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German Pages 177 [180] Year 1949
Erkenntnistherapie für Nervöse Psychobiologie der Krankheit und der Genesung Von
Hans Lnngwitz Dr. med. et phil., Nervenarzt, Berlin-Charlottenburg
Mit nenn Figuren im Text
Sechste
und
siebente
Auflage
WALTER DE G R U Y T E R & CO. voimal» G. J . Göachen'iche Verlag sbanditine . J . Gnttentag, Verlagsbuchhandlung Karl J . Trnbner . Veit & Comp.
Berlin
1949
Georg Reimer
A l l e Rechte, einschließlich des D b e r s e t z u n g s r c c h t s , v o r b e h a l t e n W a l t e r d e G r u y t e r & Co., v o r m a l s G. J . Göschen'sche V e r l a g s h a n d l u n g J . G u t t e n t a g , V e r l a g s b u c h h a n d l u n g . G e o r g R e i m e r . Karl J . T r ü b n e r . Veit & C o m p . B e r l i n W 35, G e n t h i n e r S t r a ß e 13 . P r i n t e d in G e r r a a n y Drude: D e u t s c h e Zentraldruckerei, Berlin S W 11, Reg.-Nr. 115 Archiv-Nr. 51 44 49 A m c r i k a n . G e n e h m . - N r . 11 387
S c h u l e der
Erkenntnis
Inhalt 1. Kapitel Vom W e s e n d e r N e u r o s e 2. Kapitel D i e N e u r o s e a l s I n f a n t i l i s m u s
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3. Kapitel Die S t r u k t u r d e r g e s u n d e n E r l e b n i s s e . . . . 24 4. Kapitel D i e S t r u k t u r d e r n e u r o t i s c h e n E r l e b n i s s e . 31 Figur 1: das normale Erlebnis 34 Figur 2: das bungerneurotiscbe Erlebnis 35 Figur 3: das angstneurotische Erlebnis 44 Figur 4: das schmerzneurotische Erlebnis 66 Figur 5: das trauerneurotische Erlebnis 87 Figur 61 das freudeneurotische Erlebnis 93 5.Kapitel Z u r D i a g n o s e 101 6. Kapitel D i e B e h a n d l u n g d e r N e u r o s e n 108 A. Allgemeines über Heilung und Heilmethoden . . . . 108 B. Psychotherapie 1. Die Suggestion 2. Die Psychoanalyse a) Die Libidotheoric b) Zur therapeutischen Methodik c) Heilung? d) Die ..Individualpsychologie"
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3. Die Erkenntnistherapie
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Geleitwort zur 3. bis 5. Auflage Das Buch war seit Jahren vergriffen. Erst jetzt, nach Kriegs« ende, konnte es neu aufgelegt werden. Bis auf einige unwesentliche Verbesserungen ist es unverändert geblieben. Zum Vorwort ist folgendes anzumerken: Die „Entdeckung der Seele", ebenfalls seit Jahren vergriffen, wird demnächst in 3. Auflage erscheinen; das „Lehrbuch der Psychobiologie" ist zu einem achtbändigen Werke gediehen, erschienen sind Band 1—6; auch für dieses Werk ist die Neuauflage (einschl. des Erstdruckes des 7. und 8. Bandes) vorgesehen. Unterdes hat die große Bedeutung der Neurosenkunde und -therapie ihre geschichtliche Bestätigung gefunden. Die Neurose ist eben nicht eine Privatangelegenheit, sondern eine Volksseuche. Die Neurose ist wie die Psychose Weltanschauungskrankheit mit ihren pathologischen (krampfigen) Ausdrucksweisen. Sie stiftet unabsehbaren Schadcn. Ohne Neurose wären z. B. Entstehung, Ausbruch, Durchführung und Ende des 2. Weltkrieges nicht möglich gewesen. In einem Beitrag zur 4. Europäischen Vereinigung für Psychische Hygiene in London 1936 warnte ich vor der Gefahr des Ausbruchs dieses kranken, unsittlichen Krieges und mahnte: „Die Befreiung des Volkes von der Neurose ist oberste Aufgabe einer Regierung. Die Befreiung der Völker von der Neurose ist oberste Aufgabe eines Völkerbundes." Meine Mahnung blieb damals ungehört. Und auch jetzt noch vergiftet die Neurose das nationale und internationale Leben. Indes — die Erkenntnis ist stärker als der Wahn, und so wird sie auch die Neurosenseuche überwinden. Berlin-Charlottenburg, im Juli 1946
Hans L u n g w i t z
Motto: Eins ist not — VORWORT
ZUR
ERSTEN
Erkenntnis!
