachtet dieses Abfärben in Berufung auf die Gestalttheorie als ein Kontiguitätsphänomen: Aufgrund der lokalen Nähe oder ihrer inhaltlichen oder partizipativen Ähnlichkeit im Roman verschmelzen zwei Elemente (Wörter, Sätze, Passagen) in der Vorstellung des Lesers (vgl. Tsur, Reuven: Towards a Theory of Cognitive Poetics, Brighton: Sussex Academic Press, 2008, S.116.).
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Lektüre, wenn die Handlung von Pierre et Jean feststeht, sondern bereits währenddessen. Es stellt sich deshalb die Frage, wie Intertextualität zustande kommt, wenn sie sich zumindest nicht ausschließlich referenziell begründen lässt.331 Auch hier übernimmt das Beteiligungsmuster die Funktion der Schaffung einer Assoziation zwischen den Werken. Was Madame Bovary und Pierre et Jean betrifft, so finden sich Erlebnisanalogien bereits in visueller und klanglicher Hinsicht: Die beiden Frauen, Mme Roland und Mme Bovary, ähneln sich hinsichtlich der Vokalqualität, so dass ihnen die gleiche dunkle Atmosphäre anhaftet. Doch auch auf einer globaleren Ebene, bezüglich des Lektürerhythmus, erinnert Pierre et Jean an Madame Bovary, wie folender Vergleich zweier Abschnitte zum Lektüreverhalten der Frauen zeigt: Elle avait un air calme et raisonnable, un air heureux et bon qui plaisait à voir. Selon le mot de son fils Pierre, elle savait le prix de l’argent, ce qui ne l’empêchait point de goûter le charme du rêve. Elle aimait les lectures, les romans et les poésies, non pour leur valeur d’art, mais pour la songerie mélancolique et tendre qu’ils éveillaient en elle. Un vers, souvent banal, souvent mauvais, faisait vibrer la petite corde, comme elle disait, lui donnait la sensation d’un désir mystérieux presque réalisé. Et elle se complaisait à ces émotions légères qui troublaient un peu son âme bien tenue comme un livre de comptes.332 Ce n’étaient qu’amours, amants, amantes, dames persécutées s’évanouissant dans des pavillons solitaires, postillons qu’on tue à tous les relais, chevaux qu’on crève à toutes les pages, forêts sombres, troubles du cœur, serments, sanglots, larmes et baisers, nacelles au clair de lune, rossignols dans les bosquets, messieurs braves comme des lions, doux comme des agneaux, vertueux comme on ne l’est pas, toujours bien mis, et qui pleurent comme des urnes. Pendant six mois, à quinze ans, Emma se graissa donc les mains à cette poussière des vieux cabinets de lecture. Avec Walter Scott, plus tard, elle s’éprit de choses historiques, rêva bahuts, salle des gardes et ménestrels. Elle aurait voulu vivre dans quelque vieux manoir, comme ces châtelaines au long corsage, qui, sous le trèfle des ogives, passaient leurs jours, le coude sur la pierre et le menton dans la main, à regarder venir du fond de la campagne un cavalier à plume blanche qui galope sur un cheval noir.333
331 Ausgegangen wird hierbei von einer Definition der Intertextualität als dynamischer Aushandlungsprozess, der im Leseakt zwischen den Texten stattfindet (vgl. Roth, Kersten Sven: „Interpersonale Diskursrealisationen. Überlegungen zu ihrer Integration in die diskurssemantische Forschung“, in: Warnke, Ingo/Spitzmüller, Jürgen (Hrsg.): Methoden der Diskurslinguistik. Sprachwissenschaftliche Zugänge zur transtextuellen Ebene, Berlin: de Gruyter, 2008, S.345.). 332 De Maupassant, Guy: Pierre et Jean, Paris: LGF, 2008, S.41. 333 Flaubert, Gustave: Madame Bovary, Paris: Gallimard, 2001, S.87.
196 | E RLESENE ERLEBNISSE Beide Passagen gebrauchen zur Charakterbeschreibung ihrer Protagonistin verstärkt Wiederholungsstrukturen. Pierre et Jean setzt zur Qualifizierung von Substantiven mit Adjektiven oft mehrfach an und konstruiert seine Satzteile parallel und auf Basis von Geminationes (hier: „un air calme et raisonnable, un air heureux et bon“, „souvent banal, souvent mauvais“), was eine Beschleunigung und Musikalisierung des Lektürerhythmus bewirkt. Als rekurrentes stilistisches Merkmal des Romans erweist sich überdies die Gruppierung von Wörtern in triadischen Strukturen (hier: „les lectures, les romans et les poésies“), die – in diesem Fall über die Wiederholung des gleichlautenden Artikels – zur Gliederung und Rhetorisierung der Äußerung beitragen: Der Leser mag auf diese Weise den emotionalen Überschwang miterleben, mit dem Mme Roland sich der Lektüre widmet. Madame Bovary scheint eine ähnliche Strategie zu wählen. Auch hier finden sich Tendenzen zur Akkumulation semantisch verwandter Wörter („amours, amants, amantes, dames persecutées“, „rêva bahuts, salle des gardes et ménestrels“), die bisweilen durch ihren Gleichklang großes Rhythmisierungspotenzial besitzen und somit Emmas Schwärmerei und ihr fehlender Realitätssinn ikonisch widerspiegeln und vergegenwärtigen. Abgesehen davon rekurrieren beide Passagen zur Darstellung der Lesegewohnheiten auf Ironie, die aus der nach Ulrich Schulz-Buschhaus für realistische Romane typischen „Unentschiedenheit zwischen Pathos und Skepsis“ resultiert.334 Pierre et Jean erzeugt sie über die Opposition zwischen der pragmatischen Grundeinstellung Mme Rolands („elle savait le prix de l’argent“, „son âme bien tenu comme un livre de comptes“) und ihrer Neigung zum Pathos („charme du rêve“, „songerie mélancolique et tendre“, „désir mystérieux presque réalisé“).335 Besonders eklatant wird dieser Kontrast im letzten Satz, wo das emotional konnotierte „se complaisait“ mit dem nüchternen Gefühlswert des „livre de comptes“ in Verbindung gebracht wird – eine Antithese, die dadurch in besonderem Maße hervortritt, dass die Gegensätze im selben Satz verhandelt werden. Abgesehen davon erschließt sich die ironische Grundhaltung des Erzählers aus der Tatsache, dass dieser Mme Rolands Meinung explizit als die ihre kennzeichnet („faisait vibrer la petite corde, comme elle disait“, Hvg. T.H.) und dadurch seine eigene Distanz zur Figur zum Ausdruck bringt.
334 Schulz-Buschhaus, Ulrich: Flaubert. Die Rhetorik des Schweigens und die Poetik des Zitats, Münster: Lit, 1995, S.135. 335 Auf die Kontraststruktur der Ironie weist Philippe Hamon hin: „Deux procédés principaux doivent être soulignés dans la production de l’effet d’ironie, qui ne passent pas, du moins prioritairement, par la construction d’une contradiction de type a vs. non-a: d’une part la mimèse, et d’autre part la scalarisation“ (Hamon, Philippe: L’ironie littéraire. Essai sur les formes de l’écriture oblique, Paris: Hachette, 1996, S.23.).
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In Madame Bovary entspringt die Ironie der hyperbolischen Darstellung. Zur Typisierung von Emmas Lieblingsbüchern liefert die Vermittlungsinstanz eine ausführliche Aufzählung („Ce n’étaient […] comme des urnes“), wodurch sich der Satz bereits längenmäßig vom Resttext abhebt. Doch auch die grammatikalische Struktur lässt ihn herausstechen: Während sonst eine hauptsächlich hypotaktische Organisation dominiert, die den Eindruck starker Konstruiertheit erweckt, ist dieser Abschnitt aufgrund seiner akkumulativen Anlage parataktisch und wirkt eher ungeplant – eine Rhythmusänderung, die wohl den emotionalen Kontrollverlust Emmas ob ihrer Lektüren simuliert.336 Ironisch wird die Passage, indem die spürbare Erregung der Protagonistin inhaltlich mit Gemeinplätzen kombiniert wird und sich hierdurch als Sentimentalität entpuppt. Weiterhin unterstützt der Emotionswert den Modus: Der Anschluss des „s’éprendre“ als ein Wort poetischen Stilregisters mit idealisierendem, schwärmerischem Grundtenor an das „graisser“, das ausschließlich in pragmatischen Kontexten Verwendung findet und eher negative Konnotationen trägt, erzeugt einen Widerspruch, den der Leser als Spott der Vermittlungsinstanz wahrnehmen mag.337 Insofern weisen die beiden Romane Parallelen nicht nur in inhaltlicher Hinsicht, sondern auch bezüglich der Erlebnisstruktur auf. Der Leser kann sich bei Pierre et Jean auch deshalb an Mme Bovary erinnert fühlen, weil ihm beide Romane vergleichbare Partizipationsmöglichkeiten bieten. Diese Analogie im Bereich der emotionalen Beteiligung kann einen priming effect nach sich ziehen,338 so dass auch ein paralleler Handlungsverlauf plausibel wirkt und der Leser dazu tendieren mag, Mme Rolands Ehebruch von Anfang an für wahrscheinlich zu halten. Doch die Möglichkeiten der Informationsverarbeitung erschöpfen sich nicht in der intra- und intertextuellen Erlebniskongruenz. Ein Spezifikum narrativer Texte besteht darin, dass sie die Rolle des Zufalls im Vergleich zur Wirklichkeit maßgeblich reduzieren. Elemente, die im Alltagsleben des Zusammenhangs weitgehend entbehren, können in der Romanwelt in einer engen Beziehung stehen. Das gilt beispielsweise für die Verbindung zwischen Figuren und Chronotopos. Häufig beeinflussen sich ihre Erlebnispotenziale, indem Figurenemotion und Atmosphäre mitei-
336 Darüber hinaus transportiert die Hyperbolik auch, dass für Emma bei der Wahl ihrer Lektüren Quantität vor Qualität zählt. 337 Zu einer eingehenderen Betrachtung des Phänomens ‚Ironie‘ sei auf das Kapitel 3.3.2.6 verwiesen. 338 Gemeint ist damit die Tatsache, dass die emotionale Beteiligung einen Wissensknoten aktiviert, der die Verarbeitung der kognitiven Informationen vorstrukturiert und beeinflusst (vgl. Jo, Eunkyung/Berkowitz, Leonhard: „A Priming Effect Analysis of Media Influences. An Update“, in: Zillmann, Dolf/Bryant, Jennings: Media Effects. Advances in Theory and Research, Mahwah: Erlbaum, 1994, S.53f.).
198 | E RLESENE ERLEBNISSE nander verschmelzen.339 Auch in Pierre et Jean existiert ein Hang zur impressionistischen Darstellung340, so dass sich die Verhaltenswahrscheinlichkeiten der Protagonisten aus der Atmosphäre ablesen lassen: Pierre wird stets in einem über Emotionswert und Lektürerhythmus unangenehm inszenierten Kontext gezeigt. Sein unruhiges Wandern im Regen und der Hafen bilden einen atmosphärischen Rahmen für sein getriebenes und unberechenbares Wesen, wodurch dem Leser bedeutet wird, von ihm gehe Gefahr aus; Jean hingegen wird stets in Ruheposition, im Innenbereich oder in einer fröhlichen Landschaft dargestellt und von einem gleichmäßig langsamen Rhythmus begleitet, was dazu führt, dass man ihn als ausgeglichene Person wahrnimmt, von der nichts Böses zu befürchten steht. Indem sie Pierre als cholerischen Exzentriker erscheinen lässt und Jean als Ruhepol, präfiguriert die Atmosphäre die künftigen Handlungsentscheidungen der beiden Figuren. Da es sich bei der Wechselbeziehung von Figur und Chronotopos um ein Schema handelt, das dem Leser aus seiner Erfahrung mit literarischen Texten bekannt ist, wird er nicht zögern, die beiden übereinander zu schieben und auf diese indirekte Weise Einblick in die Handlungsmotivationen zu erhalten. Doch das Aufrufen literarischer Schemata, also die Kombination von romanexternem Wissen mit dem Text, ist nicht der einzige Weg zur problemlosen Verarbeitung des Romans. Romane vermögen die Muster, nach denen sie funktionieren, selbst erzeugen und die Prognosen des Lesers dadurch lenken. Obwohl Pierre et Jean über lange Passagen in der Schwebe lässt, ob Pierre den Verdacht bezüglich des Ehebruchs seiner Mutter öffentlich äußert oder für sich behält, erscheint die erste Option wahrscheinlicher. Das kommt daher, dass man Pierre mehrfach als unberechenbar erfährt: Sobald er in einer Szene auftaucht, werden die übertragenen Emotionen negativ, die Harmonie der Situation gerät ins Wanken; selbst wenn er gefasst wirkt, kann er in Sekundenschnelle ausrasten. Dieses Schema ‚Pierre → Eskalation‘ nimmt man als Leser unbewusst auf. Es findet eine Art Konditionierung statt, so dass man ab einem bestimmten Punkt bei jedem Auftauchen der Figur mit einer Katastrophe oder unkontrollierbaren Ereignissen rechnet. Je öfter dieses Schema betätigt wird, desto mehr erhärtet sich die Prognose, dass er auch seine Vermutungen bezüglich des Ehebruchs nicht zurückhalten können wird. So gesehen
339 Auf diese Verbindung weist auch Michail Bachtin in Chronotopos hin: Chronotopos und Figuren stünden über den Gattungskontext in einer Verbindung, die durch jahrhundertelangen Gebrauch zur Konvention geworden sei. Dieser sorge dafür, dass die Handlungsstruktur „mit Fleisch umhüllt und mit Blut gefüllt“ werde (Bachtin, Michail: Chronotopos, Frankfurt: Suhrkamp, 2008, S.188.). 340 Vgl. Delaisement, Gérard: La modernité de Maupassant, Paris: Rive Droite, 1995, S.228.
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kann auch ein erlerntes Lektüremuster die Erwartungen lenken und das Verständnis erleichtern. Das gleiche Phänomen ist für den Ausgang des Romans beobachtbar. Es überrascht keineswegs, dass Pierre zum Schluss aus der Familie ausgeschlossen wird und auf einem Schiff anheuert. Vielmehr ist es, als träte etwas seit langem Erwartetes und logisch Nachvollziehbares ein. Dies ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass Pierre et Jean das Motiv eines vorbeifahrenden Frachtschiffes mehrmals wiederholt und zwar bei jedem Streit Pierres mit seinem Bruder (Unterlegenheit beim Rudern, Eifersucht auf das Erbe etc.). Dadurch, dass in der Vorstellung des Lesers die assoziative Verbindung ‚Unwohlsein Pierres → wegfahrendes Schiff‘ von den ersten Seiten an hergestellt wird und sich durch Wiederholung verfestigt, wird es umso plausibler, dass dieser nach der Auseinandersetzung mit seiner Mutter zur See geht. Der Leser eignet sich also zunächst unbewusst die Regeln des Romans an. Auf die Dauer werden diese zu Automatismen, durch die er den Eindruck der optimalen Orientierung und Kontrolle im Roman gewinnen kann. Es mag also auf ihn wirken, als habe er den Verlauf der Handlung von Anfang an gekannt, als sei er den Figuren überlegen, denen ein solcher Überblick verwehrt ist. Als Fazit ergibt sich: Die Erfassung eines Romans spielt sich nicht im kulturellen Vakuum ab. Die Anwendung gesellschaftlichen und literarischen Wissens auf den Text liefert dem Leser Hinweise zur Einordnung des Gelesenen und zur Absicherung seiner Erwartungen. Werden solche Schemata bei der Romanlektüre aktiviert, so geschieht dies nicht allein auf inhaltlicher Basis; vielmehr muss ein als Erlebnis gespeichertes Wissen erst reaktiviert werden, bevor es auf den Text angewandt werden kann. Dies ist beispielsweise für die Intertextualität der Fall: Sobald zu einem früher gelesenen Text emotionale oder kognitive Parallelen entstehen, kann der Rezipient seine Einschätzung der Handlung des aktuell Gelesenen in Anlehnung an sie modulieren. Doch es gilt ebenso für den intratextuellen Bereich, wo sich ebenso Beteiligungsanalogien bilden können, die Szenen in der Vorstellung des Rezipienten zusammenziehen und interagieren lassen. Romane erzeugen Verständnis und Erwartung nicht nur in Anlehnung an die Erfahrung des Lesers; sie vermögen sich vielmehr ihre eigenen Erlebnismuster zu schaffen. Dies geschieht, indem sich ein bestimmter inhaltlicher oder partizipativer Rhythmus dem Leser durch Wiederholung so stark einprägt, dass er Schemacharakter annimmt und pro- und retentionale Prozesse dadurch entscheidend beeinflusst. Ermöglichen narrative Texte eine eindeutige Erwartungsbildung, dann begünstigt dies eine Aufmerksamkeitsverlagerung des Lesers in weiteren Verlauf des Romans, so dass die Gegenwart bloß noch als Übergangsstadium für kommende Ereignisse
200 | E RLESENE ERLEBNISSE erscheint.341 Das hat im Fall von Pierre et Jean zur Folge, dass dem Lektüreerlebnis ein Moment der Tragik innewohnt. Indem der Leser mit seinen stets zutreffenden Prognosen Mme Roland bereits ihrem unausweichlichen Abgrund entgegenschlittern sieht, ohne dass er eingreifen könnte, kann der Roman für ihn die Erfahrung der Schicksalhaftigkeit bereithalten.342 3.2.3.2 Unmittelbarkeit Der Begriff ‚Unmittelbarkeit‘ meint nach Andreas Arndt den Eindruck unverstellter Gegenwärtigkeit: Etwas erscheine unmittelbar, wenn es einen Berührungspunkt mit etwas räumlich und zeitlich Präsentem aufweise.343 Im Kontext der kognitiven Beteiligung an Romanen bedeutet dies, dass das Interesse vorübergehend allein auf die momentanen Ereignisse hin gebündelt ist. Der Rezipient ist nicht von Gedanken an den Gesamteindruck oder den weiteren Romanverlauf abgelenkt, er instrumentalisiert das gegenwärtige Geschehen nicht zu Pro- und Retentionszwecken, wie dies im Ausschnitt von Pierre et Jean dar Fall war, sondern erfasst es in seiner Augenblicklichkeit. Welche Voraussetzungen zur Unmittelbarkeitserfahrung erfüllt sein müssen, zeigt folgende Analyse zu Louis-Ferdinand Célines Mort à crédit. Bei der gewählten Passage handelt es sich um den Romananfang – eine Tatsache, die die Möglichkeiten der Verständnis- und Erwartungsbildung bereits merklich reduziert. Schließlich fehlt es dem Leser zu diesem Zeitpunkt noch an Erfahrung mit dem Text, um eine Gesamteinschätzung abzugeben, Handlungsmuster vorherzusehen oder Schemata auf den Roman anzuwenden. Insofern weist der Ausschnitt bereits in dieser Hinsicht eine erhöhte Unmittelbarkeit auf.344 Doch erschöpft ist sie darin selbstredend noch nicht. Nous voici encore seuls. Tout cela est si lent, si lourd, si triste… Bientôt je serai vieux. Et ce sera enfin fini. Il est venu tant de monde dans ma chambre. Ils ont dit des choses. Ils ne m’ont
341 Auch in emotionaler Hinsicht kann der ausgeprägte Hang zur Präfiguration in Pierre et Jean auswirken. Der Leser weiß nicht nur, welcher Ausgang auf ihn zukommt, er antizipiert auch die damit verbundenen Emotionen. Diese sind im Antizipationsfall, so Matthias Hastall, meist noch intensiver, als wenn der Text sie explizit ausführte (vgl. Hastall, Matthias: „Spannung“, in: Schweiger, Wolfgang/Fahr, Andreas (Hrsg.): Handbuch Medienwirkungsforschung, Berlin: Springer, 2013, S.271. 342 Ausführlicher auf den Lektüreeindruck des Tragischen geht das Kapitel 3.4.4.1 ein. 343 Vgl. Arndt, Andreas: Unmittelbarkeit, Bielefeld: Transcript, 2004, S.6. 344 Für eine erhöhte kognitive Aktivierung mag in diesem Kontext auch der primacy effect beitragen, wonach Rezipienten unvertraute Kommunikationskontexte als relevant wahr nehmen und ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf sie richten (vgl. Insko, Chester: Theories of Attitude Change, New York: Appleton, 1967, S.50.).
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pas dit grand-chose. Ils sont partis. Ils sont devenus vieux, misérables et lents, chacun dans un coin du monde. Hier à huit heures Mme Bérenge, la concierge, est morte. Une grande tempête s’élève de la nuit. Tout en haut, où nous sommes, la maison tremble. C’était une douce et gentille et fidèle amie. Demain on l’enterre rue des Saules. Elle était vraiment vieille, tout au bout de la vieillesse. Je lui ai dit dès le premier jour quand elle a toussé: „Ne vous allongez pas surtout!… Restez assise dans votre lit!“ Je me méfiais. Et puis voilà… Et puis tant pis… Je n’ai pas toujours pratiqué la médecine, cette merde. Je vais leur écrire qu’elle est morte Mme Bérenge à ceux qui m’ont connu, qui l’ont connue. Où sont-ils?… Je voudrais bien que la tempête fasse encore bien plus de boucan, que les toits s’écroulent, que le printemps ne revienne plus, que notre maison disparaisse.345
Es bestätigt sich an diesem Ausschnitt die bereits in der Analyse zu La Modification vermutete Korrelation zwischen der Unmittelbarkeit und der Komplexität der Datenverarbeitung. Der Stil der Passage ist wenig elaboriert: die zahlreichen Auslassungspunkte, Wiederholungsfiguren und Anakoluthe suggerieren dem Leser bereits auf visueller und akustischer Ebene die Unvollständigkeit, Prozesshaftigkeit und Vorläufigkeit der Äußerung;346 der Gebrauch von Schimpfwörtern („cette merde“) verweist auf eine nähesprachliche Gesprächssituation, in der – wie Roland Barthes formuliert – „le langage littéraire […] aurait rejoint la naturalité des langages sociaux“347. Es erscheint dadurch, als reflektiere der Erzähler seine Formulierungen nicht, sondern lasse seinen Gedanken ungefiltert freien Lauf. Untermauert wird dieser Eindruck durch die geringe inhaltliche Stringenz, die die Ablenkung des Ichs durch externe Reize simuliert. Die Erzählung folgt den Einfällen, Regungen und Handlungen der Figur en détail, ohne selektiv tätig zu werden. So werden beispielsweise die Gedanken an Mme Bérenge dadurch unterbrochen, dass der Protagonist Geräusche eines Sturms hört und diese Wahrnehmung unverzüglich versprachlicht. Der Informationsstrom beruht folglich auf dem Prinzip der Assoziativität, was das Erlebnis der Ungeplantheit erzeugen kann. Die Erfassung
345 Céline, Louis Ferdinand: Mort à crédit, Paris: Gallimard, 1991, S.13. 346 Philippe Destruel betont die Kraft der Célineschen Auslassungpunkte, die Präsenz des Ichs im Moment der Lektüre spürbar zu machen (vgl. Destruel, Philippe: Mort à crédit. Louis Ferdinand Céline, Paris: Bordas, 2005, S.59.). Diese unmittelbarkeitsförderliche Wirkung betont Céline selbst etwa in Entretiens avec le professeur Y: „Mes trois points sont indispensables!… indispensables, bordel Dieu!… je le répète: indispensables à mon métro!“ Sie dienten der Herstellung einer „langage parlé à travers l’écrit“ (Céline, Louis-Ferdinand: Entretiens avec le Professeur Y, Paris: Gallimard, 1955, S.115 und S.23.). 347 Barthes, Roland: Le degré zéro de l’écriture, Paris: Seuil, 1953, S.117.
202 | E RLESENE ERLEBNISSE des stilistisch und inhaltlich unkonventionellen Abschnitts erfordert vom Leser einen Mehraufwand im Vergleich zu einem kohärenten und logisch vorstrukturierten Text. Indem dessen Aufmerksamkeit durch die Herstellung des aktuellen Sinns in Schach gehalten wird, ist eine Konzentration auf die Gesamtbedeutung sowie auf die Erwartungen vorübergehend unmöglich. Gestützt wird die so erzeugte Fixierung auf das Gegenwärtige durch den inmedias-res-Effekt. Obgleich es sich um einen Romananfang handelt, sind die Angaben zu den Figuren auf ein Minimalmaß beschränkt und tendenziell eher unpräzise. Dem Namen ‚Mme Bérenge‘ etwa ist lediglich die Apposition „la concièrge“ beigefügt, ohne dass charakterisierende Zusatzinformationen geliefert würden. Der Erzähler behandelt den Leser wie jemanden, der die Figur bereits flüchtig kennt und deshalb keiner weiteren Erklärung bedarf. Auch was den Protagonisten angeht, sind spezifizierende Daten restringiert, sie werden – wenn überhaupt – beiläufig und auf implizite Weise vermittelt. Die Angabe „Je n’ai pas toujours pratiqué la médecine, cette merde“ beispielsweise ist in den Gedankenfluss des Erzählers integriert und wirkt deshalb nicht wie eine Neuinformation, sondern eher wie eine aktuelle Bezugnahme des Protagonisten auf sein Umfeld. Der Leser, so wird hier suggeriert, ist mit der Grundsituation des Protagonisten bereits vertraut, lediglich der Tod der Hausmeisterin ist ihm ein Novum.348 Diese Taktik des Verzichts auf einführende Informationen findet ihre Fortsetzung im lokal-temporalen Bereich. Der Ausschnitt geht mit Zeit- und Ortsangaben sparsam um, sie werden ausschließlich geliefert, wenn sie zur Erklärung eines Handlungskontexts bzw. zur Vollständigkeit einer Äußerung unentbehrlich sind („Il est venu tant de monde dans ma chambre“, „Hier à huit heures Mme Bérenge, la concierge, est morte.“, „Une grande tempête s’élève de la nuit. Tout en haut, où nous sommes, la maison tremble“, „Il faut éteindre le feu dans la loge“, Hvg. T.H.). Der Ortsangabe „On l’enterre rue de Saules“ beispielsweise ist keine Präzisierung beigefügt, was impliziert, dass man als Rezipient bereits wissen sollte, auf welche Stadt Bezug genommen wird. Auch Behandlung der Objekte trägt zum in-medias-res-Effekt bei. In der Alltagskommunikation zeigt der Gebrauch des unbestimmten Artikels im Normalfall die Einführung eines neuen oder unbekannten Gegenstands an, wohingegen der bestimmte Artikel für bereits Erwähntes oder Vertrautes verwendet wird. In Mort à crédit aber geht dieses Schema nicht auf: Häufig werden erstmals erwähnte Objekte mit bestimmtem Artikel versehen („la maison“, „le feu“), so dass kein Zusammen-
348 Analog hierzu arbeitet Ed Tan für den Film heraus, dass der Eindruck der Bekanntheit mit einem virtuellen Umfeld einen diegetic effect haben könne, so dass der Rezipient an die Präsenz der Situation gebunden wird (vgl. Tan, Ed: Emotion and the Structure of Narrative Film. Film as an Emotion Machine, Malwah: Erlbaum, 1996, S.52.).
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fall des Romananfangs mit der Kontaktaufnahme des Lesers zum Raum, sondern eine bereits längere Ortskenntnis angedeutet wird.349 Das gleiche gilt für die Pronominalisierung: Im Normalfall stellen Pronomina Substitutionen für den wiederholten Bezug auf ein Ding dar; sie markieren, dass ein Element bereits angesprochen wurde. 350 Sicherlich verwendet auch die vorliegende Textpassage diese Form der Referenzialisierung; jedoch finden sich dort ebenfalls etliche Proformen ohne vorherige Identifizierung des Objekts („tout cela est si lent“, „Bientôt je serai vieux. Et ce sera enfin fini“, „Je vais leur écrire qu’elle est morte Mme Bérenge à ceux qui m’ont connu, qui l’ont connue“, Hvg. T.H.). Diese postzendente Ersetzung, weist abermals auf eine Vertrautheit mit der Romansituation hin. Insgesamt bietet der Ausschnitt dem Leser, indem er scheinbar Vorkenntnisse voraussetzt, nur in beschränktem Maß Information und Orientierung. Um das Gefühl der Kontrolle über die Diegese erhalten und sich adäquat zur erzählten Welt verhalten zu können, muss dieser seinen Informationsrückstand ohne die Hilfe des Erzählers aufholen und die fehlenden Daten indirekt aus dem Gelesenen ableiten. Da die Konstruktionsarbeit einen kognitiven Mehraufwand bedeutet, hat der Rezipient in beschränkterem Maße Verarbeitungskapazitäten für die Erwartungen oder den Gesamtsinn des Romans übrig, wodurch letztendlich der Eindruck von Unmittelbarkeit entsteht. Drittens integriert der Text verstärkt face-to-face-Elemente, die die Aufmerksamkeit des Rezipienten an die momentane Szene zu binden vermögen und damit ebenfalls unmittelbarkeitsförderliches Potenzial besitzen. Die Passage weist erstens eine Häufung von Deiktika, vor allem von Demonstrativpronomina, auf („Je n’ai pas toujours pratiqué la médecine, cette merde“, „et ce sera fini“, „tout cela est si lent“, Hvg. T.H.), die die Illusion einer direkten Interaktion mit dem Erzähler befördern.351 Ein ähnliches Erlebnis bergen die dominant in Abhängigkeit vom Stand-
349 John Anderson bestätigt in einer empirischen Studie, dass das Vorhandensein eines definiten Artikels in Äußerungen zur Annahme der Existenz eines Referenten für das entsprechende Nomen führt, während der unbestimmte Artikel eine Art Irrealisierung gewirkt (vgl. Anderson, John: Kognitive Psychologie, Berlin: Spektrum, 2007, S.480.). 350 Der anaphorische Gebrauch von Proformen gilt als einfaches Mittel zur Erzeugung von Kontinuität und Kohärenz (vgl. Zifounun, Gisela/Hoffmann, Ludger/Strecker, Bruno/Ballweg, Joachim: Grammatik der deutschen Sprache, Berlin: de Gruyter, 1997, S.545.). 351 Die Tatsache, dass deiktische Elemente den Leser mit dem Erzähler/den Figuren in Beziehung setzen, spricht Peter Stockwell in Cognitive Poetics an: „[R]eaders can project their minds into the other world, find their way around there, fill out the rich detail between the words of the text on the basis of real life experience and knowledge“
204 | E RLESENE ERLEBNISSE punkt des Erzählers gewählten Zeit- und Ortsangaben („Nous voici encore seuls.“, „Bientôt je serai vieux.“, „Hier à huit heures?“, „Demain on l’enterre rue des Saules“, „le premier jour quand elle a toussé“, Hvg. T.H.). Der Leser kann sich durch sie im gleichen Bezugssystem wie der Protagonist wähnen, da eine Übereinstimmung des ‚Gestern‘ und ‚Hier‘ des Ichs mit seiner Raum-Zeit-Konfiguration suggeriert wird.352 Diese relationale Strukturierung der erzählten Welt spiegelt sich überdies im Gebrauch von Possessivbegleitern wider. Die Gegenstände der Romanwelt stehen fast durchwegs in einer klar markierten Beziehung zu ihrem Besitzer („ma chambre“, „notre maison“ etc.) oder gehen untereinander funktionale Verbindungen ein, so dass sich ein Interaktionsnetz bildet, in das sich auch der Leser verwickeln kann. Den face-to-face-Eindruck begünstigen zusätzlich die Personalpronomina. Die Passage enthält nicht nur das ‚je‘, mittels dessen der Erzähler sich selbst als Protagonist festschreibt, sondern suggeriert auch dessen Dialog mit einem imaginären ‚tu‘. Realisiert der Leser in seiner Vorstellung die Situation, so kommt er nicht umhin, sich selbst als dieses zu setzen und momentan angesprochen zu fühlen. Die Formulierungen in der 1. Person Plural („Nous voici encore seuls“, „où nous sommes“) unterstreichen den Anschein eines bilateralen Kommunikationsverhältnisses zwischen Rezipient und Figur, zumal durch die Aufforderung zum Mitreden eine Handlungsbeziehung hergestellt wird. Das „Où sont-ils?“ wirkt, auch wenn es als rhetorische Frage keine Antwort erwartet, wie ein Aufruf zur Interaktion.353 Zuletzt spielt auch die Tempusverwendung eine Rolle für die face-to-faceSituation. Mort à crédit schildert die Ausgangslage im présent, verwendet für die vergangenen Inhalte das passé composé und integriert künftige Ereignisse mit dem
(Stockwell, Peter: Cognitive Poetics. An Introduction, London: Routledge, 2002, S.113, S.41.). Sie fühlen sich dadurch unmittelbar in das Romangeschehen eingebunden. 352 Deiktische Elemente erhalten ihre Zeigefunktion auch in literarischen Texten aufrecht, wenngleich diese freilich virtueller Art ist. Sie stellen insofern eine face-to-faceSituation zwischen Leser und Figur her, als sie als leibgebundenes sprachliches Element nicht beim Ich seinen Ausgang nehmen, sondern in der „kommunikativen Dyade“ zwischen Sprecher und Hörer (vgl. Weinrich, Harald: „Über Sprache, Leib und Gedächtnis“, in: Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, Karl Ludwig (Hrsg.): Materialität der Kommunikation, Frankfurt: Suhrkamp, 1995, S.82.). 353 Matthew Lombard und Theresa Ditton haben für Computerspiele erarbeitet, dass ein hohes Maß an Interaktionsmöglichkeiten den Eindruck der Präsenz des Rezipienten im virtuellen Raum befördert (vgl. Lombard, Matthew/Ditton, Theresa: „At the Heart of it all. The Concept of Presence“, in: Journal of Computer-Mediated Communication, 3.2 (September
1997),
[14.03.2014]).
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futur – allesamt Tempora des Besprechens, die die Offenheit der Handlung übermitteln:354 Die Diegese findet im Jetzt statt, die Handlung ist noch nicht abgeschlossen und bleibt somit veränderbar; selbst vergangene Ereignisse stehen noch in engem Bezug zur aktuellen Situation und wirken deshalb nicht fern. Daher verhilft der Céline-Text dem Leser zu dem Eindruck, an die Gegenwärtigkeit des Geschehens gebunden zu sein. Weil der Leser ständig angesprochen und dazu aufgefordert wird, sich zur aktuellen Situation in Beziehung zu setzen, kann er sich womöglich nicht auf pro- und retentionale Aktivitäten konzentrieren, sondern beschränkt seine Beteiligung auf das unmittelbar Gelesene.355 Fazit: Ist der Leser kognitiv an die momentan ablaufende Handlung gebunden (durch die gestiegene Komplexität des Texts, durch einen in-medias-res-Effekt oder durch face-to-face-Elemente), so verbleiben ihm für protentionale Aktivitäten geringere Verarbeitungskapazitäten. Er mag sich dann auf das gegenwärtig Erfahrene konzentrieren, was ihm als Eindruck der Unmittelbarkeit zu Bewusstsein kommt. Daraus folgt, dass ihn neue Ereignisse eventuell unerwartet treffen, da er im Vergleich zur Figur keine privilegierte Position besitzt. Im Fall von Mort à crédit führt dies zu einer eindringlicheren Wahrnehmung der „topographie psychologique de l’angoisse“ und die „cartographie sociale du désastre“356. 3.2.3.3 Suspense Suspense bildet in gewisser Hinsicht das Gegenmodell zur Unmittelbarkeit. Der Leser ist bei ihr nicht auf die gegenwärtige Situation festgelegt, sondern strebt in die Zukunft; statt sich vom Augenblick gefangen nehmen zu lassen, fixiert er den Ausgang: Der Plot kann sich für ihn gar nicht schnell genug entrollen. Am liebsten würde er ein paar Absätze überspringen oder die letzte Seite im Voraus lesen, um der misslichen Lage zu entgehen, dass seine Erwartungen noch nicht Jetzt sind; dass das, wonach seine Aufmerksamkeit dürstet, noch nicht zur Verfügung steht. Dieser Widerspruch zwischen Wollen und Wirklichkeit erzeugt den kognitiven Druck, der in der Forschung als suspense bezeichnet wird. Was aber veranlasst den
354 Vgl. Weinrich, Harald: Tempus. Besprochene und erzählte Welt, München: Beck, 2001, S.50. 355 Zahlreiche der genannten unmittelbarkeitsförderlichen Elemente führt Andreas Blank in Literarisierungen von Mündlichkeit auf: Der Eindruck von Oralität im schriftlichen Medium entstehe durch Inkohärenz, elliptisches Sprechen, Parataxe, Thema-RhemaVertauschung, den verstärkten Gebrauch von Deiktika etc. (vgl. Blank, Andreas: Literarisierung von Mündlichkeit, Lous-Ferdinand Céline und Raymond Queneau, Tübingen: Narr, 1991, S.22f.). Eine Parallele zwischen Mündlichkeit und Unmittelbarkeit lässt sich dahingehend ziehen, dass beide soziale und physische Nähe erfordern. 356 Destruel, Philippe: Mort à crédit. Louis Ferdinand Céline, Paris: Bordas, 2005, S.39.
206 | E RLESENE ERLEBNISSE Leser zu seiner Versteifung auf den protentionalen Bereich? Wieso brennt er auf das Danach und verwirft das aktuell Gelesene als nebensächlich? Ralf Junkerjürgen begründet dies in Spannung unter anderem mit der Ungewissheit des Ausgangs: Eine Situation könne zu zwei sich logisch ausschließenden Ergebnissen führen, wobei unsicher sei, welches sich realisiere. Meistens würden eine wünschenswerte, aber unwahrscheinliche sowie eine nicht wünschenswerte, aber wahrscheinliche Option vorgezeichnet.357 Sich auf diese Argumentation berufend könnte man auf den ersten Blick meinen, es sei vor allem die Unmöglichkeit der eindeutigen Erwartungsbildung, die eine besondere Konzentration auf den Fortlauf erzeuge. Überprüft man dies jedoch am Beispiel Pierre et Jean, so kann man dem nur mit Einschränkungen zustimmen: Zwar sind eine positive und ein negative Handlungsentwicklung skizziert, die der Rezipient parallel vorauskonstruieren muss; nicht zutreffend ist jedoch, dass die Prognosenbildung dadurch gestört wäre. Wie im Kapitel 3.2.1 aufgezeigt, steuert der Roman die Protentionen recht klar, so dass der Leser sich bereits in Bezug auf das Pierres Verhalten relativ sicher sein kann. Diese Beobachtung legt nahe, dass Spannung nicht primär von der Eintretenswahrscheinlichkeit bestimmt ist. Auffällig ist in Pierre et Jean die Inszenierung der beiden divergenten Handlungsoptionen. Sie ist so stark ausgeprägt, dass der Text sogar als Ausdruck der Dualität menschlicher Existenz gedeutet wurde.358 Der Roman teilt sich erzählerisch in zwei Stränge, die sich bisweilen überschneiden. Auf der einen Seite steht das intakte Familienleben der Rolands, auf der anderen Pierres destruktive Vermutung. Als Rezipient hat man Zugang zu beiden Realitäten: Sowohl die Freude der Familie über das Erbe als auch Pierres Wut kann man bei der Lektüre erleben. Durch den ständigen Wechsel zwischen den Versionen entsteht der Eindruck, an ein und demselben Ort spielten sich von den Figuren unbemerkt zwei unterschiedliche Geschichten ab, die der binären Opposition ‚Information vs. Nicht-Information über Mme Rolands Affäre‘ geschuldet sind. Wenngleich die Romangeschehnisse in singulärer Frequenz erzählt werden, kann sich in der Vorstellung des Lesers auf diese Weise eine Art konzeptuelle Iterativität und damit ein scharfer Kontrast zwischen
357 Vgl. Junkerjürgen, Ralf: Spannung – Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung. Eine Studie am Beispiel der Reiseromane von Jules Verne, Frankfurt: Lang, 2002, S.61. Wenn eine Option wünschenswert, aber unwahrscheinlich ist, die andere nicht wünschenswert aber wahrscheinlich, so bleibt der Aufwand für den Rezipienten zur Erringung eines ausgeglichenen Optimalzustands (Vermeidung des negativen Ausgangs, Erreichen des positiven) gleich. Aversive und appetitive Motivation halten sich die Waage. 358 Vgl. Freimanis, Dzintars: „More on the Meaning of Pierre et Jean“, in: French Review, 38.3 (Januar 1965), S.326.
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den beiden Realitätsvarianten anbahnen, die – wie bereits der Titel suggeriert – durch die beiden Brüder Pierre und Jean verkörpert werden. Darüber hinaus finden sich in der Makrostruktur zahlreiche Elemente, die die Zweiheit zum Ausdruck bringen. Das beginnt bereits bei der gehäuften Verwendung des Zahlworts ‚deux‘, das die Handlungen der Figuren oder wie in folgendem Ausschnitt die Landschaftsbeschreibung durchzieht: Ayant fait encore quelques pas, il s’arrêta pour contempler la rade. Sur sa droite, au-dessus de Sainte-Adresse, les deux phares électriques du cap de La Hève, semblables à deux cyclopes monstrueux et jumeaux, jetaient sur la mer leurs longs et puissants regards. Paris des deux foyers voisins, les deux rayons parallèles, pareils aux queues géantes de deux comètes, descendaient, suivant une pente droite et démesurée, du sommet de la côte au fond de l’horizon. Puis sur les deux jetées, deux autres feux, enfantes de ces colosses, indiquaient l’entrée du Havre.359 (Hvg. T.H.)
‚Deux‘ wird im Laufe des Romans insgesamt 123 Mal verwendet,360 so dass es zu einem vordergründigen, bedeutenden Element wird. Selbst wenn der Leser die Akkumulation des Zahlworts nicht bewusst wahrnimmt, so konditioniert sie ihn doch unterschwellig auf Binarismus und damit auf die Doppelung der Handlungsoptionen. Davon abgesehen treten zahlreiche Ereignisse zweifach auf: Pierre begibt sich zwei Mal an den Hafen und in sein Stammlokal, er spricht zwei Mal mit dem Apotheker Marowsko (wobei ein Gespräch gut, das andere schlecht verläuft), Familie Roland wird bei zwei Ausflügen (bei einem auf dem Meer, beim anderen auf dem Land) und bei zwei Mahlzeiten (einem Mittag- und einem Abendessen) gezeigt. Diese (oppositionale) Dopplung der Handlung erzeugt einen semantischen Rhythmus, den der Leser im Lauf der Lektüre verinnerlichen mag. Die stetige Darbietung einer positiven und einer negativen Version der Ereignisse akzentuiert die Entscheidungsfrage, ob Pierre letztendlich die Vermutung seines Ehebruchs äußert und die Existenz seiner Mutter ruiniert oder ob er schweigt, und sie mag insofern auch die Wahrnehmung des Lesers beeinflussen: Solange dessen Erwartungen doppelgleisig geführt werden, erlangt er den Eindruck der Kontrolle über die Romanwelt nicht. Diese Unsicherheit versucht er, eventuell durch eine Aufmerksamkeitssteigerung auszugleichen und hält deshalb verstärkt nach Indizien zur Schaffung von Eindeutigkeit Ausschau, was einerseits das Angespanntsein begünstigt361, anderer-
359 De Maupassant, Guy: Pierre et Jean, Paris: LGF, 2008, S.84f. 360 Vgl. Mougenot, Michel: Pierre et Jean. Maupassant, Paris: Lacoste, 1992, S.7. 361 Martin Baisch, Andreas Degen und Jana Lüdtke unterstreichen, dass Spannung aus kognitionswissenschaftlicher Sicht eher durch die Aufmerksamkeitssteuerung bedingt werde als durch den Inhalt (vgl. Baisch, Martin/Degen, Andreas/Lüdtke, Jana: „Vorbe-
208 | E RLESENE ERLEBNISSE seits eine Fixierung auf den Fortgang der Handlung bewirken kann. Aus diesem Grund mag er selbst Situationen, die prinzipiell von Pierres Gewissenskonflikt losgelöst sind, als Vorzeichen für dessen Handlungsentscheidung verstehen. In der Szene der Untersuchung der kranken Mutter aus dem Beispiel für aversive Motivation etwa (3.1.3.2.2) erscheint es deshalb, als wolle Pierre statt ihrer Physiologie ihre fragwürdige Vergangenheit erforschen, während die Krankheit wie eine somatische Entäußerung der mütterlichen Gewissensbisse wirkt. Insofern schafft der Impetus des Rezipienten, seiner protentionalen Aufgabe erfolgreich nachzukommen, in dessen Vorstellung eine Realität, die allein textuell nicht begründbar ist.362 Das Auftreten von suspense lässt sich also nicht ausschließlich darüber erklären, dass für einen Romanverlauf zwei Optionen unterschiedlicher Qualität zur Verfügung stehen und der Leser unschlüssig ist, welche eintritt. Diese Voraussetzungen müssen vielmehr über die Inszenierung spürbar gemacht werden, damit der Rezipient sie wahrnehmen kann. Insofern ist suspense kein ausschließlich inhaltliches Phänomen, sondern sie realisiert sich erst über die Partizipation.363 Berücksichtigt man dies bei ihrer Erklärung, so konkretisiert sich auch eine mögliche Antwort auf eine zentrale Streitfrage der Spannungsforschung, nämlich, ob bei der zweiten Lektüre eine gleich starke Beteiligung erreicht werden kann wie bei der ersten. Die Lösungsvorschläge, die bislang hierzu geliefert wurden, lassen sich in zwei Kategorien einordnen: Ein Teil der Ansätze betont die Unmöglichkeit der Wiederholung einer Spannungslektüre, da der Leser bereits über alle relevanten Informationen verfüge. Suspense könne erst wieder aufkommen, wenn der Zuschauer den Handlungsver-
merkung“, in: Baisch, Martin/Degen, Andreas/Lüdtke, Jana (Hrsg.): Wie gebannt. Ästhetische Verfahren der affektiven Bindung von Aufmerksamkeit, Freiburg: Rombach, 2013, S.11.). 362 Dementsprechend argumentiert Peter Goldie in „Narratives Denken, Emotionen und Planen“: Dass der Rezipient mögliche Hypothesen für den Ausgang bilden müsse, wirke sich merklich auf seine Wahrnehmung des Gelesenen aus, so dass er dieses nicht realistisch, sondern emotional getönt wahrnehme (vgl. Goldie, Peter: „Narratives Denken, Emotion und Planen“, in: Koroliov, Sonja (Hrsg.): Emotion und Kognition. Transformationen in der europäischen Literatur des 18. Jahrhunderts, Berlin: de Gryuter, 2013, S.192.). 363 Auch Katja Mellmann weist in „Emotionale Wirkungen des Erzählens“ darauf hin, dass „der Aufschub von Informationen nur dann Spannung erzeugen kann, wenn die betreffenden Informationen für den Rezipienten eine irgendwie hervorgehobene Relevanz besitzen“ (Mellmann, Katja: „Emotionale Wirkungen des Erzählens“, in: Martínez, Matías (Hrsg.): Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte, Stuttgart: Metzler, 2011, S.70.).
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lauf vergessen habe, so die Argumentation von Robert Yanal.364 Andere Forscher konstatieren das Auftreten von suspense im Wiederholungsfall, geraten dabei jedoch in Erklärungsnot: Kendall Walton beispielsweise vertritt die These, der Leser simuliere die Unkenntnis des Ausgangs und produziere deshalb die gleiche Spannungsreaktion wie beim ersten Mal;365 Richard Gerrig argumentiert, dass die Illusion der Spannung aufrechterhalten werde, weil der Leser das Wissen über den Verlauf bei der zweiten Lektüre absichtlich ausblende;366 Aaron Smuts geht das Problem von einer anderen Warte aus an, indem er die Spannung als eine Inkohärenz versteht, die aus dem Wunsch des Lesers, in die Handlung einzugreifen, und seinem Unvermögen, dies zu tun, resultiert.367 Diese Hypothesen sind jeweils nicht vollkommen zufriedenstellend. Das ‚Paradox der suspense‘, als welches diese Frage auch bezeichnet wird, entknotet sich allerdings etwas, wenn man die Spannung als Zusammenspiel kognitiver und emotionaler Beteiligung betrachtet. Sicherlich verfügt der Leser beim zweiten Mal bereits über die Information, die er bei der ersten Lektüre gesucht hat, wodurch sich die kognitive Bindung an den Roman lockert. Bestehen bleibt allerdings, was sich ebenfalls als suspense-konstitutiv erwiesen hat: die emotionale Partizipation.368 Insofern verfliegt die Spannung bei der zweiten Lektüre einerseits, andererseits können die Emphase der Zweiheit über den Rhythmus und der sprachliche Erlebniswert nach wie vor ihre Wirkung entfalten. In manchen Fällen kann auf diese Weise das suspense-Erlebnis sogar an Intensität gewinnen dadurch, dass der Rezipient nicht mehr durch die Textverarbeitung abgelenkt wird, sondern sich vollkommen auf das emotionale Erleben einzulassen vermag. 3.2.3.4 Überraschung Die Spannungsforschung definiert Überraschung als plötzliche Konfrontation des Rezipienten mit einer relevanten, aber nicht erahnbaren Information, die sich durch
364 Vgl. Yanal, Robert: „The Paradox of Suspense“, in: British Journal of Aesthetics, 36.2 (April 1996), S.156. 365 Vgl. ebd., S.149. 366 Vgl. Gerrig, Richard: „Is there a Paradox of Suspense? A Reply to Yanal“, in: British Journal of Aesthetics, 37.2 (April 1997), S.173. 367 Vgl. Smuts, Aaron: „The Desire-Frustration Theory of Suspense“, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism, 66.3 (2008), S.281f. 368 Das Zusammenspiel von Emotion und Kognition im Kontext des Spannungsempfindens streichen auch medienwissenschaftliche Studien heraus: So könne erst über emotionale Reize die Aufmerksamkeit des Rezipienten für die Handlung gewonnen werden, wohingegen eine kognitive Aktivierung auch für eine affektive Erregung prädestiniere (vgl. Hovland, Carl/Janis, Irving/Kelley, Harold: Communication and Persuasion, New Haven: Yale University Press, 1953, S.47f.).
210 | E RLESENE ERLEBNISSE die Abweichung des Romanfortgangs von der Erwartung ergebe.369 Aus kognitionswissenschaftlicher Perspektive lässt sich die Verblüffung des Lesers darüber erklären, dass dieser durch das unverhoffte Auftauchen neuer Daten einen plötzlichen Kontrollverlust erleidet, den er durch eine erhöhte kognitive Aktivierung auszugleichen versucht.370 Welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit sich das Erlebnis der Überraschung bei der Lektüre narrativer Texte einstellt, soll anhand der Eingangssequenz von Manuel Vázquez Montalbáns Los mares del sur eingehender beleuchtet werden. Auf der Flucht vor der Polizei rettet sich der Kleinkriminelle Bocanegra in eine Bauruine, wo er auf eine Leiche stößt. Obschon das Vorkommen einer Toten für die Gattung Kriminalroman alles andere als außergewöhnlich ist und deshalb bereits im Grunde erwartet werden müsste, entsteht hier ein Überraschungsmoment: Distrajo un momento la vista el policía en busca de la Loli, y Bocanegra le dio un empujón. Se le abrió un pasillo en la noche y se lanzó hacia él corriendo con los tacones llegándole al culo, los brazos enérgicos como émbolos. Pitos. Pitos. Insultos rotos por la distancia. Dobló varias esquinas sin perder de oído el ruido de las carreras que le seguían. Respiraba un aire húmedo y rugoso que entraba a borbotones y le quemaba los pulmones. Las callejas se sucedían sin portales propicios. Altos muros de ladrillos muertos o rebozados con un cemento arenoso anochecido. De pronto salió a la calle principal de San Andrés y todas las luces de este mundo le denunciaron manteniendo el equilibrio sobre una pierna mientras la otra frenaba. A unos metros le miraba sorprendido el centinela que montaba guardia junto a la garita del cuartel. Bocanegra se lanzó a la calzada y atravesó el paseo iluminado, en busca de los descampados que vislumbraba en dirección a la Trinidad. […] Retrocedió unos pasos, se dio un impulso y se lanzó contra la puerta entablándose una lucha entre la madera bamboleante y el cuerpo que trataba de encaramarse. Notó el filo de la puerta en la ingle y dio un definitivo impulso que le convirtió en un cuerpo que caía por una pendiente de arcilla y se iba dando golpes contra piedras invisibles. Se arrodilló y se vio a sí mismo en el fondo de los cimientos de una casa en construcción. La puerta por la que había saltado coronaba la pendiente y le miraba como a un intruso. Sus ojos palparon la erosionada oscuridad y descubrieron la vejez de la obra abandonada. Le dolían ya todos los golpes que se había dado ciegamente, tenía todas las junturas de los músculos como destensadas, el sudor frío le empapaba de depresión. Buscó un rincón donde esconderse por si se les ocurría entrar en el solar. Fue entonces cuando le vio con la cabeza recostada sobre cascotes de ladrillo, los ojos abiertos mirándole y las manos como caracoles de mármol enfrentados al cielo.
369 Vgl. Baroni, Raphael: La tension narrative. Suspense, curiosité et surprise, Paris: Seuil, 2007, S.107. 370 Vgl. Stiensmeier-Pelster, Joachim/Martini, Alice/Reisenzein, Rainer: „The Role of Surprise in the Attribution Process“, in: Cognition and Emotion, 9 (1995), S.28.
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– ¡Me cago en Dios! – gritó el Bocanegra sollozando. Se acercó al hombre y se detuvo a un paso de la muerte evidente. El hombre ya no le miraba a él. Parecía obsesionar sus ojos en la vieja puerta lejana, como si hubiera sido su última esperanza antes de morir. Desde detrás de la puerta empezaron a llegar los pitos, los frenazos, las voces de persecución y alerta.371
Die Passage begünstigt die emotionale Partizipation des Lesers an Bocanegras Gefühlslage in mehrerlei Hinsicht. Erstens ikonisiert der Lektürefluss die Erregung der Figur: Ihre Handlungen alternieren während der Verfolgungsjagd zunächst in hoher Frequenz und sind an unablässige Ortwechsel geknüpft. Diese Schnelligkeit und Bewegtheit der Szene wird durch den atemlosen und dynamischen Rhythmus spürbar, den die tendenziell kurzen, elliptischen Sätze erzeugen (etwa „Pitos. Pitos. Insultos rotos por la distancia.“). Je weiter der Flüchtende sich von den Polizisten entfernt, je stärker folglich die Gefahr des Gefasstwerdens abnimmt und je mehr sich Bocanegras Aktivitätsgrad verringert („Notó el filo […] piedras invisibles“), desto vollständiger und länger werden die Sätze, was eine Entspannung der Situation suggeriert. Diesen allmählichen Umschwung von der Erregung zur Beruhigung moduliert zweitens auch der discours. Der Text gibt vor und während der Verfolgungsjagd lediglich Bocanegras Handlungen wieder und lässt alle Figuren, die nicht mit diesem in Interaktion stehen, unberücksichtigt, so dass er als Protagonist erscheint. Die Flucht ist gerafft erzählt, was eine Erhöhung der Ereignisdichte sowie der erforderlichen kognitiven Verarbeitungsgeschwindigkeit impliziert und dadurch die erhöhte Anstrengung der Figur für den Rezipienten erlebbar macht. Der Stillstand in der Bauruine hingegen geht mit einer Beschreibung einher („sus ojos palparon […] empapaba de depresión“). Der Fokus der Vermittlungsinstanz löst sich von Bocanegra und die erzählte Zeit nimmt im Vergleich zur Erzählzeit signifikant ab. Diese Entzerrung der Narrationssituation durch die Integration deskriptiver Elemente kann als Simulation von Bocanegras nachlassender Hektik aufgefasst werden. Drittens akzentuiert ein stilistischer Wechsel den Handlungsrhythmus: Vor und während der Verfolgungsjagd dominiert eine umgangssprachliche Wortwahl, die teilweise Kraftausdrücke enthält („culo“, „Pitos. Pitos.“) und eher ungeplant erscheint. Im Moment der Entdeckung der Leiche jedoch hebt sich der Stil, wird nahezu poetisch, indem er eine Klimax und einen kühnen Vergleich integriert („cuando le vio con la cabeza recostada sobre cascotes de ladrillo, los ojos abiertos mirándole y las manos como caracoles de mármol enfrentados al cielo“, Hvg. T.H.). Diese mikrostrukturelle Veränderung kann eine Abnahme des Drucks zur Flucht vermitteln, falls er die stärkere Konstruiertheit und Rhetorisierung als Bocanegras Wiedererlangen der Kontrolle über die Situation erfährt.
371 Vázquez Montalbán, Manuel: Los mares del Sur, Barcelona: Planeta, 1986, S.12f.
212 | E RLESENE ERLEBNISSE Im Moment der Entdeckung der Leiche ist der Leser also durch die Beruhigung des Lektürerhythmus auf eine Entspannung der Situation eingestellt. Die Sequenz der Verfolgungsjagd scheint abgeschlossen, da sich eine gesamte periodische Schwingung von der Beruhigung zur Erregung und zurück vollzogen hat. Dieser Moment ist prädestiniert für die Bilanzierung der Situation, der Neuausrichtung der Erwartungen, der Aktualisierung der Bewertungen sowie für die Bildung von Hypothesen für den weiteren Handlungsverlauf. Das Auftauchen der Leiche just in einem Moment, in dem ein Handlungseinschnitt suggeriert wird und der Leser mit einer emotionalen Erholungs- und kognitiven Ordnungsphase rechnet, konstituiert einen Erwartungsbruch. Die eventuelle anfängliche Unfähigkeit, den Fremdkörper ‚Leiche‘ in den Gesamtzusammenhang einzuordnen, resultiert aus der Überraschung des Rezipienten ob der antizyklischen Signale des Texts zur Partizipation. Bis sich dieser erneut vom Pro-/Retentionsmodus auf Gegenwärtigkeit umorientiert hat, vergeht eine Schrecksekunde. Intensiviert wird dieser Verblüffungseffekt durch den Einsatz eines Verfahrens der Unmittelbarkeit, dem in-medias-res-Effekt, im Moment des Erscheinens der Leiche. Mit der Pronominalisierung „le vio“ wird ein an sich thematischer Textanteil rhematisch behandelt, wodurch eine Vertrautheit mit dem Toten angezeigt wird. Da allerdings in der Erinnerung des Lesers keine Informationen über diesen nachhallen, kann der Eindruck eines Datenmangels entstehen. Die Verarbeitung mag sich folglich von der Protention auf das Präsens verschieben: Nicht mehr Bocanegras Entkommen, sondern das Rätsel der auftauchenden Figur werden ihn nun beschäftigen.372 Dieses Umschwenken der Aufmerksamkeit kann die Verwirrung des Rezipienten verstärken, da sie ihn zwangsweise auf das aktuell Gegebene lenkt und durch die Präsentation der Neuinformation als bereits bekannt kognitiv doppelt fordert: Er muss sowohl seinen Wissensrückstand in Eigenaufwand ausgleichen als auch die Identität des Toten klären. Diese forcierte Konzentration auf das Jetzt, während der Leser sich gerade in den Distanzierungsmodus begibt, ist eine Quelle der Überraschung. Ähnlich wie von der Pronominalisierung mag man sich von der Information überrannt fühlen, dass es sich bei der entdeckten Person um eine Leiche handelt. Zunächst geht der Rezipient hiervon nicht automatisch aus, zumal die Formulierun-
372 Rezipienten empfinden Erwartungsbrüche als unerwünscht, wenn die neuen und inkohärenten Elemente einen hohen Grad an Präsenz aufweisen (vgl. Newby-Clark, Ian/Mc Gregor, Ian/Zanna, Marc: „Thinking and Caring about Cognitive Inconsistency. When and for Whom does Attitudinal Ambivalence Feel Uncomfortable?”, in: Journal of Personality and Social Psychology, 82 (2002), S.163f.). Die in-medias-res-Elemente können dieses Unwohlsein favorisieren, zumal sie für den Eindruck von Unmittelbarkeit eine wichtige Rolle spielen (siehe 3.2.3.2).
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gen das Gegenteil suggerieren: Die Körper erscheint animiert („los ojos abiertos mirándole“) und Bocanegra reagiert mit einer wörtlichen Rede auf ihn („Me cago en Dios!“), was prinzipiell den Auftakt zu einem Gespräch bilden könnte. Umso unerwarteter trifft es den Leser, als schlagartig von der „muerte evidente“ die Rede ist. Um die Information des Tot-Seins einzuführen, wird kein eigener Satz verwendet; sie wird vielmehr als Ergänzung für Bocanegras Aktivität („se detuvo“) gehandelt. Da der Tod nicht als vordergründiges Ereignis markiert, sondern als bekannt im Hintergrund mitgeführt wird, widerspricht die textuelle Behandlung dem Neuheitscharakter der Information. Die Leseraufmerksamkeit kann auf diese Weise von der Pro- und Retention auf die momentane Situation zurückgeworfen werden, wodurch sich der Überraschungseffekt einstellen mag. Als Fazit lässt sich festhalten: Überraschung geht mit einem plötzlichen Umschwenken der kognitiven Aufmerksamkeit des Lesers von der Pro- und Retention auf die Gegenwärtigkeit der Handlung einher. Dieses kann eintreten, wenn ein Ereignis antizyklisch eingeführt wird, d.h. in einem Moment, der zum Ziehen eines Situationsfazits oder zur Aktualisierung seiner Erwartungen geeignet erscheint. Die Hinwendung zum überraschenden Ereignis kann darüber hinaus durch präsentifizierende Elemente verstärkt werden. Im vorliegenden Fall mag der inmedias-res-Effekt zu einer Konzentration der Leseraufmerksamkeit auf das Objekt der Überraschung führen und diese damit effektvoll inszenieren. Das Überraschungsmoment spielt auch im Fall des offenen Endes und Anfangs eines Romans eine Rolle, da auch sie ein Umschwenken von der Pro- und Retention auf die Gegenwärtigkeit erfordern. Am Schluss eines narrativen Texts verändert sich das Lektüreerlebnis signifikant: Das rhythmische, visuelle, akustische und kognitive Input fallen von einer Zeile auf die andere aus, an die Stelle einer konkreten Textstruktur treten Stocken, Leere, Stille und Unterforderung. Zu Überraschung führt dies, wenn sich diese Veränderungen antizyklisch zum Inhalt vollziehen, d.h. wenn sie sich nicht mit der Auflösung des zentralen Romankonflikts oder -rätsels sowie einer Beruhigung oder Befriedigung der Emotionen überschneiden. Der Abbruch des Texts kann den Leser in diesem Fall unverhofft treffen. Für ein paar Momente bewegt er sich im Nullstufe-Rhythmus des Werks weiter, stolpert aber über das Weiß des Papiers und bemerkt, dass er seine Vorstellungen ins Nichts projiziert. Dieser Überraschungseffekt mag mit einer kognitiven Aktivierung einhergehen: Vergeblich sucht der Rezipient nach einer Erklärung für den unvollständigen Abschluss oder nach einer übersehenen allerletzten Seite; er liest die aktuellen Zeilen noch einmal auf der Suche nach Indizien, die ihm bei der ersten Lektüre entgangen sein mögen; er rekapituliert den Inhalt; er zitiert eben noch verspürte Emo-
214 | E RLESENE ERLEBNISSE tionen in seiner Erinnerung herauf.373 Dennoch verlaufen diese Bemühungen ob der Unmöglichkeit einer weiteren Lektüreerfahrung im Sande. Ähnlich verhält es sich auch für den offenen Beginn. Das Lektüreerlebnis auf der ersten Seite eines Romans ist das eines Neuanfangs. Das weiße Papier geht in Text über, die Stille wird zum Rhythmus. Viele literarische Werke machen sich dies zunutze, indem sie auch inhaltlich etwas beginnen lassen; indem sie etwa den Rezipienten in die Romanwelt einführen, ihn schrittweise an die Protagonisten oder den zentralen Konflikt annähern oder indem sie die Hauptfigur etwas zum ersten Mal tun lassen. Andere aber sprechen den Leser an, als wäre er bereits in der Diegese verortet und mit ihr vertraut und erzeugen somit einen Widerspruch zwischen Erlebnis und Inhalt, so dass er eine Überraschung erfahren kann.374 Zusätzlich zur kognitiven Mehrarbeit, die ein in-medias-res-Beginn von ihm verlangt – die Orientierung des Lesers kann durch spärliche Informationen erschwert sein –, wird ihm suggeriert, seiner Lektüre ginge bereits eine Erfahrung voraus. Es wird eine Retention an einem Punkt veranlasst, an dem diese faktisch noch unmöglich ist. Durch die kognitive Beteiligung erhält der Rezipient den Eindruck einer unmittelbaren Verstrickung in die Romanwelt – ohne sie überhaupt zu kennen. Offenem Schluss und offenem Anfang eignet folglich ein Überraschungsmoment. Korrespondiert die Unterbrechung bzw. die Aufnahme des Lektüreflusses nicht mit dem Abschluss bzw. Beginn einer Beteiligungsphase, so kann ein Widerspruch entstehen, der kognitive Verarbeitung verlangt. Bis sich der Leser an die neue Sachlage angepasst hat, ist er für kurze Zeit in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Der Eindruck, dass er über die Situation, in der er sich befindet, nicht genug weiß, ist ein potenzieller Auslöser für sein verstärktes Interesse an ihr. Gesteigert werden kann der Überraschungseffekt für den offenen Schluss durch die Verschiebung der Kognitionen auf den protentionalen Bereich; für den offenen Anfang durch die Erzeugung von Unmittelbarkeit, da sich auf diese Weise in beiden Fällen die Diskrepanz zwischen erwartetem und realem Leseerlebnis vergrößert.
373 Zur gestiegenen kognitiven Aktivierung mag hier auch der recency effect beitragen. Demnach tendiert der Rezipient dazu, den abschließenden Informationen einer Medienbotschaft besondere Relevanz zuzuweisen (vgl. Lana, Robert: „Familiarity and the Order of the Presentation of Persuasive Communications“, in: Journal of Abnormal and Social Psychology, 56 (1963), S.657f.). 374 Die strategische Bedeutung des Textbeginns bei der Kontaktherstellung mit dem Leser spricht auch Dietrich Scholler an: Wie eine Figur eingeführt würde (mit Namen oder entpersonalisiert), bestimme die Haltung des Lesers zu ihr (vgl. Scholler, Dietrich: „Der Romananfang als Ort der Leserverführung“, in: Wanning, Frank/Wortmann, Anke (Hrsg.): Gefährliche Verbindungen. Verführung und Literatur, Berlin: Weidler, 2001, S.271.).
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3.2.4 Lektüreerlebnisse in Bezug auf die Motiviertheit Es wurde bereits mehrfach das Potenzial von Inkohärenzen zur Bündelung der Aufmerksamkeit des Rezipienten angesprochen. Ist das Verstehen eines Texts bzw. die Intensität der Partizipation an ihm eindeutig dem Fehlen einer Information geschuldet, so kann dies als Anstoß für mystery fungieren. Demnach bildet etwa in einem Kriminalroman die ungeklärte Frage nach der Identität des Mörders meist die Quelle einer erhöhten kognitiven Aktivierung zur Aufklärung des Verbrechens. Doch mystery kann auf unterschiedliche Weise inszeniert sein, sie muss nicht zwangsweise die Erlebnisstruktur eines Kriminalrätsels aufweisen, wo die Spannung sich mit der Erhellung des Falls auflöst. Je nachdem, ob das Informationsdefizit beseitigt wird oder nicht, ob sich die Sinnerwartungen des Lesers erfüllen oder zerschlagen, ergibt sich eine lustvolle oder eine frustrierende Form von mystery. Wie diese Ausprägungen zustande kommen und wovon ihr Erlebnis bestimmt ist, behandelt dieses Kapitel. 3.2.4.1 Neugier Überraschungssituationen sind häufig die Triebfeder von Neugier: Da sie dem Leser das Gefühl mangelnder Kontrolle vermitteln, konzentriert dieser seine Aufmerksamkeit auf die Beherrschung des unvorhergesehene Moments und kann damit sogleich für weitere kognitive Aufgaben motiviert sein.375 So auch in Los mares del sur, wo die Präsenz der Leiche den Ausgangspunkt eines Rätsels darstellt, das den gesamten Roman dominiert. Um eine überlegene Position wiederzuerlangen, müsste der Rezipient den Toten in den Gesamtzusammenhang der Geschichte nahtlos einfügen können, was bei seinem bisherigen Wissensstand jedoch unmöglich ist. Warum befindet sich die Leiche in der Lagerhalle? Wer hat sie dort platziert? Wie und warum ist sie gestorben? – die Antwort auf diese Fragen muss er schuldig bleiben. Das Phänomen der Neugier auf die Auflösung eines Rätsels, das in der Spannungsforschung unter dem Begriff ‚mystery‘ bekannt ist, soll hier genauer unter die Lupe genommen werden.
375 Dies erklärt sich über die excitation-transfer-Hypothese: Eine vorausgehende Erregung kann dazu führen, dass der Rezipient sich momentan konzentrierter der Informationsverarbeitung widmet; sein Aktivierungsgrad sinkt erst nach einer Weile wieder auf das Normalniveau ab (vgl. Mundorf, Norbert/Drew, Dan/Zillman, Dolf/Weaver, James: „Effects of Disturbing News on Recall of Subsequently Presented News“, in: Communication Research, 17 (1990), S.613.). Diese emotionale und kognitive Bindung kann sich der Roman zunutze machen, um die Aufmerksamkeit des Lesers durch mystery zu bündeln.
216 | E RLESENE ERLEBNISSE Mystery entstehe, so Ralf Junkerjürgen, durch eine „signifikante Leerstelle des Textes“, deren Beseitigung der Leser erwarte. Solange der Roman diese jedoch (noch) nicht liefere, bilde der Rezipient eigene Hypothesen zur Konstruktion einer Lösung.376 Diese Definition wirft mehrere Fragen auf: Zunächst gilt es zu ergründen, wie eine Informationslücke beschaffen sein muss, damit der Leser den Willen zur Auflösung eines Rätsels entwickelt. Wolfgang Iser betrachtet Leerstellen als romankonstitutiv, weshalb Rezipienten die Bereitschaft zu ihrer Beseitigung automatisch mitbrächten.377 Dennoch erfordern nicht alle Romane oder Passagen die Konkretisation gleichermaßen. Manche Texte motivieren den Leser stärker zur Erlangung einer fehlenden Information als andere: Stirbt eine Person in einem Kriminalroman, dann brennt der Leser in der Regel auf die Aufklärung der Todesursache; stirbt sie in einem romantischen Liebesroman, so mag diese etwa neben der emotionalen Partizipation an der Trauer zweitrangig sein. Am Inhalt der Leerstelle kann das nicht liegen, da er in beiden Fällen der gleiche ist. Wie entsteht also der Unterschied in der Orientierung der Beteiligung? Rolf Kloepfer grenzt in seinem Aufsatz „Fluchtpunkt Rezeption“ zwei Arten von Leerstellen gegeneinander ab: Manchmal fehlten zweitrangige Details, z.B. die exakte Beschreibung einer Figur und ihrer Alltagsaktivitäten, die differenzierte Ausgestaltung des Chronotopos. Diese könne der Leser problemlos gemäß der good continuation in seiner Vorstellung auffüllen, ohne dass sich deshalb der Sinn signifikant verändere.378 Andere Leerstellen hingegen beruhten auf einem Bedeutungsdefizit. Der Text halte in diesem Fall Informationen zurück, die zur Plotkonstruktion unabkömmlich seien. Um sie zu ergänzen, müsse der Leser abwarten, bis der Roman ausreichend Daten liefere.379 Hält man an dieser Differenzierung zwischen frei und gebunden ergänzbaren Leerstellen fest, so stellt sich zwangsläufig die Frage, woher der Rezipient beim Lesen eigentlich weiß, mit welcher der beiden Formen er aktuell zu tun hat. Was zeigt ihm an, ob er nach seinem Dafürhalten vervollständigen darf oder weitere Fakten abwarten muss? Eine frei
376 Vgl. Junkerjürgen, Ralf: Spannung – Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung. Eine Studie am Beispiel der Reiseromane von Jules Verne, Frankfurt: Lang, 2002, S.69f. 377 Vgl. Iser, Wolfgang: Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa, Konstanz: Universitätsverlag, 1971, S.15. 378 Schemata dienen in dieser Hinsicht nicht nur der Simplifikation des Wahrnehmungsprozesses, sondern haben auch komplettierenden Funktion. Bei Informationsmangel helfen sie beim Auffüllen des Vorstellungsbilds von der romanweltlichen Realität (vgl. Schenk, Michael: Medienwirkungsforschung, Tübingen: Mohr 2007, S.277.). 379 Vgl. Kloepfer, Rolf: „Fluchtpunkt Rezeption“, in: Ders. (Hrsg.): Bildung und Ausbildung in der Romania, München: Fink, 1979, S.644.
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komplettierbare Leerstelle fällt bei der Lektüre kaum auf, sie sticht nicht ins Auge und wirkt deshalb auch nicht wirklich leer; eine gebundene hingegen ist augenblicklich als Informationsdefizit erkennbar, die Datenlage erscheint mangelhaft und zweideutig, die fehlende Information bedeutend.380 Im Folgenden soll anhand von Los mares del sur herausgearbeitet werden, wodurch eine gebunden ergänzbare Leerstelle entsteht, d.h., was die Lektüreeindrücke erstens des Fehlens, zweitens der Relevanz der absenten Information und drittens der Komplexität generieren kann. Zum Eindruck des Datenmangels trägt in Vázquez Montalbáns Roman zunächst der sprachliche Erlebniswert bei. Das Romanpersonal weist in seinen Gesprächen unablässig auf das Fehlen von Informationen hin. Der Wissensstand der Figuren wird beständig überprüft, nicht zuletzt durch Carvalhos Befragungen und Reflexionen: – ¿Exactamente qué quiere saber? – Qué hizo mi marido durante un año, durante ese año en que le creímos en los mares del Sur y estaba quién sabe dónde y quién sabe qué burradas hacía. Tengo un hojo mayor que me ha salido al padre, con la agravante de que heredará más dinero que su padre. Otros dos que a estas horas deben de estar haciendo trial por cualquier montaña de ésas. Una chica enferma de los nervios desde que se descubrió el cadáver de su padre. Un niño pequeño al que me expulsarán los jesuitas… Necesito controlarlo todo muy bien controlado. – ¿Qué saben ya? Viladecans y la viuda se miraron. Fue el abogado quien respondió. – Lo mismo que usted.381 (Hvg. T.H.)
