224 76 41MB
German Pages 114 [156] Year 1833
Kopf- und Maskenzauber in der V o r g e s c h i c h t e und bei den Primitiven.
Von
Dr. W A L D E M A R K L I N G B E I L .
ARTHUR COLUGNON
BUCHHANDLUNG FÜR KUNST UND WISSENSCHAFT G. m. b. H.
BERLIN NW 7 1933
G e d r u c k t b e i Hch. L u d w i g in
Bonn.
Meiner Schwester
Elvira
INHALTSANGABE. Seite I. T E I L : in
Kopfder
und
Masken
zauber
Vorgeschichte.
Einleitendes. Paläoarchäologie und Ethnologie. Die Prähistorie in ihrem eigentümlichen Verhältnis zur rezenten Primitivität Die
1—3
Anwendung der kulturgeschichtlichen Methode. Die sog. Kulturkreislehre und ihre Problematik. Der Gang der Entwicklung dieser Lehre. O. M e n g h i n s abschließende umfassende Betrachtungsweise
3—6
Die besondere B e w e r t u n g d e s S c h ä d e l s i n s e i n e m v o m ü b r i g e n K ö r p e r n o c h un g e t r e n n t e n Z u s t a n d e , d. i. bei Ganzbestattungen. — Die einzelnen Fundtatsachen. Steinkissen und Steinüberbau, „Kopfdolmen" und „Fufidolmen". Steinbelag einzelner (mehr oder minder bedeutungsvoller) Körperteile. Der Kopf in Beziehung zu kräftehaltigen Gegenständen gesetzt, sein Einbetten in Schutzstoff. Der magische rote Farbstoff, seine eigentümliche Bedeutung bei den Primitiven. — Blickrichtung und besondere Lagerung des Hauptes des Toten bei Ganzbestattungen. Die problematische Idee des „bösen Blickes". Die Blickrichtung des Verstorbenen nach Westen als dem (magischen) Lebensquell.
6—18
Die
r e i n e n K o p f b e s t a t t u n g e n . — Der Massenfund in der .Großen Ofnethöhle' sowie sonstige, z. T. außereuropäische Fundtatsachen. Die eigentümliche sorgfältige Behandlung des abgetrennten, noch fleischtragenden Kopfes. Auch hier: der Brauch des Einröteins; die Beigabe von krafttragenden Geräten sowie von Kopfschmuck; das Antlitz schaut zum westlichen Totenreich als dem großen Kräftereservoir 18—24
Die Frage nach dem vorgeschichtlichen Kannibalismus. Die eigentliche Bedeutung der Leichenköpfung. Der problematische Charakter des Totenfurcht-Gedankens für vorgeschichtliche Zustände. Die sog. „Leichenfesselung". Die umstrittene diesbezgl. Entwicklungs-Theorie v. T r a u w i t z - H e 11 w i g s. Die aus dem Totenkult und seinen eigentümlichen Gepflogenheiten resultierende Idee der rituellen Schädelbestattung. Das „Massengrab" der Kopfbeisetzungen, dieser Totensammelplatz als kräftespendendes Asyl 24—27 Der
Vergleich mit analogen Erscheinungen aus antiker Hochkultur sowie rezenter Primitivkultur. Der Brauch der Leichenköpfung in Ägypten. Bei den Primitiven erklären Ahnenverehrung sowie der hiermit engstens verknüpfte Totendienst die besondere Fürsorge für den Kopf des Verstorbenen, der zugleich dessen persönliche Kraftpotenz birgt. Das imposante Massenkopfdepot der .Großen
V
Seite Ofnethöhle' als gewichtiges Zeugnis vorgeschichtlichen, z. T. hochentwickelten Ahnenkultes. Die Idee der Höhlenbestattung. „Schädelhügel" und „Schädelkreise" der rezenten Primitiven. v. T r a u w i t z - H e 11 w i g s unhaltbare, aus dem übersteigerten Totenfurcht-Gedanken resultierende Forschungsergebnisse 27—35 Die