AUFLAGE
Di« Frage nach' dem Wesen der Seele und damit nach dem Wesen der Dinge ist dag Grundproblem, das die Mens.chen von jeher beschäftigt hat und noch beschäftigt. Bisher Kreiß nur eine verhältnismäßig {deine Zahl von Zeitgenossen, daß dieses uralte Problem nunmehr — kein Problem mehr ist. Die Psychobiologie, die von mir begründete und entwickelte Wissenschaft, hat das Leib-Seele-Problem, wie es sich in der roh-dämonistischen Form der Zerlegung des Menschen in den Leib und die in ihm hausende Seele und in der verdünnt-dämonistisdben Form des naturwissenschaftlichen und philosophischen Kausalitätsproblems darstellt, gelöst und somit an die Stelle der bisher gültigen d ä m o n i s t i s c h e n Weltanschauung die r e a l i s c h e , die biologische gesetjt, Die Psychobiologie ist also Weltanschauung, sie ist, des' bin ich sicher, die Weltanschauung, die sich unter den Zeitgenossen mehr und mehr ausbreiten wird und der die Z u k u n f t gehört. Somit ist klar, daß in der Psychobiologie alle Gebiete des Erlebens und der Beschreibung ihren biologischen Ort haben, und daß ich als Begründer and Verkünder der Psychobiologie die Pflicht habe, die Allgemeingültigkeit meiner Lehre wenigstens im Grundsäglichen nachzuweisen. Richtig, gut und schön, mit einem Worte: gesund ist nur die Lehre, zu der a l l e Tatsachen zwanglos stimmen, der keine einzige Tatsache widerspricht. Die Psychobiologie hält dieser strengsten und zugleich einfachsten Anforderung stand. Demgemäß habe ich mich nadi der Abfassung der „ E n t d e c k u n g d e r S e e 1 e", der allgemeinen Darstellung der Psychobiologie (erschienen Dezember 1925, 2. Auflage 1932), alsbald an die Niederschrift der in dem genannten Buche angekündigten speziellen NachWeisungen begeben, mußte aber alsbald sehen, daß sich die Einzeldarstellungen zu einem einheitlichen Werke zusammenschlössen. Von diesem umfassenden Werke, dem „L e h r b u c h e> d e r P s y c h o b i o 1 o g i e w , liegen seit etwa zwei Jahren die ersten beiden Bände, betitelt „ D i e W e l t o h n e R ä t s e l " , im Manuskript vor. Die beiden legten Bände sind in Arbeit: es ist dies ein Band „ P s y c h o b i o l o g i e d e r P e r s ö n l i c h k e i t " und ein Band „ P s y c h o b i o l o g i s c h e K r a n k h e i t s l e h r e " , in dem auch die E r k e n n t nistherapie ausführlich dargestellt werden wird. Bis zu der Beendigung des Ganzen und seinem Erscheinen werden noch J a h r e ins Land gehen.