Die inhaltliche Überbetonung der Restriktion des Wissens und des Wissen-Wollens bezüglich des Tathergangs in dieser und anderen Passagen, kann das Gefühl unzureichender Informiertheit schaffen und den Eindruck einer Leerstelle begünstigen. Abgesehen davon wird das Informationsdefizit über die Ikonizität spürbar. Los mares del sur tendiert in mehrerlei Hinsicht zu einer offenen Struktur. Es wird häufig zwischen den Schauplätzen und Figuren hin und hergesprungen, wobei der Wechsel jeweils lediglich paratextuell durch einen Absatz (nicht etwa durch einen Kapitelumbruch) markiert ist. Diese Szenenumschwünge können mit einem kognitiven Mehraufwand für den Leser verbunden sein, da sie die Erfassung der teilweise recht heterogenen Situationen verkomplizieren. Hinzu kommt, dass die einzelnen
380 Dem entsprechen die Stimuli, die laut dem Psychologen Daniel Berlyne Neugier begünstigen: die Ungewöhnlichkeit, die Zweideutigkeit und die Ungewissheit einer Situation (vgl. Berlyne, Daniel: Aesthetics and Psychobiology, New York: Appleton, 1981, S.98f.). 381 Vázquez Montalbán, Manuel: Los mares del Sur, Barcelona: Planeta, 1986, S.21.
218 | E RLESENE ERLEBNISSE Handlungsfragmente auch in sich nicht abgeschlossen sind. Die erste Szene des Romans endet beispielsweise nicht mit Bocanegras Festnahme, sondern in dem Moment, als ein Beamter die Tür zu seinem Versteck eintritt, so dass sein Schicksal ungeklärt bleibt. Dieser cliffhanger mag, da er die von der Typographie (Absatz) suggerierte Erwartung des Lesers an einen Handlungsabschluss nicht erfüllt, als Mangel erscheinen. Auch der Anfang der Szenen ist selten als solcher gekennzeichnet. Der Roman setzt in medias res ein, spätere Sequenzen beginnen häufig mitten in einem Gespräch, so dass die Sprecheridentität zunächst unscharf bleibt, oder zeigen unbekannte Figuren.382 Der Rezipient mag auf diese Weise Unabgeschlossenheit erfahren und in deren Projektion auf den Inhalt das Auftauchen der Leiche als informationsmäßig unterbestimmt erleben. Nun zum zweiten Charakteristikum der Leerstelle, der Relevanz der fehlenden Information. Zu Beginn des Kapitels wurde bereits angesprochen, dass der Leser den Roman nicht als homogenes Gebilde wahrnimmt, sondern als Wissensnetz mit qualitativen Variationen; im Prozess des foregroundings scheidet er das Gelesene in Vorder- und Hintergrund. Als konstitutiv erweisen sich dabei sowohl die Quantität der Aufmerksamkeit, die einer Information zukommt, als auch deren Emotionswert.383 Die Bedeutsamkeit des Rätsels um die Leiche in Los mares del sur zeigt sich in mehrerlei Hinsicht: Inhaltlich erfährt die Wichtigkeit seiner Lösung von den verschiedensten Figuren Betonung (z.B. „No sabemos dónde estuvo, qué hizo durante todo ese tiempo, y hay que saberlo.“384, Hvg. T.H.). Auch der Protagonist Carvalho scheint von ihr überzeugt, beginnt er seine Nachforschungen doch unverzüglich und hochmotiviert („Usted participó en la investigación sobre Stuart Pedrell? Dígame todo lo que sepa.“385, Hvg. T.H.). Er geht dabei so weit, mit dem Opfer Pedrell zu verschmelzen, indem er sich sein Leben aneignet und sogar zeit-
382 Hubert Pöppel weist darauf hin, dass diese Offenheit nicht nur in Bezug auf Sequenzierung des Romans, sondern auch als allgemeinen Stilprinzip gepflegt wird: „Brüche und Verschiebungen, die eine zu glatte, zu einfache Lektüre beständig hinterfragen“, garantierten ein stetes Unterlaufen der Schemata des Kriminalromans (Pöppel, Hubert: „Manuel Vázquez Montalbán. Los mares del Sur (1979), in: Junkerjürgen, Ralf (Hrsg.): Spanische Romane des 20. Jahrhunderts in Einzeldarstellungen, Berlin: Schmidt, 2010, S.227.). 383 Hierauf verweisen auch kommunikationswissenschaftliche agenda-setting-Theorien: Die Häufigkeit des Verweises auf ein Thema sowie seine Rahmung übermitteln dem Rezipienten den Eindruck von Wichtigkeit (vgl. Eichhorn, Wolfgang: Agenda-SettingProzesse. Eine theoretische Analyse individueller und gesellschaftlicher Themenstrukturierung, München: Fischer, 1996, S.24.). 384 Vázquez Montalbán, Manuel: Los mares del Sur, Barcelona: Planeta, 1986. 385 Ebd., S.21.
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weise in seine Villa einzieht.386 Dadurch, dass die Aufklärung des Rätsels für das Romanpersonal oberste Priorität hat, mag sie auch in den Augen des Rezipienten an Gewicht gewinnen. Aber nicht nur die Figuren, auch der Erzähler hat sich vollständig dem Mord verschrieben. Die Vermittlung bleibt vom ersten Kapitel an auf das Verbrechen konzentriert und signalisiert dem Leser so dessen hohen Stellenwert. Diese thematische Einseitigkeit simuliert eine Reizabschirmung, die die Motivation des Rezipienten zu seiner Aufklärung erhöhen mag. Außerdem kann der Eindruck der Relevanz der Rätsellösung dadurch entstehen, dass diejenigen Szenen mit hohem emotionalem Partizipationspotenzial häufig mit einem Fortschritt des Ermittlers koinzidieren. Nicht zuletzt mag sich er sich aus dem Gattungswissen des Lesers ergeben: Der Entdeckung der Leiche folgt unmittelbar die Erwähnung Carvalhos. Diese frühe assoziative Verbindung Mord → Detektiv mag das Schema ‚Kriminalroman‘ aktivieren, in dem die Lösung des Falls stets ein vordergründiges Element darstellt. Los mares del sur begünstigt folglich den Eindruck einer gebunden komplettierbaren Leerstelle, indem es das Fehlen und die Relevanz der Information nicht nur inhaltlich artikuliert, sondern über den Emotionswert der Sprache und den Lektürerhythmus spürbar macht. Damit der mystery-Effekt greifen kann, muss diese Anlage noch um die Erfahrung der Rätselhaftigkeit verstärkt werden, was durch die Parallelisierung des Lesers mit Carvalho geschieht.387 Informationen werden dem Rezipienten häufig nicht einfach präsentiert, sondern er muss sie sich erschließen. Er erhält lediglich Andeutungen oder Fragmente, die ihn zur indirekten Rekonstruktion der thematisierten Sachverhalte zwingen. So etwa in folgendem Beispiel, das Carvalhos Beauftragung mit dem Fall durch einen Freund des Opfers zeigt: Dejó ante Carvalho una serie de cartulinas donde estaban enganchadas gacetillas recortadas de los periódicos: „El cuerpo de un desconocido aparece en un descampado de la Trinidad.“ „Ha sido identificado como el de Carlos Stuart Pedrell.“ „Se había despedido de su familia hace un año pretextando un viaje a Polinesia.“388
Den Zeitungsüberschriften, die Carvalho von einem unbekannten Auftraggeber vorgelegt bekommt, fügt der Erzähler keine nähere Erläuterung hinzu. Es wird nicht
386 Vgl. Buschmann, Albrecht: Die Macht und ihr Preis. Detektorisches Erzählen bei Leonardo Sciascia und Manuel Vázquez Montalbán, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2005, S.44. 387 Die Kongruenz von Leser- und Detektivperspektive stellt, laut Peter Nusser, ein konstitutives Merkmal des Kriminalromans dar (vgl. Nusser, Peter: Der Kriminalroman, Stuttgart: Metzler, 2003, S.41.). 388 Vázquez Montalbán, Manuel: Los mares del Sur, Barcelona: Planeta, 1986, S.18.
220 | E RLESENE ERLEBNISSE klar gestellt, dass es sich bei Carlos Stuart Pedrell um die Figur handelt, die in der Eingangsszene tot im Lagerhaus aufgefunden worden ist. Der Leser sieht sich folglich gezwungen, dies selbstständig aus der Logik der Erzählung abzuleiten, was einen Mehraufwand im Vergleich zu einem Text bedeutet, der jedes Detail erschöpfend begründet. Die Lektüre stellt insofern eine kognitive Herausforderung dar, die der Indiziensuche eines Detektivs gleicht. Eine ähnliche Wirkung können auch der offene Anfang und Schluss annehmen, da sie den Leser beinahe zu einer stärkeren kognitiven Beteiligung zwingen. Indem dieser die indefiniten Gesprächs- und Handlungssituationen während der Lektüre erst einordnen muss, wird er fast in die Rolle des Rätsellösers gedrängt. Es wurde aufgezeigt, dass der Neugier das Fehlen einer relevanten, rätselhaften Information zugrunde liegt, auf das der Leser mit einer erhöhten Aktivierung zu ihrer Ergänzung reagiert. Dabei wurde das Phänomen aus einer ausschließlich kognitiven Warte betrachtet. Dennoch ist mystery im literarischen Alltag in dieser Reinform kaum anzutreffen. Schließlich stellen Romane nicht nur ein zu lösendes Rätsel dar, sondern koppeln es an Figuren; Neugier richtet sich niemals bloß auf eine Information, sondern auch auf das Personal des Romans: Den Rezipienten fasziniert nicht nur der Mord, sondern auch die Leiche selbst; er sucht nicht nur die Auflösung des Rätsels, sondern auch den Verbrecher; sein Wille zur Ergänzung der Leerstelle geht Hand in Hand mit der Motivation des Detektivs, der seine Interessen in der Diegese vertritt. Insofern ist die Neugier des Lesers stets eine doppelte: Die Partizipation ist nicht nur kognitiver, sondern auch emotionaler Natur. Fazit: Die Leserneugier kann über die Suggestion geweckt werden, dass die Entschlüsselung eines rätselhaften Geheimnisses von außergewöhnlicher Relevanz ist. In diesem Zusammenhang gilt für mystery das gleiche wie für suspense: dass sie sich nicht als bloß inhaltliches Phänomen beschreiben lässt. Nicht nur die kognitive Tatsache, dass eine Information, die zur Herstellung von Kontrolle über den Roman unabdinglich ist, strategisch zurückgehalten wird,389 sondern auch die emotionale, wie diese Zurückhaltung als Defizit spürbar gemacht wird und der Leser zu seinem Ausgleich motiviert wird, ist hierfür von Belang. Erfasst werden können das Informationsdefizit, die Relevanz und die Rätselhaftigkeit durch foregrounding und Schemaanwendung sowie durch den Erlebniswert und den Lektürerhythmus.
389 Alsina, Jean/Debax, Michelle: „Suspender. Ensayo de descripción de un hacer informativo“, in: Alsina, Jean (Hrsg.): Suspens/Suspense. Actes de 5e Colloque Universidad Complutense Madrid y Université de Toulouse, Touluse: CRIC, 1993, S.118.
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3.2.4.2 Frustration Nicht alle narrativen Texte befriedigen die Neugier des Lesers wie Los mares del sur, so dass sich mystery letztendlich auflöst. Die kognitiven Bemühungen des Rezipienten lohnen sich nicht zwangsweise, sondern können ebenso im Erlebnis von Frustration münden. Dies soll an Alain Robbe-Grillets Dans le labyrinthe aufgezeigt werden. Der Protagonist ist ein Soldat, der mit der Auslieferung einer Blechkiste betraut ist, allerdings erinnert er sich nicht, mit wem, wann und wo er zur Übergabe verabredet ist. In unheldenhafter Manier390 verbringt er deshalb mehrere Tage mit dem Warten unter einer Straßenlaterne und dem rastlosen Umherwandern in der Stadt. Wie Vázquez Montalbáns Text erzeugt der Roman also ein Rätsel: Was ist in der Kiste? Für wen ist sie bestimmt? Warum ist die Motivation des Soldaten zu ihrer Auslieferung so groß? Allerdings ist die Neugier, die der Leser in Reaktion hierauf entwickeln mag, nicht der Ausgangspunkt befriedigender, sondern eher ernüchternder Erfahrungen. Wie für mystery kennzeichnend spart Dans le labyrinthe Informationen aus und markiert deren Fehlen. Inhalt und Besitzer der Kiste bleiben bis zu den letzten Romanseiten unenthüllt. Dieses Defizit kann sich über den Lektürerhythmus auf den Leser übertragen: Unmotivierte Sprünge in der Erzählung, die achronologische Anordnung der Ereignisse sowie die mangelnde teleologische Strukturierung der Ausführungen können den Eindruck der Unabgeschlossenheit erzeugen und dem Rezipienten als Fehlen zu Bewusstsein kommen. Darüber hinaus markiert der Roman die Vordergründigkeit des Abwesenden: Das Mysterium der Kiste bildet den Kern der Erzählung; fast ausschließlich wird der Soldat auf der Suche nach einer Person gezeigt, die ihm die Schachtel abnehmen könnte – eine Fokussierung, die die Relevanz der Angelegenheit in den Augen des Lesers erhöhen kann. Fürderhin wird auch die Rätselhaftigkeit der Kiste in Szene gesetzt. Durch die wiederholte Thematisierung und Markierung des Nicht-Verstehens („cette scène se serait-elle déroulée hors de sa présence? Mais où et quand?“391), durch die Gabe widersprüchlicher Informationen sowie durch Ellipsen, die weder logisch, noch als Auslassungen (z.B. durch Absatz) gekennzeichnet sind, mag der Rezipient bei der Lektüre eine Desorientierung erfahren. Indem er selbst um eine kohärente und chronologische Strukturierung ringt, wird er in kognitiver Hinsicht mit dem suchenden Protagonisten parallelisiert. Insofern erfüllt Dans le labyrinthe alle Kriterien von mystery, da es Defizit, Rätsel und Relevanz so inszeniert, dass sie sich auf den Rezipienten übertragen können. Wie der Roman auf dieser Basis Frustration hervorrufen mag, soll
390 Vgl. Dauer, Bernd: „Nouveau Roman, Nouveau Nouveau Roman. Literarische Avantgarde um 1960“, in: Brockmeier, Peter/Wetzel, Hermann (Hrsg.): Französische Literatur in Einzeldarstellungen, Stuttgart: Metzler, 1982, S.273. 391 Robbe-Grillet, Alain: Dans le labyrinthe, Paris: Minuit, 1959, S.91.
222 | E RLESENE ERLEBNISSE anhand des folgenden Textausschnitts erklärt werden, der den Soldaten beim Essen in der Wohnung einer unbekannten Frau zeigt: Quand le soldat se décida à lever les yeux sur la jeune femme, celle-ci est assise en face de lui: non, pas à la table, mais sur une chaise qui est située (vient-elle de l’y mettre?) devant la commode, sous l’encadrement noir du portrait accroché au mur. Elle est en train de contempler l’uniforme défraîchi de son visiteur; ses yeux gris remontent jusqu’à la hauteur du cou, là où sont cousus les deux morceaux de feutre rouge marqués du numéro matricule. „C’est quel régiment?“, dit-elle à la fin, avec un mouvement du visage vers l’avant, pour indiquer les deux losanges rouge clair. „Je ne sais pas“, dit le soldat. Cette fois la femme montre un certain étonnement: „Vous avez oublié, aussi, le nom de votre régiment? – Non, ce n’est pas ça… Mais cette capote-là n’est pas la mienne.“ La jeune femme demeure un moment sans rien ajouter. Une question semble cependant lui être venue à l’esprit, qu’elle ne sait pas comment formuler, ou qu’elle hésite à poser de façon directe. En effet, après une minute entière de silence, ou même plus, elle demande: „Et à qui appartenait-elle? – Je ne sais pas“, dit le soldat. S’il l’avait su, d’ailleurs, il aurait probablement pu dire aussi quel régiment représentaient les losanges rouge clair. Il regarde de nouveau l’agrandissement photographique accroché au mur, au-dessus des cheveux noirs de la femme. L’image a une forme ovale, estompée sur les bords; le papier tout autour est resté blanc-crème, jusqu’au cadre rectangulaire en bois très foncé. À cette distance, les insignes distinctifs ne sont pas visibles, sur le col de la capote. L’uniforme est, en tout cas, celui de l’infanterie. L’homme devait être caserné dans la ville même, ou dans ses environs immédiats, en attendant sa montée en ligne; sans cela, il n’aurait pas pu venir embrasser sa femme avant de partir. Mais où les casernes se trouvent-elles dans cette cité? Sont-elles nombreuses? Quelles unités y voit-on en période ordinaire? Le soldat pense qu’il devrait s’intéresser à ces choses: elles leur fourniraient un sujet de conversation normal et anodin. Mais à peine a-t-il ouvert la bouche qu’il remarque un changement dans l’attitude de son interlocutrice. Elle le regarde en plissant un peu les paupières, semblant guetter la suite de ses paroles avec une attention exagérément tendue, vu l’importance que lui-même leur accorde.392
Im Vergleich zu Los mares del sur sind die emotionalen Beteiligungsmöglichkeiten des Abschnitts reduziert. Während im spanischen Text mit der Lösung des Rätsels eine steigende Erregung verbunden war, bleibt der Rhythmus von Dans le labyrinthe nicht nur im gewählten Ausschnitt, sondern auch darüber hinaus gleichförmig.
392 Ebd., S.70f.
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Der Stil ist elaboriert, distanziert und neutral, das dadurch beförderte Lektüreerlebnis eher eines der Gleichgültigkeit und Fremdheit. Dieser Eindruck wird dadurch unterstrichen, dass die Figuren keine Namen tragen, und der Text durchgehend bei den generischen Bezeichnungen „le soldat“ und „la femme“ bleibt. Die wenigen direkten Reden sind unpersönlich, enthalten keine Ansprache an ein Du, und dienen lediglich dem Datenaustausch, so dass sich kaum eine Motivation zur Lösung des Rätsels entwickeln kann. Eine ähnlich restringierte Zugänglichkeit lässt sich in Bezug auf den Raum konstatieren: Das Erlebnis von Unmittelbarkeit wird durch den Verzicht auf bestimmte Artikel für vorher nicht erwähnte Objekte verhindert. Vielmehr werden die erwähnten Gegenstände durch ihre vorzugsweise indefiniten Besetzung in die Ferne gerückt und überdies, wie Manfred Nowak betont, in ihrer Existenz sogar in Zweifel gezogen („vient-elle de l’y mettre?“).393 Insofern ist die Intensität der Partizipation im vorliegenden Abschnitt auf ein Minimalmaß reduziert, so dass der Leser in Dans le labyrinthe merkwürdig ausgeschlossen bleibt. Da sich die Kognition nicht mit einer Emotion verbindet, kann die mystery unbefriedigend erscheinen. Zweitens kann der Tatsache Frustration entspringen, dass weder das Verhalten der Figuren, noch das des Erzählers der Neugier des Rezipienten zuträglich sind. Anders als in Los mares del sur, wo Pepe Carvalho nach und nach in Befragungen Informationen ansammelt, die auch dessen Wissensdurst stillen, scheint in dieser Passage der Dialog der beiden Figuren das Vorwärtskommen bei der Entschlüsselung des Rätsels regelrecht zu hemmen: Aus ihrer Kommunikation können fast keine relevanten Informationen gewonnen werden, zumal sie einander ausweichen; die vielen Fragen zwischen ihnen bleiben unbeantwortet oder ungestellt.394 So ist beispielsweise unklar, ob der Soldat die Information über seine Regimentszugehörigkeit nicht geben möchte, um sich zu schützen, oder ob er sie tatsächlich nicht kennt. Die Vorsicht der Frau und des Soldaten im Umgang miteinander sowie die Überlegtheit jeder ihrer Regungen und Äußerungen leitet eine inauthentische Gesprächssituation und damit eine Sprech- und Handlungsblockade ein. Die beiden bleiben trotz ihrer Neugier ein Mysterium füreinander.
393 Vgl. Nowak, Manfred: Die Romane Alain Robbe-Grillets, Heidelberg: Winter, 1982, S.205. 394 Brenda Dervin weist darauf hin, dass Rezipienten zu informationssuchendem Verhalten ermutigt werden, wenn sie sich von diesem einen Sinnmehrwert versprechen (vgl. Dervin, Brenda: „Sense-making in Theory and Practice. An Overview of User Interests in Knowledge Seeking and Use“, in: Journal of Knowledge Management, 2.2 (1998), S.40f.). In Dans le labyrinthe mag diese Tendenz besonders ausgeprägt sein, da es zunächst über mystery die Erwartung einer Lösung der Ungewissheit und damit eines Bedeutungsmehrwerts schürt.
224 | E RLESENE ERLEBNISSE Doch die Unwissenheit der Figuren kann erst durch den discours auch zur Frustration des Lesers werden. Die Vermittlungsinstanz liefert weder direkte Erklärungen (z.B. für die Unsicherheit des Soldaten bezüglich seiner Identität), noch indirekte Hilfestellungen, etwa indem sie relevante Hinweise zur Rätsellösung besonders hervorheben würde, so dass die in traditionellen Romanen vorherrschende complicité zwischen Erzähler und Leser gestört wird.395 Dem Informationszuwachs abträglich ist überdies der vorsichtige Narrationsstil. Mit Satzkonstruktionen wie „celle-ci est assis en face de lui: non, pas à la table, mais sur une chaise qui est située (vient-elle de l’y mettre?) devant la commode“ zeugt der Vermittler von einem perfektionistischen Wesen – er beschreibt alle Einzelheiten, korrigiert Ungenauigkeiten sofort und imitiert den interrogativen Grundton der Figuren; gleichzeitig gerät er dadurch stilistisch ins Stocken. Dieses narrative Auf-der-Stelle-treten mag eine hemmende Wirkung auf die Neugier des Lesers haben, da es den Informationsfortschritt bremst. Verstärkt werden kann dieser Eindruck durch die Tendenz zur Parataxe. Die einzelnen Sätze sind unverbunden aneinandergereiht, was ihren Rhythmus und damit die Wahrnehmung jeglicher Dynamik eindämmt. Obwohl ein Rätsel vorhanden und auch als solches inszeniert ist, wird sich in Dans le labyrinthe keine mystery im klassischen Sinne einstellen. Die entstehende Anspannung mag sich nicht mit einer positiven Erwartung verbinden, sondern hat einen eher ernüchternden Charakter, da der Ausgleich des Informationsdefizits von vornherein blockiert scheint. Das Fehlen und die Relevanz der Daten sind nicht an eine Motivation gekoppelt, die für den Leser über den Textrhythmus oder den Erlebniswert der Sprache spürbar würde, so dass ein Erregungs- und Lustanstieg kaum zustande kommen kann. Der zunächst erzeugte Wissensdrang des Lesers endet somit, da er nicht an Formen emotionaler Beteiligung gekoppelt ist, mit großer Wahrscheinlichkeit in der Frustration.396 3.2.5 Kontextualisierendes Resümee Das Subjekt zieht sein Wissen nicht direkt aus der Wirklichkeit, sondern stellt es bei der Verwertung lebensweltlicher Daten erst her. Indem es wahrnimmt, erinnert, plant, erwartet und ordnet, bezieht es gegenüber seiner Umwelt Position, eignet sie sich an und ermisst seine Aktionsmöglichkeiten. Die Erfassung der Realität geht
395 Die Unmöglichkeit einen zufriedenstellenden Zugang zum Text zu finden, stellt, laut Winfried Wehle, eine Belastungsprobe für die Beziehung von Leser und Werk dar (vgl. Wehle, Winfried: Französischer Roman der Gegenwart. Erzählstruktur und Wirklichkeit im Nouveau Roman, Berlin: Schmidt, 1972, S.235.). 396 Wie aus dieser Frustration eine ästhetische Erfahrung gewonnen werden kann, behandelt das Kapitel 3.4.2.
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folglich nicht in der Summe der wahrgenommenen Objekte auf, sondern besitzt einen Mehrwert in der Kognition; ihre Funktion besteht nicht in der Abbildung der Wirklichkeit im Bewusstsein des Subjekts, sondern in deren produktiver Bewältigung. Auch bei der Lektüre spielt die kognitive Partizipation eine wesentliche Rolle: Während der Rezipient seine Augen von einer Zeile zur nächsten wandern lässt, verarbeitet er Informationen, generiert Wissen, lernt, memoriert, bildet Assoziationen, bewertet das Gelesene und reagiert darauf. Jegliche Form von Verstehen wird erst möglich, wenn er sein kulturelles, sprachliches und literarisches Wissen sowie seine Verarbeitungstechniken auf den Text anwendet und daraus eine ganzheitliche Romanerfahrung resultiert.397 Die Lektüre von Romanen ist somit kein punktueller Prozess, der sich lediglich an der Stelle abspielen würde, die das Auge aktuell erfasst, sondern sie besteht in der gleichzeitigen Aktivierung und Interaktion von Text, Erinnerung und Erwartung im Bewusstsein des Rezipienten.398 Welche Partizipationserlebnisse der Verarbeitung von Literatur entspringen und welche Prinzipien diesen zugrunde liegen, soll in diesem Kapitel zusammenfassend dargestellt und in einen literatur- und kognitionswissenschaftlichen Forschungszusammenhang eingeordnet werden. Der cognitive turn der Natur- und Geisteswissenschaften wird in den 60er Jahren von der post-behavioristischen Psychologie, der Linguistik und der Computerwissenschaft losgetreten; später trägt auch die Neurobiologie entscheidend zu seiner Untermauerung bei.399 In den Anfangsjahrzehnten greift die Kognitionswissenschaft verstärkt auf das Vokabular der Computation zurück: Das wahrnehmende Subjekt interagiere autonom und intentional mit seiner Umgebung, indem es gemäß seiner Kapazität Daten verarbeite.400 Da diese Sichtweise aber der Rolle von Situation und Körper wenig Rechnung trägt, ist die Rekurrenz auf die Prozessor-Metapher in den letzten Jahren zurückgetreten. Analog dazu haben sich die Grundlinien der Kognitionswissenschaft verschoben, so dass die Aufarbeitung der Wirklichkeit nun nicht mehr als invariabler, ahistorischer Prozess verstanden, sondern in ihrer Dynamik und Singularität zur Kenntnis genommen wird. Auch rückt sie in dem Moment, da sie in Verbindung mit dem Leib des Subjekts gedacht wird, ab vom rein Geistigen
397 Vgl. Wege, Sophia: Wahrnehmung, Wiederholung, Vertikalität. Zur Theorie und Praxis der Kognitiven Literaturwissenschaft, Bielefeld: Aisthesis, 2013, S.13. 398 Vgl. Pöppel, Ernst: „Klassifikation psychischer Phänomene auf neuropsychologischer Grundlage“, in: Jacobi, Peter (Hrsg.): Psychologie in der Neurologie, Berlin: Springer, 1989, S.10. 399 Vgl. Colm Hogan, Patrick: Cognitive Science, Literature and the Arts. A Guide for Humanists, London: Routledge, 2003, S.29. 400 Vgl. Frensch, Peter: „Kognition“, in: Funke, Joachim/Frensch, Peter (Hrsg.): Handbuch der Allgemeinen Psychologie – Kognition, Göttingen: Hogrefe, 2006, S.24.
226 | E RLESENE ERLEBNISSE und nähert sich dem Emotionalen.401 Mit der Entuniversalisierung und dem embodiment integriert die Kognitionswissenschaft eine performative Komponente in ihr Grundkonzept, wodurch sie für die Erforschung der Beteiligung an Romanen interessant wird. Der Frage nach dem Ablauf der Verarbeitung von Texten widmet sich als erste Disziplin die Linguistik, hierunter vor allem der Fachzweig der ‚kognitiven Semantik‘, der seit Mitte der 70er Jahre versucht, den Zusammenhang zwischen Welterfahrung, Konzeptbildung und Versprachlichung zu ergründen. Ausgangspunkt ist auch hier die Idee, dass zwischen Text und Verstehen kognitive Konstruktionsvorgänge liegen. Schließlich erinnert man sich nach der Rezeption einer sprachlichen Mitteilung häufig nur noch an deren Bedeutung, jedoch nicht an ihren exakten Wortlaut. Etwas muss also zwischen dem physikalischen Satz und seiner Interpretation liegen und das eine in das andere überführen.402 Unabdingliche Voraussetzung für das Erfassen von Sinn sei – so die Argumentation der kognitiven Semantik in Anlehnung an Ludwig Wittgenstein – die Vertrautheit der Sprecher und Hörer mit den Verwendungsregeln und -kontexten von Äußerungen, also mit einem Wissen, das die Worte selbst nicht enthalten und mit dessen Hilfe die Einordnung des Gehörten in Schemata und die Erschließung von Sinn möglich wird.403 Insgesamt ist die Kognition also ein interaktives Konzept, das einerseits text-, andererseits erfahrungsgeleitet ist. Auf diese Doppelstruktur stützt sich auch Walter Kintsch in seinem ‚Konstruktions-Integrationsmodell‘ zum Textverstehen. Die Phase der Konstruktion diene der Herstellung einer internen Repräsentation der gelesenen Information mit Hilfe von Vorwissen, die Phase der Integration dem Herunterbrechen dieser Vorstellung auf den aktuellen Kontext.404 Zunächst gelte es die sprachlichen Informationen in Bilder zu verwandeln, assoziative Konnexionen im semantischen Netzwerk herzustellen, Schlüsse zu ziehen und die Verbindungsstärke zwischen den einzelnen Knoten des Wissensnetzes abzuklären. Danach würden die vordergründigen Elemente der Textbasis selektiert, so dass sich ein kohärenter Gesamteindruck ergebe.405 Die Linguistik hat in Anlehnung an dieses Grundmodell Strukturen der Sprachverarbeitung
401 Vgl. Gallagher, Shaun: How the Body Shapes the Mind, New York: Oxford University Press, 2005, S.30. 402 Vgl. Anderson, John: Kognitive Psychologie, Berlin: Spektrum, 2007, S.169. 403 Vgl. Blank, Andreas: Einführung in die lexikalische Semantik für Romanisten, Tübingen: Niemeyer, 2001, S.37. 404 Vgl. Kintsch, Walter: „Meaning in Context“, in: Landauer, Thomas/Mc Namara, Danielle (Hrsg.): Handbook of Latent Semantic Analisis, London: Routledge, 2007, S.98f. 405 Vgl. Beyer, Reinhard/Gerlach, Rebekka: Sprache und Denken, Berlin: Springer, 2011, S.61.
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profiliert. Dabei orientiert sie sich ebenfalls an der Gestaltpsychologie, die bereits 70 Jahre zuvor die menschliche Wahrnehmung als Ordnungsprozess beschrieben hat. Das Textverstehen vollziehe sich auf Basis folgender Prinzipien:406 •
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Similaritätsprinzip: Der Leser gruppiert ähnliche Inhalte, Äußerungen oder Wörter zueinander und grenzt sie von divergenten Enunziaten ab. Auf diese Weise verwandelt sich der Text in ein Wissensnetz mit unterschiedlichen Bedeutungsbereichen. Figur-Grund-Prinzip: In einem komplexen Zusammenhang werden die prägnantesten Elemente zuerst wahrgenommen, während die übrigen in den Hintergrund treten, woraus eine qualitative Strukturierung der Repräsentation resultiert. Beim Textverstehen erfasst der Rezipient als relevant, was sich in einen bereits bestehenden Bedeutungsknoten fügt oder was als herausragende Information sprachlich gekennzeichnet ist. Kontiguitätsprinzip: Benachbarte Äußerungen werden zu größeren Zusammenhängen gruppiert, da das Nebeneinander die Existenz einer logischen Verbindung erwarten lässt. Bei der Textrezeption werden Wörter zu Sätzen gebündelt, Sätze zu Abschnitten etc. Simplifikationsprinzip: Komplexe Szenarien werden in kleinere, verständlichere Einheiten zerlegt. Der Leser behält folglich nicht jedes Wort eines Texts, sondern lediglich die Schemata, in die er eine Passage eingeordnet hat. Bei der Reaktivierung des Gelesenen, greift er auf diese zurück, während ihm der Text nicht mehr präsent ist.
Die Übertragung der Ideen der kognitiven Semantik auf die Literaturwissenschaft und ihr Ausbau erfolgen durch die Cognitive Poetics. Sie sind im Laufe der 80er und 90er Jahre zu einem unentbehrlichen Bestandteil vor allem der nordamerikanischen Forschungslandschaft avanciert, wohingegen auf dem europäischen Festland eine ernstzunehmende Beschäftigung mit dem Forschungsbereich erst in den letzten fünfzehn Jahren zu verzeichnen ist.407 Die Lektüre sei, so der Grundgedanke, kein unidirektionaler Informationstransfer auf den Rezipienten, zumal sie vom diesem unablässig Entscheidungen zur Aneignung des Texts erfordere.408 Folglich könne sich die Forschung nicht ausschließlich auf das Werk konzentrieren, sondern müsse
406 Im Folgenden nach: Blank, Andreas: Einführung in die lexikalische Semantik für Romanisten, Tübingen: Niemeyer, 2001, S.43f. 407 Vgl. Hogan, Patrick Colm: Cognitive Science, Literature and the Arts. A Guide for Humanists, London: Routledge, 2003, S.9. 408 Vgl. Herman, David: „Introduction“, in: Herman, David (Hrsg.): Narrative Theory and the Cognitive Sciences, Stanford: CSLI, 2003, S.13.
228 | E RLESENE ERLEBNISSE den Beitrag des Lesers mitberücksichtigen. So erteilt Peter Stockwell in Cognitive Poetics textimmanenten Methoden eine klare Absage: Any approach to a literary text that insists on pure formalism, restricting itself to syntax and semantics and the words themselves on the page, is doomed to failure. The sorts of conclusions that a narrow structuralist linguistic analysis can reach are in general of little interest to the literary critic. The meaning of a literary work can be found in the minds of readers, configured there partly from readerly processes and individual experiences, and only partly from the cues offered by the elements of the text object.409
Ziel der Literaturwissenschaft müsse es sein, Einblicke in die Verarbeitungsprozesse zu gewinnen, die Rezipienten bei der Lektüre vornehmen. Ihr Mithandeln am Werk und nicht die Einwirkung der Texte auf sie müsse ihr Gegenstand sein.410 Die Verarbeitung eines narrativen Texts schließlich erfolgt in mehreren Phasen. Zunächst prüft der Rezipient das Gelesene auf Kohärenz und misst seiner mentalen Repräsentation der Romanwelt Sinn zu, wobei er sich bemüht, etwaige Verständnislücken durch Inferenz zu schließen.411 Anschließend stellt er eine plausible Version der Geschichte her, indem er die neue Information mit bereits Gelesenem und im Gedächtnis gespeicherten Strukturen verbindet. Gestaltet sich dies unmöglich, so muss er bereits Systematisiertes reaktivieren und versuchen, durch Überarbeitung einen Sinnzusammenhang zu generieren.412 Je komplexer ein Text erscheint, desto schwerer fällt dies und desto mehr Zeit muss dafür aufgewendet werden.413 Ergebnis der Kombination von Text und Rezipientenwissen ist das ‚mentale Modell‘.414
409 Stockwell, Peter: Cognitive Poetics. An Introduction, London: Routledge, 2002, S.91. 410 Vgl. Tsur, Reuven: Poetic Rhythm. Structure and Performance. Empirical Study in Cognitive Poetics, Bern: Peter Lang, 1998, S.356. 411 Bis zu einem gewissen Maße kann der Rezipient hierbei gewiss wählen, wie stark er sein Weltwissen in den Lektüreprozess einbringt, ob er also eher oberflächlich liest oder in die Tiefe geht. 412 Vgl. Christmann, Ursula/Groeben, Norbert: „Psychologie des Lesens“, in: Franzmann, Bodo/Hasemann, Klaus/Löffler, Dietrich/Schön, Erich (Hrsg.): Handbuch Lesen, Baltmannsweiler: Schneider, 2006, S.165. 413 Vgl. Kintsch, Walter/Dijk, Teun van: „Toward a Model of Text Comprehension and Production“, in: Psychological Review, 85.5 (1978), S.372. 414 Die Theorie des mentalen Modells ist freilich nicht belegbar. Dennoch handelt es sich um die derzeit operabelste und pausibelste Möglichkeit, „das Zusammenspiel mehrerer Komponenten des Textverstehens unter Berücksichtigung der kognitiven Flexibilitäten des Rezipienten angemessen zu modellieren“ (Christmann, Ursula/Groeben, Norbert:
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Schließlich besteht die Lektüre nicht in der linearen Aneinanderreihung von Bedeutungseinheiten, sondern regt die Vorstellungsbildung an, wobei ein analoges, ganzheitliches und anschauliches Korrelat der Romanwelt und ihrer Akteure im Bewusstsein des Rezipienten generiert wird.415 Wie diese Bildung von Repräsentationen erfolgt, soll am Beispiel der Figuren verdeutlicht werden: Heißt es über einen Protagonisten, er sei traurig, dann nimmt der Leser dies nicht als rein propositionale Information zur Kenntnis, sondern er fügt dieses Element der bereits bestehenden Vorstellung der Figur bei. Wie selbstverständlich fasst er die Hauptfigur als reale Person mit einer komplexen Psyche und spezifischen Intentionen auf, so dass die Traurigkeit nicht nur ein Faktum ist, sondern innerhalb eines bestimmen Handlungsrahmens Plausibilität erlangt. Verhält sich die Figur auf unverständliche Weise, so testet der Rezipient im Geiste verschiedene mögliche Gemütszustände zur Erklärung ihres Verhaltens.416 Zur kurzen Exemplifizierung soll hier Emile Zolas L’œuvre dienen, genauer gesagt die Episode, als Christine Claude Lantier nach der Anfertigung des Aktgemäldes zum ersten Mal besucht.417 Zunächst brennt die junge Frau auf das Wiedersehen mit dem jungen Maler, zumal sie sich in ihn verliebt hat. Als sie dann aber im Atelier steht, entschließt sie sich binnen weniger Sekunden ohne offensichtlichen Anlass wieder zum Aufbruch. Dieser Widerspruch aktiviert den Leser kognitiv; er sucht nach einem Grund für Christines Sinneswandel, indem er sich imaginär an ihre Stelle setzt. Als Auslöser ihres Unwohlseins lässt sich schnell das Gemälde ausmachen, da ihre Stimmung in dem Moment, als sie es sieht, umschlägt. Auf Basis seiner Welterfahrung schreibt der Rezipient Christine hiervon ausgehend nun mentale Operationen zu: Die Inkohärenz löst sich schließlich auf, sobald die Eifersucht auf die Reproduktion ihrer selbst die plötzliche Verhaltensänderung einsichtig macht.418 Körperliche Voraussetzung einer solchen empathischen Nachvollzugs sind die Spiegelneurone: Sie ermöglichen die Simulation fremder und
„Psychologie des Lesens“, in: Franzmann, Bodo/Hasemann, Klaus/Löffler, Dietrich/Schön, Erich (Hrsg.): Handbuch Lesen, Baltmannsweiler: Schneider, 2006, S.172.). 415 Vgl. Zunshine, Lisa: Why we read Fiction. Theory of Mind and the Novel, Columbus: Ohio State University Press, 2006, S.25. 416 Vgl. ebd., S.15f. 417 Vgl. Zola, Émile: L’œuvre, Paris: Bernouard, 1928, S.95f. 418 An diesem Beispiel lässt sich die Grenze zwischen emotionaler und kognitiver Beteiligung erneut verdeutlichen: Über die Simulation von Emotionen mittels empathischer Fähigkeiten wird man sich einer Figurenemotion zwar bewusst und man versteht sie. Das muss allerdings nicht heißen, dass man sie auch empfindet: Inkohärenzen fungieren als Indices für Emotionen, aber sie übertragen sie nicht zwangsweise auf den Leser.
230 | E RLESENE ERLEBNISSE fiktiver Gemütszustände, veranlassen die Herstellung eines Skripts für die Romansituation und gestatten dadurch Verstehen.419 Ebenso wie mit den Figuren verhält es sich mit den restlichen Romanbestandteilen, etwa dem Chronotopos, der Handlung oder dem Erzählverhalten: Bei der Lektüre bildet sich in Rückgriff auf kulturelle Kodes räumlichen Wissens und in Abgleich mit den Ortsangaben, Ortsnamen, Ortsbeschreibungen, Lokaladverbialen und Tempora des Texts eine Repräsentation des Schauplatzes in der Vorstellung des Rezipienten (mental space).420 Auch die Handlung ist im Bewusstsein des Rezipienten so repräsentiert. Entsteht dabei an irgendeiner Stelle ein Widerspruch, so ist es am Leser, diesen in seiner Vorstellung zu korrigieren, indem er Leerstellen ergänzt, Diskontinuitäten chronologisch ordnet, Widersprüche in Einklang bringt, Irrelevantes selektiert und Unglaubwürdiges ersetzt.421 Die Vermittlungsinstanz kann im mentalen Modell mehr oder weniger stark präsent sein. Nichtdestotrotz werden auch ihr Verhalten, ihre Gedanken und Gefühle dort eingeordnet, als handle es sich um eine reale Person. Die kognitive Erfassung von Romanen lässt sich nach den Wahrnehmungsprinzipien klassifizieren, die die Linguistik vorschlägt. In einigen Punkten bedarf die Einteilung allerdings der Ergänzung und Systematisierung hinsichtlich der Erlebnispotenziale, so dass die Spezifität der Kognition an literarischen Texten stärker in den Vordergrund rückt. 3.2.5.1 Schemaabgleich Das Similaritäts- und Simplifikationsprinzip finden in der Idee des Schemaabgleichs Anwendung auf die Literatur. Das Ziel der Lektüre bestehe, so Peter Stockwell, in der Kontrolle des Werks. Hierfür vergleiche der Rezipient das Gelesene mit seiner Erfahrung: Komme ihm irgendein Element bekannt vor, so verarbeite er dieses nicht aufwändig, sondern verkürze den Verstehensprozess, indem er auf abgespeicherte Muster rekurriere.422 Solche Schemata bestehen aus kulturellem Wissen über Realität und Literatur, sie integrieren sowohl Konzepte als auch ihre
419 Vgl. Wübben, Yvonne: „Lesen als Mentalisieren? Neue kognitionswissenschaftliche Ansätze in der Leseforschung“, in: Huber, Martin/Winko, Simone (Hrsg.): Literatur und Kognition. Bestandsaufnahmen und Perspektiven eines Arbeitsfeldes, Paderborn: Mentis, 2009, S.34. 420 Vgl. Stockwell, Peter: Cognitive Poetics. An Introduction, London: Routledge, 2002, S.97. 421 Vgl. Colm Hogan, Patrick: Cognitive Science, Literature and the Arts. A Guide for Humanists, London: Routledge, 2003, S.116. 422 Vgl. Stockwell, Peter: Cognitive Poetics. An Introduction, London: Routledge, 2002, S.113.
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Relationen zueinander und sind hierarchisch organisiert.423 Die Anwendung von Schemata kann für alle Ebenen des literarischen Texts relevant sein: Einzelne Formulierungen, Ideen, Motive, Handlungsmuster, Erzähltechniken oder mikrostrukturelle Eigenheiten können eine bedeutungsstrukturierende Funktion annehmen, sofern sie als prototypisch wiedererkannt werden.424 Differenzierungsmöglichkeiten bestehen überdies in Bezug auf die Verfügbarkeit des Schemas. Je häufiger es aktiviert wird, desto präsenter ist es dem Rezipienten und desto wahrscheinlicher greift er darauf zurück.425 Doch die Schemata und Skripts, die der Rezipient auf den Roman anwendet, stammen nicht nur aus seiner kulturellen und literarischen Erfahrung; sie können sich auch am aktuell gelesenen Text ausbilden. Je häufiger ein bestimmtes Wort, eine Äußerung, ein Figurenmerkmal, Figurenverhalten, Erzählstil oder Handlungsmuster) in einem Roman auftaucht und bewusst wahrgenommen wird, desto wahrscheinlicher manifestiert sich diesbezüglich eine Erwartung. Die Verbindung etwa einer Figur mit einer Verhaltensweise, eines Erzählers mit einer Fokalisierung, eines Orts mit einer Handlung etc. kann so lange aufgegriffen werden, bis sie sich automatisiert; ein Partizipationsmechanismus mag dermaßen dominant werden, dass der Leser seinen Ablauf erlernt und von nun an voraussetzt. Je stärker ein Element zur Gewohnheit wird und sich zum Schema verfestigt, desto geringer ist auch die kognitive Energie, die zum Verstehen einer Passage vonnöten ist.426 Darüber hinaus ist die Bereitschaft zum Abruf der bei der Lektüre generierten Schemata höher als etwa bei Weltwissen: Da diese aktueller sind, sind sie aktiver und kommen dem Rezipienten deshalb bei der Einordnung von neu Gelesenem schneller in den Sinn.427 In den in diesem Kapitel durchgeführten Analysen hat sich die Schemaanwendung mehrfach als Motor des Romanerlebens erwiesen. Die retentionale Aktivität erklärt sich größtenteils über sie, da die Bildung eines Gesamtverständnisses wesentlich auf der Einordnung der Einzelinformationen mittels Kontextwissen basiert. Indem der Rezipient das Gelesene in Deutungsrahmen fügt, reichert er es nicht nur mit Zusatzinformationen an, sondern besetzt es gleichzeitig emotional und norma-
423 Vgl. Christmann, Ursula: „Textverstehen“, in: Funke, Joachim/Frensch, Peter (Hrsg.): Handwörterbuch Allgemeine Psychologie. Kognition, Göttingen: Hogrefe, 2006, S.616. 424 Vgl. Mailloux, Steven: Interpretive Conventions. The Reader in the Study of American Fiction, Ithaca: Cornell University Press, 1982, S.136. 425 Schemer, Christian: „Priming, Framing, Stereotype“, in: Schweiger, Wolfgang/Fahr, Andreas (Hrsg.): Handbuch Medienwirkungsforschung, Berlin: Springer, 2013, S.155. 426 Vgl. Anderson, John: Kognitive Psychologie, Berlin: Spektrum, 2007, S.122. 427 Vgl. ebd., S.221.
232 | E RLESENE ERLEBNISSE tiv, so dass es bedeutungsstiftend wird. Offenbart hat sich in diesem Kontext außerdem, dass gesellschaftliche und literarische Schemata in einem hierarchischen Verhältnis stehen: Geraten sie in Konflikt, so gilt das Wissen über Literatur vor der Lebenserfahrung. Insofern vermag die Fiktion dem Leser Erfahrungen zu bescheren, die im Alltag unmöglich wären.428 Aber auch im Kontext protentionaler Aktivitäten spielen Rahmungsprozesse eine zentrale Rolle: Stimmen Romanbestandteile weitgehend mit der Erfahrung des Lesers überein, so verläuft auch die Erwartungsbildung problemlos. Stereotypien bieten Orientierung für die Prognosenherstellung und vermitteln dem Rezipienten Sicherheit bezüglich seines Umgangs mit dem Roman. Eine unkomplizierte Schemaanwendung hält die kognitive Aktivität des Lesers gering, so dass er seine Aufmerksamkeit verstärkt auf das Abschätzen des künftigen Handlungsverlaufs richten kann. Besondere Erlebnisse für den Rezipienten mögen hingegen der Problematisierung der Ordnungsprozesse entspringen: •
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suspense: Indem sie ob des ungewissen Ausgangs einer Situation die Möglichkeiten der Erwartungsbildung verdoppelt, verkompliziert sie die Schemaanwendung und erfordert daher vom Rezipienten eine erhöhte kognitive Anstrengung, die sich in Form von Angespanntheit manifestiert. mystery: Aufgrund eines Informationsdefizits sind die Rahmungsprozesse nur eingeschränkt durchführbar und das Gesamtverständnis bleibt aus, was eine Erhöhung der Verarbeitungsaktivität zum Ausgleich dieses Hemmnisses zur Folge hat. Diese gestiegene Anstrengung kann dem Leser als Neugier zu Bewusstsein kommen. Über- und Unterforderung: Überforderung kann aus der Verkomplizierung der Schemafindung resultieren. Ist ein Text inkohärent, agrammatisch oder unlogisch aufgebaut, so sind die Bedingungen für die Rahmung erschwert. Verläuft die Schemaanwendung andererseits allzu problemlos, so ist der Eindruck der Unterforderung möglich, wenn jene sich mit Repetitivität und Unmittelbarkeit paart. Unmittelbarkeit: Die Retention geht der Protention zeitlich voraus: Zunächst muss der Leser eine allgemeine Einschätzung des Romans entwickeln, bevor er sich der Erwartungsbildung widmen kann. Wird das Verständnis momentan gestört, so kann keiner der beiden Prozesse erfolgreich ablaufen, so dass eine Konzentration der Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Lektüremoment erfolgen kann. Wenn diese kognitive Umorientierung mit dem in-medias-res-
428 Vgl. Fludernik, Monika: „Natural Narratology and Cognitive Parameters“, in: Herman, David (Hrsg.): Narrative Theory and the Cognitive Sciences, Stanford: CSLI, 2003, S.256.
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Effekt429 und dem face-to-face-Effekt430 verknüpft ist, mag der Rezipient den Eindruck der unmittelbaren Bindung an das aktuell Gelesene gewinnen. Überraschung: Sie entsteht aus dem plötzlichen Umschwenken von Pro- zu Retention, über eine unverhoffte Verkomplizierung der Ordnung des Texts, die an Verfahren der Unmittelbarkeit gekoppelt wird.
3.2.5.2 Reliefgebung Eine Adaptation des Figur-Grund-Prinzips für die Literatur stellt das Konzept des foregrounding, also der Klassifizierung der Informationen nach dem Kriterium der Relevanz, dar. Der Rezipient nehme, so Jean-Michel Adam in Le texte narratif Romane nicht als lineare und homogene Struktur wahr, sondern profiliere sie, indem er einzelne Elemente selektiere, zusammengruppiere und ihnen Bedeutungen zuweise. Dadurch entstehe ein Wissensnetz mit qualitativen Variationen.431 Vordergründigen Elementen schenke der Leser besondere Aufmerksamkeit, er speichere sie dauerhaft im Gedächtnis und bilde ausgehend von ihnen Erwartungshaltungen; hintergründige Textbestandteile dienten der Kontextualisierung, sie wirkten als dégré-zéro-Folie, vor der sich die relevanten abspielten.432 Beim foregrounding handelt es sich um einen Prozess, der in erster Linie über Oppositionen gesteuert ist. Bereits in der alltäglichen Perzeption werden Objekte, Vorgänge oder Personen nicht isoliert, sondern in ihrer Umgebung und ihrem Zusammenhang wahrgenommen. Ebenso sind bei der Romanlektüre Vorder- und Hintergründiges stets aufeinander bezogen: Relevant erscheint ein Element nur, wenn es sich von einem bestimmten Hintergrund abhebt. Diese Distinktion kann zum einen über die Quantität der Erzähleraufmerksamkeit, zum anderen aber auch über die Qualität der gelieferten Informationen, also ihr emotionales Beteiligungspotenzial, begünstigt werden.433 Das foregrounding hat Auswirkungen auf die Merkfä-
429 Der ‚in-medias-res-Effekt‘ kann entstehen, indem unbekannte Elemente als bekannt inszeniert werden, d.h. durch postzedenten Pronomengebrauch, durch Pronominalisierung und Definitsetzung noch nicht eingeführter Elemente, durch eine hohe Informationsdichte etc. 430 Der ‚face-to-face-Effekt‘ beschreibt die Tatsache, dass der Leser der Illusion erliegt, dem Erzählten direkt gegenüberzustehen. Diesen Eindruck mögen Deiktika, direkte Ansprachen, Fragen an ein nicht definiertes Du, das Präsens als Erzähltempus etc. begünstigen. 431 Vgl. Adam, Jean-Michel: Le texte narratif, Paris: Nathan, 1994, S.173. 432 Vgl. Stockwell, Peter: Cognitive Poetics. An Introduction, London: Routledge, 2002, S.15. 433 Dass das involvement, also der Eindruck der Wichtigkeit des Rezipierten, mit der emotionalen Intensität steigt, unterstreichen auch medienwissenschaftliche Ergebnisse (vgl.
234 | E RLESENE ERLEBNISSE higkeit des Lesers: Hat dieser einen Abschnitt als vordergründig empfunden, so erinnert er sich mit größerer Wahrscheinlichkeit an ihn sowie an die mit ihm verknüpfte Gefühlsqualität und ruft sie unvermittelter wieder auf.434 Folgende Tabelle liefert einen Überblick über die Merkmalspaare, über deren Opposition die Reliefbildung in narrativen Texten häufig erfolgt: Tabelle 6: Möglichkeiten der Markierung von Vorder- und Hintergründigkeit Makrostruktur
Diskursstruktur
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Ein-/Mehrdimensionalität eines Charakters Statik/Dynamik einer Figur Isolation/Opposition zu andern Figuren (kein) Handlungsträger
• Quantität der Aufmerksamkeit der Vermittlungsinstanz • Qualität der Aufmerksamkeit der Vermittlungsinstanz • hetero-/homodiegetische Erzählung • externe/Null-/interne Fokalisierung • direkte/indirekte Redewiedergabe • erzählte/erlebte Rede/innerer Monolog • Ordnung der Informationen • elliptische/szenische Darstellung • geraffte/szenische Darstellung • metaliterarische Verfahren/Wahrung der diegetischen Illusion
Mikrostruktur
• • • •
showing/telling erzählende/besprechende Tempora435 Un-/Markiertheit durch Stilmittel sprachliche Inszenierung als Thema/Rhema436
Klimmt, Christoph/Hartmann, Tilo/Vorderer, Peter: „Macht der Neuen Medien? ‚Überwältigung‘ und kritische Rezeptionshaltung in virtuellen Medienumgebungen“, in: Publizistik, 4 (Dezember 2005), S.434f.). 434 Rummer, Ralf/Engelkamp, Johannes: „Sprache und Emotion“, in: Otto, Jürgen/Euler, Harald/Mandl, Heinz (Hrsg.): Emotionspsychologie. Ein Handbuch, Weinheim: Psychologie Verlags Union, 2000, S.322. 435 Erklären lässt sich dies über die stärkere Unmittelbarkeit der besprechenden Tempora: Sie finden eher in Situationen der Oralität und Nähesprachlichkeit Verwendung, während erzählende Tempora hauptsächlich mit Literalität in Verbindung gebracht werden. 436 Rhematischen Elementen kommt, da sie unbekannt sind, meistens die größere Relevanz zu. Sie befinden sich mit größerer Wahrscheinlichkeit am Ende des Satzes als zu Beginn und tendieren zum indefiniten Artikel. Bekannte und somit unwichtige Elemente
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Den genannten Romanbestandteilen ist die Fähigkeit zur Kennzeichnung von Hinter- und Vordergründigkeit nicht inhärent, sondern sie haben sie im Laufe der Literaturgeschichte erworben. Dadurch, dass diejenigen Faktoren, die hier als vordergründig bezeichnet werden, häufig in Kontexten starker emotionaler Beteiligung Verwendung finden und die hintergründigen in Situationen mit niedrigem Erlebniswert, hat eine Konventionalisierung des Gebrauchs stattgefunden. Das bedeutet allerdings nicht, dass in der literarischen Praxis Relevanz nicht auch auf andere Weise angezeigt werden könnte: Verwendet ein Roman die üblichen Kodes, so fällt dem Leser die Reliefgebung leicht und er kann die hierarchische Struktur der Diegese problemlos erfassen; greift er nicht auf sie zurück oder unterlässt er jegliche Modulierung, so ist eine kognitive Mehrarbeit des Lesers zur Ordnung des Romans vonnöten. Dieser steigenden Anstrengung bei Missachtung der Gepflogenheiten des foregroundings kann ein Plus an Erlebnisqualität entspringen. Ist beispielsweise der Protagonist eines Romans zunächst als sekundär markiert (etwa indem ihm wenig Erzähleraufmerksamkeit zukommt und er als eindimensionaler Charakter auftritt) und entpuppt er sich dann plötzlich als Handlungsträger, so leitet dies die Erwartung des Lesers zugunsten eines Überraschungseffekts fehl. Im Gegenzug kann aus der Akzentuierung bedeutungsloser Elemente als vordergründig (etwa indem der Beschreibung des Chronotopos viel Aufmerksamkeit geschenkt oder indem ein nebensächliches Gespräch in direkter Rede wiedergegeben wird) eine realisierende Wirkung folgen. Die Analysen dieses Kapitels haben veranschaulicht, dass die Reliefgebung für eine ganze Reihe von Erlebnissen konstitutiv ist: •
•
•
mystery: Neugier auf die Lösung eines Rätsels kann der Leser entwickeln, wenn ihm das Vorhandensein eines Informationsdefizits und gleichzeitig die Relevanz dessen Ausgleichs vermittelt werden. Über-/Unterforderung: Wie der Rezipient den Schwierigkeitsgrad der Verarbeitung einschätzt, variiert mit der Relevanz der vorgeführten Informationen: Entsteht der Eindruck, die Äußerungen des Erzählers oder der Figuren seien unwichtig, so kann dies dem Gesamteindruck der Langeweile zuträglich sein; verdichten sich jedoch zahlreiche als entscheidend markierte Elemente auf geringem Raum, so kann das eine bereits bestehende Überforderung intensivieren. Überraschung: Die antizyklische Einführung eines Ereignisses kann über das foregrounding unterstrichen werden. Ist eine Information zunächst als nachgeordnet inszeniert und erweist sie sich dann plötzlich als bedeutend, so erfordert dies vom Leser eine Umstrukturierung seines mentalen Modells der Romanwelt.
werden hingegen häufig pronominalisiert (vgl. Rossi, Jean-Pierre: Psychologie de la compréhension du langage, Brüssel: De Boeck, 2009, S.122.).
236 | E RLESENE ERLEBNISSE Auf diese Weise wird er auf die aktuelle Lesesituation fokussiert und kann sich der Erwartungsbildung und dem Gesamtverständnis weniger widmen. 3.2.5.3 Kontiguitätsphänomene Das Wahrnehmungsprinzip der Kontiguität betrifft die Verschmelzung beisammenstehender oder gleichartiger Elemente: Zwei mentale Räume werden so miteinander vermischt, dass ein dritter entsteht, der die Charakteristika beider trägt.437 Die Palette an Möglichkeiten hierfür ist breit, sie reicht von der Kombination einzelner Laute und Wörter über die Fusion semantischer Gehalte bis hin zur Verflechtung ganzer Passagen oder Werke. Gilles Fauconnier und Mark Turner gehen so weit, das blending als universelle kognitive Fähigkeit zu betrachten, die für die mentale Konstruktion eines Romans unabdinglich ist.438 Eine Struktur, die zwei Begriffe miteinander verquickt, ist beispielsweise die Metapher. Unabhängig davon, wie weit diese im Wissensnetz des Lesers voneinander entfernt sind und ob zwischen ihnen bereits assoziative Verbindungen bestehen, werden sie in der metaphorischen Äußerung zusammengeführt und in Interaktion gebracht. Im Moment der Realisierung von „les guêpes fleurissent vert“439 etwa werden die Wespen und ihr grünes Blühen eins, auch wenn diese Wortkombination im alltagssprachlichen Gebrauch unwahrscheinlich ist. Durch ihr Potenzial, zwei Gegenstände und ihre Eigenschaften wegen ihrer Kontiguität im mentalen Modell zusammenzubringen, kommt der Metapher eine entscheidende Rolle in Verstehensprozessen zu, so dass Patrick Colm Hogan formuliert: „Metaphor is not only a matter of thought, thought is matter of metaphor.“440 Indem die Metapher eine zuvor inexistente Verbindung herstellt, hat sie eine „aufschließende Ordnungsfunktion“441, das heißt einerseits strukturiert sie den Text, andererseits ermöglicht sie eine bislang unbekannte Form der Bezugnahme auf die Realität. Doch nicht nur die lokale Nähe, auch die Ähnlichkeit zweier Wörter kann die Herstellung einer gedanklichen Verbindung zwischen ihnen bewirken. Greifen wir noch einmal Roman Jakobsons Beispiel vom ‚ekligen Erik‘ aus Linguistik und Poe-
437 Vgl. Tsur, Reuven: Towards a Theory of Cognitive Poetics, Brighton: Sussex Academic Press, 2008, S.116. 438 Vgl. Fauconnier, Gilles/Turner, Mark: The Way We Think. Conceptual Blending and the Mind’s Hidden Complexities, New York: Basic Books, 2002, S.40.). 439 Éluard, Paul: „L’amour, la poésie“, in: Ders.: Œuvres complètes (Bd.1), Paris: Gallimard, 1968, S.232. 440 Colm Hogan, Patrick: Cognitive Science, Literature and the Arts. A Guide for Humanists, London: Routledge, 2003, S.96. 441 Köller, Wilhelm: Perspektivität und Sprache. Zur Struktur von Objektivierungsformen in Bildern im Denken und in der Sprache, Berlin: de Gruyter, 2004, S.606.
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tik auf: Im Kapitel zur emotionalen Beteiligung wurde bereits angesprochen, dass die Erlebniswerte der beiden Lexeme ‚eklig‘ und ‚Erik‘ aufgrund ihres ähnlichen Aussehens aufeinander abfärben. Eine unabdingliche Voraussetzung für die Interaktion der Worte ist aber, dass der Leser sie als zusammengehörig erkennt. Die optische und klangliche Gleichartigkeit muss kognitive Zuordnungsprozesse provozieren. Da solche Similaritätsbeziehungen in der Literatur besonders ausgeprägt sind, lässt sich konstatieren, dass das Wahrnehmungsprinzip der Kontiguität entscheidend dafür verantwortlich ist, dass literarische Texte eine stärkere Partizipation erlauben als etwa Gebrauchstexte. Als Beispiel für die semantische Gruppierung gleichartiger Elemente kann angeführt werden, dass zwei Figuren als Paar wahrgenommen werden oder eine Verbindung von Figur und Ort zu bestehen scheint, weil diese gleichklingende Namen tragen oder weil sie stets nebeneinander genannt werden: Ihre gemeinsamen Auftritte oder ihre Ähnlichkeit lassen sie als Wahrnehmungseinheit zutage treten. Für die diskursive Gestaltung von Romanen arbeitet Marcus Hartner heraus, dass auch die unterschiedlichen Figurenperspektiven innerhalb eines Romans in der Vorstellung des Rezipienten miteinander interagieren, so dass sich wechselnde Fokalisierungen im Lektüreeindruck der Multiperspektivität niederschlagen.442 Auf einer noch globaleren Ebene zeigt sich, dass die Einschätzung der Handlungsstruktur und des Erlebniswerts einer Romansituation von derjenigen beeinflusst ist, die der aktuell gelesenen Passage vorausgeht. Durch die spatiotemporale Nähe ergibt sich eine Art Ansteckung: Wird dem Leser beispielsweise bei einem Krimi die oberste Priorität der Auflösung des Verbrechens vermittelt, so wird er mystery nicht nur in Passagen aufrecht erhalten, die diese explizit befördern, sondern auch in den daran angrenzenden Szenen. Es dauert eine Weile, bis dieser von Spannung auf Entspannung umschaltet, weil er von der Gleichartigkeit aufeinanderfolgender Abschnitte aufgrund ihrer räumlichen Nähe ausgeht.443 In Übereinstimmung gebracht werden können Romanelemente nicht nur aufgrund lokaler, sondern auch aufgrund assoziativer Nähe – ein Prozess, der in den Kommunikationswissenschaften als ‚priming‘ bezeichnet wird.444 So werden bei-
442 Vgl. Hartner, Marcus: Perspektivische Interaktion im Roman. Kognition, Rezeption, Interpretation, Berlin: de Gruyter, 2012, S.290. 443 Diese Beobachtung entspricht der Idee der selective exposure: Aufgrund der Begrenztheit der menschlichen Wahrnehmung würden bei der Kommunikation Informationen privilegiert, die der Haltung des Subjekts entsprächen, während abweichende gemieden würden (vgl. Zillmann, Dolf/Bryant, Jennings: Selective Exposure to Communication, Hillsdale: Erlbaum, 1985, S.19.). 444 ‚Priming‘ bezeichnet die Tatsache, dass die Aktivierung eines bestimmten Wissensknotens sich auf die umliegenden Elemente auswirkt, so dass ein emotionale oder kognitive
238 | E RLESENE ERLEBNISSE spielsweise Atmosphäre und Figurenaffekte, da sie in literarischen Texten häufig bezüglich ihrer emotionalen Qualität korrelieren, quasi automatisch als zusammengehörig erfahren. Weil sie im mentalen Modell des Lesers nah beinander stehen, werden sie bei der Rezeption zueinander gruppiert. Das gleiche gilt für die assoziativen Verbindungen, die sich erst während der Lektüre bilden: Durch die Wiederholung eines Erlebnismusters wird Nähe zu vorherigen Szenen aufgebaut und dadurch die Überschaubarkeit und Verständlichkeit des Romans begünstigt.445 Eine Sonderform der assoziativen Kontiguität stellt die Intertextualität dar: Fühlt sich der Leser etwa durch ein ähnliches Beteiligungsmuster an einen anderen Text erinnert, so rücken die beiden Werke in seinem Wissensnetz zusammen. Das ist dahingehend von Bedeutung, als diese Kongruenz das Verständnis und die Erwartungsbildung steuert. Der Leser wird für den aktuellen Roman ein ähnliches Gesamturteil und einen ähnlichen Fortgang annehmen wie für den intertextuell aktivierten.446 Der Rezipient verlässt sich bei der Lektüre auf das Kontiguitätsprinzip. Besondere Erlebnisse können wiederum der Enttäuschung dieser Erwartung entspringen: •
•
Werden zwei Elemente aufgrund ihrer lokalen oder assoziativen Nähe oder ihrer Ähnlichkeit als zusammengehörig markiert, die sich im Anschluss aber als verbindungslos erweisen, so kann dies zur Überforderung führen. Als Beispiel hierfür kann die kühne Metapher dienen: Da sie eine Brücke zwischen Elementen schlägt, die in der Erfahrung des Lesers isoliert sind, ist eine erhöhte kognitive Anstrengung erforderlich, um die beiden in Beziehung zu bringen. Darüber hinaus kann die Nichtbeachtung der Kontiguität Ausgangspunkt für Überraschung sein. Wenn zwei Elemente zu korrelieren scheinen und sich diese Verbindung dann als fehlerhaft erweist, kann dies eine desorientierend wirken.
Ansteckung stattfindet (vgl. Jo, Eunkyung/Berkowitz, Leonhard: „A Priming Effect Analysis of Media Influences. An Update“, in: Zillmann, Dolf/Bryant, Jennings: Media Effects. Advances in Theory and Research, Mahwah: Erlbaum, 1994, S.55f.). 445 Das Wiederaufrufen bereits erlesener Erlebnisse befördert beim Rezipienten den Eindruck einer kontrollierten und distanzierten Beobachtung der Romansituation, während der erstmalige Nachvollzug Unmittelbarkeit evoziert (vgl. Cupchik, Gerald/Oatley, Keith/Vorderer, Peter: „Emotional Effects of Reading Excerpts from Short Stories by James Joyce“, in: Poetics, 25 (1998), S.374. 446 Ausgeschlossen ist natürlich auch der umgekehrte Einfluss nicht, dass auch die zweite Lektüre auf die erste zurückwirkt und mit etwas zeitlichem Abstand beide miteinander in der Erinnerung verschmelzen. Hierauf weist Mark Turner hin: „We connect two stories that should be kept absolutely apart, and we then blend them to make a third story“ (Turner, Mark: „Double-scope Stories“, in: Herman, David (Hrsg.): Narrative Theory and the cognitive Sciences, Stanford: CSLI, 2003, S.119.).
F ORMEN DER P ARTIZIPATION AN NARRATIVEN T EXTEN
| 239
3.2.5.4 Zusammenfassung Die kognitive Partizipation umfasst Prozesse des Verstehens und der Erwartungsbildung, die sich aus der Interaktion von Text und Leser ergeben. Diese beruhen auf historisch gewachsenen und wandelbaren Konventionen der Perzeption. Die kognitive Beteiligung ist ein performativer Vorgang, zumal sich das Bild, das sich der Rezipient von der Handlung, den Figuren oder dem Erzähler macht, mit den aufgenommenen Informationen verändert. Eine Übersicht über die Beteiligungsmöglichkeiten im Kontext der kognitiven Wahrnehmung liefert folgende Tabelle: Tabelle 7: Erlebnisse im Kontext der kognitiven Beteiligung Protention
Retention
• Frustration bei Proble-
• mystery durch Verkomp-
Similaritätsprinzip
men der Einordnung
lizierung der Schema-
(Schemaanwendung)
der Romanerlebnisse in
Simplifikationsprinzip/
anwendung
makrostrukturelle,
• Überforderung durch die
intertextuelle oder
Verkomplizierung der
emotionale Rahmen
Schemaanwendung
• suspense durch Ver-
• Unterforderung durch
dopplung und damit
die Vereinfachung der
Verkomplizierung der Schemaanwendung
Schemaanwendung
• Unmittelbarkeit durch die Verkomplizierung der Schemaanwendung
Überraschung durch die Bewegung von einer problemlosen zu einer erschwerten Schemaanwendung Figur-Grund-Prinzip (foregrounding)
• Frustration bei erfolg-
• mystery bei Markierung
losem, unlogischem
eines fehlenden Ele-
oder widersprüchlichem foregrounding
ments als vordergründig
• Überforderung bei der Häufung relevanter Informationen
• Unterforderung bei der Häufung irrelevanter Informationen
• Unmittelbarkeit bei Verkomplizierung der Reliefgebung Überraschung durch ‚Falschmarkierung‘ der Relevanz
240 | E RLESENE ERLEBNISSE Kontiguitätsprinzip
Frustration bei erfolgloser
Überforderung bei der Ver-
Verbindungsherstellung
bindung logisch nicht zusammengehöriger Elemente
Überraschung beim antizyklischem Einsatz des Kontiguitätsprinzips
Die hier vorgestellten Wahrnehmungsprinzipien und die aus ihnen resultierenden Erlebnisse sind in den seltensten Fällen so klar abgrenzbar, wie die vorliegende Klassifikation suggerieren mag. Sie stehen aus heuristischen Gründen zwar getrennt, doch bei der Rezeption stützen oder blockieren sie einander: Erkennt ein Rezipient mehrere Elemente nicht als zusammengehörig und kann er deshalb die Diegese nicht qualitativ strukturieren, so werden auch die Rahmungsprozesse scheitern; umgekehrt ist eine erfolgreiche Schematisierung Voraussetzung für die Reliefgebung. Insofern müssen die einzelnen Wahrnehmungsprinzipien als vernetzt betrachtet werden, ihre Wirkung entfaltet sich erst in ihrem Zusammenspiel und ist nur im ganzheitlichen Erlebnis spürbar. Zuletzt sei noch einmal erwähnt, dass mit den kognitiven Beteiligungsmöglichkeiten keine rein geistige Verarbeitung von Datenmaterial gemeint ist, sondern dass diese die Emotion als konstitutiven Bestandteil integrieren. Es wurde aufgezeigt, dass die Einordnung der Informationen in Verständnisrahmen über emotionale Kanäle erfolgt, dass die Vordergründigkeit direkt mit der emotionalen Intensität korreliert und dass auch Kontiguitätsbeziehungen über Erlebnisparallelen hergestellt werden. Darüber hinaus hat sich ergeben, dass emotionale Beteiligung häufig die Resultate der kognitiven Partizipation akzentuiert und verstärkt. Insofern bestehen zwischen Emotion und Kognition vielfältige Überschneidungszonen.
F ORMEN DER P ARTIZIPATION AN NARRATIVEN T EXTEN
| 241
3.3 E VALUATIVE B ETEILIGUNGSMÖGLICHKEITEN Je soutiens que le roman de Madame Bovary, envisagé au point de vue philosophique, n’est point moral. Sans doute madame [sic] Bovary meurt empoisonnée; elle a beaucoup souffert, c’est vrai; mais elle meurt à son heure et à son jour, mais elle meurt, non parce qu’elle est adultère, mais parce qu’elle l’a voulu; elle meurt dans tout le prestige de sa jeunesse et de sa beauté; elle meurt après avoir eu deux amants, laissant un mari qui l’aime, qui l’adore, qui trouvera le portrait de Rodolphe, qui trouvera ses lettres et celles de Léon, qui lira les lettres d’une femme deux fois adultère, et qui, après cela, l’aimera encore davantage au-delà du tombeau. Qui peut condamner cette femme dans le livre? Personne. Telle est la conclusion. Il n’y a pas dans le livre un personnage qui puisse la condamner. Si vous y trouvez un personnage sage, si vous y trouvez un seul principe en vertu duquel l’adultère soit stigmatisé, j’ai tort. Donc, si, dans tout le livre, il n’y a pas un personnage qui puisse lui faire courber la tête, s’il n’y a pas une idée, une ligne en vertu de laquelle l’adultère soit flétri, c’est moi qui ai raison, le livre est immoral.447
Mit diesen Worten plädiert der Staatsanwalt am 24. Januar 1857 für die Schuldigkeit Gustave Flauberts, der wegen Verstoßes gegen die Moral, die guten Sitten und die Religion auf der Anklagebank sitzt. Aus seiner rhetorisch stark aufgeladenen Rede spricht die Empörung, die Madame Bovary auch bei hunderten von Lesern der Revue de Paris hervorgerufen hat. Denn der Roman polarisiert nicht nur den Gerichtssaal: Das große Interesse, mit dem die Öffentlichkeit den Prozess verfolgt,448 beweist, dass die Beurteilung von Emmas Verhalten auch für das breite Publikum eine Streitfrage darstellt. Die Polemik um die Vertretbarkeit des Themas ‚Ehebruch‘ im Roman, geht mit einer wertmäßigen Stellungnahme zu Emmas Verhalten Hand in Hand. Über die Kundgabe ihrer Meinung treten die Rezipienten mit der Protagonistin in Interaktion und verwischen die Grenze zwischen Fiktion und Realität ähnlich wie die Werther-Leser der ersten Stunde. Auf diese Weise machen sie eine Form des Mithandelns sichtbar, die sich normalerweise nicht äußerlich manifestiert: die evaluative Partizipation. Leser registrieren die Handlung nicht einfach, ihre Leistung besteht nicht nur im präsentischen Miterleben und Verstehen, sondern auch in der Verortung gegenüber dem Roman, in seinem Abgleich mit den eigenen Wertmaßstäben.
447 Ohne Verfasser: „Procès intenté à M. Gustave Flaubert devant le tribunal correctionnel de Paris (6e Chambre) sous la présidence de M. Dubarle, audiences des 31 janvier et 7 février 1857. Réquisitoire et jugement“, in: Bibliothèque électronique de Lisieux (19.02.2014). 448 Vgl. Leclerc, Yvan: Crimes écrits. La littérature en procès au XIXe siècle, Paris: Plon, 1991, S.138.