Idee des S c h ä d e l b e c h e r s resp. der S c h ä d e l s c h a l e . Die Fundtatsachen. A u d r e e ' s diesbezgl. Deutungsversuche. Ist die Schädelkalotte ursprünglich als rein profanes Trinkgerät in der Hand des Urkannibalen zu verstehen?! Die Unterscheidung von Exo- und Endokannibalismus. Kritik der A n d r e e ' s c h e n Theorien. Der recht fragwürdige Charakter eines prähistorischen Anthropophagenzeitalters. Ehrfurcht vor dem (magisch gewerteten) Schädelgefäß bereits in vorgeschichtlichen Zeitläuften bei der beherrschenden magischen Vorstellungswelt des urzeitlichen Menschen sicher vorhanden. — Das allmähliche Verbleichen der (urspr. magischen) Idee vom Schädelbecher, nachgewiesen an Bräuchen der indischen Aghori. Mehr negative Empfindungen wie Hall, Rache u. dgl. sind zunächst keineswegs mit der Kopftrophäe, der Schädelreliquie bezw. dann auch der Schädelschale verbunden. — Die durchweg magische, auch wohl rituell-kultische Bewertung der Schüdelkalotte als Spenderin des Kräftetrunkes. Parallele Erscheinungen aus der rezenten Primitivität. Die Schädelkalotte als rituell-kultisches Trinkgefäß beim Totenmahl der Hinterbliebenen; also hier vorzüglich die Erklärung dieses naturalistischen Trinkgerätes aus Totenkult und Ahnenverehrung 35—45
M a s k e n z a u b e r i n d e r V o r g e s c h i c h t e . Vorgeschichtliche Kleinfunde und Höhlenwaudbilder bieten die Eundtatsachen. Das Problem der mutmaßlichen vorgeschichtlichen Maskierungssitte. Mischgestaltige Geisterwesen stellen derartige urzeitliche Gemälde und Zeichnungen mit großer Wahrscheinlichkeit dar. Die „Maskentänzer" von Abri Mège und ihre verschiedene Deutung. Andere Kopfzeichnungen scheinen das typische Porträt eines anthropoiden Wesens zu verraten. K. B e t h s treffende Vermutung. — Eigentümliche Kopfformen tragen mehr den Charakter eines Tierkopfes. Tierköpfige Geisterwesen will (1er vorgeschichtliche (Kult-) Maler im Bilde wiedergeben. Tierische Kopftypen bei sonst menschengestaltigen Körpern im Lichte der Masken-Idee. Der sog. „Zauberer" von Trois Frères in seiner mutmaßlichen „zusammengesetzten Tiermaske" resp. Tiermaskierung. Derartige mischgestaltige Geisterwesen wiedergebende Gemälde können recht wohl auf wirkliche diluviale Maskentänzer zurückgehen. Der rituell-magische Tanz in der Tiermaske. Bücktanz-Darstellungen und Fruchtbarkeitszauber. Mischgestaltige Fruchtbarkeitsdämonen entsprechen tierkopfmaskierten Kultfiguranten beim typischen Fruchtbarkeitstanz. Das geheimnisvolle Kraftfluidum der Zeugungsgeister, das aus dem „Kultbiide" auf die vor diesem sich produzierenden Maskentänzer überströmt. — Die prähistorischen sog. Maskenbilder sind als Produkte magischer Weltanschauung zu verstehen. Die ethnographischen Parallelen. Der Primitive in der Fellmaske bezw. im Schmucke des Tierkopfbalges beim Zaubertanz. Jagdzauber. Der primitive Jäger in der naturalistischen Jagdverkleidung. Die Tierprotome als Sichtschutz. Abschließend M e n g h i n s zutreffende theoretische Ausführungen. 45—60
VI
Seite II. T E I L :
Kopf - und bei
den
M a s k e n
zauber
Primitiven.