Daher haben mich meine Freunde seit langem immer wieder aufgefordert, ich möge zunächst eine kurzgefaßte Niederschrift über das Wesen der Nenrosen, ihre Systematik und ihre Behandlnngsformen in Buchform veröffentlichen. Zwar ist die „Entdeckung der Seele" auch sdion „ein Stüde Erkenntnistherapie", aber speziell über die NeurosenIehre habe ich bisher nur eine größere Anaahl von Abhandinngen publiziert, die nicht allgemein zugänglich und auf alle Fälle zerstreut sind. Ich hatte eine kurze Zusammenfassung immer wieder zurückgestellt — aus Zeitmangel, aber auch aus der Erfahrung heraus, daß Darlegungen Uber die nene Lehre, die nicht ausführlich genug sind, leicht mißverstanden werden. Über diese Bedenken hinweg habe ich nun doch die vorliegenden Grundzüge der psychobiologischen Neurosenlehre niedergeschrieben. Idi betone, daß ich in diesen wenigen Blättern nur Grundsätzliches mitteilen kann. Das ganze Buch ist zwar Erkenntnistherapie, aber e» kann kaum mehr als eine Einführung sein, hoffentlich verbunden mit der Anregung f ü r den Leser, die mitgeteilten Tatsachen am eignen Erleben im Sinne einer positiven Stellungnahme nachzuprüfen und sich so zu überzeugen, daB die mitgeteilten Tatsachen — tatsächlich Tatsachen sind. Diese positive, aufbauende Kritik ist von der negativen, zersetjenden Kritik zu unterscheiden (s. S. 75 f.). Es gibt nicht wenige Leute, die unfähig sind, Lehre anzunehmen und irgend etwas, was sie nicht schon selber wissen, also irgend etwas Neues positiv anzuerkennen. Wieviel mehr muß gar eine neue Weltanschauung zunächst anf Widerstand stoßen! Difficile est quieta movere — aber necesse est quieta movere. Die Angst vor dem Neuen ist allgemein-menschlich. Alles Neue wird zunächst bezweifelt, abgelehnt, bekämpft, dann nach und nach anerkannt, falls die allgemeine Entwicklung des Denkens die Richtung einschlägt, die das Neue zeigt; und „das Echte bleibt der Nachwelt unverloren". Weit verbreitet ist aber die neurotische („übertriebene", gewucherte, hypertrophierte) Angst vor dem Neuen, die nervöse A n g s t v o r d e r E r k e n n t n i s : diese Nervösen lassen gar nicht „mit sich reden", sie lehnen von vornherein alles ab, was „über ihren Horizont hinansreicht", — ja, sie lehnen die Diagnose, daß sie grundsätzlich ablehnen, ebenfalls ab; sie sind Geister, die stets verneinen, die über ihre Vorurteile nicht hinauskommen und diese Vorurteile für ausgereifte Urteile halten; sie haben vor dem Neuen Angst wie vorm „Tode" und verhalten sich so, als ob schon die leiseste Beschäftigung mit einer neuen Lehre „lebensgefährlich wäre, — und können auch das wieder nicht einsehen. Sind sie tugleich Hunger- oder Schmerzneurotiker, hier in der Form der Streitsucht, Rechthaberei, Krittelei usw., dann setjen sie sich gegen das Neue mit einer Vehemenz, Hartnäckig vra
