Episteme des "Ur" bei Ernst Jünger: Paläontologie und Vorgeschichte 9783110672183, 9783110671698

Ernst Jünger's texts are permeated by a dense network of metaphors and concepts that he took from paleontology and

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German Pages 455 [456] Year 2020

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Table of contents :
Dank
Inhalt
1. Jüngers Ur zwischen Empirie und Idealismus
1.1 Werk- und ideengeschichtliche Volten des Ur. Eine Einführung vom „élan vital“ zur „neuen Theologie“
1.2 Epistemische Dimensionen des Ur
1.3 Urwelt
1.4 Die lebensphilosophische und die morphologische Wende
1.5 ‚Belemnitenschlacht‘ mit Otto Klages. Jünger, der Sammler
1.6 „Uranfänge (sehr gut)“. Der Essay Steine – Jüngers Werk und Hölders Beitrag
1.7 Vorgeschichte – Urgeschichte. Von der primitivistischen zur existenzphilosophischen Imagination des Frühmenschen
2. Urgeschichte der Natur. Regressive Anthropogenese, primitivistischer Vitalismus und ethnografischer Bericht in den frühen Kriegsschriften (1922–1925
2.1 „Die Frau […] ist […] nie aus den Tropen herausgekommen.“ – Der Frontsoldat auch nicht. Der Kampf als inneres Erlebnis
2.2 In der Rolle des Ethnografen primitiver Kultur – Feuer und Blut
3. Tiefe Oberflächen. Vom orthogenetischen Vitalismus zur idealistischen Morphologie (1929–1932)
3.1 Entwicklungsgeschichte des Lebens im Gestaltwandel (Das abenteuerliche Herz I)
3.2 „Gestalt“ der Urzeit und der Zukunft. Der Arbeiter
4. Kultur- und naturgeschichtsphilosophische Fiktionen. Auf den Marmorklippen (1939)
4.1 Wissensordnungen in symbolischer Brechung. Ein Problemaufriss
4.2 Zugänge zu Marina, Campagna und Sumpf/Hochwald
4.3 Naturgeschichte und Gestaltordnung (Jünger und Edgar Dacqué)
5. „Theorie der Vorgeschichte“ – aber welche? – Heliopolis (1949)
5.1 Diskurswandel mit Seeigel
5.2 Dichterische Besichtigung der Kosmogonie. Mit dem Bergrat unterwegs
5.3 Gelenkte Kulturgeschichte. Das Modell „Lacertosa“
5.4 Rassistische Ethnologie
6. Kern der Urgeschichte. Besuch auf Godenholm (1952)
6.1 Ur-, nicht Vorgeschichte: Heidnischer Sonnenkult und positives Wissen
6.2 Epistemologie des ‚Ur‘: Kern, nicht Spirale. Jüngers entgrenzte Universalgeschichte
6.3 Ausgemerzter Primitivismus oder: mehr elementar als primitiv
7. Im Zeichen des Antaios (1959–1971). Jünger im Gespräch mit der Erdgeschichte
7.1 Zeitordnungen in An der Zeitmauer (1959)
7.2 Literarische Strategien und autorschaftliche Rollen der erdgeschichtlichen Revolution und Gestalt-Schau
7.3 Ur zwischen disziplinärer Vorgeschichtsschreibung und entgrenzter Dichtung
7.4 Geborgte Maßstäbe. Zur Rolle der Phylogenese, Paläoanthropologie und Geologie
7.5 Mit Cuvier gegen Darwin
8. Kultur- und stammesgeschichtliche Verwerfungen im posthistoire: Eumeswil (1977)
8.1 „[F]ellachoide Versumpfung“ und Gestaltwandel der Erde
8.2 Dystopische Zoographie im Zeichen Conrad Gesners
9. Posthistoire postmodern, oder: Der letzte Gestaltwandel: Prognosen (1993)
10. Fazit. Zur Politik der Paläontologie und Vorgeschichte
10.1 Ur wie Ursprung. Randgänge der politischen Ideengeschichte
10.2 Naturgeschichte als ‚tiefergelegte‘ Gesellschaftsgeschichte, oder: wider die ontologische Kontingenz
11. Abbildungsnachweis
12. Quellen- und Literaturverzeichnis
13. Personenregister
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Episteme des "Ur" bei Ernst Jünger: Paläontologie und Vorgeschichte
 9783110672183, 9783110671698

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Norman Kasper Episteme des »Ur« bei Ernst Jünger

Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als

Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von

Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer

Herausgegeben von

Ernst Osterkamp und Christiane Witthöft

100 (334)

De Gruyter

Episteme des »Ur« bei Ernst Jünger Paläontologie und Vorgeschichte von

Norman Kasper

De Gruyter

Die Drucklegung dieses Buches wurde finanziell unterstützt vom Lehrstuhl für Neuzeitliche Schriftkultur und europäischen Wissenstransfer (Humboldt-Professur, Prof. Dr. Elisabeth Décultot), angesiedelt am Germanistischen Institut und dem Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA) der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

ISBN 978-3-11-067169-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-067218-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-067233-6 ISSN 0946-9419 Library of Congress Control Number: 2020942601 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen www.degruyter.com

Dank Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2019 von der Philosophischen Fakultät  II der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg als Habilitationsschrift angenommen und für den Druck geringfügig überarbeitet. Bedanken möchte ich mich an erster Stelle bei Prof. Dr.  Werner Nell (Halle/S.); zum einen für die Bereitschaft, sich auf die im Rahmen dieser Arbeit diskutierten Fragen vorbehaltlos einzulassen, zum anderen für die Übernahme eines Gutachtens im Rahmen des Habilitationsverfahrens. Prof. Dr. Daniel Fulda (Halle/S.) und Prof. Dr. Gregor Streim (Jena), der im Rahmen der Fertigstellung der Arbeit wichtige Hinweise gab, haben gleichfalls Gutachten beigesteuert; Prof Dr. Manfred Hettling (Halle/S.) hat als Historiker die Habilitationskommission vervollständigt. Auch ihnen möchte ich danken. Ohne eine ganze Reihe von Unterstützern wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Zu danken ist hier zunächst Dr. Norbert Hauschke, seines Zeichens wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geowissenschaften der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Kustos der Geologisch-Paläontologischen Sammlungen. Er übernahm die Bestimmung von Jüngers Fossilien, mit denen der Leser während der Lektüre des Buches (oder durch einfaches Blättern) Bekanntschaft machen wird. Dass Hauschke, wie sich schnell heraus­stellte, einst bei dem mit Ernst Jünger befreundeten Paläontologen Helmut Hölder in Münster Vorlesungen besuchte und zudem gern Jünger liest, dürfte ihm die Arbeit sicherlich angenehmer gemacht haben. An dieser Stelle bereits ein Wort zur Bezeichnungspraxis Hauschkes. Gattungs- und Speciesnamen werden in der Paläontologie grundsätzlich kursiv geschrieben. Da Hauschke keine Originale, sondern lediglich Fotografien vorlagen, konnten nicht in allen Fällen Gattungs- und Speciesnamen exakt bestimmt, lediglich Gruppen identifiziert werden. Für das geisteswissenschaftliche Interesse vorliegender Arbeit ist diese Form von Genauigkeit sicherlich ausreichend. Ob hier weiterer Klärungsbedarf besteht, muss die Diskussion um Jüngers Fossilien zeigen. Die Grundlage für Hauschkes Bestimmungen, die Fotografien der Fossilien, besorgte Elisabeth-Müller-Fotografie (Stuttgart). Besonders bei Elisabeth Mauruschat möchte ich mich für die Umsicht bedanken, mit der die Fotoarbeiten in Wilflingen durchgeführt wurden. Dass wir das Jünger-Haus

VI Dank kurzzeitig etwas umräumen durften, um bessere Lichtverhältnisse zu schaffen, wäre ohne Zustimmung und tatkräftige Unterstützung der Kustodin Irene Späth nicht möglich gewesen. Beiden ein herzliches Danke! Simone Henninger (Halle/S.) half dankenswerter Weise bei der Bildbearbeitung. Bedanken möchte ich mich zudem bei Niklas Dechert, M.A., der als Mitarbeiter des Deutschen Literaturarchivs (DLA) Marbach in Wilflingen mit der Erfassung und Katalogisierung von Jüngers Bibliothek betraut war. Anfragen beantwortete er schnell, unkompliziert und stets kompetent; auch während der Fotoarbeiten in Wilflingen lieferte er wertvolle Ratschläge. Im Deutschen Literaturarchiv (DLA) Marbach unterstützten mich zudem Jens Tremmel, Dörthe Perlenfein, Andreas Kozlik, Eva Osswald, Heidrun Fink, Janet Dilger, Chris Korner, Nicolai Riedel und Dr.  Mirko Nottscheid. Letzterer gab wichtige Hinweise bei der Entzifferung der Handschriften; die gleiche Hilfestellung lieferte in Halle/S. Dr. Jana Kittelmann – Danke dafür. Dankbar bin ich auch für jene Hinweise, die im Rahmen des Forschungskolloquiums von Prof. Dr. Werner Nell im Wintersemester 2017/18 geäußert wurden, namentlich von PD Dr. Peter Waldmann und Martin Ehrler, M.A. Dr. Marco Tamborini (Darmstadt) stellte seine Expertise in Sachen Wissenschaftsgeschichte der Paläontologie in den Dienst meines Projektes und Dr. Helge Missal übernahm das Korrekturlesen. Danke dafür. Schließlich möchte ich den de Gruyter Verlag nicht vergessen. Susanne Rade, Anja Michalski und Marcus Böhm danke ich für die Manuskriptbetreuung, den Herausgebern der Reihe „Quellen und Forschungen zur Lite­raturund Kulturgeschichte“ schlussendlich für die Aufnahme des Bandes in die Verlagsreihe. Die Nutzung der Abbildungen sowie das Zitieren aus Briefen und Manuskripten erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Urheberrechtsinhaber. In den Fällen, in denen die Urheberrechtsinhaber nicht ermittelt werden konnten, steht der Verfasser hinsichtlich des Geltendmachens möglicher Ansprüche zur Verfügung. Widmen möchte ich die Arbeit Ulrike, Frida, Henni und dem kleinen Wolfgang (der nun Peter heißt). Halle an der Saale, Oktober 2020

Norman Kasper

Inhalt 1 Jüngers Ur zwischen Empirie und Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Werk- und ideengeschichtliche Volten des Ur. Eine Einführung vom „élan vital“ zur „neuen Theologie“ . . . . . . . . . . . 1 1.2 Epistemische Dimensionen des Ur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.2.1 Lob des Ur. Lautemphase statt Sprachskepsis . . . . . . . . . . . . . 15 1.2.2 Orte des Eigentlichen – Rollen des Ur: „Urerlebnis“ und „Ursein“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1.3 Urwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 1.4 Die lebensphilosophische und die morphologische Wende . . . . . . . 48 1.4.1 Paläontologie und Vitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 1.4.2 Über die „Urpflanze“. Die Konstellation Dacqué – Hölder – Leistikow – Jünger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 1.4.3 Verwehrte Natursprünge, die ungesonderte „Eins“ und Explosives. Jüngers Rezeption der additiven Typogenese Gerhard Heberers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 1.5 ‚Belemnitenschlacht‘ mit Otto Klages. Jünger, der Sammler. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 1.6 „Uranfänge (sehr gut)“. Der Essay Steine – Jüngers Werk und Hölders Beitrag . . . . . . . . . . . . 124 1.7 Vorgeschichte – Urgeschichte. Von der primitivistischen zur existenzphilosophischen Imagination des Frühmenschen. . . . . . . . . 135

2 Urgeschichte der Natur. Regressive Anthropogenese, primitivistischer Vitalismus und ethnografischer Bericht in den frühen Kriegsschriften (1922–1925). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 2.1 „Die Frau […] ist […] nie aus den Tropen herausgekommen.“ – Der Frontsoldat auch nicht. Der Kampf als inneres Erlebnis . . . . . . . . . 147 2.1.1 „[U]raltes Protozoon“, oder: In der Ursuppe des Vitalismus . . 147 2.1.2 Cro-Magnon-Kämpfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 2.1.3 Urmenschen unter sich. Von der „geistigen Raumscheu“ zum Todesgrauen . . . . . . . . . 168 2.2 In der Rolle des Ethnografen primitiver Kultur – Feuer und Blut . . . . 171

VIII Inhalt 3 Tiefe Oberflächen. Vom orthogenetischen Vitalismus zur idealistischen Morphologie (1929–1932). . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 3.1 Entwicklungsgeschichte des Lebens im Gestaltwandel (Das abenteuerliche Herz I). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 3.1.1 Die poietische Kraft der Regression: „niedere Vorform und Keimgeschichte […] einer höheren Existenz“ . . . . . . . . . . . . . 177 3.1.2 Entrückungen und Ausschweifungen des Lebens (orthogenetische Phantasien) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 3.2 „Gestalt“ der Urzeit und der Zukunft. Der Arbeiter. . . . . . . . . . . . . . 193 3.2.1 Die „Gestalt“ zwischen neuer Morphologie (Zeitsignaturenlehre) und paläontologischer Ethologie . . . . . . 193 3.2.2 Elementar oder primitiv? Zeitlose Schau der „Gestalt“, Sichtbarkeit des „Typus“ in der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . 202 3.2.3 Kultus der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210

4 Kultur- und naturgeschichtsphilosophische Fiktionen. Auf den Marmorklippen (1939) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 4.1 Wissensordnungen in symbolischer Brechung. Ein Problemaufriss . 213 4.2 Zugänge zu Marina, Campagna und Sumpf/Hochwald . . . . . . . . . . 215 4.2.1 Erzählte Welt – erinnerte Welt – modellierte Welt . . . . . . . . . . 215 4.2.2 Naturreligiöse Selbstbeschreibung im Schutze christlicher Kulturlandschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 4.2.3 Pagane Religiosität zwischen Norm und Geschichtlichkeit (Campagna). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 4.2.4 Vorgeschichtsforschung zwischen ‚nordischem‘ und frühem Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 4.2.5 „‚Teutoburger Wald‘“/Sumpf. Historiographische Fiktion und hybride Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 4.3 Naturgeschichte und Gestaltordnung (Jünger und Edgar Dacqué) . . 233 4.3.1 Jünger und die Corona: Mutmaßungen zum Plot der Marmorklippen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 4.3.2 Jenseits des Vitalismus: Wissenschaftsfiktion und platonische Klarheit („Linnaeus“ vs. Darwin) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 4.3.3 „Die Schlangenkönigin“. Chthonische Zoologie: Sage und Naturgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255

5 „Theorie der Vorgeschichte“ – aber welche? – Heliopolis (1949) . . . 265 5.1 Diskurswandel mit Seeigel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 5.2 Dichterische Besichtigung der Kosmogonie. Mit dem Bergrat unterwegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 5.3 Gelenkte Kulturgeschichte. Das Modell „Lacertosa“ . . . . . . . . . . . . 285 5.4 Rassistische Ethnologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

Inhalt



IX

6 Kern der Urgeschichte. Besuch auf Godenholm (1952). . . . . . . . . . . . . 293 6.1 Ur-, nicht Vorgeschichte: Heidnischer Sonnenkult und positives Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 6.2 Epistemologie des ‚Ur‘: Kern, nicht Spirale. Jüngers entgrenzte Universalgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 6.3 Ausgemerzter Primitivismus oder: mehr elementar als primitiv . . . . 308

7 Im Zeichen des Antaios (1959–1971). Jünger im Gespräch mit der Erdgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 7.1 Zeitordnungen in An der Zeitmauer (1959) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313

7.2 7.3 7.4 7.5

7.1.1 Kritik humaner Einteilungen (Herodot, Hegel, Spengler vs. Jaspers, Jünger) . . . . . . . . . . . . 313 7.1.2 Siderische Einteilungen: Urgrund statt Weltgeist . . . . . . . . . . . 319 Literarische Strategien und autorschaftliche Rollen der erdgeschichtlichen Revolution und Gestalt-Schau. . . . . . . . . . . . 322 Ur zwischen disziplinärer Vorgeschichtsschreibung und entgrenzter Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Geborgte Maßstäbe. Zur Rolle der Phylogenese, Paläoanthropologie und Geologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 Mit Cuvier gegen Darwin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354

8 Kultur- und stammesgeschichtliche Verwerfungen im posthistoire: Eumeswil (1977) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 8.1 „[F]ellachoide Versumpfung“ und Gestaltwandel der Erde . . . . . . . 361 8.2 Dystopische Zoographie im Zeichen Conrad Gesners . . . . . . . . . . . 365 9 Posthistoire postmodern, oder: Der letzte Gestaltwandel: Prognosen (1993). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 10 Fazit. Zur Politik der Paläontologie und Vorgeschichte . . . . . . . . . . 385 10.1 Ur wie Ursprung. Randgänge der politischen Ideengeschichte . . . . 385 10.2 Naturgeschichte als ‚tiefergelegte‘ Gesellschaftsgeschichte, oder: wider die ontologische Kontingenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392

11 Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 12 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 13 Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443

1  Jüngers Ur zwischen Empirie und Idealismus 1.1  Werk- und ideengeschichtliche Volten des Ur. Eine Einführung vom „élan vital“ zur „neuen Theologie“ Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist Ernst Jüngers (1895–1998) Verhältnis zum vorgeschichtlichen und paläontologischen Denken seiner Zeit. Insofern sich die Vorgeschichtsforschung mit der sog. Urgeschichte und die Paläontologie mit der sog. Urwelt befassen, lassen sich beide Bereiche unter die Auspizien einer Vorsilbe stellen, die eine der schillerndsten Denkfiguren des 20. Jahrhunderts markiert: ‚Ur‘. „Abseits ganzheitlicher Geschlossenheit oder fixierbarer Gestalt sind Denkfiguren  […] strukturierte Vorstellungszusammenhänge, konkrete Konstellierungen im Prozess des Denkens, die in ihren Realisierungsformen  – Begriffen, Bildern, Metaphern, Narrationen – plastisch werden und Evidenz gewinnen.“1 In diesem Sinne changieren Komposita mit ‚Ur‘ auf der einen Seite zwischen der Bezeichnung eines zeitlich Frühen, chronologisch Ersten, die Begriffscharakter anstrebt, indem sie terminologisch fixiert, und, auf der anderen Seite, der Imagination eines Zeitlos-Grundlegenden, Wesentlichen, das sich begrifflich nicht einholen, sondern lediglich bildlich ansprechen lässt.2 Damit verbunden sind die unterschiedlichen argumentativen Rollen des ‚Ur‘: Lässt es sich in der deskriptiven Ordnung zeitlich-konsekutiver Abläufe 1

2

Jutta Müller-Tamm: Die Denkfigur als wissensgeschichtliche Kategorie, in: Nicola Gess/Sandra Janßen (Hrsg.): Wissens-Ordnungen. Zu einer historischen Epistemologie der Lite­ratur, Berlin u. New York 2014, S. 100–121, hier: S. 102. Vgl. auch Erich Kleinschmidt: Denkfiguren in Diskursräumen. Zur figuralen Semiotik intellektueller Wissensorganisation, in: Pál Kelemen/Ernö Kulcsár Szabó/Ábel Tamás (Hrsg.): Kulturtechnik Philologie. Zur Theorie des Umgangs mit Texten, Heidelberg 2011, S. 367–386; George Lakoff: A Figure of Thought, in: Metaphor and Symbolic Activity I/3 (1986), S. 215–225. Die Aufteilung der Denkfigur ‚Ur‘ in begriffliche und bildliche Valenzen folgt strukturell den beiden Dimensionen der Vorsilbe wie sie Michael Ott und Tobias Döring für maßgeblich erachten: „Das Präfix Ur-, das eine Vorstellung vom Ursprünglichen, Ersten, Reinen und Wahren semantisiert, signalisiert zugleich die Hoffnung, damit dem Eigentlichen, dem Wesen einer Sache auf die Spur zu kommen.“ Michael Ott/Tobias Döring: Urworte. Zur Geschichte und Funktion erstbegründender Begriffe, in: Dies. (Hrsg.): Urworte. Zur Geschichte und Funktion erstbegründender Begriffe, München 2012, S. 11–19, hier: S. 12; vgl. auch Stefan Willer: Ur, in: Falko Schmieder/Georg Toepfer (Hrsg.): Wörter aus der Fremde. Begriffsgeschichte als Übersetzungsgeschichte, Berlin 2017, S. 250–253.

2

1  Jüngers Ur zwischen Empirie und Idealismus

eher dem hypothetischen Wissen oder – im Falle einer fehlenden oder nur rudimentären empirischen Bestätigung – dem Nicht-Wissen zuordnen, so kreist es in der kausalen Ordnung, die ein über seine konkret nachweisbaren Anfänge hinaus Prägekräftiges formuliert, um eine Idee. Im ersten Fall markiert das ‚Ur‘ die notwendige, aber keineswegs zentrale Annahme eines ‚Zuvor‘; im zweiten Fall bezeichnet es hingegen auch das ‚Danach‘ – und somit, über ein Erstes hinaus, zudem ein maßgeblich Determinierendes. Will man die Bedeutung näher bestimmen, die vorgeschichtlichen und paläontologischen Themen im Werk Jüngers zukommt, so müssen zunächst  – jenseits bloßer motivischer Belege  – die ideengeschichtlichen Grundlinien konturiert werden, innerhalb derer diese Themen sich bisher ansprechen ließen (auch wenn sie bisher, wie wir gleich sehen werden, tatsächlich kaum angesprochen wurden). Eine gute Deutungsorientierung liefert hier der Jünger-Leser und Philosoph Hans Blumenberg (1920–1996). Bis in die frühen 1950er-Jahre kann Blumenberg ohne Zweifel als Parteigänger Jüngers gelten. In dieser Eigenschaft begleitet er wohlwollend sowohl dessen u.  a. im Gespräch mit Martin Heidegger (1889–1976) konturierte Überwindungsversuche des Nihilismus, an denen sich Blumenberg gleichfalls beteiligt,3 als auch die in den Jahren nach 1945 kontrovers geführte Diskussion um Jüngers ‚Wandlung‘. Hinsichtlich der ‚Wandlung‘ ging es um die v.  a. von Jünger-Anhängern wie Karl Otto Paetel (1906–1975) propagierte Entwicklung des Schriftstellers vom soldatischen Nationalisten zum kunstsinnigen Europäer und hellsichtigen ‚Seher‘.4 An diesen Diskussionsstrang knüpft Blumenberg mit seinem Vortrag Ernst Jünger als geistige Gestalt (1949) an,5 wobei er gegenüber einer Betonung der politischen Dimension dieser ‚Wandlung‘ stärker den erkenntnistheoretischen Veränderungen in der Argumentation Jüngers nachgehen möchte: „Die Spanne zwischen dem Abenteurer des élan vital, dem glühenden Krieger,  […] und dem neuen Theologen muß als wirklich durchschritten aufgewiesen werden.“6 Stellt Blumenberg die frühen Kriegsschriften Jüngers – In Stahlgewittern (1920), Der Kampf als inneres Erlebnis (1922), Feuer und Blut (1925) und Das Wäldchen 125 (1925) – unter die Vorzeichen einer lebensphilosophischen Fundierung, so wird beginnend 3 4

5 6

Vgl. Kurt Flasch: Hans Blumenberg. Philosoph in Deutschland: Die Jahre 1945 bis 1966, Frankfurt/M. 2017, S. 240  f. Karl Otto Paetel: Ernst Jünger. Die Wandlung eines deutschen Dichters und Patrioten, New York 1946. Vgl. zur Wandlungs-Diskussion zwischen 1945 und 1950: Norbert Dietka: Ernst Jünger nach 1945. Das Jünger-Bild der bundesdeutschen Kritik (1945 bis 1985), Frankfurt/M. u.  a. 1987, S. 58–95. Vgl. zu Blumenbergs Jünger-Vortrag Flasch, Hans Blumenberg, S. 245–250. Hans Blumenberg: Ernst Jünger als geistige Gestalt [1949], in: Ders.: Der Mann vom Mond. Über Ernst Jünger, Frankfurt/M. 2007, S. 9–21, hier: S. 10 (Hervorhebungen, wo nicht anders ausgewiesen, jeweils im Original).



1.1  Werk- und ideengeschichtliche Volten des Ur

3

mit den Strahlungen (1949) ein theologischer Subtext als maßgeblich erachtet: „Wenn Leben und Sinn nicht zur Kongruenz zu bringen sind, gibt es zwei Möglichkeiten: entweder ist das Leben überhaupt sinnlos (Nihilismus) oder sein Sinn liegt über die Realität hinaus (Transzendenz, neue Theologie).“7 Das Überschreiten der lebensimmanenten Perspektive koppelt Blumenberg nicht, wie man vermuten könnte, an Jüngers in den Strahlungen dokumentierte Bibellektüre, sondern an dessen optische Hermeneutik, die im Sichtbaren das Unsichtbare ausmacht: „Jüngers Sehen sublimiert seine realistische Schärfe dahin, daß es überall an den Phänomenen das Archetypische, den schöpferischen Urgedanken wahrzunehmen sucht.“8 Der angehende Metaphorologe spricht in diesem Zusammenhang auch von der „platonisierende[n] Zuversicht“, die seiner, Jüngers, „Transzendenzerfahrung, der neuen Theologie“9, zugrunde liege. Entscheidend ist dabei, dass Transzendenz nicht auf dem Weg der herkömmlichen philosophischen „Spekulation“10 erlangt werden könne. Dem empirisch Konkreten kommt im Rahmen dieser Wendung gegen die erfahrungsskeptische Philosophie eine paradoxe Stellung zu: Erst die Rückbindung an die konkrete, beschreibbare und dann freilich auch tatsächlich beschriebene Erfahrung garantiere für die Überschreitung des zeitlich und räumlich Konkreten zum „Archetypische[n]“. „Vielleicht muß in einem Zeitalter, dessen Größe wie Gefährdung auf Erfahrungserkenntnis zurückgehen, der Metaphysiker im Gewande des Empirikers auftreten.“11 Der Metaphysiker im Gewand des Empirikers – eine Rolle, die Jünger spätestens seit dem Arbeiter (1932) beherrscht und von der er sich im Grunde zeitlebens – bis zum späten Gestaltwandel (1993) – nicht getrennt hat.12 Blumenbergs Deutungsschema, das Jüngers Metaphysik als erfahrungsimmanente, sinnliche Überschreitung des Konkreten zum Ursprünglich-Allgemeinen fasst, lässt sich  – in einen größeren philosophiegeschichtlichen 7 8 9 10 11

12

Ebd., S. 11. Ebd., S. 14. Ebd., S. 19. Hans Blumenberg: Ernst Jünger – ein Fazit [1955], in: Ders., Der Mann vom Mond, S. 24–27, hier: S. 24. Ebd. Wenn im Folgenden von Jüngers Empirismus die Rede ist, so in dieser Fassung von Blumenberg. Die Rede vom „Gewande des Empirikers“ knüpft zwar sichtlich an die Bedeutung von ‚Empirie‘ an, die sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in der philosophiegeschichtlich konturierten Betrachtung für diejenigen erkenntnistheoretischen Bemühungen eingebürgert hat, die Vernunfterkenntnisse aus der Erfahrung abzuleiten suchen; da es sich jedoch in Blumenbergs Beschreibung um das „Gewande“ eines Metaphysikers handelt, bleibt die hier in Rede stehende Erfahrung weder an die Vernunft gebunden, noch steht sie unter dem Verdacht, lediglich sinnliche Eindrücke zu liefern. Vgl. Ingo Stöckmann: Zäsuren und Kontinuitäten des Gesamtwerks, in: Matthias Schöning (Hrsg.): Ernst Jünger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2014, S. 30–39, hier: S. 33–35.

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1  Jüngers Ur zwischen Empirie und Idealismus

Kontext gestellt – als spätes Glied in die Reihe der mit Arthur Schopenhauer (1788–1860) beginnenden „Inversion der Metaphysik“13 einordnen, und dies in zweierlei Hinsicht. Dies betrifft zum einen die Lösung der Metaphysik von einer Verpflichtung der Transzendenz auf ein Jenseits; stattdessen muss jede Überschreitung sich auf die erfahrbare ‚Welt‘, die ‚Natur‘, konzentrieren. In dem Maße nun, wie in der planetarischen Einheit von anorganischorganischem Reich diese ‚Welt‘ als Triebkraft, Schopenhauers ‚Wille‘, Gestalt gewinnt, wird zum anderen jener weite Radius markiert, der einer am ‚Faktischen‘ orientierten, durchaus positivistisch ausgerichteten Empirie und damit gleichzeitig der Immanenz der Erfahrung offensteht. Entweder lässt sich eine metaphysische Dimension in dieser Immanenz aufweisen – etwa in der Betrachtung von Steinen, Pflanzen, Tieren und Menschen –, oder eben überhaupt nicht, was dann, in den späten 1940er-Jahren, zweifelsohne auf die Diagnose ‚Nihilismus‘ hinauslaufen würde. Und je größer die Entfernung von Schopenhauer und der Schopenhauer-Renaissance um 1900 ist, desto nachdrücklicher muss man wohl feststellen, dass die immanente Perspektive in Schwierigkeiten gerät. Jünger liefert mit seiner „[f]undamentalen Optik“14 nun gleichsam das letzte Aufgebot einer Empirisierung des Metaphysischen; den letzten Versuch mithin, das „‚Erleben‘“ zum „Metaphysik-Ersatz“ zu stilisieren: „Der ‚Augenblick‘, in dem mit geschärften Sinnen die Wirklichkeit wahrgenommen wird,“ soll sich zur „‚Ekstase‘“ wandeln, „die das in einem diesseitigen Sinne Gültige dieser Wirklichkeit erfahren läßt.“ Oder anders gesagt: „Kraft des Erlebnisses können metaphysische Gehalte sich […] als ‚wahr‘, ja, durch die Wirklichkeit beglaubigt, ausweisen.“15 Dieser Intention verpflichtet, gelten Jüngers „Betrachtungen […] dem reichen und vielfältigen Stoff der Welt“.16 Auch wenn man zugesteht, dass eine solchermaßen ganz auf das Faktisch-Diesseitige konzentrierte Form der Weltaneignung das „theoretische Anschauungspathos der philosophischen Ästhetik“17 meidet, so entfaltet doch die damit prätendierte Schau des Archetypischen, Entzeitlichten, Ursprünglichen ein Pathos ganz anderer, eigener Art. Spötter könnten meinen, dass diesem Pathos eine nicht unwichtige argumentative Funktionsstelle zukommt: Es werde von der ‚fundamentalen Optik‘ als eine Art rhetorischer Deckmantel benötigt, um die von ihr innerhalb der Er-

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Wolfgang Riedel: „Homo Natura“. Literarische Anthropologie um 1900, Berlin u. New York 1996, S. 42, vgl. zum Folgenden S. 42–53. 14 Gottfried Boehm: Fundamentale Optik, in: Günter Figal/Heimo Schwilk (Hrsg.): Magie der Heiterkeit. Ernst Jünger zum Hundertsten, Stuttgart 1995, S. 9–24, hier: S. 10. 15 Monika Fick: Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende, Tübingen 1993, S. 8, vorhergehende Zitate gleichfalls. 16 Boehm, Fundamentale Optik, S. 10. 17 Ebd.



1.1  Werk- und ideengeschichtliche Volten des Ur

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scheinungsoberfläche des ‚Faktischen‘ aufgewiesene Tiefendimension nicht als unzeitgemäße und damit hohle Metaphysik erscheinen zu lassen. Wie dem auch sei: Als werkgeschichtliches Integrationskonzept einer derartigen, von Jünger häufig wissenschaftsskeptisch konturierten Ursprungsbetrachtung hat man jedenfalls den Mythos identifiziert.18 Dass jenen Spuren in seinen Schriften und Briefen bisher kaum nachgegangen wurde, die dezidiert auf vorgeschichtliche und paläontologische Themen und damit zugleich immer auch auf die Frage nach geschichtlichen und biologischen Ursprüngen verweisen, überrascht etwas, wird doch hier die empirische, vom wissenschaftlichen Interesse gestützte Seite metaphysischer Überschreitungssehnsüchte greifbar; und spätestens seit Blumenbergs Jünger-Lektüre ist klar: ohne Empirie keine Metaphysik – und damit auch kein Aufschluss über den „schöpferischen Urgedanken“. Das Primat des Mythos bei den Bemühungen um das ‚Ur‘ Jüngers zeitigte also bisher eine gewisse Blindheit gegenüber dem zeitgenössischen Wissen der biologischen Stammesgeschichtsforschung, der Paläontologie und der Vorgeschichtsschreibung. Dieses Wissen ist einerseits, besonders in seinen esoterischen Filiationen, keineswegs so weit vom Mythos entfernt, wie es die gängige Polarisierung von Mythos und Logos und deren Transposition in vergleichbare Dualismen (Irrationalität – Rationalität, Glaube – Wissenschaft) glauben macht.19 Es ist jedoch andererseits mit mythischen Deutungsmustern nicht einfach deckungsgleich, denn im Gegensatz zu ‚klassischen‘ Schöpfungserzählungen, die etwa von der Schaffung der Welt in Götterkämpfen berichten, integriert es empirische Beobachtungen und nachweisbare (paläontologische und vorgeschichtliche) Funde in seine Transzendenzvorstellungen. Zwar behauptet die Logosförmigkeit der mythischen, folglich: mythologischen Erzählung eine besondere Form der Erkenntnis für sich, allerdings ist diese weder darauf angewiesen, überprüfbar zu sein, noch muss sie ihre Geltung im Rekurs auf empirische Episteme konstituieren. Die Fik18 Vgl. z.  B. Hans-Peter Schwarz: Der konservative Anarchist. Politik und Zeitkritik Ernst Jüngers, Freiburg/Br. 1962, S. 214; Gisbert Kranz: Ernst Jüngers symbolische Weltschau, Düsseldorf 1968, S. 56–58, S. 213–220; Lutz Hagestedt (Hrsg.): Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, Berlin u. New York 2004. 19 Vgl. zu den Entstehungsbedingungen modernen esoterischen Wissens: Monika NeugebauerWölk/Renko Geffarth/Markus Meumann (Hrsg.): Aufklärung und Esoterik: Wege in die Moderne, Berlin u. New York 2013; Robert Matthias Erdbeer: Die Signatur des Kosmos. Epistemische Poetik und die Genealogie der esoterischen Moderne, Berlin u. New York 2010. Vgl. zur Herausbildung des Mythos-Logos-Gegensatzes im alten Griechenland Wilhelm Nestle: Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates, Stuttgart 1940. Vgl. grundsätzlich zu den Dimensionen des Mythos-Begriffes Axel Horstmann: Der Mythos-Begriff vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, in: Archiv für Begriffsgeschichte 23 (1979), S. 7–54, S. 197–245.

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tionalität des Mythologischen ist dafür wohl der beste Beweis – wer hier nach empirischen Belegen oder nach der Historizität der präsentierten Erkenntnis fragt, hat die Funktionsweise mythischer Rede nicht verstanden. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Fluchtpunkt der Argumentation Jüngers ist zweifelsohne ein mythisches Weltverständnis: „Die Geschichte empfängt Sinn und Wert erst vom Übergeschichtlichen“; die „geschichtliche Existenz“ ist mithin „nur ein defizienter Modus ewigen Seins“20. Dennoch macht es einen großen – zeitlichen und analytischen – Unterschied, ob man sich von der Geschichte des mythologischen Denkens her, etwa von Schelling oder Joseph Görres kommend, Jünger nähert, oder ob man von jenen Aspekten ausgeht, die ihren diskursiven Platz in der Wissensgeschichte des 20. Jahrhunderts haben.21 Wir wollen im Folgenden den zweiten Weg gehen. Nun kann man grundsätzlich die Frage stellen, ob Jünger als „Abenteurer des élan vital“ im Sinne des – auch die Historiographie der geschichtlichen Vorzeit und die Frage nach der Anthropogenese prägenden – zeitgenössischen Primitivismus porträtiert werden muss, um seine frühen Kriegsschriften besser zu verstehen. Gleiches lässt sich mit (gleichem) Recht hinsichtlich des Platonikers Jünger, d.  h. mit Blick auf seine Entwicklung von etwa 1930 bis in die 1990er-Jahre hinein fragen: Was ist damit gewonnen, wenn man all das, wie Andreas Huyssen mit Blick auf den späten Gestaltwandel formuliert, dessen Anfang er in der Totalen Mobilmachung (1930) ausmacht, „that is […] couched in a jumble of mythic images about nature and technology, Titans and Gods, that appeals to a certain kind of contemporary Germanic mindset which thrives on a frenzy of ecological apocalypse and immerses itself in a melancholy rehash of romantic nature philosophy and depraved philoso-

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Schwarz, Der konservative Anarchist, S. 211. Differenzierter betrachtet, verweist Schwarz auf folgende Mythos-Dimensionen bei Jünger: „1. Mythos bedeutet für ihn die überzeitliche, ewige Grundkonstellation geschichtlichen Seins. 2. Mythos ist auch ein übergeschichtliches Wirkprinzip: die Mythen strahlen in die Geschichte hinein. 3. Mythos wird besonders sichtbar in der Vor- und Urgeschichte; und schließlich bezeichnet das Wort 4. die Gestalt, in der jene ‚höchsten‘ Wirklichkeiten im dichterischen Bild oder im Traum auftreten […]. “ Ebd., S. 214. Der Unterscheidung in mythologische und wissensgeschichtlich nachweisbare Determinanten einer Bestimmung des Geschichtlichen kommt im Rahmen dieser Arbeit nicht nur ein heuristischer Wert zu. Diese Differenz wendet sich auch gegen eine allzu bruchlose argumentative Verbindung von Mythologie und Wissen (Biologie) wie sie sich etwa bei Wojciech Kunicki findet; eine Verbindung, die die unterschiedlichen diskursiven Felder, denen mythologische und wissenschaftliche Faktoren entstammen, nur unzureichend ansprechen kann. Jünger, so Kunicki, gehe es „um solch eine Schau, die das Mythologische und das Biologische als Rahmen und Ergänzung des Geschichtsverlaufes voraussetze.“ Wojciech Kunicki: Das Geschichtsbild Ernst Jüngers, in: Tobias Wimbauer (Hrsg.): Anarch im Widerspruch. Neue Beiträge zu Werk und Leben der Brüder Ernst und Friedrich Jünger, Hagen-Berchum, 2., veränd. Aufl., 2010, S. 102–118, hier: S. 115.



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phies of history“22 – wenn man also all das auf jene diskursiven Kontexte prüft, die nicht primär dem Mythos zugehören? Zunächst einmal, so kann man antworten, hat man es in diesem Fall mit Wissen zu tun, genauer gesagt: mit einer historischen Formation des Wissens, die ihrerseits in einen rekonstruierbaren epistemologischen Rahmen eingebunden ist. Daran anknüpfend stellt sich die grundsätzliche Frage nach der wissensgeschichtlichen Kontextualisierbarkeit von Jüngers Werk, der eine Diskussion des Verhältnisses von Literatur und Wissen vorzuschalten ist. Konturiert man Wissen in diesem Sinne als historisch variable Größe, an der unterschiedliche Faktoren, etwa disziplinär-institutionelle, aber auch narrative, mitwirken, so ist klar, dass es nicht darum gehen kann, eine quasi überzeitliche Wahrheit zum Orientierungspunkt dessen zu machen, was sich als ‚Wissen‘ ansprechen lässt.23 Für einige Wissens-Forscher versteht sich dies sicherlich von selbst. Eine Fokussierung des Wissens im Rahmen der hier geforderten Rekonstruktion historischer Epistemologien ist jedoch innerhalb der Jünger-Philologie keine Selbstverständlichkeit. Verwiesen sei an dieser Stelle lediglich kurz auf ein Beispiel, das auch uns beschäftigen wird: Jüngers Verhältnis zur Aktualisierung von Goethes Morphologie in den 1920er- bis 1960er-Jahren. Statt auf eine Kontextualisierung seines Denkens im breiten Strom der unterschiedlichen Konzepte, die sich der ‚Urpflanze‘ widmen, stößt man häufig auf die Betonung der originären Leistung Jüngers, der quasi im Dialog mit Goethe selbst gesehen wird.24 Das Ergebnis einer solchen 22 23

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Andreas Huyssen: Fortifying the Heart  – Totally Ernst Jünger’s Armored Texts, in: New German Critique 59 (1993), S. 3–23, hier: S. 3. Große Teile der in den letzten Jahren innerhalb der (germanistischen) Literaturwissenschaft geführten Diskussion zum Wissen-Literatur-Problem gehen auf unterschiedliche Bestimmungen des Wissensbegriffes zurück. Die Gretchenfrage ist hierbei: Wie historisch bedingt und damit variabel darf der dem untersuchten Wissen zugrunde gelegte Wahrheitsbegriff modelliert werden? Während Roland Borgards Tilman Köppe vorhält, „die Wahrheit“ ahistorisch zu hypostasieren, von nachweisbaren geschichtlichen Wandlungsprozessen loszulösen und damit im Ergebnis einem „stabile[n] a priorische[n] Wissen“ das Wort zu reden, kritisiert Daniel Fulda  – der Sache nach vergleichbar  – an Köppe und Gideon Stiening den Versuch, den „Wissensbegriff durch Rückgriff auf die philosophische Tradition und deren Explikation von Wissen als ‚begründete, wahre Meinung‘ einzugrenzen“. – Tilmann Köppe: Vom Wissen in Literatur, in: Zeitschrift für Germanistik N.F. XVII (2007), S. 398–410; Roland Borgards: Wissen und Literatur. Eine Replik auf Tilmann Köppe, in: Ebd., S. 425–427, Zitate: S. 427; Gideon Stiening: Am „Ungrund“ oder: Was sind und zu welchem Ende studiert man ‚Poetologien des Wissens‘, in: KulturPoetik 7 (2007), S. 234–248; Daniel Fulda: Poetologie des Wissens. Probleme und Chancen am Beispiel des historischen Wissens und seiner Formen, Streitgespräch „Poetologie des Wissens? Pro und Contra“, Göttinger Arbeitsstelle für Theorie der Literatur, 20.  Juni 2008 (http://www.simonewinko.de/fulda_text.htm), aufgerufen am 17.  07. 2018. Vgl. auch Nicolas Pethes: Literatur- und Wissenschaftsgeschichte. Ein Forschungsbericht, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 28 (2003), S. 181–231. Vgl. zu einer solchen Lesart z.  B. Günter Figal: Gestalt und Gestaltwandel – Ernst Jünger und Goethe, in: Ders./Georg Knapp (Hrsg.): Natur: Jünger-Studien, Bd. 5, Tübingen 2011,

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Engführung liegt auf der Hand: Die Betrachtung neigt einerseits zur Hagiographie, die das autorschaftliche Selbstkonzept Jüngers im Akt der Analyse reproduziert und damit bestätigt: Goethe und Jünger als ebenbürtige Brüder im Geiste. Andererseits erscheint die historische Bedingtheit von Jüngers Wissensordnung aufgehoben; deren ‚Wahrheit‘ wird also nicht als Effekt und damit relativ zum Wissen des Diskurses, dem sie sich verdankt, analysiert, sondern als überzeitliche philosophische ‚Wahrheit‘ oder ‚Seinsgewissheit‘, zumindest als kulturphysiognomisch relevante Diagnose gelesen. Doch wie genau lässt sich nun das Verhältnis von (vorgeschichtlichem und paläontologischem) Wissen und Literatur mit Blick auf Jünger gestalten, ohne derartige Fehler zu wiederholen, aber auch ohne, um bei unserem Beispiel zu bleiben, die ‚Urpflanze‘ einfach der mythischen Rede zuzuschlagen? Eine Antwort auf diese Frage ist aus drei Gründen schwierig. Zum einen greift bei Jünger die in heuristischer Absicht grundsätzlich recht fruchtbringend einzusetzende Unterteilung in faktisches Wissen und fiktionale/ artifizielle Literatur nicht.25 Mit Blick auf Gottfried Benn (1886–1956) etwa bereitet es keine Schwierigkeiten, die absolut-experimentelle wie auch die essayistische Prosa von den wissenschaftlichen Bezugsdiskursen (Ethnologie, Paläontologie, Physik etc.) zu trennen, deren Fäden sie  – semantisch, lexikalisch, rhetorisch – zu einer eigenen Ausdruckskunst weiterverarbeitet: Dass hier unterschiedliche Aussageweisen vorliegen, ist klar. Jüngers literarische Aussageweisen wie Essays, Briefe und (Reise-)Beschreibungen, aber auch Romane und Erzählungen lassen sich hingegen nicht dahingehend vom wissenschaftlichen Bezugsdiskurs unterscheiden, dass sie eine völlig andere Form wählen würden, etwa indem sie, wie Benn, in der lyristischen, expressiven oder assoziativ-lexikalischen Entgrenzung narrative Kohärenz mit poetologischem Kalkül subvertierten. Damit ist auch der für Benn zentrale Anspruch auf autonomieästhetische Geltung suspendiert. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Jüngers Texte in einer heteronomieästhetischen Bestimmung, bspw. der Propagierung wissenschaftlichen Wissens, aufgehen; festgelegt wird dadurch gleichwohl, dass sie Anspruch auf ein bestimmtes, ex-

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S. 8–20; Wonseok Chung: Ernst Jünger und Goethe. Eine Untersuchung zu ihrer ästhetischen und literarischen Verwandtschaft, Frankfurt/M. u.  a. 2008, S. 86–92, S. 247–275; Nils Lundberg: „Hier aber treten die Ordnungen hervor“. Gestaltästhetische Paradigmen in Ernst Jüngers Zukunftsromanen, Heidelberg 2016, S. 51–63; Sandro Gorgone: Ernst Jünger und die metaphysische Kategorie der Totalität, in: Andrea Benedetti/Lutz Hagestedt (Hrsg.): Totalität als Faszination. Systematisierung des Heterogenen im Werk Ernst Jüngers, Berlin u. New York 2018, S. 153–162, hier: S. 159–161. Vgl. zur Kritik an der Unterscheidbarkeit von Wissen und Literatur Joseph Vogl: Robuste und idiosynkratische Theorie, in: KulturPoetik 7 (2007), S. 249–258, hier: S. 254; Borgards, Wissen und Literatur, S. 427; Michael Gamper: Erzählen, nicht lehren! Narration und Wissensgeschichte, in: Gess/Janßen (Hrsg.), Wissens-Ordnungen, S. 71–98.



1.1  Werk- und ideengeschichtliche Volten des Ur

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klusives Wissen machen, ein Wissen, dass zwar nicht im Modus ästhetischer Formbewältigung zu haben ist, nichtsdestotrotz die Bildlichkeit der Sprache gegenüber einer rein diskursiven Logik verteidigt. Man kann in der mangelnden autonomieästhetischen Radikalität Jüngers durchaus einen Minuspunkt sehen; bereits Max Bense bezeichnete vom Standpunkt avantgardistischer Formalisierungsbemühungen aus betrachtet Jünger gegenüber Benn als „sekundär“26. Entscheidend ist: Jüngers Wissen – ob nun in der essayistischen, diaristischen oder fiktionalen Prosa  – lässt sich mit Blumenberg ganz allgemein als metaphysisch-empirische Synthese ansprechen. Wie – und wenn ja, auf welche Art – sich die für seine ‚Literatur‘ charakteristische ErkenntnisSynthese zum außerliterarischen Wissen verhält, hängt in entscheidendem Maße davon ab, wie dieses – historische – Wissen das Verhältnis von Empirie und Metaphysik gewichtet und als wahrheitsfähig gelten lässt. Der Klärung dieses Problems werden wir uns widmen, denn: Nur über eine Beantwortung der Frage nach den innerwissenschaftlichen Geltungsprinzipien metaphysisch-empirischer Synthesen ist es einerseits möglich, literarisch-dichterische von wissenschaftlichen Aussageweisen zu trennen und andererseits auf mögliche Interferenzen hinzuweisen. Das Verhältnis von Wissen und Literatur mit Blick auf Jünger ist zudem – zweitens – schwierig zu bestimmen, da er von Anfang an, für viele Kommentatoren, etwa für Heidegger, spätestens beginnend mit dem Arbeiter (1932), nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als ‚Denker‘ und ‚Philosoph‘ gilt. Es ist besonders das in dieser Rolle verfertigte Wissen – zu nennen sind hier neben den Kriegsschriften der frühen 1920er- u.  a. die großen Aufsätze der 1950er-Jahre –, das sich einerseits nicht als ‚literarisch‘ exponiert, d.  h. auf das Gestaltungselement der Fiktion verzichtet und auch keine (autonome) Dichtung sein will, andererseits sich jedoch spätestens seit Blätter und Steine (1934) durchaus als Teil literarischer (und nicht mehr soldatischer) Autorschaft geriert.27 Im Ergebnis setzt die essayistische Prosa Jüngers auf 26

Max Bense: Ptolemäer und Mauretanier oder die theologische Emigration der deutschen Literatur, Köln u. Berlin 1950, S. 46. Vgl. zum geschichtlichen Ort von Benses Urteil Ulrich Fröschle: Platonische Freund-/Feindbestimmungen. Max Bense, Ernst Jünger und Gottfried Benn. Zur Vorgeschichte einer westdeutschen Wertungskonstellation, in: Matthias Schöning/ Ingo Stöckmann (Hrsg.): Ernst Jünger und die Bundesrepublik. Ästhetik – Politik – Zeitgeschichte, Berlin u. New York 2012, S. 233–251. 27 Vgl. zum Zusammenhang von Autorrolle und Kanonisierungsprozess Harro Segeberg: Von Kanon zu Kanon. Ernst Jünger als Jahrhundertautor, in: Matthias Beilein/Claudia Stockinger/Simone Winko (Hrsg.): Kanon, Wertung und Vermittlung. Literatur in der Wissensgesellschaft, Berlin u. New York 2012, S. 107–120. Vgl. zur Entwicklung von der schriftstellerisch-politischen zur literarischen Autorschaft Jüngers in den 1920er- und 1930er-Jahren Michael Ansel: Der verfemte und der unbehelligte Solitär. Gottfried Benns und Ernst Jüngers literarische Karrieren vor und nach 1933, in: Hagestedt (Hrsg.), Ernst Jünger, S. 1–23, hier: S. 9–16. Ulrich Fröschle betont hingegen das Zugleich von politischer und literarischer

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die Begründung von weltanschaulicher Erkenntnis, die zwar Elemente wissenschaftlicher Rede (der Vorgeschichtsforschung und Paläontologie) aufnimmt, ohne selbst jedoch Teil wissenschaftlicher Argumentation und institutionalisierter Wissenschaftlichkeit sein zu wollen. Man kann hier Joseph Vogls häufig zitiertes Wort heranziehen, nach dem „Wissen […] über Äußerungsweisen verschiedener Ordnung und Art“28 verläuft – der literarische und der wissenschaftliche Text sind nur zwei dieser Weisen  –, sollte aber Wert darauf legen, zu betonen, dass diese Äußerungsweisen selbst noch nicht festlegen, wie sie sich aufeinander beziehen und damit einen Diskurs konstituieren. Oder anders gesagt: Die Erstellung der Diskurskartographie in der Ordnung der Äußerungsweisen kann erst nachträglich erfolgen. Mit Blick auf unser Vorhaben gilt: In der angestrebten Rekontextualisierung des paläontologischen, stammesgeschichtlichen und vorgeschichtshistoriographischen Text-Wissens – d.  h. in seiner Rückführung auf die disziplinär konturierten Frage- und Argumentationshorizonte – sollen die literarischen und wissenschaftlichen Äußerungsweisen als Teil eines Diskurses kenntlich gemacht werden. Das Verhältnis von Wissen und Literatur mit Blick auf Jünger ist darüber hinaus – drittens – so schwierig zu bestimmen, da Grundlagenarbeiten zu Jüngers vorgeschichtlichen und paläontologischen (wie übrigens auch zu seinen biologischen) Aktivitäten und Interessen fehlen.29 Das betrifft sowohl traditionelle Rezeptionsfragen: Wen hat er gelesen? Was hat er sich notiert? Mit welchen Theorien war er vertraut? Es geht aber auch um seine Tätigkeit als Fossiliensammler – die in der vorliegenden Arbeit zum ersten Mal ausführlich gewürdigt wird –, seinen brieflichen und persönlichen Verkehr mit Paläontologen und Hominisationsforschern (wie Helmut Hölder und Gerhard Heberer),30 überhaupt um die Konstellationen, in denen Jünger agierte

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Autorschaft Jüngers bereits für die frühen 1920er-Jahre. Vgl. Ulrich Fröschle: Oszillationen zwischen Literatur und Politik. Ernst Jünger und „das Wort vom politischen Dichter“, in: Ebd., S. 101–143. Joseph Vogl: Einleitung, in: Ders. (Hrsg.): Poetologien des Wissens um 1800, München 1999, S. 7–16, hier: S. 11. Deutlich wird die biologische und naturgeschichtliche Lücke, wenn man den forschungsgeschichtlich konturierten Überblick zum Motiv ‚Natur‘ bei Jünger konsultiert, wie ihn Ernst Keller bietet. Vgl. Ernst Keller: Spuren und Schneisen. Ernst Jünger: Lesarten im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2012, S. 322–330. Jüngers brieflicher Verkehr hat in naturwissenschaftlicher Hinsicht – sieht man vom käferkundlichen Interesse ab  – bisher kaum Beachtung gefunden. Porträtiert man Jünger wie Detlev Schöttker als ‚Archivautor‘, dessen autorschaftliches Konzept maßgeblich dadurch geprägt ist, dass es bereits in der Aufbereitung der Korrespondenzen den dokumentarischen – und damit zum Teil auch hermeneutischen – Schlüssel für eine posthume Auseinandersetzung liefert, so fällt das Desiderat einer naturwissenschaftlichen Analyse besonders ins Gewicht; und dies unabhängig davon, ob man Jüngers archivarischen Auseinandersetzungsdirektiven nun folgen mag und in der Vielzahl geordneter Korrespondenzen die Insignien



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und sich jenes Wissen aneignete, das in seinen Texten – teilweise umcodiert, teilweise kaum verändert – auftaucht. Joana van de Löcht hat in ihrer Untersuchung zur Entstehung der Strahlungen aus den diaristischen Aufzeichnungen darauf hingewiesen, wie wichtig für Jüngers Rolle als ‚poeta doctus‘ die „nachträgliche Anreicherung des Textes mit Verweisen auf andere Wissensbereiche“ – besonders auch naturkundliche – ist.31 Dieses Interesse Jüngers am Wissen seiner Zeit wird man auch dann geltend machen dürfen, wenn man seine Reserve gegenüber moderner Wissenschaftlichkeit als Glied neuzeitlich-cartesianischer Erkenntnisbestrebungen in Rechnung stellt: „Aus der Naturbeobachtung wird bei Jünger bald Naturforschung“, jedoch nicht Naturwissenschaft: „Er bleibt als ‚Naturforscher‘ bei allen Kenntnissen vom theoretischen Zugang her eher Naturphilosoph und […] Sammler, dem die Wissenschaft rein instrumentell den Zugang zur höheren Ordnung ermöglichen sollte.“32 Doch um welches Wissen handelt es sich hier und über welche Kanäle eignet es sich Jünger an? Die Orientierung an Konstellationen, intellektuellen Netzwerken und Freundeskreisen, wie sie bereits Daniel Morat in seiner großen Studie zum Wechsel von der aktiven zur kontemplativen politischen Karriere der Brüder Jünger und Heideggers gewinnbringend nutzt,33 fungiert im Rahmen dieser Arbeit als Gegengewicht zu der bereits kritisierten Perspektive, die Jüngers Werk mit seinem autorschaftlichen Selbstentwurf allzu bruchlos in Einklang zu bringen sucht. In der hermeneutischen Tradition ist der Autor bekanntlich derjenige, dessen Aussage durch das Kunstwerk markiert wird; wissenschaftlicher oder anderer Quellen bedient er sich lediglich, um sie seiner eigenen Aussagelogik einverleiben zu können. Letztendlich bleibt er als Subjekt die intentionale Klammer, die die Aussageweisen seiner Texte zusammenhält

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eines großen, ‚unsterblichen‘ Autors ausmacht, oder eher zu einer dekonstruktivistischen, kritischen Haltung neigt, die die Artifizialität und Bemühtheit von Jüngers Anstrengungen herausstreicht: Naturwissenschaftliche Themen sind schlicht Teil der autorschaftlichen Rolle. Vgl. zu Jüngers Archivautorschaft Detlev Schöttker: Korrespondenz und Nachleben. Ernst Jüngers Briefarchiv, in: Falko Schmieder/Daniel Weidner (Hrsg.): Ränder des Archivs. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf das Entstehen und Vergehen von Archiven, Berlin 2016, S. 111–134; Ders.: Archive der Subjektivität. Modelle brieflicher Überlieferung bei Goethe, Ernst Jünger und Walter Kempowski, in: Ders. (Hrsg.): Adressat: Nachwelt. Briefkultur und Ruhmbildung, München 2008, S. 19–36, hier: S. 25–28. Vgl. zu Jünger als ‚poeta doctus‘ im Rahmen der Poetologie der Strahlungen und zu seinen autorschaftlichen Inszenierungen in Tagebuchform, zu der auch die Gelehrten-Rolle zählt, Joana van de Löcht: Aufzeichnungen aus den Malstrom. Die Genese der Strahlungen aus Ernst Jüngers privaten Tagebüchern (1939–1958), Frankfurt/M. 2018, S. 29–36, S. 253–255, Zitat: S. 253. Alexander Rubel: Die Ordnung der Dinge. Ernst Jüngers Autorschaft als transzendentale Sinnsuche, Würzburg 2018, S. 167. Vorhergehendes Zitat gleichfalls. Daniel Morat: Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger (1920–1960), Göttingen 2007.

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und fokussiert. Gegenüber einem solchen autorzentrierten hermeneutischen Verständnis, dem Jünger durch sein werkpolitisches Engagement Vorschub leistet,34 geht es im Folgenden darum, seine Texte mit ihren paläontologischen und vorgeschichtshistoriographischen Kontexten enger zu vernetzen. Da diese Kontexte selbst aus Texten bestehen, muss es darum gehen, textuell-argumentative Gemeinsamkeiten aufzudecken; Gemeinsamkeiten mithin, die jenseits einer Prädominaz der Autorintention aufzuzeigen sind, die aber auch nicht lediglich auf einen textunabhängigen, ‚tatsächlichen‘ Kontext verweisen, vor dem dann Jüngers Texte ihre autonome Kontur gewinnen würden. Nun haben wir mit der Entwicklung von der lebensphilosophischen zur platonischen Ausrichtung Jüngers zweifelsohne eines jener Metanarrative in Anschlag gebracht, die aus diskursanalytischer Perspektive zurecht aufgrund ihres totalisierenden Charakters kritisiert werden. Aus Ordnungsgründen wollen wir dieses Modell jedoch nicht verabschieden. Ergänzt werden soll es gleichwohl – vor allem innerhalb des ersten Kapitels – durch eine Art episodenhaftes Erzählen, das die großen ideengeschichtlichen Linien um den Foucault’schen Positivismus, den der New Historicism so schätzt,35 bereichert. Leitfragen sind hier: Mit wem hat Jünger über was gesprochen? Welche Fossilien hat er gesehen, welche gesammelt und woher stammen sie? Noch ein Wort zur Verortung des weiteren Vorgehens im Rahmen der Text-Kontext-Diskussion. Will man methodologische Standards der TextKontext-Ausrichtung voneinander absetzen, so lassen sich mindestens zwei Positionen bestimmen: Historisch-kulturwissenschaftliche Diskursanalyse und klassische Philologie.36 Auf der einen Seite kann man von einer losen, auf der anderen von einer engen Verzahnung von Text und Kontext ausgehen. Nur lose verbunden sind beide miteinander dann, wenn „identische Beobachtungen an verschiedenen Texten unter dem Label ‚Diskurs‘“37 verbucht werden, ohne Motivation oder Intention der textuellen Bezug- bzw. Übernahme genauer unter die Lupe zu nehmen und womöglich auch ohne philologisch belastbare Zeugnisse zu liefern, die eine eindeutige Bezugnahme

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Vgl. Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin u. New York 2007. Vgl. Moritz Baßler: Einleitung: New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, in: Ders. (Hrsg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Frankfurt/M. 1995, S. 7–28, hier: S. 14; Annegret Heitmann: Einführung: Verhandlungen mit dem New Historicism, in: Dies./Jürg Glauser (Hrsg.): Verhandlungen mit dem New Historicism. Das Text-Kontext-Problem in der Literaturwissenschaft, Würzburg 1999, S. 9–20, hier: S. 9  f. Folgende Einteilung ist angelehnt an: Dirk Werle: Problem und Kontext. Zur Methodologie der literaturwissenschaftlichen Problemgeschichte, in: Journal of Literary Theory 8 (2014), S. 31–54, hier: S. 44  f. Ebd., S. 44.



1.1  Werk- und ideengeschichtliche Volten des Ur

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verbürgen könnten. Eng verzahnt sind Text und Kontext demgegenüber dann, wenn ein philologisch belastbarer Beleg vorliegt, etwa in Form eines Zitates oder einer Anspielung. Um es gleich vorwegzunehmen: Wir werden im Folgenden von beiden Verbindungen von Text und Kontext Gebrauch machen. Dass beide Vor- und Nachteile haben, ist wohl unbestritten – es ist hier nicht der Ort (und womöglich auch nicht mehr die Zeit), die ältere Kontroverse zwischen einer kulturwissenschaftlich und einer philologisch orientierten Literaturwissenschaft zu rekapitulieren38; ausschlaggebend für eine Verbindung eines kulturwissenschaftlichen mit einem philologischen Zugriff sind jedenfalls praktische Gründe. An den Stellen, wo aufgrund der Quellenlage philologische Genauigkeit hergestellt werden kann, ist eine enge Verzahnung von Text und Kontext beabsichtigt. Dies ist besonders dann der Fall, wenn die Bezugnahme Jüngers auf einen Kontext durch dessen Kenntnisnahme dokumentiert werden kann, etwa anhand von Büchern seiner Wilflinger Bibliothek (Nachlassbibliothek) oder Briefen. Da, wo dies nicht möglich ist, wird eine eher lose Bezugnahme von Text und Kontext angestrebt. Dies scheint methodologisch vertretbar, handelt es sich doch um Fälle, in denen die Ähnlichkeit von Jüngers Position mit dem vorgeschichtshistoriographischen oder paläontologischen Kontext anschaulich gemacht werden kann. Thematische oder motivische Korrespondenzen von Text und Kontext, die bloße Annahme einer Theoriekenntnis oder die vermutete Zugehörigkeit zu einer Denktradition – man mag dies als Basis einer argumentativen Strukturierung wissensgeschichtlicher Prozesse für problematisch halten, allein: Entscheidend ist hier nicht so sehr, ob Jünger tatsächlich auf konkrete Texte Bezug nimmt (und sich der Nachweis einer solchen Bezugnahme zweifelsfrei führen lässt), sondern ob sich bei ihm argumentative Muster identifizieren lassen, mit denen mögliche Prätexte auch operieren. In dem Maße, wie es darum geht, motivische, argumentative und metaphorische Korrespondenzen offenzulegen, stehen verbindende, Text und Kontext gleichermaßen durchziehende Diskursfäden im Mittelpunkt. Im Anschluss an Stephen Greenblatts Annahme einer ‚sozialen Energie‘ („social energy“), über die unterschiedliche Texte eines bestimmten Zeitraums verfügen, könnte man hier auch von ‚epistemischer Energie‘ sprechen.39

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Vgl. zu dieser Debatte Walter Haug: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft?, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 73 (1999), S. 69–93; Gerhart von Graevenitz: Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft. Eine Erwiderung, in: Ebd., S. 94–115; Walter Erhart (Hrsg.): Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? DFG-Symposion 2003, Stuttgart u. Weimar 2004. Vgl. zur ‚sozialen Energie‘ im New Historicism Wolfgang Behschnitt: Die Macht des Kunstwerks und das Gespräch mit den Toten: Über Stephen Greenblatts Konzept der „Social Energy“, in: Glauser/Heitmann (Hrsg.), Verhandlungen, S. 157–169.

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1  Jüngers Ur zwischen Empirie und Idealismus

Abschließend ein kurzer Blick auf den Aufbau der Arbeit. Die weiteren Teile des ersten Kapitels liefern die systematischen Grundlagen. Dabei geht es zunächst um die bereits angesprochene, zwischen Empirie und Metaphysik changierende epistemische Dimension des Ur im frühen 20. Jahrhundert (Kap. 1.2); sodann um die Entwicklung des Urwelt-Konzeptes ab dem 18. (Kap. 1.3) und dessen Prägung im Rahmen der zünftigen, für Jünger maßgeblichen Paläontologie des 20. Jahrhunderts (Kap. 1.4). Abgerundet wird die systematische Perspektive durch einen historiographiegeschichtlichen Fokus auf das ur- und vorgeschichtliche Denken, besonders der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Kap. 1.7). Hinzukommen eher episodenhaften Abschnitte, die unterschiedliche Facetten von Jüngers persönlicher Beschäftigung mit der Materie innerhalb von Freundeskreisen und theoretischen Schulen dokumentieren sollen (Kap. 1.4.2, 1.4.3, 1.5, 1.6). Kapitel zwei bis neun orientieren sich dann konsequent an der werkgeschichtlichen Ordnung. Sie liefern im Ergebnis einen wissens- und wissenschaftsgeschichtlichen Kommentar zu den paläontologischen und vorgeschichtlichen Facetten der Texte Jüngers von den frühen 1920er bis in die 1990er-Jahre hinein. Die projektierte Diskurskartographie ist primär biographisch bestimmt und widersetzt sich gängigen literaturhistoriographischen Etikettierungen. Insofern allerdings im Zeitraum von 1920 bis 1960 die Hauptentwicklungsphase in Jüngers Denkbiographie auszumachen ist, sucht vorliegende Arbeit durchaus Anschluss an die Debatte um mögliche Kontinuitäten in der deutschen Literatur und Ideengeschichte jenes Zeitraums. Es geht hier um Kontinuitäten jenseits einer primär sozial- und ereignisgeschichtlich konturierten Zäsurierung des literaturgeschichtlichen Feldes.40 40

Vgl. zum Kontinuitätsproblem in narratologischer Perspektive: Moritz Baßler/Jörg Schuster/ Hubert Roland: Kontinuitäten und Diskontinuitäten literarischer Verfahren von 1930 bis 1960, in: Dies. (Hrsg.): Poetologien deutschsprachiger Literatur 1930–1960. Kontinuitäten jenseits des Politischen, Berlin u. New York 2016, S. 1–14; Torsten W. Leine: Magischer Realismus als Verfahren der späten Moderne. Paradoxien einer Poetik der Mitte, Berlin u. New York 2018. Problem- und wissensgeschichtlich angelegt ist die Studie von Gregor Streim: Das Ende des Anthropozentrismus. Anthropologie und Geschichtskritik in der deutschen Literatur zwischen 1930 und 1950, Berlin u. New York 2008. Vgl. auch Gustav Frank/Rachel Palfreyman/Stefan Scherer (Hrsg.): Modern Times? German Literature and Arts beyond Political Chronologies/Kontinuitäten der Kultur: 1925–1955, Bielefeld 2005. Die von Gustav Frank und Stefan Scherer für den Zeitraum von 1925 bis 1955 vorgeschlagene Epochenbezeichnung ‚Synthetische Moderne‘ hat sich als anschlussfähig erwiesen. Vgl. etwa Hendrick Heimböckel: Epiphanien. Religiöse Erfahrungen in deutschsprachiger Prosa der ästhetischen Moderne, Paderborn 2020, S. 201–416. Die literaturgeschichtlich nachweisbare Homogenität bestimmter Schreibweisen gegenüber politikgeschichtlich begründeten Zäsurierungen betont auch Jörg Schuster, der dem Konzept der ‚Synthetischen Moderne‘ allerdings skeptisch gegenübersteht: Die vergessene Moderne. Deutsche Literatur 1930–1960, Stuttgart 2016. Bereits Bettina Hey’l kritisiert die Fixierung der Literaturgeschichtsschreibung auf die politische Zäsur, die das Jahr 1933 markiert. Nicht nur, dass die Teilung der deutschen Literatur in faschistische und anti-



1.2  Epistemische Dimensionen des Ur

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1.2  Epistemische Dimensionen des Ur 1.2.1  Lob des Ur. Lautemphase statt Sprachskepsis Auch wenn am Anfang das Wort gewesen sein mag; am Ende bleibt nur noch der Laut, der gegen das Begehren der Sprache, alles in ihre arbiträre Ordnung zu ziehen, revoltiert. Zumindest von der Warte einer durch die Schule der modernen Sprachwissenschaft und Sprachkrise des frühen 20. Jahrhunderts gegangenen Bedeutungslehre aus betrachtet, ist die strukturelle Eigenwertigkeit der Sprache bei der Erkenn- und Nennbarbarkeit von Welt kaum zu überschätzen. Es war bekanntlich Ferdinand de Saussure, der in seinem Cours de linguistique générale (1916) endgültig die Ähnlichkeitsallianz von Zeichen und Bezeichnetem aufkündigte und damit eine dem Bezeichnungsverfahren vorausgehende ‚Bedeutung‘, auf die lediglich nachträglich zu verweisen wäre, verabschiedete. Was sich von strukturalistischer Seite recht nüchtern als Arbeit am Zeichenhaushalt darstellt, entfaltet sein kritisches Potenzial vor allem dort, wo mit der Einsicht in die Arbitrarität im Verhältnis von Bezeichnendem und Bezeichnetem die kulturelle und historische Relativität sprachlicher Welterschließung in den Blick gerät. Man hat jene den allumfassenden Vermittlungscharakter von Sprache betonenden „metaphysik- und teleologiekritische[n] Überlegungen zur Erkennbarkeit und Existenz von Welt“ um 1900 unter dem Oberbegriff ‚Sprachkrise‘ zusammengefasst, um deutlich zu machen, dass es im Kern die sprachliche Insuffizienz bei der Vermittlung von Welt und Bewusstsein ist, die hier verhandelt wird.41 Jünger sprengt in seinem Lob der Vokale (1934) diese Ordnung gewissermaßen, wenn er die „Lautsprache“ von der dem arbiträren Charakter

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faschistische, bzw. in die Kategorien Exil, ‚Innere Emigration‘ und völkisch-nationalsozialistische Schriften zu grob ist, um die Kontinuität bestimmter Schreibweisen zu beschreiben. Hey’l kritisiert vor allem die Identifikation der Exilsituation mit einer bestimmten politischen und daraus abgeleiteten künstlerischen Position, sowie den Versuch, die Literatur der Weimarer Republik in die Rolle einer Vorläuferschaft oder Gegnerschaft zu späteren politischen Entwicklungen zu drängen: So werde „die Einteilung der Literatur in verschiedene Gruppen, in Gute und Böse, in Täter und Opfer, rückblickend auch in die Geschichte der Weimarer Republik hineinprojiziert, so daß die finalistische Uminterpretation der Vorgeschichte ihr den Anschein eines unvermeidlichen, deterministischen Ablaufs verleiht.“ Vgl. Bettina Hey’l: Geschichtsdenken und literarische Moderne. Zum historischen Roman in der Zeit der Weimarer Republik, Tübingen 1994, S. 55–62, Zitat: S. 57. Vgl. zu einer Relativierung der Zäsuren 1945/1949 Waltraud Wende: Einen Nullpunkt hat es nie gegeben. Schriftsteller zwischen Neuanfang und Restauration – oder Kontinuitäten bildungsbürgerlicher Deutungsmuster in der unmittelbaren Nachkriegsära, in: Georg Bollenbeck (Hrsg.): Die janusköpfigen 50er Jahre. Kulturelle Moderne und bildungsbürgerliche Semantik III, Wiesbaden 2000, S. 17–29. Vgl. zur ‚Sprachkrise‘ im Ausgang von Nietzsche, Fritz Mauthner und Hans Vaihinger und ihrer Anverwandlung im literarischen Feld: Martina King: Sprachkrise, in: Hans Feger (Hrsg.): Handbuch Literatur und Philosophie, Stuttgart u. Weimar 2012, S. 159–177, Zitat: S. 159.

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1  Jüngers Ur zwischen Empirie und Idealismus

unterliegenden „Wortsprache“42 unterscheidet und dem Laut jene  – ungeschichtliche  – ontologische Dignität zuerkennt, die das  – zweifelsohne geschichtlich – gewordene System Sprache dem Wort entziehen muss.43 Im Vorwort zu Blätter und Steine annonciert Jünger Lob der Vokale als einen Beitrag, der „einige Geheimnisse der Sprache“ eröffne, „die sicher bereits von manchem geahnt, aber noch von niemandem beschrieben sind.“44 Jüngers Stilisierung der eigenen Arbeit am Lautmaterial als gefährliches Unterfangen sieht die Rückeroberung des Entsprechungsverhältnisses von Laut und Bezeichnetem im Fokus der Anfeindungen strukturalistischer Kritik – von dort droht die Gefahr. Der strukturalistischen Kritik kommt hier gleichsam die Rolle der taghellen, verstandesgeleiteten Aufklärung zu. Der Hinweis auf die nächtliche Arbeit am Manuskript verweist demgegenüber auf die Tradition nachtseitiger, bewusstseinsentrückter Erkenntnisemphase. „[A]n einigen Stellen“ sei er gar „von einem Gefühl der Angst ergriffen“45 worden, denn: „Wenn man das Wort als Urbild betrachtet, stößt man auf eine Grenze, die man nicht überschreiten darf.“46 Die Rhetorik epistemischer Liminalität erhebt den Anspruch, jenseits institutionalisierter Wissensformate zu operieren und auf diesem Weg „Zusammenhänge“ zu erschließen, „die vom Stande der wissenschaftlichen Feststellung ganz unabhängig sind“.47: Jünger geht es „um eine Offenbarungswahrheit über die ‚Fülle‘ der Welt, die in der 42

Ernst Jünger: Blätter und Steine, Hamburg 1934a, S. 58. Ich zitiere Jünger im Folgenden nach der Erstfassung oder den Sämtlichen Werken, 22 Bände in drei Abteilungen und Supplement, Stuttgart 1978–2003 (unter der Sigle SW und Nennung der Band- und Seitenzahl). In den – bekanntlich zahlreichen – Fällen, in denen die Erstfassung von weiteren Fassungen und/oder der Fassung der Sämtlichen Werke abweicht, wird entweder nach dem Wortlaut der Erstfassung zitiert oder ich zitiere die Fassung der Sämtlichen Werke unter Hinweisen auf Veränderungen gegenüber vorhergehenden Fassungen. Fassungsvergleiche werden nur mit Blick auf thematisch hier einschlägige Veränderungen vorgenommen. 43 Auf den anti-arbiträren Charakter von Jüngers Lautlehre verweist bereits Reinhart MeyerKalkus: Stimme und Sprechkünste im 20.  Jahrhundert, Berlin 2001, S.  194  f. Vgl. auch Wolfgang Brandes: Der „Neue Stil“ in Ernst Jüngers Strahlungen. Genese, Funktion und Realitätsproduktion des literarischen Ich in seinen Tagebüchern, Bonn 1990, S.  106–113. Die ‚ungeschichtliche‘ Fundierung des Lautes, die mit der Betonung seiner ontologischen Qualitäten einhergeht, wird von Friedrich Hielscher (1902–1990) kritisiert: „Was das Verhältnis zwischen Laut und Wort anlangt, so sträube ich mich vor allem dagegen, daß die Laute außerhalb der Zeitrechnung und der Geschichte stehen sollen. Vielmehr scheinen mir die Vorgänge, die sie beschreiben, um die Urlaute zu schildern, in besonderem Maße geschichtliche, nämlich geschichtsgestaltende Vorgänge zu sein.“ Friedrich Hielscher an Ernst Jünger (12. 04. 1938), in: Ernst Jünger – Friedrich Hielscher. Briefe 1927–1985, hrsg., kommentiert u. mit einem Nachwort v. Ina Schmidt u. Stefan Breuer, Stuttgart 2005, S. 165–171, hier: S. 170. Die Anmerkungen Hielschers beziehen sich auf die erweiterte Fassung von Lob der Vokale (1937). 44 Jünger, Blätter und Steine, S. 9. 45 Ebd. 46 Ebd. 47 Ebd., S. 9  f.



1.2  Epistemische Dimensionen des Ur

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Lautlichkeit der Sprache vernommen werden kann.“48 Man könnte hier auch von einer „Klangphysiognomie“49 sprechen, die das Gestalt-Konzept auf den phonologischen Wert einzelner Vokale anwendet. Unter „Urbild[ern]“ versteht Jünger die mit einzelnen Lauten verbundenen Bedeutungsfelder, die in der schriftsprachlichen Form nicht zum Tragen kommen und erst im Sprechen realisiert werden: Der in seiner Realisierung sinnhafte Laut übersteigt die strukturelle Funktion des wortimmanenten Lautes innerhalb der logozentrischen Sprache. Im Mittelpunkt des neuen Phonozentrismus steht eine zur Ontologie geöffnete Klangmalerei: In der physiologisch-motorischen Performanz einzelner Vokale ist das Bezeichnete gegenwärtig. Während der Konsonant die „besondere Bedeutung“ transportiere, komme im Vokal die „allgemeine, oder besser die ungesonderte […] Bedeutung zum Anklang.“50 Das Bezeichnete wird auf diesem Weg gleichsam zum Klingen gebracht. Jeder Vokal bekommt von Jünger spezifische Bezeichnungsqualitäten zugesprochen. So sei das „A“ das „höchste und königliche Zeichen der Paternität“ wie es sich im Wort „Aar“51 realisiere. „I“ und „U“ hingegen komme die Eigenschaft zu, den „tiefen und dunklen Dingen“52 zugewendet zu sein, wobei sich das „U“ erkennbar vom „I“ abhebe: „Unter allen Vokalen fällt dem U die mächtigste Schwerkraft zu“53: Im U begegnen sich die Geheimnisse der Zeugung und des Todes; es steht unterhalb der farbigen und mannigfaltigen Welt. Sein Reich umschließt die Gründe der Gesteins- und Meereswelten, der uralten Kulte, der unbekannten Geschlechterfolgen und die Schwerkraft unsichtbarer Gestirne, die aus unermeßlicher Entfernung wirkt. Das U ist der Laut des mehr als logischen Grundes, der Wurzel, des Ursprungs und der feierlichen Dunkelheit. Voll tiefer Geschlossenheit baut es sich, nicht ring- oder kreisförmig wie das I, sondern in Kugel- oder Würfelformen in die Sprache ein.54

48

49 50

51 52 53 54

Meyer-Kalkus, Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, S. 199. In der Verbindung von lautlicher und semantischer Fülle ist auch der große Unterschied zum wohl bekanntesten und elegantesten Sprachskeptiker um 1900 auszumachen, zum Hofmannsthal des ChandosBriefes: „Wo Jünger hinter der Wortsprache die metaphysische Erfülltheit der Lautsprache vermutet, da blickt Hofmannsthal in einen bodenlosen Abgrund.“ Brandes, Der „Neue Stil“, S. 109. Heiko Christians: [Art.] Blätter und Steine, in: Schöning (Hrsg.), Ernst Jünger-Handbuch, S. 117–123, hier: S. 120. Jünger, Blätter und Steine, S. 51. „Konsonanten und Vokale unterscheidet er [Jünger, N.K.] in vitalistischer, phonetischer, semantischer und quasi naturphilosophischer Hinsicht.“ Adrian Widmann: Lob der Vokale – Sprache und Körperbau. Zwei Essays von Ernst Jünger zum Zeitgeschehen, Textkommentar und Fassungsvergleich, Würzburg 2011, S. 169. Jünger, Blätter und Steine, S. 73. Ebd., S. 66. Ebd., S. 81. Ebd., S. 81  f.

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1  Jüngers Ur zwischen Empirie und Idealismus

Der Aufbau des Lautes wird von Jünger in der Lippenformung des Sprechers nachvollzogen und entlang seiner umriss- und kontursetzenden Linien wie ein geometrischer Körper beschrieben. Der spezifischen Form korrespondiert ein spezifisches semantisches Feld; der Unterschied zu den FormBedeutungs-Relationen anderer Vokale ist signifikant. Auch wenn die Laute von den Wörtern, die mit ihnen gebildet sind, unterschieden werden, so lassen sie sich doch nicht vollends von ihnen trennen. Die „Lautsprache“ geht demnach in die „Wortsprache“ ein, oder anders gesagt: Die „Lautsprache“ „umfaßt und durchdringt“ die „Wortsprache“: „Sie durchdringt sie insofern, als überall, wo der Mensch wirklich spricht, die Lautbedeutung die reine Wortbedeutung zu steigern und zu beflügeln sucht.“55 Die vokalen Bezeichnungsqualitäten bleiben also auch dann erhalten, wenn der einzelne Laut im lexikologischen und syntaktischen Korsett seine Funktionsstelle ausfüllt. Als „Symbol, als reines Bild“ jedoch, so Jünger, steht der Vokal außerhalb der Sprache und ihrer Bewegungen. Die Sprache reicht mehr oder weniger an diese Bedeutung heran, und die Worte zeichnen sich mehr oder weniger scharf im Spiegel des Urbildes. Wo wir daher im folgenden Worte zu Rate ziehen, ist es in diesem Sinne gemeint – im Sinne einer Aushilfe, da ja die Beschreibung auf Worte angewiesen, während das Urbild seinem Wesen nach unbeschreiblich, und nur aus den Wirkungen seiner Kräfte zu erraten ist.56

Die Beziehung von Laut und Wort ist damit analog zu der von Urbild und Bild modelliert. Auf der einen Seite trotzt der Laut dem Sprachwandel: Er ist nicht Teil der veränderlichen Sprachwirklichkeit, sondern präfigurierendes und spiegelndes Element. Auf der anderen Seite gibt er von sich jedoch nur vernehmbares Zeugnis, insofern er Teil der sprachlichen Erscheinungswirklichkeit wird und in das Wort, in die gesprochene Sprache tritt. Eines der für Jünger interessantesten Elemente der Sprache, die helfen sollen, das unbeschreibliche Urbild entlang seiner Wirkungskräfte zu entziffern, ist eigentlich gar kein richtiges Wort, es handelt sich vielmehr um eine Vorsilbe: ‚Ur-‘. Dem bereits erwähnten paternitären „Aar“ stellt Jünger die maternitär codierte „Silbe Ur“ zu Seite: „die in uns die Vorstellung der dunklen Tiefe und des Ursprungs erweckt, und die zu den Worten zählt, in denen der deutsche Sprachgeist am bedeutendsten zum Ausdruck kommt.“57 Kurz darauf betont Jünger die „Schwere“ der „Vorsilbe ur“58. Mit Schwere ist hier nicht nur die Determinationskraft gemeint, die der Vorsilbe mit Blick auf die Verfügungs55 56 57 58

Ebd., S. 58. Ebd., S. 71. Ebd., S. 73. Ebd., S. 82.



1.2  Epistemische Dimensionen des Ur

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gewalt gegenüber dem Bezugswort zukommt; diese semantische Kraft des „Ur“ ist vielmehr das Ergebnis einer lautlichen Dominanz: In Komposita mit „Ur-“ oder „ur-“ werden diese stets betont.59 Die lautliche Prägekraft ist gleichsam das Medium, in dem sich das behauptete semantische Feld realisiert. Ein Blick in die Wörterbücher zeigt, dass „Ur“ bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht mehr der Status eines eigenständigen Wortes zuerkannt wird.60 Als noch erkennbare Hauptbedeutungen der Vorsilbe tauchen immer wieder drei semantische Kerne auf: 1. „groß, stark, und weil ehemals in Größe und Stärke des Körpers der größte und fast einzige Vorzug bestand, auch vortrefflich“; 2. „[a]uf, oder eine Bewegung in die Höhe, eigentlich und uneigentlich“ – im Sinne von ‚Urheber‘ etwa; und 3. – „als uneigentliche Bedeutung und Fortsetzung der vorhergehenden“ –: das „Erste in einer Sache“, ein „Anfang“.61 „[A]m lebendigsten“, so heißt es im Grimm, „ist die verstärkendsteigernde bed., die sich seit der ahd. zeit ausbreitet und in der neueren sprache besonders fruchtbar erwiesen hat.“62 Drei Dimensionen einer solchen Verstärkerfunktion werden im Folgenden unterschieden: a.) reine Grundbegriffsverstärkung; b.) eine Verwandtschaftsbeziehung anzeigend; und c.) „zur bezeichnung des ersten, anfänglich vorhandenen, ursprünglichen, unabgeleiteten, originalen, primitiven, unverfälschten, reinen“63. Im Mittelhochdeutschen sei letzte Konnotation noch kaum zu erkennen. Erst die Aufklärungskritik des späten 18. Jahrhunderts, so die Erklärung aus dem Jahr 1936, habe dann schließlich den Weg freigemacht für eine veränderte Nutzung der Vorsilbe:

Bereits im Adelung heißt es mit Blick auf die Silbe „Ur“: „Übrigens ist diese Sylbe da, wo sie noch gebraucht wird, nicht nur allemahl gedehnt, sondern sie bemächtiget sich auch des Tones, und ziehet selbigen auf sich zurück.“ Johann Christoph Adelung, Dietrich Wilhelm Soltau, Franz Xaver Schönberger: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, Bd. 4, Wien 1811, Sp. 958. Im Campe heißt es gleichfalls: „Die Silbe ur ist immer gedehnt und betont […]“. Joachim Heinrich Campe: Wörterbuch der deutschen Sprache, Bd. 5, Braunschweig 1811, S. 244. Der Grimm folgt in seinem allerdings erst 1936 veröffentlichten Eintrag zum „Ur“ dieser Einschätzung: „nhd. ur- hat langen vocal“, so dass „ur- stets den ton“ hat. Jacob u. Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 24, bearb. v. Karl Euling, fotomechanischer Nachdruck der Erstausgabe [Bd.  11, Abt. 3], München 1999 [1936], Sp. 2355. 60 „Ur, ein altes, nur noch in Zusammensetzungen vorkommendes Wort“ heißt es bei Campe, Wörterbuch der deutschen Sprache, S. 243; vgl. auch Adelung, Soltau, Schönberger, Grammatisch-kritisches Wörterbuch, Sp. 956. Vgl. zur etymologischen Entwicklung der Vorsilbe „Ur-“ vom späten 18. bis zum 20. Jahrhundert Stefan Willer: Urwort. Zum Konzept und Verfahren der Etymologie, in: Ott/Döring (Hrsg.), Urworte, S. 35–55. 61 Campe, Wörterbuch der deutschen Sprache, S. 243. 62 Grimm, Deutsches Wörterbuch, Sp. 2357. 63 Ebd. 59

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1  Jüngers Ur zwischen Empirie und Idealismus der im letzten drittel des 18. jhs. immer häufiger werdende gebrauch des präfixes hängt mit dem umschwung des geistigen lebens zusammen, das über die platte erfahrung der aufklärungsbildung hinaus zu den ursprünglichen quellen des lebens zu gelangen sucht. dann werden diese zusammensetzungen häufig: uranfang, -anlage, -atom, -aufführung, -beginn, -bestand, -form, -geschichte, -grund, -keim, -kraft, -licht, -nacht, -offenbarung, -quell, -stifter, -stoff, -typus, -vergangenheit, -wahrheit, -zelle, -zustand; urbewohner, -einwohner, -volk […]. 64

Der Tonart nach unschwer zu erkennen ist, dass es sich hierbei nicht um einen Eintrag aus den Tiefen der 1850er- oder 1860er-Jahre handelt (der Fortführung jener maßgeblich durch Jacob Grimm mitinitiierten Kleinschreibung zum Trotz). Die Vorbehalte gegenüber empirischer Methodik und Erfahrungswissen sind augenscheinlich durch die geistesgeschichtliche Schule der Aufklärungskritik des frühen 20.  Jahrhunderts gegangen. Den Fluchtpunkt bildet mit den „ursprünglichen quellen des lebens“ ein allumfassender Vitalismus, der jegliches Werdens- und Entwicklungsdenken der Segmentierung und ‚Relativierung‘ bezichtigt. Überhaupt stellt das „Ur“ zeitliche Veränderung  – ob nun eher (menschheits-)geschichtlich oder eher entwicklungsbiologisch entworfen  – unter den Verdacht, die wahre Struktur, die einem Ablauf zugrunde liegt, nur ‚oberflächlich‘ zu erfassen, den ‚Tiefen‘-Kern hingegen zu verfehlen. In lexikografischer Hinsicht ist der Wechsel von der sprachgeschichtlichen Argumentation – Analyse des Bedeutungswertes im Mittelhochdeutschen – hin zur großraumperiodisch konzipierten Ideengeschichte auffällig: Am Ende steht nicht mehr eine Lexikologie oder Wortbildungsgeschichte des ‚Ur‘, sondern die positiv und damit eindeutig normativ codierte Entdeckung von ‚Ur‘-Bereichen, die dem empiristischen Blick vorgeblich verstellt waren. Die Arbeit am Wortbestandteil mutiert zu einer Teleologisierung der zugrunde gelegten vitalistischen Entwicklung: Die Begriffs- oder, genauer gesagt: Präfix-Geschichte wandelt sich unverhohlen zur Konzept-Geschichte und der Autor begibt sich selbst auf „antiaufklärerische[.  .] Ursprungssuche“65 – auch wenn er diese Suche vorgeblich nur verzeichnet. Jüngers Lob des Ur dürfte maßgeblich jene Ursprünglichkeitsphantastik im Blick gehabt haben. Dass das „U“ „unterhalb der farbigen und mannigfaltigen Welt“66 wirkt und damit der beobachtbaren Erscheinungsfülle trotzt, ist ein Hinweis auf seine Konstitution jenseits der Erfahrungssinne, wie sie im Grimm hinsichtlich des „Ur-“ insinuiert wurde. Die Absage an die erklärende Kraft des logos und die Feier der dunklen Erkenntnis („ist der Laut des mehr als logischen Grundes, der Wurzel, des Ursprunges und der feierlichen 64 Ebd. 65 Willer, Urwort, S. 43. 66 Jünger, Blätter und Steine, S. 81.



1.2  Epistemische Dimensionen des Ur

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Dunkelheit“67) geht ebenfalls auf das Konto antiaufklärerischer Erkenntnisbestrebungen. Dass Jünger sich bei seinen Lautspekulationen nicht nur auf Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1770), sondern auch auf Johann Georg Hamanns Neue Apologie des Buchstabens h (1773) bezieht,68 sein antiaufklärerisches Argumentationsreservoir gleichsam aus der Selbstaufklärung und der Esoterik der Aufklärung selbst schöpft, ist insofern zeittypisch, als bereits Rudolf Ungers Gründungsschrift geistesgeschichtlicher Literaturgeschichtsschreibung – Hamann und die Aufklärung (1911/25) – den Titelhelden in der Aufklärung gegen die Aufklärung kämpfen lässt. Der von Jünger postulierte Zusammenfall von bezeichnendem Laut und Bezeichnetem verweist zum einen auf die romantische Sprachphilosophie und deren Widerhall in den 1920er- und 1930er-Jahren bei so unterschiedlichen Autoren wie Ludwig Klages, Rudolf Leonhard und Walter Benjamin.69 Die Identität von Laut und Bezeichnetem kann in ihrem antistrukturalistischen und antilogischen Gestus andererseits im Einzugsgebiet einer primitivistischen Sprachkonzeption verortet werden, die in Deutschland u.  a. durch den Ethnologen Diedrich Westermann vertreten wurde.70 Die Sprache ‚primitiver‘ Völker, so die der afrikanischen Ewe, sei ganz maßgeblich durch „Lautbilder“ strukturiert: In dem Versuch, die Eindrücke der sicht- und hörbaren Welt in Laute zu übersetzen, sie nachzuahmen, entstünden im Medium des bezeichnenden Stimmklanges die bezeichneten Gegenstände.71 Bei Jünger nun geht es nicht um Konkreta, um sinnliche Eindrücke, die klanglich, soz. mit onomatopoetischer Finesse, anzuzeigen wären, sondern um Abstrakta. Die Stimmigkeit des Lautbildes beruht nicht auf kongenialer Nachahmung eines ‚Originals‘, die – zumindest im Falle akustischer Eindrücke – über den Vergleich mit der Naturvorgabe zu ermitteln wäre; im Mittelpunkt steht vielmehr die klangphysiognomische Reinheit des Lautbildes, sein Unterschied zur Gestalt anderer Vokale, die anderes meinen. ‚Primitivistisch‘ ist Jüngers Lautkonzeption jedoch insofern, als sie den Zeichenträger mit in die semantische Pflicht nimmt. Die Verweigerung gegenüber der sich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts konstituierenden differentiellen Zeichentheorie 67 68 69 70 71

Ebd., S. 82. Vgl. Ebd., S. 51  f. Vgl. Meyer-Kalkus, Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, S. 195  f., S. 201–203. Diedrich Westermann: Grammatik der Ewe-Sprache, Berlin 1907. „Die Sprache ist außerordentlich reich an Mitteln, um einen empfangenen Eindruck unmittelbar durch Laute wiederzugeben. Dieser Reichtum entspringt aus der fast unbezwinglichen Lust, jedes Gehörte, Gesehene, überhaupt irgendwie Empfundene nachzuahmen, durch einen oder mehrere Laute zu beschreiben. Diese Ausdrücke bezeichnen wir mit Lautbild.“ Ebd., S. 42. Den Hinweis auf Westermann verdanke ich Sven Werkmeister: Analoge Kulturen. Der Primitivismus und die Frage der Schrift um 1900, in: Nicola Gess (Hrsg.): Literarischer Primitivismus, Berlin u. New York 2013, S. 29–58, hier: S. 41.

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ist jedoch – zumindest mit Blick auf „U“ und „Ur“ – kein Selbstzweck. Sie versucht für jene Wissensgebiete Aussageweisen zu entwerfen, die nach Meinung Jüngers eines „logischen Grundes“72 entbehren. Schaut man sich das durch den „U“-Laut konstituierte semantische Feld näher an, so ergibt sich folgendes Bild: Jüngers „U“ umfasst u.  a. den Bereich der Vorgeschichte („uralte[.  .] Kulte, […] unbekannte[.  .] Geschlechterfolgen“), der anorganischen und organisches Leben bedingenden Elemente („die Gründe der Gesteins- und Meereswelten“) sowie der Kosmologie („die Schwerkraft unsichtbarer Gestirne, die aus unermeßlicher Entfernung wirkt“73). Dass im Laut „U“ „Formen des Daseins“ anklingen, „die diesseits oder jenseits der Verwesung stehen“74, ist ein Hinweis darauf, dass es nicht in erster Linie um die organologische Betrachtungsweise eines chronologisch Ersten, Frühen geht. Der Anspruch, ein Grundlegendes auszusagen, dessen zeitlich früher Stellung gleichzeitig der Charakter einer strukturkonstitutiven Prägung weiterer Entwicklungsschritte zukommt, stellt demnach nicht auf ein empirisch nachprüfbares Wissen anfänglicher Gegebenheiten ab. Diese interessieren nur insoweit, als sie in ihrer Transparenz „Formen des Daseins“ zeigen, deren weitere Entwicklung mit Einbußen der physiognomischen Prägnanz verbunden ist. In diesem Sinne meint „Ur-“ sowohl ein zeitlich Frühes als auch ein der zeitlichen Entwicklung Entzogenes. Beide Konnotationen setzen sich in Frontstellung zu Konzepten und Denkfiguren, die Entwicklungen, Abläufe, auch Veränderungen und Bedingtheiten modellieren und damit im Ergebnis Relativitätslegitimität, Kontingenzverständnis und Normenwandel begründen wollen. Dass die Silbe „Ur-“ „in uns die Vorstellung der dunklen Tiefe und des Ursprunges erweckt“75, ist keine Grille Jüngers aus den 1930er-Jahren. Noch in Die Schere (1990) kommt Jünger auf dieses Thema zu sprechen. Anlass ist hier die von ihm diagnostizierte Konjunktur des Wortes „Urknall“ („Big Bang“), die er als Produkt des zeitgenössischen, vom US-amerikanischen Infotainment dominierten Metaphernreservoirs („New-Yorker Perspektiven“) ablehnt.76 „Die Vorstellung von einem Urknall ist grob mechanisch; das Wort vegetiert vom Geheimnis der Vorsilbe.“77 Jenem Geheimnis hatte 72 Jünger, Blätter und Steine, S. 82. 73 Ebd., S. 81, vorhergehende Zitate gleichfalls. 74 Ebd. 75 Ebd., S. 73. 76 „Der ‚Urknall‘ ist ein Modell der Weltentstehung, wie es deren schon viele gegeben hat und geben wird. Es trägt den Stempel des Zeitgeistes, ist also wissenschaftlich und brutal. In einer mit Energie geladenen und von ihr übersättigten Stimmung ist das Universum durch Explosion entstanden, und zugleich wird befürchtet, daß zum mindesten die Erde ähnlich zugrunde geht.“ SW 19, S. 598. 77 Ebd., S. 599.



1.2  Epistemische Dimensionen des Ur

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Jünger 56  Jahre zuvor mit seinem Lob des Ur ein Denkmal gesetzt; nun werden die Verstärkerfunktion und der Grundlegungsanspruch der Vorsilbe durch das Hauptwort diskreditiert. Jünger möchte stattdessen von „Ursprung“ sprechen: „Als Mögliches […] muß alles wie in ein Samenkorn eingeschlossen sein, einschließlich des homo sapiens – gleichviel ob er sich auf einem Planeten verwirklichte oder nicht.“78 Der geologisch-biologische Entwicklungsradius des Kosmos wird hier durch eine entgrenzte frühneuzeitliche Präformationslehre abgesteckt: In gleichem Maße, in dem die Präformisten davon ausgingen, dass der gesamte Organismus in Spermium oder Ei en miniature vorgebildet sei, sieht Jünger die Entwicklungspotenzialität der Planeten – und hier besonders des Planeten Erde – tiefenstrukturell codiert. Das ‚Ur‘ ist damit eine Art apriorisches Schema: Es begründet seinen grundlegenden Konstitutionsanspruch mit Blick auf Raum und Zeit, ohne selbst raum-zeitliche Erscheinungssignifikanz attestiert zu bekommen: „Kommt der Ursprung aus dem Unausgedehnten, wird er Raum, kommt er aus dem Zeitlosen, wird er Zeit schaffen.“79 Man mag Jüngers Verteidigung des ‚Ur‘ gegen Ende des 20. Jahrhunderts für eine verspätete Rechtfertigung eines bereits in den 1930er-Jahren problematischen Konzeptes halten. Es gibt jedoch in den Jahrzehnten nach 1900 wohl keine andere Vorsilbe, der eine vergleichbare Bedeutung zuzusprechen wäre. Es geht dabei nicht allein um Quantität, darum, dass sich nahezu jedes Adjektiv und Substantiv mit diesem Präfix schmücken und damit ‚steigern‘ lässt. Entscheidend ist vielmehr, dass der Anspruch, etwas in seiner ‚Ursprünglichkeit‘ zu verhandeln, ausgerechnet zu dem Zeitpunkt laut wird, zu dem die ‚Krise der Wirklichkeit‘ nachhaltig auf den europäischen Wissenshaushalt durchschlägt und jede semantische ‚Steigerung‘ nicht als Ausweis nachgewiesenen Wirklichkeitsbesitzes gelten kann, sondern mehr schlecht als recht kaschierte Zweifel signalisiert.80 Das ‚Ur‘ taucht dabei in unterschiedlichen epistemischen Rollen auf, die eins gemeinsam haben: Sie versuchen ein Eigentliches sowohl gegenüber einer perspektivisch akzentuierten Doppel- oder Mehrfachcodierung als auch gegenüber dessen Auflösung in eine reine Funktionsbestimmung zu verteidigen. Insofern partizipiert das ‚Ur‘ zum einen am großen Rettungsunternehmen der Anschaulichkeit von Welt, wie es am eindrücklichsten wohl die phänomenologischen und expres-

78 79 80

Ebd., S. 598. Ebd., S. 600. Vgl. zur Krisenrhetorik der 1920er- und 1930er-Jahre: Moritz Föllmer/Rüdiger Graf: Einleitung, in: Dies. (Hrsg.): Die „Krise“ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt/M. u. New York 2005, S. 9–41; vgl. zur „Krise der Wissenschaft“ auch Klaus Lichtblau: Kulturkrise und Soziologie. Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland, Frankfurt/M. 1996, S. 392–457.

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sionistischen Verfahren der ‚Reduktion‘ entworfen haben.81 Zum anderen ist es auch der Begleiter eines Seinsdenkens, das mit Heidegger über die Phänomenologie Husserls hinaus will. Zu nennen ist hier etwa der frühe, (noch) Jünger sekundierende Hans Blumenberg, der in seiner Habilitationsschrift der gesamten Neuzeit eine ontologische Distanz attestiert, deren augenfälligster Ausdruck die Krisis der Phänomenologie Husserls sei.82 Es ist zudem kein Zufall, dass sich der Hang zur ‚Wesens‘-Bestimmung ausgerechnet in einem geistigen Umfeld etabliert, das jegliches zeitgenössische Substanzdenken unter Rechtfertigungsdruck setzt oder zumindest prinzipiell – wie Ernst Cassirer – die philosophiegeschichtliche Entwicklung vom Substanz- zum Funktionsdenken verlaufen lässt.83 Im Ergebnis kann das ‚Ur‘ als Sammelbecken für eine Formation des Denkens gelten, „die mehr oder weniger dezisionistisch und gewaltsam ein[en] Halt in ahistorischen Konstanten (u.  a. Werten, Archetypen, Ontologien, Seelenbestimmungen, Anthropologien, Rassen)“84 sucht.

1.2.2  Orte des Eigentlichen – Rollen des Ur: „Urerlebnis“ und „Ursein“ Wenn im Folgenden einige epistemische Rollen des Ur durchgespielt werden, dann ist damit keineswegs der Anspruch auf ein vollständiges Verzeichnis aller semantischen Facetten erhoben. Es geht vielmehr darum, beispielhaft den argumentativen Mehrwert gehäufter Kompositabildung mit ‚Ur‘ nachzuvollziehen. Besonders in jenen im Rahmen einer intellektuellen Sozialisation durch den George-Kreis geprägten Spielarten geistesgeschichtlicher Forschung lässt sich eine hypertrophe, häufig zwischen intendierter Bedeutungsemphase, Tautologieverdacht und Leerformel changierende 81 82 83 84

Vgl. zu phänomenologischen und expressionistischen Reduktions- bzw. Abstraktionsverfahren als Strategien zur Kompensation der ‚Krise der Wirklichkeit‘: Ferdinand Fellmann: Phänomenologie und Expressionismus, München 1982. Hans Blumenberg: Die ontologische Distanz. Eine Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls, Habilitationsschrift, Kiel 1950. Vgl. dazu Flasch, Hans Blumenberg, S. 161–204. Vgl. Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Berlin 1910. Ernst Müller/Falko Schmieder: Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium, Berlin 2016, S. 617. Müller und Schmieder sehen das ahistorische Denken als Seite einer Medaille, deren andere durch das „Bemühen“ gekennzeichnet sei, „verdinglichte Begriffe historisch zu erkunden und zu verflüssigen, sowie geschichtlich unhaltbar gewordene Begriffe auszuscheiden“. (Ebd.) Die ‚Krise der Wirklichkeit‘ zeitigt demnach zwei unterschiedliche Entwicklungen: Neben die Entstehung des modernen begriffsgeschichtlichen Denkens, „dem erst jetzt die Geschichtlichkeit von Begriffen in einem emphatischen Sinne zu einem Problem wird“, treten neue „Formen der Entbegrifflichung und Enthistorisierung.“ (Ebd., S. 617, S. 621)



1.2  Epistemische Dimensionen des Ur

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Verwendung der Vorsilbe nachweisen. Ein Blick auf den Literaturhistoriker Friedrich Gundolf (1880–1931) und den Universalhistoriker Kurt Breysig (1866–1940) soll dies abbreviaturartig verdeutlichen.85 Friedrich Gundolfs Shakespeare und der deutsche Geist (1911) kann neben Ungers Hamann als Prototyp geistesgeschichtlicher Literaturbetrachtung gelten.86 Gundolf versucht hier im Gegensatz zu einer rezeptionsgeschichtliche Zeugnisse „als endgültige Tatsachen“ präsentierenden Einflussorientierung die deutsche Aufnahme Shakespeares „sinnbildlich“ als Entwicklung eines Kräftefeldes zu modellieren; im Ergebnis soll eine „Kräftegeschichte“87 entstehen. ‚Größe‘ und ‚Gestalt‘ Shakespeares bürgen dabei für seine Ausstrahlung. Ganz ähnlich verhält es sich bei Gundolfs Goethe (1916) – trotz aller Kritik seitens der disziplinären germanistischen Literaturwissenschaft einer der meistgelesenen Goethe-Biographien der 1920er-Jahre.88 Auch hier werden ‚Größe‘ und ‚Gestalt‘ als geistesgeschichtliche termini technici in Anschlag gebracht, um ‚positivistisch‘ gescholtene Philologie, biographisch und werkgeschichtlich motivierte Faktenorientierung, Entwicklungsdenken sowie psychologische Einfühlung als oberflächlich zu diskreditieren.89 Man muss 85

86

87 88

89

An Materialien (Briefwechsel, Porträts, Erinnerungen) zu einer ersten Orientierung hinsichtlich der Beziehung George und Gundolf sowie George und Breysig, auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden kann, liegen vor: Friedrich Gundolf: George, Berlin 1920; Ders.: Stefan George in unserer Zeit, in: Ders.: Dichter und Helden, Heidelberg 1921, S. 59– 78; Ders./Stefan George: Briefwechsel, hrsg. v. Robert Boehringer u. Georg Peter Landmann, München u. Düsseldorf 1962; Kurt Breysig: Begegnungen mit Stefan George. Tagebuchblätter, in: Castrum Peregrini XLII (1960), S. 9–32; Ders.: Aus meinen Tagen und Träumen. Stefan George, in: Ders.: Aus meinen Tagen und Träumen. Memoiren, Aufzeichnungen, Briefe, Gespräche. Aus dem Nachlass hrsg. v. Gertrud Breysig und Michael Landmann, Berlin 1962, S. 33–45; Ders./Stefan George: Gespräche – Dokumente, Amsterdam 1960. Vgl. zur narrativen literaturgeschichtlichen Vorbildfunktion von Ungers Hamann Klaus Weimar: Das Muster geistesgeschichtlicher Darstellung. Rudolf Ungers Einleitung zu Hamann und die Aufklärung, in: Christoph König/Eberhard Lämmert (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910–1925, Frankfurt/M. 1993, S. 92–105. Friedrich Gundolf: Shakespeare und der deutsche Geist, Berlin 1920 [1911], S. VII, vorhergehende Zitate gleichfalls. Vgl. zum Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit („Wissenschaftskunst“), der mit der Veröffentlichung der Goethe-Monographie einsetzt, Ernst Osterkamp: Friedrich Gundolf zwischen Kunst und Wissenschaft. Zur Problematik eines Germanisten aus dem George-Kreis, in: König/Lämmert (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910–1925, S. 177–198, hier: S. 188–193. Vgl. zur Rolle der ‚Gestalt‘-Konzeption in der geistesgeschichtlichen Argumentation Rainer Kolk: Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises 1890–1945, Tübingen 1998, S. 375–384, bes. S. 379–384; Gerhard Zöfel: Die Wirkung des Dichters. Mythologie und Literaturwissenschaft um Stefan George, Frankfurt/M. u.  a. 1987, S. 114–186. Vgl. zur ‚Gestalt‘-Diskussion in der anti-historistischen Geschichtsschreibung, besonders des GeorgeKreises Gregor Streim: ‚Krisis des Historismus‘ und geschichtliche Gestalt. Zu einem ästhetischen Geschichtskonzept der Zwischenkriegszeit, in: Daniel Fulda/Silvia Serena Tschopp (Hrsg.): Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Berlin u. New York 2002, S. 463–488.

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die Rede von der Oberflächlichkeit hier ganz wörtlich nehmen, denn vor der diagnostizierten Oberfläche kann jene – durch die, wie wir noch sehen werden, auch methodisch im Modell der „Kräftekugel“ abgesicherte – Tiefe zur Geltung kommen, die das geistesgeschichtliche Verstehen für sich reklamiert. Die Konzentration auf ‚Größe‘ und ‚Gestalt‘ muss im Rahmen dieser Argumentation als Teil einer von den Georgianern vertretenen Strategie der „Verknappung“ gelten, die einem multiperspektivischen, auf philologischer Grundlage unterschiedliche Deutungsmuster synthetisierenden Goethe-Bild des 19.  Jahrhunderts eine eindimensionale Wesensschau gegenüberstellt.90 Gundolfs gestalthafte Komplexitätsreduktion unterscheidet sich konzeptionell im Detail durchaus von Ungers in der Hamann-Monographie entworfener Komplexitätsemphase.91 Dabei rückt ein Begriff in den Mittelpunkt, dem bereits durch die Dilthey-Rezeption des frühen 20. Jahrhunderts einige Aufmerksamkeit zukam und der nun – entpsychologisiert – ‚gesteigert‘ wird: Es geht um das ‚Erlebnis‘, resp. das ‚Urerlebnis‘.92 Gundolf geht davon aus, dass sich das Leben eines Künstlers, zumal eines großen Dichters, in seinem Werk realisiere. Es handelt sich hierbei nicht um Transpositionen oder Interferenzen, so als ob Teile des Lebens im Werk erkennbar wären und sich von dort aus erschließen ließen oder das Werk durch biographischen Spürsinn erhellt werden könnte. Das wäre „Goethe-philologie“93, wie er abschätzig bemerkt. Der vitalisierte Werksbegriff stellt demgegenüber einerseits sicher, dass man der ‚Gestalt‘ Goethes in der Lektüre seiner Texte tatsächlich habhaft werden könne; andererseits gibt es keine Prosa der biographischen Verhältnisse, die erst durch die Kunst geadelt werden müsste: Der Künstler ist nur im Werk; Leben und Dichten sind eins. Verbunden ist mit der Leben und Kunst vereinigenden GestaltKonzeption eine Absage an den Gedanken, die lineare Abfolge in der Zeit könnte das Strukturierungsprinzip für die Erzählung von Leben/Kunst liefern. Was sich erzählen lässt und was erzählt werden muss, orientiert sich am 90 91

92 93

Vgl. zur Strategie der „Verknappung“: Hans-Martin Kruckis: „Ein potenziertes Abbild der Menschheit“. Biographischer Diskurs und Etablierung der Neugermanistik in der GoetheBiographik bis Gundolf, Heidelberg 1995, S. 296. Vgl. zu Ungers Unterscheidung in unterkomplexe, ‚rationalistische‘ Frühaufklärung und hochkomplexe, ‚irrationalistische‘, von daher im Geiste zeitgenössischer Lebensphilosophie aktualisierbare Hoch- und Spätaufklärung (ab 1750) Daniel Fulda: Aufklärungsforschung als Aufklärungskritik. Die Entstehung der neugermanistischen ‚Geistesgeschichte‘ aus der Krise des Historismus, in: Georg Neugebauer/Paolo Panizzo/Christoph Schmitt-Maaß (Hrsg.): ‚Aufklärung‘ um 1900. Die klassische Moderne streitet um ihre Herkunftsgeschichte, München 2014, S. 103–123, hier: S. 116–120. Kruckis deutet das „Georgeerlebnis“ Gundolfs als methodischen Schlüssel zur biographischen Konzeption der Goethe-Schrift. Vgl. zum „Erlebnis als Methode“: Kruckis, „Ein potenziertes Abbild der Menschheit“, S. 299–317. Friedrich Gundolf: Goethe, Berlin 1916, S. 4.



1.2  Epistemische Dimensionen des Ur

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Prinzip der sog. „Kräftekugel“94. „[Z]eitliche Entwicklung“ solle nicht als „als das Abrollen einer Linie“, sondern als „kugelförmige[.  .] Ausstrahlungen von einer Mitte her“ imaginiert werden: „Die einzelnen Werke sind die sichtbaren Schichten dieser strahlenden Kraft“95, wobei die Strahlungsintensität über den Rang der literarischen Produktionen entscheidet.96 Eine gewisse Redundanz im Erzählen Gundolfs ist also einerseits gleichsam methodisch verbrieft, widersprechen doch allzu offensichtliche Veränderungen und Brüche der Annahme einer unbeweglichen Strahlungsquelle; andererseits freilich folgt Gundolf Goethes Leben chronologisch, so dass die vertraute Werkordnung von den Rokoko-Anfängen zum Goethe des Faust II gewahrt bleibt. Verbunden wird die Denkfigur der „Kräftekugel“, die Gundolf in methodischer Hinsicht als „Gleichnis“97 verstanden wissen will, mit einer Einteilung der dichterischen Arbeiten gemäß „dem Grade der Unmittelbarkeit womit Goethes Erlebnis in diesen Werken dargestellt wird, besser: sich selbst darstellt“. Gundolf nennt hier die „lyrischen, die symbolischen und die allegorischen Dichtungen“98. Die höchste Erlebnissättigung bekommt die lyrische, die geringste die allegorische Dichtung attestiert. Spricht Gundolf zunächst lediglich vom „Erlebnis“, so wird dieses bald zum „Urerlebnis“ gesteigert und in dieser Form im Rahmen der eigenartigen Gattungstypologie zum Indikator dafür, zu welcher Dichtungsart ein bestimmtes Werk zu zählen ist. Im Duktus von Merksätzen formuliert er: Goethes Lyrik enthält seine Urerlebnisse, dargestellt im Stoff seines Ich. Goethes Symbolik enthält seine Urerlebnisse, dargestellt im Stoff einer Bildungswelt. Goethes Allegorik enthält seine abgeleiteten Erlebnisse im Stoff einer Bildungswelt.99

Die „Urerlebnisse“ bürgen für all das, was Goethe als Gestalt auszeichnen soll und gleichsam in der Mitte der „Kräftekugel“ zu verorten wäre.100 Gundolfs Trias zielt zwar nicht auf eine wertnormative Hierarchie ab, nach der der „Lyrik“ vor „Symbolik“ und „Allegorik“ der erste Rang zuzusprechen wäre, gleichwohl stellt die geschichtsphilosophisch aufgeladene Charakteri94 95 96

Ebd., S. 15. Ebd., S. 14  f. Vgl. zur Entwicklung des Kräftekugelmodells bei Gundolf: Michael Rißmann: Literaturgeschichte als Kräftegeschichte. Friedrich Gundolfs Beitrag zur Methodik geistesgeschichtlicher Literaturbetrachtung, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 42/1 (1997), S. 63–105, hier: S. 79–81. 97 Gundolf, Goethe, S. 15. 98 Ebd., S. 16. 99 Ebd., S. 28. 100 Vgl. zur Taxierung einzelner Werke Goethes anhand ihrer ‚Urerlebnisqualitäten‘ z.  B. ebd., S. 113 (Mahomet und Prometheus), S. 122 (Götz von Berlichingen und Faust), S. 302 (Iphigenie auf Tauris, Torquato Tasso, Wilhelm Meister-Komplex), S. 504 (Der Gott und die Bajadere, Die Braut von Korinth).

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sierung Goethes als Dichter der Moderne die aufgerufene „Bildungswelt“ unter den Verdacht, einengend zu wirken. Den Vergleichspunkt gibt hier Dante ab, wobei Gundolf gleich dem Lukács der Theorie des Romans (1916) den Totalitätskonturen der Alten Welt die Fragmentarisierung der Moderne gegenüberstellt101 – insofern ließen sich beide Arbeiten in die Rezeptionsgeschichte der Querelle des Anciens et des Modernes einordnen.102 Während Dante und Shakespeare noch im Zeichen einer Welt der „unmittelbaren Kräfte des Urlebens selber“103 wirkten, findet die „gestaltende[.  .] und weltzwingende[.  .] Urkraft“104 Goethes überall Schranken. Der Wert seiner „Lyrik“ kann daher nicht hoch genug veranschlagt werden, gibt er doch dort sein „Ur-ich“105. In immer neuen Anläufen möchte Gundolf Goethes Gestalt Konturen verleihen, indem er das Präfix ‚Ur-‘ für Komposita nutzt, die im Rahmen des „Kräftekugel“-Paradigmas ein imaginäres Zentrum bezeichnen sollen; ein Zentrum, von dem aus die Welt lediglich als Stoff durch Strahlung zu durchdringen ist. Zöfel weist auf die substantialistische Codierung von Gundolfs Zentrums-Denken hin, indem er die in einem Aufsatz für das Jahrbuch für die geistige Bewegung (Wesen und Beziehung) gestellte Frage Gundolfs nach der Existenz eines „ens realissimum“ in der Gestalt-Konzeption beantwortet sieht.106 Mit Blick auf die Goethe-Monographie gilt: Bereits der junge und jugendliche Dichter wird auf „Ureigenschaften“ hin taxiert, die „noch durch keine Bildung getrübt“ sind, auf „Züge“ mithin, „die seiner angeborenen inneren Struktur angehören“ und es letztendlich ermöglichen sollen, „den Weg der Ausstrahlungen und Umwandlungen von möglichst weit innen her verfolgen zu können.“107 Die Rhetorik einer innerlichen Mitte wendet sich sowohl gegen entwicklungspsychologische und kontextaffine, etwa soziologisch oder sozial- und ereignisgeschichtlich orientierte Deutungsmuster, als auch gegen philologische Korrekturen („stupider Entdeckerjubel über Goethische ‚Irrtümer‘ und ‚Fälschungen‘“108). Hans-Martin Kruckis hat darauf hingewiesen, dass Gundolfs Goethe ein Mensch in Abwehr der anthropologischen Krise ist: Je schwieriger es wird, zu sagen, was „‚der‘ Mensch eigentlich ist, umso 101 „Dantes Welt war noch eine zusammengehaltene, begrenzte, nach Gesetzen die für unverbrüchlich gehalten, als unabweisbar erlebt wurden, geordnete, überschaubare  … [sic] die Goethes war bereits auseinander gebrochen, unübersehbar, und ihre Grundlagen vielfach fragwürdig geworden.“ Ebd., S. 24. 102 Vgl. dazu mit Blick auf Lukács Rolf-Peter Janz: Zur Historizität und Aktualität der Theorie des Romans von Georg Lukács, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 22 (1978), S. 674– 699. 103 Gundolf, Goethe, S. 25. 104 Ebd., S. 24. 105 Ebd., S. 27. 106 Vgl. Zöfel, Die Wirkung des Dichters, S. 115. 107 Gundolf, Goethe, S. 32. 108 Ebd., S. 5.



1.2  Epistemische Dimensionen des Ur

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nachdrücklicher muß der Blick auf die herausragenden Individuen gerichtet werden, um Klarheit über diese Frage zu gewinnen“109. Tatsächlich jedoch verhält es sich hier ähnlich wie bei der ‚gesteigerten‘ Wirklichkeit: Der um eine innerliche Mitte kreisende, wesenhafte Zuschnitt des Individuums Goethe verweist eher auf die Problematik einer eben solchen wesenhaften KernBestimmung des Menschen, als dass er für gesicherten Wesensbesitz bürgen würde. Mit dem Kern-Ausstrahlungsmodell präsentiert Gundolf jedenfalls ein zeitloses, letztlich antigeschichtliches Wirkprinzip, das sich in der je konkreten, vom Biographen fokussierten Lebensstation aktualisiert. Das Allgemeine eines postulierten Wesenskerns strukturiert oder – besser gesagt – beseitigt sowohl die Fülle an unterschiedlichen hermeneutischen Zugängen zur Beziehung von Leben und Werk wie auch das Besondere und variabel Deutbare der je spezifischen Lebenssituation Goethes. In seiner apodiktischen Grundausrichtung ist die Bestätigung eines ‚Inneren Goethes‘ auch nicht wirklich auf eine Verifizierung am dichterischen Material angewiesen, zumal eine selektive Aufmerksamkeit Gundolfs Vorgehen charakterisiert. Nimmt man die argumentative Rolle in den Blick, die der inflationäre Gebrauch der Vorsilbe ‚Ur-‘ bei Gundolf spielt, so ist zunächst zu vermuten, dass es um eine Verstärkung des Bezugswortes geht. Wie anhand des „Urerlebnis‘“ gezeigt, ist dies nicht falsch. Bestimmender ist jedoch ein anderer Eindruck: Nicht um eine einfache Steigerung geht es, sondern um eine Integration des jeweiligen mit ‚Ur-‘ versehenen Bezugswortes in das epistemische Korsett Gundolfs. Der Bezug zum ‚Inneren Goethes‘ weist der ‚Ureigenschaft‘ oder dem ‚Urerlebnis‘ eine Bedeutungsqualität zu, die den semantischen Rahmen ganz maßgeblich mitprägt; ‚Eigenschaft‘ oder ‚Erlebnis‘ selbst wären nicht nur semantisch schwächer, sie würden vielmehr keinen nachvollziehbaren Bezug zur imaginierten ‚Mitte‘ haben. Als Einzelwörter wären sie zudem recht unspezifisch; hinzukommt, dass sie ihre Abkunft aus der geisteswissenschaftlichen Psychologie Diltheys kaum verhehlen könnten. Das ‚Ur‘ prägt dem Bezugswort jedenfalls eine Signifikanz auf, die sich einer äußerlichen Prüfung nicht nur dadurch zu entziehen sucht, dass man ihrer nicht philologisch-positiv habhaft werden kann. In der Kern-Metapher selbst – und damit im Herzen des methodischen Dreh- und Angelpunkts – hat sich die Unanschaulichkeit über die Perpetuierung eines innerlichen Zentrums niedergelassen; eines Zentrums, das dichterische Erscheinungen bedingt, ohne selbst jedoch in Erscheinung zu treten. Dieses neuplatonische Verhältnis von unsichtbarer, bedingender Mitte und sichtbarem, bedingtem Äußeren ist für Gundolf zentral.110 109 Kruckis, „Ein potenziertes Abbild der Menschheit“, S. 296. 110 Im Ergebnis führt diese Sichtbarkeits-Unsichtbarkeits-Differenz zu bisweilen bizarren Unterscheidungen. So werden dem „Knaben Goethe“ zwar „Ureigenschaften“ zugestanden;

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Was wohl am auffälligsten an Gundolfs methodischer Ausrichtung anmutet, ist die Orientierung an dem aus der Physik entlehnten Strahlungsmodell. Nun wäre es sicher unangemessen, den naturwissenschaftlichen Einfluss überzubetonen; im Grunde geht es Gundolf ja nur darum, ein „Zeitliches, nämlich Erleben und Schaffen, als Räumliches, nämlich als Gestalt“111, zu konzipieren. Gleichwohl fällt es ins Auge, dass besonders häufig von ‚Ur‘-Komposita Gebrauch machende Autoren geistesgeschichtlicher Prägung – wie etwa Kurt Breysig – in den 1920er- und 1930er-Jahren ihre Argumentation physikalisch grundieren.112 Zwischen erkenntnistheoretischer ‚Ur‘-Relevanz und einer Abkehr von etablierten historiographischen Mustern im Zeichen der ‚Krise des Historismus‘ scheint es also einen Zusammenhang zu geben.113 Ganz maßgeblich motiviert wird dieser Zusammenhang über eine Entgrenzung der menschlichen Geschichte (‚Universalgeschichte‘) ins Kosmische. So hat sich Kurt Breysig in Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte (1933) das Ziel gesetzt, jene „tatsächlichen Einwirkungen zu umgrenzen, die von dem außermenschlichen in das menschliche Weltgeschehen eingeflossen

die Rede von „Urerlebnissen“ sei jedoch noch nicht statthaft: „denn von Urerlebnissen (…) hören wir wohl (…), aber wir sehen weder in einer bezeichnenden Handlung noch in einer Produktion etwas davon.“ Während also „Urerlebnisse“ nur über nachweisbare Dichtungen aus der Feder Goethes einholbar seien, ließen sich „Ureigenschaften“ (Gundolf, Goethe, S. 46) auch über die Indienstnahme von weniger verlässlichen Sekundärquellen erschließen. Hier verselbständigt sich die „Ur-“Terminologie Gundolfs; und zwar in der Form, dass er, um Tautologien und Ungenauigkeiten zu vermeiden, Differenzierungen vornehmen muss, die nicht in erster Linie einem besseren Verständnis Goethes oder seiner Werke zugutekommen, sondern der systematischen Grundentscheidung geschuldet sind, zwischen Innen und Außen, Oberfläche und Tiefe, Allgemeinem und Besonderem kategorisch unterscheiden zu wollen und gleichzeitig vermitteln zu müssen. Denn freilich, das ist auch Gundolf trotz aller antipositivistischen Bekenntnishaftigkeit klar: Ein „Urerlebnis“ ohne nachweisbare Bestätigung aus Goethes Feder mag zwar die Nähe zu einer inneren Mitte für sich reklamieren, literaturgeschichtlich gesehen, ist es jedoch Unsinn. 111 Gundolfs, Goethe, S. 14. 112 Vgl. zu Breysig grundlegend Bernhard vom Brocke: Kurt Breysig. Geschichtswissenschaft zwischen Historismus und Soziologie, Lübeck u. Hamburg 1971; Hartmut Böhme: Universalistische Entgrenzung und versatile Analogien in der Menschheitsgeschichte von Kurt Breysig, in: Wolfgang Hardtwig/Philipp Müller (Hrsg.): Die Vergangenheit der Weltgeschichte. Universalhistorisches Denken in Berlin, Göttingen 2010, S. 173–194. 113 Vgl. zur ‚Krise des Historismus‘ als erkenntnistheoretisches Krisensymptom Otto Gerhard Oexle: Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Eine Problemgeschichte der Moderne, in: Ders. (Hrsg.): Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880–1932, Göttingen 2007, S. 11–115; Ders.: Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zur Problemgeschichte der Moderne, Göttingen 1996, S. 41–72; vgl. auch zur Verhandlung des Historismusproblems in der Nachfolge von Ernst Troeltschs epochemachender ‚Krisis‘-Diagnose Annette Wittkau: Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems, Göttingen 1992, S. 147–196.



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sind“114. Gewidmet ist das Buch dem Physiker Niels Bohr. Breysig spricht von der allseits geforderten „monokosmische[n] Sicht“ und einem „Drang zur Vereinheitlichung des Weltbildes“115. Der Sache nach geht es um die Rückführung gesellschaftlicher Abläufe und organischer Prinzipien auf anorganische Grundlagen. Legitimiert wird dies durch die Marginalität der menschlichen Geschichte angesichts der kosmischen Zeiträume mit denen Astronomie und Geologie rechnen: „23000 Jahre“ Menschheitsgeschichte stehen „1200 Millionen Jahre“ der Gesteinsbildung auf dem Planeten Erde gegenüber.116 Daraus ergibt sich eine gewisse Skepsis hinsichtlich einer kulturgeschichtlich-anthropologischen, sowohl an die Geschichte der Menschheit und des Menschseins, dann vor allen Dingen aber auch an Schriftzeugnisse gebundenen Perspektive der Geschichtsschreibung. Den Schlüssel für die Determination und Reflexion gesellschaftlicher Zusammenhänge durch nicht-gesellschaftliche Prinzipien glaubt Breysig in den Erkenntnissen der modernen Physik gefunden zu haben. In gleichem Maße, in dem „im innersten und elementarsten Bezirk des anorganischen Reiches die Urkörper, d.  h. Elektronen, Atome und Moleküle in einer […] beständigen Bewegung angetroffen werden“117, so lassen sich auch Formen der Bewegung in organischen und schließlich auch sozial-historischen Kontexten ausmachen. Auch wenn Breysig sich immer wieder selbst zur Räson ruft und vor einem eklektischen Analogisieren und Assoziieren warnt, so macht er sich doch im Grunde genau dessen schuldig. Es ist deshalb nicht mal ironisch, sondern lediglich charakteristisch und bezeichnend, wenn man ihn mit einer pointierten Bemerkung Gottfried Benns zu jenen zählt, die ihr Unwesen mit „der modernen Physik trieben, diese zu einem […] aufgedunsenen Balg aus angeblich weltanschaulicher und ruhmvoller Erkenntnis öffentlich aufbliesen.“118 Die von Benn als „monströse Wissenschaft“119 bezeichnete Physik entfaltet ihre wahre Monstrosität erst in der Rezeption durch eine Universalgeschichtsschreibung, die in ihrem Ungenügen an den – so möchte man meinen – wahrlich nicht engen Grenzen menschheitsgeschichtlich nachweisbarer Aktivitäten auf andere Wissensgebiete zugreift, um Totalität begründen zu können. Gegenüber „scheidelustigen trennungssüchtigen  […] Lehrmeinungen“120 betont Breysig den integrativen, interdisziplinären Charakter seiner 114 115 116 117 118

Kurt Breysig, Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte, Breslau 1933, S. VII. Ebd., S. VIII. Vgl. ebd., S. 16  f. Ebd., S. 273. Gottfried Benn: Expressionismus [1934], in: Ders.: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, in Verb. mit Ilse Benn hrsg. v. Gerhard Schuster, Bd. IV, Prosa 2 (1933–1945), Stuttgart 1989, S. 76–90, hier: S. 84. 119 Ebd., S. 85. 120 Breysig, Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte, S. VIII.

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Perspektive. Damit ist der Ort benannt, an dem seine ‚Ur‘-Komposita ihren systematischen Platz bekommen: In Frontstellung zum Erkenntnisrelativismus Kants und Erkenntnisskeptizismus Nietzsches einerseits, und in Weiterführung von Ernst Haeckels Monismus und Hegels integrativem Geist-Konzept andererseits arbeitet Breysig an einer neuen Ontologie, „Urseinslehre“ genannt. Gegenüber Seinslehren „im alten aprioristischen, analytischen und deduktiven Sinn“, die nach Breysigs Meinung zu sehr Arbeit am Seins-Begriff leisteten, rückt das Sein nun selbst in den Mittelpunkt. „Nicht Überbauten über dem Sein, sondern Enthüllungen der Tiefen, der Kerne des Seins“, soll die neue Betrachtung erbringen, „nicht Metaphysik, sondern Endophysik, nicht willkürlich bauende Daseinslehre, sondern Urseinslehre. Sie wird nicht Begriffe enthüllen wollen, sondern Seinskerne, Urdinge.“121 Bereits ein Blick in das Inhaltsverzeichnis macht den Leser mit einer Vielzahl von ‚Ur‘-Komposita bekannt. Diese scheinen zwar durch die hierarchische Gliederung der Überschriften in einer gewissen subordinierten Beziehung zueinander zu stehen, sind jedoch tatsächlich recht lose gekoppelt: Das „Erste Buch“ des „Ersten Teils“ ist schlicht mit „Urordnungen“ überschrieben; das „Erste Stück“ des „Ersten Abschnitts“ dieses Buches verspricht dann Einsichten in die „Ureinheit der Welt“, bevor Breysig schließlich im darauffolgenden „Zweiten Stück“ seine „Urseinslehre“ präsentiert. Mit ontologischem Furor arbeitet er an immer neuen ‚Ur‘-Komposita, die – im Gegensatz zur intendierten und selbstbewusst in Anspruch genommenen Seinsgewissheit – wohl in erster Linie eins deutlich machen: Nichts ist so erklärungsbedürftig wie die Rede von ‚Dasein‘ und ‚Wirklichkeit‘. Es ist denn auch kein Zufall, dass ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, zu dem Benn „‚Wirklichkeit‘“ als „Europas dämonische[n] Begriff“ bezeichnet und den Wechsel von einer substantialistisch konzipierten ‚Wirklichkeit‘ hin zu einer unübersichtlichen Fülle von „Beziehungen und Funktionen“122 diagnostiziert, ein Denken erstarkt, das sich ausdrücklich der Restitution des Seins widmet. Es geht um die Kompensation der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vielbeschworenen Wirklichkeitskrise, und zwar in erster Linie durch eine Steigerung der bisher für Substanz-Sicherheit garantierenden Begriffe, besonders ‚Ding‘ und ‚Sein‘. Je mehr und je penetranter also vom ‚Ur‘ die Rede ist, desto unsicherer ist der Status des Bezugswortes hinsichtlich seiner tatsächlichen ontologischen Bezeichnungsqualität einzuschätzen und desto mehr geht es um eine Begrenzung einer relationistisch-funktionalistischen Argumentation. Wie problematisch Breysigs Versuch einer Re-Ontologisierung der ‚Wirklichkeit‘ ist, wird am Beispiel seiner einzigen umfangreichen kunstschrift121 Ebd., S. 14. 122 Benn, Expressionismus, S. 81. Vorhergehendes Zitat gleichfalls.



1.2  Epistemische Dimensionen des Ur

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stellerischen Arbeit  – Eindruckskunst und Ausdruckskunst (1927)  – sichtbar. Dort deutet er die Malerei von Franz Marc, aber auch von Paul Klee, Lyonel Feininger und vor allen Dingen Pablo Picasso als Antwort auf die neuen, durch die physikalische Forschung (Max von Laue, William Henry Bragg und William Lawrence Bragg) gewonnenen Raumkonzepte.123 Bereits hier zeigt sich, was dann in den 1930er-Jahren noch deutlicher werden wird: zum einen die Essentialisierung des Konstruktiven, d.  h. die Inanspruchnahme physikalischer Modellbildungen und damit konstruktiver Konzepte für einen ontologischen Diskurs, den die Physik an ihrer Orientierung am Funktionsdenken eigentlich überwinden wollte; zum anderen – damit verbunden – die hypertrophe Verwendung von ‚Ur‘-Komposita als Teil der ‚Kern‘-, ‚Tiefen‘und ‚Strahlen‘-Metaphorik. Indem Breysig Marcs gemalte „Urwirklichkeiten“ dem „Weltbild, das die Wissenschaft“ für den „Urkern des Seins enthüllt hat“, korrespondieren lässt, kann er dessen Bildprogramm auch „als in Wahrheit kosmische[s] Leitmotiv“124 ansprechen, das im künstlerischen Feld das exemplifiziere, was die Molekularphysik im wissenschaftlichen Gebiet leiste.125 Es ist eine besondere Spielart geistesgeschichtlicher Argumentation, das substantialistische Seinsdenken ausgerechnet auf dem Feld restaurieren zu wollen, das sich maßgeblich darüber definiert, allein Funktionsbeziehungen gelten zu lassen.126 123 Vgl. dazu Norman Kasper: Expressionistische Moleküle, universalgeschichtlich betrachtet. Franz Marc bei Kurt Breysig, in: Michael Baumgartner/Andreas Michel/Reto Sorg (Hrsg.): Historiografie der Moderne. Carl Einstein, Paul Klee, Robert Walser und die wechselseitige Erhellung der Künste, München 2016, S. 153–166. 124 Kurt Breysig: Eindruckskunst und Ausdruckskunst. Ein Blick auf die Entwicklung des zeitgenössischen Kunstgeistes von Millet bis zu Marc, Berlin 1927, S. 227. Vorhergehende Zitate gleichfalls. 125 „Erst in unseren Tagen – seltsamer Weise in dem gleichen Jahrfünft, in dem der Kubismus entstand  – haben die großen Entdeckungen der Physiker Max von Laue und der beiden Bragg enthüllt, daß im innersten Kern, im Molekularbau, vermutlich alle festen Stoffe im selben stereometrischen Sinne geordnet sind. Die kleinsten Bausteine nämlich, aus denen sich die Kristalle aufbauen, die Atome, treten in den Molekülen kubisch, tetraedisch zusammengeordnet auf. Im Innersten also ist die Welt der kleinsten starren Körper, aus denen sich nicht nur die anorganische, nein auch die organische Welt aufbaut, nach den gleichen Grundsätzen stereometrischer Teilung angeordnet.“ Ebd. 126 Breysigs Unternehmen einer naturwissenschaftlich-historischen Synthese lässt sich sicherlich in den von zahlreichen Zeitgenossen in Angriff genommenen Versuch einer Überwindung der Entgegensetzung von historisch orientierten und nomothetisch orientierten Wissenschaften einreihen, wie dies Bettina Hey’l vermerkt. Man sollte in diesen Synthesebemühungen Breysigs allerdings keinen Rückgriff auf die „aufklärerische Rationalität“ sehen. So einleuchtend das mit Blick auf die von Hey’l genannten Karl Mannheim (Wissenssoziologie) und Ernst Cassirer (Symboltheorie) ist, so problematisch erscheinen doch die im gleichen Atemzug genannten Kurt Breysig und Oswald Spengler. Die Strukturierung des historischen Materials durch „Regeln und Gesetze“ präfiguriert noch keine Entscheidung für oder gegen bestimmte Rationalitätsstandards. Hey’l, Geschichtsdenken und literarische Moderne, S. 49.

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1  Jüngers Ur zwischen Empirie und Idealismus

Fassen wir zusammen: Der Vorsilbe ‚Ur-‘ kommt im Rahmen eines geistesgeschichtlich orientierten Substanzdenkens eine besondere Rolle zu. ‚Ur-‘ dient zum einen nicht nur einer Intensivierung des Bezugswortes; markiert wird vielmehr der epistemische Ort dieses Bezugswortes innerhalb der gebotenen Gesamtkonzeption: Gundolfs „Urerlebnis“ prägt seine Vorstellung von Goethes Autorschaft in gleichem Maße wie Breysigs „Urseinslehre“ zwischen Naturwissenschaft und Menschheitsgeschichte zu vermitteln sucht. ‚Erlebnis‘ und ‚Seinslehre‘ allein sind in diesem Sinne nicht einfach schwächere Derivate; ihnen kommt schlicht nicht der argumentative Status zu, den ihre größeren, ‚gesteigerten‘ Brüder für sich in Anspruch nehmen. Zum zweiten verweisen beide hier aufgerufenen ‚Ur‘-Dimensionen nicht so sehr auf ein zeitlich Frühes, sondern auf ein grundlegend Prägendes. Der Primat der strukturellen Dimension des ‚Ur-‘ schließt dabei aber keineswegs aus, dass sich die behauptete Prägekraft in einem chronologisch Ersten am deutlichsten nachweisen lässt. So stellt die Rede vom „Urerlebnis“ – Gundolf unterscheidet das „religiöse, das titanische oder das erotische“127 – durchaus auf frühe Erfahrungen Goethes ab; und Breysigs Hinweis auf das ungeheure Alter der Erde als Marginalisierung einer anthropozentrischen Geschichtsschreibung meint gleichfalls ein zeitlich – eben erdzeitlich – gedachtes Frühes, eine kristalline Struktur als Anfangspunkt und Matrix weiterer Entwicklungen. Eine solche Spiegelung des Systematischen im Chronologischen kann jedoch über die grundlegende Differenz nicht hinwegtäuschen: Ist das durch seine zeitliche Frühe determinierte Ur schon immer Teil der Erscheinungswelt und somit verdächtig, etwas nur äußerlich zu zeigen, so signifiziert das wesenhafte Ur ein der unmittelbaren Sichtbarkeit Entzogenes, das tiefenstrukturelle Prägekraft für sich reklamiert. Was für das Verhältnis von zeitlicher und wesenhafter Dimension des ‚Ur‘ gilt, das gilt generell für die Beziehung von sichtbarer und unsichtbarer Dimension des ‚Ur‘: Sie ist mehr antinomisch als verstärkend. Deutlich zeigen lässt sich dies bspw. an Breysigs ‚Urkern‘-Denken. Dieses operiert bereits mit einer konstruierten Anschaulichkeit – die kleinsten Teile, auf die es sich bezieht, entstammen der mikroskopischen Vergrößerung oder der Modellbildung: Es handelt sich also um die fragmentierte, typologisierte Erscheinungswelt, der in kosmischer Perspektive die Bedeutung einer ‚Ur‘-Matrix zugesprochen wird. Eine einfache Unterteilung in (transzendentale oder typologische) Präge- und (empirisch zugängliche) Erscheinungswelt ist damit eigentlich hinfällig. Wir werden im Folgenden immer wieder auf das latente Spannungsverhältnis sowohl von systematischer und chronologischer als auch von metaphysischer und empirischer Begründung der ‚Ur‘-Dimension stoßen. Dass 127 Gundolf, Goethe, S. 27.



1.3 Urwelt

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es sich dabei um ein spezifisches Problem der epistemischen Situation der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts handelt, das vorher in dieser Intensität nicht virulent war, wird dann deutlich, wenn man die Karrieren derjenigen Begriffe in den Blick nimmt, die sich im 19. Jahrhundert unter den Auspizien der Vorsilbe ‚Ur-‘ etablierten: Urwelt und Urzeit. Denn für diese ist die Bezeichnung eines zeitlich Frühen, ja des zeitlich Ersten gleichsam konstitutiv, ohne dass sich dabei der Anspruch auf eine tiefenstrukturelle Codierung späterer Entwicklungsphasen nachweisen ließe. Im Gegenteil: Die Bekanntschaft mit der geologischen und biologischen Tiefenzeit ist das eigentliche Faszinosum. ‚Urwelt‘ meint in diesem Sinne die frühe, nicht die ‚eigentliche‘ Welt. Während die Geschichte der Erde als Bildung und Veränderung ihrer Oberfläche bereits im Laufe des 18.  Jahrhunderts in das Bewusstsein der Zeitgenossen dringt, bleibt die Entdeckung der biologischen Entwicklungsgeschichte der Pflanzen-, Tier- und Menschenwelt dem 19. Jahrhundert vorbehalten. Wir wollen diesen Wandel geologischer und biologischer Raumund Zeitvorstellungen im folgenden Abschnitt etwas genauer skizzieren, um daran anschließend jene anti-zeitlichen und anti-entwicklungsgeschichtlichen Volten des Ur im frühen 20. Jahrhundert in Kapitel 1.4 besser in den Blick nehmen zu können, die an der Synthese von Empirie und Metaphysik, von Anschauung und Idee beteiligt sind.

1.3 Urwelt Auch wenn die Rhetorik von der Urwelt und Urzeit etwas Altes, längst Vergangenes bezeichnet, so ist sie doch selbst nicht besonders alt. Erst die Vorstellung, die Erde verfüge über eine eigene Geschichte, die – gleich der menschlichen  – Veränderungen umfasst, schaffte Platz für die Annahme einer andersgestalteten Erdoberfläche, sowie, später, einer von der heutigen verschiedenen Flora und Fauna. Damit wurde es notwendig, die Jetzt-Welt von einer Urwelt zu unterscheiden. Bevor es zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu vermehrten Einsichten in die biologische Entwicklungsgeschichte kam, die schließlich in die Evo­lu­ tions­theorie Charles Darwins (1809–1882) mündeten, wurden die Grundlagen für eine Weitung des Zeitbewusstseins gegen Mitte des 18. Jahrhunderts mit der Entdeckung der geologischen Tiefenzeit gelegt.128 Verbunden 128 Vgl. Paolo Rossi: The Dark Abyss of Time. The History of the Earth and the History of Nations from Hooke to Vico, aus d. Italienischen v. Lydia G. Cochrane, Chicago u.  a. 1983 [1979]; Stephen Gould: Die Entdeckung der Tiefenzeit. Zeitpfeil und Zeitzyklus in der Geschichte unserer Erde, aus d. Amerikanischen v. Holger Fliessbach, München 1990 [1987]; Martin J. S. Rudwick: Bursting the Limits of Time. The Reconstruction of Geohistory in

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1  Jüngers Ur zwischen Empirie und Idealismus

ist diese Entdeckung vor allen Dingen mit dem Namen James Hutton (1726– 1797), und damit mit der Schottischen Aufklärung.129 Hutton war einer der ersten, der unterschiedlichen Schichten der Erdkruste verschiedene, zeitlich deutlich auseinanderliegende Zustände der Erdoberfläche zuordnete. Dass diese in der Gesteinsordnung nachweisbaren Veränderungen unglaublich lange Zeiträume in Anspruch genommen haben mussten, war das eigentliche Faszinosum – und ein Problem. Denn mit der biblischen Zeitrechnung, die mit der Genesis-Erzählung (Gen 1,1; 1,2) den Takt von sieben Tagen zur Erschaffung von Erde und Mensch vorgibt, lassen sich die neuen Ergebnisse nicht in Einklang bringen. Nun hatte bereits Georges-Louis Leclerc de Buffon (1707–1788) vorgemacht, wie man mosaische Urkunde und naturgeschichtliche Spekulation kompatibel macht. In seinen Époques de la nature (1787), einem Ergänzungsband der Histoire naturelle, générale et particulière (1749  ff.), schlägt er mögliche Kritiker, die ihre Einwände gegen seine ErdEntstehungstheorie auf der Grundlage des biblischen Schöpfungsberichtes formulieren möchten, mit ihren eigenen Waffen: Wer bei der Auslegung der Bibel den Wortlaut in den Mittelpunkt stelle, so Buffon in Anlehnung an den 2. Brief des Apostels Paulus an die Korinther (2. Kor 2,6), bleibe beim toten Buchstaben stehen, anstatt zum lebendigen Geist vorzudringen.130 Der Versuch, die exegetische Deutungshoheit für sich zu reklamieren, dient dem Vorhaben, „auf immer die Kenntniß der Natur mit der Theologie in Übereinstimmung zu bringen“131: „Was können wir durch die sechs Tage, die der heilige Schriftsteller so genau unterscheidet, wenn wir sie einen nach dem andern zählen, anders verstehen, als sechs Zeiträume, sechs Perioden der Dauer  […]. “132 Buffons Abschnitte der Naturgeschichte spielen die geologische Entwicklung der Erde und die Entstehung des Lebens und der Lebewesen auf dem Planeten tatsächlich in sechs Zeiträumen durch; im letzten Zeitraum, der siebten Epoche, erscheint dann – freilich noch ohne eigene Entwicklungsgeschichte – der Mensch.133 Damit verbunden ist die Annahme unterschiedlicher klimatischer, geologischer und biologischer Weltzustände,

129 130 131 132 133

the Age of Revolution, Chicago u. London 2005; Ders.: Worlds before Adam. The Reconstruction of Geohistory in the Age of Reform, Chicago u. London 2008; Ders.: Earth’s Deep History. How it was Discovered and why it Matters, Chicago u. London 2014. Vgl. zu Hutton: Rossi, The Dark Abyss of Time, S. 113–120; Gould, Die Entdeckung der Tiefenzeit, S. 93–145; Rudwick, Bursting the Limits of Time, S. 158–172. Vgl. Georges-Louis Leclerc de Buffon: Epochen der Natur, aus d. Französischen übersetzt, St. Petersburg 1781, S. 52, S. 56. Ebd., S. 56. Ebd., S. 50. Während Buffon für den geologisch-kosmologischen Formierungsprozess fünf Zeiträume in Anschlag bringt (erste bis vierte und sechste Epoche), bleibt der Fauna die „Fünfte Epoche“ – „[d]a die Elephanten und andern südlichen Thiere die nördlichen Länder bewohnten“ – vorbehalten. Vgl. ebd., Inhaltsverzeichnis, unpag.



1.3 Urwelt

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die sich signifikant von der Erde des 18. Jahrhunderts unterscheiden. Die Idee der Urwelt, oder besser gesagt: mehrerer Urwelten war geboren und nahm im Laufe des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts immer deutlichere Konturen an. Wer von Urwelt sprach, musste deutlich machen, was er darunter verstand. Die Notwendigkeit einer semantischen Klärung ergab sich in erster Linie aus der Konkurrenz zu anderen Begriffen wie ‚Urzeit‘, ‚Vorzeit‘, ‚Urgeschichte‘, ‚Vorgeschichte‘ oder ‚Vorwelt‘.134 Diese verweisen ihrerseits auf unterschiedliche chronologische Konzepte und Fragerichtungen, die sich ab der zweiten Hälfte des 18.  Jahrhunderts etablierten und immer mehr auf diskursive (wenn auch noch nicht unbedingt disziplinär-institutionelle) Eigenständigkeit drängten. Geologisches und biologisches Interesse galt der Urwelt als naturgeschichtlicher Epoche. Das Interesse der Geschichtsschreibung selbst war hingegen zweigeteilt: Während sich die disziplinär konsolidierende Historiographie immer mehr auf schriftliche Zeugnisse kaprizierte und alles ‚Davor‘ aus ihrem Interessenbereich auszuschließen suchte, war die an der Entwicklung der menschlichen Gattung orientierte „philosophische Geschichte“ sehr wohl an Urzuständen interessiert.135 Die Urwelt rückte hier als vorgeschichtlicher Raum in den Blick, der unter Zuhilfenahme ethnologischer Beobachtungen durchaus untersucht und erhellt werden konnte. Schauen wir uns das naturgeschichtliche und das historiographische Interesse an der Urwelt etwas genauer an. In der Perspektive der aufgeklärten Universalgeschichtsschreibung interessiert die Urwelt nur insofern, wie sie als Teil der auszuschließenden Vorgeschichte – und damit der topisch und chronologisch zur konsolidierenden ‚eigentlichen‘ Geschichte – in den Blick gerät. Nachweisen lässt sich diese Ausschlussstrategie etwa bei dem Göttinger Historiker Ludwig August Schlözer (1735–1809).136 Schlözers Konzept der Vorgeschichte ist im Endeffekt „eine bloße Leerstelle, ein Effekt des neuen historisch-kritischen Wis134 Vgl. zu einer vergleichenden Prüfung der Bedeutungsdimensionen dieser Begriffe in Lexikonwissen und historiographischem Diskurs Stephan Cartier: Licht ins Dunkel des Anfangs. Studien zur Rezeption der Prähistorik in der deutschen Welt- und Kulturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, Herdecke 2000, S. 143–156. 135 Vgl. dazu Helmut Zedelmaier: Vor- und Frühgeschichte als Problembezirk historischen Wissens im 18. Jahrhundert, in: Dietrich Hakelberg/Ingo Wiwjorra (Hrsg.): Vorwelten und Vorzeiten. Archäologie als Spiegel historischen Bewußtseins in der Frühen Neuzeit, Wiesbaden 2010, S. 93–104, Zitat: S. 101. 136 Vgl. Helmut Zedelmaier: Schlözer und die Vorgeschichte, in: Heinz Duchhardt/Martin Espenhorst (Hrsg.): August Ludwig (von) Schlözer in Europa, Göttingen 2012, S. 179–196; Johannes F. Lehmann: Geschichte und Vorgeschichte. Zur historischen und systematischen Dimension einer Unterscheidung, in: Ders./Roland Borgards/Maximilian Bergengruen (Hrsg.): Die biologische Vorgeschichte des Menschen. Zu einem Schnittpunkt von Erzählordnung und Wissensformation, Freiburg/Br. 2012, S. 23–47, hier: S. 26–31.

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1  Jüngers Ur zwischen Empirie und Idealismus

senschaftsparadigmas“137. Zwar nutzt Schlözer den Begriff „UrWelt“ („Orbis nascens“138) zur Charakterisierung der ersten Phase der Vorgeschichte – gefolgt wird diese dann von der zweiten der „[d]unkle[n] Welt“ („Orbis renascens“139) und der dritten der „VorWelt“ („Orbis primavus“140) –, jedoch entsprechen die in Mythen und Sagen ja zum Teil durchaus erhaltenen Informationen über diese Zeiträume nicht den historiographischen Anforderungen an belastbare Zeugnisse. Dieses Problem hatten Autoren nicht, deren Interesse der Entwicklung der Menschheitsgattung galt, wie Isaak Iselin.141 In seiner Geschichte der Menschheit (1764) geht er – ganz anthropologischer Aufklärer142 – von einer „[p]sychologische[n] Betrachtung des Menschen“143 aus. Die Analyse von frühen, heute bei ‚Wilden‘ noch beobachtbaren Formen der Vergemeinschaftung, so Iselin, müsse hier ansetzen. Der anthropologische Fokus lässt im Gegensatz zum universalgeschichtlichen Interesse nichtschriftbasierte Argumente gelten. Entscheidender für die Konstitution der Urwelt als die Veränderungen auf dem Gebiet der Geschichtsschreibung ist der Wandel innerhalb der naturgeschichtlichen Konzeption. Die Anerkenntnis einer Urwelt setzt nämlich in naturgeschichtlicher Hinsicht die Bereitschaft voraus, sich von der Vorstellung einer unveränderlichen Natur – wie sie in der Konzeption der Historia Naturalis des Plinius bis ins 18. Jahrhundert hinein bestimmend blieb – zu verabschieden.144 Damit war jenes Entwicklungsdenken in der Welt, das nach 1900 in biologischer wie auch geschichtlicher Hinsicht so schlecht angesehen war. Doch bleiben wir zunächst noch etwas im Umfeld der Konstitution des Urwelt-Konzeptes. Im Laufe des 19. Jahrhunderts prägt sich zunächst eine Sukzession heraus, die der Urwelt eine Vorwelt nachfolgen lässt. Die Denotation der Begriffe unterscheidet sich dabei grundlegend von der, die wir soeben bei Schlözer („UrWelt“, „VorWelt“) aufgerufen haben. Dies verdeutlicht ein Blick auf das Lexikonwissen. Das Damen-Conversations-Lexikon bestimmt das Verhältnis von Ur-und Vorwelt folgendermaßen: 137 Zedelmaier, Schlözer und die Vorgeschichte, S. 192. 138 August Ludwig Schlözer: WeltGeschichte nach ihren HauptTheilen im Auszug und Zusammenhange, erster Theil, Göttingen 1785, S. 94. 139 Ebd., S. 95. 140 Ebd., S. 96. 141 Vgl. zu Iselin: Helmut Zedelmaier: Der Anfang der Geschichte. Studien zur Ursprungs­ debatte im 18. Jahrhundert, Hamburg 2003, S. 246–268. 142 Vgl. dazu Lucas Marco Gisi: Die anthropologische Basis von Iselins Geschichtsphilosophie, in: Ders./Wolfgang Rother (Hrsg.): Isaak Iselin und die Geschichtsphilosophie der europäischen Aufklärung, Basel 2011, S. 124–152. 143 So der Titel des ersten Buches von Isaak Iselin: Geschichte der Menschheit, 1. Band, Karlsruhe 1784 [1764], S. 3–147. 144 Vgl. Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, München u.  a. 1976.



1.3 Urwelt

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Ur- und Vorwelt. Die Grenzlinie dieser beiden geschichtlichen oder vielmehr naturgeschichtlichen Perioden wird von verschiedenen Geologen und Naturforschern verschieden bestimmt. Gemeinhin versteht man unter Urwelt die Zeit vom ersten Anfang der Erdbildung bis zu jener chaotischen Ueberschwemmung, welche auch die h. Schriften unter dem Namen der Sündfluth erwähnen; unter Vorwelt aber die darauf folgende Zeit bis zum Anfange der eigentlichen, beglaubigten Geschichte. Mit der Erkenntniß der Urwelt beschäftigt sich die Geologie  […], die Geognosie […], und die urweltliche Zoologie und Phytologie.145

Bezugspunkt der Rede von Ur- und Vorwelt ist nicht mehr die Vorgeschichte des Universalhistorikers. Die Zäsur, die beide Welten voneinander trennt, verweist demgegenüber auf einen naturgeschichtlichen Einschnitt: die „Sündfluth“. Man darf sich von dem Begriff nicht täuschen lassen, der biblische Subtext ist sekundär, fokussiert doch die formulierte Zäsur in der Charakterisierung als „chaotische[.  .] Ueberschwemmung“ tatsächlich auf einen quasi positiv nachweisbaren naturgeschichtlichen Befund und nicht mehr auf die Genesis-Erzählung: Dieser naturgeschichtliche Befund bekommt den Namen „Diluvium“ (abgeleitet von lat. diluere, ‚weg waschen‘) beigelegt.146 Im Mittelpunkt steht hier nicht mehr – wie noch bei Buffon – die naturwissenschaftliche Absicherung der Theologie; man nutzt vielmehr das mosaische Korsett, um neues Wissen strukturieren zu können. In der Urwelt finden all jene in Fossilienform überlieferten Lebewesen Platz, nach denen man in der Jetztwelt vergeblich Ausschau hält. Christian Daniel Beck (1757– 1832) etwa spricht von „[f]ossile[n] Incognita der Urwelt“, von „Reste[n] von ausgestorbenen Thierarten“, von „Versteinerungen und Abdrücke[n] von Thieren, die nicht mehr in den Gegenden, wo man jene antrifft, leben“, sowie von „andere[n] Petrefacta“147, wenn er jenen Zeitraum charakterisiert. Die Annahme einer großen Zäsur, einer ‚Revolution‘, die zu einem grundlegenden Wandel der Fauna geführt habe, erhält durch die Arbeiten Georges Cuviers (1769–1832) Auftrieb.148 Seine Katastrophentheorie ist nur noch vage an die biblische Sintflut-Erzählung angelehnt, geht sie doch von mehreren 145 Damen-Conversations-Lexikon [1834  ff.], hrsg. v. Carl Herloßsohn, Bd. 10, Leipzig u. Berlin 1838, S. 280  f. 146 Auf die Umcodierung biblischer Rede verweist bereits Peter Schnyder: Paläontopoetologie. Zur Emergenz der Urgeschichte des Lebens, in: Lehmann/Borgards/Bergengruen (Hrsg.): Die biologische Vorgeschichte des Menschen, S. 109–131, hier: S. 128. Er bezieht sich auf Oscar Fraas: Vor der Sündfluth! Eine Geschichte der Urwelt (1866) und Louis Figuier: La terre avant le Déluge (1863). Vgl. grundlegend zur diskursiven Verbindung von biblischer und geologischer Flut Rudwick, Worlds before Adam, S. 73–87; Ders., Earth’s Deep History, S. 120–127. 147 Christian Daniel Beck: Anleitung zur genauern Kenntniß der allgemeinen Welt- und VölkerGeschichte für Studirende [sic!], ersten Theiles erste Hälfte, zweyte, gänzlich umgearb. u. stark verm. Ausgabe, Leipzig 1813 [1787], S. 97. 148 Vgl. zu Cuviers Katastrophismus Rudwick, Bursting the Limits of Time, S. 558–563, S. 586– 595; Ders., Worlds before Adam, S. 89–96, S. 131  f.

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1  Jüngers Ur zwischen Empirie und Idealismus

Veränderungsschüben aus. Im Ergebnis liefert der Katastrophismus eine plausible Antwort auf die Frage, warum sich von den ausgestorbenen Tierarten keine mehr in der gegenwärtigen Natur beobachten lassen: Nach dem gewaltsamen Ableben der alten Schöpfung ist die neue keine Restitution, sondern eine Kreation. Die Unterteilung zwischen Urwelt und Vorwelt ist für das naturgeschichtliche Denken der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert signifikant. Zum einen erlaubt es diese Differenz, grundlegende geologische und biologische Veränderungen verzeichnen und erforschen zu können; zum anderen ist es dabei jedoch nicht notwendig, eine biologische Entwicklungsgeschichte des Menschen anzunehmen, die den mosaischen Rahmen vollends gesprengt hätte. Der Mensch als gleichsam biologisch fertig ausgestattetes Lebewesen taucht nämlich entweder bereits in der Urwelt auf149, oder – und das ist häufiger der Fall – er betritt die Oberfläche der Erde erst in der Vorwelt, in der Urwelt hat er keine Entsprechung.150 So argumentierten zumindest die dominanten Konzeptionen bis in die 1860er-Jahre hinein. Daneben gab es bereits seit den 1820er-Jahren vereinzelt die Annahme, zwischen Ur- und Vorwelt könne es auch in anthropogenetischer Perspektive eine Kontinuität gegeben haben.151 Der Mensch bekommt seine eigene biologische Entwicklungsgeschichte. Verbunden ist diese Sichtweise mit dem Namen Johann Georg Justus Ballenstedt (1756–1840). Das Besondere an seiner Sichtweise ist nicht so sehr die Annahme einer fortgesetzten Schöpfung; interessant ist vielmehr, dass er mit seiner Einteilung Parameter liefert, mit denen sich das Wissen vom Menschen diskursiv strukturieren lässt: Die urweltlichen, vorsintflutlichen Hominiden interessieren die Paläoanthropologie, dem vorweltlichen, nachsintflutlichen Menschen widmet sich die im

149 Der Krünitz etwa verzeichnet Menschen bereits als Lebewesen der „Urwelt“. Das Lexikon fasst unter „Urwelt“ den ersten Anfang „der Erdbildung und Belebung der Erde durch die Pflanzen- und Thierwelt, mit Einschluß des Menschen, bis zur Zeit der großen Fluthen, also die Zeit des Anfangs der Schöpfung bis zur Zerstörung derselben durch eine allgemeine Ueberschwemmung. Die Zeit nach der Fluth und der Wiedergeburt der Erde und deren Belebung mit Geschöpfen aller Art bis zum Anfange der wahren Geschichte, wird Vorwelt genannt, die sich also in so fern von der Urwelt unterscheidet, daß mit derselben der wahre Zustand der Welt beginnt, und seinen ununterbrochenen Fortgang bis jetzt gehabt hat, das heißt, daß keine große [sic!] Erdrevolutionen, wie die sogenannte Sündfluth, ferner darauf eingewirkt haben […]. “ Johann Georg Krünitz: Ökonomisch-technologische Enzyklopädie [1773  ff.], Bd. 202, Berlin 1850, S. 494  f. 150 Schnyder betont mit Blick auf die Entstehung des Menschen die Differenz von vorsintflutlich (Welt ohne Menschen) und nachsintflutlich (Welt mit Menschen). Vgl. Schnyder, Paläontopoetologie, S. 124–129, bes. S. 128. 151 Vgl. dazu Wolfhart Langer: Verzeitlichungs- und Historisierungstendenzen in der frühen Geologie und Paläontologie, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 8 (1985), S. 87–97, hier: S. 94.



1.3 Urwelt

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19. Jahrhundert entstehende Vorgeschichtsforschung.152 Während also Cuviers Katastrophismus zunächst einflussreich blieb, entwickelten sich alternative Konzepte im Schatten seiner Autorität, die die diskursive Kartographie neu gestalteten, indem sie in intrabiologischer Hinsicht – Abkehr von einer diskontinuierlichen Schöpfung – als auch hinsichtlich einer Begrenzung des paläontologischen Interesses im Einzugsbereich kulturgeschichtlicher Zeugnisse neue Ordnungsmuster diskutierten. Nachdem die Übersetzung von Cuviers epochemachenden Ansichten153 sowie Ballenstedts und Johann Friedrich Krügers (1770–1836) umfangreiches publizistisches Engagement154 das öffentliche Bewusstsein für die Existenz einer Urwelt geschärft hatten, erschienen ab den 1830er-Jahren vermehrt populärwissenschaftliche Bücher zu diesem Thema.155 Eines der beliebtesten, zumindest auflagenstärksten stammt von Carl Gottfried Wilhelm Vollmer (1797–1864). Unter dem Pseudonym W. F. A. Zimmermann publizierte er 1855 im Rahmen der von Gustav Hempel (1819–1877) verlegerisch verantworteten Reihe Der Erdball und seine Naturwunder den dritten Band Die Wunder der Urwelt.156 Bis 1867 erschienen 25, häufig immer wieder umgearbeitete und 152 Diese Differenzierung, die man bei Ballenstedt maßgeblich vorbereitet, jedoch nicht systematisch umgesetzt findet, ist insofern entscheidend, als sie für die Ordnung der häufig nur schwer systematisierbaren Fundmaterialien ein Korsett liefert: Naturwissenschaftlich und naturgeschichtlich orientierte Fragen und Auslegungsmuster können von kultur- und frühgeschichtlich akzentuierten geschieden werde. Vgl. dazu Norman Kasper: Urwelt – Vorwelt – Vorgeschichte. Konzepte des menschlichen Anfangs in Weltgeschichte, Menschheitsgeschichte und früher Paläontologie 1770–1830, in: Frauke Berndt/Daniel Fulda (Hrsg.): Die Erzählung der Aufklärung, Hamburg 2018, S. 608–616; Ders.: „Urwelt“ und „Alterthum“. Zur narrativen Koordination zweier Konzepte im 19. Jahrhundert, in: Peter Schnyder (Hrsg.): Erdgeschichten. Literatur und Geologie im langen 19. Jahrhundert, Würzburg 2020, S. 47–70. 153 Jakob Nöggelrath: Cuvier’s Ansichten von der Urwelt, Bonn 1822. Nöggelraths übersetzt und kommentiert hier den Discours préliminaire, der Cuviers Recherches sur les ossemens fossiles de quadrupèdes […] einleitet. Maßgeblich für Nöggelrath ist nicht die erste Auflage von Cuviers Schrift (1812), sondern eine zweite, erweiterte Fassung (1821–1824). Vgl. zur Bedeutung von Cuviers Discours préliminaire Rudwick, Worlds before Adam, S. 12–16; vgl. allgemein zu Cuviers paläontologiegeschichtlicher Bedeutung auch Ders.: The Meaning of Fossils. Episodes in the History of Paleontology, London u. New York 1972, S. 101–163. 154 Vgl. Johann Georg Justus Ballenstedt: Die Urwelt oder Beweis von dem Daseyn und Untergange von mehr als einer Vorwelt, 3 Bde., Quedlinburg u. Leipzig 1818; Ders./Johann Friedrich Krüger (Hrsg.): Archiv für die neuesten Entdeckungen aus der Urwelt. Ein Journal in zwangfreien Heften, Quedlinburg u. Leipzig 1819–1825; Johann Friedrich Krüger: Geschichte der Urwelt in Umrissen entworfen, 2 Bde., Quedlinburg u. Leipzig 1822. 155 Vgl. William Buckland: Die Urwelt und ihre Wunder, aus d. Englischen v. Friedrich Werner, Stuttgart 1837; Johann Andreas Wagner: Geschichte der Urwelt mit besonderer Berücksichtigung der Menschenrassen und des mosaischen Schöpfungsberichtes, Leipzig 1845. 156 W. F. A. Zimmermann: Die Wunder Urwelt. Eine populäre Darstellung der Geschichte der Schöpfung und des Urzustandes unseres Weltkörpers so wie der verschiedenen Entwickelungsperioden seiner Oberfläche, seiner Vegetation und seiner Bewohner bis auf die Jetztzeit. Nach den Resultaten der Forschung und Wissenschaft, Berlin 1855.

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aktualisierte Auflagen. Ein Exemplar der 10. Auflage (1856) dieses Buches lässt sich in Jüngers Wilflinger Bibliothek nachweisen.157 Wann und ob Jünger dieses Buch gelesen hat, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Nimmt man jedoch die Rezeptionszeugnisse für Jules Vernes (1828–1905) thematisch ganz ähnlich gelagerte, freilich fiktive Reise zum Mittelpunkt der Erde hinzu, die Jüngers Begeisterung dokumentieren,158 so lässt sich auch ein Interesse für Vollmers Publikation annehmen.159 Es scheint deshalb gerechtfertigt, einen genaueren Blick auf die Wunder der Urwelt zu werfen. Die Wunder der Urwelt sind ein in vielerlei Hinsicht typisches Buch für die Konzeption von Urwelt im mittleren 19. Jahrhundert. Im Gegensatz zum universalgeschichtlichen Ausschluss vorgeschichtlicher Interessen wird die methodische Basis hier durch eine selbstbewusste Geologie markiert, die nun ihrerseits die Geschichtsschreibung (und eine kosmogonisch interessierte Astronomie) ins Visier nimmt. Die Geologie, so Zimmermann, sei zwar noch jung, jedoch: „keine Wissenschaft aber hat in einem so kurzen Zeitraum und in ihrer Kindheit so glänzende Fortschritte gemacht“ und könne zugleich „ein so tiefgreifendes, so großes Interesse“160 für sich reklamieren. Tiefgreifender als das Interesse der Geschichte ist das der Geologie in zweierlei Hinsicht einzuschätzen: Dies gilt einerseits hinsichtlich der viel größeren und damit als relevanter eingeschätzten Zeiträume, mit denen die Geologie rechnet; das betrifft andererseits aber auch die Quellen, die zur Verfügung stehen. Die Geschichtsschreibung setzt neben „Fabel“ und „Sage“ vor allem „auf das geschriebene Wort“; die Geologie hingegen auf „Sand“ 157 W. F. A. Zimmermann: Die Wunder Urwelt. Eine populäre Darstellung der Geschichte der Schöpfung und des Urzustandes unseres Weltkörpers so wie der verschiedenen Entwickelungsperioden seiner Oberfläche, seiner Vegetation und seiner Bewohner bis auf die Jetztzeit. Nach den Resultaten der Forschung und Wissenschaft, 10., überarb. Aufl., Berlin 1856. Verzeichnet unter der DLA-Sign.: WJB01.04/19. Das Buch trägt ein Etikett der Buchhandlung Léon Saunier in Stettin. 158 Bereits 1909 verzeichnet der vierzehnjährige Jünger während eines Aufenthaltes in Frankreich als Austauschschüler die Lektüre des Buches. Vgl. SW 22, S. 428. Später, 1968, vermerkt er während eines Island-Besuchs, der nach eigener Auskunft maßgeblich durch den Roman angeregt wurde: „Vernes Reise führte uns durch einen Höhlengang der Hekla in eine Vorwelt, die von Sauriern und anderen längst ausgestorbenen Tieren bevölkert war. Natürlich wußte Verne, daß die Erde nicht hohl ist; er hat auch hinsichtlich der Wissenschaft von der dichterischen Freiheit großzügig Gebrauch gemacht. […] So erfuhren wir zum ersten Mal von Island, und unsere Neugier war geweckt.“ SW 4, S. 500. 159 Voyage au centre de la terre erschien 1864, die deutsche Fassung lag bereits 1873 vor. Die Reise zum Mittelpunkt der Erde verbindet geologischen und paläontologischen Diskurs ganz ähnlich wie die populäre Urwelt-Schrift Vollmers. Vgl. zu Vernes Urwelt-Konzept: Christian Chélebourg: Le paradis des fossiles. Stylistique de l’histoire naturelle dans Voyage au centre de la terre, in: Jean Bessière (Hrsg.): Modernités de Jules Verne, Paris 1988, S. 213–227. 160 Zimmermann, Die Wunder der Urwelt, 1856, S. 1.



1.3 Urwelt

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und „Stein“: Was die „Archive der Vorwelt überliefern, das sind nicht die schwankenden und leicht bestechlichen Ansichten parteiischer Menschen, sondern in Fels gegrabene ewige Wahrheiten.“161 Die Schriftfixierung der Geschichtsschreibung gilt hier aufgrund der möglichen Deutungsvielfalt als unzuverlässig. Die ‚Fakten‘, mit denen die Geologie arbeitet, würden in den erdgeschichtlichen ‚Archiven‘ hingegen gleichsam ungedeutet vorliegen. Dreh- und Angelpunkt einer solchermaßen positivistischen Geologie ist die „Classification der Formationen“162, d.  h. die Kategorisierung der Gesteins- und Sandschichten als räumliche Indikatoren eines chronologischen Nacheinanders. Hierbei geben Leitfossilien – bei Zimmermann sind es Muscheln – Auskunft über das relative Alter der Schicht, in der sie angetroffen werden. In Übereinstimmung mit der im Damen-Conversations-Lexikon angetroffenen Unterscheidung in Urwelt und Vorwelt geht Zimmermann von einer „jetzigen Welt“ und einer „vorsündfluthliche[n]“163 aus (auch wenn er „Vorwelt“ und „Urwelt“ synonym gebraucht). In der vorsintflutlichen Welt siedelt er folgerichtig all jene Tiere an, die als ausgestorben gelten müssen. Der eigentlichen Scheide zwischen von Vor- und Urwelt, dem „Diluvium“, ordnet Zimmermann noch ein „Alluvium“ („angeschwemmtes Land“, heute als ‚Holozän‘ bezeichnet) vor, das die äußerste Erdoberfläche umfasst. Während das „Diluvialgebilde“ ausdrücklich „als Produkt jener Zerstörung“ ausgewiesen ist, „welche durch die große Wasserfluth unmittelbar vor den historischen Zeiten hervorgebracht worden ist“164, so steht das „Alluvium“ offensichtlich in die geschichtliche Zeit hinein.165 Was Zimmermann hier als historische Zeit anspricht, umfasst freilich auch jenen Bereich, der im Zugriff der Geschichtsschreibung als Vorgeschichte von der ‚eigentlichen‘ Geschichte getrennt wird. Doch diese Trennung spielt im Rahmen seiner geologischen Perspektive keine Rolle. Ihm geht es um etwas anderes, was hinter der Trennung „Alluvium“ – „Diluvium“ steht, nämlich die Abgrenzung der naturwissenschaftlichen Urweltforschung von einer eher kulturgeschichtlichen Perspektive. Letztere widmet sich in der Analyse alluvialer Zeugnisse eben nicht mehr der Urwelt, sondern früher Formen der Jetztwelt. So weist er 161 W. F. A. Zimmermann: Eine populäre Darstellung der Geschichte der Schöpfung und des Urzustandes unseres Weltkörpers so wie der verschiedenen Entwickelungsperioden seiner Oberfläche, seiner Vegetation und seiner Bewohner bis auf die Jetztzeit. Nach den Resultaten der Forschung und Wissenschaft, 13., überarb. Aufl., Berlin 1861, S. 2. Vorhergehende Zitate gleichfalls. 162 Vgl. Zimmermann, Die Wunder der Urwelt, 1856, S. 51, S. 272–313. 163 Ebd., S. 3. 164 Ebd., S. 294. Vorhergehende Zitate gleichfalls. 165 Die Diluvium-Alluvium-Differenz geht auf die Arbeiten des englischen Geologen William Buckland (1784–1856) zurück. Vgl. Rudwick, Worlds before Adam, S. 177–180.