E i n l e i t e n d e s . Das Vorkommen von Kopf- u n d M a s k e n z a u b e r in der totemistischen, insbesondere der sog. Zweiklassenk u l t u r bezw. den mutterrechtlichen „ b o d e n b a u e n d e n " Kulturen. — Scheidung der Kopf- resp. Schädel Verehrer in bestimmte H a u p t g r u p p e n je nach der verschiedenartigen Beh a n d l u n g der Kopfreliquie
61—62
Die eigentümliche S c h ä t z u n g d e s l e b e n d e n
62—64
Die
Kopfes .
besondere B e w e r t u n g d e s t o t e n , f r i s c h abges c h n i t t e n e n resp. noch nicht p r ä p a r i e r t e n K o p f e s
64—66
D e r p r ä p a r i e r t e K o p f b a l g bezw. der n a c k t e oder kunstvoll modellierte Schädel in seiner eigentümlichen Verwend u n g als K r a f t t r ä g e r resp. naturalistisches Zaubergerät. .
66 ff.
Die hervorragende Bedeutung von A h n e n v e r e h r u n g und T o t e n k u l t bei den Primitiven. D a s rituell-zeremonielle H e r r i c h t e n des Kopfbalges. Die Idee des Schädeltanzes. Das neben dem Dörren der K o p f h a u t am Schädelskelett geübte besondere Modellieren des Schädels, vorzüglich das A u s f o r m e n des Gesichtsskeletts mit Tonmasse. Die Gesichts-Zierkurven. .
66—74
D e r K o p f a l s S i t z b e s o n d e r e r K r ä f t e ; die Z a u b e r k r a f t des Schädels. Eigentümliche Toteuriten. Die besondere Beh a n d l u n g der k r ä f t e h a l t i g e n Schädelreliquie. „Schädelgeist" bezw. „Schädeltabu"
75—79
D a s D e p o n i e r e n d e s k r a f t e r f ii 111 e n S c h ä d e l s resp. modellierten Kopfes: verschiedenartige Schädelbehälter. D a s Aufstellen auf dem Untersatz, das A u f s t e c k e n bezw. überh a u p t Erhöhen der Kopfreliquie auf Z a p f e n , Stäben, Pflöcken u. dgl. resp. ihr A u f h ä n g e n am Bande oder in der Flechtwerk-Tascne
79—87
K o p f - u n d N a m e n z a u b e r. D e r Kopf als Amulett resp. Talisman. Die Bestandteile des Schädels im einzelnen wie Hirnschale, Unterkiefer, Zähne, H a a r , Auge gelten als k r a f t begabt. Augenzauber
87—93
D a s P r o b l e m d e r B e f r a g u n g d e r G o t t h e i t bezw. d e s A h n e n g e i s t e s im Lichte der religiösen Vorstellungen der Primitiven. Die Übung der T o t e n b e f r a g u n g im allgemeinen, speziell im R a h m e n von T o t e n k u l t u n d Bestattungszeremonien. Die B e f r a g u n g des „lebenden Leichnams". Vom Inspirationsorakel zum technischen O r a k e l
93—96
D i e B e f r a g u n g m i t t e l s d e s K o p f e s bezw. S c h ä d e l s eines Menschen (aber auch Tieres) im besonderen. Das Schädelgebet. D e r Kopf als O r a k e l i n s t r u m e n t . D a s Bittgesuch an die Schädel. Die Feier zu E h r e n des väterlichen Schädels, v e r b u n d e n mit der zeremoniellen Anrede a n d e n Schädel. Der orakelnde Kopf bei d e n Maori Neuseelands. D a s T r a u m o r a k e l aus dem Schädel der Eltern. Die Bedeutung des Tierschädels beim T r a u m o r a k e l . D a s o r a k e l n d e Kopfbild des Kriegsgottes K u k a i l i m o k u von Hawaii, ein t y p i s c h e r Prozessions- u n d Kriegsfetisch 96—III D e r K o p f in S a g e u n d M ä r c h e n d e r m o d e r n e n P r i m i t i v e n , d. h. seine volkstümliche Bewertung im Munde des naturvölkischen Mythenerzählers. D e r Kopf als gespenstischer, mordgieriger N a c h t d ä m o n i n m i t t e n seiner blut-