keit, Halsstarrigkeit, SjMfcfindigkeit nnd Spitjfintigkeit zur Wehr, als ob wiederum das übermächtige Verhängnis drohe, — und wehren »ich so auch gegen die Erkenntnis, daß ihr Verhalten eben so ist, daß sie nicht ehrlich kämpfen, sondern bloß streiten. Und legten Endes haben sie wenigstens das auszusehen, daß — nichts auszuseßefi ist! Viele Gesunde nnd Kranke werden also das hier Mitgeteilte nicht rlei). Man nimmt im allgemeinen die Beschwerden und Klagen des Nervösen nicht allzu ernst, ja nicht selten macht man Bich darüber lustig, lacht den „eingebildeten Kranken" aus, gibt ihm den „guten R a t " , er solle sich nur zusammennehmen, er müsse seine „Selbstbeherrschung" üben, mit „festem V i l l e n " gehe es schon, man „schnauzt" ihn wohl auch an — und meint gar, ihm sei geholfen, wenn er sich nun nicht mehr über seine Leiden äußert, sondern sie stumm erträgt. Nervösen Kindern suchen unverständige Leute mit Härte, Strafen und Prügeln beizukommen — als ob die Kranken für ihre Krankheit bestraft werden müßten, als ob sich jemals eine Krankheit wegprügeln lassen könnte, als ob nidit vielmehr die Nervosität bei solcher „Behandlung" nur noch schlimmer würde! Freilich, grobe körperliche Veränderungen sind nicht vorhanden, man sagt, der Nervöse sei o r g a n i s c h g e s u n d , also muß die Nervosität wohl eine Art s e e l i s c h e r B e s o n d e r h e i t sein, an der gewiß niemand stirbt, die man also, so glaubt man, auf die ' ) Viele Nervöse g e n i e r e n e i c h ( h a b e n A n g s t ! ) d a v o r , i h r e N e r v o s i t ä t z u z u g e b e n ; sie wollen lieber organisch krank sein oder behaupten, überhaupt nicht krank zu sein. Solche Kranke erhalten bei Laien und Ärzten, die keine hinreichende Einsicht haben, Bestätigungen, — die sie freilich nicht von ihrer Nervosität befreien können. Es gibt viele „ E i n g e b i l d e t - G e s u n d e " , und es ist schwer mit ihnen umgehen. Die Angst des Nervösen, seine Nervosität zuzugeben, ist ein Symptom seiner Krankheit — und nicht das leichteste. Die Befreiung aus dieser K r a m p f haltung, die Erkenntnis, krank zu sein und gesund werden zu können, ist für solche Nervöse schon ein bedeutender Schritt zur Genesung. Der Unfug aber. Nervösen „weißznmachen", sie seien gar nicht krank, und die Dummheit, zu glauben, man könne den Nervösen auf diese Weise heilen, kann gar nicht scharf genug zurückgewiesen werden. 1 Lungwitz. Erkenntnistherapie
leichte Schulter nehmen könne oder müsse, die der K r a n k e mit seinem „Willen" unterdrücken könne und solle, die dem Kranken „ausgeredet" werden könne oder müsse (Suggestion, Autosuggestion, Überredung usw.). Und die Versicherung des Nervösen, daß seine Beschwerden äußerst quälend seien, ihm das Leben verbittern, ja zerstören können, glaubt man mit einem Lädieln oder bestenfalls mit ermunternden Redensarten abtun zu können. „Neurose" — die gibt es nicht f ü r viele Leute, auch Ärzte. Die Verständnislosigkeit gegenüber dem Nervösen ist in der Tat nodi immer sehr groß. Dabei ist die Neurose längst zur Volksseuche geworden. Wer aber viel mit Nervösen zu tun hat und ihrer Persönlichkeit ein ernstes Interesse widmet, weiß, daß ihre Beschwerden keineswegs leichter zu ertragen sind als „organische" Symptome, ja daß sie o f t , namentlich bei den ausgeprägteren Formen der Neurose, sehr viel peinigender sind, zumal der Nervöse das Bewußtsein eines seltsamen Zwanges, einer allem Nadidenken trotjenden Rätselhaftigkeit, einer verhängnisvollen, aller Fluchtversuche spottenden Hartnäckigkeit, einer geradezu dämonischen Übermacht der Symptome hat, zur Krankheit selber sich also die Erfahrung gesellt, daß mit „gutem Willen", mit „Sich-zusammennehmen", mit allen