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immer wieder auf Funde hin, die für sich nicht in Anspruch nehmen können, als Fossilien – d.  h. für ihn konkret: als Versteinerungen – zu gelten. Hinsichtlich dieser Zeugnisse spricht er von „Alterthümern“ – ein Fall für die sich etablierende Ur- und Frühgeschichtsforschung,166 die sich eben nicht unter die Auspizien eines allumfassenden geologischen Deutungsanspruchs stellen lässt. Im Mittelpunkt von Zimmermanns Unterscheidung stehen jedoch nicht allein forschungsstrategische Zuständigkeiten; diese Differenz ist vielmehr eine Antwort auf die Frage: Warum gibt es keine fossilen Menschen? – In der Urwelt, die Zimmermann vorzustellen sich zur Aufgabe gemacht hat, gab es noch keine menschlichen Wesen, so die schlichte Antwort.167 Alle anthropologischen Funde seien jüngeren, nachsintflutlichen Datums. Genüsslich lässt er Johann Jakob Scheuchzers (1672–1733) Deutung eines VorzeitSalamanders als eines „Sündfluthmenschen“ („Homo, diluvii testis“) Revue passieren, um die Unhaltbarkeit der These, Menschen habe es bereits in der Urwelt gegeben und einige von ihnen ließen sich als gleichsam versteinerte Zeugen der Sintflut identifizieren, zu verdeutlichen.168 Verbunden ist damit überhaupt eine Absage an alle Vorstellungen, die – wie sie Isaac de La Peyrère (1596–1676) in seinem Buch Prae-Adamitae (1655) vertrat – den Beginn der Menschheitsgeschichte vor dem biblischen Adam ansiedeln möchten. Zimmermann geht es dabei keineswegs um eine Verteidigung der mosaischen Schöpfungsurkunde; im Mittelpunkt steht vielmehr die Verlässlichkeit der geologischen Systematik: Annahmen über die erdgeschichtliche Zeit müssen ihre Entsprechung im Erd-Raum haben; und alles, was im alluvialen Bereich verortet werden kann, darf für sich nicht in Anspruch nehmen, diluvialer Zeit zuzugehören. Die geologische Raumsemantik klärt Muster der mythischen Zeitordnung auf; der anatomischen Spekulation wird der biostratigraphische Befund gegenübergestellt: „Die Schöpfung allein liegt uns nicht 166 Vgl. Zimmermann, Die Wunder der Urwelt, 1861, S. 258, wo er vorgeschichtliche Zeugnisse aus Irland und Dänemark diskutiert. In den Fassungen von 1855 und 1856 fehlt noch die Rede von den „Alterthümern“ als Kennzeichnung eines dezidiert prähistorischen, aber nicht mehr paläontologischen Interesses; gleichwohl ist diese Trennung der Sache nach in den früheren Auflagen deutlich erkennbar. 167 In der zweiten, die Grundlage für die Jünger zugängliche deutsche Fassung des Textes bildenden Version der Reise zum Mittelpunkt der Erde (1867) werden Episoden aufgenommen, die – als Reaktion auf tatsächliche Funde – in der Diskussion menschlicher Fossilien eine Anthropogenese wahrscheinlich erscheinen lassen. Vollmers Wunder der Urwelt ist in den 1850erJahren noch nicht so weit: Einen (Ur-)Menschen vor dem eigentlichen Menschen gibt es dort noch nicht. Vgl. zu Vernes ‚anthropogenetischer Wende‘: Chélebourg, Le paradis des fossiles, S. 222–224. 168 Zimmermann bezieht sich hier auf Johann Jakob Scheuchzer: Kupfer-Bibel, in welcher die Physica Sacra, oder geheiligte Natur-Wissenschafft derer in heiliger Schrifft vorkommenden natürlichen Sachen, deutlich erklärt und bewährt, Augsburg u. Ulm 1731. Vgl. Zimmermann, Die Wunder der Urwelt, 1856, S. 246.



1.3 Urwelt

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klar vor – die Ausbildung in einer Reihe genau von einander gesonderter Perioden vollkommen.“169 Das Wissenschaftsideal geologischer Genauigkeit als spezifisch deutsche Tugend taucht in Vernes von Jünger begeistert gelesener Reise zum Mittelpunkt der Erde in parodierter Form auf. Prof. Lidenbrock, der am Hamburgischen Johanneum Vorträge über Mineralogie hält, wird dort als Autor einer – freilich fiktiven – 1853 erschienenen „Abhandlung über Transzendentale Kristallographie in Großfolio mit Abbildungen“170 porträtiert. Kants Transzendentalphilosophie171 trifft hier auf eine repräsentative Geologie, die ihre Wissensansprüche in aller Anschaulichkeit ausstellt und popularisiert. Während – gleichfalls in den 1850er-Jahren – in Zimmermanns Wunder der Urwelt diese Urwelt aus ihren geologischen Zeugnissen heraus rekonstruiert wird, ist es bei Verne ein mit allen Insignien deutscher Gelehrsamkeit ausgestatteter Mineraloge, der die zum Leben erweckten Rekonstruktionen urweltlichen Lebens in Augenschein nehmen darf. Die Strenge und Nüchternheit des – wenn auch überzeichneten, so doch keineswegs dementierten – geologischen Gelehrten- und Aufzeichnungsideals, ist bei Verne dabei zweifelsohne ein Bürge für den wissenschaftlichen Anspruch der präsentierten paläontologischen Flora und Fauna, in dieser Form tatsächlich existiert zu haben.172 Wenn eine mit den Auspizien der Prüfung der Möglichkeitsbedingungen von 169 Zimmermann, Die Wunder der Urwelt, 1856, S. 12. 170 Jules Verne: Reise zum Mittelpunkt der Erde, aus d. Französischen v. Hansjürgen Wille u. Barbara Klau nach d. Ausgabe v. 1871 übersetzt, Zürich 1976, S. 10. Im Original heißt es: „Traité de Cristallographie transcendante […] grand in-folio avec planches“. Jules Verne: Voyage au centre de la terre, Lausanne 1967 [1864], S. 9. 171 Nahezu alle Übersetzungen ins Deutsche, die aus dem 19. Jahrhundert stammen, aber auch viele des 20. Jahrhunderts, geben „transcendante“ mit „transzendental“ wieder, so dass die Deutung, hier liege eine Anspielung auf den kritischen Kant vor, allein im deutschsprachigen Rezeptionsgebiet plausibel ist. Dass ‚transzendental‘ bis ins 20. Jahrhundert hinein auch als Synonym zu ‚transzendent‘ genutzt wurde – motiviert über den gemeinsamen Ursprung im lat. transcendere –, lässt freilich auch den Schluss zu, die deutsche Übertragung habe lediglich die von Verne implizierte ‚Überschreitung‘ anzeigen, jedoch keine transzendentalen Bedingungen im Sinne Kants formulieren wollen. Peter Schnyder verweist mit Bezug auf die Übersetzung des Verne-Textes aus dem Jahr 2005 durch Volker Dehs – er gibt „transcendante“ mit „transzendent“ wieder – auf die „partiell romantische Prägung“ des geologischen Helden Vernes. Diese zeige sich dadurch, „dass sein Hauptwerk den deutlich auf die romantische Naturphilosophie verweisenden Titel ‚Lehrbuch der transzendenten Kristallographie‘ trägt.“ Peter Schnyder: Das Wechselspiel der Gattungen. Zur literarischen Reflexion der Darstellung geologischen Wissens bei Gustave Flaubert und Jules Verne, in: Michael Bies/Michael Gamper/ Ingrid Kleeberg (Hrsg.): Gattungs-Wissen. Wissenspoetologie und literarische Form, Göttingen 2013, S. 227–246, hier: S. 241 (Anm.). 172 Für die wissenschaftliche Ausrichtung Vernes spricht zudem seine enge Anlehnung an Louis Figuiers La terre avant le Déluge (1863). Vgl. zu den Übernahmen Vernes aus diesem Buch John Breyer/William Butcher: Nothing New under the Earth. The Geology of Jules Verne’s Journey to the Center of the Earth, in: Earth Science History 22/1 (2003), S. 36–54.

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Erkenntnis ausgestattete Wissenschaft zu außerordentlichen Ergebnissen kommt, Tiere entstehen lässt, die man in dieser Form wohl nur in Märchen oder Sagen würde gelten lassen, so ist das zweifelsohne als Anspruch auf Seriosität zu werten. Auch Zimmermann warnt vor Übertreibungen und geologisch nicht abgesicherten Ausschmückungen einzelner Funde. Man kann in der Figur des Prof. Lidenbrock einerseits durchaus eine Absage an diesen Gestus der Übertreibung ausmachen. In den Abenteuern im Inneren der Erde erscheint jedoch jedes ernstzunehmende epistemische Ideal in einer übertreibenden Aneignungspraxis gebrochen. Zimmermanns Buch wird nach dessen Tod immer wieder auf den neuesten Stand gebracht und bis in die Zeit um 1900 vertrieben. Hatte er selbst bereits zu Lebzeiten zahlreiche Aktualisierungen vorgenommen, die Wissen, das sich vor allem aus neuen Funden speiste, integrieren sollten, so wird dieser Weg konsequent fortgesetzt. Der Grund für diese Aktualisierungsmanie liegt auf der Hand: Mit der schrittweisen Etablierung und Durchsetzung von Darwins Evolutionstheorie bekamen Urwelt-Konzeptionen ein Problem, die durch die Unterscheidung von prä- und postdiluvialen Zeiten charakterisiert sind. Nun hatte bereits Zimmermann – sieht man einmal von der Entstehung des Menschen ab – auf die Annahme, Totalkatastrophen würden das Leben auf der Erde komplett zerstören und zu vollständigen Neuschöpfungen führen, verzichtet. Stattdessen macht er einen Weg zu „immer besser ausgestattete[n] Pflanzen und Thiere[n]“173 aus, wie überhaupt Übergänge in Stufen betont werden. Dennoch entwickeln Urwelt-Konzeptionen von seinem Schlage keine systematische Entwicklungsgeschichte des Lebens. Zwei Jahre nach dem Tod des Autors der Wunder der Urwelt liegt mit Ernst Haeckels Genereller Morphologie ein Werk vor, das den Entwicklungsgedanken in der Natur in das Zentrum seiner Überlegungen stellt.174 Im zweiten, den „Begründern der Descendenz-Theorie“ Lamarck, Darwin und Goethe gewidmeten Band formuliert Haeckel seine Überzeugung, dass die „parallelen Stufenleitern der individuellen und der paläontologischen Entwickelung in dem engsten mechanischen Causalnexus“175 zueinander stehen. Haeckels Interesse für urweltliches Leben ergibt sich also maßgeblich aus dem Versuch, eine „[g]enerelle Phylogenie“, verstanden als „[a]llgemeine 173 Zimmermann, Die Wunder der Urwelt, 1861, S. 548. 174 Ernst Haeckel: Generelle Morphologie der Organismen. Allgemeine Grundzüge der or­ ga­ni­schen Formen-Wissenschaft, mechanisch begründet durch die von Charles Darwin reformirte Descendenz-Theorie, Bd. 1: Allgemeine Anatomie der Organismen, Bd. 2: Allgemeine Entwicklungsgeschichte der Organismen, Berlin 1866. Vgl. zu Haeckels DarwinBezug Jürgen Sandmann: Ernst Haeckels Entwicklungslehre als Teil seiner biologistischen Weltanschauung, in: Eve-Maria Engels (Hrsg.): Die Rezeption von Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1995, S. 326–346. 175 Haeckel, Generelle Morphologie, Bd. 2, S. XIX.



1.3 Urwelt

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Entwicklungsgeschichte der organischen Stämme. (Genealogie und Paläontologie.)“,176 der Ontogenie, d.  h. der Individual-Entwicklung, gleichzustellen. Das paläontologische Material in einen genealogischen Zusammenhang zu bringen, fällt jedoch nicht ganz leicht, da die Überlieferungskette äußerst lückenhaft ist. Haeckel fordert den „richtige[n] morphologische[n] Instinct[.  .]“, um das „ungefähre Schattenbild des längst entschwundenen Entwickelungs-Vorganges zu reconstruiren“177 und das ausgestorbene Tier auferstehen zu lassen. Die „empirische Paläontologie“ steht unter der Ägide einer „philosophischen Genealogie“178 – insofern ist der Entwicklungsgang, gut idealistisch, vorgezeichnet, ohne dass Einzelfunde das Grundgerüst erschüttern könnten. Die Geologie spielt hierbei eine ambivalente, im Grunde jedoch untergeordnete Rolle. Denn Haeckel rekapituliert zwar die geologisch nachweisbaren „Perioden der Erdgeschichte“ sowie die daraus abgeleiteten „paläontologische[.  .] Perioden“179, jedoch ist die Geologie keine Leitwissenschaft mehr, weder in methodischer, noch in inhaltlicher Hinsicht. Was bedeutet das für die Konzeption von ‚Urwelt‘? Der Wechsel von der geologischen zur biologischen Fundierung der Urwelt führt zur Einordnung paläontologischer Lebensformen in einen umfassenden Entwicklungsprozess. Bereits Cuvier argumentierte anhand anatomischen Materials und damit morphologisch; jedoch dienten seine Vergleiche der Skelette unvollständig erhaltener ausgestorbener mit denen vollständig vorliegender rezenter Tiere nicht dem Nachweis einer Genealogie. Erst mit der Absage an naturgeschichtlich nachweisbare Sintfluten und damit an den Katastrophismus konnte sich ein Entwicklungsdenken durchsetzen, dass darauf abzielte, nicht nur Formähnlichkeiten, sondern auch unmittelbare Abstammungsverhältnisse festzustellen. Der Stellenwert der einzelnen organischen Form bemisst sich nun in Beziehung sowohl zu der ihr vorausgehenden als auch zu der ihr nachfolgenden. Die Urwelt erscheint aus dieser Perspektive als nahezu unerschöpfliches Reservoir immer neuer Arten und Formen, die auf einen Platz in der zu vervollständigenden Abstammungssystematik warten.

176 So der Titel des 6. Buches des zweiten Bandes. Vgl. Haeckel, Generelle Morphologie, Bd. 2, S. 301–422. 177 Ebd., S. 306  f. 178 Ebd., S. 307. 179 Vgl. ebd., S. 315–319.

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1.4  Die lebensphilosophische und die morphologische Wende 1.4.1  Paläontologie und Vitalismus Das entwicklungsgeschichtliche Denken im Ausgang von Darwin und in der Tradition Haeckels gerät um 1900 in die Krise.180 Nicht die Tatsache einer Veränderung der Arten wird in Zweifel gezogen, sehr wohl jedoch die von Darwin und seinen Auslegern in Anschlag gebrachten Mechanismen der Evolution. Ein Hauptkritikpunkt, auf den wir uns im Folgenden konzentrieren wollen, da er für Jüngers antievolutionäres Denken entscheidend ist, betrifft die von Darwin angenommene natürliche Selektion. Darwin zu Folge ist die Haupttriebkraft der Arten-Veränderung auf der Erde im Anpassungsverhalten der Lebewesen an ihre Umwelt auszumachen. Demnach führt die Auslese schlechter an ihre Umwelt angepasster Arten zu einer stetig sinkenden Reproduktionsrate, bis hin zum Aussterben, während die (besser) angepassten und sich immer neu anpassenden Arten durchsetzen. Dass die Veränderung der Lebensformen allein und maßgeblich durch äußere Faktoren bedingt sein soll, ist in den Ohren all jener ein Misston, die dem Leben selbst eine eigenbestimmte Entwicklungslinie zuschreiben wollen. Ist es nicht eine unzulässige Einschränkung der Autonomie des Lebens, wenn seine Entwicklungsgeschichte durch ihm ‚fremde‘ Determinanten bestimmt sein soll? Ein für das stammesgeschichtliche paläontologische Denken der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgebliches Konzept, das sich ganz auf diese Autonomieannahme konzentriert, ist die Orthogenese.181 Der für Jünger wichtige Paläontologe Helmut Hölder (1915–2014) räumt rückblickend orthogenetischen Vorstellungen eine wichtige Rolle bei der Erklärung sich verändernder Lebensformen ein: Der Lamarckismus entsprach, unserem Denken plausibel, einem gleichsam diplomatischen Verhalten des Organismus. Er verband sich mit dem Begriff der „Orthogenese“, d.  h. der vom Organismus scheinbar selbstbestimmten Richtung vieler geradliniger Evolutionslinien, und hielt sich in der Paläontologie bis Mitte des 20. Jahrhunderts (H.F. Osborn in Amerika, O. Abel in Wien/Göttingen).182 180 Vgl. Peter J. Bowler: The Eclipse of Darwinism. Anti-Darwinism Evolution Theories in the Decades around 1900, Baltimore u. London 1983; Marco Tamborini: The Reception of Darwin in Early Nineteenth-Century German Paleontology as a Case of Pyrrhic Victory, in: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 66 (2017), S. 37–45. 181 Vgl. Bowler, The Eclipse of Darwinism, S. 141–181. 182 Helmut Hölder: Paläontologische Meditationen, Münster 2011, S.  64. Vgl. auch Helmut Hölder: Wandlungen der Geologie und Paläontologie während der letzten 50  Jahre. Abschiedsvorlesung von Professor Dr.  Helmut Hölder, in: Schriftenreihe der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Heft 3, hrsg. v. Rektor u. der Gesellschaft zur Förderung der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (e.V.), Münster 1981, S. 17–37, hier: S. 31  f.



1.4  Die lebensphilosophische und die morphologische Wende

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Hölder sendet Jünger zwischen 1962 und 1998 mehrere Briefe, zudem eigene und fremde Fachpublikationen, Literaturhinweise und einen Reisebericht (Eindrücke einer Südwestafrika-Reise vom 05. 04–16. 04. 1986) zu. Wir werden Hölders wissenschaftliches Profil im nächsten Kapitel genauer betrachten. An dieser Stelle geht es zunächst darum, das orthogenetische Denken in seinen Grundlinien zu skizzieren. Im deutschen Sprachraum vertraten es bis in die 1940er-Jahre hinein Othenio Abel (1875–1946) und Karl Beurlen (1901– 1985), zudem Hölders Tübinger Lehrer Edwin Hennig (1882–1977). Hölder selbst porträtiert die Orthogenese in zahlreichen Schriften zur Geschichte der Paläontologie zwar distanziert, häufig jedoch mit unverhohlener Sympathie. Ohne dass man hier von direkten Abhängigkeiten sprechen könnte, lassen sich Spuren dieses Denkens im Abenteuerlichen Herz I (1929) finden.183 Was also ist unter Orthogenese zu verstehen? [O]rthogenesis assumed the existence of trends that were both regular and nonadaptive, that gave rise to immense patterns of linear evolution followed in parallel by groups of related forms, and that led ultimately to extinction through racial old age. Both Lamarckism and orthogenesis denied that variation was random, but in addition orthogenesis repudiated the utilitarian claim that adaptation was the driving force of evolution.184

Der Lehrer und Naturforscher Eberhard Dennert (1861–1942) berichtet bereits 1903 Vom Sterbelager des Darwinismus.185 Dort bezieht er sich positiv aber auch korrigierend auf den Tübinger Zoologen Theodor Eimer (1843–1898), der als einer der ersten die Orthogenese-These vertrat.186 Eimer, so Dennert, messe den äußeren Faktoren „Wärme, Luft, Licht, Feuchtigkeit, Nahrung u.s.w.“ noch zu viel Gewicht „beim Wachstumsvorgang“ bei: ­„allein sie sind nur die auslösenden Bedingungen, nie und nimmer die veranlassenden Ursachen; letztere liegen in dem betreffenden Wesen selbst.“187 Helmut Hölder erwähnt bei seiner Musterung des stammesgeschichtlichen Denkens der disziplinären Paläontologie an der Universität Tübingen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Eimer nicht. Gleichwohl ist er ganz auf der Seite von dem an Einer anschließenden Dennert, wenn er die „in mehr lamarckistischem Sinne“ gedeutete Abstammungslehre „als ein aktives, umweltgemäßes Reagieren der Organismen auf die sich verändernde Außenwelt“ expliziert. Neue Funde, die Darwin noch nicht kannte, ließen, so Hölder, „[g]erichtete, immer zweckmäßig angepaßte Entwicklungsreihen“ entstehen, „die durch183 Vgl. Kap. 3.1.2. 184 Bowler, The Eclipse of Darwinism, S. 141. 185 Eberhard Dennert: Vom Sterbelager des Darwinismus. Ein Bericht, Stuttgart 1903. 186 Vgl. zu Eimer: Bowler, The Eclipse of Darwinism, S. 149–154, S. 158  f. 187 Dennert, Vom Sterbelager des Darwinismus, S. 42.

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aus für Eigenaktivität zu sprechen schienen.“188 Bei Friedrich August Quenstedt (1809–1889) und Ernst Koken (1860–1912) macht er Vorformen einer aktiven Ausrichtung des Organismus aus; entfaltet ist diese Idee dann bei Edwin Hennig. Es war Hennigs Wesen und Wege der Paläontologie (1932), das den jungen Hölder für die Disziplin begeisterte und mit orthogenetischen Vorstellungen zum ersten Mal vertraut gemacht haben dürfte. Hennig war seit 1917 Professor in Tübingen, Direktor des dortigen Geologisch-Paläontologischen Instituts und von 1929 bis 1930 Rektor der Universität.189 Dass eine stammesgeschichtliche Fundierung orthogenetischen Denkens keine Frage war, die nur die zünftige Paläontologie beschäftigte, verdeutlicht Hennigs Rede anlässlich der Rektoratsübernahme im April 1929, die Von Zwangsablauf und Geschmeidigkeit in organischer Entfaltung handelte und zügig veröffentlicht wurde.190 Hinter dem etwas sperrigen Titel verbirgt sich nichts weniger als die Forderung der Paläontologie, hinsichtlich der Abstammungsfrage „im weiten Umkreise der Lebensforschung gehört zu werden.“191 Erst 1928 konstituierte sich mit Palaeobiologica eine Fachzeitschrift,192 die sich von den geologischen Wurzeln der disziplinären Paläontologie emanzipierte und damit auch das Signal an die anderen Lebenswissenschaften sandte, als kompetenter Gesprächspartner gerade auch hinsichtlich ‚großer Fragen‘ zur Verfügung zu stehen. Um eine solche ‚große Frage‘ handelte es sich mit Blick auf die Abstammungslehre zweifelsohne. Hennig spricht vom „Lebensstrom[…]“193, wenn er die stammesgeschichtlich nachweisbaren Muster in ihrer immanenten Entwicklungslogik charakterisieren will: Was wir Entwicklung nennen, muß immanenten Wurzeln entspringen. Eigene Antriebe drängen das Leben unaufhaltsam vorwärts  […]. Eigene Gesetzmäßigkeit vor allem weiß zähes Festhalten am Bauplan mit Fortentwicklung und Wandelbarkeit gar wundersam zu vereinen. Wir müssen beim Suchen nach den Triebkräften der Lebensvorgänge auch als Paläontologen den Blick wieder mehr ins Innere des Lebens lenken. Es ist nicht Spielball äußerer Zufälle.194

188 Helmut Hölder/Wolf Freiherr von Engelhardt: Mineralogie, Geologie und Paläontologie an der Universität Tübingen von den Anfängen bis zur Gegenwart, Tübingen 1977, S. 221. 189 Vgl. zum instituts- und universitätspolitischen Wirken Hennigs in Tübingen: Ebd., S. 138– 147. 190 Edwin Hennig: Von Zwangsablauf und Geschmeidigkeit in organischer Entfaltung, Tübingen 1929. 191 Ebd., S. 17. 192 Palaeobiologica. Archiv für die Erforschung des Lebens der Vorzeit und seiner Geschichte erschien unter dem Herausgebervorsitz von Othenio Abel von 1928 bis 1948. 193 Hennig, Von Zwangsablauf und Geschmeidigkeit, S. 17. 194 Ebd., S. 22.



1.4  Die lebensphilosophische und die morphologische Wende

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Die Metaphorik des Fließens, die Polarisierung von Innen und Außen sowie die „immanente Transzendenz des ‚Lebens‘“ verweisen auf die lebensphilosophische Grundierung von Hennigs Argumentation.195 In Hölders später Musterung orthogenetischer Konzepte wird die Absage an ‚darwinistische‘ „Zufälle“ bekräftigt; Hölder spricht hier von „[p]aläontologische[r] Phänomenologie“196, um die disziplinäre Eigenständigkeit des Erfahrungsformates zu betonen, auf das sich die Paläontologie bezieht. Genau um jene Eigenständigkeit paläontologischer Expertise ist es auch Hennig zu tun, wenn er in der Analysekompetenz hinsichtlich enormer Zeiträume den eigentlichen Beitrag seiner Disziplin zur stammesgeschichtlichen Diskussion ausmacht. Was kann die Paläontologie nun über naturgeschichtlich nachweisbare Entwicklungsmuster aufgrund des von ihr ausgewerteten Materials aussagen? Im Mittelpunkt steht das Dementi einer Höherentwicklung im Sinne „biologische[r] Vervollkommnung“197; stattdessen ist von Zyklen auszugehen, die  – gleich einem Organismus  – eine bestimmte Lebensform in Werden, Höhepunkt und Absterben chronologisch strukturieren. Auch auf degenerierte, seltsam proportionierte Tiere, bei denen einzelne Organe dem Lebensvollzug sogar hinderlich sind – etwa die Säbelzähne des gleichnamigen Tigers  –, kommen Orthogenetiker wie Hennig zu sprechen.198 Ist ein Zyklus durchlaufen, droht der „Alterstod“, das Aussterben: „Das ‚phyletische Individuum‘ höherer Ordnung keimt, entfaltet sich und stirbt. Das ist nicht bildhafter Vergleich, sondern biologische Entsprechung auf höherer Ebene. Ein Großrhythmus, ein Individualzyklus wird ersichtlich.“199 Die paläontologische Phänomenologie schreibt sich hier die Rolle zu, den Weg des Lebens großraumperiodisch nachzeichnen zu können. Im „Hinblick auf die Organismenwelt und den langen Weg ihrer Entfaltung“ gilt also: „Geburt und Tod sind eine pulsatorische Erscheinung des einen Lebens.“200 Der Wechsel von der alten Petrefakten-Kunde, die von dem Stein auf die (einzelne) Lebensform schloss, zu einer Paläontologie, die exklusive Aufschlüsse über das Leben für sich reklamiert, könnte markanter nicht sein. 195 Vgl. zu den lexikalischen und metaphorologischen Mustern lebensphilosophischer Argumentation ausführlich: Martin Lindner: Leben in der Krise. Zeitromane der Neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne. Mit einer exemplarischen Analyse des Romanwerks von Arnolt Bronnen, Ernst Glaeser, Ernst von Salomon und Ernst Erich Noth, Stuttgart u. Weimar 1994, S. 5–118, Zitat S. 15. 196 Helmut Hölder: Kurze Geschichte der Geologie und Paläontologie. Ein Lesebuch, Berlin u. Heidelberg 1989, S. 192. 197 Hennig, Von Zwangsablauf und Geschmeidigkeit, S. 27. 198 Vgl. zur Verfallsdimension der Orthogenese: Bowler, The Eclipse of Darwinism, S. 169  f. 199 Edwin Hennig: Organisches Werden, paläontologisch gesehen: in: Paläontologische Zeitschrift 23/3–4 (1944), S. 282–316, hier: S. 290. 200 Hennig, Von Zwangsablauf und Geschmeidigkeit, S. 37.

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Während die anderen Lebenswissenschaften ihren Gegenstand zwar auch einer immanentistischen Deutung unterziehen können, bleibt ihnen die Fülle naturgeschichtlich nachweisbarer Lebensentfaltungen in der Zeit verschlossen – „die unaufhaltsam weiterlaufende Lebenskurve“ kommt nach Hennig jedenfalls nirgends „eindrucksvoller als durch Beschäftigung mit dem Vorzeitleben“201 in den Blick. An dem Punkt, an dem die Lebenswissenschaften an eine ontogenetische Betrachtung ihres Gegenstandes gebunden bleiben, kann die phylogenetische Kompetenz der Paläontologie den Äußerungen des Lebens in ihrer stammesgeschichtlichen Wechselhaftigkeit nachspüren: „Eine wahre phylogenetische Leiche bleibt in Gestalt all der absterbenden Teillinien zurück.“202 – Der Aufsatz, aus dem diese Worte stammen – Organisches Werden, paläontologisch gesehen (1944) –, ist einer der am häufigsten von Hölder zitierten Hennig-Texte.203 Dem Darwinismus wirft Hennig darin vor, das „ewig unausschöpfbare Wunder des Lebens“204 „fortleugnen“205 zu wollen. Mit dem beschworenen „Wunder“ verbindet sich ein anti-rationalistisches methodisches Selbstverständnis: „Erd- und Lebensgeschichte bieten uns die geschichtlichen Tatsachen einer Biogenie, zu der alle logische Klarheit und indirekte Methode nie verhelfen können.“206 Es geht Hennig hierbei nicht so sehr um Kritik am Forschungsprogramm anderer Lebenswissenschaften, als vielmehr um die Betonung des Alleinstellungsmerkmals einer orthogenetisch orientierten Paläontologie. Forderte er in seiner Rektoratsrede 1929 noch recht schüchtern, im Kreise anderer Fächer bei der Abstammungsfrage mitreden zu dürfen, so soll nun deutlich werden, dass die Paläontologie diese Frage zu beantworten in der Lage ist. Wichtiger Bestandteil von Hennigs Orthogenie-Verständnis ist nicht nur die Eigengerichtetheit des Lebens jenseits biologischer Vervollkommnungsvorstellungen, sondern auch – damit verbunden – das Recht stammesgeschichtlich nachweisbarer Organismen auf Verschwendung, Asymmetrie, 201 Hennig, Organisches Werden, S. 295. 202 Ebd., S. 292. 203 Vgl. Hölder/v. Engelhardt, Mineralogie, Geologie und Paläontologie, S. 223; Hölder, Wandlungen der Geologie und Paläontologie, S. 32; Helmut Hölder: Naturgeschichte des Lebens von seinen Anfängen bis zum Menschen, Berlin u. Heidelberg 1968, S. 20; Helmut Hölder: Geologie und Paläontologie in Texten und ihrer Geschichte, Freiburg/Br. u. München 1960a, S. 411; Hölder, Paläontologische Meditationen, S. 69  f. 204 Hennig, Organisches Werden, S. 281. 205 Im Anschluss an Beispiele aus der Pflanzen- und Tierwelt, die von ‚darwinistischer‘ Seite aus als besondere Anpassungsleistung der Organismen aufgeführt werden, heißt es bei Hennig: „Es kann doch niemand im Ernst behaupten, er könne sich all derartige Raffiniertheiten durch Zufallsmutationen und Aussterben all derjenigen Mitbewerber im Daseinskampf vorstellen, die dazu nicht vorzudringen vermochten! Wir wollen ja Probleme und Wunder sehen lernen, um sie wissenschaftlich angehen zu können, nicht aber sie fortleugnen.“ Ebd., S. 306  f. 206 Ebd., S. 281.



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Verstoß gegen Proportionalitätsmaßstäbe etc. ‚Recht‘ meint hier: Die Entwicklung des organischen Formreservoirs darf nicht als mangelhafte Anpassungsleistung an die Umwelt gedeutet werden, sondern als Äußerung eigenständiger vitaler Gestaltungskräfte, die sozusagen mit innerer Notwendigkeit über das Ziel hinausschießen. Hennig sieht in der aktuellen Kultur ein Pendant dieser Entwicklungsstruktur: Jede Art hat ein bestimmtes Höchstmaß an Zellvermehrung, jede Entwicklungslinie findet ihr Ende in Riesenformen, über die auch sie nicht hinausfindet. Aber im Laufe der Aeonen wird eben doch auch dieses Endziel bei den später Kommenden immer weiter hinausgesteckt. Wir kennen auch im Kulturleben und in der Zivilisationsentfaltung jene Schmerzen einer zwangsläufigen Höhersteigerung […]. Die Aufspaltung der Wissenschaft in Spezialforschungen, die das Verständnis für einander zu verlieren drohen, gehört auch dazu.207

Vom orthogenetischen Standpunkt aus betrachtet sind die ‚Lebensäußerungen‘ der Kultur in ein Stadium eingetreten, in dem sie zwar dem allseits beschworenen Totalitätsgebot nicht mehr Genüge tun können, gleichwohl jedoch nicht unter der pessimistischen Zeitsignatur geführt werden, gegenüber dem tiefen Fluss des Lebens sei die Oberfläche der Kultur verhärtet.208 207 Hennig, Von Zwangsablauf und Geschmeidigkeit, S. 28  f. Hennig lässt sich mit dieser Aussage zweifelsohne jener „anti-darwinistische[n] philosophische[n] Biologie“ zurechnen, „in der das Leben diskursiv als Gegenstand von Wissenschaft gefasst wird und Funktionsgesetze von Organismen in Naturgeschichte und kultureller Menschengeschichte beschrieben werden.“ Thomas Keller: Anthropologische Szenen des Historismus. Einleitung, in: Ders./Wolfgang Eßbach (Hrsg.): Leben und Geschichte. Anthropologische und ethnologische Diskurse der Zwischenkriegszeit, München 2006, S. 19–57, hier: S. 40. 208 Dieser von Simmels Kulturkritik (Der Begriff und die Tragödie der Kultur, 1911) stark gemachten Auffassung erscheint hier insofern ein Korrektiv an die Seite gestellt, als die bizarr anmutenden Spezialisierungen innerhalb der modernen Zivilisation als Zeugnisse ‚innerer‘ Lebensgesetze aufgerufen werden, nicht jedoch als ‚Verhärtungen‘ einer veräußerlichten Oberfläche. Die Rede von den „Schmerzen einer zwangsläufigen Höhersteigerung“, die Hennig von der phylogenetischen auf die kulturtheoretische Analyse überträgt, findet sich auch – gleichfalls entwicklungsbiologisch, jedoch anthropozentrisch akzentuiert  – bei Wilhelm Worringer. Worringer diskutiert in Abstraktion und Einfühlung (1907/08) die „ideale Forderung“ eines „überzeugten Evolutionist[en]“, „daß in unserem menschlichen Organismus das Bildungsgesetz der anorganischen Natur noch wie eine leise Erinnerung nachklinge. Er [der Evolutionist, N.K.] würde vielleicht auch weiter behaupten, daß jede Differenzierung der organisierten Materie, jede Weiterbildung ihrer primitivsten Form von einer Spannung, sozusagen von einer Rückwärtssehnsucht nach dieser primitivsten Form begleitet sei und würde zur Bekräftigung auf den entsprechenden Widerstand hinweisen, den die Natur gegen jede Differenzierung dadurch äußert, daß mit der Höherentwicklung des Organismus die Schmerzen des Gebärens wachsen. In der Betrachtung abstrakter Gesetzmäßigkeit würde dann also der Mensch gleichsam von dieser Spannung erlöst und im Genusse seiner einfachsten Formel, seines letzten Bildungsgesetzes von seiner Differenzierung ausruhen.“ Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie, hrsg. v. Helga Grebing, mit einer Einleitung v. Claudia Öhlschläger, München 2007 [1907/08], S. 97  f., Hervorhebung N.K. Vgl. dazu: Norman Kasper:

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Arbeiten wir Hölders Blick auf Hennig deutlicher heraus, so wird zunächst deutlich, dass es freilich nicht primär dessen vitalistische Kulturphilosophie ist, die Hölders historiographisches Interesse findet. Überhaupt kann von historiographischer Distanz, die auf Relativierung der Geltungsund Wahrheitsansprüche von Hennigs Position setzt, kaum die Rede sein: Zwischen zu analysierender objektsprachlicher Ebene der stammesgeschichtlichen Position seines Lehrers und dem metasprachlichen Vokabular ihrer Historisierung unterscheidet Hölder häufig nicht konsequent. Der Anti-Darwinismus der orthogenetischen Schule Hennigs wird auf diesem Weg nicht in seinem Weltanschauungsanspruch ideengeschichtlich kontextualisiert, sondern als Produkt einer induktiv-empirisch verfahrenden Paläontologie präsentiert: quantitativ als Resultat „wachsenden Fundgut[s]“; qualitativ als Rekonstruktion der Entwicklung „fossil überlieferte[r] Lebenslinien […] in bestimmter Richtung“. Seit „etwa 1870“, so Hölder, deuteten die „Neolamarckisten“ die Evolution „als gerichteten (nicht als zielenden, wohl aber durch eine noch unbekannte Kausalität von innen her gerichteten) Vorgang.“209 Hennig sei ein Glied dieser Kette. Die latente Interferenz von objektsprachlicher und metasprachlicher Ebene zeigt sich auch darin, dass Hölder bisweilen den anti-rationalistischen Duktus von Hennigs Argumentation und damit lebensphilosophische Diskursmuster reproduziert, etwa in dem Hinweis auf das Unvermögen eines ‚mechanistischen Darwinismus‘, der entwicklungsgeschichtlich nachweisbaren Fülle des Lebens Herr zu werden: Wenn die darwinistische Lehre in ihrem engeren Sinne und nach ihrem üblichen Verständnis in der Fülle der lebendigen Gestalten nur ein mechanistisches Spiel kleiner Zufälle sah, so schien sich dem Auge des Paläontologen eine Lebensgeschichte zu enthüllen, die sich nach großen, ihr innewohnenden Regeln und im Erblühen und Wiedererlöschen überindividueller Einheiten vollzog. Das Leben schien sich dabei der Umwelt gegenüber aktiv sie meisternd zu verhalten und sich in der Eroberung des Landes, der Steppen, des Luftraumes, der Rückkehr ins Wasser und in tausendfachen kleineren Bezügen gleichsam selbst seine Aufgabe zu stellen.210

Hölder spricht an dieser Stelle zwar durchaus treffend vom „Vitalismus“, der sich „mit dem lamarckistischen und neolamarckistischen Gedankengut oft

Genetische Methode oder „Instinktschöpfung“ wider die Schmerzen der „Höherentwicklung des Organismus“? Evolutionäre Kulturtheorie in völkerpsychologischer Absicht bei Wundt, Schmarsow und Worringer, in: Carsten Gansel/Dirk Vanderbeke (Hrsg.): Geschichten erzählen/Telling Stories. Evolution und Literatur – Evolution der Literatur, Berlin u. New York 2012, S. 235–261, hier: S. 250–255. 209 Hölder, Wandlungen der Geologie und Paläontologie, S. 31. Vorhergehende Zitate gleichfalls. 210 Hölder, Kurze Geschichte der Geologie und Paläontologie, S. 193.



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verband“211, jedoch bedeutet dies keine grundsätzliche Einschränkung der der Paläontologie attestierten induktiven Methode, über die Rekonstruktion von empirisch nachweisbaren Formkontinuitäten und Formdiskontinuitäten zu ihren Ergebnissen gelangt zu sein. Der ‚Darwinismus‘ wird in dem eben präsentierten Langzitat nicht nur aufgrund seines falschen Entwicklungsverständnisses abgelehnt; vorgeworfen wird ihm zudem ein falscher Lebensbegriff. Hölders Mechanismus-Vorwurf verweist dabei auf eine argumentative Figur, die sich auch bei dem wohl einflussreichsten Vitalisten des frühen 20. Jahrhunderts nachweisen lässt – bei Henri Bergson (1859–1941). In seiner L’evolution créatrice (1907), die als Schöpferische Entwicklung (1912) in der Übersetzung von Gertrud Kantorowicz auch die Debatte in Deutschland maßgeblich prägt, entwirft Bergson die Stammesgeschichte des Lebens über eine Auseinandersetzung mit Darwins Selektionstheorem, anderen Anpassungsvorstellungen, Orthogenese und Neolamarckismus bis hin zu dem von ihm vertretenen élan vital, dem sog. „Lebensschwung“212: „Dieser Schwung, der sich auf den Evolutionslinien, zwischen denen er sich aufgeteilt hat, weiter erhält, ist die tiefe Ursache der Variationen, zumindest derer, die sich regelmäßig vererben, sich summieren und neue Arten entstehen lassen.“213 ‚Mechanistisches‘ weist er sowohl bei Darwin als auch bei anderen Anpassungstheoretikern nach; allein der Neolamarckismus scheint ihm „von allen Formen des heutigen Evolutionismus“ „ein inneres […] Entwicklungsprinzip anzuerkennen.“214 Der élan vital ist gleichsam dessen Konkretisierung (ohne den für den Neolamarckismus zentralen Gedanken der Vererbung erworbener Eigenschaften aufzunehmen). Sieht man einmal davon ab, dass Bergson hier unter ‚Neolamarckismus‘ mit der Betonung des inneren Richtungsprinzips das anspricht, was Hölder auch unter Orthogenese fasst – zwi-

211 Ebd., S. 193  f. An anderer Stelle, in einem Aufsatz, der sich in Jüngers Miszellen-Sammlung nachweisen lässt, relativiert Hölder allerdings seine Vitalismus-Annahme. Die orthogenetische Vorstellung, über längere Zeit „gerichtet sich verändernde Formreihen“ ließen sich im lamarckistischen Sinne als „ein vom Organismus selbst gelenktes Anpassungsvermögen, das auf zielstrebige Verbesserung gerichtet ist“, deuten, markiert er ausdrücklich als nichtvialistisches Denken, wohl um es in seinem wissenschaftlichen Anspruch zu bestätigen: „Das hatte nichts mehr mit einem Vitalismus womöglich mystischer Art zu tun, sondern war die Suche nach einem noch unbekannten Faktor, der sich nur in langen Zeiten, nicht aber in den kurzzeitig ablaufenden heutigen Zucht- und Modellversuchen geltend machen sollte […]. “ Helmut Hölder: Das Gestein als Geschichtsbuch von Erde und Leben – Entdeckung und Erkenntniswandel, in: Studium generale, Wintersemester 1980/81, S. 67–87 (Sonderdruck), hier: S.  79, DLA Marbach, Bestand „H:Jünger, Ernst“, Miszellen-Sammlung, Kasten 32, Mappe 85. 212 Vgl. Henri Bergson: Schöpferische Evolution, neu aus den Franz. übers.  v. Margarethe Drew­ sen, mit einer Einleitung v. Rémi Brague, Hamburg 2013 [1907], S. 69–117, Zitat: S. 107. 213 Ebd. 214 Ebd., S. 95.

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schen Orthogenese und Neolamarckismus trennt Hölder nicht scharf215 –, so ist deutlich, welche Rolle sich dem élan vital im Rahmen einer paläontologischen Deutung der Entwicklungsgeschichte zuweisen lässt. Wenn Hölder mit Hennig die Evolution als einen von „noch unbekannte[r] Kausalität von innen her gerichteten […] Vorgang“216 verstanden wissen will, dann ist der élan vital das gesuchte Movens. Dass dieser namentlich nicht genannt wird (wie auch Bergson keine Erwähnung findet), ist sicherlich dem Umstand zuzuschreiben, dass Hennig und Hölder von einem anderen methodischen Standpunkt aus argumentieren (müssen) als der französische Lebensphilosoph. Wo Bergson die Ergebnisse der Entwicklungsbiologie und Chemie zur Kenntnis nimmt und mit seinem synthetischen, damit aber eben die disziplinären Einzelergebnisse weniger zusammenfügenden als totalisierenden Zugriff in eine dezidiert philosophische Ordnung bringt,217 bleiben Hennig und Hölder zünftige Paläontologen. In dieser Rolle können Sie nur so viel über das ‚Leben‘ aussagen, wie sich anhand der Entwicklung „zwischen verschiedenen Lebenstypen“218 formanalytisch ermitteln lässt. Die Vermutung, dass dieses Thema sich freilich geradezu für eine weltanschauliche Vertiefung anbietet, bestätigt Hennig in Das naturwissenschaftliche Weltbild der Gegenwart (1940), einem kleinen populärwissenschaftlichen Bändchen, das einen breiten Leserkreis mit orthogenetischem Denken vertraut macht. Hennig geht in Das naturwissenschaftliche Weltbild der Gegenwart zunächst von einem chemisch-biologischen konturierten Lebensbegriff aus, wenn er den Kohlenstoff in den Mittelpunkt seiner Betrachtung rückt. Doch organische Materie und ‚Leben‘ sind nicht deckungsgleich, während erstere „Zustände“ anzeige, müsse „das Leben“ als „Vorgang, Werden, Bewegung, ohne welche all die komplizierten Verbindungen zerfallen“,219 angesehen werden. Die wertnormative Hierarchisierung ist dabei klar: Dort – seitens naturwissenschaftlicher Betrachtung – droht der Versuch, „das Leben rein stofflich und damit mechanisch“, „von außen her“220 bestimmen zu wollen; hier – im Rahmen eines vorgangsorientierten Zugriffs – erscheint das Leben

215 Vgl. zur Unterscheidung zwischen Orthogenese und (Neo-)Lamarckismus: Bowler, The Eclipse of Darwinism, S. 7, S. 58–106, S. 141–181. Bei Hölder lässt sich die Verwendung des Begriffes „Neolamarckismus“ häufiger nachweisen als die Rede von der „Orthogenese“. Wo im paläontologiegeschichtlichen Kontext von „Neolamarckismus“ gesprochen wird, soll jedoch immer auch die innere Gerichtetheit der Lebensbewegung angezeigt sein. Vgl. z.  B. Hölder/v. Engelhardt, Mineralogie, Geologie und Paläontologie, S. 221. 216 Hölder, Wandlungen der Geologie und Paläontologie, S. 31. 217 Vgl. zu dem von Bergson konzipierten Verhältnis von Biologie und Philosophie: Bergson, Schöpferische Evolution, S. 59–67. 218 Hennig, Organisches Werden, S. 295. 219 Edwin Hennig: Das naturwissenschaftliche Weltbild der Gegenwart, Stuttgart 1940, S. 31. 220 Ebd.



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als ‚Kraft‘221. Nun ist Hennig kein monistischer Mystiker, „Meta-physik“, dekretiert er vier Jahre später, kann niemals „A-physik oder gar Anti-physik bedeuten“222, und insofern hält er es einerseits für ein durchaus lobenswertes Verdienst der Naturwissenschaften, überhaupt erst den Problem- und Nichtwissens-Horizont abgesteckt zu haben, vor dem dann die vitalistische Emphase den ihr zugewiesenen Ort erhält. Die Bestimmung des ‚Lebens‘ als Vorgangsgeschehen verlangt jedoch andererseits geradezu nach einer entwicklungsgeschichtlichen Perspektive, die die zustandsfixierte Naturbetrachtung eben nicht liefern kann. An dieser Stelle nun fällt es Hennig nicht schwer, die ‚orthogenetische‘ Fundierung der Entwicklungsgeschichte als allgemeinen Beitrag zum Lebensproblem zu präsentieren. Wohlgemerkt: Hier spricht nicht in erster Linie der Paläontologe, dessen Argumentation über die erfahrungsgesättigten Analysen fossiler Funde motiviert sind, sondern der Lebenstheoretiker. In dieser Rolle kann Hennig die induktive Kleinund Kleinstarbeit durch großzügige Deduktion ersetzen; die orthogenetisch ausgerichtete Paläontologie wird auf diesem Weg zur Dienerin einer allgemeinen Lebenswissenschaft. Nicht auf ein noch im Schoße der Zukunft schlummerndes Ziel hin geht die Stammesgeschichte, sondern von einem vorhandenen Anfange aus […]. Sie wird von rückwärts und innen getrieben, nicht von vornher gezogen […]. Der Werdegang der Formenwelt spielt sich nicht stetig, sondern pulsatorisch, rhythmisch ab, ein Stafettenlauf der Generationen gibt die Lebensfackel weiter.223

Laut dem biogenetischen Grundgesetz Ernst Haeckels rekapituliert die Ontogenese die Phylogenese, verläuft die Einzelentwicklung des Individuums gleich der stammesgeschichtlichen. Bei Hennig nun werden die phylogenetisch nachweisbaren Lebenstypen in den Kategorien einer ontogenetischen Organologie beschrieben: Geburt, Entfaltung und (Aus-)Sterben eines bestimmten Typs sind Anzeichen einer ‚inneren‘ Lebenstriebkraft, die sich des organischen Formenreservoirs gleichsam nur bedient, oder anders gesagt: von der übergeordneten Perspektive des ‚Lebens‘ erscheinen die einzelnen Zyklen lediglich als dessen Vollzug. Je stärker Hennig auf das ‚Leben‘ fokussiert, desto mehr rücken die naturgeschichtlich nachweisbaren Typen in die Rolle äußerlicher Anzeichen einer entwicklungsindifferenten Kraft. Man kann darin eine Bestätigung von Wolf Lepenies’ „spekulative[r] Vermutung“ sehen, dass „die Epoche der Moderne, die an ihrem Beginn durch Verzeitlichungstendenzen in den Wissenschaften beschrieben werden kann,

221 Vgl. ebd., S. 33. 222 Hennig, Organisches Werden, S. 316. 223 Hennig, Das naturwissenschaftliche Weltbild, S. 48.

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in eine Phase der Enthistorisierung mündet“224. Mit Blick auf Hennigs Vorstellungen spricht tatsächlich einiges für die Annahme, das ‚Leben‘ selbst sei gar nicht naturgeschichtlich zu fassen; zwar entlang formaler Äußerungen zu studieren, aber seiner ihm zugeschriebenen inneren Richtungskraft nach durch den Entwicklungsgedanken nur ungenügend charakterisiert. Auch wenn die orthogenetische Schule eine evolutionäre Veränderung der Arten keineswegs in Abrede stellt und der Sache nach nur den von Darwin behaupteten Mechanismus des Artenwandels kritisiert, tendiert sie doch in vitalistischer Emphase dazu, den Entwicklungsgedanken selbst vom Zentrum an die Peripherie zu schieben. Die Abstammungslehre und ihre Zeugnisse werden auf diesem Weg zum Indikator des Lebensflusses. Wir hatten bereits bei Gundolf und Breysig beobachtet, in welchem Maße antigeschichtliches Denken bisher durch entwicklungsgeschichtliche Strukturen charakterisierte Kohärenzschemata (biographische und weltgeschichtliche Erzählung) prägt.225 Dem ‚Leben‘ kommt bei Hennig jene tiefenstrukturelle Prägekraft zu, die bei Gundolf durch das Modell der Kräftekugel veranschaulicht werden soll und die Breysig durch Anlehnung an die moderne Physik zu gewinnen hofft. Das ‚Leben‘ entzieht sich dabei immer mehr jenen Beschreibungskategorien, die an Sichtbares gebunden sind: Die Metaphorik des Werdens und Fließens gilt nicht der Kennzeichnung der Formen, in denen sich das Leben zeigt, sondern einem dahinterliegenden Bewegungsimpuls. In der jeweiligen naturgeschichtlich nachweisbaren Formsequenz ist dieser Bewegungsimpuls jedoch nicht anschaulich. Dieses Problem wiegt umso schwerer, als keineswegs klar ist, wie genau Formenwandel stattfindet. Hennig muss sich bspw. gegen den von Edgar Dacqué (1878–1945) erhobenen „‚logische[n]‘ Einwand“ wehren, „zwischen verschiedenartigen Lebenstypen sei ein Übergang weder erwiesen noch auch nur ‚denkbar‘“.226 Der Tübinger Paläontologe verweist im Gegenzug auf „vollgültige Beweise“, die zeigen würden, „daß das grundsätzlich Neue, der sogenannte ‚Typus‘, sich aus Vorangegangenem losgerungen hat“ und „nicht als unerklärliches Wunder in die Welt geschneit kommt“227. Dacqué kommt hier die Rolle der – um im Bild zu bleiben – Frau Holle zu, die dort scharfe, für Hennig nicht nachvollziehbare Differenzen setzt, wo dieser von geschmeidigen Übergängen ausgeht. Wir müssen uns die Position Dacqués etwas genauer anschauen. Sowohl mit Blick auf den Arbeiter als auch die Marmorklippen hinterlässt seine idealistische Morphologie einige Spuren.

224 Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte, S. 20. 225 Vgl. Kap. 1.2.2. 226 Hennig, Organisches Werden, S. 293. 227 Ebd.



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1.4.2  Über die „Urpflanze“. Die Konstellation Dacqué – Hölder – Leistikow – Jünger Edwin Hennig konnte mit Dacqué nicht viel anfangen. Seine Absage an eine übergangslose, diskontinuierliche Reihe einzelner Lebenstypen, die, wie er spottet, „als unerklärliches Wunder in die Welt geschneit“ kämen, macht dies deutlich. Bei Hennigs Schüler Helmut Hölder liegen die Dinge etwas anders. Dieser las nicht nur bis zum Ende der 1940er-Jahre Dacqué mit Faszination; auch in seinen späteren paläontologiegeschichtlichen Arbeiten findet man Spuren der Sympathie. Hölder studierte von 1935 bis 1939 Geologie und Paläontologie in Aachen, Königsberg, hauptsächlich aber in Tübingen. Bevor er dort 1939 bei Edwin Hennig mit Geologischen Untersuchungen in der Umgebung von Lauchheim (Ostalb) promoviert wurde,228 nahm er 1938 an der Tübinger geologischen Preisaufgabe teil; das Thema lautete: „‚Es sollen Grenzen und Grenzüberschreitung naturwissenschaftlicher Forschung an Beispielen aus Geologie und Paläontologie erörtert werden.‘“229 – Hölder gewann mit seinem Beitrag den ersten Preis und veröffentlichte die Schrift unter dem Titel Grenzfragen naturwissenschaftlicher Forschung. Ein Beitrag zur Grenzüberschreitung empirischer Methodik, gestützt auf Goethes Naturforschung und einige Beispiele aus der Gegenwart in zwei Auflagen.230 Edgar Dacqué spielt in Hölders Abhandlung eine wichtige Rolle. Der Münchener Paläontologe und Naturphilosoph wendet sich nach der ersten Auflage der Grenzfragen sogar schriftlich an Hölder, wie dieser in der zweiten, umgearbeiteten Fassung dann mitteilt.231 Was machte Dacqué für Hölder so anziehend? Dacqué war seines Zeichens nach Promotion (1903) und Habilitation (1912) seit 1914 außerordentlicher Professor für Paläontologie und stratigraphische Geologie an der Universität München.232 Mit Urwelt, Sage und Menschheit (1924) eröffnet er nach vielen Jahren unauffälliger geologisch-paläontologi228 Vgl. Hölder/v. Engelhardt, Mineralogie, Geologie und Paläontologie, S. 251. 229 Ebd., S. 260. 230 Helmut Hölder: Grenzfragen naturwissenschaftlicher Forschung. Ein Beitrag zur Grenzüberschreitung empirischer Methodik, gestützt auf Goethes Naturforschung und einige Beispiele aus der Gegenwart, Stuttgart 1941, ²1947. 231 Vgl. Hölder, Grenzfragen naturwissenschaftlicher Forschung, ²1947, S. 41 (Anm. 8). 232 Vgl. zum wissenschaftlichen Werdegang Dacqués ausführlich Marcus Hahn: Gottfried Benn und das Wissen der Moderne, 2.  Bde., Bd.  2, Göttingen 2011, S.  594–601; Kay Meister: Metaphysische Konsequenz – die idealistische Morphologie Edgar Dacqués, in: Neues Jahrbuch für Geologie und Paläontologie 235/2 (2005), S. 197–233, hier bes.: S. 201–204; Olivier Rieppel: Phylogenetic Systematics. Haeckel to Hennig, London u. New York, S. 230  f.; vgl. auch die Selbstauskunft: Edgar Dacqué: Werk und Wirkung, in: Ders.: Werk und Wirkung. Eine Rechenschaft. Aus dem Nachlass hrsg. von Manfred Schröter, mit einem bibliographischen Anhang von Horst Kliemann, München 1948, S. 33–65.

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scher Fachpublikationen den Reigen jener Arbeiten, in denen er eine einflussreiche Naturphilosophie entwirft, die er später dann in den 1930er-Jahren Schritt für Schritt hin zu einer christologischen Erlösungsgeschichte – WolfErnst Reif spricht von „a very serious kind of Catholic mysthicism“233 – und einer ganz eigenen Geschichtsphilosophie ausbauen wird.234 Uns interessiert zunächst der zwar bereits mystizistisch argumentierende, jedoch noch innerhalb der paläontologischen Fachdiskussion wahrgenommene Dacqué mit seiner idealistischen Morphologie  – denn dieser wird von Hölder als Gesprächspartner akzeptiert. Hölder bezeichnet Dacqué rückblickend als „Romantiker unter den Paläontologen des 20. Jahrhunderts“.235 Was hat man sich darunter vorzustellen? – Im Gegensatz zu Hölders Lehrer Hennig, der in stammesgeschichtlicher Hinsicht neue ‚Lebenstypen‘ als Entwicklungen vorausgehender Formmuster deutet, geht Dacqué davon aus, so Hölder, daß größere systematische Einheiten (z.  B. Ordnungen, Klassen, aber auch solche niedrigeren Grades) als Verwirklichungen von Formideen ins Leben treten und daß solche „Typen“ keine konkret körperliche Herkunft von einer tiefer stehenden Ahnengruppe, sondern eigenständige, rein metaphysische Verwurzelung besitzen […]. Dacqué schloß dabei von der Unabhängigkeit der Ideen platonischen Sinnes auf ihre gegenseitig unabhängige Verkörperung, ein Verfahren, mit dem er den Bereich der naturwissenschaftlichen Methodik […] verließ.236

Noch zwanzig Jahre zuvor, also um 1940, deutet Hölder Dacqués idealistische Grundierung stammesgeschichtlich begründeter Entwicklungsreihen als Fortführung von Goethes morphologischem Denken. Es ist bekannt, dass die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts sich ganz allgemein unter die Vorzeichen einer Vermittlung von Empirie und Idee, von exakter Naturwissenschaft und Naturphilosophie in der Tradition von Goethes Morphologie setzen lässt.237 Die Paläontologie macht in dieser Hinsicht keine Ausnahme; 233 Wolf-Ernst Reif: The Search for a Macroevolutionary Theory in German Paleontology, in: Journal for the History of Biology 19/1 (1986), S. 79–130, hier: S. 113. 234 Vgl. zu dieser Entwicklung Meister, Metaphysische Konsequenz, S. 204–224; vgl. auch Florian Mildenberg: Drachen und Dämonen. Der Paläontologe Edgar Dacqué (1878–1945), in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 57 (2009), S.  869–890; Hahn, Gottfried Benn, S. 593–657. 235 Hölder, Geologie und Paläontologie, S. 405. 236 Ebd. 237 Vgl. Jonas Maatsch (Hrsg.): Morphologie und Moderne. Goethes ‚anschauliches Denken‘ in den Geistes- und Kulturwissenschaften seit 1800, Berlin u. New York 2014; Eva Geulen: Urpflanze (und Goethes Hefte zur Morphologie), in: Ott/Döring (Hrsg.), Urworte, S. 155–172; Karl Robert Mandelkow: Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers, Bd. 2, 1919–1982, München 1989, S. 39–48; Rieppel, Phylogenetic Systematics, S. 152–168. Die Breitenrezeption von Goethes morphologischem Denken im 20.  Jahrhundert ist ein Desiderat. Im Rahmen des DFG-Projektes „Ästhetische Eigenzeiten“ widmet sich z. Z. eine



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auch sie versucht Goethes ‚anschauendes Denken‘ fruchtbar zu machen. Dies geschieht im methodischen Rahmen der bald auch sog. idealistischen Morphologie,238 einer Ausprägung des morphologischen Denkens, die im biologisch-paläontologischen Fachgespräch auch unter den Etiketten „Typologie, Bauplanforschung, ideal-entwicklungsgeschichtliche Morphologie, reine Morphologie, traditionelle und klassische Morphologie“239 firmiert. Eine wichtige Vermittlungsfunktion kommt hier dem Botaniker Wilhelm Troll (1897–1978) zu: Als idealistisch orientierter Morphologe und Kommentator sowie Herausgeber von Goethes Morphologischen Schriften bringt er systematisches und historisches Interesse mustergültig zur Deckung.240 Ein zentraler Begriff, um den sich dieses neue Denken rankt, ist der des „Typus“, verstanden als „die Grundform, Urgestalt“241, wie das Philosophische Wörterbuch informiert. In jedem typenbildenden Denken realisiert sich das Allgemeine in der Schau des Einzelnen, bleibt die Identifizierung einer „Urgestalt“ an die konkrete Erfahrung gebunden.242 Ausgeweitet und verallgemeinert liegt der Gestaltbegriff im Typus oder Urbild vor. Beide, im wesentlichen gleichbedeutend, sind Ganzheitsbegriffe. Sie werden deshalb nicht begrifflich analytisch erfaßt, sondern anschaulich gewonnen. […] Goethe spricht auch, und in den späteren Jahren sogar mit Vorliebe, von Urphänomenen und bringt dadurch den anschaulichen Charakter des Urbildes zum Ausdruck.243

Schauen wir uns nun Hölders Restitution von Goethes Morphologie genauer an. Wie wir sehen werden, steht sie ganz in der Tradition von Trolls identifikatorischer, historische und systematische Perspektive verbindender GoeArbeitsgruppe unter dem Titel „Zeit und Form im Wandel. Goethes Morphologie und ihr Nachleben in der Theoriebildung des 20. Jahrhunderts“ diesem Thema. 238 Vgl. zur Restitution von Goethes morphologischem Denken im deutschen paläontologischen Diskurs der ‚idealistischen Morphologie‘ zu Beginn des 20. Jahrhunderts Meister, Metaphysische Konsequenz, S. 198–200. Bereits frühe, kritische Historisierungen der idealistischen Morphologie im paläontologischen Feld betonen den Goethe-Bezug der idealistischen Schule. Vgl. Werner Zündorf: Phylogenetische oder Idealistische Morphologie?, in: Der Biologe I/2 (1940), S. 10–24, hier: S. 12. 239 Zündorf, Phylogenetische oder Idealistische Morphologie?, Ebd. 240 Vgl. Wilhelm Troll: Goethe in seinem Verhältnis zur Natur, in: Johann Wolfgang Goethe: Morphologische Schriften, ausgewählt u. eingeleitet v. Wilhelm Troll, Jena 1926, S. 13–104; vgl. auch ders.: Gestalt und Urbild. Gesammelte Aufsätze zu Grundfragen der organischen Morphologie, Leipzig 1941. Vgl. zu Troll Gisela Nickel: Wilhelm Troll (1897–1978). Eine Biografie, Halle/S. 1996; Focko Weberling: Wilhelm Troll, his Work and Influence, in: Systematics and Geography of Plants 68 (1999), S. 9–24. 241 Heinrich Schmidt: Philosophisches Wörterbuch, 9., neubearb. u. erw. Aufl., Leipzig 1934, S. 677. 242 „Das Denken, das zum Ziel Typenbildung hat (typisierende Begriffsbildung) ist vielleicht das ursprünglichste aller Begriffsbildung, weil es vom konkreten Einzelerlebnis ausgeht und in und mit ihm zugleich die allgemeinen Momente der Bedeutungen erfährt, die ja allein die Grundlage der Begriffe im abstrakteren Sinne bilden können.“ Ebd. 243 Troll, Goethe in seinem Verhältnis zur Natur, S. 73  f.

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therezeption. Der Ausgangspunkt von Hölders Argumentation in den Grenzfragen ist zunächst durch eine Analyse induktiver und deduktiver empirischer Erkenntnis gekennzeichnet. Die induktive Vorgehensweise ist prinzipiell unabschließbar; neue Beobachtungen führen zu neuen Induktionsschlüssen, ohne dass sich auf dieser Grundlage ein Allgemeines schlechthin bestätigen ließe. Die Deduktion prüft hingegen ein als allgemein Angenommenes am Erfahrungsbefund (s. Abb. 1). Sie neigt allerdings bei der Konstitution dieses Allgemeinen zur Formulierung von erfahrungsfernen „Hypothesen“. Zwar wird die Hypothese durch „Erfahrung und Beobachtung allmählich in den empirischen Kreis hereingezogen“, allein: „ihr Ausgangspunkt aber liegt außerhalb der Grenzen!“244 (s. Abb. 2). Bevor Hölder diese Grenzen dann mit Goethe überschreitet, skizziert er zunächst als Grundlage empirischer Wissensgewinnung und Skepsis den transzendentalen Erkenntnisvorbehalt Kants, in der zweiten Auflage dann vertieft durch Bezüge auf die zeitgenössische philosophische Realismus-Theorie, Bewusstseinsphilosophie und Ontologie (Eduard Hartmann, Nicolai Hartmann, Max Hartmann).245 Der Sache nach geht es um den Aufweis der Begrenztheit empirischer (Natur-) Forschung und eine Stärkung hypothetischer Verallgemeinerungen. Auf diesem Weg wird die Hypothese zur Idee geöffnet: Spielen Hypothese und Idee im Rahmen einer rein empirischen Wissensgewinnung noch keine Rolle (s. Abb. 1), so rücken sie innerhalb eines gemäßigten Empirismus zunächst an die Peripherie (s. Abb. 2), bis Hypothese und Idee schließlich ins Zentrum gesetzt werden und Beobachtung und Erfahrung an den Rand drängen (s. Abb. 3). Die Idee in der Mitte – Hölders Schema morphologischer Erkenntnis ist nun entwickelt: „Vom Standpunkt symbolischer Forschung aus, wie sie sich beim alten Goethe und in extremer Form heute bei Dacqué findet, kann man die Idee auch in die Mitte verlegen, von der Hypothese, Empirie und endlich Beobachtung als äußerster Kreis abhängen.“246 An diesem Punkt nun kommen Goethes „botanische[.  .] Studien“ ins Spiel. Dabei gelingt Hölder das Kunststück, Goethes biographische Entwicklung analog zu der von ihm als Sprengung der Grenzen des Empirismus konzipierten Zentralisierung der Idee zu präsentieren.247 Der junge Goethe, so der Grundtenor bei Hölder, startet als Empiriker; erst der „alte[.  .] Goethe“ ist auf der Höhe „symbolischer Forschung.“ Die erste Station führt den bereits in seinen voritalienischen Weimarer Jahren angekommenen (und 244 245 246 247

Vgl. Hölder, Grenzfragen naturwissenschaftlicher Forschung, S. 12. Vgl. ebd., S. 13  f.; vgl. Hölder, Grenzfragen naturwissenschaftlicher Forschung, ²1947, S. 3–5. Vgl. Hölder, Grenzfragen naturwissenschaftlicher Forschung, S. 14. Bereits Troll ordnet biographischen Stationen Goethes epistemologische Entwicklungsschritte hin zu einer Platonisierung der Idee zu. Vgl. Troll, Goethe in seinem Verhältnis zur Natur; Ders., Gestalt und Urbild.



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Erfahrung

Induktion

Beobachtung

Deduktion

Allgemeine Erkenntnis Idee

Beobachtung Erfahrung

Induktion

Idee

Erfahrung Deduktion

Induktion

Beobachtung

Deduktion

Hypothese Hypothese (Zwischenreich) Abb. 1–3 (im Uhrzeigersinn): Helmut Hölders Weg zur zentralen „Idee“. Grundlage der idealistischen Morphologie nach Goethe

damit nicht mehr ganz jungen) Goethe zu einer Auseinandersetzung mit dem schwedischen Naturforscher Carl von Linné (1707–1778). Die Einteilung der Pflanzen in Klassen gemäß der „Zahlverhältnisse der Fortpflanzungsorgane“ bietet der botanischen Mannigfaltigkeit ein verlässliches Korsett; aber „zu sehr“ musste „der rote Faden […] von außen hineingelegt werden“,248 als dass Goethe hier hätte vollauf befriedigt sein können. In der Folge geht sein „immer tiefer dringendes Anschauen“ darauf aus, den „wahren roten Faden zu gewinnen, der nicht nur eine von außen gesetzte Ordnung des Pflanzenreiches, sondern ein von innen gegebenes Verknüpfen gewährte.“249 Der Bekanntschaft mit der Vegetation Italiens in den Folgejahren kommt bei diesem Unterfangen eine wichtige Stellung zu; als Ergebnis der Italien-Reise macht Hölder die Einsicht in den Ablauf der „Metamorphose“ („Organumwand248 Hölder, Grenzfragen naturwissenschaftlicher Forschung, S. 16. 249 Ebd., S. 17.

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lung innerhalb der Urpflanze“) und das Modell der „Urpflanze“250 aus. Die „Urpflanze“ ist „die Grundform der Pflanzenwelt überhaupt“; zunächst „noch sinnlich gedacht, als eine irgendwie bestimmte und doch alle anderen Formen in der Möglichkeit schon enthaltende Gestalt, als eine Urform“251. Goethe wird an dieser Stelle der Entwicklung seines morphologischen Denkens – das ist für Hölders Parallelisierung von Biographie und Entfaltung eines Schritt für Schritt die Idee zentralisierenden Erkenntnisschemas wichtig – noch voll und ganz als induktiver ‚Empiriker‘ vorgestellt, dessen Anschauung an tatsächliches Sehen gebunden ist. Die Vielzahl formaler Einzelbeobachtungen, die er in unterschiedlichen Vegetationszonen Mitteleuropas machen konnte, droht im Ergebnis eine botanische Unübersichtlichkeit zu befördern, der Goethe allein dadurch Einhalt gebieten kann, indem er „Gestalttypen in weitestem Sinne“ konzipiert. Goethes Gestaltdenken ist also zunächst nichts anderes als eine Folge des enormen Empirisierungsdrucks. Die gewonnene Einheit steht demnach noch ganz unter dem Vorbehalt, Goethe habe mit seiner „Urpflanze“ aus der Fülle beobachtbarer botanischer Formen eine Art gestaltästhetisches Mittel gebildet. Bewegung kommt in die epistemische Entwicklung Goethes dann durch das berühmte Gespräch mit Schiller 1794. Es gibt kaum eine Würdigung oder Adaption von Goethes morphologischem Denken im 20. Jahrhundert, die nicht die in dieser Unterhaltung thematisierte Frage verhandelt, ob die „Urpflanze“ nun Erfahrung oder Idee sei – vermutet man doch hier den neuralgischen Punkt nicht nur im Verhältnis Goethe – Schiller, sondern des gesamten Gestalt-Konzeptes. Hölder lässt wie viele seiner Zeitgenossen Goethe durch die Schule des transzendentalen Vorbehaltes des Kantianers Schiller gehen, freilich nur, um ihn anschließend umso glorreicher im Hafen von Platons Idee ankommen zu lassen, jener „tieferen Art der Anschauung“252, die Erfahrung und Idee in einer „Synthese“253 aufeinander verpflichtet.254 Um 1817 ist für Hölder dann jener Punkt erreicht, an dem – seinem eigenen Erkenntnisschema folgend – sowohl die zunächst notwendige hypothetische Annahme einer „Urpflanze“ als auch deren empirische Hypostasierung sich zu einer die Grenzen der Empirie sprengenden Idee gewandelt haben muss (s. Abb. 3).255 An diesem 250 Ebd. 251 Ebd., S. 18. 252 Ebd., S. 23. 253 Ebd., S. 25. 254 Die Abhängigkeit Goethes von Platon bildete innerhalb der mit den naturwissenschaftlichen Schriften befassten Goethe-Philologie einen zentralen Streitpunkt. Hölder ist hier auf der Höhe des Fachgesprächs und referiert verschiedene Positionen. Vgl. ebd., S. 32, Anm. 255 Vgl. ebd., S. 26–30. Folgt man Eva Geulen, dann war es maßgeblich Ernst Cassirers Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (1916), in der die Entwicklung Goethes von der Idealtypen-Heuristik über die Zwischenstufe der Bestätigung einer empirisch nachweisbaren



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Punkt erreichen „‚Typus‘“ und „‚Idee‘““ jene das idealistische morphologische Denken kennzeichnende Semantik im Sinne von „Grundorganisation, Urform, Grundform, innere Formidee, letzte Instanz organischer Formvorstellung, allgemeines Bild, letzte Gegebenheit, Hauptbauplan, Grundgegebenheit, Urbild-Sinnliches, Werdeplan“256 wie eine zeitgenössische Bestandsaufnahme verzeichnet. Was „Urpflanze“ oder – oft im selben Atemzug verhandelt, wenn auch Goethes Farbenlehre entstammend – „Urphänomen“ dabei genau meinte, war allerdings umstritten. Walter Gebhard hat sicherlich recht, wenn er Goethes „These vom ‚Urphänomen‘“ ganz allgemein „archaistische wie platonistische Insinuationen“257 unterlegt. Hölder zitiert in dem von ihm verantworteten Nachwort zu Goethes Schriften zur Geologie und Mineralogie Hermann Schmitz, den späteren Begründer der neuen Phänomenologie, mit den Worten, in den „Urphänomenen“ sei „die Nahtstelle zwischen Idee und Erscheinung“ begründet.258 Die Nähe zum zeitgenössischen phänomenologischen Denken ist also unübersehbar. Und so verwundert es denn auch nicht, dass es neben Platon maßgeblich Husserls Phänomenologie ist, die herangezogen wird, um den anschaulichen Charakter gegenüber der abstrakten Idee zu stärken.259 Damit ist jedoch die von naturwissenschaftlicher Seite aus gestellte Gretchenfrage nach der biologischen Realität der Pflanze nicht vom Tisch. Versteht man unter „Urpflanze“ ein Modell, so wird deutlich, dass nicht ein chronologisch Erstes, sondern ein zeitenthobenes Strukturmerkmal an-

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258

259

Urform hin zur idealen Schau konzipiert wurde: „War die Urpflanze anfangs ein heuristischer Einfall, so führe der Weg dieser Idee über die Klippe der zunächst noch dringlich verlangten Inkarnation des Musters in einem Exemplar hinweg, um allmählich einer endgültigen, symbolischen Auffassung entgegenzureifen, die beim greisen Goethe erreicht sei.“ Geulen, Urpflanze, S. 160. Zündorf, Phylogenetische oder Idealistische Morphologie?, S. 12. Walter Gebhard: Die Erblast des 19. Jahrhunderts. Organismusdiskurs zwischen Goethes Morphologie und Nietzsches Lebensbegriff, in: Hartmut Eggert/Erhard Schütz/Peter Sprengel (Hrsg.): Faszination des Organischen. Konjunkturen einer Kategorie in der Moderne, München 1995, S. 13–36, hier: S. 21. Gebhard setzt die Renaissance morphologischen Denkens unter die Vorzeichen eines kritisierten, im Grunde (natur-)wissenschaftsfeindlichen Totalitätsdenkens: „Die idealistische Axiomatik ‚ewiger Grundformen‘ […] hat in der Goethe-Nachfolge der Naturphilosophie […] Ausmaße angenommen, die einer Schädigung deutschen Geistes gleichkommen.“ Ebd. Vgl. auch Walter Gebhard: „Der Zusammenhang der Dinge“. Weltgleichnis und Naturverklärung im Totalitätsbewußtsein des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1984. Helmut Hölder: Nachwort zur Geologie und Mineralogie, in: Johann Wolfgang Goethe: Schriften zur Geologie und Mineralogie/Schriften zur Meteorologie, Stuttgarter Ausgabe, Gesamtausgabe der Werke u. Schriften in 22 Bdn., 2. Abt., Schriften, 20. Bd., mit Nachworten u. Registern hrsg. v. Helmut Hölder u. Eugen Wolf, Stuttgart 1960b, S. 1017–1048, hier: S. 1020. Vgl. z.  B.: Hermann Schmitz: Goethes Altersdenken im problemgeschichtlichen Zusammenhang, Bonn 1959, S. 204–208. Vgl. zur Verbindung von Goethe und Husserl auch Eva-Maria Simms: Goethe und die Phänomenologie. Weltanschauung, Methode und Naturphilosophie, in: Maatsch (Hrsg.), Morphologie und Moderne, S. 177–194.

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gesprochen ist.260 Gegenüber dieser Deutung, die auch Hölder vertritt, gab es tatsächlich Versuche, der Urpflanze eine Art paläobiologischer Wirklichkeit zu verleihen, indem man sie an den Anfang der Pflanzenentwicklung setzte. So berichtet der Geologe und Paläontologe Johannes Walther (1860–1937), seines Zeichens von 1924 bis 1931 Präsident der Deutschen Akademie der Naturforscher (Leopoldina), von einem erstmals in der „Devonzeit“ auftauchenden „Vertreter der Gattung Sphenophyllum (Keilblatt)“ (s. Abb. 4), den Goethe während eines Besuches in den Kohlebergwerken bei Manebach nahe Ilmenau gesehen haben soll.261 Walther erwähnt zwar auch die Auseinandersetzung, die Goethe und Schiller um die „Urpflanze“ geführt haben, verkennt jedoch die epistemologische Komplexität, wenn er glaubt, das Problem abstammungsgeschichtlich lösen zu können: „Wenn […] Goethe das Bild einer Urpflanze Schiller gegenüber als eine ‚Erfahrung‘ bezeichnet, so muß er einmal Pflanzen gesehen haben, die der ‚Idee‘ einer Urpflanze nahe kamen.“ Aus diesem Grund hält Walther die Annahme für berechtigt, daß Goethe, der die Abdrücke von Sphenophyllum auf den Schieferplatten von Manebach sammelte, in seinem Unterbewußtsein das Erinnerungsbild dieser seltsamen Gestalt einer aus tiefem Schacht zutage geförderten Pflanze bewahrte, daß ihn der schematische Aufbau dieses Gewächses, ohne daß er es selbst wußte, über die Alpen [nach Italien, N.K.] begleitete und daß er die primitiven Eigenschaften eines fossilen Pflanzengeschlechts seherisch erkannte, lange bevor die Wissenschaft das hohe Alter und die Organisation dieser Gattung erforscht hatte.262

Mit der von Hölder skizzierten epistemologischen Entwicklung Goethes hat diese Annahme Walthers nichts gemein, oder anders gesagt: Walthers Erzählung bleibt auf (biographisch) halber Strecke stehen; der ‚symbolischen Kehre‘ Goethes schenkt er jedenfalls keine Aufmerksamkeit, so dass dieser ganz als paläobotanischer Empiriker porträtiert wird. Hinter dem Versuch, eine tatsächlich nachweisbare Pflanze an den Anfang der botanischen Entwicklung auf dem Land zu setzen, steht bei Walther sicherlich das Bemühen um eine Bewahrung des empirischen Argumentationshorizontes. Während 260 Der Grimm etwa bezeichnet die „Urpflanze“ in diesem Sinn „als ursprüngliches, einfachstes gedachtes modell, als morphologischer typus der ganzen pflanzenwelt“. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Sp. 2359. 261 „Es kann wohl keinem Zweifel unterliegen, daß Goethe, wenn er auf den Halden des alten Kohlebergwerks herumklopfte, auch die ziemlich häufigen Reste dieser Keilblattgewächse betrachtet hat, und man darf annehmen, daß diese ‚Urpflanzen aus den Tiefen der Erdrinde‘ durch ihre seltsame Eigenart in seiner Erinnerung haften blieben.“ Johannes Walther: Goethe und das Reich der Steine, in: Ders. (Hrsg.): Goethe als Seher und Erforscher der Natur. Untersuchungen über Goethes Stellung zu den Problemen der Natur, Halle/S. 1930, S. 253–300, hier: S. 292. Vorhergehende Zitate: S. 291  f. 262 Ebd., S. 294.



1.4  Die lebensphilosophische und die morphologische Wende

Abb. 4: Sphenophyllum oder: die paläobiologische Wirklichkeit der Urpflanze Goethes

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Hölders methodischer Kompass diesen Horizont mehr oder weniger kontrolliert verabschiedet und die Urpflanze jenen Ideen zuordnet, die „letzte aus dem Absoluten […] gefaßte Wesenheiten“ bezeichnen, „die das innere geistige Gerüst der Erscheinungswelt darstellen“ würden, setzt Walther bei der äußeren Erscheinungswelt an. Sein Beitrag zur Urpflanzen-Diskussion besteht nicht in einer neuen Vermittlung von Idee und Erfahrung, sondern einfach in dem Hinweis auf ein neues (altes) Objekt: das devonische Keilblattgewächs. Damit Hölder sein epistemologisches Entwicklungsprogramm – von der Empirie zur Idee – mit Goethes Biographie synchronisieren kann, muss er darauf hinweisen, dass der frühe Goethe die Urpflanze zwar „anfangs sinnlich gedacht“ habe, der späte, zum ‚anschauenden Denken‘ bekehrte Goethe allerdings „das Suchen nach der sinnlichen Gestalt der Urpflanze selbst als ‚Grille‘“263 bezeichnete. Von der Perspektive Hölders aus betrachtet, leistet Walther also nicht viel mehr, als dass er die „‚Grille“‘ einfach ins Paläobiologische konkretisiert, damit jedoch die intellektuelle Entwicklung Goethes verkenne: Die „Urpflanze“ ist in Walthers Version kein Zwitter aus anschaulicher Erfahrung und Denken, sondern eine ‚Tatsache‘, ein paläobotanischer Positivismus. Um Dacqué an Goethe anschließen zu können, ist es tatsächlich notwendig, das Konzept der „Urpflanze“ von jeglicher Rückführung auf paläobiologisch Vorfindliches und damit empirisch Nachweisbares zu reinigen. Dacqué selbst geht in seinem Hauptwerk Organische Morphologie und Paläontologie (1935), das seine seit 1924 erscheinenden Beiträge zu einer idealistischen Morphologie systematisiert, gegen den frühen Goethe vor. Dieser, so Dacqués Vorwurf, sei sich nicht darüber im Klaren gewesen, „daß das, was er erfassen wollte, die Idee des Typus, nie und nimmermehr als eine empirische, wenn man will, materielle Gestalt gefaßt und so bezeichnet zu werden vermag“264. Hölders intellektuelle Entwicklungsgeschichte Goethes schafft hier nun Abhilfe, indem sie den späten Goethe als geläutert und damit voll anschlussfähig an Dacqué präsentiert. Dacqué folgt Goethe bei Hölder zunächst ganz allgemein in der Abkehr von neuzeitlichen Rationalitätsstandards.265. Im Besonderen ist es Darwins Abstammungslehre und das, was der ‚Darwinismus‘ des 19. Jahrhunderts daraus gemacht hat, wogegen Dacqué vorgehe. In der zweiten Auflage seiner Grenzfragen sieht Hölder dann nicht nur Dacqué, sondern bereits Goethe selbst als Abstam263 Hölder, Grenzfragen naturwissenschaftlicher Forschung, S. 18. 264 Edgar Dacqué: Organische Morphologie und Paläontologie, Berlin 1935, S. 7. 265 Reagiert Goethe bei Hölder auf Bacon, Descartes, Pascal und Locke, so sieht sich Dacqué mit einer „siegreiche[n] empirische[n] Richtung“ konfrontiert, die „sich eine ursächlich-mechanische Naturerklärung zum Ziel setzte“. Hölder, Grenzfragen naturwissenschaftlicher Forschung, S. 33.



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mungsgegner.266 Statt Entwicklungsformen gibt es „Formideen“: „Dacqué lehnt sich bewußt an Goethe an. Seine Formideen sind ihrem Wesen nach Urphänomenen in Goethes Sinn verwandt, letzten, nicht mehr auflösbaren Erscheinungen lebendiger innerer Wirklichkeit.“267 Dacqué geht tatsächlich davon aus, „daß jede organische Gestalt Ausdruck einer allen Abwandlungen immanenten, überzeitlichen Grundorganisation oder ‚Urform‘ ist“268: Als ‚Ganzes‘ angesprochen, soll diese „Urform“  – gut gestaltpsychologisch gedeutet  – mehr als die Summe der sie bildenden Teile ausmachen. Sie bekommt eine „innere Einheit“ zugesprochen, die sich sowohl bei frühen, lediglich paläobotanisch nachweisbaren Spuren eines Typs als auch bei rezenten Typen nachweisen lasse. Falsch sei deshalb nach Dacqué die (z.  B. von Walther vertretene) These, „daß etwa eine primitive, noch wenig spezialisierte Art einer Reihe oder eines Typus der inneren Urform näherstünde als eine spezialisierte, die einen langen Anpassungsgang hinter sich habe“269. Bereits in Urwelt, Sage und Menschheit (1924) warnt Dacqué vor dem Versuch, „irgendwo in der Erdgeschichte einmal Urformen“ finden zu wollen, „die in ihrer Form neutral, nichtssagend, schemenhaft gewesen wären“270: Wir […] verstehen unter Urform nicht einen […] stammesgeschichtlich neutralen körperlichen Anfangspunkt, sondern die in allen zu einem Typus gehörigen Arten und Gattungen, auch in den anfänglichsten, schon vollständig vorhandene typenhafte konstitutionelle Gebundenheit und Bestimmtheit, die Potenz, die bei allem evolutionistischen Formenwechsel, als das Lebendig-Beständige da ist – eine Entelechie, wie auch Goethe wohl den Begriff Urform faßte.271 266 Vgl. Hölder, Grenzfragen naturwissenschaftlicher Forschung, ²1947, S. 14. Auch wenn sich Hölder ab den 1950er-Jahren in keiner Publikation mehr auf seine Grenzfragen naturwissenschaftlicher Forschung bezieht, bleibt er doch dem Grundtenor nach bei seiner Haltung, Goethe als Gegner Darwins zu präsentieren. In dem von ihm besorgten Nachwort zu Goethes mineralogischen und geologischen Schriften heißt es etwa, dass sich zwar „Darwins bahnbrechende Lehre“ nicht „von Goethe her in Frage stellen ließe“; gleichwohl unterlegt Hölder Goethe eine orthogenetisch motivierte Ablehnung von Darwins Entwicklungsdenken: „Der später von Darwin begründeten Selektionstheorie als Lehre eines bestimmten Entwicklungsmechanismus hätte er [Goethe – N.K.] […] sicher nicht zustimmen können. Denn das Bild eines nach dieser Lehre durch die Widrigkeit der Umwelt aufs stärkste beschnittenen Lebensbaumes wäre Goethes Streben nach ruhiger Bildung  […] fremd gewesen  […]. “ Hölder, Nachwort zur Geologie und Mineralogie, S. 1047. 267 Hölder, Grenzfragen naturwissenschaftlicher Forschung, S. 37. Hölder distanziert sich später von Dacqués Formideen, bezeichnet diese als „metaphysische, im Bereich der platonischen Philosophie und der ontologischen Typenlehre verwurzelte geistreiche Gedanken, die der Wirklichkeit nicht entsprechen.“ Hölder, Naturgeschichte des Lebens, S. 90  f. 268 Dacqué, Organische Morphologie und Paläontologie, S. 4. 269 Ebd., S. 13. 270 Edgar Dacqué: Urwelt, Sage und Menschheit. Eine naturhistorisch-metaphysische Studie, München 1924, S. 56. 271 Ebd., S. 55  f.

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Abb. 5: Darwins Stammbaum und Edgar Dacqués Zeitsignaturen

Die tatsächliche Realisierung bestimmter Urformen in der Natur folgt – quer zur Formentwicklung in Abstammungsreihen – dem „Gesetz der Zeitcharakterbildung“: „daß zu bestimmter Zeit eine gleichartige Spezialform in verschiedenen Gruppen und Stämmen sich herausbildet.“272 Parallel existierende Tiergruppen, etwa Wirbeltiere und Wirbellose, bekommen gleichsam von der Natur eine solch „gleichartige Spezialform“ aufgeprägt, ohne dass diese formale Homologie auf direkte Abstammung zurückgeführt werden könnte. Im Ergebnis glaubt Dacqué jeder geologischen Epoche „eine Art biologischer Zeitsignatur“273 zuordnen zu können. In einem Schaubild verdeutlicht er den Unterschied zwischen der durch die „Deszendenzmauer“274 errichteten Entwicklungslogik, die aus einer tatsächlichen Urform unterschiedliche Formzweige hervorgehen lässt und seiner Theorie der Typenkreise: In markierten Zeiträumen treten Stämme und Gattungen hier zu signifikanten Formgemeinschaften zusammen und realisieren auf diesem Weg eine bestimmte Formpotenz (s. Abb. 5). So macht er als eine solche Zeitsignatur in „paläozooischer Zeit, der ältestbekannten Epoche vorweltlicher Lebensentwicklung“, bei „genetisch nicht unmittelbar verbundenen Gruppen in der Schädelkapsel ein Stirnauge (Parietalorgan)“, auch „Scheitelauge“ genannt, aus (s. Abb. 6). Eine andere von Helmut Hölder aufgegriffene Zeitsignatur Dacqués betrifft den vogelartigen Charakter von Archaeopteryx. Gut darwinistisch betrachtet, könnte man an diesem Wesen den Übergang vom Reptil 272 Ebd., S. 50. 273 Ebd., S. 53. 274 Ebd., S. 45.



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Abb. 6: Reptil mit Stirnauge bei Edgar Dacqué

zum Vogel studieren; Dacqué allerdings, so Hölder, „hielt den Übergangscharakter für einen nur trügerischen Augenschein. Er [Dacqué, N.K.] bestritt überhaupt die blutsmäßig-konkrete Abstammung großer „typischer“ Einheiten des Tierreiches voneinander und sah so in Archaeopteryx nur einen Saurier besonderer Art, mit welchem die Welt der Saurier dem damals aufkommenden, den Typ des Vogels dann bestimmenden „Zeitgeist des Fliegens“ gleichsam ihren Tribut gezollt hätte.275

Hölder stimmt mit Dacqué während der Niederschrift der Naturgeschichte des Lebens (1968) keineswegs mehr überein. In den Grenzfragen allerdings diskutiert er das Urvogel-Beispiel ausführlich, um die Konzeption der Zei­tsigna­tur zu erläutern – und positiv zu bewerten. So sei es Dacqué gelungen, „ein zwar in den Definitionen nicht durchweg klares, im Ganzen aber einheitliches und konsequentes Entwicklungsbild zu geben.“276 Ausdrücklich lobt er Dacqué dafür, die Grenzen empirischer Methodik hinter sich gelassen zu haben und 275 Hölder, Naturgeschichte des Lebens, S. 90. Hölder bezieht sich hier auf: Dacqué, Organische Morphologie und Paläontologie, S. 376. 276 Hölder, Grenzfragen naturwissenschaftlicher Forschung, S. 35.

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gleich Goethe zu einer besonderen Art der Anschauung vorgedrungen zu sein: „Nicht rationales Denken, nicht bloße Erfahrung, sondern in die Erscheinung eindringendes ‚Anschauen‘ ist berufen, die Ideen zu erfassen.“277 Dies hätte Jünger, dessen Lob der ersten Auflage der Naturgeschichte des Lebens Hölder im Vorwort zur zweiten Auflage erwähnt,278 sicher unterschrieben. Was Hölder und Jünger verbindet, ist – wie es bei Hölder heißt – das Interesse am „metaphysische[n] Porenraum“279 naturgeschichtlichen Denkens, womit in erster Linie eine Abneigung gegen den Erklärungsanspruch der Deszendenztheorie verbunden ist. Kann die Abstammungslehre auch nicht mehr vollends geleugnet werden, so muss sich der „Selektionstheoretiker“ jedoch ins Stammbuch schreiben lassen, „daß die von ihm eingeleiteten Erkenntnisschritte noch keine unser ‚Erleben‘ befriedigende Antwort bedeuten“280. Jüngers Abneigung gegen Darwin und den ‚Darwinismus‘ steht derjenigen Hölders zeitlebens in nichts nach. Es dürfte diese anti-evolutionistische Komplizenschaft bei gleichzeitiger Vorliebe für neuplatonische Begründungsmuster sein, die Dichter und Wissenschaftler aufeinander verweisen. Die verbindende Erinnerung an eine naturwissenschaftlich-naturphilosophische Sozialisation in der Zeit um 1930 im Zeichen einer idealistischen Morphologie kann dabei als Grundlage eines prinzipiellen Einverständnisses in späteren Jahren gewertet werden. Persönlich lernen sich Hölder und Jünger 1962 kennen. Anlass des Zusammentreffens ist die Feier anlässlich der Promotion von Klaus ­Ulrich Leistikow (1929–2002) Ende Februar 1962.281 Bei der Verteidigung der Dissertation ist Jünger nicht dabei. Hartmut Blersch schreibt ihm deshalb: 277 Ebd., S. 36. 278 Vgl. Hölder, Naturgeschichte des Lebens, ²1989, S. V. In Jüngers Wilflinger Bibliothek befindet sich ein Exemplar dieser zweiten Auflage der Naturgeschichte des Lebens (DLA-Signatur: WJB09.05/47). Hölder begründet die Übersendung des Buches an Jünger folgendermaßen: „So sende ich es ihnen nun, zumal ich mir erlaubt habe, Ihren Namen im Vorwort zu nennen: weniger für Zwecke einer für mich bedeutungslosen Werbung als vielmehr deshalb, weil er für den der Naturforschung verbundenen Geisteslebendigen (-mächtigen) steht.“ Hölder an Jünger (09. 10. 1992), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. 279 Hölder, Naturgeschichte des Lebens, S. 26  f. Dieser Passus findet sich bereits in der ersten Auflage. 280 Ebd., S. 27. 281 Jünger erwähnt gegenüber Otto Klages den „Doktorschmaus eines begabten Paläobotanikers namens Leistikow“, an dem er teilgenommen habe. Jünger an Klages (19. 04. 1962), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Über den genauen Termin informiert Jünger bereits zwei Monate zuvor Heinz Ludwig Arnold. Vgl. Jünger an Arnold (17. 02. 1962), in: Heinz Ludwig Arnold: Wilflinger Erinnerungen. Mit Briefen von Ernst Jünger, Göttingen 2012, S. 95–97, hier: S. 96. Hölder spricht später in einem Brief an Jünger mit Blick auf eine erste persönliche Bekanntschaft von der „Tübinger Begegnung um 1960“. Hölder an Jünger (25. 05. 1979), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Vgl. auch Hölder an Jünger (09. 10. 1992), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach, wo gleichfalls von der „Tübinger Promotionsfeier“ die Rede ist.



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„Leistikow ging es, wie zu erwarten, gut, ‚magna cum laude‘“.282 Hölder hatte maßgeblichen Anteil an dieser Leistung, unterstützte er doch Leistikow bei seiner Promotionsarbeit.283 Leistikow studierte seinerseits Botanik, Geologie und Chemie in Köln und Tübingen (1952–1958); anschließend arbeitete er als Hilfskraft der Deutschen Forschungsgemeinschaft „in paläobotanischen Instituts- und Museumssammlungen in Glasgow, London und Manchester“284. Später, ab 1973, hatte er eine Professur für Botanik inne und leitete als Direktor das Botanische Institut und den Botanischen Garten (1986–1989) in Frankfurt am Main. Er ist heute vor allem aufgrund seiner Mitarbeit an Jüngers Mantrana. Einladung zu einem Spiel (1958) bekannt sowie durch einen Beitrag für die Festschrift zu Jüngers 70. Geburtstag.285 Brieflichen Kontakt zu Jünger sucht Leistikow bereits seit den späten 1940er-Jahren. In phantasievollen, leichtfüßigen, oft reichverzierten Briefen kommentiert Leistikow dort die Arbeiten Jüngers und der literaturgeschichtlichen Tradition schriftlich und bildlich; auch dichtet er.286 Als Vierzehnjähriger macht er zum ersten Mal die Bekanntschaft mit Schriften Jüngers.287 Er gehört dabei zur Riege jener Intellektuellen, die sich nicht mehr für die Kriegsschriften, die nationalrevolutionäre Publizistik der 1920er-Jahre oder die faschistische Ästhetik der frühen 1930er-Jahre interessieren, sondern Jünger vor allem als 282 Blersch an Jünger (16. 02. 1962), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Hartmut Blersch – der Sohn von Jüngers Hausärztin und Vertrauter Margret Blersch – war von 1964 bis 1976 als Medizinhistoriker an den Universitäten Erlangen und Tübingen beschäftigt; auch hatte er Kontakte zu der mit Jünger befreundeten Ägyptologin und Antaios-Autorin Emma BrunnerTraut (1911–2008). 1970 promovierte er sich mit einer Arbeit über Die ‚Aspekte‘ des Leibes in der altägyptischen Medizin. 283 Vgl. die Erwähnung von Hölder durch Klaus Ulrich Leistikow: Die Wurzeln der Calamitaceae, Diss., Universität Tübingen 1962, S. 9, S. 67. 284 Ebd., S. 67, dort auch weitere Angaben zum „Lebenslauf“. 285 Ernst Jünger: Mantrana. Einladung zu einem Spiel, Stuttgart 1958. Erst in den Auflagen ab 1960 wird Leistikow in den Titel mitaufgenommen: Mantrana. Ein Spiel, geleitet von Ernst Jünger und Klaus Ulrich Leistikow, Stuttgart 21960, 31964, 41980. Vgl. zum FlächendominoSpiel Mantrana Ulrich Prill: „mir ward alles Spiel“. Ernst Jünger als homo ludens, Würzburg 2002, S. 22–25. Vgl. Klaus Ulrich Leistikow: Typhonischer Überrest, in: Vintila Horia (Hrsg.): Farbige Säume. Ernst Jünger zum 70. Geburtstag, Stuttgart 1965, S. 189–210. 286 Der von Leistikow konzipierte Gedichtband Überwinterung wird von Vittorio Klostermann 1954 abgelehnt. Das Manuskript hat sich unter dem Titel Wilflinger Abschrift erhalten. Vgl. die Beilage zu dem Brief Leistikow an Jünger (05. 09. 1954), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Gleichfalls nicht erfolgreich ist der Versuch, Gedichte beim Merkur unterzubringen. In Jüngers Miszellen-Sammlung lassen sich dreizehn Gedichte Leistikows finden, die zusammen mit einem Ablehnungsschreiben des Merkur an den Autor abgelegt sind. DLA Marbach, Bestand „H:Jünger, Ernst“, Miszellen-Sammlung, Kasten 20, Mappe 35. Später erscheint dann ein kleiner Gedichtzyklus: Klaus Ulrich Leistikow: Martischer Röte Schein, in: Scheidewege. Vierteljahrsschrift für skeptisches Denken, 4/1 (1974), S. 27–33. 287 „Ich bin ihr Leser seit 1943 und seit 1949 ist kaum ein Tag vergangen, an dem ich nicht eine Zeile von Ihrer Hand gelesen oder über eine solche nachgedacht habe.“ Leistikow an Jünger (07./08. 11. 1959), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach.

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naturphilosophischen Autor lesen.288 Entscheidend für die Lesebiographie Leistikows sind sicherlich Jüngers Strahlungen.289 Verbindend zwischen Jünger und Leistikow wirkt nicht nur das literarische, sondern auch das paläontologische Interesse: Während der Paläobotaniker Leistikow den ganzheitlich die Natur betrachtenden Dichter schätzt, setzt dieser sowohl auf die naturwissenschaftliche Sachkenntnis des Wissenschaftlers als auch dessen Bereitschaft, den Fossil-Befund spielerisch-artistisch, d.  h. idealistisch zu transzendieren. So sendet Leistikow Jünger um 1955 eine selbstangefertigte Skizze des versteinerten Urkrebses Eryon (vgl. Abb. 7), dessen Abbildung er einer Dacqué-Publikation der 1930er-Jahre entnimmt (vgl. Abb. 8) und mit einem Dacqué-Zitat garniert.290 Beigefügt ist dem Dacqué- ein Novalis-Zitat291 (vgl. Abb. 9): Der naturphilosophische Deutungsrahmen des fossilen Fundes in der Tradition des magischen Idealismus wird auf diese Weise markiert. Leistikows Umriss-Zeichnung nimmt Dacqués in der „Einführung“ des Buches formulierte Maxime auf, „vom Erblicken des Gegenstandes her in die Urwelt“ einführen und damit „den mit offenem natürlichem Sinn begabten Leser unmittelbar vor die seltsam schönen, oft verzerrten Dinge“292 stellen 288 Leistikow kann damit in einem Atemzug mit Dolf Sternberger (1907–1989), Gerhard Nebel (1903–1974) und Eugen Gottlob Winkler (1912–1936) genannt werden, die ab Mitte der 1930er-Jahre Jüngers naturphilosophische Essayistik für sich entdecken. Ob Leistikow – eine Generation jünger als die Genannten – zu jenen gehört, die sich maßgeblich durch Nebels und anderer Vortragstätigkeit und Parteinahme für Jünger in den Nachkriegsjahren für den Dichter begeisterten, lässt sich nicht sagen. Vgl. Streim, Das Ende des Anthropozentrismus, S.  120 (Anm.  15); vgl. zu den publikations- und kommunikationspolitischen Ritualen der Kreisbildung um Jünger zwischen 1945 und 1960 ausführlich Morat, Von der Tat zur Gelassenheit, S. 314–360. 289 In einem der ersten Briefe von Leistikow an Jünger heißt es: „Meinen Dank für das Vertrauen, zu bekunden, dass Sie unter vielen Unbekannten auch mir Mutmachen [sic!], als Sie die ‚Strahlungen‘ dem Forum auslieferten, Über-Antworteten. Die freudvollsten Fasern dieser Riesentapisserie waren für mich die waidfarbenen, wie sie im Rautenteppich sich finden.“ Leistikow an Jünger (26. 10. 1949), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. 290 Vgl. Leistikow an Jünger (undat., um 1955), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Vgl. ­Edgar Dacqué: Versteinertes Leben. Fossilien in 116 Originalaufnahmen und mit 16 Zeichnungen, Berlin u. Zürich 1936b, Tafel 28 (Abbildung 82). Das Dacqué-Zitat lautet: „… es können Formen ganz andere Lebensräume beziehen, ohne ihre Form wesentlich zu verändern. So lebt der Krebs Eryon heute in der Tiefsee, also im lichtlosen Wasser und unter starkem Druck.“ Leistikow an Jünger (undat., um 1955), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. 291 Klaus Ulrich Leistikow übernimmt hier u.  a. ein Fragment von Novalis: „Ist alles Feste fossil? Oder nur was mit dem Ideal eines Fossils zusammenstimmt? Fossilien, Arten, halbe Fossilien, Fossilien – (sind etwa nur die regelmäßigen Fossilien – Fossilien?) Individuen, ÜbergangsFossilien in das Pflanzen- und in das Luftreich.“ Vgl. Novalis: Das allgemeine Brouillon (Materialien zur Enzyklopädistik 1798/99), in: Ders.: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hrsg. v. Paul Kluckhohn u. Richard Samuels, 2., nach den Handschriften ergänzte, erw. u. verbess. Aufl. in vier Bänden u. einem Begleitband, Bd. 3, Das philosophische Werk II, hrsg. v. Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl u. Gerhard Schulz, Stuttgart 1968, S. 205–478, hier: S. 437. 292 Dacqué, Versteinertes Leben, S. 9.



1.4  Die lebensphilosophische und die morphologische Wende

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Abb. 7: Eryon (Urkrebs), abgemalt von Klaus Ulrich Leistikow

zu wollen. In Leistikows 1962 bei Walter Zimmermann (1892–1980) und Karl Mägdefrau (1907–1999) verteidigter Promotionsarbeit geht es allerdings – trotz Jünger- und Novalis-Zueignung sowie Benn-Anspielung – weitaus nüchterner zu; im Mittelpunkt stehen dort Die Wurzeln der Calamitaceae, der schachtelhalmartigen Flora des Karbons und Unterperms.293 Die hier 293 Leistikow, Die Wurzeln der Calamitaceae (DLA-Signatur: WJB05.01/12). „Herrn Ernst Jünger und Novalis […]“ – diese Widmung findet sich in Jüngers Exemplar von Leistikows Promotionsarbeit. Bereits einen Sonderdruck aus der Fachzeitschrift Taxon hatte Leistikow „für Ernst Jünger mit hardenberg’schem ‚Glück auf‘“ signiert. Vgl. Klaus Ulrich Leistikow: Archaeocalamites und Archaeocalamitaceae, in: Taxon. Journal of the International Association for Plant Taxonomy 8/2 (1959), S.  48–52, beigefügt dem Brief Leistikow an Jünger (01.  04. 1959), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Die Anspielung auf Gottfried Benn lässt sich in einem Brief an Jünger nachweisen; dort bekennt Leistikow, dass er mit den „fossilen Schachtelhalmen […] schon eine Weile zu tun hatte“, als er darauf stieß, „daß der ‚Völkische Beobachter‘ 1934, glaube ich, Benn mit einem Artikel unter dem Titel ‚Flucht zu den Schachtelhalmen‘ angriff. Das verlieh meiner Sympathie mit ihm bleibend einen besonderen Zug.“ Jünger an Leistikow (21. 08. 1961), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Es war allerdings nicht der Völkische Beobachter wie Leistikow meint, sondern Die Weltbühne, in der der Literaturkritiker

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Abb. 8: Eryon (Urkrebs) als Fotografie bei Edgar Dacqué

präsentierten Analysen der verkieselt oder dolomitisiert erhaltenen Urpflanzen-Wurzeln haben mit Goethes morphologischen Bemühungen – für die sich Leistikow später nachweislich, eher distanziert, vom wissenschafts-, d.  h. paläobotanikgeschichtlichen Standpunkt aus interessieren wird –294 nicht das und Psychologe Rudolf Arnheim 1933 deutliche Kritik an den regressiven Tendenzen der Essaybände Benns Fazit der Perspektiven (1931) und Nach dem Nihilismus (1932) übte. Diese Kritik gipfelte in dem Vorwurf, der dichtende „Arzt“ würde seinen Lesern einen „Kuraufenthalt in den Schachtelhalmwäldern der Urzeit“ verordnen. Rudolf Arnheim: Die Flucht zu den Schachtelhalmen, in: Peter Uwe Hohendahl (Hrsg.): Benn – Wirkung wider Willen. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Benns, Frankfurt/M. 1971 [1933], S. 160–163, Zitate: S. 161. 294 Vgl. z.  B. Klaus Ulrich Leistikow: Goethes „Urpflanze“ – ein Ende als Anfang. Vom Gestaltwandel der Pflanzen, in: Forschung Frankfurt. Das Wissenschaftsmagazin 8/3 (1990), S. 54–62. Im Gegensatz zu Hölder, der um 1940 noch die paläontologische Systematik auf Goethes Morphologie gründet, gehört Leistikow bereits einer Forschergeneration an, die naturwissenschaftliches und naturphilosophisches Interesse voneinander trennen. Freilich: Bereits um 1930 gab es paläobotanisch interessierte Stimmen, die Goethe und der idealistischen Morphologie skeptisch gegenüberstanden; so Leistikows Lehrer Walter Zimmermann, der dazu rät, „zwischen Goethes sachlicher und historischer Bedeutung“ zu unterscheiden. Vgl. Walter Zimmermann: Die Phylogenie der Pflanzen. Ein Überblick über Tatsachen und Probleme, Jena 1930, S. 8–10, Zitat: S. 9.



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Abb. 9: Klaus Ulrich Leistikow zitiert Novalis: Idealistische Morphologie trifft magischen Idealismus

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Geringste zu tun. An die Stelle einer ganzheitlich orientierten Gestalt-Schau tritt die Arbeit im Labor, und zwar unter Maßgabe der sog. „Rapid-PeelMethode“295 – ohne ‚Zergliederung‘ geht es nicht. Es ist klar, dass Leistikow dabei auch nicht auf das ‚bewaffnete Auge‘ verzichten kann. Eine an Jünger gesandte Fotografie zeigt einen vergrößerten Querschnitt durch die dolomitisierte Stele eines oberkarbonischen Schachtelhalms: Goethes Urpflanze unter dem Mikroskop! (s. Abb. 10) Die methodisch-experimentelle und sachliche Expertise Leistikows dürfte Jünger beeindruckt haben,296 zumal er über die internationale Rezeption der Wurzeln der Calamitaceae unterrichtet ist.297 Die Diskussion paläontologischer Fragen zwischen beiden nimmt jedenfalls breiten Raum ein, über die Paläobotanik hinaus. So imponieren Jünger die versteinerten Tintenfische, die es im Tübinger paläontologischen Museum zu sehen gibt: „Ob man so einen Tintenfisch erstehen kann, wie er dort auf ei-

295 „Sie [die Rapid-Peel-Methode, N.K.] besteht in kurzem darin, daß eine angeschliffene Oberfläche des dolomitisierten Materials mit verdünnter HCl angeätzt und daß das nach Weglösung der Matrix und Beendigung des Ätzprozesses sich erhebende Relief der Pflanzenstruktur in einen durch Azeton unterseits gelatinös angelösten Zellulose-Azetat-Film eingebettet und nach dessen Erhärten (durch Verdunstung des Lösungsmittels) mit demselben abgehoben wird.“ Leistikow, Die Wurzeln der Calamitaceae, S. 20. 296 Leistikow informiert Jünger bereits während der Studiums- und Promotionszeit über seine wissenschaftlichen Projekte, so in einem Brief, in dem er von einem „einstündigen Vortrag ‚Über die Tracheiden der Lalaeophyten‘“ berichtet, der ihm „Lob und Widerspruch zugleich“ eingebracht habe. Leistikow an Jünger (20. 01. 1956), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Bereits eineinhalb Jahre zuvor wird Jünger über Leistikows Aufrücken in den „CandidatenStand“ informiert: „Ich erhielt eine Arbeit bei Prof. Walter Zimmermann in Tübingen, die über palaeozoische [sic!] Samen und das Indusium der Lepdocarpaceae (Carbonflora) gehen soll.“ Leistikow an Jünger (12. 10. 1954), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Auch nach Promotionsabschluss hält der Paläobiologe Jünger über seine Vortragstätigkeit auf dem Laufenden. Im Wintersemester 1965/66 lädt er ihn etwa im Rahmen des Botanischen Kolloquiums der Universität Tübingen zum Vortrag Beispiele palaeobotanischer Methodik ein. Leistikow wird im Ankündigungstext „zu den wenigen Botanikern“ gezählt, „die sich heute mit dem reizvollen Gebiet der fossilen Pflanzen beschäftigen.“ Besonders hervorgehoben ist, dass Leistikow „mit allen modernen Präparationsmethoden der Palaeobotanik vertraut“ sei. Vgl. Leistikow an Jünger (19. 05. 1965), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Später folgt eine Einladung zum Vortrag Zur Stammesgeschichte der Schachtelhalmartigen (Exuisetales). Vgl. Leistikow an Jünger (06. 02. 1975), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. In Strahlungen III (Siebzig verweht I, 1980) vermerkt Jünger angesichts eines Besuches von Leistikow in Wilflingen in einem Eintrag vom 15. 07. 1968: „Wieder verspürte ich, daß jemand, der viele Pflanzennamen kennt, einen soliden, gefestigten Eindruck erweckt, auch den eines ‚Wissenden‘.“ SW 4, S. 498. 297 Leistikow erwähnt etwa die Aufnahme der Ergebnisse seiner Promotionsarbeit durch den renommierten französischen Paläobotaniker Éduard Boureau (1913–1999). Vgl. Leistikow an Jünger (11. 12. 1964 u. 19. 05. 1965), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Leistikow bezieht sich dabei auf seine namentliche Erwähnung im dritten Band von Boureaus voluminösem, auf neun Bände konzipiertem, letztendlich jedoch unvollendet gebliebenem Handbuch der Paläobotanik. Vgl. Éduard Boureau: Traité de Paléobotanique, 3. Bd., Sphenophyta – Noeggerathiophyta, Paris 1964, S. 196–198, S. 200–204.



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Abb. 10: Die Urpflanze unter dem Mikroskop

ner weißen Kalkplatte abkonterfeit ist?“298, will er von Leistikow wissen und schwärmt Otto Klages vom Erhaltungszustand des Tübinger Kalmar-Exponates vor.299 Zwar hätte Jünger gern den Abguss eines derart gut erhaltenen Fossils, allein „[i]ch zweifle indessen, ob ein Stück, bei dem sich die Umrisse der Weichteile so prächtig erhalten haben, zum zweiten Mal aufzutreiben sein wird.“300 Doch nicht nur um sammlungspraktische Fragen geht es; auch taxonomische Probleme spielen eine Rolle. So schenkt Leistikow Jünger zum 71. Geburtstag Adolf Naefs Standardwerk über fossile Tintenfische, in dem den „Teuthoidea oder Kalmar-artigen Tintenfische[n]“ ein umfangreiches Kapitel gewidmet ist.301 Thematisch dürfte Leistikow mit dem Buch den Nerv 298 Jünger an Leistikow (25. 02. 1961), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. 299 „Dort (im Tübinger paläontologischen Museum, N.K.) sah ich den Abdruck eines Kalmaren auf einer Kalkplatte, auf der sich noch alle Weichteile abzeichneten. Die Bildung war zart, immateriell, eine durch X-Strahlen gefilterte Projektion der Realität.“ Jünger an Klages (19. 04. 1962), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. 300 Jünger an Leistikow (02. 03. 1962), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. 301 Vgl. Adolf Naef: Die fossilen Tintenfische. Eine paläozoologische Monographie, Jena 1922, S. 101–163 (DLA-Signatur: WJB05.01/12).

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Jüngers getroffen haben; doch auch in methodischer Hinsicht liegt er richtig, denn Naef argumentiert auf der Basis der „klassischen (idealistischen) Morphologie“. Im Mittelpunkt steht bei ihm der Versuch, „zunächst immer die ‚typischen Ähnlichkeiten‘ der Lebewesen (Formverwandtschaften) zu ermitteln“302 Jünger hebt genau auf diesen Theorie-Baustein ab, wenn er das Buch gegenüber Otto Klages dafür lobt, „nicht nur einen Rundblick auf die rezenten Arten und ihre ausgestorbene Verwandtschaft“ zu werfen. Wichtiger sei vielmehr, dass es „auch gute Bemerkungen zur systematischen Morphologie mit einem besonderen Typusbegriff“303 enthalte. Bei Naef heißt es: Es ist unabweislich, den Vergleich der mannigfaltigen Formen jeder Gruppe zu zentrieren auf Normen oder „Typen“, d.  h. vorgestellte Ganzheiten, Idealformen, die sich im höchsten Grade geeignet erwiesen haben, die praktischen und theoretischen Aufgaben der natürlichen Systematik zu lösen.304

Über den paläozoologischen Einzelfall hinaus rücken im Gespräch mit Leistikow also die Eigenarten biologischer Klassifizierungsmuster an sich in den Fokus der Aufmerksamkeit, etwa „die Unterschiede zwischen botanischer und palaeontologischer Systematik“ oder die „Krise der Nomenklatur überhaupt. Linnés beste Zeiten sind vorüber, wahrscheinlich wird der Automatismus auch hier eingreifen.“305 Besonders letztes Problem ist es, dessen Tragweite kaum überschätzt werden kann. Hinter der von Jünger ausgemachten „Krise der Nomenklatur“, die sich besonders im Geltungsverlust Linnés abzeichne, steckt nämlich nichts Geringeres als die Krise der idealistischen Morphologie, ihrer typensetzenden Kraft, überhaupt eines sich auf Goethes ‚Urpflanze‘ berufenden Neuplatonismus. „Linnés System der Benennung von Pflanzen und Tieren, die ‚binäre Nomenklatur‘“, gilt Jünger als Garant einer Typenkonstanz im naturgeschichtlich nachweisbaren Erscheinungswandel: „Hier“  – bei Linné  –, schreibt er in Typus, Name, Gestalt (1963), „wird nicht nur dem zu Benennenden eine absolute Konstanz zugeschrieben durch die Annahme, daß jede Art einem besonderen Schöpfungsakt entstamme, sondern auch dem 302 Ebd., S. 4. 303 Jünger an Klages (14. 04. 1966), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. 304 Naef, Die fossilen Tintenfische, S. 5. Vgl. auch Adolf Naef: Idealistische Morphologie und Phylogenetik, Jena 1919. Naef ist im Gegensatz zu Dacqué weniger idealistisch orientiert; d.  h. er verzichtet auf eine neuplatonische Konkretisierung seiner Gestalt-Konzeption. Damit einher geht auch eine prinzipielle Anerkenntnis der Abstammungslehre Darwins. Vgl. zu Naef Rieppel, Phylogenetic Systematics, S. 81–97. 305 So Jüngers zusammenfassende Wiedergabe einer Unterredung mit Leistikow gegenüber Otto Klages. Jünger an Klages (07. 05. 1961), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Die Unterschiede in der Systematik von Paläo- und Rezentbotanik thematisiert Leistikow bereits in seiner Promotionsarbeit. Vgl. Leistikow, Die Wurzeln der Calamitaceae, S. 11  f.



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Namen wird Unangreifbarkeit verliehen und mit ihm dem Autor als dem Benennenden.“306 Doch jene „Beziehung zwischen der typenbildenden Macht im Ungesonderten und der typensetzenden Fähigkeit des Menschen, also zwischen Ding und Namen,“307 ist im Grunde prekär. Jünger freilich wendet sich nicht von Linné ab. Ihm kommt in Typus, Name, Gestalt vielmehr die Rolle des Vermittlers zu, und das in zweierlei Hinsicht. Er ist bei Jünger zum einen nicht der Denker vor Darwin, der noch nicht zur Einsicht in die entwicklungsgeschichtlichen Prinzipien der Natur durchgedrungen ist, sondern derjenige, der auch innerhalb des empirisch nachweisbaren Artenwandels für die schöpfungsbiologisch nachweisbare Konstanz einer überschaubaren Menge an Typen eintritt. In dieser Eigenschaft erscheint Linné zwar als Vertreter der älteren, beschreibende Naturgeschichte (historia naturalis), die noch keine sich entwickelnde und verändernde Natur kannte. Allerdings haftet Linné in dieser Rolle nichts Unzeitgemäßes an; im Gegenteil, sein Ordnungsmodell ist dem Darwins überlegen: Was oberflächlich betrachtet als permanente Entwicklung einer kaum fixierbaren Formenvielfalt erscheint, lässt sich in der Tiefe von Linnés Zugriff auf einige Grundtypen reduzieren.308 Zum anderen ist Linné der Namensgeber, der durch die Bezeichnung – autoritativ – Ordnung schafft, gleichsam in der Benennung des Schöpfungsaktes – gut performativ – dessen Anerkennung bewirkt. In diesem Sinne ist Linné bei Jünger immer schon durch die Schule von Goethes Morphologie 306 SW 13, S. 110. Leistikow stimmt in diesem Punkt ganz mit Jünger überein, wenn er Linnés binäre Nomenklatur einerseits philosophiegeschichtlich an Aristoteles rückbindet, andererseits als Vorform der typensetzenden phänomenologischen Schau deutet: „Unübertroffen“, so Leistikow, sei Linnés „Experiment, die aus der aristotelischen, später scholastischen Logik überkommenen Begriffe der Gattung und der Art (genus proximum und differentia specifica) auf Kategorien unmittelbarer Anschauung der Naturobjekte anzuwenden und diese Anwendung mit der binären Nomenklatur, sozusagen einem Vaters- und einem Vornamen im Prinzip unverwechselbar und stets wiederholbar zu manifestieren. Dabei versuchte er gemäß dem logischen Ansatz die Namen nicht zu bloßen Etiketten (Auffindungshinweisen) von Definitionen zu degradieren, hinter denen sich etwas verbirgt, sondern Ihnen jeweils die Qualität einer Quintessenz der Definition zu verleihen, in äußerster poetischer Verdichtung, also eines Kurzgedichts, eines ein für allemal bezeichnenden Lakonismus von höchster Prägnanz als wissenschaftlicher Mitgift, durch die das Ding selbst gleichsam mit aufscheint.“ Klaus Ulrich Leistikow: Linnaeisches Zählen (Typoskript), S. 1  f., 1975, DLA Marbach, Bestand „H:Jünger, Ernst“, Miszellen-Sammlung, Kasten 20, Mappe 35. 307 SW 13, S. 110. 308 Friedrich Georg Jünger vertritt gleichfalls die Meinung, Linné sei Darwin überlegen: „Daß Linné sich mit der Abstammung der Arten und ihres Entstehens durch Evolution nicht beschäftigte, als er an die Arbeit ging, war und ist für alle Systematik von unschätzbarem Wert. […] Nur ein Kopf, der von der Konstanz der Arten überzeugt war, konnte ein System der Natur entwerfen, nicht aber jemand, der in der Artbildung einen Fluß sah und den Artbegriff verflüssigte. Wozu dient ein System, dessen Begriffe fortschwimmen?“ Friedrich Georg Jünger: Die vollkommene Schöpfung. Natur oder Naturwissenschaft?, Frankfurt/M. 1969, S. 13.

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gegangen, er ist sozusagen idealmorphologisch imprägniert. In der Vielfalt der Formen macht er jene ‚Gestalten‘ aus, die in veränderter Form immer wiederkehren  – umgestaltet, andersgestaltet, verändert  –, von ihrem neuplatonisch bestimmten Schöpfungsort aus betrachtet jedoch unveränderlich sind. Eine solche Schau gelingt nur dem, der intuitiv sieht und benennt  – darin gleicht Linné zweifelsohne Goethe, über den es in Typus, Name, Gestalt heißt: „Wenn Goethe sich darauf beruft, daß er die Urpflanze nicht durch Denken, sondern durch ‚Sehen‘ erfaßt habe, so kann das nur heißen: durch Intuition […]. Goethe sieht die gestaltende Macht im Ungesonderten und seiner Fülle, oder, wie es bei ihm heißt, in der ‚Natur‘.“309 Als Jünger und Hölder sich 1962 persönlich kennenlernen, ist letzterer noch Konservator sowohl am Institut als auch am Museum für Geologie und Paläontologie der Universität Tübingen, ab 1963 dann Professor in Münster. Worum es in den Gesprächen mit Hölder geht, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Dass Jünger mehr über Ammoniten wissen will, die er auch sammelt, kann gleichwohl festgehalten werden.310 Der wechselseitige Austausch eigener Schriften gehört zudem zum intellektuellen Profil der Beziehung.311 Interessant ist, dass Hölder die unterschiedlichen Charaktereigenschaften, die beide kennzeichnen, sowie eigene biographische Stationen im Spiegel von Jüngers Arbeiten diskutiert: Ich bin von Natur aus anders als Sie: kein „Krieger“ […]. Ihre Bücher, In Stahl­ gewittern zuerst, wiesen mich auf Lücken meiner Natur, die ich empfand. 1934 ging ich […], noch freiwillig, für ein Jahr zur Infanterie, ohne zu ahnen, daß Termini wie Schützenkette usw. von Ihnen stammten. Ihre Gärten und Straßen, die ich 1940 in Lothringen selbst ein Stück weit gegangen bin, haben mich mit dem soldatischkriegerischen Auftrag versöhnt.312 309 SW 13, S. 135. 310 Bereits in einem Brief aus den frühen 1960er-Jahren weist Hölder Jünger auf eine „Ammonitenmonographie“ hin, und zwar auf jenen u.  a. den „Ammonoidea“ gewidmeten „Part L“ der von R.C. Moore herausgegebenen Treatise on Invertebrate Palaeontology von 1957. Hölder an Jünger (06. 03. 1962), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Noch kurz vor Jüngers Tod, im Januar 1998, sendet Hölder ihm dann einen eigenen, im Coral Research Bulletin (1997) veröffentlichten Aufsatz Goethe und die Ammoniten. Hölder stellt diesem Aufsatz handschriftlich eine Widmung voran, die er Jüngers Strahlungen IV (Siebzig verweht II, 1981) entnimmt: „… von Kind an hat mich der Zauber eines Ammoniten stärker als jener der schönsten Kristalle erregt […]. “ Hölder an Jünger (16. 01. 1998), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach; vgl. auch SW 5, S. 336. 311 Während etwa Hölder Jünger 1962 „ältere Seperata“ sendet, ist es der Dichter, der dem Geologen 1966 eine Ausgabe des gemeinsam mit dem Fotografen Albert-Renger Patzsch realisierten Gestein-Buches zukommen lässt. Vgl. Hölder an Jünger (18. 04. 1962) sowie Hölder an Jünger (02. 09. 1966), jeweils Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. 312 Hölder an Jünger (25. 05. 1979), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Diese lesebiographischen Angaben Hölders stimmen mit Leistikows Ausführungen überein. „Wir hatten“, schreibt Leistikow angesichts der Übergabe von Jüngers Bäume-Buches an Hölder, „ein Ge-



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Jünger war für Hölder jedoch mehr als ein Erbauungsschriftsteller in schweren Zeiten, nämlich ein Denker, der  – in Frontstellung zum naturwissenschaftlichen Positivismus des 19. Jahrhunderts – mit der Rückeroberung des metaphysischen Impetus der Paläontologie nach 1800 durch das frühe und mittlere 20. Jahrhundert sympathisiert. Der Schweizer Paläontologe Louis Agassiz (1807–1873) ist bei Hölder einer der letzten Vertreter jener naturphilosophischen Ausrichtung, an deren Restitution Hölder dann in den 1940erJahren arbeitet. Hier [bei Agassiz, N.K.] sehen wir in der Paläontologie zum letzten Mal das Rechnen mit einer massiven metaphysischen Kausalität. Indem man nun von ihr absah, errang die Forschung die vorher fehlende oder eingeschränkte Autonomie in methodischer Hinsicht und erfuhr dadurch verstärkte Impulse. Die zweite Hälfte des 19.Jahrhunderts neigte dann freilich unter dem Eindruck dieser geistesgeschichtlich einschneidenden Emanzipation dazu, die naturwissenschaftliche Erkenntnis zu verabsolutieren; erst im 20. Jahrhundert bahnte sich erneut die Einsicht in die – nun freilich anders verstandenen – Grenzen der wissenschaftlichen Methodik an.313

Es ist sicherlich kein Zufall, dass Hölders hier diagnostizierte „Einsicht in die […] Grenzen der wissenschaftlichen Methodik“ bereits dem Wortlaut nach seinen eigenen Beitrag zur naturphilosophisch inspirierten Überschreitung dieser Grenzen hin zu einer Fundierung der Paläontologie im Rückgriff auf Goethes Morphologie aufruft: die bereits diskutierten Grenzfragen naturwissenschaftlicher Forschung aus den 1940er-Jahren. Darüber, inwiefern Hölder Jünger über seine Haltung zur idealistischen Morphologie en détail unterrichtet hat, kann nur spekuliert werden. Dacqués Schriften lassen sich in Jüngers Wilflinger Bibliothek jedenfalls nicht finden. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass er ihn nicht zur Kenntnis genommen hat. Hält man sich vor Augen, dass Dacqué der bekannteste und konsequenteste Vertreter der ideal-morphologischen Paläontologie war, so ist eine Vertrautheit mit zentralen Annahmen seines Denkens mehr als wahrscheinlich. Wir werden in Kap. 3.2.1 Dacqués Gestalt-Konzept mit dem von Jüngers Arbeiter ins Gespräch auch über ‚Gärten und Straßen‘, seit welchem Buch er ihr Leser ist. Er war damals Offizier auf dem Vormarsch nach Frankreich.“ Leistikow an Jünger (22. 10. 1962), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Die Information, dass Begriffe wie ‚Schützenkette‘ von Jünger stammen, dürfte Hölder direkt vom Autor bekommen haben. Erst in einem auf den 09. 12. 1982 datierten Eintrag in Strahlungen V (Siebzig verweht III, 1993) gibt Jünger öffentlich darüber Auskunft, und zwar indem er im Rahmen eines dort wiedergegebenen Briefs an Klaus Gottwald an seine Mitarbeit an dem Abschnitt „Zug und Gruppe“ der Gefechtsvorschrift für die Infanterie aus den frühen 1920er-Jahren erinnert. Zwar seien Jünger „Einzelheiten […] entfallen“; allerdings: „Namen wie ‚Schützenreihe‘, ‚Schützenkette‘ und ‚Schützenrudel‘ gehen auf mich zurück“, ist er sich sicher. SW 20, S. 214. 313 Hölder, Kurze Geschichte der Geologie und Paläontologie, S. 172.

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spräch bringen und in Kap. 4.3 einigen begründeten Mutmaßungen hinsichtlich der Marmorklippen nachgehen. Mit Blick auf die Geschichte paläontologischen Denkens ist es zunächst wichtig, sich klar zu machen, dass Jünger noch in den 1960er-Jahren ganz auf der Hölder-Dacqué’schen-Achse der 1930er- und 1940er-Jahre argumentiert, wenn er Archaeopteryx als konkrete Realisierung einer an sich zeitlosen, urtypischen und im Mythos verbürgten Form-Idee präsentiert.314 Daß Mythos und Echse verwandt sind, erfaßt der Mexikaner in der gefiederten Schlange, der Zoologe des 19. Jahrhunderts im Archäopterix [sic!]. Was der eine im Mit- und Nebeneinander, begreift der andere im Neben- und Nacheinander: im unfaßbaren Augenblick der Offenbarung der eine, im mühsamen Arbeitsgang von großer Dauer der andere. Dennoch ist die gefiederte Schlange stabiler, im Wechsel beständiger als der Archäopterix. Dieser bezeichnet eine zeitliche Passage, die gefiederte Schlange zeitloses Ineinandersein. Der ein war vor Millionen Jahren; die andere war damals und ist heute wie zu jeder Zeit.315

Der Beitrag, dem diese Zeilen entstammen, ist Mythos und Wissenschaft (1965) überschrieben, könnte aber auch – konsequent im problemgeschichtlichen Horizont um 1940 angesiedelt – den Titel Naturphilosophie und Naturwissenschaft tragen. Denn was Dacqué – naturphilosophisch – als „Urform“ konzipiert, ist hier dem Mythos zugeschlagen; die konkrete, naturgeschichtlich nachweisbare Realisierung der Form hingegen bekommt im Licht der (positivistischen) Paläontologie des 19. Jahrhunderts lediglich den Status einer „zeitliche[n] Passage“ zugesprochen. Was Dacqué und Jünger grundsätzlich eint, ist zum einen die Weigerung, im Urvogel – der gefiederten Schlange – eine Übergangsform, ein entwicklungsgeschichtliches Stadium zwischen Reptil und Vogel auszumachen. Zum anderen kommen beide in der Vermittlung von Idee und Anschauung überein, was im Ergebnis zur neuplatonischen Transzendierung des konkreten paläontologischen Objektes führt. Jüngers Mythos und Wissenschaft ist als Teil der Grenzgänge ausgewiesen, so der 314 Jünger hat sich wahrscheinlich mit der Geschichte der Erforschung des Archaeopteryx etwas genauer befasst. In einem in seiner Miszellen-Sammlung nachweisbaren fotokopierten Aufsatz geht es jedenfalls um Carl Häberlein – ein Name, der mit der Erforschung des Urvogels im 19. Jahrhundert verbunden ist. Der Autor des Aufsatzes zeichnet die durch Häberlein maßgeblich mitgeprägte Verbreitungsgeschichte von Urvogel-Zeugnissen nach. Auf dem Titelblatt findet sich der Hinweis von Leistikow „Archaeopteryx, S. 41“, die betreffende Textstelle ist zudem angestrichen. Beide Markierungen sollen Jünger augenscheinlich das Auffinden der von ihm gewünschten Informationen erleichtern. Vgl. Wilhelm Kraft: Pappenheim als Mittelpunkt von Versteinerungssammlungen im 18. und 19. Jahrhundert, in: Geologische Blätter für Nordost-Bayern und angrenzende Gebiete 17/1 (1967), S. 38–44 (Fotokopie), DLA Marbach, Bestand „H:Jünger, Ernst“, Miszellen-Sammlung, Kasten 17, Mappe 26. 315 SW 13, S. 177.



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Abb. 11: Archaeopteryx lithographyca

Gesamttitel einer kleinen Reihe von Betrachtungen Jüngers im Schnittpunkt von Weltanschauungsessayistik und der Reflexion phylogenetischer sowie evolutionsgeschichtlich nachweisbarer Positionen.316 In dem Versuch, zwischen paläontologischer Systematik und urbildlicher Idee zu vermitteln, lässt sich durchaus eine Fortsetzung von Hölders Grenzfragen im Einflussgebiet Dacqués ausmachen. Empirisch-idealistische Grenzfragen machen demnach einen Grenzgang zwischen Mythos und Wissenschaft notwendig. Vor diesem Hintergrund ist es sicher nicht ohne Ironie, wenn Gerhard Heberer (1901–1973) Jünger zu dessen 65. Geburtstag ausgerechnet einen solchen Urvogel schenkt; kein Original-Fossil zwar, sondern den Abguss eines besonders gut erhaltenen Exemplars (s. Abb.  11)  – doch der hat es in sich. „Durch die bedeutende Monographie von de Beer (London) und durch die Auffindung eines dritten Skelettes [des Urvogels, N.K.] ist ja dieses erste gefundene ‚missing link‘“ zwischen Reptil und Vogel, kommentiert Heberer sein Geschenk, „wieder zu einem Paradestück der paläontologischen Beurkundung der Evolution geworden.“317 Der Archaeopteryx als Urkunde 316 Vgl. SW 13, S. 174–192. 317 Heberer an Jünger (25. 08. 1960), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Heberer bezieht sich hier auf Gavin de Beer: Archaeopteryx lithographica. A Study based upon the British Museum Specimen, London 1954.

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der Evolution? – ein Schlag ins Gesicht der idealistischen Morphologie! Das war kein Zufallstreffer. Heberer wusste, dass Jünger mit Darwin und dem ‚Darwinismus‘ nicht viel anfangen konnte.318 Dies wäre sicherlich nur eine Randnotiz wert – wenn Heberer nicht durch seine eigenen Arbeiten ganz maßgeblich an der Beerdigung des älteren morphologischen Denkens mitgearbeitet hätte, und zwar in Form seiner Theorie der additiven Typogenese.

1.4.3  Verwehrte Natursprünge, die ungesonderte „Eins“ und Explosives. Jüngers Rezeption der additiven Typogenese Gerhard Heberers Heberer studierte in seiner Geburtsstadt Halle an der Saale von 1920 bis 1924 Naturwissenschaften (Zoologie, Botanik, Geologie), zudem Philosophie und Anthropologie (Rassenkunde/Deutsche Vorgeschichte). Für eine breitere Öffentlichkeit waren es vor allem zwei Bereiche, in denen er ab den 1940erJahren Bekanntschaft erlangte: Seine Konzeption der Deszendenztheorie und – damit zusammenhängend – die eigenständige Strukturierung des von ihm sogenannten ‚Tier-Mensch-Übergangsfeldes‘; im Mittelpunkt letzteren Interesses stand die Anthropogenese.319 Dass Heberer sich in seiner Eigenschaft als Professor für Allgemeine Biologie und Anthropometrie an der FriedrichSchiller-Universität Jena (1938–1945) und Mitglied des SS-Forschungsverbundes Deutsches Ahnenerbe auch in der NS-Rassenkunde profilierte, sollte keineswegs unerwähnt bleiben, weist es ihn doch als einen jener geistigen Brandstifter des Holocaust aus, von denen in den Nachkriegsjahrzehnten nur allzu gern geschwiegen wurde. In Würdigungen des intellektuellen Profils Heberers angesichts seines Todes 1973 sucht man nach Auskünften über seine SS-Vergangenheit jedenfalls vergebens. Mit Jünger korrespondierte 318 Heberer ist sich bereits fünf Jahre zuvor sicher, dass seine gegenüber Jünger angekündigte Publikation „Was ist Darwinismus?  […] nicht ihren ungeteilten Beifall findet.“ Heberer an Jünger (20. 01. 1960), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Das Buch erscheint dann noch in demselben Jahr: Gerhard Heberer: Was heißt heute Darwinismus? 2., neubearbeite Auflage aus Anlaß der 100. Wiederkehr der Begründung der Abstammungslehre durch Charles Darwin, Göttingen, Berlin u. Frankfurt/M. 1960. Auch in seinem Engagement für den DarwinPopularisierer Ernst Haeckel, das unter dem Titel Der gerechtfertigte Haeckel (1968) den Fokus auf dessen Generelle Morphologie der Organismen (1866) lenkt, sieht Heberer Dissens-Potenzial. „Über Haeckel“, lässt er Jünger wissen, „hätte ich mich mit Ihnen gern einmal gründlich ‚gezankt‘“. Heberer an Jünger (15. 08. 1966), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. 319 Ein umfassendes Forschungsporträt liefert: Uwe Hoßfeld: Gerhard Heberer (1901–1973). Sein Beitrag zur Biologie im 20. Jahrhundert, Berlin 1997. Im Jünger-Nachlass finden sich zwei von Jünger oder Mitarbeitern aus der FAZ ausgeschnittene Würdigungen Heberers – zu dessen 70. Geburtstag vom 20. 03. 1971 und anlässlich des Todes vom 16. 05. 1973 –, die sein Wirken in diesen beiden Bereichen betonen.



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er seit Mitte der 1950er-Jahre sowohl über Fragen der Evolution und Abstammungslehre als auch der Anthropogenese. Von 1949 bis 1970 bekleidete Heberer den Posten des Direktors der Anthropologischen Forschungsstelle der Georg-August-Universität Göttingen. Ein von Jüngers Sekretär Heinz Ludwig Arnold arrangiertes Treffen zwischen beiden fand 1967 in Göttingen statt.320 An dieser Stelle soll es zunächst um Heberers deszendenztheoretischen Entwurf gehen – der unter der Bezeichnung „additive Typogenese“ eine eigenständige, vielbeachtete Erklärung phylogenetischer Prozesse liefert – und dessen Aufnahme durch Jünger. Heberer gilt als Mitbegründer der ‚synthetischen Theorie‘ der Evolution, die, unter Einbeziehung der noch jungen Vererbungslehre (Genetik), an einer Bestätigung der Evolutionstheorie Darwins arbeitet. Für Fragen der stammesgeschichtlichen Entwicklung interessierte sich Heberer vermehrt seit den frühen 1940er-Jahren.321 Herzstück der erstmals 1943 erschienenen und dann mehrfach überarbeiteten Evolution der Organismen war seine Theorie der additiven Typogenese, die Jünger in einer Fassung von 1957 vorlag.322 Im Kern ging es Heberer um den auf die moderne Genetik gestützten Nachweis, dass der nicht beobachtbare, da über Millionen Jahre wirksame Prozess der Artenentwicklung (‚Makrophylogenie‘) in Analogie zum kleinraumperiodisch beobachtbaren Ablauf der Artentwicklung (‚Mikrophylogenie‘) zu verstehen sei. Besonders die Populationsgenetik habe gezeigt, dass sich Wandlungen innerhalb des Artenspektrums additiv erklären ließen. Die hier gemachten Ergebnisse müssten nun konsequent auf die Auslegung des paläontologischen Materials übertragen werden. Gegenüber Deutungsmustern, die – wie die idealistische Morphologie – „Typensprünge (Saltationen)“ annimmt und die Entstehung neuer Typen von einer (paläo-)biologisch begründeten Verwandtschaft mit nachbarschaftlich existenten Typen abkoppelt, entwickelt Heberer das Prinzip der Addition. Dieses sieht er unter Rechtfertigungsdruck gegenüber einer „Ganzheitsbiologie“, die im additiven Prinzip den Grundsatz verletzt sieht, das Ganze sei mehr als die Summe der einzelnen Teile. Doch eine Summe entsteht bei Heberer nicht durch das bloße Aneinanderreihen der Elemente, wie Vertreter des Ganzheitsparadigmas einwenden könnten: „Jeder phyletische Baustein steht – ab initio – in einem System mit zahlreichen engeren und weiteren korrelativen Bindungen. Er 320 Vgl. Arnold, Wilflinger Erinnerungen, S. 70  f. 321 Vgl. Hoßfeld, Gerhard Heberer, S. 140. 322 Gerhard Heberer: Theorie der additiven Typogenese, Sonderdruck aus ‚Die Evolution der Organismen‘, 2.  Auflage, Stuttgart 1957 (DLA-Signatur: WJB04.03/42), S.  857–914. Das vom DLA Marbach angenommene Veröffentlichungsjahr des Sonderdruckes – 1959 – ist zu korrigieren. Zwar erschien die 2. Auflage der Evolution der Organismen, die die Theorie der additiven Typogenese beinhaltet, erst 1959, gleichwohl lag der Sonderdruck Jünger nachweislich bereits zwei Jahre vorher vor.

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kann im Rahmen dieser Bindungen mit dem schon vorhandenen konstitutiv Neues ergeben.“323 Die Sprengkraft der additiven Erklärung Heberers besteht darin, dass die Annahme von Typen im ontologischen und metaphysischen Sinne hinfällig wird, lediglich als heuristische Kategorie kommt sie noch infrage. Seine raumgreifende Diskussion richtiger und falscher Verwendungen des Typus-Begriffes im entwicklungsbiologischen Kontext macht dies deutlich. Autoren, die mit „Ganzheitsfaktoren, ‚Gestalten‘“324, argumentieren und unter Typus „Urbild“ verstehen – das „Gedankenschema der Idealistischen Morphologie“325 –, zudem noch, wie Dacqué, die Annahme von entwicklungsbiologischen „Zwischenformen“ durch die „Hypothese der ‚Zeit­ signaturen‘“ „hinwegdiskutieren wollen“326, werden von Heberer eines Besseren belehrt. Im Mittelpunkt der Kritik Heberers steht jedoch nicht Dacqué, sondern der Paläontologe Otto Heinrich Schindewolf (1896–1971), seines Zeichens von 1948 bis 1964 Nachfolger des Hölder-Lehrers Edwin Hennig auf dem renommierten Tübinger Paläontologie-Lehrstuhl.327 Schindewolfs Typus-Verständnis nimmt zwar bei Dacqué seinen Ausgang – er spricht von den „Formideen und Organisationspotenzen im Sinne Dacqués“ –, jedoch, wendet er ein, dürfen diese nicht als „reine Symbolik“ gedeutet werden; vielmehr seien sie durchaus „körperlich vorhanden“.328 Es ist hier nicht der Ort, Heberers Kritik an Schindewolfs „Typostrophismus“ – wie er sie bereits in den 1940er-Jahren formuliert329 – ausführ323 Heberer, Theorie der additiven Typogenese, S. 865. Vorhergehende Zitate gleichfalls. 324 Ebd., S. 866. 325 Ebd., S. 861. 326 Ebd., S. 873. 327 Vgl. Hölder/v. Engelhardt, Mineralogie, Geologie und Paläontologie, S. 155. Der Jünger-Vertraute Leistikow studierte bei Schindewolf. Jünger teilt er brieflich mit: „Ich beende gegenwärtig die Palaeontologie der Chordaten bei Schindewolf, die ich mit viel Gewinst hörte.“ Leistikow an Jünger (16. 07. 1954), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Jünger lernt zwar Schindewolf nicht kennen, jedoch dessen Nachfolger Adolf Seilacher (1925–2014). Das Treffen ergibt sich während eines Aufenthaltes Jüngers in Oslo im Rahmen der SpitzbergenExkursion von 1964: „Am Abend kam Dr. Seilacher, der neue Tübinger Ordinarius für Paläontologie, an den Tisch. Er hatte in Oslo eine mächtige Graptolithenplatte gesichert […].“ SW 6, S. 501. Seilacher bekleidet den Lehrstuhl von 1964 bis 1990. 328 Otto Heinrich Schindewolf: Paläontologie, Entwicklungslehre und Genetik. Kritik und Synthese, Berlin 1936, S. 16. Vgl. zur Bedeutung von Schindewolfs Buch für die Auseinandersetzung zwischen idealistischer Morphologie und synthetischer Theorie Wolf-Ernst Reif: Deutschsprachige Paläontologie im Spannungsfeld zwischen Makroevolutionstheorie und Neo-Darwinismus (1920–1950), in: Thomas Junker/Eve-Marie Engels (Hrsg.): Die Entstehung der Synthetischen Theorie. Beiträge zur Geschichte der Evolutionsbiologie in Deutschland 1930–1950, Berlin 1999, S. 151–188, hier: S. 159–167. 329 Vgl. neben der epochemachenden Evolution der Organismen auch Gerhard Heberer: Über additive Typogenese, Sonderdruck aus: Verhandlungen der Deutschen Zoologen in Kiel, 1948, Leipzig 1948, S. 25–31, hier: S. 27–30.



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lich zu diskutieren. Die Typostrophenlehre ist, kurz gesagt, eine Spielart der Typensprunglehre, bei der plötzlich neue Typen im Rahmen einer „Typogenese“ entstehen, einen organischen Zyklus – die Typostrophe – durchlaufen, in dem sie sich entfalten, ‚aufblühen‘ (Typostase), welken, absterben (Typolyse) und alsbald neuen Typen Platz machen.330 Für Heberer ist das eine unhaltbare Theorie: „Der Typostrophismus kann […] weder von der paläontologischen Überlieferung her gestützt werden, noch bietet ihm die Genetik irgendwelche Hilfen.“331 Die Fronten könnten kaum verhärteter sein: Auf der einen Seite der Paläontologe Schindewolf, „Anhänger und Verfechter nichtdarwinistischer Evolutionstheorien (Saltationismus, Orthogenese)“; auf der anderen Seite Heberer, „experimenteller Zytogenetiker [aus] dem Lager der Selektionisten, Antilamarckisten und Darwinisten“332. Was den Hauptvertreter ganzheitsbiologischen Typus- und Gestaltdenkens, Dacqué, anbelangt, steht fest: Dieser ist für Heberer in epistemologischer Hinsicht schlicht nicht (mehr) satisfaktionsfähig. In seiner Theorie der additiven Typogenese kritisiert er ihn scharf: „Typenisolationisten“ wie Dacqué neigten dazu, „Hypothesen aufzustellen, die meist in die Metaphysik abgleiten“, etwa den „Typenzusammenhang in die Transzendenz“ zu verlegen – „obwohl er in persönlicher Diskussion sich nicht klar entschied!“333 Wie dem auch sei (und wie immer sich Dacqué in besagter Diskussion positionierte), Heberer versetzt jedenfalls einer paläontologischen Adaption der idealistischen Morphologie in der Nachfolge Goethes den Todesstoß.334 Seine Theorie der additiven Typogenese macht im Ergebnis die Annahme einer – organisch-zyklisch verstandenen – Typogenese und damit natürlich auch Schindewolfs „Typostrophismus“ wie auch Dacqués Zeitsignaturenlehre überflüssig335: Nicht einzelne, plötzlich aus dem neuplatonischen Off geworfene Typen bereichern die Erscheinungswelt, blühen auf, degenerieren und verenden; im Mittelpunkt des entwicklungsgeschichtlichen Interesses steht demgegenüber 330 Vgl. zu Schindewolfs „Typostrophismus“ Reif, The Search for a Macroevolutionary Theory, S. 118  f. 331 Heberer, Über additive Typogenese, S. 30. Vgl. zu Heberers Kritik an Schindewolf Hoßfeld, Gerhard Heberer, S. 141–143; vgl. auch Hoßfeld: Die moderne Synthese und Die Evolution der Organismen, in: Junker/Engels (Hrsg.), Die Entstehung der Synthetischen Theorie, S. 189–225, hier: S. 206–211. Es sei an dieser Stelle nur am Rande bemerkt, dass Ernst Jüngers Bruder, Friedrich Georg, noch Ende der 1960er-Jahre auf der Grundlage von Schindewolfs Typostrophismus – wie er ihn über die Grundfragen der Paläontologie (1950) rezipiert – argumentiert. Vgl. Friedrich Georg Jünger, Die vollkommene Schöpfung, S. 74  f. 332 Hoßfeld, Die moderne Synthese, S. 206. 333 Heberer, Theorie der additiven Typogenese, S. 864. 334 Olivier Rieppel reiht Heberer folgerichtig unter die Kämpfer gegen die idealistische Morphologie ein. Vgl. Rieppel, Phylogenetic Systematics, S. 265–280, bes. S. 265–267. 335 Heberer spricht denn auch davon, dass seine Theorie „strenggenommen den Begriff der Typogenese selbst auflöst“. Heberer, Theorie der additiven Typogenese, S. 910.

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ein weitverzweigter, komplexer Beeinflussungszusammenhang, der auf klare Typen-Kontur verzichten muss. Wie reagiert Jünger nun auf Heberers Beitrag? Um es vorwegzunehmen: Das seit dem Arbeiter etablierte Typus- und Gestaltdenken wird in den Folgejahren keineswegs obsolet.336 Die bereits diskutierte idealmorphologische Rehabilitation des Archaeopteryx im überzeitlichen Typus-Gewand der gefiederten Schlange ist dafür wohl das beste Beispiel.337 Dass Jünger gleichwohl den ontologischen Typus-Begriff verabschiedet, überrascht zunächst: Dass Typen in der Natur nicht vorkommen, wird mir immer deutlicher. Dazu ist sowohl die Einheit wie auch die Mannigfaltigkeit der Natur zu bedeutend; wir schneiden mit unseren Begriffen entweder etwas aus ihrer Einheit heraus oder simplifizieren ihre Mannigfaltigkeit. Daher fühle ich bei der Lektüre von Worten wie „Typensprung“ auch ein gewisses Mißbehagen; sie laufen gegen den Strich.338

Auf den ersten Blick ist das ganz im Sinne Heberers und gegen Schindewolf formuliert. Jedoch, dies zeigt der zweite Blick, bringt Jünger diese „Typensprung“-Absage nicht in einen kausalen Zusammenhang mit Heberers Invektiven gegen die idealistische Morphologie. Er liest die Absage an den „Typensprung“ – im Gegenteil – als Bestätigung des Linné-Wortes aus der Philosophia Botanica (1751) „Natura non facit saltus, das ist mir bei der Lektüre (der Theorie der additiven Typogenese, N.K.) wieder klar geworden.“339 Die Natur macht bei Jünger deshalb keine Sprünge, weil sie schon immer platonisch grundiert ist. Dass die so aufgefasste idealistische Morphologie Linnés nicht ohne die „Typensprung“-Prämisse zu haben ist, blendet Jünger an dieser Stelle konsequent aus. Freilich, gegenüber Heberer kündigt er bereits zu Beginn seiner Einlassungen an: „Meine Gedanken bei der Lektüre schweifen natürlich nach anderen Richtungen als nach der des Faches ab“340, und so ist 336 Vgl. zur Gestalt-Konzeption im Arbeiter ausführlich Kap. 3.2.1. 337 Es ist durchaus denkbar, dass Heberer Jüngers Urvogel-Deutung im Ohr hat, wenn er Jünger nach der Lektüre der Grenzgänge (1965) – der Publikation also, der die Relativierung des paläontologischen (Archaeopteryx) gegenüber dem mythologischen (gefiederte Schlange) Zugriff entstammt – halb schelmisch, halb anerkennend attestiert, „ja ein genialer Grenzgänger“ zu sein: „‚multilateral‘ und furchtlos.“ Heberer an Jünger (23. 10. 1965), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Heberer lag ein Exemplar der als Liebhaberdruck von der Vereinigung Oltner Buchfreunde ausgefertigten Version der Grenzgänge vor. Im Folgejahr erschien der Beitrag dann erneut in einem gleichnamigen Sammelband, der Arbeiten Jüngers aus den frühen 1960erJahren vereint. Ernst Jünger: Grenzgänge, Olten 1965; Ders.: Grenzgänge, in: Ders.: Grenzgänge. Essays – Reden – Träume, Stuttgart 1966b, S. 70–85. 338 Jünger an Heberer (30. 08. 1957), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. In seinem Exemplar der Theorie der additiven Typogenese vermerkt Jünger angesichts der von Heberer gestellten Frage „Wie verläuft die Typogenese?“: „Kann es die geben?“. Heberer, Theorie der additiven Typogenese (DLA-Signatur: WJB04.03/42), S. 861. 339 Jünger an Heberer (30. 08. 1957), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. 340 Ebd.



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es verständlich, wenn er den der Natur verweigerten Typensprung mit der Konstanz der Arten in der Nachfolge von Linné assoziiert und nicht auf die Typogenese Schindewolfs bezieht. Ähnlich assoziativ verfährt Jünger bei seiner Deutung des Additionsprinzips Heberers. Ging es Heberer darum, durch dieses Prinzip die schrittweise, über Millionen Jahre verlaufende und damit kaum merkliche, kontinuierliche Veränderung der Merkmalskomplexe biologischer Typen zu erklären, so interessiert sich Jünger für den Anfang der Reihungskette: „Addition setzt immer einen vorhandenen Bestand voraus. Was auch durch Addition entsteht, etwa Sieben aus Drei und Vier, ist nichts eigentlich Neues, sondern eine Summe aus Gegebenem. Alle Zahlen sind Varianten der Eins.“341 Die „Eins“ – das ist bei Jünger die ungeteilte Natur oder wie es u.  a. in Typus, Name, Gestalt (1963) heißt: das „Ungesonderte“: „Das Ungesonderte ist […] nicht das Neue, sondern eher das Uralte […]. Wo es auftaucht, wiederholt es den Ursprung, und es ist nicht nur ‚neu‘, sondern auch ‚immer wieder neu‘ in dieser Wiederholung, also in seiner Eigenschaft des Ursprünglichen.“342 Das additive Prinzip auf die Ur-„Eins“ zurückzuführen, aus der sich alle weiteren Teilungen und Summen ergeben – auch hier ist sichtlich der Deutungsrahmen, den Heberer von fachpaläontologischer Seite bereitstellt, verlassen. Die Differenzen, die sich aus dem unterschiedlichen Verständnis des additiven Prinzips ergeben, könnten kaum gravierender sein: Bei Jünger kommen die ‚Gestalten‘ aus dem Ungesonderten der „Eins“; Heberer hingegen will mit seiner additiven Methode das morphologische Denken in seine Grenzen weisen. Die entscheidenden Veränderungen verlaufen unmerklich ab, das Gestaltdenken kann ihnen keine Konturen verleihen. Im Ergebnis schließt bei Heberer Addition Typenkonstanz aus. Der Eindruck assoziativer Aneignung wird bestätigt, wenn man sich Jüngers Umgang mit Heberers Abbildungen anschaut. In Anlehnung an die zeitgenössische, von einigen Physikern vertretene „Vorstellung eines Uratoms von ungeheurer Kraft, dessen Explosion das Universum schuf“, fragt Jünger: Sollte biologisch nicht etwas Ähnliches denkbar sein? Ein Urwesen würde sich in der Zeit ausbreiten, und es gäbe keine Stammbäume, sondern Explosionsphasen. Auch hier würde der kausale Anschluss gesichert sein bis an den Punkt, den das

341 Ebd. 342 SW 13, S. 292. In Zahlen und Götter (1973) formuliert Jünger dann: „Das Große Spiel der Mannigfaltigkeit im Raume, der Wiederholung in der Zeit beginnt mit der Zwei, der ersten Aufspaltung. Mythen und frühe Urkunden berichten, daß die Schöpfung begann, indem die Eins sich aufteilte.“ SW 13, S.  247. Vgl. zum ‚Ungesonderten‘ auch Vincent Blok: Ernst Jünger’s Philosophy of Technology. Heidegger and the Poetics of the Anthropocene, New York u. London 2017, S. 122  f.

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1  Jüngers Ur zwischen Empirie und Idealismus Denken nicht mehr bewältigt und an den es ja in allen Systemen gelangt. Die produktive Kraft des Bios könnte allmählich abnehmen, sie könnte sich aber auch hin und wieder verdichten und verknoten, wie das auch auf manchem der von Ihnen gebrachten Schemata, etwa auf S. 868/69 gewisse Abläufe kennzeichnet.343

Auf „S. 868/69“ präsentiert Heberer zwei Abbildungen (s. Abb. 12 + 13): Einmal geht es ganz allgemein um „[s]chematische Typen phylogenetischer Großabläufe“; die andere Darstellung präsentiert die „Evolutionsabläufe der Superfamilien der Brachiopoden“.344 Die von Jünger insinuierte Absage an die Stammbaumordnung ist dabei keineswegs intendiert; im Mittelpunkt steht vielmehr die Kontinuität des evolutionären Geschehens im Sinne Darwins. Häufiges Vorkommen („Progreß“) einer Art zu einem gewissen Zeitpunkt wie auch Abnahme („Regreß“) hängt nach Heberer auch nicht von einer zunehmenden oder schwindenden „Kraft des Bios“ wie bei Jünger ab, sondern „von dem Gesamtkomplex der Mutabilität und der jeweils wirkenden Evolutionsfaktoren in den jeweiligen Umwelten.“345 Im Ergebnis greift Jünger selektiv von Heberer und Schindewolf verwendete Termini („Addition“, „Explosion“, auch den kritisch diskutierten „Typensprung“) auf und bindet sie assoziativ – entgegen ihrer kontextuellen Ordnung – in eine antievolutionäre Entwicklungsgeschichte ein. Grundlage für Jüngers Entwicklungsverständnis ist die Entgegensetzung von allgemeiner, beschreibender, typisierender und spezialisierter, angewandter Naturwissenschaft, die er bereits seit Ende der 1940er-Jahre vertritt und mit den Namen Lamarck und Darwin verbindet. Dabei sieht er „auf höherer Ebene neue Abgleichungen bevorstehen“, im Ergebnis mithin das ältere Formdenken wiedererstarken.346 343 Jünger an Heberer (30. 08. 1957), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. 344 Heberer, Theorie der additiven Typogenese, S. 868  f. 345 Ebd., S. 868  f. 346 Jünger zufolge bilden die „beschreibenden Naturwissenschaften“ „ein Gegengewicht der angewandten Disziplinen, die [mit] immer größerer Beschleunigung [rechneten] […]. Es wäre gut, wenn neben dem abstrakten Bild der Schöpfung, das sie liefern, die konkrete Schau nicht gänzlich verkümmerte. In der Betrachtung der geprägten Form verbirgt sich nicht nur eine hohe Möglichkeit der Bildung; sie führt auch eine Quelle des Genusses, des Glücks zu, wie die Bewegung sie nie erreichen wird. Seit langem ist freilich die Bewegung auch in die biologischen Bezirke eingedrungen – so hat im Siege der Theorie Darwins und seiner Schüler über den Lamarckismus eine labile Theorie über eine stabile triumphiert. Das lag im Sinne der Zeit; es scheint indessen, daß die Kämpfe nicht abgeschlossen sind, und daß auf höherer Ebene neue Abgleichungen bevorstehen.“ Ernst Jünger: Geleit, in: Adolf Horion: Käferkunde für Naturfreunde, Frankfurt/M. 1949b, S. XI–XV, hier: S. XIII–XIV. Vgl. auch die Aufnahme der Entgegensetzung Lamarck – Darwin in Am Kieselstrand (1951): SW 13, S. 17. Leistikow hat die Lamarck zugedachte argumentative Rolle genau registriert. An Jünger schreibt er: „Ihr Eintreten für den sympathischen LAMARCK ist mir aus dem Vorwort zu HORION’s Käferbuch und in höherem Sinne aus den ‚Polarisations‘ [frz. Fassung von Am Kieselstrand – N.K.] vertraut.“ Leistikow an Jünger (25. 03. 1956), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach.



1.4  Die lebensphilosophische und die morphologische Wende

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Abb. 12: „Schematische Typen phylogenetischer Großabläufe“ nach Gerhard Heberer

Was immer man sich genau darunter vorzustellen hat: Die Ablehnung der für Heberer zentralen Orientierung an Darwin bleibt für Jünger jedenfalls zeitlebens verbindlich. Noch in Autor und Autorschaft (1984) schreibt er: „Geschichte und Heilsgeschichte sind reich an verhängnisvollen Webfehlern. Und die Naturgeschichte? Darwins Theorie: Ein monte testaccio.“347 Man muss hier aufpassen: Darwins Evolutionstheorie ist für Jünger nicht einfach ‚falsch‘, sie ist vielmehr „kein theologisches Problem. Das erübrigt schon die ungemeine Bedeutung, die hier die Zeit als produktivem Faktor zugebilligt wird. Die Evolution spielt innerhalb der Zeit; die Schöpfung dagegen ist nicht nur von der Zeit unabhängig, sondern deren Voraussetzung. Wird also eine Welt geschaffen, so wird die Entwicklung mitgeliefert; der Teppich wird ausgeworfen und rollt mit seinen Mustern aus.348

347 SW 19, S. 190. 348 Ebd., S. 528  f.

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Abb. 13: „Die Evolutionsabläufe der Superfamilien der Brachiopoden“ nach Gerhard Heberer

1.5  ‚Belemnitenschlacht‘ mit Otto Klages. Jünger, der Sammler Wie wir im Rahmen der Kapitel 1.3 und 1.4 zeigen konnten, haben die theoretischen Urwelt-Konzeptionen  – sowohl hinsichtlich der Fragehorizonte als auch der methodischen Ausrichtung bei der Beantwortung der Fragen – seit dem 18.  Jahrhundert einige Wandlungen durchgemacht. Kaum etwas von dem, was etwa bei Buffon maßgeblich die Diskussion bestimmte, ist für die orthogenetische oder idealmorphologische, schon gar nicht für die sich von diesen Richtungen absetzende additiv-typogenetische Paläontologie noch von Relevanz. Angesichts dieser massiven Veränderungen von Hutton bis Heberer gerät es leicht aus dem Blick, dass sich die Deutungsgrundlage eigentlich nicht geändert hat: Was immer man konzeptionell unter Urwelt versteht – erschlossen wird es durch Fossilien, steinerne Zeugnisse der Vergangenheit. Jüngers paläontologisches Profil und sein Verhältnis zur Ur-



1.5  ‚Belemnitenschlacht‘ mit Otto Klages. Jünger, der Sammler

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welt lassen sich also nicht nur durch die Rekonstruktion der Gespräche und Korrespondenzen mit Fachgelehrten schärfen. Hinzunehmen sollte man unbedingt auch die Tatsache, dass er ein begeisterter Sammler eben solcher Fossilien war. Jüngers entomologisches Engagement (und daraus abgeleitete poetologische und weltanschauliche Strategien) sind gut dokumentiert.349 Auch ist es kein Geheimnis, dass er seine Manuskripte häufig mit allerlei gesammelten Blättern, Blüten, Federn und auch Kleinkäfern versah.350 Jüngers petrefaktisches Interesse blieb demgegenüber nahezu unbemerkt. Neben Leistikow, Hölder und Heberer ist es vor allem ein Name, der immer wieder auftaucht, wenn es um die Beschreibung, Klassifizierung und Deutung versteinerter paläontologischer Zeugnisse geht: Otto Klages (1903–1982). Klages war selbständiger Textilkaufmann in Königslutter am Elm. Sein Hauptinteresse galt jedoch den Fossilien – und hier besonders den in der Umgebung von Königslutter recht häufig vorkommenden Seelilien –, die er von Jugend an aus dem Muschelkalk seiner Heimatregion – dem sog. Elmkalkstein – zu Tage förderte, präparierte und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machte. „Ohne den Sammler“, so Klages, „würde manches Stück gar nicht geborgen werden, ja zerstört und verlorengehen. So aber gehen die Stufen und Petrefakten durch Hände von Generationen zur Belehrung und Aufklärung von Geschlechterfolgen.“351 Ort der Faszination und gleichzeitig der Aufklärung über die unvorstellbare Dimension erdgeschichtlicher Abläufe ist ihm das naturgeschichtliche Museum,352 in dessen Tradition er auch sein eigenes Wirken sah – mit beachtlichem Resultat. Im Laufe der Jahre trug Klages etwa 22.000 fossile Stücke zusammen, was im Ergebnis zu einer der größten privaten geologisch-paläontologischen Sammlungen Europas

349 Vgl. z.  B. Richard E. Schneider: Ernst Jünger als Entomologe, in: Naturwissenschaftliche Rundschau 64/8 (2011), S. 414–418; Dan Gorenstein: Entomologische Horizontverschmelzung. Ernst Jüngers Hermeneutik der Käfer, in: Daniel Alder u.  a. (Hrsg.): Inhalt. Perspektiven einer categoria non grata im philologischen Diskurs, Würzburg 2015, S. 269–288; Josef Helmut Reichholf: Sandläufer und Prachtkäfer. Was ‚sah‘ und suchte Ernst Jünger in seinen Prachtkäfern?, in: Figal/Knapp (Hrsg.), Natur: Jünger-Studien, Bd. 5, S. 71–82; 350 Vgl. Sibylle Benninghoff-Lühl: Die ganze Welt ein Garten? Flora und Fauna in Ernst Jüngers schriftlichem Nachlass, Berlin 2018. 351 Otto Klages: Über den Sinn des Sammelns, in: Der Aufschluss 12/10 (1961), S. 302  f., hier: S. 303. 352 „Wer könnte sich nicht mit Ehrfurcht daran erinnern, als er zum erstenmal in seinem Leben die Stufen zu einem großen geologischen Museum hinaufging? Wer könnte sich nicht mit einer gewissen Erschütterung daran erinnern, als er zum erstenmal in eine Welt geriet, die gar nicht zu der eigenen passen wollte. Als er sie sah, die unglaublichen Lebewesen – zu Stein geworden –, die blitzenden Kristalle in allen Farben und Formen, die Zeugen von Meeresüberflutungen, Vulkanausbrüchen, die Künder von ehemaligen Festländern und Wüsten, die Spuren riesiger Vereisungen und dazwischenliegender Wärmezeiten, da griff die zeitferne Erdgeschichte nach ihm und schlug ihn in ihren Bann.“ Ebd., S. 303.

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führte.353 In der Sammler-Zeitschrift Der Aufschluss berichtet Klages ab den 1950er-Jahren immer wieder von den Funden seiner geologischen Wanderungen.354 Für solche Wanderungen begann sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine eigenständige Textsorte herauszubilden: der geologische Reiseführer. Es war kein Geringerer als Friedrich August Quenstedt, der Nestor der Tübinger Geologie und großes Vorbild Helmut Hölders, dessen Geologische Ausflüge in Schwaben den Startschuss für das neue Format gaben.355 Jünger war über Hölders Engagement für Quenstedt gut informiert.356 Das Hauptanliegen der neuen Form der Reiseschriftstellerei bestand nicht nur darin, Fundorte interessanter Fossilien anzuzeigen und auf mineralogische Besonderheiten hinzuweisen, sondern durch ausgewiesene Routen zum Selbersuchen anzuleiten. Klages stand durchaus in dieser Tradition. In seinen Beiträgen zum Aufschluss zeigt sich die Verbindung von topographisch-stratigraphischem Interesse mit einer genauen Fundbeschreibung. Jünger wiederum lässt sich von der geologischen Wanderlust Klages’ anstecken. Klages Aufsatz Aufschlüsse im Subherzynischen Becken (1962) nimmt er bspw. zum willkommenen Anlass, den bereits geplanten Besuch dieser Gegend nun in die Tat umzusetzen. Über Sammelmöglichkeiten rund um Wilflingen informierte ihn schon Anfang der 1950er-Jahre Leistikow.357 Da ist es nur eine natürliche Folge, wenn Jünger 353 Vgl. Horst Rohde u.  a.: Suchen – Sammeln – Staunen. Geologische Funde aus der Sammlung Otto Klages, Niedersächsisches Landesmuseum Hannover, Naturkunde-Abteilung, Katalog zur Sonderausstellung 1986/87, Hannover 1986, S. 2–4. 354 Vgl. u  .a. Otto Klages: Krabben aus dem Unteroligozän von Helmstedt, in: Der Aufschluss 2/8 (1951), S. 120–122; Ders.: Kieselschwämme und Goniatiten aus dem Diluvialgeschiebe, in: Der Aufschluss 6/10 (1955), S. 174–77; Ders.: Der Kalktuff des Elmvorlandes, in: Der Aufschluss 10/3 (1959), S. 68–71. 355 Friedrich August Quenstedt: Geologische Ausflüge in Schwaben, mit besonderer Berücksichtigung von Tübingens Umgebung, Tübingen 1864, ²1884. Vgl. zu ‚geologischen Führern‘ des 19. Jahrhunderts im Allgemeinen und zu Quenstedt im Besonderen Christiane Holm: Erdgeschichte für Schnellreisende. Zur Vergegenwärtigung geologischen Wissens in Reiseführern des 19. Jahrhunderts, in: Schnyder (Hrsg.), Erdgeschichten, S. 223–246, bes. S. 235– 240. 356 In Jüngers Wilflinger Bibliothek befindet sich Helmut Hölder: Ein Briefwechsel zwischen F. A. Quenstedt und H. Burmeister 1855, in: Jahreshefte des Vereins für Vaterländische Naturkunde in Württemberg, 116 (1961) (DLA-Sign.: WJB10.02/71), S. 114–119. In Jüngers Miszellen-Sammlung lässt sich zudem nachweisen: Helmut Hölder: Gespräch mit Quenstedt zu seinem 150. Geburtstag am 9. Juli 1959, in: Jahreshefte des Vereins für Vaterländische Naturkunde in Württemberg, 114 (1959), S. 72–76 (Sonderdruck), DLA Marbach, Bestand „H:Jünger, Ernst“, Miszellen-Sammlung, Kasten 17, Mappe 25. 357 Leistikow erstellt für Jünger eine „Geognostische Mitteilung. Juraklippen, die am Ersighof anstehen. Ich vermute, daß sie mir diesen Ort bezeichneten, als Fundstätte von Seeigeln etc. Oberster Weißjura. Sonst reichen in die Gegend von Wilflingen Tertiär, aber auch schon Eiszeitliche Geschiebe.“ An Fundstücken erwähnt Leistikow: „Tertiärschnecken, Helix silvestrina, ferner Planobis und Lymnaeus in besterhaltenem Zustand (frische Farben, Strukturen, Lineamente) in Steinbrüchen im Höhenzug nördlich Andelfingen und Langenslingen OW steigend, am Weg von Langenslingen nach Friedingen. In Schichten darüber Melania



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Klages später zum Sammeln in seine Heimatregion einlädt.358 Leistikow begibt sich seinerseit übrigens gleichfalls auf geologische Tour, und zwar mit seinen Studenten.359 Was Jüngers Interesse am Subherzynischen Becken um 1960 anbelangt: Ziel der subtilen paläontologischen Jagd des Dichters in Klages Revier sind versteinerte Seelilien (Crinoidea),360 besonders solche der Species Encrinus liliiformis, die sich im Muschelkalk hervorragend erhalten haben.361 Bereits in seinem Roman Heliopolis (1949) hatte Jünger der Seelilie ein Denkmal gesetzt; gegenüber Klages spricht er mit Blick auf die Textstelle von einer „paläontologische[n] Belustigung, freilich an einem erdachten Stück“362. Dahinter verbirgt sich jedoch weit mehr: Dem Helden des Romans Lucius de Geer erschließt sich in der Form des präparierten und museal arrangierten Objektes das kosmische Prinzip der Gestaltung organischer und anorganischer Materie: und Melanopsis. Sodann in miozänen Ablagerungen im Aachtal in der Zwiefalter Gegend, Schnecken vollkommen erhalten in milden Kalkmergel eingebettet. Mörsinger Lokalität 1 km oberhalb der Kirche am Weg, der in den Wald führt, eine Grube aus der seit den Zeiten des Forstmeisters von Tandesloh ‚Jeder Hieb mit der Hacke‘ Schnecken fördert. Ich halte so alte reiche Stellen […] für unerschöpflich.“ Leistikow an Jünger (13. 11. 1953), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. 358 Jünger schlägt Klages im Falle eines Besuchs eine gemeinsame geologische Erkundung vor: „Wir könnten […] an Hand eines geologischen Führers eine Exkursion machen – etwa zu den Schiefergruben von Holzmaden oder zu einer anderen Fundstelle.“ Jünger an Klages (05. 11. 1962), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. 359 Leistikow berichtet Jünger etwa von „einer dienstliche[n] Befahrung von Devon-, Karbonund Tertiär-Aufschlüßen an Rhein und Ruhr, wo ich das Programm für eine große Exkursion des Instituts im Herbst festzulegen habe.“ Leistikow an Jünger (25. 03. 1963), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Bereits ein halbes Jahr zuvor weist er Jünger auf eine geplante Suche nach „Pflanzenfossilien“ hin: „Sollte etwas Besonderes sich bieten, ist es Ihnen sicher.“ Leistikow an Jünger (31. 10. 1962), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach 360 Die Seelilien finden sich auch in dem in Jüngers Wilflinger Bibliothek nachweisbaren Bestimmungsleitfaden fossiler Zeugnisse von Karl Beurlen, eines Schülers von Edwin Hennig. Vgl. Karl Beurlen: Welche Versteinerung ist das? Tabellen zum Bestimmen von Versteinerungen Mitteleuropas, Stuttgart 1961 (DLA-Sign.: WJB09.05/14), S. 23. Dass Beurlen gleich Hennig ein Vertreter des ideal-morphologischen und orthogenetischen Denkens ist, merkt man dieser Publikation nicht an. In anderen Texten Beurlens ist diese theoretische Grundeinstellung jedoch unübersehbar. Vgl. etwa Karl Beurlen: Urweltleben und Abstammungslehre, Stuttgart 1949, bes. S. 127–171. 361 Jünger sendet Leistikow die Abhandlung Klages’ mit den Worten zu: „Anbei der Bericht meines alten Freundes Otto Klages über ‚Aufschlüsse im Subherzynischen Becken‘. Seit langem plane ich, diesem Eldorado, das unter anderem die klassische Fundstätte von Encrinus liliiformis ist, einmal einen gründlichen Besuch abzustatten.“ Jünger an Leistikow (17. 06. 1962), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Vgl. Otto Klages: Aufschlüsse im Subherzynischen Becken, in: Der Aufschluss 13/4 (1962), S.  113–118, DLA Marbach, Bestand „H:Jünger, Ernst“, Miszellen-Sammlung, Kasten 15, Mappe 13. Vgl. zu Encrinus liliiformis auch Helmut Hölder/Hans Steinhorst: Lebendige Urwelt. Flora und Fauna der Vorzeit, Stuttgart 1964, S. 22  f. 362 Jünger an Klages (22. 11. 1949), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach.