VII
Seite dürstigen Bande. Der unheimliche Zauberkopf, d. i. das weinende, redende, schreiende, rollende, schwimmende, aufhockende und schwebende Vampyrkopfungeheuer. Der Haarbüschel tragende Vampyrkopf im Lichte der „Mondmythe" bezw. sein Zusammenhang mit (bereits in der Antike auftauchenden) solaren resp. lunaren Spekulationen. Der beseelte fürsorgliche Zauberkopf und die eigentümliche Behandlung des Leidensproblems im Sinne der naturvölkischen Religion 111—123 V o m S c h ä d e l z u r M a s k e . Das Ineinanderübergehen beider Vorstellungen: Die Schädelmaske! Die (magische) Verwendung der kraftvermittelnden Schädelmaske beim Totenfest bezw. beim Kriegstanz. Der Schädelmaskentanz als Pantomimenspiel im Toten- bezw. Ahnenkult. Die Schädelmaske als Tabu: ihr Plazieren im Geisterhause resp. der Versammlungshütte. Schädelmaskengeschmückte Ahnenstatuen. . 123—127 Der Einfluß des Schädels und dann der Schädelmaske auf die Maskentechnik im allgemeinen. Die bedeutsamen Gesichtsrandlinien, die eigenartige Augen-, Mund- und Nasenbildung an Masken 127—128 V o m S c h ä d e l bezw. K o p f z u m A h n e n b i l d . Die Idee des Kerbpfahls. Die Idee des Schädelbehälter-Idols. Der Schädelbehälter als Träger des Ahnenbildes (so bei der Schädeltonne) bezw. als Ahnenbild selbst. Der Behälterkopf des KorwarenIdols 128—130 Die Maske im naiven Glauben, im intern religiösen Empfinden der naturvölkischen Menschheit, unterstellt dem L e i t m o t i v von Tod und L e b e n 131—134 T i e r k o p f und T i e r r a a s k e . Der Ursprung der Tiermaske aus dem Totemismus. Tierkopfinütze und Tierkopfmaske. Der naturalistische Kopfputz des maskierten Figuranten. Die Vorstellung der „zusammengesetzten Maske". Der kultisch „Wiedergeborene" im Schmuck der Tiermaske. Der realistischdrastische Totemtanz des Maskierten (Das Kopfraub-Motiv!). Vom (abgezogenen) Naturbalg Uber den künstlichen Tierkörper zum Effigium des Vogelbalges. — Anthropomorphismen in der Tiermaske, ihre Angleicht! ng an das menschliche Gesicht. Das Hörnermotiv an tier-menschlich gestalteten Masken. 134—144
VIII
LITERATURVERZEICHNIS. R. A n d r t - e i Ethnographische Parallelen u. Vergleiche. Stuttgart 1878. R. A n d r e e : Menschenschädel als Trinkgefäße. Ztschr. d. Yer. f. Volksk. 1912. H. B ä c h t o l d - S t ä u b l i : Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. II, Berlin u. Leipzig 1929. H. B a r t h : Reisen u. Entdeckungen in Nord- und Zentralafrika in den Jahren 1849-1855. Gotha 1859. A. B a s t i a n : Zur Kenntnis Hawaiis. Berlin 1885. J. B a t c h e l o r : The Ainu of Japan. The religion, superstitions and general history of the hairy aborigines of Japan. London 1892. H. W. B a t e s : Elf Jahre am Amazonas. Abenteuer und Naturschilderungen, Sitten u. Gebräuche der Bewohner unter dem Äquator, bearbeitet u. eingeleitet von B. B r a n d t . Stuttgart 