242 | E RLESENE ERLEBNISSE Doch zurück zu Mme Bovary: Im Verfahren werden gegen Flaubert im Wesentlichen zwei Vorwürfe erhoben. Der erste Anklagepunkt bezieht sich auf das Figurenverhalten: Indem sie ihren Mann betrüge, sei Emma ein schlechtes Vorbild für die jungen Mädchen der französischen Gesellschaft; der zweite richtet sich an den Autor: Er habe nicht nur einen Normbruch dargestellt, sondern zusätzlich versäumt, diesen durch den Erzähler oder eine andere Figur eindeutig verurteilen zu lassen. Da beispielsweise die Szene nach Emmas Ehebruch in erlebter Rede stehe, bliebe das anstößige Verhalten unkommentiert.449 Aus dieser Doppelung der Anschuldigungen lässt sich ableiten, dass die evaluative Partizipation an narrativen Texten zwei Brennpunkte besitzt: die Haltung des Lesers zu den Figuren und ihren Handlungen einerseits sowie zu den Evaluationen, die der Erzähler oder die Mitfiguren vornehmen, andererseits. Ausgehend von diesen Überlegungen untersucht das vorliegende Kapitel das Potenzial narrativer Texte, den Leser evaluativ zu beteiligen, wobei es sowohl die Prinzipien der Bewertung der Handlung, der Figuren oder des Erzählers und die unterschiedlichen Formen als auch die Positionierung zu existierenden Bewertungen beleuchtet. 3.3.1 Vorüberlegungen zur Struktur und Qualität der Bewertung Im gesellschaftlichen Alltag ist Wertung ein Prozess, mittels dessen sich die Individuen einer Gruppe ihrer gemeinsamen kulturellen Normen versichern. Diejenigen Handlungen, Äußerungen oder Gedanken, die dem internalisierten Wertesystem entsprechen, werden von der Umgebung positiv bewertet, während ein Verstoß dagegen ein negatives Urteil hervorruft. Wohlwollen bzw. Ablehnung stellen eine Art soziale Belohnungs- oder Bestrafungshandlung dar, die das Verhalten der Mitglieder einer Gesellschaft korrektiv lenkt und deren Identität perpetuiert.450 Die Wertung besteht dabei jedoch nicht in der bloßen Etikettierung eines Zustands gemäß eines vorgegebener Prinzipien, sondern ist ein situativ variabler Aushandlungsprozess, mittels dessen das Selbstbild des Evaluierenden und des Evaluierten beständig konstruiert und revidiert wird.451
449 Ohne Verfasser: „Procès intenté à M. Gustave Flaubert devant le tribunal correctionnel de Paris (6e Chambre) sous la présidence de M. Dubarle, audiences des 31 janvier et 7 février 1857. Réquisitoire et jugement“, in: Bibliothèque électronique de Lisieux (19.02.2014). 450 Vgl. Opp, Karl Dieter: Die Entstehung sozialer Normen. Ein Integrationsversuch soziologischer, sozialpsychologischer und ökonomischer Erklärungen, Tübingen: Mohr, 1983, S.10. 451 Vgl. Mead, George Herbert: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt: Suhrkamp, 1968, S.243.
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Beim Lesen sind diese Wertungsprozesse nicht einfach abgeschaltet. Die Tatsache, dass der Rezipient das Romangeschehen in seiner Vorstellung wie ein wirkliches Ereignis erlebt, impliziert auch dessen Verbindung mit seinen moralischen Grundsätzen. Er distanziert sich von fragwürdigen Figuren, Situationen und Erzählern und bestärkt solche, die mit seinen Erwartungen korrespondieren, indem er ihnen gegenüber eine entsprechende Haltung einnimmt. Bei der Lektüre bezieht der Leser nicht zu einer Situation oder einem Verhalten Position, das ihm äußerlich wären. Dadurch, dass das Romangeschehen erst in seiner Vorstellung Realität erlangt und Emotionen erst durch ihn verwirklicht werden, ist er selbst Teil des Objekts, das er bewertet. Das Urteil über eine Figur ist somit gleichzeitig ein Urteil über ihn selbst. Aus diesem Umstand ergibt sich, dass der emotionalen Partizipation allein – wenngleich sie für evaluative Vorgänge eine tragende Rolle spielt – keine Bewertung entspringen kann. Der Rezipient muss sich, um eine evaluative Position zu beziehen, an etwas Fremdem reiben; er muss objektivieren, was er subjektiv erfährt, so dass die Bewertung als Interaktion zwischen seinen Emotionen und ihrer Vergegenständlichung, zwischen dem Erlebnis und der Konfrontation mit dem Erlebten aus der Außenperspektive gelten kann. Insofern wird ein Text oder eine Passage mit großem evaluativem Partizipationspotenzial ein Element enthalten, welches das emotionale Erleben stört und dadurch mit der Illusion der Präsenz bricht.452 Das trifft beispielsweise auf den Fall der Problematisierung der kognitiven Partizipation zu: Wenn die Verarbeitungsprozesse beeinträchtigt sind und der Leser Verständnisschwierigkeiten bekommt, zwingt ihn dies zur Reflexion. Diese Annahme bestätigt sich an den Analysen der vorherigen Kapitel: Im Ausschnitt von Au Bonheur des Dames beispielsweise konnten die Figuren in ihrer Faszination für das Kaufhaus auf den Rezipienten naiv wirken, wobei der Eindruck aus der Diskrepanz zwischen einem eher neutralen Lektüreerlebnis und den gefühlsgeladenen Reaktionen der Figuren resultierte. Die Inkohärenz der beiden Wirklichkeitsversionen führte wohl zu einer Deautomatisierung der Texterfassung und provozierte die Bewertung. Ähnlich verhielt es sich für die Passage aus La Regenta, die Don Fermín beschrieb. Auch hier war es ein Wider-
452 Kognitivistische Theorien der Bewertung betonen, dass jede Emotion eine Evaluation integriere und insofern eine Form von Kognition sei. Sie halten das Gefühl in seiner phänomenologischen Dimension für unvollständig und sprechen erst von Emotion, wenn diesem das reflexive Element der Bewertung beigegeben ist (vgl. Roseman, Ira/Smith, Craig: „Appraisal Theory. Overview, Assumptions, Varieties, Controversies“, in: Scherer, Klaus/Shorr, Angela/Johnstone, Tom (Hrsg.): Appraisal Processes in Emotion. Theory, Methods, Research, Canary: Oxford University Press, 2001, S.5.). Hier hingegen wird mit ‚Emotion‘ das Erleben verstanden, das in Kombination mit einer kognitiven Operation eine Evaluation auslösen kann.
244 | E RLESENE ERLEBNISSE spruch – der zwischen den zwei Gesichtern des Priesters –, der den Leser eine distanzierte, skeptische Perspektive einnehmen ließ. Die Unvereinbarkeit der beiden Versionen war der Grund für eine wertmäßige Positionierung. Nicht zuletzt knüpfte sich auch die mitleidige Haltung, die L’occupation hervorrufen mochte, an eine Inkohärenz. Der Kontrast zwischen der beschriebenen Erfahrung der Eifersucht durch die Figur und der erlebten Emotionslosigkeit erforderte eine Entscheidung des Lesers zwischen den beiden Versionen, die nur mittels einer Bewertung getroffen werden konnte. Insofern scheint sich festhalten zu lassen, dass das präsentische Erleben in eine Werthaltung übergeht, wenn sich eine Distanzierung über eine kognitive Herausforderung zu ihr gesellt: In einem Oszillieren zwischen Erleben und Verarbeiten konstituiert sich die evaluative Beteiligung. Diese Überlegungen werden von kognitionswissenschaftlichen Ergebnissen gestützt. Joshua Greene streicht in „The Cognitive Neuroscience of Moral Judgment“ heraus, die Forschung sei, nachdem sie lange Zeit entweder Emotionen oder Kognitionen für Werturteile als konstitutiv erachtet habe, jüngst zu der Synthese übergegangen, eine Interaktion von beiden als Grundlage für Evaluationen anzunehmen (dual-process theory).453 Im Folgenden soll mittels dieser Basis ergründet werden, wovon die Qualität von Bewertungen abhängt und wie sich die evaluativen Lektüreerlebnisse klassifizieren lassen. 3.3.2 Dimensionen und Ablauf der Bewertung In den Literaturwissenschaften erfahren Wertungsprozesse bislang schwerpunktmäßig unter den Lemmata ‚Empathie‘, ‚Sympathie‘ oder ‚Identifikation’ Zuwendung – Begriffe, die aus der Psychologie importiert werden.454 Dieser Übernahme liegt die
453 Vgl. Greene, Joshua: „The Cognitive Neuroscience of Moral Judgment“, in: Gazzaniga, Michael (Hrsg.): The Cognitive Neurosciences (Bd.4), Cambridge: MIT Press, 2009, S.991. 454 Der Einfluss dieser Begriffe auf die Literaturwissenschaft ist kein kürzliches Phänomen, sondern lässt sich bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts ausmachen. Verstärkt hat sich die Rekurrenz auf sie im Kontext der Rezeptionsästhetik (z.B. Wellershoff, Dieter: „Identifikation und Distanz“, in: Weinrich, Harald (Hrsg.): Positionen der Negativität, München: Fink, 1975, S.549-551. Roloff, Volker: „Empathie und Distanz. Überlegungen zu einem Grenzproblem der Erzähl- und Leserforschung (am Beispiel von Sartres L’Idiot de la famille)“, in: Lämmert, Eberhard (Hrsg.): Erzählforschung. Ein Symposion, Stuttgart: Metzler, 1982, S. 270-289. Grimm, Jürgen: Unterhaltung zwischen Utopie und Alltag, Frankfurt: Lang, 1986. Oder: Beilfuss, Wilfried: Der literarische Rezeptionsprozess, Frankfurt: Lang, 1987.) und sie erleben mit dem gestiegenen Interesse für die Emotion in den letzten Jahren einen erneuten Aufschwung (beispielsweise: Anz, Thomas: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen, München: Dtv, 2002.
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| 245
Idee zugrunde, dass Szenarien, die in der Lebenswirklichkeit bestimmte Reaktionen hervorrufen, diese auch dann zu evozieren vermögen, wenn sie bei der Lektüre imaginiert werden. Ist ein Individuum in der Realität etwa von einem Mord geschockt und verurteilt ihn, so wird es dies auch sein, wenn es über einen liest, zumal die Reaktion in beiden Fällen von der gleichen moralischen Basis ausgeht.455 In Hinblick auf die Partizipationsidee sind viele dieser Publikationen allerdings nur eingeschränkt produktiv und zwar aus zwei Gründen: Erstens schöpfen sie das narratologische Potenzial häufig nicht aus. Gezeigt werden soll dies exemplarisch anhand Thomas Anz’ Ausführungen in „Kulturtechniken der Emotionalisierung“, wo es heißt: „Literarische Texte evozieren Mitleid, wenn Figuren, die Sympathieträger sind, ein Unglück erleiden oder sterben […] Literarische Texte evozieren Genugtuung, Erleichterung oder Freude, wenn Figuren, die sie zu Antipathieträger machen, ein Unglück zustößt oder diese sterben.“456 Prinzipien wie diese bilden gewissermaßen den kleinsten gemeinsamen Nenner der Rezipientenurteils und zeichnen sich durch ihre relativ flexible Anwendbarkeit auf literarische Texte aus. In dieser Offenheit liegt jedoch gleichzeitig eine gewisse Beliebigkeit: Wovon abhängt, ob der Leser eine Figur als sym- oder antipathisch wahrnimmt oder ob ihm ein diegetisches Ereignis als Unglück erscheint, muss für den konkreten Einzelfall jeweils erst geklärt werden, da unangesprochen bleibt, wie sich die Werthaltung des Rezipienten mit der Inszenierung in Verbindung bringen lässt. Stattdessen wird suggeriert, die Beteiligung ließe sich an inhaltlichen Kriterien festmachen. Hier soll deshalb mittels des Instrumentariums der kognitiven Literaturwissenschaft versucht werden, einen differenzierteren Zugang zur evaluativen Beteiligung zu erreichen, der die Spezifika und Potenziale der Positionierung zu narrativen Texten in den Blick nimmt. Zweitens beruhen viele der genannten Annäherungen auf einem binären Schema: Urteile können den Leser und die Figur ideologisch einander annähern oder voneinander trennen, sie können identifizierende oder distanzierende Funktion haben, Sympathie oder Antipathie hervorrufen. Betrachtet man allerdings das
Keen, Suzanne: Empathy and the novel, Oxford: University Press, 2007. Oder: Barthel, Verena: Empathie, Mitleid, Sympathie. Rezeptionslenkende Strukturen mittelalterlicher Texte in Bearbeitungen des Willehalm-Stoffs, Berlin: de Gruyter, 2008.). 455 Christmann, Ursula/Groeben, Norbert: „Psychologie des Lesens“, in: Franzmann, Bodo/Hasemann, Klaus/Löffler, Dietrich/Schön, Erich (Hrsg.): Handbuch Lesen, Baltmannsweiler: Schneider, 2006, S.170. 456 Anz, Thomas: „Kulturtechniken der Emotionalisierung. Beobachtungen, Reflexionen und
Vorschläge
zur
literaturwissenschaftlichen
Gefühlsforschung“,
in:
Eibl,
Karl/Mellmann, Katja/Zymner, Rüdiger (Hrsg.): Im Rücken der Kulturen, Paderborn: Mentis, 2007, S.232.
246 | E RLESENE ERLEBNISSE Spektrum an Emotionen, die eine evaluative Komponente integrieren, so wird klar, dass eine solche Einteilung reduktionistisch ist. Ob Angst, Mitleid, Ekel, Ironie, Bewunderung, Verachtung – Bewertung kann viele Gesichter annehmen und lässt sich folglich nur schwer in eine Oppositionsstruktur pressen. Deshalb soll an dieser Stelle versucht werden, eine differenziertere Klassifikation evaluativer Beteiligungsformen zu entwickeln, die der Vielschichtigkeit des Phänomens gerecht wird. Dies geschieht ausgehend von Hans Robert Jauß’ Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik – dem Text, der den Identifikationsboom in den Literaturwissenschaften gewissermaßen eingeläutet hat.457 Das Ziel der Monographie besteht in der theoretischen Aufarbeitung der ästhetischen Tätigkeit bei der Textproduktion und -rezeption. Hierbei wird der Umgang des Lesers mit dem Werk als eine Interaktion betrachtet, die zwei Dimensionen besitzt: die Erfahrung und Aufnahme des Romans einerseits und die Reflexion darüber andererseits. So heißt es: Ästhetische Erfahrung setzt nicht erst mit dem Erkennen und Auslegen der Bedeutung eines Werks ein, geschweige denn mit dem Rekonstruieren der Intention seines Verfassers. Die primäre Erfahrung eines Kunstwerks vollzieht sich in der Einstellung auf seine ästhetische Wirkung, im genießenden Verstehen und verstehenden Genießen.458
Mit dem letzterem beschäftigt sich Jauß als einer in der Literaturwissenschaft weitgehend vernachlässigten Kategorie in der Folge genauer. Unter dem Begriff ‚Identifikation‘ behandelt er seine unterschiedlichen Ausformungen: die assoziative, admirative, sympathetische, kathartische und ironische Tätigkeit: •
•
Die assoziative Identifikation meint die „Übernahme einer Rolle in der geschlossenen imaginären Welt“459. In ihr sei die Grenze von Werk und Rezipient aufgehoben, weil die Perspektive von Leser und Figur zur Deckung kämen. Die admirative und sympathetische Identifikation definiert Jauß als Gegensätze. Während sich erstere angesichts der Vollkommenheit eines Vorbilds ergebe, also angesichts der Einsicht, dass die Romanfigur einem selbst überlegen sei, be-
457 Vgl.
Allesch,
Christian:
„Identifikation“,
in:
Braungart,
Georg/Fricke,
Ha-
rald/Grubmüller, Klaus/Müller, Jan-Dirk/Vollhardt, Friedrich/Weimar, Klaus (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (Bd. 2), Berlin: de Gruyter, 2007, S.118. 458 Jauß, Hans Robert: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, München: Fink, 1977, S.9. 459 Ebd., S.260.
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•
•
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stehe zweitere in einer Orientierung nach unten: Eine Figur erzeuge Rührung und Mitleid, da sie schwächer sei als der Leser.460 Die kathartische Identifikation ist eine Einstellung, die den Rezipienten „in die Lage des leidenden oder bedrängten Helden versetzt, um durch tragische Erschütterung oder komische Entlastung eine Befreiung seines Gemüts herbeizuführen“461. Sie stelle sich in dem Moment ein, in dem der Zuschauer aus der Unmittelbarkeit des Erlebens heraustrete und über das Dargestellte reflektiere. Die ironische Identifikation letztlich ist als eine Rezeptionsform bestimmt, die dem Leser Identifikationsmöglichkeiten zwar vorzeichne, ihre Realisierung jedoch verweigere. Diese Störung der Romanillusion veranlasse den Rezipienten zur Reflexion.462
Diese Formen der Identifikation versteht Jauß nicht als Aufgehen im literarischen Text. Vielmehr bergen sie allesamt eine Komponente des unmittelbaren Erlebens und eine der reflexiven Distanz. Selbst die assoziative Identifikation erschöpft sich nicht im Präsentischen, sondern integriert ein Metamoment.463 Insofern kommt die Einteilung – auch wenn sie im Grunde auf die Text-Leser-Interaktion im Allgemeinen abzielt – dem nahe, was hier unter evaluativer Partizipation verstanden wird, zumal die Definition als präsentisches Erleben in Kombination mit einer Distanzierung auf sie zutrifft. Die Formen der Identifikation fallen aus der Perspektive dieser Arbeit unter ‚Bewertung‘, da sie eine Haltung des Lesers bezüglich einer Figur und ihres Handelns implizieren,464 und können somit als Basis für die zu entwickelnde
460 Vgl. ebd., S.271. 461 Ebd., S.277. 462 Vgl. ebd., S.283. 463 Jauß’ Verwendung des Identifikationsbegriffs für Beteiligungsmöglichkeiten, die Distanzierung beinhalten, ist teilweise etwas irreführend. Meist bezeichnet ‚Identifikation‘ das Aufgehen des Rezipienten in der Romanwelt, also das, was in dieser Arbeit als ‚emotionale Beteiligung‘ behandelt wurde. Doch selbst die ‚assoziative Identifikation‘ die in höchstem Maße eine Annäherung des Rezipienten an die Figur darstellt, entspricht dieser Definition nicht, sondern meint anscheinend, zumal Jauß das ihr innewohnende Distanzmoment unterstreicht, eher eine wohlwollende, beipflichtende Haltung des Lesers gegenüber einer Figur. Der Begriff ‚Identifikation‘ verwischt in diesem Kontext also die Grenzen zwischen Emotion und Evaluation – eine Entscheidung, die symptomatisch für den Versuch der Rezeptionsästhetik ist, den Rezipienten in ihr Konzept zu integrieren, aber gleichzeitig eine bedeutungszentrierte Herangehensweise beizubehalten. (siehe 2.1.2) 464 Jauß bezeichnet seine Identifikationsformen mit dem Oberbegriff der ‚ästhetischen Erfahrung‘. In dieser Arbeit wird diese Kategorie von der Bewertung dahingehend ge-
248 | E RLESENE ERLEBNISSE Klassifikation evaluativer Partizipationsformen dienen. Allerdings besteht hierbei in mancherlei Hinsicht Ergänzungsbedarf. Jauß geht hauptsächlich auf die positiven Formen der Bewertung ein, also auf den Fall, dass der Leser sich in Einklang mit der Figur fühlt; Dissonanzen integriert sein Konzept nur in Form von Ironie. Jedoch erfordert ein Abstandnehmen in der Romankommunikation nicht unbedingt einen Illusionsbruch; der Rezipient kann im Modus des Erlebens verhaftet bleiben und dennoch eine Abneigung gegenüber ausgewählten Figuren oder ihren Handlungen entwickeln. Die Einteilung sollte also um eine Kategorie der ‚dissoziativen Identifikation‘ oder ‚Distanzierung‘ erweitert werden, die auf einer gemeinsamen Achse mit der assoziativen zu verorten ist. Eine zweite Differenzierungsmöglichkeit besteht hinsichtlich der Ausweitung der Bewertung auf alle Konstituenten der Makrostruktur. Jauß beschränkt die Identifikation auf die Figuren, sie spielt sich stets als Interaktion zwischen Leser und Protagonist ab. Diese Perspektive klammert aus, dass sich eine evaluative Beziehung auch zum Erzähler, zur Handlung oder zum Chronotopos ausbilden kann. Es soll eine Integration dieser Komponenten in das Evaluationsmodell versucht werden. Vorgeschlagen wird hierfür ein polydimensionales Konzept: Jauß’ Einteilung behandelt die Übereinstimmung mit der Figur, Mitleid und Bewunderung sowie Ironie gleichberechtigt. Dabei handelt es sich jedoch um Elemente, die logisch nicht unbedingt auf der gleichen Stufe angesiedelt sind. So schließen etwa die dissoziative und die sympathetische Identifikation einander nicht aus: Man mag sehr wohl vom Verhalten einer Figur Abstand nehmen und gleichzeitig Mitleid für sie empfinden. Ein Beispiel hierfür liefert Emma Bovary, die man verurteilen, gleichzeitig aber empathisch begleiten kann. Ebenso wenig sind admirative und ironische Identifikation unvereinbar. Die Lektüre des Don Quijote beispielweise mag von einer Orientierung nach oben gekennzeichnet sein, da der Ritter von der traurigen Gestalt sehr wohl als bewundernswerter Held inszeniert ist. Die Tatsache, dass die Perspektive auf ihn eine ironische ist, tut dem keinen Abbruch. Nur weil beide Beteiligungstendenzen im Roman angelegt sind, konnte er im Lauf der Rezeptionsgeschichte mal als lächerlicher, mal als imponierender Protagonist verstanden werden. Die Beschreibung von Wertungsprozessen verlangt folglich eine Ausdifferenzierung, die die evaluative Partizipation auf mehreren Ebenen ansetzt. Eine Dimension der Bewertung ist die Frage nach der Qualität der Evaluation. Sie variiert mit dem Grad der Übereinstimmung des Lesers mit bzw. der Distanzie-
schieden, als evaluative Erlebnisse sich in Bezug auf Romanfiguren und -geschehnisse ausbilden und somit direkt an das Miterleben gebunden sind, während ästhetische Erfahrungen eine stärkere Distanzierung vom Text erfordern, indem sie in der Bewusstwerdung des Erlebnisses bestehen. Evaluative Partizipation kann in diesem Sinn die Grundlage einer ästhetischen Beteiligung sein, ist jedoch an sich von ihr verschieden.
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rung von einer Figur, ihrem Verhalten oder dem Erzähler. Dabei handelt es sich um keine binäre Opposition: Es existieren nicht nur die beiden Pole ‚Übereinstimmung‘ und ‚Distanzierung‘, sondern ein Kontinuum möglicher Abstufungen dazwischen. Unabhängig davon stellt sich die Frage nach der Richtung der Bewertung (nach oben oder nach unten). Je nachdem, ob etwa eine Distanzierung in admirativer, in mitleidsvoller oder despektierlicher Manier stattfindet, ändert sich deren Verfasstheit. Entscheidend hierfür ist der Wissensstand und Kompetenzgrad des Lesers innerhalb der Romanwelt. Eine dritte Kategorie bildet die Komponente der Illusionszuträglichkeit. Eine Bewertung kann sich etwa durch Ironie vom Erzählten entfernen und dadurch eine Deautomatisierung hinsichtlich der Diegese erzeugen oder dieses im ernsten Modus belassen. Wichtig erscheint viertens die Berücksichtigung der Dauer der Bewertung: Die evaluative Positionierung mag punktuell erforderlich sein oder sich über den gesamten Roman erstrecken und dabei beispielsweise eine Entwicklung durchmachen. Im ersten Fall wird sie weniger bewusst, da sie nur momentan Relevanz erfährt, im zweiten wird sie eventuell sogar als Herzstück des Partizipationsgeschehens empfunden. Fünftens ist eine Differenzierung hinsichtlich der Bewusstheit der Urteilsbildung erforderlich: Während die Bewertung von den Figuren, der Handlung oder des Chronotopos meist weitgehend unterschwellig abläuft, ist die des Erzählers häufig eine wissentliche Angelegenheit, zumal die Haltung zu ihm für die Deutung des Gelesenen entscheidend ist. Das Zusammenspiel dieser fünf Dimensionen, die im Folgenden im Detail untersucht werden, ergibt das je eigene Bild der Bewertung. Abbildung 7: Fünfachsiges Bewertungsmodell
Bewusstheit
Qualität
Dauer Bewertung
Modus
Richtung
250 | E RLESENE ERLEBNISSE 3.3.2.1 Qualität der Bewertung Der erste Ausschnitt, der Aufschluss über die Bewertung geben soll, stammt aus Albert Camus’ Le premier homme. Es handelt sich dabei um eine Szene, in welcher der kleine Jacques von seiner Großmutter gezwungen wird, der Schlachtung eines Huhns beizuwohnen, was sich für ihn als traumatische Erfahrung erweist. Die Analyse soll ergeben, wie sich bei dieser Szene eine Bewertung einstellt und wovon ihre Qualität abhängt. La grand-mère, heureuse d’avoir un petit-fils viril, l’invitait en récompense à assister dans la cuisine à l’égorgement du poulet. Elle était déjà ceinte d’un gros tablier bleu et, tenant toujours d’une main les pattes de la poule, disposait sur le sol une grande assiette creuse, en faïence blanche, en même temps que le long couteau de cuisine que l’oncle Ernest affilait régulièrement sur une pierre longue et noire, de telle sorte que la lame, rendue très étroite et effilée par l’usure, n’était plus qu’un fil brillant. „Mets-toi là.“ Jacques se plaçait à l’endroit indiqué, au fond de la cuisine, tandis que la grand-mère se plaçait dans l’entrée, bouchant la sortie à la poule comme à l’enfant. Les reins à l’évier, l’épaule gauche contre le mur, il regardait horrifié, les gestes précis du sacrificateur. La grand-mère poussait en effet l’assiette juste sous la lumière de la petite lampe à pétrole placée sur une table de bois, à gauche de l’entrée. Elle étendait la bête sur le sol et, mettant le genou droit à terre, coinçait les pattes de la poule, l’écrasait de ses mains pour l’empêcher de se débattre, pour lui saisir ensuite dans la main gauche la tête, qu’elle étirait en arrière au-dessus de l’assiette. Avec le couteau tranchant comme un rasoir, elle l’égorgeait ensuite lentement à la place où se trouve chez l’homme la pomme d’Adam, ouvrant la plaie en tordant la tête en même temps que le couteau entrait plus profondément dans les cartilages avec un bruit affreux, et maintenant la bête, parcourue de terribles soubresauts, immobile pendant que le sang coulait vermeil dans l’assiette blanche, Jacques le regardant, les jambes flageolantes, comme s’il s’agissait de son propre sang dont il se sentait vidé. „Prends l’assiette“, disait la grand-mère après un temps interminable. La bête ne saignait plus. Jacques déposait sur la table avec précaution l’assiette où le sang avait déjà foncé. La grand-mère jetait à côté de l’assiette la poule au plumage terni, à l’œil vitreux sur lequel descendait déjà la paupière ronde et plissé. Jacques regardait le corps immobile, les pattes aux doigts maintenant réunis et qui pendaient sans force, la crête ternie et flasque, la mort enfin, puis il partait dans la salle à manger.465
Die Schlachtung von Tieren ist im Allgemeinen nicht mit angenehmen Assoziationen verbunden, vielmehr stellt sie in vielen Kulturen ein Tabu dar. Auch dem Protagonisten scheint die Tötung des Huhns zuwider. Wenngleich der Erzähler seine Haltung nicht explizit thematisiert, so wird sie doch indirekt spürbar: Während Jacques Beschreibung enthält der Text Wörter mit negativen Konnotationen („Les
465 Camus, Albert: Le premier homme, Paris: Gallimard, 1994, S.253.
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reins à l’évier, l’épaule gauche contre le mur, il regardait horrifié, les gestes précis du sacrificateur“, Hvg. T.H.) und bisweilen ist auch die Deskription der Schlachthandlung pejorativ („le couteau entrait plus profondément dans les cartilages avec un bruit affreux“, „parcourue de terribles soubresauts“, Hvg. T.H.). Diesen unangenehmen Erlebniswert mag der Rezipient auch deshalb mit der Hauptfigur in Verbindung bringen, weil sie und das Huhn durch wiederholte Vergleiche parallelisiert und verblendet werden („bouchant la sortie à la poule comme à l’enfant“, „à la place où se trouve chez l’homme la pomme d’Adam“, „comme s’il s’agissait de son propre sang dont il se sentait vidé“). Ebenso können das Huhn und der Junge durch ihre gemeinsame Nennung in einem Satz sowie durch die Tatsache, dass ihnen teilweise die gleiche grammatikalische Funktion innerhalb desselben zukommt, als äquivalent erfahren werden. Unterstrichen wird ihre Schicksalsgemeinschaft zusätzlich über die Ikonizität des Tods des Tiers: Da davor und danach die Sätze relativ komplex sind, sorgt die plötzliche Kürze von „La bête ne saignait plus.“ für eine Derhythmisierung, die das Lebensende des Huhns und Jacques’ Schock vergegenwärtigen mag. Da er sie partiell an sich selbst erfährt, kann der Rezipient die Tötung des Tiers als negativ erfahren. Nun steht das Erlebnis des Lesers in Bezug auf den Jungen allerdings in eindeutigem Gegensatz zu dem Eindruck, den die Großmutter hinterlässt. Für sie scheint die Zeremonie ein eher lustvolles Ereignis darzustellen, wie der positive Emotionswert der Wörter, die ihre Darstellung begleiten, anzeigt („La grand-mère, heureuse d’avoir un petit-fils viril, l’invitait en récompense à assister dans la cuisine à l’égorgement du poulet.“, Hvg. T.H.). Darüber hinaus bewahrt sie während der gesamten Schlachtung Gleichmut („La grand-mère poussait en effet l’assiette […] elle l’égorgeait ensuite lentement à la place […]“), wobei der hypotaktische, komplexe Sprachstil den Eindruck der affektiven Kühle transportiert. Außerdem suggeriert das „ensuite“, dass sie die Schlachtung lediglich als chronologische Abfolge konventioneller Handlungsschritte bar jeglicher Emotionalität betrachtet. Diesen Eindruck festigt die Verwendung der wörtlichen Rede: Die seltenen, kurzen Imperative der Großmutter an Jacques dienen allein dem Appell und nicht der Versicherung gegenseitiger Empathie und fungieren somit als Beweis dafür, dass diese die Bestürzung ihres Enkels schlichtweg nicht wahrnimmt. Dies fügt sich in das Bild, das auch der übrige Roman von ihr zeichnet, wo sie herrschsüchtig und streng, als eine Art Ersatzvater auftritt.466 Insgesamt ist in Bezug auf die Hühnerschlachtung im Text also sowohl ein positives als auch ein negatives Erlebnis angelegt.
466 Vgl. Saint-Ygnan, Jean-Louis: Le premier homme ou Le chant profond d’Albert Camus, Nizza: Ovadia, 2010, S.91.
252 | E RLESENE ERLEBNISSE Diese Doppelung der Perspektiven setzt sich in der Diskursstruktur fort. Die Szene ist detailgetreu wiedergegeben; lange, hypotaktische Sätze spezifizieren die Aktionen der Großmutter en détail und erzeugen dabei eine hohe atmosphärische Dichte. Der Leser ist nah an die Handlung herangerückt und verfolgt sie Schritt für Schritt ohne Ellipsen. Die Konzentration auf die Tötung nimmt sogar im Laufe des Abschnitts noch zu: Während zu Beginn noch eine leichte Tendenz zur Digression spürbar ist und mit der Information zur Vorgehensweise Onkel Ernests beim Messerschleifen ein analeptisches Element eingeflochten wird, ist alles Spätere unmittelbar an die Gegenwärtigkeit des Geschehens geknüpft. Die gelieferten Daten werden nicht selektiert, sondern in der stets gleichen Geschwindigkeit und Ausführlichkeit registriert. Dem entspringt einerseits der Eindruck des Dokumentarischen: Die Handlung wird ohne Emotionen, aber dennoch detailliert aufgezeichnet, was der Erlebnisperspektive der Großmutter entspräche, die der Schlachtung zwar Bedeutung zuweist, ihr jedoch im Allgemeinen nüchtern gegenübersteht. Andererseits wirkt die kleinschrittige, unmodulierte Narration aber auch maschinell, da sie den Rezipienten zur Beobachtung zwingt und – will er die Lektüre nicht unterbrechen – jegliche Möglichkeit unterbindet, sich der Szene zu entziehen. So gesehen befindet sich der Leser in einer ähnlich ambivalenten Lage wie Jacques, da auch ihm durch die Großmutter eine Flucht verunmöglicht ist („bouchant la sortie à la poule comme à l’enfant“). Verstärkt wird dieser klaustrophobische Charakter der Situation durch die Typographie, denn das Fehlen von Zeilenumbrüchen während der Passage schafft ebenso wie die nicht enden wollenden Sätze einen monumentalen Textblock, der keinerlei Freiraum lässt. Bereits in visueller Hinsicht kann sich der Rezipient demnach in der Passage gefangen fühlen. Obwohl der negative Erlebniswert von Jacques’ Anteilen ihn die Vermeidung der Situation wünschen lassen, kann er diesem Impuls nicht folgen; auch er kann die Küche nicht verlassen.467 Die Inszenierung der gezeigten Passage ist widersprüchlich. Sie erfolgt einerseits aus der Perspektive der Großmutter, andererseits aus der Perspektive des Jungen; einerseits als neutrales, andererseits als unangenehmes Ereignis. Die sich daraus ergebende Inkohärenz kann für den Rezipienten einen – wenn auch geringen – Störfaktor bei der kognitiven Verarbeitung des Texts darstellen, schafft sie doch Unsicherheit, auf welcher Wertbasis er die Handlung in seiner Vorstellung realisie-
467 Winfried Menninghaus geht davon aus, dass das Muster des Ekels „die Erfahrung einer Nähe [ist], die nicht gewollt wird. Eine sich aufdrängenden Präsenz […] wird spontan als Kontamination bewertet und mit Gewalt distanziert“ (Menninghaus, Winfried: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt: Suhrkamp, 1999, S.7.). Im vorliegenden Abschnitt erzeugen Verfahren der Unmittelbarkeit eine starke Nähe des Lesers zum Geschehen. Da eine Distanzierung unmöglich ist, kann also ein Ekelgefühl entstehen.
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ren soll. Möchte er diese ausräumen, ist er gezwungen, sich für eine der beiden Perspektiven als die plausiblere zu entscheiden. Weil der Erlebnisfokus etwas stärker auf Jacques’ Sicht liegt als auf der der Großmutter, entwickelt er mit großer Wahrscheinlichkeit Sympathie für diesen und distanziert sich von jener. Die Bewertung der Hühnerschlachtung fällt folglich tendenziell negativ aus, weil ein dominant negatives Erlebnis mit einem reflexiven Moment korreliert. Fazit: Verdoppeln und widersprechen sich in einem Abschnitt die Möglichkeiten der emotionalen Beteiligung, so kann das eine Bewertung in Gang setzen, die in der Entscheidung des Lesers zwischen den zwei konfliktiven Erlebnisversionen besteht. In der Regel wird dieser für diejenige(n) Figur(en) oder Handlung(en) Partei ergreifen, die er bei der Lektüre über den Emotionswert des Lexikons und die Ikonizität positiv und dominant erlebt und sich von denen mit ungünstiger Erlebnisqualität distanzieren. 3.3.2.2 Exkurs: Das Geständnis Übereinstimmung und Distanzierung bilden die Pole eines Kontinuums; ein Sonderfall tritt ein, wenn sich ein Leser just in der Mitte zwischen diesen positionieren muss, so dass eine klare Parteinahme ausgeschlossen ist und eine Art Gewissenskonflikt entsteht. Eine Gattung, die diese Form der Partizipation zelebriert, ist das Geständnis: Die unmögliche Bewertung ist hier nicht nur eine vom Rezipienten geforderte Beteiligung, sondern gleichzeitig das zentrale Thema. Ein autodiegetischer Erzähler analysiert sein Verhalten, zu dem in der Regel eine gewisse lokale und temporale Distanz besteht, nach moralischen Standards. Er legt Handlungen und Entscheidungen dar, die zu einem Konflikt geführt haben, und reflektiert dabei seine Rolle und Schuld mit dem Ziel einer moralischen Positionsbestimmung. Dabei fungiert bereits die Erzähleridentität als Garant für die Unmöglichkeit, zu einem klaren Urteil zu gelangen, zumal die Spaltung zwischen erzählendem und erlebendem Ich, zwischen Innen- und Außensicht verhindert, dass das Subjekt mit sich eins wird und eine zweifelsfreie Entscheidung trifft.468 Abbildung 8: Die Struktur des Geständnisses Dilemma Identifikation
Distanzierung Positives Erlebnis
Negatives Erlebnis
468 Vgl. Kapp, Volker: „Von der Autobiographie zum Tagebuch“, in: Hahn, Alois/Kapp, Volker (Hrsg.): Selbstthematisierung und Selbstzeugnis. Bekenntnis und Geständnis, Frankfurt: Suhrkamp, 1987, S.305.
254 | E RLESENE ERLEBNISSE Als Beispiel für das Geständnis soll hier folgender Ausschnitt aus El río de la luna von José María Guelbenzu dienen, einem Autor, der die Introspektion und den Gewissenskonflikt zu seinen bevorzugten Themen zählt.469 Der Roman präsentiert die Erzählung der Lebensgeschichte des Protagonisten ausgehend von den Frauen, mit denen er eine Beziehung geführt hat. In der folgenden Passage gibt er das Bekenntnis ab, seine schwangere Ehefrau verlassen zu haben: He dejado a mi mujer, quiero decir, a mi esposa, lejos, atrás. Espera un hijo; está a punto de tener un hijo. Me siento como un miserable, un verdadero canalla. ¿Saben? Prefiero sentirme así que haber permanecido junto a ella. Es duro ser un miserable canalla, pero para mí es mucho peor, mucho más abominable, ser un estafador y eso es lo que sería si continuase a su lado. Me procupa el hijo, porque aún hoy sigue en pie aquella obsesión de Camus: es injusto que un niño sufra, o muera, creo que decía. Sí, en este caso es injusto que esté solo, quiero decir, que yo le haya abandonado; porque es inocente, es patéticamente inocente, pues incluso desconoce lo que le falta, no lo ha sentido, no me ha sentido. No sé.470
Der Protagonist hat mit seinem Verhalten eindeutig gegen moralische Grundsätze verstoßen und verurteilt sich deshalb zunächst selbst, wofür er Wörter mit pejorativem Erlebniswert verwendet („un miserable, un verdadero canalla“, „un miserable canalla“, Hvg. T.H.). Daraufhin aber relativiert er seine Handlung, indem er den Wert der Treue dem Grundsatz der Ehrlichkeit unterordnet. Die Selbstvorwürfe entkräftet er, indem er seinen aktuellen Zustand positiv belegt („prefiero sentirme así“, Hvg. T.H.) sowie den vorherigen abwertet („es mucho peor, mucho más abominable ser un estafador“, Hvg. T.H.). In der Frage nach den Folgen seiner Handlung für sein Kind wird das Negative des „es injusto que lo haya abandonado“ (Hvg. T.H.) dadurch aufgewogen, dass der zitierte Camus’sche Grundsatz mit einem unangenehmen Emotionswerts besetzt ist („obsesión“, „patéticamente inocente“) oder durch Abschwächungen („creo que decía“) seiner Allgemeingültigkeit partiell enthoben wird. Angesichts der Tatsache, dass sich das positive und negative Erlebnis in diesem Abschnitt die Waage halten, bleibt dem Rezipienten hinsichtlich der Bewertung nichts anderes übrig, als mit dem Protagonisten zu antworten: „No sé.“ Die Unmöglichkeit der Positionierung zum Gelesenen macht das moralische Dilemma des Ichs zu dem des Lesers. Dieser Aufschub der Wertungs-Entscheidung ist nicht nur eine inhaltliche Tatsache, sondern erreicht über das emotionale und kognitive Partizipationspotenzial
469 Vgl. Roche, Myriam: „Una apuesta por la literatura como introspección. La narrativa de José María Guelbenzu“, in: Garoza. Sociedad Española de Estudios Literarios de Cultura Popular, 6 (September 2006), S.156. 470 Guelbenzu, José María: El río de la luna, Madrid: Alianza, 1981, S.305.
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besondere Dramatik. Erstens schlägt er sich im Lektürerhythmus nieder und wird auf diese Weise sinnlich erfahrbar. So ikonisiert der zögerliche, von Korrekturen und Wiederholungen durchzogene Sprachstil („mi mujer, quiero decir, a mi esposa, lejos, atrás“, „Espera un hijo; está a punto de tener un hijo“) die Unentschlossenheit des Ichs. Zweitens erreicht die Schuldfrage einen hohen Grad an Vordergründigkeit, zumal ihr in der Passage ein großer Teil der Erzähleraufmerksamkeit gilt. Durch die Kombination des Eindrucks des Defizits mit dem der Relevanz kann eine mystery entstehen, die an die Lösung des Wertungsproblems gekoppelt ist, so dass der Rezipient eine besondere Motivation zur Klärung der Gewissensfrage entwickeln mag. Drittens wird der Beitrag des Lesers zur Klärung der Problematik dadurch hervorgehoben, dass ihn der Text zur Interaktion auffordert: Das Rückversicherungspartikel „¿Saben?“ sowie die Tempora des Besprechens schaffen Unmittelbarkeit und suggerieren die Verortung des Rezipienten in der gleichen Referenzsituation wie der Erzähler, wodurch ihm die Brisanz seiner Positionierung zum Geschehen vor Augen geführt wird. Da ihm der Text keine eindeutige Wertungsvorgabe liefert, eine Stellungnahme aber gleichwohl verlangt, muss er zur Lösung dieses Dilemmas auf seine persönliche Erfahrung zurückgreifen. Er mag die Situation verstärkt reflektieren und versuchen, durch die Schemaanwendung einen Ausweg aus der Inkohärenzsituation zu finden. Somit macht er sich selbst zu dem Richter, nach dem der Erzähler verlangt, da das Ringen der Figur um ihre Moral partiell zu seinem eigenen Gewissenskonflikt wird. Dies ist vor allem deshalb entscheidend, weil die komplexen Sachverhalte und Erklärungen der Figur im Roman nach und nach zu Fallstricken für die Bewertung werden. Der Leser trifft an Abzweigungen der Handlung die gleichen „falschen“ Entscheidungen wie der Protagonist. Indem ihn das Geständnis Schritt für Schritt in einen moralischen Zwiespalt hineinführt, unterbindet ein apodiktisches Urteil. Der Rezipient kann folglich aus dem Geständnis keine einfache Befriedigung ziehen, sondern erlebt vielmehr die Infragestellung seiner Wertungskompetenz. Insofern eignet sich diese Form der evaluativen Partizipation besonders dafür, beim Leser Sensibilität für im Alltagsleben negativ bewertete Themen zu wecken und seine Vorurteile am konkreten Einzelfall zu relativieren.471 Durch das Aufweichen seiner
471 Kommunikationswissenschaftliche Studien zur Persuasion bestätigen, dass Botschaften, die den Rezipienten mit einer zweiseitigen Argumentation konfrontieren, wirksamer sind als einseitige, wenn dieser für eine Haltung gewonnen werden soll (vgl. Allen, Mike: „Comparing the Persuasive Effectiveness of One- and Two-Sided Messages“, in: Allen, Mike/Preiss, Raymond (Hrsg.): Persuasion. Advances through Meta-Analysis, Cresskill: Hampton Press, 1998, S.91f.). Wenn ein Leser der Hauptfigur gegenüber voreingenommen ist, so wird ihn das Geständnis der ihm eigenen Ambivalenz mit größerer
256 | E RLESENE ERLEBNISSE moralischen Grundsätze kann selbst das Sitzenlassen der schwangeren Ehefrau verständlich und nachvollziehbar werden. Fazit: Das Geständnis stellt einen Ausnahmefall der evaluativen Beteiligung dar, der eintritt, wenn sich das positive und negative Erlebnis an einer Passage die Waage halten, so dass der Leser weder eine legitimierende noch eine ablehnende Haltung annehmen kann. Diese Dilemmasituation mag durch die Erzeugung von Spannung sowie Verfahren der Unmittelbarkeit zusätzlich an Brisanz gewinnen. 3.3.2.3 Dauer der Bewertung Die Schlachtung des Huhns in Le premier homme ist ein punktuelles Ereignis, das eine relativ eindeutige Bewertung nach sich zieht. Es existieren aber auch Romane, in denen sich die Positionierung des Lesers nicht auf eine konkrete Situation beschränkt, sondern während des gesamten Romans kontinuierlich neu verhandelt wird. Diese komplexe Form der evaluativen Partizipation erfordert beispielsweise die Lektüre von Claríns La Regenta. Die Hauptfigur Ana Ozores befindet sich in einem Gewissenskonflikt: Eigentlich langweilt sie sich mit ihrem Ehemann Don Victor und sehnt sich nach einem Abenteuer mit dem verführerischen Don Álvaro; andererseits verbieten ihr die moralischen Konventionen ihres Umfelds den außerehelichen Kontakt strengstens. Auch der Leser ist, da er Anas Perspektive miterlebt, immer wieder zwischen beiden Möglichkeiten hin und hergerissen: Wenn diese bei der Beichte ihren Wunsch nach Evasion aus der Ehe äußert, erntet sie dafür ausschließlich entsetzte Reaktionen und auch die Vehemenz ihrer Selbstverurteilung und -bestrafung macht die Verwerflichkeit ihrer ehebrecherischen Impulse spürbar, so dass eine eindeutige aversive Motivation mit der möglichen Transgression verknüpft ist. Doch dieses Erlebnis bleibt nicht konstant, denn bisweilen wird das romaneigene Schema ‚Ehebruch → atmosphärische Verdunklung‘ gerade nicht bedient. Wenn der Roman die Gedanken an andere Männer als positiv und erregend inszeniert, die Ehe mit Don Victor hingegen als negativ und unlustvoll, kann der Leser gerade den Wunsch nach dem Vollzug des Ehebruchs entwickeln. So braut sich – wie John Rutherford betont – insgesamt ein Konflikt zwischen Flucht und Annäherung zusammen.472 Wie sich dieser im Detail gestaltet, soll an folgendem Ausschnitt dargelegt werden, der Ana bei der körperlichen Annäherung an Don Álvaro zeigt: Don Victor gritó: – Ana ¡a bailar! Álvaro, cójala usted...
Wahrscheinlichkeit überzeugen als die Akkumulation bloß negativer oder positiver Daten. 472 Vgl. Rutherford, John: La Regenta y el lector cómplice, Murcia: Editum, 1988, S.96.
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No quería abdicar su dictadura al buen Quintanar: don Álvaro ofreció el brazo a la Regenta, que buscó valor para negarse y no lo encontró. Ana había olvidado casi la polka; Mesía la llevaba como en el aire, como en un rapto; sintió que aquel cuerpo macizo, ardiente, de curvas dulces, temblaba en sus brazos. Ana callaba, no veía, no oía, no hacía más que sentir un placer que parecía fuego; aquel gozo intenso, irresistible, la espantaba; se dejaba llevar como cuerpo muerto, como en una catástrofe, se le figuraba que dentro de ella se había roto algo, la virtud, la fe, la vergüenza; estaba perdida, pensaba vagamente... El presidente del Casino en tanto, acariciando con el deseo aquel tesoro de belleza material que tenía en los brazos, pensaba: „¡Es mía! ¡ese Magistral debe de ser un cobarde! Es mía... Este es el primer abrazo de que ha gozado esta pobre mujer.“ ¡Ay sí, era un abrazo disimulado, hipócrita, diplomático, pero un abrazo para Anita! – Qué sosos van Álvaro y Ana! – decía Obdulia a Ronzal, su pareja. En aquel instante Mesía notó que la cabeza de Ana caía sobre la limpia y tersa pechera que envidiaba Trabuco. Se detuvo el buen mozo, miró a la Regenta inclinando el rostro y vio que estaba desmayada. Tenía dos lágrimas en las mejillas pálidas, otras dos habían caído sobre la tela almidonada de la pechera. Alarma general. Se suspende el baile clandestino, don Victor se aturde, ruega a su esposa que vuelva en sí... se busca agua, esencias... llega Somoza, pulsa a la dama, pide... un coche.473
Die vorliegende Passage lässt sich in vier Teile gliedern: die Herstellung der Situation („Don Victor […] encontró“), Anas Beschreibung („Ana había olvivdado […] pensaba vagamente…“), Don Álvaros Beschreibung („El presidente […] para Anita!“) und die Auflösung der Begegnung („Qué sosos […] un coche“). Während Anas Passage ist der Tanz mit Don Àlvaro vorwiegend negativ besetzt: „Negarse“, „temblaba“, „rapto“, „espantaba“, „cuerpo muerto“, „catástrofe“, „roto“, „perdida“ vermitteln die Abneigung und Angst der Protagonistin. Einen Kontrast hierzu bilden Formulierungen wie „como en el aire“, „ardiente“, „dulce“, „placer“, „gozo“, „irresistible“, die ein genussvolles Erlebnis evozieren, dabei jedoch in der Unterzahl sind, so dass sich bis hierher ein Trend zur Aversion ausmachen lässt. Dieses Blatt wendet sich allerdings mit dem Lektürerhythmus, denn die Beschreibung des Tanzes ist so angelegt, dass der Rezipient sie als Erregungsanstieg Anas erfahren kann. Der Abschnitt erreicht im Vergleich zum vorherigen Text einen fließenden Rhythmus dadurch, dass viele Punkte durch Semikolons ersetzt sind und die Äußerungen syntaktisch parallel konstruiert werden; die Sätze sind tendenziell länger und enthalten Adjektivreihungen. Besonders extrem wird diese Beschleunigung im Abschnitt „Ana callaba, no veía, no oía […] estaba perdida, pensaba vagamente…“, wo sich die einzelnen Satzabschnitte durch ihre geringe Länge zu verdichten schei-
473 Clarín: La Regenta (Bd.2), Madrid: Cátedra, 2004, S.381f.
258 | E RLESENE ERLEBNISSE nen, Kommata immer häufiger Zäsuren setzen und den Eindruck der Kurzatmigkeit hervorrufen. Die klanglichen Wiederholungen (die Anapher „no veía, no oía, no hacía“; die Alliterationen „intenso, irresistible“, „como cuerpo muerto, como en una catástrofe“, „la virtud, la fe, la vergüenza“, „perdida, pensaba“) treiben die Geschwindigkeit des Satzes zusätzlich an. Die meist in Wortpaaren zusammengruppierten Textteile scheinen unter Druck ausgestoßen. Vor allem die Auslassungspunkte gegen Ende des Abschnitts, die die Aufgabe jeglicher Satzführung, also die Diffusion des Gesagten in einen nicht vorkonstruierten Raum markieren, kann man als Fallenlassen und emotionales Aufgehen Anas im Tanz empfinden. Der Rezipient kann folglich die Dynamisierung der Satztaktung als Simulation der Tanzbewegung und der affektiven Intensivierung erleben. Während der Text inhaltlich zum Höhepunkt hin immer stärker zur Vorsicht vor zu großer Nähe warnt („catástrofe“, „estaba perdida“) arbeiten klangliche und rhythmische Phänomene dem entgegen und gestalten Anas Hingabe als positives, erotisches Ereignis.474 Ähnlich verhält es sich für Don Álvaros Abschnitt. Sinnmäßig konzentriert er sich auf die Charakteristik des künftigen Liebhabers als Don Juan, der Ana wie eine Trophäe an sich reißt – ein Eindruck, der den reifizierenden Formulierungen („tesoro“, „belleza material“, „Es mía“) geschuldet ist. Besondere Eindringlichkeit erreicht dieser inhaltliche Tenor durch die direkte Rede („ese Magistral debe de ser un cobarde!“), die unmittelbaren Aufschluss über Don Álvaros verwerfliche Motivationen liefert. Einerseits mag sich der Leser folglich gegen Anas emotionale Bindung an den manipulativen Verführer sträuben, wird doch suggeriert, dass dieser mit der jungen Frau lediglich spielt und sie nicht ernsthaft liebt – was heißt, dass negative Erlebnisse von der Liaison zu erwarten sind. Dieser Eindruck wird jedoch durch andere Elemente unterlaufen: Die zahlreichen Interjektionen des Abschnitts vermitteln bereits visuell Emotionalität, ihre regelmäßige Wiederkehr transportiert ein erhöhtes Erregungsniveau des Manns. Auch der Rhythmus mutet durch das wiederholt hervorgestoßene „¡Es mía!“ impulsiv an und erreicht über die Assonanz, die Alliteration („¡Es mía! ¡ese Magistral debe de ser un cobarde! Es mía [...] Este es el primer abrazo de que ha gozado esta pobre mujer.“, „¡Ay sí, era un abrazo disimulado, hipócrita, diplomático, pero un abrazo para Anita!“, Hvg. T.H.) sowie durch die asyndetische Adjektivreihung und die Interjektion ‚ay‘ starke Musikalität
474 Daher rührt der Eindruck gleichzeitiger Objektivierung und Subjektivierung, der in der Sekundärliteratur häufig mit einer Mischung der Poetiken des Naturalismus und des romanticismo verbunden wird (vgl. Schlickers, Sabine: „Aspiración romántica y caída prosaica. Modelos de mundo y estrategias narrativas en La Regenta de Leopoldo Alas ‚Clarín‘“, in: Stenzel, Hartmut/Wolfzettel, Friedrich (Hrsg.): Estrategias narrativas y construcciones de realidad. Lecturas de las Novelas contemporáneas de Galdós y otras novelas de la época, Las Palmas: Cabildo, 2003, S.273.).
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und Atemlosigkeit. Während der Inhalt also gerade die Gefasstheit und Überlegenheit Don Álvaros wiedergibt, kann der Leser über den Lektürerhythmus dessen Nervosität erleben; während an der Oberfläche die moralischen Alarmglocken schrillen, mag er gleichzeitig auf einer tieferen, unbewussteren Ebene Lust an der körperlichen Annäherung der beiden Figuren empfinden; während er Anas Sehnsucht nach Liebe und Don Álvaros Casanova-Haltung als inkompatibel erkennt, verbinden die ähnlichen Rhythmuserfahrungen Don Álvaros Abschnitt gerade mit dem Anas und erzeugen zwischen den beiden Figuren eine Art erotischen Dialog. Damit sind in der vorliegenden Passage zwei potenzielle Leserrollen angelegt: eine, die sich vom Tanz mit Álvaro distanziert, und eine, die ihn wünscht. Der Rezipient mag in der Konfrontation der beiden unterschiedlichen emotionalen Qualitäten eine Inkohärenz erfahren, die seine Aufmerksamkeit auf den Konflikt konzentriert. Um des Romans kognitiv Herr zu werden, muss er sich für eine dieser beiden Versionen entscheiden und eine Bewertung vornehmen. Indem auch er eine schwierige Wahl treffen muss, wird Anas Gewissenskonflikt für ihn erlebbar, da er beim Abwägen der beiden Optionen, im Grunde die widersprüchlichen Gedanken der Protagonistin realisiert. Für den vorliegenden Abschnitt fällt die Entscheidung leicht: Die positiven Erlebnisse überwiegen und selbst der Ehemann Don Victor hat dem Tanz zugestimmt, so dass keine Sanktionen zu erwarten sind. Überdies kann die evaluative Haltung des Lesers auch davon beeinflusst werden, dass die zwei Versionen über unterschiedliche Partizipationsverfahren inszeniert sind: Die negativen Erlebnisse der Szene werden über den Emotionswert übertragen, die positiven hauptsächlich über den Lektürerhythmus. Im ersten Fall handelt es sich um eine relativ offensichtliche Form der Färbung des Erlebten, die für Leser leicht nachvollziehbar ist, da sie sich konkret sprachlich manifestiert, und deren Verarbeitung explizit verläuft. Weniger offenbar ist die zweite, sie bleibt vom Rezipienten unbemerkt, da sie nicht an Bedeutung geknüpft ist und quasi automatisch erfasst wird.475 Insofern bilden das positive und negative Erlebnis die Opposition ‚Oberflächlich-
475 Wie Gerhard Roth darlegt, existieren im menschlichen Organismus zwei Systeme der Informationsverarbeitung: Das explizite/deklarative System ist für die Erfassung komplexer, bedeutungshafter Inhalte zuständig, es arbeitet langsam und ist in seiner Kapazität beschränkt; das implizite/prozedurale System hingegen ist nicht an die Sprache gebunden, dient der Objektidentifikation anhand äußerlicher Merkmale, erfasst schnell und greift auf automatisierte Regeln zurück (vgl. Roth, Gerhard: Kognitive Leistungen. Die Entstehung von Geist und Bewusstsein im Gehirn, Berlin: Springer, 2011, S.165.). Die Gabelung der Beteiligung im vorliegenden Ausschnitt lässt sich auf diese Einteilung anwenden: Die Erfahrung über den Erlebniswert der Sprache entspräche dem expliziten, der Lektürerhythmus dem prozeduralen System. Insofern erlebt der Leser Anas Konflikt selbst als Zerrissenheit zwischen „Bauch“ und „Kopf“.
260 | E RLESENE ERLEBNISSE keit-Unbewusstheit‘. Es kann auf diese Weise wirken, als wären die negativen Konnotationen eine inauthentische Maske, während die positiven, da sie auf einer tieferen Ebene verortet sind, die wahren Gefühle zeigen und deshalb die Bewertung des Rezipienten leiten sollen. Für den Tanz ist das noch nachvollziehbar. Was ist allerdings mit den weiteren Annäherungen an Don Álvaro und letztendlich dem Seitensprung? Sie ziehen sehr wohl negative Erlebnisse für Ana und den Leser nach sich; dennoch mag man sie herbeisehnen. Wie lässt es sich erklären, wenn die aversive Motivation des Rezipienten trotz der Steigerung von Anas Transgressionen im Lauf des Romans zurücktritt? Erstens wird der Leser in mehreren Szenen an ihren Gewissenskonflikt gewöhnt. Schritt für Schritt verliert die Zerrissenheit ihren Neuheitscharakter, wird zur Normalität und zieht deshalb das Interesse immer weniger auf sich.476 Zweitens integriert der Text Potenziale der Lustverzögerung: Der Rezipient empfindet zwar gemeinsam mit Ana Befriedigung beim Tanzen, doch diese hält nicht lange an, da sie, noch ehe sie richtig ausgekostet werden kann, durch Anas Ohnmacht zunichte gemacht wird (4. Teil der Passage). Ihr Schwächeanfall kommt dem Leser als jäher Bruch zu Bewusstsein, zumal er mit einer starken Veränderung des Lektüreflusses einhergeht. Die Sätze sind nun durch Auslassungspunkte fragmentiert und zerfallen in logisch nicht begründbare Einzelsegmente, was die visuelle Einheit stört und die Orientierung erschwert, so dass das abrupte Ende von Anas Tanz für den Leser als Desillusion und Verlust spürbar werden kann. Der Leser vermag somit die Unterbrechung der körperlichen Nähe zu Don Álvaro als Enttäuschung zu erfahren. Es gilt hierbei zu berücksichtigen, dass die Störung der Lust ein Stilprinzip von La Regenta ist und der Tanz mit Don Álvaro nur eines von zahlreichen Beispielen, in denen Ana die Überwindung ihres langweiligen Lebens andeutet, dann aber doch nicht vollzieht (der Besuch des Theaterstücks Don Juan Tenorio, Verabredungen, die aus Krankheitsgründen nicht stattfinden etc.). Die häufige Umorientierung der Handlung impliziert eine Nicht-Erfüllung zuvor erzeugter Erwartungen und kann insofern für einen Triebanstieg des Rezipienten sorgen.477 Dieser mag sich dadurch
476 Auf die Tatsache, dass die emotionale Erregung bei der Rezeption mit dem Neuheitscharakter korreliert, weißt Daniel Berlyne hin (vgl. Berlyne, Daniel: Konflikt, Erregung, Neugier, Stuttgart: Klett, 1974, S.19f.). Die Abnahme des kognitiven Interesses lässt sich über den ‚sleeper-Effekt‘ erklären: Je häufiger einem Rezipienten schockierende Informationen (wie etwa Anti-Tabakwerbungen) gezeigt werden, desto weniger lässt er sich davon abschrecken (vgl. Priester, Joseph/Wegener, Duane/Petty, Richard/Fabrigar, Leandre: „Examining the Psychological Process underlying the Sleeper Effect“, in: Media Psychology, 1 (1999), S.27.). 477 Diese wiederholte, schrittweise Annäherung an den Ehebruch mag noch eine andere Implikation mit sich bringen: Laut Michael Ray und Alan Swayer kann der mehrfache
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eine Bewegung der Handlung von der Langweile und Frustration hin zur Aufregung immer stärker wünschen, was zur Folge hat, dass letztendlich selbst Leser, die in der Realität unabbringbar von der moralischen Schlechtigkeit des Ehebruchs überzeugt sind, eine Motivation für Anas Transgression entwickeln können, da diese an die Leselust gekoppelt ist.478 Das wiederum wirkt sich auf die Bewertung aus: Da das Erlebnis in Richtung Ehebruch drängt, mag sich im Laufe des Romans die evaluative Haltung des Rezipienten mitlockern.479 Insgesamt lässt sich festhalten: Wie ein Rezipient eine Figur oder einer Handlung bewertet, bleibt über den Roman hinweg nicht zwangsweise konstant. Vielmehr kann sich seine Haltung gemeinsam mit der bei der Lektüre vermittelten Emotionsqualität ändern und dabei spannungsreiche Konflikte erzeugen. Auf diese Weise wird die Dynamik der evaluativen Partizipation im Laufe des Romans wie in La Regenta zum Kristallisationspunkt des Leseerlebens. 3.3.2.4 Glaubwürdigkeit der Bewertung In La Regenta ergibt sich eine Distanzierung über die kontrapunktische Anlage des Emotionswerts der Sprache und des Lektürerhythmus. Dabei handelt es sich um eine relativ unterschwellige Form der Provokation einer Bewertung, zumal die Inkohärenz eher atmosphärisch und untrennbar mit dem Plot verbunden ist. Allerdings existieren bei der Romanlektüre auch bewusstere und zielgerichtetere Bewertungssituationen. Hierzu zählen beispielsweise viele Fälle der unglaubwürdigen Er-
Kontakt mit attraktiven Stimuli in Zusammenhang mit einer Situation die Bereitschaft des Rezipienten zu deren Akzeptanz erhöhen (vgl. Ray, Michael/Swayer, Alan: „Repetition in Media Models. A Laboratory Technique“, in: Journal of Marketing Research, 8 (1971), S.20f.). Insofern kann Anas Verhaltens bereits aufgrund seines Wiedererkennungswerts für den Leser ein Lusterlebnis bergen und für eine positive Einstellung zur Protagonistin sorgen. 478 Laut Gerd Bohner und Nina Nickel sind zwei widersprüchliche Haltungen Grundlage für das Umlernen bereits bestehender Haltungen. Indem ein Ereignis, das im Grunde negativ konnotiert ist, zwar zitiert, jedoch neu besetzt wird, kann auf die Dauer ein Einstellungswechsel hervorgerufen werden (vgl. Bohner, Gerd/Dickel, Nina: „Attitude and Attitude Change“, in: Annual Review of Psychology, 62 (2011), S.397.). Insofern besitzt La Regenta das Potenzial zur Öffnung und Neuverhandlung bestehender Normen. 479 Hierdurch erklärt sich auch, warum bei den Interpretationen, die die ersten Kapitel des Romans in den Blick nehmen, häufig eine ironische Lesart dominiert (z.B. Rutherford, John: La Regenta y el lector cómplice, Murcia: Editum, 1988, S.96f.), während solche, die sich auf spätere Kapitel beziehen, zu einer identifikatorischen tendieren: Die Motivation des Rezipienten zum Ehebruch kann das kontrapunktische Element im Laufe der Lektüre schwächen und die Parallelisierung von Figur und Leser ermöglichen.
262 | E RLESENE ERLEBNISSE zählung: Der Leser kann hier eindeutig den Erzähler als Urheber des Widerspruchs ausmachen und diesen beseitigen, indem er sich von ihm distanziert und die kognitive Strukturierung der diegetische Ereignisse selbst übernimmt. Gezeigt wird dies anhand des folgenden Ausschnitts aus Jean-Philippe Toussaints L’appareil-photo: Lorsque, le lendemain matin, je me présentai dès l’ouverture à mon école de conduite (je n’avais toujours pas les photos, non, ce n’était même pas la peine de m’en parler), la jeune femme était occupée à se préparer du thé sur un petit réchaud. Elle portait un gros pull en laine blanche par-dessus sa robe, et paraissait tout endormie. J’allai m’asseoir sur une des chaises qui faisaient face à l’écran de projection et, dépliant mon journal, en commençai la lecture pour ne pas l’importuner. Nous échangeâmes quelques généralités pendant que je prenais connaissance de l’actualité et, quand son thé fut prêt, elle me demanda en bâillant si j’en voulais une tasse. Sans cesser de lire, je lui dis que non, oulala. Une petite tasse de café, par contre, dis-je en refermant mon journal, je dirais pas non. Même du Nescafé, dis-je. Pendant que la jeune femme était partie chercher du Nescafé (prenez des croissants aussi, dis-je, tant que vous y êtes), je demeurai seul dans les bureaux de l’école de conduite et, pour ne pas être dérangé, je relevai les crochets de la porte vitrée pour la cadenasser. J’avais repris la lecture de mon journal quand j’entendis derrière moi de mignons petits coups de poing sur le carreau. Je relevai la tête, tout dolent, et la tournai pour apercevoir, non pas la jeune femme, mais un jeune homme, vilain comme tout en plus, qui portait une manière d’imper vert et des chaussettes blanches dans des mocassins. Je refermai mon journal et finis par me lever pour aller ouvrir, il allait être bien reçu celui-là. Qu’est-ce que vous voulez, dis-je. Je viens d’avoir dixhuit ans, dit-il (s’il croyait m’impressionner). C’est fermé, dis-je. Mais je suis déjà venu hier, ajouta-t-il, je voudrais juste déposer le dossier. Ne soyez pas buté, voyons, dis-je en baissant doucement les paupières. Je refermai la porte.480
Den Begriff des ‚unglaubwürdigen Erzählers‘ prägt Wayne Booth in The rhetoric of fiction. Er bezeichnet damit eine Vermittlungsinstanz, die den Leser dadurch herausfordert, dass sie Informationen zum Romangeschehen liefert, die sich mehr oder weniger offensichtlich als falsch erweisen.481 Diese Definition trifft auch auf den vorliegenden Ausschnitt zu, wo ein autodiegetischer Erzähler den Redenanteil monopolisiert und dabei fast nicht umhin kann, seine Arroganz und Taktlosigkeit bloßzulegen. Doch wie Ansgar Nünning betont, lässt sich ein unglaubwürdiger Erzähler nicht allein textintern identifizieren, sondern erst über die „Diskrepanz zwischen Wertvorstellungen und Absichten des Erzählers und den Normen und dem Wissens-
480 Toussaint, Jean-Philippe: L’appareil-photo, Minuit: 2007, S.10f. 481 Vgl. Booth, Wayne: The Rhetoric of Fiction, Chicago: University Press, 1983, S.159.
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tand des realen (nicht eines impliziten) Lesers“482. Der Widerspruch, der die Unglaubwürdigkeit entlarvt, wird demnach erst vor dem Hintergrund einer evaluativen Positionierung in der Anwendung des Kontextwissens des Rezipienten auf den Roman spürbar.483 Das penetrante Verhalten des Ichs in vorliegendem Ausschnitt stößt sich an den sozialen Normen: Der Protagonist kommt am frühen Morgen ohne schlagenden Grund in die Fahrschule und belästigt die Angestellte, er gibt ihr Anweisungen und vertreibt in ihrer Abwesenheit einen Kunden. Auch sein Sprechen zeugt von Unhöflichkeit („c’est même pas la peine de m’en parler“, „ne soyez pas buté“). Verstärkt wird dieser Eindruck durch den Stil. Die Tatsache, dass nähesprachliche Elemente („je lui dis que non, oulala“ oder „prenez des croissants aussi, dis-je, tant que vous y êtes“, Hvg. T.H.) in einem distanzsprachlichen Kontext verwendet werden – die beiden Figuren kennen sich kaum –, zeugt von der mangelnden Kultiviertheit des Ichs. Dieser negative Eindruck, den man bei der Einordnung des Gelesenen in gesellschaftliche Schemata gewinnen mag, deckt sich allerdings nicht mit dem präsentischen Erlebnis. Der Rhythmus des Texts ist ein fließender, die Sätze sind durchkonstruiert, komplex, vollständig und weisen auch sonst keinerlei Emotionsmarker (Ausrufezeichen, Auslassungspunkte, Zerklüftung des Satzes durch Kommata o.ä.) auf. Insofern wirkt das Ich nicht impulsiv und unüberlegt. Es scheint sogar besonders höflich, zumal es sich zur Rechtfertigung seines Verhaltens explizit auf die guten Manieren beruft („pour ne pas l’importuner“). Fürderhin sind die Äußerungen des Protagonisten häufig in indirekter Rede wiedergegeben („ce n’était même pas la peine de m’en parler“, Hvg. T.H.), wodurch sie an Unmittelbarkeit und Heftigkeit einbüßen. Seine Aggressivität und Überheblichkeit werden nicht spürbar, da die emotionale Partizipation der gesellschaftlichen Bewertung der Situation diametral entgegengesetzt ist. Dieser Widerspruch kann eine Veränderung der Haltung des Rezipienten gegenüber dem Gesagten nach sich ziehen, wenn dieser sich keiner identifikatorischen Lektüre des Romans mehr hinzugeben vermag, sondern beginnt, die Äußerungen des Erzählers zu hinterfragen und ihnen zu misstrauen. Möchte er den Text verstehen, ist er – wie Ralf Junkerjürgen in „Unreliable Narration und Suspicious Reading“ signalisiert – zur Annahme einer skeptischen Rezeptionshaltung gezwungen.
482 Nünning, Ansgar: Unreliable narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur, Trier: WVT, 1998, S.17. 483 Bruno Zerweck konkretisiert diesen Gedanken: Einen Erzähler als unglaubwürdig zu beurteilen bedeute, ihn zu naturalisieren, d.h. seine Aussagen auf Basis eines historisch variierenden Weltwissens in einen Diskurs oder ein Modell einzuordnen (vgl. Zerweck, Bruno: „Historicizing Unreliable Narration. Unreliability and Cultural Discourse in Narrative Fiction“, in: Style, 35.1 (Frühjahr 2001), S.154.).
264 | E RLESENE ERLEBNISSE Er setzt die Informationen nicht mehr direkt in eine imaginär konstruierte Romanrealität um, sondern liest sie als Symptome für die Lügen des Erzählers.484 Eine rein erlebende Perspektive ist in diesem Fall ausgeschlossen, da alle Daten zu möglichen Schlüsseln für die zweite, verborgene Version der Geschichte werden. Die Partizipation des Lesers am Roman erhält folglich eine stärkere kognitive Prägung, die die Präsenzdimension durchbricht: Nicht mehr im Aufgehen im Text, sondern im Differenzieren zwischen dem Gesagtem und dem Eigentlichen besteht das Mithandeln. Indem sich eine Wahrnehmungsebene zwischen den Rezipienten und die Präsenz der Romanwirklichkeit schiebt, vollzieht sich eine Distanzierung. Aus dieser Situation ergeben sich für den Ausschnitt aus L’appareil-photo zwei unterschiedliche Bewertungsmöglichkeiten. Einerseits kann der Leser eine plausible Erklärung für das unpassende Verhalten des autodiegetischen Erzählers suchen. Da ob der Nüchternheit des Lektüreerlebnisses keinerlei klassische Hinweise für Unzurechnungsfähigkeit existieren,485 wird er die Vermittlungsinstanz weltfremd, eventuell sogar als dümmlich einordnen. Auf Basis dieses Urteils konstruiert er parallel zur erzählten Geschichte eine zweite Version, die eine realistische Einschätzung der Ereignisse enthält. Er übernimmt den Gegenpart des Protagonisten, indem er die ausgesparten aufgebrachten Reaktionen der Fahrschulangestellten und des Kunden imaginiert. Insofern erführe der Erzähler eine negative Bewertung. Andererseits kann in L’appareil-photo der Widerspruch nicht eindeutig zulasten des Ichs entschieden werden. Schließlich reagieren seine romanweltlichen Interaktionspartner auf sein dreistes Verhalten alles andere als erwartungsgemäß. Wenn es diesen Befehle erteilt, gehorchen sie ihm wie selbstverständlich und bestrafen oder korrigieren sein Verhalten nicht. Die Fahrschulangestellte wird im Laufe des Romans sogar die Geliebte des Protagonisten, erklärt sich bereit, einen Großteil ihrer Zeit mit ihm zu verbringen und scheint sich trotz seines gewöhnungsbedürftigen Benehmens problemlos mit ihm zu verstehen.486 Es fehlen also makrostrukturelle Signale zur Untermalung der Unzuverlässigkeit, denn die Realitätsversion des Erzählers kollidiert an keiner Stelle mit der anderer Figuren. Insofern wird eine un-
484 Vgl. Junkerjürgen, Ralf: „Unreliable narration und suspicious reading. Zur Episierung der Psychoanalyse bei Svevo und Moravia“, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, 247 (2010), S.118. 485 Ansgar Nünning betont, dass übertriebene Emotionalität häufig als Signal für eine unglaubwürdige Erzählung fungiere (vgl. Nünning, Ansgar: Unreliable narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur, Trier: WVT, 1998, S.29.). 486 Vgl. Eberlen, Oliver: Roman impassible. Der subversive und undogmatische Umgang mit Narration, Sprache, Realität und Zeit in den Romanen Jean-Philippe Toussaints und Patrick Devilles, Hamburg: Kovac, 2002, S.234.