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1  Jüngers Ur zwischen Empirie und Idealismus Das Lilienstück war außerordentlich. Es ruhte auf einem Untersatz von Eichenholz. […] Die Pflanzentiere waren in blendend weißem, kristallisiertem Marmor eingebettet, eisblumengleich. Der Schliff traf sie der Länge nach wie schmale Magnolienknospen, oder er schloß im Querschnitt ihr Strahlenmuster auf. Dazwischen rankten sich die Stiele, die hier und dort in ihre Glieder zerfallen waren, als wären Münzen ausgestreut. Lucius sah dieses Petrefakt mit dem Erstaunen, das ihn stets vor solchen frühen Bildungen ergriff – dem Hieroglyphenstil der ersten Urkunden. Es war auch Bangen in dieses Staunen eingemischt. Im Mathematischen, im Strahlenglanz der Konstruktion lag etwa Unerbittliches, der Glanz von höchsten Werkstätten, die Einsamkeit erhabener Spiele und Spiegelungen am ersten Schöpfungstag, noch vor der Erfindung des Leviathans. Hier herrschte noch […] das gleißende Skelett des Lebensplanes, sein in Kristall gegrabenes Gesetz.363

Liest man diese Stelle vor der Folie von Jüngers Abkehr vom Neovitalismus der 1920er-Jahre, so wird deutlich, dass die „paläontologische Belustigung“ für einen Wandel innerhalb des Ganzheitsdenkens des Autors steht. Das „gleißende Skelett des Lebensplanes“ bildet jene Matrix, die nicht auf den biologischen Bereich beschränkt bleibt, sondern gleichermaßen organische und anorganische Strukturbildungen präfiguriert. Man kann dies ganz allgemein mit Jüngers Hinwendung zur Physik begründen.364 In dem von uns gesetzten geologisch-paläontologischen Rahmen ist es entscheidend, das Hauptaugenmerk auf die gleichsam natürliche organischanorganische Verfasstheit der Seelilien-Platte zu legen. Bevölkerten diese Tiere einst, vor ca. 230 Millionen Jahren, den Boden des Muschelkalkmeeres, so geben ihre Versteinerungen noch heute Auskunft über Gestalt und Lebensweise. Die erdgeschichtlich frühe Prägungsstruktur („Hieroglyphenstil der ersten Urkunden“) verweist nicht auf die ursprüngliche Vitalität primitiven Lebens, die eigengesetzliche Entfaltung eines vitalen Prinzips oder die Selbstbestimmtheit des Lebensstromes angesichts einer hinderlichen ‚Umwelt‘; der „Strahlenglanz der Konstruktion“ ist dem Leben und seinen Äußerungen vielmehr vorgängig. In diesem Sinne spricht bereits Lothar Bluhm davon, dass Jünger in Versteinerungen „die zeugende Urkraft faßbar“ werde, „die die Formen der Natur gebildet hat“365. Im Mittelpunkt des Interesses steht damit auch nicht die zeitliche Frühe des Lebens, sondern die Determination seiner Struktur durch ein zeitloses, kosmisch-kristallines Prinzip. Die Seelilie veranschaulicht dies symbolisch; sie stiftet sinnliche Ge363 Ernst Jünger: Heliopolis. Rückblick auf eine Stadt, Tübingen 1949a, S. 214  f. 364 Vgl. zu Jüngers Wechsel vom Neovitalismus zur Physik ausführlich Streim, Das Ende des Anthropozentrismus, S. 115–160. 365 Lothar Bluhm: Natur in Ernst Jüngers Tagebüchern aus dem Zweiten Weltkrieg, in: Wirkendes Wort 37 (1987), S. 24–32, hier: S. 30.



1.5  ‚Belemnitenschlacht‘ mit Otto Klages. Jünger, der Sammler

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wissheit. Erfahrbar wird auf diesem Weg der dem Leben zugrundeliegende „Schöpfungsgedanke“: „Er wird sowohl organisch wie kristallisch sichtbar – etwa im geometrischen Aufbau, der in Linnés System so eine wichtige Rolle spielt.“366 Das naturgeschichtliche Denken in der älteren, vor-entwicklungsgeschichtlichen Tradition der historia naturalis verbindet sich hier mit dem kosmisch-kristallinen Prinzip urbildlicher Präfiguration, und zwar im Topos des paläontologischen Zeugnisses: „Der Seeigel ist fünf-, die Lilie sechsstrahlig. Hier leuchtet etwas, das vor ihnen war und nach ihnen sein wird, in das Leben hinein.“367 In diesem Sinne kann Jünger gegenüber Otto Klages auch davon sprechen, dass Kristalle ihm nicht nur zu sehen, sondern gleichfalls auch zu denken geben: „[S]ie zeigen durch Maß und Zahl vorletzte Geheimnisse der Materie an.“368 Erste Kontakte zwischen Jünger und Klages lassen sich seit Mitte der 1940er-Jahre nachweisen; mit Klages Tod 1982 endet der Austausch. Vermittelt über einen Freundeskreis in Königslutter begegnen sich die beiden erstmalig 1947.369 Jünger sammelt zwar bereits vor seiner Bekanntschaft mit Klages Fossilien, für deren Namen er sich auch interessiert,370 jedoch intensiviert sich sein Interesse an versteinerten Lebenszeugnissen nach 1947 merklich. Der Grund dafür ist einfach: Der Dichter ist von Klages’ Sammlung schlicht begeistert, und bekommt als Zeichen erwiderter Wertschätzung zunächst eine – in Heliopolis alsbald in abgewandelter Form beschriebene –

366 SW 20, S. 70. 367 Ebd. Gemeint ist an dieser Stelle mit „Lilie“ ‚Seelilie‘. Die „fünfstrahlige Zier“ des Seeigels behält auch dann ihre kristallin-kosmische Tiefe, wenn sie als Teil eines Bauwerks in einen religiösen Kontext gesetzt wird, der eigentlich eine andere Deutungsdimension nahe legt – wie eine kleine Episode verdeutlicht, die Jünger Klages schildert: „Während meines Aufenthaltes in Damaskus besuchte ich auch die Ommayadenmoschee und wandelte in Pantoffeln auf den herrlichen Teppichen. Sie ist eine der drei großen Moscheen und wegen ihrer Pracht berühmt. Ich entdeckte in ihrem Innern einen Brunnen, dessen Welle durch zwei bunte Marmorsäulen getragen wird. In diesem nun waren allerlei Köstlichkeiten angeschliffen – Muscheln und ein gekammerter Orthoceras mit Quarzfüllungen. Indem ich mich daran ergötzte, machte ich mir Vorwürfe darüber, daß ich mich in dem weltberühmten Bauwerk durch solche Quisquilien ablenken ließ. Aber schließlich bleibt der göttliche Bauplan dem unseren himmelhoch überlegen und währt durch Jahrmillionen mit stets sich erneuernder Kraft. Der Glanz unserer prächtigsten Kuppeln verblaßt gegenüber dem Gewölbe eines Seeigels und seiner fünfstrahligen Zier.“ Jünger an Klages (07. 05. 1961) Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. 368 Jünger an Klages (30. 01. 1964), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. 369 Vgl. SW 3, S. 635. Vgl. auch Klages, Der Auftrag, in: Horia (Hrsg.): Farbige Säume, S. 28–37, hier: S. 28. 370 In einem Eintrag vom 19. 09. 1943 im Zweiten Pariser Tagebuch (1949) hält Jünger folgende Bestimmungen eigener fossiler Objekte fest: „Lektüre: A. Chavan et M. Monotoccio, ‚Fossiles Classiques‘, Paris 1938. Dem Buche entnehme ich, daß meine kleine Wendelschnecke den Namen Cerithium tuberculosum führt. Die große, die ich bei Montimirail im Bombentrichter fand, heißt Campanile giganteum. Beide beschrieb zuerst Lamarck.“ SW 3, S. 157.

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Seelilie geschenkt.371 Es ist interessant zu sehen, dass der Seelilie nicht nur im literarischen Text ein Platz zukommt, sondern, ganz handfest, auch in der Sammlung Jüngers. Der Sammler als Dichter – der Dichter als Sammler: Jüngers autorschaftliche Rolle wird durch diesen Chiasmus ganz maßgeblich bestimmt. Das reale Fossil ist – wenn nicht in gleichem, so doch in vergleichbarem Maße  – Teil seines Werks wie das beschriebene. Für den heutigen Betrachter der im Jünger-Haus gezeigten fossilen Nachlassobjekte verweisen reale und literarisch imaginierte Seelilie zumindest aufeinander.372 In den Folgejahren hält der Kontakt zwischen Jünger und Klages; neben Briefen werden Fossilien gewechselt. Ein von Klages in Angriff genommenes geologisches Sachbuch für Kinder und Jugendliche kommt trotz Jüngers Hilfe nicht zustande;373 sehr wohl aber ein umfassendes, nach Erdzeitaltern geordnetes Sammelprofil des Subherzynischen Beckens, das Klages eigens für die Festschrift zu Jüngers 70. Geburtstag 1965 entwirft.374 Was die Korrespondenz angeht: „Sie ist beträchtlich und handelt im We-

371 „Nachmittags sahen wir die Versteinerungen, die Herr Klages seit vielen Jahren aus dem Gebiet des Elm und auf seinen Reisen zusammengetragen hat. Sie lagen in flachen Schubladen auf rotem Samt. […] Die Seelilien des Elm leuchteten wie mamorne Magnolienknospen; ich erhielt eine zum Andenken. Wir betrachteten gebänderte Achate, Abdrücke niederer Tiere im Solnhofer Schiefer, Ammoniten, die wie knotige Goldmünzen geprägt waren. Die Palme gebührte versteinerten Koniferenzapfen aus Kalifornien, durch die Querschnitte gelegt waren.“ SW 3, S. 635  f. 372 Vgl. zur werkpolitischen Dimension von Jüngers Wilflinger Interieur und den in der ‚alten Oberförsterei‘ gezeigten Sammlungsstücken Niels Penke: Werk und Wunderkammer. Das Jünger-Haus als fortgesetzte Autorschaft und musealer Sonderfall, in: Katerina Kroucheva/ Barbara Schaff (Hrsg.): Kafkas Gabel. Überlegungen zum Ausstellen von Literatur, Bielefeld 2013, S. 185–196; Felicitas Hartmann: Stückwerk oder Werkstück? Sammeln und Zeigen gegenständlicher Nachlassobjekte als Praktiken der Werkkonstituierung am Beispiel Ernst Jüngers, in: Ebd., S. 197–226; vgl. auch zum Zusammenhang von ausstellungs-, wertungsund werkpolitischen Fragen am Beispiel von Jüngers Stahlhelmen und Sanduhren: Felicitas Günther: Schaustücke der Literatur? Archivarische und museale Praktiken der Werkkonstituierung, Tübingen 2018, S. 121–237. 373 Wie weit das Projekt tatsächlich entwickelt war, lässt sich schwer einschätzen. Jünger bot jedenfalls umfangreiche Hilfe an, „etwa mit der Besorgung eines Verlages und einem Vorworte. Es käme auf eine Sammlung kurzer Stücke an – Sie besitzen ja schon eine Anzahl davon. ‚Durchsichtige Schliffe‘ könnte auch einer der Titel sein. Beschreibung schöner Objekte, genußreiche Ausflüge an die Fundorte, Details der Präparation – ich meine, daß das alles höchst spannend ist. Dann noch die Bilder – das gäbe eine Fundgrube. ‚Fundgruben‘ könnte auch ein Titel sein – nämlich die Beschreibung von Orten, wo man in Versteinerungen wühlen kann wie im Traum.“ Jünger an Klages (31. 01. 1956), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Ein halbes Jahr später weist Jünger nochmals daraufhin, „daß Sie einmal mit dem Buch für die künftigen Beflissenen Ernst machen sollten. Sie haben die Erfahrung und vor allem die Liebe, die dazu nötig ist. Fröhliche Wissenschaft.“ Jünger an Klages (17. 07. 1956), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. 374 Vgl. Klages, Der Auftrag.



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sentlichen von Paläontologie.“375 Auch wenn es Klages ist, der die meisten Objekte sendet, so bleibt Jünger keineswegs nur der Empfangende. Auf Reisen Gefundenes376 oder Geschenke aus dritter Hand, etwa von Leistikow, gibt er an Klages weiter,377 auch sammelt er bisweilen direkt für Klages.378 Im Gegensatz zu diesem jedoch, der sich einen eigenen Präparierraum eingerichtet hat und seine Objekte in epistemischen Möbeln präsentiert, legt Jünger Wert auf die Feststellung, „daß ich, wenigstens was Mineralien und Fossilien betrifft, kein wissenschaftlicher Sammler bin. Die Stücke liegen vielmehr auf meinen Regalen und spielen die Rolle von Talismanen oder dienen zu einer Art von Kristallomantie.“379 Vor allen Dingen in Jüngers Arbeitszimmer und der ‚Großen Bibliothek‘ finden sich fossile Objekte. Über diese wollen wir uns im Folgenden einen kleinen Überblick verschaffen. Insgesamt lassen sich in Jüngers Wohnhaus über 60 Schaustücke nachweisen, wobei die Herkunft nicht immer zweifelsfrei geklärt werden kann. Zahlreiche Exponate, so viel steht fest, gehen auf das Geschenkkonto von Klages. Eines der ersten Geschenke von Klages an Jünger dürfte die bereits erwähnte Seelilienplatte sein; weitere Seelilien lassen sich in Jüngers Samm-

375 So Jüngers Charakterisierung des Briefwechsels während eines Rückblicks auf die Freundschaft anlässlich des Todes von Otto Klages in einem Eintrag vom 05. 01. 1983 in Strahlungen V (Siebzig verweht III). SW 20, S. 222. 376 „Anbei sende ich ihnen ein kleines Südstück, in dem allerdings, wo Geologisches gestreift wird, mehr Urgestein als belebt gewesene Schichten vorkommen. Dafür war ich im vorigen Monat in der Normandie und machte während dieses Aufenthaltes einen Spaziergang am Strande von Villers-sur-mer, in der Nähe von Deauville. Der breite Sandstreifen war menschenleer, doch schön besonnt. Hinter ihm ragt ein Tonwall auf, aus dem während der Springfluten von den Wogen Fossilien herausgeschwemmt werden. Ich las aus einem Steinband Korallenstücke, Gryphäen und Muscheln auf.“ Jünger an Klages (07. 11. 1955), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. 377 An Leistikow etwa wendet er sich 1962 mit der Bitte um Informationen – um ein Geschenk von Leistikow an Klages weiterverschenken zu können: „Inzwischen werde ich von Otto Klages mit Fundstücken bedacht. Ich gedenke, ihm jetzt eine der Muscheln zu senden, die ich von ihnen bekam und die bei ihm gut aufgehoben sind. Wenn sie mir auf einem Notizzettel Namen, Fundort und besondere Bemerkungen, etwa über die halbangeraute Oberfläche des Fossils, senden würden, könnte ich meine bescheidene Gabe dadurch bereichern.“ Jünger an Leistikow (17. 06. 1962), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. 378 Als freundschaftliche Erwiderung fossiler Geschenke von Klages überlegt Jünger bspw., „ob ich nicht auch hier für Sie ein wenig graben und hämmern könnte, aber die engere Umgebung ist arm an Fossilien, und sie sind verwöhnt. Um aber meinen guten Willen zu zeigen, begab ich mich nach Mörsingen, wo in einer Mergelgrube die Landschnecke Helix sylvana zu finden ist. Die porzellanartige Weiße, mit der die Gehäuse zu Tage treten, wirkt fast geisterhaft. Ich grub dort ein Dutzend für sie aus […]. Bitte verleiben Sie die Stücke ihrer Sammlung ein, nicht etwa als Gegengabe, sondern als kleines Andenken.“ Jünger an Klages (26. 11. 1955), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. 379 Jünger an Klages (26. 11. 1955), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach.

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1  Jüngers Ur zwischen Empirie und Idealismus

Abb. 14: Seelilie (Pentacrinus sp.), Posidonienschiefer (Jura, Lias, Toarcium)



1.5  ‚Belemnitenschlacht‘ mit Otto Klages. Jünger, der Sammler

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lung nachweisen (s. Abb. 14). Bei einem Besuch bei Klages 1947 fällt das Augenmerk Jüngers neben den Seelilien auch auf „eine Reihe großer, sehr sauber aus dem Steinkern präparierte[.  .] Taschenkrebse […]. “380 Zwei Jahre später ist es dann so weit: Jünger bekommt einen aus dem Stein gearbeiteten und einen in steinerner Hülle belassenen Krebs zugesandt,381 wobei ihn das Verhältnis von sichtbarer Oberfläche und verborgener Tiefe besonders fasziniert.382 Bereits Gisbert Kranz verweist angesichts Jüngers Interesse für Edelsteine auf die besondere Rolle, die dem Kristall zukommt: „Der Kristall, an dem Oberfläche und Tiefe zugleich sichtbar sind, gilt Jünger als Symbol der kosmischen Ordnung.“383 Jüngers Hermeneutik fossilierter Zeugnisse lässt sich an diese Beobachtung anschließen. Im Kommentar zu einer Aufschluss-Publikation von Klages formuliert er: „Alles, was wir sehen und fassen können, ist ja Oberfläche, aber im Aufschluß steigt die Tiefe zur Oberfläche hinauf. Auch unsere Augen sind Aufschlüsse.“384 Welches Objekt könnte die für Jüngers Weltanschauung und Poetik so wichtige Dialektik von Oberfläche und Tiefe besser symbolisieren als ein Paar versteinerter Krebse, von denen ein Stück seine – präparierte – Tiefe auf der Oberfläche offenbart, gleichsam aufschließt, während das andere Stück lediglich die der Tiefe gewisse Oberfläche zeigt? Bald darauf übersendet Klages Jünger eine „Dendritenplatte aus Solnhofen“385 (s. Abb. 15 + 16), die gleich den Seelilien kosmisches Deutungspotenzial enthält: „Von neuem finde ich an diesem Stück bestätigt, daß eine große raumbildende Kraft nicht nur in allen drei Naturreichen, sondern im Universum ihren Ausdruck sucht.“386 Hinsichtlich der in der Wilflinger Sammlung recht häufig vertretenen Cephalopoda (bes. Ammonoidea) – eine Auswahl bieten die Abb. 17 bis 28 – sind es zwei

380 SW 3, S. 635. 381 Im Begleitschreiben zur Krebs-Sendung an Jünger formuliert Klages: „‚Mein lieber Freund Thilo hat mir Ihren Wunsch übermittelt, und so habe ich Ihnen ein paar Krebse herausgesucht. Der eine ist präpariert, während der andere noch in seinem Sarge liegt. […] Im Jahre 1929 fand ich diese Krebse in einer uralten Tongrube bei Helmstedt, am Silberg.‘“ SW 20, S. 222. 382 An Klages schreibt Jünger: „Sie können sicher sein, daß ich die beiden oligozänen Taschenkrebse mit ganz besonderer Freude hier empfangen werde. Die Tiere kamen mir damals in Königslutter in ihrer prächtigen Frische wie Kabinettsstücke vor. Nun werde ich gleich zwei besitzen – den einen sichtbar herauspräpariert, den anderen in seine steinerne Kapsel eingeschlossen, unsichtbar. Vielleicht ist der Besitz des zweiten noch köstlicher, die Kenntnis von seiner Existenz dringt wie mit Röntgenstrahlen in die Materie, in der er wie ein Embryo träumt. So muß man Schätze aufbewahren; ich werde ihn sicher niemals herauspochen.“ Jünger an Klages (22. 11. 1949), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. 383 Kranz, Ernst Jüngers symbolische Weltschau, S. 131. 384 Jünger an Klages (26. 11. 1955), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. 385 Jünger an Klages (02. 12. 1962), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. 386 Ebd.

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1  Jüngers Ur zwischen Empirie und Idealismus

Abb. 15: Mangan-Dendriten (anorganische chemische Ausfällungen auf Sedimentoberflächen im Kalkstein), vermutlich Solnhofener Plattenkalk

Abb. 16: Mangan-Dendriten (s.  o.)



1.5  ‚Belemnitenschlacht‘ mit Otto Klages. Jünger, der Sammler

Abb. 17: Dactylioceras commune (Ammonoidea), Posidonienschiefer (Jura, Lias), Holzmaden bzw. Region

Abb. 18: Cephalopode im Querschnitt

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1  Jüngers Ur zwischen Empirie und Idealismus

Abb. 19: Arietidea indet. (Ammonoidea), Lias (Jura)

Abb. 20: Pleuroceras spinatum, Lias (Jura)



1.5  ‚Belemnitenschlacht‘ mit Otto Klages. Jünger, der Sammler

Abb. 21: Pleuroceras spinatum in Pyriterhaltung (‚Goldammonit‘)

Abb. 22: Ammonoidea indet. in Schalen- und Steinkernerhaltung

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1  Jüngers Ur zwischen Empirie und Idealismus

Abb. 23: Goniatit, abgeschliffen

Abb. 24: Ammonoidea indet. im Querschnitt, innere Windungen herauskristallisiert und vermutlich mit Calcit verfüllt, äußere Windung mit Sediment verfüllt



1.5  ‚Belemnitenschlacht‘ mit Otto Klages. Jünger, der Sammler

Abb. 25: Ammonoidea indet. im Querschnitt

Abb. 26: Endocerida indet. (Cephalopoda), Ordovizium (vermutlich Skandinavien), geschnitten und poliert

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1  Jüngers Ur zwischen Empirie und Idealismus

Abb. 27: Nautiloidea indet.

Abb. 28: Dactylioceras sp., Posidonienschiefer (Juras, Lias, Toarcium), Holzmaden oder Region



1.5  ‚Belemnitenschlacht‘ mit Otto Klages. Jünger, der Sammler

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Facetten, die Jünger beschäftigen. Zum einen geht es um die enge Verbindung paläobiologischer und geologischer Qualitäten  – in einem „aufgeschnittenen Ammonshorn“ sieht er „Fossil und Kristall sich einen“387, zum anderen um den kosmischen Rhythmus, der durch die Form anschaulich werde.388 Es ist kein Zufall, dass Jünger ausgerechnet jene Passagen aus dem Briefwechsel mit Klages in seine veröffentlichten Tagebücher aufnimmt, die den kosmischen Deutungsaspekt betonen; geht es doch hier um eine über das einzelne Sammlerstück hinausweisende Verbindung eines „Problem[s] der Biologie mit dem einer geisteswissenschaftlichen Naturphilosophie“389: Die Ammonitenreihe spiegelt den Rhythmus des Universums; die Welle erhebt sich aus dem Spiegel, wächst, überschlägt sich und rollt wieder aus. Die Aufrollung aus der Geraden zu Bischofstäben, Turbinen und Spiralen, dann wieder ihre Streckung – die Urform kehrt über eine Fülle von barocken Variationen zu sekundärer Schlichtheit zurück. Das findet sich überall wieder, in Abläufen von Sekunden und Jahrmillionen, auf allen Gebieten und ihren Stilarten.390

Zu den Cephalopoda – neben Ammoniten sind hier die bereits von Goethe gesammelten Belemniten391 sowie „Orthoceren“392 (s. Abb.  29) zu nennen – kommen hinzu: „eine Mücke aus dem Oberpliocän“393, Moostierchen („Bryozoenkolonie“394), Seeigel (s. Abb. 30), Araucarienzapfen (s. Abb. 31),

387 Jünger an Klages (30. 01. 1964), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. 388 Vgl. zum Rhythmus bei Jünger Erich Brock: Das Weltbild Ernst Jüngers. Darstellung und Deutung, Zürich 1945, S. 100–107. Brock sieht den Rhythmus bei Jünger vor allen Dingen im Dienst einer „Entindividualisierung“: „Der ruhende räumliche und der sich bewegende zeitliche Rhythmus verkörpert den Formgedanken überhaupt. Alles Formen ist Wiederholen regelmäßiger Elemente. Damit ist es zunächst dem absolut individualisierten Leben entgegengesetzt.“ (S. 101) 389 Rohde u.  a., Suchen – Sammeln – Staunen, S. 8. 390 Jünger an Klages (04. 01. 1966), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Vgl. SW 4, S. 238  f. 391 Vgl. zu Goethes Belemnites giganteus Thomas Schmuck: Das Verschwundene wieder sichtbar machen. Paläontologische Rekonstruktionen zwischen Fantasie und Wissenschaft, in: Kristin Knebel/Gisela Maul/Thomas Schmuck (Hrsg.): Abenteuer der Vernunft. Goethe und die Naturwissenschaften um 1800, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung vom 28.  08. 2019 bis zum 05. 01. 2020 im Schiller-Museum Weimar, Dresden 2019, S. 160–169, hier: S. 161, S. 164. Eine vollständige Aufzählung der von Goethe gesammelten Belemniten bietet Hans Prescher: Goethes Sammlungen zur Mineralogie, Geologie und Paläontologie, Katalog, Berlin. 1978, S. 61 (734), S. 148 (2579–2595), S. 346 (5966), S. 357 (6207). 392 An Klages schreibt Jünger: „Das Prunkstück mit den drei Orthoceren ist wohlbehalten angekommen und wurde am Weihnachtsabend enthüllt.“ Jünger an Klages (04. 01. 1966), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Vgl. SW 4, S. 238. 393 Jünger an Klages (16. 09. 1962), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. 394 Ebd.

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1  Jüngers Ur zwischen Empirie und Idealismus

Seesterne395 (s. Abb. 32), Trilobiten (s. Abb. 33 + 34), Garnelen (s. Abb. 35) sowie zahlreiche Fische (s. Abb. 36–40). Doch die Cephalopoden sind es, die es neben den Seelilien Jünger am meisten angetan haben. „Das könnte ein Heimweh nach den Urmeeren sein.“396 Vom Paläobiologen Leistikow bekommt Jünger zudem fossilierten Urfarn („Zosterophyllum Rhenanum“397) geschenkt; andere Stücke besorgt er sich auf Reisen.398 Auch wenn Jünger kein professionelles Sammler- und Ausstellungsinteresse geltend macht, so nimmt er doch auf die Präsentationsform seiner fossilen Objekte Einfluss, etwa indem er Reparaturarbeiten ausführen lässt399 oder Fassungen und Schleifungen in Auftrag gibt.400 Dass Klages in Jünger mehr als einen interessierten Laien sieht, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass er ihn bei Formulierungsunsicherheiten konsultiert und selbst bei äußerst wichtigen Fragen, etwa der nach der Systematisierung des fossilen Materials, hinzuzieht.401 Jünger nutzt seinerseits den paläontologischen Austausch mit Klages einerseits für die Schärfung seines kosmologischen Profils; an-

395 Jünger an Klages (19. 04. 1962), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach: „Ihr Seestern liegt vor mir auf dem Tisch. […]“: „Offenbar wurde das Tier von einer leichten Woge an den Strand gespült, die dann zurückebbte. Dann hat es der Sand des Küstensaums umhüllt. So erhielt es über die Hunderte von Jahrmillionen den zierlichen Schwung wie das Kleid einer Tänzerin, dessen Saum das Auge eines Degas‘ im Bruchteil einer Sekunde erfaßt.“ 396 Jünger an Klages (05. 05. 1981), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. 397 „Besten Dank für das Zosterophyllum Rhenanum. Im Unterdevon war es offenbar so übel nicht. Laue Bäder und Dichotomie.“ Jünger an Leistikow (05.  05. 1963), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. 398 Jünger, so berichtet er Klages, kaufte sich u.  a. „Gold- und Silberammoniten aus dem Fränkischen Jura – es wird behauptet, daß dieses Gebiet die einzige Fundstätte sei. Darunter: Hecticoceras hecticus, Macrocephalites macrocephalus, Belemnites paxillosus und digitalis – auch einen halbierten Perisphintes mit der Adnote ‚pyratisiert‘. Ich vermute, daß er also bearbeitet ist, wahrscheinlich galvanisiert. Wunderschön auch die Stufe einer Pseudomonolis-Muschelbank. Die Feinheiten schließen sich erst durch die Lupe auf. Die Namen sagen mir wenig – mir dienen die Stücke nur zur Anschauung und zum ‚Indiehandnehmen‘.“ Jünger an Klages (05. 09. 1971), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. 399 Erwähnt wird etwa der „Primaner“ Hartmut Blersch, „der von großem Eifer für alles Paläontologische besessen ist“ und für Jünger Ausbesserungsarbeiten vornimmt. Jünger an Klages (31. 01. 1956), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. 400 „Gestern kam aus Goslar ein Belemnit zurück. Ich hatte ihn dorthin zu einem tüchtigen Handwerker geschickt, um ihn gebührend rahmen zu lassen.“ Jünger an Klages (25. 09. 1961), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Über ein Ammonshorn heißt es nur wenige Monate später: „Wahrscheinlich lasse ich es oktogonal schleifen und ziere meinen Schreibtisch damit.“ Jünger an Klages (09. 01. 1962), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. 401 Auf die Frage von Klages, wie er seine Sammlung katalogisieren soll, antwortet Jünger: „Es gibt nur eine Form des Kataloges, die gestattet, nur soviel Mühe zu verwenden, wie man gerade möchte – und das ist der Zettel-Katalog. Er setzt freilich voraus, daß die Objekte ein festes System haben. Das ist bei allen paläontologischen Species der Fall. Man richtet sich entweder nach dem Alphabet oder nach einem bestehenden Fossilienkatalog.“ Jünger an Klages (31. 01. 1956), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach.



1.5  ‚Belemnitenschlacht‘ mit Otto Klages. Jünger, der Sammler

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dererseits geht es auch ganz konkret um Abstammungs- und Verwandtschaftsfragen, etwa mit Blick auf die fossilen Tintenfische (Belemniten, Orthoceras): Ihr schöner Belemnit hängt über meinem Schreibtisch, und ich ergötze mich oft daran. Ein Goslaer Handwerker hat ihn in einen Rahmen gefaßt, innerhalb dessen das Fossil die Diagonale hält. Es steht dort, morphologisch invers, wie eine Rakete auf der Abschußrampe, höchst eindrucksvoll, umsomehr als das Rostrum massiv erhalten ist, während der Phragmacognus in der Materie verschwimmt. Dieses Organ geht nicht, wie ich lange geglaubt habe, spiraligen und eingerollten Formen voraus, sondern ist ihre Konsequenz. Die Belemniten sind bereits sekundäre Geschöpfe und ebenso, wenn ich nicht irre, die Gattung Orthoceras. Dennoch müssen die Urtintenfische wohl gestreckte Cephalopoden gewesen sein. Wir hätten also Einrollungen und Wiederausrollungen. Ich suchte aus meiner Literatur zu ermitteln, wie die heutigen Zoologen sich das vorstellen, wurde aber nicht recht klug daraus. Die zeitliche Auseinanderlegung gehört ja zu den Krückstöcken. Man müßte „alles mit einem Male“ sehen. Da würde man einer ungeheuren Potenz gegenüberstehen, mit der kein Riesenkrake den Vergleich aushielte.402

Womöglich ist es die von Jünger an dieser Stelle aufgeworfene und im Freundeskreis häufiger diskutierte Frage, die Leistikow dazu veranlasste, dem Dichter 1966 Adolf Naefs Die fossilen Tintenfische (1922) zum Geburtstagsgeschenk zu machen; jenes bereits erwähnte Buch, das vom Standpunkt der „Paläomorphologie“403 – einer Spielart der „klassischen (idealistischen) Morphologie“404 – Ordnung in die paläozoologische Unterwasserwelt bringen will. Jüngers Perspektivierung ist jedenfalls äußerst raffiniert: Der Blick beginnt bei dem musealen, den ästhetischen Mehrwert des Belemniten ausstellenden Arrangement; die Diskussion des Erhaltungszustandes einzelner Organe („Rostrum“, „Phragmacognus“) führt jedoch recht zügig zur Thematisierung artgeschichtlicher Fragen und damit über das inszenatorische Feld hinaus: Belemniten und der „Gattung Orthoceras“ geht ein nicht spiralig gerollter „Urtintenfisch“ voraus. Der entzeitlichte Zugriff wird in der Folge als jener Gewissheitsmoment imaginiert, den die entwicklungsgeschichtliche Zerlegung (‚zeitliche Abfolge‘) nicht erlangen kann – einmal mehr ist eine zeitlose Potenz dem ‚Krückstock‘ des Darwinismus gegenübergestellt. Wie Klages auf Jüngers Deutung reagierte, ist nicht überliefert. Das Thema beschäftigte die beiden jedenfalls auch in der Folgezeit. So erbittet

402 Jünger an Klages (20. 12. 1961), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. 403 Naef, Die fossilen Tintenfische (DLA-Signatur: WJB05.01/12), S. 7  f. 404 Ebd., S. 4.

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Jünger von Klages einen „ganz modernen“ „Cephalopoden-Stammbaum“405, den dieser seinerseits dann vom Göttinger Geologen und Paläontologen Hermann Schmidt (1892–1978) einholt und brieflich an Jünger weitersendet (s. Abb.  41). Grundsätzlich war die Arbeitsteilung zwischen beiden recht eindeutig: Klages stellte das Material bereit und lieferte präzise Fund- und Objektbeschreibungen – Jünger legte aus, äußerte Hypothesen und bemühte Analogien; so wahrscheinlich auch in diesem Fall. Als Besitzer mehrerer Belemniten-Platten dürfte sich Klages zumindest interessiert gezeigt haben. In der Monographie von Naef findet sich als besonderer Fund gleichfalls ein sog. „‚Belemnitenschlachtfeld‘“ (s. Abb. 42). „[I]ch sah zu meinem Vergnügen“, so Jünger an Klages, „daß das ihre es damit aufnehmen kann.“406 Fragt man nach der Herkunft dieser kriegerischen Bezeichnung des friedfertigen Fossilarrangements, so bekommt man von Helmut Hölder Auskunft. Die „keulenförmigen Kalkspieße (Rostren)“ der Belemniten stehen dabei im Mittelpunkt: „Der Anblick der manchmal zu Massen gedrängten Spieße im dunklen Gestein hat etwas Kriegerisches“, erläutert Hölder, „das sich in dem oft dafür verwendeten Ausdruck des ‚Belemnitenschlachtfeldes‘ niederschlägt.“407 Doch nicht nur bei Naef und Klages lassen sich Prachtexemplare solcher ‚Schlachtfelder‘ nachweisen. Jünger selbst beherbergte im Eingangsbereich seines Hauses ein – noch heute sichtbares – ‚Belemnitenschlachtfeld‘ (s. Abb. 43 + 44): zweifelsohne das mit Abstand größte und eindrucksvollste paläontologische Objekt in seiner Sammlung. Abschließend sei noch erwähnt, dass ab Mitte der 1960er-Jahre über die Vermittlung von Jünger sowohl Hölder und Leistikow als auch dessen Dissertationsgutachter Mägdefrau bei Klages ein und aus gehen.408 Die universitäre Paläontologie möchte auf dessen exorbitante Sammlung nicht verzichten. Dass Jünger sich dann ausgerechnet an Mägdefrau – seit 1960 Ordinarius für Spezielle Botanik in Tübingen und Direktor des dortigen Botanischen Gartens – wendet, um sich für die Verleihung der Ehrendoktorwürde an Klages zu verwenden, überrascht deshalb nicht, da der Dichter über das Wohlwollen, das der (Paläo-)Botaniker ihm, Jünger, entgegenbringt, gut unterrichtet ist.409 Jünger rechnet sich wohl aus diesem Grund gute Chancen 405 Klages an Jünger (26. 03. 1962), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. 406 Jünger an Klages (14. 04. 66), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. 407 Hölder/Steinhorst, Lebendige Urwelt, S. 54. Einschränkend fügt Hölder hinzu: „Quenstedt hatte dieses Wort [Belemnitenschlachtfeld, N.K.] aber in ganz anderem Sinne für diejenigen Stellen im Gelände geschaffen, wo die aus dem Gestein ausgewitterten Belemniten wie zerschellte Wurfspeere (bélemnon = Wurfspeer) und ‚verstümmelt wie auf einem Schlachtfelde‘ im Ackerboden oder auf kahlen Mergelplätzen liegen.“ Ebd. 408 Vgl. Klages an Jünger (08. 12. 1965 u. 10. 01. 1966), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. 409 Vgl. zu Jüngers Werben um die Verleihung der Ehrendoktorwürde an Klages: Jünger an Mägde­frau (14.  03. 1968), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Was Mägdefraus Sym-



1.5  ‚Belemnitenschlacht‘ mit Otto Klages. Jünger, der Sammler

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aus, die notwendigen Schritte in Richtung Ehrenpromotion von Tübingen ausgehend mitinitiieren zu können. Doch daraus wird nichts. So geschätzt Klages’ Expertise und seine Sammlung auch unter professionellen Paläontologen sind: Er stirbt 1982 ohne Doktortitel in Königslutter. Seine Sammlung vermacht Klages dem Land Niedersachsen.

pathien für Jünger angeht: Es ist Mägdefraus Tübinger Kollege Leistikow, der den Dichter über Mägde­fraus Jünger-Bild informiert. Das fängt bereits mit Leistikows Doktorfeier an, im Rahmen derer sich Mägdefrau und Jünger zum ersten Mal begegnen. Leistikow teilt Jünger umgehend mit, dass Mägdefrau „von Ihnen sehr begeistert war“; er lese „gegenwärtig alles Erreichbare von Ihnen und über Sie.“ Leistikow an Jünger (24. 02. 1962), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Bald darauf sendet Jünger Mägdefrau Karl Otto Paetels Monographie Ernst Jünger in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (1962) zu, die dieser begeistert aufnimmt. Er „blätterte mir die Abbildungen vor“, so Leistikow, „die Sie zeigen sowie befreundete Menschen, Umgebungen und Pflanzen […]. “ Leistikow an Jünger (April 1962), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Das Wohlwollen, das Mägdefrau Jünger entgegenbringt, zeigt sich nicht zuletzt in einer ganzen Reihe von übersendeten Publikationen. In Jüngers Wilflinger Bibliothek finden sich zwar nur Karl Mägdefrau: Die Vegetation der Erde einst und jetzt, in: Stahl und Eisen, 84 (1964), S. 1648–1655 (DLA-Sign.: WJB25.01/52) sowie: Ders.: Führer durch den Botanischen Garten der Universität Tübingen, Tübingen 1971 (DLASign.: WJB05.03/40), jedoch gibt es weitere Schriften Mägdefraus in Jüngers Besitz, etwa Karl Mägdefrau: Die Strukturerhaltung fossiler Pflanzen, in: Bild der Wissenschaft 12 (1966), S. 989–997; Ders.: Dem Gedenken an Carl Friedrich Philipp von Martius (1794–1868), in: Oberbayrisches Archiv 93 (1971), S. 7–15; Geschichte der Botanik. Leben und Leistung großer Forscher, Stuttgart 1973. Die letzten drei Veröffentlichungen liegen einem Brief bei; es handelt sich dabei um: Jünger an Mägdefrau (10. 03. 1964), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Dem Dichter persönlich gewidmete Arbeiten Mägdefraus lassen sich zudem in Jüngers Miszellen-Sammlung nachweisen: Karl Mägdefrau: Die Guaica-Indianer am oberen Orinoco. Ein Blick in das Neolithikum, in: Alt-Thüringen. Jahresschrift des Museums für Ur- und Frühgeschichte Thüringens 6 (1962/63), S. 652–660 (Sonderdruck), DLA Marbach, Bestand „H:Jünger, Ernst“, Miszellen-Sammlung, Kasten 16, Mappe 19; Ders.: Vom Orinoco zu den Anden, in: Vierteljahrsschrift der naturforschenden Gesellschaft Zürich 105/1 (1960), S. 49– 71, DLA Marbach, Bestand „H:Jünger, Ernst“, Miszellen-Sammlung, Kasten 15, Mappe 11; Ders.: Die Entwicklung der neueren Botanik, in: Naturwissenschaftliche Rundschau 18/6 (1965), S. 219–227, DLA Marbach, Bestand „H:Jünger, Ernst“, Miszellen-Sammlung, Kasten 17, Mappe 22; Ders.: Tübinger Botaniker aus fünf Jahrhunderten. Erweiterte Fassung eines Rundfunkvortrages in der Sendereihe „100 Jahre mathematisch-naturwissenschaftliche Fakultät der Eberhard-Karls-Universität zu Tübingen“, gehalten am 14. 11. 1964 im „Südwestfunk“ (Typoskript), DLA Marbach, Bestand „H:Jünger, Ernst“, Miszellen-Sammlung, Kasten 16, Mappe 19; Ders.: Der neue Botanische Garten der Universität Tübingen, in: Tübinger Blätter 56 (1969), S. 96–101, DLA Marbach, Bestand „H:Jünger, Ernst“, Miszellen-Sammlung, Kasten 18, Mappe 30.

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Abb. 29: Bruchstück eines Orthocerate

Abb. 30: Seeigel (vermutlich Tertiär)



1.5  ‚Belemnitenschlacht‘ mit Otto Klages. Jünger, der Sammler

Abb. 31: Araucaria mirabilis (Araucarienzapfen), Jura, südliches Argentinien (Patagonien)

Abb. 32: Urasterella asperula (Seestern), Hunsrückschiefer (Unterdevon), Bundenbach bzw. Region

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1  Jüngers Ur zwischen Empirie und Idealismus

Abb. 33: Elrathia kingii (Trilobit), Nordamerika (Kambrium)

Abb. 34: Trilobit



1.5  ‚Belemnitenschlacht‘ mit Otto Klages. Jünger, der Sammler

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Abb. 35: Aeger alegans (Garnele), Solnhofener Plattenkalk (Jura, Lias), Solnhofen bzw. Region

Abb. 36: Fossiler Fisch

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Abb. 37: Fossiler Fisch

Abb. 38: Fossiler Fisch



1.5  ‚Belemnitenschlacht‘ mit Otto Klages. Jünger, der Sammler

Abb. 39: Fossiler Fisch

Abb. 40: Plesioteuthis prisca (Tintenfisch), Solnhofener Plattenkalk (Jura, Malm), Solnhofen bzw. Region

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Abb. 41: Stammbaum der Kopffüßer (Cephalopoden) nach Hermann Schmidt



1.5  ‚Belemnitenschlacht‘ mit Otto Klages. Jünger, der Sammler

Abb. 42: „Belemnitenschlachtfeld“ bei Adolf Naef

Abb. 43: „Belemnitenschlachtfeld“ im Eingangsbereich des Wohnhauses Ernst Jüngers

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Abb. 44: Detail von Ernst Jüngers „Belemnitenschlachtfeld“ (s.  o.)

1.6  „Uranfänge (sehr gut)“. Der Essay Steine – Jüngers Werk und Hölders Beitrag Als Albert Renger-Patzsch (1897–1966) Jünger zu Beginn der 1960er-Jahre bittet, einen Text für den geplanten Foto-Band Gestein zu schreiben, trifft er umstandslos auf dessen Interesse: „Dem Gegenstand gilt ja seit langem meine Aufmerksamkeit“410, versichert Jünger, der bei dieser Auskunft wohl vor allen Dingen an Otto Klages denkt.411 Dass die Zusammenarbeit zwischen dem neusachlich orientierten Fotografen und dem Dichter funktioniert, hatten beide jedenfalls durch das Gemeinschaftsprojekt Bäume unter Beweis gestellt.412 Es ist sicherlich als ein Zeichen grundsätzlichen intellek410 Jünger an Renger-Patzsch (20. 10. 1962), in: Ernst Jünger – Albert Renger-Patzsch. Briefwechsel und weitere Dokumente 1943–1966, hrsg. v. Matthias Schöning u.  a. München 2010, S. 61. 411 Das Interesse am Steine-Projekt „nährten in mir nicht zuletzt Ihre Beiträge zu diesem Thema und unsere Korrespondenz.“ Jünger an Klages (05. 11. 1962), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. 412 Albert Renger-Patzsch: Bäume. Photographien schöner und merkwürdiger Beispiele aus deutschen Landen, mit einem Essay v. Ernst Jünger und dendrologischen Erläuterungen von Wolfgang Haber, Ingelheim/Rhein 1962.



1.6  „Uranfänge (sehr gut)“

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tuellen Einverständnisses zu werten, wenn Renger-Patzsch in einem Lichtbildvortrag auf die selbst gestellte Frage, wie man denn seinen Beruf, d.  h. den Beruf des Fotografen, „den man frei gewählt und dem man ein Leben lang mit Vergnügen angehangen hat, objektiv beurteilen“ könne, mit dem berühmten Bonmot Jüngers aus dem Epigrammatischen Anhang aus Blätter und Steine antwortet: „Wer sich selbst kommentiert, geht unter sein Niveau.“413 Treffen dienen zunächst der inhaltlichen Abstimmung, wobei Jünger dafür plädiert, dass „wir uns in keiner Weise voneinander abhängig machen. Auch unabhängig von ihren Plänen reizt mich der Stoff; und die Lektüre des schönen Werkes von Hölder regt mich lebhaft an.“414 Jünger bezieht sich an dieser Stelle auf Hölders Geologie und Paläontologie in Texten und ihrer Geschichte (1960).415 Hölder diagnostizierte in diesem Buch im geologisch-paläontologischen Diskurs eine „physisch-metaphysische Spannung, wie sie uns in Goethes geologischen Studien begegnet“.416 Diese Spannung hat zweifelsohne auch Jüngers Interesse gefunden. In seinem Essay Steine, der die geglückte Zusammenarbeit mit Renger-Patzsch dokumentiert und dem umfangreichen und im Mittelpunkt der Publikation stehenden Bildteil unmittelbar folgt, setzt er ganz unterschiedliche Akzente in der Vermittlung von physisch-geologischer Oberfläche und metaphysischer Tiefe. Reise- und Wander-Anekdoten wechseln sich mit der Erörterung unterschiedlicher Erdentstehungstheorien (Neptunismus vs. Plutonismus) ab; der Diskussion über die Fossilierungsfähigkeit einzelner Organe der Tiere folgen literaturgeschichtliche Erkundungen, etwa in E.T.A. Hoffmanns Die Bergwerke zu Falun (1819). Und immer wieder taucht ein Name auf, auf den auch Hölder in seinem Buch Geologie und Paläontologie in Texten und ihrer Geschichte nicht verzichten wollte: Goethe. Der ‚geologische Goethe‘ hat mit dem ‚ideal-morphologischen‘ allerdings nichts gemein. Unmissverständlich macht Hölder in seinem „Nachwort“ zu dessen Schriften zur Geologie und Mineralogie deutlich, „daß Goethes Urtypus der Gesteine nicht wie die Urpflanze einer unbekannten Urform oder einer Idee entspricht, sondern in dem wohlbekannten Granit konkret 413 Albert Renger-Patzsch: Wo steht die Fotografie heute? Lichtbildvortrag (Typoskript), 1956, S. 1, DLA Marbach, Bestand „H:Jünger, Ernst“, Miszellen-Sammlung, Kasten 19, Mappe 33; Jünger, Blätter und Steine, S. 226. 414 Jünger an Renger-Patzsch (03. 12. 1962), in: Jünger – Renger-Patzsch, Briefwechsel, S. 64  f., hier: S. 64. 415 Vgl. Jünger an Renger-Patzsch (12. 12. 1962), in: Ebd., S. 67. Laut einer Auskunft, die Jünger Otto Klages gibt, war es Leistikow, der ihm, Jünger, das Hölder-Buch sandte. Vgl. Jünger an Klages (02. 12. 1962), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Leistikow bestätigt diese Aussage Jüngers. Mit der Übersendung von Hölders Geologie und Paläontologie in Texten und ihrer Geschichte an Jünger verbindet Leistikow viel Lob für den Autor: „Eine gedrängtere und zugleich vollständigere Übersicht über den Komplex dürfte es kaum geben.“ Leistikow an Jünger (31. 10. 1962), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. 416 Hölder, Geologie und Paläontologie in Texten, S. XIII.

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vorliegt.“417 Der Granit entstand nach Goethe als „älteste[s] Gestein“ – neptunisch  – durch Auskristallisierung aus dem Urmeer in einem unvorstellbar langen Prozess: „Damit aber ist Morphologie und Metamorphose im geologischen Bereich für Goethe von Anfang an auch mit der Vorstellung einer Wandlung in der Zeit verknüpft.“418 Neuplatonische Spekulationen als Konkretisierungen einer entzeitlichten Wirkungskraft sind hier also unangebracht. Jünger muss sich zu Beginn seiner Auseinandersetzung mit dem ­Gestein-Projekt des kategorialen Unterschiedes von Urphänomen (Urpflanze) und Urgebirge noch nicht recht bewusst gewesen sein. Von Leistikow will er jedenfalls wissen: „Gibt es in der ungeheuren Fülle geologischer Werke eines, dessen Autor vom Stein so wie Goethe von der Urpflanze spricht?“419 Die Suche nach einem argumentativen Verbindungsglied zwischen botanischer und geologischer Theorie dürfte ergebnislos verlaufen sein. Dem Gebiet der Steine ist ideal-morphologisch nicht beizukommen. Wie hat sich nun Jünger seinen Weg zum ‚geologischen‘ Goethe gebahnt, ohne den neptunischen Granit in die – entwicklungsgeschichtlich resistente – Phänomenologie der Gestalt-Idee überführen zu können? Einen ersten Anhaltspunkt liefert ein Blick in die von Jünger genutzte Ausgabe von Goethes Schriften zur Geologie und Mineralogie – es ist eben jene, die Hölder zu verantworten hat. Jünger unterstreicht einen Passus aus Goethes Höherer Chemismus des Elementaren (1826) – „Wenn man von Uranfängen sprich […]“ – und notiert dazu im hinteren Vorsatz: „[…] Uranfänge (sehr gut)“420. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass Jünger im Umfeld seiner Ausarbeitung des Steine-Essays diese Anmerkungen vornimmt. Jedenfalls taucht das GoetheWort in dem Aufsatz wieder auf: „‚Wenn man von Uranfängen spricht, so sollte man uranfänglich reden, das heißt dichterisch; denn was unserer alltäglichen Sprache anheimfällt: Erfahrung, Verstand, Urteil, alles reicht nicht hin. Als ich mich in diese wüsten Felsklüfte vertiefte, war es das erste Mal, daß ich die Poeten beneidete.‘“421 Das Uranfängliche markiert das Unverfügbare: In 417 Hölder, Nachwort zur Geologie und Mineralogie, S. 1034. 418 Ebd. 419 Jünger an Leistikow (27.  10. 1963), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Wohl im Zusammenhang des Steine-Projektes fotokopiert Leistikow für Jünger folgenden Aufsatz: Matt Savage Walton: The Emplacement of ‚Granite‘, in: American Journal of Science 253/1 (1955), S. 1–18, DLA Marbach, Bestand „H:Jünger, Ernst“, Miszellen-Sammlung, Kasten 17, Mappe 21. 420 Johann Wolfgang Goethe: Schriften zur Geologie und Mineralogie/Schriften zur Meteorologie, Stuttgarter Ausgabe, Gesamtausgabe der Werke u. Schriften in 22 Bdn., 2. Abt., Schriften, 20. Bd., mit Nachworten u. Registern hrsg. v. Helmut Hölder u. Eugen Wolf, Stuttgart 1960b (DLA-Sign.: WJB12.04/19), S. 390 u. hinterer Vorsatz. 421 Ernst Jünger: Steine, in: Albert Renger-Patzsch: Gestein. Photographien typischer Beispiele von Gesteinen aus europäischen Ländern, mit einer Einführung und Bildtexten von Max Richter und einem Essay von Ernst Jünger, Ingelheim/Rhein 1966a, S. 21–34, hier: S. 29; Goethe, Schriften zur Geologie und Mineralogie, S. 390.



1.6  „Uranfänge (sehr gut)“

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den Sprachbildern der Dichter ist es gegenwärtig, dem Zugriff des empirisch oder rational abgesicherten Wissens („Erfahrung, Verstand, Urteil“) jedoch entzogen. Nach Jünger spricht Goethe hier jenen an, „dem Unaussprechliches und Unerreichbares gelingt. Doch wie der Stein sein letztes Geheimnis nicht preisgibt, so muß auch das Wort an ihm versagen: es dringt nicht in das Innere der Natur.“422 Im Gegensatz zur Gestaltschau, die in der idealistischen Überformung des Sehens auf die Erfahrung nicht verzichten will, ist die der dichterischen Rede zugewiesene Uranfänglichkeit von jeglicher Empirie gereinigt. „Der Dichter schöpft noch aus dem Unaufgeteilten […]“423, heißt es mit besonderem Blick auf Herder und Hamann in An der Zeitmauer (1959).424 Entscheidend ist: Die „Uranfänge“, von denen der Dichter berichtet, stehen außerhalb einer Bestimmung des „Ur“, die auf das positive Wissen eines zeitlich, erdgeschichtlich Frühen und Konkreten rekurriert. In diesem Sinne will Jünger auch Goethes Mutmaßung, „das Elementare“ müsse man sich „energischer Denken, den Chemismus höher, die Anziehung der Erde stärker“425, nicht auf „Kraft und Stoff“ beschränkt wissen: „es gehört eher zur Dichtung als zur Geologie, eher zum Sein als zur Geschichte und führt zu einer immer gültigen Harmonie hinauf.“426 Goethes Auskunft, bei der Konstitution fester Körper im Urmeer habe nicht nur „Niederschlag“, sondern „Seitenschlag“427 geherrscht, deutet Jünger als metaphysisches Surplus, das er mit eigenen Beobachtungen bei Granitabbauarbeiten am sardischen Capo Carbonaro verbindet.428 Argumentatives Ziel Jüngers ist es, die Ergebnisse von Goethes „berühmte[r] Schrift von 1784 [,] Über den Granit“429 sowie von Höherer Chemismus des Elementaren am vorfindlichen Gestein abzugleichen. Im Ergebnis wird damit zwar die mythische Dimension dichterischer Rede dem geologischen Diskurs gegenübergestellt; letztendlich ist es jedoch Jünger selbst, dessen Einsicht in die Beschaffenheit des geologischen Materials Goethe recht gibt. Die kosmische Harmonie, die Jünger in Goethes ‚höherem Chemismus‘ bei der Bildung des Granits am Werke sieht, lässt sich nicht nur durch die 422 Jünger, Steine, S. 30. 423 SW 8, S. 506. 424 Vgl. ausführlich dazu Kap. 7.3. 425 Jünger, Steine, S. 31; Goethe, Schriften zur Geologie und Mineralogie, S. 390. 426 Jünger, Steine, S. 31. 427 Goethe, Schriften zur Geologie und Mineralogie, S. 390. 428 „Ich hörte […] von Ihnen [den Arbeitern, N.K.], daß sich die guten Sorten [des Granits, N.K] nach drei Richtungen spalten lassen […]. Das würde Goethe wohl mit besonderem Behagen gehört haben, wie jede Nachricht, die ihm das Gesetz selbst im Amorphen bestätigt. Diese Neigung verbirgt sich auch hinter seiner Meinung, daß im Urmeer nicht nur Schwerkraft, sondern mit ihr noch eine andere gewirkt habe, die er den ‚Seitenschlag‘ nennt. Das zielt auf den Granit.“ Jünger, Steine, S. 31. 429 Ebd.

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1  Jüngers Ur zwischen Empirie und Idealismus

Dichtung bezeichnen; die Natur selbst weist in ihren Fossilien gleichfalls darauf hin – sie hält die konkreten Spuren des Uranfänglichen fest. Jünger notiert sich in seiner Ausgabe von Goethes Schriften zur Geologie und Mineralogie eine Passage, in der dieser Ammonshörner in Altdorfer Marmor erwähnt.430 In Steine beschließt das Goethe-Wort nun Jüngers Deutung, in der symmetrischen Gestalt der Versteinerung zeige sich die kosmische Geometrie. Wir haben diesen Aspekt bereits im Rahmen von Jüngers Sammlertätigkeit diskutiert und brauchen deshalb an dieser Stelle nicht mehr ausführlich darauf eingehen.431 Aufmerksam machen möchte ich lediglich auf zweierlei: zum einen auf eine Fotografie von Renger-Patzsch, die „Ammoniten im Jurakalk“ (s. Abb. 45) zeigt und Jünger zu der Goethe-Referenz inspiriert haben könnte; zum anderen auf das Entsprechungsverhältnis, in das Jünger die epistemische Dimension der Ammonshörner zur repräsentativen setzt, die den Fossilien bei Goethe zukommt: Der herausgehobenen Stellung, die die Fossilienplatte nach Goethe im fürstlichen Interieur einst einnahm, korrespondiert ein spezifisch kosmischer Erkenntniswert, der die sichtbaren Symmetrieverhältnisse auf eine unsichtbare Prägekraft verweist.432 Jünger ist in seinem Steine-Essay sichtlich bemüht, an Goethe anzuknüpfen. Seine Hauptthese muss er allerdings allein stützen. Im Gegensatz zum Neptunisten Goethe ist Jünger nämlich überzeugter Vulkanist. Als Ausgangspunkt für seine Überlegungen wählt er den Besuch eines Dorfes im hessischen Edertal um 1910, das seiner Flutung entgegensieht. Nach der Fertigstellung der Talsperre wird es bald von der Landkarte verschwunden sein; lediglich eine topographische Leerstelle bleibt zurück. Freilich geht es Jünger nicht um Ortsgeschichtliches: „Hier kündete ein frühes Symptom nahe und große Veränderungen an.“ Es sind die Verheerungen des Ersten Weltkrieges als Zeichen einer zerstörerischen Moderne, die Jünger in der 430 Vgl. Goethe, Schriften zur Geologie und Mineralogie (DLA-Sign.: WJB12.04/19), S. 388, Vermerk Jünger hinterer Vorsatz: „388 Alt. Marmor (Ammonsh)“. 431 Vgl. Kap. 1.5. 432 „Wo Erze oder Quarze die Lebensformen ausfüllen, kommt es zu Bildungen, in denen die organische Harmonie durch die des Minerals nicht nur erhalten, sondern auch betont, gesteigert wird. Aus diesen Formen, etwa der Korallen oder Fünfstrahler, spricht noch das Regelmaß der frühen Aufteilungen. Werden sie kristallisiert, so erhöht sich die geometrische Strenge; das Auge ahnt die über Tod und Leben erhabenen Gesetze der Zahlenwelt. Darin liegt auch der eigentliche Reiz der Schneckenhäuser und Muschelschalen: sichtbare Ordnung strahlt aus dem Verborgenen […]. In wohlerhaltenen Petrefakten sehen wir den Sarkophag und mit ihm das Wesen, das in ihm eingeschlossen ist. Da ist der Stoff zugleich das Kunstwerk, wie etwa die Gewänder in einem gestickten Gobelin, und wie dieser gehören auch solche Mineralien zur prunkvollen Ausstattung, so besaß Goethe eine Tafel aus Altdorfer Marmor, deren grauen Grund Ammonshorn an Ammonshorn ausfüllte. Er schloß aus ihrer Bearbeitung, daß sie einst fürstliche Gemächer geziert habe, denn, wie er hinzufügt: ‚sie verdiente diese Ehre wohl‘.“ Jünger, Steine, S. 26  f.



1.6  „Uranfänge (sehr gut)“

Abb. 45: „Ammoniten im Jurakalk“ bei Albert Renger-Patzsch

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1  Jüngers Ur zwischen Empirie und Idealismus

Flutung vorweggenommen sieht. „Die große Flut gehört neben dem großen Feuer zu den vollziehenden Mächten der Wenden und Endzeiten. Hier spürten wir ein erstes Anheben. Bald sollte sie in ihrem weiten, stets wachsenden Zusammenhang sichtbar werden: als geologische Veränderung.“433 In erdgeschichtlicher Terminologie galt die „große Flut“ als Diluvium. Die große Überschwemmung markierte eine epochale Zäsur, deren erdgeschichtliche Codierung zwar von der biblischen Sintflut ihren Ausgang nahm, doch bereits im Laufe des 19. Jahrhunderts das geologische Zeitalter des Pleistozäns markierte.434 Jünger schließt an diese – zwischen mythischer und geologischer Rede changierende – begriffsgeschichtliche Tradition an, wendet sie jedoch ins Prognostisch-Diagnostische, wenn er aktuellen ‚technischen‘ Ereignissen (Staudammbau, Materialschlachten) erdgeschichtliche Signifikanz zuschreiben will, indem er sie in der  – nun entschiedenen  – Auseinandersetzung zwischen Neptunisten und Vulkanisten spiegelt: „Wenn wir nunmehr den Gang durch die Gesteinswelt abschließen“, beendet er seinen Essay, „und auf den klassischen Streit der Geologen zurückblicken, so will es scheinen, daß alle Voraussetzungen zu einem extremen Plutonismus, ja Vulkanismus gegeben sind. Das gehört zum uranischen Zeitalter. Der Kiesel, den wir am Strand aufheben, hat die Kontur verloren; wir halten ein dichtes Bündel, eine Hortung von Energien in der Hand. Mit dieser Sicht, die wir übrigens nicht unseren Apparaten verdanken, treten wir in eine andere Größenordnung ein. Im neuen Weltbau müssen auch die Elemente neu konzipiert werden. Wo heute Stein ist, kann morgen Wasser oder Feuer sein. Im Gestein selbst flutet unendliche Kraft. Das hat man seit jeher gewußt – auch schon als Moses in der Wüste das Wasser aus dem Felsen schlug. Doch überrascht bei jeder großen Wende von neuem der Einblick in die Tiefe des Universums, die kein Gedanke auslotet.435

Veränderungen der Elemente Wasser, Erde, Feuer und Luft sind für Jünger ein Indikator erdgeschichtlicher Zäsuren. Während die geologische Fundierung der Zeitalter erst rückblickend, und zwar sehr, sehr weit zurückblickend ‚große Wenden‘ ausmacht, gibt Jünger vor, diese gleichsam in actu beobachten zu können, und was er herausschält, ist die Postmoderne, oder besser gesagt: Das posthistoire als naturgeschichtlich induziertes Fatum. Man findet Spuren dieses epochalen Übertritts bereits in Über die Linie (1950), in geologisch-paläontologischer Diktion ausformuliert dann vor allem in An 433 Ebd., S. 21, vorhergehendes Zitat gleichfalls. 434 Vgl. grundlegend zur diskursiven Verbindung von biblischer und geologischer Flut im frühen 19. Jahrhundert Rudwick, Worlds before Adam, S. 73–87; Ders., Earth’s Deep History, S. 120–127. 435 Jünger, Steine, S. 34.



1.6  „Uranfänge (sehr gut)“

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der Zeitmauer (1959).436 Es ist sicherlich kein Zufall, dass Jüngers Beitrag zur Festschrift anlässlich von Heideggers 70. Geburtstag eine Auskoppelung aus dem Zeitmauer-Text ist, der die anstehende Überquerung der ‚Linie‘ als erdgeschichtliche Realität imaginiert.437 Man muss den Debattenkontext berücksichtigen, um die Sprengkraft von Jüngers erdgeschichtlicher Argumentation richtig einschätzen zu können. Mit Vom Ende des geschichtlichen Zeitalters knüpft Jünger an seinen neun Jahre zuvor – gleichfalls in einer Heidegger-Festschrift (60. Geburtstag) – erschienenen Text Über die Linie an.438 Dort diagnostizierte er ein Überschreiten der ‚Linie‘ des Nihilismus, was dessen Überwindung in Aussicht stellte. Dass Heidegger seinerseits in einem Beitrag zu Jüngers 60. Geburtstag kritisiert, der Dichter imaginiere eine Situation trans lineam, während es doch darum gehen müsse, de linea zu philosophieren,439 hält Jünger vier Jahre später nicht davon ab, tatsächlich über die Line – ins Erdgeschichtliche! – zu schreiten, gleichsam die Zeitmauer zu passieren – und damit einer neuen, durch das Passieren der „Linie“ gewährleisteten, nun chthonischen „Zuwendung des Seins“ das Wort zu reden. „[U]nd damit beginnt zu schimmern, was wirklich ist.“440: Von Jahr zu Jahr wird beklemmender, mächtiger spürbar, daß Dinge im Werden sind, die im Geschichtlichen nicht unterzubringen sind. Das zeugt für mehr, für anderes als den Anbruch einer neuen Geschichtsepoche, eines historisch vergleichbaren Abschnittes. Es zeugt dafür, daß wir uns am Abschluß eines Zyklus befinden, der die Geschichte übergreift, und daß bereits ein neuer Zeitgroßraum auf die Menschen einwirkt.441

Der Steine-Text zeigt nun konkret, wohin der Weg Jüngers trans lineam führt: Hin zu einer Konkretisierung der ‚Linie‘ als neues Diluvium, als Sintflut, die einen geschichtlichen (‚Moderne‘) von einem nach- und naturgeschichtlichen Raum (‚Postmoderne‘) trennt.442 Aus dieser Perspektive ist der moderne Ni436 Vgl. dazu Kap. 7.4. 437 Ernst Jünger: Vom Ende des geschichtlichen Zeitalters, in: Günther Neske (Hrsg.): Martin Heidegger zum siebzigsten Geburtstag. Festschrift, Pfullingen 1959, S. 309–341. 438 Ernst Jünger: Über die Linie, in: Anteile. Martin Heidegger zum 60.  Geburtstag, Frankfurt/M. 1950, S. 245–284. 439 Martin Heidegger: Über ‚Die Linie‘, in: Armin Mohler (Hrsg.): Freundschaftliche Begegnungen. Festschrift für Ernst Jünger zum 60. Geburtstag, Frankfurt/M. 1955, S. 9–45. 440 Jünger, Über die Linie, S. 271  f. 441 Jünger, Vom Ende des geschichtlichen Zeitalters, S. 311. 442 Dass Jüngers sich in den 1950er- und 1960er-Jahren erdgeschichtlich konkretisierende ‚Linien‘-Konzeption freilich keine angemessene Antwort auf Heideggers Seinsdenken und dessen Aufforderung, de linea nachzudenken, ist, sei an dieser Stelle nur am Rande vermerkt. Vgl. zu den argumentationslogischen Positionen Jüngers und Heideggers: Günter Figal: Der metaphysische Charakter der Moderne. Ernst Jüngers Schrift Über die Linie (1950) und Martin Heideggers Kritik Über ‚Die Linie‘ (1955), in: Hans-Harald Müller/Harro Segeberg (Hrsg.): Ernst Jünger im 20. Jahrhundert, München 1995, S. 191–197.

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1  Jüngers Ur zwischen Empirie und Idealismus

hilismus ein Produkt des unfruchtbar gewordenen geschichtlichen Denkens, das durch die neue erdgeschichtliche Sinnstiftung – die Annahme eines neuen ungeschichtlichen „Zeitgroßraum[es]“ – überwunden werden könne.443 Was Jünger und Heidegger trotz aller konzeptionellen Unterschiede verbindet, ist ein anti-humanistischer, anti-anthropozentrischer Grundimpuls,444 der geologisch-tellurische Beobachtungen ins Kosmische zu transzendieren sucht. In Zur Offenbarung Johannis (1961/63) verbindet Jünger geologische Revolution und apokalyptischen Bericht im Topos vulkanischer Aktivitäten, die gleichfalls als Zeichen für einen neuen Erdabschnitt einstehen sollen. Ein „kosmische[r] Frühling“ ist hier die Chiffre für die ersehnte Seinszuwendung.445 Versteinerten Zeugnissen vormaligen Lebens kommt im Rahmen des aktualisierten Sintflutkonzeptes insofern eine wichtige Rolle zu, als sie für jene großraumperiodisch akzentuierten Veränderungsdimensionen einstehen, die Jünger auch für gegenwärtige Wandlungsprozesse geltend machen möchte. So gesehen gewinnt seine Prognose den Charakter einer allumfassenden Zäsur weniger durch die selbstgewählten, biographisch abgesicherten Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit oder die Konkretisierung der ‚Linien‘-Idee aus den 1950er-Jahren, als vielmehr durch ihre diskursive Verankerung im 443 Vergleichbar ist Jüngers erdgeschichtliche Überwindung des Nihilismus derjenigen, die Karl Löwith bei Nietzsche ausmacht: „Nietzsches eigentlicher Gedanke ist ein Gedanken-System, an desen Anfang der Tod Gottes, in dessen Mitte der aus ihm hervorgegangene Nihilismus und an dessen Ende die Selbstüberwindung des Nihilismus zur ewigen Wiederkehr steht.“ Karl Löwith: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts, Text nach der 2. Aufl. [1950], Hamburg 1995 [1941], S. 211. Jünger und Nietzsche kommen darin überein, Veränderungen des Zeitdenkens als Antwort auf den diagnostizierten Daseinsverlust zu konzipieren. Während jedoch bei Nietzsche die ‚ewige Widerkehr‘ auf die nihilistischen Zumutungen folgt, ist es bei Jünger einer neuer, naturgeschichtlich bestimmter ‚Zeitgroßraum‘. Die Betonung des zyklischen Charakters zeitlicher Abläufe übernimmt Jünger von Nietzsche, konkretisiert diese allerdings geologisch. Vgl. zu Jüngers Nietzsche-Bezug um 1950 Reinhard Wilczek: Nihilistische Lektüre des Zeitalters. Ernst Jüngers NietzscheRezeption, Trier 1999, S. 151–179. Vgl. auch Joana van de Löcht: Zwischen „Altem“ und „Neuem Testament“: Ernst Jüngers Nietzsche-Rezeption nach dem Ende der Konservativen Revolution, in: Sebastian Kaufmann/Andreas Urs Sommer (Hrsg.): Nietzsche und die Konservative Revolution, Berlin u. New York 2018, S. 455–472. 444 Vgl. zur Entwicklung von Heideggers Humanismusskepsis von den 1920er bis in die 1950erJahre Michael Großheim: Heidegger und der Humanismus, in: Matthias Löwe/Gregor Streim (Hrsg.): ‚Humanismus‘ in der Krise. Debatten und Diskurse zwischen Weimarer Republik und geteiltem Deutschland, Berlin u. New York 2017, S. 97–116. 445 „Mehr noch als von tätigen ist die Erde von erloschenen Kratern bedeckt. Bei ihrem Anblick erhebt sich die Frage, wie eine neue Phase des zentralen Feuers sich ankündet. Es könnte sein, daß die noch tätigen Vulkane die Aktion steigern und daß auch Augen zu glühen beginnen, die längst erloschen sind. […] Es könnte weiter sein, daß Feuer sichtbar werden an Stellen, an denen man es nicht vermutete. Die Kruste wird brüchiger. Es könnte aber auch die Erde als Ganzes sich erwärmen, zunächst unmerkbar, dann mit sichtbaren Zeichen in der belebten und der unbelebten Welt. Ein sanftes Glühen, ein Leuchten von Nebelhüllen kündet einen neuen kosmischen Frühling an. Die Weltesche grünt.“ SW 13, S. 36.



1.6  „Uranfänge (sehr gut)“

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geologischen Argumentationshorizont. Im unmittelbaren Anknüpfen an die geologische Zeitskala und durch die Übernahme der paläohistoriographisch nachweisbaren Rede von der ‚großen Flut‘ als ‚großer Wende‘ können die ausstehenden Veränderungen in einer Dimension imaginiert werden, die größer nicht sein könnte. Die apokalyptische Überformung des geologisch konturierten Vulkanismus kommt hinzu. Hölder sieht in dem Aufsatz Jüngers eine Ergänzung zu dem gut lesbaren, aber recht nüchternen einleitenden Text des Berliner Geologen und Paläontologen Max Richter (1900–1983). Besonders das erdgeschichtlich codierte Spiel des Dichters mit den Elementen findet Hölders Interesse, bürgt es doch für jene „physisch-metaphysische Spannung“446, die er bereits in Goethes Schriften zur Geologie und Mineralogie ausmachte und die er nun durch Jünger erneuert sieht. Die Tiefe gehört zwar mit zum Reich der Geologen, die Vertiefung nicht immer – und so sie wissenschaftlich erfolgt, ist das Ergebnis der Erkenntnis zuletzt die Projektion an die Oberfläche des eindeutigen Wissens. In dem von Ihnen geschriebenen Nachwort findet diese Oberfläche ihre Ergänzung durch eine Vertiefung, deren Schau sich nicht nach außen projizieren läßt. Dort genügt „die Überzeugung, daß an ihrer [der Gesteinswelt] Bildung alle vier Elemente … tätig waren und immer noch tätig sind“, das ist weniger als die Eindeutigkeit, aber auch mehr […]. 447

Das Wissen der Geologen ordnet Hölder der Oberfläche zu; Jüngers erdgeschichtliche Fokussierung der Elemente stelle demgegenüber auf eine ‚Vertiefung‘ ab, die auf „Eindeutigkeit“ verzichten müsse. Die OberflächeTiefe-Dichotomie ist in zwei unterschiedlichen Aussageweisen geologischer Erkenntnis fundiert: wissenschaftlicher und dichterisch-naturphilosophischer Rede. Von einer Überschreitung der Grenzen empirischer Methodik – wie sie Hölder noch in den 1940er-Jahren vertrat – ist nun nichts mehr zu lesen. Das, was der Geologe von der Entstehung der Erdkruste und ihrem Wandel zu berichten weiß, zielt nicht auf Grenzfragen naturwissenschaftlicher Forschung; und das, was Jünger an ‚Elementarem‘ zu bieten hat, ist kein wissenschaftliches Format. Zwischen beiden Aussageweisen gibt es demnach keine Übergänge. Die „Vertiefung“, die der Geologe leisten kann, muss an die „Oberfläche des eindeutigen Wissens“ anschlussfähig bleiben: Von „Uranfängen“ darf er nicht „uranfänglich reden, d.  h. dichterisch“448. Dem naturphilosophierenden Dichter steht diese Möglichkeit zwar offen, doch wird dieser seine Erkenntnisse nie auf die Oberfläche eindeutigen Wissens 446 Hölder, Geologie und Paläontologie in Texten, S. XIII. 447 Hölder an Jünger (02. 09. 1966), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Hölder zitiert hier Jünger, Steine, S. 32. 448 Goethe, Schriften zur Geologie und Mineralogie, S. 390.

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Abb. 46: Pachydiscus indet. (Ammonidea), Oberkreide

projizieren können. Der mythologische Kern der Vier-Elemente-Lehre, den Jünger den diagnostizierten bisherigen und prognostizierten, teilweise bereits gegenwärtigen Erdveränderungen zugrunde legt, lässt sich nicht in positives Wissen formatieren. Nicht nur Hölders Urteil über Gestein ist positiv, auch viele Leser schätzen den voluminösen Prachtband und revanchieren sich mit Geschenken, die  – im wahrsten Sinne des Wortes  – auf die Thematik der Publikation Bezug nehmen. „[A]ngenehme Folgen des ‚Stein-Buches‘“, so Jünger an Klages, sind Übersendungen verschiedener Fossilien von begeisterten Lesern, „[…] so ein schwerer Bursche aus ihrer Nähe: Ammonites Pachydiscus Zitt., Fundort Misburg. […] Zierlich dagegen, ein Kleinod, war Rhaeboceras Halli Meek, vom Big Horn River, Montana, U.S.A.“449. Der „schwere[.  .] Bursche“ befindet sich heute noch in der ‚alten Oberförsterei‘ in Wilflingen (s. Abb. 46).

449 Jünger an Klages (17. 04. 1967), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Vgl. SW 4, S. 379.



1.7  Vorgeschichte – Urgeschichte

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1.7  Vorgeschichte – Urgeschichte. Von der primitivistischen zur existenzphilosophischen Imagination des Frühmenschen Verlassen wir nun das geologisch-paläontologische Feld in der Erweiterung der Diskurskartographie um die Dimension der Vor- bzw. Urgeschichte. Dabei handelt es sich um jenen Bereich menschlicher Geschichte, aus dem noch keine schriftlichen Zeugnisse überliefert sind. Für Jünger sind zwei Konzepte urgeschichtlichen Denkens maßgeblich, die wir im Folgenden etwas genauer bestimmen wollen: die primitivistische und die existenzphilosophische Imagination des Frühmenschen. Während der Primitivismus die Kriegsschriften der frühen 1920er-Jahre – vor allen Dingen Der Kampf als inneres Erlebnis – prägt, zeichnet sich ab den späten 1930er-Jahren, besonders dann in An der Zeitmauer, aber auch in Jüngers spätem Besuch der Höhle von Lascaux (1990), ein Zugriff auf das urgeschichtliche Argumentationsreservoir ab, der vor allen Dingen an der Bestimmung einer zeitlosen conditio humana interessiert ist. In Gärten und Straßen (1942) heißt es in existenzphilosophischer Hinsicht programmatisch: „Das ist der Sinn der Urgeschichte überhaupt: das Leben in seiner zeitlosen Bedeutung darzustellen, während es durch die Geschichte im zeitlichen Ablauf geschildert wird. Urgeschichte ist daher immer die Geschichte, die uns am nächsten liegt, Geschichte des Menschen an sich.“450 Wie wir sehen werden, balanciert eine solche Auffassung der Urgeschichte zwischen der Betonung eines Frühen, Ersten, das sich durch (Grabungs-)Funde und deren Auslegung empirisch einholen lässt, und der platonischen Entzeitlichung eines eigentlich Menschlichen in der Dichtung.451 In letzterer Akzentuierung ist das Gespräch mit der auf Grundlage empirisch nachweisbarer Zeugnisse argumentierenden disziplinären Vorgeschichtshistoriographie gekappt – und der Übergang zur mythologischen Rede erkennbar: „Das Mythische“, heißt es demgemäß bei Jünger in Sprache und Körperbau (1947), „ist Vorzeit nur in dem Sinne, dass Vor-Zeit uns zu jeder Stunde durchdringt, umwebt.“452 Dem Zuschnitt dieser Arbeit gemäß, wollen wir uns diesem Übergang nicht vom Mythos her kommend nähern. Das Hauptaugenmerk soll demgegenüber auf jenen Elementen der Vorgeschichte liegen, die sich im Gespräch mit der Historiographiegeschichte erhellen lassen. Die prähistorische Archäologie  – zunächst ohne semantische Differenzen auch Prähistorie, Vorgeschichte oder Urgeschichte genannt – eman450 SW 2, S. 94. 451 Vgl. dazu Kap. 7.3. 452 Ernst Jünger: Sprache und Körperbau. Ein Versuch, Zürich 1947, S. 62. Dieser Passus ist in späteren Fassungen gestrichen.

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zipiert sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts in zweierlei Hinsicht. Zum einen grenzt sie sich von mythologischen ‚Erzählungen vom Anfang‘ ab und sucht Anschluss an das sich konstituierende geschichtliche Bewusstsein.453 Damit unterscheidet sie sich zum anderen auch zusehends von einer allgemeinen Urweltforschung, nämlich insofern, als die prähistorische Archäologie für sich in Anspruch nimmt, lediglich solchen Zeugnissen Aufmerksamkeit zu schenken, die in einer mutmaßlichen Beziehung zum Menschen stehen. Auch wenn sie der Sache nach von den stratigraphischen Ordnungsmustern der urweltlich interessierten Geologie lernt, so ist doch der Zeitbereich, für den sie sich interessiert, weitaus kleiner. Damit verbunden ist eine weitere Veränderung: Im Mittelpunkt stehen nicht mehr naturgeschichtliche Relikte, sondern kulturgeschichtliche Artefakte, ‚Altertümer‘ genannt. Kulturgeschichtlich orientiert ist etwa die noch heute gängige Einteilung der Vorgeschichte in Stein-, Bronze- und Eisenzeit. Sie stammt aus den 1830erJahren und ist mit dem Namen Christian Jürgensen Thomsen (1788–1865) verbunden.454 Durch vermehrte Einsichten in die biologische Entwicklungsgeschichte des Menschen ab den 1860er-Jahren ließ sich allerdings die Tür zwischen den Räumen einer kulturgeschichtlich orientierten Altertumskunde und einer naturwissenschaftlich interessierten Paläoanthropologie nie richtig schließen. Mit Blick auf die deutschen Verhältnisse gilt: Die Verengung der Kulturgeschichte auf einen germanischen Nationalismus und der Anthropologie auf eine rassistische Ideologie beginnt im 19. Jahrhundert und führt zwischen 1933 und 1945 zu katastrophalen Folgen.455 Jünger porträtiert in den Marmorklippen die nationalsozialistische Vorgeschichtskonzeption. Wir werden darauf zu sprechen kommen.456 Schaut man zunächst näher auf den für Der Kampf als inneres Erlebnis wichtigen vorgeschichtlichen Primitivismus, so zeigt sich dieser als Variante eines aggressiven, sozialdarwinistisch inspirierten Verdrängungswett453 „Im Gegensatz zu Ursprungsmythen und anderen vorwissenschaftlichen Formen sinnstiftender, kollektiver Selbstvergewisserung ist sie [die prähistorische Archäologie, N.K.] ein Spross der zwar in der Antike wurzelnden, jedoch erst in der Neuzeit dominant werdenden säkularisierten, rationalen Weltsicht und Welterklärung. Die Archäologie ist eine Frucht am Baume der Wissenschaft und gehört damit in einen geistesgeschichtlichen Zusammenhang, in dem historische Zeugnisse zunehmend als ein zu schützendes und zu erforschendes Gut begriffen wurden.“ Manfred K.H. Eggert: Prähistorische Archäologie: Konzepte und Methoden. Mit Beiträgen von Nils Müller-Scheeßel u. Stefanie Samida, 4., überarb. Aufl., Tübingen u. Basel 2012, S. 10. 454 Vgl. Ebd., 31–33; vgl. auch Herbert Kühn: Geschichte der Vorgeschichtsforschung, Berlin u. New York 1976, S. 31–33. 455 Vgl. Ingo Wiwjorra: Die deutsche Vorgeschichtsforschung und ihr Verhältnis zu Nationalismus und Rassismus, in: Uwe Puschner/Walter Schmitz/Justus H. Ulbricht (Hrsg.): Handbuch zur Völkischen Bewegung 1871–1918, München 1999, S. 186–207. 456 Vgl. dazu Kap. 4.2.3 u. 4.2.4.



1.7  Vorgeschichte – Urgeschichte

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bewerbes unterschiedlicher Hominiden, aus dem der anatomisch moderne Mensch – der Homo sapiens – erfolgreich hervorging.457 Der Plot dieser Vorgeschichtserzählung lässt sich etwa folgendermaßen wiedergeben: „Die Aurignacleute stießen auf die Neanderthaler, es fanden harte Kämpfe statt, bei denen Menschenfresserei vorkam, schließlich vermischten sich beide Rassen und die dritte Rasse entstand, die Rasse der Cro-Magnon.“458 Nach der anatomisch-physischen Konsolidierung des Menschen ist dessen Aggressionspotenzial keineswegs abgesenkt, im Gegenteil. Menschheitsgeschichte als Fortschrittsgeschichte zu konzipieren, bedeutet auch, den paradiesischen Urzustand zu verabschieden und stattdessen von einem ‚barbarischen‘ Anfang auszugehen, von dem sich der Prozess der Vervollkommnung umso besser abheben lässt. Das war bereits in den großen englischen Kulturgeschichten um 1870 so, und ändert sich auch nicht in der deutschen Urgeschichtsforschung um 1900. Moritz Hoernes etwa, den der historiographiegeschichtliche Fokus noch um 1950 neben einer ganzen Reihe von anderen Autoren in der Tradition der englischen Kulturgeschichtsschreibung verortet, die vom Topos des aggressiven Urmenschen geprägt ist,459 gibt ein furchteinflößendes Bild von den „ältesten Culturzustände[n] der Menschheit“: „Die Kämpfe der Naturvölker untereinander verfolgen nicht das Ziel der Besiegung des Feindes, sondern der völligen Ausrottung desselben.“460 Bei Hoernes – wie bei vielen anderen auch – gewinnt der Urmensch seine Konturen im Spiegel des ‚Wilden‘ und vice versa. Gewaltbereitschaft, Primitivität und eine ‚limi-

457 Vgl. Bernhard Kleeberg: Die vitale Kraft der Aggression. Evolutionistische Theorien des bösen Affen ‚Mensch‘, in: Ulrich Bröcking u.  a. (Hrsg.): Disziplinen des Lebens. Zwischen Anthropologie, Literatur und Politik, Tübingen 2004, S. 203–222. 458 Herbert Kühn: Die Kunst der Primitiven, München 1923, S. 23. Diese Deutung findet sich bereits bei Karl Weule: Der Krieg in den Tiefen der Menschheit, Stuttgart 1916, S. 9  f. Weule beruft sich seinerseits auf den 1910 in der Zeitschrift für Ethnologie erschienenen Aufsatz von Hermann Klaatsch Die Aurignac-Rasse und ihre Stellung im Stammbaum der Menschheit. 459 Vgl. etwa John Lubbock: Prehistoric Times, as Illustrated by Ancient Remains, and the Manners and Customs of Modern Savages (1865); The Origin of Civilisation and the Primitive Condition of Man. Mental and Social Condition of Savages (1870). In historiographiegeschichtlicher Perspektive weist Ernst Wahle darauf hin, dass diese „Auffassung der Menschheitsgeschichte als eines langsamen Anstieges, eines ständigen Fortschrittes zum besseren hin der ‚natürlichen Schöpfungsgeschichte‘“ entspreche. Dies ist ohne Zweifel eine Anspielung auf den evolutionsbiologischen Fortschritt, den der Darwin-Bekenner Ernst Haeckel in seinem gleichnamigen Buch formuliert. Für Arbeiten vom Schlage von Friedrich von Hellwalds Kulturgeschichte in ihrer natürlichen Entwicklung (1875) sieht Wahle denn auch die „Bezeichnung ‚darwinistische Kulturgeschichte‘“ aufkommen. All diese Arbeiten – von Lubbock bis von Hellwald und darüber hinaus – eint die „Vorstellung von der ‚äußersten Barbarei‘ als dem menschlichen Urzustand“. Ernst Wahle: Geschichte der prähistorischen Forschung, Fribourg 1950, S. 76. 460 Moritz Hoernes: Die Urgeschichte des Menschen nach dem heutigen Stand der Wissenschaft, Wien u.  a. 1892, S. 108.

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nale Anthropologie‘ gehören zusammen.461 Fest steht demnach, wie es bei Karl Weule heißt, daß in Wirklichkeit gewisse Menschheitgruppen (sic!) in der einen oder anderen Beziehung doch noch Züge offenbaren, die sie tatsächlich als kaum über die Grenze des Menschentums getreten erscheinen lassen. Die Kriegführung und alles, was in ihren Gesamtrahmen gehört, wird man zuallererst unter diesen Zügen vermuten dürfen, da in ihr ja die alten vormenschlichen oder – nennen wir sie nur ruhig beim richtigen Namen – tierischen Reflexe und Instinkte am ungebundensten und zügellosesten zum Ausdruck gelangen können.462

Der Krieg in den Tiefen der Menschheit – das verspricht also nicht nur einen Blick auf bellizistische Praktiken in vorgeschichtlicher Zeit; aufgerufen ist damit immer auch ein anthropogenetisches Erbe, von dem man nie so genau weiß, wie ‚tief‘ es eigentlich hinabreicht und worin sein Einfluss besteht. Einigkeit herrscht hingegen darüber, dass ein „unverkennbare[r] Grundzug im Charakter des Primitiven“ in seiner „Grausamkeit“463 auszumachen ist, wie etwa die Zurschaustellung menschlicher Schrumpfköpfe als Kriegstrophäen oder die Verwendung von Menschenknochen zur Herstellung von Musikinstrumenten beweist.464 „Primitives Denken“ bedingt mithin „Gewohnheiten von oft grausamem Charakter, wie Kannibalismus […], Kopfjagd […], Menschenopfer […] u.  dgl.“465. Doch nicht nur in Tötungsangelegenheiten ist dem ‚Primitiven‘ eine gewisse Lust zu eigen; bei „primitive[r] Geistesart“, so Thurnwald, denken viele zudem „an ein relativ ungehemmtes Sichgehenlassen des vegetativen Trieblebens“466. Herbert Kühn spricht angesichts der urzeitlichen Kunst von einem „Hingegebensein an die Natur“ („Unismus“): In der ‚sensorischen‘, d.  h. nachahmenden, die Außenweltobjekte in ihrer momentanen Sichtbarkeit fixierenden Kunst, die die „Kultur des Jäger- und

461 Vgl. zur Systematik grenzwertiger Vorstellungen vom Menschsein: Jochen Achilles/Roland Borgards/Brigitte Burrichter (Hrsg.): Liminale Anthropologien. Zwischenzeiten, Schwellenphänomene, Zwischenräume in Literatur und Philosophie, Würzburg 2012. Bereits zu Beginn der 1920er-Jahre werden Stimmen laut, die eine Identifizierung des ‚Primitiven‘ mit dem Grenzmenschlichen historisieren und damit nicht (mehr) gelten lassen wollen. Bei Richard Thurnwald heißt es etwa mit Blick auf das Etikett ‚primitiv‘: „Früher hat man darunter Wesen verstanden, die an der Schwelle der Menschheit stehend gedacht waren.“ Richard Thurnwald: Psychologie des primitiven Menschen, München 1922, S. 152. 462 Karl Weule: Urzeit, in: Ders.  u.  a.: Kulturgeschichte des Krieges, Leipzig u. Berlin 1916, S. 1–22, hier: S. 3. 463 Weule, Der Krieg in den Tiefen der Menschheit, S. 35. 464 Vgl. ebd., S. 85–98. 465 Richard Thurnwald: Primitives Denken, in: Max Ebert (Hrsg.): Reallexikon der Vorgeschichte, 10. Bd., Berlin 1927/28, S. 294–317, hier: S. 315. 466 Thurnwald, Psychologie des primitiven Menschen, S. 153.



1.7  Vorgeschichte – Urgeschichte

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Sammlerwesens der Urzeit“ charakterisiert, zeige sich denn auch das „Ungehemmte, Zufällige des Lebens“467. Die urzeitliche Kunst ist es aber nun auch, die die Perspektive auf die conditio humana lenkt und damit deutlich macht, in welchem Maße sich der Mensch von seinen Vorfahren unterscheidet. Kunsthaben und Menschsein werden eng aneinander gebunden, und das in einem Zeitraum, in dem die Frage nach dem Wesen des Menschen zu einer der meistgestellten zählt. Es ist bekannt, dass die Krisendiagnostiken der Weimarer Republik unterschiedliche Facetten des maßgeblich durch den Ersten Weltkrieg bedingten Umbruchs artikulieren: in anthropologischer, politischer, soziologischer, aber auch in epistemischer Hinsicht.468 ‚Krise‘ bedeutet hier auch immer: Krise des vernünftigen Denkens, der Vernunft an sich und der von diesem beanspruchten Rationalitätsprämissen sowie einer allumfassenden Bewusstseinsherrschaft. Helmuth Plessners Konzeption einer „exzentrischen Positionalität“ des Menschen gilt als wichtiges Dokument einer lebenswissenschaftlich aufgeschlossenen, vernunftskeptischen, gleichwohl nicht geistfeindlichen Antwort auf die Frage nach dem Menschsein im Zeitalter idealistischer Senilität und eines biologistischen Determinismus.469 Das vorgeschichtliche Interesse an anthropologischen Universalien mag – in diesen Kontext gestellt – auf den ersten Blick unterkomplex wirken. Tatsächlich jedoch ist es die Existenzphilosophie, die die vorgeschichtliche Prägekraft in Anspruch nimmt, um, wie es bei Karl Jaspers (1883–1969) heißt, die „Frage nach der gegenwärtigen Situation des Menschen“ zu stellen. Denn wie immer man die Krisensignale der Zeit deuten mag, eins steht fest: „Was den Menschen zum Menschen machte, liegt vor der überlieferten Geschichte.“470 Und wenn man verstehen möchte, auf welchem Weg der abendländische, durch eine „nirgends Halt machende Rationalität“, „Persönlichkeit“ („Subjektivität des Selbstseins“) und die Tyrannei der „Welt als faktische[r] Wirklichkeit“471 gezeichnete Mensch, zu dem wurde, der er heute ist, reicht ein Blick auf die sechstausendjährige Geschichte nicht aus. In Vom Ursprung und Ziel der Geschichte (1949), der Anlage nach eine fortgesetzte Auseinandersetzung mit der Geistigen Situation der Zeit (1931), räumt Jaspers der Diskussion des vorgeschichtlichen Determinationspotenzials noch mehr Platz ein. Gleich im Vorwort spricht er von der „Tiefe der 467 Herbert: Kühn: Primitive Kunst, in: Ebert (Hrsg.), Reallexikon der Vorgeschichte, 10. Bd., S. 264–292, hier: S. 291. 468 Vgl. Streim, Das Ende des Anthropozentrismus, S. 11–87. 469 Vgl. Joachim Fischer: Exzentrische Positionalität. Plessners Grundkategorie der Philosophischen Anthropologie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 48 (2000), S. 265–288. 470 Karl Jaspers: Die geistige Situation der Zeit, 4., unveränderter Abdruck der 1932 bearbeiteten 5. Auflage, Berlin 1955 [1931], S. 16. 471 Ebd., S. 16  f.

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langen, alles begründenden Vorgeschichte“472. Vorgeschichte  – das ist für Jaspers zunächst einmal: Nicht-Geschichte.473 Gegenüber disziplinären Verortungen der Vorgeschichtsschreibung, die zum einen die potenzielle Anschlussfähigkeit des ‚Davor‘ an die eigentliche Geschichte betonen und zum anderen die naturwissenschaftliche, d.  h. naturgeschichtliche Ausrichtung des Faches ablehnen, hält Jaspers sowohl an der prinzipiellen Andersartigkeit der Vorgeschichte gegenüber der Geschichte als auch an deren spezifisch biologischen Implikationen fest. Eine Sicht auf die Vorgeschichte, die ihr einen Anschluss an die eigentliche Geschichte (und damit an die etablierte Geschichtsschreibung) sichern wollte, machte sich im deutschen Sprachraum ab den 1860er-Jahren für eine Verwendung des Begriffes ‚Urgeschichte‘ und für eine Ablehnung der Termini ‚Vorgeschichte‘ und ‚Prähistorie‘ stark.474 Wer von ‚Urgeschichte‘ sprach, war dabei keineswegs darauf aus, einem anthropologischen Urzustand das Wort zu reden,475 vielmehr ging es um die Geschichtsförmigkeit des vorgeschichtlichen Interesses, ungeachtet – oder vielmehr eingedenk  – der unterschiedlichen Quellenlage (Ausgrabungsergebnisse hier, Schriftzeugnisse dort). Oder anders gesagt: Mit der Rede von der ‚Vorgeschichte‘ „würde man die Geschichte erst mit den schriftlichen Urkunden und dem damit anfangenden Geschichtsbewusstsein beginnen lassen und das Ältere als Vorspiel, als Vorgeschichte betrachten“; wer sich für ‚Urgeschichte‘ entscheidet, würde demgegenüber die „andersartigen Quellen lediglich als Folge einer äußerlichen Ungunst des selbstverständlich viel früher einsetzenden Geschehens“476 betrachten.477 Hatte man sich erst ein472 Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949, S. 5. 473 „Die Vorgeschichte ist wohl objektiv ein Strom von Veränderungen, aber geistig insofern noch keine Geschichte, als Geschichte nur ist, wo auch ein Wissen von Geschichte, wo Überlieferung, Dokumentation, Bewußtsein der Herkunft und des gegenwärtigen Geschehens ist. Es ist ein Vorurteil, daß, wo die Überlieferung fehle, doch die Sache selbst – die Geschichte – gewesen sein könne, oder gar notwendig gewesen sei.“ Ebd., S. 49. 474 Vgl. Karl Hermann Jacob-Friesen: Grundfragen der Urgeschichtsforschung. Stand und Kritik der Forschung über Rassen, Völker und Kulturen in urgeschichtlicher Zeit, Hannover 1928, S. 85–89; vgl. Ders.: Vorgeschichte oder Urgeschichte? Eine grundsätzliche Frage, in: Karl Kersten (Hrsg.): Festschrift für Gustav Schwantes zum 65. Geburtstag, dargebracht v. seinen Schülern u. Freunden, Neumünster 1951, S. 1–3. 475 Diese Meinung vertritt Cornelia Zumbusch. Ihre Entgegensetzung von ‚Urgeschichte‘ und ‚Vorgeschichte‘ überzeugt zwar narratologisch: ‚Urgeschichte‘ als Insistieren auf ein „Originäres“, einen „(ersten) Urzustand des Menschen“; ‚Vorgeschichte‘ hingegen als relationaler Strukturbegriff. An der historiographiegeschichtlich nachweisbaren Begriffsdiskussion geht diese systematische Polarisierung jedoch vorbei. Vgl. Cornelia Zumbusch: Urgeschichte. Erzählungen vom Vergangenen bei Herder, Engels, Freud und Benjamin, in: Döring/Ott (Hrsg.), Urworte, S. 137–153, hier: S. 138  f. (Zitate gleichfalls). 476 Christian Pescheck: Lehrbuch der Urgeschichtsforschung, Weende-Göttingen 1950, S. 13. 477 Über den Geschichtsstatus der Urgeschichtsforschung wird der Sache nach freilich nicht nur über konzeptionelle Vorannahmen entschieden. Selbst wenn man urgeschichtlichen Zeugnissen prinzipiell geschichtliche Signifikanz zuzusprechen bereit ist, so bleibt doch das Pro-



1.7  Vorgeschichte – Urgeschichte

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mal für die geschichtliche Ordnung und damit für den Begriff ‚Urgeschichte‘ entschieden, so war auch klar, dass man in erster Linie als Geistes-, nicht als Naturwissenschaftler auftreten wollte.478 Vor dieser Folie betrachtet, verwundert es nicht, dass Jaspers konsequent von ‚Vorgeschichte‘ spricht, geht es doch darum, den geschichtlichen Raum zu verlassen und evolutionsbiologischen, d.  h. anthropogenetischen Aspekten gegenüber aufgeschlossen zu bleiben.479 Das Ziel besteht in der zwar als utopisch anerkannten, gleichwohl als wünschenswert herausgestellten „Überwindung der Geschichte“: Wir möchten hindurchdringen durch die Geschichte auf einen Punkt vor und über aller Geschichte, auf den Seinsgrund, vor dem die gesamte Geschichte zur Erscheinung wird, die niemals in sich „stimmen“ kann, dorthin, wo wir gleichsam in der Mitwisserschaft mit der Schöpfung nicht mehr ganz und gar an die Geschichte verfallen sind.480

Der ‚Vorgeschichte‘ kommt im Rahmen dieser Überwindungsphantasien eine wichtige Rolle zu, wird sie doch von Jaspers deutlich als jener Bereich markiert, der noch nicht vom Virus des Geschichtsbewusstseins infiziert ist und damit die conditio humana vom Einfluss anthropogenetischer Faktoren her zu bestimmen verspricht.481 Gemäß dieser Auffassung bildet das „vorblem bestehen, dass man nicht genug Zeugnisse findet, die für eine bestimmte ‚Geschichte‘ bürgen könnten. Konkret bedeutet das: „Die Lückenhaftigkeit altsteinzeitlicher Funde macht sie wenig geeignet zu einigermaßen gesicherten Auskünften über geschichtliche Vorgänge.“ Friedrich Behn: Vor- und Frühgeschichte. Grundlagen – Aufbau – Methoden, Wiesbaden 1948, S. 37. 478 „Vorgeschichte ist […] nicht eine Wissenschaft der Naturgeschichte, sondern sie ist ein Teil der historischen Geschichte, sie ist eine Geisteswissenschaft, nicht eine Naturwissenschaft, wenn sie auch in ihren Anfängen in die Naturwissenschaften, in Geologie und Zoologie, ja auch Anatomie und Anthropologie hineinführt.“ Herbert Kühn: Vom Sinn der Vorgeschichte, Mainz 1948, S. 64. 479 Dies blieb auch zeitgenössischen Kommentatoren nicht verborgen. Der Ethnologe Wilhelm Koppers etwa, Autor des Buches Der Urmensch und sein Weltbild (1949), wirft Jaspers vor, „nicht uneingeschränkt auf dem Boden historischen Denkens“ zu operieren: „So ergibt sich eine gewisse Zwitterstellung, die durch nichts anderes als durch Relikte aus evolutionistischer Zeit gekennzeichnet ist. Hierher gehört m.  E. […] die Charakterisierung des noch stark der Natur verhafteten Geschehens in der Vorgeschichte.“ Wilhelm Koppers: Das Bild der Vorgeschichte bei Jaspers, in: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 2 (1951), S. 46–53, hier: S. 52. 480 Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, S. 335. 481 Wilhelm Koppers macht bei Jaspers eine Überbetonung anthropogenetischer Aspekte hinsichtlich einer Bestimmung der conditio humana aus: „Als wahrer und voller Mensch hat ähnlich wie der heutige Primitive auch der Träger vorgeschichtlicher Kulturen, ceteris paribus und respectis respiciendis, eine vollmenschliche Naturbeherrschung geübt, wie kein Tier sie kannte und kennt. Der Unterschied, der da zwischen dem sogenannten Primitiven (Urmenschen) und dem Träger der eigentlichen Geschichte im Sinne Jaspers’ obwaltet, kann immer nur ein gradueller, nicht aber als ein wesentlicher aufgefaßt und erwiesen werden.“ Koppers, Das Bild der Vorgeschichte bei Jaspers, S. 52.

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geschichtliche Werden, dieses Erwachen der Grundartung des Menschen mit seinen elementaren Antrieben und Eigenschaften, mit all dem Unbewußten“ den „Grundstock unseres Werdens“482. Die von der Geschichtsschreibung dokumentierte Höherentwicklung des Menschen sei demgegenüber „wie eine dünne Haut über dem Grunde des Vulkans, der der Mensch ist.“483 Nach der verheerenden Katastrophe des Zweiten Weltkrieges mag diese Deutung etwas für sich gehabt haben; der Sache nach entstammt sie jedoch jener die entfesselte Gewalt des Ersten Weltkriegs deutenden Rhetorik der Regression, wie sie sich etwa in Sigmund Freuds Zeitgemäßes über Krieg und Tod (1915) nachweisen lässt.484 Freud spricht dort davon, dass das „primitive Seelische“ im „vollsten Sinne unvergänglich“485 sei. Unter der Maske der Kultur seien die vitalen Aggressionen zwar ruhiggestellt, könnten jedoch auch in der Moderne auf Entladung drängen. Jaspers übernimmt diese Vorstellung, wenn er die „Geschichte“ als überzuziehende „Haut“ bezeichnet, wohingegen „der Grundstock der Artung des Menschen aus vorgeschichtlicher Zeit unabwerfbar“ sei: „Es mag uns etwas drohen, als ob wir wieder Steinzeitmenschen werden könnten, weil wir es jederzeit noch sind.“486 Nun wären diese Überlegungen nicht besonders originell, wenn Jaspers sie nicht mit einer anderen, ab den 1950er-Jahren dann, bei Arnold Gehlen etwa, recht häufig anzutreffenden Idee kombinieren würde: dem Austritt des Menschen aus der Geschichte ins posthistoire.487 Der neue nachgeschichtliche Primitivismus mag sich moderner – z.  B. atomarer – Zerstörungstechnik bedienen, der Sache nach zeigt er sich gleichwohl als biologische Mitgift aus den Tiefen der Menschheit. In diesem Sinne spricht Jaspers das vorgeschichtliche Werden auch konkret als „etwas biologisch Vererbbares“488 an und stellt es in Opposition zum nur Tradierten der Geschichte. Die Imagination primitivistischer Gewalt ist bei Jaspers Anfangs-, keineswegs Fluchtpunkt des anthropologischen Interesses  – und insofern unterscheidet er sich freilich auch deutlich von der bisher diskutierten Urgeschichtsforschung, die diesen Aspekt für zentral hält  –, im Mittelpunkt 482 Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, S. 49. 483 Ebd., S. 50. 484 Sigmund Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod [1915], in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 10, Werke aus den Jahren 1913–1917, London 1949, S. 324–355. 485 Ebd., S. 337. 486 Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, S. 50. 487 Vgl. Arnold Gehlen: Ende der Geschichte? Zur Lage des Menschen im Posthistoire, in: Oskar Schatz (Hrsg.): Was wird aus dem Menschen? Analysen und Warnungen prominenter Denker, Graz, Wien u. Köln 1974, S. 61–57. Vgl. zu Gehlens Nach-Geschichte als ‚Kristallisation‘ Thomas Jung: Vom Ende der Geschichte. Rekonstruktionen zum Posthistoire in kritischer Absicht, Münster u. New York 1989, S. 95–148; Hans von Fabeck: Jenseits der Geschichte. Zur Dialektik des Posthistoire, München 2007, S. 133–139. 488 Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, S. 50.



1.7  Vorgeschichte – Urgeschichte

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steht der vorgeschichtliche Mensch hingegen insofern, als er Aufschluss über die menschliche ‚Existenz‘ verspricht.489 Wissen über den vorgeschichtlichen Menschen trägt demnach immer auch zur Konturierung der Frage bei – seit Plessners Konzeption der „exzentrischen Positionalität“ verbietet sich jede einfache Beantwortung –: „[W]as ist der Mensch? Was der Mensch sei, darauf können wir keine vollständige Antwort geben. Daß wir nicht wissen, was der Mensch eigentlich ist, auch das gehört zum Wesen unseres Menschseins. Die Vergegenwärtigung des Problems des Werdens des Menschen in Vorgeschichte und Geschichte bedeutet zugleich eine Vergegenwärtigung der Frage nach dem Wesen des Menschseins.490

Während Jaspers auf die Vorgeschichtsforschung zugreift und deren Ergebnisse ‚existenzerhellend‘ engführt, zeigt sich die Vorgeschichtsforschung ihrerseits von dem von Jaspers gesetzten Rahmen inspiriert und sucht angesichts der ‚Krise‘ nach einem epochalen Deutungshorizont, der Orientierung hinsichtlich der Frage verspricht, mit welchem Ziel Vorgeschichte überhaupt erforscht werden sollte. Es überrascht dabei kaum, dass es ausgerechnet jene Forschungsrichtung ist, welche den Dialog mit der zeitgenössischen Philosophie sucht, die intensiv mit vorgeschichtlicher Malerei und Plastik befasst ist, glaubt man doch das unverfälschte, frühe Antlitz des Menschen – die conditio humana kurz nach ihrer Emanzipation von den Schlacken hominider, aber eben noch affenartiger Vorformen – im Spiegel eiszeitlicher Kunstprodukte am authentischen Ort studieren zu können. Einen Namen machte sich auf diesem Gebiet der vor allem aufgrund seiner Expertise in Sachen Höhlenmalerei anerkannte Prähistoriker Herbert Kühn (1895–1980). Bereits in den 1920er-Jahren reüssiert er mit einer ganzen Reihe einschlägiger Publikationen.491 Ab den späten 1940er-Jahren sucht er dann verstärkt den Dialog mit der Philosophie. In Gegenwart und Vorzeit (1948) führt Kühn titelgebend die beiden Aspekte zusammen, die ein Jahr später auch Jaspers kombiniert: Vorgeschichte und Gegenwartsbestimmung des Menschen im Zeichen der Krise 489 Im Gegensatz zu Koppers’ Kritik an der Öffnung von Jaspers’ Vorgeschichtsvorstellung für anthropogenetische Implikationen, gibt es auch Stimmen, die eigens betonen, dass bei dem Philosophen die „‚Vorgeschichte‘ nicht einer biologistischen Erklärung anheimgegeben“ werde; so etwa Oskar Köhler: Das Bild der Menschheitsgeschichte bei Karl Jaspers, in: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 1 (1950), S. 477–486, hier: S. 481. Letztendlich kommt es in dieser Frage auf eine Gewichtung der Aussagen Jaspers’ an. 490 Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, S. 59. 491 Neben der bereits erwähnten Schrift Kühns Die Kunst der Primitiven (1923) und dem gleichfalls bereits herangezogenen, vielbeachteten Eintrag Primitive Kunst im Reallexikon der Vorgeschichte (Bd. 10, 1927/28) sind hier als frühe Publikationen u.  a. weiter zu nennen: Die psychologischen Grundlagen des Stilwandels der modernen Kunst, Halberstadt 1919; Die Malerei der Eiszeit, München 1921; Kunst und Kultur der Vorzeit Europas – Das Paläolithikum, Berlin u. Leipzig 1929; Vorgeschichtliche Kunst Deutschlands, Berlin 1935.

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des Humanismus. Die vielschichtige, ideengeschichtlich weit ausgreifende und analytisch komplex begründete Krisendiagnose Jaspers’ ersetzt Kühn durch den argumentativen Bezug auf den konkreten Kulturbruch totalitärer Regime in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts; insofern erhält diese Krise bei ihm eine andere Dringlichkeit. Der Orientierungspunkt der Frage nach dem Wesen des Menschen wird gleichwohl durch die Annahme eines anthropologischen Urzustandes markiert. Durch die unvorstellbaren Grausamkeiten des Zweiten Weltkrieges sei „die Idee des Menschen“ beschädigt, wie auch die „Idee Gottes“, „denn die Idee des Menschen ist die Idee Gottes, und mit dem Schlag gegen das Menschentum ist Gott selbst getroffen. Das ist der Grund, warum in dieser Zeit wie nie vorher die Frage nach dem Menschen und nach Gott mit solcher Mächtigkeit erscheint. Immer aber, wenn diese Frage gestellt wird, ist es die Frage nach dem eigentlichen Sein des Menschen, nach der Urform des Menschen, nach seinem Angelegtsein, und damit wird sie zur Frage nach dem Urmenschen, und so wird es eine prähistorische Frage.492

‚Prähistorisch‘ meint hier ganz ähnlich wie bei Jaspers auch: dem historischen Bewusstsein entzogen und von der Geschichte aus nicht bestimmbar. Auf seine „prähistorische Frage“ gibt Kühn in der Folge keine ‚primitivistische‘ Antwort. Der Urmensch dürfe weder als gefährliches Triebwesen („Teufel“) noch als Paradiesbewohner („Engel“493) rekonstruiert werden. Sein zeitloses Wesen sei vielmehr darin zu sehen, dass er immer in der Mitte stünde, stets zur Vermittlung gezwungen sei, ja generell zwischen den Polen Dasein und Bewusstsein vermitteln müsse. Bereits in Gegenwart und Vorzeit erwähnt Kühn „das transzendierende Denken der Existentialphilosophie“494, namentlich Jaspers. Er bezieht sich hier auf den dritten Band von dessen Philosophie, die Metaphysik (1932). Im Mittelpunkt sieht Kühn bei Jaspers die „existentielle Haltung“; er deutet sie als Versuch, angesichts der „Grenzsituationen des Lebens“ (Sorge, Angst) „Chiffren“ und „Symbole“495 aufzubauen, die für Transzendenz bürgen würden. Es spielt hier keine große Rolle, dass Kühn eher einige Denkfiguren bei Jaspers entlehnt, als dass er dessen Argumentation tatsächlich nachvollziehen würde (hinzufügen sollte man allerdings: die eigentliche Philosophie der Existenzerhellung wird durch den zweiten Band von Jaspers’ Philosophie formuliert, nicht durch seine Metaphysik, auf die sich 492 Herbert Kühn: Gegenwart und Vorzeit, Wiesbaden 1948, S. 8  f. Ähnlich heißt es gegen Ende des Buches: „Alle Fragen der Gegenwart münden zuletzt in die Fragen der Vorzeit, denn das Zentrum aller Problematik ist der Mensch, und alles Ringen um das Wesen des Menschen ist das Ringen um den ursprünglichen Menschen, den Menschen in seinem Ursein, seinem eigentlichen Sein.“ Ebd., S. 205. 493 Ebd., S. 205. 494 Ebd., S. 121, vgl. auch S. 37, S. 124, S. 141, S. 149. 495 Ebd., S. 121.



1.7  Vorgeschichte – Urgeschichte

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Kühn bezieht). Entscheidend ist, dass er mit Jaspers gegen eine einseitig auf „Logik“ und „Erkenntnistheorie“496 setzende Bestimmung des Menschen argumentieren zu können glaubt. In der philosophiegeschichtlichen Einbettung von Jaspers in die Tradition des Existenzdenkens Kierkegaards wird denn auch die „Neueinsetzung des religiösen Bewußtseins“497 als eine der rationalistischen Reduzierung am weitesten entfernte Denkhaltung entgegengestellt. Dies ist durchaus im Sinne Jaspers gedacht, der bereits in Die geistige Situation der Zeit die Konstitution neuzeitlicher Subjektivität eng an die bereits im alten Griechenland vorbereitete, in nachmittelalterlicher Zeit dann vollends realisierte Rationalität anschloss.498 In Das Erwachen der Menschheit (1954), einem Buch, das sich, wie bereits der Titel verrät, jenem Abschnitt widmet, den auch Jaspers in Vom Ursprung und Ziel der Geschichte als maßgeblich für eine Bestimmung der conditio humana herausgestellt hatte, reserviert Kühn ein Extra-Kapitel für einen Blick auf das prähistorische „Forschungsergebnis im Lichte der modernen Philosophie“499. Nach einer anfänglichen Entzauberung des Menschen durch den von der Abstammungslehre erbrachten Nachweis seiner Herkunft aus den Tiefen der Naturgeschichte sei zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Art Wiederverzauberung zu verzeichnen. In der Anerkennung des Menschen als Geistwesen und als Teil der Natur sieht Kühn ganz allgemein eine Wendung zur Vergeistigung vormals rein materialistisch gedeuteter Naturabläufe. Unter Bezug auf Jaspers’ Der philosophische Glaube (1948) stellt er die Unbestimmbarkeit des Menschen in den Mittelpunkt.500 Tatsächlich betont Jaspers hier, dass die stammesgeschichtlich nachweisbaren „biologischen Entwicklungsprozesse […] gleichsam den Stoff, nicht ihn selbst“501, den Menschen, betreffen würden. Der Mensch sei nur insofern frei, wie er sich von keiner weltanschaulichen oder biologischen Seite deter-

496 Ebd. 497 Ebd., S. 120. 498 „Was wir Persönlichkeit nennen […] ist […] von Anfang an mit der Rationalität als ihrem Korrelat verknüpft. […] Selbstsein und Rationalität werden ihm [dem abendländischen Menschen, N.K.] Ursprünge, aus denen er die Wirklichkeit täuschungslos erkennt und zu bemeistern versucht.“ Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, S. 17. 499 Herbert Kühn: Das Erwachen der Menschheit, Frankfurt/M. u. Hamburg 1954, S. 168–181. 500 „[D]er Mensch ist nicht abzuleiten aus einem anderen, sondern ist unmittelbar zum Grund aller Dinge. Dessen inne zu sein, bedeutet die Freiheit des Menschen […]. “ Ebd., S. 178  f. Diese Passage ist eine unausgewiesene Übernahme aus Jaspers’ dritter Vorlesung. Vgl. Karl Jaspers: Der philosophische Glaube. Fünf Vorlesungen, München 1954 [1948], S. 47. Während Kühn das Jaspers-Zitat mit dem Passus beendet: „und nur durch die Freiheit wird der Mensch sich selbst der Transzendenz bewußt“ (Kühn, Das Erwachen der Menschheit, S. 178  f.), konkretisiert Jaspers „die Freiheit des Menschen“: „die in jeder anderen totalen Abhängigkeit seines Seins verloren geht und nur in dieser einen totalen Abhängigkeit ganz zu sich kommt.“ Jaspers, Der philosophische Glaube, S. 47. 501 Jaspers, Der philosophische Glaube, S. 47.

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minieren lasse: „Nur durch Freiheit werde ich der Transzendenz gewiß“502, heißt es bei Jaspers. Aufschluss über ein „eigentliche[s] Sein“, so ein zustimmend herangezogenes Jaspers-Wort bei Kühn, könne nur der „Geist“ als „Grund“503 liefern. Kühn ist sich darüber im Klaren, dass der vorzeitliche Mensch Jaspers weder als empirische Größe eines geschichtlich Frühen noch als Parameter einer zeitlos biologisch-primitivistischen Konstante oder als entwicklungsbiologische Folie für den ‚Fortschritt‘ der Hominisation interessiert. Zwar bezeichnet Jaspers die Frage nach der „Menschwerdung“ als die „vielleicht […] erregendste“ philosophische Grundfrage; jedoch kann eine wissenschaftliche Beantwortung der Frage, etwa vom Standpunkt der Paläoanthropologie, keineswegs das Menschsein erklären, würde es sich doch hierbei um die „Verabsolutierung“ eines „partikularen Erkennens“ handeln, die eine, wie Jaspers schreibt, „Verwahrlosung des Menschenbildes“504 zur Folge hätte. Ist an dieser Stelle einerseits der Dialog der Vorgeschichtsforschung mit der Existenzphilosophie beendet, da partikulare Erkenntnisse den frühen Menschen betreffend nie dessen ganze ‚Existenz‘ bezeichnen können, so zeigt sich doch andererseits in der prähistorischen Höhlenmalerei zweifelsohne der Mensch schon immer in seiner ganzen Wesenhaftigkeit. Bleibt also der anhand seiner Felsbilder rekonstruierte vorgeschichtliche Mensch ein Teil jenes begrenzten Erkenntnisanspruchs, wie ihn die disziplinäre Vorgeschichtsforschung vernünftigerweise für sich reklamieren (aber eben auch nicht überschreiten) darf, so meint der existenzphilosophisch erschlossene Urmensch schon immer den ‚ganzen Menschen‘. Daraus ergibt sich ein unterschiedliches Verhältnis zur Zeit. Unterliegt die Fokussierung des Menschen vor seiner Geschichte einem chronologischen Primat, so interessieren die künstlerischen Arbeiten des Urmenschen nicht als Zeugnisse des frühen Menschen, sondern des unveränderten Gattungswesens ‚Mensch‘.

502 Ebd., S. 51. 503 Kühn, Das Erwachen der Menschheit, S. 179. 504 Jaspers, Der philosophische Glaube, S. 47. Vorhergehende Zitate gleichfalls.

2  Urgeschichte der Natur. Regressive Anthropogenese, primitivistischer Vitalismus und ethnografischer Bericht in den frühen Kriegsschriften (1922–1925) 2.1  „Die Frau […] ist […] nie aus den Tropen herausgekommen.“ – Der Frontsoldat auch nicht. Der Kampf als inneres Erlebnis 2.1.1  „[U]raltes Protozoon“, oder: In der Ursuppe des Vitalismus Die folgenden Kapitel dieses Buches orientieren sich an der werkgeschichtlichen Ordnung Jüngers. Sie liefern im Ergebnis einen wissens- und wissenschaftsgeschichtlichen Kommentar zu den paläontologischen und vorgeschichtlichen Valenzen seiner Texte. Dabei geht es sowohl um den philologisch konkreten Nachweis von Einfluss- und Referenzbeziehungen als auch um eine orientierende Rekonstruktion des epistemischen Kontextes. Es liegt in der Natur dieses Vorgehens, dass Einflussnachweise – an den Stellen, an denen sie sich nicht zweifelsfrei führen lassen – zu Ähnlichkeitsbeobachtungen relativiert werden. Da also, wo eine Rezeption zu vermuten, jedoch nicht zu belegen ist, werden die in Rede stehenden Denkfiguren, Begriffe und Konzepte des paläontologischen und vorgeschichtlichen Diskurses mit Jüngers Texten lediglich zu einem Netz der Relationen zusammengefasst. Diese netzartige Ordnung bringt es auch mit sich, dass Jünger nicht im autorschaftlich souveränen Zugriff auf den Kontext porträtiert ist: Dem Versuch, seine Position innerhalb des gesamttextuellen Gewebes zu markieren, gilt unser Interesse. Beginnen wollen wir nicht mit In Stahlgewittern (1920), sondern mit Jüngers Zweitling Der Kampf als inneres Erlebnis (1922, ²1926). Der Kampf als inneres Erlebnis stellt sich in mindestens dreierlei Hinsicht als poetologischer Neueinsatz in Jüngers Schaffen dar. Erstens wird der Literarisierungsprozess der Kriegserlebnisse, der mit der Umarbeitung der Kriegstagebücher zu In Stahlgewittern einsetzt, konsequent fortgesetzt. Gegenüber dem doch trotz aller Naturmetaphorik eher beschreibenden Charakter der Stahlgewitter rückt damit – zweitens – die interpretative Dimension in den Mittelpunkt.1 Jenseits einer dezidiert nationalistischen Überformung der Kriegs1

Vgl. Karl Prümm: Die Literatur des soldatischen Nationalismus der 20er-Jahre. Gruppenideologie und Epochenproblematik, 2 Bde., Bd. 1, Kronberg/Taunus 1974, S. 136.

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2  Urgeschichte der Natur

erlebnisse, wie sie die Änderungen von der zweiten (1922) zur dritten Fassung (1924) von In Stahlgewittern anzeigen,2 werden hier naturgeschichtliche, d.  h. evolutionsbiologische Legitimierungsmuster kriegerischen Handelns in den Mittelpunkt gerückt. Diese lassen sich zwar im Umfeld biologistischer Begründungsmuster verorten, jedoch nicht innerhalb des Spektrums eines tagespolitisch orientierten völkischen Nationalismus. Auf diesem Weg wird der Krieg – drittens – nicht mehr als geschichtliches Faktum, sondern als Erbe der entwicklungsgeschichtlich nachweisbaren biologischen Vergangenheit(en) des Jetztmenschen verhandelt. John King verweist diesbezüglich auf die uneingestandene „Abhängigkeit“ Jüngers von „moderne[r] Archäologie, Paläontologie und der frühen Evolutionsgenetik“. Zielpunkt sei eine „vitalistische Anthropologie“3. Diese wollen wir uns etwas genauer anschauen. Jünger entwirft in dem mit „Blut“ überschriebenen ersten der insgesamt dreizehn Kapitel seiner Betrachtung eine Geburt des „menschliche[n] Geschlecht[s] aus dem „Urwald“4. Diese Deutung determiniert die Fokussierung des Kriegsgeschehens auch der folgenden zwölf Abschnitte. Die Rede vom Urwald ist doppelt codiert. Sie meint zum einen den konkreten tropischen Lebensraum, dem Jünger Metaphern des Werdens und Vergehens, des Vernichtens und Vernichtetwerdens entlehnt; zum anderen wird der Urwald als Ort der Entstehung allen Lebens angesprochen. Topographische und genealogische Bedeutungen werden im Folgenden dann so aufeinander bezogen, dass der Raum immer auch eine frühe Entwicklungsstufe aufruft wie diese Entwicklungsstufe gleichfalls den konkreten Ort meint. Dieses metonymische Verfahren gelingt vor allem deshalb, da topographische und genealogische Bedeutung über einen emphatischen Lebensbegriff miteinan2

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Vgl. zur Umarbeitung der zweiten zur dritten Fassung der Stahlgewitter: Eva Dempewolf: Blut und Tinte. Eine Interpretation der verschiedenen Fassungen von Ernst Jüngers Kriegstagebüchern vor dem politischen Hintergrund der 1920er bis 1980er Jahre, Würzburg 1992, S. 192 –197; Wojciech Kunicki: Projektionen des Geschichtlichen. Ernst Jüngers Arbeit an den Fassungen von In Stahlgewittern, Frankfurt/M. u.  a. 1993. S. 69–110. John King: „Wann hat dieser Scheißkrieg ein Ende?“ Writing and Rewriting the First World War, aus d. Englischen von Till Kinzel, Schnellroda 2003, S. 205. Bereits Prümm spricht von einer „Anthropologie des Krieges“. Vgl. dazu das gleichnamige Kapitel bei Prümm, Die Literatur des soldatischen Nationalismus, Bd. 1, S. 143–154. SW 7, S. 13. Hans-Harald Müller sieht in dem mit „Blut“ überschriebenen ersten Abschnitt des Textes „nicht weniger als ein – um die Metaphorik des Urwaldes zentriertes – Bild einer organologischen geschichtsphilosophischen Evolutionskonzeption der Menschengattung“, die er an Nietzsche und Spengler angelehnt sieht. Hans-Harald Müller: Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer Republik, Stuttgart 1986, S. 240. „Das Blut“, so heißt es bei Jünger in dem Aufsatz Gross-Stadt und Land (1926), „ist für den neuen Nationalismus nicht wie für das ‚Land‘ ein vorwiegend biologischer, sondern ein vorwiegend metaphysischer Begriff.“ Ernst Jünger: Gross-Stadt und Land [1926], in: Ders.: Politische Publizistik 1919 bis 1933, hrsg., kommentiert u. mit einem Nachwort v. Sven Olaf Berggötz, Stuttgart 2001, S. 229–236, hier: S. 233.



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der verbunden sind. Der Topographie ‚Urwald‘ korrespondiert damit eine wissensgeschichtlich recht genau rekonstruierbare Topologie ‚Urwald‘. Einleitend präsentiert Jünger „das menschliche Geschlecht“ als „geheimnisvolle[n], verschlungene[n] Urwald“, dessen „Kronen“ zwar „vom Hauch freier Meere umglitten“ sind; jedoch dringt gleichzeitig aus der „Niederung das widrige Durcheinander kriechenden, schleichenden Getiers, kreischender Aufschrei von Opfern, die der hinterlistige Überfall gieriger, mordgeübter Zähne und Krallen aus dem Schlafe, der Höhle, dem warmen Nest in den Tod reist.“5 Geht es hier zunächst darum, in der Übertragung der Charakteristika des Biotops ‚Urwald‘ auf die Menschengemeinschaft die Natürlichkeit des grauenvollen Sterbens zu betonen und für die Schilderungen des Kriegsgeschehens verfügbar zu machen, so rückt der Urwald bald in seinem genealogischen Potenzial – ganz unbildlich – in den Mittelpunkt. Aufgebaut aus unzähligen Bausteinen ist […] der Einzelne. Die endlose Kette der Ahnen schleift ihm am Boden nach; er ist gefesselt und gesponnen mit tausend Bändern und unsichtbaren Fäden an das Wurzelgeflecht des Urwaldsumpfes, dessen gärende Wärme seinen Urkeim gebrütet.6

Diese Urwald-Deutung nimmt Jünger in der Erzählung Sturm (1923) auf. Über den Protagonisten heißt es da, dass er „seine Seele […] von dumpfen Urwäldern rings umgürtet“7 empfand. Entscheidend ist: Jünger bezieht sich sowohl in Der Kampf als inneres Erlebnis wie auch in Sturm auf die stammesgeschichtliche Entwicklung des Menschen nach Ernst Haeckel. Dieser ordnet dem Einzelnen nicht nur eine „Kette“ von „Wirbeltier-Ahnen“8 zu, vielmehr nimmt er auch „wirbellose[.  .] Ahnen“ an, mit denen der Mensch in einer genealogischen Beziehung stehe. Gemäß dem biogenetischen Grundgesetz Haeckels, das eine Rekapitulation der Onto- in der Phylogenese behauptet, hat der Jünger’sche „Einzelne“ einen Zugang zu seinen stammesgeschichtlichen Wurzeln, indem die ihn konstituierenden Zellen bereits auf der Stufe des „Urkeim[s]“ als organisches Material präfiguriert waren. Haeckel spricht angesichts dieser Deutung von der „fundamentalen[.  .] Tatsache“, daß auch der Keim des Menschen, gleich demjenigen aller anderen Tiere, sich ursprünglich aus einer einfachen Zelle entwickelt; denn die Stammzelle (Cytula) – die ‚befruchtete Eizelle‘ – weist zweifellos auf eine entsprechende einzellige Stammform hin, ein uraltes Protozoon.9

5 6 7 8

SW 7, S. 13. SW 7, S. 15. SW 15, S. 59. Ernst Haeckel: Die Welträthsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie, Erfurt 1921 [1899], S. 51. 9 Ebd.

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Jünger interessiert sich für den „Urkeim“ – das Haeckel’sche „Protozoon“ – als frühen Spender und Träger vitaler Energien, dessen Determinationskraft trotz stetiger organischer Höherentwicklung ungebrochen scheint.10 Für eine biologistisch orientierte Lebensphilosophie ist eine solche Verbindung von positivem Befund und kraftmetaphysischer Deutung durchaus typisch.11 Die geläufige zeitgenössische Übersetzung für „Protozŏen“ bezeichnet zunächst nichts anderes als „Urtiere“; wobei damit „die niedrigsten Organismen mit tierischen [sic!] Charakter“12 gemeint sind. Sie leben „in Wasser oder feuchter Umgebung“ und pflanzen sich ungeschlechtlich, durch Teilung, Knospung, Sporenbildung oder Konjugation“13 fort. Als Belege ersten Lebens, das zeigt nicht nur Haeckel, ist ihr weltanschauliches Projektionspotenzial kaum zu überschätzen. Für Jünger gilt: In gleichem Maße, in dem die Bilder des Urwalds als Metaphernreservoir natürlicher Gewalt und natürlichen Sterbens im Zeichen eines Dienstes am ‚Leben‘ genutzt werden, erscheint hier jenes emphatische Lebensverständnis durch den Rückgriff auf seinen positiven biologischen Erstbeleg, das „Protozoon“, legitimiert. Erst jene Reformulierung des einzelligen Lebens in der Diktion vitalistischer Emphase führt dazu, dass es für Jünger interessant, ja zunächst überhaupt erst annehmbar wird. Denn: Haeckels Darwinismus selbst ist für ihn nichts weiter als eine Spielart jenes Fortschrittsdenkens, dem der Erste Weltkrieg als weithin sichtbares Fanal endgültig den Bogen entzogen habe. Der rote Faden vom Protozoon zum Kulturmenschen lässt sich jedenfalls im Zeichen eines regressiven Primitivismus nicht mehr unter die Annahme einer organischen Höherentwicklung bringen. Es ist kein Geringerer als Friedrich Nietzsche, der in seiner die (später) sog. ‚Krise des Historismus‘14 maßgeblich einleitenden Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (1874) den Dünkel einer anthropozentrischen Höherentwicklungsperspektive auf die Stammesgeschichte persifliert. Von der Kulturhöhe des 19. Jahrhunderts schaut der Bürger bei Nietzsche auf die Phylogenese zurück und ist von zwei Erkenntnissen beseelt: Zum 10

11 12 13 14

Später kommt Jünger noch einmal auf das Protozoon zu sprechen. In einem Tagebucheintrag vom 12. 06. 1984 heißt es: „Die Stimmung im Urmeer und in den warmen Sümpfen mag die eines sanften Orgasmus gewesen sein. Wie sie noch heute bei den Protozoen, vielleicht auch bei den Pflanzen zu vermuten ist“. (SW 20, S. 372, Hervorhebung N.K.) Vgl. Martin Lindner, Leben in der Krise, S. 121. Brockhaus’ Großes Konversations-Lexikon, 4. Nachdruck der 14.  Aufl. (1892–1896), 17 Bde., Bd. 16, Leipzig 1908, S. 398. Brockhaus’ Kleines Konversations-Lexikon, 5., vollständig neubearbeitete Aufl. in 2 Bdn., Bd. 2, Leipzig 1911, S. 463. Vgl. Ernst Troeltsch: Die Krisis des Historismus, in: Ders.: Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918–1923), hrsg. v. Gangolf Hübinger in Zusammenarbeit mit Johannes Mikuteit, Berlin 2002 [1922], S. 437–456. Vgl. zur ‚Krise des Historismus‘ als erkenntnistheoretisches Krisensymptom Oexle, Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit.



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einen ist der Einzelne mit dem „lebenden Schleim“ der Meere, der seine stammesgeschichtlichen Wurzeln bezeichnet, verbunden. Diese genealogische Beziehung ist jedoch zum anderen nur insofern relevant, wie sie den ungeheuren Fortschrittsprozess des Lebens und – daran anschließend – der Geschichte verdeutlicht. Die „Menschengeschichte“ ist in dieser Hinsicht die Krönung und damit das Ziel eines jeglichen naturgeschichtlichen ‚Zuvor‘.15 In gleichem Maße, wie der Mensch auf untere Stufen des phylogenetischen Prozesses zurückschaut, blickt er auch auf Frühformen der Geschichte zurück: im Bewußtsein ihrer Entwicklung und Vervollkommnung. Freilich: An das Versprechen des Historismus, die Geschichte zu ordnen, sie in der Gegenwart als sinnvoll und mit Blick auf die Zukunft orientierend zu erfahren, glaubt Nietzsche genauso wenig wie an die „Menschengeschichte“ als Fortsetzung der Naturgeschichte.16 Dass Naturgeschichte und Historismus hier gleichermaßen diskreditiert werden, liegt in der beiden zu Grunde gelegten, gleichwohl als nicht mehr tragfähig erachteten „‚philosophischen Achse‘“: dem „Entwicklungsgedanken“17. Jünger schließt direkt an Nietzsches sich aus dessen Geschichtskritik ergebende Mahnung an – „[u]eberstolzer Europäer des neunzehnten Jahrhunderts […] [,] [d]ein Wissen vollendet nicht die Natur, sondern tödtet nur 15

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„So weit flog die Geschichtsbetrachtung noch nie, selbst nicht, wenn sie träumte; denn jetzt ist die Menschengeschichte nur die Fortsetzung der Thier- und Pflanzengeschichte; ja in den untersten Tiefen des Meeres findet der historische Universalist noch die Spuren seiner selbst; als lebenden Schleim; den ungeheuren Weg, den der Mensch bereits durchlaufen hat, wie ein Wunder anstaunend, schwindelt dem Blicke vor dem noch erstaunlicheren Wunder, vor dem modernen Menschen selbst, der diesen Weg zu übersehen vermag. Er steht hoch und stolz auf der Pyramide des Weltprozesses: indem er oben darauf den Schlussstein seiner Erkenntnis legt, scheint er der horchenden Natur rings umher zuzurufen: ‚wir sind am Ziel, wir sind das Ziel, wir sind die vollendete Natur.‘“ Friedrich Nietzsche: Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, in: Ders.: Sämtliche Werke, kritische Studienausgabe in 15 Bdn., hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Bd. 1, München 1999, S. 243–334, hier: S. 312  f. Vgl. zu Nietzsches Rolle in der antihistoristischen Bewegung ab 1870: Johannes Heinßen: Historismus und Kulturkritik. Studien zur deutschen Geschichtskultur im späten 19. Jahrhundert, Göttingen 2003, S. 489–560; vgl. auch Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, S. 73–94. Es ist u.  a. Karl Heussi, einer der zahlreichen Historiographen des Historismusproblems um 1930, der eine Verbindung von geschichts- und naturgeschichtsbezogenem Entwicklungsdenken im 19 Jahrhundert diagnostiziert: „Der ‚Entwicklungsbegriff‘ war schon im ausgehenden 18. Jahrhundert in der Historie vorhanden […]. Durch den Einfluß der Hegelschen Philosophie kam er dann besonders in Aufnahme […]. [E]r blieb in Gebrauch, ja wurde von der nun einsetzenden naturwissenschaftlichen Hochflut aufs neue emporgetragen […]. “ Das in die Kritik geratene historistische Entwicklungsdenken in diesem Sinne bezeichnet er auch als „radikalen Evolutionismus“. Karl Heussi: Die Krisis des Historismus, Tübingen 1932, S. 8, S. 15, S. 80  f. Vgl. zur Diskussion des Historismusproblems in den 1920er- und 1930er-Jahren Wolfgang Bialas/Gérard Raulet (Hrsg.): Die Historismusdebatte in der Weimarer Republik, Frankfurt/M. u.  a. 1996.

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deine eigne“18 –, wenn er die in Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben karikierte Argumentationsrichtung umkehrt: An die Stelle eines Denkens in evolutiven Reihen, das die Vervollkommnungsordnung biologischen und geschichtlichen ‚Fortschritts‘ bestimmt, tritt bei Jünger der Urkeim als die auch spätere Entwicklungsstufen prägende vitale Urkraft. Auf die stammesgeschichtlichen Anfänge im Meer wird nun nicht mehr im Bewusstsein ihrer sicheren Progression und schrittweisen Kulturalisation zurückgeschaut  – diese Anfänge setzen sich vielmehr selbst in ihr recht. Sie werden zum Teil der Gegenwart erklärt und damit aus der naturgeschichtlichen Vergangenheit heraus – regressiv – aktualisiert. Es ist jener gewandelte Blick, der sich vor der bereits bei Nietzsche gescholtenen biologischen und geschichtlichen Höherentwicklungsrhetorik ekelt. Dieser Ekel bildet auch die Grundlage für Jüngers Bekenntnis, im Grunde sei ihm „Häckel“ immer „ein Greuel“ gewesen.19 Hat Jünger sich doch durch die Kriegserlebnisse „dem Kern des Seins“20, d.  h. jener vitalen Urkraft genähert – und zwar ohne einen Evolutionsschritt im Sinne Haeckels gemacht zu haben. Haeckel bleibt er jedoch in zweierlei Hinsicht verpflichtet. Zum einen geht er von dessen Protozoon als keimgeschichtliche Ursubstanz aus. Zum anderen übernimmt er Haeckels Interferenz von Materie und Geist in der vitalistischen Idealisierung biologisch nachweisbarer Zellformen. Gerade in dieser vulgär- und gewaltidealistischen Hypostasierung des Urwaldkeimes zum Lebenskern zeigt sich das monistische Erbe Haeckels. Über Jüngers Haeckel-Lektüre ist nichts bekannt. Unterrichtet sind wir jedoch von dem Kontakt zu Otto Bütschli (1848–1920). Den studierten Mineralogen, Zoologen, Paläontologen und Chemiker lernt Jünger bei seinem 1915 in Heidelberg während eines Lazarettaufenthaltes begonnenen Stu­ diums der Naturwissenschaften kennen und schätzen.21 Bütschli arbeitet u.  a. 18 Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, S. 313. 19 Ernst Jünger: Der Kampf als inneres Erlebnis, Berlin 1922, S. 82. Die Haeckel-Invektive ist bereits in der stark veränderten Neuausgabe von Der Kampf als inneres Erlebnis (1926) getilgt und wird auch in folgende Neuausgaben nicht wieder aufgenommen. Dies ist jedoch keineswegs als Rücknahme der Kritik an dem Zoologen, Mediziner und Philosophen zu werten, denn die Haeckel-Abneigung Jüngers lässt sich auch in anderen Texten aus den 1920erJahren nachweisen. 1927 lobt er z.  B. Albrecht Erich Günthers Totem. Tier und Mensch im Lebenszusammenhang (1925) angesichts der dort gebotenen „scharfe[n] Abrechnung mit dem Darwinismus“, d.  h. dem „Darwinismus als Weltanschauung“, die auch eine Absage an die „Häckelsche[.  .] Pseudophilosophie“ sei. – Ernst Jünger: Totem [1927], in: Ders., Politische Publizistik, S. 339–343, hier: S. 340  f. 20 Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis, S. 82. 21 Vgl. Dieter Zissler: In der Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen. Über Natur und Naturwissenschaft im Werk Ernst Jüngers, in: Text + Kritik 105/106 (1990), S.  125–140, hier: S. 136  f.; Heimo Schwilk: Ernst Jünger: Ein Jahrhundertleben. Die Biografie, aktualisierte u. erweiterte Neuausgabe, München u.  a. 2014 [2007], S. 267.



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zu Protoplasmen. Damit ist er auch befasst mit der geleeartigen Masse, aus der alle lebenden Zellen – auch die Protozoen – bestehen. Seine 1876 mit dem Botaniker Eduard Strasburger und dem Zytologen Oskar Hertwig veröffentlichten Studien über die ersten Entwicklungsvorgänge der Eizelle, die Zellteilung und die Konjugation der Infusorien machen ihn auf dem Gebiet der Zelllehre bekannt.22 In Über mikroskopische Schäume und das Protoplasma (1892) kommt er dann zu dem Ergebnis, dass die einfache Zelle strukturell schaum- und wabenartig aufgebaut sei. Dieter Zissler weist darauf hin, dass die von Sturm in Jüngers gleichnamiger Erzählung in Angriff genommene (fiktive) Doktorarbeit mit dem Titel „Über die Vermehrung der Amoeba proteus durch künstliche Teilung“ von Bütschlis Arbeiten zum Protoplasma inspiriert ist.23 Will man verstehen, welchem Problem der Jünger’sche Charakter hier tatsächlich auf der Spur ist, so reicht ein Blick auf die konkrete Forschungspraxis Bütschlis nicht aus. Man muss sich vielmehr Anspruch und Tragweite seiner Arbeiten vergegenwärtigen. Klaus Beneke hat darauf hingewiesen, dass es Bütschli um nichts Geringeres geht, als der „physikalisch-chemischen Basis des Lebens“24 auf die Spur zu kommen. Im Rahmen seiner Forschung sieht Bütschli demnach nicht nur die Möglichkeit gegeben, „jene geheimnisvolle Substanz, welche den Leib der Zellen bildet, und die gemeinhin als Protoplasma bezeichnet wird“25, genauer zu untersuchen, sondern dadurch – die Rede von der „geheimnisvolle[n] Substanz“ deutet ein weitergehendes Interesse an – ein Verständnis davon zu entwickeln, was ‚Leben‘ eigentlich sei. In Jüngers Sturm-Erzählung wird die wissenschaftliche Beschäftigung mit Bütschlis „geheimnisvolle[r] Substanz“ mit dem Kriegstöten kontrastiert. Die Rede vom „Gegensatz […] zwischen einem Menschen, der sich liebevoll in Zustände versenkte, in denen das noch flüssige Leben sich um winzige Kerne ballte, und einem, der kaltblütig auf höchstentwickelte Wesen schoß“26, verweist einerseits auf die ganze Bandbreite des biologischen Protozoen-Kontinuums vom einfachen Protoplasma zur „höchstentwickelten“ Form organischer Zellorganisation, dem Menschen; andererseits ist es der Wissenschaftler, der dem barbarischen Erbe trotzt.

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Vgl. Peter Fäßler: Otto Bütschli, in: Fred Sepaintner (Hrsg.): Badische Biographien N.F., Bd. 5, Stuttgart 2005, S. 42–44. Vgl. Zissler, In der Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen, S. 137; vgl. auch Schwilk, Ernst Jünger, S. 267. Klaus Beneke: Biographien und wissenschaftliche Lebensläufe von Kolloidwissenschaftlern deren Lebensdaten mit 1995 in Verbindung stehen, Nehmten 1998, S. 86. Auszug aus Bütschlis Über die Struktur des Protoplasma zit. nach Beneke, Biographien und wissenschaftliche Lebensläufe von Kolloidwissenschaftlern, S. 86. SW 15, S. 27.

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Bereits im 19. Jahrhundert gibt es Stimmen, die das Protoplasma als Sitz der Lebenskraft (vis vitalis) deuten. Verbunden ist eine solche Deutung häufig mit der Abwertung sog. mechanistischer, d.  h. materialistischer Betrachtungsweisen. Bütschli reagiert mit seinem Vortrag Mechanismus und Vitalismus auf diese Diskussion27, wobei ‚mechanistisch‘ bei ihm keine negative Konnotation besitzt, sondern mit „physikochemisch“28 übersetzt werden kann. Bütschli verpflichtet den Naturwissenschaftler darauf, die Rückführung der Lebensprozesse argumentativ auf physikalisch-chemische, d.  h. anorganische Zusammenhänge zu begrenzen; einem nur im Organischen beheimateten Lebensimpuls steht er skeptisch gegenüber. Jünger dürfte diese Diskurskonstellation vertraut sein. Sein organisch-entwicklungsgeschichtlich akzentuiertes Interesse am Protoplasma, das er der Ahnengalerie des Menschen zuordnet, geht jedoch gerade in dem Punkt über seinen Lehrer hinaus, an dem dieser Vorsicht walten lässt, nämlich hinsichtlich der Annahme einer eigenständigen vitalen Urkraft. Interessant ist, dass Bütschlis Charakterisierung von Vitalismus und Neovitalismus viel mit dem zu tun hat, was Hans Driesch – Jüngers Leipziger Philosophielehrer der frühen 1920er-Jahre – unter Neovitalismus versteht.29 „Im alten wie im neuen Vitalismus“, so Bütschli resümierend, gehe es darum, dass Lebewesen oder Lebensvorgänge nicht, oder doch nicht vollständig, begriffen werden könnten, ohne das Zugeständniss [sic] einer nur in der Organismenwelt bestehenden, dem Nichtlebenden mangelnden Geschehensgesetzlichkeit, eines besonderen Prinzips oder einer besonderen Kraft, wie man dieses eigenthümliche Etwas […] bezeichnen mag […]. 30

Driesch entwickelt durch eigene Experimente ein im besten antimechanistischen Sinne metaphysisches Verständnis des organischen Lebens, das dazu beiträgt Bütschlis – nicht besonders positiv bewertetes – „eigenthümliche[m] Etwas“ im Koordinatensystem des philosophischen Vitalismus einen festen Platz zuzuweisen. Der Einfluss Drieschs auf Jünger ist seit langem bekannt31 27 28

Vgl. Otto Bütschli: Mechanismus und Vitalismus, Leipzig 1901. Wilhelm Ostwald: Rez. zu: Otto Bütschli: Mechanismus und Vitalismus, in: Annalen der Naturphilosophie 1 (1901/1902), S. 101–103, hier: S. 102. 29 Vgl. zum Neovitalismus in ‚lebensideologischer‘ Hinsicht: Lindner, Leben in der Krise, S. 21, S. 55, S. 81. Der Begriff „Lebensideologie“ stammt von Martin Lindner. Er bezeichnet das lebens- und existenzphilosophisch orientierte Denken zwischen 1890 und 1955. Vgl. ebd., S. 5–118. Vgl. zu Drieschs Neovitalismus Karen Gloy: Das Verständnis der Natur, 2. Bde., Bd. 2, Die Geschichte des ganzheitlichen Denkens, München 1996, S. 154–197. 30 Bütschli, Mechanismus und Vitalismus, S. 1. 31 Vgl. Zissler, In der Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen, S. 137; vgl. auch Thomas Löffler: Ernst Jüngers organologische Verwindung der Technik auf dem Hintergrund der Biotheorie seines Lehrers Hans Driesch, in: Friedrich Strack (Hrsg.): Titan Technik. Ernst und Friedrich Georg Jünger über das technische Zeitalter, Würzburg 2000, S. 57–67.



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und lässt sich gut belegen.32 An dieser Stelle ist es wichtig, sich klar zu machen, dass sowohl der Urwald in Der Kampf als inneres Erlebnis als auch die wissenschaftlichen Ambitionen des Leutnants Sturm in der gleichnamigen Erzählung an Bütschli und Haeckel anknüpfen. Jünger übernimmt die von Bütschli dem Vitalismus zugewiesenen Eigenschaften und nutzt sie für eine Abkehr von Haeckels Entwicklungsprogression. Die Eigengesetzlichkeit der Lebenskraft ist soz. entwicklungsresistent. Gleichzeitig bleibt er jedoch Haeckel verpflichtet, indem er – im Gegensatz zu Bütschli, der zwischen naturwissenschaftlicher und philosophischer Argumentation trennt  – materiale Befunde einem höchst idealistischen Lebensbegriff subsumiert. Auch wenn man Bütschlis Einfluss auf Jüngers Vitalismus stark macht, so ist doch zum Verständnis von Jüngers Urkeim-Theorie ein weiterer Aspekt mindestens genauso wichtig: Jüngers Lektüre des literarischen Darwinismus, d.  h. von Autoren, die entwicklungsgeschichtliche Motive behandeln. Seine Umcodierung des monistischen organischen Höherentwicklungsdenkens ist jedenfalls ohne einen Blick auf den Einfluss, den Darwin-Vermittler wie Haeckel und der nicht weniger erfolgreiche Wilhelm Bölsche (1861–1939) auf das literarische Feld um und nach 1900 haben, nur schwer nachvollziehbar. Spuren ihrer populärwissenschaftlichen Schriften finden sich bei Expressionisten wie Gottfried Benn, Robert Müller und Carl Sternheim, aber auch im späten Werk von Arno Holz, Johannes Schlaf und Gerhart Hauptmann.33 Während Jünger Sternheim aufgrund seines Haeckel-Bezugs „längst nicht mehr lesen“34 kann, steht ein weiterer eifriger Haeckel-Leser bei Jünger zur Zeit der Abfassung von Der Kampf als inneres Erlebnis (und auch danach) hoch im Kurs: Gottfried Benn. Besonders dessen Gedicht Gesänge I interessiert hier. 1913 in der von Franz Pfemfert herausgegebenen expressionistischen Zeitschrift Die Aktion veröffentlicht, imaginiert es die Rückkehr zum Haeckelschen Urtier als Entlastung von – wie es bei Wilhelm Worringer nur wenige Jahre vor Erscheinen des Gedichtes heißt – „den Schmerzen der Höherentwicklung des Organismus“35: „O daß wir unsre Ururahnen wären.

32 In Die Methode der Revolution (1925) zeigt sich dieser Einfluss in seiner anti-darwinistischen Stoßrichtung. „In der Biologie“, so formuliert Jünger dort, „sucht man sich von den mechanistischen Theorien des Darwinismus zu befreien und stellt im Vitalismus die Lehre von einer besonderen Lebenskraft auf, die ihre eigenen, schöpferischen Gesetze besitzt.“ – Ernst Jünger: Die Methode der Revolution [1925], in: Ders., Politische Publizistik, S. 114–119, hier: S. 114  f. 33 Vgl. dazu Peter Sprengel: Darwin in der Poesie. Spuren der Evolutionslehre in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Würzburg 1998, S. 35–46, S. 70–94. Vgl. zu Haeckel und Bölsche Gebhard, „Der Zusammenhang der Dinge“, S. 299–348. 34 Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis, S. 82. 35 Worringer, Abstraktion und Einfühlung, S. 97.

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/ Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor.“36 Helmuth Kiesel hat darauf hingewiesen, dass Jünger das Gedicht schätzte.37 Dies wohl nicht zuletzt deshalb, da die Verse Benns Jüngers ‚Ungesondertes‘ im Brustton stammesgeschichtlich-vitalistischer Emphase ausbuchstabieren.38 „Unser aller Erbteil ist das Ungesonderte.“39, formuliert Jünger im Epigrammatischen Anhang zu Blätter und Steine in deutlicher Anspielung auf das biologische Erbschaftsdenken Haeckels und dessen poetische Aufnahme bei Benn. Benn vergleichbar geht es auch Jünger in Der Kampf als inneres Erlebnis um eine Anverwandlung, nicht um eine reine Übernahme des Ursprungsdenkens. Der große Unterschied zwischen beiden besteht freilich darin, dass Jünger ganz ohne ironische Distanz auskommt. Signalisiert Benns im Konjunktiv II vorgetragener Wunsch nach Rückbildung bereits seine Unmöglichkeit (und damit auch generelle Zweifel am Sinn seiner Wünschbarkeit), so verweist Jüngers Rede von den „tausend Bändern und unsichtbaren Fäden“, mit denen der Einzelne an das „Wurzelgeflecht des Urwaldsumpfes, dessen gärende Wärme seinen Urkeim gebrütet“40 habe, gebunden sei, auf eine gleichsam marionettenhafte Abhängigkeit. Die Rückführung des Menschen auf seine urtierische Konstitution unterliegt bei Jünger gerade nicht einem zivilisationsflüchtigen Wunschprinzip;41 sie wird vielmehr als unentrinnbare 36

Gottfried Benn: Gesänge I, in: Ders.: Sämtliche Werke, Stuttgarter Ausgabe, hrsg. v. Gerhard Schuster, Bd. 1, Gedichte 1, Stuttgart 1986, S. 23. Vgl. zu Benns Haeckel-Bezug: Hahn, Gottfried Benn und das Wissen der Moderne, Bd. 1, S. 38–50, S. 246–249; vgl. auch Nicola Gess: Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige in der literarischen Moderne (Müller, Musil, Benn, Benjamin), Paderborn 2013, S. 281–284. 37 Helmuth Kiesel: Ernst Jünger. Die Biographie, München 2009 [2007], S. 159; vgl. auch King, „Wann hat dieser Scheißkrieg ein Ende?“, S. 241. 38 In Annäherungen. Drogen und Rausch (1970) geht Jünger auf seine Benn-Lektüren genauer ein. Mit Blick auf das an dieser Stelle von Jünger ausführlich zitierte Gesänge I heißt es da: „Daß hier ‚etwas los war‘, spürte ich an den Gedichten, besonders an Versen, die sich dem Ungesonderten näherten und die Schicht berührten, die ihm aufliegt und an die es wie Tau und Nebel noch qualitätslos anzusetzen beginnt. Das Unbestimmte ist hier noch stark.“ SW 11, S. 366. 39 Jünger, Blätter und Steine, S. 215. 40 SW 7, S. 15. 41 Deutlich erkennbar ist die an Benn angelehnte Regression als Wunschprinzip allerdings in der Erzählung Sturm (1923). Über Falk, den Titelhelden einer Novelle des Protagonisten Sturm, heißt es mit Blick auf den Wandel des Verhältnisses von Rausch und Leiden angesichts organischer Höherentwicklung: „‚Manchmal wünschte er ein ganz einfaches Tier zu sein, eine Pflanze, Leben schlechthin, noch nicht im mindesten verzweigt. Er haßte den Gedanken einer Entwicklung, deren immer feiner organisierte Wesen auch jede Qual unendlich gesteigert empfinden mußten. Gewiß, je vielfacher und feiner ein Wesen seine Wurzeln in die Erde senkte, umso vielfacher und seltsamer wurden seine Räusche. Aber das war nichts gegen die wachsende Wucht der Depression.‘“ – SW 15, S. 63. Armin Steil betont besonders den antibürgerlichen Affekt der Rückbildungsbemühungen von Sturm: „Dieser Wunsch nach Regression auf einfache, undifferenzierte Formen des Lebens hat die Sehnsucht nach dem Ausbruch aus den Grenzen der bürgerlichen Individualitätsform zur treibenden Kraft, ohne daß dieser Befreiungsakt aber je gelingen würde.“ Armin Steil: Die imaginäre Revolte. Unter-



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biologische Realität imaginiert, deren grauenhafte Folgen der Text grell ausmalt. Jünger formuliert also nicht im Voluntativ; die Behauptung einer faktischen Geltung kommt jeder Möglichkeitsdiskussion zuvor. Es ist der Krieg, der jene unsichtbare, jedoch wirkungsvolle Determination menschlichen Handelns durch das organische Erbe aufzeige und damit in sein Recht setze. Ein kurzer vergleichender Blick auf Benn und Jünger zeigt also: Der Kreativität in Sachen produktivem Umgang mit Haeckel sind keine Grenzen gesetzt. Verfolgt man nun Jüngers Argumentationsweg weiter, so wird man schnell feststellen, dass er nicht beim infusorischen Urtier Bütschlis oder Haeckels stehen bleibt. Den Zielpunkt seiner Regressionsphantasien bildet nämlich nicht der „Urkeim“ des „Urwaldsumpfes“, sondern der „Urmensch“42, also ein stammesgeschichtlich weitaus späteres Entwicklungsstadium der Zellentwicklung.

2.1.2 Cro-Magnon-Kämpfer Im Urmenschen sieht Jünger das „Wilde, Brutale, die grelle Farbe der Triebe“ verkörpert, die zwar durch zivilisationskulturelle Konditionierung „in den Jahrtausenden“ eingeschränkt, jedoch nicht vollends beseitigt werden konnten. Und wenn des Lebens Wellenkurve zur roten Linie des Primitiven zurückschwingt, fällt die Maskierung: nackt wie je bricht er hervor, der Urmensch, der Höhlensiedler, in der ganzen Unbändigkeit seiner entfesselten Triebe. Das Erbteil seiner Väter flammt in ihm auf, immer wieder, wenn das Leben sich auf seine Urfunktion besinnt.43

Der Krieg ist somit ein funktionales Produkt des ‚Lebens‘ – neben „großen Festen und wirklichen Revolutionen“44 eines der wenigen, das noch in die suchung zur faschistischen Ideologie und ihrer theoretischen Vorbereitung bei Georges Sorel, Carl Schmitt und Ernst Jünger, Marburg 1984, S. 82. 42 SW 7, S. 15. 43 Ebd. 44 In Blut und Intellekt (1925) bezeichnet Jünger den kriegerischen Angriff – gut geist- und zivilisationskritisch – als „andersartige Gesetzmäßigkeit […] welche das Leben straffer und blutvoller regiert, aber welche der menschliche Geist inmitten des sehr mathematischen Umkreises unserer großen Städte und einer späten Zivilisation nicht mehr als die eigentlich zwingende anerkennen möchte. Nur noch bei Kriegen, großen Festen und wirklichen Revolutionen greift diese Gesetzmäßigkeit unmittelbar in die Welt der starren Formen und Bindungen ein, bei Ereignissen, bei denen die Erdkraft des Lebens die Gebilde des Geistes wieder an sich reißt, der selbstherrlich eine künstliche, durch Begriffe bestimmte Welt aus dem Kosmos herausschneiden möchte.“ Ernst Jünger: Blut und Intellekt [1925], in: Ders., Politische Publizistik 2001, S. 152–157, hier: S. 153  f.

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Gegenwart hineinragt. Als Entfesselung und Steigerung des ‚Lebens‘ im emphatischen Sinne bleibt er grundsätzlich mit früheren Stufen stammesgeschichtlicher Entwicklung im Bunde, insofern hier die „lebendige Macht uralter Kräfte“ noch nicht gehemmt wird. ‚Leben‘ ist für Jünger nichts anderes als Kraftentfaltung. Thomas Weitin hat kürzlich darauf hingewiesen, dass Jünger in Der Kampf als inneres Erlebnis einem Zweig des von Nietzsche inspirierten Verständnisses von ‚Leben‘ verpflichtet ist, „das sich gerade in der Vernichtung als solches bejaht“.45 Bereits der frühe Adorno spricht angesichts der grassierenden „Sorge, daß der Urmensch in uns fortbestehen möge“, von den „ausgeleiertsten Clichés der Lebensphilosophie“46. Festhalten lässt sich an dieser Stelle: Entscheidend für die Imagination einer lebensphilosophischen Fundierung des Krieges ist die vitalistische Biologie.47 Dies lässt sich bis in die Erstfassung von In Stahlgewittern zurückverfolgen, wird jedoch erst um 1922 dominant. Im Ergebnis wird dabei in Der Kampf als inneres Erlebnis ein nahezu unerschöpfliches Arsenal an stammesgeschichtlichen Bezügen sichtbar, das in der Überformung durch zeitgenössische Regressionsvorstellungen von den Schlacken des darwinistischen Hö45

46 47

Thomas Weitin: [Art.] Der Kampf als inneres Erlebnis, in: Schöning (Hrsg.), Ernst JüngerHandbuch, S. 59–63, hier: S. 60. Auf den lebensphilosophischen Nietzsche-Bezug Jüngers verweist Prümm, Die Literatur des soldatischen Nationalismus, Bd. 1, S. 134, S. 147. Vgl. zu Jüngers Spiegelung von Nietzsches ‚Barbaren‘ im ‚Frontkämpfer‘ Wilczek, Nihilistische Lektüre des Zeitalters, S. 45–48. Vgl. umfassend zu einer Situierung Jüngers im Einflussgebiet der Lebensphilosophie seit dem 19. Jahrhundert (Henri Bergson, Wilhelm Dilthey, Max Scheler u.  a.) Schwarz, Der konservative Anarchist, S. 40–45; sowie Jan. T. Schlosser: Lebenssteigerung. Zur zivilisationskritischen Problematik bei Ernst Jünger, Kopenhagen u. München 2003. Jüngers Rekurs auf Nietzsche ist bereits für Gerhard Nebel evident. Er weist hinsichtlich der Kriegsschriften der frühen 1920er-Jahre auf den Krieg als besondere Form der Lebensentfaltung hin; allerdings ohne die stammesgeschichtliche Entwicklungsdimension zu fokussieren. In der Verwendung organologischer Metaphern und einer metaphysischen Camouflage biologischer Argumente folgt Nebel Jünger: „Jünger kennt in seiner damaligen Verfassung kein transzendentes Sein, das inmitten und jenseits der Untergänge andauert, sondern nur diesseitige Wirklichkeit, die er mit einem Ausdruck, der sein Pathos von Nietzsche entlehnt, als ‚Leben‘ bezeichnet. Im Leben wiederholt sich die Struktur des Krieges, der nur eine besonders hervorstechende Manifestation des Lebens ist. Es ist also immer Einheit von Tod und Geburt, von absterbenden Zweigen und hervorbrechenden Blüten. Die Begeisterung, mit der Jünger von diesem Leben zeugt, läßt erkennen, daß er mehr ein metaphysisches als ein biologisches Sein meint.“ Gerhard Nebel: Ernst Jünger. Abenteuer des Geistes, Wuppertal 1949, S. 59. Theodor W. Adorno: Der Ur [1932], in: Ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 20/2, vermischte Schriften II, Aesthetica, Miscellanea, Frankfurt/M. 2003, S. 562– 564, hier: S. 562. Herbert Schnädelbach spricht diesen Punkt an, wenn er für die allgemeine Akzeptanz der Lebensphilosophie in den 1920er-Jahren auch „wissenschaftshistorische Gründe“ ausmacht. So falle der lebensphilosophische Aufstieg „zusammen mit der vitalistischen Gegenströmung gegen den Mechanismus in der Biologie.“ Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831–1933, Frankfurt/M. 1983, S. 180.



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herentwicklungsmonismus bei Ernst Haeckel und Wilhelm Bölsche gereinigt ist – und damit eine andere Veranschaulichungsqualität erhält. Den Begriff der Regression – verschiedentlich für Jüngers Entkulturalisationsphantasien im Anschluss an Sigmund Freuds Zeitgemäßes über Krieg und Tod (1915) in Anschlag gebracht48 – muss man hier ganz wörtlich nehmen. Erst in der Rückführung des Menschen auf frühere Entwicklungsstufen emanzipiert sich die Rede vom Urmenschen von einer das Kriegsgeschehen nur illustrierenden hin zu einer Begründungsfunktion.49 Mit Freud deutet Jünger „Kultur“ als „Verzicht auf Triebbefriedigung“. Zwar fördere, so Freud, die voranschreitende Kulturalisation „als ererbte Organisation“ eine Umwandlung „egoistische[r]“ in sozial kontrollierte Triebe50, jedoch werde diese „Kultureignung in ihrem Verhältnis zum primitiv gebliebenen Triebleben“51 überschätzt. Der frühere seelische Zustand mag sich jahrelang nicht geäußert haben, er bleibt doch soweit bestehen, daß er eines Tages wiederum die Äußerungsform der seelischen Kräfte werden kann, und zwar die einzige, als ob alle späteren Entwicklungen annulliert, rückgängig gemacht worden wären. Diese außerordentliche Plastizität der seelischen Entwicklungen ist in ihrer Richtung nicht unbeschränkt; man kann sie als eine besondere Fähigkeit zur Rückbildung – Regression – bezeichnen, denn 48

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Vgl. Martin Meyer: Ernst Jünger, München 1993 [1990], S. 75  f.; Klaus Kanzog: Der Kampf als inneres Erlebnis: Der Traktat Ernst Jüngers, Kriegsbriefe gefallener Studenten und der Mythos des Kämpfers in Luis Trenkers Film Berge in Flammen, in: Marijan Bobinac (Hrsg.): Literatur im Wandel, Zagreb 1999, S. 313; Steffen Martus: Ernst Jünger, Stuttgart 2001, S. 47; Jürgen Brokoff: Die Apokalypse in der Weimarer Republik, München 2001, S. 112–114; Andreas Geyer: Die Brüder Jünger und ‚Das Elementare‘ – Ein Schlüsselbegriff im Spannungsfeld von Krieg, Politik und Literatur, in: Figal/Knapp (Hrsg.), Natur: Jünger-Studien, Bd. 5, S. 117– 151, hier: S. 126–128; King, „Wann hat dieser Scheißkrieg ein Ende?“, S. 92  f., S. 205; Karl Heinz Bohrer: Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk, München u. Wien 1978, S. 85  f.; Schlosser, Lebenssteigerung, S. 58–62. Insofern ist Andreas Huyssen zu widersprechen, der Karl Heinz Bohrer vorwirft, Jüngers Regressions- und Atavismusrhetorik in ihrem argumentativen Potenzial zu überschätzen. Der von Huyssen stattdessen für maßgeblich erachtete zeitgenössische Vitalismus hätte ohne seine Spiegelung in früheren organischen Entwicklungsstufen kaum jene suggestive Anziehungskraft entfaltet, die ihn für ganz unterschiedliche diskursive Kontexte disponibel machte. „Bohrer ignores the fact, that Jünger’s archaic regression, his priveliging of the atavistic, […] far from being a return to the origins of time and the elemental depth of human life, is rather an immersion in the contemporary archives of a popularized social Darwinism and vitalism, […]. “ Huyssen, Fortifying the Heart, S. 17. Huyssen bezieht sich auf Bohrers Die Ästhetik des Schreckens. Der von der Jünger-Forschung erarbeitete diskursgeschichtliche Kontext des ‚Primitivismus‘-Konzeptes  – wie er durch biologistische Regressionsbezüge markiert wird – entgeht Domenico Conte: Modernität und Primitivismus bei Ernst Jünger. Mit einem Blick auf Thomas Mann, in: Benedetti/Hagestedt (Hrsg.), Totalität als Faszination, S. 89–105. Freud, Zeitgemäßes über Krieg und Tod, S. 333. Ebd., S. 334.

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2  Urgeschichte der Natur es kommt wohl vor, daß eine spätere und höhere Entwicklungsstufe, die verlassen wurde, nicht wieder erreicht werden kann. Aber die primitiven Zustände können immer wieder hergestellt werden; das primitive Seelische ist im vollsten Sinne unvergänglich.52

Jünger knüpft hier an. Wie bei Freud auch, ist es bei ihm der Urmensch, der die Bezugsfolie für die zeitgenössische Gewaltenthemmung abgibt. Freud charakterisiert ihn als „leidenschaftliches Wesen, grausamer und bösartiger als andere Tiere. Er mordete gerne und wie selbstverständlich.“53 Dieser „Mensch der Vorzeit“ lebt nun „ungehindert in unserem Unbewußten fort.“54 Der Krieg „läßt den Urmenschen in uns wieder zum Vorschein kommen.“55 Sinnbildlicher Ausdruck dieses Zusammenhangs ist die Imitation prähistorischer Höhlenmalerei, die der Soldat Sturm in der gleichnamigen Erzählung unter tatkräftiger Hilfe seines Freundes Hugershoff während einer längeren Gefechtspause verfertigt. Während Sturm vorzeitliche Tiere aufleben lässt, steht der Maler Hugershoff in der Gestaltung eines jungpaläolithischen Fruchtbarkeitssymbols in der Tradition des primitivistischen Exotismus expressionistischer Malerei56: In Mannshöhe wies ein unvollendeter Tierfries Mammute und Elentiere im Stile der Höhlenmenschen von Crô-Magnon auf, die Sturm während der langen Regenzeit des vorigen Herbstes mit der für nachtleuchtende Grabenschilder bestimmten Phosphorfarbe gemalt und die Hugershoff durch das Bildnis einer ungefügen Venus von Willendorf vervollständigt hatte.57

Bereits bei Freud erscheint der kulturell konditionierte Umgang mit dem Tod als Verarmung des Lebens, „[es] wird schal, gehaltlos“.58 Jünger kann bei diesem Lebensbegriff ansetzen. Indem er ihn jedoch vitalistisch radikalisiert, geht er über Freud hinaus. Denn bei Freud ist der Tod keine Voraussetzung neuen Lebens; es geht lediglich darum, „das[s] der höchste Einsatz in den Lebensspielen, eben das Leben selbst“59, gewagt werde. Ziel ist, „[d]as Leben zu ertragen“60. Im Mittelpunkt steht also der Wille zum Erdulden des 52 53 54 55 56

Ebd., S. 337. Ebd., S. 345. Ebd., S. 351. Ebd., S. 354. Für Peter Uwe Hohendahl vertritt Hugershoff als „bekennender Kolorist“ gleichfalls den „malerischen Expressionismus“. Peter Uwe Hohendahl: Krieg und Romankrise. Ernst Jüngers Erzählung Sturm, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 133/2 (2014), S. 247–266, hier: S. 255. 57 SW 15, S. 22. 58 Freud, Zeitgemäßes über Krieg und Tod, S. 343. 59 Ebd. 60 Ebd., S. 354.



2.1  „Die Frau […] ist […] nie aus den Tropen herausgekommen.“

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Lebens; der Tod ist hier nur eine mögliche Folge, jedoch nicht das eigentliche Ziel. Bei Jünger hingegen muss das organische individuelle Leben ganzer Kollektive tatsächlich geopfert werden, um dem umfassenderen Leben – Leben als Kraft – dienen zu können.61 Genau in diesem Punkt erweist sich der frühe Jünger als der „Abenteurer des élan vital“62, als den ihn Hans Blumenberg beschrieben hat. Die Rekapitulation sowohl des biologisch-organischen Lebensbegriffes – Urwald und Krieg als Orte beschleunigten Vergehens und Werdens63 – als auch des entwicklungsbiologischen – regressive Annäherung des Frontsoldaten an den Urmenschen – bilden lediglich die Grundlage eines metaphysischen Vitalismus. In diesem Koordinatensystem ist der Krieg nur eine besonders krasse Spielart der Dialektik von Vergehen und Werden: Je mehr gestorben, d.  h. organisches Leben vernichtet wird, desto mehr gewinnt das Leben als Kraft.64 Gleiches lässt sich hinsichtlich Jüngers Rückgriff auf den Urmenschen sagen. Auch hier ist das Ziel in einer qualitativen Auszeichnung des Lebens zu suchen. Er knüpft in der Archaisierung der zeitgenössischen Gewalt im Besonderen an Freuds biologisches Erbschaftsdenken an; im Allgemeinen steht er in Bezug zur paläoanthropologischen Forschung, die den Urmenschen als von Natur aus aggressives Wesen entdeckt.65

61

Jürgen Brokoff weist darauf hin, dass Jünger ausgerechnet jene Passagen bei Freud unterschlägt, die prinzipiell die Triebmäßigung und Kulturtauglichkeit des Menschen betonen. Jünger ist – im Gegenteil zu Freud – „an einer Anthropologie interessiert, mit deren Hilfe die Zivilisationsgeschichte in ihrer Gesamtheit an ein gewaltsames und definitives Ende geführt werden kann.“ Brokoff, Die Apokalypse in der Weimarer Republik, S. 112. Bohrer arbeitet Brokoffs Deutung vor: „Der Atavismus des Primitiven ist unmittelbar verknüpft mit der Reflexion des kulturellen Untergangs […]. “ Bohrer, Die Ästhetik des Schreckens, S. 81. 62 Blumenberg, Ernst Jünger als geistige Gestalt, S. 10. 63 „So wie der Urwald immer ragender und gewaltiger zur Höhe strebt, seines Wachstums Kräfte aus dem eigenen Niedergange, seinen im schlammigen Boden verwesenden und zerfallenden Teilen saugend, so erwächst jede neue Generation der Menschheit auf einem Grunde, geschichtet durch den Zerfall unzähliger Geschlechter, die hier vom Reigen des Lebens ausruhen. Wohl sind die Körper dieser Gewesenen, die zuvor ihren Tanz geendet, vernichtet, im flüchtigen Sande verweht oder vermodert auf dem Grund der Meere. Doch ihre Teile, ihre Atome werden vom Leben, vom sieghaften, ewig jungen, wieder herangerissen in rastlosem Wechsel und so erhoben zu ewigen Trägern lebendiger Kraft.“ – SW 7, S. 14. 64 Marianne Wünsch hat zwar recht, wenn sie in dieser „Verherrlichung von Vernichtung und Untergang […] psychopathische oder soziopathische“ Züge ausmacht; jedoch ist es nicht, wie sie annimmt, die metaphernreiche, sich „unterschiedlichster ideologischer und literarischer Inventare bediene[nde]“ Sprache Jüngers, die eine „extreme Stilisierung des Mordens zu positiv-emphatischem Leben“ bedinge, sondern die vom Text recht eindimensional abgesicherte regressive Entwicklungsbiologie. Marianne Wünsch: Ideologische Konzepte in Ernst Jüngers Der Kampf als inneres Erlebnis, in: Dies.: Moderne und Gegenwart. Erzählstrukturen in Film und Literatur, München 2012, S. 323–342, hier: S. 339. 65 Vgl. dazu ausführlich Kap. 1.7.

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2  Urgeschichte der Natur

Harro Segeberg spricht angesichts der Animalisierung der Kämpfer – Jünger bezeichnet sie im Anschluss an Nietzsche als „prächtige Raubtiere“66 – zurecht von der „Immaterialisierung der Krieger-Körper“, die die „Basis für ihre totale Aufladung mit einer Art von neu gezüchteter aggressiver Primärenergie“67 bilde. Wenn Jünger betont, dass im Menschen „viel Tier“ stecke, gleichsam das „Tierische auf dem Grunde seines Seins“68 schlafe, so geht es ihm nicht um Vergleich oder Metapher – so, als ob der verhaltenspsychologisch konturierte Bildspender Tier (‚aggressiv‘, ‚brutal‘) auf den Bildempfänger Mensch treffe –, sondern um eine manifeste biologische Abhängigkeit. Immaterialisiert werden die kämpfenden Körper also ganz maßgeblich durch ihre zellgeschichtliche (Haeckel) und erbbiologische (Freud) Kontextualisierung; diese ist es auch, der sie ihre „Primärenergie“ verdanken. Ähnlich verhält es sich hinsichtlich des Kriegsgrauens; auch dieses bekommt eine genealogische Präzisierung,69 wenn Jünger die soldatische Lust am Grauen mit der „atavistischen Lust der Kinder und des Volkes“70 an Jahrmarktunterhaltungen (u.  a. „Wachskörper, mit eitrigen Geschwüren besät […]. “71) vergleicht. Es ist wichtig, diesen Rückgriff auf stammesgeschichtliche Entwicklungsstufen bei der Begründung menschlicher Verhaltensdispositionen im Krieg von einer allgemeinen, sozusagen entwicklungsbiologisch unspezifischen Animalisierung (‚Bestie‘) zu trennen; denn nur das Entwicklungselement enthält jene Begründungsdimension, um die es Jünger geht. Wie ein roter Faden zieht sich diese Duplizität von genealogischer Herleitung und konkreter Interpretation der Kriegsroutine durch Der Kampf als inneres Erlebnis. In Stahlgewittern setzte in dieser Hinsicht bereits erste Akzente. Angesichts des dort als hinterhältig ausgewiesenen Beschusses einer Krankenträgergruppe hält Jünger den Vorwurf der „Vertierung“ für berechtigt; „und doch kann ich mir erklären, daß schwache Naturen dem atavistischen Triebe, 66 67

SW 7, S. 37. Harro Segeberg: Regressive Modernisierung. Kriegserlebnis und Moderne-Kritik in Ernst Jüngers Frühwerk, in: Ders. (Hrsg.): Vom Wert der Arbeit. Zur literarischen Konstitution des Wertkomplexes ‚Arbeit‘ in der deutschen Literatur (1770–1930), Tübingen 1991, S. 337–378., hier: S. 357. 68 SW 7, S. 15. Das in der ersten Fassung bis zur Redundanz getriebene Insistieren „auf das tierische Erbteil im Blute“ (Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis, S. 8) ist in der zweiten Fassung etwas zurückgenommen. 69 Der regressive Biologismus ist in der zweiten Auflage etwas eingeschränkt. So ordnet Jünger das „Grauen“ dem „Ring von Gefühlen zu, die seit langem in unseren Tiefen ruhen, um bei gewaltigen Erschütterungen mit Urkraft hervorzubrechen.“ – SW 7, S. 19. In der Erstauflage wird das Grauen noch – in der Tradition von Haeckels Protozoen-Kontinuum – „dem Ring von Gefühlen“ zugeordnet, „die seit langem […], umwunden von der Kette der Geschlechter, in unseren Tiefen ruhen.“ – Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis, S. 12. 70 Ebd. 71 SW 7, S. 19.