1824. Er. B e h n : „Vor- und Urgeschichte" in: Das Erwachen der Menschheit. Die Kulturen der Urzeit Ostasiens u. des vorderen Orients = Propyläen-Weltgeschichte, hg. von W. Goetz, Bd. I, S. 91 — 170. Berlin 1931. W. ß e t r m a n n : Im Stromgebiet des Sepik. Eine deutsche Forschungsreise in Neuguinea. Berlin 1922. E. B e s t : Maori religion and mythology. Wellington 1924. K. B e t h : Religion und Magie, ein religionsgescnichtlicher Beitrag zur sychologisdien Grundlegung der religiösen Prinzipienlehre. 2. Aufl. eipzig u. Berlin 1927. W. B l i g h : A voyage to the South Sea. London 1792. D. G. B r i n t o n : Religions of primitive peoples = American lectures on the history of religions Ser. II. New York u. London 1898. Er. B u r g e r : Unter den Kannibalen der Südsee. Studienreise durch die melanesische Inselwelt. Dresden 1923. M. C. B u r k i 11 : Prehistory. A study of early cultures in Europe and the Mediterranean basin. 2. ed. Cambridge 1925. J o a o C a p i s t r a n o d e A b r e u : ra-txa hu-ni-ku-i. A lingua dos Caxinauäs. Rio des Janeiro 1914. C a r t a i l h a c u. B r e u i l : La caverne d'Altamira. 1906, 145 ff. G. C a 11 i n : Die Indianer Nordamerikas und die während eines achtjährigen Aufenthalts unter den wildesten ihrer Stämme erlebten Abenteuer und Schicksale. Ins Deutsche übertragen von Prof. Dr. H. B e r g h a u s . Neu hg. von A. Sommerfeld. Berlin-Friedenau 1924. C. C l e m e n : „Die prähistorische Religion" in: Die Religionen der Erde. München 1927, S. 3—20. C. C l e m e n : „Die primitive Religion" in: Die Religionen der Erde. München 1927, S. 23—58. R. H. C o d r i n g t o n : The Melanesians. Studies in their anthropology and folk-lore. O x f o r d 1891. J. C o o k : A voyage to the Pacific Ocean in the years 1776—1780. London 1784. G. G. M a c C u r d y : H u m a n origins. A manual of prehistory. 2 Bde. New York 1924. Th. W. D a n z e 1 : Kultur u. Religion des primitiven Menschen. Stuttgart 1924.
E
IX
Ch. "W. D o m v i 11 e - F i f e : Unter Wilden am Amazonas. Forschungen u n d Abenteuer bei K o p f j ä g e r n u. Menschenfressern.. Leipzig 1926. I'. E h r e n r e i c h : D i e M y t h e n u. Legenden der S ü d a m e r i k a n i s c h e n Urvölker und ihre Beziehungen zu d e n e n N o r d a m e r i k a s u. der a l t e n Welt. Berlin 1905. W. E l l i s : N a r r a t i v e of a tour through Hawaii or O w h y h e e . 3. A u f l . H a m b u r g 1827. A. F o r n a n d e r : An account of the Polynesian race etc. 2. Bd. London 1880.
G. F r i e d e r i c i : Skalpieren und ähnliche Kriegsgebräuche in Amerika. Braunschweig 1906. L. F r o b e n i u s : Die Masken u. Geheimbiinde Afrikas. Leipzig 1898: in Nova Acta. Abh. d. (ehem.) kaiserl. Loop.