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glaubwürdige Erzählung in L’appareil-photo zwar suggeriert, jedoch nicht bestimmt ausgeführt. Diese Uneindeutigkeit kann dazu führen, dass der Leser seine eigene Kompetenz in Frage stellt.487 Nicht der Erzähler, sondern er selbst findet sich plötzlich in der Rolle des potenziellen Außenseiters wieder, der an ihm unbekannten Normen zu scheitern droht und nicht in die virtuelle Gesellschaft des Romans passt. Auf der Grenze zwischen divergenten Wirklichkeitsvorstellungen ist er folglich hin und hergerissen zwischen Über- und Unterlegenheit, Selbstbewusstsein und Ausgrenzung, Kontrolle und Kontrollverlust. Indem L’appareil-photo die Struktur des unglaubwürdigen Erzählers zwar aufgreift, jedoch nur partiell erfüllt, wird dem Leser eine Identitätsverwirrung auferlegt. Er wird nicht nur zum ungläubigen Rezipient, sondern auch zum unglaubwürdigen. Als Ergebnis kann festgehalten werden: Die unglaubwürdige Erzählung resultiert aus einem Widerspruch zwischen der Romanrealität so, wie sie die Vermittlungsinstanz sieht und wie sie sich der Leser vorstellt. Da Inkohärenzen die mangelnde Verlässlichkeit des Erzählers anzeigen, konstruiert der Rezipient zum Ausgleich eine eigene Version der Ereignisse und geht damit auf Distanz zum Erzähler. 3.3.2.5 Bewertungsrichtung Die Aufmerksamkeit galt bislang der Frage, wie Wertungsprozesse ablaufen, wenn von Seiten der romaninternen Instanzen evaluative Vorgaben fehlen. Die Haltung des Lesers war dann vor allem von der Qualität des präsentischen Erlebens abhängig, die Bewusstheit vom Ausmaß und Inszenierung der Inkohärenz. Nun positioniert sich der Rezipient oftmals aber nicht in einem neutralen Raum, sondern in Relation zu schon vorhandenen Evaluationen. Die Realisierung des Romans in der Vorstellung enthält bereits die Haltungen der Figuren und des Erzählers zu sich selbst und zueinander.488 Welche Kriterien beeinflussen diese Bewertungen der Bewertungen? Wie stellt der Leser eine Rangfolge zwischen ihnen her? Wann nimmt er sie ernst und wann tut er sie als falsch ab? Zur Beantwortung dieser Fra-
487 Gemäß dem Modell des ‚parasozialen Vergleichs‘ messen sich Rezipienten unablässig mit Figuren aus den Medien und konstruieren hierarchisch strukturierte Beziehungen zu ihnen, in denen selbst entweder unter- oder überlegen sind (vgl. Krämer, Nicole: „Soziale Vergleichsprozesse“, in: Krämer, Nicole/Schwan, Stephan/Unz, Dagmar/Suckfüll, Monika (Hrsg.): Medienpsychologie. Schlüsselbegriffe und Konzepte, Stuttgart: Kohlhammer, 2008, S.259.). 488 Ansgar Nünning zufolge wirkt die Erzählinstanz entscheidend auf die evaluative Stellungnahme des Lesers ein, vor allem, wenn diese ihm sympathisch und glaubwürdig erscheint (vgl. Nünning, Ansgar: Grundzüge eines kommunikationstheoretischen Modells der erzählerischen Vermittlung. Die Funktionen der Erzählinstanz in den Romanen George Eliots, Trier: WVT, 1989, S.105.).
266 | E RLESENE ERLEBNISSE gen werden zwei Romanausschnitte aus Christian Osters Mon grand appartement und Manuel Vázquez Montalbáns Los mares del sur vergleichend analysiert. Je le [le bouton de l’Interphone] pressai. Anne Lebedel ne répondit pas. Elle vivait pourtant chez moi. Elle m’aimait. En tout cas, moi, Gavarine, je l’aimais. C’est pour cette raison qu’elle vivait chez moi. Parce que je l’aimais. Peut-être aussi parce qu’elle m’aimait. Ou parce que j’avais un bel appartement. Enfin, un grand appartement. Anne Lebedel aimait peut-être mon grand appartement. J’avais tout fait pour ça. J’avais tenté de rendre agréable mon grand appartement. Je l’avais décoré tout seul, avant l’arrivée d’Anne Lebedel. En prévision de son arrivée. À l’époque où je ne la connaissais pas, j’attendais déjà Anne Lebedel. Son arrivé avait suivi de peu notre rencontre. Tout cela était peut-être allé un peu vite. Mais ce n’était pas ma faute à moi. Je n’avais pas forcé Anne Lebedel. Depuis quinze jours, elle s’était installée là. Excluant qu’elle fût devenue sourde, puis attendant un peu avant de juger qu’elle pût être ponctuellement empêchée d’entendre, ou de venir m’ouvrir, puis pressant de nouveau le bouton, vainement, je conclus qu’elle était absente. Ça ne me semblait pas outré. Cela posé, ou bien Anne allait rentrer, ou bien non. Elle ne rentrerait plus. Jamais. Ça ne me paraissait pas extraordinaire. C’est même le contraire qui m’eût surpris: qu’Anne rentrât, qu’elle rentrât chez nous une fois encore, qu’elle prolongeât mon rêve de la retenir.489 – Los detectives privados somos los termómetros de la moral establecida, Biscuter. Yo te digo que esta sociedad está podrida. No cree en nada. – Sí, jefe. Biscuter ne le daba la razón a Carvalho sólo porque adivinara que estaba borracho, sino porque siempre estaba dispuesto a admitir catástrofes. – Tres meses sin comernos un rosco. Ni un marido que busque a su mujer. Ni un padre que busque a su hija. Ni un cabrón que quiera la evidencia del adulterio de su mujer. ¿Es que ya no se fugan las mujeres de casa? ¿Ni las muchachas? Sí, Biscuter. Más que nunca. Pero hoy a sus maridos y a sus padres les importa un huevo que se fuguen. Se han perdido los valores fundamentales. ¿No queríais la democracia? – A mí, me daba igual, jefe. Pero Carvalho no hablaba con Biscuter. Interrogaba a las paredes verdes de su despacho o a alguien supuestamente sentado más allá de su mesa de oficina años cuarenta, barnices suaves oscurecidos durante treinta años, como si hubieran estado siempre a remojo de aquella penumbre de despacho ramblero. Apuró otro vaso de orujo helado y se contorsionó por el escalofrío que le recorrió la espalda. No bien hubo dejando el vaso sobre la mesa, Biscuter volvió a llenárselo.490
489 Oster, Christian: Mon grand appartement, Paris: Minuit, 2007, S.11f. 490 Vázquez Montalbán, Manuel: Los mares del Sur, Barcelona: Planeta, 1986, S.13.
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Die beiden Beispiele enthalten Evaluationen zweier Protagonisten hinsichtlich einer romanweltlichen Situation, dennoch können sie in dieser Hinsicht divergente Eindrücke hinterlassen. Während Pepe Carvalhos Werturteil hinsichtlich der generellen Schlechtigkeit der Menschheit trotz seines extremen Charakters nachvollziehbar erscheint und beim Rezipienten mit großer Wahrscheinlichkeit Zustimmung findet, würde man an Gavarines Einschätzung der Beziehung zu seiner Freundin eher zweifeln. Wie lässt sich dieser Gegensatz erklären? Erstens unterscheidet sich der Kontext der zwei Abschnitte, obgleich beide zu Beginn des Romans nach einer Eingangsszene stehen. Im französischen Roman beinhaltet diese die Heimkehr des Protagonisten und die Feststellung des Fehlens seiner Schlüssel. Die einzige Hoffnung besteht nun darin, dass ihre Freundin Anne ihn in die Wohnung lässt. Als diese nicht öffnet, leitet er daraus ab, dass sie ihn verlassen hat. Dieses Urteil ist logisch schwer nachvollziehbar, zumal in Gavarines Situation alltäglichere Schlussfolgerungen aus ihrer Abwesenheit näher lägen. Die negative Situationsbewertung der Figur stimmt nicht mit der überein, die man als Leser basierend auf dem Weltwissen vornehmen würde, und hat auch im vorausgehenden diegetischen Geschehen keinen Anlass. Jedwede Hinweise, die Annes plötzlichen Auszug logisch erscheinen ließen (zum Beispiel auf einen Streit zwischen den Partnern), fehlen, so dass allein inhaltlich eine gewisse Unglaubwürdigkeit hinsichtlich der evaluativen Kompetenz des Protagonisten entsteht. Der Bewertung in Los mares del sur geht eine Szene voraus, die vom Gespräch Pepe Carvalhos mit Biscuter losgelöst ist. Sie zeigt, wie der Kriminelle Bocanegra einer Bekannten aggressive und vulgäre Avancen macht, gemeinsam mit dieser und einem Freund ein Auto stiehlt, betrunken und unter Drogeneinfluss am Steuer sitzt, von der Polizei verfolgt einen Unfall verursacht und schließlich ohne Rücksicht auf seine Begleiter flieht. Bocanegras Brutalität wird nicht nur in seinem Verhalten, sondern auch in seiner Sprache manifest, denn er verwendet zahlreiche Kraftausdrücke, so dass die Vulgarität der Äußerungsinhalte an einen umgangssprachlichen Kode geknüpft ist. Außerdem weist sein Spitzname den Erlebniswert ‚Gefährlichkeit‘ auf, woraus sich schlussfolgern lässt, dass es sich bei Bocanegra um eine skrupellose Person handelt, die die moralischen Normen der Gesellschaft untererfüllt. Diese Annahme bestätigen die Reaktionen der übrigen Figuren auf sein Verhalten, die mehrmals versuchen, seine kriminelle Energie zu bremsen und ihn zur Vernunft zu bringen („No me enrolles otra vez. Quiero pasar la noche tranquilo; otra vez me avisas. Coger un coche así es un lío. No nos va.“491) und so eine negative Einstellung zu seinem Auftreten beweisen. Seine mangelnde Einsichtigkeit wiederum deutet darauf hin, dass er seine Schlechtigkeit aus Überzeugung lebt, also auch eine Korrektur des Verhaltens unmöglich ist. Auf diese Weise hinsichtlich
491 Ebd., S.9.
268 | E RLESENE ERLEBNISSE Bocanegras Niedertracht mehrfach abgesichert kommt der Rezipient in der Szene des Dialogs zwischen Carvalho und Biscuter an, der den Verlust der Moral in der Gesellschaft beklagt. Die Behauptung kann dem Leser vor dem Hintergrund des Exempels plausibel erscheinen. Nachdem er in der Eingangsszene selbst Zeuge von Gewalt und Rücksichtslosigkeit geworden ist, besteht kein Grund, die Glaubwürdigkeit von Carvalhos Bewertung in Zweifel zu ziehen. Doch nicht der Abgleich einer Bewertung mit der gesellschaftlichen oder romaninternen Erfahrung allein schafft den Eindruck der evaluativen Kompetenz einer Figur. Inwiefern man sie als zuverlässig empfindet, scheint auch von ihrer Position im Hierarchiesystem der Romanwelt abzuhängen. Der Protagonist von Mon grand appartement weist von Anfang an ein Prestigedefizit auf – ein Eindruck, der zum einen daher rührt, dass die Angaben bezüglich seines gesellschaftlichen Status restringiert sind. Das einzige Indiz seiner Sozialisation ist die Aktentasche, die er allerdings ihrem eigentlichen Zweck entfremdet und leer herumträgt: En la circonstance, je préfère être franc. Sans ma serviette, je n’étais rien. Je me sentais nu. Par exemple, sans elle, je ne sortais pas. Même pour descendre chercher du pain, fût-ce du pain, je la prenais avec moi. […] En effet, Dieu m’en est témoin, je ne tenais pas à être vu, avec ma serviette. A l’inverse, je tenais à ne pas l’être, vu, et l’idée que les regards, me croisant, pussent se poser sur ma serviette, et non sur moi, me rassurait, me préservait de la chute.492
Gavarine ist folglich alles andere als ein erfolgreicher Geschäftsmann, er erscheint als soziales Nichts. Als jemand, der zu Passivität und Unterwerfung tendiert, verfügt er über niedriges Ansehen in der Romanwelt. Sein von Wiederholungen und Korrekturen geprägter Sprachstil macht seine Unsicherheit und Schüchternheit auch für den Rezipienten erfahrbar. Aufgrund dieser Marginalität schenkt der Leser seinem Urteil kaum ohne Weiteres Vertrauen, sondern wird davon ausgehen, dass seine exzentrische Position zu einer perspektivischen Verzerrung seiner Evaluationsmaßstäbe geführt hat. Gegenteilig gestaltet sich die Situation in Los mares del sur. Die wertende Person verfügt hier über soziale Geltung. Als Privatdetektiv verkörpert Carvalho die Gerechtigkeit und mag daher in seinem Urteil kompetenter als Gavarine wirken. Im Gespräch mit Biscuter deutet sich außerdem an, dass er die Position eines Vorgesetzten innehat: Dadurch, dass er sich selbst mit seinem passiven, unentschlossenen und dienerhaften Angestellten kontrastiert, erscheint er selbst umso selbstbestimmter. Die Tatsache, dass er Befehle erteilt, die jener ausführen muss, dass er Gedanken äußert, die jener bestätigt, und dass er dessen Einladung zum weiteren
492 Oster, Christian: Mon grand appartement, Paris: Minuit, 2007, S.8f.
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Alkoholkonsum ausschlägt, bugsiert ihn in eine überlegene Position. Da Carvalho im Zentrum des romaninternen Normensystems verortet ist, kann seine Wertung größere Professionalität und Glaubwürdigkeit erreichen als die seines französischen Pendants. An dritter Stelle entscheidend für die evaluative Kompetenz einer Figur erscheint deren Beziehung zum bewerteten Gegenstand.493 Gavarine steht zu Anne Lebedel in einem emotionalen Abhängigkeitsverhältnis, zusätzlich verhindert seine Unsicherheit eine objektive Sicht auf seine Lebenssituation. Zum Erzählzeitpunkt befindet er sich noch in Aufregung, wie die Quantität der Unmittelbarkeitssignale (z.B. Deiktika) sowie seine Detailfixiertheit (als Zeichen seiner Unfähigkeit zur Selektion relevanter Informationen) beweisen. Es kann dadurch wirken, als nähme ihm seine Emotionalität jegliche Distanz und Klarsicht und somit auch die Möglichkeit zur treffenden Bewertung. Carvalho hingegen ist zum Zeitpunkt des Urteils (noch) nicht in die Probleme verwickelt, die er kritisiert. Er ist ideologisch, örtlich und typographisch (durch eine Leerzeile) klar vom kriminellen Milieu getrennt und zeugt durch den Hinweis auf den Mangel an Arbeitsaufträgen von einer Gelöstheit vom Thema ‚Verbrechen‘. Maximaler Ausdruck hiervon ist Carvalhos reflexiver Gestus: Seine Bewertung vollführt er aus einer Metaposition mit einer Klarsicht, die die Kompetenz seines Umfelds übersteigt („Pero Carvalho no hablaba con Biscuter. Interrogaba a las paredes verdes de su despacho o a alguien supuestamente sentado más allá de su mesa“). Mit der Objektivität und Distanz, die mit dieser Haltung verbunden sind, darf sich Carvalho ein Urteil nicht nur über eine Figur, sondern über die gesamte Gesellschaft erlauben, ohne deshalb inkompetent zu wirken.494 Auch wenn sich der Leser durch die Eingangsszene selbst bereits ein Bild der Brutalität und Gesetzlosigkeit machen kann, könnte er Bocanegras Eskapaden für
493 Nach Carl Hovland und Wallace Mandell bewirkt die Abnahme der persönlichen Involviertheit des Kommunikators in den bewerteten Gegenstand die Zunahme seiner Glaubwürdigkeit (vgl. Hovland, Carl/Mandell, Wallace: „An Experimental Comparison of Conclusion-drawing by the Communicator and by the Audience“, in: Journal of Abnormal and Social Psychology, 47.3 (1952), S.581f.). 494 Insofern ist der These Albrecht Buschmanns in Die Macht und ihr Preis nur eingeschränkt zuzustimmen, wonach Carvalho nicht als „machtvoller Vertreter des gesellschaftlichen Rechtsempfindens oder als Repräsentant einer überlegenen aufgeklärten Ratio“ ermittele, sondern als Stellvertreter des Opfers (vgl. Buschmann, Albrecht: Die Macht und ihr Preis. Detektorisches Erzählen bei Leonardo Sciascia und Manuel Vázquez Montalbán, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2005, S.45.). Sicherlich ist dieser insofern kein Detektiv im traditionellen Sinne, als er selbst Vernunft und Tugend nicht verkörpert. Dennoch wird er zunächst sehr wohl mit Macht und Glaubwürdigkeit ausgestattet, so dass das romaninterne Wertesystem um ihn kreist.
270 | E RLESENE ERLEBNISSE ein singuläres Ereignis halten. Dadurch aber, dass Carvalho sich durch seine Weitsicht und Machtposition als für diese Evaluation kompetent qualifiziert, kann er zu einem Orientierungspunkt für die Urteile des Lesers werden. Wenn Carvalho seine Verwerflichkeitsthese auf die gesamte Gesellschaft ausweitet, mag der Rezipient seine Erwartungen deshalb daran anpassen und für den weiteren Romanverlauf von einer erhöhten Bereitschaft zum Verstoß gegen soziale Normen ausgehen. Das Urteil des Detektivs färbt so gewissermaßen auf ihn ab.495 Insofern muss Ulrich Schulz-Buschhaus’ These angepasst werden, der Kriminalroman kehre die aristotelische Formel um, ein literarischer Text müsse wahrscheinlich, nicht jedoch wahr sein.496 Wenn in ihm selbst unwahrscheinliche Ereignisse wahrscheinlich erscheinen, dann deshalb, weil die große evaluative Kompetenz des Detektivs den legitimierenden Rahmen dafür liefert. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Gibt eine Figur ein Werturteil ab, so übernimmt der Leser dieses nicht kommentarlos. Vielmehr positioniert er sich zu ihm durch die Überprüfung seiner Glaubwürdigkeit. Ob er die Wertung einer Figur gutheißt oder ablehnt, hängt von der evaluativen Kompetenz ab, die er dieser zuspricht. Verlässlich erscheint eine Figur, wenn: 1. ihre Bewertung im Kontext der romaninternen oder gesellschaftlichen Erfahrung plausibel ist oder durch andere (glaubwürdige) Figuren bestätigt wird; 2. sie großes Prestige besitzt und im Zentrum des diegetischen Wertesystems verortet ist; 3. sie emotionale Distanz zum evaluierten Gegenstand besitzt. Bei einem Maximum an Kompetenz wird der Rezipient zur Übernahme des Werturteils der Figur geneigt sein; ist sie hingegen gering, so wird er sich von ihr distanzieren und eine plausiblere Alternativbewertung entwickeln. Während er im ersten Fall eine Gleichberechtigung oder gar Unterlegenheit in der Beziehung zur wertenden Figur anerkennt, fühlt er sich dieser im zweiten überlegen. Diese Ergebnisse zur Positionierung zu Figurenevaluationen sind ebenfalls auf den Erzähler übertragbar: Auch er kann vertrauensvoll oder unglaubwürdig erscheinen, seine Bewertung kann vom Leser Bestätigung oder Revidierung verlangen. Wovon der Eindruck seiner evaluativen Kompetenz abhängt, soll der Ver-
495 Im Übrigen sind viele der Elemente, die sich für die evaluative Kompetenz als konstitutiv erweisen (die Asymmetrie zwischen Berater und Detektiv, die Exzentrik des Detektivs bei gleichzeitiger Verortung im Zentrum des Romans), laut Peter Nusser, Gattungsmerkmale des Kriminalromans (vgl. Nusser, Peter: Der Kriminalroman, Stuttgart: Metzler, 2003, S.22f.). Man kann folglich davon ausgehen, dass eine Korrelation zwischen beiden Phänomenen besteht, d.h. dass der Kriminalroman eine Gattung darstellt, der Rezipienten häufig viel Vertrauen entgegen bringen. 496 Vgl. Schulz-Buschhaus, Ulrich: Formen und Ideologien des Kriminalromans. Ein gattungsgeschichtlicher Essay, Frankfurt: Athenaion, 1975, S.100.
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gleich der Passage aus Le grand appartement mit folgendem Ausschnitt aus Marguerite Yourcenars Alexis zeigen, einem Text, der die Selbstbewertung eines homosexuellen Ehemanns darstellt, als er seiner Frau in einem Brief seine geschlechtliche Orientierung gesteht: Cette lettre, mon amie, sera très longue. Je n’aime pas beaucoup écrire. J’ai lu souvent que les paroles trahissent la pensée, mais il me semble que les paroles écrites la trahissent encore davantage. Vous savez ce qui reste d’un texte après deux traductions successives. Et puis, je ne sais pas m’y prendre. Écrire est un choix perpétuel entre mille expressions, dont aucune ne me satisfait, dont aucune surtout ne me satisfait sans les autres. Je devrais pourtant savoir que la musique seule permet les enchaînements d’accords. Une lettre, même la plus longue, force à simplifier ce qui n’aurait pas dû l’être: on est toujours si peu clair dès qu’on essaie d’être complet! Je voudrais faire ici un effort, non seulement de sincérité, mais aussi d’exactitude; ces pages contiendront des ratures; elles en contiennent déjà. Ce que je vous demande (la seule chose que je puisse vous demander encore) c’est de ne passer aucune de ces lignes qui m’auront tant coûté. S’il est difficile de vivre, il est bien plus malaisé d’expliquer sa vie.497
Unterschiede in Bezug auf die Glaubwürdigkeit des Erzählers ergeben sich bereits beim Vergleich der beiden Einstiegssätze. Yourcenars mag den Eindruck von Unmittelbarkeit erzeugen: Die Verwendung des Deiktikums ‚cette‘, die Formulierungen im Präsens sowie die Ansprache an eine nicht konkretisierte Adressatin des Briefs können die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf die aktuelle Situation konzentrieren und somit pro- und retentionale Ordnungsprozesse unterbinden. Dieser soll wohl zunächst nur präsentisch erleben und nicht sofort zur Bewertung veranlasst werden. Unterstrichen wird diese Strategie durch die Kopplung der autodiegetischen Stimme an die Gattung des Briefromans.498 Da das Lesen des Rezipienten der Handlungsrolle des Empfängers des Briefs entspricht, wird dieser mit der Ehefrau des Protagonisten parallelisiert. Dadurch, dass Monique nicht zu Wort kommt, kann er sich auf einer Interaktionsebene und Augenhöhe mit dem Erzähler verortet fühlen.499 Die Komplizität und virtuelle Nähe mögen dazu beitragen, dass sich der
497 Yourcenar, Marguerite: Alexis, Paris: Gallimard, 2010, S.19. 498 Vgl. Hynynen, Andrea: Pluralité et fluidité antinormatives. Études sur les transgressions sexuelles dans l’œuvre romanesque de Marguerite Yourcenar, Abo: Akademis Forlag, 2010, S.99. 499 Die Aussparung der Antwort der Ehefrau ist insofern nicht unbedingt als autoritäre Setzung oder als Verweigerung eines Dialogs zu verstehen (vgl. Aguiar de Medeiros, Ana Maria Sousa: Les visages d’alibis, masques et identité dans Alexis ou le Traité du vain combat, Dernier du Rêve et Mémoires d’Hadrien, New York: Lang, 1996, S.18.), sondern ermöglicht ganz im Gegenteil die evaluative Partizipation des Rezipienten.
272 | E RLESENE ERLEBNISSE Leser eher Vertrauen zum Ich aufbaut. Abgesehen davon lassen sich aus dem ersten Satz die erzählerischen Qualitäten des Sprechers ablesen: Indem dieser bereits anfangs die Länge des Briefs erwähnt, legt er Zeugnis von der Geplantheit seiner Äußerungen ab, verspricht eine teleologische Strukturierung und verbunden damit eine problemlose Rezeption. Dieser erste Eindruck bestätigt sich im weiteren Verlauf des Romans: Über seine vollständige, kohärente und elaborierte Narration kommt der Erzähler seiner Vermittlungsaufgabe auf vorbildliche Weise nach. Da er die Diegese zu kontrollieren scheint, strahlt er evaluative Kompetenz aus. Einen gegenteiligen Eindruck hinterlässt der Erzähler von Le grand appartement, der sich von Anfang an in ein schlechtes Licht rückt. Er nutzt die natürliche Glaubwürdigkeit, die der Rezipient dem Vermittler entgegenbringt, nicht aus, indem er mit „Un soir que je rentrais chez moi, je me suis arrêté devant ma porte. […]“ beginnt, sondern scheint eine Verpflichtung zur Rechtfertigung der Narration zu verspüren, weshalb er etwas unbeholfen voranstellt „Je m’appelle Gavarine, et je voudrais dire quelque chose. Un soir que […]“ und dadurch die Fremdheit zwischen sich und dem Leser betont. Abgesehen davon ist der Informationswert der Präambel gleich Null und wirkt somit als Begründung für die Erzählung unplausibel. Insofern mutet der Einstieg in Vergleich zu Alexis distanziert, defizitär und unausgegoren an. Im weiteren Verlauf des Romans verstärkt sich dieser Eindruck mangelnder Professionalität durch die Fixierung auf banale Details, einen gebremsten Thema-Rhema-Wechsel und den daraus resultierenden langsamen Informationsfortschritt. Da der Erzähler die Regeln der Narration nicht beherrscht, mag der Rezipient auch seiner Wertung wenig Gewicht zugestehen. An zweiter Stelle entscheidend für die Vertrauenswürdigkeit des Erzählers ist dessen Distanz zum beurteilten Geschehen. Osters Vermittler scheint seine Äußerungen nicht zu planen, sondern den Gedanken freien Lauf zu lassen. Er scheint emotional in die Ereignisse verwickelt, so dass es ihm an Abstraktionsfähigkeit mangelt. Yourcenars Erzähler hingegen spricht mit zeitlichem Abstand, weshalb er den Überblick über das Gesamtgeschehen bewahrt. Außerdem ist er durch eine reflexive Haltung nicht nur in Hinblick auf seinen moralischen Zwiespalt, sondern auch hinsichtlich der kritischen Wahl des Mediums zu seiner Übermittlung gekennzeichnet („Écrire est un choix perpétuel entre mille expressions […] on est toujours si peu clair dès qu’on essaie d’être complet!“). Dieser metasprachliche Gestus garantiert die maximale affektive Gelöstheit des Ichs vom Erzählten und fungiert somit als Generator evaluativer Kompetenz. Der Eindruck der Verlässlichkeit kann paradoxerweise ausgerechnet durch die Betonung der Fehlerhaftigkeit und Unglaubwürdigkeit der erzählerischen Darstellung entstehen. Insgesamt fügt sich die Eignung des Erzählers zur Wertung in beiden Romanen in unterschiedliche Partizipationskontexte. In Mon grand appartement kann die seine Unzuverlässigkeit dafür sorgen, dass der Leser das Evaluationsangebot als defizitär wahrnimmt. Dieser selbst wird hierfür folglich als urteilsfähigste Instanz
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einen Ausgleich schaffen, wobei eine Bewertung nach unten entstehen kann, die im Kontext eines postmodernen Romans freilich ins Leere führen und den Rezipienten in seinen Sehgewohnheiten verunsichern muss. In Alexis bildet die hohe evaluative Kompetenz des erzählenden einen Kontrast zur Fragwürdigkeit des Verhaltens des erlebenden Ichs. Damit das sensible Thema der sexuellen Identität des Protagonisten Gehör finden kann, braucht es zum Ausgleich einen starken, geschlechtslosen Erzähler500. In Bezug auf die Bewertungen von Erzählerurteilen lässt sich folglich vermerken: Der Vermittlungsinstanz kommt in der Romanwelt konventionellerweise eine Ordnungsfunktion zu, wodurch sie bereits von sich aus über größere Zuverlässigkeit als eine Figur verfügt.501 Allerdings kann diese ‚natürliche‘ Vertrauenswürdigkeit fragwürdig werden, wenn der Erzähler seine traditionelle Aufgabe der Ordnung der diegetischen Ereignisse vernachlässigt und seine Äußerungen ungeplant oder unlogisch erscheinen. Darüber hinaus verringert sich seine evaluative Kompetenz, wenn er selbst in das Geschehen verwickelt und die Bewertung deshalb emotional getönt ist. Der Rezipient sieht sich in diesem Fall als Instanz mit der größten evaluativen Kompetenz im Feld gezwungen, selbst ein gültiges Urteil zu fällen, das die unglaubwürdigen Bewertungen abfängt und korrigiert.502 Im Gegenzug mag die Vertrauenswürdigkeit des Erzählers mit der Kontrolle der Narration sowie seiner Distanz zum bewerteten Gegenstand steigen, wobei ein Höchstmaß an Losgelöstheit wohl durch Reflexionen oder Metakommentare erreicht wird. 3.3.2.6 Bewertungsmodus Ironie beeinflusst weder die Intensität, noch die Richtung der Bewertung, sondern verändert die Haltung des Rezipienten gegenüber seiner evaluativen Aufgabe, so dass er diese nicht mehr im gleichen „Tonfall“ und mit der gleichen Zielsetzung vollzieht. Die Ausgangssituation ist dabei im Grunde die gleiche wie die der un-
500 Vgl. Boissier, Anne: „Ulysse au pays de Circé. L’image du masculin. Du genre ‚éclaté‘ à la ‚vue sur la vie‘“, in: Filaire, Marc-Jean (Hrsg.): Marguerite Yourcenar ou la culture du masculin, Nizza: Lucie, 2011, S.117. 501 Auch Matías Martinez und Matthias Scheffel verweisen darauf, „[d]ass die Behauptungen des Erzählers in fiktionalen Texten offenbar einen grundsätzlich anderen, logisch privilegierteren Status besitzen als die Behauptungen der Figuren“ (vgl. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, München: Beck, 1999, S.86.). 502 Die Motivation zur Herstellung eines ausgleichenden Urteils mag der Rezipient aus seiner Tendenz zur Vermeidung von Inkonsistenzen ziehen: Durch ein informationssuchendes Verhalten bemüht er sich, die entstandenen Ambiguitäten zu lösen und so zu einem Verständnis des Texts zu gelangen (vgl. Schenk, Michael: Medienwirkungsforschung, Tübingen: Mohr 2007, S.141.).
274 | E RLESENE ERLEBNISSE glaubwürdigen Erzählung: Die Vermittlungsinstanz liefert Informationen, die sich als unzutreffend erweisen; sie bewertet auf eine Weise, die der Leser als inkohärent erfahren muss, so dass dieser als Ausgleich für die entstandenen Widersprüche eine plausible Alternativversion der Ereignisse hinzuimaginiert.503 Das Spezifikum der Ironie jedoch liegt nicht in dieser kognitiven Operation, sondern in dem, was sie transzendiert: Während die unglaubwürdige Erzählung einen Prestigeverlust der Vermittlungsinstanz bedeutet und den Rezipienten zur Korrektur ihrer Schwächen anregt, kann die Ironie nicht als defizitäre Kommunikation bezeichnet werden. Die Inkongruenz zwischen dem Dargestellten und der wirklichen Konstitution der Romanwelt provoziert keine Distanzierung und tut auch der Kompetenz des Erzählers keinen Abbruch. Vielmehr entwickelt sich durch sie eine Komplizenschaft zwischen Leser und Vermittler, die den Wahrheitsgehalt der Äußerungen sekundär werden lässt: Es tut sich eine Metaebene der Kommunikation auf, auf der ihre Perspektiven verschmelzen; sie bilden in der gemeinsamen Distanzierung vom Romangeschehen eine Communitas, die jegliche Hierarchiefrage obsoletiert. Die Bewertung des Rezipienten vollzieht sich im Fall der Ironie nicht nach oben oder unten, sondern in Symbiose mit dem Erzähler. Insofern ist sie mehr als eine bloß kognitiv-emotionale Reaktion, sondern verfolgt auch das soziale Ziel der Vertrautheit mit ihm, zugunsten welcher der Inhalt in den Hintergrund rückt. Eine wesentliche Voraussetzung für das Erleben von Ironie ist, dass der Rezipient diese in den Äußerungen des Erzählers erkennt. Das gestaltet sich nicht immer einfach, zumal Romane im Gegensatz zur Alltagskommunikation paralinguistischer Merkmale zur ihrer Kennzeichnung entbehren. Dennoch integrieren sie – wie Harald Weinrich in Linguistik der Lüge betont – Ironiesignale, die dem Leser als gesellschaftliche Kommunikationsmuster zugänglich sind und seine Wahrnehmung steuern. Hierzu zählen typographische (Kursivdruck, Großschreibung), orthographische (Anführungszeichen, Ausrufezeichen, Bindestrich), stilistische (Stilbruch, rhetorische Frage) oder inhaltliche Elemente (Superlative, Negationen).504 Diese können ihre Funktion als Indikator für Ironie freilich nur erfüllen, wenn sie sich von einer Nullstufe abheben und dadurch auffällig werden. Anführungszeichen beispielsweise werden nur als Marker erkannt, wenn ihr Vorhandensein einer anderen, offensichtlichen Begründung (wie etwa das Anzeigen einer wörtlichen Rede) entbehrt. Nur vor dem Hintergrund einer Passage, in der sich der Rezipient ihre Anwesenheit nicht auf Anhieb zu erklären vermag und deshalb stutzt, erwerben sie Signalfunktion. Ebenso verhält es sich für den Kursivdruck: Ist der gesamte Text italic
503 Vgl. Giora, Rachel/Fein, Ofer/Kaufman, Ronie/Eisenberg, Dana/Erez, Shani: „Does an ‚Ironic Situation‘ Favor an Ironic Interpretation?“, in: Brône, Geert/Vandaele, Jeroen (Hrsg.): Cognitive Poetics. Goals, Gains and Gaps, Berlin: de Gruyter, 2009, S.383. 504 Vgl. Weinrich, Harald: Linguistik der Lüge, München: Beck, 2007, S.66.
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gesetzt, so wird dies kaum als Anzeichen für Ironie gedeutet, sondern lediglich, wenn sich die Passage von einer Standardtypographie abhebt. Prinzipiell kann insofern jegliche Form der Inkohärenz, die die Aufmerksamkeit des Lesers erregt, situationsabhängig als Ironiesignal fungieren. Drei Kriterien müssen, so erklärt Marika Müller am Beispiel des Don Quijote, erfüllt sein, damit eine ironische Kommunikation konstatiert werden kann. Erstens eine widersprüchliche Grundstruktur: Wenn vom „ingenioso hidalgo“ die Rede sei, dieser sich in der Folge aber als verrückt und weltfremd entpuppe, resultiere hieraus eine Inkohärenz zwischen Erzähltem und Romanwirklichkeit.505 Die zunächst aufgebaute Erwartung zerstreut sich, wodurch der Leser aus dem präsentischen Erleben herauskatapultiert wird. Das deckt sich mit Hans-Jörg Neuschäfers Beobachtungen in Der Sinn der Parodie im Don Quijote: Die eigentliche Wirkung der Parodie im Quijote beruht also auf der Erweckung und Durchkreuzung der Erwartungen eines Publikums, dem nicht nur bestimmte Motive und Situationen aus einzelnen Ritterromanen geläufig, sondern darüber hinaus die im wesentlichen stets gleichbleibende Auffassung des Geschehens als Aventüre, die typische Handlungsweise des epischen Helden und die Regeln der höfischen Liebe, kurz die Struktur des Ritteromans völlig vertraute und selbstverständliche Voraussetzungen waren und das die gleiche Struktur im Quijote wieder, zugleich aber auch völlig verändert fand.506
Die Voraussetzung zum Erkennen einer ironischen Passage ist also das Vorhandensein einer Diskrepanz. Das zweite ironiekonstitutive Element stellt die Gemeinschaft zwischen Erzähler und Rezipient dar. Müller argumentiert hierzu, Formulierungen wie „nuestro caballero“ oder „tan sabrosa historia“ suggerierten die Existenz eines gemeinsamen Interaktionsfelds; sie betonten das Vorhandensein eines Pakts zwischen Erzähler und Leser, der auf der einhelligen Distanzierung vom Protagonisten basiere.507 Durch die virtuelle Verortung in derselben Sprechsituation bildet sich also eine Nähe, die den second degré begünstigt. Drittens werde Ironie häufig von einer Illusionsdurchbrechung begleitet. Im Don Quijote realisiere sich diese durch das metanarrative Spiel mit den unterschiedlichen Wirklichkeitsebenen sowie durch die wiederholten Anspielungen auf Autor- und Leserschaft. Die Verweise auf den Kunstcharakter des Romans lenkten den Rezipienten vom reinen Erleben ab
505 Vgl. Müller, Marika: Die Ironie. Kulturgeschichte und Textgestalt, Würzburg: Königshausen & Neumann, 1995, S.48f. 506 Neuschäfer, Hans-Jörg: Der Sinn der Parodie im Don Quijote, Heidelberg: Winter, 1963, S.11. 507 Vgl. Müller, Marika: Die Ironie. Kulturgeschichte und Textgestalt, Würzburg: Königshausen & Neumann, 1995, S.51.
276 | E RLESENE ERLEBNISSE und distanzierten ihn vom Geschehen.508 Der Widerspruch, der die Bewertung provoziert, ist für den Fall der Ironie demnach besonders ausgeprägt. Inwiefern diese Definition von Ironie nicht nur zwischen Leser und Erzähler, sondern auch zwischen Leser und Figur Gültigkeit besitzt, soll nun anhand einer Passage aus Daniel Pennacs Au bonheur des ogres überprüft werden. Es handelt sich dabei um das Telefongespräch eines Sohns mit seiner Mutter, welche die Familie für ihren Liebhaber verlassen und ihre Kinder in der Obhut des Ältesten gelassen hat: – Les enfants vont bien, ils sont en bas. – – Qu’est-ce que vous faites, pour Noël? – On reste entre nous cinq. – Moi, Robert m’emmène à Châlons. (Châlons-sur-Marne, pauvre maman.) Je dis: – Vive Robert! Elle a un gloussement. – Tu es un bon fils, mon tout-petit. (Bon, voilà le bon fils...) – Tes autres enfants ne sont pas mal non plus, ma petite mère. – C’est grâce à toi, Benjamin, tu as toujours été un bon fils. (Après le gloussement, le sanglot.) – Et moi qui vous abandonne… (Bon, voilà la mauvaise mère…) – C’est pas de l’abandon, maman, c’est du repos, tu te reposes! – Quelle mère je suis, Ben, tu peux me le dire? quelle espèce de mère?... Comme j’ai déjà minuté le temps qu’il lui faut pour répondre à ses propres questions, je dépose doucement le combiné sur mon édredon et passe à la cuisine où je me fais un café turc bien mousseux. Quand je retourne dans ma chambre, le téléphone cherche toujours l’identité de ma mère… – … c’était ma toute première fugue, Ben, j’avais trois ans…. Café bu, je retourne la tasse dans la soucoupe. Thérèse pourrait lire l’avenir du quartier tout entier dans l’épaisseur du marc qui s’étale. – …là, c’était beaucoup plus tard, j’allais sur mes huit ou neuf ans, je crois… Ben, tu m’écoutes?509
Im Don Quijote beruht die Ironie auf einer Diskrepanz, die durch die Enttäuschung einer zunächst erweckten Erwartung provoziert wird. Dabei ist eine Seite textuell
508 Vgl. ebd., S.71. 509 Pennac, Daniel: Au bonheur des ogres, Paris: Gallimard, 1985, S.25f.
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realisiert, während die andere lediglich im Kopf des Rezipienten existiert, wenn er das Gelesene mit seinem Wissen über die Gattung ‚Ritterroman‘ abgleicht. Anders verhält es sich im vorliegenden Abschnitt: Hier besteht weniger eine Spaltung zwischen dem Erzählten und der Wirklichkeit als zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten. Beide Versionen sind gleichermaßen im Text enthalten, so dass der Rezipient lediglich noch ihre Gegensätzlichkeit bemerken und ihre Rolle festlegen muss. Die Aufmerksamkeit gilt zunächst der Passage „Moi, Robert m’emmène […] Vive Robert!“: Es taucht hier ein klarer Widerspruch zwischen der positiven Bewertung des Freunds der Mutter in der direkten Rede und dem negativen Kommentar in Klammern auf: Bens Ansicht ist zwar für die Mutter nicht zugänglich, jedoch wohl für den Leser; über diese Zusatzinformation privilegiert, darf er eine Komplizität zwischen sich und der Figur annehmen. Eine Hierarchie zwischen den beiden Evaluationen konstruiert die Datenverteilung: Da man die negative Bewertung vor der positiven erfährt, kann man davon ausgehen, dass die spontanere die ehrliche ist, während die spätere eine kontrollierte Umkonstruktion aus der Distanz darstellt. Dies wird dadurch unterstrichen, dass die Formulierung „Châlons-surMarne, pauvre maman“ aufgrund ihres elliptischen Stils sowie seiner Kürze wie ein unmittelbarer Einfall des Protagonisten wirkt, wohingegen das „Vive Robert!“, da nichts nachfolgt, eher unemotional klingt. Nun zum zweiten Kriterium der Ironie: dem Illusionsbruch. Der Don Quijote setzte dafür metanarrative Verfahren ein. Zieht man hierzu eine Analogie, so dürfte die ironische Absetzung einer Figur von einer anderen von metasituativen Verfahren begleitet sein. Diese sind im vorliegenden Text leicht greifbar: Wiederholt stören Bens Gedankeneinschübe das Gespräch der beiden Figuren. Allein visuell beeinträchtigen die Zahlreichen Klammern den Fluss der Kommunikation, indem sie eine Unterbrechung der Mutter-Sohn-Interaktion signalisieren. Auch in kognitiver Hinsicht stellen die Einschübe einen Störfaktor dar: Dem Rezipienten wird lediglich Bens Part des Telefongesprächs präsentiert, während die Reaktion der Mutter eine Leerstelle bildet, so dass dieser zum Ausgleich des Defizits in seiner Vorstellung angehalten ist. Folglich kippt er unablässig zwischen der erlebten und der vorgestellten Situation hin und her, was ein präsentisches Erleben der Szene stören kann. Darüber hinaus funktioniert als Illusionsbruch auch die Tatsache, dass der artifizielle Charakter der Kommunikation in den Vordergrund tritt. Das Telefongespräch wirkt wie eine einstudierte Choreographie, die sich bereits mehrfach zwischen Mutter und Sohn abgespielt hat, was nicht nur in Bens Kommentaren auf hyperbolische Weise expliziert, sondern auch auf der Ebene des Lektürerhythmus etwa über die Wiederholungsstrukturen („Bon, voilà le bon fils...“, „Bon, voilà la mauvaise mère“) spürbar gemacht wird. Der Automatismus des aufgesagten Diskurses ist so stark ausgeprägt, dass er wie ein Produktionsablauf vorauskalkuliert werden kann, während Menschlichkeit und Spontaneität aus dem Gespräch wei-
278 | E RLESENE ERLEBNISSE chen. Über diese Unnatürlichkeit mag eine Distanzierung des Lesers von der reinen emotionalen Partizipation an der Szene statt.510 Fazit: Ironische Partizipation wird möglich, wenn an die Inkohärenz, die die Bewertung provoziert, eine Vertrautheit mit der Figur oder dem Erzähler und sowie ein Illusionsbruch gekoppelt sind. Auf Diskursebene begünstigt Unmittelbarkeit, d.h. die Simulation einer direkten Kommunikation zwischen Erzähler und Leser, die Komplizität, während metafiktionale Verfahren die Auflösung der Illusion befördern. Auf Figurenebene können die emotionale Partizipation sowie die Angleichung des Wissensstands den Eindruck der Nähe bewirken, wohingegen Ikonizität oder Komik eine Unterbrechung der diegetischen Präsenz auslösen mögen.511 3.3.4 Kontextualisierendes Resümee Die Rezeption hat dialogischen Charakter. Lesen bedeutet nicht nur erleben und verstehen, es heißt auch antworten, sich dem Text entgegensetzen und an ihm die eigene Position aushandeln. Dieses komplementäre Verhältnis zum Roman kennzeichnet die evaluative Partizipation: Der Rezipient pflichtet dem Romanpersonal bei, er ist ihm gegenüber gleichgültig oder lehnt es ab; er bewertet es, indem er sein kulturelles Normensystem mit dem des Romans konfrontiert. Von welchen Faktoren diese Prozesse abhängen und wie die evaluative Beteiligung sich zur emotionalen und kognitiven verhält, ergründete dieses Kapitel. Die Ergebnisse werden hier zusammengefasst und in einen übergreifenden Forschungskontext eingeordnet. In Bezug auf die Definition des Begriffs ‚Bewertung‘, herrscht in Kognitionswissenschaften und Psychologie häufig Uneinigkeit. Die einen fassen sie als geistiges Phänomen: Die evaluative Positionierung hänge vom Wertkanon ab, den man im Laufe seiner Sozialisierung erworben und in seinem Gedächtnis abrufbereit gespeichert habe. Es lägen demnach Evaluationsschemata vor, mit denen neue Erfahrungen abgeglichen werden könnten.512 Die Gegenseite betrachtet Bewertung als
510 Die Idee des Automatismus als Motor der Distanzierung taucht auch in Henri Bergsons Le rire auf, wo es heißt: „Est comique tout arrangement d’actes et d’événements qui nous donne, insérées l’une dans l’autre, l’illusion de la vie et la sensation nette d’un agencement mécanique“ (Bergson, Henri: Le rire, Paris: Quadrige, 2007, S.53.). Gemäß der hier vorgelegten Argumentation wäre das Schematische im Menschen allerdings nicht der Grund, sondern der Auslöser der Komik. 511 Genauere Ausführungen zur Komik folgen in Kapitel 3.4.4.5. 512 Vgl. Malrieu, Jean Pierre: Evaluative Semantics. Cognition, Language and Ideology, London: Routledge, 1999, S.282. Oder: Turiel, Elliot: „Thought, Emotions and Social Interactional Processes in Moral Development“, in: Killen, Melanie/Smetana, Judith (Hrsg.): Handbook of Moral Development, Mahwah: Erlbaum, 2006, S.30.
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emotionale Angelegenheit: Sie entstehe mehr oder weniger automatisch auf einen affektiven Reiz hin und diene der unmittelbaren Verhaltenssteuerung des Individuums.513 Ein drittes Modell vereint jüngst diese beiden gegensätzlichen Positionen, indem es argumentiert, dass sich Bewertungen in der Kombination von Emotionen und Kognitionen ergeben. Eine Trennung der beiden Ebenen sei lediglich aus heuristischen Gründen zu verantworten, entspreche jedoch nicht dem Wesen der Evaluation.514 Die Untersuchungen zur evaluativen Partizipation an Romanen haben diese letzte Option bestätigt: Sicherlich resultiert Bewertung einerseits aus Verarbeitungsvorgängen, der Leser positioniert sich zum Text gemäß kultureller Muster und versucht ihn dadurch zu kontrollieren; doch hierin geht die Bewertung nicht auf. Stellung bezogen wird nicht zu Daten, die dem Rezipienten objektiviert gegenüber stünden, sondern zu einer emotional erlebten Geschichte. Insofern kann die evaluative Partizipation als Mischphänomen verstanden werden, das ein emotionales Erlebnis und dessen Einpassung in gesellschaftliche Wissensstrukturen integriert. Im gesellschaftlichen Alltag dient die Bewertung der Versicherung der kollektiven Normen einer Gruppe. Hält ein Subjekt Verhaltens-, Sprech- und Denkvorgaben ein, so belohnen die Mitglieder dies in der Regel mit Sympathie und Zuwendung, während Verstöße eine Distanzierung nach sich ziehen.515 Diese Qualitätszuweisung läuft in der Regel weitgehend automatisiert ab, so dass der einzelne seine Wertentscheidung nicht unbedingt bewusst zu begründen vermag. Ebenso verhält es sich bei der Lektüre: Der Rezipient distanziert sich von fragwürdigen Figuren, Situationen und Erzählern und bestärkt im Geiste solche, die seinen Erwartungen entsprechen.516 In diesem Sinne argumentiert auch Martha Nussbaum in Poetic justice,
513 Vgl. Roseman, Ina/Smith, Craig: „Appraisal Theory. Overview, Assumptions, Varieties, Controversies“, in: Scherer, Klaus/Schorr, Angela (Hrsg.): Appraisal Processes in Emotion. Theory, Methods, Research, Oxford: University Press, 2001, S.3. Oder: Haidt, Jonathan: „The Emotional Dog and its Rational Tail. A Social Intuitionist Approach to Moral Judgment“, in: Psychological Review, 108 (2001), S.815f. 514 Vgl. Bohner, Gerd/Dickel, Nina: „Attitude and Attitude Change“, in: Annual Review of Psychology, 62 (2011), S.402. Oder: Greene, Joshua: „The Cognitive Neuroscience of Moral Judgment“, in: Gazzaniga, Michael (Hrsg.): The Cognitive Neurosciences (Bd.4), Cambridge: MIT Press, 2009, S.991. 515 Vgl. Tuomela, Raimo: „Collective Acceptance, Social Institutions, and Social Reality“, in: Preyer, Gerhard (Hrsg.): Neuer Mensch und kollektive Identität in der Kommunikationsgesellschaft, Berlin: Springer, 2009, S.293. 516 Kathleen McCormick und Gary Waller streichen die Einbettung literarischer Wertungsprozesse in kulturelle Normen heraus (vgl. McCormick, Kathleen/Waller, Gary: „Text, Reader, Ideology. The Interactive Nature of the Reading Situation“, in: Poetics, 16.1
280 | E RLESENE ERLEBNISSE Charaktere flößten dem Leser Vertrauen und Sympathie ein, brächten ihn zum Lachen, machten ihn wütend, ängstigten ihn oder riefen in ihm Verachtung hervor. Da er in seiner Vorstellung eine mentale Repräsentation der Romanwirklichkeit bilde und diese erlebe, urteile er, als stünde er realen Ereignissen gegenüber.517 Figuren, der Erzähler oder Handlungssituationen werden demnach ebenso bestraft, belohnt und eingeschätzt wie die Mitmenschen und Verhaltensweisen im Alltag.518 Dieser These lässt sich ausgehend von den Ergebnissen der durchgeführten Analysen allerdings nur mit Einschränkungen zugestimmen. Sicherlich bleibt das Normenrepertoire, das der Leser mitbringt, bei der Lektüre das gleiche wie in Wirklichkeit; womit dieses jedoch konfrontiert wird, kann erheblich variieren. Die Romanwelt ist nicht zwangsweise gemäß der Gesetze der Realität strukturiert, sie gehorcht vielmehr ihren eigenen Prinzipien und Werten und sorgt für deren Aneignung durch den Leser. Bei der Lektüre von La Regenta etwa befindet man über Ana wahrscheinlich nicht bloß aus der aktuellen Lebensperspektive heraus, sondern passt seine moralischen Vorstellungen vom Ehebruch den romanspezifischen Maßstäben an. Die Überzeugung, dass Anas Seitensprung eine unzulässige Transgression darstellt, die eine drakonische Strafe erfordert, vertritt man nicht zwangsweise von sich aus, sie kann auch über die Partizipation vermittelt sein: Indem der Leser erlebt, wie die Protagonistin immer wieder mit den harten Schranken ihrer Gesellschaft kollidiert, mag er seine eigenen Normen in einer Art Lernprozess denen der Romanwelt anpassen.519 In dieser Hinsicht findet in Bezug auf die Beschaffenheit
(1987), S.193.). Diese Positionierung des Rezipienten zum literarischen Text erfolgt häufig nicht bewusst, sondern implizit (vgl. Barthel, Verena: Empathie, Mitleid, Sympathie. Rezeptionslenkende Strukturen mittelalterlicher Texte in Bearbeitungen des Willehalm-Stoffs, Berlin: de Gruyter, 2008, S.273.). 517 Vgl. Nussbaum, Martha: Poetic Justice. The Literary Imagination and Public Life, Boston: Beacon Press, 1995, S.35f. 518 In diesem Sinn kann Literatur die Verfestigung der moralischen Überzeugungen des Lesers bewirken, wenn dieser die Normen seines sozialen Umfelds im Text wiederfindet (vgl. Schneider, Jost: „Die Bestätigungsfunktion literarischer Kommunikation als Methodenproblem der empirischen literaturwissenschaftlichen Rezeptionsforschung“, in: Ajouri, Philip/Mellmann, Katja/Rauen, Christoph (Hrsg.): Empirie in der Literaturwissenschaft, Münster: Mentis, 2013, S.379.). 519 Ausschlaggebend für die Haltungsänderung ist unter anderem, dass der Rezipient dem divergenten Wertekontext über einen längeren Zeitraum hinweg wiederholt ausgesetzt ist (vgl. Schenk, Michael: Medienwirkungsforschung, Tübingen: Mohr 2007, S.82.).
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des moralischen Hintergrunds eine Modifikation gegenüber der Wertung im Alltag statt.520 Doch auch die Intensität des Urteils fällt nicht unbedingt so aus wie in einer vergleichbaren Situation in der Realität, da die emotionale Partizipation die evaluative Haltung des Rezipienten beeinflussen kann: Ist eine Figur etwa über den sprachlichen Erlebniswert positiv besetzt und unterstreicht der Lektürerhythmus dies, so wird er mit hoher Wahrscheinlichkeit Sympathie für sie empfinden; ist die Inszenierung hingegen negativ, so wird er sich von ihr distanzieren. Folglich hängt die Bewertung nur indirekt von einem bestimmten Inhalt ab, den es auf Basis kultureller Normen einzuschätzen gilt, sondern primär vom damit verbundenen Beteiligungspotenzial.521 Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass der Zeitpunkt der Evaluation bei der Lektüre nicht ausschließlich im Ermessen des Lesers liegt, sondern dass sie der Text mitbedingt. Aus kognitiver Sicht wird Bewertung immer dann erforderlich, wenn das Romanerlebnis an eine Inkohärenz gekoppelt ist, so dass daraus eine partielle Störung der Romanillusion resultiert.522 Diese kann von einer sprachlichen oder inhaltlichen Ungereimtheit zur Widersinnigkeit der emotionalen Beteiligung bis hin zur kognitiven Unvereinbarkeit (etwa bei der fehlerhaften Konstruktion eines unglaubwürdigen Erzählers) reichen. Die einzige Voraussetzung besteht darin, dass das abweichende Element auffällig genug ist, um die Präsenzdimension zu beeinträchtigen. Da der Leser stets bestrebt ist, den Roman zu kontrollieren und zu
520 Insofern erfordert Bewertung, wie Kertzer in Anlehnung an Coleridge formuliert, eben keine „willling suspension of disbelief“ (vgl. Kertzer, Jonathan: Poetic Justice and Legal Fictions, Cambridge: University Press, 2010, S.11.). Der Leser muss sich nicht zur vorübergehenden Rücknahme seiner eigenen Normenstandards zwingen, um sich auf die des Romans einzulassen. Stattdessen erlernt er die abweichenden Werte, wie er sich in der Realität geänderte Normen aneignen würde. 521 Sicherlich ist der Leser nicht zur Übernahme der durch die emotionale Partizipation angedeuteten Bewertung gezwungen. Er kann seine Emotion, wie Joshua Greene betont, bei ausreichender Motivation kontrollieren und den Roman rein kognitiv verarbeiten (vgl. Greene, Joshua: „The Cognitive Neuroscience of Moral Judgment“, in: Gazzaniga, Michael (Hrsg.): The Cognitive Neurosciences (Bd.4), Cambridge: MIT Press, 2009, S.995.). Der Fall tritt ein, wenn etwa ein Romanerlebnis den Normen des Rezipienten so stark widerspricht, dass er sich der Emotion verwehrt, wenn er beispielsweise Ehebruch so verwerflich findet, dass er sich auf das präsentische Erleben der Lust auf Transgression in La Regenta gar nicht einlässt. In diesem Fall dominiert der gesellschaftliche Moralkodex die vom Werk skizzierte Emotion. 522 Vgl. Colm Hogan, Patrick: Cognitive Science, Literature and the Arts. A Guide for Humanists, London: Routledge, 2003, S.116.
282 | E RLESENE ERLEBNISSE verstehen, mag er seine Aktivität zur Auflösung der Diskrepanz verstärken. Insofern ist er nicht mehr direkt auf das romanweltliche Erleben konzentriert, sondern analysiert es gleichzeitig aus der Ferne, woraus eine Bewertung resultieren kann. Die evaluative Partizipation an einer Szene bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Erwartungen des Rezipienten an den weiteren Verlauf des Texts, vielmehr kann ein Rückkopplungseffekt eintreten. Wie der Leser das Verhalten und die Äußerungen einer Figur einschätzt, hängt davon ab, welchen Standpunkt er ihr gegenüber bereits bezogen hat, so dass die Bewertung als Aushandlungsprozess verstanden werden muss: Abbildung 9: Interaktionsmodell der Bewertung an narrativen Texten Verhalten/ Äußerung oder
Erlebnis der
Ver-/Abgleich
Situation
Emotion der Figur
Beobachtung
Übereinstimmung
mit
mit oder
anschließender
Distanzierung von
Bewertung
der Figur
der Situation
Rückkopplung in Form von Haltungen und Erwartungen
Insofern beruht die Bewertung an narrativen Texten zwar auf den gleichen Prinzipien wie in der Realität, sie hat jedoch eine romanspezifische Ausprägung. Daraus lassen sich zwei Dinge folgern: Zum einen muss sie nicht das ganze Werk über konstant bleiben, sondern kann je nach Situation und Beteiligung variieren. Zwar tendiert der Leser dazu, an einem einmal gefällten Urteil festzuhalten, weil seine Erwartung die Wahrnehmung vorstrukturiert; allerdings können extreme oder konstante Emotionswechsel sehr wohl eine Veränderung der Evaluation nach sich ziehen.523 Manche Romane machen sich dies zunutze, indem sie der evaluativen Beteiligung Gewicht verleihen und Wertungsfragen auch inhaltlich zum Zentrum machen, wie dies für Guelbenzus El río de la luna, Yourcenars Alexis oder Claríns La Regenta der Fall war. Zum anderen kann die Lektüre subversiven Charakter annehmen und Reflexionsprozesse anstoßen. Indem ein Text den Leser mit einer Extremsituation, einem
523 Vgl. Margolis, Howard: Patterns, Thinking, and Cognition. A Theory of Judgment, Chicago: University Press, 1987, S.130.
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unbekannten Gegenstand oder mit ungewöhnlichen Emotionen und Kognitionen konfrontiert, handelt dieser möglicherweise seinem Normeninventar zuwider. In diesem Sinne betont Ingrid Vendrell: „Fiction has the power to enlarge our experiential horizon, influence our feelings, thoughts and actions, and it is a strong instrument to mould us as moral beings.“524 Doch auch wenn man, wie Suzanne Keen in Empathy and the Novel nicht so weit gehen möchte, den erlesenen Erlebnissen auch außerliterarische Relevanz zuzusprechen,525 so kann man doch nicht umhin, eine Veränderung der moralischen Standards des Rezipienten zumindest für die Dauer der Lektüre einzuräumen. Bewertungen sind zwischen fünf Dimensionen aufgespannt: der Qualität der Evaluation, ihrer Dauer, ihrer Bewusstheit, ihrer Richtung und ihrem Modus. Die Qualität meint den Grad der Übereinstimmung des Lesers mit bzw. der Distanzierung von einer Figur, ihren Handlungen oder dem Erzähler. Dabei sind die Urteile natürlich nicht nur an den Polen verortet, sondern es liegen zahlreiche mögliche Nuancen zwischen ihnen. In diesem Zusammenhang kann der Leser auch in eine Dilemmasituation zwischen Übereinstimmung und Distanzierung geraten, in der ihm eine eindeutige Positionierung verwehrt ist. Dauer und Bewusstheit hängen von der Beschaffenheit der Inkohärenz ab, die den Wertungsprozess auslöst. Bleibt diese aufgrund ihrer Komplexität lange bestehen oder treten konstant neue Widersprüche auf, so kann die evaluative Partizipation die Lektüre dominieren; ist sie hingegen schnell auflösbar oder nur punktuelle gesetzt, so gestaltet tritt auch die Präsenz des Urteils zurück. Die Identifikation mit einer Instanz reflektiert der Rezipient meist nicht, da sie im präsentischen Erleben aufzugehen scheint; Sichtbarkeit erlangt sie nur, wenn sie sich von einer Distanzierung abhebt. Anders für den umgekehrten Fall: Je größer die Diskrepanz zwischen zwei Romanversionen, desto willentlicher vollzieht sich die Abkehr vom bewerteten Gegenstand. Die Richtung der Evaluation ergibt sich aus der Positionierung zu den Standpunkten der Figuren oder des Erzählers. Ob der Leser deren Wertung gutheißt oder ablehnt, hängt von der Kompetenz ab, die er ihnen (und sich) zuspricht: Verfügen sie über viel Wissen und wirken sie professionell, so traut er ihnen eher eine richtige Bewertung zu als unwissenden und fragwürdigen Instanzen. Insofern gehorcht die Romanwelt einem komplexen Hierarchiesystem, in dem jeweils derjenige mit der höchsten evaluativen Kompetenz das Urteil über eine Situation bestimmt und in dem auch der Rezipient seinen Platz hat. Konventionellerweise kommt dem Erzäh-
524 Vendrell, Ingrid: „Can Literature be Moral Philosophy? A Sceptical View on the Ethics of Literary Empathy“, in: Hüsch, Sebastian (Hrsg.): Philosophy and Literature and the Crisis of Metaphysics, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2011, S.197. 525 Vgl. Keen, Suzanne: Empathy and the Novel, Oxford: University Press, 2007, S.168.
284 | E RLESENE ERLEBNISSE ler die Ordnungs- und damit die Bewertungsfunktion zu, wodurch er bereits per se über eine größere evaluative Kompetenz als eine Figur verfügt.526 Allerdings kann diese ‚natürliche‘ Vertrauenswürdigkeit schwinden, wenn seine Äußerungen ungeplant, unlogisch oder stilistisch unüberlegt erscheinen und sein Urteil fragwürdig erscheint. Versagt der Erzähler bei der Wertungsaufgabe, so ist es am Rezipienten, als Instanz mit der größten evaluativen Kompetenz die Informationen zu korrigieren.527 Einen Überblick über mögliche Vehikel der evaluativen (In-)Kompetenz im Figuren- und Vermittlungsbereich bietet folgende Tabelle: Tabelle 8: (Un-)Glaubwürdigkeit von Figuren und Erzähler evaluative Kompetenz Figur
• Vereinbarkeit der Bewertung mit gesellschaftlichen Standards
• Prestige im diegetischen Hierarchiesystem
• (emotionale) Gelöstheit der Figur vom beurteilten Gegenstand Erzähler
evaluative Inkompetenz
• Unvereinbarkeit der Bewertung mit gesellschaftlichen Standards
• Marginalität im diegetischen Hierarchiesystem
• (emotionale) Verbindung der Figur zum beurteilten Gegenstand
• Kontrollsignale (teleologische
• Fallibilitätssignale (implizite
Ausrichtung der Erzählung,
Hinweise auf Unseriosität,
plausible Gliederung des Er-
Kontrollschwierigkeiten, ge-
zählten, logische Informati-
wollte Abschweifungen, stilis-
onsvergabe)
tische Nachlässigkeiten, kognitive Einschränkungen)
• emotionale Distanz zum Er-
• Emotionalität (sprecherzen-
zählten (Abgeschlossenheit,
trierte, subjektive und expres-
grammatikalische Korrektheit,
sive Äußerungen, Leseranre-
Kohärenz, Metareflexivität)
den)
526 vgl. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, München: Beck, 1999, S.86. In eine ähnliche Richtung zielt James Phelan: Auch er kehrt einen Zusammenhang zwischen Erzähleridentität und Evaluation heraus, indem er davon ausgeht, dass ein Wechsel des Vermittlungsstandpunkts eines Romans auch eine Veränderung des Werturteils bedingt (vgl. Phelan, James: Living to Tell about it. A Rhetoric and Ethics of Character Narration, New York: Cornell University Press, 2005, S.131.). 527 Zu dieser ausgleichenden Handlung mag ihn seine Tendenz zur Vermeidung von Dissonanzen aktivieren, die einem optimalen Verständnis des Texts zuträglich ist (vgl. Schenk, Michael: Medienwirkungsforschung, Tübingen: Mohr 2007, S.141.).
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Erzähler
• keine unerklärbaren Wider-
• offensichtliche Lüge (Diskre-
sprüche zwischen Bewertung
panz zwischen Aussagen und
und Handlung
Handlungen des Erzählers,
• showing statt telling
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Divergenzen zwischen Selbstund Fremdcharakterisierung)
• explizite Thematisierung der eigenen Unglaubwürdigkeit
• explizite Thematisierung der eigenen Glaubwürdigkeit
Zuletzt zum Bewertungsmodus: Die Äußerung einer Haltung kann in ernstem Ton erfolgen oder sich ironisch von den Geschehnissen der Romanwelt entfernen. Letzterer Fall kommt zustande, wenn an die Inkohärenz, welche die Bewertung provoziert, ein Illusionsbruch gekoppelt ist, der eine Gemeinschaft zwischen Leser und Sprecher herstellt. Auf Erzählerebene können metafiktionale Verfahren, die Bloßlegung der Künstlichkeit der Erzählsituation, eine unstimmige Vermittlung oder ungewöhnliche Sprachverwendung die Störung der Präsenz befördern, während die Vertrautheit über Verfahren der Unmittelbarkeit, also die Simulation einer direkten Kommunikation zwischen Erzähler und Leser, entstehen mag. Auf Figurenebene können autoreflexive Elemente, ein künstliches, automatisiertes oder inkohärentes Verhalten sowie eine ungewöhnliche Sprachverwendung den Bruch der diegetischen Illusion auslösen, wohingegen Komplizität durch die emotionale Partizipation sowie durch die Anpassung des Wissensstands des Rezipienten an den der Figur begünstigt wird. Insgesamt erweist sich die evaluative Beteiligung als komplexe Operation der Positionierung des Rezipienten gegenüber dem Text auf Basis seiner emotionalen und kognitiven Partizipation sowie der gesellschaftlichen Normen, die er an den Roman heranträgt. Die Bewertung hat entscheidenden Anteil an seiner Lektüre: Ob man etwa Don Quijote für verrückt hält oder nicht, ob man ihn belächelt oder ernst nimmt und ob man sich für diese Entscheidung überhaupt kompetent fühlt, verändert das erlesene Erlebnis maßgeblich.
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3.4 ÄSTHETISCHE B ETEILIGUNGSMÖGLICHKEITEN Dass der Ursprung der Kunst in der menschlichen Erfahrung liegt, wird jedem klar, der beobachtet, wie die Zuschauermenge von den spannungsgeladenen, graziösen Bewegungen des Ballspielers mitgerissen wird; der bemerkt, mit wie viel Freude die Hausfrau ihre Blumen pflegt und mit welcher Hingabe ihr Gatte das kleine Fleckchen Rasen vor dem Haus instand hält; der das Behagen dessen mitempfindet, der ein Holzfeuer im Kamin anfacht und dabei die hochschießenden Flammen und die zerfallende Glut betrachtet. Fragte man alle diese Menschen nach dem Sinn ihrer Tätigkeiten, so würden sie gewisse einleuchtende Gründe anführen. Derjenige, der die brennenden Äste anfachte, gäbe zur Antwort, dass auf diese Weise das Feuer besser brenne. Von dem sprühenden Farbenspiel, das vor seine Augen abläuft, ist er indessen nicht weniger fasziniert, und seine Phantasie nimmt daran lebhaften Anteil. Er bleibt also kein kühler Beobachter.528
Es ist ein überaus beschauliches Bild, das John Dewey in Kunst als Erfahrung von den Momenten potenzieller ästhetischer Erfahrung zeichnet. Der Sport, die Blumen, der gepflegte Garten, das Kaminfeuer – seine Beispiele scheinen einem kleinbürgerlichen Familienidyll entsprungen und übertreffen sich gegenseitig an Banalität. Besser hätte Dewey sie nicht wählen können, um seine Idee von der Lokalisierung der ästhetischen Erfahrung mitten im Alltag zu illustrieren. Denn es gibt kaum Vorstellungen, die so wenig mit der weihevollen Aura eines Museums, eines Konzertsaal, eines Literaturkanons oder anderen traditionellen Orten ästhetischer Erfahrung zu tun haben wie diese. Dass sich das Ästhetische inmitten des Durchschnittlichen ereignen, dem pragmatischen Substrat nicht nur erwachsen kann, sondern sogar muss, kommt dadurch deutlich zum Ausdruck. Faszination, Dynamik und Erhabenheit vollziehen sich auf den Schultern von Routinehandlungen. Hier lassen sich Analogien zur ästhetischen Partizipation an Romanen ziehen: Auch die Lektüre erfordert vom Rezipienten eine Reihe von „Alltagsverrichtungen“: Der Text muss kognitiv geordnet und verstanden werden, damit er im Kopf des Lesers Sinn bekommt; Atmosphären, Gefühle und Motivationen müssen erlebt werden, damit sie in seiner Vorstellung Präsenz erlangen; Evaluationen müssen vollzogen werden, damit das Imaginierte eine Wertstruktur annimmt. All diese Tätigkeiten dienen der Konstitution der Romanrealität als Erfahrungsraum und ihnen eignet in dieser Hinsicht ein Anwendungsbezug. Auf ihnen aufbauend und in Abhängigkeit von ihnen kann sich nun ästhetische Beteiligung entwickeln, also ein ganzheitliches Erleben, das über jegliche Zweckmäßigkeit erhaben ist. Somit ist die ästhetische eine hochkomplexe Form der Partizipation: Sie ist, da sie auf den emotionalen, kognitiven und evaluativen Beteiligungsmöglichkeiten gleichermaßen
528 Dewey, John: Kunst als Erfahrung, Frankfurt: Suhrkamp, 1988, S.11.
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aufbaut, nicht allein durch das Erleben des Gelesenen erreichbar, sondern benötigt ein Distanzierungsmoment. Insofern hat der Leser bei der ästhetischen Partizipation weder die Rolle eines rein kühlen Beobachters, noch die eines bloßen Teilnehmenden inne, sondern beide zugleich. Er vollführt gewissermaßen ein Präsenzmoment aus der Ferne – oder wie Matthias Vogel formuliert: „Ästhetische Erfahrungen schließen Akte eines Verstehens ein, die nicht im Erfassen der Bedeutung des Gegenstands der Erfahrung bestehen, sondern im Strukturieren sinnlicher Wahrnehmungen.“529 Dieses Kapitel möchte die ästhetische Beteiligung als Möglichkeit der Begegnung von Text und Rezipient ergründen. Es fragt nach den Motoren und Hindernissen der ästhetischen Erfahrung im Kontext der narrativen Kommunikation und erklärt anhand von Ausschnitten, wie sich diese im Einzelfall manifestiert. Ziel ist die Entwicklung einer interaktiven Definition der ästhetischen Partizipation sowie der Entwurf einer Klassifikation ihrer unterschiedlichen Ausprägungen. Besonders betont werden soll hier noch einmal der Potenzialcharakter der Ergebnisse: Aufgezeigt werden Möglichkeiten, keine bindenden Reaktionsstrukturen. Da es sich bei der ästhetischen Erfahrung um ein Erlebnis auf Basis von Erlebnissen handelt, steigt die Schwierigkeit einer Anbindung an textuelle Merkmale. Nichtsdestotrotz soll eine Erarbeitung der elementaren Konstituenten ästhetischer Beteiligung versucht werden. Die folgenden Ausführungen beschreiben eine Partizipation, die sich nicht zwangsweise bei jedem Rezipienten oder jeder Lektüre vollzieht, die aber in der Aufführung der Werke dennoch vorkommen kann. 3.4.1 Vorüberlegungen zum ästhetischen Erleben Als ‚Theorie der Wahrnehmung‘ (griech.: aisthesis = wahrnehmen) eignet der Ästhetik von sich aus bereits eine performative Komponente. Schließlich erfordert die ästhetische Erfassung eines Kunstwerks ebenso wie die emotionale und kognitive dessen Aufführung und Verarbeitung durch ein Subjekt. Doch nicht alle Betrachtungen zum Thema verwirklichen den Partizipationsgedanken gleichermaßen. Vor allem die frühen Ausführungen argumentieren tendenziell werkimmanent und klammern den Rezipienten teilweise aus ihren Fragestellungen aus. Bevor Analysen zu den Determinanten der ästhetischen Erfahrung anschließen, soll deshalb reflektiert werden, wie diese definiert sein muss, um unter den Beteiligungsformen rangieren zu können. Hierfür werden ausgewählte Positionen der Ästhetik vergleichend gegenübergestellt mit der Intention, die geeignetste Auffassung für die Ziel-
529 Vogel, Matthias: „Ästhetisches Erfahren. Ein Phantom“, in: Deines, Stefan/Bertram, Georg (Hrsg.): Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse, Frankfurt: Suhrkamp, 2013, S.105.