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zu vernichten, erliegen“. Er habe ihn „selbst nur zu oft empfunden“.72 Von jener am eigenen Leib erfahrenen Regressionswucht gibt Jünger bald darauf eine Kostprobe. Die Infanteristen imaginiert er als „Fürsten des Grabens“, „mit  […] harten, entschlossenen Gesichtern, tollkühn  […] mit scharfen, blutdürstigen Augen“: „Der Grabenkampf ist der blutigste, wildeste, brutalste von allen […]. “73 In Der Kampf als inneres Erlebnis baut Jünger die Argumentationsfigur einer stammesgeschichtlich begründeten Militanz aus. Von einem historischen Bewusstsein, das Karl Heinz Bohrer Jüngers „Rekonstruktion des Archaischen“ unterlegt (und als Gegensatz zu Benns mythophilem Kontemplations-Biologismus deutet), kann dabei allerdings nicht die Rede sein.74 Die dem Landsknecht von Jünger attestierte Lust am blutigen Töten? – Sie zeige den Menschen des frühen 20. Jahrhunderts als einen aus „drückenden“ entwicklungsgeschichtlichen „Träumen“ Erwachenden: „Der ungeheuerliche Traum, den die Tierheit in ihm geträumt“, sei eine Form der „Erinnerung an Zeiten, wo sich der Mensch in stets bedrohten Horden durch wüste Steppen kämpfte […]. “75 Oder ein anderes Beispiel: Der Soldat lässt sich vom Gegner auch nicht im Schlaf überraschen?  – „Dieser Griff aus der Tiefe des Schlafes heraus zur Waffe war etwas, das im Blute lag, eine Äußerung des primitiven Menschen, dieselbe Bewegung, mit der der Eiszeitmensch sein Steinbeil gepackt hatte.“76 Auch die unter dem euphemistischen Lemma „Eros“ geschilderte Verrohung der Sitten durch männliche 72

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Ernst Jünger: In Stahlgewittern. Historisch-kritische Ausgabe, 2.  Bde., hrsg. v. Helmuth Kiesel, Bd. 1, Stuttgart 2013, S. 456. In der vierten Fassung der Stahlgewitter (1934) ist dieser Passus dann gestrichen; auch in spätere Fassungen wird er nicht aufgenommen. Vgl. dazu ebd., Bd. 2, S. 339. Die der Schilderung zugrunde liegende Begebenheit – deutsche Sanitäter geraten in den Einflussbereich der englischen Infanterie – findet sich auch in einem Eintrag vom 27. 10. 1917 in Jüngers Kriegstagebuch, das die Grundlage für In Stahlgewittern bildet. Allerdings ist hier noch nicht davon die Rede, dass der Rot-Kreuz-Trupp unter Beschuss gerät (was Jünger nachweislich seiner Ausführungen in den Stahlgewittern erst später erfahren hat); damit entfällt auch die Notwendigkeit einer – etwa wie dann in den Stahlgewittern präsentierten: ‚atavistischen‘ – Erläuterung der Motivation des Tötens. Vgl. Ernst Jünger: Kriegstagebuch 1914–1918, hrsg. v. Helmuth Kiesel, Stuttgart 2010, S. 333. Jünger, In Stahlgewittern, Bd.  1, S.  484. Der letzte Satz dieses Zitates ist in der sechsten Fassung der Stahlgewitter (1961) getilgt und auch in die Fassung letzter Hand (1978) nicht mehr integriert worden. Vgl. dazu Jünger, In Stahlgewittern, Bd. 2, S. 354. Bohrer zieht hier Benns Urgesicht (1929) zum Vergleich heran: „Der Unterschied zwischen Benns und Jüngers Rekonstruktion des Archaischen liegt darin, daß Benn die Rekonstruktion kontemplativ vornimmt, sie trotz vergleichbarer atavistischer Erfahrung als Arzt in unmittelbarer Nähe zu einem literarisch vermittelten, biologistischen Mythos vornimmt, […] während für Jünger, dem literarisch weniger Reflektierenden, historisch aber Bewußteren, die eigene archaische Erfahrung sich nicht literarisiert, sondern zum Problem wird.“ Bohrer, Die Ästhetik des Schreckens, S. 82. SW 7, S. 17  f. Ebd., S. 29.

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Triebenthemmung stellt sich in diese argumentative Tradition77. In Sturm heißt es dann: „[S]tärker hatte der haarige Mensch der Steppe, der beutegierige Jäger, geliebt, der in seinen Höhlen um grelle Feuer hockte […]. “ Und was ist – abschließend gefragt – mit den Schreien der Sterbenden? – „Das ist ein uraltes, furchtbares Lied aus unserer Morgenröte, von dem man nie gedacht hätte, daß es noch in uns lebendig wäre.“78 Selbst der Kraftzuwachs, den Jünger den Landsknechten angesichts alkoholischer Rauschzustände zuschreibt, bekommt seine ganz eigene Geschichte: „Irgendein kühnes Erbe lohte im Blut, es mochte mancher Kreuzfahrer, Raubritter, Normanne oder Bundschuhträger auferstehen.“79 Die bis in unterschiedliche Kulturstufen hinein imaginierte Regression macht deutlich, dass Jünger die Weitergabe von Erinnerungen an vergangene Entwicklungsstadien im Medium des organischen Gedächtnisses ‚Blut‘ für möglich hält. Haeckel und Freud kommen in diesem Punkt zu ganz ähnlichen Annahmen. Beider Gewährsmann ist in dieser Frage Jean-Baptiste de Lamarck oder vielmehr das, was der Neolamarckismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts aus ihm gemacht hat.80 Im Kern geht es hier um die Weitergabe erworbener Eigenschaften auf der Grundlage materiell-organischer Erinnerungsspuren (‚Zellseele‘ ‚Blut‘); um Erinnerungen mithin, die unterhalb der Bewusstseinsstufe tradiert werden. Die kriegerische Aktualisierung des Bluterbes zeigt sich bei Jünger als Reaktion auf die Höherentwicklung des Intellektes; wobei er im Gegensatz zu Benn auf hirnphysiologische Argumente verzichtet,81 gleichwohl jedoch „Gehirn“ häufig als Schimpfwort nutzt.82 Bei Freud führt die Annahme 77 78

Vgl. ebd., S. 35–40. Ebd., S. 87. Vergleichbar heißt es zum Schluss in Sturm angesichts einer schweren oder tödlichen Verwundung: „Sein letztes Gefühl war das des Versinkens im Wirbel einer uralten Melodie.“ – SW 15, S. 74. 79 SW 7, S. 58. 80 Vgl. zum Neolamarckismus Bowler, The Eclipse of Darwinism, S. 75–106. 81 In Sturm heißt es: „Was hatte ihn (Sturm – N.K.) zur Armee gerissen […]? Das war schon der Krieg gewesen, den er im Blute trug wie jeder ausgesprochene Sohn seiner Zeit, lange bevor er als feurige Bestie sich in die Arena der Erscheinung schnellte. Denn der Intellekt hatte sich überspitzt, er sprang als paradoxer Seiltänzer zwischen unüberbrückbaren Gegensätzen hin und her.“ – SW 15, S. 25. Vgl. zu Benns Bezug auf die biologische Entwicklungsgeschichte des menschlichen Gehirns anhand dessen Rezeption von Paul Flechsigs Gehirn und Seele: Gess, Primitives Denken, S. 284–288; Hahn, Gottfried Benn und das Wissen der Moderne, Bd. 1, S. 64–84. 82 So ist etwa von „theoretisierende[n] Gehirne[n] ohne Fleisch und Blut die Rede“. Ernst Jünger: Der Pazifismus [1925], in: Ders., Politische Publizistik, S. 131–139, hier: S. 133; vgl. auch Ders.: Die Tradition [1925], in: Ebd., S. 125– 131, hier: S. 127 („verkommene Gehirne“); Ders.: Der Internationalismus [1925], in: Ebd., S. 139–146, hier: S. 144 („amerikanische[s] Gehirn“); Ders.: Die Maschine [1925], in: Ebd., S. 157–162, hier: S. 161 („zeitfremde[.  .] Gehirne[.  .]“); Ders.: Das Blut [1926], in: Ebd., S. 191–196, hier: S. 193 („Den Wert des Blutes durch das Gehirn, durch Mittel der modernen Naturwissenschaften beweisen wollen, das heißt den Knecht für den Herren zeugen lassen.“); Ders.: Schließt euch zusammen! [1926], in:



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unbewusster, in psychoanalytischer Hinsicht besser gesagt: unterbewusster Erinnerungskomplexe zur Verschränkung phylogenetischer Spekulationen mit ontogenetisch nachweisbaren Pathologien. Viele „Geisteskrankheiten“ seien, so Freud, auf die Ausschaltung entwicklungsgeschichtlich später „Erwerbungen“ zurückzuführen und damit auch auf einen – ‚Gesunden‘ freilich verwehrten – Zugriff auf organisch frühe Erinnerungssequenzen: „Das Wesen der Geisteskrankheit besteht in der Rückkehr zu früheren Zuständen des Affektlebens und der Funktion.“83 Geisteskranke, Urmenschen (‚Wilde‘) und Kinder – die Zuordnung dieser Gruppe zu den ‚primitiven Denkern‘ ist bekannt.84 Jünger fügt mit dem Frontsoldaten lediglich eine weitere Figur hinzu. Wie eng er diese an das bereits etablierte Paradigma des Urmenschen rückbindet, dürfte bisher deutlich geworden sein; doch auch das Kind ist als Bezugsfolie präsent. Ich hatte bereits auf den Vergleich der soldatischen Lust am Grauen mit der „atavistischen Lust der Kinder“85 an Jahrmarktunterhaltungen hingewiesen, um den Zusammenhang von urmenschlichem (atavus, der Urahn), soldatischem und kindlichem Primitivismus zu verdeutlichen. Auf die Kindern zugesprochene Lust an schaurigen Erzählungen verweist Jünger an anderer Stelle: „Da bebten alle Fibern, man hätte sich in eine sichere Höhle verkriechen mögen und konnte doch nicht genug bekommen.“86 Im Primitivismus des Grauens können sich bei Jünger Soldat, prähistorisch konturierter Urmensch und Kind deshalb treffen, da sie sich auf der gleichen Entwicklungsebene befinden. Die zeitgenössische Entwicklungspsychologie sah im Kind auf der ontogenetischen Stufe das, was auf phylogenetischer Ebene der Wilde ist.87 Analogische Spiegelungen waren in dieser Hinsicht an der Tagesordnung. Wissensgeschichtlich betrachtet lässt sich die Einheit des Grauens also belegen. Allein der ‚Geisteskranke‘ fehlt – ein Vergleich mit dem Frontsoldaten wäre wohl aus Jüngers Perspektive seiner Diskreditierung

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Ebd., S. 216–223, hier: S. 217 („blutleere[.  .] Gehirne[.  .]“); Ders.: Zum Geleit [1927], in: Ebd., S. 369–373, hier: S. 371 („Es wirkt […] die große Leere und Unfruchtbarkeit, die kalte Arbeit von Gehirnen, die kein Schlag des Herzens mehr erwärmt […]. “). Freud, Zeitgemäßes über Krieg und Tod, S. 337  f. Bereits in Totem und Tabu (1912) weist Freud auf die Gemeinsamkeiten der Denkmuster von Neurotikern und Primitiven hin. Vgl. Gess, Primitives Denken, bes. S. 29–135. Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis, S. 12. SW 7, S.  18. Thomas Weitin weist angesichts dieser Passage zurecht darauf hin, dass bei Jünger „Urmensch, Frontsoldat und Kleinkind […] in der Reflexion des Zusammenhangs von Grauen und Erzählung“ verbunden werden. Allerdings geht es dem Text hier weniger darum, wie Weitin meint, „die Schwierigkeiten und Darstellungsprobleme, vor die er sich gestellt sieht, einzuholen“ (Weitin, [Art.] Der Kampf als inneres Erlebnis, S. 61), als vielmehr darum, den Frontsoldaten an den etablierten und daher – in legitimatorischer Hinsicht – doch recht unproblematischen Diskurs des Primitiven anzuschließen. Vgl. zum Wilden und zum Kind als Primitive in Ethnologie und Entwicklungspsychologie des frühen 20. Jahrhunderts nochmals Gess, Primitives Denken, S. 29–105.

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gleichgekommen; ‚Steigerung des Lebens‘ hin oder her. Doch kehren wir noch einmal zum Beginn von Der Kampf als inneres Erlebnis zurück. Den Ausgangspunkt Jüngers markiert, wie erwähnt, der Urwald. Bereits sieben Jahre vor Der Kampf als inneres Erlebnis hatte Robert Müller mit seinem Tropen-Roman (1915) aus dem evolutionsbiologischen Entwicklungsdenken literarisches Kapital geschlagen. Jüngers „endlose Kette der Ahnen“, die die Entwicklung des „Einzelnen“ an phylogenetische Prozesse verweist, findet sich auch bei Müller.88 Der Urwald wird hier zum Ort der individuellen Rückreise in die stammesgeschichtliche Vergangenheit. Und wie bei Jünger auch, bildet den eigentlichen Zielpunkt der Regressionsphantasien nicht Haeckels „uraltes Protozoon“89, sondern ein primitiv-gewalttätiges Triebleben. Der Held des Romans, Brandlberger, findet gemeinsam mit zwei Freunden bei den ‚Indianern‘ des Amazonasregenwaldes jene Regressionsstufe der menschlichen Entwicklung gespiegelt, auf die sie sich selbst begeben wollen, um ihre Triebe ausleben zu können. Besonders die ‚Urwaldkönigin‘ Zana ist es, die das Begehren der drei Weißen weckt. Sie wird assoziiert mit „Urwald“, „Sinnlichkeit“, „Rohheit“ und einem „schrecklichen, verwirrenden Trieb“; wobei dies gleichzeitig die Attribute sind, die „die Tropen im Gemüt des weißen Mannes“90 markieren. Dieses Verständnis der Tropen unterlegt auch Thomas Mann dem allzu disziplinierten Gemüt seines Gustav von Aschenbach in Der Tod in Venedig (1912), wenn er ihn von „eine[r] Art Urweltwildnis“ träumen lässt.91 Mit Blick auf Müller gilt: Dass für seinen Held Brandlberger die „Frau […] ihrerseits nie aus den Tropen herausgekommen ist“92, bedeutet

88

Müllers Protagonist Brandlberger formuliert: „Im Schachte meines Bewußtseins, im Berge meiner Herkunft schlummerte eine Stimmung aus der Vorzeit von Millionen Wesen […]. Meine Identität mit diesem Zustande war festgestellt. In diesen seimigen Tiefen hausten Wesen, denen ich einmal ein lieber Kollege gewesen war. Vorzeiten siedelte sich die stammhaltende Zelle in diesen Urwaldpfützen umher […]. “ Robert Müller: Tropen. Der Mythos einer Reise [1915], Stuttgart 1993, S. 27  f. 89 Haeckel, Die Welträthsel, S. 51. 90 Müller, Tropen, S.  37. ‚Urwald‘ und ‚Zana‘ sind für Brandlberger Synonyme: „Ich überschreibe eine ganze Folge von Ereignissen mit dem Namen Zanas, aber ich denke dabei an den großen Wald, den Urwald. Und gerade weil ich dabei an den Wald denke, schreibe ich Zana, denn eins steht fürs andere […]. “ – Ebd., S. 74 91 Bei Mann heißt es ausführlich mit Blick auf von Aschenbachs Reisefantasien: „[E]r sah, sah eine Landschaft, ein tropisches Sumpfgebiet unter dickdunstigem Himmel, feucht, üppig und ungeheuer, eine Art Urweltwildnis aus Inseln, Morästen und Schlamm führenden Wasserarmen, – sah aus geilem Farrengewucher, aus Gründen von fettem, gequollenem und abenteuerlich blühendem Pflanzenwerk haarige Palmenschäfte nah und fern emporstreben […] – und fühlte sein Herz pochen vor Entsetzen und rätselhaftem Verlangen.“ Thomas Mann: Der Tod in Venedig, in: Ders.: Frühe Erzählungen 1893–1912, Große kommen. Frankfurter Ausgabe, hrsg. v. Heinrich Detering u.  a., Bd. 2.1, hrsg. u. textkritisch durchgesehen v. Terence J. Reed unter Mitarbeit von Malte Herwig, Frankfurt/M. 2004, S. 501–592, hier: S. 504. 92 Ebd., S. 37.



2.1  „Die Frau […] ist […] nie aus den Tropen herausgekommen.“

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nichts anderes, als dass sie stammesgeschichtlich betrachtet noch immer auf einer primitiven Entwicklungsstufe verharrt. Nicht anders verhält es sich mit dem Frontsoldaten Jüngers. Dieser rekapituliert gleichfalls phylogenetisch längst vergangene Zustände. Ein großer Unterschied ist freilich darin auszumachen, dass Jüngers Kriegsprimitivismus konsequent auf die Urgeschichte des Menschen rekurriert und nicht wie Müller auf zeitgenössische ‚wilde‘ Indigene. Sowohl vom Standpunkt der zeitgenössischen prähistorischen Anthropologie wie auch von dem der Ethnologie bekommt man diese Differenz nicht in den Blick, da die Befunde der einen Disziplin in den Befunden der anderen gespiegelt werden. Demzufolge lassen sich die frühesten Kulturstufen des Menschen, so die Prähistorik, durch die Beobachtung der Lebensformen der ‚Wilden‘ rekonstruieren. Die Ethnologie argumentiert ganz ähnlich, wenn sie diese ‚primitiven‘ Lebensformen als Reste einer vormals den gesamten Erdball umspannenden niederen Kulturform deutet. ‚Wilde‘ und Urmenschen, so die grundlegende Gemeinsamkeit, stehen außerhalb der Zivilisationsgeschichte; sie sind Teil der Naturgeschichte. Wenn bei Jünger „des Lebens Wellenkurve zur roten Linie des Primitiven zurückschwingt“93, so ist damit ein stammesgeschichtlicher Entwicklungszustand aufgerufen, der den ethnologisch konstituierten ‚Primitiven‘ ausschließt und allein den auch tatsächlich zeitlich frühen Menschen meint. Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum einen hängt dies damit zusammen, dass Jüngers zyklisches Geschichtsdenken im Krieger die – analoge – Aktualisierung einer vergangenen menschheitsgeschichtlichen Stufe ausmacht. Der ‚Primitive‘ der Ethnologie ist hingegen auf der Erdoberfläche noch präsent; er kehrt nicht zyklisch wieder, sondern existiert parallel zu den Kulturvölkern – vor-geschichtlich zwar, aber eben auch zivilisationsparallel. Eine weitere, gewichtigere Ursache für Jüngers expliziten Rekurs auf den Urmenschen ist sicherlich darin zu sehen, dass das Aggressionspotenzial, welches der analogischen Argumentation zur Verfügung steht, innerhalb der noch nicht abgeschlossenen Hominisation höher eingestuft wird, als dies mit Blick auf den anthropologisch bereits fertig ausgestatteten Naturmenschen der Fall ist. In diesem Sinne steht Jüngers Cro-Magnon-Kämpfer noch mit einem Bein in der Affenwelt entfesselter Mordlust; während der ‚Primitive‘ durch die beendete Anthropogenese seiner ‚natürlichen Ausstattung‘ nach potenziell kulturfähig erscheint. Im Kern geht es Jünger also um das „paläoanthropologische Verhaltenspotential“94. Jünger und Müller wollen die evolutionsbiologische Argumentation an eine lebensphilosophische anschlussfähig halten. Jünger geht jedoch über Müller hinaus, der in den Tropen zwar die Entfesselung von triebhafter 93 94

SW 7, S. 15. Prümm, Die Literatur des soldatischen Nationalismus, Bd. 1, S. 146.

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2  Urgeschichte der Natur

Bestialität imaginiert, – dies jedoch nicht im Zeichen einer Bestätigung des ‚Lebens‘ im Vergehen. Tot und Vernichtung dienen bei Jünger dem „Leben, dem siegreichen, ewig jungen“. Die „Körper“ der „Gewesenen“ werden „so erhoben zu ewigen Trägern lebendiger Kraft“95. Daraus ergeben sich auch unterschiedliche Arten des Sterbens. Bei Müller ist der Lustmord der Höhepunkt des Grauens, bei Jünger der Massentod. In Sturm verbindet sich dann eine vitalistische Deutung des tropischen Ursprungs mit einer „gewissen Dekadenz“. Der Krieg firmiert hier als „atavistische Springflut“, die „in die Ebenen einer späten, an jeden Luxus gewöhnten Kultur gebrochen war.“96 Die Soldaten finden in diesem Umfeld sogar Gefallen an der Lektüre von „Juvenal, Rabelais, Li-tai-pe, Balzac und Huysmans“. „Sturm hatte diesen Geschmack einmal definiert als Freude am Duft des Bösen aus den Urwäldern der Kraft.“97 Man kann in dieser Verbindung von Baudelaire und Haeckel, von Ästhetizismus und philosophierendem Biologismus durchaus ein Moment der Verbindung von Natur- und Literaturgeschichte ausmachen. Die literarische décadence der Jahrhundertwende avanciert dabei zur Projektionsfläche vitalistischer Naturgeschichtsschreibung. Jene aus den „Urwäldern der Kraft“ wachsenden Fleurs du Mal sind der Versuch einer literaturgeschichtlichen Sublimation eines im Grunde inkommensurablen Kriegsgeschehens.

2.1.3  Urmenschen unter sich. Von der „geistigen Raumscheu“ zum Todesgrauen Bei Jünger hat auch das Grauen seinen anthropogenetischen Ort.98 Es unterscheidet den Menschen entwicklungsbiologisch vom Tier, das allein „Schreck“ und „Angst“ empfinden kann: „[D]och das Grauen ist ihm fremd.“99 Jünger ordnet das „Grauen […] dem Ring von Gefühlen“ zu, „die seit langem in unseren Tiefen ruhen, um bei gewaltigen Erschütterungen mit Urkraft hervorzubrechen.“100 Dem Urmenschen war es [das Grauen – N.K.] steter, unsichtbarer Begleiter auf seinen Wanderungen durch die Unermeßlichkeit öder Steppen. Es erschien ihm in der Nacht, in Donner und Blitz, und warf ihn mit würgendem Griff in die Knie,

95 SW 7, S. 14. 96 SW 15, S. 18. 97 Ebd. 98 Vgl. umfassend zum – literaturgeschichtlich (‚Ästhetizismus‘) und erlebnishaft (‚Krieg‘) erschlossenen – ‚Grauen‘ beim frühen Jünger: Bohrer, Die Ästhetik des Schreckens, S. 75–159. 99 SW 7, S. 18. 100 Ebd.



2.1  „Die Frau […] ist […] nie aus den Tropen herausgekommen.“

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ihn, unseren Ahnen, der, seinen armseligen Kieselstein in der Faust, allen Mächten der Erde gegenüberstand. Und doch hob gerade dieser Augenblick seiner größten Schwäche ihn über das Tier hinaus.101

Das Grauen wird zum „Wetterleuchten der Vernunft“102, in der Erstfassung gar zusätzlich zur „Vorstufe der Religion“103 erklärt. Ihm kommt also eine enorme anthropogenetische Signifikanz zu: es macht ihn zum Menschen. Gepaart mit einer „atavistische[n] Lust“104 sei es, so Jünger, noch heute jedem vertraut. Die Überlegung, den Prozess der Menschwerdung als Einübung in die Unwägbarkeiten des Daseins zu deuten, findet sich bereits bei Wilhelm Worringer. Sein epochemachendes Konzept der Abstraktion fußt ganz maßgeblich auf einer evolutionsbiologischen Argumentation. Der „Abstraktionsdrang“, so Worringer in Abstraktion und Einfühlung (1907/1908), sei nichts anderes als die „Folge einer großen inneren Beunruhigung des Menschen durch die Erscheinungen der Außenwelt“105. Er spricht hier auch von einer „geistigen Raumscheu“, die es zu kompensieren gelte. Indem das „einzelne Ding der Außenwelt aus seiner Willkürlichkeit“ durch „Annäherung an die abstrakte Form“106 ruhiggestellt werde, verliere es seine Bedrohlichkeit und Kontingenz. Die Angst, der durch Abstraktion abzuhelfen sei, lasse sich als „ein Überbleibsel aus einer normalen Entwicklungsstufe des Menschen“ deuten, so Worringer, in der dieser noch nicht allein dem Sehsinn vertrauen konnte, sondern alle wahre Erkenntnis dem Tastsinn unterstellte. „Sobald der Mensch Zweifüßler und als solcher allein Augenmensch wurde, mußte ein leises Unsicherheitsgefühl zurückbleiben“107 – dem die Abstraktion entgegentrat. Die Unterschiede sind schnell referiert. Bei Worringer geht es um künstlerische Strategien der Kompensation epistemischer Angst; bei Jünger hingegen um eine interpretative Freisetzung des Grauens, nicht um dessen Eindämmung. Und während bei Jünger die Naturgewalten für Grauen sorgen – er spricht hier vom „elementar Verhängnisvolle[n]“ und meint damit „die wie zur Urzeit von ständiger Drohung geladene Umgebung“108 –, ist es bei Worringer die Angst vor der Unerkennbarkeit der Welt. Beide rekurrieren jedoch auf das entwicklungsbiologische Argumentationsreservoir, und das 101 Ebd. 102 Ebd. 103 Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis, S. 11. 104 Ebd., S. 12. 105 Worringer, Abstraktion und Einfühlung, S. 82. 106 Ebd., S. 82  f. 107 Ebd., S. 82. Vorhergehendes Zitat gleichfalls. 108 Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis, S. 24.

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2  Urgeschichte der Natur

in zweifacher Hinsicht. Zum einen beziehen sie sich auf Frühformen des Menschen: Jünger auf den „Urmenschen“; Worringer auf den „Zweifüßler“, der soeben den aufrechten Gang gelernt hat (und damit heute wohl als Australopithecus anzusprechen wäre). Zudem umspielen beide die Grenze der Menschwerdung, indem sie eine bestimmte – motorische (Worringer) und psychische (Jünger) – Entwicklungsstufe zum Zeichen des Menschseins erklären; vorhergehende Entwicklungen hingegen – Kriechen (Worringer) und ‚Schreck‘ sowie Angst (Jünger) – in die anthropologische Vorgeschichte einordnen. Zum anderen ist der verbindende Rekurs auf das entwicklungsbiologische Argumentationsreservoir dadurch gekennzeichnet, dass der eigentliche Prüfstein seiner Geltung nicht so sehr das (natur-)historische Referenzobjekt ist; entscheidend ist demgegenüber die Aktualisierungsdimension. In gleichem Maße, in dem Worringer den „Zweifüßler“ zur Bändigung seiner „geistigen Raumscheu“ auf dem Weg in die Abstraktion sieht, ist die ‚abstrakte Kunst‘ der Gegenwart auf dem Vormarsch. Gleiches gilt für Jünger. Auch seine These von der anthropogenetischen Relevanz des Grauens hat sich nicht am historischen Urmenschen (oder innerhalb des sich ihm widmenden vorgeschichtlichen Diskurses) zu beweisen, sondern an seiner plausiblen Wiederkehr als Kämpfer im Weltkrieg. Das argumentative Kapital, auf das Jünger setzt, besteht gerade darin, dass der Frontsoldat Zugang zu „Gefühlen“ hat, „die seit langem in unseren Tiefen ruhen“, jedoch „die hohe Stirn des Modernen“ nur „[s]elten umflattern“109. In diesem Sinne ist der Soldat ganz wörtlich unmodern – er ist Urmensch. Als verbindendes Element kommt darüber hinaus der Anti-Rationalismus hinzu. Deutlich wird dies, wenn man die Kontrastfolien Jüngers und Worringers in den Blick nimmt. Bei Worringer ist es ein einfühlungsästhetischer Intellektualismus, der im Gewand des eurozentristischen Klassizismus den „Instinkt für das Ding an sich“110 geschwächt habe. Der Abstraktionsdrang reagiere lediglich auf diese Entwicklung. Jünger setzt als Pendant zu seinem urmenschlichen Kämpfer die Trias von Kultur, Fortschritt und Wissenschaft. Diese durchbreche der „wahre Mensch in rauschender Orgie“ – als Entschädigung für das „Versäumte“111. Dass damit beide einer zyklischen Geschichtsvorstellung das Wort reden, scheint offensichtlich; wobei ‚Geschichtsvorstellung‘ nicht das richtige Wort ist: Denn der Zugriff auf das naturgeschichtliche Argumentationsreservoir ergibt sich aus einer Problematisierung der Sinnhaftigkeit der Geschichte und ihrer bisherigen historiographischen Ordnung. Bei Jünger ist die Geschichte nicht mehr Fortschrittsgeschichte und ihre Ordnung nicht mehr die Fortschrittserzählung. Worringers Kritik an der Kunstgeschichte 109 SW 7, S. 18. 110 Worringer, Abstraktion und Einfühlung, S. 84. 111 SW 7, S. 13.



2.2  In der Rolle des Ethnografen primitiver Kultur – Feuer und Blut

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gilt gleichfalls ihrem Werthorizont – den er in der verengten Zentrierung auf die abendländisch-europäische Tradition des ‚Schönen‘ ausmacht –, wie auch den bisherigen narrativen Mustern, die eine linear-teleologische Entwicklung der Kunst organisieren würden.

2.2  In der Rolle des Ethnografen primitiver Kultur – Feuer und Blut Die naturgeschichtliche Argumentation Jüngers ist Teil jenes vitalistischen Denkens, das in der ‚Krise des Historismus‘ der 1920er-Jahre weit verbreitet ist. Naturgeschichte und Vitalismus sind zwar nicht per se miteinander verbunden, bekommen jedoch aus dem Kontext der 1920er-Jahren heraus betrachtet eine nur schwer von der Hand zu weisende Affinität. Die im Anschluss an Edward B. Tylors Primitive Culture (1871) entstandenen ethnologischen Arbeiten tendieren generell dazu, indigene Kulturen als geschichtslos zu klassifizieren und damit als noch heute zugänglichen Ort menschlicher Ursprünglichkeit auszuweisen. Diese Ursprünglichkeitsbehauptung ist umso erfolgreicher, je mehr sie in der ‚Krise des Historismus‘ als Orientierung zu überzeugen versteht und als Identitätsangebot angenommen wird. Innerhalb des ethnologischen Diskursfeldes werden also ganz maßgeblich jene von Ernst Troeltsch kritisierten „poetische[n] Bilder neuer Ursprünglichkeit und Lebensfrische oder mystischen Erkenntnisersatzes“112 geschaffen, die so gut mit der vitalistischen Metaphysik harmonieren. Diese harmonische Balance von zeitgenössischem Vitalismus und ethnologisch deduzierter Ursprünglichkeit ergibt sich vor allem deshalb, da die ‚primitiven‘ Kulturen als Konkretisierungen eines trotz aller anti-intellektualistischen Gesten doch recht abstrakten Lebensbegriffes fungieren. Bleibt der Lebensbegriff nicht auch eine Phrase unter anderen, wenn er nicht gefüllt wird? Was die geschichtsund wissensmüde Moderne unter ‚Leben‘ versteht – lässt es sich nicht hier, bei den „sogenannten Primitiven“, beobachten?113 Damit wächst nicht nur, wie der deutsche Volkskundler Leo Frobenius (1873–1938) 1921 meint, das „Interesse für die ‚primitive Kultur‘ […] in die Allgemeinheit hinein“; der abendländische Mensch ist in seiner anthropologischen Orientierungslosigkeit auf den Primitiven geradezu angewiesen:

112 Troeltsch, Die Krisis des Historismus, S. 437. 113 „Der Sehende gewahrt sehr bald, wie dicht“ bei den „sogenannten Primitiven“ „noch alles zutage liegt, was bei uns nicht nur durch Gewohnheit, sondern auch durch massenhaftes Wissen und durch krankhaftes Nur-Anerkennen von ‚Tatsachen‘ überdeckt oder verschüttet ist.“ Leo Frobenius: Paideuma. Umrisse einer Kultur- und Seelenlehre, München 1921, S. 17.

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2  Urgeschichte der Natur Alle jene Fragen, die gerade jetzt unser Volk, ja uns Abendländer insgesamt erregen und die in Europa mühsam am untauglichen Objekt – am untauglichsten, nämlich an uns selbst –, mittelst unserer Sprache und mit unserem materiellen Werkzeug geprüft werden, alle jene Fragen, über die Aktenbündel, ganze Bibliotheken, und täglich Tausende von Zeitungsberichten geschrieben werden, sie alle können von jedem, der Augen hat zu Erkennen, Ohren zum Erlauschen und Fingerspitzen zum wirklichen Fühlen dort unten, da drüben bei jenen Primitiven täglich, stündlich beobachtet werden.114

Fest steht aber auch: Durch die Spiegelung der zeitgenössischen vitalistischen Metaphysik in fremden außereuropäischen Völkern wird die ‚primitive Kultur‘ als Träger einer besonderen, ungeschichtlichen Lebenskraft überhaupt erst konstituiert. Gleichzeitig können jene den Primitiven zugesprochenen Riten und Bräuche zur Selbstbeschreibung der eigenen vitalistischen Verfasstheit dienen. In Atlantische Fahrt (1947), dem Tagebuch seiner BrasilienReise, blickt Jünger bereits etwas distanziert auf dieses Deutungsmuster zurück: „Der Kult des Primitiven, wie er bei uns vor allem im Zusammenhange mit dem Expressionismus auf- und wieder abgekommen ist, bezog sich auf die niederen Äußerungen triebhafter Kraft.“115 Das hindert ihn jedoch keineswegs daran, von diesem Deutungsmuster Gebrauch zu machen und – gleich Robert Müller in seinem Tropen-Roman – das tropische Klima mit einer antigeistigen Vitalitätssteigerung zu assoziieren.116 In Feuer und Blut (1925) argumentiert er jedenfalls noch ganz vom Standpunkt des Vitalismus aus. Vor diesem Hintergrund lässt sich Helmuth Plessners in kritischer Absicht vorgenommene Parallelisierung von vitalistischer Blutemphase und „vorgeschichtliche[m] Leben[.  .]“117 als früher Beitrag zu einer Aufarbeitung des aggressiven Anti-Historismus Jünger’scher Prägung verstehen. Freilich: Dass sich Jünger später über den konstruktiven, eurozentristischen Charakter primitivistischer Imaginationen Rechenschaft ablegt, heißt auch, dass er sich der besonderen Wahrnehmungssituation, die den ‚Wilden‘ überhaupt erst entstehen lässt, durchaus bewusst ist: „[J]eder Blickpunkt“ auf 114 Ebd. 115 SW 6, S. 151. 116 Die „Geschäftigkeit“, die den „europäische[n] oder nordamerikanische[n] Rhythmus“ präge, könne in den Tropen gesundheitliche Schäden nach sich ziehen. Um diese zu vermeiden, müsse man sich an die Brasilianer anpassen: „Doch wie ich höre, gewöhnt man sich bald an eine größere Behaglichkeit und Lässigkeit der Lebensführung; auch verringert sich der geistige Trieb. […] Der seelischen Umstimmung entspricht die körperliche – besonders ändert sich die Blutbeschaffenheit. Sicher entwickeln sich dann angenehme Lebensformen von höherer Vitalität, bei geringerer Geistigkeit.“ Ebd., S. 138. An anderer Stelle spricht Jünger davon, dass „in dieser Urwaldnähe auch der moralische Verfall rapider, gewaltsamer“ (Ebd., S. 157) voranschreite. 117 Helmuth Plessner: Das Schicksal des deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche, Zürich u. Leipzig 1935, S. 178.



2.2  In der Rolle des Ethnografen primitiver Kultur – Feuer und Blut

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den ungeschichtlichen Natur-Raum stehe, so Jünger in Atlantische Fahrt, „in Beziehung zum zivilisatorischen Netz. Im Grunde handelt es sich nicht um räumliche, sondern um geistige Verhältnisse, und das, was wir als ‚Wildnis‘ ansprechen, werden wir stets von einem Außenpunkt sehen, wir müßten denn darin untergehen.“118 Jünger studierte von 1923 bis 1925 in Leipzig Naturwissenschaften119, wobei er „gleichzeitig bei den Philosophen“ seinen „Kursus durchschmarutzen“ wollte. In Das Abenteuerliche Herz I (1929) spricht er angesichts seiner Studienambitionen davon, dass zum Ausklang eine Art Forschungsreise geplant war: Zum Schlusse hatte ich an einen Aufenthalt in einer jenen entlegenen und unberührten Siedlungen inmitten unermeßlicher tropischer Urwälder gedacht, von denen wir bei Frobenius lesen können und in denen sich vielleicht ein Bild von der Seele, wie sie frei von jeder Reflexion in ihrer magischen Landschaft wirksam ist, gewinnen läßt […]. 120

In den Urwald Brasiliens kommt Jünger erst 1936.121 Doch bereits in Feuer und Blut sind jene „magischen Landschaften“ präsent, in denen primitives Denken – „frei von jeder Reflexion“ – erfahrbar wird, und zwar als Selbstbeschreibung eines soldatischen Vitalismus, der sich im Gewand einer regressiven Stilisierung selbst legitimiert. In Ergänzung zu Der Kampf als inneres Erlebnis ist der rote Faden, der Mensch und Tier verbindet, hier nicht mehr nur anthropogenetisch codiert, sondern auch ethnologisch.122 Die Beschreibung des Krieges folgt in Feuer und Blut, darauf hat Uwe Schütte hingewiesen, einer „[k]ulturanthropologischen Perspektive“, die „Ritus, Ekstase und Opfer“123 in den Mittelpunkt stellt. Diese Ritualisierung des Kriegsalltages trägt dabei unverkennbar jene Charakteristika, die Edward B. Tylor dem „revival“ (Wie118 119 120 121

SW 6, S. 133. Vgl. Zissler, In der Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen, S. 136  f. SW 9, S. 98. Nachzulesen sind die Reiseerlebnisse in der bereits herangezogenen Atlantischen Fahrt. Vgl. ausführlich zu Jüngers Brasilien-Reise Jan Robert Weber: Ästhetik der Entschleunigung. Ernst Jüngers Reisetagebücher (1934–1960), Berlin 2011, S. 141–152, S. 247–264. 122 Jünger spricht hinsichtlich des ethnologischen Wissens um die Verbindung von Mensch und Tier an anderer Stelle von „einer magische[n] Welt, eine[r] Welt, von deren Vorhandensein wir erst vor ganz kurzer Zeit Kenntnis genommen haben, obwohl sie weit, weit älter ist als die unserer Zivilisation. Und bei dem Versuch, in die verschlossene Welt von Menschen einzudringen, die vom fortschrittlichen Denken noch vor kurzem als ‚Wilde‘ in ein untergeordnetes Reich des Seelenlebens verwiesen wurden, bekommen wir eine Ahnung, daß dort der Mensch zum Tier in einem weit tieferen und fruchtbareren Verhältnis steht als bei uns etwa ein Professor der Zoologie.“ Jünger, Totem [1927], 342. 123 Uwe Schütte: [Art.] Feuer und Blut. Ein kleiner Ausschnitt aus einer großen Schlacht, in: Schöning (Hrsg.), Jünger-Handbuch, S. 74–77, hier: S. 76  f.

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2  Urgeschichte der Natur

deraufleben) vormaliger Kulturmuster zuordnet.124 Solche „revivals“ stellen etwa „Gedanken und Gewohnheiten“ dar, die – „zum Erstaunen einer Welt, welche sie für längst gestorben oder sterbend hielt“125 – wieder hervortreten. Jünger wird „revivals“ in diesem Sinne in Auf den Marmorklippen (1939) eine wichtige Rolle als Symptom des kulturellen und moralischen Verfalls in der Marina einräumen. Ich werde darauf zu sprechen kommen.126 In Feuer und Blut geht es zunächst um die Imagination des Krieges als eines revivals vorgeschichtlicher Opferriten. In der Vorbereitung auf den Kampf (Rausch, innere Einkehr), in den Kriegshandlungen selbst (Ekstase, Entselbstung) und in der Deutung des Kriegsgeschehens (Prüfung, Lebensbejahung) zeigen sich deutlich jene Verhaltensmuster, die die zeitgenössische Ethnologie vorgeschichtlichen Kulturen zuordnet. Insofern überrascht es auch nicht, dass Jünger seine Soldaten hinsichtlich des Feindkontaktes „den Atem eines mächtigen, rätselhaften Tieres“ spüren lässt – „wie Jäger in einem urweltlichen Land“127 – und die „Mammute aus dem Reiche der Artillerie“128 in Stellung bringt: lässt sich doch in einer solchen Umwelt die Rückkehr zu bereits abgelegten Handlungs- und Deutungsmustern recht gut verdeutlichen.129 Bereits in Sturm firmiert der Alkoholrausch als Zugang zu einer prä-reflexiven, früh-anthropogenetischen Entwicklungsstufe.130 Hier knüpft Feuer und Blut an. Nehmen wir zunächst die mentale Vorbereitung auf den Kampf in den Blick. Hier arbeitet der Text zunächst an einer rauschhaften Beglaubigung der schicksalshaften Notwendigkeit des Krieges. Nach einer kontemplativen Vergegenwärtigung des organologischen Vitalismus in der Natur131 wird das 124 Schütte verweist auf James George Frazers The Golden Bough (1890). Ebd., S. 76. 125 Edward B. Tylor: Anfänge der Cultur. Untersuchungen über die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte, 2. Bde., Bd. 1, aus d. Englischen übersetzt unter Mithilfe des Verfassers v. J.W. Spengel und F. Proske, Leipzig 1873, S. 17. 126 Vgl. Kap. 4. 127 SW 1, S. 459. 128 Ebd., S. 468. 129 In An den Gegner (1929) nimmt Jünger die Metaphorik von Urlandschaft und Jagdgeschehen auf: „Wirklich – die Landschaft, in der wir damals hausten, hatte etwas von einem afrikanischen Urgebiet, in dem zwei mächtige Naturkräfte gegeneinander im Kampfe liegen.“ Die Spuren des Feindes „bemühten wir uns zu lesen wie die […] Fußstapfen eines mächtigen, unbekannten Tieres, das nächtlich zur Tränke zog.“  – Jünger: An den Gegner [1929], in: Ders., Politische Publizistik, S. 455–458, hier: S. 456. 130 „‚So entzündeten sich die verborgenen Kräfte des Blutes zur Wiedergeburt von Zuständen, die schon sehr fern im Dämmer lagen. Das Ungeteilte, der Ursprung, wurde lebendig und schrie nach Entladung, nach einfacher und wilder Tat. Das war ein schönes, kräftiges Gefühl, ein Sichwiederfinden aus dem qualvollen Unsinn der Vernunft.‘“ – SW 15, S. 67. 131 „Es gibt im Strom der Zeit, in diesem unaufhörlichen Werden, das uns umgibt, Augenblicke, in denen wir rasten und erkennen, daß etwas geworden ist. In solchen Augenblicken wird uns deutlich […] wie alles aus der Tiefe hervorwächst und ins Dasein tritt, um kurze Zeit zu



2.2  In der Rolle des Ethnografen primitiver Kultur – Feuer und Blut

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Textsubjekt über den bevorstehenden Kampfeinsatz informiert. Die Reaktion ist eindeutig: „So wollen wir denn wie schon so oft die bunten Vorhänge des Rausches vor das Spiel hängen, zu dessen donnernder Ouvertüre das Schicksal bereits den Taktstock erhoben hat.“132 Die Betonung des iterativen Charakters verdeutlicht die rituelle Funktion der Zusammenkunft; wobei die Versöhnung des Krieges als abstrakter Geschichtswille mit der individuellen Hilflosigkeit über eine Steigerung des Rausches in die kontrollierte RauschAggression zur Tat führt: „So wollen wir trinken und die Scherben gegen die Wand spritzen lassen und uns freuen, das harte Werkzeug eines harten Willens zu sein […] und in dem, was das Schicksal will, auch noch unseren eigenen, persönlichen Willen sehen.“133 Der anaphorische Beginn („So wollen wir […]. “) imitiert die Formelhaftigkeit der Verkündigungsrede, wobei der „geheimere[.  .] Sinn“ des Krieges, auf den es sich einzustimmen gilt, darin besteht, dass eine „uralte Entscheidung, die stets von neuem an den Menschen herangetragen wird“134, zyklisch wiederkehrt. Der Hinweis auf den „alte[n] Brauch“135 verweist zudem auf die kulturelle Tradition, die in der rituellen Praxis buchstäblich wiederauflebt. Dabei übernimmt die rauschhafte Einschwörung des individuellen Willens auf den übergeordneten ‚Lebenswillen‘ die von Tylor primitiven Kulturen zugeschriebenen vorrationalen Erklärungsmuster: Der vitalistische Irrationalismus spiegelt sich im prä-rationalen Denken des ‚Primitiven‘. Dem Krieg kommt dabei die Rolle zu, die Tylor Naturereignissen zuweist. Sowohl Krieg als auch Natur müssen gedeutet und bewältigt werden. Jene mentale Vorbereitung auf den Kampf, die den Einzelnen auf seine „geheimnisvolle Aufgabe“ innerhalb des vitalen Gesamtzusammenhangs verpflichtet, mündet in der Kriegshandlung in Besessenheit. Der „überwältigende[.  .] Wille“, auf den es sich rauschhaft einzustimmen gilt, „offenbart“ sich nun in den „Feuerlandschaften“ des Krieges. Neben einer Betonung des zeremoniellen Charakters des Truppenaufmarsches136 ist es bald die Mordlust, die in den Mittelpunkt rückt. Diese machte sich bereits in den Stahlgewittern geltend, bereits hier mit Rauschzuständen verbunden.137 In Feuer und Blut sieht das Textsubjekt im „Mut des Kriegers“ sich

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verweilen und wieder abzutreten und so eine geheimnisvolle Aufgabe zu erfüllen im Wechsel von Werden, Sein und Vergehen.“ – SW 1, S. 441. Ebd., S. 457. Ebd., S. 459. Ebd., S. 451. Ebd., S. 457. „Schweigend wie vor einer feierlichen Handlung zieht das Aufgebot an Zeugen vorbei, und jeder sieht, daß es eine große Sache ist, für die hier gezeugt werden soll, gezeugt durch Feuer und Blut.“ – Ebd., S. 468. In einer ab der sechsten Fassung (1961) gestrichenen, bzw. durch eine gemäßigtere Diktion ersetzten Passage der Erstfassung des Stahlgewitter-Textes heißt es: „In einer Mischung von Gefühlen, hervorgerufen durch Blutdurst, Wut und Alkoholgenuß, gingen wir im Schritt auf

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2  Urgeschichte der Natur

eine „tiefe Weisheit“ aussprechen: „hier redet das Leben selbst, und der Urgrund des Blutes zaubert seine bunten Bilder hervor.“138 Jüngers vitalistische Blutmystik lässt sich als „[h]ässlicher und grausamer Aberglaube“ im Sinne Tylors deuten: „als Überrest eines ehemaligen barbarischen Zustandes.“139 Tylor zählt zahlreiche Opferriten aus unterschiedlichen Kulturkreisen auf.140 Allen gemeinsam ist, dass es um die Abwendung oder Beschwichtigung böser Mächte oder Geister geht. Jüngers Fokus auf das Opfer ist ein anderer. Bei ihm steht die durch das Opfer gewährleistetet Teilhabe am ‚Leben‘ im Mittelpunkt. Daraus ergibt sich auch eine Ekstase des Tötens, die Tylors Beobachtungen fremd ist: Das Opfer muss seiner Deutung nach zwar erbracht werden, seine performative Dimension spielt jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Anders bei Jünger. Hier wird das Töten zum Akt der Sinnstiftung, nicht die mit der Tat assoziierte Schutzgeste. Bereits in Der Kampf als inneres Erlebnis werden die „Landsknechte“ als „Werwölfe, Menschen, die sich in Tiere verwandelten,“141 angesprochen, um den animalischen Tötungsimpuls zu verdeutlichen. Feuer und Blut nimmt diesen Aspekt auf. In der Kampfhandlung des Soldaten wird jenes „Bewußtsein der Tiere“ ausgemacht, „das ganz mit dem Augenblick zusammenfällt und keine Erinnerung und keine Voraussicht kennt.“142 Der behauptete Rückfall in urmenschliche Entwicklungsstufen begleitet damit eine zwar dem ethnologischen Diskurs entnommene, jedoch auf die vitalistische Metaphysik zugeschnittene Rhetorik des Opfers.

die feindlichen Linien los.“ Jünger, In Stahlgewittern, Bd. 1, S. 518; vgl. ebd., Bd. 2, S. 373. Daniela Kirschstein liest In Stahlgewittern als „berauschte Ethnographie“. Im Mittelpunkt ihrer Lektüre stehen die „ethnoliterarischen Verfahren“ des Textes, die den „Krieg als fremde Kultur“ deuten würden. Vgl. Daniela Kirschstein: Writing War. Kriegsliteratur als Ethnografie bei Ernst Jünger, Louis-Ferdinand Céline und Curzio Malaparte, Würzburg 2014, S. 47–111, bes. S. 96–113, Zitat: S. 48. 138 Ernst Jünger: Feuer und Blut. Ein kleiner Ausschnitt aus einer großen Schlacht [1925], 4. Aufl., Berlin 1929, S. 46. Dieser Passus ist in den späteren, ab 1935 erscheinenden Fassungen von Feuer und Blut getilgt. 139 Tylor, Anfänge der Cultur, Bd. 1, S. 110. 140 Vgl. ebd., S. 104–110. 141 SW 7, S. 59. Die Rede vom Werwolf findet sich in ganz ähnlicher Akzentuierung auch in der Erstfassung der Stahlgewitter (vgl. Jünger, In Stahlgewittern, Bd. 1, S. 520). Ab der vierten Fassung (1934) ist sie getilgt (Vgl. ebd., Bd. 2, S. 374). 142 SW 1, S. 496.

3  Tiefe Oberflächen. Vom orthogenetischen Vitalismus zur idealistischen Morphologie (1929–1932) 3.1  Entwicklungsgeschichte des Lebens im Gestaltwandel (Das abenteuerliche Herz I) 3.1.1  Die poietische Kraft der Regression: „niedere Vorform und Keimgeschichte […] einer höheren Existenz“ In der imaginierten Regression erhebt Jüngers biologistischer und ethnographischer Vitalismus  – jenseits gesellschaftspolitischer Analyse  – Ansprüche auf eine Deutung des Krieges. Das Denken in umgekehrten keimgeschichtlichen Entwicklungsstufen wird in Das abenteuerliche Herz I (1929) aufgenommen, jedoch von einer Verpflichtung auf das analogische Potenzial der Triebenthemmung entlastet. Der Zielpunkt der Aufnahme entwicklungsbiologischer Argumente wird hier nun nicht mehr durch die Rehabilitation eines aggressiven Vitalismus markiert, der im Prinzip kulturresistent ist und lediglich zyklisch wiederkehrt. Im Mittelpunkt steht demgegenüber zweierlei. Zum einen geht es um die poietische Kraft der Regression, Erinnerungsbilder früherer Erlebnisse wiederauferstehen zu lassen und diese bis zum Lebensbeginn – und darüber hinaus, d.  h. bis in den pränatalen Zustand – zurückzuverfolgen. Zum anderen spielt die paläontologisch identifizierbare Entwicklungsgeschichte des Lebens entlang der Analyse sich wandelnder Formen und Gestalten eine Rolle, genauer gesagt: das Verhältnis von Lebenskraft und Lebensgestalt. Verbunden bleiben die recht unterschiedlichen Zugriffe auf das entwicklungsbiologische Argumentationsreservoir durch ein Interesse an dem, was nicht sichtbar ist, jedoch das Sichtbare maßgeblich strukturiert – die (platonischen) Urbilder des Lebens. Darin zeigt sich auch das gegenüber den früheren Schriften gewandelte, jedoch gleichwohl das ‚Leben‘ in den Mittelpunkt rückende Interesse.1 Inszeniert wird ein Wechsel1

Norbert Staub macht in einer „[l]ebensideologischen Konfiguration“ ein wichtiges „[e]pistemische[s] Fundament“ des Abenteuerlichen Herzens aus. – Vgl. Norbert Staub: Wagnis ohne Welt. Ernst Jüngers Schrift Das abenteuerliche Herz und ihr Kontext, Würzburg 2000, S. 50–54. Die Kontinuität des lebensphilosophischen Bezugs in Jüngers Arbeiten der 1920er-Jahre nimmt er nicht in den Blick. Auch wenn es richtig ist, dass es – wie er mit Martin Lindner sagt – der ‚Lebensideologie‘ nicht „primär“ um einen „biologischen Funktionalismus oder um eine Philosophie des Organischen“ (S. 51) geht, so zeigt doch gerade Jüngers Frühwerk,

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3  Vom orthogenetischen Vitalismus zur idealistischen Morphologie

spiel von sichtbarer Oberfläche und unsichtbaren Gründen, deren Korrespondenzen der Rang eigener, verborgener – und deshalb einer Erklärung bedürftiger – Wissensordnungen zugesprochen wird. Beginnen wir mit der poietischen Kraft der Regression. Das Textsubjekt stellt an einer Stelle des Abenteuerlichen Herzens Vermutungen über die Nahtoderfahrung an. Was mich besonders fesseln würde an jenen Augenblicken, in denen das ganze Leben noch einmal vorbeizieht, das wäre die Reihenfolge, in der die Bilder sich vorstellten. Gibt es vielleicht Fälle, in denen sie umgekehrt durch die Erinnerung jagen – so daß sich ein hoher Grad von Klarheit wieder in die Träume der Kindheit verliert und endlich ins Dunkle schießt? Ob es eine umgekehrte Embryologie des Todes gibt, die alle Entwicklungsgänge des einzelnen Lebens wiederholt und zusammenfaßt als die niedere Vorform und Keimgeschichte einer höheren und wesentlicheren Existenz, die sich im Augenblicke größter Dunkelheit gebiert – in dem Augenblicke, in dem die Nabelschnur zerreißt, die uns der Welt der Materie und ihrer Zufälle verband?2

Jüngers „umgekehrte Embryologie des Todes“ imaginiert die Ontogenese („Entwicklungsgänge des einzelnen Lebens“) als bildgewaltige regressive „Keimgeschichte“. Haeckels Höherentwicklung wird nicht negiert und durch die Rückkehr zu einem primitiven Niederen ersetzt, sondern gleichsam umgekehrt: Die „höhere[.  .] […] Existenz“ des Menschen ist demnach vor dessen Bindung an die „Nabelschnur“ zu setzen. Norbert Staub spricht hier treffend von einer „regressive[n] Teleologie“3. Die bereits in Der Kampf als inneres Erlebnis, Sturm und Feuer und Blut anzutreffende umgekehrte biologische Entwicklungsgeschichte wird der bellizistischen Konnotation entkleidet und stattdessen auf einen epistemischen Ursprung verpflichtet. Deutlich erkennbar ist dieser Ursprung in dem doppelt beschworenen, positiv codierten Dunkel („endlich ins Dunkle schießt“, „im Augenblicke größter Dunkelheit gebiert“), in das die „Existenz“ münde. „Klarheit“ gilt es hingegen hinter sich zu lassen. Jüngers Gewährsmann hinsichtlich einer Aufwertung der dunklen und einer Abwertung der klaren Erkenntnis ist zweifelsohne Johann Georg Hamann, dessen Sentenz „‚Den Samen von allem, was ich im Sinn habe, finde ich allenthalben‘“4 dem Abenteuerlichen Herz als Motto vorangestellt ist. Die dunkle Erkenntnis wurde bereits innerhalb der Aufklärung selbst als eigenständiger Zugang zur Welt gewürdigt. Jüngers Lob

2 3 4

in welchem Maße es besonders (entwicklungs-)biologische Positionen sind, die vitalistisch imprägniert werden. SW 9, S. 71  f. Staub, Wagnis ohne Welt, S. 64. SW 9, S. 31.



3.1  Entwicklungsgeschichte des Lebens im Gestaltwandel

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des Dunklen knüpft hier an. Jenseits des Bewusstseins – dafür stehen die zahlreichen Traumerzählungen des Abenteuerlichen Herzens – und jenseits des Anschaulichen liegt der epistemische Mehrwert dunkler Erfahrung. Die vom Textsubjekt gehegte „Überzeugung, daß alles, was uns auf der Tagseite des Lebens an reifen Früchten zufällt, sich auf der Nachtseite bildete“5, nutzt die Polarität von Tag und Nacht, von Licht und Finsternis zur Bestimmung eines Determinationsverhältnisses. Im Dunkel der Nacht wird jenes präfiguriert, das die Form dessen, was am hellen Tag sichtbar sein wird, bestimmt. Das Dunkle firmiert als transzendentaler Grund, zu dem die Bildregression der Keimgeschichte den Weg weist, der jedoch selbst unanschaulich bleibt. Jünger wählt zur Verdeutlichung das Beispiel des Schlafes: Im Schlaf werden jene Denkleitungen („ein neues Stromsystem“) gelegt, deren sich der Mensch am Tag bedient.6 Die Anschaulichkeit des vom Textsubjekt imaginierten Bilderfilms bleibt in ihrer Oberflächen-Diesseitigkeit auf die Tiefe des Schlaf-, Bewusstseins- oder eben Anfangsdunkels angewiesen, aus der sie sich speist. In diesem Sinne kann das Textsubjekt auch davon sprechen, dass das „Leben […] eine Schleife“ sei, „die sich im Dunkeln schürzt und löst“7. Entscheidend ist: Die Aufnahme von Bestandteilen entwicklungsbiologischer Rede („niedere Vorformen“, „Keimgeschichte“, „Entwicklungsgänge des einzelnen Lebens“) dient nicht mehr der Begründung manifester Abhängigkeiten oder einer genealogischen Prägung; sie wird vielmehr zur Metapher. Das Ziel der Regression ist auch nicht mehr der zellbiologische Anfang, sondern ein Vorausliegendes, rein Ideelles, das durch seinen Eintritt in das ‚gelebte Leben‘ zwar an Anschaulichkeit gewinnt, jedoch an Reinheit verliert. Die „Nabelschnur“ wird zum Symbol der Fesselung der Existenz an die „Welt der Materie und ihre[.  .] Zufälle“8. Mit der gewandelten Funktionalisierung der entwicklungsbiologischen Rede wandelt sich auch der Zugriff auf das lebensphilosophische Argumentationsreservoir: Das ‚Leben‘ soll nun nicht mehr an seiner stammesgeschichtlichen, mutmaßlich ein5 6

SW 9, S. 67. „Bezeichnend scheint mir […] daß man zuweilen nach der Beschäftigung mit Werken, um deren Sinn man sich angestrengt bemühte, am nächsten Morgen mit dem Gefühl erwacht, während des Schlafes ununterbrochen in derselben Richtung tätig gewesen zu sein und sich gleichsam in den Waffen dieses fremden Geistes geübt zu haben. Es ist, als ob ein neues Stromsystem sich in der inneren Landschaft seine Bahn gegraben hätte. Obwohl man sich erinnert, fortwährend auf das schärfste nachgedacht zu haben, wird man sich doch nicht des geringsten Gedankens entsinnen können. Es sind auch gar keine Gedanken jene Ströme hinuntergeflossen, sondern ein weit wichtigerer spiritueller Äther, ein feines Medium, das die Gedanken trägt, hat sich in den Vorformen und rhythmischen Wirbeln, die der Eigenart eines Denkens zugrunde liegen, bewegt.“ Ebd., S. 67  f. 7 Ebd., S. 72. 8 Ebd.

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3  Vom orthogenetischen Vitalismus zur idealistischen Morphologie

fachsten Wurzel gepackt werden. Die entscheidenden Bestimmungspunkte des ‚Lebens‘ werden vielmehr der Welt des Organischen entrückt in einen rätselhaften Tiefenraum, dem das Organische entspringt und in den es sich im Tod auch wieder verliert. Zwar strukturiert die Entgegensetzung eines materiell codierten ‚gelebten Lebens‘ und eines ideellen Ursprungs die Argumentation; Zielpunkt ist jedoch nicht eine Affirmation dieser Polarität, sondern eine Vitalisierung der Idee auf Kosten des Organischen. Setzte die lebensphilosophische Entgrenzung in Jüngers frühen Kriegsschriften noch auf Triebhaftigkeit und Aggression, auf ein natürliches ‚Fließen‘ unterhalb der Oberfläche der ideell-intellektuellen und sittlichen Postulate der KulturForm, so werden hier sowohl Form als auch Idee in den Rang apriorischer Schemata erhoben und ihrerseits als Lebensgrund ausgewiesen. Damit ist nicht nur Jüngers Phantasma einer regressiven Ontogenese beschrieben; jenes Bedingungsverhältnis von ideeller Lebenskraft und sichtbarer Lebensform bestimmt auch die Sicht auf die naturgeschichtliche Entwicklung wie sie das Abenteuerliche Herz präsentiert.

3.1.2  Entrückungen und Ausschweifungen des Lebens (orthogenetische Phantasien) Den einzelnen Abschnitten des Abenteuerlichen Herzens sind Ortsnamen vorangestellt, die sich nachweislich Aufenthalten Jüngers zuordnen lassen. In den meisten Fällen stehen diese Ortsnamen jedoch in keinem zwingenden Verständniszusammenhang zum Text, wie auch die Übermittlung biographischer Details keineswegs maßgeblich ist. Eine Ausnahme macht da lediglich der längere Eintrag, der der italienischen Hafenstadt Neapel zugeordnet wird. Deutlich zeigt sich hier nicht nur die Schwierigkeit einer gattungstypologischen Zuordnung, die übrigens für viele der Prosaabschnitte des Bandes geltend gemacht wurde9, sondern gleichfalls auch die enge Verzahnung von biographischem Detail und naturgeschichtlicher Beobachtung. Jünger absolviert zu Beginn des Jahres 1925 im Rahmen seines naturwissenschaftlichen Studiums in Leipzig einen zweimonatigen Aufenthalt an der Stazione Zoologica di Napoli.10 Dem Direktor des zoologischen Forschungsinstitutes, Reinhard Dohrn (1880–1962), teilt er mit, er wolle sich „mit der Mittelmeer-Fauna bekannt machen.“11 Nachdem Dohrn ihm zusichert, einen Mikroskopie-Arbeitsplatz im Labor zur Verfügung stellen zu

9 10 11

Vgl. Staub, Wagnis ohne Welt, S. 23–26. Vgl. Schwilk, Ernst Jünger, S. 283; Kiesel, Ernst Jünger, S. 276. Jünger an Dohrn (08. 01. 1925), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach.



3.1  Entwicklungsgeschichte des Lebens im Gestaltwandel

181

können,12 konkretisiert Jünger wenige Wochen vor seinem Eintreffen in Neapel im März 1925, dass es ihm vor allem darauf ankomme, „sich in das Gebiet der Cephalopoden einzuarbeiten“.13 In Neapel forscht ab 1891 auch Jüngers Leipziger Lehrer Hans Driesch,14 und zwar unter Oberaufsicht des Vaters von Reinhard Dohrn, Anton Dohrn (1840–1909). Dohrn senior ist es auch, der ab 1870 unter tatkräftiger Unterstützung prominenter Forscher – u.  a. Charles Darwin und Hermann von Helmholtz – mit der Errichtung der Stazione Zoologica di Napoli beginnt. Was Driesch anbelangt: Dieser entwickelt im Rahmen der maßgeblich in Neapel vorangetriebenen Untersuchung von Seeigelkeimen die Vorstellung einer eigenen vitalen Kraft. In den Folgejahrzehnten baut Driesch seinen sog. „Vitalismus“ – die Lehre von der „Autonomie der Lebensvorgänge“15 – zu einer eigenen Philosophie aus. Bereits 1905 legt Driesch eine Geschichte des Vitalismus vor, in der er seine Forschung selbstbewusst historisiert und der Intention nach bis auf Aristoteles’ entelechisches Denken zurückführt.16 Hier macht er den Leser auch „mit gewissen Ergebnissen der experimentellen Formenphysiologie der Tiere“17 vertraut. Es geht um die bereits in Neapel von ihm untersuchten Seeigel, genauer gesagt: um deren Keime. Isoliert man einzelne solcher Zellkeime, so Driesch, zeigten diese die Tendenz, sich zu vollständigen Tieren zu entwickeln. Die „Gesetze der anorganischen Wissenschaft“18 reichen bei der Erklärung dieses Phänomens nicht aus. Stattdessen müsse man von einer ‚Entelechie‘ ausgehen: „Das Wort ‚Entelechie‘ bezeichnet die Eigengesetzlichkeit lebender Körper, das  […] wirkliche elementare Naturagens, welches sich an ihnen äußert.“19 Zwar zeige sich die Entelechie nur in „Verbindung mit materiellen Dingen“, so Driesch – z.  B. an jenen Seeigelkeimen –, doch dürfe man daraus nicht schließen, dass sie einer „‚Eigenschaft‘ des Materiellen“ zugeordnet werden könne. Vielmehr sei sie eine „‚Konstante‘“, „d.  h. ein aus dem 12

13 14

15 16 17 18 19

Zur Sicherstellung des Arbeitsplatzes bitte Dohrn Jünger, Kontakt zur sächsischen Landesregierung zu suchen: „Wollen Sie […] bitte […] an das Sächsische Kultusministerium ein Gesuch um Überlassung des Arbeitsplatzes richten mit dem Hinzufügen, dass die Verwaltung der Zoologischen Station sich damit einverstanden erklärt, Sie als überzähligen Tischbesetzer aufzunehmen.“ Dohrn an Jünger (13. 01. 1925), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Jünger an Dohrn (18. 02. 1925), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Vgl. zur Beziehung Driesch – Jünger: Louis Dupeux: Der ‚Neue Nationalismus‘ Ernst Jüngers 1925–1932. Vom heroischen Soldatentum zur politisch-metaphysischen Totalität, in: Peter Koslowski (Hrsg.): Die großen Jagden des Mythos. Ernst Jünger in Frankreich, München 1996, S. 15–40, hier: S. 22  f.; Löffler, Ernst Jüngers organologische Verwindung der Technik. Hans Driesch: Die organischen Regulationen. Vorbereitungen zu einer Theorie des Lebens, Leipzig 1901, S. XI. Vgl. Hans Driesch: Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre, Leipzig 1905. Ebd., S. 185 Ebd., S. 211. Ebd., S. 242.

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3  Vom orthogenetischen Vitalismus zur idealistischen Morphologie

Gegebenen konstruierter, sachlich als elementar erkannter Begriff, und als solcher Element der überhaupt begrifflichen erweiterten Wirklichkeit […]: man darf sich in Hinsicht der Entelechie gar nichts irgendwie ‚vorstellen‘ wollen.“20 Die Warnung vor der ‚Vorstellung‘ verweist auf die Differenz zwischen strukturierender Ursache und sichtbarer Wirkung, zwischen autonomer Lebenskraft und lebendiger Form. Jünger hat zwar in Neapel, wie das Textsubjekt mitteilt, „[j]eden Morgen“ hinter dem „Mikroskop“21 verbracht. Doch im Gegensatz zu seinem Lehrer Driesch, der mit Hilfe dieses Arbeitsgerätes wegweisende Einsichten zu den ganzheitlichen Neigungen der Seeigelzellen gewinnt, bezeichnet sich die Ich-Erzählinstanz als „Parasit“. „[I]n die Zellen eines wissenschaftlichen Blumenkorbes eingedrungen“22, lässt es das Jünger-Ich an Disziplin und ernsthaften wissenschaftlichen Absichten vermissen. Das hält es jedoch nicht davon ab, Drieschs Vitalismus in ein ganz eigenes Gewand zu kleiden: Das Verhältnis von autonomer Lebenskraft und sichtbarer Lebensform wird zum Instrumentarium der Beschreibung naturgeschichtlicher Veränderungen. Dafür muss der Blick auf den „zartesten, geheimsten Kern des Lebens“ gelenkt werden. Diesen hebt – so die Anklage gegen die am toten Objekt forschende „Zoologie“ – keine Färbung mit Methylenblau oder Eosinrot heraus, und was im Raume und in der Zeit, in Ursachen und Wirkungen, in Trieben und Taten, in den bunten Zauberhülsen des Fleisches, in Blutbahnen und Zentralnervensystemen, in Zeugung und Tod, Liebe, Kampf und Untergang, in all den tausend blendenden Überraschungen und dunklen Bedrohungen des Daseins geschieht, ist nur von Bedeutung durch die unsichtbare Nabelschnur, durch die es der Welt einer tieferen Fruchtbarkeit verbunden ist. Diese, deren Flutatem in den Raum hineinwirkt, ermangelt der Dinge, die man sehen und denken kann.23

In der folgenden Beschreibung des Jünger-Ichs gelingt es freilich, diesen „Flutatem“ „einer tieferen Fruchtbarkeit“ anschaulich zu machen. Der Wechsel der Lebensformen auf der Erdoberfläche wird dabei auf einen be20

21 22 23

Ebd., S. 242. Später möchte Driesch nicht mehr von „‚Konstante‘“ sprechen, „denn eine Konstante bezeichnet immer die Eigenschaft eines Körpers, sie ist immer etwas, was ein Körper wirklich besitzt.“ Um eine solch substanzialistische Deutung der Entelechie zu umgehen, bestimmt sie Driesch ex negativo. Entelechie ist demnach „auch bezüglich ihres eigentlichen ontologischen Charakters elementar […] ganz ebenso wie das Gesetz, dem sie gehorcht, elementar war. Entelechie ist nicht Energie, nicht Kraft, nicht Intensität und nicht Konstante, sondern – Entelechie.“ – Hans Driesch: Philosophie des Organischen, 4., gekürzte u. teilw. umgearbeitete Aufl., Leipzig 1928 [1909], S. 310. Vgl. auch Hans Driesch: Das Wesen des Organismus, in: Ders./Heinz Woltereck (Hrsg.): Das Lebensproblem im Lichte der modernen Forschung, Leipzig 1931, S. 416. SW 9, S. 97. Ebd., S. 101. Ebd., S. 98  f.



3.1  Entwicklungsgeschichte des Lebens im Gestaltwandel

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dingenden Urgrund zurückgeführt. „Das bewegende Element, die Lebenskraft im tieferen Sinne, ihrerseits wiederum durch das Wunderbare bewegt, zieht sich ab von ihren zeitlichen Bildungen, und der Hauch der Verwesung steigt auf.“24 Diese „Verwesung“ betrifft aber nur die sichtbare Oberfläche des Organischen, eben jene „zeitlichen Bildungen“. Das „Wesentliche, dieser Zusammenhang mit der Tiefe“, ist in diesem Stadium bereits aus diesen Bildungen entschwunden; zurück bleiben lediglich „Abbildungen“ – die konkreten Formen aus- und abgestorbenen Lebens: „so wie die Meereswelle nur die Panzer der Seeigel, die bröckelnden Schalen der Muscheln und den faden Schaum der gläsernen Tiere hinterlässt.“25 Daher geschieht niemals […] Fäulnis im wesentlichen Kern. Ihr Dunst verrät wohl, daß das Leben stirbt; aber er verrät zugleich, daß es den rettenden Rückzug zur mütterlichen Tiefe gefunden hat. Dort, in den dunklen Zonen einer chaotischen Fruchtbarkeit, rüstet es zum neuen Vorstoß in die Zeit, dort, in der wärmeren Nähe des Wunderbaren, zeugt es die glänzenderen Urbilder, um sie wiederum als Bilder über die Barrieren der Erscheinung zu schleudern.26

Der Wandel der Lebensformen auf der Oberfläche des Planeten wird von jenen „glänzenderen Urbilder[n]“ gespeist, die „einer chaotischen Fruchtbarkeit“ entwachsen. Deutlich erkennbar ist hier die entelechische Kraft Drieschs,27 mithin „das […] wirkliche elementare Naturagens“28. Das JüngerIch des Abenteuerlichen Herzens trennt zwischen sichtbarer zeitlich-konkreter Form, die als „Bild[.  .] über die Barrieren der Erscheinung“ geschleudert wird, mithin in Erscheinung tritt und den urbildlichen Tiefen der Zeugung. Die „dunkle Zone“ erinnert zum einen sowohl an Drieschs Hinweis, dass man sich die Entelechie nicht „‚vorstellen‘“29 solle wie auch an die Dunkelheit als Zielpunkt der imaginären regressiven Keimgeschichte bildlichen Vorstellens.30 Zum anderen ist aber auch Haeckel präsent – und zwar in der Form, wie er für die keimgeschichtliche Eröffnung von Der Kampf als inneres Erlebnis maßgeblich ist.31 Dort ist die Rede von der determinierenden Kraft des „Urwaldsumpfes“, genauer gesagt: vom „Wurzelgeflecht des Urwald­ sump­fes, dessen gärende Wärme“ den „Urkeim“ des Menschen „gebrütet“32 habe. Hier ist es nun die „wärmere[.  .] Nähe des Wunderbaren“, in der soz. 24 Ebd., S. 109. 25 Ebd. 26 Ebd., S. 109  f. 27 Dies vermerkt bereits Schwilk, Ernst Jünger, S. 285. 28 Driesch, Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre, S. 242. 29 Ebd. 30 Vgl. dazu ausführlich Kap. 3.1.1. 31 Vgl. dazu ausführlich Kap. 2.1.1. 32 SW 7, S. 15.

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3  Vom orthogenetischen Vitalismus zur idealistischen Morphologie

die Urbilder ausgebrütet werden. Im Vergleich mit der Kriegsschrift von 1922 zeigt sich eine Platonisierung und Epistemisierung der vitalistischen Keimgeschichtsphantasien. Von Platonisierung lässt sich insofern sprechen, als der Urgrund des Lebens nun nicht mehr als feuchter Protoplasma-Raum imaginiert wird; gleichwohl herrscht hier noch eine „chaotische[.  .] Fruchtbarkeit“, wie sie auch den „Urwaldsumpf“ charakterisierte. Entscheidend ist, dass die Tiefe in ihrer urbildlichen Prägekraft von der Formenwelt, die sie bedingt, geschieden ist. Es geht gerade nicht um eine genealogische regressive Verbindung von Mensch und Urkeim, sondern um das, was die Erscheinung der Lebenswelt von ihrem Lebensquell trennt. Die Dimension der Epistemisierung zeigt sich, wenn man die Intention der Rückführung des Einzelnen auf seine Keimgeschichte in Der Kampf als inneres Erlebnis beachtet. Diese besteht ganz maßgeblich in einer mit legitimatorischen Absichten vorgetragenen Primitivierung der Verhaltensweisen des Individuums. Im Abenteuerlichen Herzen geht es hingegen darum, einen der Sichtbarkeit unverfügbaren Zeugungsraum zu behaupten, dessen Kraftpotenzial neue Formvorstöße „in die Zeit“ ermöglicht, ohne selbst vergänglich zu sein; von ‚primitiver‘ Gewalt also keine Spur. Allein: Das in die Form einströmende Leben wirkt in seiner Veränderungsbeharrung zerstörerisch. Zeugnisse vormaliger Lebensformen zeigen dies. „[D]ie Anziehung der Tiefe saugt das Leben von seinen Ausschweifungen zurück […]“.33 Bereits in Die Schicksalszeit (1927) entwirft Jünger eine vitalistische, mathematisch nicht fixierbare Zeitordnung, in der die Menschheitsgeschichte lediglich als kleinraumperiodische Verlängerung naturgeschichtlich nachweisbarer, tiefenzeitlich ungeheuer weit zurückreichender anorganischer (chemischer sowie physikalischer) und organischer (zoologischer) Ausdifferenzierungsprozesse aufgerufen wird.34 Freilich reicht hier ein „verstandesmäßiger Erklärungsversuch (wie etwa der darwinistische)“35 nicht aus, um die Eigengesetzlichkeit des sich entfaltenden Lebens angemessen beschreiben zu können: „Im ewigen Strome der großen Schicksalszeit besitzt jede organische Einheit ihre besondere Schicksalszeit.“36 Die Eigenzeiten „organische[r] Einheiten“ zeigen sich zwar in den jeweiligen Tier- und Pflanzen-Formen – hier ist auch das eigentliche Aufgabengebiet der Paläontologie zu suchen; unsichtbar bleibt jedoch der Tiefen-Ort, von 33 34

SW 9, S. 109. „In dem winzigen Abschnitte der Schicksalszeit, den wir Geschichte nennen, und in dem der Mensch auftritt, bindet sich der Schicksalsstrom an das Mittel des Blutes […]. Und auch hier, wie sich schon viel früher die chemischen Elemente, die physikalischen Eigenschaften, die Tierstämme voneinander abgezweigt haben, zweigen sich besondere Blutbahnen ab, von den großen Schlagadern der Kulturen bis zu den feinsten Kapillaren der Individualität hinab.“ – Ernst Jünger: Die Schicksalszeit [1927], in: Ders., Politische Publizistik, S. 276. 35 Ebd., S. 277. 36 Ebd.



3.1  Entwicklungsgeschichte des Lebens im Gestaltwandel

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dem aus die Gestalt-Wandlungen ursächlich angebahnt werden. Angesichts der botanischen Fülle, die Jünger im brasilianischen Regenwald begegnet, bemüht er dann ganz selbstverständlich den Gegensatz von oberflächlicher Erscheinung und unsichtbarer Tiefe: In der üppigen Wasserrose „Victoria regia“ etwa vermutet er in Atlantische Fahrt ein letztes Exemplar urweltlicher Fruchtbarkeit, das bald – um in Jüngers Diktion zu bleiben – von der platonischen Tiefe ‚abgesaugt‘ werden wird: „Vielleicht gehört sie [Victoria regia, N.K.] der Flora einer wärmeren Erdzeit an, deren Gebilde sich langsam bis zum Äquator zurückzogen, um dann zu entschwinden in den platonischen Raum.“37 Fest stehe jedenfalls, so Jünger brieflich an den Künstler Alfred Kubin (1877–1959), dass sich in den Tropen das „Maximum an vitaler Lebenskraft“38 zeige. Gegenüber dem Bruder Friedrich Georg akzentuiert Jünger diese Beobachtung epochentypologisch: An „einzelnen Punkten“ im Urwald glaubt er das „Maximum an vegetativer Üppigkeit zu erblicken, das unsere geologische Epoche zu entwickeln vermag […]. “39 Diese Deutung der Veränderungen des Lebens, die das Abenteuerliche Herz bildgewaltig entwirft, muss vor der Folie von Jüngers naturwissenschaftlichen Studien konkretisiert werden. Jünger besucht in Leipzig nicht nur Veranstaltungen zur ‚Pflanzenphysiologie‘ (bei Wilhelm Ruhland), ‚Tiefseebiologie‘ (bei dem Cephalopoda-Spezialisten Georg Grimpe) und zur ‚Vergleichenden Morphologie und Anatomie der Tiere‘ (bei Johannes Meisenheimer).40 Heimo Schwilk verweist anhand des Leipziger „‚Kollegien-Buches‘“ für das erste Semester zusätzlich auf den Besuch von Seminaren in Mineralogie und 37

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SW 6, S. 152. Jünger nimmt diese paläobotanische Konturierung der Rosen in Heliopolis auf. Dort ist es Ortner, der in „manchen Kalidarien […] wie in Retorten die Wärme langsam über die der heißen Sümpfe ansteigen“ lässt: „Hier wollte er durch Rückzucht Wasserrosen vergangener Erdzeitalter bilden, auf deren Formen man aus Versteinerungen schließt.“ Im „große[n] Palmarium“ zeigen sich bald darauf die „Blätter und Blüten der Victoria regia“ (SW 16, S. 168), die hier als rezente Art von den paläobotanisch inspirierten Rosen-Züchtungen unterschieden wird. Es ist gut möglich, dass Leistikow an diese Passage aus Heliopolis denkt, als er Jünger brieflich darüber informiert, „im Hort. Bot. Tueb blüht jetzt die große Victoria regia im Freilandbecken. Das wäre ein Anblick für Sie.“ Leistikow an Jünger (28. 08. 1962), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Ergänzen lässt sich Jüngers pflanzengeschichtliches Interesse durch die späteren, um 1970 gemachten Erfahrungen seines französischen Übersetzers Julien Hervier: „Wir hatten Jünger bei uns in Paris zu Besuch, wo wir dank der Vermittlung eines Freundes, Yves Delange, Kurator im Museum d’histoire naturelle und großer Bewunderer von Jüngers Werken, eine Privatführung durch die großen Treibhäuser anbieten konnten.“ Julien Hervier/Alexander Pschera: Jünger und Frankreich – eine gefährliche Begegnung? Ein Pariser Gespräch. Mit 60 Briefen Ernst Jüngers an Julien Hervier, aus dem Französischen v. Dorothée Pschera, Berlin 2012, S. 28. Jünger an Kubin (07. 01. 1937), in: Ernst Jünger – Alfred Kubin. Eine Begegnung. Acht Abbildungen nach Zeichnungen und Briefen von Ernst Jünger und Alfred Kubin, Frankfurt/M., Berlin u. Wien 1975, S. 40–42, hier: S. 42. Jünger an Friedrich Georg Jünger (06. 11. 1936), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Vgl. Zissler, In der Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen, S. 137.

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3  Vom orthogenetischen Vitalismus zur idealistischen Morphologie

Geologie.41 Mit der umfangreichen und über die Grenzen Mitteldeutschlands hinaus bedeutenden Geologisch-Paläontologischen Sammlung der Leipziger Universität dürfte Jünger vertraut sein: Bei deren Leiter Franz Kossmat (1871–1938) hörte er im Wintersemester 1923/24 eine Vorlesung zur ‚Geologischen Formationskunde‘.42 Konzentriert wie kaum an einem anderen Ort lassen sich im Rahmen der paläontologischen Sammlung – nachdem „die Anziehung der Tiefe […] das Leben von seinen Ausschweifungen“43 ‚zurückgesaugt‘ hat – die Hüllen dieses Lebens, mithin die entwicklungsgeschichtlichen Stationen der Lebensformen, anhand von Fossilien studieren. Vom Textsubjekt des Abenteuerlichen Herzens erfährt man, „daß ich mich für die Geologie nur da erwärmte, wo sie mit der Paläontologie zusammenhing“44. Besonderes Interesse „an allen belebten Schichten“ kommt dabei der „Juraformation“ zu – die „für mich von je einen märchenhaften Glanz besaß“45. Dieser Glanz geht nicht nur von zeitgenössischen Wandbildern aus, die Jünger sicherlich kannte (s. Tafel 1); er dürfte gleichfalls durch die in Leipzig ausgestellten versteinerten Fischsaurier aus dem sog. ‚schwarzen Jura‘ (auch ‚Lias‘ genannt) befördert worden sein. Die Rede von der „Juraformation“ verweist jedenfalls auf paläontologisches Fachwissen. Sie bezeichnet nämlich den mittleren Teil des Erdmittelalters (‚Mesozoikum‘), zwischen der nachfolgenden ‚Kreide‘ und dem vorausgehenden ‚Trias‘ gelegen.46 Der Fachbegriff „Formation“, der für die Bezeichnung von Erdzeitaltern zu Beginn des 19. Jahrhunderts auftaucht, beschreibt die enge Beziehung von geo41

Vgl. Schwilk, Ernst Jünger, S. 268; vgl. auch den Faksimiledruck von Jüngers Studienbuch aus dem Wintersemester 1923/24 bei Heimo Schwilk: Ernst Jünger. Leben und Werk in Bildern und Texten, Stuttgart 1988, S. 96. Im Zweiten Pariser Tagebuch (1949), und zwar in einem Eintrag vom 08. 05. 1944, hält Jünger „paläontologische[.  .] Träume“ fest, die mit seinem Studium bei dem Mineralogen Friedrich Rinne (1863–1933) – seines Zeichens zwischen 1909 und 1928 ordentlicher Professor für Mineralogie und Petrografie an der Universität Leipzig – im Zusammenhang stehen: „Nachts Träume von Trilobiten, die ich im Institut des Leipziger Mineralogen Rinne erstand. Ich kaufte sie nach einem Katalog und nahm die fehlenden in Abgüssen, die außerordentlich sorgfältig, zum Teil in reinem Golde, zum Teil in rotem Siegellack, geformt waren. Wie alle meine paläontologischen Träume war auch dieser von besonderer Prägnanz.“ SW 3, S. 261. 42 Auf Kossmat zu sprechen kommt Jünger angesichts eines Orthoceren-Stückes, das Otto Klages ihm schenkte: „Kosmat [sic!)], bei dem ich gehört habe, sagte mir einmal, er sei in Oslo über ein Pflaster gegangen, das ganz mit großen Orthoceren gemustert war.“ – Jünger an Klages (04. 01. 1966), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Vgl. SW 4, S. 238. Der Österreicher Kossmat war von 1913 bis 1934 Direktor des Sächsischen Geologischen Landesamtes und gleichzeitig Direktor des Geologisch-Paläontologischen Instituts der Universität Leipzig. 43 SW 9, S. 109. 44 Ebd., S. 34. 45 Ebd. 46 Vgl. zur Geschichte des ‚Jura‘-Konzeptes von Alexander von Humboldt (1795) bis Friedrich August Quenstedt (1843): Ernst Probst. Deutschland in der Urzeit. Von der Entstehung des Lebens bis zum Ende der Eiszeit, München 1986, S. 141.



3.1  Entwicklungsgeschichte des Lebens im Gestaltwandel

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logischem und paläobiologischem Wissen: Die Rekonstruktion und zeitliche Datierung vormaliger Lebensformen sind eng an die Gesteinsschichten gebunden, in denen sie gefunden werden; wie diese Gesteinsschichten wiederum über Leitfossilien – d.  h. besonders häufig auftretende und für signifikant erachtete Spuren des Organischen – definiert werden. Solche Leitfossilien sind häufig sog. Petrefakte, Versteinerungen organischen Lebens. Die „Juraformation“ spielt in der damaligen Petrefaktenkunde eine wichtige Rolle. So verweist Eberhard Fraas in seinem Petrefaktensammler (1910) darauf, dass dieses „Schichtenglied […] der Liebling aller Sammler“ sei, da es „zweifellos die interessanteste und schönste Ausbeute“47 liefere. Der Petrefaktensammler befindet sich in Jüngers Wilflinger Bibliothek48 – wie auch die weitaus ältere Abhandlung von W.F.A. Zimmermann über Die Wunder der Urwelt (1856). In diesem Buch konnte Jünger gleichfalls die Merkmale der identisch bezeichneten „Juraformation“49 und die sie charakterisierenden organischen Spuren studieren. Schaut man sich die auf dem Weg einer Verschränkung von geologischer und paläobiologischer Perspektive rekonstruierte Tierwelt des Jura um 1900 an, so wird schnell deutlich, was gemeint ist, wenn von „Ausschweifungen“ des Lebens die Rede ist, die vom zeitenthobenen Lebenskern beseitigt werden. Es geht um – die auf keinen Wandbildern und Illustrationen zur „Juraformation“ der damaligen Zeit fehlenden – Monsterechsen wie Allosaurus, Brontosaurus, Ichthyosaurus oder auch den furchteinflößenden Urvogel (Archaeopteryx) (s. Tafel 1).50 In ihrem bisweilen ausschweifenden Riesenwachstum verweigern diese Kreaturen alle Merkmale einer funktionalen Anpassung an die Umweltbedingungen, wie sie die darwinistische Evolutionstheorie für die Entwicklungsgeschichte der Arten für maßgeblich hält. An 47 48 49 50

Eberhard Fraas: Der Petrefaktensammler. Ein Leitfaden zum Sammeln und Bestimmen der Versteinerungen Deutschlands, Stuttgart 1910, S. 103. Unter der DLA-Signatur: WJB05.02/10. Vgl. Zimmermann, Die Wunder der Urwelt (DLA-Sign.: WJB01.04/19), S. 312–315. Vgl. zu Zimmermanns Buch im Kontext der Urwelt-Diskussion des 19. Jahrhunderts ausführlich Kap. 1.3. Wohl mit Blick auf die Monstrosität der zeitgenössischen Fauna, die auch das Wandbild „Jura-Formation“ (s. Tafel 1) charakterisiert, glaubt Fraas den wissenschaftlichen Charakter der Darstellung herausstellen zu müssen: „Nun darf man aber nicht denken, daß diese Rekonstruktion reine Phantasiegebilde seien und keinerlei wissenschaftlichen Wert beanspruchen. Im Gegenteil, es ist in diese Bilder alles das hineingelegt, was die Wissenschaft bis heute aus den z. T. ja nur spärlich erhaltenen Überresten über das Leben und Treiben der Pflanzen und Tiere hat nachweisen können und diese mit größter Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit angelegten Bilder stellen demnach das Endresultat unserer geologischen und paläontologischen Forschungen über die Gestaltung der Erde und ihrer Bewohner zu einer bestimmten Periode dar.“ – Eberhard Fraas: Die Entwicklung der Erde und ihrer Bewohner, mit Schichtenprofilen, Leitfossilien und landschaftlichen Rekonstruktionen; dargestellt auf sieben farbigen Tafeln, 2. Aufl., Stuttgart 1910 [1906], S. 6  f.

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der Juraformation lässt sich demnach besonders anschaulich – im „märchenhaften Glanz“51 – ein Modus der Lebensentfaltung- und Lebensvernichtung studieren, der generell das vitale Entwicklungsgeschehen prägt. Es wird hier deutlich, dass es sich um Lebewesen handelt, die, wie Jünger sagt, „durch die Kraft einer Zeit über die Strandlinie der Erscheinung gehoben“ werden und dem „Untergange geweiht“52 sind. Die Entwicklung der Arten wird damit von einem Standpunkt aus dirigiert, der zwar nicht Teil der sichtbaren Lebenswelt ist, jedoch auch nicht auf ein dem Leben Äußeres verweist. Und tatsächlich lässt sich bei Jüngers Text-Subjekt ein anti-darwinistischer Impuls finden, der in anderer Form auch die zeitgenössische Paläontologie prägt. Wird der Darwinismus im Abenteuerlichen Herzen abgelehnt, da er nicht nur das Leben vollends „zu erklären, sondern es gänzlich auszufüllen trachtet“53, so wendet sich die Paläontologie u.  a. gegen die Selektionstheorie des Darwinismus.54 Gegenüber der gestaltenden Macht der natürlichen Auslese, die die Entwicklung des Lebens gleichsam von außen präge, gibt es hier Stimmen, die eine orthogenetische Evolutionskraft annehmen.55 Diese, so die Hypothese, steuere die Entwicklung des Lebens selbständig und eigenmächtig, ohne dass adaptive Faktoren eine entscheidende Rolle spielen würden. Eine solche Meinung vertritt etwa der Tübinger Paläontologe Edwin Hennig, den wir bereits als Lehrer des Jünger-Freundes Helmut Hölder vorgestellt haben.56 Die bei Jünger beobachtete Maskierung des urbildlichen Lebens in vergänglichen organischen Erscheinungen und Gestalt-Gewändern sowie die im Duktus stammesgeschichtlicher Entwicklung präsentierte Rede von der Erneuerung des Lebens durch die Beziehung von Arten-Sterben – Arten-Schaffung findet sich bis in den Ton hinein auch bei Hennig: [Ü]ber alles Aufkommen und Verschwinden der Tier- und Pflanzengruppen hinweg, sozusagen unberührt von all den staunenswerten Anpassungen sehen wir das Leben im Ganzen unbeirrbar seine Bahn hinschreiten. […] Gleich sich übersteigernden Raketen dringt jede neue große Erscheinungsgruppe in ihren Fähigkeiten, in ihrer Organausstattung über die vorhergehenden hinaus und sinkt wieder ab, erlischt nicht selten ganz, während abermals jüngere Kräfte schon im Anstieg begriffen sind.57 51 52 53 54

SW 9, S. 34. Ebd., S. 109. Ebd., S. 111. Vgl. Reif, Deutschsprachige Paläontologie, S. 153; Ders.: Evolutionary Theory in German Paleontology, in: Marjorie Grene (Hrsg.): Dimensions of Darwinism. Themes and Counterthemes in Twentieth-Century Evolutionary Theory, Cambridge (UK) 1983, S. 173–203, hier: S. 198  f.; Ders., The Search for a Macroevolutionary Theory, S. 92. 55 Vgl. Reif, The Search for a Macroevolutionary Theory, S. 103–111. „For the orthogeneticists […] evolution was an unfolding process, internally preprogrammed and controlled and, at least theoretically, predictable to a certain degree.“ (S. 103) 56 Vgl. zur Konstellation Hennig – Hölder – Jünger ausführlich Kap. 1.4.1 sowie 1.4.2. 57 Hennig, Von Zwangsablauf und Geschmeidigkeit, S. 21.



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Spricht Jünger von den „Barrieren der Erscheinung“, die neue Formen des Lebens als „Vorstoß in die Zeit“58 meistern würden, so sind es bei Hennig neue „Erscheinungsgruppe[n]“, die alte ablösen. Bei beiden ist die Erscheinungsoberfläche, d.  h. der konkrete Artbestand einer bestimmten erdgeschichtlichen Epoche, nur das Vehikel des Lebens. „Denn alle diese Wesen“, heißt es dann bei Jünger in Atlantische Fahrt, „sind ja nur flüchtige Schemen, sind Scheidemünze, die mit vollen Händen dem Staub zugeschleudert wird. Dennoch trägt eine jede das Wappen und das Abbild des Souveräns.“59 Hennig war bei den weltberühmten Ausgrabungen von Saurier-Fossilien am ostafrikanischen Tendaguru-Berg von 1907 bis 1912 mit dabei. Dort wurden einige der „gewaltigsten überhaupt je bekannt gewordenen Landbewohner der Erde“60 entdeckt, wie er in seiner Reisebeschreibung nicht ohne Stolz notiert. In entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht geben diese Riesen einige Rätsel auf; legen sie es doch nah, dass es eine Art „Lebenstriebe des Größenwachstums“ gibt, das man nicht als „Anpassung“ an den Lebensraum im Sinne Darwins bezeichnen kann, da es für den „Organismus an sich“ keine „Besserstellung bedeutete“.61 Doch was ergibt sich daraus für die Veränderungsgeschichte von Flora und Fauna? Die gewaltigen Veränderungen in Tier- und Pflanzenwelt seit dem Algonikum liegen klar und unmittelbar vor Augen. Kein neuer Fund kann die feste Erkenntnis beeinträchtigen, dass dieser Wandel eine Richtung innehält […]. Es kann […] nicht allein die Außenwelt sein, die den Gang der Entwicklung in seiner Richtung bestimmt, sondern innere Gesetze des Lebens selber lenken ihn. Ihnen gilt unser Streben in letzter Absicht.62

Wolf-Ernst Reif stellt angesichts dieser Zeilen fest: „That sounds vitalistic, but for Hennig it was simple a hint at materialistic laws as yet unknown.“63 Damit sei Hennig kein „outspoken idealistic morphologist, deist, theist, or 58 59 60 61

62 63

SW 9, S. 109. SW 6, S. 180. Vgl. Edwin Hennig: Am Tendaguru. Leben und Wirken einer deutschen Forschungs-Expedition zur Ausgrabung vorweltlicher Riesensaurier in Deutsch-Ostafrika, Stuttgart 1912, S. 51. Edwin Hennig: Wesen und Wege der Paläontologie, Berlin 1932, S.  36. Hinsichtlich des Größenwachstums einiger Saurier – Hennig hat hier offensichtlich besonders Brontosaurus im Blick – heißt es: „Die Ernährung der Riesenleiber stößt nicht selten auf die Schwierigkeit, entsprechende Nahrungsmengen herbeizuführen und drängt den Träger in völlig veränderte Verhältnisse […]. Zuweilen scheint selbst Abwanderung in Gewässer und Sümpfe darin bedingt zu sein, daß dort die Traglast sich verringert. Doch kann die zeitlich-ursächliche Folge hier auch die umgekehrte sein, daß im Wasser das Wachstumsstreben sich noch ungehemmter auswirken kann. Als Anpassung wird man Riesenwachstum kaum je bezeichnen […]. “ Ebd. Ebd., S. 24. Reif, The Search for a Macroevolutionary Theory, S. 110.

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vitalist“64; dennoch gibt es eine Schnittmenge mit dem vitalistischen Denken Jüngers. Diese besteht in der Annahme von entwicklungsgeschichtlich maßgeblichen, jedoch hinsichtlich ihrer Einsicht verborgenen ‚Lebensgesetzen‘. Dass Hennig dabei einen rational-wissenschaftlichen Nachvollzug dieser Gesetze in Aussicht stellt (und auch anstrebt), Jünger hingegen dezidiert anti-rationalistisch, ja wissenschaftsfeindlich argumentiert, ist offensichtlich. Zudem ist Jünger Hennig einen (poetischen) Schritt voraus: Während Hennig nämlich der Erforschung dieser „inneren Gesetze des Lebens“ das Hauptinteresse des Paläontologen zuordnet, ist diese Arbeit bei Jünger bereits geleistet. Seine Konzeption einer platonischen Naturtiefe, die die konkrete Entwicklung der Lebensformen aus den „dunklen Zonen einer chaotischen Fruchtbarkeit“65 heraus steuert, rückt an die Stelle, die bei Hennig unbesetzt bleibt. Als Dichter kann Jünger über den Argumentationshorizont der wissenschaftlichen Orthogenese hinausschreiten. Die phantastische Imagination einer die Erscheinungswirklichkeit prägenden Tiefe lässt sich aus dieser Perspektive als eine Antwort auf die Frage lesen, wie sich die Entwicklung des Lebens als von innen motivierter Prozess vorstellen und beschreiben ließe. Hennig spricht in expliziter Frontstellung zur Abstammungslehre von der „Entfaltung“66 des Lebens, die es paläontologisch zu erforschen gelte. Dass eine solche Entfaltungsidee insofern mit der Entelechie im Sinne Drieschs harmoniert, als ihr die Rolle zukommt, ein „wirkliche[s] elementare[s] Naturagens“67 zu sein, dürfte das orthogenetische Denken für den Driesch-Schüler Jünger interessant machen.68 Aus der Fokussierung auf die Immanenz der Lebensentwicklung ergibt sich jedenfalls – sowohl 64 65 66

Ebd., S. 109. SW 9, S. 110. „Die Paläontologie als eine historische Wissenschaft von den Organismen […] leitet sozusagen nicht den gegenwärtigen Zustand von früheren her, sondern führt von unten herauf zu ihm fast als fernstem Stadium hin; nicht Deszendenz, sondern Aszendenz, nicht Abstammung, sondern Entfaltung ist ihre Grundstimmung.“ – Hennig, Wesen und Wege der Paläontologie, S. 23. 67 Driesch, Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre, S. 242. 68 Als verbindendes Element kommt die Tatsache hinzu, dass Driesch gleich der orthogenetischen Entwicklungslehre der Paläontologie die Arbeit an den Gesetzen des Lebens als Absage an darwinistische Annahmen versteht. Vgl. Driesch, Philosophie des Organischen, S. 200–207. So spricht er davon, „daß unsere Widerlegung des Darwinismus zugleich einen neuen unabhängigen Beweis der Autonomie des Lebens bedeutet.“ (S.  207) Hinsichtlich des Verhältnisses von Orthogenese und Vitalismus gilt: Driesch hat die zeitgenössische orthogenetisch argumentierende Paläontologie zu Kenntnis genommen. Er hält die bisher vorgelegten Ergebnisse jedoch für nicht belastbar; einen orthogenetischen Vitalismus gibt es demnach nicht. Mit Blick auf eine „echte entwicklungshafte Phylogenese“ sieht er „nur gewisse paläontologische Tatsachen: gewisse paläontologische Reihen, z.  B. die der Huftiere, der Ammoniten usw. […] Aber eigentlich wissen tun wir nichts […]. “ – Driesch, Philosophie des Organischen, S. 216.



3.1  Entwicklungsgeschichte des Lebens im Gestaltwandel

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vom orthogenetischen als auch vom neovitalistischen Standpunkt aus betrachtet – ein Anschaulichkeitsproblem, dem um 1930 ein Wissensproblem, genauer gesagt: das „Lebensproblem“ zugrunde liegt. Im Mittelpunkt steht hier „die Frage nach der Entstehung des Lebens, seinem Wesen und seinen Bedingtheiten“69, wie es etwa in dem von Hans Driesch und Heinz Woltereck formulierten Vorwort zum Band Das Lebensproblem im Lichte der modernen Forschung (1931) heißt. Das Hauptziel der hier präsentierten disziplinären Spezialanalysen (aus den Feldern der Biologie, Astronomie, Geologie, Psychologie, Philosophie) besteht darin, „zu einer philosophisch begründeten Weltanschauung, in die alles Denken über das Lebensproblem schließlich münden muß“,70 beizutragen. Ohne an dieser Stelle direkte Übernahmen nachweisen zu können, ist es doch offensichtlich, dass in Jüngers poetischen Bildern die Diskursfäden wissenschaftlicher Reden über die Entwicklung des Lebens zusammenlaufen. Das ‚Lebensproblem‘ erweist sich hier als Antrieb einer Konkretisierung des Unanschaulichen, wobei der Problemcharakter selbst hinter einer urbildlichen Entgrenzung des Lebens verschwindet. „Das bewegende Element, die Lebenskraft im tieferen Sinne, ihrerseits wiederum durch das Wunderbare bewegt“,71 avancieren zur entelechisch-orthogenetischen Supermatrix. Will man die poetischen Valenzen von Jüngers Sprache in ihrer epistemischen Dimension genauer fassen, so empfiehlt es sich, einen Blick auf jene Facetten seiner Konzeption ‚stereoskopischer Wahrnehmung‘ zu werfen, die an der Vermittlung von Oberfläche und Tiefe arbeiten.72 Gemeint ist hier die „geistige Stereoskopie“. [I]hre Wirkung liegt darin, daß man die Dinge mit der inneren Zange faßt. Daß dies durch nur einen Sinn, der sich gleichsam spaltet, geschieht, macht die Feinheit des Zugriffs groß. Die wahre Sprache, die Sprache der Dichter, zeichnet sich durch Worte und Bilder aus, die so ergriffen sind, Worte, die uns seltsam aufhorchen lassen und denen ein wunderbarer Glanz, eine farbige Musik zu entströmen scheint. Es ist die verborgene Harmonie der Dinge, die hier zum Klingen kommt […]. 73

69 Hans Driesch/Heinz Woltereck: Vorwort, in: Dies. (Hrsg.), Das Lebensproblem, unpag. 70 Ebd. 71 SW 9, S. 109. 72 Vgl. umfassend zu den synästhetischen als auch geistsinnlicher Dimensionen der ‚stereoskopischen Wahrnehmung‘ bei Jünger Julia Draganović: Figürliche Schrift. Zur darstellerischen Umsetzung von Weltanschauung im erzählerischen Werk Ernst Jüngers, Würzburg 1998, S.  86–100; Staub, Wagnis ohne Welt, S.  174–176; Volker Katzmann: Ernst Jüngers Magischer Realismus, Hildesheim u. New York 1975, S. 68  f., S. 86–94; Sandro Gorgone: Naturphilosophie und stereoskopische Sicht bei Ernst Jünger, in: Figal/Knapp (Hrsg.), Natur: Jünger-Studien, S. 21–39, bes. S. 26–29, S. 34–39; Ders.: Strahlungen und Annäherungen. Die stereoskopische Phänomenologie Ernst Jüngers, Tübingen 2016. 73 SW 9, S. 86.

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3  Vom orthogenetischen Vitalismus zur idealistischen Morphologie

Die dichterische „geistige Stereoskopie  […] erbeutet die Einheit im inneren Widerspruch“. Als Beispiel wählt das Jünger-Ich eine „bedeutende[.  .] Kraft“, an der „vielleicht das Fesselndste die Widersprüche“ sind, „in die sie sich wagt“.74 Dass der „Lebenskraft im tieferen Sinne“75 diese Rolle zugeschrieben werden kann, steht wohl außer Zweifel, denn in der Verbindung von urbildlicher Tiefe und sichtbarer Oberfläche der Lebenserscheinungen ist jene entwicklungsgeschichtliche Dialektik angelegt, die die dichterische Rede als Einheit einsichtig machen will. In der zweiten Fassung des Abenteuerlichen Herzens (1938) ist es die Figur des Nigromontan, die einen solchen Erkenntnisanspruch propagiert.76 Die dem Sehen zugängliche „Oberfläche“ gewähre „in ihrer bunten Musterung geheime Aufschlüsse“; die „Kontakte der Sinnenwelt mit den tieferen Strömen zu ermitteln, sei eine der erleuchtenden Aufgaben“,77 heißt es dort. Damit der Übergang vom Sehen der Lebenserscheinungen zur Schau der determinierenden Lebensgesetze gelingt, müssen „Worte“ und „Bilder“ jene Funktion übernehmen, die in den als rationalistisch gescholtenen Wissenschaften dem diskursiven Argument zukommt. Das dichterische Wort übernimmt dabei Diskursfäden wissenschaftlicher Rede; es entkleidet sie jedoch ihrer ursprünglichen, begrenzten argumentativen Funktionsstelle und macht sie, eingebunden in die neue poetische Ordnung, transparent – im wörtlichen Sinne: durchsichtig78 – auf ein Dahinterliegendes, Bewegendes. Die poetische Sprache verfährt insofern stereoskopisch, als sie – soz. auf der Oberfläche – die Bestandteile vitalistischer und orthogenetischer Diskurse aufruft, diese jedoch durch ihre eigene Textur so umarbeitet, dass sie auf eine Tiefendimension hin durchsichtig werden. Das „Lebensproblem“ wird auf diese Weise poetisch gelöst.

74 Ebd. 75 Ebd., S. 109. 76 Vgl. zur Figur des Nigromontan Bernhard Gajek: Magister – Nigromontan – Schwarzenberg. Ernst Jünger und Hugo Fischer, in: Revue de Littérature Comparée 4/71 (1997), S. 479–500, bes. S. 496–499; Margret Boveri: Die Wandlungen des Nigromontan, in: Merkur 6 (1952), S. 791–794. 77 SW 9, S. 266  f. 78 Sandro Gorgone vergleicht die ‚stereoskopische Wahrnehmung‘ mit „perspicuitas […] [,] die zugleich Durchsichtigkeit der Dinge, Klarheit der Darstellung und Offensichtlichkeit bedeutete.“ – Gorgone, Naturphilosophie und stereoskopische Sicht, S. 28. Julia Draganović macht hingegen zur Vermittlung der Oberfläche-Tiefe-Beziehung bei Jünger das Konzept des ‚Figürlichen‘ (Gestalt und rhetorische Figur) stark. – Vgl. Draganović, Figürliche Schrift, S. 93–95.



3.2  „Gestalt“ der Urzeit und der Zukunft

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3.2  „Gestalt“ der Urzeit und der Zukunft. Der Arbeiter 3.2.1  Die „Gestalt“ zwischen neuer Morphologie (Zeitsignaturenlehre) und paläontologischer Ethologie Mit Der Arbeiter (1932) setzt Jünger sein Projekt einer stereoskopischen Erkundung der Welt fort. Gegenüber der im Abenteuerlichen Herz betonten Differenz von urbildlicher Lebensquelle und sichtbarer Lebenserscheinung vermittelt nun das Konzept der „Gestalt“. Der Gestalt-Begriff umfasst bei Jünger „erkenntnistheoretische, ontologische, wahrnehmungspsychologische, geschichtsphilosophische und poetologische Aspekte“.79 Nähert man sich von der Stereoskopie des Abenteuerlichen Herzens kommend dem Gestalt-Konzept, d.  h. von der Dialektik einer Vermittlung von Oberfläche und Tiefe, so könnte man vielleicht sagen: Gestalten sind in gleichem Maße sichtbar wie sie auf ein Dahinterliegendes verweisen – Sehen und Verweisen sind nicht mehr kategorial voneinander geschieden. Die grundlegende Veränderung besteht demnach zweifelsohne darin, dass die Grenze von urbildlicher Unanschaulichkeit und sichtbarem Phänomen, die das Abenteuerliche Herz recht gut bewacht hielt, gelockert ist. Die Gestalt ist jedenfalls ein „Ganzes, das mehr als die Summe seiner Teile umfasst“.80 Es geht darum, in der Immanenz der einzelnen Erscheinung an sich wie auch der unterschiedlichen Erscheinungen im Vergleich ein sich der Abstraktion durch Begriffe verweigerndes Verbindendes, Charakteristisches, Strukturierendes auszumachen.

79

80

Annette Simonis: [Art.] Gestalt, in: Schöning (Hrsg.), Jünger-Handbuch, S. 325–327, hier: S.  326. Veränderungen in der Gestaltkonzeption zwischen Arbeiter und Auf den Marmorklippen auf der Grundlage narratologischer Analysen betont Matthias Schöning: Kunst der Perspektive. Zur Revision des „Gestalt“-Konzepts in Jüngers Auf den Marmorklippen, in: Thomas Bantle/Alexander Pschera/Peter Trawny (Hrsg.): Zwischen Mythos und Widerstand. Ernst Jüngers Auf den Marmorklippen, Jünger Debatte 2, Frankfurt/M. 2019, S. 79–90. Vgl. zur ‚Gestalt‘-Diskussion in der a.) anti-historistischen Geschichtsschreibung, besonders des George-Kreises, Gregor Streim, ‚Krisis des Historismus‘ und geschichtliche Gestalt; b.) in der sich psychologisch formierenden Kunstgeschichte Magdalena Bushart: ‚Form‘ und ‚Gestalt‘. Zur Psychologisierung der Kunstgeschichte um 1900, in: Otto Gerhard Oexle (Hrsg.): Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880–1932, Göttingen 2007, S.  147–179; c.) in der Literatur- und Kunstgeschichtsschreibung der 1930er- bis 1950er-Jahre Ralf Klausnitzer: Fallstudien als Instrument der interdisziplinären Wissenschaftsforschung. Am Beispiel der disziplinübergreifenden Rezeption des ‚Gestalt‘- Konzepts in den 1930er-/1940er-Jahren, in: Jörg Schönert (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung. DFG-Symposium 1998, Stuttgart u. Weimar 2000, S. 209–256. SW 8, S. 37.

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3  Vom orthogenetischen Vitalismus zur idealistischen Morphologie Über die Rangordnung im Reiche der Gestalt entscheidet nicht das Gesetz von Ursache und Wirkung, sondern ein andersartiges Gesetz von Stempel und Prägung; und wir werden sehen, daß in der Epoche, in die wir eintreten, die Prägung des Raumes, der Zeit und des Menschen auf eine einzige Gestalt, nämlich auf die des Arbeiters zurückzuführen ist.81

Der ‚Arbeiter‘ als die morphologische Signatur des Zeitalters kennzeichnet nach Jünger nicht nur die politische Organisation im zentralistisch organisierten totalitären Staat, sondern nahezu alle Bereiche der Lebensführung. Dieser allumfassende Geltungsanspruch von Jüngers Konzept ist eingehend erforscht worden und in seinen unterschiedlichen – geschichtsphilosophischen (Spengler), religionsphilosophischen (Leopold Ziegler), politischen, technikanalytischen  – Begründungsdimensionen sowie ästhetischen Darstellungsverfahren gut dokumentiert.82 Weniger bekannt ist demgegenüber, in welchem Maße Jüngers Gegenwartsanalyse und Zukunftsprospekt sowohl am paläontologischen Diskurs um die sog. ‚Formgemeinschaft‘ partizipiert als auch immer wieder auf die Vorgeschichte rekurriert, um hypermoderne Phänomene hermeneutisch in den Griff zu bekommen. Zunächst zum ­Arbeiter im methodischen Einflussgebiet der zeitgenössischen Paläontologie. Jüngers Interesse an der Morphologie lässt sich im Allgemeinen auf Goethes Arbeiten zu diesem Thema zurückführen,83 wie es überhaupt im Einflussbereich des typologischen Denkens steht, das für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts so charakteristisch ist.84 Die Rede von der „Urpflanze“ taucht bei Jünger zum ersten Mal 1938 in Das abenteuerliche Herz II auf, später dann in Typus, Name, Gestalt (1963). Von den 1960er-Jahren bis in die 1990erJahre versucht Jünger durch das Tagebuchwerk und Gespräche das morphologische Denken in Anknüpfung an Goethe auch für die Gestalt-Konzeption 81 Ebd. 82 Vgl. Jürgen Brokoff: [Art.] Der Arbeiter, in: Schöning (Hrsg.), Jünger-Handbuch, S. 105–116, dort auch weiterführende Literatur. Vgl. speziell zu Jüngers Spengler-Bezug Gilbert Merlio: Jünger und Spengler, in: Peter Koslowski (Hrsg.): Die großen Jagden des Mythos. Ernst Jünger in Frankreich, München 1996, S. 41–62; Schwarz, der konservative Anarchist, S. 79–83. Vgl. zum möglichen Einfluss von Leopold Zieglers (1881–1958) Gestaltwandel der Götter (1920) auf Jüngers Gestalt-Konzept Timo Kölling: Leopold Ziegler. Eine Schlüsselfigur im Umkreis des Denkens von Ernst und Friedrich Georg Jünger, Würzburg 2009. 83 Vgl. Figal, Gestalt und Gestaltwandel. 84 Das Argumentieren in ‚Gestalt‘-Zusammenhängen ist Teil jenes „stiltypologischen Denkens“, dem in mehrfacher Hinsicht „Synthesecharakter“ attestiert werden kann. Vermittelt werden die „gegenstandsnahe[.  .] Form- und Strukturbeobachtung mit weiträumigen geistesgeschichtlichen oder psychologischen Ausdeutungen“, die „anthropologische[.  .] mit der historische[n] Perspektive“ und schließlich Empirismus und Transzendentalphilosophie. – Vgl. dazu Jutta Müller-Tamm: Typologie statt Transzendentalphilosophie. Geisteswissenschaftliche Begründungsstrategien um und nach 1900 in: Scientia Poetica 19 (2015), S. 305–317, Zitate: S. 315.



3.2  „Gestalt“ der Urzeit und der Zukunft

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des Arbeiters – gleichsam rückwirkend – geltend zu machen.85 Noch die späte Übersetzung ins Französische durch Julien Hervier – Le travailleur (1989) – steht ganz unter dem Einfluss eines von Jünger vermittelten, an Goethe angelehnten biologischen Verständnisses des Gestaltbegriffes86. Günter Figal hat darauf hingewiesen, dass, im Detail betrachtet, Jünger nicht mit Goethe übereinstimmt: Während für Goethe die ‚Urpflanze‘ nämlich eine regulative Idee bleibe, deren Anschauung sich lediglich über die vergleichende Zusammenschau mehrerer Gewächsformen ergebe, geht es Jünger um die „Sichtbarkeit für das geistige Auge – um die ‚intuitive‘ Sichtbarkeit der Urpflanze selbst.“87 Diese intuitionistische Phänomenologie der Idee ist keine Erfin85

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Vgl. Figal, Gestalt und Gestaltwandel, S. 8  f. Die affirmative Jünger-Rezeption der 1960erJahre hilft dem Autor tatkräftig in Sachen morphologischer Selbsthistorisierung: „Nur wenigen wird die Erfahrung von Gestalten zuteil werden. Goethes Urpflanze ist somit keineswegs als Idee aufzufassen […]. Eine Gestalt ist konkreter als eine Idee, die ja nur gedacht und nicht erfahren werden kann. […] Aus dem Gesagten gehen der hohe Anspruch und Rang hervor, den Jüngers Arbeiter fordert und besitzt; denn er ist der Name für einen Typus, dessen Sinngebung in seiner metaphysischen Gestalt ruht.“ Sigfried Bein: Der Arbeiter. Typus – Name – Gestalt, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Wandlung und Wiederkehr. Festschrift zum 70. Geburtstag Ernst Jüngers, Aachen 1965, S. 107–116, hier: S. 109. In der zeitgleich von Vintila Horia besorgten Festschrift zum 70. Geburtstag des Jubilars ist es Ernst Niekisch, der den Arbeiter mit dem älteren morphologischen Denken verbindet. Im Gegensatz zu Bein werden bei Niekisch Gestalt und Idee nicht gegeneinander ausgespielt: „Der Jüngersche Arbeiter war nur als Idee auf die Bühne gerufen – als Idee in dem Sinne, wie Goethe in dem berühmten Gespräch mit Schiller an die Urpflanze gedacht hatte.“ Ernst Niekisch: Die Gestalt des Arbeiters, in: Horia (Hrsg.), Farbige Säume, S. 93–98, hier: S. 95. Deutlich wird dies an Ernst Jüngers brieflichen Übersetzungstipps, die er Julien Hervier zukommen lässt. Zur ‚Gestalt‘ merkt er an: „‚Gestalt‘ nähert sich einerseits der ‚Idee‘, andererseits der ‚Form‘ und ‚Figur‘. […] Siehe auch Goethes und Schillers Gespräch über die Urpflanze. Unter Urpflanze verstand Goethe das Urbild der höher organisierten Gewächse.“ Jünger an Hervier (23. 10. 1988), in: Hervier/Pschera, Jünger und Frankreich – eine gefährliche Begegnung?, S. 138–148, hier: S. 139. Figal, Gestalt und Gestaltwandel, S. 12. Vgl. auch Chung, Ernst Jünger und Goethe, S. 121– 127. In welchem Maße Jünger die Urpflanze als phänomenologische Qualität beschreibt, wird deutlich, wenn man seine Einlassungen „Zur Kristallographie“ im Abenteuerlichen Herz II (1938) hinzuzieht. Dort entwirft er den (durchsichtigen) Kristall als ‚epistemisches Ding‘, in dem der „Zwiespalt […] [,] der uns oft heftig ergreift […] [,] der zwischen der Oberfläche und der Tiefe des Lebens besteht“, aufgehoben erscheint, da beide, Oberfläche und Tiefe, zusammenfallen würden: „Die durchsichtige Bildung ist die, an der unserem Blick Tiefe und Oberfläche zugleich einleuchten. Sie ist am Kristall zu studieren, den man als ein Wesen bezeichnen könnte, das sowohl innere Oberfläche zu bilden als seine Tiefe nach außen zu kehren vermag.“ Auf diese Dialektik von Innen und Außen müsse nach Jünger auch die angemessene, das heißt ihre ‚kristallische‘ Struktur bestätigende Wahrnehmung der Urpflanze Goethes aus sein: „So ist […] die Erfassung der Urpflanze nichts anderes als die Wahrnehmung des eigentlich kristallischen Charakters im günstigen Augenblick.“ SW 8, S. 182. Der in dem Stück „Die Vexierbilder“ vorgestellte Lehrer „Nigromontan“ erteilt – ganz der ‚kristallischen‘ Idee verpflichtet – zunächst „Anschauungsunterricht“, der dann darin mündet, Oberfläche und Tiefe aufeinander zu verpflichten, d.  h. die „Kontakte der Sinnenwelt mit den tieferen Strömen zu ermitteln“. Ebd., S. 267.

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dung Jüngers, sie findet sich schon im frühen 20. Jahrhundert;88 als Produkt der ‚Krise des Historismus‘ wird sie um 1930 diskutiert.89 Goethe kennt in diesem modernen Sinne keine Intuition. Für ihn ist der vegetabile Entwicklungszyklus entscheidend, ihm geht es um die ‚Bildung‘ der Pflanze; Jünger hingegen um die fixierte Form, die er – mit Goethe, aber gegen dessen Vorbehalte gegenüber diesem Begriff – ‚Gestalt‘ nennt. Eine solche ‚Gestalt‘ ist bei Jünger zeitenthoben, sozusagen ontologisch invariabel; sie lässt sich auf die „Urzeit“, die Jetztzeit und die Zukunft beziehen: „Es handelt sich für mich also um eine Form, die fast metaphysischen Charakter hat, wie Goethes metaphysische Idee der Urpflanze.“90 In der Verbindung von Phänomenologie und Morphologie postuliert Jünger im Ergebnis eine ‚Gestaltschau‘, die mehr mit dem geistesgeschichtlichen Idealismus der Goethe-Rezeption der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und dessen optozentristischem Furor zu tun hat, als mit Goethe selbst. Jünger geht es auch nicht um die Entwicklungsgesetze im Pflanzenreich, sondern darum, „die Prägung des Raumes, der Zeit und des Menschen auf eine einzige Gestalt, nämlich auf die des Arbeiters“ zurückzuführen – eine Gestalt, die in Verbindung mit dem Elementaren stehe. Die Signifikanz der Arbeiter-Gestalt bedeutet nämlich nichts anderes als den „Einbruch elementarer Mächte in den bürgerlichen Raum“.91 In diesem Sinne bleibt die Gestalt geschichtlichen und ursächlichen Bestimmungen entzogen. Auch wenn sich ihre Wirkungen in der Welt zeigen, so ist die Gestalt selbst das schlechthin Transzendente:92 metahistorisch und doch geschichtsprägend, wie es Helmuth Kiesel auf den Punkt bringt.93 88 Simmel etwa klärt in seinem Goethe (1912) den Widerspruch zwischen Idee und Augenschein dahingehend, „daß ihm [Goethe, N.K.], als dem Künstler, die Sinnlichkeit eben von vornherein mehr war, als sie dem Sprachgebrauch ist, daß in ihr das intellektuelle Vermögen wirkte, daß er mit den ‚Augen des Geistes‘ ‚anschaute‘. Den Sinnen in jener gewöhnlichen Bedeutung widerspricht das Ideelle […]. Wo der ganze Mensch anschaut, jenseits der Goethe so verhaßten Getrenntheit der ‚oberen und unteren Seelenvermögen‘, da fällt der Wiederspruch fort und die volle Wirklichkeit, d.  h. die in der Erscheinung offenbarte Idee wird mit den Sinnen erschaut, die jetzt nur der Kanal für die ungeteilte Lebensströmung sind.“ Georg Simmel: Goethe [1912/18], in: Ders.: Gesamtausgabe, hrsg. v. Otthein Rammstedt, Bd. 15, hrsg. v. Uta Kösser, Hans-Martin Kruckis u. Otthein Rammstedt, Frankfurt/M. 2003, S. 7–270, hier: S. 71. 89 Nach Karl Heussi „muß der Anspruch, daß man durch Intuition zum metaphysischen Wesenskern der Dinge vorzudringen vermöge, daß man durch ‚Wesensschau‘ ein Transhistorisches, Metaphysisches im strengen Sinne erreiche, sehr bestimmt abgelehnt werden.“ Heussi, Die Krisis des Historismus, S. 96. 90 Ernst Jünger/Antonio Gnoli/Franco Volpi: Die kommenden Titanen. Gespräche, Wien 2002, S. 42. 91 SW 8, S. 52. 92 Vgl. Brokoff, Die Apokalypse in der Weimarer Republik, S. 75–98. 93 Vgl. Helmuth Kiesel: Ernst Jüngers Arbeiter – Eine Programmschrift der „heroischen Moderne“, in: Bantle/Pschera/Trawny (Hrsg.), Zwischen Mythos und Widerstand, S. 123–138, hier: S. 127.



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Sucht man nach einem Bezugskonzept für einen Deutungsanspruch, der immanente Anschauung und (transzendente) Lebens-Idee miteinander verbindet, so stößt man auf zwei Denkfiguren, die die zeitgenössische Paläontologie geprägt haben; zum einen auf die „ethologische oder ‚biologische‘ Paläontologie (konditionales System)“94, zum anderen auf die Lehre von den Zeitsignaturen, die der bis in die 1940er-Jahre hinein auch von Helmut Hölder geschätzte Paläontologe Edgar Dacqué (1878–1945) vertrat.95 Zunächst zu ersterem: Die ethologische Paläontologie ist zuständig für die aussagekräftige Charakterisierung eines erdgeschichtlich variablen Formeninventars. Im Kern geht es hier um die Annahme von „Formgemeinschaft“, d.  h. um die „gestaltende Kraft der Organismenwelt“96, die jenseits von „Zeitgenossenschaft und Verwandtschaft“ sich an ganz unterschiedlichen zeitlich und räumlich weit voneinander entfernten Organismen zeigt: „Welches Gesetz umfaßt Pflanze und pflanzenähnliches Tier, die Torpedogestalt eines Ichthyosauriers und eines Delphins […] und dgl. mehr?“: „Nicht bloße Morphologie oder abstrakte Zeitbestimmung können uns in solchen Fragen weiterhelfen, sondern in der versteinerten Schale, im toten Knochen müssen wir die lebende Substanz selber sprechen hören und am Werke sehen.“97 Chronologisch weit auseinander liegende Gestalten stehen also hinsichtlich des in ihnen organisierten Lebens in einer Verbindung. Um eine solche Verbindung zu erkennen, ist die Paläontologie daran interessiert, „organische Formen nicht nur als starre Versteinerung, sondern als lebendes Wesen zu erfassen und verstehend zu durchdringen“98. Im Rahmen der Analyse der „Lebenserscheinungen“ geht es dann darum, einen Zusammenhang zwischen der „Lebensart eines Organismus“ („Lebensäußerung“) einerseits und „Körpergestaltung, Funktion und Form“ andererseits herzustellen. Untersucht werden müssen mit diesem Ziel u.  a. „Wachstum“, „Ernährung“, „Mimikry“ und „Bewegung“99. Doch auch die „Lebensgemeinschaft“ der 94 Hennig, Wesen und Wege der Paläontologie, S. 443. 95 Vgl. ausführlich zum möglichen Einfluss Edgar Daqués auf Jüngers Marmorklippen-Roman Kap. 4.3. Vgl. zur Konstellation Dacqué – Hölder ausführlich Kap. 1.4.2. 96 Hennig, Wesen und Wege der Paläontologie, S. 443. 97 Ebd. Hennigs ethologische Analyse ist deutlich durch seine orthogenetische Grundhaltung geprägt. Ethologisches Interesse und orthogenetischer Vitalismus gehören jedoch keineswegs zwingend zusammen. Weniger ‚vitalistisch‘ als Hennig fasst etwa der Österreichische Paläontologe Othenio Abel die ethologische Methode. Er versteht darunter „eine sorgfältige Analyse der Anpassungserscheinungen der fossilen Form, um auf diese Weise zunächst eine Antwort auf die Frage finden zu können, welche Lebensweise das betreffende fossile Tier gehabt haben muß und dann das Problem zu lösen, das in der Frage nach den Vorstufen und Nachstufen des Anpassungszustandes liegt, den die untersuchte fossile Form aufweist.“ – Othenio Abel: Paläobiologie und Stammesgeschichte, Jena 1929, S. 51  f. 98 Hennig, Wesen und Wege der Paläontologie, S. 444. 99 Vgl. ebd., S. 444–450.

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Organismen kann Aufschluss geben; ja sie bildet den eigentlichen „Rahmen, in den die Einzelform sich einzufügen hat, von dem sie in mannigfacher Weise hinsichtlich ihrer Lebensäußerung bestimmt wird.“100 Die Lehre von den Zeitsignaturen Dacqués behauptet auch eine Formgemeinschaft, jedoch begründet sie diese anders. Nicht funktionale Gleichheit über Millionen Jahre hinweg ist hier entscheidend, sondern formale Ähnlichkeit innerhalb eines Zeitraumes. Im Mittelpunkt steht die Annahme, dass erdgeschichtliche Perioden durch eine gemeinsame Formensprache charakterisiert sind; diese, so die These, präge das Aussehen aller Lebewesen eines Zeitabschnittes gleichermaßen.101 Im Perm etwa, das vor ca. 298,9 Millionen Jahren begann und vor 252,2  Millionen Jahren endete, waren alle Lebewesen amphibisch gestaltet  – „weil damals die amphibische Gestalt und Lebensweise eine Zeitsignatur war […]. “102 Andere Erdzeitalter tragen andere Formsignaturen. „Es macht gerade den Eindruck, als ob die Natur in einer bestimmten Zeit von innen heraus eben nur so oder so gestalten könne; als ob sie nicht anders könne, als nur erst einen bestimmten Baustil zu verwirklichen.“103 Jüngers Argumentation lässt sich mit beiden paläontologischen Morphologie-Lehren ins Gespräch bringen. Sie knüpft zum einen bei der ethologischen Paläontologie in methodischer Hinsicht an. Denn – und das ist der Unterschied zum Rückbezug auf die Urzeit in Der Kampf als inneres Erlebnis – das Gestalt-Denken fußt nicht mehr auf einem stammesgeschichtlichen oder erbbiologischen Nexus, sondern allein auf funktionaler Gleichheit.104 In der Sprache der paläontologischen Ethologie formuliert: Hinter der Form des Arbeiters steht eine ganz bestimmte Lebensäußerung; oder andersherum: Die Lebensäußerung verlangt nach einer bestimmten Form. Diese neue Form steht mit der alten, mit der sie verglichen wird, nicht in einem regressiven Ahnen-Verhältnis, ihr Bezug ist vielmehr durch die jeweilige Gleichheit von Lebensart und Körpergestaltung, resp. formalen Merkmalen beschrieben. Jünger lehnt die „vergleichende Morphologie“ als „museale Angelegenheit“105 in gleichem Maße ab, wie die Paläontologie die „bloße Mor100 Ebd., S. 457. 101 Vgl. zur Zeitsignaturenlehre Dacqués Meister: Metaphysische Konsequenz – die idealistische Morphologie Edgar Dacqués, S. 212–214; vgl. auch Hahn, Gottfried Benn und das Wissen der Moderne, Bd. 2, S. 607–617. 102 Dacqué, Urwelt, Sage und Menschheit, S. 68; vgl. zu den „biologische[n] Zeitcharaktere[n]“ ausführlich S. 41–74. 103 Dacqué, Organische Morphologie und Paläontologie, S. 226. 104 Dieser wichtige Unterschied entgeht Andreas Geyer, der die frühen Kriegsschriften in der Denkfigur des ‚Elementaren‘ allzu bruchlos an den Arbeiter anschließt. Vgl. Geyer, Die Brüder Jünger und das ‚Elementare‘, bes. S. 117–138. 105 SW 8, S. 87.



3.2  „Gestalt“ der Urzeit und der Zukunft

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phologie“106 als unzureichend ergänzen möchte. Beide suchen etwas hinter der Gestalt, was sich jedoch nur durch die Gestalt zeigt. Es geht mithin nicht darum, die Gestalt zu überwinden, sondern sie zum Sprechen zu bringen. Die paläontologische Zeitsignaturenlehre ist insofern präsent, als Jünger den morphologischen „Zeitgeist“107, den Dacqué der organischen Natur attestiert, auf die Deutung des gesamtgesellschaftlichen und gesamtkulturellen Formenreservoirs der Moderne überträgt. Dadurch erhält die Gestalt des Arbeiters eine Epochalität, die der der einzelnen Erdzeitalter – denn das ist der großraumperiodische Maßstab der Ordnung Dacqués – in nichts nachsteht. In geochronologischer Hinsicht könnte man auch sagen: Die Moderne ist ein neues Erdzeitalter – wie vor ihr Kreide oder Jura. In gleichem Maße, in dem Dacqué die Lebewesen eines Erdzeitalters unter sein „Gesetz der Zeitformenbildung“108 stellen kann, ist die Gestalt des Arbeiters für Jünger die prägende, unterschiedliche Teilbereiche des modernen Lebens umfassende und damit auf einen gemeinsamen Ursprung verpflichtende Form. Dass Dacqués „idealistische Morphologie“109 an Goethes angelehnt ist,110 dürfte die Sache für Jünger noch attraktiver gemacht haben. Hinzukommt Dacqués typenkonstituierende „platonische […] goetheische Anschauungsart“111; eine solche dürfte auch Jünger nicht fremd gewesen sein, bekennt er sich doch rückblickend zu einer „neu-platonische[n] Sicht einer Form, die ihren Charakter der gesamten Wirklichkeit aufprägte: der Form des Arbeiters.“112 Doch nicht nur in den Ergebnissen, auch in den Voraussetzungen stimmen Dacqué und Jünger überein. Es ist die verbindende Absage an die stammesgeschichtliche Entwicklung im Sinne Darwins, die die Formenbildungen beider begründet. Jünger überträgt hier den paläontologischen AntiDarwinismus Dacqués auf seinen Gestalt-Begriff. Man habe nun – mit dem Eintritt in die Epoche des Arbeiters –, so Jünger, „einen Abschnitt erreicht, in dem die Entwicklungsgeschichte versagt, wenn sie nicht mit umgekehrten Vorzeichen betrieben wird, das heißt: aus einer Perspektive, aus welcher die Gestalt als das der Zeit nicht unterworfene Sein die Entwicklung des wer106 Hennig, Wesen und Wege der Paläontologie, S. 443. 107 Dacqué, Organische Morphologie und Paläontologie, S. 6. 108 Dacqué, Urwelt, Sage und Menschheit, S. 53. 109 Vgl. Meister, Metaphysische Konsequenz – die idealistische Morphologie Edgar Dacqués. 110 Vgl. ebd., S. 200, S. 221. Reflektiert hat Dacqué seinen Goethe-Bezug in dem Aufsatz Goethes Wesen und das Urbild im Dasein. Vgl. Edgar Dacqué: Goethes Wesen und das Urbild im Dasein, in: Ders.: Natur und Erlösung. Schriften der Corona IV, München, Berlin u. Zürich 1933, S. 59–108. 111 Ebd., S. 65. 112 Jünger/Gnoli/Volpi, Die kommenden Titanen, S. 112. Dieser Äußerung datiert aus dem Jahr 1995. Ein dezidiertes Bekenntnis Jüngers zum Neuplatonismus findet man im Umfeld des Arbeiters aus den 1930er-Jahren nicht. Vgl. zu Jüngers Platonismus Schwarz, Der konservative Anarchist, S. 31  f.

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denden Lebens bestimmt.“113 Nichts anderes behauptet die zeitgenössische Paläontologie, wenn Sie vergangenen Erdabschnitten biologisch nachweisbare Zeitsignaturen als Gestaltmuster zuordnet. Es ist also nicht so, dass sich der allumfassende Arbeitscharakter der Moderne aus dem stetig wachsenden Einfluss der Ökonomie oder der Technik auf andere Bereiche der Lebensführung (Mode, Kosmetik etc.) seit dem 19.  Jahrhundert entwickelt hätte; die diagnostizierte formale Gleichheit der Gestalt entzieht Jünger vielmehr der zeitlichen Entwicklung und ursächlichen Determination. ‚Entwicklung‘ ist bei Jünger mit ‚Deszendenz‘ assoziiert, steht also in der Tradition einer Darwin verpflichteten genetischen Verknüpfung formaler Homologien. Die Zeitsignatur der Arbeiter-Gestalt hat sich jedoch nicht in diesem Sinne herausgebildet. Schauen wir genauer auf ein Schema Dacqués (vgl. Abb. 47): Gleiche formale Zeitmerkmale weisen in dieser Darstellung die Typen A und B auf, „die man nach ihrer sonstigen Organisation verschiedenen Einzelstämmen und getrennten genetischen Kreisen zugewiesen hat“: „Das täuscht dann Übergangsformen vor […], Übergangsformen, die dies rein äußerlich formell auch sind“, aber eben nicht im Sinne genetischer Verwandtschaft (‚Abstammung‘). Man kann also diese Art Formbildung vergleichsweise […] auffassen […] als Manifestierung eines lebendig gestaltenden ‚Zeitgeistes‘, der eine ‚Verwandtschaft‘ zur gleichen Formbildung mit sich brächte, die dominant wird über zuvor gegebene typenhafte Verschiedenheit, ein Vorgang, der einer größeren übergeordneten Welle im Rhythmus des organischen Werdens und Wachsens entspricht […]. Das ist aber grundsätzlich eine tiefere und weitgreifende Entstehung von Gleichem oder Ähnlichem und geschieht auf Grund einer umfassenderen Verwandtschaft, als sie in der Deszendenzlehre bei der Frage nach der Entstehung neuer Arten […] bemerkt worden ist.114

Schauen wir von dieser Warte auf die Gestalt des Arbeiters, so wird deutlich, dass die formalen Ähnlichkeiten im Bereich von Industrie, Technik, Ökonomie, Mode, Sport, Kunst etc. – also jene „grundsätzlich […] tiefere und weitgreifende Entstehung von Gleichem oder Ähnlichem“ nach Dacqué – ihr Gepräge durch einen verbindenden ‚Zeitgeist‘ erfahren, der in seiner erdgeschichtlichen Signifikanz jenseits soziologischer Begründungsmuster angesiedelt ist. Der bei Dacqué „zuvor gegebene[n] typenhafte[n] Verschiedenheit“ entsprechen bei Jünger unterschiedliche Stile der Lebens- und Arbeitsführung, nämlich solche des 19. Jahrhunderts, die erst unter der Prägung durch die Gestalt des Arbeiters im 20. Jahrhundert jene formalen Homolo113 SW 8, S. 125. 114 Edgar Dacqué: Leben als Symbol. Metaphysik einer Entwicklungslehre, München u. Berlin 1928, S. 133.



3.2  „Gestalt“ der Urzeit und der Zukunft

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Abb. 47: Formale Übereinstimmungen abstammungsgeschichtlich verschiedener Typen als Zeitsignatur bei Edgar Dacqué

gien aufzuweisen beginnen, die Jünger als Abdruck eines Stempels deutet. Durch diese Fundierung des Gestaltdenkens im Zeitsignaturenkontext kann Jünger auch die allerorten beobachtbaren gesellschaftlichen Veränderungsprozesse auf Prägekräfte rückführen, die selbst nicht gesellschaftlich determiniert sind. Der Arbeiter ist in gleichem Maße eine erdgeschichtliche Zeitsignatur wie sein Geltungsanspruch – planetarisch – auf die ganze Erde gerichtet ist, gleichsam als Wille zur Zeitsignatur: „Das Ziel […] besteht in der planetarischen Herrschaft als dem höchsten Symbol der neuen Gestalt.“115 Dass beide Form-Konzepte Einfluss auf den Arbeiter genommen haben könnten – die paläontologische Ethologie hinsichtlich einer Verpflichtung der Arbeiter-Form auf weit zurückliegende Phänomene funktional-formaler 115 SW 8, S. 310. Vgl. zur ‚planetarischen‘ Dimension des Arbeiters Michael Auer: Wege zu einer planetarischen Linientreue? Meridiane zwischen Jünger, Schmitt, Heidegger und Celan, München 2012, S. 68–74.

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Gleichheit; die Lehre von den Zeitsignaturen im Vergleichspunkt einer verbindenden formalen Epochalität von lebensgeschichtlich nachweisbarem Erdzeitalter und dem ‚Zeitalter des Arbeiters‘ – soll jedoch nicht ihre Verschiedenheit verschleiern. Der paläontologischen Ethologie kommt es auf vergleichbare morphologische Eigenschaften an, die sich zwischen verschiedenen Erdzeitaltern zeigen; sie argumentiert diachron. Die Zeitsignaturenlehre interessiert sich hingegen für morphologische Ähnlichkeiten je eines Zeitraumes; insofern argumentiert sie synchron. Verbunden bleiben beide Richtungen freilich über ihr gemeinschaftliches Interesse an der paläobiologisch nachweisbaren Entwicklung der Lebenskraft als Formäußerung.

3.2.2  Elementar oder primitiv? Zeitlose Schau der „Gestalt“, Sichtbarkeit des „Typus“ in der Geschichte Unter der Überschrift „Der Einbruch elementarer Mächte in den bürgerlichen Raum“116 präsentiert Jünger die Kategorie des „Elementaren“ als Merkmal eines ‚neuen Menschen‘, der den ‚Bürger‘ abzulösen beginne. Peter Koslowski spricht von einer „geschichtsphilosophische[n] und mythische[n] Anthropologie des Typus des Zeitalters“117, die Jünger liefere. In der Tat wird die anthropologische Fixierung über „ein neues Verhältnis zum Elementaren“118 begründet. In der Gestalt des Arbeiters zeige sich nach Jünger dieser Typus. Die Rede vom Elementaren meint dabei sowohl die Elemente im Sinne der antiken Elementenlehre – Jünger spricht hier von den „Urelementen des Feuers, des Wassers, der Erde und der Luft“ – als auch eine der Rationalität des Bürgers entgegengesetzte „Leidenschaft“119 und Bereitschaft zur Gefahr. Das Affektiv-Elementare sei dem „Dasein jedes Einzelnen als eine unverlierbare Mitgift zugeteilt“.120 Mit dem Ersten Weltkrieg sieht er generell „eine neue, elementare Färbung in den Strom der Gedanken, Gefühle und Tatsachen“121 einfließen; wobei das Schlachtfeld als „Urlandschaft“ für jenen elementaren Nullpunkt steht, von dem die „unmittelbare Verbindung mit der Wirklichkeit wiederherzustellen“122 sei. Jene Verbindung nun wird durch den Arbeiter verkörpert. Die neue Morphologie Jüngers sieht in ihm die Restitution alter primitiver anthro116 SW 8, S. 52. 117 Peter Koslowski: Der Mythos der Moderne. Die dichterische Philosophie Ernst Jüngers, München 1991, S. 65. 118 SW 8, S. 52. 119 Ebd., S. 53. 120 Ebd., S. 56. 121 Ebd., S. 59. 122 Ebd., S. 50.



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pologischer Merkmale im Zeichen ihrer Einschreibung in die neue funktionale Totalität der technischen Moderne. Deutlich zu erkennen ist in der formalen Verbindung zeitlich weit auseinander liegender Phänomene die Idee der funktional-formalen Gleichheit wie sie die paläontologische Ethologie formuliert:123 Dinge teilen ein Form- und Bewegungsreservoir miteinander, weil ihnen vergleichbare (vitale) Aufgaben zukommen und sie sich vergleichbar verhalten. Diese formale Synthese geht über die in Der Kampf als inneres Erlebnis diagnostizierte Entwicklung hinaus, „des Lebens Wellenkurve“ schwinge zur „roten Linie des Primitiven“124 zurück. Es geht nicht mehr um eine zyklische Geschichtsphilosophie, sondern um prospektive Schau. Mit diesem Argumentationswechsel ist auch ein Diskurswechsel verbunden: Weg vom stammesgeschichtlich grundierten Primitivismus, hin zum ‚planetarischen‘ Elementarismus. Um diesen Wechsel einzuordnen, muss man sich klarmachen: Trotz einer gemeinsamen semantischen Schnittmenge meint ‚elementar‘ anderes als ‚primitiv‘. Gegenüber der Betonung niederer (biologischer) Entwicklungs- oder früher (gesellschaftlicher) Kulturstufen in der Rede vom ‚Primitiven‘ geht es beim ‚Elementaren‘ um schlicht Grundlegendes. Die chronologische Fixierung eines ‚Ersten‘ wird ersetzt durch ein entzeitlichtes, aber qualitativ aufgewertetes Ur. Das ‚Elementare‘ ist zudem – gleichfalls im Gegensatz zum ‚Primitiven‘ – nicht auf organische Entwicklungszusammenhänge beschränkt, deshalb eignet es sich zur Veranschaulichung von tellurisch-kosmologischen Zusammenhängen, um die es Jünger im Arbeiter letzten Endes geht. Jünger spricht bereits in seinen frühen Kriegsschriften von ‚elementaren Kräften‘ – sowohl hinsichtlich der Entäußerung ‚primitiver‘ Triebe125 als auch mit Blick auf die antiken ‚Ur‘-Elemente.126 Konzeptionell wird die Duplizität von organischer und anorganischer Begriffskonnotation jedoch erst im Arbeiter relevant. Jünger folgend bleibe der Charakter des Elementaren den bürgerlichen Beobachtern verborgen. Denn während der „letzte Rest des Gefährlichen oder des Außerordentlichen als Kuriosum“ in „Naturschutzparks“ musea123 Vgl. zur paläontologischen Ethologie Kap. 3.2.1. 124 SW 7, S. 15. 125 So berichtet Jünger in Der Kampf als inneres Erlebnis in der lebensphilosophisch typischen Dialektik von fester Oberfläche und flüssiger Tiefe von „Ausbrüche[n] elementarer Gewalten, die brodelnd kochten unter erstarrter Kruste“ und auf „die lebendige Macht uralter Kräfte“ verweisen würden. SW 7, S. 14. Das ‚Elementare’ wird in den folgenden Textpassagen jedoch nicht kosmologisch, sondern entwicklungsbiologisch konkretisiert. 126 Eine besondere Rolle spielt hier das Feuer. Vgl. das Kap. „Feuer“ in der Kampf als inneres Erlebnis. SW 7, S. 69–76. Dass sich der „Mensch […] am ersten im Feuer der Schlachten“ geformt habe, ist in Feuer und Blut als Argument für die anthropologische Signifikanz und damit Natürlichkeit des Kriegsführens zu lesen. In Feuer und Bewegung (1930) charakterisiert Jünger die zweite Phase des Krieges der sog. Materialschlachten „durch die absolute Herrschaft des Feuers“. Ebd., S. 109  f.

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lisiert wird – Jünger nennt hier die „Erhaltung der letzten Büffel im Yellowstone-Park“ und die „Ernährung“ der „buntgefärbten Menschenklasse“127 (Indigene) –, entgehen die tatsächlich signifikanten Elementarisierungstendenzen dem bürgerlichen Blick. Das Gefährliche, das unter den Zeichen der Vergangenheit und der Ferne erschien, beherrscht jetzt die Gegenwart. Es scheint aus uralten Zeiten und aus der Weite der Räume in sie eingebrochen zu sein […]. Es sind dies Formen der Urzeit, die man nur noch in der Erinnerung oder den großen Wäldern Südamerikas für lebendig hielt. Aus der vom Feuer zerrissenen und vom Blut getränkten Erde steigen Geister auf, die sich nicht mit dem Schweigen der Kanonen verbannen lassen; sie fließen vielmehr auf eine seltsame Weise in alle bestehenden Wertungen ein und geben ihnen einen veränderten Sinn.128

Das Elementare zeigt sich hier sowohl dem urgeschichtlich und ethnographisch geschulten Blick als auch dem mit der antiken Elementenlehre („Feuer“, „Erde“) vertrauten. Die rituelle Praxis der (kriegerischen) Geisterbeschwörung wird bei Jünger zur Metapher einer neuen hermeneutischen Matrix, nach der die Veränderungen innerhalb der modernen technischen Welt bewertet und umgewertet werden. Der „veränderte[.  .] Sinn“, von dem hier die Rede ist, besteht darin, ganz unterschiedliche Oberflächenerscheinungen der Lebensführung, der Technik, der Wirtschaftsorganisation, der Freizeitgestaltung etc. auf ihre verbindende Grundstruktur – die ArbeiterGestalt – zurückzuführen. Die einmal gerufenen Geister sind nicht an den (kultischen) Krieg gebunden, sondern determinieren auch die Deutung von Phänomenen, die auf den ersten Blick keinen kriegerischen Hintergrund haben. Diese Ausweitung der Kampfzone – die Erfassung des Arbeitscharakters in jeglichen menschlichen Verrichtungen – lässt sich nicht über einen zyklischen Primitivismus motivieren. Demgegenüber muss es darum gehen, die Verpflichtung der neuen auf die alte Primitivität für die technoiden Entindividualisierungs-, Rationalisierungs- und Standardisierungstendenzen der industriellen Moderne offenzuhalten; soz. die verbindende Funktionalität im Sinne der paläontologischen Ethologie an die neuen Gegebenheiten anzupassen. Genau das unternimmt Jünger, wenn er versucht, Triebe und Affekte mit dem Konstruktivismus moderner Rationalität zu synthetisieren, zumindest zusammenzudenken. Die „Rückkehr der ungebrochenen Leidenschaften und starker, unmittelbarer Triebe“, so stellt er fest, vollziehe sich „in einer Landschaft des schärfsten Bewußtseins“ – „und daß so eine ungeahnte und noch unerprobte gegenseitige Steigerung der Mittel und Mächte des Lebens möglich wird, das gerade verleiht diesem Jahrhundert sein höchst 127 SW 8, S. 58. 128 Ebd., S. 62.



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eigenartiges Gesicht.“ Der neue Mensch in diesem Sinne sei zugleich „Wesen der Urwelt“ und „Träger eines kältesten, grausamsten Bewußtseins“; es gehe um „Leidenschaft“ und „Mathematik“.129 Die Lage ist jedoch noch unübersichtlich, deshalb muss auch die Frage erlaubt sein, „ob wir nicht in einem neuen und eigentümlichen Urverhältnisse stehen, dessen Wirklichkeit in der Erscheinung noch keinen Ausdruck gefunden hat.“130 Jüngers Text selbst gibt jedoch keinen Anlass dazu, an der erkennbaren Ausdruckshaftigkeit dieses Urverhältnisses zu zweifeln. Die Rede von der „organischen Konstruktion“ macht zumindest deutlich, wie sich Jünger die sichtbare Realisierung der Wirklichkeit vorstellt. ‚Organische Konstruktion‘ wird als Symbol für die „Verschmelzung des Unterschiedes zwischen organischer und mechanischer Welt“131 verstanden.132 Dabei ist der ‚Typus‘ die organische Seite der Arbeiter-Gestalt, der Raum der Technik hingegen die mechanische. Beide Seiten werden in der ‚organischen Konstruktion‘ zu einer symbolischen Totalität gebracht, die perfekt, jedoch nicht vollkommen ist. In der Unterscheidung von „Perfektion“ und „Vollkommenheit“ zeigen sich deutlich die erkenntnistheoretischen Valenzen von Jüngers Gestalt-Begriff. Denn ohne Zweifel tendiert „die Mobilmachung der Materie durch die Gestalt des Arbeiters“ zur „Vollkommenheit“133. Diese lässt sich jedoch nicht im sinnlich fassbaren Symbol vergegenwärtigen; sie bleibt gleichsam – gut platonisch – unsichtbar. „Perfektion“ bedeutet demnach „nichts anderes als einen Grad, in dem die Ausstrahlung der Gestalt das vergängliche Auge besonders berührt“.134 In der ‚organischen Konstruktion‘ ist die Gestalt des Arbeiters also symbol- und wahrnehmungspsychologisch kohärent angezeigt, jedoch nicht vollumfänglich ontologisch gegenwärtig. An dieser Stelle ist es notwendig, etwas genauer zwischen Gestalt und Typus zu unterscheiden. Während die Gestalt dem Typus zugrunde liegt und symbolisch kaum fassbar ist, geht der Typus nicht nur in die ‚organische Konstruktion‘ ein; er verfügt sogar über eine eigene Darstellungsgeschichte. Das Spannungsfeld einer ontologischen Hypostasierung der Gestalt und einer breiten Symbolgeschichte des Typischen ist mit Blick auf den hier in Rede stehenden Zugriff Jüngers auf die Diskursfelder Vor- und Entwicklungsgeschichte äußerst aufschlussreich. Blicken wir zunächst auf die Gestalt, so wird deutlich, dass diese dem entwicklungsgeschichtlichen Muster entzogen werden muss, um als eigenständige elementare Kraft instituiert 129 130 131 132

Ebd., S. 64. Ebd., S. 210. Ebd., S. 181. Vgl. François Poncet: Das Vexierbild der „organischen Konstruktion“. Vom technischen Zugriff zum apokalyptischen Schau-Spiel, in: Strack (Hrsg.), Titan Technik, S. 195–209. 133 SW 8, S. 181. 134 Ebd.

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werden zu könne: „Eine Gestalt ist, und keine Entwicklung vermehrt oder vermindert sie. Entwicklungsgeschichte ist daher nicht Geschichte der Gestalt, sondern höchstens ihr dynamischer Kommentar.“135 Das Denken in entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhängen – „diese Auffassung, durch die sich eine Unterstellung der Formen unter dynamische Prinzipien vollzieht“136 – ist für Jünger das Erbteil des bürgerlichen Individualismus, der sich deutlich auch bei Darwin zeige.137 Jünger sieht hier einen „mechanischen Entwicklungsbegriff“ am Werk, der „Leben als Zweck und Absicht“ funktionalisiere, wo es eigentlich darum gehen müsse, dieses als den „ruhende[n] Ausdruck seiner selbst“138 zu deuten. Dies gelingt allein der ganzheitlichen Betrachtung des Lebendigen, die in Jüngers Diktion an Jakob von Uexkülls phänomenologische Naturschau erinnert. Auch wenn Jünger an dieser Stelle von der „Vollkommenheit“ der Natur spricht, die sich bei ihrem Anblick „begreifen“139 lasse, so ist doch klar, dass es sich nicht um eine vollendete Überführung in die Sichtbarkeit handelt. Während die entwicklungsgeschichtliche Argumentation jede Form aus einer vorhergehenden ableite, geht es Jünger darum, Form als etwas Geprägtes zu betrachten,140 das „einem besonderen Schöpfungsakte“ entspringe. In der „Lehre von der Mutation“, d.  h. von den Prinzipien der dauerhaften Veränderung des Erbgutes, macht er eine antidarwinistische „Wiederentdeckung des Wunders durch die moderne Wissenschaft“ aus, das die urbildliche Bildschaffung bestätige. Ohne Zweifel ist jene Anschauung, über welche der naturwissenschaftliche Dünkel sich weit zu erheben glaubte, die Anschauung nämlich, daß jede Form ihren Ursprung einem besonderen Schöpfungsakte verdankt, der natürlichen Wirklichkeit weit angemessener als die mechanische Entwicklungstheorie, die für ein Jahrhundert das Wissen von der ‚lebenden Entwicklung‘ verdrängte, das unter Entwicklung die Projektion von Urbildern in den der Wahrnehmung zugänglichen Raum verstand.141

Deutlich werden in der Rede von der „‚lebendigen Entwicklung‘“ sowohl diskursive Anleihen bei dem entelechischen Konzept Hans Drieschs – das urbildlich präfigurierte Entwicklungsmuster firmiert hier als das „wirkliche 135 Ebd., S. 86. 136 Ebd., S. 235. 137 Spöttisch bemerkt Jünger: „In der Lehre von der natürlichen Zuchtwahl folgt die Naturwissenschaft den Spuren der Entdeckung des individuellen Liebesverhältnisses durch den bürgerlichen Roman.“ Ebd. 138 Ebd. 139 Ebd., S. 235. 140 „Über die Rangordnung im Reiche der Gestalt entscheidet nicht das Gesetz von Ursache und Wirkung, sondern ein andersartiges Gesetz von Stempel und Prägung“. Ebd., S. 37. 141 Ebd., S. 236.



3.2  „Gestalt“ der Urzeit und der Zukunft

207

elementare Naturagens“142  – als auch beim orthogenetischen Denken der zeitgenössischen Paläontologie.143 Sowohl Jünger als auch der Orthogenese geht es um die Annahme einer nicht-mechanistischen Entwicklungsmatrix des Lebens. Jüngers Urbilder gehen freilich über die von der disziplinären Paläontologie in Erwägung gezogenen Regelmäßigkeiten vitaler Evolution hinaus. In der visuellen und kausalanalytischen Unverfügbarkeit des strukturierenden Formenmusters bei gleichzeitig umfassendem Determinationspotenzial kommen jedoch beide Denkweisen überein. Die ontologische Hypostasierung der Gestalt sperrt sich, wie wir gesehen haben, gegenüber der Erscheinungswelt. Für den ‚Typus‘ gilt dies nicht. Er ist nicht nur wichtiger Teil der ‚organischen Konstruktion‘ – soz. der symbolische Platzhalter des Organischen in der technischen Welt –, er verfügt auch über eine eigene Formengeschichte. Im Gegensatz zur Gestalt werden dem ‚Typus‘ innerhalb der sichtbaren Welt also eigene Orte zugestanden. Diese Orte bestanden schon lange bevor der ‚Typus‘ zur organischen Hälfte der Konstruktion der Arbeiter-Gestalt herangezogen wurde. Dass der ‚Typus‘ bereits in diesem Stadium über ein enormes symbolisches Potenzial verfügte, dürfte ihn für Jünger interessant gemacht haben. Konkret kommt es ihm auf einen „Mangel an Eigenart im individuellen Sinne“144 an, den er ganz unterschiedlichen Aspekten des modernen Lebens  – vom Schminkund Frisierverhalten, über die Sport-, Freizeit- und Festtagskleidung, die Arbeits- und Kriegsmontur bis hin zur künstlerischen Entwicklung in den Bereichen Architektur und bildender Kunst – abliest und auf den heraufziehenden Arbeitscharakter münzt. Das Typische in diesem Sinne hat seine eigene Tradition. Auch wenn es freilich über keine Entwicklungsgeschichte verfügt, so scheint es doch in eine zyklische Wiederkehr eingebunden zu sein. In dem Maße, wie der ‚Typus‘ von der ontologischen Last der Gestalt befreit ist, kann er für eine Vielzahl wahrnehmungspsychologischer und literatur- sowie kunstgeschichtlicher Details einstehen, die ihm eine ungeheure geschichtsphilosophische Signifikanz verleihen. So gibt es hinsichtlich der Sakral- und Sepulkralarchitektur für Jünger „nichts Selbstverständliches, Gleichmäßigeres und – vom individuellen Standpunkt – Gleichförmigeres als Gräber- und Tempellandschaften, in denen sich einfache und konstante Maßverhältnisse, Monumente, Säulenordnungen, Ornamente und Symbole in feierlicher Monotonie wiederholen […]“.

142 Driesch, Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre, S. 242. 143 Vgl. dazu auch mit Blick auf Das Abenteuerliche Herz Kap. 3.1.2. 144 SW 8, S. 238.

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3  Vom orthogenetischen Vitalismus zur idealistischen Morphologie Der Mangel an Eigenart im individuellen Sinne […] wiederholt sich im Einzelnen. Die Gesichter griechischer Statuen entziehen sich der Physiognomik, ähnlich wie das antike Drama der psychologischen Motivation; ein Vergleich mit der gotischen Plastik beleuchtet den Unterschied zwischen Seele und Gestalt. Es ist eine andere Welt, in der Schauspieler mit Masken, Götter mit Tierköpfen erscheinen und in der es zu den Kennzeichen der Bildungskraft gehört, Symbole in einer unendlichen, an Naturvorgänge erinnernden Wiederholung zu versteinern, wie es mit dem Akanthosblatt, dem Phallus, dem Lingam, dem Scarabeus, der Kobra, der Sonnenscheibe, dem ruhenden Buddha geschieht. […] Einer solchen Welt von der geschlossenen Dichte eines Zauberringes nähert sich sichtbar auch jener Typus, der die Gestalt des Arbeiters repräsentiert, und er nähert sich ihr umso mehr, je deutlicher der Einzelne als Typus erscheint.145

Das ‚Typische‘ der zeitgenössischen Moderne wird von Jünger auf frühe Entfaltungsstufen zurückgeführt. In eine genealogische Rolle rücken diese Stufen jedoch erst in einer komparatistischen Kontextualisierung, die formalästhetisch nachweisbare Ähnlichkeiten in den Rang vergleichbarer Typenhaftigkeit hebt. Die Rede davon, dass sich der „Typus“ „sichtbar“ einer „Welt von der geschlossenen Dichte eines Zauberringes“ nähere, verdeckt den Umstand, dass Jüngers vorgebliche Schau auf diskursiven Füßen steht. Denn was hier an Typik schauend herausgearbeitet und zur Maskenhaftigkeit und stilistischen Gleichförmigkeit der eigenen Zeit in Bezug gesetzt wird, ist Teil der zeitgenössischen Vermittlung von Einfühlung (Wirkungsästhetik) und Abstraktion (‚Kunstwollen‘, ‚Ausdruck‘). Bleibt die Entpsychologisierung und Ritualisierung der griechischen Tragödie ganz Nietzsche und der ‚performativen‘ Antike-Rezeption um 1900 verpflichtet,146 so entspringt das formale Interesse am „Akanthosblatt“ Wilhelm Worringers Betonung des „rein ornamentalen Wert[es] eines derartigen Motivs“147. Worringer dürfte zudem der Gewährsmann für Jüngers Ausführungen zur gotischen Plastik sein;148 auch die Rede von der Versteinerung von Symbolen „in einer unendlichen  […] Wiederholung“ geht auf ihn zurück.149 Gleiches lässt sich mit Blick auf Jüngers Ausführungen zur Bestattungskultur sagen. Bleibt der Be145 Ebd. 146 Vgl. zu Jüngers Nietzsche-Rezeption im Arbeiter Wilczek, Nihilistische Lektüre des Zeitalters, S. 86–117. Vgl. zur performativen Antike-Rezeption um und nach 1900, die den Ritus (‚Handlung‘) gegenüber dem Mythos (‚Narration‘) stark macht: Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M. 2004, S. 42–57. 147 Worringer, Abstraktion und Einfühlung, S. 126. 148 Vgl. Wilhelm Worringer: Formprobleme der Gotik, München 1912 [1911]. 149 Worringer formuliert mit Blick auf die „nordische[.  .] Ornamentik“: „Die unendliche Melodie der Linie schwebt dem nordischen Menschen in seiner Ornamentik vor; jene unendliche Linie, die nicht erfreut, sondern betäubt und uns zur willenlosen Hingabe zwingt.“ Ebd., S. 36  f.



3.2  „Gestalt“ der Urzeit und der Zukunft

209

zug zu moderner Kunst, Architektur und Lebenswelt in Worringers frühen Arbeiten zu Ornament und Baukunst eher implizit, geht er in den 1920erJahren zu einem offenen Analogisieren über. So vergleicht er – in für Jünger maßgeblicher Weise – unter dem Schlagwort „architektonische[r] Amerikanismus“150 altägyptische Sepulkralarchitektur mit der modernen Bauweise dänischer Sommerhäuser und einem Modell des 1923 eröffneten Berliner Flughafens Tempelhof. Die ägyptische Pyramide enthält dabei alles, was Jünger dem Typus zuschreiben wird.151 Doch während Worringer „die atavistische Erdwurzel der ägyptischen Monumentalarchitektur“ aufdecken – er sieht ihre „großen entscheidenden Motive“ auf eine „versunkene“, „mythenschöpferische Vorzeit“ und „deren megalithe Bauweise“ zurückgehen – und mit der „Nutzarchitektur“ einer „mythenverarmte[n] Zivilisationssphäre“152 kontrastieren möchte, steht der Vergleich für Jünger von vornherein unter den Vorzeichen einer mythophilen Aktualisierung. Die Rede „von der geschlossenen Dichte eines Zauberringes“, die alter und neuer Typus miteinander teilten, ist dafür wohl das sicherste Indiz. Intuitionistische Schau der Gestalt vs. Sichtbarkeit des Typus: Die morphologische Seinsgewissheit ist also grundlegender als die nachweisbare Kunstgeschichte der einzelnen Typusformen. „Wichtiger als der Vergleich mit den Abbildern dahingeschwundener Räume und Zeiten“ in der historischen Analyse der Typen ist deshalb für Jünger die Frage, „ob wir nicht in einem neuen und eigentümlichen Urverhältniss stehen“153. Die Anerkennung dieses Verhältnisses bindet Jünger an das Empfinden von Furcht zurück – und „noch heute kann man dem nächtlichen Anblick der großen Pyramide  […] nicht ohne Furcht gegenüberstehen.“154 Dass Jünger hier ausgerechnet die Diktion der psychologischen Wirkungsästhetik bemüht, mag zunächst überraschen, gibt er sich doch alle Mühe als unempfindlicher ‚kalter Beobachter‘ der formalen Abstraktionstendenzen aufzutreten.155 Verständlich wird seine Argumentation jedoch vor der Folie von Worringers Abstraktionsverständnis. Bei ihm schließt Abstraktion Einfühlung nämlich keineswegs aus. Einfühlung ist in rezeptionsästhetischer Hinsicht vielmehr

150 Wilhelm Worringer: Ägyptische Kunst. Probleme ihrer Wertung, München 1927, S. 27. 151 „Sachliche Rationalität ist unzweifelhaft  […] eine der eindrucksvollsten Seiten der ägyptischen Architektur. Was in ihrer Gesamterscheinung am stärksten spricht, ist jene nackte, abstrakte Unbedingtheit des Baugeistes in seiner kalten Großartigkeit, in seiner knappen Entschiedenheit, in seinem Verzicht auf jede überflüssige Gliederung.“ Ebd., S. 28. 152 Ebd., S. 56. 153 SW 8, S. 210. 154 Ebd. 155 Vgl. zu Jünger als ‚kaltem Beobachter‘ Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt/M. 1994, S. 187–215.

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3  Vom orthogenetischen Vitalismus zur idealistischen Morphologie

auch beim Betrachten abstrakter Kunst immer mit im Spiel.156 Während sich beim „Naturalismus“ der nachahmenden Kunst der Betrachter in ein vitales Harmonieverhältnis zum Kunstwerk setze, evoziere die abstrahierende Darstellung („Stil“) das Gefühl von Leblosigkeit.157 Jünger knüpft in systematischer Hinsicht hier an. An die Stelle der Lebensverneinung tritt bei ihm die Furcht. Da sein Typus in formalästhetischer Hinsicht an den Abstraktionstendenzen partizipiert, diese gleichsam aktualisiert und verkörpert, steht er auch für jene Furcht ein, die die vor- und altgeschichtlichen Zeugnisse in ihrer monotonen Gleichmäßigkeit hervorrufen. Diese wirkungsästhetische Bestätigung des abstrakten Typus ist vor allem deshalb überzeugend, da sie die aktuelle Furcht angesichts zunehmender Entindividualisierungs-, Nivellierungs- und Formalisierungstendenzen in nahezu allen Lebensbereichen auf historische Orte der Furcht zurückführt und auf diesem Weg relativiert. Eigentlich, so der Grundtenor, ist der moderne Typus nicht neu; er stellt lediglich die konsequente Fortsetzung von Abstraktionstendenzen dar, die sich bis in die Urzeit des Menschen zurückverfolgen lassen. Entscheidend ist dabei wohl weniger die innerhalb Jüngers Argumentation wichtige Differenz von ontologischem Gestalt- und abstraktionspsychologischem Typus-Denken, als vielmehr die suggestive Analogisierung von Formerscheinungen, die durch Jahrtausende voneinander getrennt sind.

3.2.3  Kultus der Arbeit Alles was dem ‚Typus‘ zugeschrieben wird, zeichnet sich letztendlich dadurch aus, dass es im Dienst einer Charakterisierung der Arbeiter-Gestalt steht. Sie bildet die ‚Tiefe‘, auf deren Oberfläche der Typus zeichenhaft erscheint. Als strukturierendes Prinzip bildet die Gestalt demnach den Kern. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass Jünger an mehreren Stellen des Textes die Arbeit in diesem Sinne zum Kult erhebt und damit als quasi-religiöse Praxis anspricht.158 Nicht überall, wo irgendwelche Arbeit verrichtet wird, hat dies eine kultische Qualität. Dies ist vielmehr erst da der Fall, wo der neue „Schlag“ „bereits zur Metaphysik, zur Gestaltmäßigkeit“ seiner „Tätigkeit in Beziehung steht.“159 Die Aussage, dass an diesem Ort  – „[m]an 156 Vgl. zu den einfühlungsästhetischen Valenzen der Abstraktion beim frühen Worringer Jutta Müller-Tamm: Abstraktion als Einfühlung. Zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literatur der frühen Moderne, Freiburg/Br. 2005, S. 271–276. 157 Vgl. das Kapitel „Naturalismus und Stil“ bei Worringer, Abstraktion und Einfühlung, S. 90– 107. 158 Vgl. SW 8, S. 157, S. 166, S. 172, S. 250. 159 Ebd., S. 156  f.



3.2  „Gestalt“ der Urzeit und der Zukunft

211

hat heute schon zuweilen das Glück, in den Umkreis solcher Existenzen zu kommen“ – „die Arbeit kultischen Ranges ist“160, versucht die behauptete grundlegende Prägekraft der Gestalt durch eine vormoderne ritualisierte Handlungsfolge zu beglaubigen. Es geht Jünger nicht um einen Vergleich, sondern um eine Übertragung. Das Arbeitsprinzip funktioniert nicht wie ein Kult, es ist vielmehr selbst einer: Die Gruppe der Arbeitenden entspricht dabei in der funktional genormten Abfolge ihrer Tätigkeiten strukturell den einem festgelegten Zeremoniell folgenden Ritualteilnehmern. Jünger zeigt sich der „kultische Rang der Arbeit“ deutlich in der Rede vom „namenlosen Soldat[en]“161. Im entindividualisierenden Massensterben des Krieges wird jene Gestalt sichtbar, die für die moderne Gesichtslosigkeit eines allumfassenden Funktionszusammenhanges stehen soll. Fragt man nach dem Glaubensbekenntnis, das diesem Kult der Arbeit zugrunde liegt, so wird man auf die „Wiederentdeckung der großen Tatsache“ verwiesen, „daß Leben und Kultus identisch sind“ – eine „Tatsache“, wie Jünger hinzufügt, „die, abgesehen von einigen schmalen Randgebieten und Gebirgstälern, den Menschen unseres Raumes verloren gegangen ist.“162 Die Gleichförmigkeit und alltagsweltliche Strukturierungsleistung des Kultus innerhalb ‚primitiver‘ Gemeinschaften wird der behaupteten metaphysischen Gestalt der Arbeit gleichgestellt. Eine solche Arbeit ist nichts Außeralltägliches, Transzendentes, sondern, wenn man so will, transzendente Immanenz. Sie ist in jeder Verrichtung und Stilisierung des modernen Menschen in gleichem Maße anwesend, wie die Wirkungen des Kultes in primitiven Vergemeinschaftungen gegenwärtig sind. Die Auszeichnung der Arbeit in der Duplizität von Kultus und Leben ist für Jüngers Argumentation wichtig, denn auf diesem Weg gelingt es ihm, die hoch bewerteten und zutiefst innerweltlichen Entwicklungen auf dem Gebiet der Technik lebensphilosophisch aufzuladen. Im „‚Siegeszug der Technik‘“ zeige sich, „daß die Technik selbst kultischen Ursprungs ist, daß sie über eigentümliche Symbole verfügt und daß hinter ihren Prozessen ein Kampf zwischen Gestalten sich verbirgt.“163 Die aktuelle Technik wird auf diesem Weg zur allseits sichtbaren Wirkung der unsichtbaren Gestalt-Wirkungen erklärt. Der Gestalten-Kampf, von dem er hier spricht, bezeichnet die Auseinandersetzung von technoider Ultramoderne und auf das 19.  Jahrhundert zurückzuführenden Schwundstufen älterer Technikauffassungen. Freilich steht fest, wer den Sieg davonträgt. Es ist die technoide Ultramoderne, der der Typus ihr Gesicht gibt. Jünger betont einerseits, dass das ‚Kultische‘ an der Arbeit, ihre Gestaltqualität, selbst nicht 160 Ebd., S. 157. 161 Ebd. 162 Ebd. 163 Ebd., S. 172.

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3  Vom orthogenetischen Vitalismus zur idealistischen Morphologie

sichtbar ist; andererseits bedeutet das jedoch nicht, dass diese Qualität der Gestalt nur ‚erschlossen‘ wäre. Durch den Typus werden vielmehr Symbole installiert, die sinnlich-geistige Vermittlungsarbeit leisten und eine Art anschauliche Stilllegung des Bewegungsflusses gewährleisten. Zur höchsten Form der Bildung innerhalb der Arbeitswelt ist der Typus berufen, in dessen Wirken der totale Arbeitscharakter unmittelbar zum Ausdruck gelangt. Der Sprache ruhender Symbole, in denen die reine Existenz zur Anschauung spricht, ist es vorbehalten, davon Zeugnis zu geben, daß die Gestalt des Arbeiters mehr als Bewegung verbirgt: daß sie kultische Bedeutung besitzt.164

Zusammenfassend betrachtet lassen sich in Jüngers Arbeiter drei Dimensionen des Arbeitskultes unterscheiden. In der performativen Analogisierung von Arbeitsverrichtung und rituellem Handeln kann eine erste Bedeutungsebene des Arbeitskultes gesehen werden: Auch wenn die Zeremonien sich unterscheiden, so stiftet doch die zeremonielle Struktur selbst das tertium comparationis. Eine zweite Dimension lässt sich hinzufügen, wenn man die ‚primitiven‘ Gemeinschaften zugesprochene Einheit von Kultus und Leben in den Blick nimmt. Hier geht es nicht um den Kult als außeralltägliche festliche Handlung, sondern um die in der je konkreten Lebenspraxis realisierten Ordnungsmuster. Mit der je konkreten Arbeitspraxis verhält es sich ähnlich: Auch hier ist das kultische Element in der Verrichtung selbst auszumachen – und nicht hinter oder jenseits dieser Verrichtung zu suchen. Am wichtigsten für Jüngers Argumentation ist allerdings, drittens, das Kultische als Bindeglied zwischen sichtbar-diesseitiger Welt und der unsichtbaren Welt eines allumfassenden vitalistisch-konstruktiven Determinismus. In gleichem Maße, in dem der Kultus als Verehrungs- und Verweisritual eine nicht anwesende Gottheit anwesend machen soll, wird durch die Symbol-Sprache des Typus auf die Anwesenheit einer grundierenden Gestalt verwiesen. Die hier verrichtete Arbeit muss „zur Metaphysik, zur Gestaltmäßigkeit dieser Tätigkeit in Beziehung“165 stehen, wenn sie als Ritus angesprochen werden will.