-Carol. Deutschen Akademie d. N a t u r f o r s c h e r Bd. LXXIV, Nr. I. L. F r o b e n i u s : D a s u n b e k a n n t e Afrika. Aufhellung der Schicksale eines Erdteiles. München 1923. A. G a h s : Kopf-, Schädel- u. Langknochenopfer bei Renntiervölkern in der W. Schmidt-Festschrift (S. 231—268), Wien 1928. W. W. G i l l : Life in the southern isles. London 1876. W. W. G i l l : Sketches of savage life in Polynesia. Whittingham 1881. W. M. M a c G o v e r n : Unter den K o p f j ä g e r n auf Formosa. S t u t t g a r t 1923. F. G r a e b n e r : Die Methode der Ethnologie. Heidelberg 1911. F. G r a e b n e r : „Ethnologie" in: Die K u l t u r der G e g e n w a r t , hg. von P. Hinneberg, Teil III. Abt. 5: Anthropologie. Leipzig u. Berlin 1923. F. G r a e b n e r : D a s Weltbild der Primitiven. Eine U n t e r s u c h u n g der U r f o r m e n weltanschaulichen D e n k e n s bei Naturvölkern. München 1924. H. H a h n e : D a s vorgeschichtliche Europa. Kulturen u. Völker. Bielefeld u. Leipzig 1910 in den „Monographien zur Weltgeschichte" 30. R. F. v. H e i n e - G e 1 d e r ii : K o p f j a g d und Menschenopfer in Anam n. Birma und ihre Ausstrahlung nach Vorderindien. Mitt. d. Anthr. Ges. Wien 18, 1917. Teuira H e n r y : Ancient Tahiti. Honolulu 1928 = Bernice P a u a h i Bishop Museum, Bulletin 48. M. H ö r n e s : Urgeschichte der Menschheit, neubearbeitet von Behn, Berlin u. Leipzig 1921. M. I l ö r n e s : K u l t u r der Urzeit, 3 Bändchen, neubearbeitet von Behn, Berlin u. Leipzig 1921—23. M. H ö r n e s : Urgeschichte der bildenden Kunst in Europa, neubearbeitet von Menghin. W i e n 1925. Fr. H u r l e y : Perlen u. Wilde (Pearls and savages). A b e n t e u e r in der L u f t , an Land und auf See in Neuguinea. Leipzig 1926. King K a l a k a u a : Legends and m y t h s of Hawaii. New York 1889. H. K 1 a a t s c h - H e i 1 b o r n : Der W e r d e g a n g der Menschheit und die E n t s t e h u n g der K u l t u r . 2 Berlin-Leipzig-Wien-Stuttgart 1922. Th. K o c h - G r ü n b e r g : Vom Roroima zum Orinoco. Bd. II : M y t h e n u. Legenden der Tanlipang- u. Arekuna-Indianer. Berlin 1916. Th. K o c h - G r ü n b e r g : I n d i a n e r m ä r c h e n aus S ü d a m e r i k a . J e n a 1920. K r a u s e : Maske u. A h n e n f i g u r . Ethnolog. Studien I, 4, 1931. W. K r e m p : Beiträge zur Religion der Ainu. Bonner Inaugural-Dissertation. F r e i b u r g 1928. H. K ü h n : Kunst u. K u l t u r der Vorzeit Europas. D a s Paläolithikum. Berlin u. Leipzig 1929. A. L e h m a n n : Aberglaube und Zauberei. S t u t t g a r t 1908. F. R. L e h m a n n : Die polynesischen Tabusitten. Eine ethnosoziolog. u. religionswiss. Untersuchung. Leipzig 1930. L. L é v y - B r u h l : D a s D e n k e n der N a t u r v ö l k e r (Les fonctions mentales d a n s les sociétés inférieures), übers, von W. Jerusalem, Wien u. Leipzig 1921. L. L é v y - B r u h l : Die geistige Welt der Primitiven (La m e n t a l i t é primitive), übers, von M. H a m b u r g e r , München 1927.
X