Anstrengungen (die ja selber krampfig, also k r a n k h a f t sind) gar nichts gegen Bie auszurichten ist. Was ist's denn nun mit der Nervosität? Was heißt es z. B.: Ich kann nicht sdilafen; ich kann meine Gedanken nicht zur Ruhe bringen. Idi kann nicht über die Straße gehen, es sei denn mit einem Führer (der ein kleines Kind sein kann!), ja idi kann nicht einmal das Haus, das Zimmer allein verlassen und habe selbst im Zimmer noch Angst. I d i kann nidbt in die Bahn einsteigen und „komme beim Fahren (bes. auf längerer Strecke) um vor Angst", möchte mich hinausstürzen. Es kostet mich schwere Überwindung, an den Fernsprecher zu gehen, n n d manchmal gelingt es überhaupt nidit, da muß idi mich verleugnen lassen, also blamiere mich vor dem Angestellten, muß lügen, was midi wiederum p e i n i g t . . . Meine Schüchternheit mit Erröten, Gliederzittern, Schweißausbrüchen. Herzklopfen, Baudiangst usw bringt midi noch zur V e r z w e i f l u n g . . . Es ist f ü r mich eine furchtbare Qual, meine Unterschrift. besonders wenn jemand darauf wartet, leisten zu müssen, Zahlenreihen zu addieren, öffentlich aufzutreten, Hausarbeit zu madien, eine Minute still zu sitjen. jemand anzusehen oder argesehen zu werden, jemand zu begegnen, angesprochen zu werden, midi vorzustellen, eine Verabredung innezuhalten (Terminangst), in einen vollen Saal (Hörsaal, Theater, Kino) einzutreten, in der Mitte, bei Tisch, in Gesellschaft zu sitzen, mit dem Weinglase a n z u s t o ß e n . . . Im Unterricht 2
peinigt midi ein unerträgliches Jucken — und ich m u ß diesem Zwang widerstehen . . . abends im Bett kratje ich midi am ganzen Körper b l n t i g . . . Beim Schreiben krampfen sich die Finger derart zusammen, daß der Bleistift herausgedreht wird ( S c h r e i b k r a m p f ) . . . Jede offene Note bringt midi beim Violinspiel in furchtbare Erregung, die Hände zittern derart, daß ich nicht weiterspielen kann, ich muß meinen Bernf als Kapellmeister aufgeben . . . Warum kann ich midi zu keiner Arbeit entschließen, welch unheimlicher Dämon schiebt mir fortwährend andere Dinge in den Sinn? Wie kommt es bloß, daß ich trog allen Gegenwillens immerzu über ein bestimmtes Thema grübeln, einen Gedanken, eine Melodie zwanghaft fortwährend wiederholen muß, daß in der Vorlesung, beim Vortrag die Gedanken irrlichtern (»du wirst steckenbleiben" usw. — Tgl. Lampenfieber), daß ich midi und andere unablässig nach lächerlichsten Dingen fragen, an allem zweifeln, alles peinlichst und doch ohne befriedigendes Ergebnis bedenken muß, daß die Gedanken wie weggeblasen sind, wenn ich sie am nötigsten brauche (Gedächtnisschwäche)? . . . Wenn ich mich doch« entschließen könnte, mich der heimlich Geliebten zu erklären! — aber jedesmal, wenn die Gelegenheit günstig ist, packt mich die kalte Angst. Und das junge Mädchen wird älter und älter, verzehrt von Liebessehnen — und flieht vor jeder Annäherung, vor dem Alleinsein mit dem heimlich Geliebten — und weiß nun nicht, ob sie untauglich oder zu gnt f ü r Liebe und Ehe s e i . . . Was bedeuten die ewigen Kopfschmerzen, der Kopfdrndc, das „Band um den Kopf", das „Stechen auf der Schädelplatte' 4 , die Schwindel- und Ohnmachtsanfälle, die Migräne, die Beklemmungen, die Stimmschwäche, das Asthma, das Stottern, das jagende