164 Ebd., S. 249  f. 165 Ebd., S. 157.

4  Kultur- und naturgeschichtsphilosophische Fiktionen. Auf den Marmorklippen (1939) 4.1  Wissensordnungen in symbolischer Brechung. Ein Problemaufriss Wir haben in den vorhergehenden Kapiteln zwei und drei die Wege beschrieben, auf denen Jünger einerseits entwicklungsbiologisches Denken vom regressiven Primitivismus (Der Kampf als inneres Erlebnis) hin zu einer vitalistischen Naturgeschichte (Das abenteuerliche Herz  I) umcodiert; und andererseits dann im Arbeiter ‚Elementares‘ mit dem rationalistisch-technoiden Bewusstsein in der ‚organischen Konstruktion‘ zu synthetisieren sucht. Die wichtigste dem paläontologischen Diskurs entlehnte Konzeption ist sicherlich die Zeitsignaturenlehre, die Jüngers Epochalitätsbehauptung eine ungeheure qualitative – mit Blick auf den allumfassenden räumlichen Gestaltungsradius – und quantitative – hinsichtlich der Zeitsignifikanz – Dimension verleiht: Der ‚Arbeiter‘ ist die Zeitsignatur der Moderne, des neuen Erdzeitalters. Ohne die Öffnung der Lebensphilosophie zum Platonismus wäre diese Gestaltkonturierung der Moderne kaum denkbar. Im Kultus der Arbeit wird der unsichtbaren, urbildlich präfigurierenden Gestalt des Arbeiters schließlich eine typologische Praxis zugeordnet, die eine eigene (Vor-) Geschichte erhält (ägyptische Architektur, antikes Drama, gotische Plastik etc.) und als sichtbarer, kunst- und literaturgeschichtlich nachweisbarer Ausdruck für dessen gesamtplanetarischen Geltungsanspruch einstehen soll. In Auf den Marmorklippen taucht jene Urbildlichkeit nun als Ideal eines fiktiven naturwissenschaftlichen Interesses auf, das sich dezidiert gegen eine vitalistisch-barbarische Determination des ‚Lebens‘ wendet. Reflektiert wird eine solche ‚Lebens‘-Determination nicht mehr in Frühformen der biologischen Entwicklungsgeschichte (‚Einzeller‘), sondern kulturgeschichtlich. Gleiches gilt für das naturwissenschaftliche Erkenntnisideal; auch dieses entwickelt der Text im Fokus seines kulturgeschichtlichen Ortes. Die Hierarchie ist dabei eindeutig: Wird der barbarische Vitalismus einerseits mit einer frühen kulturellen Entwicklungsstufe assoziiert (Campagna) und andererseits durch ein imaginäres, entzeitlichtes und hybrides, d.  h. durch die Kreuzung von sozialgeschichtlichen und mentalitätssoziologischen mit völkerpsychologischen Beschreibungsmustern gekennzeichnetes Territorium (Sumpf, Hochwald) konstituiert, so entfaltet sich die ideale Geistigkeit

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4  Kultur- und naturgeschichtsphilosophische Fiktionen

der naturwissenschaftlichen Studien erst im vollentwickelten Kulturraum (Marina). Die Diskursformate, die der Text dabei auf der Ebene der histoire einschmilzt und zu einem spannenden Plot verwebt, sind vielfältig. Sie reichen von der Kosmogonie, der geschichtswissenschaftlich konturierten Morphologie, der Völkerkunde, der Vorgeschichtsforschung, der germanischen Altertumskunde über die Landschaftsgeographie bis hin zur mythologische und paläobiologische Elemente verbindenden Synthese von Sage und Naturgeschichte in einer imaginären Zoologie. Die unterschiedlichen Wissensordnungen erscheinen dabei auf der Textoberfläche symbolisch gebrochen: Nicht die Logik des Diskursfeldes, dem sie entstammen, ist maßgeblich; die einzelnen Wissensbestandteile erhalten ihre Geltung vielmehr erst innerhalb der fiktionalen Kohärenz der präsentierten Welt. Sie bildet gleichsam das Syntagma, in das die unterschiedlichen paradigmatischen disziplinären Ordnungen einrücken und dem sie sich unterstellen. Die symbolischen Brechungen im Rahmen einer fiktionalen Neukontextualisierung von Wissenselementen sind innerhalb des Textes deshalb besonders markant, da der Text diese Brechungen offen ausstellt, oder wie es Matthias Schöning kürzlich formuliert hat: Es gehört zur „ästhetische[n] Faktur“ der Marmorklippen, „Symbolizität anzuzeigen“1. Im Gegensatz zum ordnenden Korsett des jeweiligen diskursiven Ursprungsortes sind die Wissenselemente im symbolischen Raum der Erzählung Teil einer Verweis- und Bezugskette, die trotz aller innerfiktionaler Kohärenz mehrdeutig bleibt. Ja, es ist sicher nicht übertrieben, wenn man in dieser Mehrdeutigkeit das erklärte Ziel der Neukonfiguration bestehenden Wissens ausmacht. Eine Analyse der hier in Rede stehenden Wissensbestandteile kann sich also nicht damit begnügen, ursprünglich-diskursiven und neuen literarischen Ort miteinander abzugleichen. Sie wird auch nach dem symbolischen Mehrwert zu fragen haben. Diese Frage ist umso unerlässlicher, als Jünger mit den Marmorklippen bei einem breiten Publikum als ambitionierter Autor reüssiert, der die Kriegsschriftstellerei endgültig hinter sich gelassen hat. Was sich bereits im Abenteuerlichen Herz (1929/1938) und in Blätter und Steine (1934) ankündigt, ist nun voll entwickelt: Die literarische Inszenierung einer symbolisch aufgeladenen Weltsicht. Dass diese erstmals vollumfänglich als fiktionaler Text präsentiert wird – der Roman Afrikanische Spiele (1936) ist noch stark biographisch gefärbt –, erweitert ohne Zweifel das Spektrum der Inszenierungsmöglichkeiten: in der literarischen Fiktion kommt Jüngers metaphysischer Symbolismus gleichsam zu sich selbst.

1

Matthias Schöning: [Art.] Auf den Marmorklippen, in: Ders. (Hrsg.), Jünger-Handbuch, S. 138–151, hier: S. 140.



4.2  Zugänge zu Marina, Campagna und Sumpf/Hochwald

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4.2  Zugänge zu Marina, Campagna und Sumpf/Hochwald 4.2.1  Erzählte Welt – erinnerte Welt – modellierte Welt Der Erzähler der Marmorklippen blickt auf die Zerstörung eines hochentwickelten christlich-abendländisch geprägten Kulturraumes zurück. Er ist zum einen als autodiegetischer Erzähler Teil der erzählten Welt – und in dieser Eigenschaft präsentiert er von einem nicht näher bestimmten zeitlichen und räumlichen Punkt aus seine Geschichte und die seines Bruders Otho –, zum anderen jedoch zeigt er sich als vielstimmiger Kulturhistoriker. In dieser Eigenschaft gibt der Erzähler Auskunft über das „kollektive Gedächtnis der sozialen Gemeinschaft“, der er angehört, der Marina; er schlüpft hier in die Rolle des „Kulturethnologens, der die Kulturlandschaft der Marina und die an sie anschließende Campagna vorstellt, um dann die Zerrüttung einer lange bestehenden kulturellen und politischen Ordnung zu erzählen.“ Peter Uwe Hohendahl hat diese beiden Perspektiven der Erzählfigur in aller Deutlichkeit herausgearbeitet.2 Die historiographische Fiktion schafft eine eigenständige, gleichsam im Erzählen beglaubigte Vergangenheit, die durch eine Verbindung von historischem Kultur- und natürlichem Landschaftsraum gekennzeichnet ist und Modellcharakter besitzt.3 Der historiographische Kompass des Ich- als auch des kulturhistorischen Erzählers lässt sich genauer bestimmen: Marina, Campagna, Sumpf und Hochwald, die einzelnen Teilbereiche dieses Modells, entstehen durch ihre Beschreibung im diskursiven Format volkskundlicher, geschichtsmorphologischer, vorgeschichtlicher, germanisch-altertumskundlicher, landschaftsgeographischer und schließlich kosmologischer Elemente. Diese werden – von ihrem ursprünglichen diskursiven Umfeld gelöst – auf eine solche Weise zusammengestellt, dass sie hinsichtlich des im Mittelpunkt stehenden Untergangs einen potenziellen, innerhalb der symbolischen Ordnung der Erzählung jedoch nicht eindeutig 2

3

Vgl. Peter Uwe Hohendahl: Nach dem Untergang. Erinnerung und kulturelles Gedächtnis in Auf den Marmorklippen, in: Ders.: Erfundene Welten. Relektüren zu Form und Zeitstruktur in Ernst Jüngers erzählender Prosa, München 2013, vorhergehende Zitate: S. 28, S. 32. Koordiniert werden beide Dimensionen des Erzählers nach Hohendahl durch eine „Autor-Funktion“ (S. 30). Vgl. zum ‚Modell‘-Charakter der Kultur- und Landschaftsräume Katzmann, Ernst Jüngers Magischer Realismus, S. 107–136; vgl. auch Helmut J. Gutmann: Politische Parabel und mythisches Modell. Ernst Jüngers Auf den Marmorklippen, in: Colloquia Germanica 20/2 (1987), S. 53–72. Vgl. zur Prägekraft der Landschaftsareale in anthropologischer Hinsicht Ricardo Ulbricht: Der Mensch in der Landschaft. Anthropogeographische Konzepte in Ernst Jüngers Auf den Marmorklippen, in: Benedetti/Hagestedt (Hrsg.), Totalität als Faszination, S. 393–413; Titus S. Suck: Bodily Spaces. The Locus of Politics in Ernst Jünger’s Auf den Marmorklippen, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 66 (1992), S. 466–490.

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4  Kultur- und naturgeschichtsphilosophische Fiktionen

determinierten Erklärwert zugesprochen bekommen. Doch nicht nur der kulturhistorische Erzähler greift auf volkskundliches und vorgeschichtliches Wissen zurück; auch der Ich-Erzähler imaginiert sowohl in der Beschreibung der Festkultur der Marina als auch mit Blick auf die Charakterisierung der konfliktträchtigen Personenkonstellation – zum Beispiel hinsichtlich Braquemarts und des Oberförsters – eine historische Anthropologie der Kultur.

4.2.2  Naturreligiöse Selbstbeschreibung im Schutze christlicher Kulturlandschaft Die Marina ist jenes Kulturland, das – den organologischen Zyklusvorstellungen Spenglers folgend4 – seine Blüte hinter sich hat und im Niedergang begriffen ist. Ein wichtiges Anzeichen dafür ist die „Ablösung der tradierten Religion durch die primitiven Kulte der Campagna“5, die eindeutige Züge paganer Religiosität tragen. Auch wenn sich die Marina grundlegend von der Campagna unterscheidet, so sind ihr doch heidnische Bräuche keineswegs fremd. Gleich zu Beginn der Erzählung, noch vor der Thematisierung des Untergangs, weist der Ich-Erzähler in einer iterativ akzentuierten Schilderung auf einige Brauchtümer der Weinbauregion hin. So kommt es im Herbst, nach der Lese, regelmäßig zu geselligen Stunden des Rausches. Wenn der Wein „die erdigen Teile abzustoßen begann, wachten die Lebensgeister mächtig auf“6 – doch nicht nur die Lebensgeister, so muss man hinzufügen. Denn auf dem Nachhauseweg „fiel da ein Bildnis in das Dunkel unseres Rausches ein“, das den Verkehr mit ganz anderen Geistern anzeigt. Und dann geschah es, daß sie sich näherten, grau und schattenhaft, die uransässigen Geister des Landes, längst hier beheimatet, bevor die Glocken der Klosterkirche erklangen und bevor ein Pflug die Scholle brach. Sie näherten sich uns zögernd, mit groben, hölzernen Gesichtern, deren Miene in unergründlicher Übereinstimmung heiter und furchtbar war; und wir erblickten sie, zugleich erschrocken und tief gerührten Herzens, im Weinbergland.7

Die Ursprünglichkeit der „Geister“ ist über ihre Frontstellung zum Christentum und den frühen Ackerbaukulturen angezeigt, die hier als spätere geistige und physische Überformungen des belebten Naturraums aufgerufen werden. Der Genuss des Alkohols wird dabei keineswegs erkenntnisdiskreditierend 4

Gutmann spricht vom „zyklische[n] Muster der Geschichtsmorphologie Spenglers“. Gutmann, Politische Parabel und mythisches Modell, S. 56. 5 Ebd. 6 SW 15, S. 250. 7 Ebd., S. 251.



4.2  Zugänge zu Marina, Campagna und Sumpf/Hochwald

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bewertet; im Gegenteil, er firmiert gleichsam als Initiation in einen entgrenzenden Wahrnehmungszustand: „Dann schien es uns, als ob ein neuer Sinn, das Land zu schauen, uns verliehen sei.“8 Die Perspektive ist hier nicht die der Religionssoziologie in der Nachfolge Max Webers, die auf eine rationale gemeinschaftspsychologische Deutung der Glaubensbestände zielt. Im Mittelpunkt steht demgegenüber eine identifikatorische Lesart; diese affirmiert die normativen Ansprüche heidnischen Geisterkultes9. Die Erzählinstanz ist damit auch kein deskriptiv analysierender Beobachter, sondern Teil der traumgleichen, phantasmatischen Szenerie. Ausdrücklich wird im Modus der intersubjektiven Rückversicherung nochmals darauf hingewiesen, dass es sich hinsichtlich der ‚Erscheinungen‘ keineswegs um eine Täuschung handele.10 Jünger spricht im Zweiten Pariser Tagebuch (1949) in einem Eintrag aus dem Jahr 1943 – die Geisterszene der Marmorklippen gleichsam weiterführend – vom „Schwärmen“, dem ein geschichts- und kulturresistentes, natürlich-kosmisches Ordnungsmuster unterlegt wird. Ausdrücklich bezeichnet er eine genauere Betrachtung des Schwärmens als eines der möglichen „Grundkapitel in einem Buch über die Naturgeschichte des Menschen“11. Stärker im Volksbrauchtum als in der religiösen Praxis, gleichwohl jedoch eindeutig heidnisch codiert ist das unmittelbar darauf geschilderte Fruchtbarkeitsritual – eine imaginäre Mischung aus ‚Vogelhochzeit‘, Maibaumfest und alemannischer Fastnacht. Auch hier zeigt sich der Erzähler als Teil der geschilderten Realität. Wir hüllten uns in bunte Kittel, deren eingefetzter Stoff wie Vogelfedern leuchtete, und setzten die starren Schnabelmasken auf. Dann sprangen wir im Narrenschritte und die Arme wie Flügel schwingend hinab ins Städtchen, auf dessen altem Markt der hohe Narrenbaum errichtet war. Dort fand im Fackelschein der Maskenaufzug 8 Ebd. 9 Der hier aufgewiesene unterschiedliche Umgang Webers und Jüngers mit (historischer) religiöser Praxis ist, in einem größeren Rahmen betrachtet, Teil konkurrierender Moderne-Konzepte beider Autoren wie sie Helmuth Kiesel herausgearbeitet hat. – Vgl. Helmuth Kiesel: Wissenschaftliche Diagnose und dichterische Vision der Moderne. Max Weber und Ernst Jünger, Heidelberg 1994. 10 „Schweigend legten wir dann den kurzen Weg zur Rautenklause zurück. Wenn das Licht in der Bibliothek aufflammte, sahen wir uns an, und ich erblickte das hohe, strahlende Leuchten in Bruder Othos Gesicht. In diesem Spiegel erkannte ich, daß die Begegnung kein Trug gewesen war.“ – SW 15, S. 251. 11 SW 3, S. 15. Weiter heißt es: „Der Rhythmus des Schwärmens war in früheren Zeiten wohl ganz naturhaft, durch Mond und Sonne und durch ihren Einfluß auf die Erde und den Pflanzenwuchs bestimmt. Wir spüren wunderbar unter großen Blütenbäumen, die ganz durchsummt sind, was Schwärmen ist. Auch Tageszeiten können eine Rolle spielen, wie die Dämmerung, und ferner elektrische Verhältnisse, wie die Gewitterluft. Diese naturhaft-kosmischen Marken liegen den historischen Zeiten und ihrem Wandel unter – sie bleiben als Daten der Feste, deren Bedeutung sich mit dem Wechsel der Kulte und Kulturen zu ändern scheint.“ Ebd., S. 15  f.

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4  Kultur- und naturgeschichtsphilosophische Fiktionen statt; die Männer gingen als Vögel, und die Frauen waren in die Prachtgewänder vergangener Jahrhunderte vermummt. Sie riefen uns mit hoher, verstellter Spieluhrstimme Scherzworte zu, und wir erwiderten mit schrillem Vogelschrei.12

Als Ethnograf in eigener Sache gibt der teilnehmende Beobachter hier Auskünfte über das Zeremoniell. In der volkskundlichen Beschreibung entwirft er den imaginären Kulturraum Marina, der über spezifische, jahreszeitlich strukturierte Muster der festlichen Geschlechtercodierung und -kommunikation sowie der Partnerschaftswahl samt festgelegter Annäherungsrituale verfügt. Angelehnt an die volks- und regionalkundlich geprägte Kulturprovinzforschung geht es hier um die Bestätigung signifikanter kulturräumlicher Besonderheiten. Ihren nichtöffentlichen Abschluss findet die Annäherung des männlichen Vogelwerbers an seine Herzdame dann nicht im Zentrum des Siedlungsgebiets, sondern in der Flur: „Oben, wo der Römerstein im Weinland steht, fing ich die Erschöpfte ein, und zitternd preßte ich sie in den Arm, die feuerrote Maske über ihr Gesicht gebeugt.“13 Die Anspielung auf den „Römerstein“ verweist auf die markanten Spuren des Römischen Reiches in einer ursprünglich noch nicht christianisierten Gegend wie auch auf deren kulturräumlich herausgehobene Bedeutung. Die regionalgeographische Bekanntheit dieses Ortes wird durch eine deiktische Geste („Oben“) evoziert, die nur Sinn macht, wenn man eine Vertrautheit mit der lokalen Raumordnung unterstellt. Die Verbindung von landschaftskundlicher Beschreibung und kulturell codierter Sozialordnung konstituiert im Ergebnis also das Modell einer Kulturprovinz. Die zeitgenössische Kulturprovinzforschung fragt nach dem Zusammenhang von Kultur-, Raum- und Sozialordnung in abgrenzbaren, historisch gewachsenen Gebieten oder ‚Landschaften‘.14 Jünger präsentiert die Marina zunächst als eine solche Kulturprovinz mit eigenständiger rechtlicher, wirtschaftlicher, religiöser und kultureller Identität. Kulturgeographisch betrachtet reicht die Marina vom Meer über städtisch geprägten Raum und Weinanbaugebiete bis hin zu den „Marmorklippen“. Gegenüber organologisch strukturierten Modellen, etwa Spenglers „Geistesepochen“ oder Leo Frobenius’ „Kulturkreislehre“, argumentiert die Kulturprovinzforschung nicht in Kategorien des Werdens und Vergehens. Dieser Unterschied ist wichtig. Ist der Rückgriff auf das diskursive Muster der Kulturprovinzforschung innerhalb der Erzählung nämlich durchweg 12 13 14

SW 15, S. 252. Ebd., S. 253. Vgl. z.  B. die Forschungen zu den ‚Rheinlanden‘ von Hermann Aubin: Aufgaben und Wege der geschichtlichen Landeskunde, in: Rheinische Neujahrsblätter 4 (1925); Ders./Theodor Frings/Josef Müller: Kulturströmungen und Kulturprovinzen in den Rheinlanden. Geschichte, Sprache, Volkskunde, Bonn 1926.



4.2  Zugänge zu Marina, Campagna und Sumpf/Hochwald

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positiv codiert, indem es zur Vergegenwärtigung einer glücklichen Vergangenheit dient, so verweist die in Anlehnung an Spengler, Leo Frobenius und Edward B. Tylor gelieferte Beschreibung des Eindringens heidnischer Bräuche von der Campagna in die Marina auf Muster kultureller und gesellschaftlicher Depravation. Der Bezug zu heidnischen Riten ist in diesen Fällen deutlich als Abfall von der Zivilisationshöhe der Marina gekennzeichnet. Hier geht es nicht um die in der Kulturprovinzforschung im Mittelpunkt stehende historische Kontinuität in der Synthese kultureller und sozialer Praxen, sondern um „revivals“ im Sinne Edward B. Tylors, um Brüche also. Solche „revivals“ stellen etwa „Gedanken und Gewohnheiten“ dar, die  – „zum Erstaunen einer Welt, welche sie für längst gestorben oder sterbend hielt“15 – wieder hervortreten. „Revivals“ treten dann vermehrt auf, wenn – wie man mit Frobenius sagen kann – die Seele eines Kulturkreises, das sog. „Paideuma“, vergreist.16 Nach Spenglers zyklischem Geschichtsverständnis handelt es sich bei einem solchen Niedergang um ein „geschichtsloses Erstarren“, das ein „[l]angsames Heraufdringen urmenschlicher Zustände in eine hochzivilisierte Lebenshaltung“17 zur Folge hat. Während bei Spengler ein neuerlicher Rückfall in „urmenschliche[.  .] Zustände“ für die Zeit „[n]ach 2200“18 vorausgesagt wird, steht er in Jüngers fiktiver MarmorklippenWelt unmittelbar bevor. Große Teile der Erzählung dienen der Imagination eines solchen Rückfallprozesses. Dies betrifft sowohl den Erzähler in seiner Rolle als handelndes Ich als auch in seiner Eigenschaft als Kulturhistoriker: Ist der Ich-Erzähler direkt von den Folgen der Barbarisierung betroffen und somit Teil der erzählten Geschichte, so arbeitet sich der kulturhistorische Erzählfokus an einer Deutung der Geschehnisse in einem größeren, die Perspektive des Ich-Erzählers übersteigenden Rahmen ab. Innerhalb dieses Rahmens muss die Campagna betrachtet werden – der unmittelbar an die Marina angrenzende Lebensraum „halbnomadische[r] Hirten“19. 15 Tylor, Anfänge der Cultur, Bd. 1, S. 17. 16 Die „Kulturkreislehre“ basiert darauf, „die Kultur ihren menschlichen Trägern gegenüber als selbstständigen Organismus aufzufassen, jede Kulturform als eigenes Gebilde zu betrachten, das eine Geburt, ein Kindes-, ein Mannes- und ein Greisenalter erlebt. Die Kulturformen sind eigenen Wachstumsprozessen unterworfen, die dem Entwicklungsgange des menschlichen Individuums entsprechen.“ – Leo Frobenius: Vom Völkerstudium zur Philosophie. Der neue Blick. Das Paideuma, 2., erweiterte Aufl., Frankfurt/M. 1925, S. 40. 17 Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte [1923], 10. Aufl., München 1991, „III. Tafel ‚gleichzeitiger‘ politischer Epochen“, unpag. Spengler zufolge ist der „Mensch nicht nur vor dem Entstehen einer Kultur geschichtslos“, sondern wird „wieder geschichtslos […] sobald eine Zivilisation sich zu ihrer vollen und endgültigen Gestalt herausgebildet und damit die lebendige Entwicklung der Kultur beendet, die letzten Möglichkeiten eines sinnvollen Daseins erschöpft hat.“ Ebd., S. 614. 18 Ebd., „III. Tafel ‚gleichzeitiger‘ politischer Epochen“, unpag. 19 Gutmann, Politische Parabel und mythisches Modell, S. 54.

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4  Kultur- und naturgeschichtsphilosophische Fiktionen

4.2.3  Pagane Religiosität zwischen Norm und Geschichtlichkeit (Campagna) Formen paganer Religiosität und Vergemeinschaftung tragen innerhalb der Campagna nicht mehr das diskursive Siegel der heimatkundlichen Kulturprovinzforschung. Bezugspunkt sind hier Völkerkunde und Vorgeschichte. Das „Volk“ gilt als „wild und ungezähmt […] und wenn sie in zerlumptem Kreis um ihre Feuer saßen, mit Waffen in der Faust, wie die Natur sie wachsen läßt, dann sah man wohl, daß sie sich von dem Volke unterschieden, das an den Hängen die Rebe baut.“20 Die niedere Entwicklungsstufe menschlicher Kultur ist auch an einen veränderten Landschaftsraum, ein nahezu baumloses Grasland, gebunden. Geopfert wird hier „kleinen Hirtengöttern“, „ungefüge aus Stein oder altem Eichenholz geschnitzt“21. Die hergebrachte Spende […] bestand in heißen Güssen von Butter und Gekröseschmer, wie ihn das Opfermesser zur Seite schiebt. Aus diesem Grund sah man um die Bilder auch stets die schwarzen Narben von Feuerchen im grünen Wiesengrund. Von ihnen hegten die Hirten nach dargebrachter Gabe ein verkohltes Stengelchen, mit dem sie zur Nacht der Sonnenwende den Leib von allem, was trächtig werden sollte von Weib und Vieh, mit einem Male zeichneten.22

Der Unterschied zur Perspektive des Ich-Erzählers ist erkennbar: Zielpunkt der Beschreibung der Rituale ist das Verständnis einer fremden Kultur, nicht die Verortung innerhalb der eigenen. Das Ergebnis ist gleichwohl ambivalent: Auf der einen Seite erscheint die Campagna-Kultur im Modus des othering deutlich abgegrenzt; man kann auch sagen: entwicklungsgeschichtlich überwunden und deshalb vom Standpunkt des überlegenen Marina-Historiographen aus betrachtet hermeneutisch eindeutig erschließbar. Auf der anderen Seite jedoch übt sie einen zunächst latenten, später dann auch manifesten exotischen Reiz aus, der das mehrdeutige Fremde als begehrens-, zumindest nachahmenswert erscheinen lässt. Die Faszinationskraft der Campagna zeigt sich zum einen darin, dass sie „junge Leute“ anzieht, die „nach Freiheit strebten, und Liebespaare, die nach Art der Schäfer leben wollten“23. Zum anderen werden mehr und mehr ‚primitive‘ Bräuche in der Marina imitiert. Diese Imitation ist nun bereits Teil der vom Erzähler erinnerten kulturellen Depravation, da sie mit einer Zivilisationsverächtlichkeit einhergeht, die von einem ‚neuen Primitivismus‘ gespeist wird. Die Schilderung der Begeisterung für Sonnenwend- und Opferrituale greift dabei die zeitgenössische Dialektik 20 21 22 23

SW 15, S. 273. Ebd., S. 276. Ebd., S. 277. Ebd., S. 274.



4.2  Zugänge zu Marina, Campagna und Sumpf/Hochwald

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von nationalvölkisch orientierter Vorgeschichtsforschung und deren paganritueller, aktualisierender Aneignung im Zeichen einer ‚germanischen Religiosität‘ auf.24 Auf den ersten, ethnologischen Blick verweisen die Imitationen von Campagna-Bräuchen in der Marina zunächst auf ein „revival“ im Sinne Edward B. Tylors, auf ein „Wiederaufleben“ evolutiv eigentlich überwundener kultureller Praktiken also: „wie es noch kürzlich in so merkwürdiger Weise in der Geschichte des modernen Spiritualismus vorgekommen ist, ein Vorfall, welcher vom Standpunkte des Ethnografen höchst lehrreich ist.“25 Eben ein solches „Wiederaufleben“ zeigt sich in der Marina, „wo seit langem über Opfer und Opferdienst gespottet worden war. Dieselben Geister, die sich für stark genug erachtet hatten, die Bande des alten Ahnenglaubens zu zerschneiden, wurden vom Zauber barbarischer Idole unterjocht.“26 Der Erzähler präsentiert sich hier gleichsam als Schüler Tylors. Sein Bericht weiß um die ethnographische Signifikanz der von ihm geschilderten Aneignung überwundener kultureller Praktiken; ja er schlüpft selbst in die Rolle des Ethnografen, der Tylors Hinweis, der „Vorfall“ einer solchen Aneignung sei „vom Standpunkte des Ethnografen höchst lehrreich“, narrativ fruchtbar macht: Das imaginierte „Wiederaufleben“ innerhalb der Erzählung kopiert die Kohärenzmaßstäbe, die für das ethnografische Narrativ maßgeblich sind. Man kann auch sagen: Die narrativ konstituierte Wissensordnung der Ethnologie wird Teil der imaginierten Wissensordnung der Marmorklippen-Welt. Auf den zweiten Blick, der den ethnologischen „revival“-Gedanke auf das von der nationalvölkisch orientierten Vorgeschichtsforschung forcierte „Wiederaufleben“ germanischer Religiosität bezieht, wird darüber hinaus deutlich, in welchem Maße der Text mit der Diskurskartographie der 1930er-Jahre spielt. Zwar hat sich die neue Form von ‚germanischem Spiritualismus‘ – durchaus im Sinne der Spiritualismus-These Tylors – seit dem 19. Jahrhundert angekündigt, doch erst seit 1933 Jahren wird die Allianz von Vorgeschichtsforschung und völkischer Identitätspolitik zur Staatsräson. Wichtiger als die dabei im Detail sichtbar werdenden Unterschiede von professioneller und laienhafter Forschung27 ist der Umstand, dass die 24 Vgl. zur völkisch-religiösen Bewegung im Nationalsozialismus Uwe Puschner/Clemens Vollnhals: Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Forschungs- und problemgeschichtliche Perspektiven, in: Dies. (Hrsg.): Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte, 2. Aufl., Göttingen 2012, S. 13–28. Vgl. Wiwjorra, Die deutsche Vorgeschichtsforschung. 25 Tylor, Anfänge der Cultur, Bd. 1, S. 17. 26 SW 15, S. 277. 27 Vgl. zur Kritik der offiziösen nationalsozialistischen Vorgeschichtsforschung an der völkischen Laienforschung: Dirk Maharski: ‚Schwarmgeister und Phantasten‘ – die völkische Laienforschung, in: Graben für Germanien. Archäologie unterm Hakenkreuz, anlässlich der gleichnamigen Ausstellung hrsg. v. Focke-Museum, Stuttgart 2013, S. 50–56.

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4  Kultur- und naturgeschichtsphilosophische Fiktionen

‚Ergebnisse‘ der prähistorischen Archäologie unmittelbar an das völkische Selbstverständnis angeschlossen werden. So taxiert Hans Gummel in seinem nationalsozialistisch orientierten Überblick über die Entwicklung der Vorgeschichtsforschung in Deutschland verschiedene Muster des Wiederauflebens ‚germanischer‘ Kultur darauf hin, ob sie dem ‚wissenschaftlichen‘ Stand der Forschung entsprechen. Dabei wendet er sich bspw. gegen „‚Fellgermanen‘“ in Wagner-Opern; gelobt wird hingegen die Lebendigkeit von „Aufzüge[n], bei denen heutige Menschen in die alte Tracht gekleidet werden.“28 Ziel ist die enge Verzahnung von disziplinär erarbeiteter Historizität und gesellschaftlich beanspruchter Normativität. Im ‚richtigen‘ GermanenGewand spiegelt sich in gleichem Maße der Stand der vorgeschichtlichen Forschung, wie es erst diese Forschung ist, die der Mode ihren Schnitt und damit ihre normative Vorbildrolle gibt. Jünger spielt bei seiner Charakterisierung des Verfalls der Marina auf diese normative Aneignungsdimension an; dabei wird die nationalsozialistische Geschichtskultur umcodiert. Gegenüber dem von völkischer Seite betriebenen Versuch, Vorgeschichte als Geschichte zu konstituieren und damit jenseits einer ‚Krise des Historismus‘ an der orientierenden Sinnhaftigkeit des Vergangenen festzuhalten,29 setzt der kulturhistorische Erzähler Jüngers eine ur- und ungeschichtliche Primitivität in den Mittelpunkt. So weist er auf „Söhne von Notabeln und junge Leute“ hin, „die die Stunde einer neuen Freiheit gekommen glaubten“. Sie scharten sich um Literaten, die begannen, die Hirtenlieder nachzuahmen, und die man nun, anstatt in wollenen und leinenen Gewändern, in Zottelfellen und mit derben Knüppeln auf dem Corso wandeln sah.

28

29

Hans Gummel: Die Urgeschichtsforschung und ihre historische Entwicklung in den Kulturstaaten der Erde, Bd. 1, Forschungsgeschichte in Deutschland, Berlin 1938, S. 378, S. 382. Gummel bezieht sich hier unter Auswertung einschlägiger Meldungen im Nachrichten-Blatt für die Vorzeit u.  a. auf den „Germanenzug im Berliner Grunewaldstadion“ (1933). Dieses historistische Verständnis von Vorgeschichte ist bereits im ‚Germanen‘-Kult des 19. Jahrhunderts angelegt. Im Blick der nationalsozialistischen Geschichtswissenschaft auf die Diskussionen um den Namen der Disziplin, die sich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts um die Begriffe Urgeschichte, Prähistorik und Vorgeschichte gruppieren, verschärft sich dann diese Deutung. Als Fluchtpunkt der disziplinären Entwicklung dient das Maß, in dem es den Forschern gelingt, Vorgeschichte in Geschichte umzuschaffen – und damit sowohl von der Ethnologie als auch der Anthropologie zu lösen. Ahnherr der nationalsozialistischen Vorgeschichtsforschung ist Gustav Kossinna (1858–1931), der bereits zu Beginn des Jahrhunderts dafür plädierte, „aus der Vorgeschichte Geschichte zu machen.“ Ab 1933 schlägt sich dieses geschichtliche Verständnis dann auch in der politischen Sanktionierung der Bezeichnung ‚Vorgeschichte‘ nieder. – Vgl. zu dieser Diskussion im Deutungshorizont einer nationalsozialistischen Vorgeschichtsforschung: Gummel, Die Urgeschichtsforschung, S. 316–322, Zitat: S. 320. Vgl. zur Rolle Kossinnas in der NS-Archäologie Dirk Maharski/ Gunter Schöbel: Von Gustav Kossinna zur NS-Archäologie, in: Graben für Germanien, S. 31–36.



4.2  Zugänge zu Marina, Campagna und Sumpf/Hochwald

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In diesen Kreisen wurde es auch üblich, den Bau der Rebe und des Korns zu verachten und den Hort der echten, angestammten Sitte im wilden Hirtenland zu sehen.30

Fluchtpunkt der Argumentation ist hier nicht die Rückgewinnung eigener Identitätswurzeln, der historiographische Fokus setzt vielmehr ganz auf Distanz.31 Lässt man sich auf Volker Katzmanns Lesart der Kulturtopographie der Marmorklippen ein, im „Auftreten von Jägern, Hirten und Bauern die Entwicklungsphase des homo sapiens“32 auszumachen, so kann man hier von einer regressiven Anthropogenese und einem Prozess der Entkulturalisation sprechen. Das nationalsozialistische Diskurs-Gewand des völkischen Germanen-Historismus bildet dabei lediglich die Folie, vor der historische und normative Geltung voneinander entkoppelt werden. In der imaginierten Gleichzeitigkeit beider Kulturepochen ist der Geschichtsverlauf praktisch stillgestellt. Entscheidend ist, dass die hier präsentierte regressive Anthropogenese nicht wie noch in Der Kampf als inneres Erlebnis affirmiert und als Teil der Arbeit an der Sinnhaftigkeit eines barbarischen Geschehens ausgewiesen wird. Diskursive Bezugsmatrix ist nicht mehr eine biologistische Lebensphilosophie, sondern die politisch instrumentalisierte Vorgeschichtsforschung. Zwar ist angesichts des freien Campagna-Hirten „Belovar“ noch von der „Wolfsnatur“ und dem „wilde[n] Erdfeuer“ die Rede, das in ihm „lohte“, doch warnt der Ich-Erzähler ausdrücklich davor, sich die Perspektive der in der Marina ansässigen „Muscadins“ zu eigen zu machen, „die in dem Hirtenvolke den idealischen Menschen entdeckt zu haben glaubten, den sie in rosafarbenen Gedichten feierten.“33 Maßgeblich ist hier nicht mehr eine Inszenierung des ‚Lebens‘; im Mittelpunkt steht vielmehr das aufklärerische Interesse, zu zeigen, von welchem Standpunkt aus eine ideale Primitivität behauptet wird. Einher mit der durch problematisierte Verherrlichungsmuster natürlicher Primitivität gelieferten Distanz von einem emphatischen ‚Lebens‘-Begriff geht eine veränderte Argumentationslogik. Zeigt sich in der frühen lebensphilosophischen Fundierung des Krieges eine Übertragung der argumentativen Grundstruktur des Kontextes auf den eigenen Problemzusammenhang – eine Übertragung wie sie sich z. Bsp. in der Übernahme des ‚enthemmten Lebens‘ auf die Erklärung der Verhaltensmuster des Frontsol30 SW 15, S. 276. 31 Auf eine allegorische Darstellung nationalsozialistischer Glaubensvorstellungen in den Marmorklippen verweist bereits Gerhard Nebel: „In den Gestalten, die mit dem überlieferten Glauben brechen, um die Butter- und Schmalzgötter der Campagna zu verehren, erscheinen die Gläubigen des Wotan-Kultes und die Blut- und Bodendichter.“ – Nebel, Ernst Jünger, S. 222. 32 Katzmann, Ernst Jüngers Magischer Realismus, S. 117. 33 SW 15, S. 289.

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4  Kultur- und naturgeschichtsphilosophische Fiktionen

daten zeigt –, so geht es in den Marmorklippen um eine Kritik an der Argumentationslogik des Ursprungsdiskurses. In der Übernahme von Elementen dieses Diskurses verbirgt sich eine Distanz gegenüber dessen Aussageansprüchen. Zieht man hinzu, dass die von Jünger präsentierte Primitivierung der Marina unter dem Einfluss des Oberförsters steht, der die entwicklungsgeschichtlich gleichsam natürliche Archaik der Campagna für seine Zwecke instrumentalisiert, enthemmt und damit radikalisiert, so wird deutlich, dass die Übernahme von Topoi nationalvölkisch orientierter Vorgeschichtsforschung als Kritik am Nationalsozialismus verstanden werden muss. Dass der Roman eine solche Kritik liefere, demnach im allegorischen Gewand Stellung zur Situation im nationalsozialistischen Deutschland beziehe, haben viele Leser früh vermerkt.34 In der literarischen Überformung – und damit auch: Umcodierung – des nationalvölkisch orientierten Aneignungs- und Wiederbelebungsdiskurses kann eine bisher vernachlässigte kritische Dimension des Textes ausgemacht werden. Mit der Übertragung der ab 1933 omnipräsenten ‚Germanisierung‘ auf die Konflikte der imaginierten Welt zeichnet Jünger nicht nur ein verdecktes Bild der schrittweisen Barbarisierung im nationalsozialistischen Deutschland, er enttarnt vielmehr auch die normativen Bezüge nationalvölkischer Vorgeschichtsbilder als Produkte eines fragwürdigen Historismus, der seine Überzeugungskraft gänzlich einbüßt. Deutlich wird dies nicht nur mit Blick auf die Campagna. In einer bisher von der Forschung ignorierten Episode der Erzählung werden die Erkenntnisansprüche der Vorgeschichtsforschung offen kritisiert. Sie gilt es näher zu betrachten.

4.2.4  Vorgeschichtsforschung zwischen ‚nordischem‘ und frühem Menschen Braquemart ist keine Hauptfigur der Erzählung – und doch wohl eine der interessantesten. Dies liegt weniger daran, dass sie womöglich Züge des Autors trägt;35 Interesse verdient sie vielmehr aufgrund ihres ambivalenten Charakters. Sie zeigt nämlich zum einen „Züge des späten Nihilismus“, eine „kalte, wurzellose Intelligenz“ und sieht „in Gewalt und Schrecken die An34

35

Heidrun Ehrke-Rotermund und Erwin Rotermund weisen darauf hin, dass nahezu alle Rezensenten, die die Marmorklippen während der NS-Zeit besprechen, auf die Bezüge zum poli­ tischen System hinweisen und dem Buch damit – implizit oder explizit – kritisches Potenzial attestieren. Unterschieden wird zwischen getarnter (Max von Brück, Peter Suhrkamp) und offener kritischer Lektüre (Gerhard Nebel, Bruno E. Werner). Leitgedanke fast aller Autoren sei ein „humanistisch-christliches Menschenbild“. – Vgl. Heidrun Ehrke-Rotermund/ Erwin Rotermund: Zwischenreiche und Gegenwelten. Texte und Vorstudien zur ‚Verdeckten Schreibweise‘ im ‚Dritten Reich‘, München 1999, S. 353–393, Zitat: S. 357. Vgl. Kiesel, Ernst Jünger, S. 464  f.



4.2  Zugänge zu Marina, Campagna und Sumpf/Hochwald

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triebsräder der Lebensuhr“, zum anderen jedoch geht sie gegen den Oberförster vor – „obgleich doch beide in ihrem Sinnen und Trachten viel Ähnliches verband.“36 Braquemart ist wie der Oberförster „Mauretanier“. Damit ist ein Orden bezeichnet, dem der Erzähler und sein Bruder Otho in jungen Jahren gleichfalls angehörten. Der Name steht – trotz aller charakterlichen Unterschiede, die die „Mauretanier“ der Erzählung im Einzelnen kennzeichnen – für eine Allianz von Technik- und Kriegsbegeisterung, Machtpolitik und weltanschaulichem Rationalismus.37 Der Erzähler distanziert sich ausdrücklich von der mauretanischen Lebenseinstellung. In seiner Bewertung der vorgeschichtlichen Forschungsarbeiten Braquemarts zeigt sich deutlich eine solch kritische Haltung. Es ist interessant zu sehen, auf welche Weise dabei die Wurzeln nationalvölkischer Vorgeschichtsforschung – Rassismus, prähistorische Anthropologie und Prähistorik als Wissenschaft mit dem Spaten38 – offengelegt werden. Als Rassist ist Braquemart zunächst Anhänger rassenhierarchischen Denkens. Er ist der Ansicht, so der Erzähler, dass es auf der Welt ursprünglich zwei Rassen gegeben habe, eine herrschende und eine dienende. Die negativ bewertete Mischung beider gelte es nun durch eine „neue Sonderung“39 rückgängig zu machen. Deutlich erkennbar ist in dieser idealtypischen Zuspitzung die von den Nationalsozialisten beanspruchte kulturelle Führungsrolle der ‚nordisch-germanischen‘ Rasse; auf diese Deutung ist die konkrete Vorgeschichtsarbeit verpflichtet. Auch Braquemart wird als vorgeschichtlich ambitioniert porträtiert, jedoch geht es ihm nicht um den ‚nordischen‘, sondern den frühen Menschen. Er lebte – „wie jeder grobe Theoretiker“ – „vom Zeitgemäßen in der Wissenschaft und trieb besonders die Archäologie.“40 Dieser Hinweis ist nur verständlich, wenn man ihn zunächst von der imaginierten Marmorklippen-Welt isoliert und auf den ‚zeitgemäßen‘ Kontext bezieht41: Die disziplinäre Institutionalisierung der Vorgeschichts36 37

SW 15, S. 317. Vgl. umfassend zum Mauretanier-Komplex bei Jünger Katzmann, Ernst Jüngers Magischer Realismus, S. 187–199. 38 Angelehnt ist diese Unterteilung an Ingo Wiwjorra, der zwei Entwicklungsstränge der deutschen Vorgeschichtsforschung für maßgeblich hält: „auf der einen Seite die von der Germanistik herkommende, nationalromantisch ausgerichtete ‚vaterländische Altertumskunde‘, die ihr Blickfeld von den Sprachaltertümern auf die Bodenaltertümer erweiterte, auf der anderen Seite die entscheidend von der Rassenideologie beeinflußte prähistorische Anthropologie.“ – Vgl. Wiwjorra, Die deutsche Vorgeschichtsforschung, Zitat: S. 186. 39 SW 15, S. 315. 40 Ebd. 41 Vgl. zum Folgenden den konzisen Überblick hinsichtlich der Entwicklung der ‚Forschungslandschaft Vorgeschichte‘ zwischen 1920 und 1945: Ute Halle/Dirk Maharski: Forschungsstrukturen, in: Graben für Germanien, S.  31–36; vgl. auch Wiwjorra, Die deutsche Vorgeschichtsforschung, bes. S. 202–204.

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4  Kultur- und naturgeschichtsphilosophische Fiktionen

forschung an deutschen Universitäten, so lässt sich dann erkennen, ist tatsächlich erst in den späten 1920er- und dann besonders in den 1930er-Jahren erfolgt. ‚Zeitgemäß‘ ist die Vorgeschichtsforschung aber auch in ihrer außeruniversitären politischen Dimension, wie etwa die Auseinandersetzungen des SS-Forschungsverbundes Deutsches Ahnenerbe mit dem Amt Rosenberg um den weltanschaulichen Charakter der Spatenwissenschaft verdeutlichen. Als Teil der neu ausgerichteten Geschichtswissenschaft stellt die Vorgeschichtsforschung spätestens ab 1933 eine „Legitimationswissenschaft“ für die rassistische NS-Ideologie42 und damit – wie eine 1912 erstmalig vorgelegte und dann in den 1920er- und 1930er-Jahren in zahlreichen Auflagen überarbeitete Publikation von Gustav Kossinna im Titel verspricht – „eine hervorragend nationale Wissenschaft“43 dar. Hinter der Präsentation der Fachentwicklung als Erfolgsgeschichte einer stetigen methodischen Professionalisierung und inhaltlichen Konsolidierung im Zeichen der Bewusstwerdung germanischer Wurzeln44 steht tatsächlich ein häufig nur schlecht kaschierter ideologischer Zugriff auf die Grabungsergebnisse. In diesem Sinne wird Braquemart als jemand charakterisiert, der „nicht fein genug war“, „zu ahnen, daß unser Spaten unfehlbar alle Dinge findet, die uns im Sinne leben“45. Auf diese Weise, so der Erzähler mit merklicher Ironie weiter, habe Braquemart – „wie schon so mancher vor ihm“ – den „ersten Sitz des menschlichen Geschlechts entdeckt.“46 Die lediglich beglaubigende Funktion der Ausgrabungsergebnisse sowie der Anspruch, der Anthropogenese auf die Spuren gekommen zu sein, sind als „wilde[.  .] Träume“ den „Reiche[n] der Utopie“47 zugeordnet. Wie weit bei Braquemart diese Ursprünglichkeitsphantastik bereits gediehen ist, wird deutlich, wenn man sich seine eigenen Forschungsergebnisse durch die Brille des Erzählers näher anschaut. „Wir waren mit in der Sitzung“, so der Erzähler über die zu weitreichenden anthropogenetischen Spekulationen führenden Aktivitäten Braquemarts, 42

Vgl. dazu Peter Schöttler: Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945. Einleitende Bemerkungen, in: Ders.: Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1999 [1997], S. 7–30. Legitimationswissenschaftliche Absichten können auch dann der geltend gemacht werden, wenn die Berufung nationalvölkischer Gruppierungen und Laienforscher auf ‚germanische Bräuche‘ zu den rassenbiologischen Interessen der NSDAP in Gegensatz tritt. – Vgl. zu Kontinuität und Brüchen völkischer Religiosität zwischen Kaiserreich und NS-Staat: Klaus Vondung: Von der völkischen Religiosität zur politischen Religion des Nationalsozialismus: Kontinuität oder neue Qualität?, in: Puschner/ Volnhals (Hrsg.), Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus, S. 29–41. 43 Kossinnas Die deutsche Vorgeschichte. Eine hervorragend nationale Wissenschaft erscheint zwischen 1912 und 1941 in acht Auflagen, wobei allein zwischen 1933 und 1941 vier Neuauflagen zu verzeichnen sind. 44 Einer solchen Teleologie folgt die Darstellung von Gummel, Die Urgeschichtsforschung. 45 SW 15, S. 315. 46 Ebd. 47 Ebd., S. 314.



4.2  Zugänge zu Marina, Campagna und Sumpf/Hochwald

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in der er über diese Grabungen berichtete, und hörten, daß er in einer fernen Wüste auf ein groteskes Tafelland gestoßen war. Dort wuchsen hohe Porphyrsockel aus einer großen Ebene empor – sie waren von der Verwitterung ausgespart und standen wie Bastionen oder Felseninseln auf dem Grund. Sie hatte Braquemart erstiegen und auf den Hochplateaus Ruinen von Fürstenschlössern und Sonnentempeln aufgefunden, deren Alter er als vor der Zeit bezeichnete. Nachdem er ihre Maße und ihre Eigenart beschrieben hatte, ließ er das Land im Bilde auferstehn. Er zeigte die fetten grünen Weidegründe, auf denen, so weit das Auge reichte, die Hirten und die Ackerbauern mit ihren Herden saßen und über ihnen auf den Porphyrtürmen im roten Prunk die Adlernester der Urgebieter dieser Welt.48

Im Ergebnis geht es hier um die Rekonstruktion eines gleichermaßen geologisch („Tafelland“, „Porphyrsockel“) und prähistorisch („Fürstenschlösser[.  .]“, „Sonnentempel[.  .]“) signifikanten Landschaftsraumes. Die Rede von der „ferne[n] Wüste“ verweist auf das Mittelmeergebiet oder Nordafrika; Regionen, in denen die Wiege der Menschheit vermutet wurde. Für Forschungs- und Abenteuerreisende in diese Gebiete gehörte es jedenfalls zum guten Ton, ihre Beobachtungen als Zugang zu einer historischen Tiefenzeit zu stilisieren  – zu eben jener Tiefenzeit, die auch die Vorgeschichtsforschung interessiert. So beschleicht Egon Vietta angesichts des Besuches „prähistorische[r] Fundstätten“ in Malta das Gefühl, „als stünde ich an der Schwelle unserer menschlichen Geschichte […]. Das Urbild des Menschen geisterte überdeutlich, erschreckend nah […]“49. Bereits vier Jahre zuvor erwähnte Vietta jenes „Dämmerreich, das die prähistorische Wissenschaft als vorgeschichtliche Urerinnerung in unser Bewußtsein heraufgeholt“50 habe. 48

49 50

Ebd., S. 315. Katzmann deutet Braquemarts Rekonstruktion der prähistorischen Gesellschaft als machtstrategisch begründet; er spricht vom „‚Modell‘ der utopischen Machtträume“ (Katzmann, Ernst Jüngers Magischer Realismus, S. 192). Im Text gibt es jedoch keinen Hinweis darauf, dass Braquemarts aktuelle politische Interessen auf das erarbeitete Modell Bezug nehmen würden. In der Überführung der Ausgrabungsergebnisse in ein anschauliches Gesamttableau zeigt sich vielmehr Braquemarts projektives Denken, das den intendierten Gesamtentwurf zur Maßgabe der Ordnung einzelner Funde und Beobachtungen macht. Die rekonstruktive Deutungsarbeit ist dabei ausdrücklich nicht Teil des anschaulichen Ergebnisses; dieses Ergebnis tilgt gleichsam die Teile, aus denen es zusammengesetzt ist. In der Totalität des Entwurfes verschwinden demnach die Artefakte, auf die sich die Rekonstruktion maßgeblich stützt. In einer späteren Einlassung im Zweiten Pariser Tagebuch (1949) vom 21. 09. 1943 macht Jünger ein gewaltgeschichtliches Interesse an der Ausgrabungs-Episode der Marmorklippen geltend. Unter der Überschrift „Mauretaniergeschichten“ notiert er sich dort: „Die Porphyrklippen. Schilderung der von Braquemart ausgegrabenen Stadt als des Ursitzes der Gewalt.“ – SW 3, S. 127. Egon Vietta: Lybischer Existenzial. Natur als Schicksal, in: Werner Benndorf (Hrsg.): Das Mittelmeer-Buch, Leipzig 1940, S. 429–457, hier: S. 430. Vgl. zur Konzeption der Geschichtslosigkeit bei Vietta ausführlich Streim, Das Ende des Anthropozentrismus, S. 294–305. Egon Vietta: Das Ende des Humanitätsideals, in: Die Literatur 38/8 (1936), S. 355–358, hier: S. 357.

228

4  Kultur- und naturgeschichtsphilosophische Fiktionen

Um eben jenes „Urbild des Menschen“ geht es auch Braquemart. Insofern unterscheidet sich sein Interesse von einer nationalvölkisch intendierten Integration der Vorgeschichte in die Geschichte. Denn Braquemart versucht ein Bild der Menschengattung jenseits kultureller Überformungen zu rekonstruieren. Nicht die Früh-, sondern die Vorgeschichtlichkeit des Menschen ist für seinen Umgang mit den Ausgrabungsergebnissen prägend. Auch in dieser Fixierung auf anthropologische Universalien, die jenseits normbildender Geschichtskräfte vermutet werden, folgt Braquemarts Denken zeitgenössischen Stereotypen. Der Kontakt mit fremden Kulturen und deren Überlieferungen firmiert hier als Schlüssel zu einer ‚Naturgeschichte‘ des Menschen, die es sich – so der Grundtenor bei Egon Vietta – anzueignen gelte: Je geschichtsloser ein „Seinsstand“ des Menschen gedeutet wird, umso mehr ist er der conditio humana gemäß und umso nachdrücklicher kann ihm eine gegenwärtige Orientierungsfunktion zugeschrieben werden.51 Braquemarts Rassedenken und seine vorgeschichtlichen Ambitionen stehen im Ergebnis also nicht für eine dem vorgeschichtshistoriographischen Kontext entnommene konsistente Position. Verortet ihn die Zuordnung zum Mauretanier-Orden bereits in einer fiktiven Welt, so lässt auch seine vom Erzähler entworfenen Grabungs- und Darstellungspraxis eine imaginierte Vorgeschichtsforschung entstehen, die Anleihen bei unterschiedlichen Konzepten macht. Seine Forderung nach ‚rassischer Sonderung‘ findet ihr Pendant nicht in einem nationalvölkischen Historismus, der die Vorgeschichte in den Deutungshorizont der Geschichte integrieren will. Braquemarts Interesse an den ausgegrabenen Menschenteilen und Siedlungsspuren ist hingegen vielmehr auf die Anthropogenese gerichtet. Ein solcher Fokus steht wiederum nicht im Mittelpunkt nationalvölkischer Archäologie. Die Marmorklippen selbst bieten keine Deutung für Braquemarts Interesse an dem „ersten Sitz des menschlichen Geschlechts“52. Unter Hinweisen auf die existenzialanthropologisch konturierte Deutung vorgeschichtlicher Forschungsergebnisse, etwa bei Egon Vietta, könnte man bei ihm gleichfalls ein aktualisierendes Interesse vermuten. Das Wissen um die ersten Menschen 51

52

Die Vorbildhaftigkeit geschichtslosen Seins prägt bspw. Viettas Blick auf den südlichen Teil Libyens, die Cyrenaika. In diesem Gebiet macht er „ein Jenseits der menschlichen Geschichte“ aus, „nämlich das Geschichtslose, und damit ist die echte Tiefe des libyschen Seins im Kern getroffen. Das libysche Hinterland führt aus der menschlichen Geschichte heraus ins Vorgeschichtliche, und der Forschergeist, der dies Hinterland in Kreuz- und Irrfahrten aufzuhellen gewußt hat, ist den Weg allen modernen Denkens gegangen: dem Menschen eine neue Ewigkeit zu suchen. Ewigkeit bedeutet aber immer: Geschichtslosigkeit. Ein bleibender Seinsstand: das besagt für die Forschung soviel wie immer weiter vorgeschichtliche, zeitlose Räume zu öffnen, bis der ursprüngliche (noch gegenwärtige) Mensch erscheint.“ – Vietta, Libyscher Existenzial, S. 434. SW 15, S. 315.



4.2  Zugänge zu Marina, Campagna und Sumpf/Hochwald

229

würde dann den Anspruch machen, das Wissen um den Menschen an sich zu bestimmen.53 Freilich ist bei einer solchen Deutung Vorsicht geboten, arbeitet sie doch einer Kohärenz zu, die der Text durch eine breite Streuung an Bezugsdiskursen nicht zulässt. Für den literarischen Symbolhaushalt ist es womöglich sogar entscheidend, einen Eklektizismus zu inszenieren, der unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten vorgeschichtlicher Artefakte lediglich aufruft, ohne jedoch zu vermitteln.

4.2.5  „‚Teutoburger Wald‘“/Sumpf. Historiographische Fiktion und hybride Soziologie Gehen in die Darstellung von Marina und Campagna kulturethnologische und vorgeschichtshistoriographische Diskurse ein, die eine – innerhalb der fiktiven Welt – als ganz natürlich angesehene Ordnung entstehen lassen, so sieht dies mit Blick auf Sumpf und Hochwald anders aus. Das Spiel mit realen geographischen und entwicklungsgeschichtlichen Bezügen wird hier potenziert. Volker Katzmann spricht vom „Wald“ als einer „metaphysische[n] Wirklichkeit“54, die an Unbestimmtheiten Marina und Campagna übertreffe. Dies ist richtig, und dennoch markieren Wald und Sumpf innerhalb der erzählten Ordnung gleichwohl reale Gebiete und nicht nur symbolisch relevante Ordnungsmuster. Der große Unterschied der Gegenden besteht zum einen darin, dass der kulturgeschichtliche Erzähler im Falle von Marina und Campagna über ein breites Wissen verfügt, an dem er den Leser teilhaben lässt, während er hinsichtlich Wald und Sumpf auf unsichere Quellen und Vermutungen angewiesen ist; doch auch über diese historiographischen Unwägbarkeiten wird der Leser gut informiert  – das Nicht-Wissen wird zum Thema der Erzählung. Zum anderen unterscheidet sich – damit verbunden – der Status der Gegenden innerhalb der erzählten Welt. Während Marina und Campagna geschichtlich und geografisch gut erschlossen, soz. realtopographisch beglaubigt sind, bleiben Wald und Sumpf innerhalb der erzählten Ordnung suspekt. Der kulturgeschichtliche Erzähler greift bei der Charakterisierung dieser Gegend auf ältere Quellen zurück, die er mit den Ereignissen um den negativen Einfluss von Wald und Sumpf auf die Marina in einen Zusammenhang setzt. Auf diese Weise versucht er die sich im Laufe der Erzählung dynamisierenden und immer stärker in den Erzählfokus drängenden Ereignisse räumlich aber auch geschichtlich an ein kulturelles Gedächtnis rückzubinden, das in dem Wald-Sumpf-Gebiet von jeher den 53 54

Vgl. zum Zusammenhang von existenzialanthropologischer und vorgeschichtlicher Deutung des Frühmenschen Kap. 1.7. Katzmann, Ernst Jüngers Magischer Realismus, S. 120.

230

4  Kultur- und naturgeschichtsphilosophische Fiktionen

Ort des Bösen und der Ausgestoßenen sah. Es ist freilich das kulturelle Gedächtnis der Marina, von deren Perspektive aus das Andere rätselhaft und gefährlich erscheint. Sumpf und Hochwald sind zunächst – und das ist innerhalb der Erzählung wichtig  – das Reich des Oberförsters und damit die Räume, von denen aus die Zerstörung der Kulturlandschaft der Marina maßgeblich initiiert wird. Der Oberförster, so berichtet der Erzähler, spricht von seinem Reich als dem „‚Teutoburger Wald‘“55. Diese Selbstzuschreibung ist im Kontext nationalistisch geprägter Geschichtsforschung aufschlussreich. Bei der Schlacht im Teutoburger Wald, so die Deutung, habe ‚Hermann der Cherusker‘ (Arminius) im Jahr 9 nach Christus ‚Germanien‘ vor den anstürmenden Römern bewahrt. Bereits im frühen 19. Jahrhundert diente diese Lesart zur Befestigung einer deutsch-germanischen Identität, die die Aushandlungsprozesse um die Einigung Deutschlands nach 1848 mitbestimmen sollte.56 Das nationalvölkische und rassisch-biologische Verständnis des ‚Germanischen‘, wie es sich dann gegen Ende des Jahrhunderts etablierte, knüpfte hier an und wurde von den Nationalsozialisten zur verbindlichen ‚Weltanschauung‘ radikalisiert. Die fortschreitende Popularisierung und Politisierung der ‚germanischen Vorgeschichte‘ im Zeichen ‚nordischer‘ Herkunft nach 1933 ist dafür wohl das eindrücklichste Zeichen. Dass sich der Oberförster als neuer Arminius stilisiert und damit die Tradition völkisch-rassischer Historiographie beglaubigt, dürfte einer Leserschaft nicht verborgen geblieben sein, die in dieser Figur Züge Hermann Görings und Adolf Hitlers ausmachte.57 Die ideologische Signifikanz der Gebietsdeutung des Oberförsters zeigt sich auch darin, dass sie von der Erzählinstanz auf der beschreibungssprachlichen Ebene nicht übernommen, sondern lediglich – distanziert bis kritisch – als dessen Rede wiedergegeben wird. Diese Wiedergabe wie auch die Verweigerung einer kommentierenden Einordnung in den präsentierten kulturgeographischen Rahmen tragen ohne Zweifel zur Mehrdeutigkeit der Aussage des Oberförsters bei. Vom Oberförster hingegen recht eindeutig impliziert – und vom Erzähler auch als solche anerkannt – ist lediglich die Betonung der Gefährlichkeit des von ihm regierten Areals. Deshalb ist es auch schwierig in dieses Gebiet vorzudringen und Informationen zu bekommen. Der Ich-Erzähler begibt sich auf die Spuren des innerhalb dieser Gegend „verschollenen Fortunio“58, eines Kenners jener verbotenen Zone, 55 56 57 58

SW 15, S. 268. Vgl. Wiwjorra, Die deutsche Vorgeschichtsforschung, S. 187. Vgl. dazu Helmuth Kiesel: Ernst Jüngers Marmorklippen. „Renommier“- und Problem„buch der 12 Jahre“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 14/1 (1989), S. 126–164. hier: S. 133  f. SW 15, S. 268.



4.2  Zugänge zu Marina, Campagna und Sumpf/Hochwald

231

und „dringt in den Nordrand dieser Wälder“59 ein. Bevor der Ich-Erzähler mit seinem Bruder dann tatsächlich in das Herzstück des gefährlichen Territoriums vorstoßen – zunächst nur mit botanischem Interesse, bald aber auch, um gewaltsam gegen die Kräfte des Oberförsters vorzugehen – und sich ein eigenes Bild machen kann, stammen nahezu alle Informationen aus zweiter Hand, nämlich von „Fortunio“. Viele sind sogar noch unzuverlässiger, sie kommen aus dritter Hand, fußen auf einem „Fortunio“ zugänglichen „Manuskript“ des „Rabbi Nilüfer“, der, „aus Smyrna ausgetrieben, auf seinen Wanderungen auch in den Wäldern zu Gast gewesen war“60. Innerhalb der fiktiven historiographischen Ordnung der Erzählung wird das „Manuskript“ Nilüfers als verlässliche Quelle eingeschätzt: „Man sah aus seiner Schrift, daß sich die Weltgeschichte hier wie in trüben Tümpeln, an deren Ufern Ratten nisten, spiegelte.“ Fortunio selbst „berichtet“ dem Erzähler „von Genisten altersgrauer Hütten  – die Mauern aus Lehm und Häckselschilf errichtet und die spitzen Giebel mit fahlem Moos gedeckt.“ Die Beschreibung des Sumpfgebietes ist in der Charakterisierung von Siedlungsform und Architektur zunächst von der Kennzeichnung von Marina und Campagna keineswegs grundsätzlich verschieden. Hinsichtlich der Zusammensetzung der Bevölkerung werden dann unterschiedliche Kategorien in Anschlag gebracht, die in dieser Kombination bei der Beschreibung der anderen Räume nicht zum Einsatz kommen: Ethnisch und völkergeschichtlich konturierte Zuschreibungen („Hunnen, Tataren, Zigeuner“) gehen nahtlos in häresiegeschichtliche („Albingenser und ketzerische Sekten aller Art“, „Magier und Hexenmeister, die dem Scheiterhaufen entronnen waren“) über und werden durch sozialstrukturelle („versprengte Scharen der großen Räuberbanden aus Polen und vom Niederrhein“) ergänzt. Die Heterogenität der Beschreibung erscheint dadurch verstärkt, dass diese gruppenspezifischen Ordnungsmuster durch Einzelfallgeschichten ergänzt werden. Unter Berufung auf das „Manuskript“ Nilüfers verweist der Erzähler z.  B. auf „Meister Villon“, „der in einem dieser Tannichtnester Unterschlupf gefunden hatte“ wie auch die „Coquillards“, eine französische Räuberbande, die mit François Villon in Zusammengang gebracht wird. Zudem „war dies die Stätte, darinnen der Pfeifer von Hameln mit den Kindern verschwunden war.“61 Literaturgeschichte  – Villon als erster ‚poète maudit‘ – und Sage gehen hier Hand in Hand, ohne dass ihr Erklär-Wert unterschiedlich gewichtet und mit den gruppenspezifischen Ordnungsmustern vermittelt würde. Oder vielmehr: Im Rahmen der hybriden Soziologie des kulturgeschichtlichen Erzählers muss diese Vermittlungsarbeit gar nicht 59 Ebd. 60 Ebd., S. 284. Vorhergehende Zitate gleichfalls. 61 Ebd., S. 285. Vorhergehende Zitate gleichfalls.

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4  Kultur- und naturgeschichtsphilosophische Fiktionen

geleistet werden, denn: Innerfiktional betrachtet, gelten die einzelnen Fakten als durchaus homogen. Sie werden dadurch zusammengehalten, dass sie allesamt einen Personenkreis vorstellen sollen, der sozial geächtet ist und vor (Todes-)Strafe Zuflucht sucht. Dabei übernimmt der Erzähler die hybride Soziologie des historiographischen Berichtes Nilüfers. Wie dieser überträgt er Muster zur Kennzeichnung von Kollektiven auf die innerfiktive Ordnung. So setzt er die hybride Soziologie bei seiner Beschreibung der zeitgenössischen Helfershelfer des Oberförsters fort, indem er sie wahlweise als Republikfeinde und modische Gecken („Muscadins“62), Homosexuelle („Spintrier“) oder Drogenabhängige („die von La Picousière“63) bezeichnet. Hier geht es nicht mehr um Sammelbegriffe für Gruppen, die in ethnischer, politischer oder glaubensgeschichtlicher Hinsicht als homogen betrachtet werden; ausschlaggebend und gruppenbildend sind vielmehr gesellschaftliche Stigmatisierungen. Diese werden zu sozialen, oder besser gesagt: asozialen Rollen umgeformt und – gleich Bezeichnungen für Glaubensgemeinschaften oder Ethnien – zu Charakterisierung identitätsspezifischer Besonderheiten genutzt. Unverkennbar entstehen dabei groteske Charaktere. Überzeichnet sind etwa „die von La Picousière“: Während kurz bevorstehender Kampfhandlungen „stapften“ diese im „Moor und quakten wie Wasserfrösche: Cathérine a le craque moisi, / Des seins pendants, / Des pieds de cochon, / La faridondaine. //“64 Entscheidend ist: Die hybride Soziologie imitiert Kategorien völker- und glaubensgeschichtlicher Ordnung; jedoch ohne Ordnung herzustellen, denn das auf diesem Weg entstehende Gebiet bleibt auch innerhalb der Marmorklippen-Welt rätselhaft. Zwar sind Marina und Campagna auch aus unterschiedlichen Diskursen zusammengesetzt, die lediglich innerfiktiv Kohärenz beanspruchen können, jedoch wird hier eine Deutlichkeit angestrebt, deren Ziel in der Evokation einer faktischen Realität der Raumordnung besteht. Im Sumpf-Gebiet hingegen gleitet die Orientierung in den Traum ab: „Dann wurde das Land ganz trügerisch und schwankend und den Gefilden ähnlich, die man in Träumen sieht“, vermerkt der Ich-Erzähler während seines Eindringens in den Sumpf von der Campagna aus. „Zwar 62

63

64

Vgl. zur begriffsgeschichtlichen Entwicklung des ‚muscadin‘ in den 1790er-Jahren ausführlich Anette Höfer: [Art.] Petits-maîtres, Muscadins, Incroyables, Merveilleuses, in: Rolf Reichhardt/Hans-Jürgen Lüsebrink (Hrsg.): Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820, Heft 16–18, München 1996, S. 207–234, hier: S. 216–229. Helmuth Kiesel weist im Anschluss an Erich Mayster darauf hin, dass das lat. ‚spintria‘ jemanden bezeichnet, der mit Homosexuellen verkehrt; während sich „La Picousière“ sowohl vom franz. ‚piquer‘ (stechen) als auch von ‚la piquouse‘ (Spritze zur Verabreichung von Morphium oder Heroin) herleitet. – Vgl. Kiesel, Ernst Jüngers Marmorklippen, S. 139, Anm. 62. Mit „La Picousière“, so kann man ergänzen, sind jene Personen angesprochen, die sich einen Schuss setzen (‚se faire une piquouse‘). SW 15, S. 329.



4.3  Naturgeschichte und Gestaltordnung (Jünger und Edgar Dacqué)

233

gab es immer Orte, die wir mit Sicherheit erkannten, doch gleich daneben wuchsen wie Inseln, die aus dem Meere tauchen, neue und rätselhafte Streifen an. Um hier die rechte und wahre Topographie zu schaffen, bedurfte es unserer ganzen Kraft.“65 Der De-Realisierung des Gebietes im Bericht des kulturgeschichtlichen Erzählers entspricht hier eine Auflösung der RaumZeit-Ordnung in der Wahrnehmung des Ich-Erzählers.

4.3  Naturgeschichte und Gestaltordnung (Jünger und Edgar Dacqué) 4.3.1  Jünger und die Corona: Mutmaßungen zum Plot der Marmorklippen Die Verbindung unterschiedlicher raum-zeitlicher Ordnungen innerhalb des imaginierten kulturellen Gedächtnisses ist für den Leser nicht allein (und womöglich nicht mal in erster Linie) als fiktive Historiographie interessant. Entscheidend ist vielmehr, dass Jünger aus den einzelnen diskursiven PuzzleTeilen eine spannende Geschichte macht, die über einen Anfang, eine Mitte und ein Ende verfügt. Mit anderen Worten: Der discours funktioniert auch ohne vertiefte Einsichten in die wissensgeschichtlich nachweisbaren Herkunftsorte der Elemente der histoire. Damit ist jedoch noch nicht behauptet, dass es der (implizite) Autor ist, der für jene innerfiktionale Kohärenz sorgt, die die erzählerische Spannung der präsentierten Geschichte garantiert. Wichtige Eckpunkte der Handlung der Marmorklippen – so die im Weiteren zu verfolgende These  – sind in den Schriften des Naturphilosophen und Paläontologen Edgar Dacqué präfiguriert. Bereits hinsichtlich des Arbeiters konnten wir auf den Einfluss Dacqués hinweisen. An dieser Stelle nun geht es um weitere Zeugnisse, die eine Bekanntschaft Jüngers mit dem Wissenschaftler und Esoteriker nahelegen. Dacqués Wirkung auf namhafte Autoren der Zwischenkriegszeit wie Thomas Mann und Gottfried Benn ist gut erforscht.66 Dass Jünger bisher noch nicht im Einflussbereich von dessen naturphilosophischer Esoterik betrachtet wurde, liegt vor allem daran, dass sich keine faktischen rezeptionsgeschichtlichen Zeugnisse nachweisen lassen. Während Mann sich nicht nur für Dacqués Buch Urwelt, Sage und Menschheit (1924) einsetzt, sondern dem 65 66

Ebd., S. 305. Zu Dacqués Einfluss auf Thomas Manns Joseph und seine Brüder, vor allen Dingen auf die „Höllenfahrt“, vgl. Dierk Wolters: Zwischen Metaphysik und Politik. Thomas Manns Roman Joseph und seine Brüder in seiner Zeit, Tübingen 1998, S. 94–103; vgl. zu Benns Auseinandersetzung mit Dacqué Hahn, Gottfried Benn und das Wissen der Moderne, Bd. 2, S. 593–657.

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4  Kultur- und naturgeschichtsphilosophische Fiktionen

Autor im Doktor Faustus (1947) auch ein literarisches, freilich ironisches Denkmal setzt,67 rekurriert Benns lyrisches und essayistisches Werk an zahlreichen Stellen auf Überlegungen Dacqués. Benn spannt dessen Begriffe zum einen in das poetische Netz assoziativer Sprachbildlichkeit ein und bedient sich zum anderen auch argumentativ bei Dacqué.68 Vergleichbar philologisch positiv nachweisbare Anleihen sucht man bei Jünger vergebens. Dennoch gibt es einige Indizien, die dafür sprechen, dass Jünger mit Dacqués Denken vertraut ist. Diesen wollen wir im Folgenden etwas ausführlicher nachgehen. Edgar Dacqué, heute als besonders idealistischer Vertreter der „idealistischen Morphologie“69 in den Annalen verzeichnet, hat in den letzten Jahren einige Aufmerksamkeit erfahren.70 Dass ihn die Disziplingeschichtsschreibung der Paläontologie mit eher spitzen Fingern behandelt, während eine geistesgeschichtlich orientierte Wissensforschung gegenüber dessen epistemischen Volten eher aufgeschlossen ist, bildet das Verhältnis naturwissenschaftlicher und literarisch-künstlerischer Kräfte auf der geschichtlichen Ebene ziemlich genau ab. Während also die paläontologische Fachöffentlichkeit die Thesen Dacqués zur Menschwerdung seit seinem Buch Urwelt, Sage und Menschheit (1924) größtenteils ablehnt, zeigen sich die Intellektuellen durchaus interessiert. Doch worum geht es genau? – Zunächst einmal, so könnte man sagen, handelt es sich um eine besondere Spielform des AntiDarwinismus. Die Evolutionstheorie Darwins lehnte Dacqué zwar bereits seit der Jahrhundertwende ab, jedoch erst mit Urwelt, Sage und Menschheit ver67 Im Doktor Faustus charakterisiert der Erzähler Dr. Egon Unruhe als „einen philosophischen Paläozoologen, der in seinen Schriften die Tiefenschichten- und Versteinerungskunde auf sehr geistvolle Weise mit der Rechtfertigung und wissenschaftlichen Verifizierung uralten Sagengutes verband, so daß in seiner Lehre, einem sublimierten Darwinismus, wenn man will, alles wahr und wirklich wurde, woran im Ernst zu glauben eine entwickelte Menschheit längst aufgehört hatte.“ Thomas Mann: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde, Große kommen. Frankfurter Ausgabe, hrsg. v. Heinrich Detering u.  a., Bd. 10.1, hrsg. u. textkritisch durchgesehen v. Ruprecht Wimmer, Frankfurt/M. 2007, S. 527. 68 Vgl. Hahn, Gottfried Benn und das Wissen der Moderne, Bd. 2, S. 620. Einen ausgeprägten Dacqué-Bezug attestiert Hahn den Essays Das Urgesicht (1929), Zur Problematik des Dichterischen (1930) und Der Aufbau der Persönlichkeit (1930) sowie dem Oratorium Das Unaufhörliche (1931). Dacqué-Allusionen macht Hahn in weiteren Texten aus, u.  a. in den Gedichten Die hyperämischen Reiche und Immer schweigender – (1929). 69 Vgl. Meister, Metaphysische Konsequenz – die idealistische Morphologie Edgar Dacqués. 70 Dieses Interesse zeigt sich sowohl von literaturwissenschaftlicher Seite – hier besonders im Umfeld der Forschung zu Gottfried Benn – als auch seitens der Disziplingeschichtsschreibung der Paläontologie und der allgemeinen Geistesgeschichte. – Vgl. von literaturwissenschaftlicher Seite, unter Auswertung älterer Stellungnahmen zur Verbindung Dacqué – Benn: Hahn, Gottfried Benn und das Wissen der Moderne, Bd. 2, S. 566–569, S. 593–657, S. 684– 687, S. 703–705; s. auch Gess, Primitives Denken, S. 352–355. Vgl. zur fachpaläontologischen Sicht: Meister, Metaphysische Konsequenz – die idealistische Morphologie Edgar Dacqués; sowie zur geistesgeschichtlichen Einordnung: Mildenberger, Drachen und Dämonen.



4.3  Naturgeschichte und Gestaltordnung (Jünger und Edgar Dacqué)

235

lässt er den von der institutionalisierten Paläontologie akzeptierten Weg der Darwin-Kritik.71 Denn mit diesem Buch eröffnet Dacqué den Reigen jener Publikationen, in denen er eine zunächst mythische Naturphilosophie entwirft, die er später dann  – in den uns an dieser Stelle besonders interessierenden 1930er-Jahren – Schritt für Schritt hin zu einer christologischen Erlösungsgeschichte und ganz eigenen Geschichtsphilosophie ausbauen wird. Bereits in seinem esoterischen Erstling von 1924 findet sich jene Fokussierung empirischer Befunde durch den Filter eines „zu lebendiger Anschauung gelangten Einfühlen[s]“72, die auch die späteren Werke bestimmt und sich heute als „[i]dealistische Typologie“73 bezeichnen lässt. Der Mensch, so Dacqués Hauptthese, sei nicht das Produkt der Evolution; stattdessen müsse davon ausgegangen werden, dass es eine Art anthropologische Urform gibt, die in unterschiedlichen paläobiologisch konkreten Realisierungen immer wieder neu und anders gestaltet wurde (und noch heute gestaltet wird): „[D]er Mensch stellt ein eigenes Urbild, eine eigene Urform der schaffenden organischen Natur dar, und dieses ist seit uralten Zeiten in einzelne Spezialmenschenformen abgewandelt dagewesen.“74 Diese „Spezialmenschenformen“ prägen die Erdzeitalter durch ihr je typisches Aussehen. Während die Urform selbst – gut platonisch – als Struktur firmiert und nur intuitiv ‚geschaut‘, jedoch nicht gesehen werden kann,75 gibt es eine ganze Menge tatsächlich anzunehmender tierischer Menschenformen, die sich seit dem Perm, dem jüngsten Abschnitt des Paläozoikums (Erdaltzeit), herausgebildet haben. Diese Menschenformen tragen Dacqué zufolge sog. „Zeitsignaturen“. Wir haben den Einfluss der Zeitsignaturen-Lehre auf Jüngers Arbeiter bereits diskutiert. Erinnern wir uns: Unter „Zeitsignaturen“ versteht Dacqué 71

Vgl. zum wissenschaftlichen Werdegang Dacqués ausführlich Hahn, Gottfried Benn und das Wissen der Moderne, Bd. 2, Göttingen 2011, S. 594–601; Meister, Metaphysische Konsequenz – die idealistische Morphologie Edgar Dacqués, hier bes.: S. 201–204; Rieppel, Phylogenetic Systematics, S. 230  f.; vgl. auch die Selbstauskunft Dacqué, Werk und Wirkung. 72 Dacqué, Urwelt, Sage und Menschheit, S. XI. 73 Vgl. dazu Meister, Metaphysische Konsequenz  – die idealistische Morphologie Edgar Dacqués, S. 206–209. 74 Edgar Dacqué: Das verlorene Paradies. Zur Seelengeschichte des Menschen, München u. Berlin 1938a. S. 30. 75 Die Hinwendung zu Platon ist nicht nur mit einer Abkehr von Darwin, sondern gleichfalls auch von der zeitgenössischen Psychologie und der aristotelischen Empirie verbunden. Das „Urbild“, so Dacqué, meint nicht den „einfachsten anschaulichen Sinneseindruck, wie ihn die eidetische Psychologie bei ihren Untersuchungen feststellt, sondern stets das metaphysische, das ‚platonische‘ Urbild, das auch keine Abstraktion, sondern innere Lebenspotenz ist. Es ist platonische Wissenschaft als Gegenstück zur aristotelischen. Nicht als ob die aristotelische äußere Empirie zu entbehren sei; aber das bloße Aneinanderfügen von Stadien und das Zusammensetzen von Dingen und Erscheinungen aus ihren Teilen ist nicht das Wesen und führt nicht zur Erkenntnis des Urbildes, der Idee.“ Ebd., S. 30  f.

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4  Kultur- und naturgeschichtsphilosophische Fiktionen

formale Leitstile, die mehr oder weniger alle Lebewesen eines bestimmten erdgeschichtlichen Zeitabschnittes prägen.76 Auch die erste Hypostasierung der ‚Urform‘ Mensch gehorchte einem bestimmten Leitstil. Legt man also, wie Dacqué vorschlägt, dem „permischen hypothetischen Säugetiertypus amphibische Merkmale“ bei  – „weil damals die amphibische Gestalt und Lebensweise eine Zeitsignatur war“77 –, so muss es als möglich angesehen werden, „daß sich unter geeigneten Bedingungen“ einzelne menschliche „Artzweige ehedem auch mit Wassertiereigenschaften darstellten und daß deren Lebensweise eben darauf eingestellt war.“78 Der Phantasie faunisch-anthropomorpher Formen sind kaum Grenzen gesetzt, zumal Dacqué – und das ist das Hauptärgernis der zünftigen Paläontologie – Mythen, Sagen und Märchen als quasi urkundliche Belege für gewisse zeitsignaturtypische Ausprägungen der menschlichen Gestalt liest. Besondere Bedeutung erlangt dabei ein bestimmtes Körperorgan, das sog. „Scheitelauge“, auch „Stirnauge“ oder „Parietalorgan“79 (s. Abb. 6) genannt. Von der „Devonzeit“ über die „Steinkohlenzeit“ bis hin zur „Triaszeit“80, in der es beginnt, sich „rudimentär“ zu entwickeln, steht dieses ‚Auge‘ für eine besondere Wahrnehmungsform, die sich als Kern von Dacqués kulturkritischer, gleichwohl erlösungsreligiös konturierter Geschichtsphilosophie der 1930er-Jahre entpuppen wird: „Natursichtigkeit“. Darunter versteht Dacqué jenen sich mit der Dämonie nahe berührenden seelisch-geistigen Zustand, vermöge dessen ein lebendes Wesen – nicht nur der Mensch – einer Kenntnis, eines Schauens, Fühlens oder Ahnens der in, zwischen und über den Dingen und Wesen der physischen Natur waltenden und webenden Bewegungen teilhaftig ist.81

Wesen, die sich als ‚natursichtig‘ in diesem Sinne bezeichnen lassen, haben die Fähigkeit, „telepathisch oder stark hypnotisch oder teleplastisch zu wirken […] [,] mit altertümlichen Worten ausgedrückt: zu zaubern und zu bannen.“82 Zudem geht es sowohl um einen epistemischen Vorsprung, über den eine ‚natursichtige‘ Kreatur verfügt, nämlich um „das Sehen der in den Dingen lebenden Wirklichkeit“ wie auch um den „innige[n] Zusammenhang mit dieser Wirklichkeit“83. Spuren dieser Denkfigur finden sich nicht in Jüngers Corona-Publikationen, deren Umfeld wir uns gleich etwas genauer 76

Vgl. zu Dacqués Zeitsignaturenlehre: Meister, Metaphysische Konsequenz – die idealistische Morphologie Edgar Dacqués, S. 212–216. 77 Dacqué, Urwelt, Sage und Menschheit, S. 68. 78 Ebd., S. 36. 79 Ebd., S. 48. 80 Ebd. 81 Ebd., S. 232. 82 Ebd. 83 Ebd., 234  f.



4.3  Naturgeschichte und Gestaltordnung (Jünger und Edgar Dacqué)

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anschauen wollen, sondern den Kaukasischen Aufzeichnungen aus den frühen 1940er-Jahren. In einem Eintrag vom 30. 11. 1942 heißt es in deutlicher Anspielung auf Dacqué: Das dritte Auge, das Scheitelauge, dessen Spuren die Gelehrten gefunden zu haben glauben, war vielleicht das Auge für die Urbilder; man sah damals die Länder, Tiere, Quellen und Bäume als Gestalten, als Götter und Dämonen, wie man sie heute als Flächen und Körper sieht.84

Die stirnäugige „Natursichtigkeit als ältester Seelenzustand“85 ist bei Dacqué durchweg positiv konnotiert. Ihr gegenüber positioniert ist das „Großhirn“, „der Sitz des Intellektes, mit dessen Erwerbung und Entfaltung mehr und mehr das Dämonisch-Natursichtige abhanden kam“86. Hinter der (paläo-) biologisch-entwicklungsgeschichtlichen Opposition steckt freilich eine geistesgeschichtliche  – oder wie Dacqué sagen würde: seelengeschichtliche  – Spannung, nämlich die von unvermittelter und reflexiver Naturerkenntnis. Unschwer zu erkennen sind hier im Hintergrund die typischen Argumentationslinien der für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts in unterschiedlichen Spielarten so charakteristischen Rationalismus-Schelte: In der Verbindung von Aufklärung-Kritik und Positivismus-Vorwurf schrumpfen das 17. bis 19. Jahrhundert zu Kontrastfolien alternativer Entwürfe zusammen; Descartes und Haeckel gelten hier als antivitalistische Brüder im Geiste. Der Mensch degeneriert zum „Bewußtseinsindividuum“87. Neu ist allerdings die seit den 1920er-Jahren fortschreitende Biologisierung, oder mit Blick auf die wachsende Bedeutung des Großhirns genauer gesagt: Zerebralisierung dieses Diskurses.88 Dacqué ist daran nicht unbeteiligt. In seiner populärwissenschaftlichen Schrift Aus der Urgeschichte der Erde und des Lebens (1936) widmet er der „Ursinnessphäre“ ein eigens Kapitel in dem er ganz selbstverständlich von „ursprünglichen Organen vorgroßhirnlicher Zeit“89 spricht, um den Gegensatz von intellektualer und natursichtiger Erkenntnis „zeitlich-stam-

84 SW 2, S. 430. Vgl. auch SW 19, S. 67, wo Jünger das Synonym „Stirnauge“ nutzt. 85 Dacqué, Urwelt, Sage und Menschheit, S. 232. 86 Ebd., S. 240. 87 Ebd. 88 Vgl. zur argumentativen Rolle des Großhirns bei Gottfried Benn und Helmuth Plessner Marcus Hahn: Die Stellung des Gehirns im Leben. Gottfried Benn und die philosophische Anthropologie Max Schelers, in: Bröcking u.  a. (Hrsg.), Disziplinen des Lebens, S. 87–110. Hahn erwähnt auch Edgar Dacqué, allerdings ohne den Unterschied von Benns Unterteilung in Stamm- und Großhirn im Vergleich zu Dacqués Differenzierung in Körperorgan (‚Scheitel­ auge‘) und Großhirn zu diskutieren. Vgl. Hahn, Gottfried Benn und das Wissen der Moderne, Bd. 2, S. 673–707. 89 Edgar Dacqué: Aus der Urgeschichte der Erde und des Lebens. Tatsachen und Gedanken, München u. Berlin 1936a, S. 116.

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mesgeschichtlich“90 zu untermauern.91 Die biologistische Fixierung unterschiedlicher Erkenntnismodi basiert zwar auf der Annahme, das menschliche (Groß-)Hirn sei das Produkt der Stammesgeschichte des Menschen; jedoch bedeutet dies keineswegs eine Irreversibilität der Entwicklung. Wie lässt sich also die ‚Natursichtigkeit‘ zurückerobern? – Zum einen besteht die Möglichkeit der Annahme, vormalige natursichtige Erkenntnisse ließen sich in einem stammesgeschichtlich späteren, intellektual dominierten Stadium abrufen. Grundlage dafür ist die von Richard Semon (1859–1918) vertretene Engramm- oder Mnem-Theorie, die davon ausgeht, dass erworbene Gedanken durch biologische Weitervererbung über einen ungeheuer langen Zeitraum tradiert und aktualisiert werden können.92 Zum anderen – und dieser Aspekt bestimmt Dacqués Denken bis zu seinen letzten Publikationen der frühen 1940er-Jahre – kann der natursichtige Zustand wiedererlangt werden. Hierbei geht es nicht um eine Aneignung eines Zurückliegenden, sondern um die prospektive Hoffnung einer vollumfänglichen Restitution reflexionsloser Naturerkenntnis. Was letztere Möglichkeit betrifft, so wird ‚Natursichtigkeit‘ ab den frühen 1930er-Jahren bei Dacqué häufig durch ‚Urbildlichkeit‘ ersetzt; auch Jünger spricht vom „Scheitelauge“ als dem „Auge für die Urbilder“93. Strukturell bleibt damit die Opposition von Intellektualismus und Intuitionismus erhalten; inhaltlich jedoch gibt es einige Veränderungen. Bezugspunkt der ‚Urbildlichkeit‘ oder „Urgestalt“94 ist nämlich nicht mehr nur ein erdgeschichtlich frühes Zeitalter; häufig trifft man stattdessen auf das „Paradies“, von dem sich der Mensch in seiner Intellektualität entfernt habe.95 Die erdgeschichtliche Zeit wird in der Freilegung einer urbildhaften Welt durch eine gänz90 91

Ebd., S. 114. Rückblickend schätzt Dacqué das Kapitel zur „Ursinnessphäre“ als besonders wichtig ein, weil es „die physischen Grundlagen aufzeigt, auf denen so merkwürdige sagenhafte Zustände, wie die von stirn- und scheiteläugigen Wesen, zu beruhen scheinen“. (Dacqué, Werk und Wirkung, S. 40) Der argumentative Wert dieser Ausführungen besteht der Sache nach also darin, zwischen positivem Befund, naturphilosophischer Auslegung und mythischer Beglaubigung zu vermitteln. 92 Dacqué bezieht sich augenscheinlich auf Semons Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens (1904), wenn er an das „Gesetz erinnert, daß schwache Abbilder des Vergangenen sich in späteren Entwicklungsläufen des Organischen wiederholen“ (Dacqué, Urwelt, Sage und Menschheit, S. 237) können. Vgl. zu Semon Jürg Schatzmann: Richard Semon (1859–1918) und seine Mnemtheorie, Zürich 1968; vgl. auch Bowler, The Eclipse of Darwinism, S. 84  f. Bereits Wilhelm Bölsche weist auf die Grundierung der Argumentation des „geistvollen Münchener Fachpaläontologen Dacqué“ mit „Semons Mneme-Idee“ hin. – Vgl. Wilhelm Bölsche: Drachen. Sage und Naturwissenschaft. Eine volkstümliche Darstellung, Stuttgart 1929, S. 46  f., Zitate: S. 46. 93 SW 2, S. 430. 94 Eine der letzten Buchpublikationen Dacqués trägt den Titel Die Urgestalt. Der Schöpfungsmythos neu erzählt (1940). 95 Vgl. Dacqué, Das verlorene Paradies.



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lich mythische abgelöst. Biblische Zeit („die Schilderungen des mosaischen Mythus“) und geologische Zeit („das zeitliche Werden der diesseitig-physischen Welt“) unterliegen demnach unterschiedlichen Ordnungsmustern, wie es Dacqué in dem Corona-Aufsatz Religiöser Mythus und Abstammungslehre (1933) zuspitzt. Hinsichtlich der urbildhaften Restitutionsabsichten handelt es sich, so Dacqué, „durchaus um die Erschaffung der Welt vor dem Fall des Paradieses; es handelt sich durchaus um den Aufbau einer metaphysischen, besser gesagt: urbildhaften Welt; einer vorzeitlichen – nicht im Sinne von geologischer Vorzeit; einer vorweltlichen – nicht im Sinne der geologischen Vorwelt.“96 Entscheidend ist: Indem der argumentative Bezug auf paläontologisch-positive, geologisch-faktisch nachweisbare Befunde nachlässt, steigt der epistemische Wert des Urbildes gegenüber der paläobiologisch-erdgeschichtlich indizierten Natursichtigkeit. Das in Aussicht gestellte Schauen des Urbildes firmiert nicht mehr nur als Erkenntnis- und Teilhabemodus; immer deutlicher trägt es Züge einer Erlösungshoffnung. So verwundert es denn auch nicht, wenn Dacqué ältere Arbeiten umarbeitet und auf diesen Aspekt hin fokussiert. Das Ergebnis erscheint dann unter dem Titel Natur und Erlösung (1933) in der Reihe der Schriften der Corona. Wir hatten bereits versucht, den Einfluss Dacqués auf Jünger einsichtig zu machen; mit Blick auf den gemeinsamen Publikationsort – die Corona – wollen wir an dieser Stelle nun einigen weiteren Spuren nachgehen. Zunächst ein paar Stichworte zum Profil der Zeitschrift Corona. Die Corona erscheint als Zweimonatsschrift zwischen 1930 und 1943 unter der Herausgeberschaft von Martin Bodmer und Herbert Steiner. Während die einzelnen Ausgaben der Schriften der Corona monothematisch orientiert sind und literaturgeschichtliche Abhandlungen, Erinnerungen und Editionen im Zeichen eines konservativen Neuhumanismus und Neuklassizismus liefern,97 trägt die Corona selbst alle Merkmale einer Literaturzeitschrift: Neben Auszügen aus aktuellen belletristischen Veröffentlichungen, werbewirksamen Vorabdrucken, 96 97

Edgar Dacqué: Religiöser Mythus und Abstammungslehre, in: Ders.: Natur und Erlösung. Schriften der Corona IV, München/Berlin u. Zürich 1933, S. 109–136, hier: S. 115. Im gleichen Jahr, in dem Dacqués Natur und Erlösung verlegt wird, erscheint in der Schriftenreihe auch Thomas Manns Goethes Laufbahn als Schriftsteller. Bereits ein Jahr zuvor wurde Walther Brechts Rede über Goethe abgedruckt. Neben Goethe, an dem auch Dacqué nicht vorbeikommt – er steuert im Rahmen von Natur und Erlösung den Aufsatz Goethes Wesen und das Urbild im Dasein bei –, geht es in der Zeitschrift u.  a. um französisch-deutschen Kulturtransfer, so in Rudolf Alexander Schröders Racine und die deutsche Humanität (1932) oder in der Übersetzung von Voltaires Gedichten (Hermann Burte: Gedichte Voltaires in das Deutsche übertragen, 1934); um die Bekanntmachung mit der außereuropäischen Kultur- und Glaubensgeschichte (Heinrich Zimmer: Indische Sphären, 1935) sowie einen intimen, meist hagiografisch gefärbten Blick auf deutsche Autoren (Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe: Erinnerungen an Rainer Maria Rilke, 1937); doch auch Brief-Editionen aus dem 19.  Jahrhundert wird ein Platz eingeräumt, so besorgt Jonas Fränkel eine Corona-Ausgabe mit Gottfried Kellers Briefe[n] an Vieweg (1938).

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Zeitgeistdiagnosen und einer Auswahl von Arbeiten älterer, in kanonischer Hinsicht als maßgeblich erachteter Autoren (die dann auch literaturgeschichtlich kommentiert werden, wie etwa Hugo von Hofmannsthal), findet der Leser auch immer wieder Abhandlungen naturphilosophischen Inhalts. Im Gegensatz zu dem recht weiten literarischen und literaturgeschichtlichen Horizont ist die Zeitschrift mit Blick auf ihr naturphilosophisches Profil nicht besonders breit aufgestellt; im Grunde sind alle diesbezüglichen Arbeiten mit einem Namen verbunden: Edgar Dacqué. Zwischen 1932 und 1940 veröffentlicht dieser im Umfeld der Corona zahlreiche Aufsätze, die seine endgültige Wende von der naturwissenschaftlich orientierten Paläontologie zur christlichen Naturphilosophie dokumentieren. Während Dacqués Biograph Manfred Schröder dessen Arbeiten für die Corona als Abkehr von der naturphilosophischen Spekulation und Hinwendung zur christlichen Ethik deutet,98 betont Dacqué selbst vor allen Dingen sein Bemühen um eine Synthese von naturwissenschaftlicher und naturphilosophischer Erkenntnis, wobei er gleichfalls zwischen philosophischem und theologischem Engagement unterschieden wissen will: Denn „das Metaphysische als philosophischer Erkenntnisgegenstand ist nicht der ganze Raum, ist nicht das Reich Gottes […]“.99 Seit seinem Buch Leben als Symbol (1928), so Daqués Selbsteinschätzung, beginnen sich nun der rein naturwissenschaftliche Stoff und die in meinen Fachbüchern über zwei Jahrzehnte lang durchgearbeiteten entwicklungsgeschichtlichen Fragen mit einzubauen in die metaphysische Sicht, und von da ab verschmelzen beide Grundpfeiler meiner Forschung und Lebensarbeit mehr und mehr zu einer höheren Einheit […]. Dieser Vorgang ist teilweise in Aufsätzen der Zweimonatsschrift ‚Corona‘ vollzogen.100

Der Corona kommt demnach ein wichtiger Stellenwert im werkgeschichtlich signifikanten Umorientierungsprozess Dacqués zu. Dass wir diesen Prozess 98

„Der ethisch-richterliche Ernst des religiösen Weltbilds überschattet mehr und mehr die mythische Naturanschauung und vertieft sie schließlich zu der christologischen Metaphysik seiner späteren Werke […]. Ihren Niederschlag fand diese Entwicklung von 1930 ab in den Aufsätzen der Zeitschrift ‚Corona‘ […]“. – Manfred Schröter: Im Memoriam Edgar Dacqué. Eine Einführung in seine Natur- und Religionsphilosophie, in: Dacqué, Werk und Wirkung, S. 7–29, hier: S. 22, s. dort auch die Aufzählung der Corona-Beiträge Daqués. Die erste Publikation Dacqués, die sich in der Corona nachweisen lässt, stammt allerdings erst aus dem Jahr 1932 (und nicht wie Schröter meint von 1930). 99 Dacqué, Werk und Wirkung, S. 49. Über die Zäsuren im Werk Dacqués herrscht bis heute keine Einigkeit. Eine fachgeschichtliche Rezeption des Werks neigt dazu, seine „idealistischen und holistischen Erklärungsansätze der Stammesgeschichte in den frühen Arbeiten von mystifizierenden Erläuterungen vor allem in den späteren Werken“ (Meister, Metaphysische Konsequenz – die idealistische Morphologie Edgar Dacqués, S. 200) zu trennen. 100 Dacqué, Werk und Wirkung, S. 49.



4.3  Naturgeschichte und Gestaltordnung (Jünger und Edgar Dacqué)

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an dieser Stelle so ausführlich beschrieben haben, hat zwei einfache Gründe, die beide aufs Engste mit Ernst Jünger verbunden sind. Zum einen ist die Corona jene Zeitschrift, in der Jünger den Wandel vom Kriegsschriftsteller zum philosophierenden Dichter  – nun auch für eine breite Öffentlichkeit sichtbar – vollzieht; zum anderen verweist der Plot der Marmorklippen auf Problemlagen, die Jünger in Dacqués Corona-Aufsätzen einsehen konnte. Freilich, von einem Nachweis in dem Sinne, dass Jünger Dacqué gelesen oder von ihm abgeschrieben habe, kann hier nicht die Rede sein; gleichwohl sind die Übereinstimmungen verblüffend. Die Veröffentlichung von Blätter und Steine (1934) bei der Hanseatischen Verlagsanstalt markiert den ersten Schritt Jüngers in die von den Nationalsozialisten kontrollierte Öffentlichkeit. Zwar knüpft er mit dem Wiederabdruck von Feuer und Bewegung sowie Die totale Mobilmachung an den Ton der militärtechnisch inspirierten, gestaltdiagnostisch ausgerichteten Moderneanalysen der Vorgängerjahre an, jedoch erscheint mit dem Sizilischen Brief an den Mann im Mond  – dies gleichfalls keine Erstveröffentlichung101  – auch einer jener Texte, die den magischen Realismus und die ‚stereoskopische Schau‘ des Abenteuerlichen Herzens I aufnehmen. Auch das an Johann Gottfried Herders, mehr noch an Johann Georg Hamanns Sprachmetaphysik102 angelehnte Lob der Vokale steht in dieser magischen Tradition. Als Erstveröffentlichung ist der Text 1934 in der Corona abgedruckt – ein denkwürdiger Publikationsort.103 Erschienen Jüngers Kriegsschriften der 1920er-Jahre nämlich noch vorwiegend bei Militärverlagen, etwa bei E.S. Mittler und Sohn, so nimmt er mit den Corona-Veröffentlichungen ein dezidiert bürgerliches und literarisch interessiertes Publikum in den Blick.104 Die Corona – sowohl die Zweimonatsschrift für Dichtung und Forschung als auch die Schriften der Corona – erscheint bei R. Oldenbourg, der als „Verlag der Corona Zürich“ ausgewiesen wird, aber auch in München und Berlin Standbeine hat.105 Die Hinwendung zum poli­ tisch neutralen Zürcher Verlagsort und zu anderen Publikumskreisen unter101 Der Sizilische Brief an den Mann im Mond eröffnet die von Franz Schauwecker für den Frundsberg-Verlag herausgegebene Anthologie Mondstein (1930). 102 Vgl. zu Jüngers Hamann-Bezug Bernhard Gajek: Ernst Jünger und Johann Georg Hamann, in: Études Germaniques 51/4 (1996), S. 677–692. 103 Vgl. Ernst Jünger: Lob der Vokale. Dem Genius der Sprache, in: Corona. Zweimonatsschrift für Dichtung und Forschung IV/6 (1934b), S. 601–633. Der Untertitel „Dem Genius der Sprache“ (Ebd., S. 601) findet sich lediglich in der Corona-Version. 104 Das Abenteuerliche Herz (1929) – ein Text, dem bekanntlich zumindest in Teilen eine Abkehr von den Tendenzen des „soldatischen Nationalismus“ (Prümm) nicht abgesprochen werden kann – erscheint noch beim Militär-Verlag Frundsberg, der auch mehrere Auflagen von Feuer und Blut (ab 1926) zu verantworten hat. 105 Vgl. zur Corona ausführlich: Marlene Rall: Die Zweimonatsschrift Corona. Versuch einer Monographie, Tübingen 1972; Bernhard Zeller/Werner Volke (Hrsg.): Buchkunst und Dichtung. Zur Geschichte der Bremer Presse und der Corona, Ausstellungskatalog, Passau 1966.

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streicht sowohl die autorschaftlichen Veränderungen Jüngers als auch dessen Abkehr vom politischen Zeitgeist im Deutschland des Jahres eins nach der ‚Machtergreifung‘ der Nationalsozialisten. Auch thematisch bestätigt sich die neue apolitische Tendenz: Im Vorwort zu Blätter und Steine annonciert Jünger Lob der Vokale als einen Beitrag, der „einige Geheimnisse der Sprache“ eröffne, „die sicher bereits von manchem geahnt, aber noch von niemandem beschrieben sind.“106 Wir hatten bereits mit Blick auf eine Positionierung des ‚Ur‘ im ideengeschichtlichen Diskurs des frühen 20. Jahrhundert diese Schrift diskutiert.107 Rufen wir uns die Codierung des Vokals ‚U‘ in Erinnerung: Im U begegnen sich die Geheimnisse der Zeugung und des Todes; es steht unterhalb der farbigen und mannigfaltigen Welt. Sein Reich umschließt die Gründe der Gesteins- und Meereswelten, der uralten Kulte, der unbekannten Geschlechterfolgen und die Schwerkraft unsichtbarer Gestirne, die aus unermeßlicher Entfernung wirkt. Das U ist der Laut des mehr als logischen Grundes, der Wurzel, des Ursprungs und der feierlichen Dunkelheit. Voll tiefer Geschlossenheit baut es sich, nicht ring- oder kreisförmig wie das I, sondern in Kugel- oder Würfelformen in die Sprache ein.108

Damit verbunden ist bei Jünger jene Entzeitlichung des Urgeschichtlichen zur (anthropologischen) Universalie, die ein schlechthin Primäres bezeichnet. Eben jene Urbildlichkeit hat auch Dacqué im Sinn, wenn er von der Restitution der urbildhaften Welt jenseits geologischer Zeiträume spricht. Beide wenden sich gegen den chronologischen Entwicklungsimpuls des Urgeschichtlichen, um die Geltung der Zeitlosigkeit des Urbildhaften im Vergleich zu den in Geologie und Paläobiologie veranschlagten Zeiträumen zu behaupten.109 Wir werden jene Urbildhaftigkeit, die auch in dem von den Brüdern vertretenen Wissenschaftsideal in den Marmorklippen ihre Spuren hinterlassen hat, genauer betrachten;110 an dieser Stelle kommt es zunächst darauf an, die 106 Jünger, Blätter und Steine, Hamburg 1934, S. 9. 107 Vgl. Kap. 1.2.1 108 Jünger, Blätter und Steine, S. 81  f. 109 Dacqué geht es um den – bereits herangezogenen – „Aufbau einer metaphysischen, besser gesagt: urbildhaften Welt; einer vorzeitlichen  – nicht im Sinne von geologischer Vorzeit; einer vorweltlichen – nicht im Sinne der geologischen Vorwelt.“ – Dacqué, Religiöser Mythus und Abstammungslehre, S. 115. Bei Jünger heißt es in einem – gleichfalls bereits gewürdigten – Eintrag aus Gärten und Straßen (1942) aus dem Jahr 1940 vergleichbar entwicklungsskeptisch: „Das ist der Sinn der Urgeschichte überhaupt: das Leben in seiner zeitlosen Bedeutung darzustellen, während es durch die Geschichte im zeitlichen Ablauf geschildert wird. Urgeschichte ist daher immer die Geschichte, die uns am nächsten liegt, Geschichte des Menschen an sich.“ – SW 2, S. 94. 110 Vgl. dazu Kap. 4.3.2.



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Verbindung von Dacqué und Jünger über den gemeinsamen Publikationsort zu erschließen. Neben dem Lob der Vokale veröffentlicht Jünger noch drei weitere, für die Entwicklung seiner Autorschaft maßgebliche Texte in der Corona. Teile seines ersten fiktionalen, wenn auch stark autobiographisch gefärbten Romans Afrikanische Spiele erscheinen 1936.111 Zwei Jahre später dann, im Umfeld der zweiten Fassung des Abenteuerlichen Herzens (1938), bringt die Zeitschrift eine Auswahl Aus den Capriccios (Der Hippopotamus).112 Den Beginn der Marmor-Klippen – in der ersten Fassung werden die beiden Substantive noch durch einen Bindestrich zusammengehalten – gibt es dann im dritten Heft der Corona des Jahres 1939 zu lesen.113 Jünger, der seine neuen autorschaftlichen Maßstäbe im veränderten Publikationsumfeld in illustrer Gesellschaft erprobt,114 ist, so lässt sich mit guten Gründen annehmen, über das thematische Spektrum der in der Corona veröffentlichten Beiträge bestens unterrichtet. Allein wenn man die Transformation seiner Führungspoetik von den konservativ-revolutionären 1920er- bis in die konservativ-kontemplativen 1930er-Jahre betrachtet, lässt sich annehmen, dass er das neue Umfeld, in dem sein autorschaftlicher Selbstentwurf Konturen gewinnen soll, genau registriert. Aus diesem Grund ist es auch nicht unwahrscheinlich, dass er mit dem Denken des Corona-Autoren Edgar Dacqué wenn nicht vertraut, so doch zumindest bekannt ist. Dieser Umstand berechtigt uns dazu, einmal genauer zu schauen, welche Elemente von Dacqués Denken in den Plot und die Gedankenwelt der Marmorklippen eingeflossen sind. Denn dass es hier augenscheinlich Übereinstimmungen gibt, wird deutlich, wenn man einen Blick auf die Konfliktlage des Romans wirft. Der Ich-Erzähler beschreibt den Untergang einer Hochkultur durch eine schrittweise Primitivierung der rechtlichen, religiösen, (land-)wirtschaftlichen und sozialen Ordnung. Das Vorbild dieser Regression liefert die Campagna, jener Raum, der innerhalb der fiktiven Marmorklippen-Welt der Marina nebengeordnet ist (obwohl er in kulturgeschichtlicher Perspektive alle Züge eines früheren Entwicklungsstadiums aufweist). Jedoch geht die Primitivierung nicht maßgeblich von Kräften der Campagna aus; erst durch die Instru111 Vgl. Ernst Jünger: Afrikanische Spiele, in: Corona. Zweimonatsschrift für Dichtung und Forschung VI/4 (1936), S. 375–405. 112 Vgl. Ernst Jünger: Aus den Capriccios (Der Hippopotamus), in: Corona. Zweimonatsschrift für Dichtung und Forschung VIII/1 (1938), S. 59–75. Ein Sonderdruck dieses Corona-Beitrages, wahrscheinlich ein Autorenexemplar, befindet sich in Jüngers Wilflinger Bibliothek (DLA-Signatur: WJB34.05/22). Für den Hinweis danke ich Niklas Dechert. 113 Vgl. Ernst Jünger: Auf den Marmor-Klippen, in: Corona. Zweimonatsschrift für Dichtung und Forschung IX/3 (1939), S. 239–266. 114 So schätzen auch renommierte Autoren wie Thomas Mann die Corona als aufmerksamkeitsfördernden Erstpublikationsort. Teile seines ersten Joseph-Romans (Die Geschichten Jaakobs) erscheinen hier bereits 1930, drei Jahre vor der Buchveröffentlichung.

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mentalisierung frühgeschichtlicher Glaubens- und Lebensformen durch den Oberförster werden diese Teil jenes Glaubens-Transfers, der Heidnisches an die Stelle einer christlich-abendländischen Sozialordnung setzt. Zwar gibt es auch eine gleichsam natürliche Bereitschaft in Teilen der Marina-Bevölkerung, vor allen Dingen der jüngeren, die exotisch anmutenden CampagnaRituale zu imitieren und an die Stelle der formalisierten Gesetzesreligion zu setzen; doch wäre der Einfluss der Campagna auf die Marina ohne das Zutun des Oberförsters weitaus schwächer und keineswegs so verheerend. Der Oberförster selbst ist als Parteigänger der „Mauretanier“ alles andere als primitiv: Machttechnisch versiert, steuert er von seinem Hochwald aus die Aktivitäten in Sumpf, Campagna und Marina. Er wird als Teil jener rationalistisch-nihilistischen Moderne gezeichnet, denen jedes Mittel recht ist, um ihre Macht zu sichern und auszubauen. Die vom Oberförster und seinen Kreisen forcierte Reaktivierung vorgeschichtlicher Gewalt- und Glaubensbestände in der Marina erfolgt dort in einem Zustand vollentwickelter Intellektualität und rationalisierter Religiosität, weshalb der Erzähler diese Entwicklung mit Staunen begleitet. Edgar Dacqué hat in zwei Beiträgen für die Corona einen vergleichbaren Prozess der Aneignung ‚naturmagischer‘ Riten durch eine moderne Verstandeskultur geschildert, oder vielmehr: in prophetischer Rede davor gewarnt. In Der Geist im Gericht (1933) schildert er zunächst die uns bekannte Entwicklungsgeschichte menschlicher Vermögen in einer an Spenglers Organologie angelehnten Abfolge: „In der Jugend sind alle Volksseelen magisch veranlagt; dann entfaltet sich der Intellekt und löst sich immer mehr von den naturhaft lebendigen Bindungen los.“115 In der heutigen Zeit, so seine Diagnose, gäbe es keine „wahre heidnische Verbundenheit mit den Naturkräften mehr.“116 Damit ist jedoch der Wunsch, sich einen Zugang zu diesen Naturkräften zu verschaffen, keineswegs vom Tisch. Vielmehr befördere der Entzug das Begehren nach einem nicht-intellektualen Naturkontakt. Dacqué spricht in diesem Fall von „Magie“, die „in die allerfürchterlichste Dämonie hinein“ führe: Insbesondere wenn unser jetzt so wachbewußter gereifter Geist sich dieser Dinge bemächtigen könnte, so bliebe das Magische nicht mehr natürlich wie etwa bei dem natursichtigen Urmenschen, sondern würde unterworfen einer raffinierten Geistigkeit, die schlimmer und verheerender mit solcher Errungenschaft umgehen würde, als es der naiv furchtsame, stets wieder zur Unterwürfigkeit bereite Naturmensch erlebte.117

115 Edgar Dacqué: Der Geist im Gericht, in: Corona. Zweimonatsschrift für Dichtung und Forschung IV/1–2 (1933b), S. 51–71 (1), 167–195 (2), hier: S. 68. 116 Ebd., S. 69. 117 Ebd., S. 71.



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Die Rückgewinnung naturmagischer Fähigkeiten unter den Auspizien der Intellektualität bezeichnet er als „dunkle[.  .] zauberische[.  .] ‚Technik‘“, als „schlimmstes naturüberwindendes Können.“118 In den Epochen der Geschichte (1938) nimmt Dacqué die hier geschilderte ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘ im Zusammenspiel entwicklungsgeschichtlich eigentlich geschiedener Erkenntnismodi auf und warnt davor, dass in „intellektueller Erfassung die psychozentrische Zeit komme“119. Im Kern geht es um eine (psycho-)soziale Funktionalisierung naturmagischer Erkenntnisse, Riten und Bräuche, die es zu verhindern gelte. In dieser Problemkonstellation schimmern gut sichtbar die Ereignisse der Marmorklippen-Welt durch: Die natürlichen naturmagischen Ambitionen der Campagna-Welt werden durch ihre imitative Spiegelung im rituellen Haushalt der intellektualisierten Marina entwertet und als Teil eines Kulturverfalls kenntlich gemacht. In einem Eintrag vom April 1939 in Gärten und Straßen (1942) setzt sich Jünger hinsichtlich der anvisierten Marmorklippen-Geschichte das Ziel, „zu schildern, wie im Niedergang, wo sich viel dumpfe Materie häuft, der Rationalismus des entschiedenste Prinzip vertritt.“120 „[A]utochthone Kräfte“ – gemeint ist der Oberförster – nutzen diesen Rationalismus für ihre Macht-Interessen: Ziel ist eine Manipulation ‚primitiver‘ Gewaltbereitschaft und Glaubensbestände. Die Marina als Ort der Hochkultur ist durch eine „rationalisierte Religion“121 geprägt, die den heidnischen Fruchtbarkeits- und Schutzbräuchen, in denen sich die Hirten als Teil der Natur imaginieren, eigentlich entwachsen ist. In gleichem Maße, in dem die als ‚ehrhaft‘ apostrophierte und damit legitimierte Gewalt im Hirtenland durch den Einfluss des Oberförsters in blinde, ungerechtfertigte und rohe Gewalt umschlägt, verlieren auch die heidnischen Bräuche im neuen Umfeld ihr angestammtes Zentrum und muten in der Marina eigentümlich deplatziert an. Jünger entwirft die Problemlage einer Aktualisierung naturmagischen Handelns in der ‚rationalistischen‘ Moderne als machtpolitische Auseinandersetzung, nicht, wie Dacqué, als Naturphilosophie. Deshalb ist Jüngers Perspektive auch nicht die der Natur, der Gewalt angetan wird – „die Natur, auch die Natur in uns, wird seelentechnisch ergriffen und beherrscht“122, heißt es bei Dacqué –; im Mittelpunkt steht demgegenüber die Dimension der Kulturnähe oder -ferne, die sich im magischen Umgang mit der Natur erschließen lässt. Es geht Jünger um die entwicklungsgeschichtliche, oder besser gesagt: 118 Ebd., S. 172. 119 Edgar Dacqué: Epochen der Geschichte, in: Corona. Zweimonatsschrift für Dichtung und Forschung VIII/2 (1938b), S. 51–71 (1), 129–150 (2), hier: S. 145. 120 SW 2, S. 28. 121 Streim, Das Ende des Anthropozentrismus, S. 132. 122 Dacqué, Epochen der Geschichte, S. 144.

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verfallsgeschichtliche Signifikanz einer Restitution vorgeschichtlicher Glaubensbestände. Deutlich wird dies auch daran, dass Jünger im Gegensatz zu Dacqué am epistemischen Wert naturmagischer Praktiken nicht interessiert ist.123 Die Marmorklippen liefern die fiktive Beschreibung eines stattgehabten Veränderungsprozesses, der rückblickend ethnographisch erschlossen und in einen geschichtsphilosophischen Zusammenhang – Untergang einer Kultur im Spiegel ihres kulturellen Gedächtnisses – gerückt wird. Die Perspektive, von der aus Dacqué argumentiert, ist eine andere. Er schaut nicht zurück, sondern glaubt sich im Mittelpunkt einer neuen naturmagischen Bewegung innerhalb der ‚rationalistischen‘ Moderne. Seinem Selbstverständnis als naturphilosophischer Seher folgend, ist sein Ton prophetisch und mahnend. Die Ereignisse, die bei Dacqué noch ausstehen und vor denen er warnt, sind bei Jünger bereits Geschichte; sie liegen lange zurück und können in eine historiographische Ordnung gebracht werden, die den Erklärwert der einzelnen Fakten und Geschehnisse genau einschätzen kann. Auf diese Weise entsteht ein dramaturgischer Spannungsbogen – der bei Dacqué präfiguriert ist. Im Grunde übernimmt die Marmorklippen-Erzählung die hypothetische Teleologie der von Dacqué in Aussicht gestellten Abläufe im Modus der historischen Gewissheit: Was dieser als dystopisches Szenario verheißt, ist hier bereits vergangen, ist Geschichte. Diese Parallelität des strukturellen Settings wird besonders dann deutlich, wenn man sich die Rolle anschaut, die bei beiden dem Weltenbrand-Ende zukommt. Die Imagination eines Weltenbrandes am Ende der Marmorklippen-Erzählung stellt eine Deutung des Textes, die besonders das gewaltkritische Potential gewichtet wissen will, vor eine echte Herausforderung. Im Gegensatz zum 19. Kapitel etwa, das „die Rodung von Köppelsbleek“124 präsentiert und sich als Allegorie auf die Gewaltherrschaft des NS lesen lässt, affirmiert der Untergang der Marina in einem Feuermeer die Auslöschung des Kulturraumes. Der Ich-Erzähler betrachtet den Untergang von erhöhter Warte aus als „Schauspiel“125, das in seiner eindrücklichen Farbenpracht ausführlich gewürdigt wird.126 Der ästhetisierende Duktus ist jedoch nicht das Resultat einer Gewaltverherrlichung; eher geht es um so etwas wie Heilsgewissheit. Tröstend aber auch belehrend wird darauf hingewiesen, dass „nicht in unseren Werken ruht, was unvergänglich in uns lebt.“127 Aus diesem Grund ist der Untergang der alten Welt zum einen lediglich das Ende der geschichtlichen 123 Das bedeutet nicht, dass Naturerkenntnis an sich in der Marmorklippen-Welt keine Rolle spielen würde, im Gegenteil. Doch dafür sind die Brüder, der Ich-Erzähler und Otho, zuständig, die eine eigene fiktive Wissenspraxis vertreten (s. dazu Kap. 4.3.2). 124 SW 15, S. 308. 125 Ebd., S. 342. 126 Vgl. ebd., S. 341  f. 127 Ebd., S. 347.



4.3  Naturgeschichte und Gestaltordnung (Jünger und Edgar Dacqué)

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Oberflächenform, unter der ein Unzerstörbar-Unvergängliches fortlebt, zum anderen ist der große Brand als notwendige Bedingung für einen Neuanfang markiert. „So flammen ferne Welten zur Lust der Augen in der Schönheit des Unterganges auf.“128 Das „Historisch-Typische“ des präsentierten Geschehens, so kann man mit Helmut J. Gutmann sagen, kippt an dieser Stelle ins „Kosmisch-Mythische“129. Die Vorstellung eines derartigen Weltenbrandes findet sich auch bei Edgar Dacqué, und zwar als Konsequenz, die sich aus der Aktualisierung naturmagischer Kräfte unter der Herrschaft des ‚Geistes‘ ergibt.130 Der Untergang firmiert bei Dacqué als Signal für eine Neuordnung der Welt im Zeichen Christus’. Die bei Jünger angelegte, jedoch in der Katastrophen-Szene nicht konsequent evozierte kosmologische Dimension der Vernichtung ist bei Dacqué vollumfänglich ausbuchstabiert.131 Der „Gottmensch“ ist nun nah: Es wird in der äußeren Zerstörung, die selbst letzter höchster Ausdruck des in die Schöpfung eingebrochenen Zerstörergeistes war, dem sich der Mensch einst verschrieb, nun auch von innen her die Versohnung, die Versöhnung, die Verklärung kommen. Es kommt der Heiland.  […] Der dunkle chthonische Urmuttergrund ist zum Marienwesen geworden und wird künftighin die unbefleckte, vom Geist Gottes empfangende Gebärerin des reinen Menschen sein.132

Manfred Schröter hat wohl Sätze wie diese im Ohr, wenn er Dacqué auf dem Weg von der „mythische[n] Naturanschauung“ zur „christologischen Metaphysik“133 sieht. Auch wenn eine solch christologisch inspirierte Erneuerungshoffnung den Marmorklippen fremd ist, so sollte man doch nicht außer Acht lassen, dass es eine neue, gleichfalls christlich geprägte Kultur ist, die nach dem verheerenden, als reinigend inszenierten Brand an der Marina entsteht. Nimmt man die Rolle des Weltenbrandes innerhalb der Heilsteleologie 128 Ebd., S. 342. Helmuth Kiesel macht auf eine wortgleiche Entsprechung aufmerksam, die sich in den Adnoten zum ‚Arbeiter‘ (1964) findet und „Leonardos Zeichnung in Windsor“ gewidmet ist: „der Weltuntergang in großer Ordnung und Schönheit, wie eine kosmogonische Blüte, von einem fremden Stern geschaut.“ SW 8, S. 331; vgl. Kiesel, Ernst Jüngers Marmorklippen, S. 156, dort zudem auch Hinweise auf Heraklit und weitere Kommentare Jüngers. 129 Gutmann, Politische Parabel und mythisches Modell, S. 54. 130 „Es gibt eine uralte Prophetie, die schon im Heidentum, auch in dem unseres eigenen Volkes, als Weltbrand und Götterdämmerung lebte und die auch in dem noch nie ganz ausgeschöpften Buch des Johannes von der Apokalypse, der Enthüllung des messianischen Reiches vorliegt, dem ein Versinken der Menschheit in der Abtrünnigkeit und des Kosmos in Staub und Asche vorangeht.“ – Dacqué, Der Geist im Gericht, S. 194. 131 „Alles kommt in Auflösung. Die Sterne, die ‚Kräfte des Himmels‘ werden sich bewegen und aus ihren Bahnen treten; Steine werden vom Himmel hageln, die Meere werden toben, die Erdfesten sind erschüttert, der Erde Schoß bricht auf und entläßt die Feuergewalten […].“ – Dacqué, Epochen der Geschichte, S. 149. 132 Ebd., S. 150. 133 Schröter, Im Memoriam Edgar Dacqué, S. 22.

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ernst, so bedeutet das nichts anderes, als dass sein Eintritt die Bedingung für die Möglichkeit eines neuen Christentums darstellt. Das Haupt des Märtyrers Sunmyra, der von den Schergen des Oberförsters grausam ermordet worden war, übergeben der Erzähler und sein Bruder Otho jedenfalls „den Christen“: Diese „fügten“ es in den „Grundstein“ des Wiederaufbaus des „großen Dom[es] an der Marina“134 ein. Jener Wiederaufbau im Zeichen des Gedenkens an den Märtyrertod Sunmyras ist es also, der das Unvergängliche – äußerlich sichtbar – restituiert und damit für die Sinnhaftigkeit des Gewaltgeschehens einzustehen hat. Bereits hier ist erkennbar, was bei Jünger später, vor allen Dingen dann in An der Zeitmauer (1959), deutlicher werden wird: Die Integration geschichtlicher Abläufe in einen kosmologischen Betrachtungsradius.135 Gegenüber der späteren Betonung einer erdgeschichtlichen Determinationskraft, die irreversible epochale Veränderungen einleitet, ist in den Marmorklippen die Rückkehr zu einer christlich-abendländischen Kultur – der Dom an der Marina wird restauriert – jedoch prinzipiell noch möglich.

4.3.2  Jenseits des Vitalismus: Wissenschaftsfiktion und platonische Klarheit („Linnaeus“ vs. Darwin) Bei Edgar Dacqué ermöglicht der Untergang der alten Welt einen Neuanfang, der sich vor allem in einem Erkenntniszugewinn zeigt: „Es treten die reinen Urbilder des Daseins in ihre lebendig unmittelbare, nicht mehr verhüllte Wirklichkeit […]“.136 Aus dem Ende der Marina speist sich keine derartige Veränderung der epistemischen Situation. Die Dacqué’sche Urbildhaftigkeit lässt sich jedoch als Ideal in den naturwissenschaftlichen Bemühungen der 134 SW 15, S. 351. 135 Vgl. Streim, Das Ende des Anthropozentrismus, S. 117–120, der darauf hinweist, dass Jünger vom Standpunkt moderner astrophysikalischer Theorien sowohl den neuzeitlich-rationalistischen Wissensbegriff als auch die geschichtsphilosophische Fortschrittsidee ablehnt. An deren Stelle trete ein tiefenstrukturelles Denken, das an der „antigeschichtlichen und antivitalistischen Wendung, die sich an den Krisendiagnosen um 1930 zeigt“ (S. 119), partizipiere. Vgl. zum „apokalyptischen Aktivismus“ in Jüngers Werk vor 1933 Klaus Vondung: Metaphysik des apokalyptischen Aktivismus. Ernst Jüngers Geschichtsdenken vor 1933, in: Études Germaniques 51/4 (1996), S. 647–656. In welchem Maße sich die apokalyptischen Szenen am Ende der Marmorklippen als Reminiszenz an Untergangsszenarien Jüngers aus den 1920erJahren, die im Ersten Weltkrieg den ‚großen Brand‘ sehen, deuten lassen, kann an dieser Stelle nicht entschieden werden. Vondung jedenfalls macht zwei Deutungsmuster des Ersten Weltkrieges bei Jünger vor 1933 aus, die – im Gegensatz zur Marmorklippen-Szene – beide keine kosmologische Dimension haben: (1.) der Krieg als Naturgesetz (besonders in den Stahlgewittern), (2.) der Krieg als außerordentliches historisches Ereignis, das außerordentlich weitreichende Folgen nach sich zieht. 136 Dacqué, Epochen der Geschichte, S. 150.



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beiden Brüder der Marmorklippen-Welt nachweisen. Diese wollen sich „von Grund auf mit den Pflanzen“ beschäftigen: Wenngleich in ihrem Keimen, Blühen und Vergehen ein Trug sich birgt, dem kein Erschaffener entrinnt, ist doch sehr wohl zu ahnen, was unveränderlich im Schreine der Erscheinung eingeschlossen ist. Die Kunst, sich so den Blick zu schärfen, nannte Bruder Otho ‚die Zeit absaugen‘ – wenngleich er meinte, daß die reine Leere diesseits des Todes unerreichbar sei.137

In der Fokussierung des Blickes auf die anschauliche, von Lebenszyklus und Entwicklungsgeschichte entlastete Idee lässt sich die in der Gestaltschau der 1920er- bis 1940er-Jahre aktualisierte Urpflanze Goethes wiedererkennen.138 Edgar Dacqué hatte bereits in dem Aufsatz Goethes Wesen und das Urbild im Dasein (1933) den naturphilosophierenden Dichter zum Ahnherren seiner idealistischen Morphologie stilisiert. Dieser, so Dacqué, „sah in dem sinnenhaft Gegebenen das innerlich lebendige Band, die innere stehende Gegenwart, das formbildende Sein, die lebendige Formidee, das Urphänomen.“139 Jünger vergleichbar, ist für Dacqué die ‚Urpflanze‘ keine regulative Idee – wie von Goethe intendiert –, deren Anschauung sich lediglich über die vergleichende Zusammenschau mehrerer Gewächsformen ergibt:140 Das Sehen geht auch bei ihm in die morphologische Schau über. Als idealistischer Paläontologe nutzt Dacqué die Goethe attestierte urbildliche Phänomenologie auch dazu, um ihn als ersten Gegner der Deszendenz-Theorie zu präsentieren, der die „mechanistische Form des angelsächsischen, in Deutschland dann zu einer 137 SW 15, S. 262. 138 Vgl. dazu ausführlich Kap. 1.4.2. Streim, Das Ende des Anthropozentrismus, S. 135, wendet sich explizit gegen eine Deutung des naturwissenschaftlichen Arbeitens der Brüder im Einflussbereich von Goethes Ansichten zur Urpflanze. Die neuesten Ergebnisse der Physik als maßgeblich erachtend, die der organischen und anorganischen Welt eine regelmäßig-kristalline Struktur unterlegen, gehe es hinsichtlich der epistemischen Vorstellungen der Brüder, so Streim, „um ein Verwandlung der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf die unsichtbare, die materielle und geistige Welt bestimmende Ordnung der ‚Elemente‘ und unter ihnen insbesondere auf das fünfte Element, den Äther.“ 139 Dacqué, Goethes Wesen und das Urbild im Dasein, S. 65. 140 Den Unterschied zwischen regulativer Idee (Goethe) und Sichtbarkeit der Urpflanze selbst (Jünger) betont Figal, Gestalt und Gestaltwandel, S. 12. Gegenüber der hier herausgestellten Übereinstimmung von Dacqué und Goethe macht Kay Meister die Unterschiede stark: „Auch wenn Dacqué hinsichtlich der Urbildforschung indirekt an die Morphologie Goethes anknüpfte, so unterschied sich sein Urbild insofern von Goetheschen Auffassung, als dass es stets jeglicher Körperlichkeit entbehrte. Goethe versuchte, durch Ableitungen aus empirischen Beobachtungen morphologischer Reihungen eine der Fülle der Typisierungen zugrundeliegende Gestalt zu gewinnen. Die morphologische Betrachtungsweise ermöglichte es ihm dabei, die Lebensformen empirisch aufzufassen und sie parallel in der Idee anschaulich zu machen  […]. Dacqués erschaute innere Wirklichkeit verkörpert die Idee (das Urbild), welche vorerst immateriellen Charakter trägt und von welcher er alle organische Gestaltung ableitete.“ Meister, Metaphysische Konsequenz, S. 204  f.

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naturwissenschaftlichen Afterreligion gemachten Darwinismus“141 abgelehnt hätte. „Gestalt“, so Dacqué, sei Goethe „innere, unveränderlich stehende Gegenwart“ gewesen; deshalb habe er auch nie gemeint, „es hätten sich die vielen wirklichen Pflanzen jemals körperhaft aus einer […] irgendwie gearteten ‚Urform‘ oder späterhin gar noch aus einander realistisch entwickelt in ablaufender Zeit.“142 Auch Dacqué interessiert also – wie es Jünger dann seinem Marmorklippen-Erzähler in den Mund legen wird – „was unveränderlich im Schreine der Erscheinung eingeschlossen ist“ und von dem die ‚Zeit abgesaugt‘ werden muss.143 Die Fixierung des Darwinismus auf die zeitliche, entwicklungsgeschichtliche Ebene ist gleichzeitig auch der Hauptvorwurf, den Jünger dem Darwinismus macht.144 Jünger und Dacqué kommen darin überein, dass die Urform zeitlos ist. In der Wissenschaftsfiktion der Rautenklause gelingt die Verbindung von Erscheinung und Ding, von Phänomenologie und Ontologie. Voraussetzung im epistemischen Korsett der 1930er-Jahre ist dafür zweifelsohne der „Umschlag von heuristisch konzipierter Typologie in

141 Dacqué, Goethes Wesen und das Urbild im Dasein, S. 70. 142 Ebd., S. 67, Hervorhebung N.K. 143 Das Absehen von der Zeit ist bei Jünger ontogenetisch („Keimen, Blühen und Vergehen“. – SW 15, S. 262) motiviert, bei Dacqué hingegen phylogenetisch: Er verteidigt die Urform der Pflanze gegenüber einer entwicklungsgeschichtlichen Deutung. Dass die Zeit innerhalb der Forschung der Marmorklippen-Brüder jedoch gleichfalls auch in phylogenetischer Hinsicht ‚abgesaugt‘ werden soll, wird dann ersichtlich, wenn man sich das Material genauer anschaut, an dem Sie ihre Thesen verifizieren wollen. Hierzu zählt nämlich nicht nur botanische Fachliteratur; aufmerksam gemacht wird auch auf paläobotanische Zeugnisse, die herangezogen werden, genauer gesagt: auf „eine Sammlung von in Stein gepreßten Pflanzen […], die wir in Kalk- und Kohlengruben ausgemeißelt hatten“. SW 15, S. 257. 144 In einem Eintrag in den Kirchhorster Blättern (1949) vom 10. 11. 1944 sieht Jünger die „Hauptschwäche“ des „Darwinismus“ im „Mangel an Metaphysik. Methodologisch gesehen, drückt sich das darin aus, daß eine der bloßen Formen der Anschauung, nämlich die Zeit, dominierend ist.“ – SW 3, S. 323. Verbunden wird die Kritik am chronologischen Regime des ‚Darwinismus‘ in Sprache und Körperbau (1947) mit dem Vorwurf, die anthropogenetische Perspektive befördere einen Anthropozentrismus, der die vielfältige Entfaltungsgeschichte des ‚Lebens‘ verkürze. Dem Prinzip der „natürlichen Zuchtwahl“ folgend, heißt es dort, richte sich das „Leben in einer Unzahl von Händeln durch Urteilssprüche, durch Erkenntnis, wie auf gotischen Bögen, zur Höhe der Primaten und endlich des Menschen auf. Bei solchen Theorien wird stets die Zeit als Großmacht auftreten, wie auch der Darwinismus in Jahrmillionen schwelgt. Dagegen liegt in den offenbarten Lehren der Vorgang außerhalb der Zeit, und die Erscheinung setzt wie mit Donnerschlägen ein. So ist es noch im Mythos; […]. “ Jünger, Sprache und Körperbau, S. 16. In Sinn und Bedeutung. Ein Figurenspiel (1971) schließlich wird die Sinnhaftigkeit anthropogenetisch und chronologisch orientierter Entwicklungsgeschichte hinterfragt. Die „Evolution“, so Jünger hier, habe einen „Palast errichtet, den Milliarden von Jahren ausschmückten. Wir durchwandern seine Säle mit endlosem Staunen über eine Bildwelt, die zugleich Furcht, von ihr erdrückt zu werden, in uns weckt. Sind wir das Ziel – die Krone des unendlichen Formenspiels? Doch was will es heißen, hier der Größte und Höchste zu sein? Die Uhren weisen immer nur die ausgeschmückte Ziffer, doch nicht den Sinn.“ SW 13, S. 241  f. Vgl. zu Jüngers Anti-Darwinismus auch Kap. 7.5.



4.3  Naturgeschichte und Gestaltordnung (Jünger und Edgar Dacqué)

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Ontologie“145; nur ontologische Typen sind phänomenologisch aufschließbar; eine Ideal-Typen-Heuristik bleibt hingegen zu sehr abstrakt-unsinnliches Schema. In der Rautenklause – dem Ort, an dem die Brüder ihre Forschung betreiben – gelingt der phänomenologische Aufschluss ontologischer Gewissheiten. In dieser Eigenschaft lässt sich die Rautenklause auch als „Nachtseite“ bezeichnen – in dem Sinne nämlich, in dem Jünger die Erkenntnis der Urbilder der Tageshelle gegenüberstellt. In den Dämmerungen betreten wir die Welt der Urbilder, man könnte auch sagen, der Genera. Das bringt mich auf den Gedanken, daß die zoologischen Genera Urbilder der Spezies sind. Gleich dem Urbild existiert das Genus nicht in der Tages-, nicht in der sichtbaren Welt. Es tritt in Erscheinung nur in der Spezies, nicht an sich selbst. […] In der Diskussion über die Urpflanze zwischen Schiller und Goethe tritt auch der Unterschied zwischen Tages- und Nachtansicht hervor.146

In diesem Eintrag im Zweiten Pariser Tagebuch (1949) vom 28. 12. 1943 führt Jünger die Urbildproblematik in einer an Das Abenteuerliche Herz I erinnernden Tag- und Nacht-Metaphorologie auf die Auseinandersetzung zwischen Schiller und Goethe zurück: Ob die Urpflanze eine Idee sei (Schiller) oder tatsächlich gesehen werden könne (Goethe)? – Dass Jüngers Herz bei der Beantwortung dieser Frage für die ‚Nachtansichten‘ Goethes schlägt, steht außer Frage. Auch wenn Schillers ‚Tagesansichten‘ keineswegs falsch sind, so zielen sie doch nicht in die Tiefe.147 Das taxonomische Rüstzeug für ihre ‚zeitabsaugende‘ Arbeit holen sich die Marmorklippen-Brüder bei „Linnaeus“148. Damit ist Linné gemeint, der mit der binären Nomenklatur eine Einteilung der Arten in die bereits aufgerufenen genera (Goethes ‚Nachtansicht‘) und species (Schillers ‚Tagesansicht‘) vorschlägt, die die botanische und zoologische Taxonomie revolutionierte. Linné wird innerhalb des Romans als „Vorbild“ eines Denkens präsentiert, welches allein durch die klassifizierende Beschreibungspraxis eine „Ahnung“ davon ermögliche, „daß in den Elementen Ordnung walte“, „daß Maß und 145 Schmidt, Phänomenologisches Wörterbuch, S. 421. 146 SW 3, S. 203. 147 Den Gegensatz zwischen ‚Sehen‘ und ‚Denken‘ der Urpflanze nimmt Jünger in Typus, Name, Gestalt (1963) unter den im Zweiten Pariser Tagebuch skizzierten Vorzeichen wieder auf: „Wenn Goethe sich darauf beruft, daß er die Urpflanze nicht durch Denken, sondern durch ‚Sehen‘ erfaßt habe, so kann das nur heißen: durch Intuition, oder auch ‚Offenbarung‘, wie Hamann gesagt hätte. Goethe sieht die gestaltende Macht im Ungesonderten und seiner Fülle, oder, wie es bei ihm heißt, in der ‚Natur‘. Schiller dagegen sieht sie im Geist. Er ist damit der freiere, Goethe der mächtigere Partner […]“. SW 13, S. 135. 148 SW 15, S. 264. Auf den „hohen Meister Linnaeus“ wird bereits zuvor verwiesen (S. 258), als die wissenschaftlichen Ansprüche der Brüder noch mit der Erstellung eines regionalen Pflanzenatlasses – der sog, „‚Kleine[n] Flora‘“ (Ebd.) der Marina – in ein epistemisch bescheideneres Licht gesetzt werden.

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Regel in den Zufall und in die Wirren dieser Erde unvergänglich eingebettet sind.“149 Modellbildend kann er für das Wissenschaftsverständnis der Brüder vor allem deshalb wirken, da er als Repräsentant eines vor-entwicklungsgeschichtlichen Systematisierungsdenkens gilt: Naturgeschichte als historia naturalis.150 Dieser typologische Ordnungscharakter harmonisiert mit dem Ideal einer ‚zeitabsaugenden‘ Formfixierung wie es die Brüder verfolgen insofern, als beide Denkfiguren auf eine Urbildlichkeit zielen. So gesehen sind Goethe und Carl von Linné Brüder im Geiste, die der Deszendenz-Lehre gegenübergestellt werden.151 Es scheint kein Zufall zu sein, dass die Brüder der Marmorklippen-Welt ausgerechnet zu dem Zeitpunkt „sich  […] den Blick“ in ihrer ‚zeitabsaugenden‘ Arbeit „schärfen“152, zu dem die „platonische […] goetheische Anschauungsart“153 von Dacqué gefeiert wird. Jünger spricht seinerseits dann in Sprache und Körperbau ganz selbstverständlich vom „vollkommenen Augenmenschen […] Goethe“154 und meint damit die Gleichzeitigkeit von Aktivi149 Ebd., S. 264. 150 Ganz im Zeichen einer solchen entwicklungsresistenten historia naturalis steht die auf die botanischen Passagen fokussierte Lektüre der Marmorklippen von Tanja van Hoorn. Van Hoorn sieht in der ästhetischen Moderne das anti-rationalistische, antiteleologische Widerlager gegenüber Fortschritt und Linearität. Die künstlerische Darwinismus-Kritik wird hier als Absage an jegliche Veränderungskonzeption verstanden, was im Ergebnis zur Behauptung führt, die klassische historia naturalis erfahre innerhalb der Kunst des 20. Jahrhunderts eine Art Renaissance. Die schroffe Trennung von ästhetischer Moderne und gesellschaftlichwissenschaftlicher Modernisierung verdeckt jedoch den Umstand, dass es bestimmte Teile des wissenschaftlichen Denkens selbst sind, die anti-darwinistisch und anti-rationalistisch argumentieren und sich damit zur ästhetischen Moderne in keinem prinzipiellen Spannungsverhältnis befinden. In dem Maße jedoch, wie van Hoorn die esoterischen und naturphilosophischen Segmente modernen Wissens unberücksichtigt lässt, entsteht der Eindruck einer eindimensional rationalistischen wissenschaftlichen Modernisierung, als deren Korrektur die künstlerische Rezeption vormodernen Wissens präsentiert wird. Demgegenüber gilt es daran zu erinnern, dass modernes Wissen häufig selbst vormodern imprägniert ist. Vgl. Tanja van Hoorn: Naturgeschichte in der ästhetischen Moderne. Max Ernst, Ernst Jünger, Ror Wolf, W.G. Sebald, Göttingen 2016, S. 186–222, bes. S. 193–215. 151 In wissensgeschichtlicher Perspektive ist die Amalgamierung von Linné und Goethe, genauer gesagt: die Annahme einer Komplizenschaft in Sachen ‚Entzeitlichung‘ von älterer Naturgeschichte und neuplatonischer Gestalt- und Wesenssschau, nicht unproblematisch: In der idealistischen Morphologie der 1930er- bis 1950er-Jahre erscheint Goethes Weg zur Urpflanze nämlich häufig – unter Bezug auf Linné gewidmete Aussagen Goethes – als Überwindung der antik-frühneuzeitlichen historia naturalis in der Tradition Linnés, nicht als Übereinkunft mit ihr. Vgl. z.  B. Hölder, Grenzfragen naturwissenschaftlicher Forschung, S. 16  f.; Troll, Goethe in seinem Verhältnis zur Natur, S. 40–49. Günther Schmid formuliert unmissverständlich: „Die Linnésche Ordnung, die Goethe kannte, konnte nicht die seinige sein.“ Günther Schmid: Goethes Metamorphose der Pflanzen, in: Walther (Hrsg.), Goethe als Seher und Erforscher der Natur, S. 205–226, hier: S. 217. 152 SW 15, S. 262. 153 Dacqué, Goethes Wesen und das Urbild im Dasein, S. 65. 154 Jünger, Sprache und Körperbau, S. 48.



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tät und Aufnahmefähigkeit im Sehen. „Anschauung ist stark vom Geistigen gefärbt“; sie sei „Einsicht, die auf tieferem Grunde als dem des Bewußtseins wächst“, und da sie „aufs Ganze“ gehe durchaus „Weltanschauung“155. Dacqués Rede von der „Anschauungsart“ meint gleichfalls dreierlei: optische Sinnlichkeit, geistige Schau und (anti-darwinistische) Weltanschauung. Hinzu tritt eine weitere Gemeinsamkeit. Auch in der gestaltpsychologischen Aktualisierung des gängigen literaturgeschichtlichen Topos, Goethe sei ein ‚Augenmensch‘ gewesen, stimmt Dacqué mit Jüngers Einschätzung überein.156 „Er war im besten, echtesten Sinn: Sinnesmensch“157, schreibt Dacqué, und möchte damit einen in die Anschauung hineinverlegten Anti-Rationalismus bezeichnet wissen. Dass Goethes „Sehen“, wie Dacqué weiter ausführt, sich gleichermaßen als „ein Idealismus“ ansprechen lässt, „so gut wie es ein Realismus und Materialismus“ darstellt, verweist auf eine synthetische epistemische Codierung, die wiederum an die ‚stereoskopische‘ Schau in Jüngers Sizilischer Brief an den Mann im Mond (1930) erinnert. Jünger geht es in diesem Text darum, wissenschaftlich-astronomisches und mythologisches Wissen über den Mond in einer Anschauungsform, dem ‚stereoskopischen‘ Blick, zu bündeln. Indem „beide[.  .] Masken“  – die wissenschaftliche und die mythologische  – „ein und desselben Seins unzertrennlich ineinander schmelzen“158, wird die Spannung zwischen Idealismus („ich, Urenkel eines idealistischen […] Geschlechtes“) und Materialismus („und Sohn eines materialistischen Geschlechtes“159) stillgestellt. Nichts anderes ist in Dacqués Charakterisierung von Goethes „Sehen“ intendiert: die Verbindung unterschiedlicher Wissensinteressen als Wahrnehmungsperspektiven in der intui155 Ebd., S. 47. Vorhergehende Zitate gleichfalls. 156 Die Einordnung Goethes als ‚Augenmensch‘ hat – trotz aller offensichtlichen Probleme, die eine solche verallgemeinernde und vage Etikettierung mit sich bringt – in heuristischer Hinsicht ihre Berechtigung wie die Beiträge in Dorothea von Mücke/David Wellberry (Hrsg.): Augenmensch. Zur Bedeutung des Sehens im Werk Goethes, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Sonderausgabe 75/1 (2001), und Einlassungen bei Peter Utz: Das Auge und das Ohr im Text. Literarische Sinneswahrnehmung in der Goethezeit, München 1990, S. 87–176, zeigen. Bereits Houston Stewart Chamberlain widmet in seiner Kant-Monographie im Rückgriff auf Passagen aus Dichtung und Wahrheit „Goethes Augen“ einen eigenen Abschnitt. Goethes wissenschaftliche Entdeckungen – „der Zwischenknochen des Unterkiefers, das Gesetz der antagonistischen Farben usw. – sind aus der tatsächlichen Kraft des Sehens hervorgegangen, seine Beiträge zur Naturlehre – die Metamorphose, die Optik – sind in Wahrheit keine wissenschaftlichen Theorien, sondern antitheoretische Darstellungen des ‚erschauten‘ Tatbestandes.“ – Vgl. Houston Stewart Chamberlain: Immanuel Kant. Die Persönlichkeit als Einführung in das Werk, München 1905, S. 23–29, Zitat: S. 25. Eine diskursgeschichtliche Rekonstruktion des ‚Augenmensch‘-Topos steht noch aus. 157 Dacqué, Goethes Wesen und das Urbild im Dasein, S. 65. 158 SW 9, S. 22. 159 Ebd.

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4  Kultur- und naturgeschichtsphilosophische Fiktionen

tionistischen Schau. Jünger macht deutlich, dass es nicht um ein „Entweder-Oder“, sondern vielmehr um ein „Sowohl-Als-auch“ [sic!] gehe: „[D]as Wirkliche ist ebenso zauberhaft, wie das Zauberhafte wirklich ist.“160 Dieser Leitspruch des ‚magischen Realismus‘161 lässt sich auch auf Dacqué münzen, der in Goethes Sehen Materialismus und Idealismus zur Deckung kommen sieht, mithin die ‚materialistische‘, d.  h. positiv-faktische Wirklichkeit des Urphänomens behauptet und dessen Idee gleichzeitig an eine handfeste Sinnlichkeit rückbindet. Letztendlich geht es bei Jünger und Dacqué um die Statuierung einer Totalität, deren argumentative Schlüssigkeit sich über die Integration heterogener, ja gemeinhin als gegensätzlich wahrgenommener epistemischer Konzepte begründet. Man könnte hier auch von einem Synthese-Diskurs sprechen. Die epistemischen Konzepte werden geschichtsphilosophisch verortet – der Idealismus des frühen, der Materialismus des mittleren und späten 19. Jahrhunderts – und im Gestus gegensatzaufhebender Überbietung miteinander verbunden. Goethes Urpflanze ist gleichsam nur das Vehikel, um jene Überbietungsgeste überzeugend in Szene setzen zu können. Die Wissenschaftsfiktion der Marmorklippen-Welt pendelt zwischen dem idealistischen Klassifikations-Rationalismus Linnés  – „der mit dem Marschallstab des Wortes in das Chaos der Tier- und Pflanzenwelt getreten war“162 – und einer zeitenthobenen Schau dessen, „was unveränderlich im Schreine der Erscheinung eingeschlossen ist.“163 Bei Jünger bleibt ein solches Wissenschaftsverständnis an den entwickelten Kulturraum der Marina gebunden. Bei Dacqué hingegen ist die apokalyptische Auflösung der Erde und ihre Neukonstitution im Zeichen der Nachfolge Christi die Bedingung für die Möglichkeit urbildlicher Gewissheit. Deutlich ist damit, dass das esoterische Wissen der Marmorklippen-Brüder als Teil der entwickelten Moderne verhandelt wird; es ist nicht ihr Widerlager. Dacqué hingegen stellt einerseits dieses ‚natursichtige‘ Wissen prospektiv nach einem Weltenbrand in Aussicht; zum anderen erscheint es einem Primitivismus verpflichtet, der – der Moderne entgegengestellt  – „in erdgeschichtlichen Frühzeiten lebende[.  .] Menschenwesen einer unmittelbaren lebendigen Verbindung mit der Naturseele“164 teilhaftig werden lässt.

160 Ebd. 161 Vgl. ausführlich zum ‚magischen Realismus‘ Jüngers ausgehend vom stereoskopischen Blick: Katzmann, Ernst Jüngers Magischer Realismus, S. 15–106; vgl. kritisch zum Begriff ‚magischer Realismus‘ Gregor Streim: [Art.] Das abenteuerliche Herz. Aufzeichnungen bei Tag und Nacht, in: Schöning (Hrsg.), Jünger-Handbuch, S. 91–100, hier: S. 98. 162 SW 15, S. 264. 163 Ebd., S. 262. 164 Dacqué, Der Geist im Gericht, S. 69.



4.3  Naturgeschichte und Gestaltordnung (Jünger und Edgar Dacqué)

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4.3.3  „Die Schlangenkönigin“. Chthonische Zoologie: Sage und Naturgeschichte  Die Abenteuer der beiden Brüder stehen ohne Zweifel im Mittelpunkt der Marmorklippen. Und doch kommt ihnen nicht die Rolle der Helden zu. Diese ist für eine Tierart reserviert, die sich im Umfeld der Rautenklause besonders wohl fühlt: Schlangen.165 Ursprünglich sollten diese Tiere, genauer gesagt: ihre Anführerin, auch titelgebend sein. „‚Die Schlangenkönigin‘“ notiert Jünger während einer seiner ersten Arbeitsgänge im neuen Haus in Kirchhorst den anvisierten Titel für die im Entstehen begriffene Erzählung am 03. 04. 1939, um gleich darauf einzuschränken: „vielleicht fällt uns noch ein besserer Titel ein, damit man uns nicht für Ophiten hält.“166 Die ironische Anspielung auf Kulthandlungen in frühchristlicher Zeit um die alttestamentarische Paradies-Schlange lässt nichts von der magischen Bedeutung erahnen, die Jünger diesen Tieren tatsächlich zuweist. Am 16. 04. steht dann der neue, endgültige Titel des „Capriccio[s]“, so die intendierte Gattung, fest: „‚Auf den Marmorklippen‘“167. Auch wenn die Schlangen aus dem Titel gestrichen sind und innerhalb der fertiggestellten Geschichte nicht allzu viele Auftritte bekommen, so prägen sie doch den Charakter der Rautenklause und – gegen Ende – auch die Handlungsführung maßgeblich mit. Die ihnen zugemessene Bedeutung zeigt sich bereits darin, dass Jünger großen Wert auf eine angemessene Bezeichnung der (fiktiven) Art legt; so will er den vorgesehenen Namen „‚Kupferottern‘“ durch „‚Lanzenottern‘“ ersetzen, da dieser „zoologisch mehr Zwielicht“168 habe.169 Doch wofür wird dieses ‚zoologische Zwielicht‘ benötigt?  – Zur Verwischung der Grenzen von tierkundlicher, mythischer und naturgeschichtlicher Bestimmung der Natur der Schlangen, könnte eine Antwort lauten. In dieser Überblendung verschiedener diskursiver Ordnungen erhalten die Tiere ihren charakteristischen magischen Charakter. Die Lanzenottern werden zunächst in Verbindung mit „Segelfalter[n]“ und „Perlenechsen“170 ersterwähnt; bald darauf dann detaillierter beschrieben, und zwar sowohl hinsichtlich ihres Paarungsverhaltens („das feine, klingende Pfeifen, mit dem sie ihr Liebesspiel begleiteten“) als auch mit Blick auf ihren Lebensraum: „[Z]ahlreich“ gibt es sie „in den Klüften und 165 Vgl. zu den unterschiedlichen Codierungen der Schlange bei Jünger Henri Plard: Ex ordine shandytorum. Das Schlangensymbol in Ernst Jüngers Werk, in: Mohler (Hrsg.), Freundschaftliche Begegnungen, S. 95–116. 166 SW 2, S. 27. 167 Ebd., S. 37. 168 Ebd., S. 52. 169 Vgl. zu Jüngers Lanzenottern auch Kranz, Ernst Jüngers symbolische Weltschau, S. 143–147. 170 SW 15, S. 254.

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Schrunden der Rautenklause“171. Tief in die Felsen der Marmorklippen eingelassen ist auch die Küche „Lampusas“, die als Herrin der Schlangen vorgestellt wird: „Dergleichen Höhlen boten in alten Zeiten den Hirten Schutz und Unterkunft“172, heißt es, was sich durchaus auf die zeitgenössische Erforschung vorgeschichtlichen Höhlenlebens beziehen lässt. Der Rekurs auf ältere mythische Deutungen der Höhlen als Drachen-Orte ist innerhalb dieses Forschungskontextes durchaus noch präsent und wird auch von Paläontologie und Prähistorik als deutungsgeschichtlich nachweisbare Tatsache herausgearbeitet.173 Wie eine Eintragung im Zweiten Pariser Tagebuch (1949) vom 26. 03. 1943 verrät, ist auch Jünger der Topos von der Drachen-Höhle, die gleichzeitig als frühe Wohnstätte des Menschengeschlechtes anzusehen ist, geläufig.174 Die „‚Allmutter‘“ Lampusa jedenfalls steht als „Gaia“175 mit chthonischen Mächten im Bunde und unterhält zu den Schlangen eine besondere Beziehung. Dies gilt auch für den Sohn des Erzählers, Erio, der unter der Obhut der alten Lampusa aufwächst und sich besonders vom „größte[n], schönste[n] Tier“, der sog. „Greifin“176 angetan zeigt. Neben die naturkundliche Beschreibung tritt also eine mythische Fundierung, die die Schlangen als Erdkräfte und den Kontakt mit ihnen als kräftespendend ausweist. Dass es sich bei der Rede von der „Greifin“ um keine zoologische Bestimmung einer rezenten Art handelt, wird deutlich, wenn man die von den Rautenklause-Brüdern beglaubigend erwähnten „Sagen der Wingertsbauern“ hinzuzieht, in denen davon berichtet wird, dass die Greifin „seit alten Zeiten in den Klüften saß“177. Die Schlange kommt nicht nur – topographisch be-

171 Ebd. 172 Ebd., S. 259. 173 Gut dokumentiert ist etwa die Erforschung der besonders wegen ihrer Höhlenbär-Funde berühmten sog. Drachenhöhle bei Mixnitz (Österreich). Eine opulente zweibändige Publikation unter gleichnamigem Titel gibt 1931 Einblicke in die bereits zwischen 1920 und 1923 erfolgten Ausgrabungen, eine Gemeinschaftsarbeit von Paläontologen und Prähistorikern. – Vgl. Othenio Abel/Georg Kyrle (Hrsg.): Die Drachenhöhle bei Mixnitz, 2 Bde. (Textband/ Tafelband), Wien 1931; vgl. zur Deutungsgeschichte der Höhle im Fokus einer quellenkundlichen Rekonstruktion des Drachen-Mythos ausführlich: Othenio Abel: Geschichte der Drachenhöhle, in: Ebd., S. 81–97. 174 Im Gegensatz zu den fiktiven „Marmorklippen“ geht es hier um die „Kreideklippen“ in der Nähe des französischen La Roche-Guyon. „In dieser Landschaft mit ihren steilen und vielfach ausgehöhlten Kreideklippen […] liegt ein Zug, der spüren läßt, daß sie bereits vor grauen Zeiten von Menschen besiedelt waren. […]“ Unter der noch erkennbaren Bebauung „sind wie tiefe Keller, in denen der Geist der Urzeit webt, die Höhlen noch erhalten, mit Bändern aus Feuerstein, vielleicht mit Schätzen, mit Gold und Waffen, mit Erschlagenen, mit riesenhaften Ahnen, ja auch mit Drachen in manchem geheimen und eingestürzten Gang. Das spürt man selbst in der freien Luft, als magische Präsenz.“ – SW 3, S. 28  f. 175 Streim, Das Ende des Anthropozentrismus, S. 134. 176 SW 15, S. 256. 177 Ebd.



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trachtet – aus den Tiefen der Erde; sie kommt auch aus den Tiefen der Zeit, ragt gleichsam aus der Ur- in die Jetztzeit der erzählten Marmorklippen-Welt hinein und lässt sich somit als paläozoologische Allusion lesen.178 In einem Eintrag „[z]ur Morphologie“ in Die Hütte im Weinberg (1949) vom 03.  05. 1947 bestätigt Jünger diese Lesart, indem er Schlangen – trotzdem sie erst nach den Echsen die Erde zu bevölkern begannen  – als „Urformen“ bezeichnet.179 Für die Schlangen der Marmorklippen-Welt gilt: Ihrer topographischen und chronologischen Auszeichnung korrespondiert eine topologische. Es ist nicht nur ein besonderer räumlicher und zeitlicher Ort, sondern auch ein besonderer Erkenntnis-Ort, der dem Lebensraum der Schlangen zugesprochen wird. Um zu verstehen, in welchem Maße sich das besondere Verhältnis, das Erio und Lampusa zu den Schlangen unterhalten, als eine Form erdgeistigen Erkenntnisstrebens betrachten lässt, müssen wir wieder nur e­ inen Blick auf Edgar Dacqué werfen. Bei ihm sind es besonders Reptilien, denen „Ursinnesempfindungen“ attestiert werden, über die andere Tiere nicht mehr verfügen. Es geht hier um jenes bereits erwähnte „Scheitelauge“ (s. Abb. 6), das als sichtbares anatomisches Zeichen für „natursomnabul[es] [E]rkennen und [E]mpfinden“180 angeführt wird und das Jünger – wir haben darauf hingewiesen – nachweislich kannte.181 Auch wenn sich in den Marmorklippen keine Spuren von Dacqués biologistischem Positivismus finden, der spezifische Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten einzelnen Körpermerkmalen zuordnet, so ist doch auch bei ihm das Reich der Schlangen als erdgeistiger Raum einer rationalistischen Erkenntnis entgegengesetzt. Der 178 Die körperliche Auszeichnung der „Greifin“ gegenüber den ihr folgsamen „Lanzenottern“ zeigt sich nicht nur in der Größe, sondern gleichfalls in der Art der Beschuppung und dem Angriffsverhalten. „Der Körper der Lanzenottern ist metallisch rot, und häufig sind Schuppen von hellem Messingglanze in sein Muster eingesprengt. Bei dieser Greifin war jedoch der reine und makellose Goldschein ausgeprägt, der sich am Kopfe nach Juwelenart zugleich ins Grüne wandte und an Leuchtkraft steigerte. Im Zorne konnte sie den Hals zum Schilde dehnen, der wie ein goldener Spiegel im Angriff funkelte.“ Ebd. 179 „Die Schlange ist entwicklungsgeschichtlich ‚jünger‘ als ihr verwandte Tiere mit Füßen; nicht nur die Reste des Beckengürtels weisen darauf hin. Trotzdem gehört sie zu den Urformen, ist absolutes Tier. Die Entwicklung reicht in der Klasse der Reptilien am nächsten an dieses Urbild, das außerhalb der Zeit besteht. Sie hat in vielen Ordnungen Ähnliches angebahnt, so bei den Protozoen, den Fischen, den Würmern, den Sauriern.“ – SW 3, S. 637. 180 Dacqué, Aus der Urgeschichte der Erde und des Lebens, S. 116  f. „Bei jetztweltlichen Reptilien, wie Eidechsen, Blindschleichen, Chamäleon und der […] altertümlichen, noch aus dem Erdmittelalter stammenden Echse auf Neuseeland, steht nun die gehirnliche Pineal- und Parietaldrüse noch in Beziehung zum Scheitelauge, bei den genannten Formen zwar etwas rückgebildet und von einer dünnen Haut bedeckt, aber unzweifelhaft als Auge erkennbar.“ Ebd., S. 113. Vgl. auch Kap. 4.3.1. 181 Vgl. SW 2, S. 430. Vgl. auch SW 19, S. 67, wo Jünger das Synonym „Stirnauge“ gebraucht.

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4  Kultur- und naturgeschichtsphilosophische Fiktionen

„Rationalismus“, skizziert Jünger in Gärten und Straßen, vertritt innerhalb der Marmorklippen-Welt „das entschiedenste Prinzip“182; dem ist die Welt der Rautenklause entgegengesetzt, wobei die Schlangen und deren Gebieter (Erio, Lampusa) für eine Form anti-rationalistischer Erdgeistigkeit stehen, die auch Dacqué ins Zentrum seiner Überlegungen stellt. Die mythische, naturgeschichtliche und tierkundliche Fokussierung der Schlangen führt innerhalb des Romans zu einer besonderen Auszeichnung der Tierart. Im Handlungsverlauf zeigt sich diese wohl am deutlichsten in der schützenden Rolle, die den Schlangen am Ende zugedacht ist: Sie gewinnen den Kampf gegen die Bluthunde des Oberförsters und dessen Schergen – womit sie den Brüdern die Flucht ermöglichen und damit das Leben retten.183 Die Engführung von mythischer und naturgeschichtlich-tierkundlicher Perspektive wie sie der Roman vorführt ist dabei keine Erfindung Jüngers. Sie muss vielmehr als Teil einer diskursiven Konstellation innerhalb der Paläontologie betrachtet werden, die die 1920er- und 1930er-Jahre in Form von unterschiedlichen, heterogenen, d.  h. miteinander nicht kompatiblen Beiträgen prägt. Im Grunde geht es hier um zwei Positionen. Die eine Position ist mit dem Namen Dacqué verbunden. Sie sieht in der mythologischen Welt der Drachen, Fabelwesen und Echsen eine Bestätigung naturgeschichtlicher Abläufe.184 Eine zweite Position deutet das Verhältnis von Sage und Naturgeschichte im Sinne einer kulturgeschichtlichen Aufarbeitung der Aneignung (fossiler) paläozoologischer Reste in volkskundlichen Zeugnissen. Auf diesem Gebiet hat sich Othenio Abel Verdienste erworben.185 Die Frage danach, ob – wie es Wilhelm Bölsche formuliert – „der Mensch nicht doch noch irgendwie mit  […] Vorweltsdrachen zusammengetroffen sein und ihr tatsächliches Bild in seinem Drachentraum bewahrt haben könnte“186, ob, mit anderen Worten, also Mythos und Naturgeschichte zur Deckungen gebracht werden könnten, ist zwar keine Frage, die ernsthaft die institutionalisierte

182 183 184 185

SW 2, S. 28. Vgl. SW 15, S. 344  f. Vgl. bes. Dacqué, Urwelt, Sage und Menschheit; vgl. auch Kap. 4.3.1. Vgl. Othenio Abel: Die vorweltlichen Tiere in Märchen, Sage und Aberglauben, Karlsruhe 1923; Ders.: Vorzeitliche Tierreste im deutschen Mythus, Brauchtum und Volksglauben, Jena 1939. 186 Bölsche, Drachen, S. 38. In Das Leben der Urwelt (1931) nimmt Bölsche diesen Gedanken dann auf: „Ein geistvoller neuerer Naturforscher [Dacqué, N.K.] hat sogar gedacht, ob die Menschheit, selber doch wohl, wenn auch in veränderter Gestalt, Ergebnis einer über lange Zeiträume zurückgehenden eigenen Entwicklung auf der Erde, nicht noch traumhafte Bilder der wirklichen Drachenzeit in Jura und Kreide in einer Art unzerstörten Unterbewußtseins bewahrt haben könnte, die sie in noch weniger vom Verstande angekränkelten naiven Zeiten in jene Sagen umgesetzt hätte.“ Wilhelm Bölsche: Das Leben der Urwelt. Aus den Tagen der großen Saurier, Leipzig 1931, S. 122.



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Paläontologie beschäftigt, gleichwohl bleibt sie – auch das zeigt Bölsche – im populärwissenschaftlichen Umfeld virulent.187 Die esoterische Naturphilosophie Dacqués nimmt sich dieser Frage nicht nur an, indem sie sie als Hypothese diskutiert: Die wechselseitige Beglaubigung von naturgeschichtlich relevantem Fund und mythologischer Deutung ist vielmehr die Grundlage seiner idealistischen Morphologie. 188 Dacqué geht in dem als naturhistorisch-metaphysische Studie untertitelten Werk Urwelt, Sage und Menschheit (1924) von unterschiedlichen Gestalten des Menschen aus  – wir hatten darauf hingewiesen.189 Im Mittelpunkt steht hier, kurz gesagt, die Annahme, dass das Urbild des Menschen sich unter der Prägekraft verschiedener sog. „Zeitsignaturen“, dem „Gesetz der Zeitformenbildung“190, realisiert. Seit dem „paläozoischen Zeitalter, der ältestbekannten Epoche vorweltlicher Lebensentwicklung“,191 durchläuft der Mensch demnach verschiedene Gestaltstadien von der „Amphibien“- über die „Molch“-, „Schildkröten“- und „Schrecksaurier“192-Gestalt bis hin zu seinem heutigen Aussehen. Im Mittelpunkt Dacqués Denkens lässt sich dabei die Frage ausmachen, „welchen ersten Wirklichkeitsinhalt die einzelnen Mythen und Sagen und Kosmogonien haben und auf welche erdgeschichtlichen Zeiten sie hinweisen“193. Dabei liegt Dacqué besonders die „tief seelenhaft metaphysische[.  .] Bedeutung des Schlangen- und Drachenmythus“194 am Herzen. Aus den Sagen, so ist er sich sicher, „redet uraltes wirkliches Leben […] noch

187 Bölsche selbst, das sei an dieser Stelle nur am Rande vermerkt, diskutiert Dacqués These zwar interessiert, jedoch auch mit deutlicher Distanz. Sie sei „einstweilen nur ein schöner Traum, zu dem wir mehr von den geistigen Zusammenhängen aller Entwicklung wissen müßten, als heutiger Wissenschaft verliehen ist.“ Bölsche, Das Leben der Urwelt, S. 122. In Dacqués Schriften macht Bölsche „größtenteils Bekenntnisse einer Weltanschauung“ aus; gibt sich jedoch gleichwohl Mühe, „das noch enger greifbare Paläontologische“ zu destillieren. Hinsichtlich einer „Übereinstimmung der Drachensagen mit dem wirklichen Urweltsmaterial der großen Kreidereptilien in unsern Museen“ lässt er „einzelne auch engere Analogien“ gelten: „Als ich die erste Abbildung jenes Babylondrachen vom Istartor sah, hat sich auch mir aufgedrängt, daß hier eine gewisse leise Umrißähnlichkeit zu unsern Wiederherstellungen des Brontosaurus oder Diplodicus bestehe – mit dem kleinen Reptilkopf, dem langen Halse und vielleicht der spitzen Schwanzpeitsche, die zu gefürchteten Schlägen ausholt, das Ganze entsprechend kolossal gedacht.“ Bölsche, Drachen, S. 47. 188 Vgl. Meister, Metaphysische Konsequenz – die idealistische Morphologie Edgar Dacqués. 189 Vgl. Kap. 3.2.1. und 4.3.1. 190 Dacqué, Urwelt, Sage und Menschheit, S. 53. „Wir haben mit dem Gesetz der Zeitformenbildung, das sich an fest gegebenen Grundtypen unter dem Bild einer Entwicklung verwirklicht, eine neue vergleichende Anatomie auch für den Menschen, die uns sagen wird, wann er entstand.“ Ebd. 191 Ebd., S. 48. 192 Ebd. S. 48  f., S. 104. 193 Ebd., S. 37. 194 Ebd., S. 99.

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aus weiter, weiter Ferne zu uns  […]. “195  – Es ist diese Verbindung von (paläo-)zoologischer Wirklichkeitsdarstellung und mythischer Beglaubigung, die in den Marmorklippen die Schlangen charakterisiert. So ist die „Greifin“ einerseits in den „Sagen der Wingertsbauern“ als uransässiges Tier präsent; andererseits ist dies jedoch nicht nur Volksglauben, denn Dacqués „uraltes wirkliches Leben“ ragt bis in die Gegenwart der erzählten MarmorklippenWelt hinein. Bei Jünger geht es nicht um die Kraft der Sage, naturgeschichtliches Wissen beglaubigen zu können; vielmehr wird die Wirklichkeit der Sage durch die Anwesenheit der „Greifin“ beglaubigt. Sagenhaft, das heißt phantastisch oder in der Diktion Dacqués: erdmagisch, ist auch das Verhältnis, das Erio zu den Schlangen, z.  B. während ihrer Fütterung, unterhält.196 In diesen Szenen der Erzählung ist die chthonische Symbiose von Mensch und Tier auf der Oberfläche der Handlungsgestaltung präsent. Sie ist nicht als ‚tieferer Sinn‘ gestaltet, den es deutend zu erschließen gilt. Die Sage ist als zoologische und naturgeschichtliche Realität vielmehr Teil der erzählten Welt. Dass Jünger mit Dacqués Verbindung von mythologischem und naturgeschichtlichem Denken vertraut ist, lässt sich einerseits im Hinweis auf den gemeinsamen Publikationsort Corona begründen. Stellt man die Sorgfalt in Rechnung, mit der Jünger im Rahmen seiner autorschaftlichen Neuorientierung zu Beginn der 1930er-Jahre diese Zeitschrift als Ersterscheinungsort für Auszüge aus seinen Werken wählt, die das veränderte geistige Profil dokumentieren sollen, so ist kaum anzunehmen, dass er die Position Dacqués nicht zur Kenntnis genommen hat.197 Manifester wird der Bezug zu Dacqué, wenn man sich Jüngers Einlassungen zum Thema Mythos und Wissenschaft anschaut, wie sie sich in den Grenzgängen (1965) finden. Auf eine Dacqué-Paraphrase198 folgt dort die uns bekannte 195 Ebd., S. 104. 196 Die Schlangen werden Erio nicht wie anderen Tieren und Menschen gefährlich, stattdessen gehorchen sie seinen Anweisungen. So leitet der Knabe die Fütterung durch Schlagen eines Birnenholzlöffels an ein Gefäß mit Milch ein „und leuchtend glitten die roten Schlangen aus den Klüften der Marmorklippen vor. Und wie im Helltraum hörte ich den kleinen Erio lachen […]. Die Tiere umspielten ihn halb aufgerichtet und wiegten über seinem Scheitel in schnellem Pendelschlage die schweren Dreiecksköpfe hin und her. Ich stand auf dem Altan und wagte meinen Erio nicht anzurufen, wie jemand, den man schlafend auf steilen Firsten wandeln sieht.“ – SW 15, S. 255. 197 Vgl. dazu ausführlich Kap. 4.3.1. 198 „Zuweilen hört man die Meinung, daß die Drachensagen auf Zeiten zurückgehen, in denen der Mensch den letzten Sauriern begegnet ist. Das könnte im Tertiär gewesen sein, und vielleicht reichen unsere Märchenmotive weiter zurück, als wir annehmen.“ SW 13, S. 177. Jünger erwähnt den Namen Dacqués nicht. Stellt man an dieser Stelle jedoch in Rechnung, dass die von Jünger referierte „Meinung“ von keinem anderen mit einem solch publizistischen Aufwand (und einem diesem entsprechenden Leser-Echo) verbreitet wurde, so ist die Annahme, Jünger referiere hier Dacqué, mehr als wahrscheinlich.



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Unterteilung in genera und species. Während das Urbild der zeitlichen Ordnung enthoben bleibt, geben die einzelnen species Zeugnis von der empirischen Fülle (paläo-)zoologischer Erscheinungsvielfalt: „Wir tragen den Drachen in uns durch die Zeiten, und daher sind wir mit ihm vertraut. In diesem Sinne gehört die Paläontologie zu unserer Erinnerung. Wir konnten hier nichts entdecken, was wir nicht bereits zutiefst gewußt hätten.“199 Jünger macht hier Anleihen bei der Mnem-Theorie, die bereits Dacqués Argumentation grundiert, entfernt sich jedoch von einer biologistischen Deutung. Nach Richard Semon (1859–1918), dem Begründer der Engramm- oder Mnem-Theorie, können erworbene Gedanken durch biologische Weitervererbung über einen ungeheuer langen Zeitraum tradiert und aktualisiert werden.200 In diesem Sinne kann Jünger auch davon sprechen, dass die „Paläontologie“ zu unserer „Erinnerung“ gehöre. Die frühe, tertiäre Bekanntschaft des Menschen mit den Großechsen habe für jene Vorstellungen gesorgt, die sich in der Menschheitsgeschichte im Gewand mythischer Rede – diese ersetzt bei Jünger das materielle Gedächtnis als Vererbe-Medium bei Semon – weitervermittelt hätten. Hinsichtlich des Verhältnisses Urbild (genera) – Abbild (species) ergibt sich konkret betrachtet folgender Befund: Jünger geht von einer „Urechse[.  .]“ aus, die das „Wissen des Menschen von den Drachen“ begründet habe; „Saurier“ seien dieser Echse gegenüber lediglich als „Emanationen“201 aufzufassen.202 Gleiches gilt für die Schlange „insofern sie zum Natursystem gehört, also das Urbild nur repräsentiert“: „Der Schauder, den ihre Erscheinung hervorruft, rührt daher, daß wir in die unausgeformte Tiefe hinabblicken, in das magmatische Walten der Erdmutter.“203 In den Marmorklippen ist diese Konstellation augenscheinlich angelegt: Während die Küche der personifizierten „Erdmutter“ Lampusa in die „unausgeformte Tiefe“ der Marmorklippen, 199 SW 13, S.  177. Als weiteres Beispiel für das Verhältnis von positivem paläobiologischem Befund und geistiger Erinnerungs-Schau führt Jünger das Verhältnis des Urvogels („Archäopterix“) zu dessen urbildlicher Präfiguration in Form der ‚gefiederten Schlange‘ an. Ebd. 200 Mit Dacqué bezieht sich Jünger an dieser Stelle auf Semons Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens (1904). Dacqué spricht gleich Semon von einem Gesetz, demzufolge „schwache Abbilder des Vergangenen sich in späteren Entwicklungsläufen des Organischen wiederholen“ (Dacqué, Urwelt, Sage und Menschheit, S. 237) können. Bereits Wilhelm Bölsche weist auf die Anlehnung Dacqués an „Semons Mneme-Idee“ hin. Vgl. Bölsche, Drachen, S. 46  f. Vgl. auch Bölsche, Das Leben der Urwelt, S. 122. 201 SW 13, S. 177. 202 Ganz ähnlich heißt es in Spitzbergen (1964) hinsichtlich des Verhältnisses von mythologischurbildlicher (Drachen) und naturgeschichtlich-abbildlicher (Saurier) Deutungsebene: „Die Drachen sind geistige Wesen von höherer Wirklichkeit als jene der organischen Welt. Sie suchen in den Bios einzudringen und dort ‚das Drachenmotiv‘ zu verwirklichen. […] Daß der Drache auch im Feuer residiert, läßt auf eine stärkere Macht schließen, als sie den Tieren zufloß, die das Motiv, etwa als Saurier, in den anderen drei Reichen [Erde, Wasser und Luft – N.K.] abwandelten.“ SW 6, S. 457  f. 203 SW 13, S. 177.