L. L é v y - B r u h l : Die Seele der Primitiven (L'âme primitive), übers. von E. Werkmann, Wien «. Leipzig 1930. R. H. L o w i e : Primitive religion. London 1925. G. H. L u q u e t : L'art et la religion des hommes fossiles. Paris 1926. Lad. M a g y a r : Reisen in Südafrika in den Jahren 1849—5?. Aus dem Ungar, von J. Hunfalvy. Pest u. Leipzig 1859. Th. M a i n a g e : Les religions de la préhistoire. L'âge paléolithique. Paris 1921. Br. M a 1 i n o w s k i : Das Geschlechtsleben der Wilden in NordwestMelanesien. Deutsch von E. Schumann. Leipzig u. Zürich 1929. R. M a r t i n : Uber Skelettkult u. verwandte Vorstellungen. Zürich 1920. O. M e n g h i n : Weltgeschichte der Steinzeit. Wien 1951. A. B. M e y e r : Masken von Neu-Guinea und dem Bismarck-Archipel. (Ehem.) königl. Ethnograph. Museum zu Dresden VII, 1889. E. M j ö b e r g : Durch die Insel der Kopfjäger. Abenteuer im Innern von Borneo. Leipzig 1929. S o p h u s M ü l l e r : Urgeschichte Europas. Grundzüge einer prähist. Archäologie. Strafiburg 1905. R. H. N a s s a u : Fetichism in West-Afrika. 41 vears observation of native customs and superstitions. London 1904. J. v. N e g e 1 e i n : Weltgeschichte des Aberglaubens. Bd. I. Die Idee des Aberglaubens. Sein Wachsen und Werden. Berlin u. Leipzig 1931. R. N e u h a u ß : Deutsch Neu-Guinea, Bd. 1, Berlin 1911. A. W. N i e u w e n h u i s : Quer durch Borneo. Ergebnisse seiner Reisen in den Jahren 1894, 1896—97, und 1898—1900. Leiden 1904, 1907. M. P. N i l s s o n : Primitive Religion. Tübingen 1911. A. E. N o r d e n s k i ö 1 d : Die Nordpolarreisen Adolf Erik Nordenskiölds 1858—1879. Deutsche Übersetzung Leipzig 1880. H. ü b e r m a i e r : Der Mensch der Vorzeit: Bd. 1 des Werkes: Der Mensch aller Zeiten. Berlin-München-Wien 1912. H. O b e r m a i e r : Leichennagelung in Altspanien in der Festschrift für P. W. Schmidt, Wien 1928, S. 943 - 948. R. P a r k i n s o n : Dreißig Jahre in der Südsee. hg. von B. Ankermann. Stuttgart 1911. H. P l i s c h k e : Kukailimoku. Ein Kriegsgott von Hawaii. Berlin 1929. Arbeiten aus der Ethnographischen Sammlung der Universität Göttingen I. K. Th. P r e u ß : Die geistige Kultur der Naturvölker. Berlin u. Leipzig 1914. L. R e i n h a r d t : Der Mensch zur Eiszeit in Europa und seine Kulturentwicklung bis zum Ende der Steinzeit. Berlin u. Wien 1924. A. R e i s c h e k : Sterbende Welt. Zwölf Jahre Forscherleben auf Neuseeland. Leipzig 1924. A. R é v i l l e : Les religions des peuples non civilisés. Paris 1883. D. d e R i e n z i : Geschichte und Beschreibung von Oceanien. Aus dem Französischen von Mebold. 3 Bde. Stuttgart 1839/40. B. R i l e y : Among Papuan head-hunters. London 1925. A. L e R o y : La religion des primitifs. 3. ed. Paris 1911. W. S c h e i d t : Die eiszeitlichen Schädelfunde aus der Großen OfnetHöhle und vom Kaufertsberg bei Nördlingen. München 1923. O. S c h 1 a g i n h a u f e n : Verzierte Schädel aus Neuguinea und Neumecklenburg in den „Abhandlungen und Berichten des (nunmehr staatlichen) Zoologischen und Anthropologisch-Ethnographischen Museums zu Dresden" Bd. XIII, 1910—11. M . S c h m i d t : Völkerkunde. Berlin 1924. R. R. S c h m i d t : Die diluviale Vorzeit Deutschlands. Stuttgart 1912/13. R. R. S c h m i d t : Die altsteinzeitlichen Schädelgräber der Ofnet u. der Bestattungsritus der Diluvialzeit (Epoche Azilien-Tardenoisien). Stuttgart 1913. Wilh. S c h m i d t : Der Ursprung der Gottesidee, eine historisch-kritische u. positive Studie. III. Bd. Die Religionen der Urvölker Asiens u. Australiens 1931.