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setzung dieser Arbeit zu eruieren. Vier Punkte sollen dabei zur Diskussion stehen: die Grundstruktur der ästhetischen Erfahrung, ihre Verortung, ihre Wertigkeit und ihre Funktion. Was die erste Frage angeht, so sind sich zahlreiche Theoretiker einig; die ästhetische Erfahrung besteht im Erlebnis von Ganzheit, im Zusammenstimmen mehrerer oder aller Elemente eines Werks im Rahmen einer übergeordneten Struktur. Gottlieb Baumgarten, der Begründer der Ästhetik als wissenschaftlicher Disziplin, definiert sie als „Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis“530. Als Bewertungskriterien dienen ihm dabei – wie auch im Zitat aus Metaphysica anklingt – Werte wie ‚Harmonie‘, ‚Ausgewogenheit‘ oder ‚Perfektion‘: „Wenn die Verschiedenheiten einer Sache entweder als zusammenstimmend oder als nicht zusammenstimmend erkannt werden, so wird ihre Vollkommenheit oder Unvollkommenheit erkannt.“531 Passen die einzelnen Teile des Kunstwerks bei ihrer sinnlichen Vergegenwärtigung zueinander, so ist dieses ästhetisch; tritt jedoch Disharmonie ein, verliert es diese Eigenschaft. Es gebe, so Baumgarten weiter, zwei Arten von Stimmigkeit: Der repräsentierte Gegenstand könne sie, sofern er schön sei, von sich aus besitzen, oder der Künstler könne ihn so gestalten, dass er sie bekomme.532 Auch in Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft ist das Zusammenstimmen als Charakteristikum des Ästhetischen präsent, jedoch in abgewandelter Form. Hier sind es nicht die Eigenschaften des Dargestellten, die in Einklang stehen müssen, sondern die einzelnen Wahrnehmungen aus dem Rezeptionsprozess. Sobald sich eine Verbindung zwischen Anschauung und Denken ergebe, d.h. wenn man eine Erkenntnis aus dem Werk ziehe, werde eine ästhetische Erfahrung möglich. Diese definiere sich dementsprechend als „Zusammenstimmung des Mannigfaltigen in einem Dinge, zu einer inneren Bestimmung desselben als Zweck“533. Erlaube ein Gemälde, ein Musikstück oder ein literarischer Text dem Rezipienten die Herstellung einer sinnhaften Einheit oder Analogie zwischen mehreren Elementen, also Verstehen, so empfinde er diese als stimmig. Während also bei Baumgarten die Harmonie der dargestellten Objekte die ästhetische Erfahrung transportiert, ermöglicht sie bei Kant die Erfahrung des Kunstwerks. Insgesamt ist Kants Argumentation folglich performativer als Baumgartens, zumal sie das Ästhetische explizit im Perzeptionsprozess entstehen lässt.534
530 Baumgarten, Alexander Gottlieb: Ästhetik (Bd.2), Hamburg: Meiner, 2007, S.21. 531 Baumgarten, Alexander Gottlieb: Metaphysik, Halle: Hemmerde, 1766, S.202f. 532 Vgl. ebd., S.205. 533 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Hamburg: Meiner, 1990, S.165. 534 Nichtsdestotrotz fasst Kant die Lust der Zweckmäßigkeitserfahrung freilich als eine auf, die mit dem Begehren oder anderen objektbezogenen Emotionen nicht in Verbindung steht (vgl. Degen, Andreas: „Ästhetische Faszination nach Kant“, in: Baisch, Mar-
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Zu einer vergleichbaren Beschreibung der ästhetischen Erfahrung gelangt John Dewey. Von einer ästhetischen Erfahrung könne man sprechen, wenn die einzelnen Teile eines Kunstwerks ein Erlebnisganzes bildeten: In einem Kunstwerk verschmelzen die verschiedenen Akte, Episoden und Begebenheiten miteinander und schließen sich zu einer Einheit zusammen, doch weder verschwinden sie dabei, noch verlieren sie ihrer eigenständigen Charakter – gerade so, wie in einem anregenden Gespräch Austausch und Vermischung stattfinden und dennoch jeder Sprecher seinen persönlichen Charakter nicht nur wahrt, sondern deutlicher hervorhebt, als er es gewohnt tut.535
Die ästhetische Erfahrung ist hier als Metawahrnehmung definiert, bei der die einzelnen Rezeptionserlebnisse in ihrer Wechselbeziehung erfasst werden. Der Unterschied zu Kant besteht darin, dass Dewey die ästhetische Erfahrung nicht an eine Erkenntnis knüpft, sondern sie als eine Art atmosphärischen Zusammenklang versteht. Hier ermöglicht keine „Polarität von Code und Decodierer“ das Ästhetische, sondern ein „ein[…] transformatorische[r] Erfahrungsprozess“536. Möchte man die ästhetische Erfahrung als übersummative Eigenart der Rezeptionsvorgangs untersuchen, die mit einer Erkenntnis oder einem intensiven Erlebnis einhergeht, so gilt es zu untersuchen, wie sich dieses Metaerlebnis im konkreten Einzelfall realisiert und wodurch es determiniert wird. Die zweite Frage zur Definition der ästhetischen Erfahrung als Partizipationsform betrifft die Lokalisierung des Ästhetischen. Baumgarten geht davon aus, dass dieses, obschon es vom Rezipient erfasst werden müsse, gewissermaßen im Text objektiviert sei, da er es für möglich hält, universelle Regeln dazu aufzustellen. So heißt es beispielsweise in §556 der Ästhetik: Je 1) reicher folglich, 2) je größer und würdiger, 3) je genauer, 4) je klarer und deutlicher, 5) je gewisser und gründlicher, 6) je glühender die Vorstellung eines Gegenstands ist, 7) je mehr, 8) je Größeres und Wichtigeres, 9) nach je stärkeren Gesetzen sie umfasst, 10) je mehr das in ihr Enthaltene zusammenstimmt, um so größer ist ihre ästhetikologische Wahrheit.537
tin/Degen, Andreas/Lüdtke, Jana (Hrsg.): Wie gebannt. Ästhetische Verfahren der affektiven Bindung von Aufmerksamkeit, Freiburg: Rombach, 2013, S.283.). 535 Dewey, John: Kunst als Erfahrung, Frankfurt: Suhrkamp, 1988, S.49. 536 Voss, Christiane: „Der affektive Motor des Ästhetischen“, in: Deines, Stefan/Bertram, Georg (Hrsg.): Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse, Frankfurt: Suhrkamp, 2013, S.197. 537 Baumgarten, Alexander Gottlieb: Ästhetik (Bd.2), Hamburg: Meiner, 2007, S.533.
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Die Punkte 1-6 beziehen sich auf die formale Perfektion eines Werks, 7-10 auf die inhaltliche. Es werden folglich ausschließlich gegenstandsbezogene Kriterien zur Bestimmung des Ästhetischen genannt,538 so dass eine Entkopplung vom Rezipienten konstatierbar wird. Das Schöne ist ein dem Werk inhärentes Objekt, das ein für sinnliche Erkenntnis sensibler Autor dort platziert hat.539 Auch dieser Gedanke erfährt mit Kants Kritik der Urteilskraft eine Dynamisierung. Darin wird nämlich die Auffassung vertreten, das Ästhetische könne unmöglich auf allgemeingültige Gesetze rückgeführt werden. Da es erst in der Erfahrung aufscheine, lasse es sich nicht unmittelbar an sichtbare Merkmale anbinden.540 Die Verknüpfung von Kunstwerk und ästhetischem Eindruck ist loser, zumal man sie lediglich über das Bindeglied der Erfahrung erreichen kann. Maria Reicher schlägt in Anlehnung an Kant eine Definition des Ästhetischen als ‚dispositionelle Eigenschaft‘ vor: Dieses sei im Kunstwerk zwar angelegt, trete jedoch nur zutage, wenn das Subjekt es besonders rezipiere. Ebenso wie beispielsweise eine reife Tomate unter Normalbedingungen wahrgenommen werden müsse, damit sie rot erscheine, müsse auch ein Kunstwerk auf eine bestimmte Weise in der Vorstellung des Rezipienten realisiert werden, damit sich seine ästhetischen Eigenschaften zeigten. Mehrere Konsumenten könnten folglich den ästhetischen Wert eines Werks unterschiedlich erfahren, ohne dass dieser Unterschied einen Beweis für die Subjektivität der ästhetischen Erfahrung bedeute.541 Die ästhetische Erfahrung besteht folglich nicht in der Wahrnehmung des Gegenstands, sondern ist ein Produkt aus dessen Verarbeitung. Diese Lokalisierung des Ästhetischen auf der Grenze zwischen Werk und Leser kommt dem Partizipationsgedanken am nächsten, zumal sie erlaubt, die ästhetische Erfahrung als Ergebnis einer Aushandlung zu setzen. Das dritte Kriterium bezieht sich auf die Wertigkeit der ästhetischen Erfahrung. Ein Großteil der traditionellen Ästhetiken operiert mit dem Begriff ‚Schönheit‘ und auch in der Alltagssprache werden ‚ästhetisch‘ und ‚schön‘ weitgehend synonym verwendet. Dennoch deckt dieser nicht alle Dimensionen ästhetischen Erlebens ab; beispielsweise umfasst er nicht den Faktor der ‚Authentizität‘. Ob es sich bei einem Gemälde um ein Original oder eine Fälschung handelt, ob ein Text innovativ ist
538 Auch den Punkt 10 meint Baumgartner gegenstandsbezogen, denn er führt hierzu weiter aus: Zu vermeiden seien offensichtliche Widersprüche in der Handlung sowie unmögliche oder untereinander inkohärente Gegenstände, Orte oder Zeiten (vgl. ebd., S.533f.). 539 Für seine Gesetze des Schönen prägt Baumgarten wie oben zitiert den Begriff der ‚ästhetischen Wahrheit‘. In der Auffassung, Kunstwerken müsse alles verboten sein, was sie unwahr und inauthentisch mache, schwingt ein eindeutig aufklärerischer Tonus mit. 540 Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Hamburg: Meiner, 1990, S.41. 541 Vgl. Reicher, Maria: Einführung in die philosophische Ästhetik, Darmstadt: WBG, 2005, S.77f.
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oder vergleichbare Texte zitiert, hat Auswirkungen auf dessen ästhetisches Potenzial.542 Ein zweiter Grund für die Inadäquatheit des Schönheitsbegriffs zur Spezifizierung der Erlebnisqualität des Ästhetischen ist die Tatsache, dass auch unschöne Kunstwerke ästhetische Erfahrungen auszulösen vermögen. Karl Rosenkranz widmet sich diesen in Ästhetik des Hässlichen, wobei er das Hässliche mit ‚Disharmonie‘, ‚Gestaltlosigkeit‘ oder ‚Misseinheit‘ belegt – mit Konzepten also, die ex negativo auf die Definition des Schönen Bezug nehmen.543 Einer der ersten, der den ästhetischen Eigenwert des Hässlichen anerkennt, ist Konrad Fiedler, indem er in Schriften zur Kunst konstatiert, ein Kunstwerk könne „mißfallen und doch gut sein“544. Unabhängig davon, ob es positive oder negative Gefühle auslöse, könne es Einsichten in übergreifende Zusammenhänge ermöglichen.545 Die Leere, die der Auflösung des Schönheitsparadigmas in der Ästhetik hinterlässt, versucht Ludwig Wittgenstein in seinen späten Schriften neu zu füllen. In Vorlesungen über Ästhetik weist er darauf hin, dass das Adjektiv ‚schön‘ in ernsthaften Diskussionen über Kunst kaum Verwendung finde. Vielmehr könnten Kritiker meist stichhaltige Gründe dafür angeben, warum sie ein Werk als qualitativ hochwertig empfänden oder warum nicht, während lediglich Laien auf das Attribut rekurrieren müssten.546 Wittgenstein erklärt diesen Unterschied mit dem Argument, Ästhetik beruhe zwar auf kulturspezifischen Regeln, in denen sich Erwartungen kristallisierten, diese seien Nichtspezialisten aber nicht bewusst, da sie Kunstwerke häufig nicht reflektierten, sondern lediglich auf sich wirken ließen. Um die Befriedigung zu erklären, die die Konformität eines Werks mit der Erwartung des Rezipienten auslösen könne, rekurriere man folglich auf das Konzept der ‚Schönheit‘. Im Grunde sei es aber treffender, von ‚Richtigkeit‘ zu sprechen, zumal sich die Qualität aus dem richtigen oder falschen Umgang mit den in einer Gesellschaft aktuell geltenden künstlerischen Konventionen ergebe.547 Hält man zur Erforschung der ästhetischen Partizipationsmöglichkeiten an diesem Gedanken fest, so gilt es herauszufinden, worin die Erwartungen an narrative Texte bestehen und inwiefern diese als ästhetische Erfahrungen zutage treten. Schließlich kommt dem Rezipienten die ungeschriebenen Gesetze der narrativen Kommunikation kaum zu Bewusstsein, solange sich ein Roman an sie anlehnt. Erst wenn mit diesen Gewohnheiten gebro-
542 Vgl. Majetschak, Stefan: Ästhetik zur Einführung, Hamburg: Junius, 2007, S.139. 543 Vgl. Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Hässlichen, Stuttgart: Bornträger, 1853, passim. 544 Fiedler, Konrad: Schriften zur Kunst (Bd.2), München: Fink, 1971, S.10. 545 Vgl. Majetschak, Stefan: Ästhetik zur Einführung, Hamburg: Junius, 2007, S.140. 546 Vgl. Wittgenstein, Ludwig: Vorlesungen über Ästhetik, Psychoanalyse und religiösen Glauben, Düsseldorf: Parerga, 1994, S.10f. 547 Vgl. ebd., S.14f.
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chen wird und dadurch ‚Unrichtigkeit‘ entsteht, tritt das Stimmigkeitsdefizit als signifikant hervor. Nun zum vierten Punkt der Definition der ästhetischen Erfahrung, ihrem Zweck. Für Baumgarten liegt dieser im Erkenntnisbereich: Kunstwerke ermöglichten die Einsicht in lebensweltliche Zusammenhänge, sie strichen Aspekte der Realität heraus, derer man sich ohne sie nicht bewusst geworden wäre und produzierten auf diese Weise – wie die Forschung – Kenntnisse.548 In der Kritik der Urteilskraft verschiebt sich diese Zielformulierung etwas: Hier ist nicht das Wissen das Produkt der ästhetischen Erfahrung, sondern die Lust, also eine Emotion. Da Kant die ästhetische Erfahrung jedoch nicht als etwas rein Subjektives und damit philosophisch Unfassbares setzen möchte, entscheidet er sich für eine Art Mittelweg: Das Lustgefühl der ästhetischen Erfahrung sei die unmittelbare Folge eines Urteils; sobald der Rezipient im Kunstwerk etwas erkenne und es kontrolliere, empfinde er eine Genugtuung.549 Insofern ist die ästhetische Erfahrung einerseits eine Verstandesangelegenheit, andererseits dennoch nicht objektiv, da sie sinnliche Anschauungen bestimmen. Kant beschreibt: Denn in der Urteilskraft werden Verstand und Einbildungskraft im Verhältnisse gegen einander betrachtet, und dieses kann zwar erstlich objektiv, als zum Erkenntnis gehörig, in Betracht gezogen werden (wie in dem transzendentalen Schematism der Urteilskraft geschah); aber man kann eben dieses Verhältnis zweier Erkenntnisvermögen doch auch bloß subjektiv betrachten, so fern eins das andere in eben derselben Vorstellung befördert oder hindert und dadurch den Gemütszustand affiziert und also ein Verhältnis, welches empfindbar ist.550
Auf diese Weise ist der Erkenntnisgedanke der frühen Ästhetik etwas relativiert. Mit dem ästhetischen Urteil führt Kant eine Kategorie ein, die Emotion und Kognition miteinander verbindet. Einerseits wird das sinnliche Element gestärkt, andererseits ist es in den Dienst einer Vernunftleistung gestellt.551 In der zeitgenössischen Ästhetik existieren mehrere Ansätze, die diese von Kant vorgezeichnete Richtung radikalisieren, indem sie von der Idee dezidiert Abstand nehmen, die ästhetische Erfahrung müsse mit einem Wissenszuwachs einhergehen. So betont beispielsweise Hans Ulrich Gumbrecht in Diesseits der Hermeneutik, die ästhetische Erfahrung entbehre einer Botschaft oder eines Lerneffekts für den Rezi-
548 Vgl. Baumgarten, Alexander Gottlieb: Ästhetik (Bd.2), Hamburg: Meiner, 2007, S.21. 549 Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Hamburg: Meiner, 1990, S.56. 550 Kant, Immanuel: Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, Hamburg: Meiner, 1990, S.29. 551 Vgl. Wagner, Astrid: Kognitive Dimensionen ästhetischer Erfahrung. Eine Untersuchung im Ausgang von Kants Kritik der Urteilskraft, Berlin: Parerga, 2008, S.55.
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pienten. Vielmehr sei sie ein plötzlicher Moment der Intensität, der aus der erlebenden Wahrnehmung resultiere, eine Art Epiphanie: Wir wissen nie, ob oder wann eine solche Epiphanie vorkommt. Zweitens, wenn sie eintritt, wissen wir nicht, welche Form sie annehmen wird und wie intensiv sie ausfällt: Es gibt wirklich keine zwei Blitze mit der gleichen Form und keine zwei Orchesterkonzerte, bei denen die gleiche Partitur in genau der gleichen Weise interpretiert wird. Drittens ist die Epiphanie beim ästhetischen Erleben vor allem deshalb ein Ereignis, weil sie sich selbst ungeschehen macht, während sie in Erscheinung tritt. Das ist im Fall des Blitzes oder der Musik so offenkundig, dass es nachgerade banal wirkt, aber nach meine Dafürhalten gilt es auch für das Lesen literarischer Texte und sogar für unsere Reaktionen auf Gemälde.552
Um die Distanz zu den Erkenntnistheorien zu markieren, vermeidet Gumbrecht den Begriff der ‚ästhetischen Erfahrung‘, da er in der philosophischen Tradition meist mit der Interpretation, also einer geistigen Bedeutungszuschreibung, verbunden sei und hebt stattdessen mit ‚ästhetisches Erleben‘ auf den phänomenologischen, sinnlichen Charakter ab.553 Auch Richard Rorty distanziert sich in „Der Roman als Mittel zur Erlösung aus der Selbstbezogenheit“ von der Annahme, ästhetische Erfahrung vermittle irgendeine Form von Wahrheit und schreibt ihr stattdessen eine ekstatische Funktion zu: Die Leser tilgen mit plötzlicher Intensität die Erfahrung des vergänglichen Augenblicks, so wie zwei Liebende ihn spüren, wenn sie merken, dass ihre Liebe erwidert wird. Gleich der Liebe, die die Liebenden erlöst, ohne jedoch ihrem Wissen etwas hinzuzufügen, bieten Proust oder James ihren Lesern Erlösung – nicht aber eine erlösende Wahrheit.554
Die Tatsache, dass Gumbrecht und Rorty das Ästhetische als intensiven Augenblick setzen, bedeutet nicht, dass sie dieses als rein emotionale Angelegenheit verstehen. Vielmehr geht es ihnen um die Markierung der Selbstgenügsamkeit der ästhetischen Intensität, d.h. darum, dass diese keinem geistigen Ziel untergeordnet werden braucht. Das schließt natürlich nicht aus, dass eine gewisse Distanz zum Erlebten vonnöten ist, damit dem Rezipienten das Zusammenstimmen des Kunstwerks zu Bewusstsein kommt. Ganz im Gegenteil: Lässt man sich bei der Rezeption eines
552 Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik. Über die Produktion von Präsenz, Frankfurt: Suhrkamp, 2004, S.133. 553 Vgl. Gumbrecht, Hans Ulrich: Präsenz, Frankfurt: Suhrkamp, 2012, S.333f. 554 Rorty, Richard: „Der Roman als Mittel zur Erlösung aus der Selbstbezogenheit“, in: Küpper, Joachim/Menke, Christoph (Hrsg.): Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt: Suhrkamp, 2003, S.61.
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Romans ausschließlich von seinen Gefühlen in Bezug auf die Figuren oder den Erzähler mitreißen, dann behindert dies die ästhetische Erfahrung.555 Dass der ästhetischen Erfahrung zusätzlich zur emotionalen Beteiligung ein kognitives Element eignen muss, erklärt sich bereits aus der Tatsache, dass der Leser einen Roman oder Ausschnitt auch dann als lustbesetzt erfahren kann, wenn er ihn im Nachvollzug negativ erlebt hat.556 Er kann sich, wie Jochen Mecke in Roman-Zeit exemplarisch ausführt, mit dem Protagonisten im Modus des präsentischen Erlebens langweilen. Gleichzeitig kann sich diese Langeweile aus der Perspektive der ästhetischen Erfahrung „extrem kurzweilig gestalten“557, wenn man sich ihrer als Ausdrucksmittel bewusst wird. Emotionale und kognitive Beteiligung bestimmen das ästhetische Erleben folglich gleichermaßen. Aus dieser Perspektive betrachtet muss Kants Definition der ästhetischen Erfahrung als ‚interesseloses Wohlgefallen‘ nicht bedeuten, dass Kunst maximale ästhetische Potenz durch die Tilgung emotionaler Elemente erreicht, wovon die Kunsttheorien der Moderne bisweilen ausgingen.558 Die ästhetische Erfahrung erfordert keinen rein kontemplativen Gestus, 559 sondern sie wird möglich, sobald die Rezeption nicht ausschließlich zweckgebunden ist, sondern
555 Vgl. Reicher, Maria: Einführung in die philosophische Ästhetik, Darmstadt: WBG, 2005, S.45. 556 Diesen Sachverhalt sprechen auch die Medienwissenschaften etwa im Kontext des sad film-Paradoxon an. Den gängigen Theorien zufolge müssten Zuschauer Film mit traurigen Inhalten eigentlich meiden. Die Tatsache, dass sie diese trotzdem rezipieren, lässt sich damit erklären, dass sie eben nicht nur an der Emotion, sondern auch am Erlebnis der Emotion partizipieren (vgl. Oliver, Mary Beth: „Exploring the Paradox of the Enjoyment of Sad Films“, in: Human Communication Research, 19.3 (1993), S.318.). 557 Mecke, Jochen: Roman-Zeit. Zeitformung und Dekonstruktion des französischen Romans der Gegenwart, Tübingen: Narr, 1990, S.60. 558 Ortega y Gasset fordert in La deshumanización del arte beispielsweise die Tilgung sämtlicher emotionaler Elemente aus dem Rezeptionsvorgang. Der Leser dürfe sich nicht auf den dargestellten Gegenstand konzentrieren und in dessen affektiver Wirkung aufgehen. Vielmehr müsse er diese transzendieren und aus der Ferne beurteilen. Gerade die Reflexivität, das Unmenschliche, sei Zeichen der ästhetischen Grundhaltung (vgl. Ortega y Gasset, José: La deshumanización del arte y otros ensayos de estética, Madrid: Espasa-Calpe, 1987, S.52.). 559 Hans Ulrich Gumbrecht weist darauf hin, dass speziell Ereignisse, die den Rezipienten stark emotional involvieren wie etwa ein Footballspiel, ästhetisches Erleben ermöglichen. Insofern schließen praktische und ästhetische Erfahrung einander nicht aus (vgl. Gumbrecht, Hans Ulrich: „Epiphanien“, in: Küpper, Joachim/Menke, Christoph (Hrsg.): Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt: Suhrkamp, 2003, S.204.).
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auch ein distanzierendes Element integriert.560 Mit dieser Idee als Ausgangsbasis gilt es für die ästhetische Partizipation das Zusammenspiel von emotionaler und kognitiver Beteiligung zu untersuchen, die Ermöglichungsbedingungen des ästhetischen Erlebens auszuloten. Versucht man eine Synthese dieses punktuellen Aufrisses der verschiedenen Positionen innerhalb der Ästhetik und ihre Anwendung auf die Partizipation, so erweisen sich folgende Elemente als maßgeblich: •
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Die ästhetische Erfahrung hängt nicht direkt vom Gegenstand, also vom Inhalt eines Romans ab, sondern ist ein Erlebnis, das seiner Verarbeitung durch den Rezipienten entspringt. Sie entsteht erst in der Interaktion des Gedruckten mit einem Subjekt. Als ästhetisch kann der Leser einen Text empfinden, wenn er sämtliche Rezeptionserlebnisse in einen stimmigen Gesamtzusammenhang zu bringen vermag. Auch Elemente, die er dabei zunächst als negativ oder unschön erlebt hat, können sich als harmonisch erweisen, vorausgesetzt sie bilden ein plausibles und zueinander passendes Ganzes. Das Moment des Stimmens kann mit einem Erkenntnisgewinn des Rezipienten einhergehen, wenn dieser lesend Einsichten in die Romanwelt oder seine Alltagswirklichkeit erlangt oder sich ihm bislang Ungedachtes erschließt. Allerdings ist ein solcher lustvoller Moment der Kontrolle über das Gelesene keine notwendige, sondern lediglich hinreichende Voraussetzung für die ästhetische Erfahrung. Diese kann ebenso dadurch garantiert werden, dass eine Stimmigkeitserfahrung dem Leser bewusst wird und er dabei einen Augenblick der Ekstase erlebt.561 Die ästhetische Beteiligung ist den übrigen Partizipationsformen insofern übergeordnet, als sie ein Gesamteindruck ist, der sich auf Basis der emotionalen, kognitiven und evaluativen Beteiligung vollzieht: Einerseits kommt sie nicht aus der reinen reflexiven Distanz heraus zustande, sondern benötigt gleichzeitig das präsentische Erleben; andererseits könnte auch einem Aufgehen im Text keine ästhetische Erfahrung entspringen, da der Lesereines distanzierenden
560 Vgl. Reicher, Maria: Einführung in die philosophische Ästhetik, Darmstadt: WBG, 2005, S.53. 561 Georg Bertram verweist darauf, dass die Rolle von Sinnlichkeit und Verstand in der Rezeption maßgeblich variieren könne. Manche Werke verarbeite man eher kontemplativ, andere aktiv und emotional. (Bertram, Georg: „Ästhetische Erfahrung und die Modernität der Kunst“, in: Deines, Stefan/Bertram, Georg (Hrsg.): Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse, Frankfurt: Suhrkamp, 2013, S.235.
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Elements bedarf, um sich der (Un-)Stimmigkeit bewusst zu werden. Insofern ist die ästhetische Partizipation ein Mischphänomen. Damit sich bei der Lektüre eine ästhetische Erfahrung einstellen kann, muss der Leser den Roman als ‚richtig‘ erfahren, d.h. dieser muss den kulturabhängigen Erwartungen an die Gattung Roman, das Genre, den Autor, das konkrete Werk, ein Kapitel, einen Absatz, einen Satz und den jeweils mit ihnen verbundenen Lektüreerlebnissen entsprechen. Der Rezipient seinerseits muss über im Laufe der Sozialisation erworbene Schemata verfügen, in die er alle Romanbestandteile und Erlebnisse nahtlos einordnen kann. Die Richtigkeit eines narrativen Texts kommt dem Rezipienten in den seltensten Fällen zu Bewusstsein. Erst im Fall der Unrichtigkeit, wenn dieser den Erwartungen widerspricht und die Normalität durchbricht, kann häufig eine (negative) ästhetische Erfahrung verbucht werden.
Es ist also erstens das Zusammenstimmen einzelner Elemente, zweitens das Abstimmung auf Konventionen, das die ästhetische Erfahrung ausmacht. Im Folgenden wird ausgehend von diesen Vorüberlegungen die Rolle von Stimmigkeit und Richtigkeit für die Partizipation an narrativen Texten präzisiert. Über die Analyse mehrerer Textausschnitte sollen die Prozesse der ästhetischen Erkenntnis bzw. des ästhetischen Erlebens beleuchtet, die kulturellen Regeln, die der ästhetischen Erfahrung zugrunde liegen, freigelegt und danach einzelne Formen ästhetischer Erfahrung auf ihren Erlebniswert hin überprüft werden. 3.4.2 Der Prozess der ästhetischen Erfahrung Die ästhetische Erfahrung wird erst möglich, wenn der Leser dem Roman seinen Wahrnehmungs-, Erlebnis- und Verarbeitungsapparat leiht. Wie aber gestaltet sich dieser Aushandlungsprozess? Wovon hängt ab, ob der Rezipient einen Text als harmonisch oder disharmonisch auffasst? – diesen Fragen geht das aktuelle Kapitel nach. Vorausgesetzt wird dabei, dass dem Leser in der ganzheitlichen Wahrnehmung des Romans eine ästhetische Erfahrung prinzipiell möglich ist und dass er ein solches Erlebnis beim Entschluss zur Lektüre häufig dezidiert wünscht. Zur Annäherung an die ästhetische Erfahrung werden zunächst die Romananfänge von Javier Cercas’ El dueño del secreto und Alain Robbe-Grillets Dans le labyrinthe vergleichend betrachtet: En 1974, en Madrid, durante un par de semanas del mes de mayo, formé parte de una conspiración encaminada a derribar el régimen franquista. La dirigía un general muy célebre, del que se contaba que a los pocos días de la revolución portuguesa había empezado a recibir sobres anónimos que contenían como único mensaje un monóculo: nadie se acuerda ya, pero
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el general Antonio de Spinola, primer líder del levantamiento de abril, usaba uno, lo cual le daba un aspecto llamativo de conspirador antiguo, de viejo militar anacrónico que encabeza no la tecnología sangrienta de un golpe de Estado al estilo chileno, sino un pacífico pronunciamiento liberal. […] Aún me acuerdo del momento en que leí la noticia, una tarde nublada que en mi memoria más parece de marzo, junto a un quiosco de la Gran Vía donde acababa de comprar Informaciones. Podía pasarme semanas sin comer un plato caliente, o caminar kilómetros para ahorrarme las dos pesetas de un billete de metro, pero a lo que no renunciaba nunca era a comprarme un periódico de la mañana y otro de la tarde, no sin gran irritación de mi amigo, paisano y compañero de cuarto Ramón Tovar, también llamado Ramonazo o Tovarich, que consideraba ese gasto diaro tan explicable como el capricho de pagarme una ducha en la pensión dos veces por semana, y no una cada quince días, que era su norma higiénica.562 Je suis seul ici, maintenant, bien à l’abri. Dehors il pleut, dehors on marche sous la pluie en courbant la tête, s’abritant les yeux d’une main tout en regardant quand même devant soi, à quelques mètres devant soi, quelques mètres d’asphalte mouillé; dehors il fait froid, le vent souffle entre les branches noires dénudées; le vent souffle dans les feuilles, entraînant les rameaux entiers dans un balancement, dans un balancement, balancement, qui projette son ombre sur le crépi blanc des murs. Dehors il y a du soleil, il n’y a pas un arbre, ni un arbuste, pour donner de l’ombre, et l’on marche en plein soleil, s’abritant les yeux d’une main tout en regardant devant soi, à quelques mètres seulement devant soi, quelques mètres d’asphalte poussiéreux où le vent dessine des parallèles, des fourches, des spirales. Ici le soleil n’entre pas, ni le vent, ni la pluie, ni la poussière. La fine poussière qui ternit le brillant des surfaces horizontales, le bois verni de la table, le plancher ciré, le marbre de la cheminée, celui de la commode, le marbre fêlé de la commode, la seule poussière provient de la chambre elle-même: des raies du plancher peut-être, ou bien du lit, ou des rideaux, ou des centres dans la cheminée.563
Die Frage nach der Stimmigkeit der beiden Abschnitte lässt sich freilich nicht ohne Weiteres beantworten, offensichtlich ist lediglich, dass sie recht unterschiedliche Lektüreeindrücke provozieren. El dueño del secreto beginnt mit einer Art Einführung, die die Ausgangssituation sowie die Rolle des Erzählers wortreich erklärt. Bereits der erste Satz nimmt die Handlung des Romans vorweg, so dass sich eine eindeutige Erwartung bilden kann. Daran schließt eine Passage an, die die angekündigte Handlung ins Rollen bringt und zugleich die charakterlichen Eigenheiten des Protagonisten beleuchtet. Aufgrund dieser expositorischen Struktur kann der Romananfang ausgewogen wirken. Betrachtet man den Text in seiner Qualität als
562 Muñoz Molina, Antonio: El dueño del secreto, Barcelona: Seix Barral, 2008, S.9f. 563 Robbe-Grillet, Alain: Dans le labyrinthe, Paris: Minuit, 1959, S.9f.
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Erzählerenunziat, so sticht die stringente Strukturierungsleistung ins Auge: Die Informationsvergabe geht kontrolliert, in Form einer progressiven Annäherung an den Protagonisten, vonstatten. Die Ersterwähnung des Romanpersonals erfolgt im Kontext spezifizierender Angaben („el general Antonio de Spinola, primer líder del levantamiento de abril“, „de mi amgio, paisano y compañero de cuarto Ramón Tovar, también llamado Ramonazo o Tovarich“), die häufig sogar vor der Nennung des Eigennamens platziert sind. Es taucht somit keine Figur im Text auf, die der Leser nicht einzuordnen wüsste. Darüber hinaus enthält der Abschnitt zahlreiche Temporal- und Lokalangaben; er tendiert zur exakten Nuancierung der Begleitumstände und geizt auch hier nicht mit Zusatzinformationen, was sich in der verhältnismäßig ausgeprägten Satzlänge sowie im verstärkten Gebrauch von Relativsätzen bemerkbar macht. Spricht der Erzähler beispielsweise von „un quiosco de la Gran Vía“, so tut er dies nicht, ohne gleich in der ersten Buchzeile festzulegen, dass es sich dabei um die Gran Vía in Madrid handelt. Er knüpft folglich ein Orientierungsnetz, das die Romanwelt synchron mit dem Wissen des Rezipienten aufbaut und Stück für Stück in sie einführt. Insofern gestaltet sich der vorliegende Einstieg problemlos, zumal die logische Textstrukturierung und die ausführlichen Erklärungen das Risiko der Unverständlichkeit reduzieren.564 Daher erklärt sich auch Salvador Oropesas Urteil, El dueño del secreto sei „la novela más perezgaldosiana de Muñoz Molina“565: Um die optimale Orientierung des Rezipienten zu garantieren, verzichtet es zugunsten realistischer Techniken auf moderne subjektivistische Darstellungsweisen.566 Ähnlich erleichtert die Fokalisierung dem Leser die Erfassung des Abschnitts: Die emotionalen Beteiligungsmöglichkeiten sind nur schwach ausgeprägt, da fast ausschließlich äußerliche Elemente vermittelt werden. Zugang zu den Gedanken der
564 Herbert Clark und Susan Brennan konstatieren, dass medial vermittelte Kommunikationsprozesse vereinfacht werden, wenn sich der Gesprächspartner mit dem größeren Wissen auf die gleichen Wissensstufe begibt wie der andere, so dass sie ihren Kontakt auf einer gemeinsamen Kenntnisbasis aufbauen (vgl. Clark, Herbert/Brennan, Susan: „Grounding in Communication“, in: Resnick, Lauren/Levine, John/Teasley, Stephanie (Hrsg.): Perspectives on Socially Shared Cognition, Washington: APA, S.127f.). 565 Oropesa, Salvador: La novelística de Antonio Muñoz Molina. Sociedad civil y literatura lúdica, Jaén: Pubicaciones de la Universidad, 1999, S.157. 566 Gero Arnscheidt weist in seiner Analyse der Marketingstrategien Muñoz Molinas darauf hin, dass das Geheimnis seiner Popularität – neben der Konzentration auf das Modethema Bürgerkrieg – gerade in einer maximalen Annäherung an die Lesegewohnheiten des Publikums bestehe. Der traditionelle Stil garantiere, dass der breite Geschmack angesprochen werde (vgl. Arnscheidt, Gero: Schreiben für den Markt. Der Erfolgsautor Antonio Muñoz Molina im spanischen Kulturbetrieb, Frankfurt: Vervuert, 2005, S.15.).
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Figur erlangt der Rezipient nur insofern, als der Erzähler diese explizit thematisiert (z.B. „el titular y la foto de primera página […] me dieron una felicidad cálida e instantánea, una anchura de respiración libre en el pecho“). Nicht die Wahrnehmungsgrenzen des erlebenden, sondern die des erzählenden Ichs werden dem Leser vorgeführt. Indem die Vorarbeit des Vermittlers dem Rezipienten die Ordnung der Diegese vereinfacht, verringert sich sein kognitiver Aufwand zur Konstruktion einer plausiblen Version des Geschehens. Der Ausschnitt bedient sich eines sachlichen, berichtenden Stils: Die Sätze sind stets vollständig, relativ komplex, dabei jedoch schmucklos und verständlich,567 sie erscheinen geplant und transportieren ein Maximum an Informationen, so dass die Konzeption eine distanzsprachliche ist. Der Tempusgebrauch unterstreicht dies: Durch die Verwendung von indefinido und imperfecto entsteht der Eindruck einer klaren Trennung von Handlung und Narration und damit der emotionalen Distanz des Erzählers zur Diegese; die berichteten Geschehnisse können zum Zeitpunkt ihrer Thematisierung nicht mehr verändert werden, so dass sich ein nostalgischer und mythisierender Grundton etabliert568, der eine unproblematische und irreversible Geschichtsauffassung suggeriert. Dieser Eindruck der Abgeschlossenheit setzt sich inhaltlich fort: Der Roman behandelt ein außergewöhnliches Moment aus der Biographie des Protagonisten und selektiert die Informationen nach ihrer Relevanz für dieses. Die histoire erfährt folglich von Anfang an eine eindeutige teleologische Überformung, wobei eine Gliederung in elliptisch (irrelevante Handlungen) und szenisch (relevante) dargestellte Episoden vorgenommen wird. Diese klare Zielführung erfordert vom Leser ein Mindestmaß an kognitiver Beteiligung, die konsequente Kohärenz mag den Eindruck des Zusammenstimmens aller Elemente erzeugen. Nichtsdestotrotz wäre es übertrieben, aufgrund dessen von einer intensiven ästhetischen Erfahrung zu sprechen. Anders verhält es sich in Dans le labyrinthe: Trotz gleicher Länge erhält der Leser erheblich weniger Informationen als im spanischen Vergleichstext. Er kann nach der Lektüre der Passage weder angeben, wovon der Roman handelt, wo er zu verorten ist, noch wer die Hauptfiguren sind. Die Daten zur Makrostruktur sind stets relational zum Standpunkt des Erzählers gewählt und besitzen dadurch einen geringeren Orientierungswert. „Je suis seul ici, maintenant, bien à l’abri. Dehors il
567 Muñoz Molinas Auffassung nach besteht das Schreiben im „ejercicio desvelado y continuo de naturalidad, de valentía y de vigilancia“, dessen Ziel im Finden des einzig treffenden Worts liege (Muñoz Molina, Antonio: La realdidad de la ficción, Sevilla: Renacimiento, 1993, S.57.). Sein stilistisches Credo ist folglich das der sprachlichen Einfachheit. 568 Vgl. Tyras, Georges: „El dueño del secreto. La dualidad como secreto“, in: Cuadernos de narrativa, 2 (1997), S.139.
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pleut […]“ (Hvg. T.H.) beispielsweise erlaubt dem Leser kaum die Bildung einer Vorstellung von der erzählten Welt, da es keine konkrete Hilfestellung zur Konstruktion eines mentalen Raums liefert. Der Erzähler setzt seinen Wissensstand kurzerhand für den Rezipienten voraus. Folglich muss sich dieser alle Informationen zur Orientierung in der Diegese, die ihm in El dueño del secreto die Vermittlungsinstanz gewährt hat, selbst erschließen – eine schwierige Aufgabe, zumal der Erzähler wiederholt Zeugnis für die Unzuverlässigkeit seiner Aussagen ablegt. Seine Angaben zum Wetter etwa sind widersprüchlich („Dehors il pleut. […] Dehors il fait soleil“) und können unmöglich logisch aufgelöst werden. Auf die Identität des Erzählers oder einer anderen Figur wird nicht eingegangen und sogar weit über den Romananfang hinaus (bis S.26) bleibt der Text menschenleer und auf die Deskription von Details und Gegenständen vor dem Fenster und im Zimmer beschränkt. Der Leser kann daher keine plausible Erwartung an Figuren und Handlung entwickeln, sondern höchstens schlecht gestützte Hypothesen bilden, weshalb ihm der Text unverständlich und inkohärent erscheinen mag.569 Auch Modus und Stimme können die Orientierung des Rezipienten beeinträchtigen. Der Erzähler nähert sich dem Protagonisten nicht an wie in El dueño del secreto, sondern schildert von Beginn an in der externen Fokalisierung. Da sich die Narration seitenlang etwa in der Betrachtung von Staubflocken und bedeutungslosen Gegenständen ergeht, sucht man vergeblich nach einer Informationsstrukturierung nach dem Kriterium der Relevanz. Hinzu kommt, dass sich die Vermittlungsinstanz selbst bisweilen ob ihrer Verlässlichkeit nicht sicher zu sein scheint; mehrmals zieht sie ihre eigenen Aussagen durch relativierende Formulierungen wie „des raies du plancher peut-etre, ou bien du lit, ou des rideaux, ou des centres dans la cheminée“ (Hvg. T.H.) in Zweifel. All dies befördert den Eindruck, „die Geschichte [würde sich]“, so Bernd Dauer, „vom Textkörper ablösen“.570 Trotz seines Lektüre-
569 Auch Gérard Genette verweist auf die Schwierigkeit einer kohärenten Auflösung dieses Beispiels: „Une disposition si particulière du discours romanesque suppose évidemment divers artifices d’organisation capables de justifier aux yeux du lecteur cette modulation du sélectif en successif.“ (Genette, Gérard: „Vertige fixé“, in: Ders.: Figures I, Paris: Seuil, 1966, S.85-86.) Diese sei lediglich über die Anerkennung einer Logik der Assoziativität oder einer subjektivistischen Verzerrung möglich. 570 Dauer, Bernd: „Nouveau Roman, Nouveau Nouveau Roman. Literarische Avantgarde um 1960“, in: Brockmeier, Peter/Wetzel, Hermann (Hrsg.): Französische Literatur in Einzeldarstellungen, Stuttgart: Metzler, 1982, S.271. Gemeint ist hiermit die Unmöglichkeit eines mimetischen Verständnisses des Romans.
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fortschritts, vermag der Leser keine Kontrolle über den Text zu erlangen und eine kohärente Ausgangssituation zu konstruieren.571 Dieser fehlende Wissensprogress wird ikonisch von der Mikrostruktur aufgenommen. Anaphorische Wendungen („dehors il pleut, dehors on marche“, „le vent souffle entre les branches noires dénudées; le vent souffle dans les feuilles“), Wiederholungen („regardant quand même devant soi, à quelques mètres devant soi, quelques mètres d’asphalte“, „dans un balancement, dans un balancement, balancement“) syntaktische Parallelismen und Aufzählungen befördern die Trägheit und Monotonie des Lektürerhythmus. Verstärkt werden kann dieser Eindruck durch den gedrosselten Thema-Rhema-Fortschritt: Statt einer Pronominalisierung werden thematische Textanteile jeweils noch einmal in voller Länge wiederholt, wodurch der Stil des Abschnitts eine größere Distanz zur Alltagssprache aufweist als der spanische Vergleichstext und somit für den Rezipienten schwieriger zu erfassen ist. Insgesamt lässt sich für El dueño del secreto eine ausgeprägtere Kohärenz konstatieren als für Dans le labyrinthe, da die geistige Durchdringung des Romananfangs leichter fällt. Welche Schlüsse lassen sich aus diesen Beobachtungen nun für die Harmonie der Lektüreerfahrungen ziehen? Für den Romananfang von El dueño del secreto kann man eindeutig Stimmigkeit konstatieren. Da die kognitive Partizipation auf allen Ebenen des Texts von ähnlicher Qualität ist, ergeben sich keine Widersprüche zwischen den einzelnen Erlebnissen. Der Ausschnitt aus Dans le labyrinthe hingegen lässt keine eindeutige Aussage hierüber zu. Sicherlich enthält er zahlreiche Ungereimtheiten: Elemente passen inhaltlich nicht zusammen oder sind hinsichtlich Erzählstrategie oder Stil unerwartet. Deshalb das Urteil der Unstimmigkeit zu fällen, wäre jedoch voreilig. Es handelt sich dabei vielmehr um Inkohärenzen, die nicht absolut sind, sondern für die sich teilweise eine plausible Erklärung findet. So zum Beispiel im Fall der Mikrostruktur: Die stilistische Digression „entraînant les rameaux entiers dans un balancement, dans un balancement, balancement“ erzeugt eine spezifische Musikalität. Die Alternanz zwischen Klang und Pause oder auf visueller Ebene zwischen Text und Leerstelle sowie der mehrfache Wechsel dunkler und heller Vokale spiegelt ikonisch das Schaukeln der Blätter im Wind wieder. Die
571 Eine Erklärung für die Inkohärenzen kann höchstens die Annahme der Irrealisierung des Erzählten liefern – eine These, die Manfred Nowak vertritt: Die Eingangspassage stelle einen Schwebezustand zwischen Imaginärem und Realem dar, d.h. es handle sich beim Ich um ein schreibendes Subjekt, das verschiedene Romananfänge erprobe oder sich die Welt außerhalb seines Zimmers vorstelle und dabei Elemente seiner direkten Umgebung mit einfließen lasse (vgl. Nowak, Manfred: Die Romane Alain RobbeGrillets, Heidelberg: Winter, 1982, S.211.). Allerdings bleibt auch hierbei ein unerklärlicher Rest, der dieser Erklärung widersteht.
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Wiederholung des „balancement“ wird folglich dadurch sinnhaft, dass sie der Vergegenwärtigung des Erzählten und damit der atmosphärischen Beteiligung dient. Inkohärenzen bedeuten also nicht zwangsweise das Aus für die ästhetische Erfahrung; sie lassen sich auflösen und ermöglichen Stimmigkeit, sofern sie sich über das präsentische Erleben begründbar sind. Doch wie verhält es sich mit der Inkohärenz in der Raumbeschreibung und der verhinderten Orientierung des Lesers in der Diegese? Lässt sich auch für sie eine logische Erklärung finden? Jedenfalls nicht sofort. Es bleibt vorerst zweifelhalft, inwiefern sie die Handlung in irgendeiner Form veranschaulichen oder intensivieren. Und was ist von den Widersprüchen und Ambivalenzen zu halten, die sich im weiteren Romanverlauf ergeben: dem Soldaten, der weder über seine Identität, noch zum Inhalt der Büchse, die er mit sich herumträgt, etwas weiß, die unkontrollierten Zeitsprünge, die stetigen Perspektivenwechsel, die Brüche in der Erzähleridentität und die zusammenhangslosen Dialoge? Für sich gesehen sind sie unverständlich. Allerdings können sie in ihrer Zusammenschau sehr wohl Sinn ergeben,572 sie bilden insofern eine harmonische Einheit, als sie konstant Verwirrung und Orientierungslosigkeit stiften. Wenn Stimmigkeit das Zusammenpassen aller Lektüreerlebnisse (und nicht der Inhalte) bedeutet, dann kann sie folglich auch für Dans le labyrinthe konstatiert werden. Spürbar wird sie in dem Moment, als der Leser die Inkohärenzen in Kohärenz überführt, d.h. als er sie als Triebkraft der Partizipation erkennt. Sobald er seine Hilflosigkeit bei der kognitiven Ordnung des Texts mit der Verzweiflung des umherirrenden Soldaten in Beziehung bringt und sie als solche realisiert, wird die Lektüreerfahrung sinnhaft. Die Absurdität des Vorhabens des Soldaten und die Irrationalität seiner Fixierung auf eine im Grunde wertlose Kiste und das Lektüreerlebnis werden eins, sie bilden ein harmonisches Ganzes. Der Augenblick der ästhetischen Erfahrung birgt somit zwei Komponenten: einerseits die Erkenntnis, dass sich eine Inkohärenz als Quelle der Partizipation erweist, und andererseits das sich dabei verwirklichende präsentische Erleben selbst.
572 Gemeint ist hier nicht ein Sinn, der alle vorherigen Inkohärenzen restlos tilgen und die Desorientierung des Lesers in Wohlgefallen auflösen würde, sondern vielmehr ein partieller, der sich auf Basis des Unverständnisses ergibt, ohne dieses jedoch zu beseitigen, und der deswegen verstörender Natur ist. Dennoch wird eine Erkenntnis am Roman möglich. So formuliert Winfried Wehle: „Im Grund vertraut der Leser selbst im Fall eines so diskontinuierlichen Erzählens wie dem der nouveaux romans und seine Vorläufern darauf, dass es keine akzidentielle, sondern eine kohärente Bedeutungsstruktur wenn nicht unmittelbar realisiert, dann zumindest projektiert“ (Wehle, Winfried: Französischer Roman der Gegenwart. Erzählstruktur und Wirklichkeit im Nouveau Roman, Berlin: Schmidt, 1972, S.237.).
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Vergleicht man die beiden Formen der Stimmigkeit von Dans le labyrinthe und von El dueño del secreto, so lässt sich aus mehreren Gründen ein klarer Intensitätsunterschied zwischen ihnen feststellen. Erstens: Die Stimmigkeit im spanischen Ausschnitt ist von Anfang an vorhanden. Sie wird vom Leser mit großer Wahrscheinlichkeit nicht reflektiert und bleibt im Hintergrund, da sie sich nicht kontrastiv von einem widerständigen Element abhebt. In der französischen Passage hingegen bündelt der Moment, in dem sich Stimmigkeit einstellt, die Aufmerksamkeit. Da die Inkohärenzen eine kognitive Aktivierung von ihm erfordern, kann der Rezipient das Umschwenken von Unverständnis zur Harmonie, die Konstitution einer Einheit aus den dissonanten Fragmenten, bewusster erleben. Zweitens ist das Lusterlebnis an Robbe-Grillets Passage stärker als an Muñoz Molinas, weil die Motivation des Lesers zur Erreichung der Stimmigkeit größer ist. Wenn der Leser einen Roman beginnt, so tut er dies mit einer Verstehens- und Erlebniserwartung. In El dueño del secreto wird diese von der ersten Seite an erfüllt; in Dans le labyrinthe hingegen ist die Realisierbarkeit von Verständnis und emotionaler Beteiligung zweitweise in der Schwebe. Die Tatsache, dass die Möglichkeit eines Scheiterns der Partizipation vorgezeichnet wird, kann die Spannung erhöhen. Da die Diskrepanz zwischen der schlimmstmöglichen und der bestmöglichen Erfahrung, größer ist – sie ist bei Robbe-Grillet zwischen der Exklusion des Rezipienten aus dem Roman und dem Verstehen, bei Muñoz Molina zwischen einem mehr oder weniger perfektem Verstehen aufgespannt –, mag sich die Lust im Moment der Auflösung potenzieren und damit die Intensität der ästhetischen Erfahrung steigern. Drittens: Die Stimmigkeit in der spanischen Passage bleibt diffus, sie reproduziert sich stetig, jedoch ohne konkrete Lokalisierung, wohingegen der französische Text zunächst eine Konfusion erzeugt, die schließlich in einem spezifischen Augenblick in Stimmigkeit umschwingt. Insofern eignet der Stimmigkeit, die sich aus Inkohärenz ergibt, auch eine Überraschungsstruktur. Bislang lässt sich also festhalten: Die ästhetische Erfahrung besteht im Eindruck der Stimmigkeit, der mit der Lust der kognitiven Durchdringung des Texts verbunden ist. Es existieren zwei Möglichkeiten seiner Erzeugung, über Kohärenz und über Inkohärenz: Ein Kohärenzerlebnis entspringt einer mühelosen kognitiven Partizipation und wird automatisch von Stimmigkeit begleitet; allerdings kommt diese dem Rezipienten nicht zwangsläufig zu Bewusstsein, da er sie möglicherweise als unmarkiert erfährt. Der Inkohärenzfall resultiert aus der Problematisierung der Verarbeitung des Romans aufgrund einer unterbestimmten oder widersprüchlichen Datenlage. Lassen sich die Diskrepanzen durch kognitiven Mehraufwand auflösen und wird ihr Erlebnismehrwert erkannt, so kann der Text als kohärent wahrgenommen und somit in Stimmigkeit überführt werden. Aber auch beim vorläufigen Scheitern der Bemühungen zur Erklärung von Inkohärenzen muss der Roman nicht automatisch unästhetisch sein: Stimmigkeit kann sich dennoch einstellen, wenn sich mehrere inkohärente Elemente im Laufe der Lektüre gerade aufgrund ihrer Widerstän-
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digkeit eine Einheit bilden. Insgesamt wird die Stimmigkeitserfahrung nachhaltiger, je auffälliger die Inkohärenzen sind, je mehr Lust und Spannung mit ihrer Auflösung verbunden sind und je plötzlicher sich diese vollzieht. Wenn in El dueño del secreto das Potenzial zur ästhetischen Erfahrung aufgrund der ausgeprägten Kohärenz reduziert erschien, dann liegt das vor allem daran, dass die stimmigen Elemente nicht als vordergründig markiert waren, während die Inkohärenzen in Dans le labyrinthe die Aufmerksamkeit des Lesers bündelten und dadurch relevant erschienen. Doch Reliefgebung findet nicht nur über die Verkomplizierung der Verarbeitung statt, sondern auch etwa über Emotionalität.573 Selbst ausnahmslos kohärente Texte können durch sie eine ausgeprägte ästhetische Erfahrung erreichen. Betrachten wir das Grundprinzip am Beispiel von Marcel Prousts A la recherche du temps perdu. Wie in Dans le labyrinthe gestaltet sich die Durchdringung des Romans zunächst schwierig. Allerdings nicht, weil das Erzählte inkohärent wäre, sondern weil pro- und retentionale Ordnungsvorgänge durch die Komplexität des Texts behindert werden – eine Wirkung, die Ernst Robert Curtius in Marcel Proust auf treffende Weise beschreibt: Der erste Eindruck beim Lesen ist ein seltsames Gemisch von Bezauberung und Verwirrung. Man fühlt sich überschüttet von einer scheinbar ungeordneten Fülle eindrängender Stoffmassen, befremdet durch einen umständlichen, verwickelten Stil, dessen Bewegungsrhythmus zunächst kein Gesetz erkennen lässt. Zugleich wird man gefesselt wie von den Klängen einer neuen Musik, deren Harmonik man noch nicht analysieren kann; hineingezogen in eine Erlebnisart von so eigentümlichem Reiz, dass man sich ihren Lockungen hingeben muss. Man wüsste nicht zu sagen, was es ist, das so sanft überredet und so magnetisch anzieht; man lässt sich treiben wie auf einem ruhigen mächtigen Strom, gewärtig aller Abenteuer, willig sich lösen vom hemmenden Automatismus der Gewohnheiten und der erstarrten Denkformen.574
Die charakteristische Erlebnisstruktur des Romanzyklus scheint erst nach längerer Beschäftigung mit diesem auf: Er integriert viele Passagen, in denen der Erzähler detailreiche Beschreibungen liefert und lange Alltagsgespräche wiedergibt, in denen ein monotones Lektüreerlebnis vorherrscht und emotionale Beteiligung nur in moderatem Maße möglich ist. Vor diesem relativ gleichförmigen Hintergrund allerdings ragen Szenen wie Marcels erste amouröse Erfahrung auf dem Spielplatz, der Tod seiner Großmutter, die Treffen mit Albertine oder die in der Syntheseanalyse
573 Vgl. Zynigier, Sonia/Peer, Willie van/Hakemulder, Frank: „Komplexität und Foregrounding. Im Auge des Betrachters?“, in: Eibl, Karl/Mellmann, Katja/Zymner, Rüdiger (Hrsg.): Im Rücken der Kulturen, Paderborn: Mentis, 2007, S.359. 574 Curtius, Ernst Robert: Marcel Proust, Frankfurt: Suhrkamp, 1952, S.12.
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besprochene Verführungsszene von Jupien und M. de Charlus besonders hervor. Da diese Momente mit einem ausgeprägten emotionalen Partizipationspotenzial ausgestattet sind, das sich über den sprachlichen Erlebniswert und den Lektürerhythmus auf den Leser übertragen kann, heben sie sich von der Gleichförmigkeit des übrigen Romans ab. Es ergibt sich auf diese Weise aus einer globalen Perspektive für den Lektüreverlauf ein charakteristisches emotionales Muster: Der langsame, ruhige Fluss des Alltagslebens alterniert mit den kurzen, heftigen Ausschlägen der gefühlsstarken Passagen. Abbildung 10: Schematische Darstellung der Erlebnisstruktur der Recherche
Eine ästhetische Erfahrung stellt sich ein, wenn der Leser die emotionalen Höhepunkte des Romanzyklus als zusammengehörig erkennt und sie zu einer größeren Einheit verschmelzen sieht; wenn diese im Bewusstsein des Rezipienten miteinander in Dialog treten und sich dadurch als stimmig erweisen. Der Moment dieser Zusammenschau ist ein ganzheitlicher: Der Text wird gleichzeitig präsentisch erlebt und aus der Metaperspektive betrachtet. Dieses Harmonieerlebnis mag mit der Erkenntnis einhergehen, dass eine eklatante Diskrepanz zwischen physikalisch gemessener und subjektiver Zeit besteht und dass diese auf eine Krise des Zeitbewusstseins verweist, wie Karlheinz Stierle konstatiert;575 oder, dass der authentische Augenblick uneinholbar ist, so dass jede neue Liebe Marcels eine Wiederholung eines immer gleichen, doch unrealisierbaren Wunsches ist, wie Rainer Warning anmerkt.576 Das muss sie jedoch nicht: Sie kann einfach auch in der Bewusstwerdung der spezifischen Erlebnisstruktur, der regelmäßigen Modulation der emotionalen Beteiligung, bestehen. Das Muster sich vor einem Hintergrund klar abhebender Momente ist für die ästhetische Erfahrung freilich nicht zwingend, auch eine flie-
575 Vgl. Stierle, Karlheinz: Zeit und Werk. Prousts ‚A la Recherche du temps perdu und Dantes Commedia, München: Hanser, 2008, S.19. 576 Vgl. Warning, Rainer: Das Imaginäre der Proustschen Recherche, Konstanz: UVK, 1999, S.23.
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ßende Struktur mag sie auslösen – vorausgesetzt, es wird ein charakteristischer Rhythmus der emotionalen Erlebnisse erkennbar.577 Die Intensität des ästhetischen Erlebens kann durch unterschiedliche Faktoren gesteigert werden. Erstens spielt die Sichtbarkeit der zusammenstimmenden emotionalen Ereignisse eine Rolle. Je intensiver der Ausschlag der Erlebnisamplitude bei den außergewöhnlichen Ereignissen und – damit verbunden – je gefühlsneutraler die Hintergrunderfahrungen, desto einfacher ist es für den Rezipienten, die emotionalen Spitzen als zusammengehörig zu erkennen und ihnen außergewöhnliche Bedeutung beizumessen. Dies wird in A la recherche du temps perdu dadurch begünstigt, dass der Ausschlag deutlich spürbar und der Abstand zwischen den einzelnen Hochphasen relativ weit. Zweitens trägt die Plötzlichkeit zur Verstärkung der ästhetischen Erfahrung bei. Schließlich ist das Wissen des Lesers in seinem Gedächtnis über den Erlebniswert strukturiert. Tritt ein neues Ereignis ein, so wird dieses automatisch mit Erinnerungen verknüpft, die eine ähnliche Qualität aufweisen. Hierdurch entsteht eine unmittelbare Parallele, die der Einsicht in die Stimmigkeit des Texts zuträglich ist. Für die Recherche ergibt sich folglich ein relativ eindeutiges ästhetische Erlebnispotenzial: Da sich die herausragenden Ereignisse nicht nur hinsichtlich ihrer Intensität, sondern auch hinsichtlich ihrer Qualität decken und es sich überdies hauptsächlich um amouröse Erfahrungen handelt, sind sie leicht zueinander gruppierbar und fast dazu prädestiniert, in einem spezifischen Moment unerwartet als stimmig erkannt zu werden. Fazit: Ästhetische Erfahrung muss nicht an das Erlebnis von Inkohärenz gekoppelt sein, sondern kann auch durch den Zusammenschluss mehrerer, über ihre emotionale Intensität als vordergründig markierte Elemente zu einer übergreifenden Einheit entstehen. Der Moment, in dem sich diese Stimmigkeit einstellt, besteht in einer Kognition – der Einsicht, dass die Elemente eine Einheit bilden –, der Stoff jedoch, aus dem diese Einsicht besteht, ist emotional.
577 Die Recherche enthält zahlreiche Möglichkeiten der Rhythmusbildung. So arbeitet Matei Chihaia etwa heraus, dass das wiederholte Stolpern der Figuren des Romanzyklus eine Art Leitmotiv bilde, das, sofern es als inhaltliche Regelmäßigkeit erkannt werde, eine ästhetische Erfahrung bergen könne: Dieser Rhythmus reproduziere sich nicht nur auf der syntagmatischen Achse des Textverlaufs, sondern auch der paradigmatischen über die Ebenen der narrativen Kommunikation hinweg. So sei das Stolpern „Spiegelbild einer Bewegung, die der Leser selbst auf dem mühsamen Weg durch den Text vollziehen muss“ (Chihaia, Matei: „Eine kurze Geschichte des Stolperns“, in: Chihaia, Matei/Münchberg, Katharina (Hrsg.): Marcel Proust. Bewegendes und Bewegtes, München: Fink, 2013, S.212.).
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3.4.3 Unstimmigkeitserfahrungen Nachdem die prinzipiellen Möglichkeiten der ästhetischen Erfahrung beleuchtet wurden, soll das Augenmerk nun dem gegenteiligen Fall gelten: der Tatsache, dass ein Roman sich der Stimmigkeitserfahrung konsequent verwehrt. Unstimmigkeit stellt das Scheitern der ästhetischen Wahrnehmung dar,578 das Gelesene wird als unvereinbar erfahren, so dass weder in kognitiver Hinsicht irgendeine Form von Harmonie hergestellt werden, noch eine charakteristische emotionale Partizipationsstruktur ausgemacht werden kann, die Ganzheitlichkeit vermitteln würde. Wie müsste eine solche Romansituation gestaltet sein? Mögliche Ansätze zur Beantwortung dieser Frage liefert Jochen Mecke in seinen Ausführungen zur ‚ästhetischen Lüge‘, womit der Eindruck der Inauthentizität oder Unrichtigkeit einer literarischen Darstellung gemeint ist. Das sei der Fall, wenn ein Werk auf ambivalente Weise mit dem narrativen Kode umgehe: Dieser werde einerseits respektiert, allerdings blieben die „damit eingegangenen Verpflichtungen“ unerfüllt.579 Wenn beispielsweise ein allwissender Erzähler plötzlich Wissenslücken aufweise oder wenn einer als relevant markierten Szene von der Vermittlungsinstanz keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt werde, entstehe ein logischer Widerspruch, der als ästhetische Lüge bewusst werden könne. Die Darstellungskonventionen würden dann zwar zitiert, sie funktionierten allerdings nicht und verkämen zu leeren Hüllen.580 Ausgehend von diesen Überlegungen wird Unstimmigkeit folglich nur unter zwei Prämissen möglich: Zwar muss gegen die ungeschriebenen Gesetze der Romankommunikation verstoßen und mit den Lektüreerwartungen gebrochen werden, aber dieses Muster darf nicht durchgängig verfolgt werden, da es sonst als Strukturprinzip erkannt werden und stimmig scheinen kann. Erforderlich ist vielmehr ein zweideutiger Umgang mit der Konvention. Was die emotionale Ebene betrifft, ist es also nicht genug, wenn heterogene und unzusammenhängende Beteiligungsmöglichkeiten angeboten werden. Schließlich besteht die „Gefahr“, dass der Leser diese wie bei A la recherche du temps perdu als charakteristische Erlebnisstruktur auffasst und als stimmig erkennt. Um die emotionale Beteiligung zu stören, darf der Rezipient die affektive Aktivierung, die er bei der Lektüre erfährt, nicht auf die
578 Unstimmigkeit wird hier zwar als Phänomen außerhalb der ästhetischen Erfahrung verstanden, jedoch als Teil der ästhetischen Beteiligung. 579 Vgl. Mecke, Jochen: „Lüge und Literatur. Perspektivenwechsel und Wechselperspektive“, in: Müller, Jörn/Nissing, Hans-Gregor (Hrsg.): Die Lüge. Ein Alltagsphänomen aus wissenschaftlicher Sicht, Darmstadt: WBG, 2007, S.73. 580 Vgl. Mecke, Jochen: „Le roman nouveau. Pour une esthétique du mensonge“, in: Lendemains, 107 (2002), S.102.
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Romanwelt projizieren können, sondern sie sollte von dieser entkoppelt sein. In kognitiver Hinsicht reicht ein inkohärenter Text zur Erzeugung von Unstimmigkeit nicht aus. Schließlich hat sich an Dans le labyrinthe gezeigt, dass sich durchgängige Inkohärenzen zu einer Erlebniseinheit zusammenschließen und somit stimmig werden können. Ein unstimmiger Roman müsste folglich eine ambivalente Wirkung erzeugen; kohärente und inkohärente Bestandteile müssten sich gegenseitig so neutralisieren, dass sie keine eindeutige Erfahrung ermöglichen, bzw. die Aufmerksamkeit müsste von der Frage nach Kohärenz und Inkohärenz durch eine signifikante Störung der diegetischen Illusion abgelenkt werden. Wie sich das konkret manifestiert, soll am Beispiel von Je m’en vais (Jean Echenoz) für die emotionale, von L’appareil-photo (Jean-Philippe Toussaint) für die kognitive Beteiligung dargelegt werden. 3.4.3.1 Unstimmigkeit der emotionalen Beteiligung Je m’en vais verfolgt eine Beteiligungsstrategie der Inkonsequenz: Es ist nicht so, dass es wie ein nouveau roman jeglicher Teleologie und Sujethaftigkeit entbehren würde; ganz im Gegenteil, es ist sehr ereignisreich: Als roter Faden ist eindeutig Ferrers Expedition zum Nordpol zur Bergung wertvoller Kunstwerke aus einem untergegangenen Wrack erkennbar, die später von Ferrers Angestellten Delahaye entwendet und nach einer Verfolgungsjagd durch ganz Europa wiedererlangt werden. Die Makrostruktur ist somit für einen Abenteuerroman bzw. eine Kriminalgeschichte charakteristisch. Wer deshalb allerdings Spannung, Überraschung und intensive Emotionen erwartet, der irrt sich. Trotz der inhaltlichen Anlehnung an beteiligungsreiche Gattungen setzt der Roman alles an die Vereitelung eines nachhaltigen Lektüreerlebnisses. Im Kapitel zur Motivation wurde bereits dargelegt, dass eine der zentralen Szenen, die Entdeckung der verschollenen Kunstschätze am Nordpol, nicht als lustvolle und erregende Episode inszeniert ist.581 Auch wenn der Protagonist Ferrer bei der gefährlichen Aktion einen Millionengewinn einstreicht, wodurch grundsätzlich eine Disposition zu Gefühlen, Motivation und Spannung bestünde, sind die emotionalen und kognitiven Partizipationsmöglichkeiten reduziert: Statt die Handlung über den Lektürerhythmus und den sprachlichen Emotionswert zum packenden Erlebnis zu machen, beschränkt sich der Text auf eine berichtende Zusammenfassung in neutralem Ton; statt ein durch erschwerte Umstände oder die Verlängerung der Erzähldauer das Gelingen der Aktion aufzuschieben und so ein Begehren für die Erlangung des Schatzes zu wecken, resümiert die Vermittlungsinstanz die Ereignisse, so dass kaum Spannung oder Motivation geschürt wird. Der Leser wird auf diese Weise in die Rolle eines gleichgültigen Zuschauers gedrängt, der aufgrund der monotonen Vermittlung keinen Bezug zum Geschehen herzustel-
581 Siehe hierzu Kapitel 3.1.3.2.1.
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len vermag. Die unsystematische und daher unverlässliche Referenz auf die Gattungskonventionen ermöglicht, wie Petr Dytrt bemerkt, weder eine moderne, noch eine traditionelle, weder eine ernste, noch eine ironische Leseweise.582 An dieser Stelle kommt ins Spiel, was Wittgenstein, die ‚Richtigkeit‘ bzw. ‚Falschheit‘ literarischer Werke nennt: Da der Rezipient gewohnt ist, sich kognitiv und emotional an Romanen zu beteiligen und dies vor allem am Höhepunkt der Handlung, erscheint ihm Je m’en vais, mit großer Wahrscheinlichkeit befremdlich. Da die Lektüreerfahrung mit der Wahrnehmung von Erzähler und Figuren nicht in Deckung gebracht werden kann, mag er den Roman als unstimmig erfahren. Dieses Schema der Entkopplung von Leser- und Figuren-/Erzählererleben durchzieht das gesamte Werk: Oftmals wird die Reliefgebung kontrapunktisch zur Handlung eingesetzt. Irrelevante Inhalte erhalten eine ausführliche Zuwendung: So werden beispielsweise Ferrers Morgentoilette sowie sein Aufenthalt in der Kajüte auf der Fahrt zum Nordpol detailreich erzählt. Dieses Aufblasen nebensächlicher Szenen mit überflüssigen Elementen ohne emotionalen oder informativen Mehrwert, mag Monotonie erzeugen. In Reaktion hierauf kann der Leser einen gewissen Erlebnishunger entwickeln, so dass er in ständiger Erwartung erregender Lektüremomente verharrt, die ihm der Roman jedoch nicht in zufriedenstellendem Maß bietet, da die ereignisreiche Haupthandlung kurz und effektlos abgehandelt wird. Insofern bleibt man als Rezipient stets vor den Kopf gestoßen oder wie Olivier Bessard-Banquy formuliert: „Il [Echenoz] s’amuse à multiplier les fausses pistes et malmener ses personnages comme ses lecteurs pour le seul plaisir – apparent – de réduire le roman à néant.“583 Das wird besonders in der Sequenz der finalen Konfrontation Ferrers mit dem Kunstdieb Delahaye ersichtlich. Die exponierte Stelle der Szene gegen Ende des Romans sowie die weitgehende inhaltliche Konzentration auf die Beschaffung und den Raub der Kunstwerke prädestinieren das Aufeinandertreffen der beiden Figuren für einen Showdown. Auch die Ortsbeschreibung scheint die Kontrahenten förmlich zu einer gegenseitigen Attacke zu drängen: Ce fort cours d’eau a beau se jeter continûment dans la mer Cantabrique, lorsque elle est trop puissante cette mer remonte le cours du fleuve, s’oppose à lui et l’envahit, l’eau douce étouffe devant tant de sel belliqueux. Puis ses vagues à contre-courant, s’écrasant d’abord contre les piles du pont de la Zurriola et du point Santa Catalina, s’apaisent ensuite au-delà du pont Maria Cristina. Elles n’en continuent pas moins à secouer le fleuve qu’elles agitent plus en pro-
582 Vgl. Dytrt, Petr: Le (post)moderne des romans de Jean Echenoz. De l’anamnèse du moderne vers une écriture du postmoderne, Brno: Masarykova univerzita, 2007, S.129. 583 Bessard-Banquy, Olivier: Le roman ludique. Jean Echenoz, Jean-Philippe Toussaint, Eric Chevillard, Paris: Septentrion, 2003, S.18.