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der die Schlangen entstammen, hineinragt, changieren die Schlangen selbst auf der Kante von „Idee und Erscheinung“, von „Typus“ und „geprägte[m] Bild“, von „Gattung und Art“204. Als chthonische „Urechse[n]“ stehen sie in der Tradition der idealistischen Morphologie Dacqués: Sie gehören zu gleichen Teilen der mythologischen Welt an wie sie auch eine naturgeschichtliche Realität besitzen. Jünger übernimmt im Ergebnis die von Dacqué getroffene Zuordnung von mythischer und paläontologisch-empirischer Aussageform. Bleibt der Mythos das Narrativ, das die unveränderlichen Gestaltzüge erfasst, so gilt das Interesse der Paläontologie den wechselnden positiv nachweisbaren Ausprägungen; beide sind insofern Realität, als dass „das Genus eine zwar andersartige, doch nicht geringere Wirklichkeit“ besitzt „als das Individuum“205. Jüngers platonische Paläontologie ordnet zwar die „Genera“ der „Unsterblichkeit“ zu; sie muss jedoch auch zur Kenntnis nehmen, dass diese – naturgeschichtlich betrachtet – „wohl aber aussterben“206 können. Bringen wir abschließend die Schlangen-Welt der Marmorklippen noch ins Gespräch mit dem kulturgeschichtlichen Interesse an Tierfunden aus der Vorzeit. Die kulturgeschichtliche Sicht auf den Umgang mit paläontologischen Zeugnissen ist weitaus nüchterner als Dacqués Position. Wie wenig Abel für Dacqué übrig hat, lässt sich wohl am deutlichsten daran ablesen, dass er in seinen Schriften nicht mal dessen Namen für nennenswert hält. Seine Analyse Vorzeitliche[r] Tierreste im deutschen Mythus, Brauchtum und Volksglauben (1939) konzentriert sich ganz auf die historischen und regional spezifischen Deutungshorizonte einzelner Funde. Mythos und Naturgeschichte sind deutlich voneinander getrennt. Sagenhafte Deutungen, die vorzeitlichen Funden magische Zauber-, Schutz- oder Bannkräfte zusprechen, so der Grundtenor bei Abel, verkennen den positiven naturgeschichtlichen Charakter des jeweiligen Fundes und machen gleichsam substituierend vorschnell den Einfluss höherer Mächte geltend. Hier gilt es aufzuklären und der mythologisierenden Deutung die paläozoologische und erdgeschichtliche Systematik gegenüberzustellen. Zwar gesteht auch Abel zu, dass der frühe Mensch „weit naturverbundener als heute war“207, jedoch leitet er daraus nicht – wie Dacqué – einen epistemologischen Vorsprung ab, den es sich zurückzuerobern gelte. Von ‚Erdgeistigkeit‘ also keine Spur; im Gegenteil: Es geht um Nichtwissen; und es ist dieses Nichtwissen von naturgeschichtlichen Entwicklungszusammenhängen, das im Ergebnis dazu führt, „die Versteinerungen in religiöse Vorstellungen, in den Kult und in das Brauchtum einzubauen.“208 Abel geht 204 Ebd., S. 178. 205 Ebd. 206 Ebd., S. 179. 207 Abel, Vorzeitliche Tierreste im deutschen Mythus, S. VI. 208 Ebd.



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dabei von volkskundlich und etymologisch nachweisbaren Bezeichnungen auffälliger Vorzeit-Artefakte aus, skizziert die (quasi-)religiösen und mantischen Praxen, die sich aufgrund vorliegender Quellen rekonstruieren lassen, und liefert parallel dazu naturgeschichtliche Hinweise zum tatsächlichen Entstehungszusammengang. Von dieser Perspektive aus betrachtet entsteht ein völlig anderes Bild von der Rolle der Schlangen im Schnittpunkt von paläontologischer und mythologischer Bestimmung als bei Dacqué – ein Bild, das bei der Rekonstruktion des diskursiven Kontextes, in dem die MarmorklippenSchlangen Kontur gewinnen, nicht fehlen sollte. Schauen wir genauer hin. Abel erwähnt neben zahlreichen anderen fossilen Artefakten im Einflussbereich einer sagenhaften Einordnung (u.  a. „Drudensteine“, „Drachensteine“, „Riesen“ und „Krötensteine“) auch sog. „Schlangensteine“. Paläozoologisch betrachtet verbergen sich hinter diesen Steinen nichts anderes als „Liasammoniten aus der Gruppe der Arieten“, die so aussehen können „wie eine zusammengerollte Schlange“209. Trotz der großen Fundhäufigkeit dieser Ammoniten aus dem Lias, so Abel, sei über deren Rolle im Volksglauben recht wenig bekannt: „Von großer Wichtigkeit ist aber, daß man mit solchen Schlangensteinen oder Ophiten im deutschen Kulturgebiet die Vorstellung von einer siegbringenden Zauberkraft verbunden hat.“210 Die Schlangen der Marmorklippen-Welt tauchen zwar nicht in Form von versteinerten Ammoniten auf, jedoch lässt sich ein doppelter Bezug zur volkskundlichen Deutung als „Schlangensteine“ ausmachen. Zum einen sind die Schlangen an die Lebenswelt der steinernen Marmorklippen gebunden, was zunächst eine assoziative Nähe herstellt. Darüber hinaus – und entscheidender – ist der Umstand, dass die Schlangen in Jüngers Text augenscheinlich über jene „siegbringende Zauberkraft“ verfügen, die Abel bei der Rekonstruktion volkskundlicher Deutungsmuster geltend macht. Erkennbar wird dies beim abschließenden Kampf, in dem die Schlangen siegen. Angelockt durch den magischen Anruf Erios bilden die Schlangen zunächst eine phantastische Formation211, bevor sie sich dann in der Auseinandersetzung so dicht verflechten, „daß nur ein Schuppenleib“212 entsteht. Im Ergebnis ist das volkskundliche Wissen umcodiert. Es sind nicht die 209 Ebd., S. 74. 210 Ebd., S. 77, s. auch S. 78. Abel bezieht sich hier auf eine Belegstelle, die das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm verzeichnet (übernommen aus dem Wiener Codex, 428, Nr. 136): „‚ich hoere von den steinen sagen, / die NATERN und KROTEN tragen, / daz grôze tugent dar an lige, / swer si habe, der gesige; / mohten daz SIGESSTEINE wesen, / sô solt ein wurm vil wol genesen, / ders in sinem libe trüege, / daz in nieman erslüege;‘“ Ebd., S. 77. 211 „Dann stellten sie, am Boden einen goldenen Kreis beschreibend, sich langsam bis zur Manneshöhe auf. Sie wiegten das Haupt in schweren Pendelschlägen, und ihre zum Angriff vorgestellten Fänge blinkten tödlich wie Sonden aus gekrümmtem Glase auf.“ SW 15, S. 344. 212 Ebd.

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„Schlangensteine“, deren Besitz Zauberkräfte freisetzt; die Schlangen selbst sind es vielmehr, deren Handlungen vom Erzähler als zauberische Taten geschildert werden. Der sagenhafte Kontext – zunächst über die Erzählungen der „Wingertsbauern“ evoziert – findet also seine Beglaubigung durch die fantastisch-wirklichkeitsübersteigenden Ereignisse rund um die Schlangen im Text. Der Kontext-Faden spiegelt sich demnach – weit davon entfernt, als ‚unwahr‘ und abergläubisch dementiert zu werden – im Handlungsgeschehen. Im Ergebnis wird dabei das sagenhafte Profil geschärft, oder vielmehr: Es gibt kein Außerhalb des Sagenhaften mehr. Die Marmorklippen tragen selbst – gattungstypologisch betrachtet – Züge einer Sage.

5  „Theorie der Vorgeschichte“ – aber welche? – Heliopolis (1949) 5.1  Diskurswandel mit Seeigel Die lebensphilosophische Fokussierung phylogenetischer Aspekte nimmt bei Jünger in den 1930er-Jahren spürbar ab. Biologische Regressionsvorstellungen, wie sie Der Kampf als inneres Erlebnis charakterisieren, der Rekurs auf organische Zykluskonzepte und vitalistisch überformte Zellentwicklungstheorien treten in den Hintergrund; überhaupt ist die Phylogenese, insofern es sich hierbei um Entwicklungsannahmen rein organischer Prozesse handelt, nicht mehr maßgeblich. In den Mittelpunkt rückt demgegenüber eine erdgeschichtliche Perspektive. Die Emanzipation der Biologie von der Geologie – durch die Paläobiologie des 20. Jahrhunderts vollzogen – wird von Jünger gleichsam wieder rückgängig gemacht. Arbeitet das 19. Jahrhundert an einer Herauslösung des Menschen aus der Erd- und Naturgeschichte, indem es, etwa durch die Vorgeschichtsforschung, seine Kulturfähigkeit herausstellt, so rückt Jünger den Menschen nun in eine planetarische Perspektive ein.1 Im Rahmen dieser Entwicklung gewinnt die Geologie als Wissen vom Werden des Planeten an Aufmerksamkeit, zunächst in Heliopolis (1949), dann auch im Sanduhrbuch (1954) und in An der Zeitmauer (1959), später dann in Steine (1966) und in Die Schere (1990). Eng verbunden ist das Interesse an der Geologie mit dem an der Kosmologie und damit am qualitativen Wert erdgeschichtlicher Eigenzeiten. Gegenüber der messbaren Zeit ‚mechanischer Uhren‘ geht es zum einen um geologische Tiefenzeiten von unvorstellbarem Ausmaß; zum anderen um durch interstellare Konstellationen konstituierte Zeitordnungen. Orientiert sich das Interesse an der geologischen Tiefenzeit, das etwa Jüngers Steine bekundet, an Texten wie Goethes Über den Granit (1784),2 so verweist die Fokussierung einer allumfassenden kosmischen Zeitordnung auf die Einebnung der Differenz von organischer und anorga1

2

Vgl. zum ‚Planetarischen‘ bei Jünger Hans-Peter Schwarz: Das planetarische Zeitalter. Zeitkritik und Zeitfremdheit bei Ernst Jünger, in: Jahrbuch für finnisch-deutsche Literaturbeziehungen 28 (1996), S. 169–180; Auer, Wege zu einer planetarischen Linientreue, S. 27–44, S. 49–84; Thomas Pekar: Vom nationalen zum planetarischen Denken. Brüche, Wandlungen und Kontinuitäten bei Ernst Jünger, in: Schöning/Stöckmann (Hrsg.), Ernst Jünger und die Bundesrepublik, S. 185–204. Vgl. SW 12, S. 322. Vgl. zu Jüngers Steine-Aufsatz Kap. 1.6.

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5  „Theorie der Vorgeschichte“ – aber welche?

nischer Materie. „Der Auf- und Untergang der Gestirne, der Licht und Schatten, Winter und Sommer, Ebbe und Flut in vielfachen Gängen bestimmt,“ schreibt Jünger im Sanduhrbuch, „liegt der menschlichen Zeitrechnung nicht nur zugrunde, sondern umfaßt sie, bettet sie ein. Alle Wesen und selbst die unbelebte Materie richten sich nach der kosmischen Uhr.“3 Wie im Brennglas lässt sich diese Verschiebung von der vitalistischen zur erdgeschichtlichen Dimension im metaphorischen Feld beobachten. Kontrastiert man eine Passage aus dem Abenteuerlichen Herz  I (1929) mit einer aus Die Hütte im Weinberg (1949), so lässt sich die semantische Umcodierung zunächst abbreviaturartig veranschaulichen. Im Abenteurlichen Herz I kommt dem Seeigel die Rolle zu, für jene dem Lebendigen eigentümliche Kraft einzustehen, die Jüngers Lehrer Driesch an eben dieser Spezies experimentell nachgewiesen zu haben glaubte.4 Bei der „Befruchtung des Seeigeleis“ zeige sich, so Jünger, „der Ansatz des Lebens scheinbar als reine Kraftentfaltung in einem hauchzarten, fast unsichtbaren Medium […]“5. Die Fortpflanzung des Seeigels steht hier für das Prinzip des Neovitalismus ein, ‚Leben‘ entstehe aus einer weder physikalisch noch chemisch ableitbaren Potenz an der Schnittstelle von Materialismus und Idealismus („hauchzarte[s], fast unsichtbare[s] Medium“). Als Jünger am 10. Mai 1945 nahe eines Granaten-Einschlagstrichters das „ausgeschleuderte Gestein“ mustert, stößt er auf einen „Seeigel […], ein fünfstrahliges, verkieseltes Herz.“6 Weit davon entfernt, den Seeigel-Fund (vgl. Abb. 30) in einen Argumentationshorizont einzureihen, der im Rekurs auf den neovitalistischen Kraftaspekt abgesteckt ist, betont Jünger in dieser Passage der Hütte im Weinberg die ihn als Menschen mit früheren Lebensformen des Universums verbindende Einheit im „Unausgedehnten“: Was rührt uns an, wenn wir den Abdruck eines Tierchens in den Händen halten, das für ein Leben vor Millionen Jahren in unbekannten Meeren zeugt? Ferne und Identität zugleich. Ein winziger Spiegel blinkt aus fernsten Zeit- und Raumestiefen: Das Universum lebt. Dazu kommt das Gefühl der höheren Einheit mit diesem Wesen, die Ahnung, dass wir im Unausgedehnten eins sind, und diese Begegnung ist eine der Bestätigungen, einer der Reime im unendlichen Gedicht. Die Einheit bliebe, auch ohne die Bestätigung, wenn das Wesen noch tief in seinem Steinbett schlummerte.7

3

4 5 6 7

SW 12, S. 130. Vgl. zur Betonung der qualitativen gegenüber der quantitativen Dimension der Zeit Heinz-Albert Becker: Sanduhrzeit und Schicksalszeit. Temporäres im Werk Ernst Jüngers, in: Annette Simonis/Linda Simonis (Hrsg.): Zeitwahrnehmung und Zeitbewußtsein der Moderne, Bielefeld 2000, S. 433–454. Vgl. dazu ausführlich Kap. 3.1.2. SW 9, S. 103. SW 3, S. 439. Ebd. Lothar Bluhm sieht in den naturkundlichen Beschreibungen, wie sie Jünger in seinen Tagebüchern gibt, die „Grundlage und das Material für die assoziative Suche nach übergrei-



5.1  Diskurswandel mit Seeigel

267

Der Seeigel interessiert nun als Petrefakt, als versteinertes Leben. Er steht nicht mehr für ein Prinzip der Kraftentfaltung ein, das Jünger zur Matrix der Bestimmung dessen nimmt, was ‚Leben‘ eigentlich sei; im Mittelpunkt befindet sich der Seeigel vielmehr als frühe Lebensspur, die sich auf dem Planeten Erde nachweisen lasse: Er kommt aus „fernsten Zeit- und Raumestiefen“ und birgt – in eine genealogische Reihe mit dem Homo sapiens gestellt – für die Einheit des Lebens im kosmologisch-naturgeschichtlichen Gesamtzusammenhang. Man kann hier auch von einer „Naturmystik“ sprechen, der das Vermittlungsproblem von Idee und Anschauung eingeschrieben bleibt: „Die Ursprünglichkeit wird eher in den Gedanken reproduziert als mit den Sinnen erfahren.“8 Die von Jünger aufgerufene Einheit im „Unausgedehnten“ versucht jedenfalls diese Ursprünglichkeit zu fokussieren. Unter dem „Unausgedehnten“ versteht Jünger, wie es dann später in Zahlen und Götter (1973/74) heißt, „das Zeit- und Raumlose“. Es wird „vermutet als der mathematische Punkt, um den sich das materielle Zentrum vom Mühlrad bis zum Universum dreht.“9 Bereits in Typus, Name, Gestalt (1963) hatte Jünger das „Ungesonderte“ mit dem Ursprünglichen gleichgesetzt: „Das Ungesonderte ist […] nicht das Neue, sondern eher das Uralte […]. Wo es auftaucht, wiederholt es den Ursprung, und es ist nicht nur ‚neu‘, sondern auch ‚immer wieder neu‘ in dieser Wiederholung, also in seiner Eigenschaft des Ursprünglichen.“10 Im Ungesonderten partizipiert der Mensch also an der Ursprünglichkeit vormaliger Lebensformen. Es geht hierbei nicht um die ‚primitivistisch‘ begründete gemeinsame Keim-Geschichte, über die der Mensch mit seinen ‚Ahnen‘ erbbiologisch verbunden bleibt. Die behauptete Identität wird vielmehr kosmologisch vorgestellt. Der Wechsel vom vitalistischen Primitivismus zur Universums-Verwandtschaft zeigt sich vor allem im Wandel der sprachlichen Bilder. An die Stelle des Urwaldes als Ort der Imagination (und Initiation) gewalttätiger Lebensentfaltung tritt eine kristalline Ordnung, die die Differenz zwischen organischer und anorganischer Materie einebnet. Nachweisen lässt sich dies am veränderten metaphorischen Potenzial des Seeigels; dieser interessiert nun als Petrefakt, als geologischbiologischer Zwitter. Entscheidend ist dabei: Die Konservierung organischer Reste im Gestein verleiht ihnen eine kristalline Struktur, die zusammen mit der symmetrischen, quasi ornamentalen Formensprache des Herzseeigels für

8 9 10

fenden Gesetzmäßigkeiten des Lebens. Die Deskription geht dabei über in die Reflexion, die die konkrete Beobachtung durch allgemeine Betrachtungen ergänzt und erweitert.“ Lothar Bluhm: Das Tagebuch zum Dritten Reich. Zeugnisse der Inneren Emigration von Jochen Klepper bis Ernst Jünger, Bonn 1991, S. 143. Schwarz, Der konservative Anarchist, S. 142. SW 13, S. 292. Ebd., S. 123.

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eine höhere, die Polarität von Organik und Anorganik entschärfende Ordnung bürgen soll. Eine Deutung der Seeigel im Horizont ihrer kristallinen Struktur ist jedoch nicht zwingend auf eine Petrifizierung angewiesen. In Heliopolis etwa berichtet der Held Lucius de Geer in einer an Experimente Jüngers in der Stazione Zoologica di Napoli – und damit an die neovitalistische Betrachtungsweise der Seeigelkeime im Abenteuerlichen Herz I – erinnernden Sequenz von einem Aufenthalt in einer „[h]ydrobiologische[n] Station“. Dort widmet er sich der Analyse der Befruchtung von „Clypeastern, Seeigeln“11. Orientierend für die „Wissenschaft vom Leben“ sind hier jedoch nicht mehr organische Eigengesetzlichkeiten; im Mittelpunkt steht demgegenüber die Lehre von der Strahlung, an „Klarheit und Strenge“ mit der „Optik“12 vergleichbar. Erneut ist der Seeigel zentral, und abermals geht es um eine Beschreibung des befruchteten Seeigeleis. Dieses „wird zum Horte des oft geschauten Wunders der Strahlung und dann der Teilung, die in kunstvollen Folgen von Symmetrie und Faltung das neue Wesen modelliert.“ Bei einer genaueren Betrachtung zeigt sich de Geer, dass sowohl männlicher Seeigelsamen als auch weibliches Seeigelei vergleichbar strukturiert (wenn auch unterschiedlich geformt) sind. Beide Zellen verfügen als „strahlende Substanz“ über einen „Kern“ und ein „Plasma“: Im Plasma dürfen wir das irdische Element erkennen […]. Im Kern dagegen ruht die astrale Mitgift; wir sehen ihn daher nach Licht- und Strahlungsgesetzen wirken, wenn neues Leben entstehen soll. In jede Zeugung spielt der Bau des Universums ein.13

Im Zeugungs-Kern also regiert keine den Lebensprozessen immanente und allein von ihnen vertretene Kraft. Auch hier gelten jene universalen Gesetze, die gleichfalls für die Erklärung anorganischer Phänomene herangezogen werden können – wobei der Kraftbegriff in seinem Erklärwert problematisch wird, denn das Leitbild einer so verstandenen astralen Entgrenzung des Lebens ist nicht mehr die gewaltig-gewalttätige Kraft, im Mittelpunkt steht demgegenüber die kristalline Struktur. Ging es dem Neovitalismus um die Exklusivität der Zeugungsprozesse, die dem Leben zugrunde liegen, so erscheinen die Abläufe im Zellkern nun makrokosmischen Prinzipien inkludiert. Dabei überrascht weniger die Spiegelung des Makro- im Mikrokosmos. Interessant ist vielmehr die vor der Folie eines exklusiven Vitalismus unvorstellbare Öff11 12 13

Jünger, Heliopolis, S. 103. Der hier diskutierte Passus ist in der Heliopolis-Fassung der Werkausgabe (1960–1965) gestrichen. Vgl. zu dieser Streichung den Kommentar von Ulrich Böhme: Fassungen bei Ernst Jünger, Meisenheim/Glan 1972, S. 88  f. Jünger, Heliopolis, S. 104. Ebd. Vorhergehendes Zitat gleichfalls.



5.1  Diskurswandel mit Seeigel

269

nung des Lebendigen hin zu einer astralen und kosmischen Transzendenz. Im Ergebnis verbindet das Prinzip einer kristallinen Symmetrie, die für eine höhere, die Polarität von Organik und Anorganik entschärfende Ordnung stehen soll, den petrifizierten Ur-Seeigel mit den Zeugungsprinzipien seiner rezenten Verwandten. Steht der Ur-Seeigel für die Belebtheit des Universums von Anfang an („Das Universum lebt.“14), so geht der „Bau des Universums“15 strukturell in die biologischen Seeigel-Formierungsprinzipien (und die seiner Nachfahren) ein. Bereits in den 1920er- und 1930er-Jahren – etwa im Umfeld der Zeitschrift Die Kolonne (1929–1932) – lässt sich die Aufhebung organisch-anorganischer Differenzen im Rahmen einer Kontextualisierung des (menschlichen) Lebens innerhalb des Gesamtprozesses der Erd- und Kosmosgeschichte beobachten. Es ist sicherlich nicht falsch, in diesem Denken der Kolonne-Autoren eine grundsätzliche Marginalisierung anthropozentrischer Maßstäbe auszumachen.16 Gleichwohl rückt der Mensch nicht völlig aus dem Fokus; bleibt er doch gleichsam existentiell auf die wiederzugewinnende Harmonie mit den kosmischen Rhythmen angewiesen. So spricht David Herbert Lawrence (1885–1930) in A propos of „Lady Chatterley’s Lover“, aus dem die Kolonne den Abschnitt Kosmisches Ritual abdruckt, davon, dass „der Rhythmus des Kosmos“ etwas sei, „wovon wir nicht loskommen können, ohne unser Leben bitterlich ärmer zu machen.“17 Der Hinweis auf den von „Frühchristen“ bekämpften „heidnischen Rhythmus kosmischer Riten“18 sucht den Anknüpfungspunkt in der vorgeschichtlichen, ‚erdnahen‘ Religion. Die Denkfigur des Rhythmus avanciert innerhalb des erdgeschichtlichen Kontextes zum Bindeglied anorganisch-organischer Totalität, die es sich zurückzuerobern gelte.19 Jünger begründet die Vorstellung einer kosmischen Rhythmik, die Erd- und Menschheitsgeschichte strukturiere, dann in An der 14 15 16 17

18 19

SW 3, S. 439. Jünger, Heliopolis, S. 104. Vgl. dazu Streim, Das Ende des Anthropozentrismus, S. 110–116. David Herbert Lawrence: Kosmisches Ritual, in: Die Kolonne. Zeitschrift der jungen Gruppe Dresden 2 (1931), S. 16  f., hier: S. 17. Weiter heißt es: „Wir müssen wieder in Verbindung gelangen, in lebendige und nährende Verbindung mit dem Kosmos und dem Weltall. Der Weg führt durch tägliches Ritual und Wiedererweckung. Wir müssen wieder das Ritual des Sonnenaufganges, Mittags und Sonnenuntergangs begehen, das Ritual des Feueranzündens und Wassergießens […] das Ritual der Jahreszeiten […] mit dem Drama und der Passion der Seele, verkörpert in Prozession und Tanz […]. “ Ebd., S. 17. Lawrence, Kosmisches Ritual, S. 16. So spricht etwa Edgar Dacqué von dem „inneren, lebendigen Rhythmus des Geschehens auch in der anorganischen Natur“, mit dem „ältere Zeiten und Wissenschaften“ vertraut gewesen seien: „die dieses Seelenmäßig-Lebendige auch in der vermeintlich toten Materie erfühlten“. Er meint damit eine „Rhythmik, welche auf inneren Entsprechungen der äußeren Dinge […] beruht und als solche eine nicht auflösbare Grundursache, ein Urphänomen im Goethe-Schopenhauerschen Geiste ist.“ – Dacqué, Aus der Urgeschichte der Erde, S. 8.

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5  „Theorie der Vorgeschichte“ – aber welche?

Zeitmauer – gleich Dacqué – im Rückgriff auf die Astrologie.20 Auf diesem Weg entstehen unterschiedliche Zeitordnungen, die sowohl auf geologischerdgeschichtlich als auch vorgeschichtlich fundierte Darstellungsmuster zugreifen: Die ‚siderischen Einteilungen‘ sind durch kosmogonische, geologische und meteorologische Abläufe strukturiert; die ‚humanen Einteilungen‘ gliedern sich hingegen in mythologische, geschichtliche und nachgeschichtliche Zeit.21 Verbunden mit dem bisher beschriebenen Diskurswandel ist ein wachsendes Interesse an den Problemen der Historiographie, vor allen denen der Universalgeschichte Spengler’schen Zuschnittes, die zunächst einen Ausweg aus der Krise des Historismus zu weisen schien. Ein gutes Beispiel für dieses historiographische Problembewusstsein ist Besuch auf Godenholm (1952). In dieser Erzählung wird ein Geschichtsmodell entwickelt und diskutiert, dass die Grenzen von Natur- und Kulturgeschichte im verbindenden Rekurs auf ein „Unausgedehnte[s]“22 einebnet. Die Rede vom „Unausgedehnten“ verweist – wie uns die bereits zitierte Passage aus Die Hütte im Weinberg zeigte – vom Standpunkt des Universums aus betrachtet auf die „höhere[.  .] Einheit“ des Menschen mit dem Millionen Jahre alten Seeigel. Dieser erhöhte Standpunkt ist es auch, der in Besuch auf Godenholm argumentativ stark gemacht wird, indem unter Bezug auf jenes „Unausgedehnte“ die Grenzen, welche die einzelnen Fächer (Geologie, Prähistorik, Geschichtswissenschaft) in ihrer historiographischen Praxis errichtet haben, beseitigt werden sollen: Die Reihe Naturgeschichte, Prähistorik und Geschichte markiert keinen Entwicklungsgang  – alle drei sind gleich unmittelbar um „unausgedehnte Kerne“23 gruppiert.24 Die von Jünger angedachten holistischen Entgrenzungen der Geschichtsschreibung(en) müssen vor der Folie ihrer Begrenzungen und Differenzierung seit der Aufklärung betrachtet werden – eben darin verweisen sie auf ihren argumentativen Ort innerhalb der Krise des Historismus. Im Gespräch mit der Astrologie, die Erdgeschichte als Geschichte der Gestirne zu fassen sucht, kann man zunächst ganz allgemein den Versuch Jüngers sehen, jenen providenziellen Raum zurückzuerobern, der durch das Geschichtsverständnis seit der Aufklärung als überwunden galt. Bis in die Frühaufklärung hinein firmiert der Plan Gottes als Garant einer Zukunft, die den geschichtlichen Gang bestimmt und nach menschlichen Maßstäben nicht vollumfäng20 Dacqué möchte den „verhüllte[n] Sinn ursprünglich echt astrologischen Weltwissens, das so ganz entartet und entstellt durch unsere Aufklärungsjahrhunderte auf uns gekommen ist“, wieder zugänglich machen. Ebd., S. 9. 21 Vgl. zu dieser Einteilung ausführlich Kap. 7.1. 22 SW 15, S. 380. 23 Ebd. 24 Vgl. ausführlich zu Besuch auf Godenholm Kap. 6.



5.2  Dichterische Besichtigung der Kosmogonie

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lich eingesehen werden kann. In diesem Sinne ist das alte, theozentrische Providenz-Denken bereits anti-anthropozentrisch. Jünger kombiniert diese vormoderne Sicht auf die Vorsehung mit der Abwertung eines von der Aufklärungshistoriographie erarbeiteten linearen und ‚offenen‘ Geschichtsverlaufs. Im Interesse an der zyklischen Geschichtsphilosophie Spenglers, das Jünger seit den 1920er-Jahren bekundet, zeigt sich diese Abwertung deutlich. Doch die Reichweite von Spenglers Argumentation reicht nicht (mehr) aus, bleibt sein organologisches Modell doch innerhalb der Grenzen der menschlichen Geschichte – und über die will Jünger ab den 1950er-Jahren hinaus. Jüngers Interesse an der geologischen Tiefenzeit der Erde wendet sich noch in einer anderen Hinsicht vom ‚Projekt Geschichte‘ ab, wie es die Aufklärung skizzierte. Das tiefenzeitliche Interesse gewinnt seine geschichtskritischen Konturen nämlich vor der Folie einer spätaufklärerischen Geschichtsschreibung, die die ‚Vorzeit‘ aus dem Kreis der sie interessierenden Gegenstände mit dem Hinweis auf fehlende belastbare Quellen ausschließt.25 Verbunden mit der Rückkehr zum providentiellen Denken der Vormoderne, das den theologischen gegen den astrologischen Mantel eintauscht, gesellt sich also als zweiter aufklärungskritischer Impuls die Einordnung und das heißt Marginalisierung des Menschen im Rahmen „metahistorischer Zeiträume“26, wie es in An der Zeitmauer heißt. Hier geht es darum, die lineare Differenzierung geschichtlicher Zeiträume wie sie etwa durch die Einteilung in Prähistorik, alte, mittelalterliche und neue Geschichte erfolgt, rückgängig zu machen. In der Rede vom „Unausgedehnten“ zeigt sich Jüngers Geschichtsdenken jenseits linearer aber auch jenseits organologischer Entwicklungskonzepte.

5.2  Dichterische Besichtigung der Kosmogonie. Mit dem Bergrat unterwegs Sind es in den Marmorklippen der Held und sein Bruder selbst, die sich in der Rautenklause wissenschaftlich betätigen, so wird jene Rolle in Heliopolis vorrangig von den Figuren, die Lucius de Geer zur Seite gestellt werden, ausgefüllt. Diese beraten den Protagonisten des Romans entweder direkt (Bergrat) oder gehören zumindest der gleichen politischen Parteiung wie er an (Prof. Orelli), dem Prokonsul. Heliopolis schließt ohne Zweifel an die zehn Jahre zuvor erschienenen Marmorklippen an, doch unterscheidet sich die Ordnung der politischen Diskussion grundlegend. Im Gegensatz zur manichäischen Welt der Marmorklippen, in der die ‚gute‘ Rautenklause vom Reich des 25 26

Vgl. dazu ausführlich Kap. 1.3. SW 8, S. 404.

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5  „Theorie der Vorgeschichte“ – aber welche?

‚bösen‘ Oberförster deutlich getrennt ist, stehen sich in Heliopolis nun zwei Gruppierungen gegenüber, ohne dass der Held vorbehaltlos für eine Partei ergreifen würde. De Geer ist zwar im Dienst des Prokonsuls, der dem Totalitarismus des Landvogtes entgegengesetzt ist, identifiziert sich jedoch im Laufe des Romans immer weniger mit dessen Zielen. Heliopolis knüpft aber nicht nur in der Präsentation imaginärer politischer Machtverhältnisse an die Marmorklippen an. In den Forschungen des Bergrates zur Kosmogonie, der Auseinandersetzung zwischen Prof. Orelli und Dr. Beckett um den Wert der Prähistorik (s. 5.3) und schließlich Dr. Becketts offen auf den Nationalsozialismus anspielender rassistischer Ethnologie (s. 5.4) wird jener rote Faden der Wissenschaftsfiktion weitergesponnen, der in der Marmorklippen-Welt durch die botanische Arbeit der Rautenklause-Brüder bestimmt ist. Schauen wir uns zunächst den Bergrat genauer an. Beschrieben wird dieser als „gnomenhaftes Männchen[…][,] bucklig verwachsen, und das Gesicht war greisenhaft verknittert, obwohl es einen kindlichen Ausdruck trug.“27 Die äußeren Auffälligkeiten, die ihn als Zwerg, als Bewohner eines unterirdischen Reiches ausweisen, bestätigt der Roman später. Zunächst jedoch ist er als kosmogonischer Seher charakterisiert, dem auf einer Erkundungsreise in den „Kaukasus“ Einblicke in die Geschichte der Erdentstehung möglich werden. Trotz des Anspruchs, jegliches positives Wissen von der Entstehung der Erde in der unmittelbaren Schau zu transzendieren, trägt der Bericht des Bergrates ein methodisches und damit quasi-wissenschaftliches Gepräge. So ordnet er die Beobachtungen seiner Exkursion durch (fiktive) geographische Bezeichnungen („mare serenitatis“, „turres somniorum“) und im Rekurs auf gleichfalls fiktive, als vorliegend ausgewiesene geologische und geographische Erkundungsergebnisse (durch „Rutherford“ und „Fortunio“), die den Charakter von ‚Fachliteratur‘ zugesprochen bekommen. Besonders der Verweis auf die Vermessungsergebnisse Fortunios, die dieser „auf seiner dritten Erkundungsfahrt“28 gemacht habe, ist interessant. Als Berufungsinstanz ist Fortunio aus den Marmorklippen gut bekannt; bereits dort galten seine Exkursionsberichte aus dem Reich des Oberförsters als belastbare Quellen.29 In Heliopolis wird er nun sogar ausführlich zitiert. Unterwegs ist er hier in Sachen kosmogonischer Schau, und zwar „‚zu einem der kosmischen Horte, zu einer Schatzgrotte des Universums.‘“30 Genau von diesem Ort ist auch der Bergrat fasziniert. Dass er sich bei dessen Charakterisierung voll und ganz auf die Beschreibung Fortunios verlässt, hat einen einfachen Grund in dem naturphilosophischen Glaubens27 28 29 30

Jünger, Heliopolis, S. 15. Ebd., S. 16, vorhergehende Zitate gleichfalls. Vgl. dazu Kap. 4.2.5. Jünger, Heliopolis, S. 19.



5.2  Dichterische Besichtigung der Kosmogonie

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bekenntnis des Bergrates: „Die Dichtung dringt weiter als die Erkenntnis vor.“ Und als solchen Dichter muss man sich Fortunio wohl vorstellen: „Schatzgräber hohen Ranges bleiben noch unbefangen, wo auch der Wissendste erschrickt.“31 Die epistemische Signifikanz des Dichterischen ist ein guter Beleg für den begrenzten Erkenntnishorizont, der wissenschaftlichem Vorgehen, d.  h. disziplinär institutionalisiertem Fragen eingeräumt wird.32 Schaut man genauer darauf, was hier als ‚dichterisch‘ firmiert, so lassen sich mindestens zwei Dimensionen unterscheiden. Zum einen geht es um die „großen Kosmogonien und Schöpfungssagen“, die gleichsam als gattungstypologisches Vorbild für die beschreibende Arbeit des Dichters ausgewiesen werden: Zu den „Ursprünge[n] […] dringt keine Wissenschaft“33 vor, deshalb ist die dichterische Rede in der Pflicht. Eine literarische Imprägnierung erhält die Verbindung Fortunio – Bergrat zudem durch die Aussage des letzteren, beide seien einst in den „Faluner Werken“34 zusammengetroffen.35 Die poetologische Matrix, die dem vom Bergrat ausführlich zitierten Bericht Fortunios zugrunde liegt, findet sich im Vorwort (1949) zu den Strahlungen. Sowohl mit Blick auf eine Tiefenhermeneutik der sichtbaren Oberfläche als auch eine Verbindung von diskursiver und bildhafter Sprachverwendung gibt Jünger hier wichtige Hinweise, die die Beschreibungen Fortunios strukturieren. Dass Fortunio die sichtbaren geologischen Oberflächen auf eine kosmogonische, unsichtbare Ordnung hin fokussieren kann, liegt darin begründet, dass er im „Sichtbaren […] alle Hinweise auf den unsichtbaren Plan“ erkennt. Während „Positivismus“ und „Naturalismus […] doch nur grobe Ausschnitte, nur Oberflächenreliefs“36 liefern würden, fasse der wahre Dichter durch und in der Beschreibung der Oberfläche das Unsicht31 32

33 34 35

36

Ebd., vorhergehendes Zitat gleichfalls. Insofern hier der Bericht Fortunios der wissenschaftlichen Analyse vorgezogen und somit deutlich von dieser gesondert wird, ist Hans Krahs These zu relativieren, dass in Heliopolis Wissenschaft und Dichtung „nicht als verschiedene Diskurssysteme angesehen“ werden. Hans Krah: Die Apokalypse als literarische Technik. Ernst Jüngers Heliopolis (1949) im Schnittpunkt denk- und diskursgeschichtlicher Paradigmen, in: Hagestedt (Hrsg.), Ernst Jünger, S. 225–252, hier: S. 237 Jünger, Heliopolis, S. 19, vorhergehendes Zitat gleichfalls. Ebd., S. 16. Dies ist zunächst als Anspielung auf E.T.A. Hoffmanns Die Bergwerke zu Falun (1819) zu werten. Präsent dürften jedoch bei einigen Zeitgenossen gleichfalls die Dramatisierungsversuche des Stoffes durch Hugo von Hofmannsthal (Das Bergwerk zu Falun) gewesen sein. Noch vor der erstmaligen Veröffentlichung des Schauspiels in einer vollständigen Fassung 1946 in den Gesammelten Werken (und einer Uraufführung 1949 in Konstanz), erschienen bereits 1932 Auszüge in der Corona – in jener Zeitschrift also, in der auch Jünger ab 1934 publizierte. – Vgl. Hugo von Hofmannsthal: Das Bergwerk zu Falun, in: Corona. Zweimonatsschrift für Dichtung und Forschung III/1 (1932), S. 5–47, III/2 (1932), 147–172; vgl. zu Jüngers CoronaPublikationen Kap. 4.3.1. SW 2, S. 20.

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bare. Dies gelingt nur durch eine Sprachverwendung, die logische und bildhafte Elemente zugleich umfasst. Ziel muss es demnach sein, „die Hieroglyphensprache zu verschmelzen mit der Sprache der Vernunft“; mit anderen Worten: „in der Sprache verschmelzen die logischen Figuren mit den Ideogrammen des style imagé.“37 Bereits die einleitende Rede des Bergrates ist durch einen antivitalistischen, anästhetischen Optozentrismus charakterisiert; durch ein Schauen mithin, innerhalb dessen die kristalline Form und das gleißende Licht zur anorganischen Super-Matrix stilisiert werden.38 Der Bergrat spricht hier von der „Lebensferne“ und der „Ferne des Lebensgeistes“, die der Anblick des als „turres somniorum“ kartographisch verzeichneten Gebietes einflöße: „Zusammenhänge von anderer Art als jener, die wir als Leben kennen, beginnen aufzuleuchten – der Stil der Baupläne.“39 Die Polarität von Leben und Geist setzt sich in den Beschreibungen Fortunios fort. In der Verbindung von geologisch interessierter Beobachtung und kosmogonischem Sehertum zeigt sich die Tiefenhermeneutik der Oberfläche. Einerseits beschreibt Fortunio die „Werkstätten der Eiszeitschmelzen im Urgestein“40 in der nüchternen Diktion des geologischen Diskurses, andererseits jedoch wird dieser immer wieder durchbrochen – und dies in zweierlei Richtung. Im Rückgriff auf eine ästhetizistische Wahrnehmung löst sich zum einen die präsentierte geologische Topographie immer wieder in reine Farb- und Lichteffekte auf.41 Zum anderen fungieren diese optischen Effekte als Initiationserlebnis, das den Zugang zu einer mythischen Welt ermöglicht und das geologisch-atmosphärisch Vorfindliche transzendiert: [I]n der Weltenferne des Smaragdturms und seines Grals trat der Geist des Makrokosmos ein. Die Morgen- und Abendröten glühten im Spiel der Wolkenbänder und Gloriolen […]. Im blauen und grünen Schatten dämmerten die Grotten, an deren Marmorbecken Arethusa träumt. Auch wurden die Glut- und Feuerzeiten wach, 37 38

39 40 41

Ebd. Vgl. zum Synthesefeld von begrifflich und bildlich orientierter Sprachverwendung in den Strahlungen: Brandes, Der „Neue Stil“, S. 110  f. „Es fehlt das Rankenwerk der Leidenschaften, die wirre und doch vertraute Runenschrift der Lebenswelt. Die Geisteswelt tritt unverhüllt hervor, mit blendenderem Lichte, als es den Augen frommt. Sie öffnet den Zirkel strenger und feierlicher Bilder, Pläne entschleiernd, die sonst verschlüsselt und menschlicher Betrachtung im Innersten der Heiligtümer verborgen sind.“ (Jünger, Heliopolis, S. 17) An anderer Stelle heißt es jedoch, dass von diesem „Horte im Kristallschoß […] ein verborgenes Leben“ ausging (Ebd., S. 22). Die Entgegensetzung von ‚Leben‘ und ‚Kristall‘ wird hier durch die vitalistische Metaphorik des Anorganischen durchbrochen. Jünger hat diesen Passus in der Heliopolis-Fassung der Werkausgabe (1960– 1965) entfernt, wohl um Missverständnissen hinsichtlich der argumentativ nicht unwichtigen Polarität von ‚Geisteswelt‘ und ‚Leben‘ vorzubeugen. Jünger, Heliopolis, S. 17. Ebd., S. 21. Vgl. ebd., S. 20, S. 22.



5.2  Dichterische Besichtigung der Kosmogonie

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die längst in bunten Laven erkalteten. Auf hohen Gipfeln schimmerten Asgards Paläste; es glänzte die Brücke, die Heimdall mit seinem Horn bewachte. Und wieder flammten die großen Lichter auf.42

Die Imagination der noch nicht gefestigten und erkalteten Erdkruste, auf die Fortunios „‚bunte[.  .] Laven‘“ verweisen, bekommt durch ihre Spiegelung im Korsett der nordischen Mythologie eine schöpfungsgeschichtliche Dimension beigelegt, für die der ‚positive‘ geologische Befund allein nicht einstehen kann. Das schlussendliche Wiederaufflammen der Lichter signalisiert zudem die Rückeroberung des Erdentstehungsgeschehens – der „Glut- und Feuerzeiten“ – durch den schöpfungsgeschichtlichen Kommentar. Es geht hier um nichts Geringeres als die Wiederholung des geologischen Ursprungs. Mit Blick auf die im Vorwort der Strahlungen entworfene poetologische Duplizität von „logischen Figuren“ und „Ideogrammen des style imagé“43 ist entscheidend: Das rationale Schlussverfahren, dass für die geologische Vergangenheit der Erde keine anderen Veränderungsprozesse angenommen werden dürfen als jene, die auch noch in der Gegenwart vor sich gehen – wie es sich in der Rückführung der erkalteten Laven (eruptiertes Magma) auf frühere Glutzustände zeigt –, erfährt eine dezidiert anti-rationale Transzendierung ins Mythische. Im Rahmen der Verschmelzung diskursiver mit bildlich-hieroglyphischer Sprache wird die Oberfläche transparent. Man kann in dieser Mythologisierung geologischen Wissens eine Wiederaufnahme der ‚stereoskopischen Schau‘ ausmachen wie sie Jünger im Silzilischen Brief an den Mann im Mond (1930) erprobt. In gleichem Maße, in dem innerhalb des Sizilischen Briefs astronomisch-mathematisches Wissen und mythologische Schau vereint werden, handelt es sich hier um eine Allianz von geologischem Wissen hinsichtlich der die Erdoberfläche betreffenden Veränderungsprozesse und schöpfungsgeschichtlicher Tiefenhermeneutik. In An der Zeitmauer (1959) wird Jünger dann explizit an den Sizilischen Brief anknüpfen, um den Weg aus der Geschichte in die planetarische Zeitordnung zu gehen.44 Die Entgrenzung der unvorstellbar langen geologischen Zeit in die mythische Zeit kündigt sich jedoch bereits in Heliopolis an. Den Bergrat selbst wie auch Fortunio präsentiert der Erzähler als epistemische Reflexionsfiguren in der Tradition Nigromontans, nämlich als dessen „Adepten“45. Der Leser, dem die Rolle, die der fiktive Nigromontan bei Jünger seit dem Abenteuerlichen 42

43 44 45

Ebd., S. 23. Jünger hat den letzten Teil dieses Zitates, in dem Gestalten aus der nordischen Mythologie auftreten, in der Heliopolis-Fassung der Werkausgabe (1960–1965) entfernt. Ulrich Böhme begründet die Streichung vor allem stilkritisch. Vgl. Böhme, Fassungen bei Ernst Jünger, S. 89  f. SW 2, S. 20. Vgl. zu An der Zeitmauer Kap. 7.1. Jünger, Heliopolis, S. 294.

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5  „Theorie der Vorgeschichte“ – aber welche?

Herz II (1938) spielt, nicht geläufig ist, erfährt – gleichsam die Ursprünge der Erkenntnismethode des Bergrates und Fortunios freilegend – folgendes: „Nigromontanus war ein substantieller Geist, ein Geist der Erde, der in ihrer Oberfläche die Muster der Tiefe deutete.“46 – Nicht anders verfahren der Bergrat und Fortunio bei ihrer geologischen Arbeit. Es ist bisher bei der Deutung von Heliopolis kaum beachtet worden, dass die Imagination der mythisch-kosmischen Geologie durch den Bergrat und Fortunio ein zeitgenössisches bildkünstlerisches Pendant findet. Verbunden ist dieses mit dem Namen Ernst August von Mandelsloh (1886–1962). Der Österreicher steht seit etwa 1950 im Kontakt mit Jünger und fertigt Illustrationen zum Abenteuerlichen Herz II, den Afrikanischen Spielen und zu Besuch auf Godenholm an. Die meisten Arbeiten widmet er jedoch Heliopolis.47 Jünger selbst gibt recht genaue Vorgaben, in welcher Art und Weise er seinen Roman bildnerisch interpretiert wissen will. So solle Mandelsloh „immer weiter am Thema fortspinnen“: „Ich würde vorschlagen, daß wir von Stücken absehen, die sich auf reine Farbwerte gründen – da das Thema gegeben ist, liegt es nahe, daß der illustrative oder thematische Charakter sichtbar bleiben muß.“48 Unter dieser Maßgabe entwirft von Mandelsloh etwa 40 Aquarelle, die er in einem Brief an Jünger als „Phantasien zu Heliopolis“49 bezeichnet. Eine dieser „Phantasien“, die sich im Original-Manuskript von Heliopolis in drei Variationen erhalten hat (s. Abb. 48–50), gilt dem „Kristallwald“. Die für den Ursprung kosmisch-tellurischer Energien einstehende kristalline Formation beschreibt der Bergrat zunächst selbst, anschließend in dem mythische und geologische Facetten verbindenden Bericht Fortunios. An der Behand46 Ebd. 47 Vgl. Katalog Stift Göttweig: Ernst August Freiherr von Mandelsloh 1886–1962. Ein vergessener österreichischer Maler mit Illustrationen zum Werk Ernst Jüngers, 27. Ausstellung des Graphischen Kabinetts Göttweig (Jahresausstellung 1978), Gestaltung und Katalog besorgt v. Gregor Martin Lechner, Stift Göttweig 1978, S. 10–12. 48 Jünger an Mandelsloh (19. 10. 1951), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Teile der Korrespondenz Jünger (zunächst vertreten durch Armin Mohler) – Mandelsloh sind abgedruckt in: Katalog Stift Göttweig, Mandelsloh, S. 75–84. 49 Mandelsloh an Jünger (22.  02. 1951), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Mandelsloh bestreitet Mitte der 1950er-Jahre einige Ausstellungen mit Bildern zu Werken Jüngers, so in Aachen (Suermondt-Ludwig Museum, 1954), Saulgau (Die Fähre, 1954) und Goslar (Sonderausstellung der Stadt, 1955). Diese Arbeiten erschienen nie geschlossen im Druck und befinden sich noch heute im Nachlass des Malers. Die von Jünger und Mandelsloh ins Auge gefasste Zusammenarbeit mit dem Schweizer William Matheson, der seit Beginn der 1950er-Jahre für die Oltener Bücherfreunde bibliophile Ausgaben einzelner Texte Jüngers realisiert, kam offensichtlich nicht zustande. Das Hauptproblem stellte hier wohl, darauf verweist der Briefwechsel, die aufwendige und damit kostspielige Reproduktion der Aquarelle dar. Nach außen hin dokumentiert wird die Zusammenarbeit der beiden um 1950 lediglich durch Mandelslohs Illustration von Ortners Erzählung, die als Auskopplung aus dem Roman Heliopolis 1949 im Heliopolis-Verlag Tübingen erscheint.



5.2  Dichterische Besichtigung der Kosmogonie

Abb. 48: Ernst August von Mandelsloh: „Kristallwald“ I, Illustration zu Heliopolis

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5  „Theorie der Vorgeschichte“ – aber welche?

Abb. 49: Ernst August von Mandelsloh: „Kristallwald“ II, Illustration zu Heliopolis



5.2  Dichterische Besichtigung der Kosmogonie

Abb. 50: Ernst August von Mandelsloh: „Kristallwald“ III, Illustration zu Heliopolis

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5  „Theorie der Vorgeschichte“ – aber welche?

lung des Sujets durch Mandelsloh wird deutlich, wie eng der Maler sich, bis in die Farbgebung hinein, an die Textvorlage Jüngers hält und damit, wie von Jünger gefordert, die rein malerischen Impulse der illustrativen Funktion unterordnet. Der „Kristallwald“, so berichtet es zunächst der Bergrat, ist „ein hohes Röhricht von Mineralen, in dem die Farben längst erloschener Brände erkaltet sind. Die Riesenkristalle sind spieß- und klingenförmig wie aschengraue amethystene Schwerter, deren Spitzen im Gluthauch kosmischer Schmiedefeuer welkend gebogen sind.“50 Fortunio sieht den „Kristallwald als Kelchkranz, die Gipfel als aufgewölbte Frucht- und Blütenböden an“51: „‚Die weiße Krone war aus Smaragdbrand aufgezündet, aus schneeiger Lava, die blasig gewoben war wie Perlenschaum. Hier hatte wohl dereinst die Glut den höchsten, sprühenden Grad erreicht.‘“52 Der Bergrat gilt als „großer Schürfer“53. In dieser metaphorischen Bezeichnung finden geologische Praxis und metaphysische Suche zusammen. Sein eigentliches Reich befindet sich etwas abseits der Stadt Heliopolis, in der Gegend auf dem „Pagos“. Als „Verwalter des Goldtresors“ steht er in Diensten des Prokonsuls. Der steinige Weg zum Bergrat, den der Held Lucius de Geer auf sich nimmt, ist nicht nur ein Weg in das Gebirge – es ist auch ein Weg zurück in die Zeit. Dies zeigt sich schon in der erdentstehungsgeschichtlichen Perspektive, in der der Erzähler de Geers Aufstieg zunächst konturiert: „Dann schloß sich ein Felsenkessel auf, eines der runden Strudellöcher, die an die großen Schmelzen der Eiszeit erinnerten.“54 Der glazialgeologische Blick wird bald durch ein vorgeschichtliches Interesse an frühmenschlichen Siedlungsspuren abgelöst,55 das schließlich – im Angesicht des „Troglodytensitze[s]“ des Bergrates – ins Märchenhafte umschlägt. Tatsächlich fühlt sich Lucius „an das Lebkuchenhäuschen der Zauberin im Märchen“ erinnert: „die Mauern waren ganz mit Ammonshörnern, mit Muscheln, Schnecken, 50 51 52 53 54 55

Jünger, Heliopolis, S. 18  f. Ebd., S. 19. Ebd., S. 20. Ebd., S. 294. Ebd., S. 212. In dieser Gegend „hatten längst vor Nimrods Zeiten Urjäger ihren Sitz gehabt. Man fand noch in den Grotten ihre Feuerstätten mit Waffen aus Silex und Knochen von ausgestorbenem Getier, auch Bilder magischer Opfer und Jagden an der Wand.“ (Ebd.) Bereits im Rahmen einer ersten kulturgeschichtlichen Würdigung der Stadt Heliopolis berichtet der Erzähler über den „Pagos“, dass in dessen „Höhlen Bilder frühester Jagden“ zu finden seien; „man grub Idole aus dem Grund.“ Lucius ist besonders von der magischen Dimension der frühen Kunst überzeugt. Im Gespräch mit dem Maler Halder pflichtet er diesem bei, das „Wunderkraft unmittelbar“ von der bildnerischen Gestaltung ausstrahlen könne: „Lucius meinte, daß dies die Innenseite sei, gewissermaßen die Schöpfung des magischen Inbilds, deren Hauch schon die Figuren der Tiere und Jäger in den Höhlen des Pagos umwittere.“ (Ebd., S. 113) Die Bezeichnung „Urjäger“ ist in der Heliopolis-Fassung der Werkausgabe (1960–1965) geändert in „Jäger“. SW 16, S. 178.



5.2  Dichterische Besichtigung der Kosmogonie

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Donnerkeilen, und anderen Fundstücken bedeckt.“ „[S]schatzgrottengleich“ wird das „Leben versunkener Weltenalter“56 erfahrbar. Märchenhaft, d.  h. wunderbar, ist hier vor allem der Umstand, dass die naturgeschichtlichen Zeugnisse dieser „versunkene[n] Weltenalter“57 auf der räumlichen Oberfläche des Hauses erscheinen: Die in ihren Ausmaßen kaum vorstellbare geologische Tiefenzeit lässt sich als synchron erfahrbares Tableau zeigen – am Leitfaden der ihr zugehörigen Fossilien. Doch nicht nur am Äußeren des Hauses lassen sich Fossilien nachweisen, auch im Inneren spielen diese eine Rolle. So präsentiert der Bergrat de Geer ein besonders schönes Stück seiner Petrefakten-Sammlung, eine „Seelilien-Platte“58. Seelilien, sog. Crinoidea, haben für Sammler einen besonderen ästhetischen Reiz, der Jünger – maßgeblich vermittelt über Otto Klages – keineswegs fremd war (vgl. Abb. 14).59 Eberhard Fraas, dessen Petrefaktensammler (1910) sich in Jüngers Wilflinger Bibliothek finden lässt,60 spricht mit Blick auf die versteinerte Tierart davon, dass eher selten anzutreffende „wohlerhaltene, vollständige Exemplare […] eine besondere Zierde unserer Sammlungen“61 seien. Das Seelilien-Stück des Bergrates gilt dem Erzähler als „außerordentlich“ und fordert zu einer genauen Beschreibung auf.62 Lucius zeigt sich im kristallinen Element die Struktur kosmogonischer Ordnung, jener Ordnung also, die der Bergrat zuvor in dem als „turres somniorum“ kartographierten Gebiet bestätigte. Als 56 Jünger, Heliopolis, S. 212. 57 Ebd. 58 Ebd., S. 214. 59 Vgl. zur Beziehung Jünger – Klages Kap. 1.5. 60 Fraas, Der Petrefaktensammler. Verzeichnet ist ein Exemplar des Buches unter der DLA-Signatur: WJB05.02/10. 61 Ebd., S. 63; s. auch S. 127, wo Fraas Seelilien als „stets erfreuliche und gesuchte“ „Sammler“„Stücke“ bezeichnet. 62 „Das Lilienstück […] ruhte auf einem Untersatz von Eichenholz. Obwohl kein Stäubchen seinen Spiegel trübte, rieb es der Bergrat sorgsam mit einem Tuche ab. Es mußte aus einem Block von Klaftergröße, den man gespalten hatte, herausgeschliffen worden sein. […] Die Pflanzentiere waren in blendend weißem, kristallisiertem Marmor eingebettet, eisblumengleich. Der Schliff traf sie der Länge nach wie schmale Magnolienknospen, oder er schloß im Querschnitt ihr Strahlenmuster auf. Dazwischen rankten sich die Stiele, die hier und dort in ihre Glieder zerfallen waren, als wären Münzen ausgestreut.“ Jünger, Heliopolis, S. 214  f., Hervorhebung N.K. Bei Fraas findet sich neben einer genauen Charakterisierung der gleichfalls bei Jünger erwähnten „Stiele“ auch die Rede davon, „dass die Seelilien gleich nach dem Tod zerfallen“ würden. Fraas, Der Petrefaktensammler, S. 62  f., Hervorhebung N.K. Eine genaue Beschreibung der Seelilie findet sich zudem bei Klages. In seinem Beitrag zur Festschrift zu Jüngers 70. Geburtstag heißt es mit Blick auf die „prächtige Seelilie Encrinus liliiformis“ sowohl gleichfalls das Moment des Zerfallens betonend als auch die Metaphorik der Münzen nutzend: „Keine Pflanze, sondern ein Tier aus der Familie der Stachelhäuter. Erkerode am Elm, die klassische Fundstätte, lieferte mir eine Platte mit 16 Seelilien, die Kronen und die bis 70 cm langen Stiele prächtig erhalten. Nach dem Ableben der Tiere zerfielen die Stiele in einzelne kleine Trömmelchen, Trochiten oder Bonfaziuspfennige genannt.“ Klages, Der Auftrag, S. 35.

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5  „Theorie der Vorgeschichte“ – aber welche?

Schüler Nigromontans und des zwergenhaften, in die Geheimnisse der Erde eindringenden „große[n] Schürfer[s]“ weiß er um die dem ‚stereoskopischen Blick‘ gehorchenden tiefen Oberflächen: Lucius sah dieses Petrefakt mit dem Erstaunen, das ihn stets vor solchen frühen Bildungen ergriff – dem Hieroglyphenstil der ersten Urkunden. Es war auch Bangen in dieses Staunen eingemischt. Im Mathematischen, im Strahlenhaften der Konstruktion lag etwas Unerbittliches, der Glanz von höchsten Werkstätten, die Einsamkeit erhabener Spiele und Spiegelungen am ersten Schöpfungstag, noch vor Erfindung des Leviathan. Hier herrschte noch […] das gleißende Skelett des Lebensplanes, sein in Kristall gegrabenes Gesetz.63

Inszeniert wird hier ein Wechselspiel von sichtbarer Oberfläche und unsichtbaren Gründen, deren Korrespondenzen der Rang einer eigenen kosmogonischen Qualität zugesprochen wird. Im „Skelett des Lebensplanes“ sind die Möglichkeiten organischen Reichtums vorgezeichnet und kodifiziert; im vitalen Raum realisiert sich lediglich diese Matrix. Das Kristalline hatte bereits der Bergrat den organischen Kräften entgegengesetzt, indem er das „fleischliche[.  .] Gewande“ – „die Lebensfülle“ – dem „Strahlenkleid“64 gegenübergestellte. De Geer spiegelt nun die petrifizierten paläozoologischen Reste in der mosaischen Rede vom „ersten Schöpfungstag“ und bringt somit positiven geologischen Befund und mythische Deutung zur Deckung. In der kosmogonischen Schau werden die Grenzen der „Wissenschaften“ durchbrochen, denn freilich: weder Geologie noch Paläontologie können ihre Objekte schöpfungsgeschichtlich entgrenzen.65 Lucius de Geer stammt nicht aus Heliopolis. Seine Heimat ist das „Helgoland“ ähnliche „Burgenland“. Ein wichtiges Merkmal der diese Gegend charakterisierenden Gesteinsformation, des „Jaspis genannte[n] Marmor[s]“, ist die Durchsetzung mit „Ammonshörnern“, „die unter Druck dereinst versteinerten und nun als Muster im Fels erhalten sind.“66 Bereits die Klause des Bergrates zeigte Spuren dieser Versteinerungen; hier nun werden sie als „alte Wappen“ angesprochen, als symbolische Repräsentanten des Burgenlandes. Als Lucius seine Geliebte Budur Peri über die Entstehungsgeschichte 63 64 65 66

Jünger, Heliopolis, S. 215. Ebd., S. 23. „Vor solchen Funden [wie dem der Seelilie – N.K.] fiel der Menschenblick durch eine Spalte auf den Vorhof eines Architekten, auf dem das Licht zu mächtig war. Die Wissenschaften führten alle auf diesen Ausblick zu.“ Ebd., S. 215. Ebd., S. 355. Der im Folgenden diskutierte Passus ist in der Heliopolis-Fassung der Werkausgabe (1960–1965) gestrichen. Auch der Titel des Kapitels, in dem er sich in der Erstfassung finden lässt, erfährt Veränderungen: Ist 1949 noch von „Gespräche[n] über Rausch, Macht und Traum“ die Rede (Ebd., S. 313), so werden in der Kapitelüberschrift der Zweitfassung „Gespräche in der Volière“ angekündigt. SW 16, S. 262.



5.2  Dichterische Besichtigung der Kosmogonie

283

seiner Heimat aufklärt, verlässt er sich ganz auf die Expertise des Bergrates: Von den ersten geologischen Veränderungen über die Herausbildung der Ur-Fauna bis hin zur Entstehung früher menschlicher Siedlungen führt dessen Begutachtung des urweltlichen Burgenlandes.67 Die Rekapitulation der Entstehungsgeschichte in der zeitraffenden Darstellung führt dabei Jahrmillionen in einigen wenigen prägnanten Sätze zusammen; wobei jene für ur- und vorgeschichtliche Erzählungen typischen Topoi aufgerufen werde, etwa wenn es um die Ausrottung einzelner Tierarten oder den Wechsel von der Jäger- und Sammler- zur Ackerbaukultur geht.68 Die strenge Sukzession erd- und kulturgeschichtlicher Abschnitte sowie die quasi-kausale Abfolgelogik unterschiedlicher kulturtechnischer Neuerungen und Errungenschaften kontrastiert dabei eigentümlich mit einer stillgestellten Zeit, die Lucius als eigentliche Besonderheit burgenländischer Mentalität herausstellt. Damit wird hier ein Thema angesprochen, das bereits im Reisebericht Myrdun (1943) anklingt, vor allem dann aber die literarischen und essayistischen Arbeiten der 1950er – etwa Besuch auf Godenholm (1952), Das Sanduhrbuch (1954) oder den Großaufsatz An der Zeitmauer (1959) –, schließlich aber auch das Antaios-Projekt (1959–1971) und das späte Rund um den Sinai (1975) maßgeblich prägen wird: das mythische Zeitbewusstsein. Der Vorrat an ungeformter Zeit war stets unendlich größer als die Möglichkeit der Ausschöpfung. In diesem Sinne kann man sagen, daß wir in unseren Felsen in der Steinzeit verblieben sind, deren weite Rhythmen zwar durch Feste gegliedert werden, nicht aber durch Notdurft und Bedarf. Dem kam ein eingeborener Hang entgegen, die Zeit als Muße zu begreifen, nicht aber als materiellen Wert. Es mag damit zusammenhängen, daß man bei uns auch niemals die Sanduhr durch die mechanische Uhr ersetzte […]. Von Anfang an bestand ein Schauder davor, die Zeit meßbar zu machen und jene Bahn der Technik zu beschreiten, die auf immer schnellere Umdrehung dringt.69

Der Rückbezug auf die steinzeitliche Zeitordnung stellt nicht auf die Teilhabe am frühgeschichtlichen Entwicklungsbeginn, sondern an vorgeschicht67

68 69

„‚Der Bergrat ist der Meinung, daß diese Felsen durch Auswaschung von weicheren Gesteinen, die sie umbetteten, hervorgetreten sind. Die Hülle wurde im Lauf zahlloser Jahre durch die Gewässer abgetragen, und die Kerne wuchsen aus ihr hervor. In diesen Zeiten muß das Unterland sumpfig und waldig und von großen Tieren, deren Knochen man heute noch zuweilen findet, bevölkert gewesen sein. Auch heißt es, daß die ersten Siedler in ständiger Bedrohung lebten, als Jäger und Fischer auf umzäunter Lichtung oder in Schilfhütten am Uferrand.‘“ Jünger, Heliopolis, S. 355. „Dann kamen jene [Siedler – N.K.], die sich auf den Höhen einrichteten und mit ihnen eine neue Zeit. Sie rotteten die Ungeheuer aus und brachten neben starken Waffen das Pferd, den Wagen, den Pflug, die Tiere und Pflanzen des Ackerbaues mit.“ Ebd., S. 356  f. Ebd., S. 357, Hervorhebung N.K.

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5  „Theorie der Vorgeschichte“ – aber welche?

licher, vor-entwicklungsgeschichtlicher Zeit ab. Die Verweigerungshaltung gegenüber der messbaren Zeit ist dabei auch als eine Absage an die geschichtliche Zeit schlechthin zu lesen. Bereits in Myrdun, Jüngers Tagebuch einer Norwegen-Reise, wird der „Mensch […] auf Verhältnisse verwiesen, die ihm seit Urzeiten eigentümlich sind“70. Als Voraussetzung dafür macht Jünger den Umstand geltend, dass das Land „noch nicht in einen Abschnitt eingetreten“ sei, „in dem die Elementarkraft sich in historischen Bildungen niederschlägt.“71 Folgt man Lucius, so gilt gleiches auch für das Burgenland. Das besondere Zeitbewusstsein erscheint hier an die früheste Epoche der Menschheitsgeschichte, die bereits in Myrdun aufgerufene „Steinzeit“72 zurückgebunden. „Steinzeit“ bezeichnet den frühesten Abschnitt der Urgeschichte; Bronze- und Eisenzeit folgen.73 Die Sanduhr gilt Lucius als Symbol einer nicht-mechanischen Zeitmessung, als Garant mithin einer qualitativ höherwertigen Zeit. Technik- und Fortschrittskritik suchen in der temporalen Regression den menschheitsgeschichtlichen Fluchtpunkt für einen Austritt aus der Geschichte. Das Burgenland, so der Grundtenor von de Geers Rede, steht durch die natürliche Organisation der Jahreszeiten-Feste noch im Kontakt mit der der Erde eigenen zyklisch-kosmischen Zeitordnung. Dieser Ort der Heliopolis-Welt trägt dabei Züge jenes Raumes, den zeitgenössische 70

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SW 6, S. 45. Die urzeitliche Determination des Norwegers schränkt Jünger in einem Brief an Friedrich Hielscher allerdings ein, so habe sich „im persönlichen Wesen der Einwohner vom Stile der alten Sagas viel weniger erhalten […], als ich vermutete.“ Von „nordische[r] Urheimat“ spricht er in einem weiteren Brief nur ironisch gebrochen. Jünger an Hielscher (Briefe v. 18. 07. 1935 u. v. 14. 08. 1935), in: Ernst Jünger – Friedrich Hielscher, Briefe 1927–1985, S. 149, S. 151. SW 6, S. 86. Die dem norwegischen Raum attestierte Zeit- und Geschichtslosigkeit zeigt sich auch in den folgenden Sätzen: „Wohl kann man sich vorstellen, daß sich an seinen Küsten Geschwader begegnen oder in seinen Gebirgstälern bewaffnete Mannschaften sammeln würden, aber es wären Anstrengungen, deren Rahmen nicht durch die Geschichte gebildet wird. Man fühlt nicht den Zwang, sich an Namen und Daten zu erinnern oder an eine jener unwiderruflichen Erscheinungen, bei denen der Ablauf der meßbaren Zeit eine so tiefe Bedeutung besitzt.“ Ebd., Hervorhebung N.K. Die stillgestellte menschliche Zeiterfahrung kontrastiert in Myrdun mit dem Interesse an der erdgeschichtlichen Entwicklung vom ‚toten Fels‘ zur ‚lebendigen Pflanze‘, vom Anorganischen zum Organischen. Niels Penke: Ernst Jünger und der Norden – eine Inszenierungsgeschichte, Heidelberg 2012, S. 128, spricht angesichts folgender Zeilen von der Imagination des „Erdzeitalter[s] des Proterozoikums“: „Vorüber gleiten Felsen, oft wie mit grünen Algen bezogen, als ob die Pflanzenwelt eben erst begönne, sich niederzuschlagen auf dem tote Gestein.“ SW 6, S. 83. Dass in Myrdun unterschiedliche Zeitordnungen verhandelt werden – vorgeschichtliche und erdgeschichtliche Zeit –, ist offensichtlich. In An der Zeitmauer räumt Jünger der – dann expliziten – Diskussion verschiedener Zeitdimensionen mehr Raum ein. Vgl. ausführlich zur Entstehung von Myrdun sowie dem „Motiv des Zeitsprungs“ Weber, Ästhetik der Entschleunigung, S. 134–141, S. 191–204, Zitat: S. 194. Vgl. SW 6, S. 53. In den Schriften der 1950er-Jahre kommt Jünger mehrfach auf diese Trias oder einzelne ihrer Elemente zu sprechen, im Waldgang (1951) etwa, dann im Sanduhrbuch und An der Zeitmauer sowie in Sgraffiti (1960).



5.3  Gelenkte Kulturgeschichte. Das Modell „Lacertosa“

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Ethnologie und Vorgeschichtsforschung als Vergleichsort für die Rekonstruktion früherer menschheitsgeschichtlicher Stufen heranziehen: einsame, unzugängliche Siedlungen, die von Zivilisation und Geschichte noch unversehrt scheinen, etwa indigene Kulturen. Mit Blick auf das Burgenland bleibt jene Parallelisierung allerdings an einen einzigen Aspekt gebunden, der das tertium comparationis zwischen Steinzeit und fiktiver Gegenwartszeit abgibt: das mythische Zeitbewusstsein. Wir werden die Entwicklung dieser mythischen Eigenzeit in den Folgeschriften noch genauer beobachten. Der Vorgeschichtsforschung kommt da, wie wir sehen werden, eine ambivalente Rolle zu.

5.3  Gelenkte Kulturgeschichte. Das Modell „Lacertosa“ Dass der Vorgeschichtsforschung eine eminent politische Dimension zukommt, ist keine Erfindung von Heliopolis. In Auf den Marmorklippen ist es zehn Jahre zuvor Braquemart, der als Wissenschaftler mit dem Spaten porträtiert wird: Er findet genau das, was er sucht, wie der Erzähler kritisch kommentiert  – womit die Abhängigkeit der einzelnen Funde vom geschichtspolitischen Deutungsinteresse des Ausgrabenden deutlich herausgestellt ist.74 In Heliopolis nun präsentiert uns der Erzähler ein von Lucius de Geer en passant belauschtes Gespräch zwischen dem „noch junge[n] Professor der Kulturgeschichte, Orelli“ und dem mephistophelischen „Techniker“ „Thomas“75, der erst später unter dem Namen „Dr. Thomas Beckett“ als rassistischer Ethnologe – seines Zeichens Leiter der „Abteilung für Fremdvölker“76 – genauer charakterisiert wird. Bleiben der bisher rekonstruierte geologisch-kosmogonische Diskurs wie auch jener, der sich der Begründung einer qualitativen Andersartigkeit des Zeitempfindens widmet, unterhalb der Schwelle politischer Auseinandersetzungen, so organisieren sich entlang der Gretchenfrage: ‚Wie hältst du’s mit der Vorgeschichte?‘ die politischen Parteiungen. Prof Orelli steht – gleich Lucius und dem Bergrat – in den Diensten des Prokonsuls; Thomas Beckett arbeitet hingegen für den Landvogt. Die fiktive politische Konfliktlage gründet zunächst in unterschiedlichen Auffassungen vom Wesen des Menschen; sie zeigt sich dann aber auch in den konkurrierenden Vorstellungen, die hinsichtlich der Staatsorganisation

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Vgl. zum Vorgeschichtsforscher Braquemart in den Marmorklippen ausführlich Kap. 4.2.4. Jünger, Heliopolis, S. 24  f. Ebd., S. 275. Die Heliopolis-Fassung der Werkausgabe (1960–1965) ersetzt „Beckett“ durch „Becker“ und „Abteilung für Fremdvölker“ durch das bündigere „Abteilung Fremdvölker“ (SW 16, S. 237).

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5  „Theorie der Vorgeschichte“ – aber welche?

bestehen.77 Diese Entgegensetzung grundiert auch das Gespräch, das Orelli und Beckett über die Kultur der Insel „Lacertosa“78 führen. Im Kern geht es hierbei um unterschiedliche ethnographische Konzepte. Prof. Orelli betrachtet Lacertosa als „geformte Lebensmacht, wie wir sie als Kultur bezeichnen“79. In seiner Beschreibung der Insel wird die herrschende rituelle Opferreligiosität in ihrer suggestiven Wirkung vergegenwärtigt. Angefangen bei den Naturschilderungen, besonders der inseltypischen Albatrosse, über die Präsentation der lokalen Topographie in ihrer tageszeitlichen Atmosphäre bis hin zur eigentlichen Erörterung der sakralen Architektur („Palast des Sonnengottes“, Klöster) und des „hohen Opfer[.  .]“-„Dienst[es]“80: Orelli geht es darum, „daß alle Einzelbeobachtungen und Studien sich krönen, zusammenschließen müssen […]“: „Vom Ganzen kommt jede Wissenschaft und muß dem Ganzen zuführen.“81 Es gehört gleichsam zur ethnographischen Strategie Orellis, die kulturell-rituelle Fixierung auf die Sonne in ihrer kosmischen, ‚ganzheitlichen‘, d.  h. Naturraum und soziale Praxis verbindenden Dimension zu erhalten und diese nicht religionspsychologisch oder herrschaftssoziologisch aufzulösen. Die beschreibende Sprache nähert sich mit diesem Ziel dem Schöpfungsbericht an.82 Beckett sieht die Sache etwas nüchterner. Sein analytischer Blick, der deutlich zwischen geologisch-geographischer, siedlungsgeschichtlicher, wirtschaftlicher und religionssoziologischer Perspektive scheidet,83 lässt von dem kosmogonischen Tableau Orellis und dessen spiritueller Komplizenschaft mit den rituellen Praktiken nicht mehr 77

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Während der Landvogt und seine Anhänger den „Menschen als zoologisches Wesen“ sehen und „die Technik als das Mittel, das diesem Wesen Form und Macht verleiht“, geht die Partei des Prokonsuls von der „Freiheit des Menschen, seines Wesens, seines Geistes und seines Eigentums“ aus. Die Unterordnung des Einzelnen in einem „intelligenten Insektenstaat“, wie ihn der Landvogt fordert, zeigt deutliche Züge totalitärer Herrschaft. Der Prokonsul favorisiert hingegen eine Mischung aus aristokratischem Elitarismus und demokratischer Beteiligung. Jünger, Heliopolis, S. 175  f. Angelehnt ist die Bezeichnung „Lacertosa“ an die Insel gleichen Namens (La Certosa) in der Lagune von Venedig. Jünger, Heliopolis, S. 26. Ebd., S. 27. Ebd., S. 28. „‚Kein Segel, keine Galeere stört die Einsamkeit. Der Fels ist glühend geworden, und die Insel taucht wie ein roter Mond im ersten Viertel aus der Flut. Dort wo der Innenrand der Sichel ins Meer einschneidet, begleitet ihn als weißer Saum ein Marmorband. Auch springen wie zarte, weiße Schwingen die beiden Molen des Handels- und Galeerenhafens vor. Auf ihrem Trennungsdamme trägt eine rote Muschel als Sockel das Bild der Meeresgöttin, die die Arme geöffnet hebt.‘“ Ebd., S. 27. „‚Wenn man den Aufputz abstreicht, stellt dein Lacertosa sich dar als ein Vulkaneiland mit halbzerstörtem Krater, auf dem sich eine abgeschlossene Stadtkultur entwickelte. Die Leutchen treiben über die Meeresweiten halb Handel, halb Seeräuberei. Verehrt wird eine Gottheit von neptunischem Ursprunge. Auch scheint es, das frühe Erstgeburtsopfer abgelöst wurden durch Tempeldienst.‘“ Ebd., S. 25.



5.3  Gelenkte Kulturgeschichte. Das Modell „Lacertosa“

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viel übrig. Beckett präsentiert seine Sicht als „Fakten“, Orellis ordnet er demgegenüber den „Meinungen“84 zu. Brisanz gewinnt die Auseinandersetzung über ihre wissenspolitische Dimension. Als Parteigänger des Landvogtes muss Beckett darauf bestehen, dass die kulturgeschichtlichen und ethnographischen Forschungsergebnisse brauchbar sind im Sinne der herrschenden Ideologie. Das mythische Denken Orellis ist da insofern hinderlich, als es den Kriterien, die die Partei des Landvogtes für belastbares ‚Wissen‘ formuliert, nicht entspricht. Der neue Wissenstyp besteht in einer methodisch kontrollierten und theoretisch abgesicherten, gleichsam positiven Erkenntnis dessen, was vormals dem Glaube und dem Mythos zukam. Orelli, so der Vorwurf Becketts, wiederhole in seiner einfühlenden Imitation mythischer Schöpfungsrede lediglich ältere Glaubensbestände, anstatt sie aus ihrem Zeitbezug herauszulösen und auf ein Unvergängliches hin zu fokussieren: Die mythischen Figuren, deren Spuren du mühsam nachziehst, sind Symbole, sind Schlüssel zur kosmischen Welt. Was dort und damals der naive Sinn erahnte, das ist heute das Ziel des strengen, geordneten Bewußtseins, der Wissenschaft. Die Elemente als Horte des unsichtbaren Überflusses sind uns nicht minder bekannt. Unsere Formeln, unsere Modelle, unsere Theorien besitzen Beziehungen zu ihrem Reich  […]. Wir haben Organe an das Unbekannte angesetzt und zwingen es in unseren Dienst.85

Beckett geht es um eine positivistisch-wissenschaftliche Kontrolle und Instrumentalisierung der Glaubensbestände, nicht um ihr Ablehnung oder Widerlegung. Die Rolle, die die Rationalität im Rahmen dieser Strategie spielt, ist durchaus ambivalent. Sie ist zwar einem mythischen Für-Wahr-Halten entgegengesetzt; dies jedoch nicht in dem Sinne, dass der aufklärerische logos vollumfänglich an jene Stelle treten solle, die die mythische Rede einnimmt. Im Mittelpunkt steht demgegenüber die Freilegung eines kultur- und geschichtsindifferenten Kerns, eine ‚faktische‘ Bestätigung dessen, was im Gewand ritueller Praktiken zwar performativ bestätigt, jedoch eben nicht distanziert gewusst werden kann. Die Merkmale eines solchen Kerns werden dabei nicht aus dem historischen und ethnografischen Material destilliert. Der Weg verläuft vielmehr umgekehrt: Es geht um die Rückprojektion wissenspolitisch legitimierter Erkenntnisbestände in den geschichtlichen und vorgeschichtlichen Raum. Ethnografie und Vorgeschichtsforschung erscheinen aus dieser Perspektive lediglich als Zuträger für die Gegenwart. In 84 Ebd. 85 Ebd., S. 29. Diese Passage erscheint in der Heliopolis-Fassung der Werkausgabe (1960–1965) stark gekürzt. So wird u.  a. auch die Rede von den „Formeln“, „Modelle[n]“ und „Theorien“ gestrichen. Vgl. SW 16, S. 33.

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5  „Theorie der Vorgeschichte“ – aber welche?

diesem Sinne musste sich bereits Braquemart in Auf den Marmorklippen den Vorwurf des Erzählers gefallen lassen, seine Grabungsergebnisse würden genau die Vermutungen bestätigen, die er an die Ausgrabungsstätte herangetragen hätte. Im Forschungsprofil Prof. Orellis entwickelt Jünger nicht nur einen Gegenentwurf zum Vorgeschichtsverständnis Braquemarts, er aktualisiert auch den kritischen Erzählerkommentar der Marmorklippen. Die mythische Ethnografie Orellis erscheint in diesem Licht als Bollwerk gegen eine vom „Zentralamt“ und damit vom Landvogt verantwortete Geschichtsund Wissenspolitik. „‚[D]aß ein akademisches Gemälde wie das des famosen Lacertosa im Grunde nichts anderes bedeutet als eine Hemmung oder selbst einen verkappten Angriff auf unsere Bahn‘“86, wie Beckett einräumt, bildet die Voraussetzung dafür, dass Orelli der Partei des Landvogtes einen repressiven Umgang mit ethnografischen und vorgeschichtlichen Quellen vorwerfen kann. Ihr möchtet das Wissen als ein Mosaik behandeln, das man ad hoc zusammensetzt. Man braucht Belege für eine Theorie der Vorgeschichte und man entsendet Ausgräber, die in entfernten Höhlen und Eiszeithöhlen das Gewünschte finden; sie zaubern das missing link aus Schieferbrüchen und altem Schutt hervor. Der schlechte Stil wird dann von den Natur- auch auf die Geisteswissenschaften ausgedehnt. Wer Unerwünschtes findet, dem droht Inquisition.87

Orelli betont hier das Andersartige und Nichtverfügbare der Forschungsergebnisse. Die Absage an das „missing link“ in der Konzeption Becketts wendet sich gegen eine Konstruktion fehlender Entwicklungsglieder am Leitfaden eines gegenwärtig-tendenziösen Deutungshorizontes. „[M]issing link“ bezeichnet eine noch nicht entdeckte, als Zeugnis vergangenen Lebens aber anzunehmende Übergangsform zwischen entwicklungsgeschichtlichen Vor- und Nachfahren. Ursprünglich stammt der Begriff aus der Geologie, findet jedoch schon bald in der (Evolutions-)Biologie Verwendung.88 Die 86

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Jünger, Heliopolis, S. 29. Später vergleicht Beckett Lacertosa mit Orten „wie Atlantis oder Haithabu, die von müßigen Köpfen erfunden sind und Ballast in die Arbeit einführen.“ Ebd., S. 277. Die Grabungen im schleswigschen Haithabu galten der nationalsozialistisch-völkisch orientierten Vorgeschichtsforschung als Prestigeprojekt, das besondere Aufschlüsse über die Identität der ‚Germanen‘ versprach. Verwiesen sei an dieser Stelle nur auf die einflussreichen populärwissenschaftlichen Publikationen von Herbert Jankhuhn: Haithabu. Eine germanische Stadt der Frühzeit, Neumünster 1938 und Heinar Schilling: Haithabu. Ein germanisches Troja, Leipzig 1936. Jünger, Heliopolis, S. 28  f. Nachweisen lässt sich die Verwendung des Begriffes „link“ in entwicklungsgeschichtlicher Absicht in den Arbeiten des englischen Geologen Charles Lyell, etwa in A Manual of Elementary Geology or: The Ancient Changes of the Earth and Its Inhabitants as illustrated by Geological Monuments (1837), dann bereits in dezidiert evolutionsbiologischer Hinsicht in Geological Evidences of the Antiquity of Man, with Remarks of Theories of the Origin of Species by Variation (1863). Dort



5.4  Rassistische Ethnologie

289

negative Konnotation, die der Begriff im Munde Orellis bekommt, gründet sich auf die Forschungspraxis Becketts, fossile Zeugnisse als „Mosaik“Steine in ein bereits fertiges Puzzle zu fügen. Das von Jünger abgelehnte evolutionäre Denken erscheint hier im Gewand des Zerrbildes eines funktionalistischen Evolutionismus, dem aus wissensstrategischen Gründen nahezu alles zum „missing link“, zum genealogisch-legitimatorischen Bezugspunkt eigener Macht- und Erkenntnisansprüche werden kann. An dieser Stelle des Romans ist noch vollkommen offen, aus welchen Gründen Beckett Orellis Modell der Kulturgeschichtsschreibung skeptisch gegenübersteht. Zwar liegen die Unterschiede der Deutungsmodelle auf der Hand – hier, bei Orelli, die Orientierung am Erzählmodell des Mythos, das Elemente der Natur-, Kosmos- und Kulturhistoriographie vereint; da, bei Becket, ein analytischer Szientismus, der auf die Verwendbarkeit der Forschungsergebnisse pocht –, jedoch ist die Frage ungeklärt, wie der ideologische Gegenwartsbezug aussieht, nach dem Beckett das vorgeschichtliche und ethnografische Material sortiert.

5.4  Rassistische Ethnologie Dr. Thomas Beckett wird als „Fachleiter“ der „Abteilung für Fremdvölker“ porträtiert. Lucius de Geer sucht ihn in einer sog. „‚Parsenangelegenheit‘“89 auf. Die Volksgruppe der Parsen ist innerhalb der Heliopolis-Welt geächtet. Sie trägt damit deutlich Züge der jüdischen Bevölkerung im nationalsozialistischen Deutschland: Ihre literarische Gestaltung ist als kaum verhüllter Kommentar Jüngers zur Judenverfolgung zu lesen. De Geer möchte sich für den Onkel seiner parsischen Geliebten Budur Peri, den Buchbinder Antonio

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heißt es: „Every link in the long chain of creation does not pass by easy transition into the next. There are necessary chasma, and, as it were, leaps from one creature to another, which, though not exceptions to the law of continuity, are accommodations of it to a new series of being. If man was made in the image of god, he was also made in the image of an ape.“ – Charles Lyell: Geological Evidences of the Antiquity of Man, with Remarks of Theories of the Origin of Species by Variation, London 1863, S. 501, Hervorhebung N.K. Im letzten Satz wird die Spannung angesprochen, die eine Bestimmung des Menschen so schwer mache: Dieser stehe gleichsam zwischen Gott und Affe. Es ist besonders jener hier mitgedachte Übergang vom Affen zum Menschen, der die Entwicklungsbiologie des 19. Jahrhunderts interessierte. Der Begriff „missing link“ wurde vor allem zur Markierung dieses fehlenden Bindegliedes zwischen affenartigen Hominiden und dem Homo sapiens genutzt (etwa von Darwin, später auch von Ernst Haeckel). In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass Braquemart in Auf den Marmorklippen davon ausgeht, seine Forschungsergebnisse könnten einen Beitrag zur Anthropogenese liefern – glaubt er doch, „den ersten Sitz des menschlichen Geschlechts entdeckt“ zu haben. (SW 15, S. 315) Jünger, Heliopolis, S. 275.

290

5  „Theorie der Vorgeschichte“ – aber welche?

Peri einsetzen, der im Rahmen eines Pogroms verschleppt wurde. In dieser Angelegenheit wendet er sich also an Beckett. In dessen Dienstraum angekommen, entsteht unwillkürlich der „Eindruck, in das stille Arbeitszimmer eines Ethnographen einzutreten“90, so der Erzähler, das sich bei näherem Besehen als „Schädelstätte“, als „Kopfjäger-Kabinett“ entpuppt. Es schien zur Spezialität des Doktor Beckett zu gehören, präparierte Schädel aufzusammeln, wie man sie in den verschiedensten Regionen teils als Kriegstrophäen, teils als Idole des Ahnenkultes kennt. Man sah mumifizierte und ausgebleichte Köpfe […]. In einer Ecke hing ein Bündel der lebensechten Köpfchen, wie man sie bei den Kannibalen der Nebenflüsse des Amazonas aufbewahrt. […] Man fühlte sich an einem Orte, an denen die Wissenschaft ganz unverhüllt gefährlich wurde – zum Mittel der Polizei.91

Die Deutung des ethnografischen Materials im Fokus einer polizeilichen Funktionalisierung verweist deutlich auf die nationalsozialistische Anthropometrie. Als „Kolonialwissenschaft“ im Kaiserreich begonnen, entwickelte sich diese schlussendlich zur „Begleitforschung zum Holocaust“92. Pate für den Arbeitsplatz Becketts könnte das von 1927 bis 1945 bestehende Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik gestanden haben, das unter der Leitung des Mediziners Eugen Fischer (1874–1967) traurige Berühmtheit erlangte.93 Die Anthropometrie avancierte hier – gleich der völkischen Vorgeschichtsforschung  – zur Legitimationswissenschaft nationalsozialistischer Verbrechen. Es ist jene Verbindung von Forschung und Gewalt, die Jünger hinsichtlich der Gestaltung des „Parsen“-Problems und der Figur des „Doktor Beckett“ im Blick gehabt haben dürfte. Beckett spricht in deutlicher Anlehnung an die sog. ‚Judenfrage‘ von der „Parsen90

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93

Ebd., S. 276. Die Heliopolis-Fassung der Werkausgabe (1960–1965) ersetzt „Ethnographen“ durch „Ethnologen“. SW 16, S. 238. Dadurch wird das Hauptaugenmerk von der methodischen Ausrichtung – Ethnografie als systematische Beschreibung der durch Feldforschung und teilnehmende Beobachtung vor Ort gewonnenen Erkenntnisse – auf die Disziplin (‚Völkerkunde‘) verschoben. Jünger, Heliopolis, S. 276. Hans-Walter Schmuhl: „Neue Rehobother Bastardstudien“. Eugen Fischer und die Anthropometrie zwischen Kolonialforschung und nationalsozialistischer Rassenpolitik, in: Gert Theile (Hrsg.): Anthropometrie. Zur Vorgeschichte des Menschen nach Maß, München 2005, S. 277–306, hier: S. 306. Vgl. zur Verbindung von völkischem Rassenhygienedenken, Anthropometrie und Holocaust die Beiträge in Carola Sachse (Hrsg.): Die Verbindung nach Auschwitz. Biowissenschaften und Menschenversuche an Kaiser-Wilhelm-Instituten. Dokumentation eines Symposiums, Göttingen 2003. Vgl. zum Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik ausführlich Hans-Walter Schmuhl: Grenzüberschreitungen. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik 1927–1945, Göttingen 2005; vgl. zur Rolle Eugen Fischers: Ders., „Neue Rehobother Bastardstudien“, sowie Nils C. Lösch: Rasse als Konstrukt. Leben und Werk Eugen Fischers, Frankfurt/M. u.  a. 1997.



5.4  Rassistische Ethnologie

291

frage“, bei der es um „Prinzipien“94 gehe. Für seine Partei nimmt er in Anspruch, diese Frage „studiert“95 zu haben, was den politischen Umgang mit den Forschungsergebnissen durch den szientistischen Gestus legitimieren soll: Die Wissenschaftlichkeitsbehauptung enthält als Argument bereits eine Absage an einen fürsorglichen Umgang mit den Parsen. Dies war typisch für die „Verwissenschaftlichung der ‚Judenfrage‘ im NS“96, etwa am Frankfurter Institut zur Erforschung der Judenfrage: Zu dessen Eröffnung 1941 hielt Alfred Rosenberg einen Vortrag mit dem sprechenden Titel Nationalsozialismus und Wissenschaft.97 Mit Blick auf den Roman ist es wichtig, die Position des Dr. Beckett im Kontrast mit der Orellis zu betrachten. Die Aufforderung zu einer solchen Betrachtung wird nicht nur dadurch nahegelegt, dass Beckett gegenüber de Geer innerhalb der Parsen-Unterredung auf Orelli und die „Lacertosa“Thematik zu sprechen kommt. Es ist vielmehr so, dass Becketts radikal ablehnende Haltung gegenüber Orellis mythologisierender Kulturgeschichte erst vor der Folie seiner rassistischen Gesinnung verständlich wird; genauso, wie Orellis Eintritt für die Freiheit der Wissenschaft erst vor der Bedrohung durch Becketts repressiven Umgang mit Andersdenkenden ihre Konturen gewinnt. Es ist aus diesem Grund auch verständlich, dass die ganzheitliche Beschreibung „Lacertosas“ nicht nur einem methodischen Impuls Orellis folgt, sondern seine Weltanschauung insgesamt prägt.98

94 Jünger, Heliopolis, S. 279. 95 Ebd. 96 Vgl. Horst Junginger: Die Verwissenschaftlichung der ‚Judenfrage‘ im NS. Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg, Darmstadt 2011. 97 Vgl. zur Rolle des Institutes im Nationalsozialismus Dieter Schiefelbein: Das „Institut zur Erforschung der Judenfrage Frankfurt am Main“. Antisemitismus als Karrieresprungbrett im NS-Staat, in: Fritz-Bauer-Institut (Hrsg.): „Beseitigung des jüdischen Einflusses …“. Antisemitische Forschung, Eliten und Karrieren im Nationalsozialismus, Frankfurt/M. u.  a. 1999, S. 43–71. 98 „‚Solange ich als Lehrer an der Akademie von Heliopolis verweile‘“, wendet sich Orelli gegen Beckett, nehme er sich die Freiheit einer besonderen Beschreibung des „Augenblick[s]“ jenseits der Zergliederung. (Jünger, Heliopolis, S. 28).

6  Kern der Urgeschichte. Besuch auf Godenholm (1952) 6.1  Ur-, nicht Vorgeschichte: Heidnischer Sonnenkult und positives Wissen In Besuch auf Godenholm (1952), das gleich Myrdun auf die Norwegen-Reise Jüngers (1935) zurückgeht, bindet Jünger drei Aspekte in eine Erzählung ein, die bereits in seinen Arbeiten aus den 1940er-Jahren präfiguriert, zum Teil ausformuliert sind. Zum einen handelt es sich hierbei um eine Aufwertung der ‚Urgeschichte‘ gegenüber der ‚(Vor-)Geschichte‘ im Zeichen eines enttemporalisierten Zugangs zur conditio humana wie er bereits in Gärten und Straßen und Myrdun anklingt: „Im Grunde lebte man hier außer der Geschichte oder man ragte in sie hinein.“1 Zum zweiten geht es um die unter die Auspizien der ‚Strahlungen‘ gestellte Integration naturwissenschaftlicher Denkfiguren in die geschichtsphilosophische Argumentation.2 Als dritter Punkt kommt die aus Heliopolis bekannte Aufwertung einer nicht-mechanischen Zeitmessung und eine damit assoziierte qualitativ höherwertige Zeiterfahrung hinzu. Vergegenwärtigt man sich zudem, dass mit der Hauptfigur des „Schwarzenberg“ nun jener „Nigromontan“ im Text auftaucht, der seit der zweiten Fassung des Abenteuerlichen Herzens für die Vermittlung von Oberfläche und Tiefe steht, so lassen sich sogar Verbindungslinien bis in die 1930er-Jahre ziehen. Bemerkenswert sind jedoch nicht nur die Parallelen, die sich in werkgenealogischer Hinsicht zurückverfolgen lassen. Auch mit Blick nach vorn, auf Jüngers Arbeiten der 1950er- und 1960er-Jahre, stellt Besuch auf Godenholm eine Scharnierstelle dar. Als wegweisend lassen sich vor allem jene Passagen 1

2

Ernst Jünger: Besuch auf Godenholm, Frankfurt/M. 1952, S. 13. Erinnert sei an dieser Stelle nochmals an Jüngers Eintrag in Gärten und Straßen, in dem es heißt: „Das ist der Sinn der Urgeschichte überhaupt: das Leben in seiner zeitlosen Bedeutung darzustellen, während es durch die Geschichte im zeitlichen Ablauf geschildert wird. Urgeschichte ist daher immer die Geschichte, die uns am nächsten liegt, Geschichte des Menschen an sich.“ – SW 2, S. 94; zu Myrdun vgl. SW 6, S. 86. Vgl. zur intendierten Poetik der Strahlungen das Vorwort (1949) zu den Strahlungen: SW 2, S.  9–23. Vgl. zu Jüngers Rezeption der quantentheoretischen Strahlungslehre im Umfeld der modernen Physik Elisabeth Emter: Literatur und Quantentheorie. Die Rezeption der modernen Physik in Schriften zur Literatur und Philosophie deutschsprachiger Autoren (1925–1970), Berlin u. New York 1995, S. 134–147; vgl. auch Streim, Das Ende des Anthropozentrismus, S. 141–147.

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6  Kern der Urgeschichte

der Erzählung ansprechen, in denen Vor- als Urgeschichte konzeptionalisiert wird. Die Mischung von faktischer, am vorgeschichtlichen Material orientierter Bestandsaufnahme, einer enthistorisierenden, ins Kosmologische drängenden Auslegungsgeste sowie einer damit verbundenen Einebnung von Natur- und Kulturgeschichte – all dies präfiguriert zum einen die metahistorischen, erdgeschichtlich ausgreifenden Maßstäbe des Großessays An der Zeitmauer sowie kleinere Arbeiten der 1960er-Jahre wie Sardische Heimat (1962), die sich dem gemeinsam mit Mircea Eliade zwischen 1959 und 1971 realisierten Zeitschriftenprojekt Antaios zuordnen lassen. Es ist sicher kein Zufall, dass das Thema ‚Enthistorisierung‘ für Jünger zur gleichen Zeit noch in einer anderen Hinsicht maßgeblich wird, nämlich mit Blick auf seine Fassungspoetik, d.  h. die Angewohnheit, einzelne Arbeiten immer wieder zu überarbeiten.3 Jüngers Reflexionen der eigenen ‚Fassungs‘-Poetik  – unter dem Titel Auf eigenen Spuren der zehnbändigen Werkausgabe (1960–1965) nachgestellt – reden ganz offen einer schriftstellerischen Bearbeitungspraxis des eigenen Werks das Wort, die Wirklichkeitsgewinn als Abkehr vom geschichtlichen Raum deutet: „Das Historische soll dem Elementaren und damit auch dem Musischen gegenüber zurücktreten. […] Zugleich soll auf diese Weise die Wirklichkeit schärfer erfaßt werden. Das eben ist der Sinn der ‚Fassungen‘  […]. “4 Das poetologische Credo, Elementares als Musisches zu codieren und dem Historischen gegenüberzusetzen, ist in Besuch auf Godenholm dem Denken Schwarzenbergs zugeordnet: Elementares heißt hier noch „Vorkultur“.5 Im Mittelpunkt der Handlung von Besuch auf Godenholm steht die Reise von Moltner, Einar und Ulma zu Schwarzenberg, der auf der norwegischen Insel Godenholm als charismatische Führungsfigur eine eigene Weltanschauungslehre vertritt.6 Während Moltner, der Nervenarzt, in einer persönlichen Krise steckt und durch den Kontakt zu Schwarzenberg auf Gesundung hofft, 3 4 5

6

Vgl. Böhme, Fassungen bei Ernst Jünger. Umfassende Auskunft über seine Umarbeitungspraxis als autorschaftliche Strategie gibt Jünger in den ab 1981 erscheinenden Beiträgen zu Autor und Autorschaft. Vgl. dazu Martus, Ernst Jünger, S. 233–238. SW 18, S. 476. „Was Schwarzenberg als Vorkultur bezeichnete, das unterschied sich von den wissenschaft­ lichen Begriffen, die sich in diesem Wort vereinigen. Er faßte den Ausdruck musikalisch – die großen Prozesse der Weltgeschichte leiteten sich durch Ouvertüren ein, durch Zaubersprüche und Vorträume jenseits der meßbaren Welt.“ Jünger, Besuch auf Godenholm, S. 28. Dörr liest Schwarzenbergs Weltanschauung als Teil eines für die bundesrepublikanische Nachkriegsliteratur typischen mythischen Denkens, das den geschichtlichen Prozess tiefenstrukturell grundiere. Vgl. Volker C. Dörr: Mythomimesis. Mythische Geschichtsbilder in der westdeutschen (Erzähl-)Literatur der frühen Nachkriegszeit, Berlin 2004, S. 399–421. Sieht man von einigen wenigen geschichtssignifikanten Puzzleteilen ab – etwa die beiläufige Erwähnung der Zerstörung der Hauptstadt Berlin (vgl. Jünger, Besuch auf Godenholm, S.  35)  –, so gibt es allerdings innerhalb des Textes keine konkreten Geschehnisse, die als eigentliches geschichtliches Substrat aufgerufen werden.



6.1  Ur-, nicht Vorgeschichte

295

ist Einar bereits von Berufs wegen länger mit dem mystischen Seher vertraut. Als Arbeitsgebiet Einars wird zunächst die „Vorgeschichte“ aufgerufen; um gleich darauf korrigierend hinzuzufügen, dass jener „diesen Namen nicht gelten ließ. Er wollte, daß man dafür von ‚Urgeschichte‘ sprach.“ Nach „Studien in Halle“7 widmete sich Einar der Erforschung von „Sonnensteinen“: Es sollte gewisse und durch besondere Zeichen kenntliche Hügel geben, auf deren Kuppe man solche Steine fand. Sie glichen Scheiben mit einem Achsenkreuz und mochten in Vorzeiten als Sternwarten oder zu anderen Zwecken gedient haben. Es mußte einen Einschnitt gegeben haben, an dem man sie unter den Boden versenkt hatte. Auf manchen dieser Kuppen wurden immer noch an bestimmten Tagen Brände entzündet und Feuerräder zu Tal gerollt. Im Zuge seiner Nachsuchen und Grabungen mußte Einar auf Schwarzenberg gestoßen sein. Der war der Meinung, daß die Religionen der Erde von einem frühen Licht- und Sonnendienste abstammen. Er hatte Einar bestimmt, die Mutung aufzugeben; die Steine seien wie Samenkörner und erwarteten gleich solchen ihre Zeit.8

Schwarzenbergs Vergleich der „Steine“ mit „Samenkörner[n]“ spielt mit dem den beiden Fassungen des Abenteuerlichen Herzens vorangestellten Hamann-Motto: „Den Samen, von allem, was ich im Sinn habe, finde ich allenthalben.“9 Im intertextuellen Rekurs auf das Frühwerk wird der aktiven Suche des Grabenden das sich Ereignende, gleichsam Unverfügbare gegenübergestellt. Entscheidend ist dabei: Der von Schwarzenberg vorgeschlagene Umgang mit den frühkulturellen Zeugnissen führt Einar weg von einer Bestimmung der prähistorischen Archäologie in der ‚positivistischen‘ Tradition der nordischen Altertümerkunde hin zu einer neuen Mythisierung.10 Dass diese ganz im Zeichen Schwarzenbergs steht, wird bald deutlich. Zunächst jedoch – darauf verweisen analeptische Hinweise – begegnet Einar den Grabungsfunden durchaus nüchtern. Von einem apriorischen Verzicht auf die

7

8 9 10

Jünger, Besuch auf Godenholm, S. 8, vorhergehende Zitate gleichfalls. Die Godenholm-Fassung der Werkausgabe (1960–1965) ersetzt den Studienort „Halle“ durch „deutsche[.  .] Universitäten“ (SW 15, S. 367). Die ursprüngliche Nennung von „Halle“ (an der Saale) basiert wahrscheinlich auf dem Renommee der dortigen universitären Prähistoriker-Ausbildung und der bereits im 19. Jahrhundert erfolgten Gründung eines eigenen Museums für Vorgeschichte, das eine der ältesten und umfangreichsten archäologischen Sammlungen Europas unterhielt (und noch unterhält). Auch der mit Jünger bekannte Anthropologe Gerhard Heberer studierte in Halle, u.  a. auch Vorgeschichte. Jünger, Besuch auf Godenholm, S. 8  f. SW 9, S. 31, S. 177. Auch wenn die Vorgeschichtsforschung im 19. und 20.  Jahrhundert ohne die Dimension einer politischen und ideologisch-weltanschaulichen Instrumentalisierung, d.  h. eben auch: Mythisierung nur unvollständig porträtiert wäre, ist doch die fundbasierte Rationalisierung der Deutungsmuster ein wesentliches Merkmal des empirischen Selbstverständnisses des Faches. Vgl. Eggert, Prähistorische Archäologie, S. 10.

296

6  Kern der Urgeschichte

„Mittel […] wie das Bewußtsein mit seiner Wissenschaft sie anbot“11, kann also keine Rede sein. So sei er anlässlich der Sonnensteine „in seiner Wissenschaft auf etwas Verborgenes gestoßen, auf ein Geheimnis der Vergangenheit.“12 Seine Wissenschaft – das ist zunächst die Vorgeschichtsforschung: „All diesen Mälern, Dolmen, Hügelgräbern und Großsteinreihen widmet ständig eine Schar von Geistern ihren Scharfsinn, ihre Wachsamkeit.“13 – So auch Einar. Erst das Interesse Schwarzenbergs bedeutet ihm, „daß der Fund bedeutsam gewesen war“14 – was nichts anderes meint, als dass „Scharfsinn“ und „Wachsamkeit“ die falschen Wege zu dem intendierten Verständnis der Zeugnisse darstellen. Zeigt sich Einar zunächst verwundert, dass Schwarzenberg über Informationen verfügt, über die eigentlich nur der tatsächlich Ausgrabende verfügen kann, so sieht er in ihm bald den Schlüssel zu dem „Geheimnis der Vergangenheit“. Das Verhältnis von Geheimnisanerkenntnis und Geheimnislösung bildet dabei den neuralgischen Punkt, an dem die zünftige Vorgeschichtsforschung nicht weiterkommt: Lässt sich nämlich der Geheimnischarakter noch von der Warte einer dezidiert vorgeschichtlichen Argumentation bestätigen, so geht jede Hoffnung auf Aufschluss über den ‚scharfsinnigen‘ disziplinären Vorgeschichtsdiskurs hinaus. Einar wird klar, dass „Schwarzenberg ihm Wichtigeres zu geben hatte als prähistorische Einsichten“15. Die negative Konnotation, mit der hier das vorgeschichtliche Wissensreservoir aufgerufen wird, verweist auf die lediglich dienende Funktion der Grabungs-‚Tatsachen‘. Deren Auslegung ist im Rahmen einer rein historischen Argumentation, wie ihn der Standpunkt der prähistorischen Archäologie formuliert, nicht befriedigend zu leisten. Der Wechsel von der Vor- zur Urgeschichte wird demzufolge über eine Transzendierung des Diskurses der disziplinären Vorgeschichtsforschung motiviert, eines Diskurses, so die Kritik, der der frühen Geschichte einen chronologischen Platz vor und in Bezug zu der Geschichte zuzuweisen sucht, jedoch Urgeschichte als das Ungeschichtliche nicht fassen kann. Wie wir im nächsten Kapitel (7.2) sehen werden, ist eine solche Entgrenzung dem universalgeschichtlichen Denken der 1930er-Jahre selbst inhärent. Bevor wir jedoch einen genaueren Blick auf das epistemologische Profil Schwarzenbergs werfen, in dem die Fäden der Entgrenzungsarbeit zusammenlaufen, gilt es zunächst, dessen Einfluss 11 Jünger, Besuch auf Godenholm, S. 52. 12 Ebd., S. 34. 13 Ebd. 14 Ebd. 15 Ebd., S.  35. Die Godenholm-Fassung der Werkausgabe (1960–1965) ersetzt die Rede von „prähistorische[n] Einsichten“ durch „Einblicke in die Gräberwelt“ (SW 15, S.  384). Der Unterschied ist nicht grundsätzlich sinnverändernd, jedoch signifikant: Verweist die erste Formulierung auf die Perspektive des disziplinär konturierten Zugriffs, so gilt die zweite Formulierung dem Interesseobjekt der Vorgeschichtsforschung.



6.1  Ur-, nicht Vorgeschichte

297

auf Einars urgeschichtliche Forschungen zu skizzieren. In welchem Rahmen vollzieht sich die Wandlung von der Vor- zur Urgeschichte? Besuch auf Godenholm ist durch das „Muster der Initiationsgeschichte“16 gekennzeichnet. Die Einweihung in einen neuen Wissenshorizont – ob nun durch Drogen unterstützt oder nicht17 – erfolgt unter dem Einfluss Schwarzenbergs. Einar gelingt – in einen tranceähnlichen Zustand versetzt – was bei seinen gewöhnlichen „Mutungen“ ausblieb, die Überschreitung „prähistorische[r] Einsichten“18 im Rahmen einer Vision. Nun hatte Ulma ihn an der Hand gefaßt. Sie führte ihn einen Berg hinan. Er sah die Sterne, die über der flachen Kuppel leuchteten. […] Bald standen sie auf dem Gipfel, der einem Helmdach glich. […] Der Hügel war jetzt deutlich, ja glänzte aus dem Inneren herauf. Die Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Einar erkannte, daß er auf einem der großen Gräber stand, wie er sie selbst mit Scharen von Arbeitern angeschnitten und durchschürft hatte. Er sah die Stichgräben. Doch sah er auch, was keine Mutung je erwerben wird. […] Sie stiegen in den Wallgraben hinunter, der sich noch immer, wie in der Vorzeit, scharf aus der Feldmark abzeichnete. Der Grund war dunkel; hier fühlte Einar sich berührt.19

Die Überschreitung der Vorgeschichtsforschung hin zu Einblicken in die Urgeschichte trägt Züge jener optischen Erkenntnislehre, die Jünger in der Denkfigur des „stereoskopische[n] Blick[es]“20 im Sizilischen Brief an den Mann im Mond entwarf.21 Die urgeschichtliche Relevanz des Dunklen ist 16

17

18 19 20 21

Gregor Streim: Esoterische Kommunikation. Initiation und Autorschaft in Ernst Jüngers Besuch auf Godenholm (1952) und Rückblick auf Godenholm (1970), in: Schöning/Stöckmann (Hrsg.), Ernst Jünger und die Bundesrepublik, S. 119–135, hier: S. 123. Bereits Martin Tauss spricht von der „archaische[n] Initiation“. Martin Tauss: Der halluzinatorische Rausch als archaische Initiation. Zum hermetischen Drogenheroismus in Ernst Jüngers Erzählung Besuch auf Godenholm (1952), in: Wirkendes Wort 52 (2002), S. 441–457. Der Bezug der Erzählung zu Jüngers Erfahrungen mit der Droge LSD und weiteren Substanzen bestimmte lange Zeit das Interesse der Forschung. Vgl. dazu Ulrich Baron: „Qualitäten des Überganges“. Der Rausch in Leben und Werk Ernst Jüngers, in: Text + Kritik 105/106 (1990), S.  89–97; Ders.: Jüngers Erzählung Besuch auf Godenholm (1952), Annäherungen an Drogen und Rausch (1970), in: Müller/Segeberg (Hrsg.), Ernst Jünger im 20. Jahrhundert, S. 199–216; vgl. auch Tauss, Der halluzinatorische Rausch. Vgl. kritisch zu einer Lektüre der Erzählung im Fokus der Drogenthematik Streim, Esoterische Kommunikation, S. 120. Jünger, Besuch auf Godenholm, S. 35. Ebd., S. 81  f. SW 9, S. 20. Dörr sieht unter Hinweisen auf Katzmann, Ernst Jüngers Magischer Realismus (S.  23 u. S. 55–60), Rausch und Traum in Besuch auf Godenholm ganz allgemein „als magische Schlüssel zu tieferer Erkenntnis […], die als Erweiterung rationaler Erfahrung gedacht wird: als ‚stereoskopischer Blick‘ in die Sinntiefe.“ Dörr, Mythomimesis, S. 407. Tauss betont die prinzipielle Erkenntnisförmigkeit des Rausches, der gleichwohl mit einer „überbordenden Semantik beladen“ sei. Tauss, Der halluzinatorische Rausch, S. 456.

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6  Kern der Urgeschichte

dabei zwar der Rede nach intertextuell an die Aufwertung des Tastsinns im anthropologischen Diskurs der Aufklärungsästhetik angelehnt – wie sie sich etwa bei Herder nachweisen lässt22  –, sie steht jedoch im Dienst der optischen Metaphorik des „stereoskopische[n] Blick[es]“. Man könnte auch sagen: In der Vermittlung von vorgeschichtlicher Oberfläche und urgeschichtlicher Tiefe geht es um eine – mit Hans Adler formuliert – „Prägnanz des Dunklen“ jenseits einer Bestimmung der sinnlichen Vermögen nach Erkenntnisgraden. Im Gegensatz zu einer Fokussierung der ‚dunklen Sinnlichkeit‘ in anthropologischer Perspektive rückt die Disposition des Dunklen zur metaphysischen Schau in den Mittelpunkt. Der ‚dunkle Grund‘ als Seelengrund (fundus animae) verschmilzt mit demjenigen, das Einar – gut ‚stereoskopisch‘: haptisch und geistig – berührt und das ihn berührt. In dieser Dopplung von individueller Aneignung und sich zeigender Wahrheit erweist sich die Vision Einars als Antwort auf das „Geheimnis der Vergangenheit“23, dem er wissenschaftlich nicht beikommen konnte.

6.2  Epistemologie des ‚Ur‘: Kern, nicht Spirale. Jüngers entgrenzte Universalgeschichte Volker C. Dörr weist darauf hin, dass die „geringfügig scheinende semantische Verschiebung von der bloßen linearen Zeitlichkeit des ‚Vor-‘ zum primordiale Eigentlichkeit und Tiefe konnotierenden ‚Ur-‘“, auf die Einar großen Wert legt, als „Gegenbewegung“ zur „(aufklärerischen) Geschichtswissenschaft“24 gelesen werden müsse. Argumentativer Kopf dieser antiaufklärerischen Volte ist Schwarzenberg. Antiaufklärerisch ist zunächst seine Verwendung des Begriffs „Aufklärung“. Diese „sollte […] gewaltige Erhellungen einleiten“, denen „Zeiten des Brandes“25 vorausgingen. „Aufklärung“ wird also mit der Herbeiführung eines aus den Marmorklippen bekannten Weltenbrandes assoziiert, der eine Neugestaltung der Erde nach sich ziehe.26 Antiaufklärerisch – zumindest voraufklärerisch – ist aber auch die Ordnung, in der Schwarzenberg sein Wissen präsentiert. Beim Eintritt in sein Haus 22 23 24 25 26

Vgl. zur Aufwertung der ‚dunklen‘ Erkenntnis in der Aufklärungsästhetik grundlegend Hans Adler: Die Prägnanz des Dunklen. Gnoseologie – Ästhetik – Geschichtsphilosophie bei Johann Gottfried Herder, Hamburg 1990. Jünger, Besuch auf Godenholm, S. 34. Dörr, Mythomimesis, S. 408. Jünger, Besuch auf Godenholm, S. 9. Dörr spricht von einer „zutiefst antiaufklärerische[n] chiliastische[n] Geschichtsphilosophie des Durchgangs durch den Kataklysmus“, die sich dazu anbiete, „auf die zeitgenössische Erfahrung der verblassenden Kriegserinnerung appliziert zu werden“. Dörr, Mythomimesis, S. 408.



6.2  Epistemologie des ‚Ur‘: Kern, nicht Spirale

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werden Moltner, Einar und Ulma zunächst von einem „hell erleuchtet[en]“ Raum empfangen, der „den Eindruck jener Stätten, die barocke Gelehrte als ihr ‚Museum‘ bezeichneten“27, macht. Neben „Schädel[n]“ und „Trophäen“ werden Gegenstände sichtbar, „die teils den drei Naturreichen entstammten“ – und sich insofern als Ausstellungsobjekte eines Naturalienkabinetts ausweisen lassen –, „teils sich auf menschliche Handfertigkeit zurückführten“28. Die Verbindung von Natur- und Kunstsammlung verweist auf die barocke Wunderkammer. In der ungeordneten Zusammenschau sollen hier mannigfaltige Korrespondenzen zwischen den einzelnen Ausstellungsobjekten erkennbar werden, die im Rahmen einer universalen Weltsicht für die kosmisch-göttliche Ordnung einstehen. Der Einstieg in die Welt Schwarzenbergs könnte nicht besser gewählt sein, denn sein Wissensbegriff steht dem barocken Totalitäts- und Einheitsdenken in nichts nach. Die eigens herausgestellte parallele Präsentation natürlicher und artifizieller Objekte lässt sich gut in dieser Tradition der Wissensrepräsentation verorten. Sie geht freilich – durch die Systematisierungs- und Differenzierungsgebote der Aufklärung hindurchgegangen  – über den theologischen Rahmen hinaus, wie er für die barocke Wunderkammer maßgeblich war. Die Einheit von Natur- und Kulturgeschichte, die die gleichrangig-unterschiedslose Präsentation der Objekte im „‚Museum‘“ legitimiert, begründet Schwarzenberg über ein erkenntnistheoretisches Modell, das Anleihen bei der modernen Physik macht: Es geht um das Prinzip ‚Strahlung‘. Er sah Geschichte, Naturgeschichte, Kosmogonie nicht als Entwicklung, wie man sie sich in Linien, Spiralen oder Kreisen vorzustellen pflegt. Er sah sie eher als eine Reihe von Kugelschalen um zeitlose und unausgedehnte Kerne angelegt. Von diesen Kernen strahlten die Muster und Qualitäten auf das Entfernte aus.  […] Schöpfung stand nicht am Anfang, sondern war möglich in jedem Zeitpunkt, der sich am Unausgedehnten entzündete.29

Die von Jünger hier Schwarzenberg zugeordnete Erkenntnistheorie steht in einem vielstimmigen Dialog mit konzeptuellen Bestandteilen der Universalgeschichtsschreibung Kurt Breysigs. Dies betrifft sowohl das ex negativo aufgerufene Spiralmodell als auch die Idee, Erdgeschichte, Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte ursächlich auf die Prägekraft strahlender Kerne zurückzuführen.30 Verweist die Spiraldiskussion auf Breysigs Der Weg der Menschheit (1928), so ist die naturwissenschaftliche Unterfütterung universal27 Jünger, Besuch auf Godenholm, S. 26. 28 Ebd. 29 Ebd., S. 28  f. 30 Bernhard Gajek sieht den mit Jünger befreundeten Philosophen Hugo Fischer (1897–1975) in der Rolle des Vordenkers in Sachen Kugelschalenmodell. Vgl. Gajek, Magister – Nigromontan – Schwarzenberg, S. 494.

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6  Kern der Urgeschichte

geschichtlichen Denkens für Breysigs Arbeiten der 1930er-Jahre, vor allen Dingen für Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte (1933) und Der Werdegang der Menschheit vom Naturgeschehen zum Geistgeschehen (1935) typisch. Es ist der späte Breysig, der unter Berufung auf die physikalische Quantenlehre – insbesondere Modi der „Strahlenentsendung des Atoms“31 – eine „kosmozentrische, kosmomorphisierende Deutung des Menschheitsgeschehens und von da aus seine Angleichung an das Weltgeschehen“32 versucht. Seine Überlegungen gehen in Schwarzenbergs Strahlungsphantasien ein. Kurt Breysig gehört neben Karl Lamprecht und Oswald Spengler zu den großen Universalhistorikern des frühen 20. Jahrhunderts,33 deren Konzepte der ‚Krise des Historismus‘ entgegentraten.34 Alle drei kommen darin überein, den weltgeschichtlichen Ablauf in wiederkehrenden Formmustern zu deuten. Dieser ‚morphologische‘ Zugriff erkennt Regelmäßigkeiten im großraumperiodischen Vergleich, indem er zwischen zeitlich weit auseinanderliegenden Abschnitten – Urzeit, Antike, Mittelalter, Neuzeit – und unterschiedlichen geschichtlichen Dimensionen – Sozial-, Wirtschafts-, Kultur-, Kunst-, Herrscher-, Staatengeschichte – Ähnlichkeiten aufzeigt. Spenglers organologisches Konzept, das historische Kulturräume gleich dem Entwicklungszyklus einer Pflanze in Wachstumsphasen gliedert, war zweifellos das einflussreichste. Vergleich und Aufweis von Formgemeinsamkeiten sind dabei kein Selbstzweck, sondern dienen der Fundierung ursächlicher Zusammenhänge, die bei der Betrachtung einzelner historischer Ereignisse im kleinraumperiodischen Zugriff nicht in den Blick treten. Breysig markiert sein Projekt als „Geschichtslehre, d.  h. als die Wissenschaft von dem Wesen und den Formen des geschichtlichen Werdens“35. Dabei geht es ihm – natürlich – nicht um „Beschreibung“; an ihre Stelle solle eine „entwickelnde Betrachtung“36 treten.37 Von „vornherein“ war klar, so Breysig, „daß dies geschehen müsse, um den ‚Geheimnissen der Tiefe nachzuspüren‘“, worunter er die „‚großen Strömungen‘“ „‚unterhalb der Oberfläche‘ des Einzelgeschehens“38 31 32 33

Kurt Breysig: Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte, Breslau 1933, S. 64. Ebd., S. 29. Vgl. zu Breysig grundlegend vom Brocke, Kurt Breysig; Böhme, Universalistische Entgrenzung. 34 Bereits um 1930 werden die drei als alternative Denker historisiert, die „[g]anz neue Methoden der Historie […] propagiert[en]“. Heussi, Die Krise des Historismus, S. 30. 35 So beschreibt Breysig 1925 ein Teil seines Aufgabengebietes brieflich dem Physiker Niels Bohr. Kurt Breysig: Aus meinen Tagen und Träumen. Memoiren, Aufzeichnungen, Briefe, Gespräche. Aus dem Nachlass hrsg. v. Gertrud Breysig u. Michael Landmann, Berlin 1962, S. 154. 36 Kurt Breysig: Der Weg der Menschheit. Vom geschichtlichen Werden: Umrisse einer zukünftigen Geschichtslehre, Bd. 3, Stuttgart u. Berlin 1928, S. 1. 37 Vgl. zur „[e]ntwickelnden[n] Geschichtsforschung“: vom Brocke, Kurt Breysig, S. 265–272. 38 Breysig, Der Weg der Menschheit, S. 1. Er zitiert hier aus einem eigenen Aufsatz (Die soziale Entwicklung der führenden Völker Europas in der neueren und neuesten Zeit, 1896).



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bezeichnet. Die ‚stereoskopische Brille‘ gehört gleichsam zum Handwerkszeug des zwischen oberflächlichen Geschehnissen und tiefenstrukturellen Determinanten vermittelnden Universalhistorikers. Und was sieht dieser beim Blick auf die amorphe Geschichte? – Er erkennt Bewegungsmuster, nämlich eine „Mechanik, eine Kinetik der Bahnläufe menschlichen Geschehens“39 – und diese folgt dem Muster der „Spirale“ (s. Abb. 51): „Der Gedanke, daß der Gesamtzug der Geschichte Regelmäßigkeiten aufweist, die seine Einheit als die einer einzigen großen Bewegung erkennen lassen, kann deutlich nur durch das Bild der Spirale gemacht werden.“40 Hartmut Böhme hat kürzlich Breysigs „Spirale“ als eigentliche theoretische Hauptleistung des Geschichtsdenkers herausgestellt.41 Sie kann zumindest als wichtigster Beitrag universalgeschichtlicher Theoriebildung um 1930 gelten. Das Spiralmodell beerbt ein zyklisches Geschichtsverständnis, in dem es zwar von der Wiederkehr bestimmter morphologischer Strukturen ausgeht, diese jedoch nicht als identisch konzipiert: Im Durchlauf durch das „Bahngewinde“ zeigt sich ‚Geschichte‘ als Abfolge von „Urzeit“, „Altertum“, „Mittelalter“. „Neuere[r] Zeit“, „Neueste[r] Zeit, demokratisch“ und „Neueste[r] Zeit, imperialistisch (?)“ auf unterschiedlichen Ebenen. Die Wiederholung vergleichbarer Muster korreliert im Ergebnis mit einer prinzipiellen Verschiedenheit dessen, was verglichen wird. Es ist dabei wichtig, sich die Spirale als dreidimensionales Modell vorzustellen: Nur so wird gewährleistet, dass bei aller strukturellen Ähnlichkeit der verglichenen Muster ein Bewusstsein davon besteht, es hier mit verschiedenen Ebenen und damit zeitlich (und häufig auch örtlich) weit entfernt voneinander liegenden Räumen zu tun zu haben, die lediglich zueinander in Bezug gesetzt werden, jedoch nicht identisch sind.42

39 Breysig, Der Weg der Menschheit, S. 19. 40 Ebd., S. 23. 41 Vgl. Böhme, Universalistische Entgrenzung, S. 184–191. Bereits Rudolf Pannwitz sieht in der „Spirale“ den eigentlichen Fluchtpunkt von Breysigs theoretischer Entwicklung: „Die leitende Idee ist: die Überwindung des Chronologischen durch das Morphologische: ein Stufenbau. […] Die immer feiner ausgegliederte und ausgeglichene Konstruktion näherte sich einem Organon, und der Bau von Stufen ging in einen solchen von Spiralbahnen über.“ Rudolf Pannwitz: Erinnerungen an Kurt Breysig, in: Kurt Breysig: Aus meinen Tagen und Träumen, S. VII–XIII, hier: S. VIII. Vgl. auch vom Brocke, der Breysigs Modell auf das „schon von Goethe gebrauchte[.  .] Bild der aufsteigenden Spirale als Wegebahn des Gesamtgeschichtsverlaufs“ (vom Brocke, Kurt Breysig, S. 267) zurückführt. 42 „Geht Breysig einerseits davon aus, daß spätere im Verhältnis zu früheren Epochen strukturelle Analogien aufweisen (wenn sie auf analogen Bewegungsabschnitten der Spirale liegen), so macht die Dreidimensionalität der Spirale deutlich, daß jede Wiederholung immer auch eine Andersheit zum Wiederholten aufweist. Diese Andersheit beruht nicht auf der ontologischen Unwiederholbarkeit von Ereignissen, sondern der generellen Differenz des Ähnlichen.“ Böhme, Universalistische Entgrenzung, S. 188.

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Abb. 51: Geschichte als Spirale bei Kurt Breysig

Für Jüngers Kenntnis von Breysigs Spiralvorstellungen spricht nicht nur die Erwähnung Schwarzenbergs. An anderer Stelle macht Jünger selbst von diesem Modell Gebrauch. Im Sanduhrbuch, das zwei Jahre nach Besuch auf Godenholm erscheint, vergleicht er die neuen „Ultra-Uhren“ („Quarz-, Atomund Elektronenuhren“) mit älteren Sonnen- und Sanduhren. Im Kern geht es hierbei um die Diagnose einer „Wandlung“, nämlich um die „Umkehr zu den Elementaruhren auf höherer Ebene“: „Freilich ist diese Rückkehr zum Elementaren durch den Geist hindurchgegangen, sie findet auf einem höheren Umgang der Spirale statt.“43 Hinter den neuen Verfahren der Zeitmessung verbirgt sich eine Wiederaneignung eines verlorengegangenen Zeitgefühls (das Sonnen- und Sanduhren anschaulich verkörpern sollen): Es geht um nichts Geringeres als die Rückeroberung „kosmischer Rhythmen und Maßstäbe“44. Dem Spiralmodell kommt dabei eine wichtige argumentative Funktion zu; stellt es doch einerseits sicher, dass Ähnlichkeiten über Jahrtausende hinweg behauptetet werden können; andererseits jedoch ist die of43

44

SW 12, S. 232, vorhergehende Zitate gleichfalls. Diesen Gedanken nimmt Jünger in Die Schere auf: „Mit der Strahlungszeit, also dem Beginn unseres Jahrhunderts, wird eine neue Garnitur von Chronometern unentbehrlich, in denen sich die Rückkehr von Elementaruhren auf höherer Ebene ankündet.“ SW 19, S. 553. SW 12, S. 233.



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fenkundige Verschiedenheit der Zeitmessung, die sich in der Funktionsweise von Sonnen- und Quarzuhr deutlich zeigt, lediglich dem unterschiedlichen „Umgang“ auf der Spiralbahn zuzuschreiben, nicht jedoch einer fundamentalen Andersartigkeit des Zeitgefühls selbst. In An der Zeitmauer kommt Jünger erneut auf das Spiral-Modell zu sprechen. Er betont nun dessen Synthese-Charakter, d.  h. die Fähigkeit lineare und zyklische Geschichtsvorstellungen zu vereinen. Die „Einteilung“ „großer Zeitalter“, schreibt er, läßt sich auf einer Geraden oder auf einem Kreis abtragen, je nachdem ob ein lineares oder ein zyklisches System angenommen wird. Eine Verbindung von beiden gibt die Spirale, in der die Entwicklung sich sowohl fortbewegt, als auch wiederkehrt, wenngleich auf verschiedenen Ebenen.45

Jünger referiert hier im Kapitel „Humane Einteilungen“ im Duktus theoriegeschichtlicher Überlegungen mit deutlicher Sympathie für das SpiralModell. Sein eigentlicher Gesprächspartner ist jedoch nicht Breysig, den er namentlich nicht nennt, sondern Spengler. Von diesem sagt er sich in An der Zeitmauer endgültig los, indem er ihn im Rahmen einer integrativen Verbindung von Menschheitsgeschichte und Naturgeschichte gleichsam überbieten will. Eine Überbietung in diesem Sinne hatte bereits Breysig in seinen Arbeiten der 1930er-Jahren versucht. Und wenn Schwarzenberg in Besuch auf Godenholm das Spiralmodell zugunsten einer Theorie strahlender Kerne eintauscht – um „Geschichte, Naturgeschichte“ und „Kosmogonie“46 auf gemeinsame, entwicklungsresistente, tiefenstrukturelle Determinanten zurückzuführen  –, so trägt er deutlich Züge des intellektuellen Habitus des späten Breysig. Für Breysigs Argumentation ab Mitte der 1930er-Jahre sind Spiralmodell und physikalische Mechanik nicht mehr maßgeblich. Stattdessen macht sich nun der Einfluss der Quantenphysik bemerkbar. Briefwechsel sowie Gespräche mit Niels Bohr und Max Planck47 bestärken Breysig in dem Vorhaben, sein Konzept von ‚Bewegtheit‘ zu überarbeiten. Das Ziel besteht nun nicht mehr nur darin, die ‚Bahnläufe‘ innerhalb des geschichtlichen Raumes morphologisch zu bestimmen. ‚Geschichte‘ – auch Universalgeschichte nach bisherigem Zuschnitt – ist in der neuen Konzeption lediglich als Teil einer umfassenden „Welt-Geschichte“ gefasst, die von einem metahistorischen Bewegungspunkt gesteuert wird.

45 46 47

SW 8, S. 450. Jünger, Besuch auf Godenholm, S. 28. Vgl. Breysig, Aus meinen Tagen und Träumen, S. 154–162 sowie vom Brocke, Kurt Breysig, S. 117.

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6  Kern der Urgeschichte Noch ist einer Welt-Geschichte solchen Sinnes nicht einmal der Zweck ihrer Sendung und der Umfang ihres Amtsbereiches abgegrenzt worden, da er doch mit Händen zu greifen ist. Unter Welt-Geschichte darf dann freilich nichts anderes verstanden werden, als die Summe der Abwandlungen des Weltgeschehens in der Abfolge aller Zeiten und in allen seinen Schichten und Formen mit Einschluß, aber nicht unter Bevorzugung der Menschheitsgeschichte, die nur eine der Teilschichten des Weltgeschehens angeht, nicht unwichtiger aber auch nicht wichtiger als die Geschichte der anorganischen und der biischen Schicht.48

„Menschheitsgeschehen“ und „Naturgeschehen“, anorganischem, organischem und schließlich kulturell-geschichtlichem Raum liegt eine verbindende Prägekraft zu Grunde; Breysig spricht hier vom „Urgeschehen“49, an anderer Stelle auch vom „Urkern“50. Diesem Urkern kommt die Rolle eines Erstbewirkenden zu, einer „Allbewegtheit“, „die das von der jüngsten physikalischen Forschung geschaffene Weltbild im anorganischen Reich als herrschend erkennen läßt“51 und von dort lediglich auf den organischen und menschheitsgeschichtlichen Bereich überträgt. Im Ergebnis ebnet Breysigs physikalischer Monismus die Grenzen zwischen Geologie, Biologie und historischen Sozial- und Kulturwissenschaften ein.52 Er sieht seine „monokosmische Sicht“53 als Beitrag zu einer Vereinheitlichung: Die differenzierende Arbeit der sich wechselseitig methodisch und theoretisch abschottenden Einzelwissenschaften führe zu immer neuen Perspektiven und Relativierungen.54 Im Grunde geht es ihm um die Reduktion von Komplexität. In den Ergebnissen der modernen Atom-Physik glaubt Breysig jene komplexitäts-

48 Breysig, Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte, S. 22. 49 „Es findet sich, daß alle Menschheitsgeschichte einen innersten Kern hat, der sich um seiner Naturgewachsenheit willen wie eine unmittelbare und fast wesensgleiche Fortsetzung des Naturgeschehens ausnimmt und deshalb Urgeschehen genannt werden mag.“ Kurt Breysig: Der Werdegang der Menschheit vom Naturgeschehen zum Geistgeschehen, Breslau 1935, S. 10, vgl. auch S. V. 50 Ebd., S. 3. 51 Ebd., S. 2. 52 Rudolf Pannwitz bescheinigt Breysig ein „unbändiges[s] Verlangen nach Allumfassung und -vergeistigung“, das „zur Vereinigung von Natur- und Menschheitsgeschichte in einem Gesamtbau“ geführt habe. Pannwitz, Erinnerungen an Kurt Breysig, S. VIII. Vom Brocke verweist auf Auguste Comtes ‚physique sociale‘: „Aber es ist kein Positivismus mehr, der uns hier als Grundhaltung entgegentritt, eher ein fast spinozistischer Pantheismus im Sinne Herders und Goethes, jenseits von Materialismus und Spiritualismus.“ Vom Brocke, Kurt Breysig, S. 118. Hartmut Böhme betont den prekären Status der interdisziplinären Wissenszusammenschau bei Breysig: „Hier […] werden die physikalische Kosmogonie, die Biologie der res vivens und die Humangeschichte zu Feldern eines ‚wilden Denkens‘ (C. Lévi-Strauss).“ Böhme, Universalistische Entgrenzung, S. 183. 53 Breysig, Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte, S. VIII. 54 Breysig spricht hier von „tausend trennenden, oft nur allzu sehr scheidelustigen, trennungssüchtigen, schizothymen Lehrmeinungen“. Ebd.



6.2  Epistemologie des ‚Ur‘: Kern, nicht Spirale

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reduzierenden strukturprägenden Muster erkennen zu können, die in einem zweiten Schritt auf den historiographischen Diskurs, der die Trias Kosmologie, Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte umfasst, appliziert werden können.55 Wenn bei Breysig von „Allbewegtheit“ oder „Eigenbewegtheit“ die Rede ist, so ist damit zunächst das Verhalten des Elektrons – „de[s] kleinste[n] und elementarste[n] Urkörper[s]“– gemeint, ein „wanderndes Kraftzentrum“56 zu bilden. Das „elektrische Geschehen der Urkörper, zu denen auch die Strahlen gerechnet werden dürfen und müssen“, wird als ein „vom Stoff befreites reines Wirken“57 aufgefasst. Die „Eigenbewegtheit“ der Elektronen bildet für Breysig jene anorganische Matrix, die Flora und Fauna, dann aber auch den kulturell-geschichtlichen Bereich codieren. Es geht um das „Hineinragen des anorganischen zuerst in das lebendige, dann in das menschliche Geschehen“.58 [A]lles Hinstreben dieser jüngsten Physik in den innersten Bezirk des anorganischen Reiches, in das Kerngebiet der Urkörper und der kleinsten Dimensionen bedeutet im Grunde ein Hindringen zu den elementarsten Geschehensformen, die eben deshalb für alles Sich-Ereignen in den höheren, der Oberfläche näheren Schichten bestimmend und entscheidend sind und dies ist wiederum nichts anderes als ein Forschen nach den letzten Vereinheitlichungen allen Weltgeschehens.59

Wesentliche Elemente der Argumentation Schwarzenbergs in Besuch auf Godenholm erinnern an Breysig. Jünger lässt Schwarzenberg gleich Breysig in einem allumfassenden Vereinheitlichungsgestus argumentieren, dessen heuristisches Zentrum die Kern- und Strahlungskonzeption der modernen Physik bildet. Breysigs ‚Kerne‘ werden in Schwarzenbergs Rhetorik zu „zeitlose[n] und unausgedehnte[n] Kerne[n]“; die Aussage, dass von diesen „Kernen“ nun „Muster und Qualitäten auf das Entfernte“ „strahlten“60, nimmt das Strahlungsprinzip als reine Wirksamkeit auf und betont dessen schöpferischen Charakter: „Schöpfung stand nicht am Anfang, sondern war

55

Die naturwissenschaftliche Ausrichtung der Argumentation ist nicht nur Staffage. Sie wird von Breysig in der Überzeugung betrieben, sich durch ein großes Lektürepensum die Positionen der Quantentheorie kompetent angeeignet zu haben. Diesem Nachweis dient auch die Dokumentation der konsultierten Schriften, die Naturgeschichte und Menscheitsgeschichte beschließt. Vgl. ebd., S. 473–475. 56 Breysig, Der Werdegang der Menschheit, S. 13. 57 Breysig, Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte, S. 375. 58 Breysig, Der Werdegang der Menschheit, S. 13. 59 Ebd., S. 84. 60 Jünger, Besuch auf Godenholm, S.  28. Vorhergehende Zitate gleichfalls. Das „Unausgedehnte“, so heißt es an anderer Stelle (in Zahlen und Götter, 1973/74), sei „das Zeit- und Raumlose“ schlechthin. SW 13, S. 292.

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möglich in jedem Zeitpunkt, der sich am Unausgedehnten entzündete.“61 In Typus, Name, Gestalt wird das „Unausgedehnte[.  .]“ in der Rolle des „Ungesonderten“ als Zeitlos-„Uralte[s]“ angesprochen: „es ist an jedem Ort und zu jeder Zeit. Wo es Auftritt, wiederholt es den ‚Ursprung‘, und es ist nicht nur ‚neu‘, sondern ‚immer wieder neu‘ in dieser Wiederholung, also in seiner Eigenschaft des Ursprünglichen.“62 Das Moment der Entzündung bezeichnet bei Schwarzenberg gleichsam den wiederholten Ursprung. Sowohl die „Kosmogonie“ und die sich anschließende „Naturgeschichte“ als auch die menschliche „Geschichte“63 im eigentlichen Sinne unterliegen bei Jünger weder einer linearen oder zyklischen, noch einer spiralförmigen Entwicklung; maßgeblich ist vielmehr der Strahlungskontakt zum „Unausgedehnten“. Das ‚Prinzip Strahlung‘ Schwarzenbergs unterscheidet sich aber auch von Breysig. Dieser versteht darunter zwar zunächst übereinstimmend eine der anorganischen Welt entstammende, die organische und kulturell-geschichtliche Welt codierende Struktur, jedoch ist diese in allen drei Bereichen unauffällig und implizit präsent; Strahlung ist bei Breysig nichts ‚Entzündendes‘, das gegen eine Situierung der Schöpfungsidee am „Anfang“ gerichtet wäre. Gleich dem späten Breysig bezieht Schwarzenberg sich auf die einzelnen Wissenschaften hinsichtlich einer vereinheitlichenden Entgrenzung ihrer Erkenntnisse. Stellen sich Moltner, Einar und Ulma zunächst die Frage, was die „Absicht“ von Schwarzenbergs „Ausflüge[n] in die Heilkunst und Völkerkunde, die Vorgeschichte, die Mythenwelten“ seien mögen, so steht bald fest, dass es um „Gewinne“ geht, „die über alle Wissenschaft hinausgingen.“64 Vergleichbares gilt für Schwarzenbergs Sicht auf die „Wissenschaften des 19. Jahrhunderts“. Diese „schätzte“ er zwar, wie es heißt, wenngleich er meinte, daß sie in ihrem wahren Sinn noch nicht erkannt wären. Der würde auftauchen, wenn die höhere Absicht sich offenbare, die in ihrem Wachstum verborgen und nicht in den Zweigen zu erfassen sei. Es schien, daß er sich diesen Vorgang weniger in der Zeit und durch Entwicklung vorstellte, als durch Enthüllungen.65

Sowohl mit Blick auf eine Überbietung der Ergebnisse von Völkerkunde und Vorgeschichtsforschung als auch eine ‚enthüllende‘ Würdigung der institutionalisierten Wissensbestände des 19. Jahrhunderts geht es um deren Beitrag zu einer Einsicht in den „Mythengrund, der in der Schicksalsstunde durch61 62 63 64 65

Jünger, Besuch auf Godenholm, S. 29. SW 13, S. 123. Jünger, Besuch auf Godenholm, S. 28. Ebd., S. 46. Ebd., S. 27. Vorhergehendes Zitat gleichfalls.



6.2  Epistemologie des ‚Ur‘: Kern, nicht Spirale

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leuchtet, wenn der Stoff der Historie verschleißt.“66 Im Mittelpunkt steht hier also die disziplinäre Erkenntnisgrenzen transzendierende Fokussierung des Wissens auf dessen weltanschauliches Orientierungspotenzial jenseits historischer Bedingtheiten. Breysig begründet seine „monokosmische Sicht“ gleichfalls mit weltanschaulichen Erfordernissen:67 Er gebe nur dem „Drang zur Vereinheitlichung des Weltbildes“ nach, der nichts anderes sei als das Ergebnis einer „starken Weltfrömmigkeit“68. In Jüngers Erzählung ist es vor allem Moltner, der als Sinnsucher präsentiert wird. Nach dem Durchlauf einer „Reihe von Philosophemen“ kommt dieser bald zu dem Ergebnis, dass „Theorien ihm nicht genügten“; gleiches gilt für „Drogen“ und Praxen, die „Yogis“ und „esoterische[.  .] Sektierer halb empfahlen und halb verheimlichten.“69 Die Nähe Schwarzenbergs zu dieser Form philosophischer Lebenshilfe, der sich Moltner bedürftig wähnt, ist unübersehbar. In der Tradition von Breysig verspüren Moltner und Schwarzenberg einen „Drang“ zur orientierenden „Vereinheitlichung des Weltbildes“. Unter solchen Vereinheitlichungsvorzeichen betreibt Schwarzenberg Vorgeschichtsforschung. Auf seinem „Schreibtisch“ gewahrt Einar ein „schmales Steinbeil“70, gefertigt aus „‚Donauschotter bei Riedlingen‘“. Gleich Einar, der Vor- als Urgeschichte betreiben will, fasst Schwarzenberg unter „Vorkultur“ etwas, das sich „unterschied von den wissenschaftlichen Begriffen, die sich in dem Wort vereinigen“71. Ihn interessiert nämlich nicht die Signifikanz des Fundes mit Blick auf eine chronologisch-genealogische Fundierung im prähistorischen Kontext. Nicht Datierungsfragen gilt seine Aufmerksamkeit, sondern einem Bearbeitungsdetail der Waffe: Ihn „entzückte“ d[ie] frühe[.  .] Kenntnis der Stromlinienzüge, die zwecklos, als eine Art von luxuriösem Wissen darauf [auf der Waffe, N.K.] abgetragen war. So führen gewisse Kerfe durch Blätter Schnitte, die nach den Formeln höherer Rechenkunst gebildet sind. Schwarzenberg sah darin ein Zeichen der großen und im Unaufgeteilten wirkenden Vernunft. Ihr galt die Forschung, und die Wissenschaften waren wie Spiegel aufgestellt.72

66 67

Ebd., S. 96. Hartmut Böhme diskutiert Breysigs Entwürfe konsequent als Indikator für den „‚Weltanschauungsbedarf‘“ am Ende der Weimarer Republik. „Zeugnisse eines theoretischen Denkens“ seien sie hingegen nicht. Böhme, Universalistische Entgrenzung, S. 183. 68 Breysig, Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte, S. VIII. 69 Jünger, Besuch auf Godenholm, S. 43. 70 Ebd., S. 27. 71 Ebd., S. 28. Vorhergehendes Zitat gleichfalls. 72 Ebd., S. 29.

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Es ist der ‚entzündende‘ Kontakt vorgeschichtlicher Artefakte mit dem zeitlos „Unausgedehnten“, der hier Schwarzenberg interessiert. Die Vorgeschichte ist lediglich eine der „Kugelschalen“, die von „unausgedehnte[n] Kerne[n]“73 bestrahlt wird; ihr Bezugspunkt ist nicht die eigentliche Geschichte, sondern das, was hinter aller Geschichte steht: das zeitlos schöpferische Prinzip. Den als frühe Manifestationen der ‚geometrischen Vernunft‘ gedeuteten „Stromlinienzüge[n]“ kommt im Ergebnis die Rolle zu, das Strahlungsprinzip als Garant eines zeitlos-basalen Konstruktivismus zu veranschaulichen. Was den Ur-Historiker Einar an der Vorkulturforschung Schwarzenbergs demnach besonders interessiert, ist die physikalische Imprägnierung der ins Mythologische entgrenzten Universalgeschichte der Schöpfung.

6.3  Ausgemerzter Primitivismus oder: mehr elementar als primitiv Die Figur des Schwarzenberg macht von der ersten zur zweiten Fassung der Erzählung einige bemerkenswerte Wandlungen durch. Die bisweilen lächerliche Charakterisierung seines Habitus ist in der Fassung, die in die Werke (1960–1965) eingeht und damit auch für die Sämtlichen Werke (1978–2003) maßgeblich wird, zurückgenommen. Zudem wird die explizite Reflexion seiner mythischen Grundprinzipien, die das Ende von Besuch auf Godenholm in der ersten Fassung markiert, in der zweiten gestrichen. Schwarzenberg erscheint dadurch weniger geschwätzig und guruhaft; der Charakter wirkt kompakter und rätselhafter, der symbolische Manierismus etwas gedämpft.74 Als dritte Veränderung muss angeführt werden, dass Züge, die Schwarzenberg dem Umfeld des ‚Primitivismus‘ zugeordnet erscheinen lassen, in der zweiten Fassung getilgt sind. Man kann hier vermuten, dass Jünger die Synthese eines vordergründigen physikalischen Elementarismus mit einem ethnographischen Primitivismus für nicht besonders gelungen hielt. Der Arbeiter ist eigentlich der letzte Text Jüngers, in dem mit vitalistisch-primitivistischen Denkfiguren gespielt wird – und dies bereits im Zeichen der Konzeption einer ‚elementaren Morphologie‘. Verwunderlich ist also nicht so sehr die Tilgung primitivistischer Spuren; überraschend ist vielmehr, dass Jünger zu Beginn der 1950er seinen epistemischen Hauptcharakter Schwarzenberg in73 74

Ebd., S. 28. In der ersten Fassung ist die Charakterisierung Schwarzenbergs als weltanschaulicher Verführer deutlicher als in der zweiten. So wird er von Moltner als „‚Charlatan‘“ bezeichnet (Ebd., S. 7, S. 9). Gestrichen werden dieser Passus genauso wie die folgende Verzeichnung Schwarzenbergs ins Lächerliche: „Merkwürdig war ein Stirnband, das hinten durch eine Schleife geschlossen war.“ Ebd., S. 31.



6.3  Ausgemerzter Primitivismus oder: mehr elementar als primitiv

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nerhalb einer seltsam anachronistischen Diskurskartographie verortet: dieser wird als elementar und primitiv charakterisiert. Im Mittelpunkt stehen hier zunächst die Bediensteten Schwarzenbergs, Gaspar und Erdmuthe. Diese sind mit den Insignien der ‚Wilden‘ versehen: „Sie konnten an einen Stich erinnern, wie man sie in den Büchern früher Entdeckungsfahrer sieht.“75 Die Skizzierung der Charaktere durch die Brille völkerkundlichen Interesses arbeitet vor allem die körperlichen Besonderheiten beider heraus. Während an Gaspar, der durch langjährigen Rauschmittelgenuss und schwere Arbeit, etwa in „kolonialen Söldnertruppen“76, gezeichnet ist, besonders die „Tätowierungen“77 faszinieren, zieht Erdmuthe aufgrund ihrer Leibesfülle und der Auszeichnung ihrer Kleidung „mit rohe[n] Stickereien, wie man sie im höchsten Norden mit Fischbeinnadeln auf Rentierhäute setzt“78, die Aufmerksamkeit auf sich. Im ethnologischen Diskurs, der sich um 1900 dem ‚Primitiven‘ widmet, gelten modische Ornamentik und Körperbemalung zum einen als Strategien zur „Wertbezeichnung“ des Trägers.79 Daneben gibt es auch eine ‚symbolisierende‘ Deutung der Tätowierung, die in der auf den Körper aufgetragenen Darstellung selbst einen Wert ausmacht.80 Bei Gaspar handelt es sich augenscheinlich um eine solch ‚symbolisierende‘ Deutung: „Der Drache mit den roten und blauen Schuppen, der fast die ganze Brust bedeckte, war ohne Zweifel von Meisterhand gestochen […]. “81 Der „Träger“ stellt sich damit, so der ethnographische Blick, „ein- für allemal unter den Schutz des Talis75 76 77 78 79

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Ebd., S. 25. Ebd., S. 19. Ebd., S. 21. Ebd., S. 25. Über den „natürlichen Menschen“, den „Wilde[n]“, etwa heißt es bei dem völkerpsychologisch interessierten Kunsthistoriker August Schmarsow: „Seine breite Brust, seine Arme und Schenkel werden mit Tätowierung überzogen. Was bedeutet dieses Linienziehen auf der Fläche zunächst anders als eine Folge des Verweilens bei ihrem Anblick und eine Einladung, sie zu betrachten, also eine Anerkennung ihrer Muskellagen und ihrer Leistungsfähigkeit als Teile des geschmeidigen Körpers.“ Gleiches gilt laut Schmarsow auch für die Kleidung. Diese dürfe nicht nur in ihrer Schutzfunktion betrachtet werden, sie sei vielmehr „Schmuck, wie die Rüstung des Kriegers, die Uniform des Soldaten und wie Perlenschnur oder Papageienfeder des nackten Wilden, d.  h. Wertbezeichnung des eignen Leibes.“ August Schmarsow: Unser Verhältnis zu den bildenden Künsten. Sechs Vorträge über Kunst und Erziehung, Leipzig 1903, S. 81. Im Anschluss an Wilhelm Wundts Unterteilung in ‚markierende‘ (wertbezeichnende) und ‚symbolische‘ „‚tatooing marks‘“ heißt es bei August Schmarsow mit Blick auf letztere: „Es sind Erzeugnisse der bildenden Kunst (Zeichnung, Malerei), die hier von außen hergenommen, als vorhandene und anerkannte Werte dem einzelnen angeheftet oder gar auf den Leib geprägt werden.“ August Schmarsow: Kunstwissenschaft und Völkerpsychologie. Ein Versuch zur Verständigung, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 2 (1907), S. 305–339, S. 469–500, hier: S. 480. Jünger, Besuch auf Godenholm, S. 21  f.

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mann oder Fetisch, er wird der bannenden Kraft des Schiboleths teilhaftig u.s.w.“82. Die ‚Primitiven‘ Gaspar und Erdmuthe stehen innerhalb der Erzählung nicht für sich; sie verweisen vielmehr auf Schwarzenberg: „‚Im Personal wird seine primitive Seite am deutlichsten‘ – das dachte Moltner oft, wenn er sich mit Schwarzenberg beschäftigte.“83 Als ‚primitiv‘ kann Schwarzenberg in den Augen Moltners vor allem deshalb gelten, da dieser für ein Denkens steht, das ihn, Moltner, interessiert: primitives Denken. Dem frühen 20. Jahrhundert galt der ‚Primitivismus‘ als eine Form des Denkens, die Kinder, Naturvölker und Geisteskranke (vor allem Schizophrene) miteinander teilen.84 Allen drei Gruppen gemeinsam, so die von Pädagogik, Völkerkunde und Psychologie vorgetragenen Überlegungen, sei die Fähigkeit, ein Denken restituieren und veranschaulichen zu können, wie es den ersten Menschen, den Ur-Menschen eignete. Moltner verweisen äußere Erkennungsmerkmale (Verzierung der Kleidung, Tätowierung) der Bediensteten auf eine innere mentale Konstitution des Hausherren. Es ist jener ins Uranfängliche ausgreifende Charakter der ‚primitiven‘ Vorstellungswelten Schwarzenbergs, der Moltner anzieht. Schwarzenbergs Kennzeichnung als ‚primitiv‘ in dieser Hinsicht steht zu seiner Theorie der strahlenden Kerne allerdings in einem gewissen Spannungsfeld – und dies in vielerlei Hinsicht. Fassungen des ‚Primitivismus‘ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts argumentieren grundsätzlich von einem genealogischen, entwicklungsgeschichtliche Standpunkt aus: Die Wiedergewinnung primitiver mentaler Kapazität verdankt sich entweder dem Umstand, dass Kinder und Geisteskranke eine abgeschlossene Phase der Menschheitsentwicklung noch einmal durchlaufen – sich also, je unterschiedlich, regressiv verhalten, oder dass Naturvölker sich wie Urmenschen verhalten. Ein zeitlich Erstes und Frühes bildet jedenfalls den Bezugspunkt der Analogiebildungen. Das Elementare in der Konzeption Schwarzenbergs ist jedoch kein Erstes oder Frühes, es ist ein schlechthin Außerzeitliches. Damit verbunden ist ein weiterer gravierender Unterschied zwischen primitivem und elementarem Denken. Steht das primitive Denken mit Disziplinen im Bunde, die mit der organischen Materie und dem Menschen befasst sind, so besteht ein wesentliches Merkmal des ‚Elementarismus‘ zweifelsohne darin, dass er zwischen organischem und anorganischem Raum keine prinzipiellen Differenzen annimmt. Es ist nicht nur so, dass ihn Fragen der Anthropogenese nicht interessieren; er versucht vielmehr jeglichen Anthropozentrismus zu vermeiden. Nirgends deutlicher zeigt sich dieser Unterschied als in den jeweiligen Bezugsdisziplinen: Geht 82 Schmarsow, Kunstwissenschaft und Völkerpsychologie, S. 480. 83 Jünger, Besuch auf Godenholm, S. 25. 84 Vgl. Gess, Primitives Denken, S. 29–135.



6.3  Ausgemerzter Primitivismus oder: mehr elementar als primitiv

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der Primitivismus von der (Entwicklungs-)Biologie – auch und besonders dort, wo er den menschheitsgeschichtlichen Anfang rekapitulieren möchte – und (Entwicklungs-)Psychologie aus, so sucht der ‚Elementarismus‘ den Anschluss an die zeitgenössische Physik. Worin Schwarzenbergs Kosmogonie, Naturgeschichte und Geschichte umfassende Strahlungsphantasmagorien und der Primitivismus hingegen übereinkommen, ist das Interesse am Vor- und Antirationalen, an der Intuition, oder  – um einen Begriff des französischen Ethnologen Lucien Lévy-Bruhl zu nutzen, der Vorstellungen vom primitiven Denken in der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts maßgeblich prägte  – an der ‚Prälogik‘. Unter „prälogische[r] Geistesart“ versteht Lévy-Bruhl ein Denken, das der „mystischen Partizipation[.  .]“ „(Anteilnahme)“ gehorcht.85 „‚[M]ystisch‘“ bezeichnet hier den Glauben an „Kräfte, an Einflüsse, an Handlungen […] welche für die Sinne nicht wahrnehmbar und dennoch wirklich sind“86. Zwischen unterschiedlichen (Natur-)Objekten werden Beeinflussungs- und Korrespondenzbeziehungen ausgemacht, die „unser Denken“, das darauf aus ist, „sich des Widerspruchs zu enthalten“87, in dieser Form nicht stiften würde. Nicola Gess weist auf die substituierende Funktion des mystischprälogischen Denkens hinsichtlich der vom modernen Mitteleuropäer an die Wissenschaft gestellten, von dieser jedoch verweigerten Totalitätssehnsüchte hin.88 In der Tat sieht Lévy-Bruhl das mystisch-prälogische Denken, die „sogenannten antiintellektualistischen Lehren“89, dort auf dem Vormarsch, wo die Erfassung von Welt durch ‚Begriffe‘ als unzureichend empfunden wird.90 Den „innigen und unmittelbaren Kontakt mit dem Wesen durch die Intuition“ ermöglichen weder die „positive reine Wissenschaft noch die anderen philosophischen Doktrinen“91. Der zivilisierte Mitteleuropäer bedient sich gleichsam aus dem Fundus der primitiven Denkungsart. Jüngers Schwarzenberg verbindet die Prälogik der intuitionistischen Schau mit der physikalischen Logik strahlender Kerne. 85 86 87 88 89 90

91

Vgl. zur „prälogischen Geistesart“ ‚Primitiver‘: Lucien Lévy-Brühl [sic!]: Das Denken der Naturvölker, in deutscher Übersetzung hrsg. u. eingeleitet von Wilhelm Jerusalem, Wien u. Leipzig 1921, S. 57–69. Ebd., S. 23. Ebd., S. 59. Gess, Primitives Denken, S. 54. Lévy-Brühl, Das Denken der Naturvölker, S. 344. „Wenn man […] annimmt, daß die mystischen und prälogischen Elemente schließlich aus den meisten Begriffen ausgemerzt werden, so würde dies noch nicht ein vollkommenes Verschwinden der mystischen und prälogischen Geistesart bedeuten. Denn das logische Denken, welches sich in reinen Begriffen und durch die vernunftgemäße Organisation dieser Begriffe zu verwirklichen strebt, hat nicht denselben Umfang, wie die Geistesart, die in der früheren Vorstellungsweise ihren Ausdruck fand. Diese besteht nicht ausschließlich in einer intellektuellen Funktion […]. “ Ebd., S. 342. Ebd., S. 344.

7  Im Zeichen des Antaios (1959–1971). Jünger im Gespräch mit der Erdgeschichte 7.1  Zeitordnungen in An der Zeitmauer (1959) 7.1.1  Kritik humaner Einteilungen (Herodot, Hegel, Spengler vs. Jaspers, Jünger) In Besuch auf Godenholm ist es Moltner, der unter der „Entzauberung der Zeit“ leidet: „Sie schien die rhythmischen Werte einzubüßen, die kosmische Ordnung, die festliche Wiederkehr.“1 Und Lucius de Geer, der Held von Jüngers drei Jahre zuvor erschienenem Roman Heliopolis, stieß bereits ins gleiche Horn: In seiner Heimat, dem Burgenland, sei „niemals die Sanduhr durch die mechanische Uhr“2 ersetzt worden, die kosmische Ordnung demnach noch intakt. Im Sanduhrbuch (1954) setzt Jünger der Diagnose des Schwundes temporaler Qualität mit dem titelgebenden Zeitmesser ein chronografisches Regime entgegen, das in der Abkehr von mechanischer Messung für eine qualitative Aufwertung der kosmischen Zeit einstehen soll. Eine solche mit nicht-„mechanischen Uhren“ erfasste Zeit finden „wir noch heute, wo wir uns aus dem historischen Raum entfernen, sei es in den Dörfern der Eingeborenen, sei es in Landschaften, denen die Technik noch nicht ihren Rhythmus gegeben hat.“3 Die damit verbundene Rede von der „kosmischen Uhr“4 verweist auf den Ort, von dem die alte, wiederzuerlangende Zeiterfahrung aus konzipiert wird: Es ist der astrologisch, meteorologisch sowie jahreszeitlich bestimmte Kosmos, dessen zeitlicher Ordnung auch der Mensch unterliegt. Damit einher geht ein latenter Anti-Anthropozentrismus, ja ein Denken, das selbst die Grenzen des Organischen hin zur „unbelebten Materie“ zu überschreiten sucht.5 Skizziert ist damit jene ‚kosmische‘ Perspektive, die für Jüngers An der Zeitmauer (1959) maßgeblich werden wird. 1 2 3 4 5

Jünger, Besuch auf Godenholm, S. 42. Jünger, Heliopolis, S. 357. SW 12, S. 110. Ebd., S. 130. „Der Auf- und Untergang der Gestirne, der Licht und Schatten, Winter und Sommer, Ebbe und Flut in vielfachen Gängen bestimmt, liegt der menschlichen Zeitrechnung nicht nur zugrunde, sondern umfaßt sie, bettet sie ein. Alle Wesen und selbst die unbelebte Materie richten sich nach der kosmischen Uhr.“ Ebd., Hervorhebung N.K.

314

7  Im Zeichen des Antaios

In diesem Großessay lässt er unterschiedliche ‚humane‘, d.  h. menschheitsgeschichtlich fokussierte Zeitordnungen Revue passieren und kontrastiert sie mit erdgeschichtlichen Einteilungen, die astrologisch fundiert werden. Der Sache nach wird damit die entgrenzte Universalgeschichtsschreibung in der Tradition Kurt Breysigs fortgesetzt.6 In gleichem Maße steht An der Zeitmauer in der Tradition des Interesses an geologischer Tiefenzeit und Vorgeschichte wie es Jaspers in Vom Ursprung und Ziel der Geschichte (1949) bekundete:7 Die zeitliche Beschränkung – etwa das Alter der Welt von 6000 Jahren im biblischen Glauben – wurde durchbrochen. Ein Endloses öffnet sich in Vergangenheit und Zukunft hinein. Darin bindet sich die Forschung an historische Reste, an Dokumente und Monumente der Vergangenheit.8

Jünger hat in seinem Exemplar von Jaspers’ Buch die letzten beiden Sätze dieses Zitates unterstrichen.9 Sie können als Anknüpfungspunkt für sein mit An der Zeitmauer in Angriff genommenes Vorhaben gewertet werden, die historische Zeitrechnung  – eben jene Zeitmauer  – zu durchbrechen, den Menschen als Sohn der Erde in die geologische und kosmische Zeitordnung einzugliedern und damit eine – wie es Henri Plard formuliert – „‚kosmozentrische[.  .]‘ Ansicht vom Menschen“10 zu geben. Auch wenn die existenzphilosophische Orientierung Jüngers und vor allem seiner Leser gut erschlossen ist,11 wurden augenfällige Parallelen zwischen Jaspers und Jünger in vor6 7

Vgl. zum Verhältnis Breysig – Jünger Kap. 6.2. Vgl. zu Jaspers’ Konzeption der Vorgeschichte im Kontext der zeitgenössischen disziplinären Vorgeschichtshistoriographie Kap. 1.7. 8 Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, S. 15. Das von Jaspers Jünger handschriftlich gewidmete Exemplar („28. 10. [51?]“) verzeichnet das 9 DLA unter der Sign.: WJB16.02/48. 10 Henri Plard: Ernst Jüngers Wende. An der Zeitmauer und Der Weltstaat, in: Arnold (Hrsg.), Wandlung und Wiederkehr, S. 117–131, hier: S. 123. 11 Jünger steht bereits durch Brocks Studie Das Weltbild Ernst Jüngers (1945) im Deutungshorizont von Jaspers’ Existenzphilosophie (1938). Vgl. Brock, Das Weltbild Ernst Jüngers, S. 1–4. Nach dem Krieg ist es dann vor allen Dingen Jaspers’ Die geistige Situation der Zeit (1931), die als Dreh- und Angelpunkt für eine Bestimmung der ‚Krise‘ um 1950 genutzt wird. Der geschichtsskeptische Jaspers bildet hier die Grundlage dafür, die Technikeuphorie und Technikkritik der Brüder Jünger Revue passieren zu lassen und besonders Ernst Jünger auf dem Weg von der „Bejahung des Nihilismus“ (Der Arbeiter) zum konformitätsskeptischen Anarchisten (Über die Linie, Der Waldgang) zu sehen. Vgl. Hermann Bendiek: Der Massenmensch und das technische Zeitalter. Der Mensch und die Technik bei Ernst und Friedrich Georg Jünger, in: August Sahm/Richard Wisser (Hrsg.): Jaspers als Blickpunkt für neue Einsichten. Ein Beitrag zum Verständnis der heutigen Zeit, Heft 1, Worms 1952, S. 21–31, Zitat: S. 23. Vgl. weiterführend zu Jünger im Einflussgebiet existenzialistischer Rezeption und Selbststilisierung nach 1945 Steffen Martus: Ist der Anarchismus ein Existenzialismus? Die Krise des „Einzelnen“ bei Ernst Jünger, Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre, in: Cornelia Blasberg/Franz-Josef Deiters (Hrsg.): Denken/Schreiben (in) der Krise – Existentialismus und Literatur, St. Ing-



7.1  Zeitordnungen in An der Zeitmauer

315

geschichtsphilosophischer Hinsicht bisher nicht gewürdigt. Diese zeigen sich zum einen in dem Versuch, einen vorgeschichtlichen, dem geschichtlichen Bewußtsein und historiographischen Bericht entzogenen Raum  – Jünger spricht von ‚Urgeschichte‘, Jaspers hingegen von ‚Vorgeschichte‘ – anzunehmen, in dem die conditio humana maßgeblich geformt wird. Zum anderen zeigen sich die Übereinstimmungen zwischen Jaspers und Jünger nicht nur hinsichtlich einer Abschottung gegenüber jenem geschichtlichen Raum, den die Geschichtsschreibung der disziplinären Vorgeschichtsforschung für sich beansprucht, sie zeigen sich auch mit Blick auf den Austritt aus der Geschichte. An der Zeitmauer stand der Mensch sowohl vor seinem Eintritt in die geschichtliche Zeitordnung (in Jaspers’ Diktion: ein „Endloses öffnet sich in Vergangenheit […] hinein“); an der Zeitmauer steht der Mensch nun aber auch vor seinem von Jünger prognostizierten Austritt aus der Geschichte (in Jaspers’ Diktion: ein „Endloses öffnet sich in […] Zukunft hinein“). Auf einen wichtigen Abschnitt aus An der Zeitmauer trifft der Leser in dem von Jünger und dem rumänischen Religionswissenschaftler, Mythenforscher und Philosophen Mircea Eliade (1907–1986) herausgegebenen ersten Band der Zeitschrift Antaios.12 Das Antaios-Projekt beschäftigt beide Autoren bis 1971. In den 1960er-Jahren avanciert der Antaios – darin der Corona in den 1930er-Jahren vergleichbar13  – zum Erstveröffentlichungsort zahlreicher Arbeiten Jüngers.14 Bei dessen Engagement in Sachen autorschaftlicher Inszenierung im Publikationsort ein strategisches Kalkül auszumachen, fällt nicht schwer. Wir werden darauf zu sprechen kommen. Doch zunächst ein paar Stichworte zu Antaios. Die Zeitschrift für eine freie Welt, so der Untertitel, verspricht im „Programm“, einen „geistigen Überblick“ von mythologischer Warte geben zu wollen: „ANTAIOS soll an den Riesen erinnern, dessen Kraft sich durch die Berührung seiner Mutter, der Erde, erneut.“15 Als Mythos wird jede Macht verstanden, „die die Geschichte gründet und, immer wiederkehrend, den Strom des Geschehens durchbricht.“16 In diesem Sinne ist die „Berührung“ des Antaios der Mutter Erde – „als Symbol gesehen“ – „stets die gleiche, und

12

13 14 15 16

bert 2004, S. 159–197, hier: S. 159–166. Vgl. insgesamt zum „existentialanthropologischen“ Denken um 1950 auch Streim, Das Ende des Anthropozentrismus, S. 375–391. Vgl. zu Vorgeschichte, redaktioneller Arbeit und ‚esoterischer‘ Ausrichtung der Zeitschrift Hans Thomas Hakl: „Den Antaios kenne und missbillige ich. Was er pflegt, ist nicht Religio, sondern Magie!“ Kurze Geschichte der Zeitschrift ANTAIOS, in: Aries 9/2 (2009), S. 195–232; vgl. auch Alexander Pschera: Heilige Tiefe und geistiger Überblick. Die Zeitschrift Antaios, in: Sezession 5/1 (2007), S. 18–23. Vgl. zu Jüngers Corona-Publikationen Kap. 4.3.1. Hakl zählt 17 Antaios-Beiträge Jüngers, allesamt keine Exklusivveröffentlichungen. Vgl. Hakl, „Den Antaios kenne und missbillige ich“, S. 200  f. SW 14, S. 168. Ebd., S. 167.

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7  Im Zeichen des Antaios

doch verschieden im zeitlichen Gewande“17. Stets vergleichbar, jedoch zeitlich verschieden? – Besser lässt sich die Beziehung der auf einer Spiralbahn im Sinne Breysigs eingezeichneten ‚Ereignisse‘ nicht zusammenfassen. Bei Jünger geht es nicht um irgendwelche ‚Ereignisse‘. Die zyklisch-spiralische Dialektik von ungeschichtlicher Prägung und geschichtlicher Aktualisierung bekommt durch den von ihm diagnostizierten Wandlungsprozess eine ganz besondere Brisanz; geht es doch in seinem Hauptwerk der Nachkriegszeit An der Zeitmauer um nichts Geringeres als die Imagination eines Epochenumbruchs, der den großen geologisch-biologischen Veränderungen des Planeten in Kategorien von ‚Erdzeitaltern‘ in nichts nachstehen soll.18 Alexander Honold spricht angesichts der Duplizität von erdgeschichtlichem und diagnostisch-prognostischem Blick davon, dass hier „rückwärtsschreitende Naturalisierung“ und „progredierende[r] Zukunftsrausch[.  .]“19 synthetisch verbunden seien. Bevor Jünger jedoch den prognostizierten Wandel in einer an geologische Skalen angelehnten großraumperiodischen Dimensionierung begründen kann, weist er menschheitsgeschichtlich akzentuierte Erklärungsmuster aufgrund mangelnder explikativer Reichweite zunächst zurück. 17 18

19

Ebd., S. 168. In der synthetischen Verbindung von phänomenaler Beschreibung und tiefenstruktureller Diagnose ähnelt An der Zeitmauer dem überaus erfolgreichen Arbeiter. Die Nähe zwischen beiden Arbeiten versucht Jünger nicht nur durch deren Zusammenfassung in einen Band der Werkausgabe (1981) zu evozieren. Vgl. Martus, Ernst Jünger, S. 185  f. Wenn er rückblickend, in einem Tagebucheintrag vom 20.  02. 1995, die Absicht des Arbeiters darin sieht, „einen neuplatonische[n] Rückgriff auf die promethische Substanz“ (SW 22, S.  172) zu gewährleisten, so zeigt sich darin der Versuch, in der Gestalt des ‚Arbeiters‘ jenen Prometheus zu sehen, der – wie Antaios auch – mit der Erde in einer besonderen Beziehung steht. Diese besondere Erdbeziehung, die dem Arbeiter-Text hier absichtsvoll retrospektiv unterlegt ist, wird jedoch erst dann deutlich, wenn man auf den Arbeiter durch die Brille schaut, die An der Zeitmauer bereitstellt. Interessanterweise ist es nicht erst der späte Jünger, sondern bereits die zeitgenösssische Rezeption, die Verbindungslinien zwischen beiden Arbeiten zieht: „Die Gestalt des Arbeiters, der nach wie vor eine prägende Rolle zuerkannt wird“, so Helmut Heißenbüttel in einem Rundfunkbeitrag, sei nun „Teil einer überschaubaren erdgeschichtlichen Landschaft geworden.“ Helmut Heißenbüttel: An der Zeitmauer. Aus dem Manuskript von Ernst Jünger für den Funk ausgewählt und eingerichtet, Radio-Essay 1959, S. 4, Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Demgegenüber gilt es, die Differenzen nicht völlig aus den Augen zu verlieren. Pekar arbeitet die Unterschiede zwischen beiden Schriften, die durch die werkgenealogischen Bemühungen Jüngers und von Teilen der Literaturkritik geglättet werden, deutlich heraus: „Im Übergang von seiner Schrift Der Arbeiter zu seinem Essay An der Zeitmauer (1959) wechselte Jünger seine Perspektive vollkommen: Was dort ein von Nietzsches ‚Willen zur Macht‘ bestimmtes anthropologisches Geschehen war […], wurde hier nun zu einem erdgeschichtlichen, planetarisch-kosmischen Vorgang umgewertet; nicht mehr der Mensch ist nun das Agens […] sondern die Erde selbst […]. “ Pekar, Vom nationalen zum planetarischen Denken, S. 190. Alexander Honold: Der Sand in den Uhren. Ernst Jüngers Poetik der fünfziger Jahre zwischen Naturgewalt und Zeitgenossenschaft, in: Schöning/Stöckmann (Hrsg.), Ernst Jünger und die Bundesrepublik, S. 61–88, hier: S. 62.