Herzklopfen, die innere Unruhe, die Rauch-, Trink-, Eßängste, der „Kloß im Halse", die Verdauungsbeschwerden (Übelsein, Magen-, Leberdrücken [auch anfallsweise wie Gallensteine auftretend], Verstopfung, Durchfälle, Blinddarmschmerzen usw.), das „Gürtelgcfühl", die sonderbaren Spannungen im Unterleib, das „Zittern und Greifen im Gedärm", das „ewige Klopfen im ganzen Körper", die Nierenkrämpfe, die Blasen« schwäche, die Krämpfe und Schmerzen an diesem oder jenem Organ, die Last der Menstruation mit ihren Beschwerden, die Unfähigkeit zum Liebesgenuß (Impotenz), die absonderlichen zwanghaften Neigungen in Liebe und Beruf? . . . Warum kann ich ohne Schlafmittel, ohne Narcotica (Morphium, Cocain, Alkohol usw.) nicht mehr leben — trägt nicht der Arzt die Schuld, der mir „damals" das Sdilafmittel verordnete, oder der Apotheker, der es mir als „ganz harmlos" freihändig v e r k a u f t e ? . . . Welcher Dämon zwingt mich, jeden rostigen Nagel, jede Brotrinde aufzuheben und mir mit solchem Zeug die Taschen vollzustopfen? . . . Welcher Teufel sitjt in mir nnd v e r f ü h r t 3
midi dazu, an sich wertlose Gegenstände zu stehlen? . . . Werden die Hände niemals rein, trotjdem ich sie nun schon zwanzigmal hintereinander gewaschcn habe (Waschzwang — eine Art Pendant zur W a s s e r s c h e u ) ? . . . Warum zehnmal zur T ü r umkehren, mich zehnmal überzeugen müssen, daß sie verschlossen ist, obwohl ich genau weiß, daß es der Fall ist? Und zehn-, zwanzigmal m u ß ich zum Briefkasten zurückgehen und nachsehen, ob mein Brief auch wirklich durch den Schlitj gefallen ist! Und das Zubettgehen: eine gute Stunde verbringe idi mit allerlei unnütjem Zeremoniell (bestimmtes genaues Hinlegen der Kleider, Anordnung der Dinge auf dem Nadittisch, Spaziergang um den Tisdi herum und dann raBches Hinwerfen der K l e i d e r . . .), a n d doch ist es unentbehrlich zum Einschlafen — die ganze Nacht liege ¡dt wach, wenn ich ein winziges Glied der K e t t e vergessen haben sollte — und darüber nun wieder muß ich grübeln und grübeln (wenn idi nun doch etwas vergessen hätte, was d a n n ? ! ) . . . Warum rege ich mich bei jeder Kleinigkeit auf, gebe spitje, zornige Antworten, bekomme Wutanfälle, auf die im nächsten Moment tiefe Reue folgt? . . . W a r u m halte idi midi Jetjt f ü r ein ganz geringfügiges Geschöpf und gleidi daranf f ü r eine überragende, geradezu göttliche Persönlichkeit — was von beiden t r i f f t zu? Warum bin idi immer allein, ausgestoßen, gemieden, mißverstanden — idi meine es dodi so gut, und dodi fliehen mich die Leute (oder ich sie?), habe ich bei allem Fleiße überall Mißerfolg, mache midi lächerlich, sehe es den Leuten an, „fühle es", daß sie sich über mich lustig madien (weshalb wohl? wohl wegen des vorstehenden Sdilüsselbeins oder der „Salznäpfdien" darüber oder der scheußlidien Stupsnase oder der entsetjlichen krummen B e i n e ) ? . . . Ach und die vielen Schmerzen: bald reißt, schneidet, bohrt es da, bald dort — da müssen ja sdilimme organische Krankheiten am Werke sein — oder welche Dämonen sonst suchen mich heim: am Magen, am Blinddarm, am Unterleib, am Herzen, am Kopf, afn Hüftnerv, an den Rippen, allen vorstehenden Knochen . . . als Neuralgie, Rheuma, „Harnsäure", Magengesdiwüre, „Dünndarmgesdiwürdien", Entzündungen? . . . Das