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fondeur, font onduler comme des mouvements péristaltiques un ventre jusqu’au pont de Mundalz et même sans doute encore en amont. Ils s’arrêtèrent au milieu du pont et, comme ils contemplaient un moment la guerre livrée sous eux entre insipide et salé, comme Delahaye se souvenait fugitivement qu’il n’avait jamais appris à nager, une idée traversa l’esprit de Ferrer.584
Die Atmosphäre dieser Passage kennzeichnen Dynamik und Aggressivität. Die Personifikationen von Fluss und Meer („se jeter“, „puissante“, „s’oppose à lui et l’envahit“, „remonte“, „étouffe“ etc.), ihre Besetzung mit Kampfvokabular („s’oppose“, „l’envahit“, s’écrasant“, „guerre“ etc.) sowie die energische Lebendigkeit der langen, sich überstürzenden Sätze, die sich über den Lektürerhythmus auf den Leser übertragen mögen, bilden den perfekten Rahmen für eine spannungs- und emotionsgeladene Handlung und können die Erwartung dementsprechend vorstrukturieren. Auch das Ende der Passage („comme Delahaye […] l’esprit de Ferrer“) wirkt wie die Präfiguration eines aktionsreichen Romanausgangs. Indem Ferrers Idee nur an-, jedoch nicht ausgesprochen wird, ist es am Rezipienten, die Information, dass Delahaye Nichtschwimmer sei, zu deuten, wodurch es scheint, er selbst und nicht nur der Protagonist habe den Einfall, diesen von der Brücke zu stoßen. Insofern kann diese Parallelisierung die Übertragung des Gemütszustands der Figur auf den Leser favorisieren. Dieser emotionsgeladene Beginn der Szene mag auf einen ebenso intensiven weiteren Verlauf vorprogrammieren. Umso herber ist die Enttäuschung, als sich diese Erwartung nicht erfüllt und die Begegnung der beiden Figuren auf allen Ebenen als emotionaler Nullpunkt markiert ist. Beginnen wir mit der Betrachtung der Makrostruktur: Der Aktivitätsgrad der gezeigten Personen ist denkbar gering. Ferrer und Delahaye verharren in reflexiven Haltungen, nehmen keine Handlungen oder Bewegungen vor; ihre Äußerungen stehen hauptsächlich im Konjunktiv und verweisen folglich nur auf die Potentialität einer Aktion. Darüber hinaus sind in das Gespräch der beiden abschwächende Partikel eingefügt, die eine konkrete Realisierung der angekündigten Handlungen in weite Ferne rücken: „Je pourrais me débarrasser de vous, au fond, une fois pour toutes, dit-il doucement mais sans y croire vraiment. Je pourrais vous noyer, par exemple, je n’aurais aucun mal. Oui, je le devrais même, peut-être, avec tous les emmerdements que vous m’avez faits.“585 (Hvg. T.H.) Der Eindruck der Ereignislosigkeit verstärkt sich dadurch, dass stets lediglich die direkte Rede wiedergegeben ist, jedoch keine daran gekoppelte emotionale Reaktion. Weder werden Gefühle thematisiert, noch werden diese über den Lektürerhythmus spürbar, so dass die Interaktion der beiden Figuren eher einer sukzessiven Meinungsäußerung, denn einem
584 Echenoz, Jean: Je m’en vais, Paris: Minuit, 2002, S.206 585 Ebd., S.206.
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wilden Streit ähnelt. Der Erzähler weist außerdem mehrfach explizit auf die Statik der Situation und die Unmotiviertheit der Figuren zur Handlung hin („tout cela ne nous avançait pas terriblement, donc on se tut une minute ou deux faute d’arguments.“586). Insofern werden die anfangs systematisch lancierten Erwartungen an das Rezeptionserlebnis enttäuscht. Die Emotionen, auf die man sich eingestellt hat, laufen ins Leere, ohne dass dieser plötzliche Umschwung über die Beteiligung erklärlich würde. Vielmehr erscheint es, als wolle der Text den Leser grundlos ausschließen, nachdem er ihm zunächst das Gegenteil suggeriert hat. Diese ambivalente Form der Darstellung macht den Entwurf eines stimmigen Gesamtkonzepts für den Roman fast unmöglich; vielmehr dominiert der Eindruck, mit dem Text sei etwas nicht in Ordnung. An zweiter Stelle verhält sich auch der Erzähler kontraproduktiv zur Konstruktion eines klassischen Showdowns: Er lässt keine subjektivierenden Verfahren zu und reduziert die Relevanz der Situation, indem er die Redebeiträge der Kontrahenten teilweise in indirekter Rede wiedergibt. Am absoluten Höhepunkt, als Ferrer beginnt, Delahaye zu würgen, um ihn von der Brücke zu stoßen, entschließt er sich zur Einfügung einer Personenbeschreibung Ferrers: Nous n’avons pas pris le temps, depuis presque un an pourtant que nous le fréquentons, de décrire Ferrer physiquement. Comme cette scène un peu vive ne se prête pas à une longue digression, ne nous y éternisons pas: disons rapidement qu’il est un assez grand quinquagénaire brun aux yeux verts, ou gris selon le temps, disons qu’il n’est pas mal de sa personne mais précisons que, malgré ses soucis de cœur en tous genres et bien qu’il ne soit pas spécialement costaud, ses forces peuvent se multiplier quand il s’énerve. C’est ce qui paraît en train de se produire.587
In einem Moment, der die Auflösung eines Handlungsknotens verspricht und deshalb vordergründig sein müsste, wird der Rezipient starke Präsenz und Unmittelbarkeit erwarten. Doch Fehlanzeige: Der Erzähler verschiebt die Aufmerksamkeit weg von der Diegese auf sich selbst. Durch die Verwendung des Personalpronomens ‚nous‘ und mehrerer deiktischer Elemente („cette scène“, „y“) markiert er die Vermittlungsebene, schiebt sich zwischen den Leser und die Handlung und suggeriert dadurch ein Umschwenken vom Modus des Erlebens auf den des Zuhörens. Er verzögert die Befriedigung der Rezipientenerwartungen– paradoxerweise auch durch seine Anmerkung, er wolle Abschweife vermeiden („ne nous y éternisons pas“). Der Rezipient mag sich von dieser ungewohnten Narrationsstrategie vor den Kopf gestoßen fühlen. Hat der Roman zu Beginn jegliche Beschreibung Ferrers
586 Ebd., S.207. 587 Ebd., S.234.
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vernachlässigt und dadurch die kognitive Orientierung erschwert, so liefert er sie nun gerade in einem Moment, der für die emotionale Beteiligung hochrelevant sein müsste, und hemmt dadurch die Gegenwärtigkeit und Intensität, die einem Showdown normalerweise innewohnt. Da eine logische Erklärung hierfür ausbleibt, kann die Passage unstimmig wirken. Auch in Bezug auf den Ausgang der Konfrontationssituation erfahren die Partizipationserwartungen letztlich keine Befriedigung: Die Erzählung lässt offen, ob Ferrer Delahaye von der Brücke stößt. Sie beendet das Kapitel am heikelsten Punkt der Handlung, so dass sich eine Informationslücke auftut. Damit zitiert sie im Grunde erneut ein typisches Darstellungsschema im Kontext des Showdowns: den Cliffhanger, so dass sich an diesem Punkt theoretisch die Möglichkeit zur Entfaltung von Spannung böte. Allerdings wird versäumt, die Information zum Ergebnis der Konfrontation als relevant zu markieren oder der motivationalen Beteiligung zu öffnen. Das anschließende Kapitel wechselt komplett die Szenerie – Ferrer wird zunächst bei alltäglichen Verrichtungen beschrieben, ohne dass auf den Streit mit Delahaye überhaupt eingegangen würde. Als sie dann einige Sätze später doch noch erwähnt wird, ist die Angelegenheit denkbar unspektakulär in Szene gesetzt: Cela s’était passé presque trop facilement avec Delahaye. Après un instant d’énervement, Ferrer s’était calmé puis on avait fini par négocier. Delahaye, confondu, se retrouvait à tous égards coincé. Nourrissant de grandes espérances sur la vente clandestine des antiquités, anticipant d’énormes rentrées, en quelques mois toutes ses économies avaient fondu en auberges de charme et vêtements de luxe: il n’avait à présent pratiquement plus un rond. Ces espérances avaient été ruinées par l’arrivée de Ferrer qui, une fois repris ses esprits, l’avait traîné dans un bar de la vieille ville pour lui proposer un arrangement. On avait discuté plus calmement, on avait envisagé l’avenir, Ferrer s’était remis à vouvoyer son ancien assistant.588
Die Handlung endet nicht zugunsten einer der Figuren, sondern in einer Kompromisslösung. Darüber hinaus ist sie stark synthetisch, in distanzsprachlichem Stil und ohne Modulation des Lektürerhythmus dargestellt. Emotionen werden zwar über Gefühlsbezeichnungen thematisiert („Delahaye, confondu, se retrouvait […]“), jedoch nicht evoziert. Überdies schaffen die Rückblicke in die Vorvergangenheit Distanz zum unmittelbaren Erlebnis der Szene. Insofern wird der Leser kaum Befriedigung aus dem Schluss ziehen, sondern ihn eher als enttäuschend und befremdlich empfinden. Der Roman wirkt also auf allen Ebenen dadurch unstimmig, dass er eine Erlebnisqualität suggeriert, die er im Anschluss nicht einhält. Aus der Widersprüchlichkeit der Emotionsdarstellung ergeben sich keine durchgängige Qualität und kein
588 Ebd., S.210f.
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übergreifender Gesamteindruck, wie dies etwa in Dans le labyrinthe für die Orientierungslosigkeit des Soldaten der Fall war. Vielmehr spielen unterschiedlichste Elemente auf so unlogische Weise zusammen, dass die dabei entstehende Ambivalenz die Möglichkeit zur Stimmigkeit unterbindet. Bedeutet dies aber, dass der Text für ästhetische Erfahrungen ungeeignet ist? Schließen postmoderne Texte ästhetische Erkenntnisse und Erlebnisse aus, sind sie eine stetige Quelle der Frustration? Und wenn ja: Wie ließe sich dann erklären, dass sie trotz allem rezipiert werden? Auch in Je m’en vais lässt sich eine Harmonie heterogener Elemente wahrnehmen. Jedoch handelt es sich dabei nicht um die Einheit von Inkohärenzen wie bei Robbe-Grillet, sondern die von Unstimmigkeitserfahrungen. Die Befremdung angesichts der verstellten Beteiligung kann in eine ästhetische Erfahrung umgewandelt werden, wenn der Rezipient die Inauthentizität als Prinzip erkennt, d.h. wenn ihm mittels ihrer Obsoletierung die ungeschriebenen Regeln der Romankommunikation bewusst werden. Indem er unablässig das Gefühl befördert, er sei ‚falsch‘ und ‚lügenhaft‘, erscheint der Text als Konstrukt auf Basis arbiträrer Konventionen.589 Der Leser kann auf diese Weise der Tatsache gewahr werden, dass er bei der Lektüre davon ausgeht, sich an den Emotionen und Kognitionen der Figuren beteiligen zu können. Insofern liegt die ästhetische Erfahrung auf einer Metaebene: Nicht die Präsenzerfahrung einer Geschichte oder eine Einsicht in die Grundprinzipien menschlichen Handelns, sondern ein Blick hinter die Kulissen der narrativen Kommunikation ermöglicht sie. Erkenntnisse gewinnt der Rezipient folglich nicht in Bezug auf die Diegese (als Analogon der Realität), sondern hinsichtlich der Kulturtechnik ‚Roman‘.590 Alles in allem erweist sich somit die Partizipation als conditio sine qua non der Stimmigkeit: Ermöglicht der Roman emotionale Beteiligung, so mutet er ‚richtig‘ an; stört er sie grundlos, so erweckt er den Eindruck einer ästhetischen Lüge. Das ist etwa der Fall, wenn das affektive Lektüreerlebnis von der Handlung entkoppelt ist oder keine durchgängige, nachvollziehbare Partizipationsstrategie existiert. Indem die Erwartung des Lesers, wie gewohnt am Roman partizipieren zu können, zwar geschürt wird, sich dieses Versprechen jedoch nicht einlöst, kann Unstimmigkeit entstehen. Mehrere Unstimmigkeitsmomente ermöglichen, wenn sie hintereinandergeschaltet werden, eine ästhetische Erfahrung. Diese bezieht sich jedoch nicht auf die Romanwelt selbst, sondern wird über eine Einsicht in die ungeschriebenen Gesetze der narrativen Kommunikation erreicht.
589 Vgl. Houppermans, Sjef: Jean Echenoz. Étude de l’œuvre, Paris: Bordas, 2008, S.80. 590 Die Tatsache, dass ästhetische Erfahrungen nicht mehr über die übergreifende Einheit von Inkohärenzen, sondern von Unstimmigkeitserlebnissen zustande kommen, kann als Scheidekriterium zwischen modernen und postmodernen Texten fungieren.
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3.4.3.2 Unstimmigkeit der kognitiven Beteiligung Nicht nur das emotionale, sondern auch das kognitive Beteiligungsangebot narrativer Texte kann als Quelle der Unrichtigkeit und Lügenhaftigkeit zutage treten. Was auf den einzelnen Ebenen der Romankommunikation den Eindruck von Stimmigkeit behindert, skizziert dieses Kapitel anhand von Jean-Philippe Toussaints L’appareil-photo. Wenn der Rezipient einen Roman aufschlägt, so tut er dies mit gewissen Grunderwartungen an die Makrostruktur. Schließlich verfügt er über eine ganze Palette gesellschaftlicher, sprachlicher und literarischer Schemata zur Herstellung einer mentalen Repräsentation von Figurenidentitäten, -konstellationen, Chronotopoi und Handlungsabläufen.591 Er geht beispielsweise davon aus, dass der Text Figuren enthält, die in einem logisch strukturierten lokalen und sozialen Umfeld verortet sind, verstehbar sind, miteinander interagieren und eine bestimmte Rolle für die Geschichte spielen. Die höchste Wahrscheinlichkeit, die Erwartung des Leser zu erfüllen und somit als stimmig wahrgenommen zu werden, bergen Romane, die die Frage nach der Gestaltung der Makrostruktur in Anlehnung an diese lösen, während das Unterlaufen der Muster das Erlebnis von Unstimmigkeit begünstigt. Der Frage, wie Rezipienten Wörter in Figuren verwandeln, widmet sich Philippe Hamon: Der effet-personnage, also der Eindruck der Identität der Figuren, werde über die Bezeichnung mit Namen, Titeln oder Personalpronomina gesteuert.592 Das klingt zunächst belanglos, doch ein Blick auf die Benennungsstrategie in L’appareil-photo macht deutlich, dass graduelle Abstufungen bezüglich der Wahrhaftigkeit des Personals in dieser Hinsicht sehr wohl vorhanden sind: Die Figuren werden über weite Teile des Romans nicht namentlich benannt. Für das Ich ist das nicht ungewöhnlich, schließlich muss es sich als Nullpunkt des Wahrnehmungssystems nicht unbedingt durch eine Bezeichnung objektivieren. Für sein Gegenüber hingegen schon: Über 54 Seiten wird die Fahrschulangestellte lediglich generisch mit „la jeune femme“ betitelt, was dazu führen kann, dass der Leser sie nicht als Persönlichkeit, sondern als Typ wahrnimmt. Dem entspricht, dass zwar vereinzelt Informationen über ihr Aussehen geliefert werden, Hinweise auf eine mögliche charakterliche Einordnung jedoch völlig fehlen. ‚La jeune femme‘ mag auf den Leser dadurch undefiniert und nur halb existent wirken. Obwohl sie gemessen an ihrer Auftretenshäufigkeit durchaus eine wesentliche Position in der Romanwelt einnimmt, qualifiziert sie sich nicht als Hauptfigur. In der zweiten Hälfte des Werks hingegen, als man sich an die generische Bezeichnung bereits gewöhnt hat, wird diese unbegründet durch „Pascale Polougaïevski“ ersetzt – was ebenfalls nicht un-
591 Für genauere Ausführung hierzu siehe Kapitel 3.2.5.1. 592 Vgl. Hamon, Philippe: „Pour un statut sémiologique du personnage“, in: Barthes, Roland (Hrsg.): Poétique du récit, Paris: Seuil, 1977, S.144.
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problematisch ist. Die Einordnung von ‚Polougaïevski‘ als Name gestaltet sich für einen westeuropäischen Rezipienten womöglich schwieriger als etwa im Fall von ‚Pierre Roland‘ oder ‚Julien Sorel‘. Während ihm jene Bezeichnungen aus dem Alltag geläufig sind, wird er diesen vielleicht nicht problemlos identifizieren können. Auch wenn ‚la jeune femme‘ durch die Benennung eine stärkere Präsenz erreicht, bleibt sie folglich eine Fremde. Verstärkt wird der eigenartige Charakter des Namens überdies durch die Alliteration: Die klangliche Parallelität der beiden Wörter kann die Aufmerksamkeit des Lesers auf den Lautkörper lenken und damit den Eindruck verstärken, er wäre eine substanzlose Hülle. Noch stärker an die Grenze getrieben wird der effet personnage in Jean Echenoz’ Lac. Hier heißen die Figuren ‚Tarzan‘, ‚Chopin‘ oder ‚Javel‘, also wie fiktive Figuren, berühmte Persönlichkeiten oder Putzmittel.593 Ein Etikett ersetzt die Identität und mag dadurch die Erwartung des Lesers enttäuschen.594 Ein vergleichbare Strategie lässt sich im Bereich des Figurenverhaltens beobachten. Traditionelle Romane erlauben die problemlose Einordnung ihrer Akteure in Schemata. Da Bedeutung in der Differenz erfasst wird, sind Oppositionen konstitutiv für die Durchdringung von Figurenrelationen und -charakteristik. Mindestvoraussetzung für den Eindruck der Stimmigkeit ist demnach das Vorhandensein zweier Figuren, die sich in wenigstens einem Merkmal voneinander unterscheiden. Ein Text, der sich an diese rudimentäre Form der Rollendifferenzierung hält, also lediglich eine Grenze zieht, ist leicht kognitive nachvollziehbar, wohingegen die Multiplikation oder Verwischung klarer Trennlinien eine komplexere Verarbeitung vonseiten des Lesers erfordert. L’appareil-photo wiederum entscheidet sich für eine dritte Option: Es verhindert eine eindeutige Gegenüberstellung der zentralen Figuren, indem es diese kaum charakterisiert oder ambivalent zeichnet. Darüber hinaus ist ein Schließen von der Physis oder dem Umfeld auf ihren Charakter, wie es in realistischen Romanen erfolgt, aufgrund der defizitären Datenlage unmöglich. So ergibt sich, abgesehen vom Geschlecht, kaum eine Differenzierungsmöglichkeit zwischen dem Ich und ‚la jeune femme‘. Auch die Interaktion der beiden Figuren wirkt lügenhaft. Das Verhalten des Erzählers gegenüber der Frau ist unhöflich und
593 Vgl. Mecke, Jochen: „Le degré moins deux de l’écriture. Zur postliterarischen Ästhetik des französischen Romans der Postmoderne“, in: Borsò, Vittoria/Goldammer, Björn (Hrsg.): Moderne der Jahrhundertwenden. Spuren der Moderne(n) in Kunst, Literatur und Philosophie auf dem Weg ins 21. Jahrhundert, Baden-Baden: Nomos, 2000, S.407. 594 Relevant in Bezug auf die Figurenwahrnehmung ist auch die Kohärenz des mentalen Modells, das sich der Leser von ihr bildet. Hierfür müssen die aktivierten individuellen, sozialen und literarischen Wissensrahmen zusammenpassen (vgl. Schneider, Ralf: Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption am Beispiel des viktorianischen Romans, Tübingen: Stauffenburg, 2000, S.142f.).
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penetrant und widerspricht, wie folgendes Beispiel illustriert, den geläufigen gesellschaftlichen Umgangsformen: Avant de prendre congé, je lui confiai du reste à ce propos que, tout à l’heure, j’avais retrouvé chez moi quelques photos de quand j’étais petit. Je vais vous les montrer d’ailleurs, dis-je en sortant l’enveloppe de la poche de ma veste, et, faisant le tour du bureau, je les lui présentai une par une me penchant au-dessus de son épaule pour m’aider du doigt dans mes commentaires. Alors là, dis-je, je suis debout à côté de mon père et là, c’est ma sœur, dans les bras de ma mère. Là, on est tous les deux avec ma sœur dans la piscine; derrière la bouée, c’est ma sœur oui, toute petite. Là, c’est encore nous, ma sœur et moi, dans la piscine. Voilà, dis-je en rangeant les photos dans l’enveloppe, je pense que vous conviendrez que cela ne nous est pas d’une grande utilité (pour le dossier, dis-je).595
Das Ich fragt nicht erst, ob die fremde Frau seine Fotos sehen wolle, sondern hält sie ihr direkt unter die Nase. Dies tut es in einer verfänglichen Stellung, wobei es am Ende plump flirtet. Man würde erwarten, dass dieses aufdringliche Verhalten entweder eine Abwehrreaktion hervorruft oder Wohlgefallen findet. Jedoch: Pascale Polougaïevski reagiert weder distanziert, noch erfreut, sondern gibt sich so neutral und regungslos, dass eine Interaktion zwischen den beiden gar nicht zu existieren scheint. Weil sie niemals in Opposition gezeigt werden, wirkt ihr Verhältnis zueinander windschief. Die Redewiedergabe unterstützt diesen Eindruck: Alle Äußerungen des Ichs stehen in direkter Rede, während die Repliken der Frau ausgespart bleiben, wodurch der Eindruck entstehen kann, die Figuren befänden sich in verschiedenen Bezugssystemen. Abgesehen davon enthalten weder Mikrostruktur, noch Chronotopos (ikonische oder inhaltliche) Spuren eines Kontrasts, die die Konfrontation der Figuren spürbar machten. L’appareil-photo umgeht somit systematisch die Möglichkeit ihrer Konstruktion als zusammengehöriges Paar, was den Eindruck von Unstimmigkeit befördert. Erschwerte Bedingungen liegen in Toussaints Roman außerdem hinsichtlich der Nachvollziehbarkeit der Handlung vor. Jurij Lotman konstatiert in Die Struktur des künstlerischen Textes, Romane integrierten häufig eine Grenze, die unterschiedliche semantische Bereiche voneinander scheide.596 L’appareil-photo allerdings lässt eine solche aufgrund der Multiplikation der thematischen Möglichkeiten nicht eindeutig ausmachen. Zu Beginn des Texts mag man annehmen, die Handlung ergebe sich aus dem Antagonismus ‚Protagonist – Fahrschulangestellte‘ – eine Erwartung, die sich aber durch deren mangelnde Gegenreaktionen zerschlägt. Nach mehrmaligem
595 Toussaint, Jean-Philippe: L’appareil-photo, Paris: Minuit, 1988, S.10. 596 Vgl. Lotman, Jurij: Die Struktur des künstlerischen Textes, Frankfurt: Suhrkamp, 1973, S.344.
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Treffen der beiden möchte man die Entwicklung einer Liebesgeschichte vermuten; doch auch dieses Schema muss verworfen werden, da sich der Text zu wenig an die Konventionen anlehnt: Anstatt dem Leser detailreich die schrittweise Annäherung der Liebenden vorzuführen, bleibt er durchgehend distanziert, legt weder implizit noch explizit die Gefühle der Figuren dar, entbehrt gleichberechtigter Dialoge mit Liebesthematik und emotiven Wörtern und schürt auch keine Motivation bezüglich ihres Zusammenkommens. Damit der Leser allerdings in diesen Inkohärenzen keine Stimmigkeit erkennt – indem er beispielsweise annimmt, die Handlung inszeniere gerade die Beziehungslosigkeit der beiden Individuen und drücke deren Verstörung aus – tauscht L’appareil-photo nach kurzer Zeit erneut den Gegenstand: Während die weibliche Hauptfigur zunächst innerhalb des sozialen Netzes ihrer Familie und in Interaktion mit dem Protagonisten dargestellt wird, verschwindet sie ohne Angabe von Gründen plötzlich aus der Geschichte. Die Strategie des Romans scheint es folglich zu sein, seine Sujetgrenzen so häufig zu wechseln und diffus zu gestalteten, dass jeglicher Schemaabgleich zwangsweise scheitert. Diese „distance ludique de l’auteur avec les attentes romanesques du lecteur“597 mag Unzugänglichkeit und Unstimmigkeit bedingen. Nun zu den Erwartungen des Rezipienten in Bezug auf die Diskursstruktur: Der Leser wird hier mindestens damit rechnen, dass erstens ein Erzähler die Handlung perspektiviert und ordnet und so im Vergleich zur szenischen Aufführung einen Mehrwert liefert, und dass zweitens Fokalisierung, Redewiedergabe, Ordnung, Dauer und Frequenz zur Akzentuierung relevanter Inhalte und Modellierung von Hintergründigem eingesetzt werden. Läuft ein Text diesen Basisannahmen zuwider, so kann dies Unstimmigkeitseffekte zur Folge haben. Auch das lässt sich an L’appareil-photo beobachten. Der Erzähler gewährt dem Leser keinen globalen Überblick über die diegetischen Ereignisse, vielmehr bleibt er strikt auf seine eigenen Handlungen und Äußerungen fixiert, ohne den Reaktionen der übrigen Figuren Beachtung zu schenken. Dieser Eindruck wird durch die konstante Wiedergabe der Beiträge des Ichs in direkter Rede verstärkt, während ‚la jeune femme‘ ausschließlich indirekt zu Wort kommt und dadurch an Unmittelbarkeit einbüßt. Die Perspektive des Erzählers wirkt folglich limitiert. Das wäre nicht ungewöhnlich, würden die Möglichkeiten der autodiegetischen Stimme und internen Fokalisierung durch emotionsgeladene Monologe oder Gewissenskonflikte ausgeschöpft – doch nichts dergleichen. Stattdessen verliert sich die Vermittlungsinstanz in Banalitäten, bleibt an rein äußerlichen Details wie den Formalitäten zur Anmeldung in der Fahrschule oder der Wahl einer Toilettenkabine haften und beschreibt mit Vorliebe Objekte, die dem Leser
597 Bessard-Banquy, Olivier: Le roman ludique. Jean Echenoz, Jean-Philippe Toussaint, Eric Chevillard, Paris: Septentrion, 2003, S.56.
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ohnehin geläufig sind. Indem er banale Themen auf unspektakuläre Weise anspricht und somit den style impassible pflegt, widersetzt er sich den Grundannahmen der Romanrezeption und kann dadurch Unstimmigkeit erzeugen. Von einer Erzählung erwartet man als Leser zumindest die Strukturierung der Diegese nach dem Kriterium der Relevanz, schließlich zeichnet sie sich gerade dadurch aus, dass sie nicht die Ereignisse selbst wiedergibt, sondern eine perspektivierte Auswahl. In L’appareil-photo wird diese Konvention jedoch häufig nicht eingehalten: Es schildert banale Handlungselemente en détail, liefert selbstverständliche oder redundante Informationen, die den Erzählfortschritt verlangsamen. Unüblich eingesetzt sind auch die Ellipsen: Der Roman beginnt mehrfach nach einer Auslassung mit „Le lendemain“ ein neues Kapitel. Insgesamt ergibt sich auf diese Weise, für die Handlung eine Zeitspanne von maximal einer Woche. Umso befremdlicher ist es, als man gegen Ende erfährt, dass seit der ersten Begegnung der beiden Figuren etwa ein Monat vergangen ist. Der Text enthält folglich unsichtbare Ellipsen, deren Intervalle zunehmen, je weiter der Roman fortschreitet. Am auffälligsten ist dies, als das Ich und Pascale in einer Szene von London nach Paris fliegen und der Protagonist unmittelbar darauf ohne jegliche Erklärung in einem Flugzeug gezeigt wird, das sich von Paris fortbewegt.598 Spontan möchte man aufgrund der situativen Kontinuität auch eine temporale annehmen und davon ausgehen, dass es sich um den gleichen Flug handelt.599 Die plötzliche Einsicht, dass dem nicht so ist, vermittelt den Eindruck einer desorganisierten Zeitdarstellung.600 Zuletzt soll das Augenmerk den Möglichkeiten der Unstimmigkeitsproduktion im mikrostrukturellen Bereich gelten: Der Stil des Erzählers von L’appareil-photo ist widersprüchlich und diskontinuierlich: Während sich die Vermittlungsinstanz zunächst ausschließlich auf die äußerliche Handlung konzentriert, zeigt sich der
598 Vgl. Toussaint, Jean-Philippe: L’appareil-photo, Paris: Minuit, 1988,S.111. 599 Der Situation erinnert an das Phänomen der ‚Veränderungsblindheit‘, das im Kontext medienwissenschaftlicher Studien mehrfach nachgewiesen wurde: Der Rezipienten konstruierten die fiktive Filmwelt stets als kontinuierlich, so dass sie beispielsweise Veränderungen des Dekors oder sogar die Auswechslung von Schauspielern nicht bemerkten, wenn die Bedingungen sonst gleich blieben. Sofern die Aufmerksamkeit nicht explizit auf eine Veränderung zwischen zwei Filmbildern oder Fotos hingelenkt werde, nehme man automatisch Kontinuität an (vgl. Huff, Markus: „Change Detection/Change Blindness“, in: Krämer, Nicole/Schwan, Stephan/Unz, Dagmar/Suckfüll, Monika (Hrsg.): Medienpsychologie. Schlüsselbegriffe und Konzepte, Stuttgart: Kohlhammer, 2008, S.77.). 600 Vgl. Ost, Isabell: „Dispositifs techniques et place du sujet dans quelques romans de Jean-Philippe Toussaint“, in: Demoulin, Laurent/Piret, Pierre (Hrsg.): Jean-Philippe Toussaint, Brüssel: Le Cri, 2010, S.78.
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zweite Teil des Romans rhetorisiert und integriert detaillierte Umgebungsbeschreibungen. Für diesen radikalen Wechsel ist kein Grund ersichtlich, zumal nicht anzunehmen ist, dass das Auftauchen eines Fotoapparats die Persönlichkeit des Ichs dermaßen verändert hätte. Doch auch innerhalb des ersten Teils sind Unstimmigkeiten zu verzeichnen: Zwar tendiert die Vermittlungsinstanz im Allgemeinen zu sprachlicher Korrektheit, zu einem gehobenen Ausdruck und bemüht sich um thematischen Anspruch, doch dieses Prinzip wird nicht stringent durchgehalten. Indem umgangs- oder nähesprachliche Elemente von inhaltlicher Banalität den Diskurs sprengen, werden die Äußerungen ambivalent und undurchsichtig. Dies illustriert folgendes Beispiel, das den Protagonisten beim Toilettengang beschreibt: Du moment que j’avais un siège, moi, du reste, il ne me fallait pas dix secondes pour que je m’éclipse dans le monde délicieusement flou et régulier que me proposait en permanence mon repos, je m’étais chaudement retranché dans mes pensées, pour parvenir à m’en extraire, bonjour. Je ramassai le sachet de chips que j’avais posé par terre et l’ouvris, regardai un instant dedans, sceptique. J’en pris quelques-unes et les portai à ma bouche. Il n’y avait pas de raison de se hâter de mettre fin à cette entéléchie. La pensée, me semblait-il, est un flux auquel il est bon de foutre la paix pour qu’il puisse s’épanouir dans l’ignorance de son propre écoulement et continuer d’affleurer naturellement en d’innombrables et merveilleuses ramifications qui finissent par converger mystérieusement vers un point immobile et fuyant.601
Der Abschnitt parallelisiert das Urinieren mit dem Denken, ein materielles Konzept mit einem immateriellen. Dies geschieht nicht nur auf inhaltlicher Ebene, sondern auch über die zweideutige Wortwahl: Die Verwendung von Wassermetaphern zur Beschreibung des Reflexionsprozesses („un flux auquel il est bon de foutre la paix pour qu’il puisse s’épanouir dans l’ignorance de son propre écoulement“, Hvg. T.H.) stellt eine assoziative Verbindung zwischen den beiden Erlebnisbereichen her. Die Anwendung des aristotelischen Konzepts der Entelechie auf den Toilettengang und das Einnehmen einer skeptischen Haltung gegenüber einer Chipspackung impliziert einerseits eine Abwertung des Geistigen, andererseits eine Überhöhung des Trivialen. Aus dem transgressiven Bezug zweier Begriffe, deren Emotionswert unterschiedlicher nicht sein könnte, resultiert ein Inkohärenzeffekt. Dieser wird durch die Kombination einer gehobenen, mit philosophischem Fachwortschatz gespickten mit einer bildhaften, vulgären Sprache („pour parvenir à m’en extraire, bonjour“, „foutre la paix“) untermauert. Banale und sublime Inhalte vermischen sich ebenso wie der elaborierte mit einem oralen Stil. Die hieraus resultierenden Inkohärenzen sind kaum erklärbar, zumal sie einer Begründung im Bereich der emotionalen oder kognitiven Partizipation entbehren. Es bleibt letztlich undurch-
601 Toussaint, Jean-Philippe: L’appareil-photo, Paris: Minuit, 1988, S.31f.
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schaubar, ob der Erzähler beim Versuch, sich dem Leser intellektuell zu präsentieren, an seiner Einfalt scheitert oder ob er umgekehrt diesen vielleicht aufs Korn nimmt. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die grundlegende kognitive Aufgabe des Rezipienten bei der Lektüre besteht in der Verwandlung des Gelesenen in ein mentales Modell – ein Prozess, den eine Reihe von Rezeptionskonventionen in Makro-, Diskurs- und Mikrostruktur mitbestimmt. Ignoriert ein Roman diese Regeln und stört er dadurch die kognitive Beteiligung grundlegend, unterläuft er die traditionellen Ordnungskategorien, indem er sie so ambivalent und inkonstant gebraucht, dass sie ungreifbar und obsolet erscheinen, so mag der Leser ob der Deautomatisierung des gewohnten Lesevorgangs an der Herstellung von Stimmigkeit scheitern. 3.4.4 Mischformen ästhetischer Beteiligung In den bisherigen Ausführungen wurden ästhetische Erfahrungen jeweils lediglich als stimmig oder unstimmig klassifiziert, doch in der literarischen Praxis ist die Sachlage selten so eindeutig. Vielmehr liegt ein Spektrum ästhetischer Beteiligungsmöglichkeiten zwischen diesen beiden Polen. Immanuel Kant spricht in Kritik der Urteilskraft mit dem Erhabenen ein solches Mischphänomen zwischen ästhetischer Lust und Unlust an. Er geht davon aus, dass besonders große oder heilige Gegenstände nicht auf stimmige Weise dargestellt werden könnten, da sie über das gewöhnlich Schöne hinausreichten. Indem sie die Fassungskraft des Subjekts sprengten, erzeugten sie den Eindruck von Chaos. Ob der Unkontrollierbarkeit des Gegenstands reagiere man mit Ehrfurcht, Ohnmacht oder Schrecken.602 Doch das Erhabene enthalte, so Kant, nicht nur diese Negativerfahrung, sondern auch deren Gegenteil. Einerseits spüre man natürlich eine Enttäuschung, weil die Vorstellungskraft an ihre Grenzen stoße, andererseits aber erlebe man gleichzeitig den Versuch der Erfassung der Natur durch den Verstand – ein befriedigendes Gefühl.603 In diesen Überlegungen zeigt sich, dass eine klare Grenzziehung zwischen Stimmigkeit und Unstimmigkeit häufig unmöglich ist, dass vielmehr die Erfahrungsmischung einen eigenen Erlebniswert besitzt. Ähnlich wie im Bereich der kognitiven Partizipation die zeitweise Unfähigkeit, Kontrolle über den Roman zu erlangen, häufig einen emotionalen Mehrwert barg, entspringen auch bei der ästhetischen Beteiligung der Verkomplizierung der Stimmigkeitserfahrung spezifische Erlebnisse, die im Vergleich zu den Reinformen häufig sogar eine besondere Inten-
602 Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Hamburg: Meiner, 1990, S.107f. 603 Vgl. Ebd., S.108.
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sität erreichen. In dem Sinn betont Winfried Menninghaus, „[d]ass eine Vermischung von Lust und Unlust reizender ist als das lauterste Vergnügen“604. Welche unterschiedlichen Ausprägungen das Wechselbad ästhetischer Gefühle annehmen kann, soll im vorliegenden Kapitel genauer betrachtet werden. Es analysiert, wie die Verschränkung von Lust und Unlust im Einzelfall zustande kommt und welche Erlebnisse sie befördert. Die Untersuchung umfasst diejenigen Formen ästhetischen Beteiligung, die nicht in der Stimmigkeit aufgehen, sondern eine mehr oder weniger starke Ausprägung ästhetischer Negativität integrieren. Hierunter werden etwa das Tragische, das Absurde, das Phantastische, das Unheimliche, das Komische sowie das Groteske subsumiert. Es sei darauf hingewiesen, dass die Begriffe im Folgenden nicht als Genres, sondern als Partizipationsformen verstanden werden, die prinzipiell auch gattungsübergreifend wirksam sein können. 3.4.4.1 Das Tragische Die Definition des Tragischen ist alles andere als eindeutig, seine Ausformungen variieren, so Walter Muschg in Tragische Literaturgeschichte, von Text zu Text: Mal sei es Äquivalent mit der Verzweiflung, mal mit der Resignation ob dem Unabänderlichen, mal mit der Unterwerfung unter eine schicksalhafte Macht. Allerdings ließe sich als gattungs- und werkübergreifende Gemeinsamkeit, als Essenz des tragischen Denkens, der Schmerz ausmachen: Er [der tiefste Schmerz] erkennt Dissonanzen und Disharmonien, die nur auf Kosten des Menschen aufgelöst werde können, und entschleiert die Wahrheit, deren Anblick niemand aushält: dass der Mensch nicht Herr über sein Schicksal, nicht unersetzlich, sondern Mächten ausgeliefert ist, die über ihn hinweghandeln. Aber dieser Schmerz entbindet zugleich Kräfte, die sonst nirgends frei werden. Er stellt sich als ein letzter Wert heraus, der in sich eine Antwort ist.605
Das Tragische wird in diesem Zitat nicht als durchwegs negatives Element gehandelt, das dem Rezipienten ausschließlich Leid verursachte, sondern es scheint auch Energie zu bergen. Diese janusköpfige Anlage nimmt Bezug auf Aristoteles’ Poetik, worin die Tragödie als „Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt“606 beschrieben wird. Einerseits leide der Zuschauer, wenn durch die Verfehlung eines Menschen mit an sich gutem Charakter in einer
604 Menninghaus, Winfried: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt: Suhrkamp, 1999, S.53. 605 Muschg, Walter: Tragische Literaturgeschichte, München: Francke, 1983, S.16. 606 Vgl. Aristoteles: Poetik, Stuttgart: Reclam, 2005, S.19.
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widrigen Situation die falsche Entscheidung getroffen werde und die Handlung deshalb in eine Katastrophe münde. Andererseits sei sein Schmerz nicht absolut, da dieser – so Arbogast Schmitts Auslegung des Begriffs ‚Katharsis‘ – in den Bahnen des Akzeptablen, noch Kontrollierbaren geleitet werde. Die harmonische Strukturierung der Inhalte limitiere demnach die Erfahrung des Schrecklichen.607 Es besteht dieser Definition folgend somit Grund zur Annahme, dass das Tragische aus der Mischung von Stimmigkeit und Unstimmigkeit resultiert. Der Rezipient begegnet bei der Lektüre dem abgründigen Anderen, dem Schmerz. Dieses bleibt jedoch im Rahmen des Erträglichen und wird in ein harmonisches Erlebnis umgeleitet. Dieses Erlebnismuster soll anhand von Claríns La Regenta exemplifiziert werden. Die Hauptfigur Ana langweilt sie sich in ihrer Ehe und sehnt sich nach einem leidenschaftlichen Abenteuer mit Don Álvaro, andererseits scheut sie diesen Schritt aus Angst vor den Sanktionen ihres Umfelds. In der Tragödienterminologie gesprochen führt sie durch ihr Handeln halb-wissentlich eine Katastrophe herbei; halbwissentlich deshalb, weil sie sich einerseits der Konsequenzen ihrer Eskapade als Mitglied der Romangesellschaft wohl bewusst ist, diese andererseits aber nicht wahr haben möchte, da sie mit den Werten ihrer literarischen Sozialisierung über romantische Liebesromane kollidieren. Anas unumstößlicher Glaube an ihre Idealwelt mindert ihre Schuldfähigkeit und erhöht dadurch das tragische Potenzial. Schließlich erzeugt, laut Aristoteles, diejenige Geschichte die intensivste Wirkung, die eine Figur handeln, jedoch erst im Nachhinein deren Tragweite realisieren lässt.608 Ana ist insofern eine tragische Heldin, als sie Handlungen mit dem Ziel vornimmt, Glück zu erzeugen und dabei das Gegenteil bewirkt. Abgesehen von diesen rein diskursiven Komponenten müssen, damit der tragische Widerspruch für den Rezipienten spürbar wird, zusätzlich partizipative Voraussetzungen erfüllt sein. Wie bereits im Kapitel 3.3.2.3. aufgezeigt, ist die emotionale Partizipation des Lesers an Anas Perspektive gebunden. Auch er ist zwischen den zwei Handlungsoptionen hin und hergerissen, kann bisweilen simultan Unlust und Lust empfinden, da der Lektürerhythmus und der sprachlicher Erlebniswert gemischte Gefühle evozieren. Analog dazu ist seine evaluative Beteiligung zwiegespalten, indem der Rezipient Anas Handeln unterstützt und sich gleichzeitig von ihm distanziert. Dieses paradoxe Schema mag sich auf der Ebene der ästhetischen Partizipation fortsetzen: Die Erlebnisstruktur des Romans charakterisiert sich durch Anas Vorstöße in Richtung Don Álvaro (beim gemeinsamen Tanzen, beim Theaterbesuch, bei Begegnungen) mit unmittelbar darauffolgenden Rückziehern. Für das Rezeptionserlebnis bedeutet dies die wiederholte schrittweise Zunahme an-
607 Vgl. Schmitt, Arbogast: „Einleitung“, in: Aristoteles: Poetik, Berlin: Akademie, 2008, S.125. 608 Vgl. Aristoteles: Poetik, Stuttgart: Reclam, 2005, S.45.
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regender Impulse mit einer stets anschließenden plötzlichen Ernüchterung. Dieser wiederkehrende Wechsel von Dynamik und Hemmung bildet ein emotionales Partizipationsmuster, das der Rezipient – ähnlich wie im Beispiel aus Marcel Prousts Recherche aus 3.4.2 – ästhetisch erfahren kann, sofern es ihm als solches zu Bewusstsein kommt. Indem er Anas Gefühlslage mitempfindet und gleichzeitig das ihr zugrunde liegende Schema durchschaut, konstituiert sich ein Stimmigkeitserlebnis.609 Damit der Eindruck des Tragischen entsteht, darf diese Harmonie allerdings nicht rein bleiben, denn ästhetische Lust und Unlust müssen sich gleichzeitig artikulieren: Die Stimmigkeit muss etwas enthalten, das sie unterminiert. Ebendies ist in La Regenta der Fall: Das Gefühlsmuster des Romans wiederholt sich nicht jedes Mal auf die gleiche Weise, sondern seine Amplitude wächst mit fortschreitender Seitenzahl. Im Laufe des Romans kann, wie aufgezeigt, aufgrund der Modulation der motivationalen Partizipation eine Zunahme der Dynamik, also des Wunschs nach Evasion, und eine Abnahme der Hemmung in Form eines immer schwächeren Widerstands der Protagonistin, spürbar sein. Während sich das Erlebnismuster an sich stimmig gestaltet, eignet seinem Verlauf eine revoltierende, unkontrollierbare Komponente: Weil sich das Schema, während es abläuft, fortentwickelt, ist für das ästhetische Erleben trotz aller Regelmäßigkeit ein Ausarten konstatierbar. Ein unfassbares Anderes scheint seine Kräfte im Spiel zu haben und die Harmonie auszulenken, so dass sich das Erlebnis nicht nur stimmig, sondern auch unstimmig gestalten kann. Abbildung 11: Schema der Erlebnisstruktur von Claríns La Regenta
Insofern vollzieht sich in Leopoldo Alas’ Roman das, was Christoph Menke in Die Gegenwart der Tragödie als erlebniskonstitutiv ansieht, die „ästhetische Aussetzung des Tragischen im Schönen und zugleich […] die Erkenntnis des Tragischen
609 Damit der Leser ein zugrunde liegendes Muster erkennt, muss er partiell von der Illusion der Diegese abgelenkt werden. Eine wichtige Rolle spielt hierbei die Ironie, die den Blick auf Ana und die Gesellschaft von Vetusta bisweilen kennzeichnen. Gerade ein Charakteristikum des Realismus ist folglich für die Ausbildung der Tragik maßgeblich.
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gegen die Betrachtung des Schönen“610. Diese Unstimmigkeit in der Stimmigkeit mag der Rezipient als unterschwellige Bedrohung verspüren, die unweigerlich in Richtung Katastrophe treibt. Auf diese Weise wirkt Anas Bewegung hin zum Ehebruch wie ein unumgängliches Schicksal, das er zumindest partiell teilt. Ebenso wie die Protagonistin sich ihres Unbewussten nicht zu erwehren vermag und ihrem Mann trotz aller Einwände untreu werden muss, kann auch der Leser nicht umhin, ästhetische Lust aus der Unlust zu schöpfen bzw. andersherum die Lust als unlustvoll zu erfahren. Der Unterschied zwischen beiden ist, dass die Protagonistin ihr eigenes Handeln nicht überschaut, während die Erfahrung der Erlebnisstruktur den Leser in eine Metaperspektive katapultieren mag, von der aus ihm das Tragische bewusst wird. Fazit: Das tragische Erlebnis wird begünstigt, wenn einer an sich ästhetischen Erlebnisstruktur ein kontrapunktisches Element innewohnt, das Unstimmigkeit innerhalb der Stimmigkeit garantiert. Indem der Rezipient die Harmonie des Romans wahrnimmt, jedoch auch gleichzeitig deren unterschwellige Subvertierung, kann der Eindruck entstehen, das Schicksal würde die Handlung ablenken und dadurch die Verwirklichung des Subjekts verhindern. 3.4.4.2 Das Phantastische Das Phantastische charakterisiert sich, so Tzvetan Todorov in Introduction à la littérature fantastique, über die Unsicherheit des Lesers: Dieser zögere für einen Moment angesichts des Widerspruchs zwischen seinem Vertrauen in die Naturgesetze und einem übernatürlich anmutenden Ereignis. Dieser Augenblick der Ungläubigkeit zerstäube sich bei der Entscheidung für eine Gattungseinordnung, wenn der Text als realistisch oder wunderbar erkannt werde.611 Insofern lässt sich das Phantastische als momentaner Eindruck charakterisieren, der aufgrund der Problematisierung des Entwurfs eines mentalen Modells der Romanwelt Desorientierung hervorruft. Jorge Luis Borges’ El libro de arena (Anhang Text 5) ist rein inhaltlich bereits für das Phantastische prädestiniert612: Ein Buch mit unendlich vielen Seiten,
610 Menke, Christoph: Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel, Frankfurt: Suhrkamp, 2005, S.119. 611 Vgl. Todorov, Tzvetan: Introduction à la littérature fantastique, Paris: Seuil, 1970, S.29. 612 Borges Werk kann sicherlich nicht der phantastischen Literatur im traditionellen Sinne zugeordnet werden. Seine als ‚Neophantastik‘ bezeichneten Texte charakterisieren sich dadurch, dass sie spielerisch die Gesetze der Wirklichkeit überschreiten. Kurzgeschichten wie „Tlön, Uqbar, orbis tertius“ oder „La biblioteca de Babel“ sind Experimente, die das Undenkbare und das physikalisch Unmögliche zur Darstellung bringen, ohne dabei die Ungläubigkeit des Ichs ob dem Phantastischen überhaupt zu thematisieren
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dessen Inhalte und Seitenzahlen sich verändern, ist kein alltäglicher, sondern ein magischer Gegenstand und es wird dies noch mehr durch seinen exotischen Charakter als Objekt aus dem Orient.613 Doch diese makrostrukturelle Anlage allein reicht zur Erklärung des ästhetischen Erlebnisses des Phantastischen selbstredend nicht aus; erst die Beteiligung macht es spürbar. Die Geschichte weist erstens in Hinblick auf die evaluative Partizipation eine charakteristische Struktur auf. Der Erzähler beginnt seine Ausführungen mit einem hohen Maß an Glaubwürdigkeit: La línea consta de un número infinito de puntos; el plano, de un número infinito de líneas; el volumen, de un número infinito de planos; el hipervolumen, de un número infinito de volúmenes… No, decididamente no es éste, more geométrico, el mejor modo de iniciar mi relato. Afirmar que es verídico es ahora una convención de todo relato fantástico; el mío, sin embargo, es verídico.
Er nimmt eine Metaposition ein, indem er das Wie der Erzählung reflektiert („no es éste, more geométrico, el mejor modo de iniciar mi relato“ und „Afirmar que es verídico es ahora una convención de todo relato fantástico“). Durch diese Unterstreichung seiner emotionalen Gelöstheit vom Inhalt erhöht er seine evaluative Kompetenz. Auch die Einflechtung des Latinismus „more geométrico“ akzentuiert seine Kultiviertheit, verleiht der Erzählung einen distanzsprachlichen Anstrich und stellt eine Verbindung zu den auf Logik und Vernunft beruhenden Methoden der Aufklärung her, die gerade die Kontrolle des Lebensumfelds und nicht deren Verlust suggerieren. Dies untermauert die affektive Kühle sowie seine Rationalität und Glaubwürdigkeit. Doch auch einer zweiten Hinsicht erhöht der einleitende Absatz die Verlässlichkeit des Erzählers. Die explizite Thematisierung der Narration dient der Bildung einer Kontrastfolie, vor der sich die Makrostruktur abhebt. Die ersten Sätze stehen im presente und wirken durch die Auslassungspunkte sowie die Wiederholungsstrukturen („No, decididamente no es éste […]“, Hvg. T.H.) unmittelbar und spon-
(vgl. Dünne, Jörg: „Mediale Räume in der phantastischen Literatur“, in: Ruthner, Clemens/Reber, Ursula/May, Markus (Hrsg.): Nach Todorov. Beiträge zu einer Definition des Phantastischen in der Literatur, Tübingen: Francke, 2006, S.194.). In „El libro de arena“ ist diese neophantastische Komponente allerdings nicht allzu stark ausgeprägt. Zwar spielt es die Möglichkeit eines unmöglichen Gegenstands durch, jedoch wird in ihm in traditioneller Fasson das Schwanken des Protagonisten zwischen Fassungslosigkeit und Erklärung inszeniert. Auf diesen Aspekt soll hier abgehoben werden. 613 Vgl. Schaefer, Adelheid: Phantastische Elemente und ästhetische Konzepte im Erzählwerk von J.L. Borges, Wiesbaden: Humanitas, 1973, S.28.
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tan geäußert. Im Moment des Einsetzens der Handlung allerdings verändert sich der Stil. Die Erzählung wechselt nicht nur ins indefinido, sondern mit der temporalen Distanz geht auch eine emotionale einher, zumal die Satzstruktur geordneter ist und die Ausführungen von einer stringenten teleologischen Ausrichtung zeugen. Während er zunächst noch subjektive Bestandteile enthielt, verwandelt sich der Text im Augenblick des Einsetzens der Handlung in einen neutralen Bericht. Durch diesen Kontrast zwischen dem ersten und dem zweiten Absatz wird die Entfernung der Vermittlungsinstanz zum diegetischen Geschehen augenfälliger, als dies bei einem direkten Beginn der Fall gewesen wäre. Dass das Ich eher am erzählenden denn am erlebenden Pol zu verorten ist und einen hohen Grad an Professionalität aufweist, wird auf diese Weise unterstrichen. Darüber hinaus untermauern mehrere ikonische Elemente die Kompetenz des Erzählers, so etwa im letzten Satz des Abschnitts: „Afirmar que es verídico es ahora una convención de todo relato fantástico; el mío, sin embargo, es verídico.“ Rein inhaltlich gesehen wird hier die Botschaft transportiert, die nachfolgende Geschichte sei phantastisch und unwahr. Die Ikonizität jedoch spricht eine andere Sprache: Erstens sorgt der Einschub „sin embargo“ für einen Bruch des Lektürerhythmus. Die drei Wortpaare, die sich durch ihn bilden, stehen in Kontrast zum Fluss des vorherigen Satzes. Den Gegensatz, der so spürbar wird, mag der Rezipient auf das Gesagte projizieren, wodurch die Behauptung des Wahrheitsgehalts der Erzählung an Plausibilität gewinnt. Eine tragende Rolle spielt überdies die Kursivsetzung des ‚es‘. Das Element ist, indem es optisch aus dem Resttext heraussticht, als vordergründig markiert, wodurch sich die Kommunikation gabelt: in den Text in gewöhnlicher Formatierung, an dessen Lügenhaftigkeit der Leser gewohnt ist, und den italic-Text, der aufgrund seiner Unkonventionalität Authentizität verbürgt. Das „es“ kann dazu beitragen, dass er trotz der gegenteiligen Botschaft auf den Wahrheitsgehalt der Geschichte vertraut. Diese starke Betonung der Glaubwürdigkeit in den ersten Textzeilen setzt sich im weiteren Verlauf fort: Yo vivo solo, en un cuarto piso de la calle Belgrano. Hará unos meses, al atardecer, oí un golpe en la puerta. Abrí y entró un desconocido. Era un hombre alto, de rasgos desdibujados. Acaso mi miopía los vio así. Todo su aspecto era de pobreza decente. Estaba de gris y traía una valija gris en la mano. En seguida sentí que era extranjero. Al principio lo creí viejo; luego advertí que me había engañado su escaso pelo rubio, casi blanco, a la manera escandinava. En el curso de nuestra conversación, que no duraría una hora, supe que procedía de las Orcadas.
Die Vermittlungsinstanz beweist hier mehrfach ihre Bodenständigkeit und Vernunftgläubigkeit. Sie beschreibt den fremden Besucher präzise und achtet genau darauf, keine Fehlinformationen zu liefern. Verstärkt macht sie dabei von Verben
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der Sinneswahrnehmung Gebrauch („oí“, „vio“, „advertí“), wodurch sie von ein ausgeprägtes Vertrauen in die Empirie und einem Hang zum Szientismus zeugt und gerade ein Kontrastmodell zu einer magisch-phantastischen Weltsicht konstruiert. Elemente, die befremdlich erscheinen könnten, relativiert der Erzähler, indem er eine logische Erklärung für sie liefert („Era un hombre alto, de rasgos desdibujados. Acaso mi miopía los vio así.“). Begriffe, die negative oder dunkle Assoziationen auslösen könnten, ersetzt er durch deren Gegenteil und reduziert dadurch die Bedrohlichkeit der Atmosphäre. So etwa in „Al principio lo creía viejo; luego advertí que me había engañado su escaso pelo rubio“, wo er einen alten Mann mit weißen Haaren, der an einen Zauberer oder gottähnliche Gestalt erinnern könnte, gegen einen jungen, blonden eintauscht.614 Darüber hinaus tritt das Ich als Spezialist der Buchwissenschaften auf („Será del siglo diecinueve“) und hebt sich mit diesen Kenntnissen von seinem Gesprächspartner ab („No sé. No lo he sabido nunca.“). Seine evaluative Kompetenz wird dadurch maximal, dass es sich im Hierarchiesystem der Diegese als mächtig erweist.615 Dieser glaubwürdigen Erzählung mischen sich nun, zunächst subtil, dann immer offensichtlicher störende Elemente bei. Bereits der erste Abschnitt enthält Spuren davon. Die Thematisierung der Erzählerstrategie hat ihren eigenen, gleichförmigen Rhythmus. Die Tatsache, dass dieser nach einigen Zeilen durch die Auslassungspunkte aufgelöst wird, lässt sich als ikonisches Element verstehen, das das Schwinden der Sicherheit der Vermittlungsinstanz präfiguriert. Im Absatz mit der Beschreibung des Unbekannten, durch den der Erzähler Zeugnis seiner Vernunftgläubigkeit ablegt, tanzt das „En seguida sentí que era extranjero“ aus der Reihe. Da alle sonstigen Informationen auf verifizierbaren Beobachtungen des Ichs beruhen, überrascht es, dass sich dieses hier auf seine Intuition verlässt. Die Wahl des „sentí“ wird durch seine Ausnahmestellung bedeutsam, vor allem, zumal die Beobachtung im Grunde ebenso gut mit einem Verb der sinnlichen Wahrnehmung konstruiert hätte werden können (z.B. en seguida ví que era extranjero). Nun aber strahlt es auf
614 Haarfarben wirken – wie Ralf Junkerjürgen herausarbeitet – in literarischen Texten als Kodes, die sich im Laufe der Literaturgeschichte zu Stereotypen verfestigt haben. Blondes Haar werde sowohl in Antike als auch im Christentum stets mit Licht und Schönheit in Verbindung gebracht und trage somit eine positive Wertigkeit (vgl. Junkerjürgen, Ralf: Haarfarben. Eine Kulturgeschichte in Europa seit der Antike, Köln: Böhlau, 2009, S.289.). 615 Die Überhöhung der Glaubwürdigkeit des Erzählers wird deshalb so ausdauernd betrieben, um sich das blinde Vertrauen des Lesers zu sichern. Schließlich muss dieser, damit sich das Erlebnis des Phantastischen einstellen kann, vom realistischen Charakter des Texts ausgehen, da ihn die übernatürlichen Elemente nur so überraschen und er für einen Moment fassungslos bleibt.
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den umliegenden Text ab und verändert auch die Bedeutung der Verben in seinem Umfeld: Die Verbindung von Sehen, Hören und Fühlen suggeriert eine synästhetische Form der Weltaneignung, die in klarem Gegensatz zu dem zunächst als empirisch wahrgenommenen Gestus der Vermittlungsinstanz steht. Der Abschnitt lässt folglich gleichzeitig zwei gegensätzliche Interpretationen der Situation zu: eine auf Basis der Vernunft, die andere auf Basis eines instinktiven Gefühls. Durch diese Dopplung wird die Glaubwürdigkeit des Erzählers einerseits in Zweifel gezogen, andererseits nicht. Die Passage ist ein Kipp-Bild, an dem die Einschätzung des Lesers hin und her schwanken mag, ohne sich für eine richtige Version entscheiden zu können. Hinzu kommt, dass das Ich im Laufe des Abschnitts einen richtiggehenden Hierarchiesturz erleidet. Hatte es zunächst ein Gesprächsmonopol inne, so nehmen die direkte Reden des Fremden nun signifikant zu. War zunächst der Wissensvorsprung des Erzählers gehäuft explizit („no sin pedantería le contesté“) oder implizit (in den direkten Reden) Thema, so werden nun seine Verunsicherung und sein Unwissen angesprochen („Para ocultar mi desconcierto“, „Se trata. de una versión de la Escritura en alguna lengua indostánica, ¿no es verdad? – No – me replicó.“, Hvg. T.H.). Er kontrolliert den Fremden nicht mehr, gehorcht stattdessen nun dessen Befehlen („Mírala bien.“, „Ahora busque el final.“). Besonders eindringlich wird dies dadurch spürbar, dass das kursive ‚es‘ aus dem ersten Absatz nun in einer Äußerung des Anderen auftaucht („No puede ser, pero es.“). Insofern vertauschen sich im Laufe des Abschnitts die Rollen der beiden Instanzen, das Wunderbare nimmt gekoppelt an das Vehikel der Erzählerunglaubwürdigkeit Oberhand über das Realistische. Das ästhetische Erlebnis des Phantastischen kann am Schnittpunkt der Demontage der evaluativen Kompetenz des Erzählers und der Zunahme wunderbarer Inhalte lokalisiert werden. Es ergibt sich dabei ein Augenblick, an dem der Rezipient dem Erzählten zwar Glauben schenkt, ohne es jedoch begreifen zu können – eine Diskrepanz, die bei der Lektüre als unauflösbar, da logikwidrig erfahren werden kann. Das Phantastische ist folglich eine Unstimmigkeitserfahrung, die eintritt, kurz bevor das Wunderbare Übergewicht bekommt und unmerklich über das Realistische siegt. Im vorliegenden Ausschnitt wäre dieses konkret im eben angesprochenen Kippmoment zu verorten, da sich Realismus und Magie hier die Waage halten.616 Eine genaue Lokalisierung ist unmöglich, da sich das Phantastische als Phä-
616 Dieser Moment des Zögerns zwischen dem Realen und Wunderbaren mag durch den Falschinformationseffekt verlängert werden, wie ihn Hollyn Johnson und Seifert Colleen beschreiben: Demnach passten sich Mediennutzer an eine geänderte Informationslage nur langsam an und hielten an der zunächst vermittelten Situation fest, auch wenn sich diese bereits als falsch erwiesen habe (vgl. Johnson, Hollyn/Colleen, Seifert:
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nomen der Unstimmigkeit nicht durch Plötzlichkeit auszeichnet. Es geht nicht mit einer unverhofften Erkenntnis einher; vielmehr schwillt es langsam an, wird intensiver, um dann schrittweise wieder ausgeblendet zu werden. Insgesamt ist das Phantastische ein Unstimmigkeitserlebnis, das aufgrund seiner Kürze keinen Illusionsbruch erzeugt, sondern an die diegetische Illusion gekoppelt bleibt. Für einen Augenblick scheinen bei der Lektüre die Regeln der Logik außer Kraft und der Rezipient läuft die Gefahr eines Kontrollverlusts über den Roman, so dass er sein mentales Modell des Texts in Frage stellen muss. Dies ist dann der Fall, wenn die emotionale, kognitive oder evaluative Beteiligung sich schleichend ändern, bis ein Widerspruch zwischen Erzähltem und Glaubbarem entsteht und daraus ein Augenblick der Konsternation resultiert. Erst nachdem der Rezipient das realistische gegen das wunderbare Schema getauscht hat, bildet sich der Eindruck des Phantastischen zurück. 3.4.4.3 Das Unheimliche Das Unheimliche ist ein paradoxes Gefühl: Für keine andere ästhetische Erfahrung ist die Diskrepanz zwischen Vergnügen und Angst größer, ist der Kontakt mit dem unbekannten, verbotenen Andern abgründiger. ‚Schauer-‘ oder ‚Horrorliteratur‘ sind seit ihrem Aufkommen wiederholt gleichzeitig auf extreme Ablehnung und unumschränkte Zustimmung gestoßen. Die einen frönen ihnen wie einer Sucht, die anderen meiden sie wie die Pest. Wenn das Unheimliche die Rezipientenschaft so stark polarisiert, so liegt das nicht nur an den individuellen Variationen in der Solidität des Nervenkostüms der Leser.617 Vielmehr ist der Widerspruch im Erlebnis selbst angelegt, zumal es Stimmig- und Unstimmigkeitserfahrungen kontrastreich miteinander verschmilzt. Das Unheimliche ist mit dem Phantastischen verwandt: Auch bei ihm handelt es sich um eine ästhetische Erfahrung, die der kurzeitigen Desorientierung des Lesers ob der Widerlegung seines mentalen Modells der Romanwelt entspringt. Was es von diesem unterscheidet, soll im Folgenden anhand
„Updating Accounts following a Correction of Misinformation“, in: Journal of Experimental Psychology. Learning, Memory, and Cognition, 24 (1998), S.1483f.). Insofern kann das Vertrauen des Lesers in die Verlässlichkeit der Gesetze der Realität auch über das Auftauchen des magischen Gegenstands hinaus bestehen bleiben und dadurch das Schwanken zwischen den beiden Wirklichkeitsversionen prolongiert werden. 617 Peter Vitouch profiliert zwei Typen des Umgangs mit Angst: Lust aus dem Unheimlichen ziehen diejenigen Rezipienten, die aktiv nach Informationen zur Gefahrenvermeidung suchen und die Angstsituation dadurch vermeiden; als quälend empfinden es Rezipienten, die zur Flucht vor dem Horror tendieren (vgl. Vitouch, Peter: Fernsehen und Angstbewältigung. Zur Typologie des Zuschauerverhaltens, Berlin: Springer, 2007, S.138f.).
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eines Ausschnitts von Guy de Maupassants „Le Horla“ herausgearbeitet werden. Es handelt sich dabei um die Passage, in der der Protagonist zum ersten Mal bemerkt, dass nachts seine Karaffe ausgetrunken wurde, ohne dass er sich dies erklären könnte: 5 juillet. – Ai-je perdu la raison? Ce qui s’est passé, ce que j’ai vu la nuit dernière est tellement étrange, que ma tête s’égare quand j’y songe! Comme je le fais maintenant chaque soir, j’avais fermé ma porte à clef; puis, ayant soif, je bus un demi-verre d’eau, et je remarquai par hasard que ma carafe était pleine jusqu’au bouchon de cristal. Je me couchai ensuite et je tombai dans un de mes sommeils épouvantables, dont je fus tiré au bout de deux heures environ par une secousse plus affreuse encore. Figurez-vous un homme qui dort, qu’on assassine, et qui se réveille avec un couteau dans le poumon, et qui râle couvert de sang, et qui ne peut plus respirer, et qui va mourir, et qui ne comprend pas – voilà. Ayant enfin reconquis ma raison, j’eus soif de nouveau; j’allumai une bougie et j’allai vers la table où était posée ma carafe. Je la soulevai en la penchant sur mon verre; rien ne coula. – Elle était vide! Elle était vide complètement! D’abord, je n’y compris rien; puis, tout à coup, je ressentis une émotion si terrible, que je dus m’asseoir, ou plutôt, que je tombai sur une chaise! puis je me rassis, éperdu d’étonnement et de peur devant le cristal transparent! Je le contemplais avec des yeux fixes, cherchant à deviner. Mes mains tremblaient! On avait donc bu cette eau? Qui? Moi? moi, sans doute? Ce ne pouvait être que moi? Alors, j’étais somnambule, je vivais, sans le savoir, de cette double vie mystérieuse qui fait douter s’il y a deux êtres en nous, ou si un être étranger, inconnaissable et invisible, anime, par moments, quand notre âme est engourdie, notre corps captif qui obéit à cet autre, comme à nous-mêmes, plus qu’à nous-mêmes. Ah! qui comprendra mon angoisse abominable? Qui comprendra l’émotion d’un homme, sain d’esprit, bien éveillé, plein de raison et qui regarde épouvanté, à travers le verre d’une carafe, un peu d’eau disparue pendant qu’il a dormi! Et je restai là jusqu’au jour, sans oser regagner mon lit.618
Das Unheimliche ist, laut Sigmund Freud, eine „Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht“619. Bei Menschen, die sich ängstigten, setze zeitweise die rationale Denkweise aus und sie fielen in eine archaische Weltauffassung zurück. In dieser seien Gegenstände auf magische Weise animiert, Wünsche hätten eine direkte Auswirkung auf die Realität, die Grenze zwischen Tod
618 De Maupassant, Guy: „Le Horla“, in: Ders.: Contes cruels et fantastiques, Paris: LGF, 2004, S.608f. 619 Freud, Sigmund: Das Unheimliche. Aufsätze zur Literatur, Berlin: Fischer, 1963, S.46.
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und Leben werde porös, fremde Personen und Dinge verfügten über Zauberkräfte und sie verlören die Kontrolle über sich selbst.620 Diese Definition trifft auf „Le Horla“ eindeutig zu: Schließlich meint der Protagonist, ein unsichtbares621 Wesen im Zimmer zu spüren, das seine Wasservorräte auftrinkt, bzw. fremdgesteuert zu sein und diese im Schlaf selbst zu konsumieren. Eine magische Macht scheint ihre Hände im Spiel zu haben und die Grenzen der Logik aufzuweichen.622 Zusätzlich verunsichert, wie Pierre Bayard herausstreicht, dass diese mit einem ungeläufigen Namen bezeichnet ist, der seine Unfassbarkeit über den sprachlichen Erlebniswert spürbar macht.623 Allerdings ist die Tatsache, dass die Erzählung inhaltlich Freuds Definition des Unheimlichen genügt, noch keine Garantie dafür, dass sich der Leser auch gruselt. Im Kontext der kognitiven Beteiligung wurde aufgezeigt, dass die Regeln der Realität und des Romans oftmals divergieren, ohne dass sich der Leser daran stoßen würde. Ein sprechendes Tier etwa muss nicht unheimlich sein, sondern kann im Kontext einer Fabel selbstverständlich als Protagonist fungieren. Auch Freud spricht divergente Regeln des Unheimlichen in Wirklichkeit und Fiktion an: „Das paradox klingende Ergebnis ist, daß in der Dichtung vieles nicht unheimlich ist, was unheimlich wäre, wenn es sich im Leben ereignete, und daß in der Dichtung viele Möglichkeiten bestehen unheimliche Wirkungen zu erzielen, die fürs Leben wegfallen.“624 Insofern muss die Aufmerksamkeit weniger dem unerklärlichen Verschwinden des Wassers als vielmehr der Frage gelten, wie der Leser dazu gebracht werden kann, dieses als Bedrohung zu erfahren. Die Ausgangssituation ist eine ähnliche wie für das Phantastische: Auch „Le Horla“ markiert seinen Erzähler als kompetent. Bereits die typographische und inhaltliche Anlage des Texts als Tagebuch, trägt hierzu entscheidend bei: Einerseits hat die Form eine authentifizierende Funktion, da sie ikonisch die Formatierung ei-
620 Vgl. ebd., S.47f. 621 Die Tatsache, dass der Horla unsichtbar und nur im Resultat seines Wirkens präsent ist, erhöht seine Unheimlichkeit, zumal das Undefinierte, Unkonkrete die Phantasie des Lesers herausfordert: Je nach dem Potenzial seiner Vorstellungskraft ergibt sich auf diese Weise etwas Grauenhafteres, als die explizite Darstellung jemals schaffen könnte. 622 Für das Unheimliche ist die Unterscheidung unerheblich, ob der Erzähler verrückt ist oder ob er wirklich von einem unsichtbaren Monster angegriffen wird. Unheimlich ist nach Freuds Definition beides, der Angriff des Protagonisten durch eine äußerliche fremde Macht und der Verlust der Kontrolle über sich selbst. 623 Vgl. Bayard, Pierre: Maupassant, juste avant Freud, Paris: Minuit, 1994, S.20. 624 Freud, Sigmund: Das Unheimliche. Aufsätze zur Literatur, Berlin: Fischer, 1963, S.80.
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nes nicht-fiktiven Dokuments aufgreift.625 Andererseits ist die Tatsache, dass der Erzähler seine Erlebnisse niederschreibt, ein Indiz für dessen erhöhte Reflektiertheit. Der erste Eintrag vom 8. Mai bezieht sich überdies noch nicht auf den Horla, sondern beschreibt einen glücklichen Tag des Protagonisten, der später als realistische Kontrastfolie fungiert.626 Insofern erfährt der Leser die Erzählung zumindest zu Beginn nicht als unglaubwürdig. Doch auch später, im Kontext der Zunahme unerklärlicher Ereignisse verliert die Vermittlungsinstanz ihre Kompetenz nicht. Die meisten Einträge haben einen klaren Aufbau und sind teleologisch angelegt. So etwa der vorliegende Ausschnitt: Er beginnt mit einem hinführenden Absatz, berichtet sodann die Neuigkeiten und schließt eine Reflexion über diese an, um letztendlich die einleitenden Gedanken teilweise sogar mit der gleichen Wortwahl wieder aufzugreifen. Es lässt sich also für den Eintrag eine durchdachte und geschlossene Struktur konstatieren. Darüber hinaus sind die Äußerungen relativ vollständig, was eine starke Konstruiertheit und Geplantheit, sprich: Kontrolle des Erzählers über das Geschehene, suggeriert. Die Vertrauenswürdigkeit pointieren außerdem autoreflexive Elemente wie „Ai-je perdu la raison?“, das seiner Aussage zum Trotz gerade der Unterstreichung der Geistesgegenwart des Sprechers dient. Insofern bleibt eine gewisse Distanz des Erzählers zum Erlebten durchgängig vorhanden. Selbst in den ärgsten Angstsituationen ist das Ich bestrebt, die Situation in der Gewalt zu behalten. Es unternimmt quasi-wissenschaftliche Experimente – es setzt dem Horla alternativ zum Wasser Milch, Brot und andere Lebensmittel vor, erschwert ihm das Öffnen der Flasche etc. –, unterhält Kontakte zu Dr. Parent, einem der angesehensten Ärzte auf dem Gebiet der Hypnose, und interessiert sich für die neusten wissenschaftlichen Erkenntnisse von Nervenärzten. Alles in allem charakterisiert sich das Ich, sowohl das erzählende als auch das erlebende, auf diese Weise in den ersten Einträgen als eher rational und vertrauenswürdig – bevor sich dieses Konstrukt als Staffage entpuppt. Diesen Prozess beschreibt Guy de Maupassant in „Le Fantastique“ selbst: Il [L’écrivain] a trouvé des effets terribles en demeurant sur la limite du possible, en jetant les âmes dans l’hésitation, dans l’effarement. Le lecteur indécis ne savait plus, perdait pied comme en une eau dont le fond manque à tout instant, se raccrochait brusquement au réel
625 Vgl. Wehr, Christian: Imaginierte Wirklichkeiten. Untersuchungen zum récit fantastique von Nodier bis Maupassant, Tübingen: Narr, 1997, S.186. 626 Die Diskrepanz zwischen einer gewöhnlichen und einer durch Grauen ausgelenkten Emotion kann, so Jan König, nur effektvoll inszeniert werden, indem Ausgangssituation und Ergebnis kontrastiv und spannungsreich gegenübergestellt werden (vgl. König, Jan: Herstellung des Grauens. Wirkungsästhetik und emotional-kognitive Rezeption von Schauerfilm und -literatur, Frankfurt: Lang, 2004, S.65.).
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pour s’enfoncer encore tout aussitôt, et se débattre de nouveau dans une confusion pénible et enfiévrante comme un cauchemar.627
Anders allerdings als in El libro de arena fällt neben der evaluativen Partizipation in Le Horla auch die emotionale stark ins Gewicht. Vor allem das zweite Textdrittel („Elle était vide! […] Ce ne pouvait être que moi?“) bildet in dieser Hinsicht einen Höhepunkt. Die Satzlänge nimmt in dem Abschnitt signifikant ab, die Redundanzen verdichten sich („Elle était vide! Elle était vide complètement.“), Frage- und Ausrufezeichen sind akkumuliert und machen dadurch visuell die Aufgebrachtheit spürbar. Diese gestiegene Emotionalität geht selbstverständlich zulasten des Eindrucks der evaluativen Kompetenz, denn das Ich rückt vom erzählenden zum erlebenden Pol und verliert dadurch rapide an Distanz zur Diegese. Die Verwirrung wirkt sich fürderhin auf die Narrationsfähigkeiten aus, so dass manche Sätze nun mit einer „falschen“ Interpunktion konstruiert sind: Obwohl „moi, sans doute? Ce ne pouvait être que moi?“ eigentlich Aussagecharakter haben, tragen sie ein Fragezeichen. Durch diesen „Fehler“ geht der Eindruck der Souveränität und Besonnenheit des Erzählers zurück, mit dem Wechsel von der Null- zur internen Fokalisierung bröckelt seine kompetente Fassade im Laufe der Passage.628 Ein weiterer Mehrwert des Unheimlichen gegenüber dem Phantastischen liegt in der Überraschung. Der Augenblick, in dem der Protagonist entdeckt, dass die Karaffe leer ist, also dass sich Paranormales zuträgt, ist als Schockmoment inszeniert, wofür die Ikonizität in folgendem Abschnitt verantwortlich ist: „Ayant enfin reconquis ma raison, j’eus soif de nouveau; j’allumai une bougie et j’allai vers la table où était posée ma carafe. Je la soulevai en la penchant sur mon verre; rien ne coula. – Elle était vide!“ Die beiden einleitenden Sätze sind relativ lang; obwohl sie mehrere klar gegliedert parataktische Einzelelemente enthalten, stehen sie über die Semikolons miteinander in Verbindung, so dass sie zusammengehörig erscheinen. Dann jedoch, im Moment der Übermittlung der beängstigenden Information, durchbricht der Spiegelstrich jäh das Schriftbild. Es folgt eine kurze Phrase, die mit einem Ausrufezeichen abschließt und drei niedrigsilbige Wörter enthält. Diese visuelle Leerstelle, die an den Umschlag in einen beschleunigten, kurzatmigen Lektürerhythmus gekoppelt ist, simuliert die Überraschung und Erregung des Protagonisten und macht die Angst für den Leser erlebbar. Auch er kann die Präsenz des Horla 627 De Maupassant, Guy: „Le Fantastique“, in: Le Gaulois (07.10.1883). 628 Die Partizipation am Unheimlichem wird überdies häufig auch über die Atmosphäre begünstigt, wie dies etwa für die Beschreibung des Schlosses von Julien Gracqs Au château d’Argol aus dem Kapitel 3.1.1.3.1 der Fall war. Der Vorteil dieser Form der Beteiligung besteht darin, dass Atmosphären den Leser auf unterschwelligere Weise beeinflussen als die Gefühle der Figuren. In „Le Horla“ wird auf diese Taktik allerdings zugunsten der Authentizität des Tagebucheintrags verzichtet.