7.1  Zeitordnungen in An der Zeitmauer

317

„Humane Einteilungen“ werden von Jünger mit den Möglichkeiten der Menschheitsgeschichtsschreibung gleichgesetzt,20 wie sie sich bei Herodot herausgebildet haben und dann von Herder, Hegel und Spengler perfektioniert wurden. Herodot interessiert als der Autor, der „aus der Morgenröte der Geschichte zurück in die mythische Nacht sah“: „Wir dagegen stehen in der Mitternacht der Geschichte; es hat zwölf geschlagen, und wir blicken voraus in ein Dunkel, in dem künftige Dinge sich abzeichnen.“21 Während also Herodot den geschichtlichen Raum vom Mythos her kommend als erster betritt, steht der Mensch des mittleren 20. Jahrhunderts an dessen Ausgang und blickt ins posthistoire.22 Für Ordnung innerhalb des geschichtlichen Raumes sorgt Spengler, dessen organische Kulturkreise aus Gründen der Übersichtlichkeit und der vernünftigen Reduktion empirischer Fülle denjenigen Arnold J. Toynbees (1889–1975) vorzuziehen seien.23 Jünger sieht Spengler auf den Spuren von Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784– 1791) und natürlich Goethes Arbeiten Zur Morphologie (1817–1824).24 Jedoch, so Jüngers Kritik, setze Spengler das „Wort ‚Weltplan‘ […] in Anführungszeichen“25. „Trotzdem bleibt der Weltplan der große Gedanke, der Herders Geschichtsbild sinnvoll zusammenhält. Das Gleiche gilt für Hegels Deutung der Geschichte als der Selbstentfaltung des Weltgeistes.“26. Henri Plard sieht „Spenglers Historizismus“ besonders deshalb in der Kritik Jüngers, da es ihm, Spengler, nicht gelang, „über die Zeitmauer einen Blick zu tun und den Menschen auch als kosmisches Wesen zu erfassen.“27 Doch dass Spengler der 20

An den menschheitsgeschichtlich orientierten Fokus der „humanen Einteilungen“ anschließend heißt es in Rund um den Sinai (1975): „Historische Zeit ist eine vom Menschen geprägte und von ihm abhängige Ordnung; sie schließt seine Gegenwart ein. […] Dieser humane, auf die Kultur bezogene Charakter der Zeit verrät sich auch darin, daß sie zu entgleiten beginnt, sowie sie den Geschichtsraum verläßt, also die wenigen Jahrtausende, aus denen uns Namen von Menschen und Heimen überliefert sind.“ SW 12, S. 490. 21 SW 8, S. 471  f. 22 Martus verweist auf die in den 1950er-Jahren maßgeblich durch Arbeiten Arnold Gehlens vorangetriebenen Diskussionen um den Eintritt in ein ‚nachgeschichtliches Zeitalter‘. Vgl. Martus, Ernst Jünger, S. 185. 23 Vgl. SW 8, S. 453. Die universalgeschichtlichen Vorstellungen von Spengler und Toynbee werden bereits von Jaspers im Zusammenhang diskutiert. Vgl. Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, S. 16  f. Die Spengler gewidmeten Ausführungen Jaspers’ sind in Jüngers Exemplar des Buches (DLA-Sign.: WJB16.02/48) markiert (vgl. ebd., S.  16). Der Name „Spengler“ ist zudem auf dem hinteren Vorsatz notiert. 24 Vgl. SW 8, S. 454. Vgl. zu Jüngers Spengler-Rezeption in An der Zeitmauer im Zeichen von Goethes Morphologie: Chung, Ernst Jünger und Goethe, S. 277–295. 25 SW 8, S. 456. 26 Ebd. 27 Plard, Ernst Jüngers Wende, S. 121. Spenglers Rekurs auf die Erdgeschichte ist im Untergang des Abendlandes als Veranschaulichung einer sich im angstvollen oder phantastischen Rückblick auflösenden Zeitordnung konzipiert. Während bei Jünger die Erd- die Menschheitsgeschichte umfasst, ist bei Spengler die Erd- lediglich der „Untergrund“ der „Menschengeschichte“:

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7  Im Zeichen des Antaios

Weltplanidee skeptisch gegenübersteht, ist nicht sein einziges Manko; womöglich schwerwiegender ist der Umstand, dass sein „physiognomische[r] Blick“ „morphologische[.  .] Ähnlichkeit[en]“ erspäht, ohne die diesen zugrundeliegenden „Maßstäbe“ angeben zu können: „Die reine Vergleichung schafft Relationen, nicht Maßstäbe. Es bleibt die Frage nach der inneren Einheit der mannigfaltigen Erscheinungen und Abläufe über die Ähnlichkeit hinaus.“28 Jüngers argumentatives Ziel besteht nun darin, die Weltplan- oder Weltgeistidee von ihrem universalgeschichtlichen, d.  h. menschheitsgeschichtlich begrenzten Kontext zu lösen und vor einer maßstabssetzenden Folie zu diskutieren, wie sie die Geologie bereitstellt. Die Anleihen, die Jünger bei Hegels Weltgeist-Denken macht, sind aus diesem Grund auch etwas halbherzig, denn die Folie, die ihm, Jünger, vorschwebt – ein Studium der „Akten der Erdgeschichte“ – sind gleichzeitig auch das „Reich, das Hegel vernachlässigte. Mangelnde Natursicht hat man mit recht seine Achillesferse genannt.“29 Es muss also darum gehen, die idealistische Geschichtsphilosophie natur- und erdgeschichtlich zu entgrenzen.30 Breysig hatte in dieser Hinsicht bereits Mitte der 1930er-Jahre ganze Arbeit geleistet. Jünger spricht nun davon, dass die „Geschichtszeit“ mit zu kurzen Zeiträumen rechne, um zyklische Veränderungen fassen zu können, wie sie die Wiederkehr des Gleichen in verschiedenen zeitlichen Gewändern darstelle.31 Schon bei der Erfassung eines

28 29

30 31

„Eine unübersehbare Masse menschlicher Wesen, ein uferloser Strom, der aus dunkler Vergangenheit hervortritt, dort, wo unser Zeitgefühl seine ordnende Wirksamkeit verliert und die ruhelose Phantasie – oder Angst – in uns das Bild geologischer Erdperioden hingezaubert hat, um ein nie zu lösendes Rätsel dahinter zu verbergen; ein Strom, der sich in eine ebenso dunkle und zeitlose Zukunft verliert: das ist der Untergrund des faustischen Bildes der Menschengeschichte.“ Spengler, Der Untergang des Abendlandes, S. 142, Hervorhebung N.K. SW 8, S. 455. Ebd., S. 464. Hegel taucht gleich Spengler und Toynbee bereits in Jaspers’ Vom Ursprung und Ziel der Geschichte auf. Sein Geschichtsdenken wird von Jaspers dort als Versuch gelesen, „ein einheitliches, zusammenfasendes Totalbild der Menschheitsgeschichte zu gewinnen“: „man denkt schließlich eine einzige Sinneinheit, in der alles Mannigfaltige seinen Platz hat“. Jaspers wirft Hegel zwar nicht wie Jünger „[m]angelnde Natursicht“ vor; jedoch: „Wer sich der Geschichte zuwendet, vollzieht unwillkürlich solche universalen, das Ganze der Geschichte zur Einheit bringenden Anschauungen. Diese mögen unkritisch, ja unbewußt und daher unbefragt bleiben. In geschichtlichen Denkungsarten pflegen sie als Selbstverständlichkeiten vorausgesetzt zu werden.“ Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, S. 16. Jünger hat sich die in der „Einleitung“ Hegel gewidmeten Passage von Jaspers’ Ausführungen in seinem Exemplar des Buches (DLA-Sign.: WJB16.02/48) angestrichen und im hinteren Vorsatz „Hegel“ vermerkt. Koslowski spricht davon, dass An der Zeitmauer eine „‚Gnosis‘ als Geschichtsphilosophie der Erdgeschichte“ entwerfe. Koslowski, Der Mythos der Moderne, S. 101. Spenglers „morphologische Geschichtslehre“, so der Vorwurf Jüngers, rechne mit zu kurzen Zeiträumen: „Der morphologischen Feststellung, die auch in unserem Zeitalter Wiederkehrendes erblickt, kann nur mit Einschränkung zugestimmt werden – insofern nämlich als, falls es sich um Wiederkehrendes handelt, der Turnus der historischen Zyklen dafür zu kurz ist und somit unsere geschichtliche Erfahrung zum Wiedererkennen nicht genügt.“ SW 8, S. 460.

7.1  Zeitordnungen in An der Zeitmauer



319

kleinen Zyklus – „etwa von zehn- oder zwanzigtausend Jahren“ – reichen die „Mittel der Geschichtsbetrachtung“ nicht aus. Zudem sei Geschichtsschreibung im Sinne der Weltgeschichtsschreibung an eine personen- und begebenheitsfixierte „historische Anschauung“ gebunden: Gab es immer, solange Menschen auf der Welt sind, Weltgeschichte in unserem Sinn? Ohne Zweifel nicht, da wir von Vor- und Urgeschichte sprechen, die wir entweder aus unserer Geschichtsbetrachtung ausklammern oder als Vorsaal in sie einbeziehen. Eine Person, eine Begebenheit muß ganz bestimmte Eigenschaften aufweisen, um ‚geschichtlich‘ zu sein. Dazu gehört sowohl die geschichtsbildende Kraft als auch die Fähigkeit, Gegenstand der Geschichtsschreibung und des in ihr waltenden Eros, Objekt der historischen Anschauung zu sein.32

Es ist demnach nicht nur ein zeitliches Problem: die Geschichtsschreibung kann nicht auf den vorgeschichtlichen Raum zurückgreifen; geltend gemacht wird hier gleichfalls ein hermeneutisches Problem. Den Anschauungsformen der Historiographie korrespondiert ein bestimmtes Personen- und Begebenheitsprofil, das von Vor- und Urgeschichte nicht erfüllt werden kann. Die Teleologisierung, die es der Geschichtsschreibung ermöglicht, Vor- und Urgeschichte die Rolle einer – im wahrsten Sinne des Wortes – Vor-Geschichte zur eigentlichen Haupt-Geschichte zuzuweisen, ist es, die aufgebrochen werden muss. Als Ziel zeichnet sich eine allumfassende Nivellierung geschichtlicher, vor- und urgeschichtlicher sowie erd- und naturgeschichtlicher Vorkommnisse ab. Verbunden werden sollen diese Vorkommnisse über Merkmale, die die Gemeinsamkeit in der Iteration betonen; Unterschiede hinsichtlich des ‚geschichtlichen‘ Status werden hingegen irrelevant.

7.1.2  Siderische Einteilungen: Urgrund statt Weltgeist Im System der ‚Humanen Einteilungen‘ kommt dem von Jünger diagnostizierten großen Wandel die Rolle des posthistoire zu. Genauer beschreiben lässt sich dieser Wandlungsprozess von astrologischer Warte, innerhalb der ‚siderischen Einteilungen‘: „Sie betreffen die Erdgeschichte als Gestirnsgeschichte und lassen sich einteilen in die kosmogonischen, geologischen und meteorologischen Abläufe.“33 Hinter den siderischen Einteilungen verbirgt sich also nichts anderes als das ins Erdgeschichtliche gewendete posthistoire. Zunächst einmal ist es wichtig, sich klar zu machen, dass es hierbei nicht einfach um die Wiederkehr mythischer Gestalten geht. Mit dem Eintritt in die Geschichte seit Herodot ist für Jünger die „Schwächung des Mythi32 33

SW 8, S. 465  f. Ebd., S. 522.

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7  Im Zeichen des Antaios

schen […] unwiderruflich[e]“34 Tatsache. Der Austritt aus der Geschichte ist demnach auch nicht mythisch grundiert, etwa in dem Sinne, dass sich zeitlose Strukturen in der nachgeschichtlichen Zeit einfach reproduzieren würden. Austritt aus der Geschichte bedeutet demgegenüber: Eintritt in eine neue Epoche innerhalb der geologischen Zeitskala, was die – dezidiert gegen die alten Götter gewendete Rede – vom „elementarischen, titanischtellurischen Zug“35 deutlich machen soll. Man müsse in Erwägung ziehen, so Jünger, ob der „Einschnitt“ nicht zwei „geologische Abschnitte trennt und ob eine in diesem Sinne neue Epoche mit ihren Mustern auf uns übergreift.“36 Das vom Dichter ausgerufene ‚titanische‘ Zeitalter hat viel mit dem zu tun, was heute als ‚Anthropozän‘ verhandelt wird.37 Dazu gehören: Die Menschheit als eigenständige geophysikalische Kraft, eine planetarische Perspektive auf globale Entwicklungen, die Periodisierung der Menschheitsgeschichte im Korsett einer geologischen Zeitskala, sowie die Untrennbarkeit von Natur und Kultur, kurzum: die Menschheit als die bestimmende geologische Kraft.38 Kosmologische, geologische und meteorologische Indikatoren weisen nach Jünger auf den Anbruch einer neuen Epoche hin. Die Rede von den Mustern der neuen Epoche betont deren prinzipielle morphologische Lesbarkeit, und insoweit bleibt auch – zumindest in heuristischer Hinsicht – der Kontakt zur menschheitsgeschichtlich fixierten älteren Universalgeschichte gewahrt. Der Ablauf der Gestirne, die Entwicklung der Erdoberfläche, etwa das befürchtete Abschmelzen der Polkappen oder die Rodung brasilianischen Urwaldes, wie auch die Wetterveränderungen an sich und der damit einhergehende Aufschwung der „Wetterforschung“39: Überall macht Jünger Zeichen aus, die er – gut morphologisch – zu einem neuen erdgeschicht34 35 36 37

38

39

Ebd., S. 477. „Wenn etwas wiederkehrt oder wenn ein Rückschritt statthat, so muß er in ältere, namenlose Schichten führen, in götter- und heldenloses, in vorhomerisches, ja vorherakleisches Land. Das Geschehen trägt einen elementarischen, titanisch-tellurischen Zug […]. “ Ebd., S. 474. Ebd., S. 546. Vgl. Sandro Gorgone: Zeitlichkeit und ‚posthistoire‘ bei Ernst Jünger. Geo-philosophische Rezeption und Aktualität seines Werks, in: Natalia Żarska u.  a. (Hrsg.): Ernst Jünger. Eine Bilanz, Leipzig 2010, S. 472–485. Vgl. auch Blok, Ernst Jünger’s Philosophy of Technology. Die im Untertitel angekündigte Auseinandersetzung mit den „Poetics of the Anthropocene“ schlägt allerdings keinen Bogen zur aktuellen Debatte um das ‚Anthropozän‘. Vgl. zum ‚Anthropozän‘ die Arbeiten von Paul J. Crutzen, z.  B. die in konzeptgeschichtlicher Hinsicht konzise Skizze: Geology of Mankind: The Anthropocene, in: Nature 415 (2002), S. 23; sowie, ausführlicher, Ders./Will Steffen/John R. McNeill: The Anthropocene: Are Humans now Overwhelming the Great Forces of Nature?, in: Ambio. A Journal of the Human Environment 36/8 (2007), S. 614–621. SW 8, S. 566. Jünger unterscheidet zwar zwischen menschgemachten (‚Umweltverschmutzung‘) und natürlichen Erdveränderungen; jedoch bleibt diese Differenz mit Blick auf die morphologische Lesbarkeit der Veränderungszeugnisse eigentümlich irrelevant.



7.1  Zeitordnungen in An der Zeitmauer

321

lichen Muster zusammenschließt, zu einer „antaiischen Unruhe“40. In dem Bild des im Kontakt mit seiner Mutter, der Erde, erwachenden Antaios versucht Jünger den Wandel erdgeschichtlicher Abläufe jenseits der auf das 19. Jahrhundert, genauer gesagt: auf Hegel zurückweisenden Weltgeist-Idee zu formulieren. Im Mittelpunkt steht dabei der „‚Urgrund‘“: Wenn hier im Folgenden das Wort ‚Urgrund‘ gewählt wird, so deshalb, weil es dem Menschen von heute zumutbarer als das Wort ‚Weltgeist‘ ist. Eine Kritik dieses Begriffs hätte an drei Punkten anzusetzen: er ist progressiv, er ist anthropozentrisch, er unterschätzt den Anteil, den die Natur- und Erdgeschichte an der Weltgeschichte hat.41

Die Rede vom „Urgrund“ verbindet chthonische Vorstellungen von einer fruchtbaren, aber auch gewalttätigen Erde mit der Abkehr von der abendländischen Philosophie des Geistes. Die anvisierten erdgeschichtlichen Veränderungen lassen sich demnach nicht am Modell des menschlichen Bewusstseins und dessen Übertragung auf die Geschichte (in der Auswertung schriftlicher Zeugnisse) und die Vorgeschichte (in der Auswertung materieller Zeugnisse) erläutern. In dem Maße, wie an die Stelle geschichtlicher eine erdgeschichtliche Entwicklung treten soll, wird auch der Mensch, frei nach Ranke, in seinem Verhältnis ‚unmittelbar zur Erde‘ taxiert (und nicht auf seine Rolle hin fokussiert, die er im Rahmen der Realisierung eines angenommenen ‚vernünftigen‘ Endzwecks in der Weltgeschichte spielt). Mensch und Erde bilden die neue (alte) elementare Einheit – und stehen zueinander in einem ambivalenten Verhältnis. Einmal ist der Mensch als Sohn der Erde in pflanzenhafter Weise an der Veränderung beteiligt und die Leitfigur einer neuen Formation. Andererseits tritt er in ein dialektisches Verhältnis zu ihr: er fragt, und die Erde antwortet. Daß der Mensch aber zu fragen begann, beruht auf einer primären Bewegung der Erde als Urgrund, auf einer Mutter und Sohn gemeinsamen Initiationswehe.42

Die Rede von der bewusstlosen Verstrickung des Menschen in epochale Veränderungsprozesse bedient sich einer ins Gegenwärtig-Diagnostische gewendeten geologischen Taxonomie, wenn sie den Menschen als „Leitfigur einer neuen Formation“ anspricht. Das argumentative Ziel besteht darin, die in geschichtsphilosophischer Hinsicht maßgebliche Bewusstseinsfixierung – Geschichte als Entwicklungsgeschichte des menschlichen Selbstbewusstseins – zu überwinden, ohne dabei das Totalitätsdenken preisgeben zu wol-

40 41 42

Ebd., S. 554, S. 556, S. 566. Ebd., S. 561. Ebd., S. 640.

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7  Im Zeichen des Antaios

len.43 Im Grunde geht es nicht nur um eine Nicht-Preisgabe; eigentliches Ziel ist vielmehr eine überbietende Steigerung des alten Hegelschen Totalitätsanspruches. Das geologisch-paläontologische Periodisierungsnarrativ liefert hier jene Stichworte, die größtmögliche Epochalität (ein Denken in Jahrmillionen) und größtmögliche Totalität (die Annahme von Veränderungsprozessen, die ganze Kontinente oder gar die gesamte Erde betreffen) garantieren. Dass angesichts dieser geologischen Umwälzung die politischen und im engeren Sinne geschichtlichen Verheerungen des 20. Jahrhunderts marginalisiert werden, indem ihnen die Rolle von Symptomen übergeordneter Veränderungsprozesse zuwächst, steht wohl außer Frage.44

7.2  Literarische Strategien und autorschaftliche Rollen der erdgeschichtlichen Revolution und Gestalt-Schau Jüngers großraumperiodische Ordnung wird erstmalig in An der Zeitmauer entworfen. Kontur gewinnt sie jedoch maßgeblich durch die Publikationsregie des Autors in den Folgejahren. In einer Vielzahl kleinerer Arbeiten und Tagebucheinträge perspektiviert Jünger Aspekte des Zeitmauer-Aufsatzes neu, vertieft oder wiederholt sie. Seine Antaios-Beiträge spielen dabei eine 43

44

Gerd Bergfleth arbeitet die Punkte heraus, die Jüngers Konzeption von Schellings Naturphilosophie – trotz vergleichbarem „Grundgerüst“ – unterscheidet. Für Schelling sei die Natur „verborgener Geist und der Geist offenbarte Natur“ – eine dialektische Vermittlung von Idealität und Materialität, an der sich auch Jünger versucht. „Die entscheidende Differenz liegt indes darin, daß Schelling die Entwicklung auf das Selbstbewußtsein des Menschen zuführt, während das ‚Subjekt‘ aller Prozesse für Jünger der Erdgeist als der Wille des Urgrundes ist. Er läßt es dabei offen, ob der Urgrund sich des Menschengeistes bedient, um zur Entfaltung seiner geistigen Potenzen zu gelangen, oder ob der menschliche Geist eine solche Höhe erreicht, daß er von sich aus diese im Urgrund schlummernden Möglichkeiten aufschließen kann.“ Gerd Bergfleth: Das Urlicht der Natur, in: Heimo Schwilk (Hrsg.): Das Echo der Bilder. Ernst Jünger zu Ehren, Stuttgart 1990, S. 11–42, hier: S. 31. Bereits Gerhard Nebel interessiert sich für Jüngers „Erdgeist“, genauer gesagt für „die Rückführung der Technik auf den Erdgeist: Sie haben da eine mythische Struktur ergriffen, nach allem Technikgerede zum ersten Mal etwas Substanzielles.“ Nebel an Jünger (20. 01. 1960), in: Ernst Jünger – Gerhard Nebel. Briefe 1938–1974, hrsg., kommentiert und mit einem Nachwort v. Ulrich Fröschle u. Michael Neumann, Stuttgart 2003, S. 381–382, hier: S. 381. Hans-Peter Schwarz sieht in Jüngers „geologische[n] Spekulationen“ ein Zugleich von monumentaler Epochalisierung und geschichtlicher Distanzierung angelegt: „Dadurch, daß Jünger den epochalen Umbruch in erdgeschichtlichen Dimensionen begreift, glaubt er Verschiedenes zu erreichen. Einmal unterstreicht er damit zwar die Bedeutung des Vorganges, nimmt ihm aber zugleich seinen singulären Schreckenscharakter; die Geschichtsbetrachtung wird auf die rechten Dimensionen zurückgeführt. Das heißt aber: Sie muß sich eine Verkleinerung gefallen lassen, denn angesichts der Jahrmillionen unserer Erdgeschichte mit unzähligen epochalen Umbrüchen nehmen sich die rasenden Veränderungen des 20. Jahrhunderts, selbst Katastrophen größten Ausmaßes, in der Tat relativ bescheiden aus.“ Schwarz, Der konservative Anarchist, S. 204.



7.2  Literarische Strategien und autorschaftliche Rollen

323

besondere Rolle. Die von Jünger hier veröffentlichten Arbeiten sind zum einen durch ein intertextuelles Verhältnis miteinander verbunden, das durch die – zumindest programmatisch ausgewiesene – Kohärenz des Antaios-Profils garantiert ist. Zum anderen aber treten seine Beiträge durch den Veröffentlichungskontext, und das ist mindestens genauso entscheidend, mit anderen im Antaios veröffentlichten, naturphilosophisch, naturgeschichtlich oder vorgeschichtlich angelegten Abhandlungen in Kontakt, die die Position des Autors häufig von der Warte disziplinärer Expertise aus rahmen und damit ergänzen. Jünger selbst erprobt unterschiedliche literarische Strategien. Diese reichen von der diskursiven Abhandlung (An der Zeitmauer, Von der Gestalt, Annäherungen, Grenzgänge, Drogen und Rausch, Im Granit) zur MaximenSammlung (Sgrafitti) über den Reisebericht (Sardische Heimat, Ein Vormittag in Antibes, Tage auf Formosa, Lettern und Ideogramme, Ceylon) bis hin zur entomologischen Betrachtung (Das Spanische Mondhorn). All diese Texte sind über den Antaios-Kontext, weniger über inhaltliche Bezüge miteinander verbunden. Der Ausschnitt, den Jünger für eine Erstveröffentlichung im Antaios aus An der Zeitmauer wählt, ist dem Kapitel „Humane Einteilungen“ entlehnt und diskutiert ausführlich das Verhältnis von Geschichte und Vorgeschichte. Kein Zweifel lässt der Autor daran, dass er einer Fundierung von „‚Vorgeschichte‘“ skeptisch gegenübersteht, welche „durch eine Anschauung geprägt ist, die geschichtsbildende Macht besitzt.“45 Gleiches gilt für die „Urgeschichte“. Im Anschluss an Moltners und Schwarzenbergs Haltungen in Besuch auf Godenholm nimmt er die „Urgeschichte“ vor einer theoretischen Determination durch zünftige „Vorgeschichte“ und „Völkerkunde“ in Schutz und verpflichtet sie auf Hesiods ‚Goldenes Zeitalter‘.46 Wir werden uns die Verortung der Vorgeschichtsschreibung in Jüngers planetarischer Konzeption im nächsten Kapitel genauer anschauen. An dieser Stelle ist es zunächst wichtig, seine Argumentation im Kontext des Antaios zu beachten. Jünger unterstellt sein Verständnis von Urgeschichte der „Macht des Urbildes“, die er bereits in prähistorischen „Höhlenbilder[n]“ entfaltet sieht. Diese schildern „mehr als empirische Jagdgründe“; sie seien „zugleich Jagdzauber; sie bringen aus dem Unsichtbaren reale Beute ein“ und dürfen aus diesem Grund auch nicht als „imaginär“47 verstanden werden. Jünger bezieht sich hier in einem ersten Schritt auf nachweisbare Spuren frühmenschlicher Kunst, die er, in einem zweiten, in eine neuplatonische Geschichtsphilosophie des Ur einbindet. Beide Facetten  – die Diskussion frühzeitlicher Kunstfunde und der platonischen Tradition – lassen sich im ersten Band des Antaios nachweisen. 45 46 47

Ernst Jünger: An der Zeitmauer, in: Antaios, Bd. I (1960), S. 209–226, hier: S. 220. Ebd., S. 220  f. Ebd., S. 222. Vorhergehende Zitate gleichfalls.

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7  Im Zeichen des Antaios

Während der philosophisch orientierte Biologe Adolf Meyer-Abich in seinem Beitrag Natur als Geschichte sich ausführlich dem in Gegensatz zum „Kantianismus“ gesetzten Platonismus widmet, liefert Johannes Maringer – seines Zeichens Professor für prähistorische Archäologie – einen kleinen Aufsatz, der sich mit Vorgeschichtliche[n] Fischgravierungen in Japan und Lokaltraditionen befasst. Meyer-Abich betrachtet den Platonismus als überholt, als ein im Zeitalter der modernen Physik unmögliches Denken einer „absolute[n] Natur an sich“. Der Platonismus liefere eine „universale Morphologie des Kosmos, eine Welt der endlichen Formen und Gestalten, der idealen Urbilder aller Dinge“48. Auch wenn Meyer-Abichs Interesse am Platonismus lediglich wissensgeschichtlich begründet ist, kommt er doch in seinem Referat der Kernmerkmale mit denjenigen Charakteristika überein, die für Jüngers Auffassung einer besonderen Qualität der Urgeschichte maßgeblich sind. Die für Jünger wichtige urgeschichtliche Dimension der Kunst (wie auch die Urgeschichte überhaupt) spielt bei Meyer-Abich hingegen keine Rolle; diese Dimension bekommt man dann in den Blick, wenn man den Ausschnitt aus An der Zeitmauer parallel zu den kunst- und religionsgeschichtlichen Ausführungen von Maringers Beitrag liest. Maringer präsentiert hier eine Reihe neu entdeckter, in Stein eingravierter Fischdarstellungen aus Nordjapan, die er der „japanischen Jungsteinzeit (5000–250 v. Chr.)“49 zuordnet. Besonders interessiert ihn die religiöse Vorstellungswelt, der die Darstellungen entstammen. Im Rahmen seiner Nachforschungen stößt er auf eine „Lokaltradition[…]“, die sich zu den Fisch-Gravuren in Bezug setzten lässt: „In der Gegend von Yajima soll es eine alte Redensart geben, nach der ein Fischer, der 1000 Lachse gefangen hat, einen Fisch in einen Stein schneiden muß.“50 Es spielt hier keine Rolle, dass Maringer diesem Brauch nur einen beschränkten Erklär-Wert hinsichtlich der konkreten Fisch-Darstellungen einräumt, entscheidend ist vielmehr: Die von Jünger vertretene Transzendierung „empirische[r] Jagdgründe“ hin zu einem „Jagdzauber“, der aus dem urbildlichen Bereich, „aus dem Unsichtbaren [,] reale Beute“51 einbringt, wird durch die Vorgeschichtsforschung gleichsam bestätigt. Der nüchterne, auf Spekulationen verzichtende Duktus von Maringers Präsentation steht dabei einer parallelen Lektüre zum Jünger-Text nicht im Wege, im Gegenteil. Jünger macht gewissermaßen genau an der Stelle weiter, an der Maringer das Heft aus der Hand gibt: An dem Punkt nämlich, an dem Maringer die Fisch-Steine als „Weihegabe“ identifi48 49 50 51

Adolf Meyer-Abich: Natur als Geschichte, in: Antaios I (1960), S. 512. Vorhergehendes Zitat gleichfalls. Johannes Maringer: Vorgeschichtliche Fischgravierungen in Japan und Lokaltraditionen, in: Ebd., S. 431–437, hier: S. 432. Ebd., S. 432. Jünger, An der Zeitmauer (Antaios I), S. 222.



7.2  Literarische Strategien und autorschaftliche Rollen

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ziert, jedoch freimütig einräumt, über den „Anlaß solcher Weihungen oder Opfer“52 keine Aussagen machen zu können, bemüht Jünger die neuplatonische Tradition. Die induktive, kleinteilige, am positiven Befund haftende Argumentation Maringers verweist durch die Lektüre-Paarung mit MeyerAbichs deduktiv orientiertem – vom (unsichtbaren) Urbild in das Reich des Sichtbaren führenden – Platonismus auf den epistemischen Habitus von An der Zeitmauer. Eine weitere Spielart von Jüngers Publikationsregie kann man darin sehen, dass eigene Antaios-Texte als Antworten auf selbst gestellte Probleme fungieren oder zumindest Problemlinien fortführen. Bleiben wir zur Verdeutlichung dieses Zusammenhangs noch etwas bei dem Zeitmauer-Text. Dass Meyer-Abich dem neuplatonischen Gestalt-Denken lediglich einen historischen Wert zugesteht, dürfte Jünger nicht verborgen geblieben sein. Dennoch hält er an diesem Denken fest. Warum? Seiner Meinung nach ist das insofern notwendig, als innerhalb der Naturwissenschaften die „beschreibenden Fächer zugunsten der angewandten verdrängt werden“: „Typenlehren […] weichen dynamischen und funktionalen Systemen“; nimmt man die wachsende Abneigung gegen die „metaphysischen und selbst die erkenntniskritischen Studien“ hinzu, so steht für ihn fest, „daß der Verstand auf ganz naive Weise sein Urteil und seine Maßnahmen von der empirischen Welt und ihren Ereignissen abhängig macht.“53 Hier ist genau jener Empirismus benannt, den Jünger von der Urgeschichtsforschung fernhalten will – und dem er mit Typus, Name, Gestalt (1963) einen theoretischen Gegenentwurf widmet. Der Aufsatz Von der Gestalt, der ein Jahr darauf als erster Beitrag des neuen Antaios-Jahres  – 1964  – präsentiert wird, ist eine Auskopplung daraus. In diesem Text wird jene Konzeption verteidigt und präzisiert, die seit dem Arbeiter für Jüngers morphologisches Denken charakteristisch ist. Ohne hier bei Einzelheiten zu verweilen, kann man mit Jünger feststellen: „Gestalten […] kommen aus dem Unvermuteten“54, aus jenem Bereich also, der sich strukturell mit dem Ort der Urbilder parallelisieren lässt, wie ihn der Zeitmauer-Text entwirft. Gleich Meyer-Abich in seinem Aufsatz Natur als Geschichte knüpft Jünger an Goethes Morphologie an, und gleich diesem rückt er Kant in die Gegenposition.55 Es sind solche intertextuellen Verflechtungen, die Jüngers Argumentation innerhalb eines als relevant modellierten Kontextes situieren. Als diskursiver Bezugsraum stellt dieser Kontext überhaupt erst jene hermeneutische Kohärenz her, die die Vergleichbarkeit der Positionen 52 Maringer, Vorgeschichtliche Fischgravierungen (Antaios I), S. 435. 53 SW 8, S. 421. 54 Ernst Jünger: Von der Gestalt, in: Antaios V (1964), S. 1–27, hier: S. 8. 55 Vgl. Meyer-Abich, Natur als Geschichte (Antaios I), S. 510  f.; vgl. Jünger, Von der Gestalt (Antaios V), S. 1  f.

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7  Im Zeichen des Antaios

ermöglicht. Im Ergebnis ist der Antaios jener Resonanzraum, in dem Jüngers Vorstellungen gespiegelt, ergänzt und korrigiert werden.56 Jüngers Verhältnis zu Urgeschichte, vorgeschichtlicher Archäologie, Erdgeschichte und Evolutionsbiologie zeigt sich nicht nur in dem Bemühen, diese einer historischen oder ‚entwickelnden‘ Fundierung zu entziehen. Es geht nicht allein um argumentative Deutungshoheit im theoretischen Sektor; mindestens genauso wichtig sind die persönlichen Erfahrungen des Autors und deren literarische Gestaltung. Ins Spiel kommen hier seine Reisen, die Beschreibung fremder Kulturen und Landschaftsräume, ethnographische Studien, der Besuch von Museen, Ausgrabungsstätten sowie kunstgeschichtlich relevanten Zeugnissen und geologisch aufschlussreichen Gegenden, schließlich der unmittelbare Kontakt mit paläontologischen und vorgeschichtlichen Zeugnissen. Der Autor verbürgt sich durch Augenzeugenschaft und Erfahrung für die ‚oberflächliche‘ Erkennbarkeit einer invarianten Tiefenstruktur urbildlicher Prägekraft oder die Erfahrbarkeit eines besonderen anti-mechanischen Zeitgeschehens. Diese Erkenn- und Erfahrbarkeit kann zwar argumentativ entwickelt und diskursiv begründet werden  – und Jünger macht davon ja vom Sanduhrbuch an ausgiebig Gebrauch –; ihr kommt jedoch nicht jene Anschaulichkeit zu, die die autorschaftliche Rollenprosa (Tagebuch, Reisebericht) durch ihre Präsenz- und Teilhabesuggestionen entfaltet. Im Kern geht es dabei um die subjektive Authentifizierung theoretischen Wissens. Schauen wir uns dies an einem Beispiel näher an. Im Rahmen einer viermonatigen Südostasienreise 1965 macht Jünger mit dem tropischen Klima und entsprechender Flora und Fauna eines Mangrovenwaldes in der Nähe von Singapur Bekanntschaft. In einem Eintrag vom 19. 07. 1965 in Strahlungen III entsteht daraus folgendes Bild: 56

Die Beispiele für die Resonanzraum-Annahme ließen sich nahezu beliebig fortsetzen. Jüngers Charakterisierung der „Urgeschichte“ als „Goldene[s] Zeitalter“ etwa, wie er sie in An der Zeitmauer (Jünger, An der Zeitmauer, [Antaios I], S. 221) vorträgt, korrespondiert zwanglos mit einem Beitrag Emil M. Ciorans, Das goldene Zeitalter (Emil M. Cioran: Das Goldene Zeitalter, in: Antaios VII [1966], S. 264–279). Dieser informiert über die historiographischen und symbolgeschichtlichen Hintergründe dieser Bezeichnung. Oder, um ein letztes Beispiel zu bringen: Die von Jünger im Zeitmauer-Text vertretene These, man durchwandere Herodots Bücher „wie ein von der Morgenröte bestrahltes Land“ (SW 8, S. 466), nämlich den Mythos verlassend und auf die Geschichte vorausschauend, gebraucht Marcel Engel als Titel seines Beitrages Im Morgenrot Herodots. Ernst Jünger und die Antike (Marcel Engel: Im Morgenrot Herodots. Ernst Jünger und die Antike, in: Antaios VI [1965], S. 473–487). Engel präsentiert hier Jüngers Weg zum Mythos in der Affirmation mytho-epistemischer autorschaftlicher Ansprüche und einer umfassenden werkgenealogischen Schau, wobei die Übernahme der Morgenröte-Metapher den hagiographischen Duktus seiner Argumentation unterstreicht. „Mythos“ sei für Jünger „wiederentdecktes Paradies, Urheimat, Wiedereintauchen in die ‚Elemente‘, Besitznahme des vorzeitlichen Erbes des ‚Ungesonderten‘, das in babylonischer Verwirrung verlorengegangen war. Kurz, die mythische Esoterik gehört zu Jüngers neuer Theologie.“ (Ebd., S. 476).



7.2  Literarische Strategien und autorschaftliche Rollen

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Das war eine seltsame Halb- und Doppelwelt, ein Reich amphibischer Wesen nach einer Sintflut oder in einer Lagune der Steinkohlenzeit. Schlamm war ihr Medium. Manche dieser Geschöpfe hatten sich aus dem Wasser erhoben, andere wollten dorthin zurückkehren. Proteus war auch im Ganzen, war atmosphärisch zu spüren, als ob sich das Werden hier raffte, dort zeitlos würde in seiner innersten Geschäftigkeit: in den aufsteigenden Dünsten, die sich mit dem Tropenfall mischten, im Wallen und Sieden der Gewässer, in der Aufschupfung winziger Krater aus den Schlammbänken: tausend Anzeichen einer verborgenen, durch die Sinne kaum angeschürften Wirksamkeit.57

Der Rückführung des Natur-Raumes auf die erdgeschichtliche Zeit („Sintflut“, „Lagune der Steinkohlenzeit“) korrespondiert zunächst eine Entgrenzung der geschauten Szenerie ins Urweltliche. Die herausgestellte ‚atmosphärische‘ Spürbarkeit des Meeresgottes Proteus dient der Beschreibung einer anderen Zeit. Es geht dabei nicht um eine Mythologisierung der Naturerfahrung; Proteus ist lediglich als Allegorie auf eine besondere, der menschlichen Wahrnehmung kaum zugängliche Werdensordnung zu lesen. Die Proteus-Atmosphäre wird dabei in der meteorologischen Atmosphäre („aufsteigende[.  .] Dünste[.  .], die sich mit dem Tropenfall mischten“, „Wallen und Sieden der Gewässer“) gespiegelt; beide sind Ausdruck einer besonderen „Wirksamkeit“, für deren Qualität das erfahrende, zeigende und damit erschließende (Text-)Subjekt einsteht. Die Wahrnehmung des textsubjektiv konstituierten Autors verdichtet sich in der präsentierten Landschaftsschau in einer poetischen Beschreibung, die die rein diskursive Herleitung einer besonderen „Wirksamkeit“ des Ur, etwa im Gespräch mit der Paläobiologie, bekräftigend überschreitet. Diese Verbindung von diskursiver Argumentation und subjektiver Authentizität ist typisch für Jünger. Während der Diskurs an Anschaulichkeit und suggestiver Plastizität gewinnt, wird die Geste authentischer Erfahrung aus dem Licht subjektiver Beliebigkeit und Überspanntheit in das Einzugsgebiet objektiver Geltung gerückt. Für diese Verbindung „logische[r] Figuren mit den Ideogrammen des style imagé“, die die „Geheimnisse des Sichtbaren“ jenseits der von „Positivismus“ und „Realismus“ präsentierten „Oberflächenreliefs“58 erkundet – wie sich mit einem Passus aus dem „Vorwort“ der Strahlungen sagen ließe –, können weitere Beispiele angeführt werden. Jüngers zentrale These des Zeitmauer-Aufsatzes etwa, dass den vorausgesagten erdgeschichtlichen Veränderungen ein „elementarischer, titanisch-tellurischer Zug“59 eigne, gewinnt in einem Traum des Autors, der sich in einer Eintragung vom 18. 10. 1968 in Strahlungen III finden lässt, Konturen. Dort werden die für die Erdentstehung 57 58 59

SW 4, S. 83  f. SW 2, S. 21. SW 8, S. 474.

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7  Im Zeichen des Antaios

im Allgemeinen wie auch für die hier im Besonderen aufgerufene Inselentstehung aus dem Meer typischen vulkanischen Prozesse als „Titanenwerk“ inszeniert: In der gewaltigen Kraft des noch Magmatisch-Flüssigen der tellurischen Oberfläche zeigen sich die in An der Zeitmauer angekündigten epochalen Veränderungen in einem konkreten geologischen Geschehen, soz. vor den Augen der Leser.60 Dieses Vor-Augen-Stellen soll jene Barriere überwinden, die die Idee von ihrer Sichtbarkeit trennt. Es ist deshalb auch kein Zufall, dass Jünger ausgerechnet jenes berühmte Streitgespräch zwischen Schiller und Goethe an den Anfang seines Antaios-Aufsatzes Von der Gestalt stellt, dass dem Sehen der Urpflanze gewidmet ist.61 Werden hier doch in der Perspektive Goethes Idee und Anschauung mustergültig verbunden. Jüngers Tagebuchaufzeichnungen versuchen sich immer wieder darin, im Schauen die ideelle Gestalt zu entziffern. So auch bei seiner Bekanntschaft mit Waranen, die er auf Ceylon macht. Es ist besonders das natürliche Lebensumfeld, das als erkenntnisleitend herausgestellt wird. Zwar seien, so Jünger, die Tiere aus dem Zoo bekannt: „Doch wie anders wirken die Echsen in Gebieten, die an ihre Urheimat erinnern, so in den sumpfigen Niederungen tropischer Stromtäler. Da wird nicht nur das Tier lebendig, sondern sein Schöpfungsgedanke, seine überwirkliche Idee.“62 Wenn Jünger angesichts des Reptils von einer „vorsintflutliche[n] Erscheinung“, einem „Saurier“63 spricht, so zeigt sich darin deutlich die Spiegelung des erfahrenen Raumes in der (Vor-)Zeit („Urheimat“). Diese Spiegelung dient zwar der Rückführung des Warans auf seine paläobiologisch nachweisbaren Vorfahren, doch im Mittelpunkt steht nicht eine phylogenetisch frühe Form des Reptils. Das Hauptaugenmerk gilt vielmehr der verbindenden, „überwirkliche[n]“ und damit zeitenthobenen morphologischen Idee im Sinne Edgar Dacqués und Helmut Hölders.64 Jünger schlüpft hier 60



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„Ein düsteres Eiland, wenig Ausbeute. Es dampfte aus den Fumarolen; die Bäche führten schon süßes Wasser, doch waren die Ränder schwefelig gesäumt. In den Rissen hatten sich Pflanzen angesiedelt, Flora der Salzweiden mit kantigen Blättern; sie zogen ein grünes Netz über den Lavagrund. In weiten Abständen hatte das Magma riesige Halbkugeln emporgetrieben, dunkle Brüste […]. Die Kugeln waren ungeheuer; sie mußten sehr heiß sein, denn ein Flimmern pulste von Innen heraus […]. Einer der Hügel war schon ausgeglüht. Ich betrat ihn durch eine rissige Pforte […]. Die Glut hatte sich völlig verzehrt. Ein Estrich aus geschmolzenem Eisen war geblieben, darüber die Kuppel als basaltene Haut. Das Titanenwerk war beendet; es hatte sich selbst genügt.“ SW 4, S. 535. An anderer Stelle im Tagebuch betont Jünger die geschichtlich nicht einholbare Dimension vulkanischer Prozesse: „Wir wissen wenig über die Periodik der großen Eruptionen; sie geht weit hinter die geschichtliche Erfahrung zurück.“ SW 20, S. 344. Vgl. Jünger, Von der Gestalt (Antaios V), S. 1  f. SW 4, S. 184  f. Ebd., S. 184. Vgl. zur Konstellation Dacqué – Hölder – Jünger ausführlich Kap. 1.4.1 und 1.4.2.



7.3  Disziplinäre Vorgeschichtsschreibung und entgrenzte Dichtung

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ganz in die Rolle Goethes, der gegenüber Schiller bekanntlich feststellte: „‚Das kann mir lieb sein, daß ich Ideen habe, ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe.‘“65 Die Anschauungsdimension des Ideellen bleibt bei Jünger an den konkreten Lebensraum der Tiere gebunden. Es ist der Betrachter selbst – Jünger also –, dessen Anschauung als Mittler der Idee einstehen muss. Eine solche Anschauung lässt sich nicht allein diskursiv behaupten oder im zoologischen Garten beglaubigen; sie will atmosphärisch gemacht, lebensweltlich bestätigt sein. Genau für jene Augenzeugenschaft der Idee steht Jünger als Reisender ein.

7.3  Ur zwischen disziplinärer Vorgeschichtsschreibung und entgrenzter Dichtung Beiträge zur Vorgeschichtsforschung lassen sich im Antaios zahlreich nachweisen.66 Jünger begibt sich nicht nur mit einer Auskoppelung aus dem umfangreichen Zeitmauer-Text in die vorgeschichtsaffine Antaios-Gesellschaft; besonderes Interesse verdient aufgrund des beigegebenen Bildmaterials und Jüngers kunstgeschichtlicher Deutungsarbeit die Sardische Heimat.67 Das Interesse des Autors an Konzept, Selbstverständnis und Geschichte, aber auch an konkreten Ergebnissen der disziplinären Vorgeschichtsforschung zeigt sich in den 1960er-Jahren besonders deutlich. Als Auftakt für dieses Interesse lässt sich einmal mehr der Zeitmauer-Text lesen. Denn hier wird das Konzept ‚Vorgeschichte‘ erstmals ausführlich von unterschiedlichen Perspektiven aus beleuchtet. In der Absetzung der ‚Vorgeschichte‘ von der ‚Geschichte‘ entlang der Schrift-Grenze bleibt Jünger zunächst ganz auf der Zuweisungslinie institu65 66

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Jünger zitiert diese Aussage Goethes in Von der Gestalt. Jünger, Von der Gestalt (Antaios V), S. 1. Neben dem bereits erwähnten Beitrag Maringers über Vorgeschichtliche Fischgravierungen in Japan und Lokaltraditionen kann hier zunächst vom selben Autor eine weitere Arbeit angeführt werden: Johannes Maringer: Vorgeschichtliche Grabbauten Ostasiens in Schildkrötenform und ihr mythischer Prototyp, in: Antaios V (1964), S. 368–374. Hinzukommen folgende Beiträge mit dezidiert vorgeschichtlichem, teilweise archäologischem Profil: Karl J. Narr: Weibliche Symbol-Plastik der älteren Steinzeit, in: Antaios II (1961), S. 132–157; Josef Mühlberger: Auf der Insel der großen Mutter. Die steinzeitlichen Mutterheiligtümer auf Malta, in: Antaios III (1962), S. 68–78; F. Adama v. Scheltema: Nordische Vorzeit. Bauern und Krieger, in: Antaios V (1964), S. 461–468; Heino Gehrts: Eine Tür zum Stonehenge. Zur Kultsymbolik der Basalte 66 und 68, in: Antaios VIII (1967), S. 205–243; Hugo Fischer: Der Anfang der Menschheitskultur in Ägypten und Sumer, in: Antaios VIII (1967), S. 560–579; Walther Matthes: Zum Verständnis der älteren Eiszeitkunst, in: Antaios IX (1968), S. 219–252; Werner Helwig: Glasperlenspiele der Steinzeit, in: Antaios XII (1971), S. 24–29. Ernst Jünger: Sardische Heimat, in: Antaios III (1962), S. 1–17.

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7  Im Zeichen des Antaios

tionalisierter disziplinärer Zuständigkeiten;68 wobei die Rolle, die der Vorgeschichte zugewiesen wird, durch das Primat der archäologischen Praxis bestimmt ist: „Der Spaten ist für die Geschichte ein Hilfsmittel, für die Vorgeschichte ein Hauptmittel.“69 Die Ergebnisse der Vorgeschichtsforschung selbst könnten hinsichtlich der verhandelten „Zeiträume“ grundstürzender nicht sein: In „Spuren von Jäger- und Hirtenkulturen, die tief in die Steinzeit hineinreichen“, ließen sich Aufschlüsse über die Anthropogenese gewinnen, die bisherige Annahmen über die Besiedlung des Planeten durch Menschen korrigieren würden: Was in den Felshöhlen Europas, der Sahara, Südafrikas, und Indiens sich darbietet, läßt sich in das überkommene Schema nicht einordnen. Es reißt neue Perspektiven auf […]. Wir müssen ‚den Menschen‘ nun gewaltig vordatieren, und zwar nicht nur ethnologisch, nicht nur zeit-, sondern auch rangmäßig. Eine Epoche, die in den Museen durch einige Urnen und Speerspitzen vertreten war, überliefert uns nicht etwa troglodytenhafte Mißgestalten, sondern Kunstwerke von jener hohen Gattung, die den Menschen zu allen Zeiten anspricht mit dem Mantra: ‚Das bist Du.‘70

Jüngers Diagnose, dass „diese Werke uns als ‚moderne‘ Bilder ansprechen“ würden, da sich der Mensch am Ausgang seiner historischen Verfasstheit weiß und nun – „über die Grenzen der Zeit und des Raumes“ hinaus – in „die Höhlen, die Gräber, die Eingeweide der Erde“71 zu dringen beginnt, geht freilich über den Deutungsrahmen der Vorgeschichtsforschung hinaus. Interessant an dieser Diagnose ist weniger die Aktualisierung der kunstgeschichtlichen Hermeneutik in der Tradition Max Verworns oder Wilhelm Worringers,72 als die Verbindung von frühem und spätem Menschen: Der sich ankündigende Abschied von der Geschichte, damit womöglich das

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Die Unterscheidung zwischen Vorgeschichte und Geschichte ist damit für Jünger keine „rein zeitliche“: „Vorgeschichte beginnt, wo mehr oder minder gesicherte Urkunden fehlen, vor allem schriftliche. Daher sind schriftlose Völkerschaften, wie die Kelten, ‚vorgeschichtlicher‘ als die um Tausende von Jahren ‚früheren‘ Ägypter oder Babylonier.“ Jünger, An der Zeitmauer (Antaios I), S. 219. An anderer Stelle, in einer Tagebuchaufzeichnung vom 06. 05. 1971, heißt es: „[…] [D]ie Schrift verhärtet; sie hebt vom Sein eine Bewußtseinsschicht ab. Wo Schriftdokumente bestehen, wo Namen und Daten die Zeit bannen, mehrt sich das Wissen, das die letzte Kammer verstellt. Es wird schwieriger, wie Nietzsche es ausdrückt, ‚Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehen.‘“ SW 5, S. 28. 69 Jünger, An der Zeitmauer (Antaios I), S. 219. 70 Ebd. Vorhergehendes Zitat gleichfalls. 71 Ebd., S. 219  f. 72 Worringer parallelisiert vorgeschichtliches und modern-expressives ‚Kunstwollen‘, Verworn vorgeschichtliche und kubistische Kunst. Vgl. Worringer, Abstraktion und Einfühlung; Max Verworn: Ideoplastische Kunst. Ein Vortrag, Jena 1914. So heißt es bspw. bei Verworn: „Der geometrische Stil, wie er im heutigen Kubismus auftritt, ist […] auch bei außereuropäischen Völkern schon in prähistorischer Zeit zu hoher Ausbildung gelangt.“ (Ebd., S. 11  f.).



7.3  Disziplinäre Vorgeschichtsschreibung und entgrenzte Dichtung

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„Ende des Menschentum[s] selbst“73 und der bevorstehende Eintritt in ein neues Erdzeitalter mache ihn, den Menschen, sensibel für frühe Spuren seiner Art.74 Diese anthropologische Fokussierung bekommt das Konzept ‚Vorgeschichte‘ in zweierlei Hinsicht nicht in den Griff. Zum einen, so Jünger, sei das „Wort Vorgeschichte […] durch eine Anschauung geprägt […], die geschichtsbildende Macht besitzt“75, und demnach auch das Vor-derGeschichte durch den geschichtsrelationalen Blick okkupiere. Zum anderen stelle „‚Vorgeschichte‘“ ein „ex negatione gewonnene[n] Begriff“76 dar: Sie ist Noch-Nicht-Geschichte; artikuliert wird gleichwohl ein geschichtliches, geschichtsförmiges Interesse. Diese Skepsis gegenüber der ‚Vorgeschichte‘ hält Jünger jedoch nicht davon ab, in seinen Tagebüchern die Geschichte der Vorgeschichtsschreibung zu streifen77 oder sich mit aktuellen methodischen Debatten zu beschäftigen. Anlässlich seines Besuchs des „Hypogäum[s] von Saflieni“ (26. 04. 1978) auf Malta etwa diskutiert er das Problem, inwiefern die Vorgeschichtsschreibung gleichzeitig existierende Kulturen von unterschiedlicher Kulturhöhe verzeichnen könne und solle. Er bezieht sich hier auf Hermann Müller-Karpes (1925–2013) Vorwort zum zweiten Band des Handbuch der Vorgeschichte (1968), der sich der „Jungsteinzeit“ widmet.78 73 74

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Jünger, An der Zeitmauer (Antaios I), S. 220. Die zeitgenössische Rezeption des Zeitmauer-Textes macht in der von Jünger den älteren Kultur- und Kunstzeugnissen zugesprochenen Signifikanz hinsichtlich des aktuellen anthropologischen Selbstverständnisses eine Verbindung zu Heidegger aus. Ruth Eva Schulz etwa, die Passagen von An der Zeitmauer für die Festschrift zu Heideggers 70. Geburtstag auswählt und durch Überleitungen verbindet (im Folgenden kursiv), versucht Jüngers ZeitgroßraumDenken mit Heideggers Frage- und Antworthorizont zu verschmelzen: „Wenn heute Urzeit, Vorgeschichte und Frühgeschichte wissenschaftlich erforscht, Ausgrabungen betrieben und die jahrtausendealten Höhlenbilder ‚gesehen‘ werden wie nie zuvor, so ist dies ebenso ein Ausdruck der Zeitenwende, wie es zugleich ein Bewußtsein von ihr herbeiführen hilft. Es wird jetzt eine Schicht herausgesondert, die wir in dieser Besonderheit noch nicht gesehen haben. Wir lauschen auf die Sprache, die die Bilder der Urzeit sprechen. Und wenn Heidegger sagt, daß jedem Sprechen ein Höhren vorausgeht und ihm Bahn bricht, so kann diese neue Weise des Hörens auf die Vergangenheit bedeutsam werden für die Zukunft: in der Begegnung mit der Urzeit werden große Antworten möglich.“ Jünger, Vom Ende des geschichtlichen Zeitalters, S. 311  f. Jünger, An der Zeitmauer (Antaios I), S. 220. Ebd., S. 221. Die von Jünger an dieser Stelle mitgereichte Unterteilung in „Vorgeschichte“ und „Praehistorie“ – der Sache nach eine Unterscheidung zwischen der „Anschauung des Gegenstandes im weiteren und seiner Behandlung im wissenschaftlichen Sinn“ (Ebd.) – kann an dieser Stelle vernachlässigt werden, da sie von Jünger selbst argumentativ nicht aufgegriffen wird. „Die Archäologen sind nicht nur zeitlich über die exakte Geschichtschreibung [sic!] des 19. Jahrhunderts vorgedrungen; man könnte sie als Vortrupp einer anonymen Wanderung ansehen. Allerdings gab es schon immer Ansätze – Vico, Kreuzer, Bachofen: Sondierungen bis zur Magmaschicht.“ SW 5, S. 28. Vgl. SW 5, S.  381. Dem renommierten Frankfurter, später Bonner Prähistoriker MüllerKarpe geht es bei seinen Ausführungen um die Frage, mit welcher Reichweite der Begriff „Neolithikum“ („Jungsteinzeit“) gebraucht werden soll. Während eine Ansicht darin besteht,

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Grundsätzlich jedoch steht Jünger einer historisch konturierten Vorgeschichtsforschung und einer dieser gehorchenden historiographischen Praxis skeptisch gegenüber. Deutlich wird dies vor allem in seiner Fixierung vorgeschichtlicher Zeugnisse auf ihre anthropologische und – und mit Blick auf ihre Bedeutung für die Gegenwart – epochendiagnostische Dimension. Nun lässt sich der zünftigen Vorgeschichtsforschung der 1950er-Jahre ein gewisses existenzialanthropologisches und zeitdiagnostisches Interesse nicht absprechen. Rolf Hachmann (1917–2014) etwa leitet seine Habilitationsschrift Die frühe Bronzezeit im westlichen Ostseegebiet und ihre mittel- und südosteuropäischen Beziehungen (1957) unter emphatischem Bezug auf Karl Jaspers’ Diktum ein, die gesamte Geschichte der Menschheit müsse hinsichtlich des gegenwärtigen, allgegenwärtigen Wunsches nach Sinnstiftung befragt werden, wie dieser es in Vom Ursprung und Ziel der Geschichte (1949) formuliert hatte.79 Der „Urgeschichte“, so Hachmann, komme dabei ein „höhere[r] Sinn“80 zu. Jünger geht mit einer solch ‚entzeitlichten‘ Bestimmung von ‚Ur-

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diesen „chronologische[n] Terminus in den einzelnen Gebieten auf Kulturerscheinungen sehr unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Dauer zu beziehen“, hält eine andere Ansicht, die auch Müller-Karpe teilt, es demgegenüber für angemessener, ‚neolithisch‘ nicht über eine qualitativ definierte Kulturhöhe zu bestimmen. Gegenüber diesem qualitativen, sog. „‚isophänomenologisch[en]‘“ Ansatz, der als ‚neolithisch‘ jene Kulturen bezeichnet, „denen Pflanzenanbau und Tierhaltung, Keramikherstellung und geschliffene Steingeräte eigentümlich sind, die Kenntnis der Metallverarbeitung indes noch fehlt“, präsentiert Müller-Karpe den von ihm sog. „‚isochronologisch[en]‘“ Ansatz. Im Mittelpunkt steht hier der Vergleich des absolut Gleichzeitigen: „Dabei wird primär nicht von bestimmten Kulturerscheinungen, sondern von bestimmten, fest begrenzten Zeitabschnitten ausgegangen und versucht, die aus ihnen stammenden Kulturäußerungen in ihrer regionalen Verschiedenartigkeit als komplexe Verkörperung eines geschichtlich zusammengehörigen Zeitalters zu begreifen. Diese auf die universale Menschheit ausgerichtete Prähistoriographie wurzelt in der sich im Zuge wachsender Denkmälererkenntnis festigenden Einsicht, daß es für die historische Beurteilung eines Zeitalters nicht ausreichend ist, sich auf bestimmte Kulturareale zu beschränken, sondern daß die historische Morphologie eines Zeitalters erst bei einer Berücksichtigung aller erreichbaren Formen menschlicher Geschichtlichkeit, die durch das Band der Gleichzeitigkeit miteinander verbunden sind, sichtbar wird.“ Hermann Müller-Karpe: Handbuch der Vorgeschichte. 2.  Bd. Jungsteinzeit, München 1968, S.  V. In Jüngers Miszellen-Sammlung finden sich zudem zwei Aufsätze aus Müller-Karpes 1983 herausgegebenem Buch Zur frühen Mensch-Tier-Symbiose. Es handelt sich dabei um: Joachim Boessneck: Die Domestikation und ihre Folgen (S. 6–23); sowie: Angela von den Driesch: Zur Haustierhaltung in den vorund frühgeschichtlichen Kulturen Europas (S. 25–58), DLA Marbach, Bestand „H:Jünger, Ernst“, Miszellen-Sammlung, Kasten 50, Mappe 146a. Vgl. zum Verhältnis von Existenzialanthropologie und Vorgeschichtsforschung ausführlich Kap. 1.7. „Als ein Teil der allgemeinen Geschichte hat die Urgeschichte ihren höheren Sinn. ‚Nur die gesamte Menschheitsgeschichte vermag die Maßstäbe für den Sinn des gegenwärtigen Geschehens zu geben‘ (K. Jaspers). Wenn die Menschheit einen einzigen Ursprung und ein Ziel hat, wenn gleiches auch für die Geschichte der Menschheit zu gelten hat, dann kommt der Urgeschichte innerhalb der Menschheitsgeschichte eine besondere Bedeutung zu: In ihrem Bereich liegt der Ursprung, liegen die ersten Etappen des Weges, den die Menschheit bislang



7.3  Disziplinäre Vorgeschichtsschreibung und entgrenzte Dichtung

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geschichte‘ im Sinne Jaspers’ zweifelsohne konform; auch er ist an Höhersinnigem interessiert ist. Die Erforschung der Höhlen als vormalige Lebens- und Kulturmittelpunkte gilt ihm seit An der Zeitmauer als Zeichen für einen veränderten Umgang des Menschen mit der Erde. „[V]or hundert Jahren etwa begann man sich ‚wissenschaftlich‘ mit der Tiefsee, mit Höhlen und Gräbern zu beschäftigen.“81 Lange Zeit „fehlten die Augen“82 für die Urzeitkunst, ihre unterirdischen Räume wie für die unterirdische Architektur überhaupt. Das neuere Interesse der Vorgeschichtsforschung an diesen Phänomenen ist für Jünger ein Indikator jener tiefengeologischen Veränderungen, die die geschichtliche von der nachgeschichtlichen Zeit, die humanen von den siderischen Zeiteinteilungen trennen. ‚Erdställe‘, ‚souterrains‘, auch ‚Schrazellöcher‘, bilden den Gegenstand einer Forschung, die sich von der Archäologie abzuzweigen beginnt. Es gibt in einigen Ländern Arbeitskreise, die sich mit ihnen beschäftigen. Die Objekte reichen von einfachen Kellern bis zu umfangreichen Anlagen. […] Die Aufmerksamkeit, die sich in unserer Zeit darauf richtet, darf man der ihr eigentümlichen plutonischen Unruhe zurechnen […]. 83

Geleitet wird Jünger zu dieser Beobachtung durch einen Besuch der nahe des zyprischen Paphos gelegenen „Grotte der heiligen Solomoni an der Straße nach Ktima“: „Kammern mit Altären und Opfersteinen bilden Vorräume, aus denen ein Höhlengang zu einem Brunnen oder einer Quelle führt.“84 Der Autor selbst bürgt durch seine Anwesenheit an dem Ort, an dem die „plutonische[.  .] Unruhe“ indikatorisch erfahrbar wird, für jene ausstehenden Erd-Veränderungen. Wir hatten darauf hingewiesen, welche Bedeutung dem Gestus persönlicher Anwesenheit für das argumentative Selbstverständnis Jüngers zukommt.85 Auch hier gilt: Die Präsenz des Autors trägt authentifizierende Züge. Sie stellt sicher, dass sich das Interesse am Alten auch tatsächlich als Zeichen der Veränderung innerhalb der Gegenwart werten lässt. Und wenn es eine erdgeschichtliche Zäsur beachtlichen Ausmaßes ist, für die die wachsende Höhlen-Forschung einstehen soll, so ist die Anwesenheit des Au-

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zurücklegte. An die Urgeschichtsforschung wendet sich daher zunächst die Frage: ‚Woher kommt die Fahrt?‘, wenn die andere Frage: ‚Wohin geht die Reise?‘ beantwortet werden soll.“ Rolf Hachmann: Die frühe Bronzezeit im westlichen Ostseegebiet und ihre mittel- und südosteuropäischen Beziehungen. Chronologische Untersuchung, Hamburg 1957, S. 9. SW 5, S. 380. Jünger, An der Zeitmauer (Antaios I), S. 219. SW 20, S. 523  f. Ebd., S. 523. Vgl. Kap. 7.2.

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7  Im Zeichen des Antaios

tors an diesem Ort wohl das beste Zeichen dafür, dass er die plutonischen Zeichen der Zeit verstanden hat. Neben der epochentypologischen Signifikanz gibt es noch einen weiteren Aspekt, der Jünger an vorgeschichtlichen Zeugnissen jenseits ihrer historiographischen Fixierung interessiert und der letztendlich zur Bevorzugung der Rede von der ‚Urgeschichte‘ – gegenüber der ‚Vorgeschichte‘ – führt. Wir hatten diesen Aspekt im Zeitmauer-Text bereits als neuplatonische Fundierung der Höhlenmalerei diskutiert und dem ‚Urbild‘ die ‚Urgeschichte‘ zugeordnet gefunden.86 In anthropologischer Perspektive ist ‚Urgeschichte‘ nun „nichts zeitlich Früheres oder Erstes, sondern […] Tiefenschicht des Menschen“87. Auch wenn diese – dem geologischen Diskurs entlehnte88 – „Tiefenschicht“ als conditio humana im zeitgenössischen Menschen fortlebt und damit nicht gänzlich der Vergangenheit zugeschlagen werden kann, so ist sie doch dort besonders unverfälscht zu studieren, wo sie zum ersten Mal bildlichen Ausdruck gefunden hat: In der prähistorischen Höhlenmalerei. Eine solch zeitlos anthropologische Deutung vorzeitlicher Kunst bildet nicht nur den Duktus der Vorgeschichtshistoriographie zahlreicher AntaiosBeiträge,89 sie stammt zudem – soz. als prominentes Autoritätsurteil – von dem von Jünger geschätzten Georges Bataille (1897–1962), der die erst 1940 entdeckte Höhle von Lascaux zum Anlass nahm, in La peinture préhistorique. Lascaux, ou la naissance de l’art (1955) eine Brücke vom ersten ‚Lascaux-Menschen‘ zum Spätgeborenen der Gegenwart zu schlagen.90 Für Bataille ist der „Mensch von Lascaux […] wesentlich derjenige, den die Anthropologie, im 86 87

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Vgl. Jünger, An der Zeitmauer (Antaios I), S. 222. Ebd., S.  223. Weiter heißt es: „Als Fach hat sich die Urgeschichte unmerklich, doch mit gutem Grunde aus der Geschichtsschreibung entfernt. Zunächst war sie Heilsgeschichte, Geschichte der Offenbarung und der Ursprünge. Daher begannen die alten Geschichtswerke mit dem Paradies. Heut ist sie ein Thema der Tiefenpsychologie, die sich immer mehr zur Typologie entwickelt, und läßt sich scharf von der Vorgeschichte absetzen.“ Jünger betont, dass „in der Geologie das Wort ‚Schicht‘ […] sowohl stratographischen wie chronologischen Sinn“ besitzt. SW 8, S. 503. Der Ausdruck „Tiefenschicht des Menschen“ betont in der Übertragung des Schichtdenkens auf die menschliche Psyche die stratographische gegenüber der chronologischen Bedeutung: Er will nicht den frühen, sondern das Wesen des Menschen bezeichnen. Bei Karl J. Narr, Weibliche Symbol-Plastik der älteren Steinzeit (Antaios II), S. 144, heißt es z.  B.: „[D]ie Frage nach dem Ursprung der bildenden Kunst kann nicht historisch gestellt werden, sondern nur als Frage nach dem Wesensurspung, hat als solche aber eben von einer möglichst eingehenden Wesenserfahrung der ältesten vorliegenden Zeugnisse auszugehen und selbstverständlich auch deren geschichtliche Ortsbestimmung zu berücksichtigen.“ „Der Mensch von ‚Lascaux‘ […] schuf aus dem Nichts die Welt der Kunst, mit welcher der Geist beginnt, sich mitzuteilen. Auf diese Weise stellt der ‚Mensch von Lascaux‘ sogar die Verbindung einer Gegenwart, die er ist, mit einer sich in der Tiefe der Zeiten verlierenden Vergangenheit her […]. Seine Botschaft, keiner anderen vergleichbar, geht uns nahe an, weil sie die Ganzheit des Menschenwesens anruft.“ Georges Bataille: Die vorgeschichtliche Malerei. Lascaux oder die Geburt der Kunst, aus d. Frz. v. Karl Georg Hemmerich, Stuttgart u. Genf 1986 [1955],



7.3  Disziplinäre Vorgeschichtsschreibung und entgrenzte Dichtung

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Gegensatz zum Neandertaler und anderen Frühmenschen, als Homo sapiens bezeichnet.“91 Sozusagen mit Bataille in der Tasche betritt Jünger auch 1990 die „Grotte von Lascaux“92, die er nach eigener Auskunft bereits nach Kriegsende aufsuchte. Den Untertitel der Schrift Batailles „die Geburt der Kunst“ deutet Jünger dahingehend, dass der „Ursprung“ der Kunst „mehr als sakralen Charakters ist“, „und zwar insofern, als zwischen dem Heiligen und seiner Verehrung keine Distanz bestand. Es gab noch keine Entfernung zwischen dem Kunstwerk und dem Gebet.“93 Die Deutung vorgeschichtlicher Kunst im Zeichen ihrer anthropologischen Signifikanz bildete bereits den Kern von Jüngers Antaios-Aufsatz Sardische Heimat. Auch hier wird – gleich dem „Mantra“ aus An der Zeitmauer – die Kunst als Medium gattungstypologischer Zugehörigkeit betrachtet: „‚Das bist du‘“94, sprechen die frühen Zeugnisse den Menschen an. Bekanntschaft mit diesen macht Jünger im „Altertumsmuseum zu Cagliari“95, der Hauptstadt Sardiniens. Sein besonderes Augenmerk gilt verschiedenen dort ausgestellten „Bronzetten“, „die bei den Nuraghen ausgegraben worden sind“: Sie verkörpern nicht nur einen frühen Beitrag der Insel zur Weltkunst, sondern auch ihren stärksten, und sie sind einzig in ihrer Art insofern, als man bei den Völkern wohl Verwandtes, nicht aber Gleiches finden wird. Wir besitzen in unseren Museen Zeugnisse der Tiefenschicht, die sich hier ausdrückt […]. Beim Anblick der Bronzetten kommt noch ein anderes hinzu und rührt uns auf besondere Weise, rührt uns spezifisch an. Es ist die legitime Linie, der Zweig des Stammbaums, von dem auch wir getragen werden und dessen Augen, obwohl sie längst verdorrten, den unseren nahe sind. Es ist die Sprache des: ‚Das bist du.‘96

Diese Deutung ist ein gutes Beispiel dafür, was es heißt, Kunst ur- und nicht vorgeschichtlich zu betrachten. Denn dass es sich hier um „Zeugnisse der S. 11. Ein Exemplar dieses Buches befindet sich in Jüngers Wilflinger Bibliothek (DLA-Signatur: WJB25.04/52). Als Lesedatum ist auf der letzten Textseite der „30. 06. 1990“ notiert. 91 Bataille, Die vorgeschichtliche Malerei, S. 18. Das ist im Grunde die Position, die das anthropologisch-existenzphilosophisch orientierte Interesse der Vorgeschichtsforschung an frühen Kunstzeugnissen seit den 1930er-Jahren entwickelte. Vgl. dazu ausführlich Kap. 1.7. 92 SW 21, S.  424. In dem Eintrag vom 22.  05. 1990 lobt Jünger Bataille ausdrücklich: „Das Beste, was ich über Lascaux gelesen habe, ist die Monographie von Georges Bataille mit dem Untertitel ‚die Geburt der Kunst‘. […] Er hat die Bilder nicht nur gesehen, sondern sie auch zu deuten versucht. Dabei kommt er zu dem Schlusse: ‚Was wissen wir von diesen Menschen, die uns nur diese ungreifbaren Schatten, diese Zeichen ohne Hintergrund überlieferten: Fast nichts.‘“ Ebd., S. 425. In seinem Exemplar des Bataille-Textes markiert Jünger u.  a. die Worte „Fast nichts“. Vgl. Bataille, Die vorgeschichtliche Malerei (DLA-Signatur: WJB25.04/52), S. 12. 93 SW 21, S. 425  f. 94 Jünger, An der Zeitmauer (Antaios I), S. 219; Jünger, Sardische Heimat (Antaios III), S. 2. 95 Jünger, Sardische Heimat (Antaios III), S. 2. 96 Ebd.

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Tiefenschicht“ des Menschen handelt, meint nicht, hier würden – in chronologischer Ordnung – frühmenschliche Spuren der Kultur sichtbar. Unter „Urgeschichte“ versteht Jünger „seelisch ungeteilte Kraft“, die „nicht Vorgeschichte“ sei.97 In diesem Sinne weisen auch die Bronzetten auf einen anthropologischen Kern hin; sie sind „der Zweig des Stammbaums, von dem auch wir getragen werden“. Im Mittelpunkt steht dabei nicht der Entwicklungsgedanke: Die Rede vom ‚Ungeteilten‘ verweist demgegenüber auf die auch von Georges Bataille vertretene These von der gattungsmäßigen Einheit des Homo sapiens über Jahrtausende hinweg. Bataille spricht angesichts der Lascaux-Kunst vom „Gefühl brennender Gegenwärtigkeit“98 und meint damit die Teilhabe des Betrachters an der anthropologischen Konstitution, die hier, in der Höhlenmalerei, zum ersten Mal sichtbar werde. Bei Jünger geht es gleichfalls um eine Deutung des künstlerischen Ausdrucksspektrums im Zeichen einer Selbsterkenntnis des Menschseins. Besondere Sorgfalt zeigt Jünger bei der Klassifizierung und Beschreibung der sardischen Kunstzeugnisse. Die Bronzetten unterteilt er in zwei Gruppen: Häuptlingstyp (s. Abb. 52) und Kriegertyp (s. Abb. 53). Unterscheiden kann man in analytischer Hinsicht zwischen einer kunstgeschichtlichen und einer ethnologischen Deutungsebene. Kunstgeschichtlich argumentiert Jünger insofern, als er in den Häuptlings-Bronzetten „die Haltung vorweg“ genommen sieht, „die in viel späteren Zeiten der Bildhauer der Darstellung des großen Menschen zuweist, sei es im Schmuck der Kirchen und Kapellen, sei es in den Denkmälern der Friedhöfe, der Paläste und Prachtstraßen“99. Der ethnologische Fokus tritt in der Gegenüberstellung von Häuptlings- und Kriegertyp hervor. Im Gegensatz zum ‚realistisch‘ geformten Häuptlingstyp zeige der Kriegertyp einige „befremden[de]“ Besonderheiten: „Hier wird die Plastik wuchernd […]. Das Gesicht verläuft wie eine auf die Spitze gestellte Birne zum Kinn.“ Andere Gesichtsmodellagen wiederum – „aufgeworfene Lippen und hohe Backenknochen“ – verwiesen auf eine „äthiopische Verwandtschaft“. All diese Verschiedenheiten deutet Jünger nun nicht stiltypologisch im Sinne einer formalen Entwicklungsgeschichte der Kunst; in den unterschiedlichen Gesichtszügen macht er stattdessen „starke Differenzen innerhalb der Bevölkerung“100 aus. Im Ergebnis wird die Kunst in diesem Deutungsrahmen zum wichtigen Zeugnis für die historische Rekonstruktion der ethnischen Vielfalt Sardiniens erklärt. Strukturell durchaus vergleichbar, nämlich zweigeteilt, argumentiert Jünger mit Blick auf die sog. sardischen „‚Muttergottheiten‘“, „kleine Idole 97 Jünger, An der Zeitmauer (Antaios I), S. 223. 98 Bataille, Die vorgeschichtliche Malerei, S. 12. 99 Jünger, Sardische Heimat (Antaios III), S. 2  f. 100 Ebd., S. 3. Vorhergehende Zitate gleichfalls.



7.3  Disziplinäre Vorgeschichtsschreibung und entgrenzte Dichtung

Abb. 52: Häuptlingsstatuette (Museo Archeologico Nazionale, Cagliari), Ernst Jünger, Sardische Heimat

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Abb. 53: Kriegerstatuette (Museo Archeologico Nazionale, Cagliari), Ernst Jünger, Sardische Heimat

aus Stein oder Elfenbein, die in die geöffnete Hand passen“. Der Typus eines „Erd- und Fruchtbarkeitssymbols mit mächtiger Betonung der Geschlechtsmerkmale“ wird unterschieden von einer „vergeistigten, jungfräulichen Muttergestalt“.101 (s. Abb. 54) Letztere sieht er idealtypisch in der „Madonna von 101 Ebd., S. 8. In der abwertenden Charakterisierung des „Erd- und Fruchtbarkeitssymbols“ als „Hottentottenvenus“ folgt Jünger dem normativen Korsett, das bereits für Egon Vietta in Lybischer Existenzial. Natur als Schicksal (1940) maßgeblich ist. Vietta spricht dort angesichts vergleichbarer Exponate, die er im Vorgeschichtlichen Museum Vallettas (Malta) besichtigt, von „abscheulich plumpen, typischen Frauenstatuen“ und „Frauenwülste[n]“, die „als dunkler Klang aus frühen Erdentagen haften“ bleiben würden. (Vietta, Libyscher Existenzial, S. 430) Jünger weist darauf hin, dass es sich bei dem „Fettsteiß“ der Statuetten nicht um eine

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7  Im Zeichen des Antaios

Abb. 54: „Muttergottheiten“ (Museo Archeologico Nazionale, Cagliari), Ernst Jünger, Sardische Heimat

Senorbi“ realisiert. Jünger spricht in Übernahme des Abstraktionsbegriffes aus dem kunstwissenschaftlichen Diskurs von der „hohe[n] Abstraktion“ – „sowohl hinsichtlich der sparsam verwandten Mittel als auch der Geistigkeit, ja Übernatürlichkeit ihres Ausdrucks“102. ‚Abstraktion‘ bezeichnet hier eine sich vom merkmalsreichen Vorbild abwendende Reduktion des formalen Spektrums auf die Kreuz-Gestalt. Eine ausführliche Würdigung der Kompositionsprinzipien wird mit einer inhaltlichen Deutung verbunden: Strenge geometrische Stilisierung und geistiger Anspruch gehen Hand in Hand. Entscheidend ist mit Blick auf die ‚Muttergottheiten‘, dass es Jünger hier – wie auch hinsichtlich der Bronzetten und des Umgangs mit vorgeschichtlicher Kunst ganz allgemein – nicht um die Einordnung der Zeugnisse in das Koordinatensystem einer prähistorisch interessierten, kulturgeografisch differenziert argumentierenden Kunstgeschichtsschreibung geht. Die „Betrachtung“ der Gottheiten lenkt vielmehr vom konkreten Fund ab; sie „führt notwendig „Übertreibung eines primitiven Bildners“ handle – „Ethnologen“ hätten ihn „eines Besseren belehrt“. Jünger, Sardische Heimat, (Antaios III), S. 8. Karl J. Narr sieht die Venus von Willendorf zum einen durch einen „verhältnismäßig hohen Grad von Realistik der Darstellung“ charakterisiert, zum anderen durch eine „voluminöse Körperlichkeit – wobei die großen Hängebrüste, das Gesäß, die schweren Schenkel und die geneigte Kopfhaltung besonders betont werden“. Narr, Weibliche Symbol-Plastik der älteren Steinzeit (Antaios II), S. 132. 102 Jünger, Sardische Heimat (Antaios III), S. 8.



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zu allgemeinen, den Menschen als solchen berührenden Fragen und über das Schicksal der Insel hinaus.“103 Verbunden ist damit auch das Ungenügen am klassifikatorischen Haushalt der prähistorischen Archäologie, wie er durch die Einteilung der Urgeschichte in Stein-, Eisen- und Bronzezeit markiert wird. Ungenügen bedeutet in diesem Punkt jedoch nicht völlige Abkehr. Was man bei Jünger stattdessen findet, ist eine mythologische Überformung des Dreiperiodensystems; zunächst im Sinne seiner Philosophie des Waldes wie er sie in Der Waldgang (1951) formuliert,104 dann aber vor allem in der Diskussion mit Hesiod. Im Kern geht es hierbei darum, Hesiods Einteilung in Erdzeitalter auf die vorgeschichtlichen Perioden zu applizieren. So gesellt Jünger der Bronzezeit das „Erzerne Zeitalter“105 zu. Den Zielpunkt einer solchen Verbindung markiert die Absicht, sich von einem rein chronologischen und damit entwicklungsfixierten Verständnis des Dreiperiodensystems – wie es von der Vorgeschichtsschreibung intendiert ist  – abzuwenden und demgegenüber eine morphologische, zeitlose Fundierung zu etablieren. Mehr noch als die Bronze- interessiert Jünger die Steinzeit; ist doch hier jener Anfang – der anthropologische Ursprung – aufgerufen, den es ideell, durch eine Klassifizierung als ‚Goldenes Zeitalter‘ an die Jetztzeit anzuschließen gilt: „In der Tat wurde das Goldene Zeitalter, wie der geschichtliche Mensch es zu erkennen glaubte, gern dort vermutet, wo steinzeitliche Kulturen bis auf unsere Tage erhalten geblieben sind.“106 Jünger nennt als neuzeitliche Beispiele für eine solche Ethnographie in vorgeschichtlicher Absicht die Südseereisen von James Cook (1782–1779) und Georg Forster (1754–1794). Doch so wichtig eine solch empirische kulturräumliche Verortung vorgeschichtlicher Lebensspuren auch sein mag, entscheidend für das Verständnis dessen, was Jünger unter Steinzeit fasst, ist sie keineswegs: „Steinzeit: das ist nicht nur ein zeit103 Ebd. 104 „Die Lehre vom Wald ist uralt wie die menschliche Geschichte, ja älter als sie. Sie findet sich bereits in den ehrwürdigen Urkunden, die wir zum Teil erst heute zu entziffern verstehen. Sie bildet das große Thema der Märchen, der Sagen, der heiligen Texte und Mysterien. Wenn wir das Märchen der Steinzeit, den Mythos der Bronzezeit und die Geschichte der Eisenzeit zuordnen, so werden wir überall auf diese Lehre stoßen, falls unsere Augen dafür geöffnet sind.“ SW 7, S. 326. Die an den drei Erzählformen orientierte Einteilung der Urgeschichte wiederholt Jünger in Sgrafitti (1960): „Mit dem Stein ist das Märchen, mit der Bronze der Mythos, mit dem Eisen die Geschichte verknüpft.“ SW 9, S. 403. 105 SW 8, S. 487. 106 Ebd. Jünger reflektiert trotz aller Verbindungsabsichten die konzeptgeschichtlichen Unterschiede zwischen Steinzeit und ‚Goldenem Zeitalter‘ sehr genau: „Wenn Hesiod von Goldenem Zeitalter spricht, so trägt dieses Altertum theologische Züge, betrifft ein dichteres, ruhendes Sein, ist dem Garten Eden verwandt. In unserer Wissenschaft gehört die ‚Steinzeit‘ in eine chronologische Einteilung. Gesittung ist für Hesiod ein Absinkendes, für die Wissenschaft ein steigend sich Entwickelndes.“ Ebd., S. 504.

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licher, sondern auch ein morphologischer Begriff. Steinzeit ist gegenwärtig, und zwar nicht nur ethnographisch, sondern auch individuell.“107 Damit wären wir wieder bei jener „Tiefenschicht des Menschen“108, die Jünger im Primat der Ur- vor der Vorgeschichte verteidigen will. Zweifel, ob vorgeschichtlichen Zeugnissen überhaupt ein Erklärwert hinsichtlich des Verständnisses urgeschichtlicher Zustände zuzuschreiben ist, führen im Zeitmauer-Text zu Spannungen innerhalb der zunächst positiv gewerteten Allianz von Steinzeit und ‚Goldenem Zeitalter‘. Im Kern geht es dabei um das Problem, in welchem Maße ein morphologisches Verständnis der Steinzeit, das auf der Grundlage konkreter vorgeschichtlicher Spuren argumentiert, überhaupt möglich ist. Denn die Gleichung, die Jünger bei Cook und Forster noch gegeben sieht, dass nämlich die ‚primitiven‘ Südseeindigenen Aufschluss über urmenschliche Zustände liefern würden, ist heute nicht mehr gegeben.109 Ähnlich problematisch steht es um die vorgeschichtlichen Zeugnisse im eigentlichen Sinne: Wenn wir angesichts der Höhlenbilder von der ‚Kunst der Steinzeitmenschen‘ sprechen, so enthält eine solche Formulierung eine Reihe kühner Voraussetzungen. Ebenso können wir nicht wissen, ob es sich bei den kleinen und höchst erstaun­ lichen Statuetten, wie deren einige gefunden worden sind, wirklich um ‚Muttergottheiten‘ handelte. Bereits die Deutung der sardischen Bronzetten ist fragwürdig.110

Der Grundtenor von Jüngers Argumentation ist klar: Vorgeschichtliche Zeugnisse lassen sich nicht verlässlich ins Urgeschichtliche, Allgemein-

107 Ebd., S. 487. 108 Vgl. Jünger, An der Zeitmauer (Antaios I), S. 223. 109 „Die Ethnologen sind sich darüber einig, daß die Beobachtung der heutigen Primitiven kein Bild einer Urkultur vermitteln kann. Es handelt sich bereits um abgeleitete Formen, um korrumpierte oft.“ SW 8, S. 504. Ähnlich heißt es in einer brieflichen Mitteilung an Mägdefrau: „Auch ihrem Blick in das Neolithikum bin ich mit Genuß gefolgt. Wie jene Stämme, die von den Steinen besucht hat, sind auch die Guaica=Indianer sowohl bereits durch unsere Zivilisation beschattet als auch durch ihre eigene Entwicklung vom reinen Jägerdasein entfernt. Ich frage mich, ob das nicht überall der Fall ist, wo man rechtwinklige Bauten vorfindet. Der Übergang vom Kreis zum rechten Winkel hat wahrscheinlich eines der wichtigsten Danten [sic!] gesetzt.“ Jünger an Mägdefrau (10.  03. 1964), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Jünger bezieht sich hier auf Karl Mägdefrau: Die Guaica-Indianer am oberen Orinoco. Ein Blick in das Neolithikum, in: Alt-Thüringen. Jahresschrift des Museums für Ur- und Frühgeschichte Thüringens, 6 (1962/63), S. 652–660 (Sonderdruck). DLA Marbach, Bestand „H:Jünger, Ernst“, Miszellen-Sammlung, Kasten 16, Mappe 19. Der von Jünger angesprochene Ethnologe Karl von den Steinen (1855–1929) machte vor allem durch seine Reisen in das brasilianische Xingú-Gebiet auf sich aufmerksam, die er in zwei vielbeachteten Publikationen dokumentierte: Durch Central-Brasilien. Expedition zur Erforschung des Schingú im Jahre 1884 (1886) und Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Reiseschilderungen und Ergebnisse der zweiten Schingú-Expedition 1887–1888 (1894). 110 SW 8, S. 504.



7.3  Disziplinäre Vorgeschichtsschreibung und entgrenzte Dichtung

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menschliche transzendieren.111 Es ist also nicht so, dass die Zeugnisse als valide eingestuft werden können, während allein jene auf die Geschichte als (Fortschritts-) Entwicklung rekurrierende Vorgeschichtsschreibung problematisch wäre; vielmehr gilt: Die materiellen Fakten selbst sind unsicher. Daraus ergeben sich weitreichende Konsequenzen. An die Stelle einer Überformung des Dreiperiodensystems, die den chronologischen Ablauf in einer ontologischen Morphologie ruhigstellen möchte, tritt bei Jünger das „Goldene Zeitalter“ als immer aktualisierbare dichterische Rede. „Das Goldene Zeitalter ist realer, ist wirklicher als die Pläne des historischen Menschen.“112 In ihrer zeitlichen Unbestimmtheit sind die Urbilder des Dichters in den „Bereichen“ der „Urgeschichte, dieser ‚Idee des Menschengeschlechts‘, seherisch legitimiert“113. Vom Dichter könne man demnach „am ersten erfahren […], wie es ‚damals‘ gewesen ist.“114 Er kann jenes ‚Zuvor‘ aktualisieren; und dies nicht nur, wie der Wissenschaftler, indem er es historisch deutet, sondern an dem er am Urbild partizipiert. Es ist Hamanns Aesthetica in nuce (1762), und dort im Besonderen die Rede von der „Poesie als der Muttersprache des Menschengeschlechts“, die Jünger als Beispiel einer Dichtung anführt, die das „Goldene Zeitalter“ erschließe. Hamanns poetische Urgeschichte, so Jünger, gehe tiefer „als Herders Geschichtsphilosophie“. „‚Gesang ist älter als Deklamation.‘“115, zitiert er Hamann, womit der Unterschied zwischen lyrischem Bild und diskursiv orientierter Rede bezeichnet werden soll.116 Damit ist der Weg, Elemente der disziplinär orientierten Vorgeschichtsforschung in das Konzept der Urgeschichte zu integrieren freilich verlassen. Auch der gemeinsame empirische Nenner beider Betrachtungsweisen – die Zeugnisse selbst – gelten nun als problematisch. Im urbildlichen Ideal der präferierten dichterischen Rede ist auch der letzte Rest zeitlicher 111 Es ist nicht recht verständlich, warum Jünger drei Jahre nach diesen im Zeitmauer-Text geäußerten Zweifeln sich in Sardische Heimat auf eben jene „Muttergottheiten“ beruft, um „den Menschen als solchen berührende[.  .] Fragen“ diskutieren zu wollen. Jünger, Sardische Heimat (Antaios III), S. 8. 112 Jünger, An der Zeitmauer (Antaios I), S. 222. 113 Ebd. 114 SW 8, S. 504. 115 In der Kontrastierung eines Passus’ aus Herders Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) mit Hamanns Rede von der Poesie als der Muttersprache des menschlichen Geschlechts verdeutlicht Jünger den Unterschied: „Herder sagt: ‚Ewig wird Patriarchengegend und Patriarchenzelt das Goldene Zeitalter der kindlichen Menschheit bleiben.‘ Hamanns Goldenes Zeitalter liegt vor der Patriarchenzeit. Als Abraham Mesopotamien verließ, war Ur bereits eine ehrwürdige Stadt. Sie lag schon im Silbernen Zeitalter. Und gewiß hat das Goldene Zeitalter noch keine Mauern und Städte gekannt.“ Ebd., S. 505. 116 Gajek sieht Jünger mit Hamann darin übereinkommen, „daß über das Ganze des Seienden die Ratio nicht urteilen könne; denn sie stehe nicht über ihrem Gegenstand, sondern sei dessen Teil. Nur Bilderrede vermöge anzudeuten, was menschliches Begreifen übersteige.“ Gajek, Ernst Jünger und Johann Georg Hamann, S. 685.

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Assoziation, wie er noch in der mythischen Anverwandlung des Dreiperiodensystem der Vorgeschichtsforschung erhalten blieb, getilgt. Während es zunächst darum ging, aus einem Vorgeschichtszeugnis ein urgeschichtliches Moment zu destillieren, so sind in der Dichtung Urbild und Urgeschichte gleichsam deckungsgleich. „Der Dichter schöpft noch aus dem Unaufgeteilten  […]“117; der Vorgeschichtsforscher hat es hingegen schon immer mit sichtbaren Artefakten zu tun. Diese mögen zwar dem Status des Ur nahestehen; doch eben dass sie sichtbar sind, zeigt gleichzeitig ihre Unfähigkeit an, Zeugnis vom Urbild geben zu können. Die chronologische und die tiefenstrukturelle Dimension des Ur gehen hier deutlich auseinander; nicht mehr um Spiegelung geht es  – der Vorgeschichte in der Urgeschichte und vice versa – oder Teilhabe – die Urgeschichte als Abschnitt der Vorgeschichte und vice versa –, sondern um die Polarisierung von urbildlicher Dichtung und empirischer Geschichtswissenschaft, von poetischer Deduktion und artefaktgebundener Induktion.

7.4  Geborgte Maßstäbe. Zur Rolle der Phylogenese, Paläoanthropologie und Geologie Die in An der Zeitmauer prognostizierte epochale Veränderung wird in entscheidendem Maße durch ihre konzeptionelle Modellierung im Deutungshorizont der Geologie und Paläontologie beglaubigt; darauf verweisen einige Stimmen bereits kurz nach Erscheinen des Buches, so Hermann Hesse und Henri Plard.118 Nur hier – im Bereich der Geologie und Paläontologie – wird mit jenen Großepochen gerechnet, in deren Dimensionen Jünger Verände-

117 SW 8, S. 506. 118 Hermann Hesse weist Nach der Lektüre von Ernst Jüngers Buch ‚An der Zeitmauer‘ (1960) auf die Schwierigkeit hin, die Validität der naturgeschichtlichen ‚Fakten‘ aus Geologie und Paläontologie sowie deren Rolle im Rahmen der prognostischen Grundausrichtung der Argumentation richtig einzuschätzen: „Das reiche Material aus der Geologie, Paläontologie, Zoologie und anderen Disziplinen der Naturwissenschaften, das der Verfasser zusammenträgt, ist für mich lehrreich gewesen, aber unkontrollierbar geblieben.“ Hermann Hesse: Nach der Lektüre von Ernst Jüngers Buch An der Zeitmauer, in: Ders.: Sämtliche Werke, hrsg. v. Volker Michels, Bd. 20, Die Welt im Buch V, Rezensionen (1935–1962), Frankfurt/M. 2005, S. 350–353, hier: S. 352. Bei Henri Plard heißt es: „Einerseits stützt sich Jünger, wie viele Zeitgenossen, auf den Mythos, andererseits auf Paläontologie und Geologie […]. “ Plard, Ernst Jüngers Wende, S. 120. Horst Seferens knüpft hier an, wenn er verallgemeinernd feststellt: „Im Spätwerk operiert Jünger mit erdgeschichtlichen Dimensionen der Zeit und bedient sich einer paläontologischen und organologischen Metaphorik.“ Horst Seferens: „Leute von übermorgen und von vorgestern“. Ernst Jüngers Ikonographie der Gegenaufklärung und die deutsche Rechte nach 1945, Bodenheim 1998, S. 94.



7.4  Geborgte Maßstäbe

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rungen ausmachen will.119 Es ist die aktuelle Furcht vor dem Weltuntergang, der „kosmischen Katastrophe“, die als Zeichen dafür zu lesen sei, „daß wir eine Station erreicht haben, an der das Schicksal der Erde als solches infrage steht. Daher betrifft die Entwicklung nicht nur jeden Menschen, der den Planeten bewohnt, sondern zugleich auch die belebte und unbelebte Natur. Entsprechend muß es Anzeichen geben, die nicht nur aus der Menschengeschichte, sondern aus der Erdgeschichte ablesbar sind.120

Was in der Perspektive ‚humaner Einteilungen‘ als posthistoire erscheint, verweist im ‚siderischen‘ Koordinatensystem auf Veränderungen des Erdkörpers; auf Veränderungen mithin, die „selbst unter Einbeziehung der Vor- und Urgeschichte, also des Auftretens des Menschen auf dem Planeten überhaupt“121, nicht erfasst werden können. Die Abkehr vom Anthropozentrismus der Universalgeschichtsschreibung ist typisch für das geschichtsskeptische Denken, das wir bei Kurt Breysig ab Mitte der 1930er-Jahre kennen gelernt haben und dessen Einfluss auf Jüngers Besuch auf Godenholm bereits diskutiert wurde.122 In An der Zeitmauer wird die Überschreitung universalgeschichtlichen Denkens ausdrücklich der menschheitsgeschichtlichen Perspektive zur Seite gestellt. Konkret geht es um die Frage, „ob der Einschnitt zwei geologische Abschnitte trennt und ob eine in diesem Sinne neue Epoche 119 In Rund um den Sinai (1975) kommt Jünger erneut auf die Andersartigkeit der großraumperiodischen gegenüber der historischen Zeitordnung zu sprechen: „Die Zeit beginnt sich zu potenzieren, wenn wir in kosmische und geologische Reihen einsteigen, uns mit paläontologischen Schichten oder selbst mit anthropologischen Stammbäumen beschäftigen.“ SW 12, S. 490. 120 SW 8, S. 532. 121 Ebd., S. 546. 122 Vgl. dazu Kap. 6.2. Ob der Zusammenhang von Breysigs entgrenzter Universalgeschichte mit dem erdgeschichtlichen Denken Jüngers um 1960 präsent ist, lässt sich schwer sagen. Hesse etwa betont die Neuheit von Jüngers Denken, und besonders die Abkehr von Nietzsche und Spengler: „[W]ährend wir andern, die schiwagläubigen Hindu ebenso wie wir heutigen Künstler und Dichter, auch Geister wie Nietzsche und Spengler inbegriffen, den Weltzustand historisch und durchaus anthropozentrisch betrachten, sieht ihn Jünger – das ist das Neue und Überraschende an seiner großen Vision – nicht mehr geschichtlich, das heißt menschheitsgeschichtlich, sondern erdgeschichtlich.“ Hesse, Nach der Lektüre von Ernst Jüngers Buch An der Zeitmauer, S. 351. Jünger legt später besonderen Wert auf die Einstellung der geistigen Komplizenschaft und Faszination, mit der Hesse An der Zeitmauer gelesen habe. Im Gespräch mit Antonio Gnoli und Franco Volpi formuliert er 1995: „Er [Hesse, N.K.] war […] von einer der Ideen, die ich in diesem Buch ausdrückte, begeistert, nämlich, daß um zu begreifen, was geschieht, der Blick von der menschlichen Geschichte zur Erdgeschichte übergehen muß; es gilt, von der geschichtlichen Zeit zur kosmischen Zeit, zur Zeit der Natur zu wechseln. Er wisse nicht, ob das, was ich beschreibe, wahr sei oder nicht, er habe aber den Eindruck, in meinen Schriften an dem Schauspiel teilzunehmen, das ich beschreibe.“ Jünger/ Gnoli/Volpi, Die kommenden Titanen, S. 97.

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mit ihren Mustern auf uns übergreift.“123 Die Einteilung der Erdentwicklung innerhalb der geologischen Zeitskala bildet dabei den Maßstab, nach dem aktuelle Vorgänge taxiert werden. Im Ergebnis wird das retrospektive Bestimmungsverfahren dynamisiert und damit für die Gegenwartsdiagnose verfügbar. Jünger greift hier zwar auf geologische Bestimmungsverfahren zurück, erweitert diese jedoch beträchtlich; denn eigentlich basiert die geologische Zeitordnung auf biostratigraphischen Ergebnissen, die sich nur rückblickend überschauen lassen. Die chronologische Abfolge von Gesteinseinheiten, die das Übereinandergeschichtete als tatsächlich zeitliches Nacheinander ordnet, argumentiert dabei mit Fossilfunden. Leitfossilien ermöglichen die Ordnung von Gesteinen nach dem Zeitpunkt ihrer Entstehung. Da eine bestimmte Art von Fossil nur in ganz bestimmten Gesteinen vorkommt, lassen sich anhand eines Fossilfundes auch Aussagen über das Alter der diesen Fund umfassenden Schichten machen. Nach diesem Vorgehen ist es prinzipiell unmöglich, erdepochale Veränderungen in actu zu beobachten; die verhandelten Zeitfenster sind einfach zu groß, als dass der Wandlungsprozess anschaulich werden könnte. Jünger übernimmt aus dem erdgeschichtlichen Diskurs mehrere Ar­ gumentationsfiguren. Zunächst geht es ganz allgemein um die enge Verzahnung von geologischen und biologischen zu paläontologischen Aspekten.124 Dies zeigt sich darin, dass auf biologische Fragen grundsätzlich tellurische Antworten folgen, die das Eingebundensein organischer Prozesse in größere Zusammenhänge betonen. Er spricht diesbezüglich von der „geologische[n] Einbettung des Lebens“125: Die „[b]iologische Synopsis“, d.  h. die Zusammenschau der Entwicklungsgeschichte des Lebens müsse die „geologische Lage“ berücksichtigen: Das ist auch immer der Fall gewesen; Lamarcks Hauptwerk ging ein elfbändiges ‚Jahrbuch der Meteorologie‘ voraus. Die berühmte Diskussion von 1830 zwischen Cuvier und dem Lamarckisten Geoffroy Saint-Hilaire, die Goethe mit Spannung verfolgte, wurde unter geologischen Voraussetzungen geführt.126

Im Rekurs auf eine der wichtigsten Debatten in der Geschichte der Paläontologie, den Pariser Akademiestreit, erläutert Jünger sein tellurisches Primat. 123 SW 8, S. 546. 124 Jünger spricht die „Überschneidung von eigentlich geologischer und […] biologischer Kompetenz“ zur „Paläontologie“ als „stereoskopisch[es]“ Verfahren an. Ebd., S. 557. 125 Ebd., S. 548. 126 Ebd., S. 547. Henri Plard betont die Zwiespältigkeit von Jüngers Goethe-Bezug: „Jünger hält, wie der alte Goethe, den Streit Cuviers mit Geoffroy-Saint-Hilaire für wesentlich, aber anders als Geoffroy und Goethe nimmt er an, daß die Welt und die Menschheit regelmäßig, wenn auch in weiten Abständen, von Katastrophen heimgesucht und erneuert werden.“ Plard, Ernst Jüngers Wende, S. 120.



7.4  Geborgte Maßstäbe

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Während der Anhänger der Katastrophentheorie Georges Cuvier von völligen Neuschöpfungen des Lebens ausgeht, vertritt Saint-Hilaire die Meinung, die Entwicklung des Lebens sei durch das Prinzip der Evolution – das er allerdings noch nicht, wie später Darwin, als Abstammungslehre konzipiert  – strukturiert. Beider Argumentation kommt ohne erdgeschichtliche Zeugnisse nicht aus, doch allein die Katastrophentheorie Cuviers, die Jünger in den Folgejahrzehnten zum Hauptbezugspunkt seiner epochalen Veränderungsdiagnose machen wird, sieht in den Erd- auch die Grundlage von Lebensveränderungen.127 Die Fähigkeit des Lebens, neu zu entstehen, verbindet sich in der Sichtweise Jüngers mit der Annahme eines nichtorganischen kosmischen Ursprungs oder vielmehr: mit einer Vitalisierung des Kosmos. Die „Vernichtung seiner organischen Formen können das Leben nicht beeinträchtigen. Das Universum lebt.“128 Diese Kosmologisierung des Lebensbegriffes hatte sich bei Jünger in den 1940er-Jahren angekündigt; bereits hier ging es um eine Überwindung der neovitalistischen Position der 1920er-Jahre, die darin bestand, eine Lebenskraft anzunehmen, die allein organischen Zusammenhängen innewohne und nicht auf chemische oder physikalische Prozesse reduziert werden könne.129 Die „Potenz“ zur „Urzeugung“, die Jünger sich nach einer katastrophischen Auslöschung der Lebewesen entfalten sieht, heißt es nun daran anschließend, „kann nicht im Leben selbst verborgen sein“.130 Als Statthalterin kosmologischer Produktivität macht Jünger wieder jene neuplatonische Quelle stark, die der Erfahrung unzugängliche „ungesonderte Substanz“131. Im Auftreten neuer „Arten“ komme demnach eine tellurische „Gesamtbewegung“ zum Ausdruck: Diese Gesamtbewegung ist nicht nur eine Bewegung von Lebewesen, sondern eine Lebensbewegung, die ihrerseits eine Bewegung dessen, was wir die unbelebte Natur nennen, voraussetzt und mit ihr korrespondiert. Die Entwicklung in diesem Umfang, also über die zoologischen und historischen Abläufe hinaus, erdgeschichtlich oder auch kosmologisch zu erfassen, lag daher im Bestreben jeder nicht mechanistischen Theorie.132 127 Die entwicklungsbiologische Perspektive hält Jünger zwar nicht für schlichtweg falsch; sie ist jedoch eine Sichtweise mit begrenzter Reichweite, da sie das „geologische Bett des Lebens“ zu wenig berücksichtigt: „Das Leben wohnt im Haus der Welt. Geologische Zeitalter bilden die Fluchten, die es durchschreitet, gleichviel ob die Säle merklich oder unmerklich ineinander übergehen. Auf diesen Unterschied der Wahrnehmung gründen sich die Argumente von Katastrophen- und Entwicklungstheorien. Beide sind ‚richtig‘ – das geologische Bett des Lebens verwandelt sich zuweilen aus einer Ruhestatt zum Prokrusteslager, auf dem sich nicht nur die Erscheinungen verändern, sondern auch Organe zum Opfer gebracht werden.“ SW 8, S. 546. 128 Ebd., S. 546. 129 Vgl. zu Jüngers Neovitalismus Kap. 2.1.1; vgl. zu dessen Überwindung Kap. 5.1. 130 SW 8, S. 589. 131 Ebd. 132 Ebd., S. 585.

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Bereits der Neovitalismus war angetreten, ‚mechanistische‘ Positionen als unzureichend zurückzuweisen. Daran hat sich nichts geändert. Gleichfalls nichts geändert hat sich an dem Verhältnis von unzugänglicher, erfahrungsgeschützter Tiefe und dem Reich der Phänomene, die gedeutet werden wollen. Die Geologie spielt bei dieser Deutungsarbeit eine doppelte Rolle. Zum einen werden Veränderungen paläontologischer (aber auch vorgeschichtlicher) Lebensformen erst im Stein erkenn- und deutbar;133 zum anderen sind es geologische Prozesse, die biologischen Wandel bedingen. Jünger konzipiert nicht nur die zu erwartenden Veränderungen im Anschluss an die paläontologische Katastrophentheorie; auch mit Blick auf seine Hauptthese  – den Eintritt des Menschen in ein nachgeschichtliches Zeitalter oder in eine neue Erdepoche – greift er auf Argumentationsmuster der Paläontologie zurück. Hierbei geht es um den Menschen als Leitfossil. In der Geologie kommt einem Fossil dann eine Leitfunktion zu, wenn es bei der Bestimmung des Alters von Gesteinsschichten aufgrund seines häufigen und regelmäßigen Vorkommens herangezogen werden kann. In gleichem Maße wie etwa Trilobiten für das Kambrium (Zeitraum vor etwa 541 bis 485,5 Millionen Jahren) charakteristisch sind, so kann man den Menschen für die neue erdgeschichtliche Periode als Leitfossil annehmen. Dabei verfährt Jünger wieder so, dass das retrospektive Bestimmungsverfahren der Paläontologie dynamisiert und auf die Jetztzeit sowie den zu erwartenden Epochen-Übergang übertragen wird: Der „Übergang  […], von dem ab man den Menschen nicht nur in einer Schicht, sondern als schichtbildendes, schichtbestimmendes Wesen findet, ist eines der Symptome seines Austrittes aus dem Geschichtsfeld, es liegt an der Zeitmauer.“134 Die Signifikanz der Spezies ‚Mensch‘, im „geologischen Sinne schichtbildend“135 zu sein, markiert gleichzeitig seine Entfernung aus der historischen und seinen Eintritt in die tellurische Ordnung:

133 In Steine (1966) heißt es: „Alles, was wir als Geschichte bezeichnen, ist in hohem Maße vom Stein abhängig. Das gilt für die Erd-, Natur- und Weltgeschichte im weitesten Umfang, also für die Entstehung des Planeten, das Auftreten der Pflanzen und Tiere und auch das des Menschen einschließlich seiner Ur- und Vorgeschichte bis zur Gegenwart.“ Jünger, Steine, S. 27. 134 SW 8, S. 559. 135 Ebd., S.  560. Hölder zitiert diesen Aspekt aus dem Zeitmauer-Text in einem  – in Jüngers Miszellen-Sammlung nachweisbaren – Fachaufsatz wörtlich, um gegenüber dem statischen Entwurf geologischer Prozesse bei Abraham Gottlob Werner und James Hutton die neue anthropozentrische Dimension der Erdoberflächenveränderung zu verdeutlichen. Vgl. Helmut Hölder: Geologie als historische Naturwissenschaft, in: Geologische Mitteilungen. Zeitschrift der Forschungsstelle für regionale und angewandte Geologie des Geologischen Instituts der Technischen Hochschule Aachen 3/1 (1962), S. 11–22, hier: S. 18, DLA Marbach, Bestand „H:Jünger, Ernst“, Miszellen-Sammlung, Kasten 17, Mappe 25.



7.4  Geborgte Maßstäbe

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Wohl darf man den Menschen als Leitfossil, als Typus für eine bestimmte und vielleicht eben erst ansetzende Schicht betrachten, doch ist er zugleich das erste Lebewesen, das Grabungen und Ausgrabungen unternimmt, mit Wißbegier nach seinen zoologischen, vorgeschichtlichen und geschichtlichen Ursprüngen. Er bildet nicht nur eine Schicht, sondern durchdringt sie auf geistige Art. Das verleiht seiner Erdschicht, vielleicht sogar seinem Planeten, ein besonderes Licht.136

Auf der einen Seite wird dem Menschen hier die geologische Leitfunktion zugewiesen, die in anderen Erdepochen andere Lebewesen einnehmen; darüber hinaus jedoch kommt ihm insofern eine besondere Rolle zu, als er seine schichtbildenden Spuren analysieren und zurückverfolgen kann: er wird als Leitfossil selbst reflexiv.137 Man könnte auch vom Anthropozän sprechen. Die von Jünger diagnostizierte Katastrophe ist zwar erkennbar an zeitgenössische Untergangsszenarien angelehnt.138 Sie ist jedoch umso plausibler, je besser er es versteht, die paläontologische Kataklysmentheorie als erdgeschichtlich aufschlussreiches Modell zu konturieren. Dazu gehört auch, die angenommene sprunghafte Veränderung der Arten nicht einfach nur zu behaupten, sondern diese im Rahmen der von der Paläontologie gewählten Aufzeichnungsverfahren beglaubigend zu diskutieren. Eine entscheidende Rolle kommt hierbei der Stammbaumbildung zu. In Stammbäumen werden fossil nachweisbare Organismengruppen in eine chronologische und verwandtschaftliche Reihenfolge gebracht und in ihren Beziehungen zueinander visualisiert. Durch geologische Katastrophen hervorgebrachte Veränderungen müssten sich demnach also in den paläobiologischen Stammbäumen nachweisen lassen. Genau davon geht Jünger auch aus. Seine These, dass das „Eintreten neuer Typen und ihre Ausbreitung immer mit mehr oder minder sichtbaren Katastrophen“ einhergehe und nicht durch die evolutionstheoretische Annahme eines „struggle for life“ ursächlich zu erklären sei, findet 136 SW 8, S. 560. 137 Die Duplizität von schichtenbildender Signifikanz, die der Mensch mit untergegangenen Lebewesen teilt, bei gleichzeitiger Reflexivität, die ihn von allen anderen Lebewesen unterscheidet, betont auch Gertrud Fussenegger in einer Besprechung von An der Zeitmauer: „Wenn sich der Mensch von heute imstande weiss, geologisch, meteorologisch und biologisch schichtenbildend zu wirken, so darf er sich doch sagen, dass es längst vor ihm Gattungen gab, die Schichten gebildet und Erdschicksal mitbestimmt haben. Das Neue ist die Bewusstheit des Vorgangs und die in ihm wirkende Kategorie der Freiheit.“ Gertrud Fussenegger: [Rez.] An der Zeitmauer (Typoskript), S. 1  f., Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. 138 Der aktuelle Bezug von Jüngers Deutung lässt sich auch als Argument gegen die Unzeitgemäßheit der Katastrophentheorie anführen: „Es scheint sich hier um unzeitgemäße Betrachtungen zu handeln: aber Jünger versucht, auf eine Angst unserer Zeit eine Antwort zu geben, indem er die Menschengeschichte in die der Erde miteinschließt […]. Wir sind in das Atomzeitalter eingetreten; zum ersten Mal seit dem Aufdämmern seines Bewußtseins hat der Mensch die Zerstörungstechnik soweit vorangetrieben, daß er eine allgemeine Weltvernichtung auslösen kann, eine Katastrophe, die nicht nur quantitativ, sondern qualitativ von allen vorausgegangenen verschieden wäre.“ Plard, Ernst Jüngers Wende, S. 120.

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er in der modernen paläontologischen Stammbaumstruktur bestätigt. 139 Besonderes Augenmerk legt Jünger hierbei auf die Zeitdimension, genauer gesagt: auf die Berücksichtigung qualitativer Aspekte. Unter dem Einfluss neuer Elementaruhren, die den alten Zeitmessern, etwa der Sanduhr, dem Prinzip nach gleichen würden, müssten auch die Stammbäume anders gestaltet werden. So ist vorauszusehen, daß sich mit der Entwicklung der Elementaruhren auch die Vorstellung des phylogenetischen Stammbaums verfeinern wird, in dem eine eminente geistige Arbeit von zwei Jahrhunderten steckt. Sie ändert sich bereits […], we­ eriodus.140 niger hinsichtlich der formalen Aufeinanderfolge als hinsichtlich ihres P

Pate steht in der Kontrastierung eines „abstrakt-mechanischen Zeitbegriff[es]“, der für eine monoton-gleichfließende Lebensbewegung steht und eines an die „astrologische Anschauung“ gebundenen, „qualitative Elemente“ berücksichtigenden Zeitverständnisses Das Sanduhrbuch. Jüngers bipolare Zeitordnung ist uns nur allzu vertraut. Doch worin zeigen sich die angemahnten qualitativen Aspekte mit Blick auf den Stammbaum? Eine mögliche Antwort auf diese Frage bekommt man, wenn man das 1962 an Jünger gesandte Schaubild der Stammesgeschichte zwischen Wasser, Land und Luft Helmut Hölders hinzuzieht (s. Tafel 2).141 Hölder präsentiert in diesem dann im Folgejahr in der Paläontologischen Zeitschrift veröffentlichten Aufsatz, in dessen Mittelpunkt das titelgebende Schaubild steht, einen Stammbaum der Entwicklungsgeschichte des Lebens: vom Wasser über die Erde bis in die Lüfte. Hier gewinnt Jüngers „qualitative Elemente“ berücksichtigender

139 SW 8, S. 547. „Mit den verfeinerten Methoden der Zeitmessung und Datierung müßte“ die katastrophenbedingte Neuschöpfung des Lebens „auch in der Wissenschaft hervortreten“, vermutet Jünger: „Die Stammbäume, die heute in der Zoologie und Anthropologie entworfen werden, gleichen […] nicht mehr wie früher einem System von Linien, sondern man sieht die Äste sich zuweilen jäh ausbauchen und dann wieder verschmälern oder auch absterben. […] Diese, oft explosionsartige, Ausdehnung und Beschneidung ist schwer denkbar ohne geologische Einrahmung. Der struggle for life bleibt ihr gegenüber sekundär, ja reines Symptom.“ Ebd., S. 547  f. 140 Ebd., S. 583. 141 Helmut Hölder: Ein Schaubild der Stammesgeschichte zwischen Wasser, Land und Luft, in: Paläontologische Zeitschrift 37 (1963), S. 155–160. Das Exemplar ist im DLA unter der Sign.: WJB09.06/60 verzeichnet und liegt in Jüngers Bibliothek der dritten Auflage des ersten Bandes von Alfred Edmund Brehms Tierleben (1893) bei, der sich den „niederen Tieren“ widmet („Einzeller – Schwämme – Hohltiere – Würmer – Muschellinge – Stachelhäuter – Weichtiere und Krebse.“). Hölders handschriftliche Zueignung des „Lebens-Stammstrauch[es]“ (DLA WJB09.06/60) an Jünger nimmt augenscheinlich Bezug auf eine Passage in An der Zeitmauer, in der die neue Art der Stammbäume mit ziersträucherartigen Buchsbäumen eines Landschaftsgartens verglichen wird: „Die Schemata erinnern an jene Buchsbäume, die vom Gärtner auf groteske Weise zurechtgestutzt sind.“ SW 8, S. 548.



7.4  Geborgte Maßstäbe

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„phylogenetische[r] Stammbaum“142 insofern Konturen, als die Bewegung des Lebensflusses nicht „von Ziffer zu Ziffer, von Schwelle zu Schwelle“ führt, wie es für eine mechanistische Zeitordnung maßgeblich sei, sondern von „Haus zu Haus, und mit den Häusern wechselt die Einrichtung, und das auf merkbare, ja überraschende Art.“143 Um Jüngers metaphorische Rede in die Struktur von Hölders Schaubild zu übersetzen: Als ‚Häuser‘ lassen sich die Lebenselemente und Lebensumwelten Wasser, Erde und Luft ansprechen, während man in den Organismengruppen die jeweiligen Einrichtungen sehen kann. Die Entwicklung der Lebensformen lässt sich zwar entlang der paläontologischen Chronologie wie sie durch die Struktur der Erdzeitalter vorgegeben ist, visualisieren; das qualitative Moment – das heißt in Jüngers Diktion: die „merkbare, ja überraschende Art“ – des Lebenswandels entlang der tellurischen Lebensgrundlage jedoch, ist der Taktgeber der Zeit. Hölder rechtfertigt seine Anstrengungen mit der Beobachtung, dass „[u]nsere phylogenetischen Darstellungen von Stammbäumen, Stammsträuchern, Stammbüschen, die der Entfaltung des Systems in der Zeit gelten“, auf die „ökologische Seite des Geschehens meistens keinen Bezug nehmen.“144 Dabei stehe doch fest: Der Schritt an Land und der noch seltener erreichte Aufschwung in den freien Luftraum sowie die überraschende Rückkehr ziemlich zahlreicher Entwicklungszweige aus der Luft zu ausschließlichem Bodenleben und vom Land ins Süß- oder Meerwasser gehört zu den fesselndsten Kapiteln der Lebensgeschichte.145

Auch wenn Hölder gegenüber Jüngers geologischer Imprägnierung der Lebensgeschichte sicherlich skeptisch eingestellt ist – von dessen daraus abgeleiteter Katastrophen-Diagnose ganz zu schweigen –, so zeigt sich doch hier recht deutlich, wie eine qualitativ akzentuierte phylogenetische Zeitordnung aussehen kann: Die Entwicklung des Lebens wird am Leitfaden jener Elemente entwickelt, die seine Grundlage bilden. Jünger imaginiert später den Sprung, den das Leben vom Wasser ans Land macht, im Anblick eines Mangrovenwaldes im liberischen Grand Cape Mount County – gut katastrophentheoretisch – als „Revolution“.146 In der kosmologischen Perspektive Jüngers 142 SW 8, S. 582. 143 Ebd. 144 Hölder, Ein Schaubild der Stammesgeschichte, S. 155. 145 Ebd. 146 Der Eintrag vom 12. 03. 1979 in Strahlungen IV (Siebzig verweht II) lautet: „Eine große Revolution in der Geschichte des Lebens: die erste Landnahme. Eine amphibische Welt – amphibisch auch die Mangroven, die mit ihren bleichen Stelzen aus dem Schlamm ragen. Bei solchen Übergängen gibt es, wie bei den Dämmerungen, eine zwielichtige Phase – so den Schlamm zwischen Meer und Festland, eine innere Atmung zwischen den Kiemen und der Lunge, den Knorpel zwischen dem Gewebe und dem Knochengerüst.“ SW 5, S. 455.

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zeigt sich jedoch der biotopische Wandel freilich nicht als (evolutions-)biologischer Fortschritt oder überhaupt als ‚organische‘ Veränderung: „Die Materie beginnt zu träumen; dem folgt die Auferstehung, die neue Geburt.“147 Oder anders, mit den Worten des Thales aus Goethes Faust II (2. Akt, „Felsbuchten des Ägischen Meeres“) formuliert: „‚Alles ist aus dem Wasser entsprungen! / Alles wird durch das Wasser erhalten! / Ozean, gönn uns dein ewiges Walten!‘“148 Werden durch den Vorrang qualitativer phylogenetischer Veränderungen einerseits besondere Zäsuren geschaffen, so fallen andererseits in erdgeschichtlicher Perspektive Wandlungsprozesse nicht ins Gewicht, deren Auswirkungen von menschheitsgeschichtlicher Warte aus betrachtet kaum überschätzt werden könnten.149 In phylogenetischer Hinsicht lässt sich eine weitere diskursive Anleihe Jüngers bei dem paläontologischen Argumentationsreservoir ausmachen. Genauer gesagt geht es hier um die paläoanthropologischen Arbeiten Gerhard Heberers, über die Jünger mit dem Wissenschaftler auch intensiv brieflich diskutiert. Wir hatten ja bereits Jüngers Rezeption der Theorie der additiven Typogenese Heberers besprochen.150 An dieser Stelle geht es nun um den Hominisationsforscher Heberer. Dieser widmet sich seit den späten 1920er-Jahren in einer Vielzahl von Publikationen der Frage der Menschwerdung, wobei er von der Warte der damals noch jungen Genetik aus fossilienorientiert argumentiert.151 Einen ersten Aufsatz sendet er Jünger 1956, der sich Fortschritt und Richtung in der phylogenetischen Entwicklung widmet;152 weitere Aufsätze und Bücher folgen.153 Jünger bezeichnet Heberer als „unsere Kapazität auf dem 147 Ebd. 148 Ebd. 149 In einem Eintrag vom 25. 11. 1977 in Strahlungen IV (Siebzig verweht II) lässt sich die in erd- und weltgeschichtlicher Perspektive unterschiedliche Gewichtung markanter phylogenetischer Umbrüche nachweisen: „Wenn man sich auf die Entwicklungstheorie und ihre Inflation von Jahrmillionen einließe, könnte man daraus mancherlei Schlüsse ziehen. Nehmen wir an, eine Katastrophe würde die landbewohnenden Wirbeltiere einschließlich der Amphibien vernichten, so wäre das ein Abstrich, eine Kappung des Stammbaums, sagen wir: um dreihundert Millionen Jahre, bis zum Karbon – – – weltgeschichtlich nicht eine, sondern die Katastrophe, naturgeschichtlich eine Korrektur.“ SW 5, S. 355. 150 Vgl. Kap. 1.4.3. 151 Vgl. zu Heberers paläoanthropologischem Forschungsprofil Hoßfeld, Gerhard Heberer, S. 124–146. 152 Gerhard Heberer: Fortschritt und Richtung in der phylogenetischen Entwicklung, in: Studium Generale 9 (1956), S. 180–192 (DLA-Sign.: WJB09.07/42). 153 Es handelt sich dabei u.  a. um folgende Publikationen: Gerhard Heberer/Gottfried Kurth/Ilse Schwidetzky-Roesing (Hrsg.): Anthropologie, Frankfurt/M. 1959d (DLA-Sign.: WJB05.08/23); Gerhard Heberer: Charles Darwin. Sein Leben und sein Werk, Stuttgart 1959c (DLA-Sign.: WJB09.05/23); Ders.: Die Abstammung des Menschen, Sonderdruck aus: Handbuch der Biologie, Bd. 9, Konstanz 1961, S. 246–328 (DLA-Sign.: WJB05.08/47); Ders.: Von der Abstammung des Menschen, in: Naturwissenschaft und Medizin 2 (1965), S. 35–49 (DLA-Sign.: WJB09.06/26); Ders.: Homo – Unsere Ab- und Zukunft. Herkunft



7.4  Geborgte Maßstäbe

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Gebiete der Hominisation“ und sieht in dessen Begründung der „‚etwa seit dem Mesolithikum‘“ vonstattengehenden „‚Veränderung in der Kausalität der Phylogenie der Hominiden‘“ durch den Eingriff des Menschen in seine eigene Evolution eine „treffende Beobachtung an der Grenze paläontologischer, anthropologischer und historischer Disziplinen, die zu einer neuen Wissenschaft einschmelzen.“154 Der sonst so nüchterne, meist recht sachlich zwischen zoologischem und stratigraphisch-paläontologischem Register vermittelnde Heberer schlägt am Ende seiner Betrachtungen über Fortschritt und Richtung in der phylogenetischen Entwicklung einen anderen Ton an, wenn er die „heutige Menschheit […] vor einem erregenden Experiment“ stehen sieht: Wird dieser unbegrenztfortschrittliche Hominidenzweig, der er seit seiner Erreichung und Durchstoßung des Tier-Mensch-Übergangsfeldes erfolgreich in seinen Adaptionen war, es auch bleiben, nachdem ihm mit seiner „Sapiens“-Struktur gegeben ist, in seine Evolution nun einen neuen Faktor, der diesmal steuernd und zielstrebig wirkt, einzufügen?155

Das Problem der Evolutionsverantwortlichkeit des Menschen, auf das Jünger hier bei Heberer stößt, beschäftigt ihn bis in die 1990er-Jahre hinein. Noch in seinem letzten großen Gespräch mit Antonio Gnoli und Franco Volpi 1995 fragt Jünger: „Können wir den Menschen, diese souveräne Erscheinung in der Geschichte des Universums, als für seine Evolution verantwortlich anund Entwicklung des Menschen aus der Sicht der aktuellen Anthropologie, Stuttgart 1968 (DLA-Sign.: WJB09.07/51). 154 SW 8, S. 590  f. Jünger zitiert Heberer hier nach dessen Beitrag L’hominisation: sélection, adaptation ou orthogenèse von 1958. Der Beitrag Heberers geht auf dessen Teilnahme an der Tagung Les processus des l’hominisation im Mai 1958 am Institut de Paléontologie humaine in Paris zurück und findet sich in Jüngers Besitz in zwei Exemplaren (unter den DLA-Sign.: WJB09.05/24 und – mit handschriftlicher Widmung – MJB:Kps.Bestand:G:Jünger, Ernst). Bei Heberer heißt es: „[…] une modification dans la causalité de la phylogénie des hominidés se dessine lentement depuis la fin du Mésolitique environ. L’homme devient conscient de sa faculté de décision et de ses aspirations spirituelles en tant que facteurs déterminants, caractérisant son évolution actuelle.“ Gerhard Heberer: L’hominisation: sélection, adaptation ou orthogenèse, in: Les processus de l’hominisation. Colloques internationaux du centre national de la recherche scientifique 510 (1958), S. 179–191, hier: S. 189. Die von Gerhard Stebner als Bezugsquellen Jüngers ins Spiel gebrachten anderen Schriften Heberers können teilweise ausgeschlossen, teilweise als kaum einflussreich ausgewiesen werden. Hundert Jahre Evolutionsgeschichte erschien 1960 – also nach der Veröffentlichung von An der Zeitmauer. Das mehrbändige Die Evolution der Organismen, dem Stebner eine nicht nachweisbare Auflage aus dem Jahr 1985 zuschreibt, könnte in Form der Erstauflage von 1943 zwar eine gewisse Rolle gespielt haben, ein Exemplar dieses Werkes lässt sich jedoch – im Gegensatz zu Heberers Kolloquiums-Beitrag von 1958 – in Jüngers Bibliothek nicht nachweisen. Vgl. Gerhard Stebner: Die kosmozentrische Perspektive im Werk Ernst Jüngers, in: Thomas Arzt/Roland Dollinger/Maria HippiusGräfin Dürckheim (Hrsg.): Philosophia Naturalis. Beiträge zu einer zeitgemäßen Naturphilosophie, Würzburg 1996, S. 151–202, hier: S. 190, S. 202. 155 Heberer, Fortschritt und Richtung in der phylogenetischen Entwicklung, S. 192.

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sehen?“156 Der Ausgangspunkt dieser Frage ist im Austausch mit der Paläoanthropologie zu sehen, den Jünger verstärkt seit den 1950er-Jahren sucht. Im Gespräch mit Heberer geht es immer wieder um die Frage, ab welchem Zeitpunkt man sinnvoll von dem Menschen sprechen könne. Die Diskussion um Oreopithecus bambolii etwa, den Fachwelt und Boulevard gleichermaßen faszinierenden „‚Toskana-Menschen aus einem Kohlenbergwerk in der Toskana bei Grosseto“, nutzt Heberer dazu, Jünger eine Art epistolares Privatissimum zu gewähren, in dem er seine Konzeption eines „Tier-Mensch-Übergangsfeldes“157 an einem populären Fund erläutern kann.158 Im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit wie auch der paläoanthroplogischen Expertise steht dabei die Frage, ob Oreopithecus bambolii schon ein ‚richtiger‘ Mensch sei, dessen Entwicklungsgeschichte man in evolutionsbiologischer Hinsicht als abgeschlossen einzustufen habe. Die ausgiebig mit Heberer diskutierte Frage nach dem Prozess der Hominisation ist deshalb so entscheidend, da das Verständigwerden des homo zugleich den Zeitpunkt eines potenziellen Eingriffs des Menschen in seine evolutionäre Determination markiert. Wenn Jünger in dieser Entwicklung die Bedingungen für die Konstitution einer neuen Wissenschaft ausmacht, 156 Jünger/Gnoli/Volpi, Die kommenden Titanen, S. 20. 157 Heberer an Jünger (28. 11. 1956), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Vorhergehendes Zitat gleichfalls. 158 „Wir können die menschliche Stammesgeschichte sehr schematisch einteilen in 1. eine subhumane Phase, 2. eine humane Phase, dazwischen liegt eine Übergangsphase, die ich gern das ‚Tier-Mensch-Übergangsfeld‘ nenne. In der subhumanen Phase haben wir zoologisch Hominidae, die aber noch nicht euhominin sind, also psychisch noch auf einem tierischen Niveau sich befinden. In der humanen Phase ist dann das ‚humane‘ Niveau erreicht, die Hominiden sind ‚Menschen‘ im üblichen Sinne des Wortes geworden. Oreopithecus hat nun morphologisch eine Fülle von Merkmalen, die auch bei den Hominiden vorkommen. Es ist schwer denkbar, dass dieses Merkmalskombinat etwa unabhängig von der phyletischen Hominidenlinie in einem anderen Primatenstamm nocheinmal erreicht worden ist. Darum stellen wir Oreopithecus zu den Hominiden, in die subhumane Phase natürlich. Es ist keine Rede davon, dass zu dieser frühen geologischen Zeit (Pontien, Grenze von Miozän zu Pliozän, absolut zeitlich vor etwa vor 10 Millionen Jahren) bereits ‚Menschen‘ der humanen Phase vorhanden gewesen sind. Wenn wir also eine Form aus dieser Zeit als hominid bezeichnen, dann heisst das, dass es sich um einen Angehörigen der historischen Menschenlinie handelt. Die Presse machte daraus, dass bereits vor 10 Mill. Jahren echte ‚humane‘ Menschen gelebt hätten und dass damit – die übliche Begriffsverwirrung! – der ‚Darwinismus‘ widerlegt worden sei.“ Ebd. Vgl. auch Heberer an Jünger (26. 01. 1959), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach; Heberer hält Jünger hier über die Erforschung von Oreopithecus bambolii auf dem Laufenden. In Jüngers Miszellen-Sammlung lassen sich weitere Stellungnahmen Heberers zu Oreopithecus bambolii aus dem gleichen Zeitraum nachweisen. Vgl. Gerhard Heberer: The Descent of Man in Fossil Record, in: Cold Spring Harbor Symposia on Quantitative Biology XXIV (1959a), S. 235–244, hier: S. 238  f., DLA Marbach, Bestand „H:Jünger, Ernst“, Miszellen-Sammlung, Kasten 14, Mappe 6; Ders.: Charles Robert Darwin, in: Die Naturwissenschaften 8 (1959b), S. 241–248, hier: S. 247, DLA Marbach, Bestand „H:Jünger, Ernst“, Miszellen-Sammlung, Kasten 14, Mappe 8.



7.4  Geborgte Maßstäbe

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so ist es weniger der anthropogenetische Blick in die Menschheitsgeschichte, zurück ins Mesolithikum, der erkenntnisleitend wirkt; zentral sind vielmehr die zu bewältigenden Herausforderungen. Der „Prozeß der Hominisation“, so Jünger, sei noch nicht beendet, „sondern gerade jetzt in eine Krisis eingetreten, in der Geschichte und Naturgeschichte, Welt- und Erdhistorie, Freiheit und Determination in Kollision kommen.“159 Musste Jünger die diagnostizierten Veränderungen bisher als Extrapolationen paläontologischer Wissensbestände beglaubigen, indem er die Qualität stattgehabter geologischer Umbrüche für Gegenwart und Zukunft reklamierte, so ist es nun die disziplinäre Paläoanthropologie, die nicht nur zurück, sondern auch nach vorn schaut und fragt: Bleibt der Mensch in der uns bekannten Form auch unter den Bedingungen der Selbstbeeinflussung seiner evolutionären Matrix bestehen? Bereits Heberer also ist es, der die Relevanz von anthropologischen Veränderungspotenzialen aus der Analyse der Vergangenheit heraus in die Bestimmung der Gegenwart und Zukunft überträgt. Von da aus ist es nur ein kleiner Schritt, das phylogenetische Korsett aus seiner (paläo-)biologischen Ummantelung zu lösen und gänzlich einem gegenwartsanalytischen, prognostischen Kontext zu unterstellen. Brieflich teilt Jünger Heberer mit: Für mich ist die Evolution ein unmittelbarer Akt der Erdgeschichte, die Entwicklung der geologischen Schichten, des Bios, des vorgeschichtlichen und geschichtlichen Menschen sind davon abhängig. Die Wende, die wir erleben, […] besteht darin, daß wir aus der Geschichte heraustreten. Daher verlieren auch die bislang eindeutigen Worte wie Grenze oder Krieg und Frieden ihren Sinn […]. 160

Jünger ist sich freilich völlig im Klaren darüber, dass er diesen Schritt hin zur Erdgeschichte ohne Heberer gehen muss, denn dessen Hauptverdienst besteht nicht zuletzt darin, Darwins Vererbungslehre – etwa in seiner mehrfach aufgelegten Abhandlung Die Evolution der Organismen (1943  ff.) – konsequent auf paläobiologische Fragestellungen angewandt zu haben.161 Mit

159 SW 8, S. 591. 160 Jünger an Heberer (16. 04. 1965), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Ähnlich heißt es dann in einem Eintrag vom August 1965 in Strahlungen III (Siebzig verweht I): „Die menschlichen Kulturen sind zwar auf der Oberfläche autonom; sie reichen aber tief in den Bios und in den Kosmos hinein.“ SW 4, S. 127. Bereits einige Monate zuvor schreibt Jünger an Otto Klages: „Unsere Epoche wird nur ein dünnes Häutchen auf der Erde bilden, und alles, was wir anrichten können, ist gegenüber den kosmischen Schmiedefeuern ein Kinderspiel. Dennoch erleben wir eine bedeutende Wende – nicht etwa, weil wir dank unserer Intelligenz gewaltige Macht entfalten, sondern weil außer- und transhistorische Mächte in das Geschehen eingreifen. Daß sie bestimmen, hat man immer gewußt – und daß man es nicht mehr weiß, gehört zur Lage, in der sie über alle Erfahrung hinaus aktiv werden.“ Jünger an Klages (01. 12. 1964), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. 161 Vgl. dazu Hoßfeld, Gerhard Heberer, S. 135–140.

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anderen Worten: Heberers Darwin steht Jüngers Erdgeschichte im Wege: „Im erdgeschichtlichen Abschnitt, den unsere Entwicklung zur Zeit erreicht hat, können wir mit Darwins Theorie nicht auskommen  […]“.162 Mit der Entbindung des phylogenetischen Ortes des Menschen von einer entwicklungsbiologischen Fundierung vergrößern sich auch die Reibungsflächen – und darum geht es Jünger. Die Naturgeschichte beendet die Geschichte. Erdgeschichtsschreibung tritt sowohl an die Stelle der älteren Universalgeschichtsschreibung, deren Universalität sich als zu begrenzt erwiesen hat, als auch an die Stelle einer biologisch begrenzten Paläoanthropologie. Und was den Anthropozentrismus des humanistischen Freiheitsbegriffs (der in der Feder Jüngers freilich den negativen Beigeschmack seiner Abkunft aus dem demokratischen Liberalismus keineswegs verhehlt) angeht: Dieser wird von der Determinationskraft planetarisch-kosmischer Veränderungslogik geschluckt.

7.5  Mit Cuvier gegen Darwin Seit Mitte der 1960 Jahre – vor allen Dingen ab Strahlungen IV – behandelt Jünger die prognostizierten Erdveränderungen im Duktus einer mythologischen Erzählung. Er spricht von der Erde als „Gäa“, die sich des Menschen – wahlweise als Prometheus oder Antaios imaginiert – lediglich bediene, um ihre Ziele verfolgen zu können.163 Die Dezentrierung des Subjektes korrespondiert hier mit einer Personifizierung des tellurischen Prinzips, wie sie in unterschiedlichen mythischen Gewändern des Chthonismus Tradition hat. Der Mensch ist der chthonischen Verfügungsgewalt praktisch schutzlos ausgeliefert: „Die alte Gäa hält es wie ihr Tier, die Schlange: sie ernährt uns lebenslänglich; einmal beißt sie zu.“164 So richtig es ist, wie Thomas Pekar meint, dass Jünger eine „von der Gäa bestimmte Redeweise (‚Mythos‘) als Reflexionsebene“ einrichte, „um von dieser Ebene her die total technisch gewordene, globalisierte Welt […] beurteilen zu können“165, so bleibt doch die behauptete qualitative Dimension der Veränderungen an den geologischpaläontologischen Diskurs gebunden. Deutlich zeigt sich dies an Jüngers wandlungstheoretischem Kronzeugen, Georges Cuvier. Dieser wird – erstmals in An der Zeitmauer und dann bis in die 1990er-Jahre hinein – als Antipode zu Darwin aufgebaut. 162 So Jünger noch in den 1980er-Jahren in einem Eintrag in Strahlungen V (Siebzig verweht III). SW 20, S. 434. 163 Zur „Gäa“ s. SW 4, S. 10; SW 5, S. 231, S. 409; SW 20, S. 573; SW 21, S. 57, S. 63, S. 108. 164 SW 5, S. 231. 165 Pekar, Vom nationalen zum planetarischen Denken, S. 196.



7.5  Mit Cuvier gegen Darwin

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Bevor wir einen genaueren Blick auf Jüngers Entgegensetzung von Cuvier und Darwin werfen und die ambivalente Rolle diskutieren, die Ernst Haeckel innerhalb dieser Polarisierung spielt, ist es zunächst hilfreich, sich die Aufnahme der Katastrophentheorie in Teilen der paläontologischen Forschung, genauer gesagt: in der idealistischen Morphologie um 1930 zu vergegenwärtigen. Denn hier findet jene Rehabilitation Cuviers statt, an die Jünger anknüpfen wird. Die wissensgeschichtlichen Eckpunkte des CuvierBezuges sind schnell skizziert. Darwins Theorie der Veränderung der Arten wird mit dem auf Charles Lyell (1797–1875) zurückgehenden aktualistischen Prinzip kurzgeschlossen, nach dem die großen geologischen Veränderungen der Erde auf kleinteilige, auch heute noch nachweisbare Wandlungsprozesse rückgeführt werden. Verbunden ist dies mit einer Kritik am Wissenschaftsverständnis des 19. Jahrhunderts. Bei Edgar Dacqué etwa heißt es: Wir sind in der Erdgeschichtsforschung mit dem alten Lyellschen System der endlosen Summierung kleinster Vorgänge zu großen planetarischen Wirkungen […] viel zu viel in eine behäbige Auffassung des erdgeschichtlichen Ablaufes gedrängt worden. Ebenso wie Ch. Darwins Häufung kleinster nützlicher Varietäten zur Umgestaltung des Artcharakters lebender Wesen führen sollte, so atmet auch die Lyellsche erdgeschichtliche Lehre den gesättigten, katastrophenfeindlichen Zeitgeist des bürgerlichen 19. Jahrhunderts. Diese Denkweise in Wissenschaft und Leben hat die tieferen Werte, welche in der alten elementaren Katastrophenlehre Cuviers lebten, ganz in den Hintergrund gedrängt.166

Dass Dacqué jedem Erdzeitalter eine bestimmte morphologische Signatur zuordnen kann, die die Gesamtheit der Lebewesen eines Zeitraums prägt, beruht auf der Annahme, signifikante Brüche würden Entwicklungszyklen schroff voneinander trennen. Wir haben auf den möglichen Einfluss der Zeitsignaturenlehre Dacqués auf die Gestalt-Konzeption des Arbeiters hingewiesen.167 Im Kern ging es dabei um eine Übertragung der erdgeschichtlichen Signifikanz bestimmter Lebewesen-Formen auf die morphologische Analyse der Gegenwartsepoche, die im Zeichen des allumfassenden, sich auch formal realisierenden Prinzips Arbeit konstituiert wird. Spuren des paläontologischen Formalismus gehen in An der Zeitmauer ein; so deutet Jünger das „Auftreten neuer Arten“ ganz in der Tradition Dacqués: Diese würden

166 Dacqué, Urwelt, Sage und Menschheit, S. 218; vgl. auch Dacqué, Aus der Urgeschichte der Erde und des Lebens, S. 9  f., der an dieser Stelle zwar auch das aktualistische Prinzip ablehnt, jedoch vor einer „Katastrophenlehre“ warnt, die glauben machen möchte, „es müßten von Epoche zu Epoche in einem recht äußerlichen Sinn über unsere Erdkugel immer wieder große mechanische Katastrophen hereingebrochen sein und von Zeit zu Zeit das Erdantlitz von Grund aus verändert haben, mitsamt dem Leben.“ 167 Vgl. Kap. 3.2.1.

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7  Im Zeichen des Antaios

„einen neuen Erdstil kennzeichnen“168. Neue Erdstile setzen jedoch das konsequente Verschwinden älterer voraus, und an dieser Stelle kommt Cuvier ins Spiel. Seine Katastrophentheorie sorgt dafür, dass neue Lebensformen mit grundstürzend neuen Stilen assoziiert werden können. Deutlich wird diese Argumentationsfigur, wenn man sie durch die Brille ihrer Kritiker betrachtet. Bei einem der schärfsten Kritiker der Zeitsignaturenlehre, Gerhard Heberer, etwa heißt es distanziert im Konjunktiv: Die Arttypen entstünden  […] sukzessive und unabhängig, zusammenhängende Biontenreihen gebe es demnach nicht, sondern mehrere Weltfloren und Weltfaunen von ausgeprägtem Sondertypus seien nacheinander erschienen und in Übereinstimmung mit dem Wechsel geologisch-revolutionärer Perioden wieder verschwunden. CUVIER redivivus!169

Während Heberer den wiedererstandenen Cuvier zur Diskreditierung eines ganzen Zweiges stammesgeschichtlicher Theoriebildung nutzt, die glaubt, ohne Darwin und moderne Genetik auskommen zu können, so firmiert Cuvier bei Jünger als Chiffre für das geobiologische Revolutionspotenzial der Erde.170 „Wo neue Spezies entstehen“, schreibt Jünger, gilt das Prinzip der „Urzeugung“; „Rückgriffe auf die ungesonderte Substanz und ihre unerschöpflichen Reserven“ bürgen dafür, dass es sich bei dieser Art von Zeugung um einen rein organisch nicht erklärbaren Vorgang handelt: Die „Potenz“ der „Urzeugung“ „kann nicht im Leben selbst verborgen sein“171. Geologische Totalveränderungen stehen demnach für eine creatio ex nihilo ein, die nicht in evolutiv-genealogischen Reihen entworfen werden kann, sondern der Zeugungsgewalt kosmischer Rhythmik unterstellt ist.172 Es ist denn auch Dacqué, der von der naturphilosophisch orientierten Paläontologie um 1940 als Hauptgegner der Abstammungslehre angeführt wird – z.  B. von dem mit Jünger bekannten Helmut Hölder.173 In Grenzfragen naturwissenschaftlicher Forschung (1941) deutet dieser Dacqués Typenbildungen als Schöpfungsakte, die Jüngers urzeugungsartigen Spezien-Entstehungen nahestehen. In der „lebendigen Gestalt“, so Hölder, sieht Dacqué „die Verkörperung einer Idee“: 168 SW 8, S. 585. In Der Weltstaat (1960) spricht Jünger gleichfalls vom „Erdstil[.  .]“. „Dafür, daß unsere alte Erde wieder einmal ihr Kleid verändern will, wie das schon oft geschehen ist, gibt es mannigfaltige Anzeichen.“ SW 7, S. 495  f. 169 Heberer, Theorie der additiven Typogenese, S. 864  f. 170 Vgl. zu Jüngers Auseinandersetzung mit Heberers Theorie der additiven Typogenese Kap. 1.4.3. 171 SW 8, S. 589. Vorhergehende Zitate gleichfalls. 172 Auch in dieser Hinsicht argumentiert Jünger in der Tradition Dacqués. Bei ihm heißt es: „Welche neue Perspektive eröffnet es für die Forschung, wenn wir nach und nach unser Augenmerk auch auf die Rhythmen der außerorganischen Natur richten und vielleicht nicht nur ihren äußeren, sondern auch inneren Zusammenhang mit denen [sic!] der belebten Natur allmählich erkennen lernen.“ Dacqué, Aus der Urgeschichte der Erde und des Lebens, S. 8. 173 Vgl. zur Konstellation Dacqué – Hölder – Jünger ausführlich Kap. 1.4.1 und 1.4.2.



7.5  Mit Cuvier gegen Darwin

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Die Individuen verkörpern die Formidee ihrer Art, die wiederum der Gattungsund Stammesidee untergeordnet ist. Aus dieser inneren Urform lassen sich die Einzelgestalten in der Anschauung ‚ableiten‘. […] An Stelle der unbegrenzten Formumwandlung, die im Laufe der Zeiten zu völliger Umprägung führt, und durch die sich aus einer Urzelle das ganze unendliche Reich des Lebens als großer Stammbaum entwickelt haben soll, setzt Dacqué feste und unwandelbare Typen, die sich parallel und unabhängig voneinander durch die Erdgeschichte verfolgen lassen. Sie sind durch einen Schöpfungsakt geschaffen und verkörpern sich in der lebendigen Welt als innere Ideen, die nicht ineinander übergehen können.174

Hölder präsentiert Dacqué als Forscher in der naturphilosophischen Tradition Goethes, der Empirie und Idee in einer höheren Synthese verbunden habe,175 wir haben dies herausgearbeitet.176 Entscheidend ist an dieser Stelle: Der „Schöpfungsakt“ Dacqués ist Jüngers „Urzeugung“. Hölders Ablehnung der „Urzelle“ gilt Haeckels Protozoon, das in Jüngers Der Kampf als inneres Erlebnis noch den (paläo-)biologischen Bezugsort der Regressionsphantasien abgab.177 Mit der Verschiebung vom vitalistischen zum kosmozentrischen Denken reicht es nun nicht mehr aus, mit Haeckel nach der Entstehung des organischen Lebens zu suchen. Jünger könnte diesen Wandel problemlos als Umorientierung, die sich in den eigenen Arbeiten zeigt – etwa: vom energiegeladenen Urkeim zur geprägten Urform –, nachzeichnen. Doch Belege für einen solchen Blick auf das eigene Werk sucht man vergebens. Stattdessen verlegt Jünger die veränderte Fragerichtung, die seinen Problemhorizont strukturiert, retrospektiv in die naturphilosophische Reflexion hinein: „Für Haeckel muß es einen Augenblick gegeben haben, in dem er erkannte, daß er noch weiter zurückgreifen müßte als auf die Protozoen.“178 Dies ist natürlich nicht in erster Linie wissensgeschichtlich signifikant; die Beobachtung gilt vielmehr für Jünger selbst: Er ist es, der erkannte, dass jenes Protozoon, das für die aggressive Vitalität in Der Kampf als inneres Erlebnis herhalten musste, in die Tiefenzeit einer anorganischen Vergangenheit zu überschreiten sei, um tatsächlich eine kosmische Perspektive einnehmen zu können. Die Katastrophentheorie spielt bei diesem Haeckel zugeschriebenen (aber tatsäch174 Hölder, Grenzfragen naturwissenschaftlicher Forschung, S. 34. 175 Dacqué stellt sich mit dem Aufsatz Goethes Wesen und das Urbild im Dasein (1933) selbst in diese Tradition. Hölder bezieht sich allerdings nicht auf diesen Text. Im Mittelpunkt seiner Analyse stehen Dacqués Urwelt, Sage und Menschheit (1924), Natur und Seele (1926), Leben als Symbol (1928) sowie Organische Morphologie und Paläontologie (1935). 176 Vgl. Kap. 1.4.2. 177 „Aufgebaut aus unzähligen Bausteinen ist […] der Einzelne. Die endlose Kette der Ahnen schleift ihm am Boden nach; er ist gefesselt und gesponnen mit tausend Bändern und unsichtbaren Fäden an das Wurzelgeflecht des Urwaldsumpfes, dessen gärende Wärme seinen Urkeim gebrütet.“ SW 7, S. 15. Vgl. ausführlich zu Jüngers Haeckel-Bezug Kap. 2.1.1. 178 Dieser Eintrag vom 22. 02. 1987 findet sich in Strahlungen VI (Siebzig verweht IV). SW 21, S. 142.

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lich Jünger meinenden) Rückgriff eine wichtige Rolle. Sie avanciert nämlich zum bevorzugten geologisch-paläontologischen Bezugsdiskurs, um die stiltypologische Prägequalität der Urzeugungskraft gegenüber evolutiv-phylogenetischen, organisch begrenzten Veränderungen behaupten zu können. Es ist demnach nur folgerichtig, wenn Jünger zu Beginn der 1970erJahre „die derzeitige Krise weniger als humane denn als geologische Umwälzung“ deutet: „Da sie mehr als den Bios betrifft, kommt man mit Darwin (progressive Replik auf eine Fehlleistung) nicht aus. Eher schon Cuvier: Beginn eines neuen Weltalters.“179 Diese polaren Rollen Cuviers und Darwins kündigten sich bereits Mitte der 1950er-Jahre an: Beide standen dort für eine unterschiedliche ökonomische Metaphorik bei der Erklärung des Artwandels.180 Die Abwertung Darwins und die Wertschätzung Cuviers bleiben in den Folgejahrzehnten stabil. Unter den Auspizien Cuviers werden die prognostizierten Veränderungen mal dem Sprung, den das Leben vom Wasser ans Land gemacht hat, gleichgestellt,181 mal innerhalb des mythopoetischen Wandels von Göttern zu Titanen verhandelt.182 Es ist in der Folgezeit immer mehr die personifizierte Erde als „Gäa“, die für die Richtigkeit von Cuviers Erdumbruchsannahmen einsteht183 – wobei Jünger noch seine späten Diagnosen der 1990er-Jahre in den Kontext der Zeitmauer-Diskussion der

179 Die Einschätzung Jüngers ist Teil des Eintrags vom 27. 05. 1971 in Strahlungen IV (Siebzig verweht II). SW 5, S. 45. 180 In einer später getilgten Passage in Am Sarazenenturm (1955) heißt es bei Jünger: „Entstehung der Arten, Zuchtwahl, struggle for life, Mimikry, wie sie uns gelehrt wurden, können ganz ernst genommen werden nur in einer Gesellschaft, in der das Ökonomische schon ziemlich unverhohlen vorwaltet. […] Aus dieser Ökonomie spricht große Dürftigkeit. Der kleine Vorteil, etwa beim Weibchen, in der Bewaffnung, in der Färbung kommt auf die Sparkasse, wird im Laufe von Jahrmillionen verzinst. Aber so arbeitet noch nicht einmal die Bank. Es gibt kein ökonomisches System, das nicht in einer gewissen Periodik falliert. Darauf, auf den Zusammenbrüchen, beruht unser Wirtschaften; sonst säßen wir in ewigen Schuldtürmen. […] Aus diesem Grund ist Cuviers Katastrophentheorie sinnvoller.“ Ernst Jünger: Am Sarazenenturm, Frankfurt/M. 1955, S. 136  f. 181 „Neu zu bedenken ist Cuviers Katastrophentheorie. Ich kehre aus Malaysia zurück, wo wir den vorigen Monat verbracht haben. Immer wieder fesselt mich das Leben in den Mangrovenwäldern; anschaulich wird dort der Übergang des Bios vom Ozean auf das feste Land, als eine der großen wenden der Evolution. Mir scheint, daß wir in einem vergleichbaren Wechsel begriffen sind: vor einer erdgeschichtlichen Stufe – dem Übergang in eine Feuerwelt.“ SW 20, S. 60. 182 „Mit dem Rückzug der Götter und der Heraufkunft der Titanen haben mein Bruder Friedrich Georg und ich uns schon früh beschäftigt, sowohl als Leidende wie als Beobachter. Eine Erdrevolution, wie Cuvier sie als Katastrophe bezeichnet, entzieht sich den historischen Mitteln und Maßstäben; die Dimensionen reichen über sie hinaus.“ Ebd., S. 211. 183 „Die Tatsache und das Verhängnis unserer Wende ist die Häutung der Gäa, der gegenüber die historischen Mittel und Theorien versagen – es geschieht, was die Erde will. Das zu wissen, ist schon gut. Cuvier ist aktueller als Darwin.“ SW 21, S. 293.



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1950er-Jahre rückt.184 Ausgestorbene, paläontologisch nachweisbare Lebensformen bürgen dabei für einen katastrophischen Realismus, dem der zeitgenössische Mensch – an Umweltverschmutzung und Artensterben genauso beteiligt wie übergeordneten kosmischen Entwicklungen fatalistisch entgegensehend – schutzlos ausgeliefert wird.185 Verbunden ist damit das Festhalten, ja die Exhibition eines Begriffes, den man problemlos dem Denken Dacqués und seiner Zeitsignaturenlehre wie auch Hölders paläontologischem Goetheianismus an sich zuordnen könnte: Gestaltwandel. Unter diesem Titel stellt Jünger 1993 [e]ine Prognose auf das 21. Jahrhundert vor. Inhaltlich geht es freilich eher zurück in die Zukunft. Die Rolle, die Antaios von den 1950erbis in die 1970er-Jahre gespielt hat, wird nun durch die Titanen ergänzt. Als würdige Söhne der Erde stehen sie in formtypologischer Hinsicht für deren geistige Prägekraft ein oder verkörpern im Prinzip des „Titanischen“ eine neue Art des alten, für Saurier kennzeichnenden Riesenwachstums. In Der Weltstaat heißt es: Bei Umwälzungen, die mit hohen Temperaturen und einer geschwängerten Atmosphäre einhergehen, erwartet man Riesenwuchs, wie in den gärenden Sümpfen der Steinkohlen- oder in den vulkanischen Becken der Saurierzeit. Heut sind solche Geschöpfe bis auf wenige, auch bedrohte, Zeugen eingezogen; ihre Spuren sind in den Archiven der Erdrinde verwahrt. Doch in den Staaten, in ihren Städten, Bauten, Anlagen und Waffen wird nun Titanisches erzeugt.186

In gleichem Maße, in dem vorausgehende Erdrevolutionen einen Gestaltwandel hinsichtlich der Flora und Fauna herbeigeführt haben, der eine morphologische Zeitsignatur von einer anderen trennt, so grenzt sich das heraufziehende 21.  Jahrhundert von seiner Vorgängerepoche ab. Zwar herrsche noch eine gewisse Übergangszeit, in der die zu erwartenden Gestalten noch keine endgültige Kontur gewonnen hätten, doch dringt der scharfgestellte 184 So heißt es etwa in einem Eintrag vom 01. 01. 1993: „1959: ‚Die Zeitmauer‘. Wir befinden uns nicht nur am Ende einer Welt-, sondern im Beginn einer Erdrevolution im Sinne von Cuviers Katastrophentheorie. Die Mittel der klassischen Physik, Politik und Moral sind unzureichend geworden; notwendig ist, zu wissen, ‚was die Erde will‘.“ SW 22, S. 105; vgl. auch S. 116. 185 In Die Schere (1990), einer der letzten Arbeiten Jüngers, die sich nicht dem Tagebuchwerk zuordnen lässt, heißt es: „Oft […] sind Pflanzen und Tiere ausgestorben – nicht nur in Arten, sondern sogar in Formationen, ohne daß man die Ursache kennt. Den heutigen Menschen beunruhigt eher seine Mitwirkung an den Verlusten und deren zeitliche Nähe als ihr Umfang – so bekümmert ihn mehr die etwa um 1600 auf Mauritius ausgerottete Dronte, als das Mammut, das einer Klimaschwankung zum Opfer gefallen zu sein scheint. Der Untergang der Saurier, mit dem ein Zeitalter abschloß, berührt ihn schemenhaft wie eine Sage, und ebenso wenig vermißt er die Urwälder des Karbon […]. Die Vermutung, in ein geologisches Schicksal verwickelt zu sein, entbindet weder den Einzelnen noch die Gesellschaft von der Verantwortung.“ SW 19, S. 574. 186 SW 7, S. 521.

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Blick Jüngers bereits zu den Grundmustern durch. „Wird das Interim als unverhüllte, also auch gestalthafte Herrschaft der Titanen betrachtet, so muß mit ihm vor allem eine Veränderung der Erde verknüpft sein, wie sie sich bereits, und nicht zuletzt durch Katastrophen, ankündet.“187 Fehlen darf hier natürlich nicht die Frage, „ob wir nicht am Ende schon außerhalb der Geschichte stehen. Viele Anzeichen sprechen dafür, daß eine Erdrevolution die Weltrevolution umschließt und bestimmt.“188 Und fehlen darf gleichfalls nicht eine Theorie, die das ungeheure Ausmaß der diagnostizierten Veränderungen illustriert: „Cuviers System“189. Dass der prognostizierte Wandel tatsächlich „naturgeschichtlich im Sinne der Cuvierschen Katastrophentheorie“190 sei, wie es in einem der letzten dem französischen Paläontologen gewidmeten Tagebucheinträge in den Strahlungen VII (Siebzig verweht V) vom Februar 1993 heißt, dafür sorgt vor allen Dingen in den 1990er-Jahren Jüngers Bezug auf die eigene Lebenserfahrung. Das biographische Moment und das heißt in erster Linie: Jüngers biblisches Alter stellen sicher, dass der Autor die qualitativen Veränderungen naturgeschichtlichen Ausmaßes am eigenen Leib gleichsam durchlebt hat und dafür zeugen kann. So rückt Jünger sein Geburtsjahr (1895) in den Gesprächen mit Antonio Gnoli und Franco Volpi im Jahr 1995 in den Einzugsbereich der Entdeckung der Röntgenstrahlen, die er am Beginn der atomaren technischen Umbrüche des 20. Jahrhunderts sieht und ohne die seine Poetik der Strahlungen nicht vorstellbar wäre.191 Das 21. Jahrhundert vollendet dann die auf Jüngers Geburt datierten Veränderungen. Im neuen „Zeitalter der Titanen“, so die an die Unterteilung der Erdgeschichte innerhalb der geologischen Zeitskala angelehnte Bezeichnung, werde die „Freisetzung ungeheurer Energiemengen“ sichtbar. Es ist wiederum die biographisch aufgeladene „Atomenergie“192, der eine epochale Signifikanz zugesprochen wird. Im Ergebnis spricht Jünger seinem einhundertjährigen Erfahrungshorizont also strukturell, d.  h. epochenkonstitutiv jene Bedeutung zu, die die Einzelepoche der geologischen Zeitskala in Jahrmillionen fasst.

187 SW 19, S. 618. 188 Ebd. 189 Ebd. 190 SW 22, S. 116. 191 Vgl. Jünger/Gnoli/Volpi, Die kommenden Titanen, S. 17. 192 Ebd., S. 112  f. Vorhergehendes Zitat gleichfalls.

8  Kultur- und stammesgeschichtliche Verwerfungen im posthistoire: Eumeswil (1977) 8.1  „[F]ellachoide Versumpfung“ und Gestaltwandel der Erde In gattungstypologischer Hinsicht knüpft Jünger mit Eumeswil an den Heliopolis-Roman an; auch inhaltlich sind die Parallelen auf den ersten Blick unübersehbar: Das betrifft nicht nur die Situierung des Geschehens in einer vergangenen Zukunft1, sondern auch die pädagogische Konstellation, in die der Held zu seinen erkenntnistheoretischen und -praktischen Lehrern gesetzt ist. Zwei wesentliche Unterschiede fallen jedoch ins Gewicht. Zum einen gewinnen die diskursiven, aphoristischen und betrachtenden Passagen die Oberhand, so dass eine eigentliche histoire im mäandrierenden discours kaum erkennbar ist. Zum anderen wandelt sich der utopische Grundcharakter von Heliopolis unverkennbar ins „Resignative“2; im Ergebnis ist Eumeswil eine veritable Dystopie. Die dystopischen Züge des Romans interessieren uns besonders, zeigt sich doch hier eine Fiktionalisierung der von Jünger in An der Zeitmauer entworfenen Duplizität von posthistoire (im Rahmen der ‚humanen Einteilungen‘) und Erdgeschichte (im Rahmen der ‚siderischen Einteilungen‘). Im Mittelpunkt der Handlung steht Manuel Venator. Als Nachtstewart in einem Lokal, das die politische und intellektuelle Eilte der Stadt Eumeswil frequentiert, ist er bestens über den machthabenden Tyrannen Condor und seine Clique, wie sowohl über die öffentliche Meinung als auch individuelle Gelehrten-Meinungen bestens informiert. Venator ist nicht nur Stewart, sondern auch „Historiker“3, genauer gesagt: „Metahistoriker, der den Geschichtsraum verlassen hat“4. Es ist diese Perspektive, durch die der Blick auf Eumeswil bestimmt wird. Die Nachgeschichtlichkeit Eumeswils zeigt sich nicht nur im Verlust politisch-utopischer Ideale und traditionsbestimmter kultureller und sozialer Bindungen, sie zeigt sich vor allem auch in der fortschreitenden Naturalisierung vormals historisch codierter Räume. Eumeswil ist eine Stadt 1 2 3 4

Vgl. Peter Uwe Hohendahl: Der unsichtbare Autor. Erzählstruktur und Sinngehalt in Eumeswil, in: Ders., Erfundene Welten, S. 105–133. Martus, Ernst Jünger, S. 210. SW 17, S. 18. Ebd., S. 52.

362   8  Kultur- und stammesgeschichtliche Verwerfungen im posthistoire: Eumeswil nach der Katastrophe; einer Katastrophe, die als erdgeschichtliche Zäsur auf der geologisch-biologischen Zeitskala einen eigenen Abschnitt beansprucht. Beanspruchen kann die Zäsur diese geoepochale Qualität vor allem deshalb, da sie über Kennzeichen verfügt, die auch die paläontologische Richtschnur an einen eigenständigen erdgeschichtlichen Zeitraum stellt: dass sich nämlich ein morphologisch nachweisbarer Wandel von Flora und Fauna vollzogen haben muss. Genau das ist in den Gebieten um Eumeswil der Fall. Bevor wir uns diese Veränderungen genauer anschauen und einen Blick auf die fiktive, an die landschaftsräumliche Ordnung der Marmorklippen-Welt erinnernde Geographie Eumeswils werfen, zunächst noch ein paar Hinweise zur nachgeschichtlichen Situation. Die Kräfteverteilung in Eumeswil präsentiert Attila, Venators Informant in Sachen „Wald“, im Duktus evolutionsbiologisch inspirierter Gehirn-Analyse. So macht er in Eumeswil „zwei Schulen“ aus: „die eine will das Großhirn aufstocken, während die in den Wäldern es in das Stammhirn versenken will.“5 In der gegenüberstellenden Aufteilung der Hirnareale zeigt sich die seit dem Primitivismus des frühen 20. Jahrhunderts sattsam bekannte Polarität von entwickelter Verstandestätigkeit (Großhirn) und entwicklungsgeschichtlich früherem, reflexionsgehemmtem, d.  h. die volle Vitalität ‚ursprünglicher‘ Energien nicht beeinträchtigendem Stammhirn. Doch der Gegensatz von abendländischem Rationalismus und primitivem Vitalismus ist für den Roman nicht prägend. Venators Diagnose, Eumeswil leide an „fellachoider Versumpfung auf alexandrinischer Grundlage“, variiert vielmehr Spenglers Untergangsrhetorik.6 Die anschließende Forderung, „tiefer in die Substanz“ einzudringen, führt gleichwohl über Spengler hinaus; und zwar in der Art und Weise, in der Jünger bereits in An der Zeitmauer den Autor des Untergang des Abendlandes entgrenzte: vom Menschheitsgeschichtlichen ins Erdgeschichtliche. Der Roman bietet zwei unterschiedliche Zugänge zur erdgeschichtlichen Perspektive an. Der erste Weg führt über eine fiktive Historiographie; hier wird rein innergeschichtlich argumentiert. Das Zerbrechen des „Weltstaat[es]“ in „Diadochenreiche“ und „epigonale Stadtstaaten“ ist innerhalb dieses Horizontes auf den Zerfall der seit dem 19. Jahrhundert entwickelten, christlich überformten Fortschritts- und Wachstumsidee zurückgeführt.7 5 6

7

Ebd., S. 339. Darauf verweist Martus, Ernst Jünger, S. 211. Spengler unterscheidet „Völker vor, innerhalb und nach einer Kultur“: „Was einer Kultur folgt, nenne ich Fellachenvölker nach ihrem berühmtesten Beispiel, den Ägyptern seit der Römerzeit.“ Spengler, Der Untergang des Abendlandes, S. 759  f. „‚Das neunzehnte christliche Jahrhundert hatte den Leitgedanken des permanenten und noch dazu qualitativen Wachstums proklamiert, im zwanzigsten schien der homo faber ihn zu verwirklichen.‘“ SW 17, S. 375.



8.1  „[F]ellachoide Versumpfung“ und Gestaltwandel der Erde

363

Nach der Aufgabe dieses gesellschaftlichen Entwicklungsmusters bildeten sich Gruppen von „Ökonomen“ und „Ökologen“: „Hier wurde noch welt-, dort erdgeschichtlich gedacht.“8 Zweifelsohne ist die erdgeschichtliche Perspektive die zukunftsträchtigere. Indem diese in den fiktiven historiographischen Reflexionshorizont integriert ist, gleichsam als notwendige Folge des geschichtlichen Zusammenbruchs Eumeswils, erscheint sie als ideelles Zentrum, von dem aus sich die Geschichte der Stadt erzählen lässt. Der zweite Weg zur erdgeschichtlichen Perspektive ist naturgeschichtlich konturiert. Verbunden ist er mit einem Anknüpfen an die Metaphorik von Prägung und Siegel, die Jünger erstmals in Der Arbeiter zur Vermittlung von ‚tiefer‘ Idee und anschaulichem Typus nutzte. Die dort zu findende Maxime, über die „Rangordnung im Reiche der Gestalt“ entscheide das „Gesetz von Stempel und Prägung“9 wird von Jünger in Eumeswil aufgenommen: Wenn ich ein Fossil, etwa einen Trilobiten [s. Abb. 33 + 34], auf die Hand nehme […] dann bannt mich der Eindruck mathematischer Harmonie. […] Der Bios muß in diesem Urkrebs das Geheimnis der Dreiteilung entdeckt haben. […] Vor wieviel Millionen Jahren mag dieses Wesen ein Meer belebt haben, das nicht mehr besteht? Ich halte seinen Abdruck, ein Siegel unvergänglicher Schönheit, in der Hand. Auch dieses Siegel wird einmal verwittern oder in künftigen Weltbränden verglühen. Der Prägestock, der es formte, bleibt im Gesetz verborgen und aus ihm wirksam, von Tod und Feuer unberührt.10

Dem sichtbaren, auch haptisch verfügbaren „Siegel“ korrespondiert der unsichtbar-unanschauliche „Prägestock“. Jüngers Erzähler reiht sich hier im Aufweis der „mathematische[n] Harmonie“ in die idealistische GoetheRezeption, die die deutsche Paläontologie der Achse Dacqué – Hölder charakterisiert, ein.11 Am konkreten paläontologischen Befund diskutiert er das Verhältnis von Idee (Gesetz) und einer der sinnlichen Anschauung (Erschei8 Ebd. 9 SW 8, S. 37. 10 SW 17, S. 32. 11 Die am paläontologischen oder geologischen Objekt präsentierte „mathematischen Harmonie“ als Zeichen kosmischer Ordnung findet sich bei Jünger bereits seit den 1940er-Jahren; dort allerdings noch in deutlicher Absetzung von einer vitalistischen Fundierung. In Heliopolis etwa heißt es angesichts eines Blickes auf das kristalline Gestein im gleißenden Licht: „Zusammenhänge von anderer Art als jener, die wir als Leben kennen, beginnen aufzuleuchten – der Stil der Baupläne.“ Jünger, Heliopolis, S. 17. Dass diese „Zusammenhänge“ mathematisch codiert sind, zeigt sich dann an der „Seelilien-Platte“, die der Bergrat Lucius zeigt: „Im Mathematischen, im Strahlenhaften der Konstruktion lag etwas Unerbittliches, der Glanz von höchsten Werkstätten, die Einsamkeit erhabener Spiele und Spiegelungen am ersten Schöpfungstag […]. “ Ebd., S. 215. Dieser Faden wird in An der Zeitmauer aufgenommen. Die „wunderbaren Gehäuse[.  .] der Diatomeen und Ammoniten“ sollen für die Wirkung des „Erdgeist[es]“ einstehen; die Abwehr vitalistischer Positionen ist nun nicht mehr nötig. SW 8, S. 561. Vgl. zum Wechsel vom Vitalismus zur kristallinen Struktur auch Kap. 5.1 und 5.2.

364   8  Kultur- und stammesgeschichtliche Verwerfungen im posthistoire: Eumeswil nung) zugänglichen materiellen Realisierung. Unterstützt wird er dabei von seinen Lehrern Vigo und Bruno12, wobei es besonders letzter ist, der bei Venators Idealisierung der Materie epistemische Schützenhilfe leistet. Brunos „eigentlicher Kunstgriff war“, so berichtet der Erzähler, „die Rückführung der platonischen Idee in die Erscheinung und damit die Wiederbelebung der durch das abstrakte Denken verschnittenen Materie.“13 Damit ist ziemlich genau jene Lesart bezeichnet, mit der Jünger in den späten 1970er-Jahren – zur Entstehungszeit Eumeswils also – auf den Arbeiter zurückblickt. Gegenüber Henri Plard etwa nimmt er in einem Brief vom September 1978 die in An der Zeitmauer erstmalig geäußerte Hegel-Schelte auf, wenn er „[h]inter der Repräsentation des Weltgeistes“ die „Materie, nicht die Idee“ ausmacht: „Dem entspricht eine Auffassung der Materie, die hinter Plato zurückführt – sie ist nicht materialistisch, sondern materiell. Ich gehe darauf in der Zeitmauer ein. Die Gestalt ist der Monade von Leibniz verwandter als der platonischen Idee, und Goethes Urpflanze näher als Hegels Synthesis.“14 Es scheint kein Zufall zu sein, dass Jünger in Eumeswil ausgerechnet zu dem Zeitpunkt die Rückführung der Idee in materielle Prozesse erprobt, zu dem er auch den ‚Arbeiter‘ als „Titan und damit Sohn der Erde“15 anspricht: Der ‚Arbeiter‘ „folgt, wie Nietzsche es ausdrückt, ihrem [der Erde – N.K] Sinn, und zwar auch dort, wo er sie zu zerstören scheint. Der Vulkanismus wird zunehmen. Die Erde wird nicht nur neue Arten, sondern neue Gattungen hervorbringen.“16 Die erstmalig in An der Zeitmauer erprobte Übertragung der geobiologischen Zeitrechnung auf die Gegenwartsdiagnostik wird jetzt auch für den Arbeiter und damit für die frühen 1930er-Jahre geltend gemacht. Es ist deshalb nur folgerichtig, wenn Jünger in Eumeswil am Beispiel eines Trilobiten (s. Abb. 33 + 34) jene Beziehung von Prägung und Sigel erläutert, die innerhalb des Arbeiters etwa 45 Jahre zuvor seinen Gestalt-Begriff nachhaltig prägte. Der aus dem Erdaltertum (Paläozoikum) gewählte Urkrebs wird als Sigel irgendwann untergehen  – genauso wie das damit verbundene Lebewesen irgendwann unterging, d.  h. ausstarb. Die Prägeordnung hingegen ist in ihrer morphologischen Potenzialität unverwüstlich; auch weitere Lebensformen werden ihr entstammen. Was sich zunächst als paläontologische Logik des 12

13 14 15 16

„Ich sehe sie als meine geistigen Väter an: Vigo verdanke ich den unbefangenen Blick auf die Geschichte, wie er nur gelingt, wenn wir am Für und Wider nicht mehr beteiligt sind. […] Bruno ließ mich die Hintergründe ahnen, die weder der Geschichte noch dem Naturreich angehören, ja von der Geschichte des Menschen im Universum unabhängig sind.“ SW 17, S. 64. Ebd., S. 211. SW 8, S. 390. Vgl. zu Jüngers Leibniz-Rezeption Claude Gaudin: Jünger Leibnizien, in: Revue de Littérature Comparée 71/4 (1997), S. 449–462. SW 8, S. 390. Ebd., S. 390  f.



8.2  Dystopische Zoographie im Zeichen Conrad Gesners

365

Formenwandels geriert, ist freilich nichts anderes als eine Blaupause für die Deutung gegenwärtiger Veränderungsprozesse („Vulkanismus“) in und um die Stadt Eumeswil. Stellte Jünger die geobiologischen Veränderungen in seinen diskursiven Texten bisher nur in Aussicht oder machte allenfalls Anzeichen eines sich ereignenden Wandels aus, so erscheinen diese Veränderungen nun als Teil der fiktiven Welt. Dort gehören sie zu einer Realität, die sich ereignet hat, ereignet und auch weiterhin ereignen wird. Der Roman schaut auf eine bereits vergangene Zukunft zurück. Damit erscheinen die von Jüngers diskursiver Prosa in den 1950er- bis 1970er-Jahren diagnostizierten Wandlungen bereits geschehen. In gleichem Maße, in dem – aus paläontologischer Perspektive – sich ausgestorbene und ausgerottete Tiere „aus der Erscheinung in die Urbilder“ zurückziehen, treten neue Gestalten aus dem Bereich des Unsichtbaren in die Sichtbarkeit hinein: „Die Erde reinigt sich periodisch, neue Gestalten werden herandrängen. Mächtige Wehen künden sich an, dann leisten neue Promethiden die Geburtshilfe.“17 Prometheus steht hier – wie seit 1959 auch Antaios, der Sohn der Erde – für eine Form der Erdgeistigkeit, die eine allzu platonische Sicht der Idee ins Chthonische transzendieren soll: In den morphologischen Wandlungen der Natur offenbart sich der Geist. Die Veränderungen der Erdoberfläche tragen mit Blick auf den diagnostizierten ‚periodischen‘ Charakter sichtlich die Signatur vergangener Erdkatastrophen; es geht um zyklische Prozesse, und natürlich darum, die allumfassenden Veränderungen im Vollzug und nicht erst, wie der geologische Epochendiskurs, ex poste zu diagnostizieren.

8.2  Dystopische Zoographie im Zeichen Conrad Gesners Innerhalb der fiktiven Geographie des Romans spielt ein Gebiet in struktureller und thematischer Hinsicht eine ganz besondere Rolle: der Wald. Bereits in Der Waldgang (1951) codiert Jünger die Topographie des Waldes als Metapher. Die Forschung hat die unterschiedlichen Valenzen der Bedeutungsfelder ‚Wald‘ und ‚Waldgang‘ bei Jünger in aller wünschenswerten Deutlichkeit benannt.18 Weniger bekannt ist demgegenüber, dass der Wald auch als 17 18

SW 17, S. 246. „Waldgänger nennt Jünger jenen, der durch den Prozeß der Moderne, durch Weltkrieg und Mobilmachung der Erde vereinzelt und heimatlos geworden, sich endlich der Vernichtung ausgeliefert sieht.“ Koslowski, Der Mythos der Moderne, S. 83. Vgl. ausführlich zu den heterogenen Elementen der Waldgang-Metapher (metaphysischer, politischer und sozialer Rückzugsraum, Ort des anarchischen Widerstandskampfes und der moralischen Souveränität) auch Friedrich Balke: [Art.] Der Waldgang, in: Schöning (Hrsg.), Jünger-Handbuch, S. 185– 192 sowie Penke, Ernst Jünger und der Norden, S. 155–184 und Erhard Schütz: Der Name für Unabhängigkeit. Die Strategien von Ernst Jüngers ‚Waldgang‘ im Kontext, in: Ders./

366   8  Kultur- und stammesgeschichtliche Verwerfungen im posthistoire: Eumeswil konkreter Ort, als der er in Eumeswil konzipiert ist, in der utopischen Literatur der 1930er-Jahre auftaucht. In Hermann Harders Die versunkene Stadt – dem Untertitel nach, durchaus Eumeswil vergleichbar, Ein Roman aus der kommenden Urzeit – markiert die „Wiederkehr des Waldes“19 nach dem Zusammenbruch der Zivilisation eine Erneuerung ‚germanischen Volkstums‘ im Zeichen des vorgeschichtlich situierten Übergangs von der Jäger- und Sammler- zur Ackerbauernkultur. Von solch völkischem Rassismus ist die Codierung des Waldes in Eumeswil weit entfernt. Fest steht jedoch auch, dass Jüngers Wald gleichfalls ein Ort nach der Katastrophe ist, innerhalb dessen urzeitliche – wie wir noch genauer sehen werden: nicht, wie bei Harder, vorgeschichtlich, sondern paläontologisch konturierte – Spuren erneuert werden. Es ist zunächst sicher keine Übertreibung, wenn man dem Wald in Eumeswil die Rolle eines Leitmotivs zuspricht, denn die rätselhaften Vorgänge, die der Text immer wieder an diesen Raum und sein, wenn man so will, ‚prometheisches Potenzial‘20 knüpft, sind das einzige dramaturgische Element, das sich als Spannungsbogen ansprechen lässt. Dass es am Ende des Romans zudem ein „Vom Walde“ überschriebenes Kapitel gibt und Venator in eben diesem Gebiet den Tod findet, unterstreicht dessen Relevanz. Zunächst sind es nur Bruchstücke, die Venator während seiner Arbeit als Barkeeper aufschnappt; wobei sich mythologische, geschichtliche und vorgeschichtliche Semantiken bei der Beschreibung des ominösen Areals mischen.21 Die meisten Informationen stammen von Attila; „er hat lang im Wald gelebt und ist mit Anekdoten freigiebig: Zeitlich und auch der Realität nach sind sie schwer einzuordnen; sie verlangen eher den Spürsinn des Mythologen als den des Historikers.“22 Im Gegensatz zu Venators Lehrer Vigo, dessen analytischer Spürsinn den geschichtlichen Raum nicht verlässt, schärft Attila das Bewusstsein von Jüngers Held hinsichtlich der Tatsache, „daß ich mit den Maßen, die ich als Historiker gewohnt bin anzulegen, nicht auskomme. Ich muß auf Archaisches zurückgreifen, nicht nur auf seine zeitliche Ausdehnung, sondern auch auf seine räumliche Tiefe […]. “23

19 20 21

22 23

Peter Uwe Hohendahl (Hrsg.): Solitäre und Netzwerker. Akteure des kulturpolitischen Konservatismus nach 1945 in den Westzonen Deutschlands, Essen 2009, S. 55–68. Hermann Harder: Die versunkene Stadt. Ein Roman aus der kommenden Urzeit, Leipzig 1932, S. 15–17. „Im Wald soll eine neue Isis gezeugt, durch die Unterirdischen Prometheus vom Kaukasus befreit werden“, erfährt Venator von Attila. SW 17, S. 338. „In mancher Mitternacht, in der ich im Parvulo bediene, wird es unheimlich. Es werden Dinge abgehandelt, von denen Vigo nichts wissen wollte und auf die er sich nicht einließ, wie auch ich es lange versucht habe. […] Ohne Zweifel betrifft es den Wald. Es muß dort Trophäen und Gefahren geben, die eher an den Argonautenzug erinnern als an die Glanzzeiten der historischen und selbst der prähistorischen Jagd.“ Ebd., S. 51. Ebd., S. 61, vgl. auch S. 179. Ebd., S. 177.