ganze Leben ist „ein großer Schmerz", mit „allen" Dingen und Mensdien bin idi stets im Gefedit (und mit mir selber auch), stets gereizt, bissig, überempfindlich, gespannt auf der Hut, daß mir ja nichts passiere („überspannt" sagen die andern), somit allen Gefahren gewachsen — und weiß dodi nicht, ob idi somit „allem" überlegen oder umgekehrt zu schwach bin, den Ansprüchen des Daseins zu genügen. Oder sind es „seelische" Schmerzen, mit denen idi gepeinigt werde nadi der Formel „Wen Gott lieh hat, den züchtigt e r " , und die mir im Jenseits vergolten, als „Nadifolge Christi", als „Leidensweg", als „gute Werke" angerechnet werden? Oder liegt —
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als FluA für die Schuld der früheren Geschlechter? — ein unbegreiflicher, unerforschlicher Schicksalsspruch auf mir, daß ich so leide, die Welt fliehe, ein einsamer, tief trauriger, ewig verstimmter, unzufriedener, zerrissener, unglücklicher, verfolgter, rast-, ruhe- und ratloser Mensch bin, der selbst vor den kümmerlichen Freuden der Tage eich ängstlich hüten muß? . . . Die Symptomatologie der Neurose ist unerschöpflich: a l l e B e« wu ß t se in 8 e r sch ein u n gen können k r a n k h a f t inf* t r e t e n . Was ist das W e s e n d e r N e u r o s e ? Ich sagte oben, daß die Neurose (Nervosität, Neurasthenie, Hysterie) in der Hauptsache als „seelische" Krankheit angesehen wird — abgesehen von den überaus zahlreichen sog. Organneurosen, also nervösen Organerkrankungen, die der Laie und auch mancher nicht hinreichend erfahrene Arzt für „organische" Leiden zu halten geneigt ist, entsprechend der materialistischen Einstellung unserer Zeit und der weitverbreiteten Unkenntnis, daß Organe (also Lunge, Herz, Magen, Darm, Leber, Niere, Blase, Zeugungsorgane, Drüsen usw.) überhaupt nervös (d. h. funktionell) erkranken und so Symptome aufweisen können, wie wir sie auch bei „organischen Krankheiten" antreffen. Man deutet die nervösen Symptome gewöhnlich als innerseelische Vorgänge oder als Auswirkungen der S e e l e ( P s y c h e ) , o h n e i h r W e s e n z u k e n n e n ; man spricht andauernd von Seele, weiß aber nicht im geringsten, was man sich darunter vorstellen solle. Mag man das Wort „Seele" naiv oder wissenschaftlich gebrauchen, in jedem Falle ist das Wort der Name f ü r ein rätselhaftes „Wesen im Wesen", ein mystisches Materiell-Immaterielles, das im Menschen wohne und sein besonderes Leben führe, — ein X, das zwar in mannigfachem Zusammenhange mit dem Leibe stehe, aber seiner Natur nadi eben unerforschlich sei (ein Bequemlichkeitswort, das immer sich zur rechten Zeit einstellt, wo die Wissenschaft nicht mehr weiter weiß). Mit dem Worte „unerforschlich" kann man auch die peinliche Frage umgehen, wie man denn überhaupt dazu komme, gewisse Erscheinungen als seelische oder seelischen Ursprungs, als psychisch oder psychogen von den körperlichen zu unterscheiden, inwiefern eine solche Klassifizierung überhaupt berechtigt sei, inwiefern man von der angeblich unerforschlichen Seele etwas wisse, ja überhaupt ihre Existenz behaupten könne — wo sie doch unerforschlich sein solle, also doch auch nicht soweit erforschbar sein könne, daß man ihre Existenz zu behaupten berechtigt sei. Die Psychobiologie erst hat erkannt, daß es sich bei der Angabe „See Iis die Auswirkungen" usw. lediglich um eine D e u t u n g handelt, die ausgeht von der primitiven Zerlegung des Menschen in Leib und S