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momentan spüren, weil ihm dieser in der Plötzlichkeit als Projektion seiner eigenen Angst gegenübertritt. Fazit: Beim Unheimlichen handelt es sich um ein ästhetisches Erlebnis, das aus der Paarung der Glaubwürdigkeit des Erzählers mit einem unglaublichen Inhalt resultiert. Spürbar wird es allerdings noch nicht auf dieser kognitiven Ebene, sondern erst, wenn der Rezipient emotional partizipiert und die Angst einer Figur oder des Erzählers bei der Lektüre miterlebt. Darüber hinaus ist das Unheimliche häufig an einen Überraschungseffekt geknüpft. Da es im Aufscheinen des Unkontrollierbaren besteht, kann seine Intensität wachsen, wenn die Konfrontation mit ihm in Form eines Schocks erfolgt. 3.4.4.4 Das Absurde Das Absurde ist Performanz: Es sei, so Albert Camus, weder im Menschen selbst, noch in der Welt, vielmehr ergebe es sich aus ihrer gemeinsamen und gleichzeitigen Präsenz und Interaktion. Es bedeute den Vollzug eines Widerspruchs, einer Unmöglichkeit, die dennoch eintrete und mit der sich das Individuum abfinden müsse.629 Als Galionsfigur des Absurden führt Camus Sisyphos: Im Moment, in dem dieser mit seinem Felsblock auf der Spitze des Bergs angekommen sei, verflüchtige sich der Sinn seiner Arbeit und er müsse von Neuem beginnen, wohl wissend, dass seine Anstrengung niemals zu einem definitiven Ziel führen werde: „Seine Verachtung der Götter, sein Hass gegen den Tod und seine Liebe zum Leben haben ihm die unsagbare Marter eingebracht, bei der jedes Wesen sich abmüht und nichts zustande bringt.“630 Hier sollen ausgelotet werden, inwiefern der Rezipient bei der Lektüre in die Rolle des Sisyphos schlüpfen kann, das heißt, was ihn einen Roman als unlösbare, beschwerliche Last empfinden lässt und warum diese ihn dennoch nicht vom Weiterlesen abhält. Aufgezeigt wird dies anhand folgender Passage aus Samuel Becketts Watt: Et Monsieur Spiro de répondre à ces questions, c’est-à-dire de répondre à la question un et de répondre à la question trois. Il le fit longuement, en citant saint Bonaventure, Pierre Lombard, Alexandre de Hales, Sanchez Suarez, Henno, Soto, Diana, Concina et Dens, étant un homme à loisirs. Mais Watt n’entendait rien, à cause d’autres voix qui allaient lui chantant, criant, disant, murmurant, des choses incompréhensibles, à l’oreille. Ces voix, si elles ne lui étaient pas connues, ne lui étaient pas inconnues non plus. Si bien qu’il ne s’alarmait pas, outre mesure. Tantôt elles chantaient seulement, tantôt criaient seulement, tantôt disaient seulement, tantôt murmuraient seulement, tantôt chantaient et criaient, tantôt chantaient et disaient, tantôt chantaient et murmuraient, tantôt criaient et disaient, tantôt criaient et murmuraient, tantôt
629 Vgl. Camus, Albert: Der Mythos von Sisyphos, Düsseldorf: Rauch, 1960, S.44. 630 Ebd., S.154.
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disaient et murmuraient, tantôt chantaient et criaient et disaient, tantôt chantaient et criaient et murmuraient, tantôt criaient et disaient et murmuraient, tantôt chantaient et criaient et disaient et murmuraient, toutes ensemble, en même temps, comme alors, pour ne parler que de ces quatre sortes de voix, car il y en avait d’autres. Et tantôt Watt comprenait tout, et tantôt il comprenait beaucoup, et tantôt il comprenait rien, comme alors. Mais voici que le champ de courses, surgissant avec ses belles barrières blanches dans la lumière impétueuse, avertit Watt qu’il approchait de son but et qu’au prochain arrêt du train il aurait à le quitter.631
Der Abschnitt weist weder Regelverstöße gegen die schriftsprachliche Norm, noch inhaltliche Widersprüche auf, er ist problemlos verstehbar; dennoch erscheint er befremdlich. Dies liegt erstens an der Überkonstruiertheit des Bezugs der Sätze aufeinander. Der Text verzichtet auf Ersetzungsphänomene wie Ellipsen („de répondre à la question un et de répondre à la question trois“, Hvg. T.H.) oder Synonymisierung („Ces voix, si elles ne lui étaient pas connues, ne lui étaient pas inconnues non plus“, Hvg. T.H.) und wirkt dadurch redundant und umständlich. Ist diese Merkwürdigkeit zu Beginn des Texts noch erträglich und könnte sie als wunderliche, aber dennoch nachvollziehbare stilistische Eigenheit des Erzählers verstanden werden, so nimmt sie im zweiten Teil der Passage so extreme Ausmaße an, dass sie unerklärlich wird. Besonders augenfällig ist dies im Abschnitt, der den Stimmen der im Zugabteil anwesenden Personen gewidmet ist („Tantôt […] avait d’autres“). Es handelt sich hierbei inhaltlich gesehen um ein deskriptives und damit hintergründiges Element, nichtsdestotrotz wendet sich ihm der Erzähler in aller Ausführlichkeit zu. Die Markierung des unbedeutenden Gegenstands als relevant, erschwert die Verarbeitung und mag den Leser verstören, wenn er keine logische Begründung dafür findet. Da die Narration ungerechtfertigt auf der Stelle tritt und die gewöhnliche Form der Generierung einer Romanwelt in der Vorstellung des Lesers umgangen wird, vermag man sich des Eindrucks der Unstimmigkeit fast nicht zu erwehren. Insofern ist – wie Julia Weber konstatiert – eine „Haltung der Ohnmacht“632 als Reaktion charakteristisch: Der Rezipient kann die Spitze des Bergs zwar erreichen, jedoch gelangt er dabei nicht zu einem übergreifenden Sinn. Er rollt den Stein, ohne jemals anzukommen. Ähnlich blockiert ist die Herstellung von Stimmigkeit über die emotionale Partizipation. Im Normalfall kann der Rezipient diejenigen Passagen eines Romans, die er nicht auf Anhieb einordnen kann, früher oder später in eine Emotion übersetzen. Bei „Tantôt elles chantaient seulement […] avait d’autres“ erweist sich dies aller-
631 Beckett, Samuel: Watt, Paris: Minuit, 2007, S.30f. 632 Weber, Julia: Das multiple Subjekt. Randgänge ästhetischer Subjektivität bei Fernando Pessoa, Samuel Beckett und Friederike Mayröcker, München: Fink, 2010, S.92.
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dings als müßig. Die Wörter „tantôt“, „chantaient“, „criaient“, „disaient“ und „murmuraient“ werden so ausdauernd wiederholt, bis sie einen schematischen Rhythmus bilden, ohne dass sich in diesem ein präsentifizierendes Element erkennen ließe. Zur Ikonisierung eines Stimmengewirrs auf dem Bahnhof eignete sich eher ein weniger gleichförmiges Muster, das die Diversität der sprechenden Personen und das Durcheinander der Menschenansammlung über Synkopen und unregelmäßige Pausen spürbar machte. Der maschinelle Charakter, der dem Text stattdessen zueigen ist, steht somit quer zum Inhalt, so dass es dem Leser schwer fallen dürfte zu entscheiden, worauf er sein Automatismus-Erlebnis projiziert. Auch mit Watts Befindlichkeit lässt sich der Rhythmus kaum korrelieren: Im Grunde wäre dies möglich, zumal zwischen dem Protagonisten und dem Rezipienten eine Parallele besteht: Beide werden von der lauten Geräuschkulisse gestört; der erste, weil er seinem Gesprächspartner, der zweite, weil er der Handlung nicht mehr folgen kann. Dem entgegen arbeitet jedoch, dass nach der Passage der Vortrag Monsieur Spiros nicht etwa wieder aufgenommen wird, sondern sich die Erzähleraufmerksamkeit auf ein völlig anderes äußerliches Moment richtet. Es zieht sich ein eindeutiger Riss durch die Wahrnehmung der Romanwelt, der an der Richtigkeit des Texts Zweifel aufkommen lassen kann. Ein weiterer Grund, warum die Wahrnehmung des auffälligen Lektürerhythmus als ikonisches Element blockiert ist, ist dessen Länge und Penetranz. Die Zeit, während der der Leser Textbausteine rezipiert, die er nicht einordnen kann und die ihn befremden, ist zu ausgedehnt, der akustische und rhythmische Input durch den Gleichklang und die Wiederholungen zu eingängig, als dass er auf die Romanwelt konzentriert bleiben und in ihr nach einer Erklärung suchen könnte. Seine Aufmerksamkeit wird vielmehr von der referenziellen Ebene weg, auf die Materialität der Zeichen gelenkt, so dass sich ein Illusionsbruch ergeben kann. Die Vorstellung der Romanrealität durchzieht ein Riss, vergleichbar mit der Situation, wenn eine CD aufgrund eines Kratzers hängenbleibt, wodurch das Musikstück nicht mehr als Gesamtkomposition, sondern nur noch als unablässig wiederholtes Fragment zugänglich ist. Man bemerkt unverzüglich, dass die Perpetuierung nicht Teil der Komposition sein kann, sondern ihr ein technischer Defekt zugrunde liegen muss. Der Leser mag die Unrichtigkeit des Abschnitts konstatieren und sich fragen, ob vielleicht ein Druckfehler vorliegt. Es vollzieht sich eine – wie Helga Schwalm formuliert – „Negation der Repräsentationskraft“ zugunsten von Nicht-Referenz und Redundanz.633 Diese Störung der Illusion mag das Unstimmigkeitserlebnis und
633 Schwalm, Helga: Dekonstruktion im Roman. Erzähltechnische Verfahren und Selbstreflexion in den Romanen von Vladimir Nabokov und Samuel Beckett, Heidelberg: Winter, 1991, S.189.
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den Eindruck befördern, dass ein Zugang zur Diegese trotz aller Bemühungen verwehrt bleibt. Doch wie kann der Leser auf die Verhinderung der ästhetischen Erfahrung in Watt reagieren? Bedeutet sie, dass er den Roman automatisch als unästhetisch bewertet? Nein, nicht zwingend. Der Rezipient hat angesichts des Absurden in Anlehnung an Camus zwei Möglichkeiten: Entweder er befreit sich durch Selbsttötung davon, d.h. im vorliegenden Fall, er klappt den Roman mit einem Kopfschütteln zu und ignoriert damit, was ihn niemals zu einem sinnvollen Ziel führen wird. Er entzieht sich der Konfrontation mit ihm, indem er sein Versagen bei der Rezeption bzw. das des Autors beim Verfassen konstatiert. In diesem Fall bleibt die Unstimmigkeit definitiv. Oder aber er gesteht sich die Absurdität ein, er akzeptiert sie und sieht ihr ins Auge. Wenn er trotz der Unstimmigkeit weiterliest, transzendiert er sein Scheitern und macht es dadurch bedeutungsvoll. Indem er die fehlende ästhetische Lust in seiner Vorstellung ergänzt, revoltiert er gegen die Sinnlosigkeit des Texts. Indem er das Werk als Berg wahrnimmt, den es zu bezwingen gilt, wird er zum absurden Helden. In diesem Moment muss sich den Leser als glücklichen Menschen vorstellen. Es kristallisiert sich heraus, dass das Erlebnis von Absurdität aus einer stark ausgeprägten Unstimmigkeitserfahrung resultiert. Diese tritt ein, wenn die Wunsch des Lesers nach kognitiver und emotionaler Beteiligung am Roman durch die Verletzung von Vertextungskonventionen, die Inkompatibilität einer bei der Lektüre empfundenen Emotion mit dem Erzählten oder das Hervortreten der Materialität der Kommunikation so sabotiert wird, dass er aus der diegetischen Illusion herauskatapultiert wird und keinen Zugang zum Gelesenen findet. Das Absurde wird möglich, wenn der Rezipient die hieraus resultierende Befremdung nicht als Qualitätsmangel des Romans wertet, sondern ihr durch das Weiterlesen die eigene Auflehnung entgegensetzt. 3.4.4.5 Das Komische Das Komische ist ein Kampf, der mittels einer List gewonnen wird. So könnte man zumindest meinen, wenn man Sigmund Freuds Definition des Witzes hört: „Er ermöglicht die Befriedigung eines Triebes (des lüsternen und feindseligen) gegen ein im Wege stehendes Hindernis, er umgeht dieses Hindernis und schöpft somit Lust aus einer durch das Hindernis zugänglich gewordene Lustquelle.“634 Soziale Zwänge und gesellschaftliche Normen versklavten das Individuum, so der Tenor, sie drängten ihm ein Verhalten auf, das seinen Trieben zuwiderlaufe. Aufgrund dieser Einschränkung der natürlichen Impulse schwele in ihm ein immerwährender Kon-
634 Freud, Sigmund: Der Witz und die Beziehung zum Unbewussten. Der Humor, Frankfurt: Fischer, 1999, S.115.
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flikt. Das Komische deutet zunächst dessen Vermeidung an, doch dann entscheidet es, indem es sich am Gegner ‚Gesellschaft‘ vorbeischleicht, die Schlacht für die Triebe. Insofern löst es einen gordischen Knoten: Obschon es das eigentlich Erwartete verfehlt, gelangt es an ein Ziel. Wenn auch nur zeitweise können die kulturellen Beschränkungen über Bord geworfen werden, so dass die unterdrückten Wünsche und Antriebe momentan unzensiert und entfesselt hervortreten. Die Energie, die das Subjekt durch die Intermission des gesellschaftlichen Drucks spare werde, so Freud, letztlich im Lachen frei.635 Diese Struktur des Komischen als erfolgreich umgangener Kampf findet sich in etwas abgewandelter Form auch in literaturwissenschaftlichen Betrachtungen wieder: Michail Bachtin sieht das Lachen in Literatur und Karneval als Befreiung von der äußeren und inneren Kontrolle. Normen und Verbote verlören temporär ihre Relevanz, es entstehe eine verkehrte Welt, in der alle Schranken überwindbar würden – ein lustvolles Erlebnis.636 Wolfgang Iser wiederum bezeichnet das Komische als ‚Kipp-Phänomen‘: Zwei Versionen der Romanwelt stünden sich in der Vorstellung des Lesers unvereinbar gegenüber, so dass eine stimmige Gesamterfahrung unmöglich sei. Anstatt die Konfrontation allerdings aufzunehmen, gingen die beiden Seiten ein dialektisches Wechselspiel ein, d.h. sie negierten sich in ihrer Alternanz gegenseitig.637 Das komische Moment besteht folglich in der Interaktion zweier inkohärenter Elemente im Bewusstsein des Lesers, nachdem dieser daran gescheitert ist, sie auf logische Weise miteinander zu verknüpfen. Ähnlich fällt auch Reuven Tsurs Definition in Toward a Theory of Cognitive Poetics aus: Komik sei ein ständiges Umschalten zwischen divergenten mentalen Strukturen. Die momentane Unfähigkeit, diese in Einklang zu bringen, bedinge nicht nur eine Parallelkonstruktion beider Erlebnisse, sondern einen Wechsel zwischen ihnen, solange bis der Widerspruch akzeptiert werden könne.638 Das Komische ist insofern ein Moment, in dem der Leser nicht mehr nach der Konstruktion von Stimmigkeit trachtet, sondern zu Lust gelangt, indem er die Unstimmigkeit annimmt und gleicht darin dem Absurden. Wie sich das Erlebnis des Komischen konkret manifestiert und wovon es abhängt, soll im Folgenden anhand eines Ausschnitts von Eduardo Mendozas El enredo de la bolsa y de la vida überprüft werden:
635 Vgl. ebd., S.159. 636 Vgl. Bachtin, Michail: Literatur und Karneval, Berlin: Ullstein, 1985, S.139. 637 Vgl. Iser, Wolfgang: „Das Komische – ein Kipp-Phänomen“, in: Preisendanz, Wolfgang/Warning, Rainer (Hrsg.): Das Komische, München: Fink, 1976, S.399. 638 Vgl. Tsur, Reuven: Toward a Theory of Cognitive Poetics, Brighton: Sussex Academic Press, 2008, S.427.
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Que el doctor Sugrañes se acordara de mí, pese al tiempo transcurrido desde nuestro último encuentro, era meritorio por partida doble. En primer lugar, porque, a su edad, la memoria del doctor Sugrañes presentaba ocasionales lagunas y algún despeñadero. Y en segundo lugar porque, de recordarme, era notable que lo hiciera con cariño. A decir verdad, pocas personas podían dar testimonio más fiel que yo de su dilatada vida profesional, pues lo cierto es, por si algún lector se incorpora al recuento de estas andanzas sin conocimiento previo de mis antecedentes, que en el pasado estuve recluido injustamente, aunque esto ahora no venga a cuento, en un centro penitenciario para delincuentes con trastornos mentales y que dicho centro lo regentaba con carácter vitalicio y métodos poco gentiles el doctor Sugrañes, razón por la cual surgieron entre él y yo, como es de suponer, pequeños malentendidos, ligeras discrepancias y unas cuantas agresiones físcas en las que yo llevé casi siempre la peor parte, aunque en una ocasión le rompí las gafas, en otra le desgarré el pantalón y en otra le partí dos dientes.639
Der vorliegende Ausschnitt generiert den Erlebniswert betreffend einen eindeutigen Widerspruch: Der Stil des Ichs lässt sich als gehoben bezeichnen; es rekurriert auf schriftsprachliches Vokabular („meritorio“, „mis antecedentes“, „recluido“ statt „encerrado“), seine Äußerungen sind relativ komplex und scheinen durchdacht, was den Eindruck der Beherrschtheit und Kontrolliertheit befördert. Dieser steht allerdings gegen Ende der Textstelle in Kontrast zu seinem aggressiven Verhalten. Vor allem die antithetische Anlage des letzten Satzes, in dem euphemistische Formulierungen („pequeños malentendidos, ligeras discrepancias“) und die Erzählung brachialer Gewalt zusammenprallen („agresiones físicas“, „le partí los dientes“), treiben die Diskrepanz zwischen der Bewertung der Situation durch den Erzähler und durch den Rezipienten auf die Spitze. Es entstehen folglich zwei konfliktive Varianten der Romanrealität, eine erzählte und eine konstruierte, indem das zunächst generierte Bild vom Ich als vertrauenswürdiges, höfliches Subjekt unverhofft untererfüllt wird. Da die beiden Versionen kognitiv nicht zu verarbeiten sind, vermag sich der Kippeffekt einzustellen: Die Werte ‚Höflichkeit‘ und ‚Aggression‘ nihilieren sich in ihrer Interaktion. Dass für das Erlebnis des Komischen nicht nur das Bestehen einer unauflösbaren Unstimmigkeit vonnöten ist, beweist Immanuel Kants Definition des Lachens aus Kritik der Urteilskraft: Dieses sei „ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts“640 (Hvg. T.H.). Die Intensität der komischen Partizipation kann demnach zunehmen, wenn die Desorientierung an ein Überraschungsmoment gekoppelt wird, zumal dieses die Aufmerksamkeit des Lesers in stärkerem Maße erregt und bündelt. Im vorliegenden Beispiel mag dieses über ei-
639 Medoza, Eduardo: El enredo de la bolsa y de la vida, Barcelona: Seix Barral, 2012, S.8. 640 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Hamburg: Meiner, 1990, S.190.
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nen Bruch in der Logik der Äußerungen erreicht werden: Die Satzstruktur „en una ocasión […] en otra […] en otra“ suggeriert eine Aufzählung gleichwertiger Elemente; die Klimax, die allerdings inhaltlich gebildet wird („rompí las gafas“, „desgarré el pantalón“, „partí los dientes“), läuft dem zuwider – eine unerfüllte Erwartung, die ein unvorbereitetes Umschwenken von Pro- und Retention auf die gegenwärtige Situation einleiten und somit Überraschung provozieren kann. Drittens spielt wohl auch die evaluative Kompetenz eine Rolle für die Partizipation an der Komik. Erwiese sich der Erzähler in der Passage als unglaubwürdig, so würde der Leser den Widerspruch seiner geistigen Verwirrtheit zuschreiben, ohne diesen weiter zu reflektieren. Im vorliegenden Abschnitt jedoch erscheint er dadurch verlässlich, dass er sich selbst nicht als unfehlbar stilisiert. Zwar sind Tendenzen zur Egomanie vorhanden („estuve recluido injustamente“), doch diese sind nicht konsequent durchgehalten („era notable que lo hiciera con cariño“). Der Erzähler beweist damit, dass er sich des Widerspruchs, den er konstruiert, durchaus bewusst ist und dass der komische Effekt gewollt ist. Die Grenze der Inkohärenz verläuft folglich nicht zwischen Leserbewusstsein und Erzähler wie bei der unreliable narration, sondern mitten durch den Erzähler selbst, wodurch eine Solidarisierung zwischen Rezipient und Vermittlungsinstanz erst möglich wird. Die Komplizität zwischen ihr und dem Leser wird überdies durch Inszenierung der Erzählsituation als gerade ablaufendes Gespräch befördert, („aunque esto ahora no venga a cuento“, „a decir verdad“, „dicho centro“) wobei der Leser als Kommunikationspartner sogar genannt wird („por si algún lector se incorpora al recuento de estas andanzas“). Die dadurch evozierte Unmittelbarkeit auf diskurstrukturellem Niveau mag zu einer Verschmelzung der Rezipientenperspektive mit der des erzählenden Ich in einer Art Lachgemeinschaft führen, was die evaluative Kompetenz des Erzählers garantiert.641 Fazit: Komik mag eintreten, wenn der Leser dem Impuls, die Inkohärenzen eines Texts zu beseitigen, nicht nachgibt und stattdessen das Heterogene und Unkontrollierbare in ihm akzeptiert. Das komische Erlebnis ist dabei so beschaffen, dass er unablässig zwischen der einen und der anderen Version der Romanwirklichkeit hin und her kippt, ohne einen Einklang zwischen ihnen herstellen zu können. Besondere Intensität erreicht die Komik durch die Kombination mit Unmittelbarkeit und Überraschung. Damit die entstehende Diskrepanz auf die Dauer nicht zu einer Krise führt, entlastet sich der Rezipient lachend von seiner Ordnungsaufgabe und macht dadurch stimmig, was im Grunde jeglicher Harmonie zuwiderläuft. Indem er in Gelächter ausbricht, suspendiert er die Verpflichtung zu emotionaler und kogni-
641 In dieser Hinsicht mag die Nähe der Komik zur Ironie auffallen. In der Tat bedingen sich die evaluative und ästhetische Partizipation bei diesem beiden Phänomenen oftmals.
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tiver Beteiligung, die er normalerweise gegenüber dem Roman empfinden mag. Insofern trifft zu, was eingangs in Anlehnung an Freud gesagt wurde: Das Komische ist ein Kampf, der durch eine List gewonnen wird. Seine Trophäe ist die ästhetische Lust. 3.4.4.6 Das Groteske „Das groteske Bild ist gerade kein Abbild, man glaubt, Bekanntes zu erkennen, sieht Andeutungen einer Gestalt, die bei näherem Hinsehen jedoch zergeht.“642 Mit diesen Worten fasst Peter Fuß das Phänomen des Grotesken. Es ist Abnormität, die vor einem gewöhnlichen Hintergrund aufritt, die Konfrontation mit einem skandalösen Anderen bei der regulären Lektüretätigkeit, kurz: „Un monde normal, mais obéissant à une logique devenue folle.“643 Evident wird hier unmittelbar die Nähe des Grotesken zu anderen Unstimmigkeitserfahrungen: zum Phantastischen, weil der Rezipient für einen Moment seinen Augen nicht traut; dem Unheimlichen, weil ihn das Gelesene befremdet; dem Absurden, weil sein Verstand scheitert und dem Komischen, weil die Lösung der dabei entstehenden Spannung im Lachen erfolgt. Als Quelle der Unstimmigkeit im Grotesken nennt Fuß drei Grundprinzipien – die Verkehrung, die Verzerrung und die Vermischung –, welche Mechanismen der Wert- und Erwartungsliquidation darstellen.644 Diese Definition führt bereits vor Augen, dass sich das Groteske durch einen großen Anteil Unstimmigkeit und lediglich eine kleine Prise Stimmigkeit auszeichnet. Welche Partizipationsstruktur ihm zueigen ist, soll die Analyse des folgenden Ausschnitts aus Louis- Ferdinands Célines Voyage au bout de la nuit klären: Tout de suite après ça, j’ai pensé au maréchal des logis Barousse qui venait d’éclater comme l’autre nous l’avait appris. C’était une bonne nouvelle. Tant mieux! que je pensais tout de suite ainsi: „C’est une bien grande charogne en moins dans le régiment!“ Il avait voulu me faire passer au Conseil pour une boîte de conserve. „Chacun sa guerre!“ que je me dis. De ce côté-là, faut en convenir, de temps en temps, elle avait l’air de servir à quelque chose la guerre! J’en connaissais bien encore trois ou quatre dans le régiment, de sacrées ordures que j’aurais aidé bien volontiers à trouver un obus comme Barousse. Quant au colonel, lui, je ne lui voulais pas de mal. Lui pourtant aussi il était mort. Je ne le vis plus, tout d’abord. C’est qu’il avait été déporté sur le talus, allongé sur le flanc par l’explosion
642 Fuß, Peter: Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels, Köln: Böhlau, 2001, S.237. 643 Vgl. Astruc, Rémi: Le renouveau du grotesque dans le roman du XXe siècle. Essais d’anthropologie littéraire, Paris: Garnier, 2010, S.53. 644 Vgl. Fuß, Peter: Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels, Köln: Böhlau, 2001, S.235.
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et projeté jusque dans les bras du cavalier à pied, le messager, fini lui aussi. Ils s’embrassaient tous les deux pour le moment et pour toujours, mais le cavalier n’avait plus sa tête, rien qu’une ouverture au-dessus du cou, avec du sang dedans qui mijotait en glouglous comme de la confiture dans la marmite. Le colonel avait son ventre ouvert, il en faisait une sale grimace. Ça avait dû lui faire du mal ce coup-là au moment où c’était arrivé. Tant pis pour lui! S’il était parti dès les premières balles, ça ne lui serait pas arrivé. Toutes ces viandes saignaient énormément ensemble. Des obus éclataient encore à la droite et à la gauche de la scène.645
Die Äußerungen des Ichs zeichnen sich in der ersten Texthälfte („Tout de suite […] un obus comme Barousse“) durch starke Unmittelbarkeit aus. Der Stil ist oral geprägt: Er enthält umgangssprachliches Vokabular („après ça“, „charogne“, „sacrées ordures“, „tant mieux“ etc.), Wiederholungen und Redundanzen („comme l’autre nous l’avait appris“, Hvg. T.H.), ist im passé composé gehalten und weist eine geringe Satzkomplexität auf. Die zahlreichen Ausrufezeichen fungieren als ikonische Elemente für die Spontaneität und Direktheit der Äußerungen. Das Subjekt scheint so nah am Geschehen, dass es kaum Zeit zur Ordnung seiner Gedanken findet, ehe es sie vertextet. Auch die Tatsache, dass die direkte und die erlebte Rede in kurzen Abständen alternieren, lässt sich als Ikonisierung der Lebendigkeit der Vermittlungssituation erleben. Es liegt also insgesamt eine interne Fokalisierung vor. Diese Anlage verschiebt sich allerdings im zweiten Teil des Abschnitts („Quant au colonel […] énormément ensemble“) radikal: Die Sätze sind nun länger, komplexer und vollständiger; die kolloquiale Note geht zugunsten einer stärkeren Geplantheit zurück; das Tempus wechselt ins passé simple und imparfait, die traditionellen, Distanz vermittelnden erzählenden Tempora; der Stil rhetorisiert sich, indem er sich mit Metaphern und Vergleichen auflädt. Insofern kann man als Rezipient den Eindruck gewinnen, von den Ereignissen abzurücken, ihnen nicht mehr in ihrer Aktualität, sondern ihrer Definitheit zu begegnen. Diese beiden divergenten Register bilden einen Kontrapunkt zum Inhalt: Im ersten Teil spricht das Ich vom Tod einer ungeliebten Person, während ihm das Ableben des Obersts im zweiten Teil weniger gleichgültig ist. Logisch wäre eigentlich eine umgekehrte Disposition, die distanzierte Betrachtung zu Beginn und die Vermittlung von Nähe danach. Da das allerdings nicht der Fall ist, entsteht ein Widerspruch, der die kognitive Verarbeitung des Abschnitts zunächst erschweren kann. Das Bestreben des Erzählers liegt folglich eindeutig nicht im Bereich des Emotionsausdrucks, sondern – ganz im Gegenteil – in dessen Boykott mittels Distanzierungsstrategien. Direkte Auswirkungen auf die Beteiligung hat die zweiteilige Konzeption des Abschnitts auch im evaluativen Bereich. Während man die Erzählung im ersten Ab-
645 Céline, Louis Ferdinand: Voyage au bout de la nuit, Paris: Gallimard, 2006, S.22.
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schnitt eher als perspektivisch getönt und damit als subjektiv wahrnehmen mag, scheint die Vermittlungsinstanz im zweiten weitgehend von der Diegese gelöst. Dieser Eindruck rührt daher, dass der vorwiegende Gebrauch des imparfait das Aktionspotenzial der Kriegsgeschehnisse einfriert und der Narration einen deskriptiven Anstrich verleiht. Indem sich der zweite Absatz vom ersten hinsichtlich des Tempusgebrauchs abhebt, befördert er den Anschein der Entfernung des Erzählers zum Geschehen. Dieser wird überdies dadurch unterstrichen, dass das Ich als erlebendes in der Passage kaum in Erscheinung tritt und dass alle von ihm ausgeführten Tätigkeiten passiv-kontemplativer Art sind („J’ai pensé“, „j’en connaissais“, „je ne le vis plus“, Hvg. T.H.). Die Fokalisierung wird in der zweiten Texthälfte extern: Der Erzähler hat nun eine Beobachter- und Zuschauerfunktion, was auch die Wahl des Worts ‚scène‘ („Des obus éclataient à droit et à la gauche de la scène.“) bekundet, das den Kriegsschauplatz von seinem Standpunkt lokal und ontologisch klar getrennt wirken lässt. All diese Elemente mögen dazu führen, dass die Vermittlungsinstanz in der zweiten Texthälfte reflektierter und professioneller erscheint, so dass der Rezipient dazu tendiert, ihre Äußerungen als kompetent einzuschätzen. Das ist insofern wichtig, als der groteske Effekt ausschließlich einer Vertrauensbasis erwachsen kann. Stünde der Leser dem Erzähler skeptisch gegenüber, ließe er sich auf dessen Äußerungen nicht ein und könnte deshalb keine Bestürzung ausbilden. Betrachten wir nun den Kern des Grotesken, die Strategie des Erzählers zur Darstellung der Kriegsgeschehnisse. Das Sterben zählt im Allgemeinen zu den gesellschaftlichen Tabuthemen; wenngleich dem Tod als kultureller Hotspot viel Aufmerksamkeit zuteilwird, wird das Ableben kaum jemals verbalisiert. Hier hingegen steht es im Zentrum: Vor allem in der zweiten Hälfte der Passage gilt den einzelnen Körperteilen der Leichen und ihrer Deskomposition die unumschränkte Aufmerksamkeit, was an sich bereits befremdlich wirkt. Doch nicht vorrangig der Gegenstand selbst, sondern vielmehr seine Inszenierung wirkt als Motor der Groteske. Schließlich handelt auch der erste Teil bereits von tödlich verletzten Kriegskameraden, wirkt dabei jedoch eher zynisch oder komisch. Auffällig im zweiten Abschnitt ist die Verwendung von reifizierenden Elementen zur Beschreibung der Sterbenden oder Toten. Den Beispielen „qui venait d’éclater“, „fini lui aussi“, „le cavalier n’avait plus sa tête“, „avec du sang dedans“, „avait son ventre ouvert“ (Hvg. T.H.) ist gemein, dass sie Personen mit Formulierungen verbinden, die normalerweise schwerpunktmäßig im Gegenständlichen angesiedelt sind. Der Vergleich des Bluts im Kopf mit einer vor sich hin köchelnden Marmelade treibt dieses Prinzip auf die Spitze. Durch die Verknüpfung von Wörtern mit einem angenehmen Erlebniswert („mijoter“, „confiture“, „marmite“) mit den Eingeweiden eines Sterbenden, die ekelerregende Konnotationen tragen, findet nicht nur die Versachli-
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chung der Person, sondern auch eine Verzerrung der Gesamtsituation statt.646 Die Herstellung einer farblichen und formalen Ähnlichkeitsbeziehung zwischen den beiden Bereichen mag in der Vorstellung des Rezipienten zu einer makaberen Mischung führen: Dieser kann fast nicht umhin, gleichzeitig Marmelade und Blut auf der Zunge zu spüren und im verstümmelten Halsstumpen einen Topf vor sich zu sehen. Verstärkt wird die Präsenz der Vorstellung durch das Onomatopoetikum ‚glouglou‘, welches das Köcheln der beiden Flüssigkeiten zusätzlich vergegenwärtigt. Indem er sich den Text einverleibt und dabei die beiden Bildbereiche in seiner Vorstellung assoziiert, begeht der Leser selbst gewissermaßen ein grausames, unmenschliches Verbrechen und wird zum Kannibalen. Sich unbeteiligt wähnend, kann er nicht umhin, am Kriegsgeschehen partiell mitschuldig zu werden. Noch eine zweite Verzerrung vollzieht der Text: Der Rezipient ist aus seiner literarischen Erfahrung entweder heroisierende oder kritische Kriegsdarstellungen gewohnt. Die Beschreibung des Obersts, der von einer Granate erfasst wird, lässt sich in diese Schemata nicht einpassen. Vielmehr wird ein krasser Widerspruch erzeugt, indem Elemente mit gewaltvollem Erlebniswert wie „déporté“, „explosion“, „projeté“ mit „allongé“, „dans les bras“, „s’embrasser“, „pour le moment et pour toujours“ „ensemble“ aufeinanderprallen, die gerade das Gegenteil eines heroischen oder brutalen Kriegsgeschehens konnotieren: die Intimität und Harmonie einer Liebesbeziehung. Auch hier ist der Rezipient gezwungen, zwei Vorstellungsbereiche miteinander zu verknüpfen, die weiter voneinander nicht entfernt sein könnten. Dieser Verschmelzung eignet etwas Monströses, sie erscheint artifiziell und falsch. Die Kanibalisierung des Lesers ebenso wie die Erotisierung des Kriegs rufen aufgrund ihrer Unkonventionalität fast zwangsweise Befremdung hervor. Sie beruhen auf unausräumbaren Inkohärenzen, die ein Kippen zwischen der Erwartung und deren Uneinlösbarkeit veranlassen, ohne dass eine Schemaeinordnung möglich wird. Auch die evaluative Beteiligung verzögert sich in diesem Zusammenhang: Da der Leser der Erfahrungen mit den verwendeten Zerrbildern entbehrt, mag er angesichts der Einordnung des Gelesenen momentan hilflos sein und in einer Unstimmigkeit verharren, die Julia Kristeva in folgende Worte fasst: „Il [Céline] appelle ce qui, en nous, échappe aux défenses, aux apprentissages, aux paroles, ou qui lutte contre. Une nudité, un abandon, un ras-le-bol, le malaise, une déchéance, une blessure.“647 Stimmigkeit kann in dieser extremen Situation nur erreicht werden, wenn der Rezipient seine evaluative Positionierung zum Roman neu auslotet: Indem er die Darstellung durch eine Distanzierung vom Erzähler rechtfertigt und ihn als
646 Der Erzähler scheint sich hier dem Motto verschrieben zu haben, dass maximale Heterogenität und damit Groteske nicht über die Kombination von Gegensätzen, sondern die im Grunde beziehungsloser Elemente erreicht werden kann. 647 Kristeva, Julia: Portraits de l’horreur, Paris: Seuil, 1980, S.158.
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Geisteskranken oder Witzfigur abtut; indem er seine Ablehnung durch die Etikettierung des Gelesenen als anormal manifestiert. Harmonie erlangt der Text insofern nur über eine Lüge, wenn der Rezipient das Abstruse und Befremdliche des Abschnitts, das er gerade noch selbst realisiert hat, mit einem Lachen negiert, das den Erzähler bestraft und ihn selbst von seiner Schuld reinwäscht.648 Auch wenn ihm dieses im Halse stecken bleiben mag, weil es der Authentizität entbehrt. Insgesamt lässt sich das Groteske als Resultat eines Unstimmigkeitserlebnisses charakterisieren, das sich einstellen kann, wenn ein Erzähler, der zumindest zunächst glaubwürdig erscheint, eine Inszenierung wählt, die mit den Erfahrungen des Rezipienten inkompatibel ist. Indem sich der Text der Einordnung in die konventionellen Schemata widersetzt, kann er eine stereotype Reaktion des Lesers verhindern und ihn dadurch für die Alterität des Unerwarteten öffnen. Wird dieser Augenblick für mit verkehrenden, verzerrenden oder vermischenden Elementen gefüllt, sind die Voraussetzungen für den Eindruck des Grotesken geschaffen. 3.4.5 Kontextualisierendes Resümee Die Auffassung, dasselbe Reale sei Objekt sowohl der Erkenntnis als auch der praktischen Bestätigung als auch endlich des ästhetischen Erlebnisses, ist unhaltbar. Das ästhetische Erlebnis führt zur Konstitution eines eigenen – des ästhetischen – Gegenstandes, der nicht zu identifizieren ist mit demjenigen Realen, dessen Wahrnehmung gegebenenfalls den ersten Impuls zur Entfaltung des ästhetischen Erlebnisses gibt und das manchmal, wenn es ein zu diesem Zweck gebildetes Kunstwerk ist, eine regulative Rolle beim Verlauf des ästhetischen Erlebnisses spielt.649
Roman Ingarden versteht in Erlebnis, Kunstwerk und Wert die ästhetische Erfahrung als Resultat eines Aushandlungsprozesses zwischen Werk und Leser. Nicht dem Text oder seinem Inhalt entspringt sie, sondern dem Erleben und Verarbeiten des Romans durch den Rezipienten. Sie ist auf einer dem Text übergeordneten Ebene angesiedelt, hängt indirekt jedoch von diesem ab. So besehen weist die ästhetische Erfahrung einen ähnlich performativen Charakter auf wie die emotionale, kognitive oder evaluative Partizipation und kann als weitere Beteiligungsform untersucht werden.
648 Es handelt sich dabei um ein Lachen, wie es Winfried Menninghaus in Ekel beschreibt: Eines, das Ähnlichkeit zum Erbrechen aufweist, weil es wie dieses die „plötzliche Entladung einer Spannung“ darstellt (vgl. Menninghaus, Winfried: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt: Suhrkamp, 1999, S.20.). 649 Ingarden, Roman: Erlebnis, Kunstwerk und Wert. Vorträge zur Ästhetik, Tübingen: Niemeyer, 1969, S.3.
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Die ästhetische Erfahrung besteht, nach Martin Seels Definition in Ästhetik des Erscheinens, im Auftauchen einer abwesenden Gegenwart bei der Rezeption eines Kunstwerks. Sie stelle sich ein, sobald sich das Subjekt des Produkts seiner Perzeption bewusst werde und es diesem eine spezifische Qualität zuweisen könne – oder im direkten Zitat: „Ästhetische Wahrnehmung ist Wahrnehmung von etwas in seinem Erscheinen, um dieses Erscheinens willen.“650 Insofern ist sie ein Erlebnis, das durch das Lektüreerleben angestoßen wird.651 Eine solche Metaerfahrung wird möglich, wenn dem Rezipienten sämtliche Komponenten der emotionalen, kognitiven und evaluativen Beteiligung stimmig erscheinen, d.h. wenn sie sich in einen übergreifenden Gesamtzusammenhang bringen lassen.652 Dies ist der Fall, wenn beispielsweise die bei der Lektüre empfundenen Gefühle in irgendeiner Form harmonieren oder die Kognitionen und Evaluationen ein plausibles Ganzes bilden. Es existieren zwei Arten der ästhetischen Erfahrung: eine, die sich über das Aufscheinen einer Erkenntnis; eine andere, die sich über das Aufscheinen von Präsenz ergibt. Karl Heinz Bohrer trägt dieser Doppelstruktur des Ästhetischen in seinen Ausführungen Rechnung, indem er eine Unterscheidung zwischen einem ‚Bedeuten‘ und ‚Sein‘ des literarischen Texts trifft;653 Dieter Mersch, indem er vom ‚Was‘ und ‚Dass‘ des Kunstwerks654, also von der Erkenntnis- und der Ereignisdimension ästhetischer Erfahrung, spricht. Betrachten wir zunächst die Stimmigkeitserfahrungen in Zusammenhang mit einem Erkenntniszuwachs genauer: Die Einsicht, die der Rezipient aus einem narrativen Text gewinnen kann, besteht beispielsweise in einem übergreifenden Verständnis der Romanwelt und der in ihr ablaufenden Handlungen, im Wiedererkennen von Situationen aus dem lebensweltlichen oder literarischen Alltag oder in der
650 Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, München: Hanser, 2000, S.146. 651 Die Kommunikationswissenschaften bezeichnen diese Form der Partizipation auch als ‚Metaemotion‘. Es wird dabei davon ausgegangen, dass auch einer negativen Erfahrung eine positive Metaemotion erwachsen könne und das in dieser häufig die grundlegende Motivation zur Rezeption von Medieninhalten liege (vgl. Bartsch, Anne/Vorderer, Peter/Mangold, Roland/Viehoff, Reinhold: „Appraisals of Emotions in Media Use. Toward a Process Model of Meta-Emotion and Emotion Regulation“, in: Media Psychology, 11 (2008), S.10f.). 652 Vgl. Dewey, John: Kunst als Erfahrung, Frankfurt: Suhrkamp, 1988, S.49. 653 Vgl. Bohrer, Karl Heinz: „Erscheinung und Bedeutung. Homers Ilias und Claude Simons La Route des Flandres“, in: Koch, Gertrud/Voss, Christiane (Hrsg.): Zwischen Ding und Zeichen. Zur ästhetischen Erfahrung in der Kunst, München: Fink, 2006, S.20. 654 Vgl. Mersch, Dieter: „‚Geschieht es?‘ Ereignisdenken bei Derrida und Lyotard“, in: (19.02.2014).
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bewussten Neubeurteilung gelesener Sachverhalte. Erreicht er sie und erlangt er damit die Kontrolle über den Text, so bedeutet das für ihn ein kognitives Erfolgserlebnis und damit einhergehend ein Lustgefühl. Die Analysen haben ergeben, dass die Intensität der ästhetischen Erfahrung steigen kann, wenn ein Roman zunächst den Eindruck einer unmöglichen Verstehbarkeit vermittelt hat. Ist der Leser aufgrund einer inkohärenten Werkstruktur bereits an der kognitiven oder evaluativen Partizipation gescheitert und hat mithin Frustration erfahren, so potenziert sich das Vergnügen, wenn sich ihm das Werk plötzlich doch erschließt und die zunächst unverständlichen Elemente stimmig werden. Das betont auch Hans-Dieter Gelfert in Was ist gute Literatur?: Je größer die erforderliche Anstrengung zur Durchdringung eines Texts sei, desto mehr ästhetische Lust werde frei, wenn dies gelinge. Entscheidend für die Quantität des Vergnügens sei das Intervall zwischen Anfangsund Restkomplexität, welches sich entweder über die Erhöhung der ersteren oder die Verminderung der zweiteren steigern lasse: „Damit wir überhaupt Lust empfinden können, müssen wir erst einmal wie ein Pendel aus der Ruhelage gezogen werden. Das heißt, das Kunstwerk muss uns mit etwas konfrontieren, das von der erwarteten Normalität abweicht.“655 Demnach kann die Problematisierung der Verarbeitung die Motivation zur Erreichung von Erkenntnis steigern – zumindest zu einem bestimmten Grad. Ist ein Roman hingegen mühelos verstehbar, so stimmen die Partizipationsmomente zwar perfekt zusammen, dennoch wird man aus ihnen keine intensive ästhetische Erfahrung ernten. Da sie unmarkiert bleiben und sich die kognitive Aufmerksamkeit nicht so dezidiert auf sie richtet wie im Inkohärenzfall, werden sie dem Rezipienten nicht in vergleichbarem Maße bewusst, weshalb er sie weniger intensiv spüren mag. Dennoch ist der Erkenntnisgewinn keine notwendige Bedingung für die ästhetische Erfahrung. Schließlich existiert eine zweite, nicht primär kognitive Möglichkeit der Stimmigkeitserzeugung.656 Sie besteht im Erlebnis eines ekstatischen Moments, weil man sein emotionales Mitschwingen mit dem Roman als harmonisch erfährt. Hans Ulrich Gumbrecht beschreibt dieses an einer phänomenologischen
655 Gelfert, Hans-Dieter: Was ist gute Literatur? Wie man gute Bücher von schlechten unterscheidet, Stuttgart: Beck, 2010, S.46. 656 Auf die doppelte Möglichkeit, zur ästhetischen Erfahrung zu gelangen weist auch Eva Schürmann in „Stil als Artikulation einer Haltung“ hin, wenn sie formuliert: „Dass man zur Erfahrung der Schönheit nicht auf dem Weg der logischen Schlussfolgerung und der Herleitung aus Prinzipien gelangen kann, impliziert nicht, dass Prinzipien (oder andere kognitive Entitäten) uns nicht mit ihrer Schönheit treffen können.“ (Schürmann, Eva: „Stil als Artikulation einer Haltung“, in: Deines, Stefan/Bertram, Georg (Hrsg.): Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse, Frankfurt: Suhrkamp, 2013, S.292.
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Tradition orientiert als plötzliches Aufscheinen einer Präsenz, die unabhängig von jeglicher Botschaft sei und eine rein emotionale Intensität umfasse.657 Diese Form der ästhetischen Erfahrung kann eintreten, wenn dem Rezipienten die Vereinigung mehrerer präsentischer Erlebnisse zu einer übergreifenden Einheit gelingt. Abbildung 12: Die Struktur der ästhetischen Erfahrung Erlebnis A Qualität x
Erlebnis B Qualität x
Stimmigkeit
Ästhetische Erfahrung
Erlebnis C Qualität x
Das ästhetische Erlebnis kann sich als besonders profiliert erweisen, wenn der Roman Passagen integriert, die sich hinsichtlich ihres Emotionalisierungspotenzials vom Resttext abheben und einander hinsichtlich ihrer Gefühlsqualität ähneln, da hierdurch die Wahrscheinlichkeit, dass der Rezipient sie als vordergründig und gleichwertig erkennt und zu einer Erlebniseinheit zusammengruppiert, steigt. Aber auch ein spezifisches affektives Muster (wie etwa der Umschlag von der Lust zur Unlust in La Regenta) kann, wenn es beispielsweise durch Wiederholung markiert und bewusst gemacht wird, eine Transzendierung des präsentischen Erlebens veranlassen und somit Stimmigkeit hervorrufen. Ebenso wie bei der ästhetischen Erkenntnis ist auch mit dem ästhetischen Erlebnis ein Lustgefühl verbunden, wenn der Leser sich dessen bewusst wird, dass er gerade an einem romantypischen Partizipationsschema teilhat. Die ästhetische Erfahrung ist hinsichtlich der Beteiligung eine Mischform. Auch wenn sie auf Erkenntnisgewinn ausgerichtet ist, ist sie nicht aus der rein reflexiven Distanz zum Werk heraus möglich, sondern benötigt die emotionale, kognitive oder evaluative Partizipation als Basis. Hierauf weist auch Hans Robert Jauß in Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik hin, wenn er das „verstehende Genießen und das genießende Verstehen“658 als Grundstruktur des Stimmigkeitserlebens
657 Vgl. Gumbrecht, Hans Ulrich: „Epiphanien“, in: Küpper, Joachim/Menke, Christoph (Hrsg.): Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt: Suhrkamp, 2003, S.204. 658 Jauß, Hans Robert: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, München: Fink, 1977, S.9.
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definiert. Überdies verhilft die Einsicht, die der Rezipient im Moment der ästhetischen Erfahrung erhält, häufig wiederum zur emotionalen Beteiligung, indem sie über die Auflösung von Inkohärenzen ein präsentisches Erleben ermöglicht – wie es etwa für Dans le labyrinthe beobachtbar war, wo sich widersinnige Elemente zum Eindruck der Orientierungslosigkeit summierten. Emotional ist nicht zuletzt auch die Lust, die in der Stimmigkeit der Erkenntnis aufscheint. Ebenso verhält es sich für die ästhetische Erfahrung aus Emotion: Sie könnte nicht ausschließlich aus der Präsenz des Romans resultieren, da diese dem Leser in der Regel gar nicht erst bewusst wird. Damit er dessen gewahr wird, dass er mit dem Roman mitschwingt oder mit den Figuren erlebt, ist ein reflexives Element vonnöten. Der Moment, in dem sich die Stimmigkeit einstellt, besteht in einer Kognition – der Einsicht, dass unterschiedliche Beteiligungsmomente eine Einheit bilden –, auch wenn die ästhetische Erfahrung selbst emotional ist. Folglich bestätigt sich hier, was Wolfgang Iser als „Aushandlung von Abstraktion und Empfindung“659 versteht oder was Hans Ulrich Gumbrecht die „Oszillation zwischen Präsenz- und Bedeutungseffekten“660 nennt: Emotion und Kognition klammern einander nicht aus, sondern durchdringen und beeinflussen sich in der ästhetischen Partizipation. Zahlreiche Theorien zur ästhetischen Erfahrung versehen diese mit der Eigenschaft der Momentaneität. Karl Heinz Bohrer beispielsweise beschreibt sie als „plötzlich sich seiner selbst inne werdendes Ereignis“661, als „hereinbrechende Intensität“662 und „jähes „begrifflslose[s] Innewerden des Übermächtigen“663; ähnlich Hans Ulrich Gumbrecht, der sie als abrupte Erscheinung eines weder anwesenden noch abwesenden Gegenstands fasst.664 Wenngleich sich die Plötzlichkeit in den vorliegenden Analysen häufig als Katalysator der ästhetischen Erfahrung erwiesen
659 Iser, Wolfgang: „Von der Gegenwärtigkeit des Ästhetischen“, in: Küpper, Joachim/Menke, Christoph (Hrsg.): Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt: Suhrkamp, 2003, S.188. 660 Gumbrecht, Hans Ulrich: „Epiphanien“, in: Küpper, Joachim/Menke, Christoph (Hrsg.): Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt: Suhrkamp, 2003, S.112. 661 Bohrer, Karl Heinz: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt: Suhrkamp, 1981, S.20. 662 Bohrer, Karl Heinz: „Erscheinung und Bedeutung. Homers Ilias und Claude Simons La Route des Flandres“, in: Koch, Gertrud/Voss, Christiane (Hrsg.): Zwischen Ding und Zeichen. Zur ästhetischen Erfahrung in der Kunst, München: Fink, 2005, S.21. 663 Bohrer, Karl Heinz: Die Grenzen des Ästhetischen, München: Hanser, 1998, S.183. 664 Vgl. Gumbrecht, Hans Ulrich: „Presence in Language or Presence achieved against Language?“, in: Bubner, Rüdiger/Hindrichs, Gunnar (Hrsg.): Von der Logik zur Sprache, Stuttgart: Klett-Cotta, 2007, S.690.
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hat, so ist dies nicht Grund genug, sie als conditio sine qua non zu handeln. Der Eindruck von Stimmigkeit hat nicht zwangsweise punktuellen Charakter, sondern kann ebenso auf unterschwellige, atmosphärische Weise wirken, ohne dem Leser unmittelbar bewusst zu sein. Sicherlich mag er dabei weniger intensiv sein, nichtsdestotrotz ist er vorhanden. Die besondere Rolle, die viele ästhetische Theorien dem Augenblick zuweisen, rührt wohl daher, dass sie die ästhetische Erfahrung als quasi-religiöse konzipieren:. Der ästhetische Moment ist eine Erscheinung, die der Profanität des Alltags diametral entgegen gesetzt ist und eine Art Erleuchtung (in Form von Erkenntnis) birgt.665 Hier soll die Ausschließlichkeit des momentanen Charakters der Stimmigkeit zugunsten einer breiteren Anlage jedoch explizit nicht betont werden. Schließlich kann es womöglich sogar als Spezifikum der Romankommunikation angesehen werden, dass ästhetische Erfahrungen nicht schlagartig über den Leser hereinbrechen, sondern sich langsam über die Modulation der emotionalen, kognitiven und evaluativen Partizipation aufbauen. John Dewey thematisiert diese Prozessualität des Augenblicks der ästhetischen Erfahrung in Kunst als Erfahrung: Wird eine dunkle Landschaft von einem Blitz erhellt, so lassen sich die Gegenstände einen Moment lang erkennen. Das Erkennen selbst ist jedoch kein bloßer Punkt in der Zeit. Es ist der Gipfel und der Brennpunkt langer, allmählicher Reifungsprozesse. Es bedeutet das Hervortreten des Zusammenhanges zwischen einer geordneten zeitliche Erfahrung und einem plötzlich auftretenden, einzelnen, momentanen Höhepunkt. Isoliert wäre es genauso sinnlos wie das Drama „Hamlet“, striche man dieses auf eine einzige, dem Zusammenhang entrissenen Zeile oder auf ein einziges Wort zusammen. Aber als die Konklusion seines Dramas, das sich durch seine Entwicklung innerhalb der Zeit abspielt, wird das Wort „der Rest ist Schweigen“ unendlich bedeutungsschwer.666
Selbst ästhetische Erlebnisse, die momentan erscheinen, basieren auf einer komplexen, sich schrittweise aufbauenden Struktur, weshalb die Relevanz der Plötzlichkeit als Charakteristikum ästhetischer Partizipation relativiert werden muss. Die ästhetische Erfahrung hängt nicht wie in den traditionellen Poetiken allein vom Schönen ab. Auch Gegenstände, die negative Erlebnisse provozieren, mögen
665 Wie Hans Zitko in „Kunst und Macht“ herausarbeitet, verfolgt diese Rekurrenz auf die Theologie und Metaphysik Legitimationszwecke: Der Kult um den Moment der Epiphanie sei ein probates Mittel zur Rechtfertigung des ästhetischen Diskurses über ein sakrales Relikt (vgl. Zitko, Hans: „Kunst und Macht. Religiöse Dimensionen der modernen Kunst“, in: Herrmann, Jörg/Mertin, Andreas/Valtink, Eveline (Hrsg.): Die Gegenwart der Kunst. Ästhetische und religiöse Erfahrung heute, München: Fink, 1998, S.44.). 666 Dewey, John: Kunst als Erfahrung, Frankfurt: Suhrkamp, 1988, S.33.
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sich als ästhetisch erweisen, vorausgesetzt, sie ermöglichen eine plausible ganzheitliche Erfahrung. So kann sich Stimmigkeit nicht nur aus der Akkumulation kohärenter oder emotional gleichwertiger Elemente ergeben, auch das Aufeinandertreffen inkohärenter Elemente ebnet, sofern sich diese in ihrer Inkompatibilität ähneln oder ergänzen, ihr den Weg. Abbildung 13: Möglichkeiten der ästhetischen Erfahrung an Romanen entspricht der
Kohärenz
Stimmigkeit
Erwartung
Ästhetische Erfahrung
Lektüreerfahrung widerspricht der
Inkohärenz
nicht auflös-
Unstimmigkeit
bar
Erwartung
Inkohärenz Inkohärenz
Stimmigkeit
Ästhetische Erfahrung
Die Stimmigkeit steht und fällt mit der erfolgreichen Partizipation am Roman. Vermag der Leser einen Text kognitiv, emotional oder evaluativ nicht zu erfassen, so ist auch die ästhetische Erfahrung blockiert und die Chancen auf ein Harmonieerlebnis sinken. Andersherum kann die ästhetische Erfahrung Vorbedingung einer gelungenen Beteiligung sein. Gelingt die Herstellung einer übergreifenden Romaneinheit nicht, so fehlen Emotionen, Erkenntnisse und Urteile, die das Werk sinnhaft machen. Insofern bedingen sich die ästhetische Erfahrung und die restlichen Beteiligungsformen gegenseitig. Die Unstimmigkeit lässt sich im Gegenzug als Scheitern der ästhetischen Erfahrung definieren. Damit sie zustande kommt, reichen Inkohärenzen, widersprüchliche oder unterschiedlich intensive Emotionen nicht aus. Schließlich können sich diese bei Akkumulation zu einer Erlebniseinheit zusammenschließen und dadurch stimmig werden. Möchte ein Text eine ästhetische Erfahrung verhindern, so muss er auf der Ebene der Beteiligung selbst störend ansetzen. Er muss die kognitive, emotionale und evaluative Partizipation des Rezipienten so beeinträchtigen, dass dabei der Eindruck der Unrichtigkeit des Romans entsteht. Die Analysen haben ergeben, dass dies folgende Situationen hierfür prädestiniert sind:
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Wenn die Erlebnisse bei der Lektüre von der Handlung entkoppelt werden; die Beteiligung, die Gattung oder andere literarische Kodes geben ein Partizipationsversprechen, das anschließend nicht eingelöst wird. So lässt beispielsweise der paratextuelle Hinweis, es handle sich um einen Kriminalroman, intensive Emotions- und Spannungserlebnisse erwarten. Wird diese Vermutung enttäuscht, so entsteht der Eindruck, der Roman sei „falsch“ und man könne ihn trotz großer Bemühungen nicht angemessen erfassen. Wenn die Partizipationsstrategie keine Durchgängigkeit, sondern Ambivalenz aufweist; kohärente und inkohärente Bestandteile halten sich die Waage, so dass kein eindeutiges Erlebnis möglich wird bzw. die emotionale Ebene bietet heterogene und unzusammenhängende Beteiligungsmöglichkeiten an und stiftet so Verwirrung. Da kein Schema existiert, das alle Elemente integrieren könnte, ist die Herstellung einer Einheit blockiert. Dadurch erscheint die Beziehung der einzelnen Romanelemente zueinander ungreifbar, unlogisch oder windschief und vermag nicht als stimmig wahrgenommen zu werden. Wenn der Text den Leser auf die Materialität der Kommunikation verweist; bei einer stimmigen Wahrnehmung bleibt das Medium weitgehend transparent, es ordnet sich der präsentischen Beteiligung des Rezipienten unter, „weil die Form der Mitteilung selbst kein Mitgeteiltes sein kann“667 – so Dieter Mersch in „Absentia in praesentia“. Auffällig wird es folglich nur durch Rauschen, d.h. durch die Ablenkung von der Vermittlung. Werden die Störgeräusche dominant, so kann der Leser für einen Moment aus der Illusion des Romans fallen und einem ästhetisch Negativen und Unkontrollierbaren begegnen.668
Die zentrale kognitive Aufgabe bei der Lektüre besteht in der Verwandlung des Texts in ein virtuelles Modell der Romanwelt. Diesen Prozess lenken makro-, diskurs- und mikrostrukturellen Kodes, die der Rezipient im Laufe seiner literarischen Sozialisation erwirbt und von deren Gültigkeit er bei jeder neuen Lektüre wie selbstverständlich ausgeht. Läuft ein Roman den Konventionen zur Bildung einer mentalen Repräsentation zuwider, so kann das die kognitive Beteiligung beeinträchtigen. Da die Lektüre auf einer elementaren Ebene blockiert ist, können sich womöglich keine befriedigenden Partizipationserlebnisse einstellen. Insofern wird Unrichtigkeit auf kognitivem Niveau dadurch begünstigt, dass die kulturabhängigen Erwartungen des Lesers an die Gattung , das Genre, den Schriftsteller, das konkrete Werk, ein Kapitel, einen Absatz, einen Satz und die mit ihnen verbundenen Lektü-
667 Mersch, Dieter: „Absentia in praesentia. Negative Medialität“, in: Kiening, Christian (Hrsg.): Mediale Gegenwärtigkeit, Zürich: Chronos, 2007, S.87. 668 Vgl. Mersch, Dieter: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt: Suhrkamp, 2002, S.66.
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reerlebnisse unerfüllt bleiben. Folgende Tabelle gibt eine grobe Orientierung über das prinzipielle Potenzial der einzelnen Ebenen des Romans zur Erzeugung von Unstimmigkeit, wobei diese selbstverständlich erst an der spezifischen Verfasstheit des Einzeltexts und ihrem Aufscheinen bei der Lektüre festgemacht werden kann. Tabelle 9: Potenzial zur Erzeugung von Unstimmigkeit Erwartung
Unstimmigkeit
Figurenpräsenz
• Benennung der Figuren • Konstanz des Namens
• ungeläufiger/kein Name • unerklärbarer Namens-
Charakter
• Nachvollziehbarkeit des
• unnachvollziehbarer/kein
wechsel Charakters
• Bestätigung des Charak-
• fehlende explizite und im-
ters über Namen, Physis,
plizite Thematisierung von
Chronotopos etc. Beziehung der Figuren Handlung
erkennbarer Charakter
• Oppositionsbeziehungen zwischen den Figuren
Eigenschaften
• mangelnder Kontrast zwischen Figuren
• Konfrontation
• mangelnde Interaktion
• Teleologie durch
• unklarer Handlungsver-
Präfigurationen, stereotype Handlungselemente
lauf/ Ereignislosigkeit
• Unabgeschlossenheit
Abgeschlossenheit Chronotopos
• Konformität mit kultu-
• Widerspruch zwischen
rellen oder literarischen
Ortsdarstellung und Wis-
Schemata
sensstrukturen
• Konstanz der Orte Erzähleridentität
• Nachvollziehbarkeit der Erzähleridentität
• Inkonsequenz der Erzähleridentität
• Anpassung des Erzäh-
• Divergenz von Erzähler-
lergestus an den Wis-
gestus und Wissensstand
sensstand Erzählerpräsenz
• sichtbare Ordnungsleistung
• Modulation der Informationsvergabe nach dem
• defizitäre Ordnungsleistung
• unlogische Organisation der Informationen
Kriterium der Relevanz
• Vermittlung von Emoti-
• widersprüchliche oder
onen über die Variation
behinderte emotionale
diskursstruktureller
Partizipation
Elemente
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• Glaubwürdigkeit oder
Relation
Unglaubwürdigkeit
Erzähler-Diegese
• Schwanken zwischen Glaub- und Unglaubwürdigkeit
Mikrostruktur
• Anlehnung an den stan-
• unverhältnismäßige und
dardsprachlichen Ge-
unerklärbare Abweichun-
brauch/Erklärbarkeit von
gen von der Standardspra-
Abweichungen
• Verständlichkeit der Äußerungen
• Aufrechterhaltung der referenziellen Illusion
che
• Unverständlichkeit der Äußerungen
• Hervortreten des Materialcharakters
Das Unstimmigkeitserlebnis weist eine maximale Entfernung von der ästhetischen Erfahrung auf; dennoch kann aus ihm eine solche entspringen, wenn mehrere Unstimmigkeitsmomente so hintereinandergeschaltet werden, dass sie die Reflexionen des Lesers anstoßen. Diese ist freilich auf einer Metaebene zum präsentischen Erleben lokalisiert: Ebenso wie sich die Erfahrung von Unrichtigkeit nicht auf die diegetische Illusion beziehen lässt, ist auch die Erkenntnis von der Romanwelt oder der Realität losgelöst. Das Lustgefühl zieht der Rezipient in diesem Fall daraus, dass er sich, indem diese umgangen werden, der Konventionen der narrativen Inszenierung bewusst wird. Auf diese Weise erhält er Einblick in die Charakteristika seines eigenen Umgangs mit Literatur – was eine Form von Erkenntnis darstellt. Abbildung 14: Ästhetischen Erfahrung aus Unstimmigkeitserlebnissen
Inkohärenz
nicht
Inauthentizität
auflösbar
Inauthentizität Inauthentizität
Stimmigkeit der Unstimmigkeit
Ästhetische Erfahrung
Narrative Texte oder Passagen lassen sich bei der Lektüre selten eindeutig in stimmig und unstimmig scheiden. Es existiert eine Vielzahl von Phänomenen, die zugleich eine Lust- und eine Unlusterfahrung, eine ästhetische Erfahrung und eine Erfahrung ästhetischer Negativität, integrieren. Sie werden bei der Rezeption als Be-
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gegnung mit einem nicht fass- und fühlbaren Anderen wahrgenommen, das den Leser unverhofft trifft oder schockt, ohne ihn jedoch wie das rein Unstimmige signifikant von der diegetischen Illusion zu entfernen. Vielmehr lassen sich die Erlebnisse meist nach einigen Sekunden der Desorientierung auf plausible Weise in das präsentisch Erlebte integrieren. Diese Mischerfahrungen sind tendenziell intensiver als die ungetrübte ästhetische Erfahrung, da sie durch die ihnen innewohnende Unstimmigkeit die Aufmerksamkeit stärker bündeln. In diesem Sinn beteuert Paul Valéry in Windstriche, das ästhetische Erleben sei ein prolongiertes Zögern zwischen Klang und Sinn. Je länger die Unschlüssigkeit dauere, je größer der Abgrund sei, der sich vor dem Leser auftue, desto intensiver sei deren Durchbrechung und Überwindung.669 Die Mischformen ästhetischer Erfahrung sind hier als Beteiligungsphänomene definiert, die weder direkt an den Gegenstand, noch an die Darstellung geknüpft werden können. Vielmehr entspringen auch sie den Erlebnissen der Verarbeitung und Aneignung durch die Lektüre. Eine Stimmig- und eine Unstimmigkeitserfahrung treten gleichzeitig auf und erzeugen durch ihre Konfrontation einen spezifischen Erlebniswert. Wie sich solche Erfahrungen gestalten können und welche groben Strukturen ihnen zugrunde liegen, wurde an den Partizipationsformen des Tragischen, Phantastischen, Unheimlichen, Absurden, Komischen und Grotesken aufgezeigt. Voraussetzung für das Erlebnis des Tragischen ist, dass eine in sich relativ stimmige Rezeption durch ein widerständiges Element gestört wird, das die Harmonie unmerklich ins Unstimmige ablenkt. Indem der Rezipient die Beteiligung als ästhetisch wahrnimmt, diese Wahrnehmung jedoch gleichzeitig untergraben fühlt, kann diese einen ausartenden Charakter, den der Leser als tragisch auf die Handlung oder die Figuren projiziert. Auch das Phantastische ist eine ästhetische Erfahrung mit einem großen Anteil an Stimmigkeit, weshalb es keinen Illusionsbruch impliziert. In einem Moment, der inhaltlich durch einen unglaublichen Gegenstand gekennzeichnet ist, wird ein Kontrollverlust des Lesers (etwa über den schrittweisen Rückgang der evaluativen Kompetenz des Erzählers) simuliert, so dass dieser emotional und kognitiv auf widersprüchliche und inkohärente Weise am Text beteiligt wird. Für ein paar Sekunden mag er folglich schwanken, ob er den Roman länger vor einem realistischen Schema betrachten kann oder ob er ihn als wunderbaren verstehen muss, und sieht einem Moment lang dem Unmöglichen ins Auge. Sobald er die Entscheidung getroffen hat, bildet sich der Eindruck des Phantastischen zurück. Für die Erfahrung des Unheimlichen sind drei Elemente konstitutiv: Erstens ein Widerspruch zwischen dem evaluativ kompetenten Erzähler und einem unglaubli-
669 Vgl. Valéry, Paul: Windstriche, Frankfurt: Suhrkamp, 1971, S.58.
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chen Inhalt, der eine Reibung erzeugt; zweitens die Partizipation des Lesers an der Angst einer Figur über Lektürerhythmus und sprachlichen Erlebniswert; drittens die Erfahrung von Überraschung. Da es im Aufscheinen eines unkontrollierbaren, beängstigenden Anderen besteht, steigt seine Intensität, wenn die Konfrontation mit ihm in Form eines Schocks stattfindet. Das Absurde ist im Gegensatz zum Tragischen, Phantastischen und Unheimlichen, die alle so stimmig bleiben, dass sie die diegetische Illusion weitgehend aufrecht erhalten, von einer starken Unstimmigkeitserfahrung geprägt, die bis zur völligen Desorientierung reichen kann. Die Erwartung des Rezipienten an eine kognitive und emotionale Beteiligung wird durch eine unkonventionelle Anlage des Texts oder die Betonung der Materialität der Kommunikation unterbunden, so dass dieser keine stimmige Beziehung zum Gelesenen aufzubauen vermag. Die Möglichkeiten der Überführung dieser Unstimmigkeit in eine ästhetische Erfahrung, sind relativ gering, so dass am Absurden zahlreiche Leser scheitern. Sie gelingt erst, wenn der Rezipient an der ästhetischen Negativerfahrung nicht verzweifelt, sondern ihr bewusst die eigene Auflehnung entgegensetzt. Komik ist ein Erlebnis, das aus zwei logisch oder emotional unvereinbaren Beteiligungsangeboten resultieren kann. Aufgrund ihrer Widersprüchlichkeit kippt der Leser zwischen den beiden hin und her; mag von seiner eigenen Unfähigkeit, sie in Einklang zu bringen, befremdet sein. Dieser Moment der Desorientierung wird allerdings durch das Lachen ausgemerzt, zumal es den Leser momentan von der Aufgabe der Stimmigkeitsproduktion entlastet. Ähnlich verhält es sich mit dem Grotesken: Auch seine Basis bildet ein Bruch mit der Erwartung des Rezipienten, indem beispielsweise ein vertrauenswürdiger Erzähler eine Darstellung wählt, die diesem Eindruck widerspricht. Insofern ist er für einen Moment unschlüssig, wie er reagieren soll. Wenn dieser Augenblick mit verkehrenden, verzerrenden oder vermischenden Elementen gefüllt wird, bleibt ihm nur die Möglichkeit, sich durch Lachen von seiner Ordnungsaufgabe zu entlasten.
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3.5 S YNTHESEANALYSE Die Analysen der vorherigen Kapitel haben mehrfach gezeigt, dass die einzelnen Formen der Partizipation aufeinander aufbauen und vielfältige Wechselbeziehungen eingehen. Um dieser Tatsache Rechnung zu tragen, gilt es nun, die emotionale, kognitive, evaluative und ästhetische Beteiligung in einer Syntheseanalyse zu verknüpfen und an einem etwas längeren Ausschnitt ihr Zusammenspiel zu beobachten. Vor Augen geführt werden soll die Produktivität einer literaturwissenschaftlichen Analyse, die sich auf erlesene Erlebnisse stützt. Der Abschnitt, um den es dabei schwerpunktmäßig gehen wird, entstammt Marcel Prousts Sodom et Gomorrhe. Der Erzähler hat sich in einem Versteck postiert, weil er darauf spekuliert, ein seltenes Insekt bei der Bestäubung einer Blüte beobachten zu können. Dabei spielt sich vor seinen Augen scheinbar rein zufällig eine homosexuelle Verführungsszene zwischen Baron Charlus und dem Hausschneider Jupien ab. Das Ich beobachtet die beiden, verfolgt sie, als sie gemeinsam im Haus verschwinden, und belauscht vom Zimmer darunter aus ihren Geschlechtsakt.670 Diese Passage wurde – ebenso wie die übrigen analog angelegten Voyeurismusszenen aus A la recherche du temps perdu671 – freilich bereits hundertfach analysiert, bislang jedoch zumeist über eine werkimmanente Herangehensweise und nicht schwerpunktmäßig aus der Erlebnisperspektive des Lesers. In den Fokus rückten auf diese Weise vor allem die distanzierenden Beteiligungsmöglichkeiten des Ausschnitts wie Ironie und Komik, die der homosexuellen Begegnung einen anrüchigen Anstrich verleihen, sowie die Diskussion der explizit formulierten Kritik an den Homosexuellen als „race maudite“ im Anschluss an die Verführungsszene, die die Konformität der Passage mit dem gängigen homophoben Genderdiskurs zu Beginn des 20. Jahrhunderts unterstreicht.672 Weniger Beachtung fand in diesem Zusammenhang hingegen, dass die Szene neben diesen systemzementierenden Bedeutungen auch eine ausgeprägte subversive Komponente enthält, die sich über das
670 Vgl. Proust, Marcel: Sodom et Gomorrhe, Paris: Gallimard, 2010, S.4-11. 671 Hierzu zählen etwa die Beobachtung des Liebesspiels Mlle Vinteuils und ihrer Freundin mit sadistischer Porträtbespuckung (vgl. Proust, Marcel: Le temps retrouvé. Paris: Gallimard, 1989, S.111-123.) oder die sadomasochistische Begegnung von M. de Charlus und Maurice (vgl. Proust, Marcel: Du côté de chez Swann, Paris: Gallimard, 1988, S.204-211.). 672 Das Aufgreifen sexualwissenschaftlicher Kenntnisse und homophober Diskurse in der Szene thematisieren etwa Jeanine Huas (L’homosexualité au temps de Proust. Dinard: Danclau, 1992, S. 78f.), Eve Sedgwick Kosofsky (Epistemology of the closet, Berkeley: University of California Press, 2006, S.219.) oder Ina Hartwig (Sexuelle Poetik. Proust, Musil, Genet, Jelinek, Frankfurt: Fischer, 1998, S.27-34.).
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Miterleben des Rezipienten realisieren kann.673 Indem der Fokus auf das Partizipationspotenzial gerichtet wird, soll eine Dimension der Passage sichtbar gemacht werden, die hermeneutische Herangehensweisen in dieser Deutlichkeit nicht unbedingt zu demonstrieren vermögen.674 3.5.1 Möglichkeiten emotionaler Beteiligung Die Recherche ist im Allgemeinen nicht unbedingt ein Werk, das den Leser so packt, dass er sich nicht von ihm losreißen kann, bevor er nicht die letzte Seite umgewendet hat. Das liegt daran, dass die transportierte Gefühlsqualität meist der Gefasstheit des Ichs entspricht, das eher am erzählenden denn am erlebenden Pol verortet ist und dadurch die Aufmerksamkeit von der histoire abzieht. Die autodiegetische Instanz nutzt ihr grundsätzliches Potenzial, aus unmittelbarer Nähe der Figuren
673 Die Sekundärliteratur hat der Recherche freilich bereits in mehrerlei Hinsicht einen subversiven Grundgestus in Bezug auf die Homosexualität attestiert; dies etwa in Ursula Link-Heers „Über Offenheit und Verstellung“, wo Prousts charakteristischer digressiver Stil als Versuch der Dekonstruktion jeglicher Form von Normalität interpretiert wird (vgl. Link-Heer, Ursula: „Über Offenheit und Verstellung. Gide und Proust“, in: Härle, Gerhard/Kalveram, Maria/Popp, Wolfgang (Hrsg.): Erkenntniswunsch und Diskretion. Erotik in biographischer und autobiographischer Literatur, Berlin: Rosa Winkel, 1992, S.346.), in Gregor Schuhens Erotische Maskeraden, wo die Orchideenszene als Infragestellung der Natürlichkeit der Geschlechtertrennung interpretiert wird (vgl. Schuhen, Gregor: Erotische Maskaraden. Sexualität und Geschlecht bei Marcel Proust, Heidelberg: Winter, 2007, S.133.); oder in Eve Kosofsky Sedgwicks Epistemology of the Closet, wo der Inszenierung des homosexuellen M. de Charlus als interessanteste Figur des Zyklus ein revolutionärer Charakter zugeschrieben wird (vgl. Kosofsky Sedgwick, Eve: Epistemology of the closet, Berkeley: University of California Press, 1990, S.223.). Eine konkrete Anknüpfung dieser Ideen an die Lektüreperformanz wurde jedoch bislang nicht vorgenommen. 674 Die Szene aus Sodom et Gomorrhe wurde unter anderem deshalb ausgewählt, weil sich in ihr die wesentlichen Linien des Partizipationsgedankens Elemente kristallisieren: Erstens die Tatsache, dass die explizit behandelten Inhalte auf der Ebene des Lektürerhythmus unterlaufen werden, was die relative Autonomie der Erlebnisdimension gegenüber der Bedeutungsdimension unterstreicht; zweitens die Performativität und Wandelbarkeit der Beteiligung im Laufe des Texts und in der Akkumulation der Szenen; drittens der universelle Charakter des Rhythmus, der sich eben nicht nur über den Stil, sondern über sämtliche Romanebenen konstituieren kann; viertens die enge Verflechtung der einzelnen Partizipationsformen, die sich bei der Lektüre gegenseitig aufschaukeln und beeinflussen.
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zu berichten, nicht aus. Die Fokalisierung bleibt, solange von M. de Charlus und Jupien die Rede ist, überwiegend extern, so dass man als Leser weder weiß, noch spürt, was in diesen oder im Erzähler vorgeht.675 Dieser Eindruck der Gefühllosigkeit des Ichs lässt sich auf zweierlei Weise begründen: Erstens erzeugt die Materialität von Texten bei deren Aufführung im Rezeptionsprozess einen Rhythmus, der die Emotion der Figur im Leser simuliert. Arthur Jacobs und Raoul Schrott weisen in Gehirn und Gedicht darauf hin, dass bei der Lektüre dieselben neuronalen Prozesse abliefen wie beim Erleben der Realität: Das Schriftbild, der Klang des Texts sowie sein Rhythmus stellten sensorische Reize dar, die nicht nur inhaltlich, sondern auch synästhetisch verarbeitet und dabei in affektive Zustände umgewandelt würden.676 Im vorliegenden Fall fehlen jegliche Schwankungen im Lektürefluss. Der Rhythmus der vorherigen Bände findet sich auch in der aktuellen Passage fortgesetzt: die Proust-typischen langen, parataktischen Sätze in distanzsprachlichem Stil, die zwar eine hohe Komplexität aufweisen, dabei jedoch nie inkohärent werden. Ernst Robert Curtius spricht in diesem Zusammenhang in Marcel Proust von „Stoffmassen“, durch die man sich „treiben [lässt] wie auf einem ruhigen mächtigen Strom“677. Da sich die Episode in die rhythmische Nullstufe des Romanzyklus problemlos einfügt, wird der Leser nicht bewegt und mag daraus schließen, dass auch der Erzähler angesichts des Beobachteten gleichgültig bleibt. Zweitens spielen die Konnotationen der verwendeten Wörter für die Emotionalität eine Rolle. Einzelne Begriffe werden im Gedächtnis nicht wie einem Lexikon abgespeichert, sondern, wie Ernst Pöppel in Lust und Schmerz. Vom Ursprung der Welt im Gehirn konstatiert, in einem Erlebniszusammenhang; diese affektiven Konnotationen werden bei jedem Gebrauch reaktiviert.678 Das entspricht der Verführungsszene insofern, als sie zahlreiche präzise Beobachtungen und Reflexionen auf Metaniveau, Verben des Sehens und Hörens sowie botanisches und medizinisches Fachvokabular679 integriert, welche allesamt emotionale Kühle evozieren.