8.2  Dystopische Zoographie im Zeichen Conrad Gesners

367

Befördert wird die Faszination, die Attila auf Venator ausübt, durch dessen ethnografische Aura. So wird Attila nicht nur als geheimnisvoller mitternächtlicher Gesprächspartner in der Clique um den Condor porträtiert, sondern auch als Abenteurer, der mit den Inuit-Indigenen des hohen Nordens „mehr als Beobachter denn als Jäger“ gelebt hat.24 Dessen Wissen vom Wald muss Venator in „numinoser Annäherung“ „erraten“. Im Mittelpunkt steht dabei Attilas „Frage nach der ‚mythenbildenden Kraft‘“25. Die Erklärung, die Venator gibt, ist sichtlich an die aus dem Zeitmauer- und Antaios-Diskurs entlehnte Rede von der sich regenden Erde angelehnt, die in Endzeiten ihrer Umgestaltung entgegensieht: Mythenbildende Kraft […] ist geschichtslos, sie ist keiner Herkunft und Entwicklung unterworfen; sie wirkt in unberechenbarer und unvorherzusehender Weise auf die Geschichte ein. Daher hat sich in Endzeiten, in denen die historische Substanz erschöpft ist und nicht einmal die zoologische Ordnung der Spezies mehr garantieren kann, von jeher eine dumpfe, unausgesprochene Erwartung an sie geknüpft. Die Theologie versandet – sie weicht der Theognosis; man will von Göttern nichts mehr wissen: man will sie sehen.26

Die ‚mythenbildende Kraft‘ als eigentliches Agens der erdgeschichtlichen Entwicklung ist nichts anderes als der seit dem Zeitmauer-Aufsatz bekannte „Urgrund“. Wenn es dort heißt, die Erde habe „aus ihrem Urgrund schon oftmals neue Gestalten hervorgebracht“27, so ist jene nun in Eumeswil aufgerufene urgrundliche Veränderung als Wandlung der „zoologische[n] Ordnung der Spezies“ ausbuchstabiert. Es sind die Wandlungen im zoologischen Gefüge des Wald-Gebietes, die dessen Rätselhaftigkeit ausmachen. Im Kern geht es auch hierbei darum, die der paläontologischen Ordnung entlehnte 24 25

26 27

Vgl. ebd., S. 235–240, Zitat: S. 236. Vgl. ebd., S. 178, vorhergehende Zitate gleichfalls. Venator hebt hervor, dass sich die neolithische Revolution – d.  h. der Schritt von der Lebensweise der Jäger und Sammler zur Viehzucht- und Ackerbaugesellschaft – in der Gruppe, in der Attila seine Beobachtungen machte, noch nicht vollzogen hatte: „Attila hat aus dem hohen Norden ein urtümliches Behagen am Überfluß mitgebracht […]. So lebte der Jäger inmitten gewaltiger Herden, die sich ohne sein Zutun vermehrten, längst bevor die Erde von der Pflugschar geritzt wurde.“ Ebd., S. 237. Attila selbst deutet den Schritt ins Neolithikum als Abkehr von den ethischen Grundprinzipien, die die Jäger auf eine Kultur der Achtsamkeit gegenüber dem gejagten Wild verpflichtete. Der biblische Ackerbauer Kain, so Attila, zeige sich als später Verfechter jener ‚Urjäger-Ethik‘. „‚Der Jäger hat Gefährten, doch mit dem Ackerbau beginnt die Sklavenhaltung, die Tötung wird zum Mord. Mit der Freiheit geht es zu Ende; das Wild wird verdrängt. In Kain erstand noch ein Nachfahr des Urjägers, sein Rächer vielleicht. Die Genesis gibt von alldem nur ein Gerücht. Sie deutet eben noch das schlechte Gewissen Jahves gegenüber dem Totschläger an.‘“ Ebd. Ebd., S. 178. SW 8, S. 643.

368   8  Kultur- und stammesgeschichtliche Verwerfungen im posthistoire: Eumeswil Epochalität von ihrem ex-poste-Charakter zu lösen und für die zeitdiagnostische Schau, die die ‚mythenbildende Kraft‘ am Werk sieht, verfügbar zu halten. „Die große Wandlung“, so Venator, führt nicht nur über die Spezies, sondern über den Bios hinaus.“28 In diesem Rahmen müssen die innerhalb des Romans präsentierten Veränderungen der Flora und Fauna gedeutet werden: als materieller Ausdruck eines – wie es Gerd Bergfleth mit Blick auf den Zeitmauer-Essay formuliert  – „kosmischen Vergeistigungswille[ns]“29 nach der großen Katastrophe. In den „Urwälder[n], die sich nach den Feuerschlägen noch verdichtet haben“30, vor allen Dingen jedoch im „undurchdringlichen Südwald“, sollen „Wildarten“ leben, „die noch kein Auge erblickte und von denen man nur durch Gerüchte erfährt. Die meisten halten sie für Trugbilder von Abenteurern, die sich in die Wildnis wagten und mit tödlichem Fieber zurückkamen.“31 Bereits in An der Zeitmauer diskutiert Jünger eine Zeitungsmeldung über durch gentechnische Manipulation missgestaltete Tiere im Rückgriff auf den Mythos und Veränderungen des chthonischen Urgrundes;32 ein Deutungsmuster, das auch über Eumeswil hinaus Konjunktur hat.33 Im Rahmen des Romans werden die Veränderungen als Ergebnis eines Vulkanismus präsentiert, der in der Tradition der großen Sintflut-Erzählungen und damit der Katastrophentheorie Cuviers steht. Jüngers Erzähler changiert in seiner Argumentation dabei sichtlich zwischen mythologischer und empirisch-zoologischer Begründung. Auf der einen Seite bestätigen neue zoologische Formen „manches Gerücht“, das „man seit Herodots Zeiten als Fabel betrachtet hat“34. In dieser Hinsicht wird der Mythos empirisch bestätigt, klären tatsächliche Funde über die Gültig28 29 30 31 32

33 34

SW 17, S. 338. Bergfleth, Das Urlicht der Natur, S. 30. SW 17, S. 46. Ebd., S. 47. Darauf verweist bereits Martus, Ernst Jünger, S. 214. Jünger berichtet von einer „Notiz über eine merkwürdige Fauna, die sich in den Abwässern einer Fabrik entwickelt hatte […]: Anscheinend handelte es sich um eine Brut, um eine ungewollte Zucht von Mißgeburten, um Wesen, deren Organe sich vervielfältigt hatten oder zu Stummeln und Rudimenten zusammengeschmolzen waren, also um phantastische Verstöße gegen Polarität und Symmetrie der organischen Bildungen. Offenbar war hier das Leben in Tieferem als in seinen Individuen, es war in seinem genetischen Bauplan bedroht worden. […] Hier wurde eine der Stellen sichtbar, an denen sich die Erde zu entzünden beginnt […]. Wir müssen um Vergleichbares zu finden, weit, zum mindesten auf den Mythos zurückgreifen. Dort finden wir dieses besondere Grauen und das Heraufdringen des sowohl Gestaltlosen als auch Viel- und Ungestalteten aus dem glühenden Erdenschoß.“ SW 8, S. 591  f. In einem Eintrag vom 18. Juli 1989 heißt es in Strahlungen VI (Siebzig verweht IV): „Ägyptische und indische Götter mit Tierköpfen. Die Gen-Technik wird in dieser Richtung nicht über Monstra hinausführen.“ SW 21, S. 359. SW 17, S. 47.



8.2  Dystopische Zoographie im Zeichen Conrad Gesners

369

keit mythischer Tiergestalten auf. Auf der anderen Seite bleibt die Struktur mythischer Rede der naturgeschichtlich angelegten Argumentation äußerlich, d.  h. die Rückversicherung bei der Auffassung der „Gelehrten, daß nach den Sintfluten nicht nur neue Arten, sondern neue Geschlechter aufträten“, nutzt die Genesis-Erzählung lediglich, um naturgeschichtliches Wissen codieren zu können. Hier geht es also um eine strukturelle Übernahme der SintflutErzählung innerhalb der naturgeschichtlichen Systematik in der Tradition der Paläontologie und Geologie des 19. Jahrhunderts, die sich vom biblischen Modell der Erdentstehung zu distanzieren sucht.35 Mit „Sintfluten“ sind jene erdgeschichtlichen Veränderungen aufgerufen, die in ihren katastrophischen Auswirkungen die Großraumperiodisierung der geoepochalen Zeitskala begründen. Die einzige Veränderung zu vergangenen Katastrophen besteht darin, so der Erzähler, dass das Feuer die Rolle des Wassers übernommen hat: „glühende Vorhänge trennen die Wandlungen.“36 Die Verschmelzung von zoologisch-naturgeschichtlicher und mythologischer Rede wird nicht nur von Venator betrieben; sie wird in Anlehnung an den Schweizer Arzt, Philologen und Naturforscher Conrad Gesner (1516– 1565) auch reflexiv mit in den Text hineingenommen. Gesner wurde im 16. Jahrhundert durch eine ganze Reihe von oftmals reich illustrierten und mehrfach aufgelegten tier- und pflanzenkundlichen Werken bekannt. Neben dem Referat mittelalterlicher und antiker Quellen setzte er immer mehr und immer konsequenter auf die eigene Beobachtung, was zweifelsohne zu einer schrittweisen Empirisierung der zoologischen Forschung beitrug.37 Doch Jünger geht es um etwas anderes. Im Kontext des Romans interessiert Gesner in erster Linie als Natursystematiker, der „vor der Zeit des großen Linné“ gewirkt hat und von merkwürdigen Kreaturen zu berichten weiß.38 Beim Schweizer stößt Jüngers Held Venator auf „Wesen, die offenbar nur in der Phantasie bestanden“: Im Walde besonders wurde Seltsames vermutet und auch beschrieben, so von ­einem Doktor Gesner der Waldteufel, eine ‚Wundergeburt‘, vierfüßig mit bespornten Fersen, einem Kranz von Brüsten und Menschenkopf. Er soll im Jahre 1531 der christlichen Zeit in einem Bistum Salzburg gefangen worden, doch nach Tagen gestorben sein, weil er die Nahrung verweigerte.39 35 36 37 38 39

Vgl. zum argumentativen Wandel der Sintflut-Erzählung im epistemischen Korsett der Paläontologie im 19. Jahrhundert Kap. 1.3. SW 17, S. 47. Vgl. zu Gesner Urs B. Leu: Conrad Gessner (1516–1565), Universalgelehrter und Naturforscher der Renaissance, Zürich 2016. Vgl. zu Gesners phantastischen Tieren: Christa Riedl-Dorn: Wissenschaft und Fabelwesen. Ein kritischer Versuch über Conrad Gessner und Ulisse Aldrovandi, Wien/Köln 1989, S. 71– 118. SW 17, S. 48. Vorhergehende Zitate gleichfalls.

370   8  Kultur- und stammesgeschichtliche Verwerfungen im posthistoire: Eumeswil

Abb. 55: „Forstteüfel“ bei Conrad Gesner



8.2  Dystopische Zoographie im Zeichen Conrad Gesners

371

Jünger bezieht sich hier – bis in Wortlaut und Wortstellung hinein – auf eine Passage aus Gesners 1563 erstmals erschienenem Thierbuch (Historia animalium), in der von einem „Forstteüfel“ (s. Abb. 55) die Rede ist.40 Ein Exemplar dieses Buches lässt sich in Jüngers Wilflinger Bibliothek nachweisen.41 Um die phantastische, bei Gesner aber eben doch mit empirischem Anspruch porträtierte Figur besser in die imaginierte Eumeswil-Topographie und die daraus entwickelte Wald-Metaphorik integrieren zu können, wird in dem Roman aus dem Forst- ein Waldteufel. Das Gebiet des Waldes, so der subtil evozierte Subtext, sei von jeher das Gebiet von Wesen mit „scheutzlicher […] gestalt“42 gewesen. In der Perspektive Venators verschmilzt der Wald Gesners also mit dem Areal, das der Roman zu imaginieren sucht. Der Rückblick auf Figuren wie den Waldteufel43 soll das Bewusstsein für den wahren Charakter der Waldregion schärfen – insofern, darauf legt Venatur Wert, sind diese „Notizen […] keine kuriose Abschweifung; sie gehen die Sache an.“44 Steffen Martus hat Recht, wenn er innerhalb des Waldes jene „Monstren“ beheimatet sieht, „die im Laufe der neuzeitlichen Purifizierung der Natur als bloße Phantasiegebilde aus dem Reservoir relevanter Gegenstände und somit aus der Ordnung des Wissens ausgeschlossen worden sind.“45 Unter die Auspizien der großen Katastrophe gestellt, bekommen diese Monstren nun einen tatsächlichen, innerfiktional beglaubigten Lebensraum zugesprochen; einen Lebensraum, den ihnen die zoologischen Wissensordnungen nach Gesner – Linné und Buffon – mehr und mehr verweigerten. Die im Wald ansässigen „Schwindlinge“ können in diesem Sinne als Aktualisierung des 40

Bei Gesner heißt es zu diesem Wesen u.  a.: „Wiewohl dises thier von niemantes mer gesehen worden / dann eben zu unsern zeyten / und gefangen im jar nach Christi geburt / M.D.XXXI. on zweyfel einerschrockenliche [sic!] / bedeutliche wundergeburt gewesen: hat es auch kein sondern nammen / hab ichs ein forstteüfel genannt […] Nun dises thier ist im Bisthümb zu Salzburg / im Hanßberger Forst / gejagt gefangen worden […] Auch mocht man es weder mit locken / noch mit gwalt dahin bringen / das es essen oder trincken wölte / starb derhalb in wenigen tagen nach dem es gefangen.“ Conrad Gesner: Thierbuch. Das ist, Außführliche beschreibung, und lebendige ja auch eigentliche Contrafactur und Abmalung aller Vierfüssigen thiere, so auff der Erden und in Wassern wohnen […], Frankfurt/M. u. Heidelberg 1606, S. XI. In Die Schere (1990) bezeichnet Jünger den „‚Waldteufel‘“ Gesners dann als „Irrläufer[.  .]“. SW 19, S. 489. 41 Es handelt sich dabei um eine Auflage des Thierbuches aus dem Jahr 1606, verzeichnet ist diese unter der DLA-Signatur: WJB09.07/14. 42 Gesner, Thierbuch, S. XI. 43 Neben dem „Waldteufel“ nennt Venator „das Einhorn, die Flügelschlange, das Geißmännlein, die Meerjungfer“ (SW 17, S.  48), die allesamt dem zoologischen Kosmos und Bildkatalog Gesners entstammen. Neben dem Thierbuch befinden sich in Jüngers Wilflinger Bibliothek folgende Werke Gesners: Das Vogelbuch in einer Ausgabe von 1600 (DLA-Sign.: WJB09.07/14), daran angebunden das Fischbuch in Form eines Exemplars aus dem Jahr 1598 (DLA-Sign.: WJB09.07/14) sowie das Schlangenbuch von 1589 (DLA-Sign.: WJB05.01/20). 44 SW 17, S. 48. 45 Martus, Ernst Jünger, S. 214.

372   8  Kultur- und stammesgeschichtliche Verwerfungen im posthistoire: Eumeswil Gesner’schen Forstteufels gelesen werden. „Eines der Symbole geschichtsloser Räume ist die Deponie.“46 Als Bewohner einer solchen im Wald befindlichen Abraumhalde finden diese Wesen das ethnographische Interesse Attilas, dessen Kommentare Venator zu einem Bericht an der Grenze von Zoologie und Anthropologie ausbaut: Die Schwindlinge, deren Treiben Attila in der Großen Deponie studierte, hausten dort in ausgescharrten Höhlen; sie waren fast unbekleidet und waffenlos. „So leben Pilze von fremdem Chlorophyll.“ Sie gruben als Wildbeuter nach Wurzeln und stellten kleinen Tieren mit Fallen nach. Sie konnten weder Stein noch Holz bearbeiten, sondern verwandten sie, wie sie in die Hand paßten. […] Sie schienen kaum zu leben, eher traumhaft zu dämmern. […] „Das Erbe des Letzten Menschen ist nicht der Primitive, sondern das Gespenst.“47

Der Beschreibung des Lebensraumes und der Jagdpraxis folgt eine der Taxierung vorgeschichtlicher Kulturstufen und damit der Vorgeschichtsschreibung entlehnte Einordnung der Bearbeitungsfähigkeit unterschiedlicher natürlicher Materialien (Holz, Stein). Im Gegensatz jedoch zum menschheitsgeschichtlichen Fortschrittsnarrativ, wie es der Übergang von der Stein- zur Eisen- und von der Eisen- zur Bronzezeit formuliert, ist hier eine Schwundstufe jenseits teleologischer Entwicklungsmuster dargestellt. In der anthropogenetischen Regression macht Attila keine Rückkehr zu einer primitiven Lebensweise aus – etwa auf die Art und Weise, in der Spengler Ur- und Fellachenvölker miteinander vergleicht48 –; er betont demgegenüber das Gespenstische der Existenz. Der ‚primitive Wiedergänger‘ ist damit auch keine Reflexionsfigur vitalistischer Entgrenzung. Gefangen im „Schutt“, der die „Bildungen“ „überwächst“, da ihn die „Kulturen“49 nicht mehr bewältigen, steht der „Schwindling“ für die Unmöglichkeit, eine menschheitsgeschichtlich beglaubigte frühe ‚Natur‘ als Residuum wahren Menschseins in Anspruch nehmen zu können. Als Kreatur markiert er zwar eine Schwundstufe der Kultur im posthistoire, beschreiben lässt er sich jedoch wie das Wesen einer vormodernen historia naturalis. Insofern also Eumeswil die phantastische Naturkunde des 16. Jahrhunderts rehabilitiert, werden jene Wesen zum Signum einer großen, geoepochalen Zeitenwende erklärt, deren Existenz die aufgeklärte Ordnung des Wissens bisher erfolgreich in Abrede zu stellen wusste. 46 47 48

49

SW 17, S. 371. Die „‚Große Deponie‘“ ist der Arbeitstitel von Eumeswil. Vgl. dazu Jüngers Notizen vom März 1974. SW 5, S. 166, S. 169. SW 17, S. 372. „Was Urvölker und Fellachenvölker erleben, ist jenes oft genannte zoologische Auf und Nieder, ein planloses Geschehen, bei dem ohne Ziel und ohne bemessene Dauer sich sehr vieles und in einem bedeutenden Sinne zuletzt doch nichts ereignet.“ Spengler, Der Untergang des Abendlandes, S. 762. SW 17, S. 371.



8.2  Dystopische Zoographie im Zeichen Conrad Gesners

373

Einen wichtigen Abschnitt des Kapitels „Vom Walde“ markiert ein längerer, von Venator kommentarlos wiedergegebener Bericht Attilas, der ganz der postapokalyptischen Flora und Fauna gewidmet ist.50 Hier nun gewinnt die Tierwelt Gesners weitere Konturen. Attila stößt zunächst auf fremde Wesen: „Manche gemahnten an Bilder aus alten Fabelbüchern, als hätte ein Demiurg sie zusammengeflickt.“ Hält er es einerseits für möglich, dass diese Tiere ein Produkt der „Visionen“ des völlig erschöpften Abenteurers sein könnten, so gemahnen ihn andererseits „die Gestalten an Experimente, die mich seit langem beschäftigt hatten“.51 An dieser Stelle bekräftigt Attila Venators angesichts des Gesner’schen „Forstteüfels“ entwickelte Meinung, es handele sich bei diesen Wesen nicht um Chimären der Einbildungskraft, sondern um Vorboten eines Gestaltwandels der Erde, einer geoepochalen Wende. Auch Attila kommt bei seiner Deutung dieser Entwicklung nicht ohne Cuvier aus: Der Wald stand wie eine Mauer; noch nie konnte eine Axt ihn berührt haben. Die Katastrophe mußte sein Wachstum noch gesteigert haben, als hätten der Gluthauch und die Sintflut, die ihr folgte, die Urkraft aus ihm befreit. Das spräche für Cuviers Theorie.52

Gemäß einer zyklischen Auffassung der Naturgeschichte rekapituliert die durch die große Katastrophe und die freigesetzte „Urkraft“ geprägte Flora und Fauna jene urzeitlichen Gestaltelemente, die gemeinhin nur ‚ausgestorbenen‘ und mythischen Wesen zugeschrieben werden.53 In diesem Sinne kann Attila auch davon sprechen, dass „genetische Labyrinthe zur Aufweckung von Vorfahren“ beigetragen haben, „die nur aus Schieferbrüchen und Mergelgruben bekannt waren.“54 Es geht hier also nicht nur um die 50

51 52 53 54

Offensichtlich handelt es sich um eine atomare Katastrophe. „Die Karawanenpfade waren mit Skeletten von Menschen und Tieren gesäumt. Die Knochen glänzten wie Opale in der Sonne; sie waren kalziniert. Nicht die Verwesung hatte sie gebleicht. Das Fleisch mußte im Augenblick verzehrt worden sein. Auch die Lehmhütten der Oasen, die Häuser an den Bohrstellen waren auf diese Weise angeschmolzen  […]. Auf den Mauern zeichneten sich Silhouetten von Palmen, Kamelen und Menschen ab als Schattenwurf der Strahlung, der die Glut folgte.“ Ebd., S. 367. Ebd., vorhergehende Zitate gleichfalls. Ebd., S. 368. „‚Uns war es, wenn ich das so nennen darf, geglückt, Riesenwuchs hervorzutreiben, vielarmige Wesen wie indische Götter, vielbrüstige Frauen wie die Diana von Ephesus.‘“ Ebd. Ebd. Die Rede von der „Mergelgrube“ verweist auf Annette von Droste-Hülshoffs gleichnamiges Gedicht, auf das sich Jünger an anderer Stelle ausdrücklich bezieht, und zwar in einem Eintrag vom Juni 1989 in Strahlungen VI (Siebzig verweht IV): „Die Betrachtung eines Fossils auf der warmen Hand, etwa einer Muschel oder einer Schnecke, ruft einen Taumel hervor, als ob die Zeit durch eine Bremse gehemmt würde. Die Droste hat es in ihrem Gedicht von der Mergelgrube gespürt: ‚Tief ins Gebröckel, in die Mergelgrube / War ich gestiegen, denn der Wind zog scharf; / Dort saß ich seitwärts in der Höhlenstube / Und horchte träumend auf

374   8  Kultur- und stammesgeschichtliche Verwerfungen im posthistoire: Eumeswil qualitative Dimension der Katastrophe, die sich Jünger im Rückgriff auf die geoepochale Zeitskala und Cuvier borgt (strukturelle Dimension), sondern auch um die von der Paläontologie bestätigte urweltliche Fauna (inhaltliche Dimension). Letztere ist es, die Attila wiederkehren sieht. Eine seiner interessantesten Beobachtungen ist im diskursiven Schnittpunkt von Gesners Naturgeschichte (inkl. enger Verbindung von Zoologie und Mythologie), idealistischer Morphologie und Selbstzitat angesiedelt. Im Mittelpunkt steht hier ein Tier, dem Jünger bereits in den Marmorklippen eine ganz besondere Stellung eingeräumt hatte: die Schlange. Freilich ist auch diese von den katastrophischen Veränderungen nicht verschont geblieben: Auch die Schlangen, die hoch oben die Bäume wechselten, waren ungewöhnlich groß. Sie schienen nicht zu gleiten, doch auch nicht zu fliegen; die Säume flatterten. Offenbar sollte der Übergang zum Drachen demonstriert werden. Sie vermählten sich den Stämmen, die sie umklammerten. Blutrotes Harz oder harziges Blut floß aus den Rissen, die ihre Krallen einschlugen.55

Der Bezug zu Gesner ist schnell einsichtig gemacht. In seinem Schlangenbuch (1589)  – ein Exemplar befindet sich in Jüngers Wilflinger Bibliothek  –,56 handelt der Schweizer in einem Kapitel „Von den Tracken“.57 Ein Sonderabschnitt ist dabei den „fliegenden Schlangen / so vom gemeinen pöffel auch Tracken genennt werden“58, gewidmet. Attilas Vermutung, dass die Wald-Schlangen am „Übergang zum Drachen“ stünden, bezieht sich offensichtlich auf eine Illustration Gesners (s. Abb. 56). In dieser sind gleichsam drei unterschiedliche Stadien der Drachenwerdung nachgezeichnet. Weist der erste Drache (oben links) noch keine Flügel auf, so sind diese beim zweiten gut sichtbar ausgebildet (unten links). Der dritte schließlich verfügt über ein voll ausgebildetes Flügelpaar, zudem einen monströsen Kopf und große Klauen am Rumpf. Eine weitere Abbildung in Gesners Schlangenbuch

55 56 57

58

der Luft Geharf. Es waren Klänge, wie wenn Geisterhall / Melodisch schwinde im zerstörten All...‘“. SW 21, S. 354  f. Bereits angesichts der Übersendung einiger geologischer Zeugnisse von Otto Klages kommt Jünger auf die Droste zu sprechen: „Als ich die Kalkspate und den großen Ammoniten vor mir sah, holte ich die Gedichte der Droste und las wieder einmal die ‚Mergelgrube‘, das schöne, Ihnen gewiß bekannte Gedicht, in dem das ‚tote‘ Gestein sein Leben enthüllt.“ Jünger an Klages (17. 04. 1966), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. SW 17, S. 369. Das Exemplar ist im DLA unter der Sign.: WJB05.01/20 verzeichnet. „Dieser name Track / kompt bey den Griechen von dem scharpffen gesicht her / und wirt offt von den schlangen in gemein verstanden. / In sonderheit aber sol man die yenigen schlangen / so groß und schwer von leyb / all ander grösse halb übertreffen / Tracken heissen.“ Conrad Gesner: Schlangenbuch. Das ist eine grundtliche und vollkomne Beschreybung aller Schlangen, so im Meer, süssen Wassern und auff Erden ir wohnung haben / […], Zürich 1589, S. XXXV. Ebd., S. XLIII.



8.2  Dystopische Zoographie im Zeichen Conrad Gesners

375

Abb. 56: Entwicklung von der Schlange zum Drachen bei Conrad Gesner

variiert diese dritte Drachenform (s. Abb. 57) dann, indem sie die Klauen etwas vom Leib absetzt und den Kopf durch das geöffnete Maul mit den spitzen Zähnen noch furchterregender erscheinen lässt. So sehr Jüngers Beschreibung an Gesners Bildprogramm angelehnt ist, so offenkundig geht sie doch darüber hinaus. Denn Attilas Beschreibung fügt etwas hinzu, das innerhalb Gesners Problemhorizont überhaupt nicht angelegt ist, nämlich eine entwicklungsgeschichtliche Deutung. Wo Gesner lediglich drei unterschiedliche ‚Flugschlangen‘ präsentiert, sieht Jüngers Attila eine Entwicklungsreihe nachgezeichnet, die vorgeblich die morphologischen Veränderungen von der Schlange zum Drachen beschreiben soll. Dass, wie Attila anmerkt, die „Säume flatterten“, lässt auf ein noch nicht abgeschlossenes Entwicklungsstadium schließen: Die Wesen gleiten nicht mehr und sie fliegen noch nicht, was für eine gewisse Ähnlichkeit mit dem zweiten Schlangentyp Gesners (s. Abb. 56, unten links) sprechen dürfte. Auch an dieser Stelle nutzt Jünger den Gesner-Bezug, um dessen vormoderne partielle Interferenz von My-

376   8  Kultur- und stammesgeschichtliche Verwerfungen im posthistoire: Eumeswil

Abb. 57: Drache mit Flügeln bei Conrad Gesner

thologie und Zoologie in der spätmodernen Gestaltwandel-Diagnose zu spiegeln. Cuviers Katastrophentheorie bildet dabei als Denkfigur der Zäsur jenes Vermittlungselement, das die alte Mythologie in die neue Rede von den ‚Promethiden‘, der ‚antäischen Unruhe‘ und der ‚planetarischen Wandlung‘ überführt und gleichzeitig ein paläontologisches Reservoir an Lebensformen präsentiert, deren Aktualisierung Jüngers zyklisches Denken bestätigt. Gesners Kreaturen erweisen sich in der Perspektive Jüngers als Widergeburten von Cuviers urweltlicher Fauna. Werfen wir nun einen Blick auf die Verflechtung der behaupteten Entwicklung hin zum Drachen mit der idealistischen Morphologie wie sie Teile der Paläontologie der 1920er- bis 1940er-Jahre vertraten und deren Spuren sich etwa in Jüngers Mythos und Wissenschaft (1965) nachweisen lassen. Im Kern geht es hierbei um die Übersetzung der Idee-Erscheinung-Relation in die hierarchische Duplizität von Mythos (Idee) und Naturgeschichte (Erscheinung), wobei das hierarchische Moment in der Vorrangstellung des Urbildes vor seiner konkreten Realisierung in der Wirklichkeit besteht. Jünger beteiligt sich an dieser Diskussion – wir haben darauf hingewiesen –, indem



8.2  Dystopische Zoographie im Zeichen Conrad Gesners

377

er naturgeschichtlich nachweisbare Tierarten („Archäopteryx“, „Saurier“) an ihre urbildliche Präfiguration im Mythos („gefiederte Schlange“, „Drachen“) rückbindet. Er bezieht sich hier einerseits auf Edgar Dacqués in Urwelt, Sage und Menschheit (1924) präsentierten Entwurf, der frühe Mensch habe mit Schreckensechsen zusammengelebt, so dass diese Eingang in den Mythos fanden.59 Im Gegensatz zum frühen Dacqué jedoch, der die Naturgeschichte der Saurier in die mythisch-vorgeschichtliche Zeit hineinstehen lässt, sind die Saurier bei Jünger nichts Erstes, sondern selbst lediglich Erscheinungsmodi einer zeitlosen, zeitlich indifferenten Idee. Jünger argumentiert also von der prinzipiellen Urbildlichkeit der Gestalt her; dieser gegenüber ist jede faktische chronologische, geoepochal nachweisbare Veränderung des morphologischen Bauplanes sekundär. Das Wissen des Menschen von den Drachen geht auf die Urechse zurück, greift also tiefer als auf die Saurier, der eine ihrer zeitlichen Emanationen ist. Zu ihnen zählt auch die Schlange, insofern sie zum Natursystem gehört, also das Urbild nur repräsentiert.60

Alle Echsenartigen sind lediglich Akzentuierungen ein und desselben Drachen-Urbildes. Betrachtet man die von Attila herausgestellte Entwicklung hin zum Drachen vor dieser Folie, so wird deutlich, dass eine Annäherung der Wald-Drachen an die ihnen zugrundeliegenden Urbilder demonstriert werden soll. Auch die Schlange als Teil des „Natursystem[s]“ „repräsentiert“ lediglich das „Urbild“, das seiner eigentlichen Gestalt nach in der „Urechse“, dem „Drachen“ besteht – und genau auf dem Weg zu einem solchen befinden sich die von Attila beobachteten Wald-Schlangen. Untermauern lässt sich diese Deutung durch die Beobachtung, dass das, was Attila im Kleinen, „‚mit ungemeinem Aufwand in der Retorte‘“61 erstrebt, sich innerhalb des Waldes im großen und unkontrollierbaren Maßstab vollzieht: ein „Rückgriff auf das ursprüngliche Wachstum“62  – Freisetzung der „‚Urkraft‘“63, fortschreitende Annäherung an das Urbild. Wie so häufig bei Jünger geht es hier um die Frage, inwiefern die unsichtbaren, epistemische Tiefe garantierenden Prägemuster Teil der Erscheinungswelt und damit der sichtbaren Oberflä59

60 61 62 63

Vgl. zu dieser These ausführlich Dacqué, Urwelt, Sage und Menschheit. Bei Jünger heißt es: „Zuweilen hört man die Meinung, daß die Drachensagen auf Zeiten zurückgehen, in denen der Mensch den letzten Sauriern begegnet ist. Das könnte im Tertiär gewesen ein, und vielleicht reichen unsere Märchenmotive weiter zurück, als wir annehmen.“ SW 13, S. 177; vgl. auch Kap. 4.3.3, in dem der Einfluss Dacqués auf die Schlangenwelt der Marmorklippen diskutiert wird; dort auch weitere Literatur zu Dacqué. SW 13, S. 177. SW 17, S. 368. Ebd., S. 366. Ebd., S. 368.

378   8  Kultur- und stammesgeschichtliche Verwerfungen im posthistoire: Eumeswil che werden dürfen. Im Rückgriff auf Gesners bizarre Zoographie entwickelt Jünger eine ganz eigene Codierung biologischer Veränderungsprozesse. In der ikonografischen Tradition frühneuzeitlicher Tierdarstellungen findet die prometheische Unruhe eine Anschaulichkeit, die dem Leser sonst häufig im allgemeinen Hinweis auf Vulkanismus oder Sintflut versagt wird. Dieser Anschaulichkeitsgewinn ist gattungstypologisch abgesichert: In der offen zur Schau gestellten Fiktionalisierung Gesners zeigen sich deutlich jene romanhaften Züge des Textes, auf die die diskursive Prosa verzichten muss.

9  Posthistoire postmodern, oder: Der letzte Gestaltwandel: Prognosen (1993) 1993 liegt die Veröffentlichung des Arbeiter 61 Jahr zurück, und Jünger „is still and stubbornly waiting for his planetarian machine prophecies of the new age of the worker to come true.“1 Dass eine Prognose, die sich (noch) nicht bewahrheitet hat, keineswegs diskreditiert ist, sondern sich, im Gegenteil, sogar reformulieren lässt, zeigt Jüngers Gestaltwandel (Prognosen). Konzeptionell geht der Text auf Bemühungen des deutschen Galeristen und Kunstsammlers Bernd Klüser, des italienischen Kunsttheoretikers und Kunstkritikers Achille Bonito Oliva und des italienischen (Objekt-)Künstlers Enzo Cucchi zurück, im Rahmen der 45. Kunstbiennale in Venedig (1993) einen Preis zu vergeben, der der „Überanpassung“ der Kunst „in den spekulativ bestimmten 80er Jahren“ entgegentreten soll. Auf diesem Weg, so Klüser, habe die Kunst „auf weiten Strecken ihr geistiges Selbstverständnis verloren und damit auch ihren Anspruch, glaubwürdig an der dringend notwendigen Neuformulierung ethischer Zukunftsvorstellungen mitzuwirken.“2 Achille Bonito Oliva äußerst sich ganz ähnlich, wenn er die kunstpolitische Dimension des neuen Preises betont. Dessen Verleihung an Jünger sei als „Geste kultureller Elevation“ zu verstehen, „die es mir erlaubte, mich selbst  […] als einen Architekten der Kunstkritik anzusehen, dazu befähigt, eine dem moralischen Kampf verpflichtete Ausstellungsstruktur zu entwerfen […]“3. Am 13. 06. 1993 ist es dann so weit, Jünger bekommt den Gran Premio Punti Cardinali dell’Arte überreicht. Sein Text Prognosi erscheint im Biennale-Katalog, unter dem Titel Gestaltwandel. Eine Prognose auf das 21. Jahrhundert dann in der Wochenzeitung Die Zeit, schließlich in Buchform mit Materialien zur Preisverleihung. In welchem Maße mit der Verleihung des Preises an Jünger tatsächlich eine bestimmte künstlerische Position bestärkt und ausgezeichnet werden soll (und nicht lediglich ein Preis für das ‚Lebenswerk‘ intendiert ist), lässt sich daran ablesen, dass der künstlerische Leiter der 45. Biennale, Achille Bonito Oliva, die Prognosen ein Jahr später (1994) den Theoretical Essays beigibt, größtenteils Übersetzungen aus dem offiziellen Biennale-Katalog, die als 1 2 3

Huyssen, Fortifying the Heart, S. 3. Bernd Klüser: Der Schmetterling von Rom, in: Ernst Jünger: Prognosen, München 1993, S. 43–48, hier: S. 43  f., vorhergehende Zitate: S. 43. Achille Bonito Oliva: Transparenz, in: Ebd., S. 49–54, hier: S. 49.

380 9  Posthistoire postmodern, oder: Der letzte Gestaltwandel: Prognosen kunsttheoretischer basso continuo der kuratorischen Arbeit Olivas verstanden werden können. Jüngers Prognosis erscheint hier im Ensemble mit Texten von Arthur C. Danto (More than meets the Eye), Gianni Vattimo (Beyond the Limits of the Aesthetic), Paul Virilio (The Privilige of the Eye), Gilles Deleuze (Francis Bacon, the Logic of Sensation) u.  a. Die Vermutung liegt nahe, dass das ältere posthistoire-Denken Jüngers mit aktuellen postmodernen Positionen in Einklang, zumindest in einen Dialog gebracht werden soll. Dieser Vermutung möchte ich hier nachgehen. Das Verhältnis von posthistoire und Postmoderne ist keineswegs das einer Abfolge, die Nachgeschichte also nicht schlicht die Vorbereitung des Austritts aus der Moderne. Man kann noch einen Schritt weiter gehen. Folgt man Wolfgang Welsch, dann haben beide Konzepte überhaupt nichts miteinander zu tun. Wer vom posthistoire spricht, wie Arnold Gehlen, meint das Ende der geschichtsbildenden Kräfte innerhalb fortgeschrittener Industriegesellschaften; als postmodern lässt sich hingegen ein Denken bezeichnen, das Wahrheitsansprüche in der Multiperspektivität der Deutungsstandorte relativiert. Es geht hier zwar um die Nach-Moderne – jedoch innerhalb der Geschichte.4 Peter V. Zima macht hingegen zwischen beiden Konzepten sehr wohl eine Verwandtschaft aus; diese bestehe in „der Unglaubwürdigkeit der Großideologien, die beide Begriffe zum Ausdruck bringen“5 würden. Hinsichtlich des posthistoire sind hier sicherlich Zweifel angebracht. Lutz Niethammer verweist zurecht darauf, dass es „Sinnkonstruktionen in der Form von Megaerzählungen über die Weltgeschichte und damit das Erbe der Heilsgeschichte“6 voraussetze. Es lässt sich hier also mit guten Gründen fragen, ob das posthistoire nicht eine neue ‚Großideologie‘ formuliere, eine Art „enttäuschtes Postskript zur Geschichtsphilosophie des 19.  Jahrhunderts“7. Von diesem Punkt aus betrachtet bleibt das posthistoire-Narrativ ganz in der Ordnung seines geschichtsphilosophischen großen Bruders.8 Mit Blick auf Jünger reicht der an Hegel geschulte Bewertungsmaßstab allerdings nicht aus. Denn der nachgeschichtliche Raum wendet sich bei ihm nicht nur von der Geschichte ab, er wendet sich vor allem der Erdgeschichte zu.9 Ich hatte bereits darauf hingwiesen, dass die ‚siderischen Einteilungen‘ (kosmo4 5 6 7 8 9

Vgl. Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne, 4. Aufl., Berlin 1991, S. 17  f. Peter V. Zima: Moderne/Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, 2. Aufl., Tübingen u. Basel 2001, S. 34. Lutz Niethammer: Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende?, unter Mitarbeit v. Dirk van Laak, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 165. Ebd., S. 170. Thomas Jung betont demgegenüber den Bruch des posthistoire mit der Geschichtsphilosophie der Moderne. Vgl. Jung, Vom Ende der Geschichte, S. 36. Dieser Aspekt entgeht Niethammer, der Jünger ganz auf die ‚Waldgänger‘-Pose festlegt. Vgl. Niethammer, Posthistoire, S. 82–104.



9  Posthistoire postmodern, oder: Der letzte Gestaltwandel: Prognosen

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gonische, geologische und meteorologische Abläufe) – wie er sie in An der Zeitmauer entwirft – auch seine Vorstellungen vom posthistoire bestimmen. Die geologisch-kosmozentrische Perspektive beerbt die idealistische Geschichtsphilosophie und versucht sie natur- und erdgeschichtlich zu entgrenzen. Eine solche Akzentuierung des posthistoire hat mehr mit dem geschichtsskeptischen Kosmozentrismus eines Kurt Breysig um 1930 zu tun, als dass sie an Arnold Gehlen anschließen würde. Erhalten bleibt gleichwohl die heilsgeschichtliche Dimension, die nach Niethammer die alte Geschichtsphilosophie strukturierte. Daher rührt auch der prognostische, entwerfende Charakter Jüngers. Spielten Prognosen bereits in An der Zeitmauer eine gewisse Rolle, so sind sie nun titelgebend. Interessant ist dabei, dass Jüngers posthistoire keineswegs jene Züge trägt, die Wolfgang Welsch geltend macht. Folgt man ihm, dann ist die „Posthistoire-Diagnose“ stets „passiv, bitter oder zynisch und allemal grau.“10 Jünger zu Folge sind jedoch nicht nur „Verluste, sondern auch Überraschungen“ zu erwarten: „So neue Stoffe und Kräfte in der anorganischen, und neue Tierarten in der organischen Welt.“11 In geologischpaläontologischer Perspektive können Veränderungen, die in der Vergangenheit zu verorten sind, auch in die Zukunft projiziert werden – in Form eines Prospektes. Die planetarische Dimension der von Jünger prognostizierten Veränderungen trifft sich dabei mit einem anderen Planetarismus. Die 45. Biennale in Venedig unterstützt unter dem Titel Punti Cardinali dell’Arte (Cardinal points of art) „the positive contribution of a transnationality, of an intertwining of nations capable of producing cultural eclecticism and necessary interracial unity.“12 Von einem italienischen Journalisten gefragt, ob er denn mit Olivas „Leit-Thema“ – „begründet auf die planetarische Dimension der Kunst und auf die Interdisziplinarität der ästhetischen Sprachen“ – übereinstimme, gibt Jünger Oliva prinzipiell recht; allerdings gelte die Einheit gewährende Struktur eines bestimmten Stils nicht nur für die Kunst: „Ein Stil gliedert sich nicht nur in die einzelnen Kunstgattungen, sondern erstreckt sich auf das Leben in jeder Einzelheit.“13 Dahinter steht eine Idee, der wir schon häufiger begegnet sind: ‚Gestalt‘ als die jede einzelne Lebensäußerung prägende Matrix eines bestimmten erdzeitlichen Abschnittes. Die neue antinationalistische Globalisierung der Kunstproduktion zu Beginn der 1990er-Jahre findet sich jedenfalls im alten ‚Gestalt‘-Korsett trefflich gespiegelt. Die faschistischen Tendenzen, die diesem Konzept um 1930 anhingen, 10 11 12 13

Welsch, Unsere postmoderne Moderne, S. 18. Ernst Jünger: Gestaltwandel, in: Ders.: Prognosen, München 1993, S. 9–38, hier: S. 33. Achille Bonito Oliva: Cardinal Points of Art, in: Ders. (Hrsg.): La Biennale di Venezia. XLV International Art Exhibition, Cardinal Points of Art, Theoretical Essays, Venedig 1994, S. 9–27, hier: S. 10. Ernst Jünger: Interview mit Fabrizia Lanza, in: Jünger, Prognosen, S. 65–71, hier: S. 66.

382 9  Posthistoire postmodern, oder: Der letzte Gestaltwandel: Prognosen verschwinden im Gewand einer post-nationalstaatlichen Homogenität, einer Weltbürgerschaft in Sachen künstlerischer Ausdrucksvielfalt. Jünger liefert im Interview mehrfach das zustimmungsfähige (gleichwohl schillernde) Stichwort vom ‚Weltstaat‘, auf den nun alles zulaufe.14 Damit ist jene künstlerische Position benannt, für die Oliva glaubt, Jünger in die Pflicht nehmen zu können: ‚Stil‘ als Matrix der Realisierung von Gestaltprinzipien, oder anders gesagt: In gleichem Maße, in dem Jüngers Rede vom Gestaltwandel ein globales Phänomen bezeichnet, zeigt sich die Globalisierung der Kunst für den Künstler als Zugriffsmöglichkeit auf ein national entgrenztes und gerade deshalb transnational signifikantes Stilreservoir. Sekundiert wird Oliva dabei vom italienischen Philosophen und Politiker Massimo Cacciari. Cacciari betont in seiner Laudatio für Ernst Jünger die enorme Bedeutung, der ‚Form‘ und ‚Begriff‘ sowohl bei der Bändigung des Gefährlichen als auch des Leichtfertigen im Werk des Autors zukommen: Alle wissen, daß dieselbe Wurzel, die den Weg weist, auch auf die Gefahr hinweist. Die Gefahr wächst mit der gleichen Intensität wie das Denken fortschreitet. Freilich hat uns Ernst Jünger auch beigebracht, daß diese unbezwingbare experiri den leichtfertigen ‚Experimentismen‘, den ‚avantgardistischen‘ Gesten der modischen Rhetorik um den unbestimmten und unbestimmbaren Exodus, kein Zugeständnis machen darf. Dieselbe Wurzel, die das Denken als ein auf-dem-Weg-sein und den Weg als ein in-der-Gefahr-sein bekräftigt, bejaht auch die Notwendigkeit der Grenze, den unermüdlichen Willen zur Form, den Begriff, den jede Frage, jede Konstruktion am Ende vorweisen muß.15

Man darf sich von Cacciaris  – typisch poststrukturalistischer  – Vorliebe für das Spiel mit dem Signifikanten nicht täuschen lassen, denn am Ende geht es keineswegs um den Aufschub oder gar das Dementi von Bedeutung. Im Gegenteil: Im strengen ‚Form‘-Experiment Jüngers ist der durch die „‚leichtfertigen ‚Experimentismen‘“ der historischen Avantgarden beschworene „Exodus“ stillgestellt. Es ist nicht die abbildende, nachahmende Kraft formaler Umrisssetzung, die Cacciari hier starkmacht. Im Mittelpunkt steht vielmehr das, was man mit Uwe Hebekus ästhetische Ermächtigung der Form nennen könnte. Aufgerufen ist damit eine autonome Ästhetik der Form, die in ihrer Autonomie ein  – auch und gerade  – für politische Absichten ermächtigenden Kern enthält.16 Nun ist eigentlich  – auch bei 14 15 16

Ebd., S. 66  f. Massimo Cacciari: Jünger, ein gefährlicher Meister, in: Jünger, Prognosen, S.  55–64, hier: S. 56. Vgl. auch: Ders.: ‚Laudatio‘ for Ernst Jünger, in: Oliva (Hrsg.), La Biennale di Venezia, S. 107–109, hier: S. 107. Vgl. Uwe Hebekus: Ästhetische Ermächtigung. Zum politischen Ort der Literatur im Zeitraum der Klassischen Moderne, München 2009, S. 9–11.



9  Posthistoire postmodern, oder: Der letzte Gestaltwandel: Prognosen

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Hebekus – Benn der Hauptvertreter einer solchen Verbindung von Kunst und Politik. In der Lesart Cacciaris kann man allerdings unschwer Jünger an dieser Stelle erkennen. Aufgerufen wird er als Stifter einer Totalität, die – wie im Arbeiter – Veränderungen planetarischen Ausmaßes gestaltet und ankündigt; sie ankündigt, indem sie gestaltet werden. Ausdrücklich referiert Cacciari auf An der Zeitmauer  – „eine[s] seiner tiefsten Werke“17  –, genauer gesagt auf jene Passagen des Werks, die der Fremdheit des Menschen gegenüber der Erde angesichts in Aussicht stehender erdgeschichtlicher Veränderungen gewidmet sind: Zeigt sich doch hier der elementare und allumfassende Charakter der Gestalt-Prägung am deutlichsten. Folgt man Jüngers GestaltwandelPrognose, dann sprechen „[v]iele Anzeichen“ dafür, „daß eine Erdrevolution die Weltrevolution umschließt und bestimmt.“ Maßgebend sind demnach nicht „historische[.  .] Epochen“, sondern „Erdzeitalter[.  .]“: „Das nähert sich Hesiod in mythischer Hinsicht, und wissenschaftlich Cuviers System.“18 Die Erdzeitalterlehre der Antike verschmilzt mit dem geologisch-paläontologischen Blick wissenschaftlichen Interesses. Neu ist das alles nicht, und doch bekommen Jüngers Überlegungen nach 1990 eine Aktualität zugesprochen, die sie als nahezu gleichberechtigten Teil zeitgenössischen Denkens ausweisen. Woher rührt die Integrationsbereitschaft des Zeitgeistes? Dass sich Jüngers erdgeschichtliche, nach-geschichtliche Betrachtungsweise so gut in den postmodernen Kontext integrieren lässt, ist auf drei Aspekte zurückzuführen. Zum einen besteht das ältere kosmozentrische Denken der 1930er- und 1940er-Jahre in der posthistoire-Konzeption des späten 20. Jahrhunderts fort,19 angereichert um eine technoid-dystopische Note.20 Damit verbunden ist zum zweiten die Abkehr von einer anthropozentrischen Perspektive:21 Jüngers Prognosis harmoniert auch deshalb mit Gianni Vattimo, Paul Virilio, Gilles Deleuze u.  a., da auch diese jenseits der 17 Cacciari, Jünger, ein gefährlicher Meister, S. 57. Vgl. auch: Ders.: ‚Laudatio‘ for Ernst Jünger, in: Oliva (Hrsg.), La Biennale di Venezia, S. 107–109, hier: S. 107. 18 Jünger, Gestaltwandel, S. 32  f. Vgl. auch: Ders.: Prognosis, in: Oliva (Hrsg.), La Biennale di Venezia, S. 29–35, hier: S. 33  f. Die englische Übersetzung gibt die Cuvier gewidmete Passage mit „Cuvier’s system of animal classification“ (S. 34) wieder. Das ist ein Missverständnis, da Jünger an dieser Stelle zweifelsohne auf Cuviers Katastrophismus rekurriert – und nicht auf dessen wissenschaftliche Leistungen hinsichtlich einer systematischen Klassifizierung des Tierreichs. 19 Dietmar Kamper verweist auf die 1930er- und 1940er-Jahre als Geburtsstunde des posthistorischen Denkens. Vgl. Dietmar Kamper: Nach der Moderne. Umrisse einer Ästhetik des Posthistoire, in: Wolfgang Welsch (Hrsg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Berlin 1994, S. 163–174, hier: S. 167. 20 Jünger hat mit dem Sizilischen Brief an den Mann im Mond (1930) und Eumeswil (1978) an beiden Ausprägungsformen teil. 21 Gregor Streim formuliert demgemäß: „Die These vom Ende des ‚homininen‘ Zeitalters ist kein originärer Gedanke einer neueren Philosophie der Postmoderne.“ Streim, Das Ende des Anthropozentrismus, S. 1.

384 9  Posthistoire postmodern, oder: Der letzte Gestaltwandel: Prognosen klassischen Subjekt-, d.  h. Bewusstseinsphilosophie und gängiger SubjektObjekt-Dualismen wie überhaupt jenseits bipolarer Ordnungsmuster – etwa in der Orientierung an einer ‚Figur des Dritten‘22  – argumentieren. Dies führt zur dritten Verbindungslinie: der Skepsis gegenüber rationaler Welterschließung als verlängerte Achse der Aufklärungskritik.23 Mythophiler Synkretismus, futurologischer Spleen und apokalyptische Kulturkritik gehen hier Hand in Hand. Jüngers Gäa als geologisch-mythologischer Zwitter passt durchaus in dieses Ensemble. Man kann sicherlich Zweifel anmelden, in welchem Maße das über sechzigjährige Festhalten des Autors am GestaltParadigma tatsächlich als Teil des „literary modernism“ gewertet werden kann.24 Fest steht aber auch, dass postmodernes Denken sowohl an die vormodernen, bisweilen regressiven Elemente der klassischen Moderne als auch deren ‚unvernünftige‘ Totalitätsverheißungen anknüpft. Aus dieser Perspektive erscheint Jüngers Gestaltwandel als ein „in the spirit of posthistoire and the postmodern“25 verlängertes Versprechen des allumfassenden Zäsurdenkens der Zeit um 1930.

22 23

24

25

Vgl. zur ‚Figur des Dritten‘ Albrecht Koschorke: Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften, in: Eva Eßlinger u.  a. (Hrsg.): Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma, Berlin 2010, S. 9–31. Friedhelm Kröll führt den konservativ-revolutionären Jünger der 1920er-Jahre mit Deleuze und Foucault im Fokus lebensphilosophischer Entgrenzung zusammen. Das tertium comparationis macht er in Nietzsche aus. Vgl. Friedhelm Kröll: Postmoderne und ‚Neue Rechte‘: Der Fall Ernst Jünger, in: Volker Eickhoff/Ilse Korotin (Hrsg.): Sehnsucht nach Schicksal und Tiefe. Der Geist der konservativen Revolution, Wien 1997, S. 166–182. Vgl. zu einer solchen Kritik an der Modernität Jüngers: Huyssen, Fortifying the Heart, Zitat: S. 4. Günter Figal betont hingegen die Modernität Jüngers im Rückgriff auf Baudelaires Essay Le peintre de la vie moderne: „Hier wird die Moderne – wie bei Jünger – nicht aus nachkommender, vermeintlich souveräner Deutungsperspektive bestimmt, sondern wirklich artikuliert, und zwar als Grunderfahrung eines künstlerischen Gestaltens, das sich nicht mehr in der Sicherheit überlieferter und für kanonisch geltender Formen hält, sondern auf das Besondere, das Jeweilige und Situationsgebundene verwiesen sieht […]. “ Günter Figal: Jünger, Baudelaire und die Modernität, in: Revue de Littérature Comparée 4/71 (1997), S. 501–508, hier: S. 503  f. Inwiefern die von Figal vor allem dem Abenteuerlichen Herz I abgelesene Duplizität von Plötzlichkeit und Erkenntnis sich mit dem doch eher auf intuitionistischer, ruhiger Schau basierenden Gestaltparadigma im Fluchtpunkt einer verbindenden ‚Modernität‘ vermitteln lässt, bleibt noch zu klären. Huyssen, Fortifying the Heart, S. 3.

10  Fazit. Zur Politik der Paläontologie und Vorgeschichte 10.1  Ur wie Ursprung. Randgänge der politischen Ideengeschichte Wir haben in den zurückliegenden Kapiteln Jüngers Verhältnis zur Paläontologie und Vorgeschichte in unterschiedlichen Facetten diskutiert. Auch wenn man den einen gemeinsamen Nenner sicherlich vergeblich sucht, auf den sich das Interesse Jüngers an den bisher erörterten disziplinär nachweisbaren Wissenskonstellationen bringen lässt, so gibt es doch einige Konstanten. Die Frage nach diesen Konstanten muss über den bisher anvisierten recht engen wissensgeschichtlichen Fragehorizont hinausführen, und zwar in Richtung politischer Autorschaft. Stellt man in Rechnung, dass Jünger „zweifellos ein politischer Autor“ ist, dies zwar nicht „ausschließlich“, aber eben „auch nicht bloß zu einem sauber abgrenzbaren Teil“1, so wird deutlich, dass vorgeschichtliches und paläontologisches Wissen auch im Einzugsgebiet dieser politischen Dimensionierung zu betrachten ist. Grundsätzlich ergeben sich hier zwei Argumentationsmöglichkeiten, die wir im Folgenden – in diesem und im nächsten Kapitel – abschließend durchspielen wollen. Zum einen lassen sich die im Rahmen dieser Arbeit gemachten Beobachtungen in das bestehende, vorwiegend geschichtswissenschaftlich und soziologisch konturierte Narrativ der Entwicklung der politischen Autorschaft Jüngers einschreiben. Der Weg führt hier von Jünger als ‚Konservativem Revolutionär‘ der 1920er-Jahre zum symbolischmetapolisierenden und naturphilosophierenden Dichter der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, oder – wie es Daniel Morat prägnant auf den Punkt bringt –: Von der Tat zur Gelassenheit.2 Zum anderen kann man fragen, ob es im Gegensatz zu diesem integrativen Verfahren nicht darum gehen müsse, 1 2

Matthias Schöning: Kriegserfahrung und politische Autorschaft, in: Ders. (Hrsg.), JüngerHandbuch, S. 5–29, hier: S. 5. Vgl. Morat, Von der Tat zur Gelassenheit. Bereits Christian Graf von Krockow und KlausFrieder Bastian nutzen diese Erzählordnung gewinnbringend. Vgl. Christian Graf von Krockow: Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger, Stuttgart 1958, S. 44–54, S. 106–115; Klaus-Frieder Bastian: Das Politische bei Ernst Jünger. Nonkonformismus und Kompromiß der Innerlichkeit, Diss., Universität Heidelberg 1963.

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10  Fazit. Zur Politik der Paläontologie und Vorgeschichte

eine Umakzentuierung des Politischen im autorschaftlichen Konzept Jüngers vorzunehmen; die neuen Ergebnisse dieser Arbeit wären demnach also nicht einfach in das ältere Narrativ zu integrieren, sondern ein Alternativvorschlag müsste das Ergebnis sein. Garantiert die nachvollziehende Bestätigung paradigmatischer Positionen der politischen Ideengeschichte des Konservatismus zweifelsohne die Anschlussfähigkeit der Ergebnisse dieser Arbeit, so bleiben doch die vorgeschichtlichen und paläontologischen Diskursmuster in ein historiographisches Korsett eingebunden, das deren Eigendynamik hinsichtlich einer möglichen Neubestimmung der autorschaftlichen Entwicklung Jüngers nur unzureichend herausarbeitet. Hinzukommt der Umstand, dass, wie wir noch sehen werden, eine primär politisch-ideengeschichtliche Argumentation an entscheidender Stelle in Erklärungsnot gerät. Die Geschichte des Konservatismus hat Jünger einen festen Platz gesichert. Als Teil der ‚Konservativen Revolution‘ oder der ‚Neuen Rechten‘ steht sein publizistisches Engagement zwischen 1925 und 1930 im Zeichen eines aggressiven Nationalismus, der die demokratische Werteordnung von Weimar ablehnt und gewaltverherrlichend seine Tatbereitschaft  – die Bereitschaft zur Überwindung des ‚Weimarer Systems‘  – zu Schau stellt.3 Folgt man der in apologetischer Absicht konzipierten und daher vielerorts zu Recht problematisierten, jedoch im Ergebnis gleichwohl einflussreichen Einteilung von Armin Mohler (1920–2003), dann gehört Jünger dem nationalrevolutionären Flügel der ‚Konservativen Revolutionäre‘ an.4 Ge3

4

Vgl. Harro Segeberg: Revolutionärer Nationalismus. Ernst Jünger während der Weimarer Republik, in: Helmut Scheuer (Hrsg.): Dichter und ihre Nation, Frankfurt/M. 1993, S. 327–343; Dupeux, Der ‚Neue Nationalismus‘ Ernst Jüngers 1925–1932; Daniel Morat: Die politische Publizistik Ernst Jüngers und der Neue Nationalismus von 1925 bis 1930, in: Z – Zeitschrift für Kultur- und Geisteswissenschaften 5 (1997/98), S. 49–64; Helmut Mottel: „Vor Actium“. Ernst Jünger im Kontext des Diskurses der prophetischen Literatur nach 1918, in: Hagestedt (Hrsg.), Ernst Jünger, S. 289–319, hier bes.: S. 304–311; Thomas R. Nevin: Ernst Jünger and Germany. Into the Abyss, 1914–1945, Durham 1996, S. 75–114; Thomas Rohrkrämer: Kult der Gewalt und Sehnsucht nach Ordnung. Ernst Jünger und der soldatische Nationalismus in der Weimarer Republik, in: Sociologus 51 (2001), S. 28–48; Rolf-Peter Sieferle: Die konservative Revolution. Fünf biographische Skizzen (Paul Lensch, Werner Sombart, Oswald Spengler, Ernst Jünger, Hans Freyer), Frankfurt/M. 1995, S. 132–163, bes. S. 143–153; vgl. auch das forschungsgeschichtlich konturierte Referat bei Keller, Spuren und Schneisen, S. 72–86. Vgl. orientierend zur Begriffs- und Konzeptgeschichte der ‚Konservativen Revolution‘: Keith Bullivant: The Conservative Revolution, in: Anthony Phelan (Hrsg.): The Weimar Dilemma. Intellectuals in the Weimar Republic, Manchester 1985, S. 47–70; Stefan Breuer: Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1993; Ders.: Der Neue Nationalismus in Weimar und seine Wurzeln, in: Helmut Berding (Hrsg.): Mythos und Nation, Frankfurt/M. 1996, S. 257–274. Vgl. die Einteilung der ‚Konservativen Revolution‘ in völkische, jungkonservative, bündnerische und nationalrevolutionäre Kräfte bei Armin Mohler: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Grundriß ihrer Weltanschauung, 2. Aufl., Darmstadt 1972 [1950], S. 130–166.



10.1  Ur wie Ursprung. Randgänge der politischen Ideengeschichte

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meinschaftsstiftend wirken hier das gemeinsame ‚Fronterlebnis‘ und das Bemühen, aus dem Weltkrieg einen möglichst umfassenden Handlungsanspruch hinsichtlich der Gegenwart abzuleiten. Es geht um die Fortsetzung des Krieges mit vergleichbaren Mitteln: Die herbeigeschriebene Revolution setzt ganz auf Gewalt und Untergang.5 Ziel ist ein völliger, ein epochaler Bruch, nicht nur mit der Weimarer Republik, sondern mit dem geschichtlichen Denken und der geschichtlichen Zeit an sich. Denn was den ‚Konservativen Revolutionären‘ vorschwebt, ist der „Wiederanschluss an ein Ursprüngliches, Elementares“6. Dem Konzept des Ursprungs kommt hier einige Bedeutung zu.7 Dies umso mehr, als konkrete, über die Bekundung diffuser Tatbereitschaft und Gewaltlust hinausgehende politische Ziele kaum erkennbar sind.8 Siegfried Marck, der Ende der 1930er-Jahre in dem Gedanken einer ‚Konservativen Revolution‘ „zweifellos das Kernstück der faschistischen Ideologien“9 ausmacht, hält das Ursprungsdenken für ein Hauptmerkmal der europäischen (vor allen Dingen italienischen und deutschen) ‚Neuen Rechten‘. In der Verschmelzung älterer konservativer und neuer revolutionärer Elemente in einer gemeinsamen Hinwendung zum ‚Ursprung‘ bestehe denn auch die eigentliche Leistung des Faschismus: Konservative und revolutionäre Haltung finden sich im ‚Ursprung‘. Ursprung kann einen zeitlichen Anfang bedeuten. Dieser kann sich soweit zurückverlieren, daß er verschollen ist und seine Spur ins Mythische führt. In diesem Sinne also weist das Wort Ursprung in die Tiefen der Vergangenheit. Ursprünglichkeit – damit bezeichnen wir zugleich das Schöpferisch-Quellende, das Unmittelbare und Impulsive, und hier also kennzeichnet das Wort Ursprung die reinste Gegenwärtigkeit. Aber auch unabhängig von der Charakteristik zeitlicher oder psychologischer Vorgänge kann Ursprung einen sachlichen Beginn, ein logisches Apriori, kurz: eine von der Zeit unabhängige Bedingung bezeichnen.10 5

6 7 8

9 10

Vgl. Klaus Vondung: Metaphysik des apokalyptischen Aktivismus. Ernst Jüngers Geschichtsdenken vor 1933, in: Études Germaniques 51 (1996), S. 647–656; Thomas Koebner: Die Erwartung der Katastrophe. Zur Geschichtsprophetie des ‚neuen Konservatismus‘ (Oswald Spengler, Ernst Jünger), in: Ders. (Hrsg.): Weimars Ende. Prognosen und Diagnosen in der deutschen Literatur und politischen Publizistik 1930–1933, Frankfurt/M. 1982, S. 348–359. Morat, Von der Tat zur Gelassenheit, S. 39. Dies vermerken bereits frühe historiographische Bemühungen um die ‚Konservative Revolution‘. Vgl. Siegfried Marck: Der Neuhumanismus als politische Philosophie, Zürich 1938, S. 11–19. Den Hinweis auf Marck verdanke ich Morat, Von der Tat zur Gelassenheit, S. 39. Rolf Peter Sieferle, der Jünger einen „leere[n] Radikalismus attestiert“, kommt zu dem Schluss: „Realpolitisch gesehen handelte es sich um bloßes Sektierertum ohne jede pragmatische Bedeutung.“ Sieferle, Die konservative Revolution, S. 150, S. 144. Vgl. zum Konzept der ‚Tat‘ im Rückgriff auf Nietzsche auch Michael Storch: Der „Ausdeuter der Tat“: Friedrich Nietzsches Präsenz in Ernst Jüngers politischer Publizistik der Weimarer Zeit, in: Kaufmann/Sommer (Hrsg.), Nietzsche und die Konservative Revolution, S. 435–454. Marck, Der Neuhumanismus als politische Philosophie, S. 11. Ebd., S. 13.

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10  Fazit. Zur Politik der Paläontologie und Vorgeschichte

‚Ursprung‘ meint hier dreierlei: ein zeitlich Frühes, ein elementar Begründendes und ein gegenwärtig Lebendiges. Deutlich zu erkennen sind hier jene epistemischen Dimensionen des ‚Ur‘, die wir eingangs als ‚Orte des Eigentlichen‘ aufgerufen haben.11 Jüngers ausführlich rekonstruierte Hinwendung zu Primitivismus, anti-darwinistischem orthogenetischem und neo-lamarckistischem Denken zeigt sich in dem Begründungszusammenhang Marcks als Versuch einer vitalistischen Konkretisierung des ‚Ursprungs‘; es geht mithin um „das Schöpferisch-Quellende, das Unmittelbare und Impulsive“. Der Wandel vom Vitalismus der 1920er-Jahre zu einer „von der Zeit unabhängige[n] Bedingung“ wie sie die ‚Gestalt‘ formuliert, lässt sich dann um 1930 situieren. Parallel zum Gestalt-Denken entwickelt sich die kosmozentrischen Perspektive der 1930er- und 1940er-Jahre, die bis in die 1990er-Jahre hinein variiert wird. Der Kosmozentrismus ist insofern dem Ursprungsdenken von Anfang an inhärent, als es, folgt man Marck, gleichfalls ein mythisch-kosmogonisches Denken ist: Der echte Ursprungs-Mythos […] verdankt seine Ehrwürdigkeit der Tatsache, daß er den schöpferischen Impuls verherrlicht, der eine geschichtliche Bewegung ins Leben rief. Die Kosmogonie, der Schöpfungs-Mythos ist der Ideal-Typus aller, auch der historischen Mythen. In der Kosmogonie steht neben dem ‚Im Anfange‘ unmittelbar das ‚Gott schuf‘. Der Anfang in der Zeit leitet sich aus der schöpferischen Gotteskraft her, ja, er ist schließlich nur das Sinnbild zeitlos-wirksamer Gewalten.12

Bleibt der regressive Vitalismus der Kriegsschriften der 1920er-Jahre zunächst ganz dem schöpferischen Kraftprinzip verbunden, so beerbt der anti-anthropozentrische Kosmozentrismus der Folgejahrzehnte das ältere kosmogonische Denken – indem er es erdgeschichtlich akzentuiert. Man könnte hier auch von einer Empirisierung des mythischen Denkens sprechen, insofern nämlich, als es Jünger stets darum geht, ‚Tatsachen‘ zu sehen und zu benennen; im besten Sinne des Wortes: empirisch zu beglaubigen. Dieser latente Positivismus steht zu den metaphysischen Absichten jedoch nicht im Widerspruch, im Gegenteil, er fungiert vielmehr als zeitgenössisch akzeptierte Alternative zur älteren ‚Spekulation‘, die gezielt und – im wahrsten Sinne des Wortes  – gedankenvoll vom Nur-Erfahrbaren absieht. In der Perspektive politischer Ideengeschichte findet das vitalistische Untergangsdenken der Weimarer Jahre seine Fortsetzung im Entwurf von Kategorien erdgeschichtlicher Zäsuren der 1950er- und 1960er-Jahre.13 Die im Rahmen dieser Arbeit vorgenommene Rekonstruktion des zunächst stammesgeschichtlich-primiti11 12 13

Vgl. Kap. 1.2.2. Marck, Der Neuhumanismus als politische Philosophie, S. 17. Vgl. Morat, Von der Tat zur Gelassenheit, S. 523  f.



10.1  Ur wie Ursprung. Randgänge der politischen Ideengeschichte

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vistischen, alsdann morphologisch-idealistischen, schließlich geologisch-paläontologischen und anthropogenetischen Diskussionshorizontes Jüngers ließe sich in diese Entwicklungslogik problemlos eintragen. Der gewählte Konjunktiv verweist jedoch bewusst, d.  h. mit Gründen, auf Vorbehalte gegenüber einem solchen Vorgehen, und in der Tat gibt es hier mindestens zwei gravierende Probleme. Zunächst steht die Hierarchie der Wissensordnungen im Werk Jüngers keineswegs fest. Demnach ist es nicht gesagt, welcher Art das politische Kraftzentrum ist. Es gibt also nicht ein eigentlich Gesellschaftspolitisches, dessen Entwicklung die anderen bei Jünger nachweisbaren Wissensbestände – auch die hier verhandelten – lediglich sekundieren würden. Zum anderen liegt die Skepsis gegenüber einer Einreihung der bisher präsentierten Ergebnisse in das politisch-ideengeschichtliche Master-Narrativ in dessen linearer Struktur begründet: Jüngers Entwicklung präsentiert sich hier als variierende Ausfaltung einiger Kernprinzipien. Die Positionen der 1920erJahren bilden in dieser Lesart gleichsam die Präfiguration dessen, was später unter veränderten, weniger gewalttätigen Vorzeichen – jedoch: mehr oder weniger entelechisch – seinen Ausdruck findet. Blicken wir zunächst auf die Zweifel am diskursorganisierenden gesellschaftspolitischen Kern Jüngers, beispielhaft verdeutlicht am sog. ‚Nationalismus‘. Dass die politische Rechte der Weimarer Republik nationalistisch im Sinne eines Bekenntnisses zu einem autoritär geführten deutschen Führer-Staat ist, lässt sich wohl kaum bestreiten. Doch welche Rolle spielt dieser Nationalismus in der weltanschaulichen Grundausrichtung? Ist er zentral? – Louis Dupeux spricht von der „Relativierung des politischen Nationalismus“ durch die morphologische „Wendung zur ‚Tiefe‘“ in den späten 1920er-Jahren.14 Richard Herzinger geht noch einen Schritt weiter. Er sieht im Nationalismus von Anfang an, d.  h. seit den frühen 1920er-Jahren, keine wesentliche Rolle bei der Konstitution der weltanschaulichen Grundausrichtung: „Der Nationalismus ist […] für die radikal rechten Revolutionäre nicht die Essenz ihrer Weltanschauung, sondern eher ein brauchbares Instrument zur Mobilisierung vermeintlich elementarer Kräfte des ‚Lebens‘.“15 In dem Maße, wie dem vitalistischen Denken oder besser gesagt: Anti-Denken das Primat zukommt, müsste man, so Herzinger weiter, konsequenterweise von 14 15

Dupeux, Der ‚Neue Nationalismus‘ Ernst Jüngers 1925–1932, S. 20; vgl. zum Wandel vom Vitalismus zum Gestalt-Denken S. 27  f. Richard Herzinger: Kulturkrieg und utopische Gemeinschaft. Die ‚Konservative Revolution‘ als deutscher antiwestlicher Gegenmodernismus, in: Eickhoff/Korotin (Hrsg.), Sehnsucht nach Schicksal und Tiefe, S. 14–39, hier: S. 25. Herzingers Betonung der lebensphilosophischen Grundlagen der Rechtsrevolutionäre wendet sich gegen Stefan Breuers Vorbehalte gegenüber dem Kompositum ‚Konservative Revolution‘ und vor allen Dingen gegen dessen Vorschlag, das bisher als ‚Konservative Revolution‘ systematisierte geschichtliche Phänomen nun mit dem Begriff ‚Neuer Nationalismus‘ zu fassen.

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„‚Elementarrevolutionäre[n]‘“ oder „‚Lebensrevolutionäre[n]‘“16 sprechen. Nun muss man nicht unbedingt ein Freund dieser Umetikettierung sein, um die Brisanz des Vorschlags zu erkennen. Gilt in der Perspektive politischer Ideengeschichte die vitalistische Rhetorik eher als modische Begleitmusik oder Vehikel einer im Grunde auch anders vermittelbaren (tages-)politisch relevanten und gesellschaftspolitisch fokussierten Interessenbekundung, so verweist die Rede von ‚Elementar-‘ oder ‚Lebensrevolutionären‘ auf die Äußerlichkeit nationalistischer Forderungen. Diese Äußerlichkeit rückt seitens einer politisch-ideengeschichtlichen Analyse jedoch insofern nicht völlig aus dem Fokus, als auch sie eingesteht, dass die aus dem Kampferlebnis des Weltkrieges abgeleiteten Überlegungen, die eine Mobilisierung und Solidarisierung aller Mitglieder einer Nation im Namen eines souveränen, starken Staates anstreben, eigentümlich unkonturiert bleiben. Der Nationalismus der 1920er-Jahre darf demnach nicht einfach als Antwort auf die sich „aufdrängende Frage nach dem Sinn des Kampfes“ verstanden werden, denn diese Frage liegt außerhalb der vitalistischen Diskurskartographie. „Schon im Fragen steckt ein Vorurteil“, fasst der Politikwissenschaftler Christian Graf von Krockow bereits Ende der 1950er-Jahre das Selbstverständnis konservativ-revolutionärer Argumentationslogik zusammen, nämlich „der Versuch, den ‚Sinn‘ des Ungewöhnlichen an seiner Bedeutung für die bürgerliche Normalität zu messen. Der Kampf als solcher ist vielmehr Sinn schlechthin, er bringt die Offenbarung eigentlichen, durch keine normative Zurechnung gebrochenen Menschseins, Offenbarung des Elementaren […]. “17 Krockow hält diese Position für nicht besonders konsistent, verweise sie doch auf die Orientierungslosigkeit der neuen Rechten; viel mehr als ein Ausweichmanöver gegenüber den tatsächlich relevanten Fragen der Zeit – eine gewisse Entscheidungsfeigheit trotz aller Entscheidungsemphase – könne man darin jedenfalls nicht sehen. Das ist sicherlich nicht falsch. Im Rahmen der hier eingenommenen Perspektive ist jedoch die Tatsache wichtiger, dass die politische Ideengeschichte der Analyse des vitalistisch-elementaren Kerns eigentümlich 16

17

Ebd. Die untergeordnete Bedeutung des Nationalismus – wie sie in Bezeichnungen wie ‚Elementarrevolutionäre‘ zum Ausdruck kommt – sollte allerdings nicht den Blick darauf verstellen, dass es ganz maßgeblich jene den Menschen als Tier imaginierenden Positionen des Vitalismus sind (vgl. Kap. 2.1), die der allgemeinen Kriegsverherrlichung des NS zuarbeiten und somit für eine Instrumentalisierung ab 1933 bereitstehen. Roger Woods weist zurecht darauf hin, dass sich Jünger zwar ab etwa 1926 von der nationalsozialistischen Bewegung „auf der Ebene der politischen Erklärungen“ abgrenzt, sich von dem weltanschaulich jedoch weit grundlegenderen aggressiven Vitalismus erst nach 1933 verabschiedet, indem er diesen dann mehr (nach 1945) oder weniger (bis 1945) offen kritisiert. Vgl. Roger Woods: Zwischen politischem Programm, Aktivismus und Negation: ‚Konservative Revolution‘, Nationalsozialismus und ‚Neue Rechte‘, in: Eickhoff/Korotin (Hrsg.), Sehnsucht nach Schicksal und Tiefe, S. 40–54, Zitat: S. 43. Krockow, Die Entscheidung, S. 46.



10.1  Ur wie Ursprung. Randgänge der politischen Ideengeschichte

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ratlos gegenübersteht: Über die Tatsache hinaus, dass es diesen Kern gibt, kann sie schlicht nichts weiter sagen – und gerät damit in Erklärungsnot. In gesteigerterem Maße zeigt sich diese Ratlosigkeit dann hinsichtlich der Entwicklung Jüngers, seiner „Kehre vom dezisionistischen zum wesentlichen Denken“18. Krockow hat vollkommen recht, wenn er Jüngers Überlegungen „in immer zunehmenderem Maße metaphysisch bestimmt“ sieht und diese Metaphysik im Gegensatz zur abendländischen Tradition, die „‚Metaphysik von oben‘“ sei, als „‚Metaphysik von unten‘“19 bezeichnet – jedoch hat er keine Kategorien, um im metaphysischen Feld Vermessungsarbeit zu leisten. Über eine deskriptive Registratur von Jüngers „rastlose[r] Beschäftigung mit Gestein und Getier, mit Blättern, Käfern, Farben“20 kommt er kaum hinaus. Ähnlich liegen die Dinge bei Morat. Jüngers „späte[.  .] Esoterik der Zeitenwende“ deutet er als Abwendung – und hinsichtlich der Leser: als Einladung zur Abwendung – von den politischen Realitäten der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft.21 Auch diese Deutung ist nicht falsch, doch auch ihr gelingt es nicht, ihren Untersuchungsgegenstand  – Jüngers katastrophisches Denken  – in der Betrachtung scharfzustellen: Indem sie von einer eigentlich gesellschaftspolitischen Haltung ausgeht, die sich gleichsam als passende Staffage unterschiedlicher rhetorischer – mythologischer und naturgeschichtlicher  – Muster bedient, rücken die wissensgeschichtlich nachweisbaren diskursiven Bezugsmuster von Jüngers Argumentation nicht in den Blick. Auch sie gelten als Äußerlichkeiten eines im Grunde gesellschaftspolitischen Kerns. Interessanter Weise wird auf diesem Weg Jünger als ‚Denker‘ und ‚Philosoph‘ aufgewertet – eine Nobilitierung des Autors in der Tradition der Heidegger-Lektüre des Arbeiters. Denn da der als ‚metaphysisch‘ angesprochene Denkraum einer genaueren Analyse des politischideengeschichtlichen Zugriffs versperrt bleibt, wird Jüngers Eigenständigkeit des Denkens in diesem Bereich kaum angezweifelt, trotzdem – oder gerade weil? – Begriffe und Kategorien fehlen, um diese Eigenständigkeit in ihrer Abhängigkeit vom zeitgenössischen Diskurshorizont zu hinterfragen. Kommen wir zur Kritik an der variierenden Ausfaltung einiger Kernprinzipien von Jüngers Denken. Ein gutes Beispiel für die Ausfaltungsthese ist die Annahme, in Jüngers Werk habe es einen „Wandel in der Apokalyptik“22 gegeben. Aus dieser Perspektive steht die vitalistische Gewalt- und Umbruchsverherrlichung der Weimarer Jahre am Anfang einer Entwicklung, die ihre Fortsetzung in der Rhetorik der Zeitenwende, der Erdrevolution und 18 Ebd., S. 107. 19 Ebd., S. 110. 20 Ebd. 21 Morat, Von der Tat zur Gelassenheit, S. 528. 22 Ebd.

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10  Fazit. Zur Politik der Paläontologie und Vorgeschichte

des Austritts aus dem geschichtlichen Raum finde. Der Kontinuität apokalyptischen Denkens im Allgemeinen entspricht hier ein Wandel in der politischen Einstellung im Besonderen. Die Radikalität entwickelt sich schrittweise zur Kontemplation; nicht mehr um eine tatkräftige Herbeiführung der Apokalypse geht es nun, sondern um deren heitere Erwartung. Deutlich erkennbar ist hier das Bemühen, Veränderungen in der gesellschaftspolitischen Orientierung Jüngers in der strukturellen Ordnung des apokalyptischen Geschehens zu spiegeln. Sieht man einmal von der bereits kritisierten Konstitution eines eigentlich Gesellschaftspolitischen, dessen Ausdrucksformen gegenüber seiner inhaltlichen Gestaltung eher sekundär eingeschätzt werden, ab, so blendet die Kontinuitätsthese die unterschiedlichen diskursiven Bezugsmuster des apokalyptischen Denkens Jüngers weitestgehend aus. Bedient sich der apokalyptische Furor der 1920er-Jahre ganz maßgeblich aus dem Fundus des stammesgeschichtlich und primitivistisch konturierten Vitalismus, so rückt später die Zeitsignaturen-Lehre Dacqués und – damit verbunden – der Katastrophismus Cuviers in den Mittelpunkt. Die Rede von der ‚Apokalypse‘ grundiert demgegenüber die in Rede stehenden Veränderungen schon immer biblisch-mythologisch. Der damit veranschlagte Diskurskontext ist insofern problematisch, als er dem spannungsvollen Mit- und Gegeneinander von empirisch-positivistischer und idealistischer Grundausrichtung von Jüngers Denken nicht gerecht wird. Zudem wird eine Einheitlichkeit in der Gesamtentwicklung suggeriert, die durch die wissensgeschichtlich nachweisbare Heterogenität der Bezüge zumindest zu relativieren ist. Es dürfte an dieser Stelle deutlich geworden sein, dass es gute Gründe gibt, Jüngers Anverwandlung paläontologischen und vorgeschichtlichen Wissens nicht einfach in die politisch-ideengeschichtlich vorgezeichnete Werkbiographie einzutragen. Doch welche Argumentationsspielräume gibt es in dezidiert wissensgeschichtlicher Hinsicht? Und was bedeutet ein wissensgeschichtlicher Zugriff für die Konturierung des Politischen innerhalb der Autorschaft Jüngers?

10.2  Naturgeschichte als ‚tiefergelegte‘ Gesellschaftsgeschichte, oder: wider die ontologische Kontingenz Wir wollen an dieser Stelle zunächst die bereits in der Einleitung mit dem Jünger-Leser Blumenberg aufgeworfene Gretchenfrage hinsichtlich der Bestimmung des Verhältnisses von Literatur und Wissen wieder aufnehmen: Wie sieht es in dem von uns untersuchten Zeitraum mit den innerwissenschaftlichen Geltungsprinzipien empirischer und metaphysischer Zugriffe aus? Ausgangspunkt dieser Frage war die Beobachtung, dass Jüngers Wissen  – ob nun in der essayistischen, diaristischen oder fiktionalen Prosa  –



10.2  Naturgeschichte als ‚tiefergelegte‘ Gesellschaftsgeschichte

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sich mit Blumenberg ganz allgemein als metaphysisch-empirische Synthese ansprechen lässt. Und will man nun wissen wie – und wenn ja, auf welche Art – sich die für seine ‚Literatur‘ charakteristische Erkenntnis-Synthese zum außerliterarischen Wissen verhält, so muss man der Frage nachgehen, wie das Verhältnis von Empirie und Metaphysik innerwissenschaftlich gewichtet und als wahrheitsfähig eingestuft wird. Im Zugriff auf die Ergebnisse vorliegender Arbeit fällt es nicht schwer, die Frage zu beantworten: Empirie und Metaphysik sind für Teile der deutschen Paläontologie bis in die 1950er-Jahre hinein verschwistert. Der Fragehorizont, wie er durch die idealistische Morphologie gesetzt ist, fußt geradezu maßgeblich auf der Dialektik von Präsenz und Absenz, von sichtbar-individueller und metaphysisch-allgemeiner Gestalt. Jüngers Aufnahme dieser Dialektik stellt also noch keine dezidiert literarische Leistung dar: weder in dem Sinne, dass sie, um es etwas altmodisch zu sagen, der Einbildungskraft des Autors entstammte; noch in der Hinsicht, dass die poetische Ausdrucksform dezidiert am epistemischen Gehalt mitwirken würde. In dem Maße, wie das metaphysische Denken im stammesgeschichtlichen Anti-Darwinismus der Paläontologie eine Art Residuum findet, ist es als Wissen noch diskutabel. Jünger weitet die Kampfzone freilich aus, etwa im Arbeiter, in dem sich Spuren der Zeitsignaturen-Lehre Dacqués finden. In der in diesem Text gelieferten Übertragung der Zeitsignaturen vom paläontologischen auf das diagnostisch-prognostische Denken zeigt sich bereits Jüngers späteres Interesse für erdgeschichtliche Veränderungen, wie er sie in An der Zeitmauer dann im Rückgriff auf die geologische Zeitskala ganz offen imaginieren wird. Die zwischen Naturgeschichte und Mythologie changierenden Schlangen in Auf den Marmorklippen und Eumeswil können als weiteres Beispiel für einen spielerischen Umgang mit Dacqué gelesen­ werden. Unterhält Jünger einerseits zu den esoterischen Filiationen des paläontologischen Wissens im Besonderen – und die idealistische Morphologie wird man hier wohl einreihen dürfen – eine intime und produktive Beziehung, so ist das Wissen der Wissenschaften im Allgemeinen wohl eher Verfügungsmasse. Bereits Krockow kommt zu dem Ergebnis, dass Jünger „die Wissenschaft“ keineswegs „verwirft“, „er bedient sich ihrer, aber sie bleibt von untergeordneter Bedeutung. Sie gewinnt unversehens alchemistischen, magischen Charakter, denn das ganze Bestreben ist darauf gerichtet, den ‚Hauptschlüssel‘ zu finden, der ‚tiefere Einsichten‘ eröffnet als die, welche die Wissenschaften zu bieten vermag.“23 Wie wir gezeigt haben, sind Teile der deutschen Paläontologie in diesem Sinne selbst ‚magisch‘ tingiert und damit tiefenperspektivisch ausgerichtet. Es bedarf hier also nur geringfügig 23

Krockow, Die Entscheidung, S. 111.

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fiktionalisierender Übersetzungsarbeit, um dieses Wissen, etwa in der Figur des Nigromontan, zum literarischen Sujet zu machen. Der (teilweise) prekäre Status des Wissens innerhalb der wissenschaftsinternen Methoden- und Erkenntnisreflexion schlägt im Rahmen von Jüngers Anverwandlungspraxis nicht negativ zu Buche. Selbst an dem Punkt, an dem Heberer gegenüber Jünger zentrale Annahmen der idealistischen Morphologie zurückweist und stattdessen unverhohlen mit Darwin und der modernen Genetik argumentiert, geht Jünger noch darauf aus, Heberers Ergebnisse ihrem Deutungskontext zu entziehen und seinem Konzept des ‚Ungesonderten‘ einzuverleiben. In der Rolle des naturphilosophischen ‚Sehers‘ tritt Jünger dem nicht-esoterisch relationierten wissenschaftlichen Wissen im skeptischen Gestus dessen prinzipiellen Ungenügens gegenüber. Als autorschaftliche Rolle wäre dies sicherlich nichts weiter als anmaßend und damit wirkungslos, wenn seine Gesprächspartner hier keine kollegiale Bestätigung liefern würden. Und genau das machen Heberer und Hölder. Während Heberer kein großes Problem mit der Verabschiedung weltanschaulich-metaphysischer Komponenten des stammesgeschichtlichen Denkens hat und mit seiner Theorie der additiven Typogenese aktiv an deren Beseitigung beteiligt ist, muss Hölder sich darüber im Klaren sein, dass seine an Goethes Morphologie geschulten paläontologischen Positionen der Zeit um 1940 im wissenschaftlichen Gespräch um 1960 nicht mehr haltbar sind. In Jüngers Essays lobt er denn auch jene Tiefendimension, für die die zünftige Geologie und Paläontologie gerade nicht mehr zuständig ist. Dies ist bei Heberer anders. Da er keine Probleme mit der Verabschiedung gestaltidealistischen Denkens hat, nimmt er Jünger auch nicht für dessen literarisch-essayistische Anverwandlung oder Weiterführung, sondern lediglich für eine die naturwissenschaftlich-naturgeschichtliche Perspektive eher unspezifisch erweiternde dichterische Naturphilosophie in Anspruch. Die zwischen Heberer und Jünger verhandelten anthropogenetischen Fragen bleiben von dem Dissens in stammesgeschichtlicher Hinsicht unberührt. Von beiden geteilter Bezugspunkt ist hier das auf eine Analyse der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Menschen aufbauende Problem, was mit ihm passiert, wenn er in seine eigene Evolution einzugreifen beginnt. Im Ergebnis argumentieren Heberer und Jünger in prognostischer Absicht. Der Fokus auf das prognostische Potenzial anthropogenetischen Fragens gesellt sich bei Jünger zum existenzphilosophischen Interesse am frühen Menschen wie es sich auch bei Karl Jaspers zwischen 1930 und Mitte der 1950er-Jahre nachweisen lässt. Der aggressive Urmensch aus Der Kampf als inneres Erlebnis ist zu diesem Zeitpunkt bereits lange Geschichte. Was die ‚Urgeschichte‘ Jüngers in ihrer post-vitalistischen, existenzialanthropologischen Ausrichtung angeht: Sie partizipiert sowohl an der auch den paläontologischen Gestaltidealismus kennzeichnenden Spannung von Idee und An-



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schauung – d.  h. von ideeller Konstruktion eines allgemein Urmenschlichen und der Auswertung konkreter frühmenschlicher Spuren –, wie sie gleichzeitig dazu tendiert, jeglichen Empirismus unter Bezug auf die Tradition dichterischer Rede, besonders Herders, Goethes und Hamanns, abzulehnen. Die Urgeschichte nähert sich dann unverhohlen der Mythologie; die Deutungsmuster der Vorgeschichtsforschung verlieren hingegen an Attraktivität. Doch kehren wir noch einmal zu Jüngers Begeisterung für den biologischen Entwicklungsdiskurs zurück. Fragt man nach dem Ursprung des naturgeschichtlichen Interesses Jüngers, so sind mindestens zwei Quellen maßgeblich: zum einen das Leipziger Zoologie-Studium, zum anderen die naturalisierende Gesellschaftstheorie der ‚Konservativen Revolutionäre‘ der 1920er-Jahre. Was der Vitalismus einer ‚nicht-mechanistischen‘, anti-darwinistischen und primitivistischen Biologie an Erkenntnissen bereitstellt, das erhebt die lebensphilosophische Ideologie in den Rang einer theoretischen Grundlegung gesellschaftlich-sozialer und (anti-)geschichtlicher Analyse nicht nur des Ersten Weltkriegs. Was dabei zunächst auffällt, ist das Fehlen eines Kulturbegriffs. Der radikale Konservatismus, so lässt sich schlussfolgern, hat es in seiner Orientierung an entwicklungsbiologischen Argumentationsmustern schlicht versäumt, ‚Kultur‘ zu konturieren.24 Diese Kulturvergessenheit bleibt für Jünger auch dann noch prägend, als das vitalistische Paradigma seine Anziehungskraft verliert und durch eine kosmozentrische Ausrichtung ersetzt wird. Die kosmische Harmonie, die sich Jünger in fossilen Zeugnissen früherer Erdepochen seit den 1940er-Jahren zu zeigen beginnt, hat zwar mit dem Primitivismus der 1920er-Jahre nichts gemein, sie steht jedoch allgemein in der Tradition einer entwicklungsbiologischen – und das heißt immer auch: paläobiologischen – Betrachtung. Die immer stärker werdende erdgeschichtliche Akzentuierung entwicklungsbiologischer Fragen fußt dabei nicht mehr auf einer Philosophie des Organischen (Driesch), sondern orientiert sich konsequent am Ordnungsmuster der geologischen Zeitskala und damit auch vermehrt an Wissensfeldern, die sich dem Anorganischen widmen (z.  B. Physik und ältere ‚Kristallographie‘) – wobei das morphologische Denken weiter, bis zum späten Gestaltwandel, Konjunktur hat. Von dieser kulturvergessenen Warte aus betrachtet, lässt sich eine an ­einem eigentlich Gesellschaftspolitischen orientierte Entwicklung der politischen Autorschaft Jüngers nur schwer skizzieren. Hält man sich vor Augen, dass 24

Weiterführend ließe sich hier fragen, warum die gängige Polarisierung von Zivilisation und Kultur in neunationalistischen Kreisen zugunsten einer ‚reaktionären Modernisierung‘, die Technikeuphorie und Antiliberalismus verbindet, aufgegeben wurde. Vgl. zur Entwicklung des Kultur-Begriffs ausgehend von einer dominanten Kultur-Zivilisation-Entgegensetzung Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus: Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995, S. 184–240. Vgl. auch Jeffrey Herf: Reactionary Modernism: Technology, Culture, and Politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge u.  a. 1986.

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sich bereits der Nationalismus der 1920er-Jahre mehr als Medium vitalistischer Gewaltphantasien verstehen lässt, denn als dezidiert politische Programmatik, so geht dem Gestus der weltabgewandten Kontemplation, wie ihn Jünger bereits seit Mitte der 1930er-Jahre kultiviert, jeder soziologisch konturierte politische Bezug ab. Oder anders gesagt: Wenn das Denken Jüngers in den 1920er-Jahren nicht primär nationalistisch, sondern eher vitalistisch einzuschätzen ist, dann kann es hinsichtlich der Folgejahrzehnte auch nicht um eine gesellschaftspolitische Entradikalisierung im Sinne einer gelassenen Erwartungshaltung gehen. Freilich, das seit den 1950er-Jahren ostentativ zur Schau gestellte Unpolitische Jüngers ist natürlich insofern höchst politisch, als es der jungen (und später auch der nicht mehr ganz so jungen) Bundesrepublik die aktive Zustimmung versagt. Diese Demokratie-Skepsis ist zwar Teil von Jüngers Denken und zeigt sich auch in seinen Schriften; kaum jedoch taugt sie zum Ordnungsmuster einer werkbiographischen Entwicklung. Der politischen Dimension Jüngers naturgeschichtlicher Argumentationsmuster kommt man dann auf die Spuren, wenn man diese in ihrem implizit gesellschaftsanalytischen Charakter betrachtet. So ist etwa der AntiDarwinismus in all seinen Spielarten (Neo-Lamarckismus, Orthogenese etc.) als Versuch zu werten, die Fortschrittsidee des 19. Jahrhunderts und damit den Liberalismus zu desavouieren. Der Grundtenor lautet hier: Nicht Anpassung und Höherentwicklung sind die Leitprinzipien im gesellschaftlichen und biologischen Raum; im Mittelpunkt steht vielmehr eine gewisse intrinsisch motivierte Gerichtetheit. Das ‚Gestalt‘-Denken avanciert in dieser Hinsicht zum Dreh- und Angelpunkt, indem es den Vitalismus orthogenetischer Vorstellungen durch eine Orientierung am Kristallinen ersetzt. Die ‚Gestalt‘ erklärt Veränderungen, ohne Entwicklungen als von außen verursachte Bedingtheiten, Relativierungen und Einschränkungen interpretieren zu müssen. Dabei ist, um es metapherntheoretisch zu formulieren, das anti-darwinistische Denken nicht einfach nur der Bildspender für den als Bildempfänger gesetzten gesellschaftlichen Bereich. Vielmehr geht es um eine Begründungsfunktion des Gesellschaftlichen aus dem Naturgeschichtlichen heraus. In Jüngers Perspektive ist die Naturgeschichte die eigentliche, nämlich ‚tiefergelegte‘ Gesellschaftsgeschichte.25 Daran ändert sich auch nach der Abkehr vom vitalistischen Anti-Darwinismus nichts. Der 25

Jüngers Naturgeschichte als ‚tiefergelegte‘ Gesellschaftsgeschichte zu verstehen, bedeutet auch eine Absage an die ältere, lange Zeit einflussreiche Deutung Karl Heinz Bohrers, Jüngers Schriften gehorchten bis in die späten 1930er-Jahre hinein einem rein ästhetizistischen Impuls. Vgl. Bohrer, Die Ästhetik des Schreckens; vgl. auch die ausführliche Kritik an Bohrers These von Reinhard Brenneke: Militanter Modernismus. Vergleichende Studien zum Frühwerk Ernst Jüngers, Stuttgart 1992, S. 17–59.



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neue Kosmozentrismus interessiert sich für die Oberfläche des Planeten nur als Spielfeld erdgeschichtlicher und höherer Mächte. Das Feld der sozialen, zwischenmenschlichen als auch der politischen internationalen Beziehungen wird dem soziologisch-politikwissenschaftlichen Kommentar entzogen und als vormoderner Schicksalsort konstituiert, dem der Mensch ausgeliefert ist. Sein Handlungsspielraum ist angesichts der ausstehenden als auch mit Blick auf eine Erklärung der vergangenen Ereignisse irrelevant. Entlohnt wird der Mensch für seine Ergebenheit gegenüber dem Schicksal durch die Teilhabe an der kosmischen Harmonie, am Rhythmus des Kosmos, wie er Jünger bspw. in der Form von Ammonshörnern aufscheint. Auch hier kommt dem naturgeschichtlichen Befund die Funktion zu, das Gesellschaftliche zu determinieren. Vor dieser Folie muss auch Jüngers Anverwandlung des naturgeschichtlichen Denkens seiner Zeit betrachtet werden. Dieses Denken ist einem eigentlich Gesellschaftspolitischen nicht nachgeordnet; im Gegenteil: je genauer Jünger hier verfährt und je planmäßiger er den bloß wissenschaftlichen Befund transzendiert  – was wiederum die Fähigkeit zu dessen angemessener Kenntnisnahme im epistemischen Kontext voraussetzt (Stichwort: Rekapitulation des ‚Forschungsstandes‘)  –, umso überzeugender ist die naturgeschichtliche als ‚tiefergelegte‘ gesellschaftsgeschichtliche Analyse. Hinsichtlich Jüngers Umgang mit der Geschichte firmiert die naturgeschichtlich deduzierte Zeitlosigkeit gleichfalls als ‚tiefergelegte‘ gesellschaftsanalytische Beobachtung. Bereits Hans-Peter Schwarz sieht das „eigentlich Faszinierende und Ärgerniserregende“ in Jüngers Behauptung, er „leite sein Wort zur Politik aus einer Gesamtdeutung der Geschichtskonstellation und in weiterem Sinne der condition humaine überhaupt ab.“26 Dass ausgerechnet im Zeitlosen der Schlüssel zum höchst Zeitgeistigen liegen soll, lässt sich dann wohl auch nicht anders denn als Aporie beschreiben. Die Determination des Politischen wird von Jünger also an einen Ort verlegt, der selbst nicht Teil der geschichtlichen und sozialen Wirklichkeit ist. Zwar steht die seit den späten 1940er-Jahren publikumswirksam zu Schau gestellte Pose des unpolitischen Betrachters in der Tradition des konservativen Denkens seit dem 19. Jahrhundert,27 doch geht die naturgeschichtliche als ‚tiefergelegte‘ gesellschaftsgeschichtliche Analyse keineswegs darin auf – ist dem ‚klassischen‘ konservativen Denken doch jener Planetarismus, auf den es Jünger ankommt, eher fremd. Deutlich wird dies an Jüngers Auseinandersetzung mit Armin Mohler, die nicht zuletzt auch eine Auseinandersetzung um das richtige Verständnis des Politischen ist.28 Mohler war bekanntlich von 1949 bis 1953 Sekretär bei Jünger; 1955 dann Herausgeber 26 27 28

Schwarz, Der konservative Anarchist, S. 12. Vgl. dazu Morat, Von der Tat zur Gelassenheit, S. 435  f. Vgl. zur Beziehung Jünger – Mohler ausführlich: Ebd., S. 423–438.

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der Schleife. Dokumente zum Weg von Ernst Jünger sowie der Festschrift Freundschaftliche Begegnung anlässlich des 60. Geburtstags des Dichters. Er entzweit sich jedoch mit diesem seit Mitte der 1950er-Jahre zusehends. Hauptgrund für das Zerwürfnis ist das Abrücken Jüngers von den Positionen, die er in den kriegsschriftstellerischen Arbeiten sowie der neunationalistischen und faschistischen Publizistik der 1920er- und frühen 1930er-Jahre vertrat. Unabänderlich markiert wird dieses Abrücken dann durch Jüngers Werkausgabe (1960  ff.), die zahlreiche Bearbeitungen – in Mohlers Augen: ‚Entschärfungen‘ – älterer Texte enthält. Mohler beruft sich noch nach dem Zerwürfnis in dezidiert nationalvölkischer Absicht öffentlichkeitswirksam auf jene Positionen Jüngers, die dieser hingegen als keineswegs mehr zu bekräftigendes, allenfalls denkgeschichtlich zu würdigendes Durchgangsstadium seines intellektuellen Weges deutet. Der Bellizismus der Kriegsschriften wie auch der radikale Nationalismus, so Jüngers Deutung des eigenen Werkes, dürfen lediglich als Vorstufe zum Planetarismus – wie er sich erstmals in der Totalen Mobilmachung und der Zeit danach zeigt – gedeutet werden. Genau darin bestehe auch deren Sprengkraft; keineswegs in einer von Mohler unverhohlen postulierten Anschlussfähigkeit an einen zeitgenössischen völkisch-rassistischen Nationalismus, von dem sich Jünger distanziert wissen will. Gegenüber Leistikow, der dem Dichter von rechtsradikalen Umtrieben Mohlers im Tübinger Studentenmilieu berichtet, formuliert Jünger: Wenn Armin Mohler mir vorwirft, daß ich die Texte [der Werk-Phase bis Die totale Mobilmachung und Über den Schmerz – N.K.] verharmlose, so verrät er, daß er ihre Gefährlichkeit nicht kennt. Schwächen würde ich sie gerade, wenn ich sie als historische Dokumente und museal behandelte. Ein planetarisches Ereignis wie die ‚Totale Mobilmachung‘ beginnt sich erst seit kurzem über die Anfänge hinaus zu entwickeln, die notwendig nationalstaatlich bestimmt wurden. Sie liegen hinter uns. Daß Mohler sie nicht überwinden kann und diese Differenzen jetzt auf die ‚Farbigen Völker‘ übertragen will, zeigt, daß er die Eierschalen nicht abstreifen kann.29

Man kann hier sicherlich darüber streiten, inwiefern Jüngers Vorschlag, seine Arbeiten bis in die frühen 1930er-Jahre hinein vollkommen ungeschichtlich, sie nämlich überhaupt nicht „als historische Dokumente“ zu lesen, wirklich dem Entstehungskontext gerecht wird (oder nicht vielmehr eine retrospektive, arge Stilisierung werkgenealogischer Prozesse darstellt.) Entscheidender in dem von uns gesetzten Rahmen ist jedoch, dass Jünger keineswegs unpolitisch argumentiert: Indem er die planetarische Perspektive als ‚tiefergelegte‘ gesellschaftsgeschichtliche Analyse präsentiert, rücken auch seine Positionen der 1920er-Jahre in das Einzugsgebiet einer ungeschichtlichen 29

Jünger an Leistikow (27. 02. 1961), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach.



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Grundierung des Gesellschaftsgeschichtlichen, die, wie wir gesehen haben, sich mit guten Gründen als Vitalismus ansprechen lässt. Freilich: Als Jünger dieses Deutungsmuster gegenüber Leistikow und gegen Mohler starkmacht, ist klar, dass der ungeschichtliche Vitalismus lediglich von seinem planetarisch-kristallinen Entwicklungsendpunkt aus betrachtet interessiert, mithin eine Fokussierung erhält, die sich aus den Schriften der 1920er-Jahre selbst wohl kaum gewinnen lässt. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass es Jünger seit den späten 1940er-Jahren ungemein wichtig ist, für sein Werk bereits seit den 1920er-Jahren ein unhistorisches, zeitloses Denken geltend zu machen und dieses auch gegenüber anderen, an historischer Aktualisierung interessierten Lesarten, etwa der Mohlers, zu verteidigen. Was die Konsolidierung des planetarischen Momentes angeht: Es gibt hier nun im Ergebnis zwar kein eigentlich Gesellschaftspolitisches mehr, sehr wohl jedoch eine politische Dimension im Planetarischen. Die Rede vom Metapolitischen oder von einer Metaphysik des Politischen verdunkelt hier mehr, als dass sie Klarheit schafft; vor allen Dingen deshalb, da es ihr nicht gelingt, den Ort der Determination des Politischen genauer zu bestimmen. Rekonstruiert man hingegen in Jüngers Denken Naturgeschichte als ‚tiefergelegte‘ Gesellschaftsgeschichte, dann lässt sich die Metaphysik des Politischen – auf den Begriff selbst kann man getrost verzichten – weitaus besser beschreiben, als wenn man sich ihr seitens der Ideengeschichte des Konservatismus oder Nationalismus nähert. Das, was sich als gesellschaftspolitischer Raum zeigt, ist für Jünger nur die Oberfläche: „Politische Macht, selbst in den extremen Formen, in denen wir sie erlebt haben, bedeutet nicht mehr als die dünne, galvanische Haut auf der Substanz.“30 Gesellschafts- und damit eben auch Tagespolitik ist deshalb in Jüngers Betrachtung immer der Indikator für etwas, das sich tatsächlich an anderer Stelle ereignet: „Die Leute sehen […] nicht, daß das, was ihnen am Politischen imponiert, ein Abglanz magischer Macht ist; sie sehen ein Symptom.“31 Und Jünger, so kann man anschließen, möchte von den Anzeichen zu den magischen ursächlichen Zusammenhängen vordringen. Dass er diese Zusammenhänge ganz maßgeblich in Paläobiologie, Geologie und Vorgeschichte entfaltet findet, haben wir gezeigt. Sucht man nach Gründen für die nachgerade obsessive Rückführung gesellschaftlicher Prozesse auf ‚natürliche‘ Determinanten, so fällt der Blick auf all jene Bereiche, die von der fortschreitenden wissenschaftlichen Entzauberung betroffen sind  – häufig, indem sie in ihrer ‚Erfahrbarkeit‘ und damit ‚Ganzheit‘ bedroht eingeschätzt werden. Einige Restitutionsversuche von Kurt Breysig und Friedrich Gundolf, mit der Vorsilbe ‚Ur-‘ hier Abhilfe zu schaffen, haben wir eingangs porträtiert. Auch Jüngers Naturalisierung 30 Ebd. 31 Jünger an Leistikow (10. 02. 1961), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach.

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gesellschaftlicher Prozesse – allen voran der schrittweise Ausbau des Ersten Weltkrieges zur erdgeschichtlichen Zäsur  – steht in dieser Tradition: Das ‚Ur‘ als entzeitlichtes Apriori, das zeitlich-geschichtliche Abläufe ermöglicht. In der Deutung des Weltkrieges als ‚Gestaltwandel‘ steckt aber nicht nur die logisch-apriorische Funktion, die auch Marck im konservativ-revolutionären Ursprungsdenken registriert, sondern gleichfalls ein ontologischer Impuls. Ingo Stöckmann hat, besonders mit Blick auf Das Abenteuerliche Herz I, darauf hingewiesen, dass es zur „historischen Integrität“ der Klassischen Moderne gehöre, „daß sie mit dem Grundproblem ontologischer Kontingenz nicht nur gelassen, etwa ‚ironisch‘ im romantischen Sinne, verfährt, sondern fortwährend und autoritativ sein Ende herbeischreibt […]. “ Auf diese Weise entstehe eine „neue[.  .] Totalität“32. Stöckmann sieht diese Totalität bei Jünger vor allem im Modus ästhetisch-selbstreflexiver Formbewältigung gewährleistet. Aus wissensgeschichtlicher Perspektive rückt ‚Totalität‘ hingegen als Produkt verschiedener Anleihen bei naturgeschichtlichen Diskursen in den Blick, die entweder selbst noch ontologisch argumentieren oder gerade dabei sind, ontologisches Denken zu exkommunizieren. Jünger übernimmt epistemische Ordnungen, die im wissenschaftlichen Diskurs prekär werden. Es geht im Grunde also um eine Kanalisierung des Totalitätsbegehrens der Moderne: Die Orientierung, die die wissenschaftliche Rede nicht mehr stiften kann oder will, übernehmen Jüngers Texte. Während der Rekurs auf eine ‚wissenschaftliche Tatsache‘, die Verhandlung eines Theorieproblems, der Bezug auf eine (inter-)disziplinär geführte Methodendiskussion oder ein-

32

Ingo Stöckmann: Sammlung der Gemeinschaft, Übertritt in die Form. Ernst Jüngers Politische Publizistik und Das abenteuerliche Herz (Erste Fassung), in: Ders./Uwe Hebekus (Hrsg.): Die Souveränität der Literatur. Zum Totalitären der Klassischen Moderne 1900–1933, München 2008, S. 189–220, hier: S. 192, vorhergehende Zitate gleichfalls. Bettina Hey’l deutet die „Orientierung an neuen Totalitäten, die dem alles nivellierenden Relativismus entgegentreten sollen“, als wichtigen „Aspekt der Überwindung des Historismus“. Einerseits sei die „Faszination für neue oder wieder neue Ganzheiten“ reaktionär, mithin ein „Rückfall hinter einen einmal erreichten Zustand.“ Andererseits sind es aber die „zeitgenössischen Kommentare zur Krise des Historismus“, die „die Aufmerksamkeit ausdrücklich auf existenzphilosophische und theologische Ansätze, ja auf ein neues religiöses Bewußtsein als Erscheinungsform der Moderne selbst“ lenken würden. Hey’l, Geschichtsdenken und literarische Moderne, S. 53. Sowohl bei Stöckmann als auch bei Hey’l kommt Georg Lukács (Die Theorie des Romans, 1914/15) eine wichtige Rolle zu. Stöckmann betont trotz aller mit Lukács konzedierten ‚transzendentalen Obdachlosigkeit‘ die ebenfalls von diesem herausgearbeitete untilgbare Neigung der Moderne zur Totalität. Hey’l arbeitet hingegen den Widerspruch von Totalität und Obdachlosigkeits-Diagnose heraus. Aus dieser Perspektive erscheint „die Orientierung an neuen Totalitäten […] am wenigsten mit der modernen als einer radikal säkularisierten Welt und mit der Romanform als Ausdruck ‚transzendentaler Obdachlosigkeit‘ vereinbar.“ (Ebd.) Vgl. weiterführend Werner Jung: Auf der Suche nach der verlorenen Totalität. Ernst Jünger und Georg Lukács, in: Christiane Caemmerer/Walter Delabar (Hrsg.): Dichtung im dritten Reich? Zur Literatur in Deutschland 1933–1945, Opladen 1996, S. 15–28.



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fach die Bekanntschaft mit namhaften Vertretern eines Faches die Autorität Jüngers untermauern und gleichsam dafür sorgen sollen, dass die Grenzen institutionalisierter epistemologischer Rationalitätsordnung nicht leichtfertig und unsachgemäß überschritten werden, stellt die eigentliche Deutung auf dem exklusiven Feld literarischer Rede Totalität her. Je begrenzter der wissenschaftliche Argumentationsradius eingeschätzt und dem Vorwurf des spezialisierten Differenzierens ausgesetzt wird, desto lustvoller gestaltet sich die metaphysische Grenzüberschreitung zum ‚Ganzen‘. Das Ergebnis dieses Ganzheitsbegehrens spaltet die Moderne oder vielmehr: es zementiert die ihr vom zeitgenössischen modernetheoretischen Denken attestierte Gespaltenheit. Die ästhetische Moderne Jüngers hebt im Ergebnis jedenfalls die gesellschaftliche und erkenntnistheoretische Modernisierung auf. Der Erfolg dieser Strategie dürfte nicht zuletzt darin begründet sein, dass die Moderne, die die germanistische Literaturwissenschaft in den 1950er- und 1960er-Jahren zu (re-)konstruieren beginnt, ganz maßgeblich dieser Polarisierung folgt. Walter Erhart hat darauf hingewiesen, dass die „germanistische Moderne-Forschung […] in der Regel die Selbstbeschreibung der ästhetischen Moderne emphatisch und rückhaltlos übernommen“ habe: Die sozialen Beschädigungen und Zumutungen (Vereinzelung, Vermassung) sowie die Ausdifferenzierung unterschiedlicher Wissensfelder (Spezialisierung), die die Modernisierung der Gesellschaft mit sich bringt, werden durch die Kunst zurückgenommen, zumindest gelindert. Kunst und Literatur bilden hier das Widerlager; eine Art bessere Moderne.33 Dass diese bessere ästhetische Moderne offen ist für die totalitären Versuchungen des 20. Jahrhunderts, ist denn auch keine Anomalie, die nur einzelne Autoren, Benn etwa, betrifft; die Ursache dafür ist vielmehr in der bipolaren Strukturierung des Modernediskurses selbst zu suchen: Die ästhetische Moderne ist mithin, was ihr Verhältnis zur gesellschaftlichen Modernisierung anbelangt, konstitutiv antimodern.34 Für Jünger gilt: Trotz der gutgepflegten Aura einer 33 34

Vgl. Walter Erhart: Die germanistische Moderne – eine Wissenschaftsgeschichte, in: Sabina Becker/Helmuth Kiesel (Hrsg.): Literarische Moderne. Begriff und Phänomen, Berlin u. New/York 2007, S. 145–166, Zitat: S. 150. In aller wünschenswerten Deutlichkeit formuliert dies Anke-Marie Lohmeier: „Die Kunst der Moderne hat […] ihr Selbstverständnis als moderne Kunst überwiegend aus einer mehr oder weniger dezidierten Frontstellung gegen die gesellschaftliche Moderne bezogen. Und wo diese Frontstellung die Negation der erkenntnistheoretischen und ethischen Axiomatik der Moderne selbst (Wahrheitspluralismus, Individualismus, Subjektfreiheit), also letztlich – das Paradoxon vollendend – die Negation ihrer eigenen Voraussetzungen mit einschließt, hat sie sich nicht selten einem expliziten Anti-Modernismus verschrieben und sich dabei – zumal im 20. Jahrhundert – in nächste und allernächste Nähe zu totalitären Politik- und Gesellschaftskonzepten begeben, von deren wahrheitsmonistischen Postulaten sie sich die Restitution eben jener sozialen wie personalen Einheit, lebensweltlichen Ganzheit und normativen Totalität versprach, die sie durch den Modernisierungsprozess zerstört sah.“ Anke-Marie Lohmeier:

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umstrittenen Autorschaft passt er sich seit Mitte der 1930er-Jahre und vor allem in den Nachkriegsjahrzehnten in diesen kultur- und gesellschaftskritischen Impetus der ästhetischen Moderne ein, den die Literaturgeschichtsschreibung dann übernimmt. In dieser Hinsicht ist Jünger tatsächlich „more chamaeleon than seismograph of the times.“35 Hans Blumenberg wandte sich in den 1950er-Jahren vom Denken Jüngers ab; zumindest begleitete er es nicht mehr mit der Sympathie, die uns in der Einleitung dazu diente, Jünger als „Metaphysiker im Gewande des Empirikers“36 zu porträtieren. Ein Grund für diese Abkehr ist sicherlich darin zu sehen, dass der Platonismus Jüngers auf das Blumenberg so faszinierende empirische Moment immer mehr zu verzichten schien, dieses jedenfalls dazu degradierte, bereits Geschautes zu bestätigen. „Erlebnisse vom Typus des Schongesehenhabens mehren sich mit dem Alter [Jüngers, N.K.], und sie sind der lebendigste Nährstoff eines mehr als dogmatischen Platonismus.“37 An die Stelle der Hoffnung auf eine Restitution der Spekulation ‚von unten‘ tritt die Einsicht, dass die Empirie womöglich nichts weiter als eine Camouflage des älteren spekulativen Denkens gewesen ist. Und dessen Zeit ist dann doch endgültig abgelaufen. Kurt Flasch rekapituliert Blumenbergs skeptischen Blick auf Jünger sicherlich treffend, wenn er bei letzterem „Mystizismen neben gesucht exakter Empirie“ ausmacht, die die neue, „versprochene Theologie“38 nicht erreichen würden.39 Fest steht aber auch: Was ist eigentlich modern? Vorschläge zur Revision literaturwissenschaftlicher Modernebegriffe, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 32/1 (2007), S. 1–15, hier: S. 11. 35 Huyssen, Fortifying the Heart, S. 3. 36 Blumenberg, Ernst Jünger – Ein Fazit, S. 24. 37 Hans Blumenberg: Auf der Suche nach der Weltordnung [1990], in: Ders., Der Mann vom Mond, S. 34–39, hier: S. 38. 38 Flasch, Hans Blumenberg, S. 250. 39 Einer eigenständigen Untersuchung vorbehalten bleiben muss eine genauere Beschäftigung mit jenen Gründen für eine Abkehr von Jünger, die in der Entwicklung des philosophischen Denkens Blumenbergs auszumachen sind. Analysiert man diese Abkehr vor der Folie von Blumenbergs Kritik an Husserls Phänomenologie und seiner Parteinahme für Heideggers Seinsverständnis, dann liegt es nahe, Jüngers platonisch-empirischen Optozentrismus als Teil jener entindividualisierenden, phänomenologischen Reduktion zu verstehen, die Blumenberg im Rekurs auf Heidegger zu überwinden sucht. Für Blumenberg bildet Husserl das letzte Glied in der Kette jener neuzeitlichen cartesianischen Bestimmungen, die im souveränen Zugriff eines erkennenden Subjekts auf ein erkanntes Objekt dessen ‚Sein‘ erschließen wollen. Ein solches Wissens- und, was die Philosophie als Disziplin angeht, Wissenschaftsverständnis sieht er an ein Ende gekommen; ein Ende, das die Neuzeit in einen allumfassenden Nihilismus münden lässt, dem allein die Neukonzeption von ‚Sein‘ etwas entgegenzusetzen weiß. Es ist besonders Husserls Bemühung um ein ‚transzendentales Ich‘, die Blumenberg ablehnt; an dessen Stelle soll mit Heidegger ein sich der Zuständlichkeit und Erfahrung des eigenen Seins bewusstes ‚Ich‘ treten. Jüngers Verbindung von ‚Empirie‘ und ‚Theologie‘ überschreitet zwar durch die platonisierende Zielrichtung den transzendentalen Rahmen Husserls,



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Trotz aller Kritik respektiert noch der späte Blumenberg durchaus den Anspruch Jüngers, ‚Sein‘ anders zu konzipieren als Heidegger: um dieses ‚Sein‘ nämlich nicht schon immer zu wissen, sondern es von der Mannigfaltigkeit des Seienden aus zu verstehen. Und dazu muss man reisen, suchen, sammeln und beobachten. Der Platoniker [Jünger, N.K.] befolgt nicht den Rat des Freiburger Holzweggängers, zu Hause zu bleiben und die Fenster verschlossen zu halten. Das kann man, das muß man sogar tun, wenn man nur nach dem Sinn von Sein als diesem Einen zu fragen hat. Der Sinn von Sein, welcher es immer sein mochte, konnte nur ein so übermächtiges Apriori sein, daß keine Mannigfaltigkeit von Seiendem ihm jemals etwas hinzugewinnen lassen konnte. Die Differenz des niemals ruhenden Reisenden zu Heidegger ist keine Sache des Temperaments, sondern eine der Ontologie. Das im Dasein schon immer verstandene Sein des Seienden hat zwar noch eine Seinsgeschichte bekommen, die ihm Erhebliches an Attributzuwachs aufnötigt, aber von dieser Geschichte gibt es in der Welt keine paläontologischen oder archäologischen Spuren.40

Jünger, so kann man anschließen, ging im Gegensatz zu Heidegger tatsächlich davon aus, die „paläontologischen“ und „archäologischen Spuren“ des Seienden ließen sich innerhalb der Welt auffinden und deuten. Die Paläontologie wird in diesem Verständnis zu einer Art Paläontologie oder anders gesagt: PaläoOntologie und, um bei dem gewählten Wortbildungsmuster zu bleiben, die Archäologie zur Archäo-Ontologie. Darin bestand auch das Versprechen der Empirie, einen Beitrag zum ontologischen Projekt leisten zu können: nämlich Seinszuwachs und Seinsgewissheit durch die – buchstäbliche – Einsicht in die natur- und kulturgeschichtlich nachweisbare Vielgestaltigkeit des Seienden zu ermöglichen. Das Gewesene ist aus dieser Perspektive der Platzhalter des Seins in der Vergangenheit, und Archäologie und Paläontologie sind gleichsam die Schlüssel zu dieser Vergangenheit. Es ist jenes ontologische Interesse am paläontologischen Wissen, das es uns erlaubt, ihm die Rolle eines Leitdiskurses für Jünger zuzusprechen; denn es geht nicht um die Illustration eines allgemeinen Konzepts von ‚Entzeitlichung‘, sondern um eine in die Beobachtung konkreter paläobiologischer Zeugnisse hineinverlegte Arbeit am Sein als Empirisierung des Metaphysischen. Doch Jünger überlastet die Paläontologie ontologisch. In dem Maße nämlich, in dem er seine Anschauung sie steht jedoch mit der zur Schau gestellten Verfügungsgewalt des subjektiven Erkennens auf das erkannte Objekt in der Tradition eines Seinsverständnsisses, das maßgeblich über die von Heidegger und Blumenberg abgelehnte Subjekt-Objekt-Entgegensetzung motiviert ist. Eine Diskussion von Blumenbergs Abkehr von Jünger könnte an diesem Punkt ansetzen. Vgl. zu Blumenbergs Auseinandersetzung mit Husserl und Heidegger um 1950 Flasch, Hans Blumenberg, S. 161–204. 40 Blumenberg, Auf der Suche nach der Weltordnung, S. 37. Die letzten beiden Hervorhebungen N.K.

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10  Fazit. Zur Politik der Paläontologie und Vorgeschichte

immer mehr an der bereits geschauten Idee ausrichtete und den Spielraum der ontologischen Anerkennung des Mannigfaltigen einschränkte, desto mehr bekam auch bei ihm der „Sinn von Sein“ den Charakter eines „übermächtige[n] Apriori“, dem kein Seiendes mehr etwas aufwies, was die Idee nicht schon bereits präfiguriert hätte. Der allzu sehr platonisierende Jünger hätte also gleich Heidegger zu Hause bleiben können. Es ist in Blumenbergs Augen vor allem das „Tagebuchschreibertum“, das denjenigen zeige, „der zu viel gesehen hat, um es in der erinnerten Zeit unterbringen zu können; er braucht die Fiktion der Präexistenz, eines Lebenshintergrundes, in den sich immer nur aus Anlaß des Vordergründigen hineinsehen läßt.“41 Mit Blick auf das hier verhandelte, bedeutet dies: Die in der strukturellen Ordnung paläontologischer Zeugnisse geschaute kosmische Harmonie oder die Einsicht in die un- und urgeschichtliche conditio humana angesichts vorgeschichtlicher Spuren entwickelt sich immer mehr zum Topos, ohne das dem Aufschluss des „Vordergründigen“ noch eine eigenständige epistemische Funktion zukommen würde. Freilich, im Bereich des Topischen ist der Dichter zu Hause, und ist erstmal die Tradition dessen urbildlicher Sprachkraft erschlossen, wirken die Reste tatsächlich noch zugänglicher menschlicher und erdgeschichtlicher Zeugnisse wie Relikte aus einer Zeit, die dem eigentlichen Ursprung bereits unendlich weit entfremdet erscheint. Wir haben Jüngers Wirken wider die ontologische Kontingenz im Rahmen dieser Arbeit nicht als Akt auktorialer Souveränität porträtiert, sondern diskursanalytisch und wissenschaftsgeschichtlich erschlossen. Man könnte den für dieses Vorgehen zu entrichtenden Preis darin ausmachen, dass die Position des Autors im Netz der Relationen eher unscharf bleibt. Einer auf Einzeltexte Jüngers konzentrierten Analyse, die stärker an einer autonomieästhetischen und hermeneutischen Gewichtung interessiert ist, steht es allerdings problemlos frei, den hier präsentierten wissensgeschichtlichen Zuschnitt zu verlassen oder durch einen Fokus auf die künstlerische Eigenständigkeit der Texte oder die angenommenen Absichten des Autors zu ergänzen. Man sollte dabei jedoch nicht vergessen, dass sich Jüngers Platz im Kanon der literarischen Moderne nicht nur (und womöglich nicht mal in erster Linie) über eine Rekonstruktion auktorialer oder künstlerischer Intentionalität im soeben diskutierten Spannungsfeld von ästhetischer und gesellschaftlicher Modernisierung begründet. Mindestens genau so entscheidend ist etwas Grundsätzlicheres: Sein eigentlicher Nimbus besteht wohl darin, als einer der Letzten noch in eine Diskurskartographie eingebunden werden zu können, die ihn in dem problemgeschichtlichen Horizont positioniert, in dem gleichfalls die großen Autoren der literarischen Moderne (u.  a. Benn 41

Ebd., S. 38.



10.2  Naturgeschichte als ‚tiefergelegte‘ Gesellschaftsgeschichte

405

und Musil) diskutiert werden. Dass der verbindende problemgeschichtliche Horizont keineswegs garantiert, hier würden auch in Fragen der literaturkritischen Wertung vergleichbare Urteile über Benn, Musil und Jünger vorliegen, braucht nicht eigens betont zu werden. Sehr wohl zu betonen ist demgegenüber jedoch die Tatsache, dass die an dieser Stelle in Rede stehende und für Jüngers Kanonisierung als maßgeblich ausgewiesene diskurskartographische Ordnung ganz entscheidend vom Netz der Relationen lebt, das sich mit Blick auf die Text-Kontext-Verhältnisse von den 1920er-Jahren bis in die 1990erJahre spannen lässt. Demgegenüber sind Fragen nach inhaltlicher Konsistenz und ästhetischer Kohärenz von Jüngers Positionen sekundär; oder anders gesagt: Autor-Subjekt oder literarischer Text bürgen keinesfalls für jene epochentypologische Relevanz, die die diskursanalytische Kontextualisierung konstituiert. Man kann diese Deutung noch zuspitzen: Jüngers Arbeiten seit den 1950er- und 1960er-Jahren gewinnen ihre spezifische Modernität womöglich überhaupt erst durch ihre Rückbindung an das epistemische und wissensgeschichtlich rekonstruierbare Umfeld der 1920er- und 1930er-Jahre und den damit verbundenen und auch für die Zukunft – d.  h. im Ergebnis bis in die 1990er-Jahre hinein – reklamierten Anspruch, in der Tradition abendländischer Metaphysik das ontologische Projekt retten zu wollen. Spätestens mit dem „‚Aufplatzen des Wissens‘“ ab den 1960er-Jahren, das auch im Rahmen der Konstitution des gegenwartsliterarischen Feldes der Bundesrepublik seine Spuren hinterlässt,42 verliert Jüngers autorschaftliche Rolle im wissensdiskursiven Netz an Relevanz, und das in zweierlei Hinsicht. Der Pluralisierung der Vermittlungsinstanzen von Wissen korrespondiert zum einen der Geltungsverlust einer traditionsbezogenen ‚dichterischen‘ Autorität, die in der Übersetzung wissenschaftlicher, gelehrter (naturphilosophischer) Positionen in weltanschauliche (mythische) Orientierungsmuster ihre eigentliche Aufgabe sieht. Mit der Vervielfältigung der Wissensformate geht zum anderen gleichzeitig die Absage an eine ontologisierende, totalisierende, an Epistemen des ‚Ur‘ interessierte Strukturierung von Welt und einer dieser verpflichteten Autorschaft einher. Hinsichtlich der von uns eingenommenen Perspektive ist es wichtig, sich klar zu machen, dass es in dieser Hinsicht nicht ausreicht, Jünger als Autor individuelle, etwa stilistische, Schwächen zu attestieren. Es geht um etwas Grundsätzlicheres, nämlich darum, dass das textuelle Gewebe, das Netz also, in dem seine Texte markante Knotenpunkte besetzen, ab etwa 1960 – um es bildlich zu sagen – zerschlissen ist. Und je offensichtlicher jener Bezugskontext problematisch wird, auf den seine Texte rekurrieren und aus dem sie sich speisen, umso problematischer 42

Vgl. Heribert Tommek: Der lange Weg in die Gegenwartsliteratur. Studien zur Geschichte des literarischen Feldes in Deutschland von 1960 bis 2000, Berlin u. New York 2015, S. 77–82, Zitat: S. 77.

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10  Fazit. Zur Politik der Paläontologie und Vorgeschichte

werden diese in ihrem ‚mytho-empirischen‘ Geltungsanspruch selbst. Das Ende der literarischen Moderne in der frühen Gegenwartsliteratur bedeutet jedoch keineswegs das Ende ihrer Konturierung im Spiegel der Literaturwissenschaft, im Gegenteil: Ab den 1970er-Jahren beginnt sich überhaupt erst jene Bedeutung Jüngers für die literarische Moderne abzuzeichnen, die in den letzten zwei Jahrzehnten durchaus zu dem Eindruck führen konnte, dass germanistische Modernekonzepte nur so gut sind, wie es ihnen gelingt, Regressivität und Utopieverlangen, Totalitätsprätention und Einzelbeobachtung sowie Entzeitlichung und Fortschrittsbewusstsein zusammenzudenken, was nichts anderes bedeutet als: Jünger zu integrieren. Verantwortlich für diese Entwicklung ist im Rahmen einer allgemeinen kulturwissenschaftlichen Öffnung der Literaturgeschichtsschreibung sicherlich auch die Bereitschaft, signifikante Text-Kontext-Bezüge so zu gewichten, dass außerliterarische Texte nicht nur als Quellen einer – vorausgesetzten – Textautonomie gelten, sondern als eigenständige diskursive Positionen, die sie mit literarischen Texten verbindet. Es ist dieses, wenn nicht völlig hierarchiefreie, so doch weitgehend nivellierende Verständnis von literarischer und außerliterarischer (wissenschaftlicher) Textualität, das es ermöglicht, die literarische Moderne konsequent wissensgeschichtlich zu konturieren. Dem Ziel, Ernst Jüngers Platz in dieser Wissensgeschichte der Moderne etwas genauer zu bestimmen, konnten wir im Rahmen dieser Arbeit hoffentlich etwas näherkommen.

11 Abbildungsnachweis Abbildungen 1–3 Helmut Hölders Weg zur zentralen „Idee“. Grundlage der idealistischen Morphologie nach Goethe, aus: Helmut Hölder: Grenzfragen naturwissenschaftlicher Forschung. Ein Beitrag zur Grenzüberschreitung empirischer Methodik, gestützt auf Goethes Naturforschung und einige Beispiele aus der Gegenwart, Stuttgart 1941, S. 10, S. 14  f. Abbildung 4 Sphenophyllum oder: Die paläobiologische Wirklichkeit der Urpflanze Goethes, aus: Johannes Walther: Goethe und das Reich der Steine, in: Ders. (Hrsg.): Goethe als Seher und Erforscher der Natur. Untersuchungen über Goethes Stellung zu den Problemen der Natur, Halle/S. 1930, S. 253–300, hier: S. 293. Abbildung 5 Darwins Stammbaum und Dacqués Zeitsignaturen, aus: Edgar Dacqué: Urwelt, Sage und Menschheit. Eine naturhistorisch-metaphysische Studie, München 1924, S. 46. Abbildung 6 Reptil mit Stirnauge bei Edgar Dacqué, aus: Edgar Dacqué: Urwelt, Sage und Menschheit. Eine naturhistorisch-metaphysische Studie, München 1924, S. 48. Abbildung 7 Eryon (Urkrebs), abgemalt von Klaus Ulrich Leistikow, Klaus Ulrich Leistikow an Ernst Jünger (undat., um 1955), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Abbildung 8 Eryon (Urkrebs) als Fotografie bei Edgar Dacqué: „Langschwänziger Meereskrebs (Eryon) aus dem lichten Oberflächenwasser des Jurameeres […], Lithographenkalk Solnhofen, Franken“, aus: Edgar Dacqué: Versteinertes Leben. Fossilien in 116 Originalaufnahmen und 16 Zeichnungen, Berlin u. Zürich 1936b, Tafel 28 (Abbildung  82), Beschreibung: S. 128. Abbildung 9 Klaus Ulrich Leistikow zitiert Novalis: Idealistische Morphologie trifft magischen Idealismus, Klaus Ulrich Leistikow an Ernst Jünger (undat., um 1955), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach.

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11 Abbildungsnachweis

Abbildung 10 Die Urpflanze unter dem Mikroskop, „Astromyleon Williamsonii (WILLIAMSON) gen. emend. et sp. emend., Querschliff durch die dolomitisierte Stele. Vergrößerung ca. 37 x. Typus-Specimen. British Museum (Natural History), Williamson Coll. No 1338. Herkunft: Oberkarbon von Oldham, England. Einblick in die Wurzel eines alten Schachtelhalms. Den Stern, den ich dabei sehe, behalte ich wohl besser für mich.“ Klaus Ulrich Leistikow an Ernst Jünger (22. 10. 1961), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Abbildung 11 Archaeopteryx lithographyca, nach dem Original (Fund von 1877) farbgetreu wiedergegeben in Weigert-Handrelief-Fossilien-Prägung (DBP), Original: Museum für Naturkunde Berlin (1970), Jünger-Haus Wilflingen, Originalfotografie. Es handelt sich bei diesem Exemplar nicht um Gerhard Heberers Geschenk, sondern ein späteres Präsent von unbekannter Herkunft. Abbildung 12 „Schematische Typen phylogenetischer Großabläufe“ nach Gerhard Heberer, aus: Gerhard Heberer: Theorie der additiven Typogenese, Sonderdruck aus: Die Evolution der Organismen, 2. Aufl., Stuttgart 1957 (DLA-Signatur: WJB04.03/42), S. 857–914, hier: S. 868. Abbildung 13 „Die Evolutionsabläufe der Superfamilien der Brachiopoden“ nach Gerhard Heberer, aus: Gerhard Heberer: Theorie der additiven Typogenese, Sonderdruck aus: Die Evolution der Organismen, 2. Aufl., Stuttgart 1957 (DLA-Signatur: WJB04.03/42), S. 857–914, hier: S. 869. Abbildung 14 Seelilie (Pentacrinus sp.), Posidonienschiefer (Jura, Lias, Toarcium), Holzmaden bzw. Region, Jünger-Haus Wilflingen, Originalfotografie (alle Originalfotografien: Elisa-MüllerFotografie, Stuttgart). Abbildung 15 Mangan-Dendriten (anorganische chemische Ausfällungen auf Sedimentoberflächen im Kalkstein), vermutlich Solnhofener Plattenkalk, Jünger-Haus Wilflingen, Originalfotografie. Abbildung 16 Mangan-Dendriten (s.  o.), vermutlich Solnhofener Plattenkalk, Jünger-Haus Wilflingen, Originalfotografie. Abbildung 17 Dactylioceras commune (Ammonoidea), Posidonienschiefer (Jura, Lias), Holzmaden bzw. Region, Jünger-Haus Wilflingen, Originalfotografie.



11 Abbildungsnachweis

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Abbildung 18 Cephalopode im Querschnitt, Jünger-Haus Wilflingen, Originalfotografie. Abbildung 19 Arietidea indet. (Ammonoidea), Lias (Jura), Jünger-Haus Wilflingen, Originalfotografie. Abbildung 20 Pleuroceras spinatum, Lias (Jura), Jünger-Haus Wilflingen, Originalfotografie. Abbildung 21 Pleuroceras spinatum in Pyriterhaltung (‚Goldammonit‘), Jünger-Haus Wilflingen, Originalfotografie. Abbildung 22 Ammonoidea indet. in Schalen- und Steinkernerhaltung, Jünger-Haus Wilflingen, Originalfotografie. Abbildung 23 Goniatit, abgeschliffen, Jünger-Haus Wilflingen, Originalfotografie. Abbildung 24 Ammonoidea indet. im Querschnitt, innere Windungen herauskristallisiert und vermutlich mit Calcit verfüllt, äußere Windung mit Sediment verfüllt, Jünger-Haus Wilflingen, Originalfotografie. Abbildung 25 Ammonoidea indet. im Querschnitt, Jünger-Haus Wilflingen, Originalfotografie. Abbildung 26 Endocerida indet. (Cephalopoda), Ordovizium (vermutlich Skandinavien), geschnitten und poliert, Jünger-Haus Wilflingen, Originalfotografie. Abbildung 27 Nautiloidea indet., Jünger-Haus Wilflingen, Originalfotografie. Abbildung 28 Dactylioceras sp., Posidonienschiefer (Juras, Lias, Toarcium), Holzmaden oder Region, Jünger-Haus Wilflingen, Originalfotografie. Abbildung 29 Bruchstück eines Orthocerate, Jünger-Haus Wilflingen, Originalfotografie. Abbildung 30 Seeigel (vermutlich Tertiär), Jünger-Haus Wilflingen, Originalfotografie.

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11 Abbildungsnachweis

Abbildung 31 Araucaria mirabilis (Araucarienzapfen), Jura, südliches Argentinien (Patagonien), JüngerHaus Wilflingen, Originalfotografie. Abbildung 32 Urasterella asperula (Seestern), Hunsrückschiefer (Unterdevon), Bundenbach bzw. Region, Jünger-Haus Wilflingen, Originalfotografie. Abbildung 33 Elrathia kingii (Trilobit), Nordamerika (Kambrium), Jünger-Haus Wilflingen, Originalfotografie. Abbildung 34 Trilobit, Jünger-Haus Wilflingen, Originalfotografie. Abbildung 35 Aeger alegans (Garnele), Solnhofener Plattenkalk (Jura, Lias), Solnhofen bzw. Region, Jünger-Haus Wilflingen, Originalfotografie. Abbildung 36 Fossiler Fisch, Jünger-Haus Wilflingen, Originalfotografie. Abbildung 37 Fossiler Fisch, Jünger-Haus Wilflingen, Originalfotografie. Abbildung 38 Fossiler Fisch, Jünger-Haus Wilflingen, Originalfotografie. Abbildung 39 Fossiler Fisch, Jünger-Haus Wilflingen, Originalfotografie. Abbildung 40 Plesioteuthis prisca (Tintenfisch), Solnhofener Plattenkalk (Jura, Malm), Solnhofen bzw. Region, Jünger-Haus Wilflingen, Originalfotografie. Abbildung 41 Stammbaum der Kopffüßer (Cephalopoden) nach Hermann Schmidt: „Der Cephalopoden-Stammbaum ist nicht vergessen. Sie wünschten einen ganz modernen und habe ich [sic!] daraufhin von Herrn Prof. Schmidt in Göttingen Skizzen bekommen.“ Otto Klages an Ernst Jünger (26. 03. 1962), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Abbildung 42 „Belemnitenschlachtfeld“ bei Adolf Naef, aus: Adolf Naef: Die fossilien Tintenfische. Eine paläozoologische Monographie, Jena 1922 (DLA-Signatur: WJB05.01/12), S. 222.



11 Abbildungsnachweis

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Abbildung 43 „Belemnitenschlachtfeld“ im Eingangsbereich des Wohnhauses Ernst Jüngers, JüngerHaus Wilflingen, Originalfotografie. Abbildung 44 Detail von Ernst Jüngers „Belemnitenschlachtfeld“ (s.  o.), Jünger-Haus Wilflingen, Originalfotografie. Abbildung 45 „Ammoniten im Jurakalk“ bei Albert Renger-Patzsch, aus: Albert Renger-Patzsch: Gestein. Photographien typischer Beispiele von Gesteinen aus europäischen Ländern, mit einer Einführung und Bildtexten von Max Richter und einem Essay von Ernst Jünger, Ingelheim/Rhein 1966a, Tafel 61. Abbildung 46 Pachydiscus indet. (Ammonidea), Oberkreide, Jünger-Haus Wilflingen, Originalfotografie. Abbildung 47 Formale Übereinstimmungen abstammungsgeschichtlich verschiedener Typen als Zeitsignatur bei Edgar Dacqué, aus: Edgar Dacqué: Leben als Symbol. Metaphysik einer Entwicklungslehre, München u. Berlin 1928, S. 132. Abbildungen 48–50 Ernst August von Mandelsloh: „Kristallwald“ I–III, Illustrationen zu Heliopolis, aus: Ernst Jünger: Heliopolis (Manuskript), 315 Blatt mit 19 Blatt Aquarellen, Holzeinband (DLA-Signatur: HS.1994.0009.00034), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach, S.  18, S. 37, S. 72. Abbildung 51 Geschichte als Spirale bei Kurt Breysig, aus: Kurt Breysig: Der Weg der Menschheit. Vom geschichtlichen Werden: Umrisse einer zukünftigen Geschichtslehre, Bd. 3, Stuttgart u. Berlin 1928, S. 26. Abbildung 52 Häuptlingsstatuette (Museo Archeologico Nazionale, Cagliari), Ernst Jünger, Sardische Heimat, aus: Ernst Jünger: Sardische Heimat, in: Antaios III (1962), S. 1–17, Tafel I/ Abb. 1. Abbildung 53 Kriegerstatuette (Museo Archeologico Nazionale, Cagliari), Ernst Jünger, Sardische Heimat, aus: Ernst Jünger: Sardische Heimat, in: Antaios III (1962), S. 1–17, Tafel II/Abb. 2. Abbildung 54 „Muttergottheiten“ (Museo Archeologico Nazionale, Cagliari), Ernst Jünger, Sardische Heimat, aus: Ernst Jünger: Sardische Heimat, in: Antaios III (1962), S. 1–17, Tafel II/ Abb. 3 u. 4.

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11 Abbildungsnachweis

Abbildung 55 „Forstteüfel“ bei Conrad Gesner, aus: Conrad Gesner: Thierbuch. Das ist, Außführliche beschreibung, und lebendige ja auch eigentliche Contrafactur und Abmalung aller Vierfüssigen thiere, so auff der Erden und in Wassern wohnen […], Frankfurt/M. u. Heidelberg 1606 (DLA-Signatur: WJB09.07/14), S. XI. Abbildung 56 Entwicklung von der Schlange zum Drachen bei Conrad Gesner, aus: Conrad Gesner: Schlangenbuch. Das ist eine grundtliche und vollkomne Beschreybung aller Schlangen, so im Meer, süssen Wassern und auff Erden ir wohnung haben […], Zürich 1589 (DLASignatur: WJB05.01/20), S. XXXV. Abbildung 57 Drache mit Fügeln bei Conrad Gesner, aus: Conrad Gesner: Schlangenbuch. Das ist eine grundtliche und vollkomne Beschreybung aller Schlangen, so im Meer, süssen Wassern und auff Erden ir wohnung haben  […], Zürich 1589 (DLA-Signatur: WJB05.01/20), S. XLIII. Tafel 1 Schulwandbild „Jura-Formation“, Eberhard Fraas (Text)/Albert Kull (Bild): Die Entwicklung der Erde und ihrer Bewohner, Stuttgart 1910, Tafelbild IV, Jura-Formation, Sammlung Forschungsstelle Historische Bildmedien, Universität Würzburg, unter Verwendung des Exemplars mit der Sign.: FHBW/RK 10635. Tafel 2 Die Entwicklung des Lebens vom Wasser über das Land bis in die Luft nach Helmut Hölder, aus: Helmut Hölder: Ein Schaubild der Stammesgeschichte zwischen Wasser, Land und Luft, in: Paläontologische Zeitschrift, 37 (1963) (DLA-Signatur: WJB09.06/60), S. 155–160, hier: S. 160.

12  Quellen- und Literaturverzeichnis Bücher und Aufsätze aus Jüngers Wilflinger Bibliothek (Nachlassbibliothek) und seiner MiszellenSammlung, die in den Anmerkungen dieser Arbeit mit Signaturvermerken erscheinen, sind in den Primär­literaturteil des Verzeichnisses integriert.

12.1 Archivalien Deutsches Literaturarchiv (DLA), Marbach/Neckar, Nachlass Ernst Jünger. Briefe/Karten von Ernst Jünger an: Reinhard Dohrn, Hartmut Blersch, Helmut Hölder, Otto Klages, Gerhard Heberer, Klaus Ulrich Leistikow, Karl Mägdefrau, Friedrich Georg Jünger, Ernst August von Mandelsloh. Briefe/Karten an Ernst Jünger von: Reinhard Dohrn, Hartmut Blersch, Helmut Hölder, Otto Klages, Gerhard Heberer, Klaus Ulrich Leistikow, Karl Mägdefrau, Ernst August von Mandelsloh. Fussenegger, Gertrud: [Rez.] An der Zeitmauer (Typoskript), o.  J. [1959], Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Heißenbüttel, Helmut: An der Zeitmauer. Aus dem Manuskript von Ernst Jünger für den Funk ausgewählt und eingerichtet, Radio-Essay 1959, Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Leistikow, Klaus Ulrich: Linnaeisches Zählen (Typoskript), 1975, Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Mägdefrau, Karl: Tübinger Botaniker aus fünf Jahrhunderten. Erweiterte Fassung eines Rundfunkvortrages in der Sendereihe „100  Jahre mathematisch-naturwissenschaftliche Fakultät der Eberhard-Karls-Universität zu Tübingen“, gehalten am 14. 11. 1964 im „Südwestfunk“ (Typoskript), Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. Renger-Patzsch, Albert: Wo steht die Fotografie heute? Lichtbildvortrag (Typoskript), 1956, Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach.

12.2 Primärliteratur Abel, Othenio: Die vorweltlichen Tiere in Märchen, Sage und Aberglauben, Karlsruhe 1923. Abel, Othenio: Paläobiologie und Stammesgeschichte, Jena 1929. Abel, Othenio/Georg Kyrle (Hrsg.): Die Drachenhöhle bei Mixnitz, 2 Bde. (Textband/ Tafelband), Wien 1931. Abel, Othenio: Geschichte der Drachenhöhle, in: Ders./Georg Kyrle (Hrsg.): Die Drachenhöhle bei Mixnitz, 2. Bde. (Textband/Tafelband), Wien 1931, Textband, S. 81–97.

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12  Quellen- und Literaturverzeichnis

Abel, Othenio: Vorzeitliche Tierreste im deutschen Mythus, Brauchtum und Volksglauben, Jena 1939. Adelung, Johann Christoph/Dietrich Wilhelm Soltau/Franz Xaver Schönberger: Gram­ matisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, Bd. 4, Wien 1811. Adorno, Theodor W.: Der Ur, in: Ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Bd.  20/2, vermischte Schriften  II, Aesthetica, Miscellanea, Frankfurt/M. 2003 [1932], S. 562–564. Arnheim, Rudolf: Die Flucht zu den Schachtelhalmen, in: Peter Uwe Hohendahl (Hrsg.): Benn – Wirkung wider Willen. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Benns, Frankfurt/M. 1971 [1933], S. 160–163. Aubin, Hermann: Aufgaben und Wege der geschichtlichen Landeskunde, in: Rheinische Neujahrsblätter 4 (1925), S. 28–45. Aubin, Hermann/Theodor Frings/Josef Müller: Kulturströmungen und Kulturprovinzen in den Rheinlanden. Geschichte, Sprache, Volkskunde, Bonn 1926. Ballenstedt, Johann Georg Justus: Die Urwelt oder Beweis von dem Daseyn und Untergange von mehr als einer Vorwelt, 3 Bde., Quedlinburg u. Leipzig 1818. Ballenstedt, Johann Georg Justus/Johann Friedrich Krüger (Hrsg.): Archiv für die neuesten Entdeckungen aus der Urwelt. Ein Journal in zwangfreien Heften, Quedlinburg u. Leipzig 1819–1825. Bataille, Georges: Die vorgeschichtliche Malerei. Lascaux oder die Geburt der Kunst, aus d. Frz. v. Karl Georg Hemmerich, Stuttgart u. Genf 1986 [1955]. Beck, Christian Daniel: Anleitung zur genauern Kenntniß der allgemeinen Welt- und Völker-Geschichte für Studirende (sic!), ersten Theiles erste Hälfte, zweyte, gänzlich umgearb. u. stark verm. Ausgabe, Leipzig 1813 [1787]. Beer, Gavin de: Archaeopteryx lithographica. A Study based upon the British Museum Specimen, London 1954. Behn, Friedrich: Vor- und Frühgeschichte. Grundlagen  – Aufbau  – Methoden, Wiesbaden 1948. Bein, Sigfried: Der Arbeiter. Typus – Name – Gestalt, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Wandlung und Wiederkehr. Festschrift zum 70. Geburtstag Ernst Jüngers, Aachen 1965, S. 107–116. Benn, Gottfried: Expressionismus [1934], in: Ders.: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, in Verb. mit Ilse Benn hrsg. v. Gerhard Schuster, Bd. IV, Prosa 2 (1933–1945), Stuttgart 1989, S. 76–90. Beurlen, Karl: Urweltleben und Abstammungslehre, Stuttgart 1949. Beurlen, Karl: Welche Versteinerung ist das? Tabellen zum Bestimmen von Versteinerungen Mitteleuropas, Stuttgart 1961. Blumenberg, Hans: Ernst Jünger als geistige Gestalt [1949], in: Ders.: Der Mann vom Mond. Über Ernst Jünger, Frankfurt/M. 2007, S. 9–21. Blumenberg, Hans: Die ontologische Distanz. Eine Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls, Habilitationsschrift, Kiel 1950. Blumenberg, Hans: Ernst Jünger  – Ein Fazit, in: Ders.: Der Mann vom Mond. Über Ernst Jünger, Frankfurt/M. 2007 [1955], S. 24–27. Blumenberg, Hans: Auf der Suche nach der Weltordnung, in: Ders.: Der Mann vom Mond. Über Ernst Jünger, Frankfurt/M. 2007 [1990], 34–39. Bölsche, Wilhelm: Drachen. Sage und Naturwissenschaft. Eine volkstümliche Darstellung, Stuttgart 1929.



12.2 Primärliteratur

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Bölsche, Wilhelm: Das Leben der Urwelt. Aus den Tagen der großen Saurier, Leipzig 1931. Boureau, Édouard: Traité de Paléobotanique, 3. Bd., Sphenophyta – Noeggerathiophyta, Paris 1964. Breysig, Kurt: Eindruckskunst und Ausdruckskunst. Ein Blick auf die Entwicklung des zeitgenössischen Kunstgeistes von Millet bis zu Marc, Berlin 1927. Breysig, Kurt: Der Weg der Menschheit. Vom geschichtlichen Werden: Umrisse einer zukünftigen Geschichtslehre, Bd. 3, Stuttgart u. Berlin 1928. Breysig, Kurt: Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte, Breslau 1933. Breysig, Kurt: Der Werdegang der Menschheit vom Naturgeschehen zum Geistgeschehen, Breslau 1935. Breysig, Kurt: Begegnungen mit Stefan George. Tagebuchblätter, in: Castrum Peregrini XLII (1960), S. 9–32. Breysig, Kurt/Stefan George: Gespräche – Dokumente, Amsterdam 1960. Breysig, Kurt: Aus meinen Tagen und Träumen. Memoiren, Aufzeichnungen, Briefe, Gespräche. Aus dem Nachlass hrsg. v. Gertrud Breysig und Michael Landmann, Berlin 1962. Breysig, Kurt: Aus meinen Tagen und Träumen. Stefan George, in: Ders.: Aus meinen Tagen und Träumen. Memoiren, Aufzeichnungen, Briefe, Gespräche. Aus dem Nachlass hrsg. v. Gertrud Breysig und Michael Landmann, Berlin 1962, S. 33–45. Brockhaus’ Großes Konversations-Lexikon, 4. Nachdruck der 14. Auflage (1892–1896), 17 Bde., Leipzig 1908. Brockhaus’ Kleines Konversations-Lexikon, 5., vollständig neubearbeitete Auflage in 2 Bdn., Leipzig 1911. Bütschli, Otto: Mechanismus und Vitalismus, Leipzig 1901. Buckland, William: Die Urwelt und ihre Wunder, aus d. Englischen v. Friedrich Werner, Stuttgart 1837. Buffon, Georges-Louis Leclerc de: Epochen der Natur, aus d. Französischen übersetzt, St. Petersburg 1781. Cacciari, Massimo: Jünger, ein gefährlicher Meister, in: Ernst Jünger: Prognosen, München 1993, S. 55–64. Cacciari, Massimo: ‚Laudatio‘ for Ernst Jünger, in: Achille Bonito Oliva (Hrsg.): La Biennale di Venezia. XLV International Art Exhibition, Cardinal Points of Art, Theoretical Essays, Venedig 1994, S. 107–109. Campe, Joachim Heinrich: Wörterbuch der deutschen Sprache, Bd.  5, Braunschweig 1811. Cassirer, Ernst: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Berlin 1910. Chamberlain, Houston Stewart: Immanuel Kant. Die Persönlichkeit als Einführung in das Werk, München 1905. Cioran, Emil M.: Das Goldene Zeitalter, in: Antaios VII (1966), S. 264–279. Dacqué, Edgar: Urwelt, Sage und Menschheit. Eine naturhistorisch-metaphysische Studie, München 1924. Dacqué, Edgar: Leben als Symbol. Metaphysik einer Entwicklungslehre, München u. Berlin 1928. Dacqué, Edgar: Religiöser Mythus und Abstammungslehre, in: Ders.: Natur und Erlösung. Schriften der Corona IV, München, Berlin u. Zürich 1933, S. 109–136.

416

12  Quellen- und Literaturverzeichnis

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12  Quellen- und Literaturverzeichnis

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12.3 Sekundärliteratur

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12.3 Sekundärliteratur

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440

12  Quellen- und Literaturverzeichnis

Steil, Armin: Die imaginäre Revolte. Untersuchung zur faschistischen Ideologie und ihrer theoretischen Vorbereitung bei Georges Sorel, Carl Schmitt und Ernst Jünger, Marburg 1984. Stebner, Gerhard: Die kosmozentrische Perspektive im Werk Ernst Jüngers, in: Thomas Arzt/Roland Dollinger/Maria Hippius-Gräfin Dürckheim (Hrsg.): Philosophia Naturalis. Beiträge zu einer zeitgemäßen Naturphilosophie, Würzburg 1996, S. 151–202. Stiening, Gideon: Am „Ungrund“ oder: Was sind und zu welchem Ende studiert man ‚Poetologien des Wissens‘, in: KulturPoetik 7 (2007), S. 234–248. Stöckmann, Ingo: Sammlung der Gemeinschaft, Übertritt in die Form. Ernst Jüngers Politische Publizistik und Das abenteuerliche Herz (Erste Fassung), in: Ders./Uwe Hebekus (Hrsg.): Die Souveränität der Literatur. Zum Totalitären der Klassischen Moderne 1900–1933, München 2008, S. 189–220. Stöckmann, Ingo: Zäsuren und Kontinuitäten des Gesamtwerks, in: Matthias Schöning (Hrsg.): Ernst Jünger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2014, S. 30–39. Storch, Michael: Der „Ausdeuter der Tat“: Friedrich Nietzsches Präsenz in Ernst Jüngers politischer Publizistik der Weimarer Zeit, in: Sebastian Kaufmann/Andreas Urs Sommer (Hrsg.): Nietzsche und die Konservative Revolution, Berlin u. New York 2018, S. 435–454. Streim, Gregor: ‚Krisis des Historismus‘ und geschichtliche Gestalt. Zu einem ästhetischen Geschichtskonzept der Zwischenkriegszeit, in: Daniel Fulda/Silvia Serena Tschopp (Hrsg.): Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Berlin u. New York 2002, S. 463–488. Streim, Gregor: Das Ende des Anthropozentrismus. Anthropologie und Geschichtskritik in der deutschen Literatur zwischen 1930 und 1950, Berlin u. New York 2008. Streim, Gregor: Esoterische Kommunikation. Initiation und Autorschaft in Ernst Jüngers Besuch auf Godenholm (1952) und Rückblick auf Godenholm (1970), in: Matthias Schöning/Ingo Stöckmann (Hrsg.): Ernst Jünger und die Bundesrepublik. Ästhetik – Politik – Zeitgeschichte, Berlin u. New York 2012, S. 119–135. Streim, Gregor: [Art.] Das abenteuerliche Herz. Aufzeichnungen bei Tag und Nacht, in: Matthias Schöning (Hrsg.): Ernst Jünger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2014, S. 91–100. Suck, Titus S.: Bodily Spaces. The Locus of Politics in Ernst Jünger’s Auf den Marmorklippen, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literarturwissenschaft und Geistesgeschichte 66 (1992), S. 466–490. Tamborini, Marco: The Reception of Darwin in Early Nineteenth-Century German Paleontology as a Case of Pyrrhic Victory, in: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 66 (2017), S. 37–45. Tauss, Martin: Der halluzinatorische Rausch als archaische Initiation. Zum hermetischen Drogenheroismus in Ernst Jüngers Erzählung Besuch auf Godenholm (1952), in: Wirkendes Wort 52 (2002), S. 441–457. Tommek, Heribert: Der lange Weg in die Gegenwartsliteratur. Studien zur Geschichte des literarischen Feldes in Deutschland von 1960 bis 2000, Berlin u. New York 2015. Ulbricht, Ricardo: Der Mensch in der Landschaft. Anthropogeographische Konzepte in Ernst Jüngers Auf den Marmorklippen, in: Andrea Benedetti/Lutz Hagestedt (Hrsg.):



12.3 Sekundärliteratur

441

Totalität als Faszination. Systematisierung des Heterogenen im Werk Ernst Jüngers, Berlin u. New York 2018, S. 393–413. Utz, Peter: Das Auge und das Ohr im Text. Literarische Sinneswahrnehmung in der Goethezeit, München 1990. Vogl, Joseph: Einleitung, in: Ders. (Hrsg.): Poetologien des Wissens um 1800, München 1999, S. 7–16. Vogl, Joseph: Robuste und ideosynkratische Theorie, in: KulturPoetik 7 (2007), S. 249– 258. Vondung, Klaus: Metaphysik des apokalyptischen Aktivismus. Ernst Jüngers Geschichtsdenken von 1933, in: Études Germaniques 51/4 (1996), S. 647–656. Vondung, Klaus: Von der völkischen Religiosität zur politischen Religion des Nationalsozialismus: Kontinuität oder neue Qualität?, in: Uwe Puschner/Clemens Vollnhals (Hrsg.): Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte, 2. Aufl., Göttingen 2012, S. 29–41. Weber, Jan Robert: Ästhetik der Entschleunigung. Ernst Jüngers Reisetagebücher (1934– 1960), Berlin 2011. Weberling, Focko: Wilhelm Troll, his Work and Influence, in: Systematics and Geography of Plants 68 (1999), S. 9–24. Weimar, Klaus: Das Muster geistesgeschichtlicher Darstellung. Rudolf Ungers Einleitung zu Hamann und die Aufklärung, in: Christoph König/Eberhard Lämmert (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910–1925, Frankfurt/M. 1993, S. 92–105. Weitin, Thomas: [Art.] Der Kampf als inneres Erlebnis, in: Matthias Schöning (Hrsg.): Ernst Jünger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2014, S. 59–63. Wende, Waltraud: Einen Nullpunkt hat es nie gegeben. Schriftsteller zwischen Neuanfang und Restauration  – oder Kontinuitäten bildungsbürgerlicher Deutungsmuster in der unmittelbaren Nachkriegsära, in: Georg Bollenbeck (Hrsg.): Die janusköpfigen 50er Jahre. Kulturelle Moderne und bildungsbürgerliche Semantik III, Wiesbaden 2000, S. 17–29. Werkmeister, Sven: Kulturen jenseits der Schrift. Zur Figur des Primitiven in Ethnologie, Kulturtheorie und Literatur um 1900, München 2010. Werkmeister, Sven: Analoge Kulturen. Der Primitivismus und die Frage der Schrift um 1900, in: Nicola Gess (Hrsg.): Literarischer Primitivismus, Berlin u. New York 2013, S. 29–58. Werle, Dirk: Problem und Kontext. Zur Methodologie der literaturwissenschaftlichen Problemgeschichte, in: Journal of Literary Theory 8 (2014), S. 31–54. Widmann, Adrian: Lob der Vokale – Sprache und Körperbau. Zwei Essays von Ernst Jünger zum Zeitgeschehen, Textkommentar und Fassungsvergleich, Würzburg 2011. Wilczek, Reinhard: Nihilistische Lektüre des Zeitalters. Ernst Jüngers NietzscheRezeption, Trier 1999. Willer, Stefan: Urwort. Zum Konzept und Verfahren der Etymologie, in: Tobias Döring/Michael Ott (Hrsg.): Urworte. Zur Archäologie erstbegründender Begriffe, München 2012, S. 35–55. Willer, Stefan: Ur, in: Falko Schmieder/Georg Toepfer (Hrsg.): Wörter aus der Fremde. Begriffsgeschichte als Übersetzungsgeschichte, Berlin 2017, S. 250–253. Wittkau, Annette: Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems, Göttingen 1992.

442

12  Quellen- und Literaturverzeichnis

Wiwjorra, Ingo: Die deutsche Vorgeschichtsforschung und ihr Verhältnis zu Nationalismus und Rassismus, in: Uwe Puschner/Walter Schmitz/Justus H. Ulbricht (Hrsg.): Handbuch zur ‚Völkischen Bewegung‘ 1871–1918, München 1999, S. 186–207. Wolters, Dierk: Zwischen Metaphysik und Politik. Thomas Manns Roman Joseph und seine Brüder in seiner Zeit, Tübingen 1998. Woods, Roger: Zwischen politischem Programm, Aktivismus und Negation: ‚Konservative Revolution‘, Nationalsozialismus und ‚Neue Rechte‘, in: Volker Eickhoff/ Ilse Korotin (Hrsg.): Sehnsucht nach Schicksal und Tiefe. Der Geist der konservativen Revolution, Wien 1997, S. 40–54. Wünsch, Marianne: Ideologische Konzepte in Ernst Jüngers Der Kampf als inneres Erlebnis, in: Dies.: Moderne und Gegenwart. Erzählstrukturen in Film und Literatur, München 2012, S. 323–342. Zedelmaier, Helmut: Der Anfang der Geschichte. Studien zur Ursprungsdebatte im 18. Jahrhundert, Hamburg 2003. Zedelmaier, Helmut: Vor- und Frühgeschichte als Problembezirk historischen Wissens im 18. Jahrhundert, in: Dietrich Hakelberg/Ingo Wiwjorra (Hrsg.): Vorwelten und Vorzeiten. Archäologie als Spiegel historischen Bewußtseins in der Frühen Neuzeit, Wiesbaden 2010, S. 93–104. Zedelmaier, Helmut: Schlözer und die Vorgeschichte, in: Heinz Duchhardt/Martin Espenhorst (Hrsg.): August Ludwig (von) Schlözer in Europa, Göttingen 2012, S. 179–196. Zeller, Bernhard/Werner Volke (Hrsg.): Buchkunst und Dichtung. Zur Geschichte der Bremer Presse und der Corona, Ausstellungskatalog, Passau 1966. Zima, Peter V.: Moderne/Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, 2.  Aufl., Tübingen u. Basel 2001. Zissler, Dieter: In der Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen. Über Natur und Naturwissenschaft im Werk Ernst Jüngers, in: Text + Kritik 105/106 (1990), S. 125–140. Zöfel, Gerhard: Die Wirkung des Dichters. Mythologie und Literaturwissenschaft um Stefan George, Frankfurt/M. u.  a. 1987. Zumbusch, Cornelia: Urgeschichte. Erzählungen vom Vergangenen bei Herder, Engels, Freud und Benjamin, in: Tobias Döring/Michael Ott (Hrsg.): Urworte. Zur Archäologie erstbegründender Begriffe, München 2012, S. 137–153.

13 Personenregister Abel, Othenio  48–50, 197, 256, 258, 262  f. Adelung, Johann Christoph  19 Adorno, Theodor W.  158 Agassiz, Louis  83 Aristoteles  81, 181 Arminius 230 Arnheim, Rudolf   76 Aubin, Hermann  218 Ballenstedt, Johann Georg Justus  40  f. Balzac, Honoré de  168 Bataille, Georges  334–336 Baudelaire, Charles  168, 384 Beck, Christian Daniel  39 Beer, Gavin de  85 Behn, Friedrich  141 Benjamin, Walter  21, 140, 156 Benn, Gottfried  8  f., 31  f., 59  f., 75  f., 155–157, 163  f., 198, 233–235, 237, 383, 401, 404  f., 414 Bense, Max  9 Bergson, Henri  55  f., 158 Beurlen, Karl  49, 97 Blersch, Hartmut  72 Blumenberg, Hans  2  f., 9, 24, 161, 392  f., 402  f. Bodmer, Martin  239 Bohr, Niels  31, 303 Bölsche, Wilhelm  155, 159, 238, 258  f., 261 Boureau, Éduard  78 Bragg, William Henry  33 Bragg, William Lawrence  33 Breysig, Kurt  25, 30–33, 58, 300  f., 303– 307, 314, 318, 343, 381, 399, 415 Brück, Max von  224 Brunner-Traut, Emma  73 Buckland, William  43 Buffon, Georges-Louis Leclerc de  36, 39, 94, 371

Bütschli, Otto  152–155 Cacciari, Massimo  382  f. Campe, Joachim Heinrich  19 Cassirer, Ernst  24, 33 Chamberlain, Houston Stewart  253 Cioran, Emil M.  326 Cook, James  339  f. Cuvier, Georges  39, 41, 47, 344  f., 354–356, 358, 360, 368, 373  f., 376, 383, 392 Dacqué, Edgar  58–60, 62, 68–71, 74, 80, 83  f., 88  f., 197–200, 233–250, 252– 254, 257–263, 269  f., 328, 355–357, 363, 377, 393 Dante Alighieri  28 Darwin, Charles  46, 48  f., 55, 58, 69, 72, 81, 86, 92  f., 137, 155, 181, 200, 206, 235, 248, 289, 345, 350, 352, 354–356, 358, 394 Deleuze, Gilles  380, 383  f. Dennert, Eberhard  49 Descartes, René  68, 237 Dilthey, Wilhelm  26, 29, 158 Dohrn, Anton  181 Dohrn, Reinhard  180  f. Driesch, Hans  154, 181–183, 190  f., 206  f., 266, 332, 395 Droste-Hülshoff, Annette von  373 Eimer, Theodor  49 Eliade, Mircea  294, 315 Engel, Marcel  326 Feininger, Lyonel  33 Figuier, Louis  39 Fischer, Eugen  290 Fischer, Hugo  299, 329 Forster, Georg  339  f. Foucault, Michel  12, 384 Fraas, Eberhard  187, 281 Fraas, Oscar  39 Freud, Sigmund  142, 159–162, 164  f.

444

13 Personenregister

Frobenius, Leo  171, 173, 218  f. Fussenegger, Gertrud  347 Gehlen, Arnold  142, 317, 380  f. Gehrts, Heino  329 George, Stefan  24 Gesner, Conrad  369, 371, 374  f. Goethe, Johann Wolfgang  7  f., 11  f., 25–30, 34, 46, 60–66, 68  f., 72, 76, 82, 111, 125–128, 133, 194–196, 199, 239, 249–253, 269, 301, 317, 328, 344, 363 Grimm, Jacob  20 Grimpe, Georg  185 Gummel, Hans  222 Gundolf, Friedrich  25–30, 34, 58, 399 Günther, Albrecht Erich  152 Hachmann, Rolf   332 Haeckel, Ernst  32, 46  f., 59, 86, 137, 149  f., 152, 155–157, 159, 162, 164, 166, 168, 183, 237, 289, 355, 357 Hamann, Johann Georg  21, 25  f., 127, 178, 241, 251, 295, 341 Harder, Hermann  366 Hartmann, Eduard  62 Hartmann, Max  62 Hartmann, Nicolai  62 Hauptmann, Gerhart  155 Heberer, Gerhard  10, 85–95, 295, 350– 353, 356, 394 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  32, 313, 317  f., 321, 364, 380 Heidegger, Martin  2, 9, 11, 24, 131  f., 201, 314, 331, 385, 391, 402–404 Heißenbüttel, Helmut  316 Hellwald, Friedrich von  137 Helmholtz, Hermann von  181 Helwig, Werner  329 Hennig, Edwin  49–54, 56–60, 88, 97, 188–190, 197, 199 Heraklit 247 Herder, Johann Gottfried  21, 127, 140, 241, 298, 317, 341 Herodot  313, 317, 319 Hertwig, Oskar  153 Hesiod  339, 383 Hesse, Hermann  342  f. Heussi, Karl  151, 196, 300

Hielscher, Friedrich  16, 284 Hoernes, Moritz  137 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus  125, 273 Hofmannsthal, Hugo von  17, 240, 273 Hölder, Helmut  10, 48–52, 54–56, 59  f., 62–66, 68–73, 76, 82–84, 88, 95–97, 114, 125  f., 133, 188, 197, 252, 328, 346, 348  f., 356  f., 363, 394 Holz, Arno  155 Horion, Adolf   92 Humboldt, Alexander von  186 Husserl, Edmund  24, 65, 402 Hutton, James  36, 94, 346 Huysmans, Joris-Karl  168 Iselin, Isaak  38 Jacob-Friesen, Karl-Hermann  140 Jankhuhn, Herbert  288 Jaspers, Karl  139–146, 313–315, 317  f., 332  f., 394 Jünger, Friedrich Georg  81, 89, 185, 358 Juvenal 168 Kant, Immanuel  32, 45, 62, 253, 325, 415 Kantorowicz, Gertrud  55 Kierkegaard, Søren  145 Klages, Ludwig  21 Klages, Otto  72, 79  f., 94–97, 99–101, 103, 111–115, 124, 134, 186, 281 Klee, Paul  33 Klüser, Bernd  379 Köhler, Oskar  143 Koken, Ernst  50 Koppers, Wilhelm  141, 143 Kossinna, Gustav  222, 226 Kossmat, Franz  186 Krüger, Johann Friedrich  41 Krünitz, Johann Georg  40 Kubin, Alfred  185 Kühn, Herbert  136–139, 141, 143–146 Lamarck, Jean-Baptiste de  46, 92, 99, 164 La Peyrère, Isaac de  44 Laue, Max von  33 Lawrence, David Herbert  269 Leibniz, Gottfried Wilhelm  364 Leistikow, Klaus Ulrich  59, 72–76, 78–84, 88, 92, 95–97, 101, 112–115, 125  f., 185, 398  f.



13 Personenregister

Leonhard, Rudolf   21 Lévy-Bruhl, Lucien  311 Linné, Carl von  63, 80–82, 90  f., 251  f., 369, 371 Li-tai-pe 168 Löwith, Karl  132 Lukács, Georg  28, 400 Lyell, Charles  288  f., 355 Mägdefrau, Karl  75, 114  f., 340 Mandelsloh, Ernst August von  276, 280 Mannheim, Karl  33 Mann, Thomas  166, 233, 243 Marc, Franz  33 Marck, Siegfried  387  f. Maringer, Johannes  324  f., 329 Matthes, Walther  329 Mauthner, Fritz  15 Meisenheimer, Johannes  185 Meyer-Abich, Adolf   324  f. Mohler, Armin  131, 255, 276, 386, 397–399 Mühlberger, Josef   329 Müller-Karpe, Hermann  331  f. Müller, Robert  155, 166  f. Musil, Robert  405 Naef, Adolf   79  f., 113  f. Narr, Karl J.  329, 334, 338 Nebel, Gerhard  74, 158, 223  f. Nietzsche, Friedrich  15, 132, 148, 150– 152, 158, 162, 208, 330, 343, 364, 384, 416 Nöggelrath, Jakob  41 Novalis  74  f. Oliva, Achille Bonito  379–382 Osborn, Henry Fairfield  48 Ostwald, Wilhelm  154 Paetel, Karl Otto  2, 115 Pannwitz, Rudolf   301, 304 Pescheck, Christian  140 Pfemfert, Franz  155 Picasso, Pablo  33 Planck, Max  303 Platon  64  f., 235 Plessner, Helmuth  139, 143, 172 Quenstedt, Friedrich August  50, 96, 114, 186 Rabelais, François  168

445

Renger-Patzsch, Albert  124–126, 128 Richter, Max  133 Rinne, Friedrich  186 Rosenberg, Alfred  291 Ruhland, Wilhelm  185 Saint-Hilaire, Geoffroy  344 Saussure, Ferdinand de  15 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph  322 Scheltema, F. Adama von  329 Scheuchzer, Johann Jakob  44 Schiller, Friedrich  64, 66, 86, 195, 251, 328  f. Schilling, Heinar  288 Schindewolf, Otto Heinrich  88–90, 92 Schlaf, Johannes  155 Schlözer, Ludwig August  37  f. Schmarsow, August  309  f. Schmid, Günther  252 Schmidt, Heinrich  61 Schmidt, Hermann  114 Schmitz, Hermann  65 Schopenhauer, Arthur  4 Seilacher, Adolf   88 Semon, Richard  238, 261 Shakespeare, William  25, 28 Simmel, Georg  53, 196 Spengler, Oswald  33, 148, 194, 219, 270, 300, 303, 313, 317  f., 343, 362, 372, 386  f. Steinen, Karl von den  340 Steiner, Herbert  239 Sternberger, Dolf   74 Sternheim, Carl  155 Strasburger, Eduard  153 Suhrkamp, Peter  224 Thomsen, Christian Jürgensen  136 Thurnwald, Richard  138 Toynbee, Arnold J.  317  f. Troeltsch, Ernst  150, 171 Troll, Wilhelm  61  f., 252 Tylor, Edward B.  171, 173–176, 219, 221 Vaihinger, Hans  15 Vattimo, Gianni  380, 383 Verne, Jules  42, 45, 427 Verworn, Max  330 Vietta, Egon  227  f., 337 Villon, François  231

446

13 Personenregister

Virilio, Paul  380, 383 Vollmer, Carl Gottfried Wilhelm  41 Wahle, Ernst  137 Walther, Johannes  66, 68  f., 252 Weber, Max  217 Werner, Bruno E.  224 Westermann, Diedrich  21 Weule, Karl  137  f. Winkler, Eugen Gottlob  74

Woltereck, Heinz  191 Worringer, Wilhelm  53  f., 155, 169  f., 208–210, 330 Wundt, Wilhelm  309 Ziegler, Leopold  194 Zimmermann, Walter  75  f. Zimmermann, W.F.A. (Carl Gottfried Wilhelm Vollmer)  41–46, 78, 187 Zündorf, Werner  61