Seele als ein dämonisches Wesen, das irgendwo im Leibe sifce und seine Funktionen lenke und leite, und die heute noch auch in der Wissenschaft grundsätjlich gilt, mag sie auch f ü r diesen Dämon naturwissenschaftliche Bezeichnungen gewählt haben (Kräfte,Ursachen usw.). Ja, man zerdeutet „die Seele" weiterhin in ein Heer von Mächten, die sich gegenseitig befehden, besiegen, unterdrücken usw. können — und die doch n u n wieder dem „Willen" unterworfen seien, von ihm beherrscht werden müssen usw., wobei nun freilich wieder die Frage nach dem Wesen des Willens unbeantwortet bleibt oder mit dem Schlagwort „unerforschlich" umgangen wird. Von diesem Standpunkt der Unklarheit darüber, t u man denn eigentlich beschreibt, gehen anch alle Heilmethoden aus, die mit Suggestionen, Hypnose, Autosuggestionen, Ermunterungen, Willensstärkungen, Ansprüchen auf Selbstbeherrschung usw. arbeiten. Man behauptet, daB „das Bewußtsein" des Menschen gegen die „seelischen Mächte", etwa die, die aus dem „Reiche des Unbewußten" (wohin sie „ • e r d r ä n g t " seien) aufsteigen, ankämpfen könne, und daß dieser „Sieg über sich selbst" auch im Sinne der Genesung der „schönste Sieg" s e i . . . Dies, obwohl jeder einzelne Nervöse bei hinreichender Einsicht in seine Erlebnisweken immer wieder erfahren muß, daß das Wegzaubern der Symptome auch „mit dem besten Willen" nicht gelingt; man versuche doch einmal, der Migräne oder des Asthmas oder der Redeangst (Kanzel-, Kathederangst usw.) oder der Nervenschmerzen mit dem angeblichen „Willen" Herr zu werden! Suggestiv, d. h. als Ablenkung mag man zu einer vorübergehenden Erleichterung, namentlich von Schmerzen, kommen, aber das ist doch kein Willensakt und obendrein keine Heilung. Die P s y c h o l o g i e und die N e u r o l o g i e haben die Antwort auf die Frage nach dem Wasen der Neurose nicht geben können. Erst die P s y c h o b i o l o g i e , die den Menschen als ein rein biologisches Wesen darstellt, hat die Antwort gegeben; sie hat eben das LeibSeele-Problem gelöst, um dessen Lösung sich die Jahrtausende vergeblich bemüht haben. Die Neurose hat mit irgendwelcher Mystik gar nichts zu tun. Sie ist nicht die „normale Reaktion der Seele" auf eine angeblich abnorme Umgebung, und an die Dämonen, die angeblich im Leibe oder gar nun „ i n " der Seele ihr Wesen oder Unwesen treiben und in neueren Theorien zu seelischen Kräften, Libidobese^ungen, psychischen Instanzen usw. umgetauft worden sind, brauchen wir, die wir w i s s e n , nicht mehr zu g l a u b e n . Wir reden demgemäß dem Nervösen auch nicht mehr gut zu, er solle seine Konflikte, seine Beschwerden usw. nur mit festem Willen unterdrücken, er solle sich ablenken, nicht daran denken (als ob das der Kranke machen könne,
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wie „er wolle", nnd als ob es eine Heilang sei, an die — dabei doch noch weiter bestehende — Krankheit nicht jsu denken!); wir geben keinerlei Suggestionen, auch keinerlei Medikamente, kein warmes oder kaltes Wasser, keine Elektrisationen usw. als angebliche Heilmittel, an