675 Fast alle Abschnitte des Romanzyklus, in denen von „sexuellen Perversionen“ – d.h. von Homosexualität oder Sadomasochismus – die Rede ist, beschränken sich auf eine distanzierte
und
unpersönliche
Darstellung
(vgl.
Sylor,
Douglas
B.:
The
Sadomasochistic Homotext. Reading in Sade, Balzac, and Proust, New York: Lang, 1993, S.92.). 676 Vgl. Schrott, Raoul/Jacobs, Arthur: Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeiten konstruieren, München: Hanser, 2011, S.30. 677 Curtius, Ernst Robert: Marcel Proust. Frankfurt: Suhrkamp, 1952, S.12. 678 Vgl. Pöppel, Ernst: Lust und Schmerz. Vom Ursprung der Welt im Gehirn, München: Siedler, 1993, S.229. 679 Exemplarisch steht hierfür etwa folgendes Zitat, das mit medizinischem Fachlexikon gespickt ist: „[…] comme une antitoxine défend contre la maladie, comme le corps
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Dieser naturwissenschaftliche Gestus680 mag fast an einen realistischen Erzähler erinnern – selbstredend mit dem Unterschied, dass sich dieser zwar impassible und impartial, nicht jedoch impersonnel verhält. Obwohl die Szene also rein inhaltlich gesehen für die emotionale Beteiligung des Lesers prädestiniert wäre – denn literarische Texte inszenieren erotische Inhalte häufig so, dass der Rezipient an ihnen teilhaben kann –, wird eben dies vermieden. Zweierlei Erklärungen lassen sich hierfür finden: Entweder ist der Erzähler so naiv, dass er nicht versteht, was vor seinen Augen geschieht, oder er verschweigt seine Emotionen bewusst, worauf später noch zurückzukommen sein wird. Das Außergewöhnliche an der Passage ist nun, dass diese Blockade der emotionalen Partizipation nicht konsequent durchgehalten wird. Sobald nämlich von den Insekten die Rede ist, die das Ich beobachten möchte, verändert sich der Emotionswert des Vokabulars: Je savais que cette attente n’était pas plus passive que chez la fleur mâle, dont les étamines s’étaient spontanément tournées pour que l’insecte pût plus facilement la recevoir; de même la fleur femme qui était ici, si l’insecte venait, arquerait coquettement ses „styles“ et pour être mieux pénétrée par lui ferait imperceptiblement, comme une jouvencelle hypocrite mais ardente, la moitié du chemin. (Hvg. T.H.)681 Qui sait si ce n’était pas celui attendu depuis si longtemps par l’orchidée, et qui venait lui apporter le pollen si rare sans lequel elle resterait vierge? Mais je fus distrait de suivre les ébats de l’insecte, […] (Hvg. T.H.)682
Indem zu ihrer Beschreibung absichtlich Wörter gewählt werden, die ebenso gut die menschliche Sexualität bezeichnen könnten (in den Beispielen hervorgehoben), kann eine erotisch aufgeladene Atmosphäre entstehen – nur eben in Bezug auf den „falschen“, d.h. einen ungewohnten Gegenstand. Insofern ist derjenige Handlungsstrang mit großem Spannungspotenzial, die Verführung, emotionslos dargestellt,
thyroïde règle notre embonpoint […]“ (Proust, Marcel: Sodom et Gomorrhe, Paris: Gallimard, 2010, S.5.). 680 Donald Wright weist in Du discours médical dans A la recherche du temps perdu auf die Ähnlichkeit des Beobachterverhaltens des Ichs mit einem medizinischen Habitus hin: „Tout [ce que le je observe] n’est qu’objet d’expérimentation méritant l’observation et l’étude clinique qui marginalise“ (Wright, Donald: Du discours médical dans A la recherche du temps perdu. Science et souffrance, Paris: Champion, 2007, S. 239.). 681 Proust, Marcel: Sodom et Gomorrhe, Paris: Gallimard, 2010, S.5f. 682 Ebd., S.4f.
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während die Tierbeobachtung, die man spontan eher als langweilig einstufen würde, eine affektive Aufladung genießt.683 Dieser Chiasmus kann beim Leser die kognitive Operation des blending auslösen, wie sie Patrick Colm Hogan in Cognitive sciences, Literature and the Art beschreibt.684 Die beiden Ebenen des Flirts und der Blütenbefruchtung schieben sich in seiner Vorstellung übereinander und stecken sich gegenseitig emotional an. Dies begünstigt der Roman erstens dadurch, dass die Aufmerksamkeit des Erzählers zwischen den beiden Themen beständig hin und her wechselt. Diese Alternanz erzeugt einen Rhythmus, der – ähnlich wie eine Parallelmontage im Film – für die Belebung der Passage sorgen und dadurch, dass die Abstände zwischen den Sprüngen immer kürzer werden, die Dramatisierung der Szene bewirken kann. Folgende Visualisierung zeigt die Verteilung der Erzähleraufmerksamkeit vom Beginn der Flirtszene bis zum gemeinsamen Verschwinden M. de Charlus’ und Jupiens im Haus. Die hellen Abschnitte behandeln die menschliche, die dunklen die tierische Handlung: Abbildung 15: Schema der thematischen Alternanz der Szene
Beschreibung des Zusammentreffens
Beschreibung des Flirts
Während die Phasen zunächst noch relativ lang sind, so dass sich eine gewisse Konzentration auf das jeweilige Thema einstellen kann, setzt mit dem Beginn der Beschreibung des Flirts eine Zunahme der Frequenz der Wechsel ein, was der Leser als Simulation eines Erregungsanstiegs erfahren mag. Wie Volker Roloff in „Die
683 Ina Hartwig zufolge lässt sich bereits diese Parallelisierung der Homosexualität mit der Pflanzenbefruchtung als
diskurszersetzendes
Moment
lesen,
zumal
sie eine
Biologisierung und damit eine Naturalisierung der devianten Sexualität begünstigt (vgl. Hartwig, Ina: Sexuelle Poetik. Proust, Musil, Genet, Jelinek, Frankfurt: Fischer, 1998, S.32.). Ähnlich argumentiert Julia Kristeva, wenn sie konstatiert, dass die Verwendung der vegetalen Metapher die Idee der menschlichen Bisexualität leichter verdaulich mache (vgl. Kristeva, Julia: Le temps sensible. Proust et l’expérience littéraire, Paris: Seuil, 1994, S.110.). 684 Vgl. Colm Hogan, Patrick: Cognitive Science, Literature and the Arts. A Guide for Humanists, London: Routledge, 2003, S.96.
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Figur des unsichtbaren Dritten“ darlegt, besteht das Thema des Abschnitts somit weniger in der dargestellten Handlung als in der voyeuristischen Beziehung zwischen dem Beobachter und dem Protagonisten.685 In Extremfällen erscheinen Mann und Insekt durch die gemeinsame Nennung innerhalb des gleichen Satzes und ihr Arrangement in Parallelkonstruktionen lokal und logisch zusammengerückt. So etwa in folgendem Beispiel: „[J]e ne doutais plus, pour un insecte très rare et une fleur captive, de la possibilité miraculeuse de se conjoindre, alors que M. de Charlus […] avait rencontré le giletier et avec lui la bonne fortune réservée aux hommes […]“686 (Hvg. T.H.), wo sie die Konjunktion gleichsam miteinander verschmilzt. Überdies ergibt sich eine zusätzliche Durchdringung der beiden Bereiche durch den Vergleich M. de Charlus’ mit einem Insekt, der die Grenzen zwischen Tier und Mensch verwischt („Au même instant où M. de Charlus avait passé la porte en sifflant comme un gros bourdon, un autre, un vrai celui-là, entrait dans la cour.“687, Hvg. T.H.). Der Parallelisierung des Pfeifens des Barons mit dem Brummen einer Hummel bewirkt eine konzeptuelle Überlappung der beiden Aktanten. Gleichzeitig verstärkt ihre Erwähnung innerhalb desselben Satzes und in gleicher grammatikalischer Funktion die Annäherung, welche umso effektiver ist, als beide mit dem Eindringen in das Gebäude bzw. in den Hof eine analoge Handlung vornehmen. Diese Parallelführung mag dafür sorgen, dass der Rezipient den Baron als uneindeutiges Mischwesen wahrnimmt688 und somit die erotischen Konnotationen der Blumenbestäubung auf den homosexuellen Geschlechtsakt überträgt. Der Erlebniswert des Lexikons sowie die Ikonizität des Rhythmus der Passage können folglich dazu führen, dass der Leser beide Bereiche als identisch erlebt, so dass indirekt eine erotische Aufladung des Flirts befördert wird und er emotional an der sinnlichen Atmosphäre der homosexuellen Begegnung partizipiert.
685 Vgl. Roloff, Volker: „Die Figur des unsichtbaren Dritten im Rollenspiel der Geschlechter. Anmerkungen zu den Voyeurszenen der Recherche“, in: Link-Heer, Ursula/Hennigfeld, Ursula/Hörner, Fernand (Hrsg.): Literarische Gendertheorie. Eros und Gesellschaft bei Proust und Colette, Bielefeld: Transcript, 2006, S.157. 686 Proust, Marcel: Sodom et Gomorrhe, Paris: Gallimard, 2010, S.9. 687 Ebd., S.8. 688 Vgl. Woltersdorff, Volker [alias Lore Logorrhöe]: „Prousts queering. Homosexualisierung der Literatur statt homosexueller Geständnisliteratur“, in: Naguschewski, Dirk/Schrader, Sabine (Hrsg.): Sehen, Lesen, Begehren. Homosexualität in französischer Literatur und Kultur, Berlin: Tranvía, 2001, S.98.
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3.5.2 Möglichkeiten motivationaler und kognitiver Beteiligung Konventionellerweise sind Verführungsspiele und sexuelle Kontakte in der Literatur auch für den Leser mit einem Lustgewinn verbunden, zumal sie häufig sprachlich und rhythmisch so inszeniert sind, dass dieser an ihnen partizipiert. Vor allem angesichts der Tatsache, dass A la recherche du temps perdu dem Rezipienten häufig über lange Passagen intensive Emotionen zugunsten einer kleinschrittigen und detaillierten Erzählung von Alltagsereignissen verwehrt, dürfte dieser besonderes Interesse an der vorliegenden Episode entwickeln. Nicht nur, dass das Sexuelle sonst kaum zur Sprache kommt, auch ist die emotionale Amplitude zwischen dem Gefühlsdefizit weiter Strecken des Romanzyklus und der aktuellen intensiven Beteiligung hoch und verspricht somit einen ausgeprägten Lustgewinn. In erster Linie zu Beginn der Episode, wo die beiden Inhalte, Bestäubung und Sexualität, noch nicht zur Deckung gelangt sind, kann das Interesse des Protagonisten für Bienen und Blumen eine Bedrohung für diesen darstellen. An dem Punkt des Romans angelangt, wird er mit dem digressiven Erzählstil des Zyklus bereits vertraut sein;689 er wird sich an die Vorliebe für ausführliche Exkurse und detailreiche Beschreibungen gewöhnen haben können. Es mag ihm somit durchaus möglich erscheinen, dass der Erzähler sich eher in der Analyse des Insektenverhaltens ergeht als die Interaktion von M. de Charlus und Jupien zu verfolgen. Es besteht also die Gefahr, dass ihm die Erzählung den Zugang zur erwarteten Befriedigung versperrt, und diese wird insofern besonders imminent, als sich die Vermittlungsinstanz wiederholt auf die Tierbeobachtung rückbesinnt. Somit kann die Episode einerseits zum präsentischen Erleben des Stelldicheins motivieren, da sie Lustgewinn verspricht, andererseits die Befriedigung durch die Andeutung einer Ablenkung der Erzähleraufmerksamkeit bedrohen. Der hieraus resultierende Erregungsanstieg intensiviert sich über das foregrounding. Der Rezipient nimmt den Roman nicht als lineare und homogene Struktur wahr, sondern profiliert sie in seiner Vorstellung nach dem Kriterium der Relevanz: Vordergründigen Elementen schenkt er, so Jean-Michel Adam in Le texte narratif, besondere Aufmerksamkeit, er speichert sie dauerhaft und gründet auf sie seine Erwartungshaltung; hintergründige Textteile dienen der Kontextualisierung, sie wirken als Nullstufe, vor der sich die vermeintlich wichtigen abspielen.690 In der
689 Gerard Genette spricht in diesem Zusammenhang von einer „Kontingenz der Erzählung“. Es sei unleugbar, dass es in Prousts Werk einen „résistance de la matière et la part de l’incontrôlé – peut-être de l’incontrôlable“ gebe und dass auf diese Weise der Eindruck der Dezentrierung der Erzählung entstehe (Genette, Gérard: Figures III, Paris: Seuil, 1972, S.272.). 690 Vgl. Adam, Jean-Michel: Le texte narratif, Paris: Nathan, 1994, S.173.
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vorliegenden Szene ist die erotische Begegnung der beiden Figuren in mehrerlei Hinsicht als relevant inszeniert. Zum einen erscheint sie dadurch hervorgehoben, dass der Erzähler zu Beginn explizit auf ihre Bedeutsamkeit verweist: „J’avais […] fait une découverte, concernant particulièrement M. de Charlus, mais si importante en elle-même que j’ai jusqu’ici, jusqu’au moment de pouvoir lui donner la place et l’étendue voulues, différé de la rapporter.“691 Zum anderen sticht die Passage dadurch heraus, dass sie, wie Gregor Schuhen in Erotische Maskaraden konstatiert, das Sexuelle relativ explizit und nicht wie sonst verschleiert behandelt.692 Drittens wird durch die Dauer Reliefgebung betrieben: Die Erzählzeit entspricht während der Episode annähernd der erzählten Zeit. Diese fast szenische Darstellung bedeutet im Vergleich zur übrigen Recherche, wo Kleinigkeiten Auslöser seitenlanger Beschreibungen sein können, eine Beschleunigung. Durch die Abweichung von der Nullstufe einer gedehnten Erzählung kann die Episode markiert und somit als außergewöhnlich erscheinen. Insgesamt mag die Aussicht auf die Deprivation vom erwarteten erotischen Moment in Kombination mit der Profilierung der Szene zu einer Triebverstärkung führen und somit den Wunsch des Lesers nach der Beobachtung des homosexuellen Verführungsspiels befördern. Wenn die Episode folglich als herausragender Moment der Recherche erscheint und wenn – wie Gilles Deleuze in Proust et les signes beschreibt – die homosexuelle Liebe tiefer und intensiver erscheint als die heterosexuelle,693 dann ist dies dem intensiven motivationalen Beteiligungspotenzial der Passage geschuldet. Insofern hat die Doppelbödigkeit der Verführungsszene nicht nur die Funktion, auf elegante und unanstößige Weise sexuelle Handlungen mitzuteilen, wie Julia Kristeva konstatiert,694 sie wird vielmehr als potenzieller Störfaktor für das Beteiligungserlebnis auch zum Motor der motivationalen Partizipation. 3.5.3 Möglichkeiten evaluativer Beteiligung Ob der Rezipient den Diskurs des Erzählers gutheißt oder ablehnt, hängt von der Kompetenz ab, die er diesem zuspricht: Verfügt er über viel Wissen und vollführt er seine Erzählaufgabe professionell, so wird man ihm vertrauen; ergeben sich aus der Narration hingegen Inkohärenzen, so wird man ihn eher als unglaubwürdig einstufen und gezwungen sein, zum Ausgleich eine eigene, richtige Version der Ereignis-
691 Proust, Marcel: Sodom et Gomorrhe, Paris: Gallimard, 2010, S.3. 692 Vgl. Schuhen, Gregor: Erotische Maskeraden. Sexualität und Geschlecht bei Marcel Proust, Heidelberg: Winter, 2007, S.115. 693 Vgl. Deleuze, Gilles: Proust et les signes, Paris: Puf, 2006, S.18. 694 Vgl. Kristeva, Julia: Le temps sensible. Proust et l‘expérience littéraire, Paris: Gallimard, 1994, S.110.
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se zu konstruieren. Die Recherche ist nun so angelegt, dass die Glaubwürdigkeit der Vermittlungsinstanz mit fortschreitender Lektüre abnehmen kann. Liest man lediglich den vorliegenden Abschnitt, so erscheint sie in hohem Maße zuverlässig: Die Narration wirkt geplant und teleologisch; der distanzsprachliche, stets korrekte und elaborierte Stil zeugt von ihrer hohen Kompetenz; der objektive Gestus erweckt den Eindruck der Vertrauenswürdigkeit. Die einzige Inkohärenz – nämlich, dass der Erzähler den Flirt unterkühlt, die Insekten stattdessen erotisiert darstellt –, lässt sich wie bereits erwähnt über dessen Naivität oder Verschrobenheit naturalisieren. Diese Vorbildlichkeit mag jedoch ins Wanken geraten, sobald man die Episode im Kontext des übrigen Werks betrachtet. In der Tat häufen sich im Lauf der Recherche Szenen, die der soeben beschriebenen ähneln. Auch bei der Auspeitschung Charlus’ durch Morel in Le temps retrouvé und der sadistischen Porträtbespuckung von Mlle Vinteuil und ihrer Geliebten in Du côté de chez Swann findet man Marcel in einer Zuschauerpose wieder und jedes Mal sind diese Passagen von Unschuldsbeteuerungen begleitet: So sind es einmal die Hitze, der Durst und die unfreundlichen Kutschenfahrer, die das Ich dazu nötigen, in einem Stundenhotel einzuchecken und die sadomasochistische Begegnung zu beobachten; das andere Mal führt der Zufall dazu, dass er nach einem allzu langen Nachmittagsschläfchen direkt vor dem erleuchteten Fenster aufwacht, wo sich die lesbischen Frauen dem Vorspiel widmen. Der Protagonist inszeniert sich hierbei stets als das arglose Opfer, dem das voyeuristische Gewand wider Willen übergestreift wird – ein Gestus, der, wie folgendes Beispiel zeigt, bisweilen paradoxe Formen annimmt: „La fenêtre était entrouverte, la lampe était allumée, je voyais tous ses mouvements sans qu’elle me vit, mais en m’en allant j’aurais fait craquer les buissons, elle m’aurait entendu et elle aurait pu croire que je m’étais caché pour l’épier.“695 Um zu verhindern, dass Mlle Vinteuil ihn des Voyeurismus bezichtigt, sieht sich Marcel zu ihrer Beobachtung gezwungen. Logische Widersprüche wie dieser, darüber hinaus aber auch die Quantität der dargebotenen Ausflüchte machen das Ich inauthentisch, erzeugen das „Dilemma in der Persönlichkeit des Ichs“696, das Rainer Warning in Proust-Studien anspricht: Die übermäßige Betonung seiner Unschuld wirkt wie eine verzweifelte Rechtfertigung, die in Wirklichkeit der Camouflage einer unliebsamen Wahrheit dient.697 Angesichts dessen kann sich der Leser genötigt sehen, die Glaubwürdigkeit des Erzählers nachträglich in Zweifel zu ziehen. Wenn er der Tatsache gewahr wird,
695 Ebd., S.205. 696 Warning, Rainer: Proust-Studien, München: Fink, 2000, S.209. 697 Hier zeigt sich besonders ausgeprägt der dynamisch-transaktionale Charakter der Rezeption: Die Partizipation kann sich durch die bei der Lektüre gemachten Erfahrungen ändern, so dass sich eine Aushandlungssituation zwischen Text und Leser einstellt.
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dass viele der besonders emotionalen oder relevant anmutenden Szenen des Zyklus mit Voyeurismus in Verbindung stehen, kann er zur Einsicht gelangen, dass das Verhalten des Erzählers selbst pathologische Züge trägt.698 Marcels ausgeprägtes Interesse für Insekten erscheint in diesem Licht als Vorwand zur Beobachtung der homosexuellen Männer; seine hyperbolisch geäußerte Gleichgültigkeit gegenüber dem Thema ‚Sexualität‘ erweist sich als Maske, hinter der sich ein voyeuristisch veranlagter Perverser verbirgt. 3.5.4 Möglichkeiten ästhetischer Beteiligung Der Erwartungsbruch, der mit der Erschütterung der Glaubwürdigkeit des Erzählers einhergeht, ist an ein Distanzierungsmoment gekoppelt. Der Rezipient vermag womöglich nicht mehr bloß erlebend auf das diegetische Geschehen konzentriert zu bleiben, sondern beginnt, das Gelesene zu hinterfragen. Diese Abstandnahme kann als Auslöser einer ästhetischen Erfahrung fungieren, die den Leser in den Strudel der Perversion mit hinabreißt. Sie hängt mit dem Erlebnis des letztlich vollzogenen Geschlechtsakts zwischen M. de Charlus und Jupien zusammen: Du reste c’était inutile. Je n’eus même pas à regretter de n’être arrivé qu’au bout de quelques minutes dans ma boutique. Car d’après ce que j’entendis les premiers temps dans celle de Jupien et qui ne furent que des sons inarticulés, je suppose que peu de paroles furent prononcées. […]. J’en conclus plus tard qu’il y a une chose aussi bruyante que la souffrance, c’est le plaisir […].699
Die Möglichkeiten der Partizipation des Lesers am Vergnügen der beiden Figuren werden hier in mehrerlei Hinsicht beschränkt: Erstens sind zu ihm keine visuellen, lediglich akustische Informationen verfügbar, da das Ich die Szene von einer anderen Etage aus belauscht. Zweitens konzentriert sich der Erzähler nicht auf M. de Charlus und Jupien, sondern führt durch Reflexionen inhaltlich und temporal von den Ereignissen weg („j’en conclus plus tard“), so dass diese hintergründig erscheinen. Drittens ist der Abschnitt ausgesprochen kurz gehalten und auch in der Hinsicht als irrelevant markiert. Nachdem über die emotionale und kognitive Beteiligung zunächst eine Motivation für die Partizipation an der Szene aufgebaut wurde, mag eine solche Darstellung eher für Frustration sorgen.
698 Auf die Verwandlung des Lesers im Lektüreprozess weist Volker Roloff in Werk und Lektüre hin: Zwar erfährt dieser Marcels Leiden aus der Distanz heraus, erlebt es aber gleichzeitig mit (Vgl. Roloff, Volker: Werk und Lektüre. Zur Literaturästhetik von Marcel Proust, Frankfurt: Insel, 1984, S.224f.). 699 Proust, Marcel: Sodom et Gomorrhe, Paris: Gallimard, 2010, S.11.
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Auch hierbei handelt es sich um eine Konstante der Voyeurismus-Szenen: Aus der Passage ‚Mlle Vinteuil‘ wird der Leser durch das Schließen der Fensterläden ausgesperrt, die Flagellationsszene wird vorzeitig durch M. de Charlus abgebrochen, der Morel als Dominus nicht für aggressiv genug befindet – kurz: es wird zu keiner Zeit eine Befriedigung der zunächst angedeuteten Lust für Marcel, aber ebenso wenig für den Rezipienten erreicht. In dem Moment, in dem der Leser all diese Frustrationsmomente als zusammengehörig und stimmig erkennt, kann er nahezu nicht umhin, sich selbst bei seiner Lektüre ein voyeuristisches Verlangen einzugestehen. Seine Lage ist dabei fast schmerzlicher als die des Ichs: Während jenem zum Schluss eine Sublimierung seiner akkumulierten Unlust im Schreibprozess gelingt, bleibt dem Leser lediglich die Möglichkeit, sich in die mehrgliedrige Kette abnormer Lüste der Recherche einzureihen. Insofern kann er sich durch die Lektüre ein Stück weit selbst als abnorm entdecken oder wie es Marcel in Le temps retrouvé ausdrückt: „Chaque lecteur est, quand il lit, le propre lecteur de soi-même. L’ouvrage de l’écrivain n’est qu’une espèce d’instrument optique qu’il offre au lecteur afin de lui permettre de discerner ce que sans ce livre, il n’eût peut-être pas vu en soi-même.“700
700 Proust, Marcel: Le temps retrouvé, Paris: Gallimard, 1989, S.217f.
4. Abschließende Betrachtungen
Narrative Texte sind für sich genommen noch keine Literatur. Sie sind nicht mehr als ein paar Gramm Druckerschwärze auf Papier, die allein für die Autoren bedeutsam sind. Erst in dem Moment, als der Rezipient sie verwirklicht, ihnen sein Bewusstsein leiht und sie mit Emotionen, Kognitionen, Evaluationen und ästhetischen Erfahrungen füllt, beginnen sie, als Werk zu existieren. Insofern eignet ihnen ein Doppelcharakter: Sie sind hinsichtlich ihrer Materialität zwar abgeschlossen, doch in ihr auch unfertig; zur Vollendung gelangen sie erst als mentale Repräsentation und ganzheitliches Erlebnis im Augenblick der Aufführung. Die Möglichkeiten des Rezipienten zur Mitgestaltung des Romans wurden in dieser Arbeit unter dem Begriff ‚Partizipation‘ erforscht. Das Ziel der Ausführungen bestand darin, ein Bewusstsein für die Bandbreite der Beteiligungsoptionen zu schaffen, sie zu systematisieren und für die narratologische Analysepraxis fruchtbar zu machen. Dieses Vorhaben brachte zwei methodische Implikationen mit sich: Verglichen mit den existierenden rezeptionsorientierten Ansätzen (Wirkungsästhetik, Rezeptionsästhetik, empirische Literaturwissenschaft) erforderte es die Performativierung der Rolle des Lesers. Dieser sollte weder als Abspielgerät für ein im Text angelegtes Verhaltensprogramm, noch als Repräsentant der Lektüregewohnheiten einer ausgewählten Gesellschaftsgruppe konzipiert sein. Weder die Produktions-, noch die Rezeptionsseite sollte Priorität haben, stattdessen die gleichberechtigte Interaktion von Text und Leser auf Basis gemeinsamer kognitiver Operationen und kultureller Konventionen in den Blick rücken. Aus Sicht der literaturwissenschaftlichen Hermeneutik war hierfür die Erweiterung des Kompetenzbereichs des Lesers von der Entschlüsselung einer vom Autor angelegten Bedeutung auf die emotionale, kognitive, evaluative und ästhetische Beteiligung, also auf eine vielfältige Palette ganzheitlicher Erlebnisse im Kontext der Romanlektüre, nötig. Durch den Einbezug von Ergebnissen zur Textverarbeitung aus Emotions- und Kognitionswissenschaft sollte ein präsenzzentrierter Kontrapunkt zu einer dominant auf die Sinnebene ausgerichteten Literaturwissenschaft gesetzt und eine Möglichkeit zur Erfassung der jeweils spezifischen Beteiligungspotenziale von Romanen eröffnet werden. In meh-
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reren Einzelanalysen wurde das performative und präsentische Zusammenspiel von Werk und Leser mit der Absicht beobachtet, dessen konstitutiven Prinzipien aufzudecken. Die existierenden narrativen Kommunikationsmodelle ermöglichen die Beteiligung des Lesers nur in geringem Maße, da sie diesem lediglich die Funktion des Empfängers zuweisen. Über den Nachvollzug der textuellen Informationen dekodiert er in Rückgriff auf sein Welt- und Literaturwissen die verschleierte Nachricht des Autors; zu den tieferen Ebenen der Romankommunikation, der Diegese und der Erzählwelt, jedoch ist ihm der Zutritt verwehrt. Der Partizipationsgedanke erfordert eine offenere und dynamischere Auffassung von der Text-Leser-Interaktion: Er verortet den Rezipienten nicht auf einer Ebene mit dem Autor, sondern gegenüber von Figuren, der Handlung, dem Chronotopos und dem Erzähler. Darüber hinaus verleiht er ihm Dynamik, indem er davon ausgeht, dass der Roman erst durch sein Mithandeln entsteht. Deshalb bedarf es der Ersetzung des traditionellen ausdrucksorientierten Modells durch ein Eindrucksschema, das nicht den unidirektionalen Informationstransfer, sondern die Wechselbeziehung zwischen Romanwelt und Rezipient fokussiert. Damit einher geht die Erweiterung des Handlungsspektrums des Lesers: War er bislang lediglich für die Entschlüsselung von Informationen maßgebend, partizipiert er nun zusätzlich durch die Bildung von Emotionen, Kognitionen, Evaluationen und ästhetischen Erfahrungen und schafft dabei ein erlebnismäßig strukturiertes mentales Modell der Romanwelt, ihrer Ereignisse und ihres Personals. Abbildung 16: Interaktionsmodell der Partizipation Angaben zum Chronotopos
Angaben zum Erzähler Text
Angaben zur Handlung Angaben zu den Figuren
Emotion
Mentale Repräsentation der Romanwelt
Kognition Leser Evaluation
Ästhet. Erfahrung
Im Laufe der Ausführungen wurden zahlreiche Einzelaspekte der Konstitution und des Erlebens der virtuellen Romanwelt untersucht. Der Abschnitt zur emotionalen Beteiligung hatte sich die Auslotung der Voraussetzungen für Atmosphären, Gefühle und Motivationen zum Ziel gesetzt. Hierbei hat sich ergeben, dass narrative Texte emotionale Beteiligung ermöglichen, indem sie den Rezipienten durch die Lektü-
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reerfahrung in eine ähnliche affektive Disposition versetzen wie die Figur oder den Erzähler. Dies kann einerseits über den Erlebniswert der Sprache, also die emotionalen Gehalte, die der Leser aufgrund seiner Erfahrung mit einzelnen Wörtern und Äußerungen verbindet, andererseits über Ikonizität erfolgen. Indem diese das Gelesene visuell, akustisch, kognitiv oder rhythmisch vergegenwärtigen, entkleiden sie den Roman partiell seines Zeichencharakters und machen ihn spürbar. Das Kapitel zur kognitiven Partizipation hat gezeigt, dass die Problematisierung der Informationsverarbeitung die Aufmerksamkeit des Lesers bündeln und dadurch eine Bindung an den Text herstellen kann, die Ausgangsbasis unterschiedlicher Erlebnisse ist. Einer genaueren Betrachtung unterzogen wurden in diesem Zusammenhang die Eindrücke der Über- und Unterforderung, der Unmittelbarkeit sowie der Überraschung, suspense und mystery. Sie alle basieren in irgendeiner Form auf den Prinzipien des Schemaabgleichs, der Reliefgebung und der Kontiguität: Indem sich ein Roman(ausschnitt) mehr oder weniger problemlos in bestehende Wissensund Emotionsmuster einordnen lässt, indem er eine Profilierung von Vorder- und Hintergrund erlaubt und indem er die Herstellung neuer Datenverknüpfungen begünstigt, bildet er sein eigenes kognitives Partizipationsmuster aus. Die evaluative Positionierung des Rezipienten zum Roman ist zwischen fünf Faktoren aufgespannt: der Achse der Qualität der Bewertung, die zwischen Übereinstimmung und Distanzierung oszilliert; der Achse ihrer Richtung, die auf der romaneigenen Evaluationshierarchie gründet; der Achse des Bewertungsmodus, die vom Grad der Ernsthaftigkeit des Sprechens bestimmt wird sowie der Dauer und der Bewusstheit, die sich auf die Wahrnehmung der Ex- und Intension der Evaluation auswirken. Die Beschaffenheit des Urteils steht in engem Zusammenhang mit der emotionalen Partizipation. Sind die erfahrenen Atmosphären, Gefühle und Motivationen an einem Ausschnitt positiv, so fällt auch das Urteil dementsprechend aus. Die Evaluation ist folglich nur indirekt von einem bestimmten Inhalt abhängig und kann den Alltagshaltungen des Lesers durchaus widersprechen. Die Richtung der Bewertung resultiert aus der Positionierung des Lesers zu den Urteilen der Figuren oder des Erzählers. Ob er deren Wertungen gutheißt oder ablehnt, hängt von der evaluativen Kompetenz ab, die er ihnen zuspricht. Bei der ästhetischen Beteiligung handelt es sich um eine Art Meta-Partizipation: Da sie auf Basis der Emotionen, Kognitionen und Bewertungen des Rezipienten stattfindet, ist sie eine Art Erlebnis des Erlebnisses. Eine ästhetische Erfahrung kann eintreten, wenn sämtliche Beteiligungsmomente eine stimmige Einheit bilden und daran eine Erkenntnis oder ein Erlebnis der Intensität gekoppelt ist. Ihr Gegenteil, die Unstimmigkeit, resultiert aus der (Zer-)Störung dieser Harmonie und geht mit der Erfahrung von Unrichtigkeit einher. Das Tragische, das Phantastische, das Unheimliche, das Absurde, das Komische und das Groteske wurden als Mischphänomene von Stimmigkeit und Unstimmigkeit mit einer jeweils eigenen Erlebnisstruktur untersucht: Während die ersten drei Elemente unstimmige Bestandteile le-
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diglich dermaßen integrieren, dass die Illusion zwar beeinträchtigt, nicht jedoch gebrochen wird, gehen die letzten drei zumindest mit einer punktuellen Deautomatisierung einher, die der Leser zur Herstellung von Stimmigkeit mit seiner Reaktion überbrücken muss. Emotionen, Kognitionen, Evaluationen und ästhetischen Erfahrungen generiert der Rezipient bei der Romanlektüre nicht isoliert, sondern sie sind vielfältig untereinander verknüpft, bauen teilweise aufeinander auf und überschneiden sich. Für einen umfassenderen Überblick über die Funktionsweise und die Wechselwirkungen der einzelnen Beteiligungsformen sei auf die ‚kontextualisierenden Resümees‘ am Ende der einzelnen Kapitel verwiesen. Statt sie zu wiederholen, soll an dieser Stelle eine Synthese der unterschiedlichen Partizipationsmöglichkeiten in einem übergreifenden Modell versucht werden. Wie am Ende des Kapitels zur emotionalen Beteiligung bereits angedeutet, bietet sich hierfür die Kategorie ‚Modus‘ an. Gérard Genette versteht in Die Erzählung darunter die Entscheidung, „etwas mehr oder weniger nachdrücklich“ oder „unter diesem oder jenem Blickwinkel [zu] erzählen“.1 Im Kontext einer lektüreorientierten Narratologie soll der Begriff an dieser Stelle freilich nicht aus der Perspektive der Vermittlungsinstanz, sondern aus der des Lesers definiert werden. ‚Modus‘ wäre somit der Eindruck des Rezipienten, eine Passage mit spezifischer Intensität und Perspektivität zu erleben. Als Metapher für die Relation schlägt Genette die Entfernung vor.2 Bedenkt man es recht, so lassen sich auch alle Formen der Beteiligung unter diese subsumieren: Emotionale, kognitive, evaluative und ästhetische Partizipation bewirken je nach Ausprägung, dass sich der Leser der Romanwelt näher oder ferner, vertrauter und fremder fühlt, dass er in ihr aufgeht oder meint, nicht zu ihr durchzudringen. Das Begriffspaar ‚Nähe-Distanz‘ eignet sich insofern für den Entwurf eines Gesamtmodells, als es nicht nur eine lokale und temporale, sondern auch eine emotionale und ideologische Dimension besitzt und somit die vielen Gesichter der Beteiligung zusammenzuführen vermag:3 •
In Bezug auf den Standpunkt des Lesers ist mit ‚Entfernung‘ der Grad an Unmittelbarkeit gemeint, mit dem sich ihm die Romanwelt zeigt: Eine Handlung kann entweder erscheinen, als passiere sie im Hier und Jetzt und involviere sie den Rezipienten oder als ereigne sie sich in der Ferne und sei somit nicht beeinflussbar.
1
Genette, Gérard: Figures III, Paris: Seuil, 1972, S.183.
2
Vgl. ebd., S.183.
3
Nähe und Distanz sind hier freilich nicht wertend gemeint, sondern zeigen lediglich eine Beziehung des Rezipienten zur Diegese an.
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•
•
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Den Chronotopos betreffend beziehen sich ‚Nähe‘ und ‚Distanz‘ auf die Präsenz des Erzählten: Die Romanwelt kann mehr oder weniger konkret und detailliert in der Vorstellung des Rezipienten zutage treten und dadurch einen mehr oder weniger ausgeprägten Realitätseffekt erzeugen. Hinsichtlich des Romanpersonals bedeuten die Begriffe Nähe oder Distanz zu den Figuren oder zum Erzähler: Ist kognitive Nähe vorhanden, so gewinnt der Rezipient den Eindruck, die Welt durch deren Augen zu sehen; besteht emotionale, so meint er, wie sie zu fühlen. Beide Fälle tragen dazu bei, dass der Leser zumindest partiell und momentan mit dem Personal des Romans identisch wird. Wird hingegen eine Distanz spürbar, erfährt er sich selbst als Gegenpart zur Figur oder der Vermittlungsinstanz. Im Bereich der Evaluation besteht für den Rezipienten die Möglichkeit der wertmäßigen Übereinstimmung mit der Figur oder dem Erzähler, also der ideologischen Positionierung in ihrer/seiner Nähe, oder der Distanzierung von ihr/ihm. Ebenso schaffen die (Un-)Glaubwürdigkeit der Äußerungen sowie der Bewertungsmodus eine spezifische Entfernung zwischen dem Leser und den romaninternen Instanzen. Unter ästhetischer Nähe wird aufgefasst, wenn die Lektüre ein Stimmigkeitserlebnis bereit hält, das dem Rezipienten den Eindruck des Mitschwingens und Verschmelzens mit dem Roman vermittelt. Die Erfahrung von Unstimmigkeit hingegen hat Exklusionscharakter, da sie den Zugang zum Roman behindert.
Die Möglichkeiten unterschiedlicher Nähe-Distanz-Konstellationen sind ob dieser Polydimensionalität vielfältig, es lassen sich jedoch als Extremformen der Beteiligung drei prototypische Situationen der Interaktion zwischen Text und Leser profilieren: der Eindruck maximaler Nähe zur Diegese, der maximaler Nähe zur Erzählwelt und der maximaler Distanz, die es abschließend zu beleuchten gilt. Größtmögliche Nähe zur Diegese liegt vor, wenn der Rezipient nicht mehr zur Unterscheidung zwischen Fiktion und Realität fähig ist wie in den Eingangsbeispielen die Zuschauer des ersten Films der Gebrüder Lumière oder Alonso Quijano. Sie kann folgenden Voraussetzungen entspringen: Der lokal-temporale Eindruck transportiert ‚Unmittelbarkeit‘, d.h. die Aufmerksamkeit des Lesers wird von den pround retentionalen Aktivitäten ab- und auf das aktuelle Geschehen hingelenkt; es treten gehäuft face-to-face- sowie in-medias-res-Elemente auf. Die Romanwelt erscheint durch die Erhöhung des deskriptiven Anteils und die Rekurrenz auf visuelle, akustische oder rhythmische ikonische Elemente präsent. Über den Erlebniswert der Sprache und die Aufnahme einer bestimmten Emotions- oder Kognitionsstruktur im Lektürerhythmus wird emotionale und kognitive Nähe zu den Figuren ermöglicht. Die Bewertung des Lesers lehnt sich an die der Figur an, indem entweder über die konvergente Erlebnisqualität oder über die Akzeptanz der Bewertung einer Figur
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mit hoher evaluativer Kompetenz eine Übereinstimmung geschaffen wird. Nicht zuletzt wird die ästhetische Nähe über ein hohes Stimmigkeitspotenzial maximiert. Tabelle 10: Konstituenten der Nähe des Lesers zur Diegese Leserstandpunkt
kognitive Aktivierung
Ablenken der Aufmerksamkeit von der pro- und retentionalen Aktivität auf die aktuelle Situation
Unmittelbarkeit
face-to-face-Elemente in medias res-Elemente
Präsenz der Die-
Visualität
effet de réel Bildlichkeit der Beschreibung
gese ikonische Präsenz
visuelle, auditive, kognitive oder rhythmische Simulation diegetischer Objekte und Sachverhalte
interne
kognitive Nähe zur Figur
Beteiligung an der Langeweile, Überforderung, suspense, mystery
Fokalisierung
oder Überraschung einer Figur emotionale Nähe zur Fi-
emotionale Partizipation am Erre-
gur
gungszustand einer Figur über den sprachlichen Erlebniswert oder den Lektürerhythmus
evaluative Nähe ästhetische Nähe
Übereinstimmung mit
emotionale Nähe zur Figur
der Wertung einer Figur
Bewertung auf Augenhöhe
Erfahrung von Stimmig-
keine Störung der mentalen Reprä-
keit
sentation der Romanwirklichkeit
Ist die Nähe auf vielen Ebenen ausgeprägt, so ist die Illusion, selbst als Subjekt in der Romanwelt verortet zu sein und zu handeln, besonders tragfähig. Allerdings ist absolute Nähe, also eine Transgression der Grenzen zwischen Fiktion und Realität, höchstens punktuell möglich. Ein rest- und fragloses Aufgehen in einem Roman ist schon deshalb undenklich, weil sich manche der aufgelisteten Formen gegenseitig ausschließen: Während beispielsweise die Unmittelbarkeit das Vorhandensein weniger Beschreibungen erfordert, kann ein hoher Anteil an Deskriptivem die Präsenz der Diegese gerade steigern; während der Anschein der kognitiven Nähe zu einer Figur etwa der Präsentation der Ereignisse in ihrer Erlebnischronologie, -dauer und -häufigkeit bedarf, erwächst die emotionale oftmals gerade der Abweichung davon. Die Illusion größtmöglicher Nähe kann folglich nur insoweit gewährleistet werden, als widersprüchliche Formen einander so wenig wie möglich behindern oder einzelne Eindrücke nachhaltig intensiviert werden.
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Nähe kann nicht nur gegenüber der Diegese, sondern auch in Hinblick auf die Erzählung zustande kommen. Schließlich bedeutet etwa die Tatsache, dass die emotionale Beteiligung nicht an eine Figur geknüpft ist oder dass man sich als Leser nicht unmittelbar in der erzählten Welt verortet fühlt, nicht zwangsweise, dass ein Aufgehen im Roman unterbunden wäre oder man sich sofort des Fiktionscharakters bewusst würde. Nähe zur Diskursebene kann entstehen, wenn der Rezipient Unmittelbarkeit bezüglich der Erzählsituation erfährt; wenn die Erzählwelt durch den effet de réel oder ikonische Elemente präsent wird; wenn die erlesenen Emotionen denen des Erzählers entsprechen;4 wenn eine Kongruenz der Bewertung von Leser und Erzähler vorliegt und wenn eine Stimmigkeitserfahrung möglich ist. Tabelle 11: Konstituenten der Nähe des Lesers zur Erzählwelt Leserstandpunkt
kognitive Aktivierung
Konzentration der Aufmerksamkeit auf den aktuellen Erzählmoment
Unmittelbarkeit
face-to-face-Elemente, die sich auf die Erzählwelt beziehen in medias res-Elemente, die sich auf die Erzählwelt beziehen
Präsenz der Er-
inhaltliche Elemente
Beschreibung der Erzählwelt
zählwelt
ikonische Elemente
visuelle, auditive, kognitive oder rhythmische Simulation erzählweltlicher Objekte oder Sachverhalte
Nullfokalisierung
kognitive Nähe zum
Beteiligung an der Wahrnehmung des
Erzähler
Erzählers
emotionale Nähe zum
emotionale Partizipation am Erre-
Erzähler
gungszustand des Erzählers über den sprachlichen Erlebniswert oder den Lektürerhythmus
evaluative Nähe
ästhetische Nähe
Übereinstimmung mit
emotionale Nähe zum Erzähler
der Wertung des Er-
ausgeprägte evaluative Kompetenz
zählers
Ironie
Stimmigkeit
keine Störung der mentalen Repräsentation der Romanwirklichkeit
4
Häufig bestehen diese gerade in der Emotionslosigkeit. Wenn der Erzähler evaluative Kompetenz und Verlässlichkeit verkörpern soll, reduzieren Romane die Intensität der emotionalen Beteiligung auf der Narrationsebene. Dies bedeutet jedoch nicht deren Fehlen, sondern vielmehr, dass die Gefasstheit die emotionale Qualität ausmacht.
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Eine gewisse lokal-temporale und meist auch emotionale Nähe zum Erzähler und seiner Welt enthält jeder Roman: Beispielsweise erfolgt die Vermittlung stets von einer hic-et-nunc-Deixis aus, der Sprecher ist immer ein Ich, selbst wenn sich dieses nicht in einem Personalpronomen materialisiert. Auch führt sich der Erzähler im Normalfall nicht explizit ein oder beschreibt sich nicht, so dass es auf den Leser wirken kann, als bestünde bereits eine gewisse Vertrautheit mit ihm. Daran ist allerdings meist eine geringe Präsenz der Erzählwelt geknüpft, so dass die Aufmerksamkeit schwerpunktmäßig auf die Diegese gerichtet bleibt. Jeder Näheeindruck auf Erzählniveau impliziert einen Distanzeindruck auf Diegeseniveau und umgekehrt. Maximale Nähe zum Romangeschehen als Ganzem lässt sich folglich nur erfahren, wenn die zwei Ebenen in der autodiegetischen Perspektive zur Übereinstimmung gebracht werden und erzählendes und erlebendes Ich einen geringen temporal-lokalen, emotionalen, evaluativen Abstand aufweisen. Natürlich schließt die Nähe des Lesers zum Erzähler die gleichzeitige Nähe zur Diegese nicht aus, beide Modi können aufeinander bezogen sein, ohne dass dies die Romanillusion stören würde. Vielmehr ist der Leser gewohnt, auch in kurzen Abständen zwischen beiden hin und her zu springen oder sie gleichzeitig zu realisieren, wodurch der jeweilige Roman seinen spezifischen Erlebniswert erhalten kann. Abschließend nun zum Fall der maximalen Distanz: Sie besteht im Eindruck des unmöglichen Zugangs zu Diegese und Erzählwelt, der emotionalen Gelöstheit von Figuren und Erzähler, der Unfähigkeit der evaluativen Positionierung und der Unstimmigkeitserfahrung. Diese sind an folgende Voraussetzungen geknüpft: Die Hinweise auf den Leserstandpunkt müssen reduziert sein oder fehlen. Bei denjenigen Elementen, die umgekehrt aufeinander bezogen sind und automatisch entweder Nähe zur Diegese oder zur Erzählwelt erfahrbar machen, ist die Herstellung von Distanz nur über eine Mischung erreichbar. Diese Strategie der Neutralisierung durch Ambivalenz kann auch in Hinblick auf die Präsenz der Romanwelt zum Tragen kommen: Solange jegliche Vergegenwärtigung der Diegese vermieden wird (etwa durch die Vermeidung von Beschreibungen sowie ikonischen Elementen), kann die Erzählebene präsent erscheinen und umgekehrt. Dieses Dilemma erfordert einen Zwischenweg, der entweder in der Inkompatibilität des Inhalts mit den ikonischen Elementen oder in der Beschreibung ausschließlich nebensächlicher oder widersprüchlicher Gegenstände liegt, so dass im Kopf des Rezipienten kein kohärentes Bild entstehen kann. Auf diese Weise wird weder der Eindruck von Präsenz, noch von Absenz hervorgerufen, wodurch die Romanwelt sonderbar verschwommen bleibt. Weiterhin sollte zur Garantie von Distanz der Anschein vermieden werden, das Werk lehne sich entweder an das Bewusstsein der Figur oder an das des Erzählers an: Es werden keine oder nur inkompatible Emotionen erfahrbar, jegliche kognitive Filterung der Ereignisse (z.B. eine Selektion in Hinblick auf die Relevanz oder eine Zusammenfassung der Informationen) wird unterbunden. Evaluative Distanz geht mit der Unfähigkeit des Lesers einher, eine Bewertung vorzunehmen,
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entweder weil das emotionale Erlebnis gravierende Widersprüche aufweist oder weil Aussagen bezüglich der Wertungskompetenz des Erzählers und der Figuren unmöglich sind. Auf ästhetischem Niveau wird Distanz erlebbar, wenn das Hervortreten des Materialcharakters oder unauflösbare Inkohärenzen die mentale Repräsentation der Romanwirklichkeit dermaßen stören, dass die Illusion bricht und dem Rezipienten die ganzheitliche Realisierung des Gelesenen nicht gelingt. Sind all diese Faktoren erfüllt, so hat der Leser geringe Möglichkeiten, im Roman aufzugehen und sich selbst in ihm verwirklicht zu sehen; vielmehr ist seine Verstörung das Resultat. Tabelle 12: Konstituenten der Distanz des Lesers zur Romanwelt Leserstandpunkt
Mittelbarkeit
Fehlen von face-to-face- und in medias res-Elementen
Absenz/Präsenz
inhaltliche/ikonische
Widerspruch zwischen Inhalt und
der Diegese oder
Elemente
Ikonizität Beschreibung von Nebensächlichem
der Erzählwelt externe
kognitive Unpartei-
Fokalisierung
lichkeit
keine Filterung der Wahrnehmung oder Verarbeitung der Romanwelt
emotionale Unpartei-
Partizipation an der Emotionslosig-
lichkeit
keit durch Wörter mit neutralem Erlebniswert und einen gleichmäßigen Lektürerhythmus
evaluative Distanz ästhetische Distanz
wertungsmäßige Un-
widersprüchliches emotionales Input
entschlossenheit
unklare evaluative Kompetenzen
Unstimmigkeit
Störung der mentalen Repräsentation der Romanwirklichkeit
Die Einordnung der im Hauptteil erarbeiteten Beteiligungsmodalitäten in das Modus- bzw. Nähe-Distanz-Konzept bietet aufgrund dessen vielschichtiger Anlage die Möglichkeit einer unkomplizierten Klassifikation der Lektüreerlebnisse an narrativen Texten. Es sei darauf hingewiesen, dass die drei skizzierten Extremformen nicht als fixe Typisierungen gedacht sind, vielmehr spannt sich ein Kontinuum von Abstufungen zwischen ihnen. Erst der Vermischung und Kombination der Prototypen erwächst die ganze Vielfalt möglicher Partizipationsformen. Schließt man zusätzlich die Modulationen, die sich aus dem zeitlichen Verlauf der Lektüre ergeben, in die Betrachtung mit ein, so potenzieren sich die Konstellationen der Beteiligung erneut. In den zahllosen unterschiedlichen Positionen, die der Leser gegenüber narrativen Texten einnehmen kann, und in der Unermesslichkeit der Interaktionsangebote ist der Grund für die Faszination zu suchen, die diese seit Jahrhunderten auf ihre
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Rezipienten ausüben: Sie lassen sie eine andere Welt erleben als ihre eigene, reißen sie emotional mit, halten sie in Atem, bewegen sie zum Engagement und verschaffen ihnen ästhetische Befriedigung. In dem Moment, als der Rezipient das Buch weglegt, ist er insofern nicht mehr derselbe wie zuvor. Die Lektüre hat ihn verändert und wirkt sich eventuell sogar auf sein Alltagsleben aus. Wenngleich er selbst vielleicht nicht als Ritter ausziehen würde, bleiben ihm auch über die Lektüre hinaus: seine erlesenen Erlebnisse.
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Anhang
T EXT 1: J ULIEN G RACQ : A U
CHATEAU D ’A RGOL
À l’instant où Albert atteignit le sommet de ces pentes raides, la masse entière du château sortit des derniers buissons qui la cachaient. Il fut alors visible que la façade barrait tout à fait l’étroite langue du plateau. Appuyée à gauche à la haute tour ronde, elle était uniquement constituée d’une épaisse muraille de grès bleus maçonnés à plat et enrobés dans un ciment grisâtre. Le caractère le plus imposant de l’édifice venait du toit, façonné en terrasse, particularité très rare sous un climat toujours pluvieux: le sommet de cette haute façade appliquait contre le ciel une ligne horizontale et dure, comme les murs d’un palais détruit par l’incendie, et parce que, comme la tour, on ne pouvait la considérer que du pied seulement de la muraille, produisait une impression indéfinissable d’altitude. La forme et la disposition des rares ouvertures n’étaient pas moins frappantes. Toute notion d’étage, liée presque indissolublement à notre époque à celle d’une construction harmonieuse, semblait en avoir été bannie. De rares fenêtres s’ouvraient dans la muraille à des hauteurs presque toujours inégales, suggérant l’idée d’une distribution intérieure étonnante. Les fenêtres basses offraient toutes la forme de rectangles bas et très allongés, et il était alors visible que l’architecte s’était inspiré du dessin de certaines meurtrières pratiquées dans les châteaux forts anciens pour le tir des couleuvrines. […] À droite de la façade, une tour carrée venait joindre la muraille par un de ses angles. Moins élevée que la tour du guet, elle était couverte d’un toit d’ardoise en forme de pyramide élancée. Elle était striée de longues nervures verticales, faite de blocs de granit grossièrement ajustés, dans les interstices desquels un grimpeur habile eût pu trouver une prise suffisante pour s’élever jusqu’au toit. Au-delà de cette tour commençaient les pentes rapides du revers de la montagne qui plongeait vers une seconde vallée, où l’on entendait murmurer les eaux sous le moutonnement monotone des arbres. Derrière la tour et parallèlement à la vallée, un second corps de bâtiment venait former avec la façade une équerre régulière. Cette aile, bâtie
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dans le goût italien, à la manière des palais dont Claude Gellée aime à semer ses paysages, faisait avec la sombre façade un parfait contraste. Là se voyaient d’élégants frontons triangulaires, des balustres de pierre blanche, de nobles fenêtres semblant éclairer de riants appartements; dans les parties pleines de la muraille un enduit clair étincelait parmi les arbres, et à l’extrémité d’un haut mât qui dominait les terrasses claquaient au vent deux pavillons de soie rouge et violette. L’étroite langue de plateau enserrée entre la masse du château et les précipices où serpentait le sentier était partout couvert d’un gazon ras et élastique, d’un vert brillant dont l’œil s’enchantait. Aucun sentier n’y paraissait tracé: la porte du château s’ouvrait directement sur les moelleux tapis de la pelouse, et cette particularité bizarre, mise en relation avec le dessin archaïque et difficile du sentier du château, ne laissa pas de surprendre fortement Albert.1
T EXT 2: É MILE Z OLA: A U B ONHEUR
DES
D AMES
Ah! bien! reprit-elle après un silence, en voilà un magasin!“ C’était, à l’encoignure de la rue de la Michodière et de la rue Neuve-SaintAugustin, un magasin de nouveautés dont les étalages éclataient en notes vives, dans la douce et pâle journée d’octobre. Huit heures sonnaient à Saint-Roch, il n’y avait sur les trottoirs que le Paris matinal, les employés filant à leurs bureaux et les ménagères courant les boutiques. Devant la porte, deux commis montés sur une échelle double, finissaient de pendre des lainages, tandis que, dans une vitrine de la rue Neuve-Saint-Augustin, un autre commis, agenouillé et le dos tourné, plissait délicatement une pièce de soie bleue. Le magasin, vide encore de clientes, et où le personnel arrivait à peine, bourdonnait à l’intérieure comme une ruche qui s’éveille. „Fichtre! dit Jean. Ça enfonce Valognes… Le tien n’était pas si beau.» Denise hocha la tête. Elle avait passé deux ans là-bas, chez Cornaille, le premier marchand de nouveautés de la ville; et ce magasin, rencontré brusquement, cette maison énorme pour elle, lui gonflait le cœur, la retenait, émue, intéressé, oublieuse du reste. Dans le pan coupé donnant sur la place Gaillon, la haute porte, toute en glace, montait jusqu’à l’entresol, au milieu d’une complication d’ornements, chargé de dorures. Deux figures allégoriques, deux femmes riantes, la gorge nue et renversée, déroulaient l’enseigne: Au Bonheur des Dames. Puis, les vitrines s’enfonçaient, longeaient la rue de la Michodière et la rue Neuve-SaintAugustin, où elles occupaient, outre la maison d’angle, quatre autres maisons, deux à gauche, deux à droite, achetées et aménagées récemment. C’était un développe-
1 Gracq, Julien: Au château d‘Argol, Paris: Corti, 1995, S.22f.
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ment qui lui semblait sans fin, dans la fuite de la perspective, avec les étalages du rez-de-chaussée et les glaces sans tain de l’entresol, derrière lesquelles on voyait toute la vie intérieure des comptoirs. En haut, une demoiselle, habillée de soie, taillait un crayon, pendant que, près d’elle deux autres dépliaient des manteaux de velours. „Au Bonheur des Dames, lut Jean avec son rire tendre de bel adolescent, qui avait déjà une histoire de femme à Valognes. Hein? c’est gentil, c’est ça qui doit faire courir le monde!“ Mais Denise demeurait absorbée, devant l’étalage de la porte centrale. Il y avait a, au plein air de la rue, sur le trottoir même, un éboulement de marchandises à bon marché, la tentation de la porte, les occasions qui arrêtaient les clientes au passage. Cela partait de haut, des pièces de lainage et de draperie, mérinos, cheviottes, molletons, tombaient de l’entresol, flottantes comme des drapeaux, et dont les tons neutres, gris ardoise, bleu marine, vert olive, étaient coupés par les pancartes blanches des étiquettes. A côté, encadrant le seuil, pendaient également des lanières de fourrure, des bandes étroites pour garnitures de robe, la cendre fine des dos de petit-gris, la neige pure des ventres de cygne, les poils de lapin de la fausse hermine et de la fausse martre. Puis en bas, dans des casiers, sur des tables, au milieu d’un empilement de coupons, débordaient des articles de bonneterie vendus pour rien, gants et fichus de laine tricotés, capelines, gilets, tout un étalage d’hiver aux couleurs bariolées, chinées, rayées, avec des taches saignantes de rouge.2
T EXT 3: ALEXANDRE D UMAS : L E C HRISTO
COMTE DE
M ONTE
Il réfléchit un instant, coupa un arbre résineux, alla l’allumer au feu encore fumant où les contrebandiers avaient fait cuire leur déjeuner, et revint avec cette torche. Il ne voulait perdre aucun détail de ce qu’il allait voir. Il approcha la torche du trou informe et inachevé et reconnut qu’il ne s’était pas trompé: ses coups avaient alternativement frappé sur le fer et sur le bois. Il planta sa torche dans la terre et se remit à l’œuvre. En un instant un emplacement de trois pieds de long sur deux pieds de large à peu près fut déblayé, et Dantès put reconnaître un coffre de bois de chêne cerclé de fer ciselé. Au milieu du couvercle resplendissaient, sur une plaque d’argent que la terre n’avait pu ternir, les armes de la famille Spada, c’est-à-dire une épée posée en pal sur un écusson ovale, comme sont les écussons italiens, et surmonté d’un chapeau de cardinal.
2 Zola, Emile: Au Bonheur des Dames, Paris: Bernouard, 1928, S.8f.
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Dantès les reconnut facilement: l’abbé Faria les lui avait tant de fois dessinées! Dès lors il n’y avait plus de doute, le trésor était bien là; on n’eût pas pris tant de précaution pour remettre à cette place un coffre vide. En un instant tous les alentours du coffre furent déblayés, et Dantès vit tour à tour apparaître la serrure du milieu, placée entre deux cadenas, et les anses des faces latérales; tout cela était ciselé comme on ciselait à cette époque où l’art rendait précieux les plus vils métaux. Dantès prit le coffre par les anses et essaya de le soulever: c’était chose impossible. Dantès essaya de l’ouvrir: serrure et cadenas étaient fermés: les fidèles gardiens semblaient ne pas vouloir rendre leur trésor. Dantès introduisit le côté tranchant de sa pioche entre le coffre et le couvercle, pesa sur le manche de la pioche, et le couvercle après avoir crié éclata. Une large ouverture des ais rendit les ferrures inutiles, elles tombèrent à leur tour, serrant encore de leurs ongles tenaces les planches entamées par leur chute, et le coffre fut découvert. Une fièvre vertigineuse s’empara de Dantès; il saisit son fusil, l’arma et le plaça près de lui. D’abord il ferma les yeux, comme font les enfants, pour apercevoir, dans la nuit étincelante de leur imagination, plus d’étoiles qu’ils n’en peuvent compter dans un ciel encore éclairé, puis il les rouvrit et demeura ébloui. Trois compartiments scindaient le coffre. Dans le premier brillaient de rutilants écus d’or aux fauves reflets. Dans le second, des lingots mal polis, mais rangés en bon ordre, et qui n’avaient de l’or que le poids et la valeur. Dans le troisième enfin, à demi plein, Edmond remua à poignée les diamants, les perles, les rubis, qui, cascade étincelante, faisaient, en retombant les uns sur les autres, le bruit de la grêle sur les vitres. Après avoir touché, palpé, enfoncé ses mains frémissantes dans l’or et les pierreries, Edmond se releva et prit sa course à travers les cavernes avec la tremblante exaltation d’un homme qui touche à la folie. Il sauta sur un rocher d’où il pouvait découvrir la mer, et n’aperçut rien; il était seul, bien seul, avec ces richesses incalculables, inouïes, fabuleuses, qui lui appartenaient: seulement rêvait-il ou était-il éveillé?3
T EXT 4: J EAN E CHENOZ : J E
M ’ EN VAIS
D’aussi loin que l’on vit l’épave, Ferrer fit signe aux guides de se taire et de ralentir comme si c’était une chose vivante, non moins qu’un ours blanc susceptible de vives réactions. On freina l’allure des skidoos dont on finit par couper les moteurs
3 Dumas, Alexandre: Le Comte de Monte-Cristo (Bd.1), Paris: Flammarion, 1998, S.292f.
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avant de s’approcher prudemment, d’un train de démineurs, poussant les engins par leur guidon avant de les appuyer contre la coque d’acier du navire. Puis, les deux locaux se tenant à distance de la Nechelik qu’ils considéraient avec gravité, Ferrer entreprit de monter seul à bord. Il s’agissait donc d’un petit bateau de commerce long de vingt-trois mètre et dont une plaque de cuivre, rivetée à la base du gouvernail, déclinait la date de sa construction (1942) et le lieu de son enregistrement (Saint John, New Brunswick). Le corps du navire et le gréement semblaient en bon état, pelliculés de gel et d’apparence cassante comme du bois mort. Ce qui avait dû être deux papiers froissés, traînant jadis sur le pont parmi des nœuds de cordages, était devenu deux roses des sables sur fond de couleuvres cryonisées, le tout pris dans une couche de glace qui ne se fendilla même pas sous les bottes de Ferrer. Celui-ci pénétra dans la cabine de pilotage et la passa rapidement en revue: un registre ouvert, une bouteille vide, un fusil déchargé, un calendrier de l’année 1957 orné d’une fille assez déshabillée qui rappelait brutalement et potentialisait l’extrême température ambiante, soit dans les moins vingt-cinq degrés. Les pages congelées du registre interdisaient qu’on le feuilletât. Par les vitres de la cabine, qu’aucun regard n’avait plus traversée depuis plus de quarante ans, Ferrer jeta un coup d’œil sur le paysage blanc. Puis, descendant visiter les cales, il trouva tout de suite ce qu’il cherchait. Tout semblait bien là comme prévu, serré dans trois grosses cantines métalliques qui avaient honnêtement résisté au temps. Ferrer eut du mal à faire jouer leurs couvercles soudés par le froid puis, ayant sommairement vérifié leur contenu, il remonta sur le pont pour appeler ses guides. Angoutretok et Napaseekadlak le rejoignirent avec circonspection, respectueusement et non sans hésiter, se déplaçant dans le corps du bateau comme s’ils entraient par effraction dans une résidence secondaire isolée. Les cantines étant pesantes, et l’escalier de fer accédant aux cales surnaturellement glissant, ce serait toute une histoire pour les hisser sur le pont avant de les débarquer. On les fixa du mieux qu’on put sur les remorques des skidoos puis on souffla. Ferrer ne disait rien, les deux guides rigolaient en échangeant des plaisanteries intraduisibles. De tout cela, ils avaient plutôt l’air de se foutre alors que lui, Ferrer, était assez ému. Voilà. C’est fait. Il n’y a plus qu’à rentrer. 4
T EXT 5: J ORGE L UIS B ORGES : E L
LIBRO DE ARENA
La línea consta de un número infinito de puntos; el plano, de un número infinito de líneas; el volumen, de un número infinito de planos; el hipervolumen, de un número
4 Echenoz, Jean: Je m’en vais, Paris: Minuit, 2002, S.74f.
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infinito de volúmenes... No, decididamente no es éste, more geométrico, el mejor modo de iniciar mi relato. Afirmar que es verídico es ahora una convención de todo relato fantástico; el mío, sin embargo, es verídico. Yo vivo solo, en un cuarto piso de la calle Belgrano. Hará unos meses, al atardecer, oí un golpe en la puerta. Abrí y entró un desconocido. Era un hombre alto, de rasgos desdibujados. Acaso mi miopía los vio así. Todo su aspecto era de pobreza decente. Estaba de gris y traía una valija gris en la mano. En seguida sentí que era extranjero. Al principio lo creí viejo; luego advertí que me había engañado su escaso pelo rubio, casi blanco, a la manera escandinava. En el curso de nuestra conversación, que no duraría una hora, supe que procedía de las Orcadas. Le señalé una silla. El hombre tardó un rato en hablar. Exhalaba melancolía, como yo ahora. – Vendo biblias – me dijo. No sin pedantería le contesté: – En esta casa hay algunas biblias inglesas, incluso la primera, la de John Wiclif. Tengo asimismo la de Cipriano de Valera, la de Lutero, que literariamente es la peor, y un ejemplar latino de la Vulgata. Como usted ve, no son precisamente biblias lo que me falta. Al cabo de un silencio me contestó. – No sólo vendo biblias. Puedo mostrarle un libro sagrado que tal vez le interese. Lo adquirí en los confines de Bikanir. Abrió la valija y lo dejó sobre la mesa. Era un volumen en octavo, encuadernado en tela. Sin duda había pasado por muchas manos. Lo examiné; su inusitado peso me sorprendió. En el lomo decía Holy Writ y abajo Bombay. – Sera del siglo diecinueve – observé. – No sé. No lo he sabido nunca – fue la respuesta. Lo abrí al azar. Los caracteres me eran extraños. Las páginas, que me parecieron gastadas y de pobre tipografía, estaban impresas a dos columnas a la manera de una biblia. El texto era apretado y estaba ordenado en versículos. En el ángulo superior de las páginas había cifras arábigas. Me llamó la atención que la página par llevara el número (digamos) 40.514 y la impar, la siguiente, 999. La volví; el dorso estaba numerado con ocho cifras. Llevaba una pequeña ilustración, como es de uso en los diccionarios: un ancla dibujada a la pluma, como por la torpe mano de un niño. Fue entonces que el desconocido me dijo: – Mírela bien. Ya no la verá nunca más. Había una amenaza en la afirmación, pero no en la voz. Me fijé en el lugar y cerré el volumen. Inmediatamente lo abrí. En vano busqué la figura del ancla, hoja tras hoja. Para ocultar mi desconcierto, le dije: – Se trata de una versión de la Escritura en alguna lengua indostánica, ¿no es verdad?
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– No – me replicó. Luego bajó la voz como para confirmarme un secreto: – Lo adquirí en un pueblo de la llanura, a cambio deunas rupias y de la Biblia. Su poseedor no sabía leer. Sospecho que en el Libro de los Libros vio un amuleto. Era de la casta más baja; la gente no podía pisar su sombra, sin contaminación. Me dijo que su libro se llamaba el Libro de Arena porque ni el libro ni la arena tienen ni principio ni fin. Me pidió que buscara la primera hoja. Apoyé la mano izquierda sobre la portada y abrí con el dedo pulgar casi pegado al índice. Todo fue inútil: siempre se interponían varías hojas entre la portada y la mano. Era como si brotaran del libro. – Ahora busque el final. También fracasé; apenas logré balbucear con una voz que no era la mía: – Esto no puede ser. Siempre en voz baja el vendedor de biblias me dijo: – No puede ser, pero es. [...]5
5 Borges, Jorge Luis: „El libro de arena“, in: Ders.: El libro de arena, Madrid: Alianza, 1995, S.130f.
Ausführliches Inhaltsverzeichnis
Vorwort | 7 1. Literatur als Erlebnis | 11 2. Theoretische Vorüberlegungen | 15
2.1 Der Beteiligungsgedanke in der literarischen Hermeneutik | 15 2.1.1 Partizipation und Wirkungsästhetik | 17 2.1.2 Partizipation und Rezeptionsästhetik | 23 2.1.3 Exkurs: Partizipation und Poststrukturalismus | 27 2.1.4 Literarische Hermeneutik als Beschränkung der Beteiligungsidee | 30 2.2 Die Idee der Partizipation in der empirischen Rezeptionsforschung | 33 2.3 Das Interaktionsmodell der Partizipation | 41 2.4 Methodisches Vorgehen | 49 2.5 Typologie der Beteiligungsmöglichkeiten | 57 2.6 Zielformulierung und Aufbau der Arbeit | 60 3. Formen der Partizipation an narrativen Texten | 65
3.1 Emotionale Beteiligungsmöglichkeiten | 65 3.1.1 Atmosphäre | 67 3.1.1.1 Definition | 68 3.1.1.2 Die Atmosphäre als Gegenstand der Literaturwissenschaft | 71 3.1.1.3 Das Atmosphärenerleben an narrativen Texten | 73 3.1.1.3.1 Die atmosphärische Qualität der Sprache | 73 3.1.1.3.2 Das sinnliche Erleben von Atmosphären | 83 3.1.1.3.3 Die Atmosphäre von Figuren | 91 3.1.1.4 Zusammenfassung | 94 3.1.2 Gefühl | 96 3.1.2.1 Die Angst vor dem Gefühl in den Literaturwissenschaften | 97 3.1.2.2 Gefühlserleben an narrativen Texten | 102
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3.1.2.2.1 Figuren- und Lesergefühle | 102 3.1.2.2.2 Lektürerhythmus und affektive Beteiligung | 109 3.1.2.2.3 Erzähler- und Lesergefühle | 117 3.1.2.3. Zusammenfassung | 120 3.1.3 Motivation | 122 3.1.3.1 Motivation in Psychologie und Medienwissenschaften | 123 3.1.3.2 Motivationserleben an narrativen Texten | 125 3.1.3.2.1 Figuren- und Lesermotivationen | 125 3.1.3.2.2 Aversive Motivation | 134 3.1.3.3 Zusammenfassung | 138 3.1.4 Kontextualisierendes Resümee | 139 3.1.4.1 Der emotionale Erlebniswert der Sprache | 140 3.1.4.2 Die sinnliche Wahrnehmung als Quelle der Emotion | 146 3.1.4.2.1 Vergegenwärtigung punktueller Qualitäten | 152 3.1.4.2.2 Vergegenwärtigung einer Relation | 160 3.1.4.2.3 Vergegenwärtigung einer Relation von Relationen | 166 3.1.4.3 Anknüpfungsmöglichkeiten für die Narratologie | 167 3.2 Kognitive Beteiligungsmöglichkeiten | 174 3.2.1 Verstehen und Erwarten in den Kognitions- und Literaturwissenschaften | 177 3.2.2 Lektüreerlebnisse in Bezug auf die Verarbeitungsgeschwindigkeit | 183 3.2.2.1 Langeweile | 184 3.2.2.2 Überforderung | 188 3.2.3 Lektüreerlebnisse in Bezug auf die Aufmerksamkeitsrichtung | 192 3.2.3.1 Determinanten des Verstehens und der Erwartungsbildung | 192 3.2.3.2 Unmittelbarkeit | 200 3.2.3.3 Suspense | 205 3.2.3.4 Überraschung | 209 3.2.4 Lektüreerlebnisse in Bezug auf die Motiviertheit | 215 3.2.4.1 Neugier | 215 3.2.4.2 Frustration | 221 3.2.5 Kontextualisierendes Resümee | 224 3.2.5.1 Schemaabgleich | 230 3.2.5.2 Reliefgebung | 233 3.2.5.3 Kontiguitätsphänomene | 236 3.2.5.4 Zusammenfassung | 239 3.3 Evaluative Beteiligungsmöglichkeiten | 241 3.3.1 Vorüberlegungen zur Struktur und Qualität der Bewertung | 242 3.3.2 Dimensionen und Ablauf der Bewertung | 244
A USFÜHRLICHES I NHALTSVERZEICHNIS
3.3.2.1 Qualität der Bewertung | 250 3.3.2.2 Exkurs: Das Geständnis | 253 3.3.2.3 Dauer der Bewertung | 256 3.3.2.4 Glaubwürdigkeit der Bewertung | 261 3.3.2.5 Bewertungsrichtung | 265 3.3.2.6 Bewertungsmodus | 273 3.3.4 Kontextualisierendes Resümee | 278 3.4 Ästhetische Beteiligungsmöglichkeiten | 286 3.4.1 Vorüberlegungen zum ästhetischen Erleben | 287 3.4.2 Der Prozess der ästhetischen Erfahrung | 296 3.4.3 Unstimmigkeitserfahrungen | 307 3.4.3.1 Unstimmigkeit der emotionalen Beteiligung | 308 3.4.3.2 Unstimmigkeit der kognitiven Beteiligung | 314 3.4.4 Mischformen ästhetischer Beteiligung | 320 3.4.4.1 Das Tragische | 321 3.4.4.2 Das Phantastische | 324 3.4.4.3 Das Unheimliche | 329 3.4.4.4 Das Absurde | 334 3.4.4.5 Das Komische | 337 3.4.4.6 Das Groteske | 341 3.4.5 Kontextualisierendes Resümee | 345 3.5 Syntheseanalyse | 357 3.5.1 Möglichkeiten emotionaler Beteiligung | 358 3.5.2 Möglichkeiten motivationaler und kognitiver Beteiligung | 363 3.5.3 Möglichkeiten evaluativer Beteiligung | 364 3.5.4 Möglichkeiten ästhetischer Beteiligung | 366 4. Abschließende Betrachtungen | 369 Literaturverzeichnis | 379 Anhang | 409 Ausführliches Inhaltsverzeichnis | 417
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