XI
Wilh. S c h m i d t : Handbuch der vergleichenden Religionsgeschichte. Ursprung u. Werden der Religion, Theorien und Tatsachen. Münster 1930. H. S c h u r z : Uber Kopfjagd u. Sammeltrieb. Deutsche geographische Blätter, Bd. 19, Heft 3. I'\ S p e i s e r : Südsee / Urwald / Kannibalen. Reisen in den Neuen Hebriden und Santa-Cruz-Inseln. Stuttgart 1924. E. v. S y d o w : Ahnenkult u. Ahnenbild der Naturvölker. Berlin 1924 in „Schöpfung", Beiträge zu einer Weltgeschichte religiöser Kunst, hg. von O. Beyer Bd. 6. E. v. S y d o w : Kunst u. Religion der Naturvölker. Oldenburg 1926. E. v. S y d o w : Die Kunst der Naturvölker u. der Vorzeit. 2. Aufl. Berlin 1927. E. v. S y d o w : Handbuch der afrikanischen Plastik. Bd. I. Die westafrikanische Plastik. Berlin 1930. A r i i T a i m a i : Denkwürdigkeiten. Hamburg 1923. M e r l i n M o o r e T a y l o r : Bei den Kannibalen von Papua. Auf unbekannten Pfaden im Innern Neuguineas. Leipzig 1925. G. T e f i m a n n : Die Pangwe. Völkerkundliche Monographie eines westafrikanischen Negerstammes. Bd. II, Berlin 1913. Thos. G. T h r u m : Fornander collection of hawaiian antiquities and folklore, in: Memoirs of the Bernice Pauahi Bishop Museum, Vol. VI, Honolulu 1919/20. Thos. G. T h r u m : More Hawaiian folk-tales. Chicago 1923. R. T h u r n w a l d : Psychologie des primitiven Menschen in Kafkas Handbuch der vergleichenden Psychologie. Bd. 1, Abt. 2, München 1922. R. T h u r n w a l d : Die Eingeborenen Australiens u. der Südseeinseln. Tübingen 1927 im „Religionsgeschichtlichen Lesebuch" hg. von A. B e r t h o 1 e t. J. v. T r a u w i t z - H e 11 w i g : Urmensch und Totenglaube. München 1929. E. T r e g e a r : The Maori racc. London 1905. E. B. T y l o r : Primitive culturc, 2 Bde. 5. ed. London 1913. F. W. U p d e G r a f f : Bei den Kopfjägern des Amazonas. Sieben Jahre Forschung u. Abenteuer. 2. Aufl. Leipzig 1925. E. V a t t e r : Religiöse Plastik der Naturvölker. F r a n k f u r t a. M. 1926. A. V i e r k a n d t : Die Anfänge der Religion und Zauberei, Globus 92, 1907. H. V i s s c h e r : Religion u. soziales Leben bei den Naturvölkern, 2 Bde. Bonn 1911. J. W h i t e : The ancient history of the Maori. Wellington 1887—1888. G. W h i t e h e a d : In the Nicobar Islands: The record of a lengthy sojourn. London 1924. P. W i r z : Die Marind-anim von Holländisch-Süd-Neu-Guinea. Hamburg I. Bd. 1922, 2 Bde. 1925 = Abhandlungen aus dem Gebiet der Auslandskunde der Hamburgischen Universität, Bd. 10 u. 16. P. W i r z : Dämonen u. Wilde in Neuguinea. Stuttgart 1928. Vom modernen (mehr oder minder umstrittenen) Standpunkt der sog. psycho-analytischen Forschung aus behandelt unser Problem: M a r i e B o n a p a r t e : Uber die Symbolik der Kopftrophäen. Eine psychoanalytische Studie. Leipzig-Wien-Zürich 1928. Schließlich sei an dieser Stelle noch verwiesen auf den von der Kulturabteilung der Ufa nach der Bearbeitung Prof. Dr. F. L a m p c ' s hergestellten Tonfilm: Zu den Kopfjägern durchs Inkareich. Bilder von den Galapagos-Inseln, aus den Inkastädten Perus und den Urwäldern von Ecuador.
XII
TEIL I. Kopf- und Maskenzauber in der Vorgeschichte. Wer seinen Blids auf prähistorische Zeitläufte richtet, sidi den mannigfachen Zuständen und Verhältnissen, wie sie in der Vorgeschichte geherrscht haben, zuwendet, dem kann in keiner Weise entgehen, daß für das Motiv des Schädels wie auch das der Maske bezw. Maskierung eine besondere Behandlung gut möglich, j a durchaus geboten erscheint. Haben wir hier die zahlreichen Funde von Schädeln vorzüglich in Höhlen, an Felsüberhängen u. dgl. im Auge, die uns auf merkwürdige Bestattungsbräuche bezw. auf für den Modernen so befremdende mutmaßliche Totenriten hinweisen dürften, so zeigen dort z. T. mit größter Kunstfertigkeit geschaffene Gemälde und Zeichnungen an Höhlemvär.den, aber auch mehr der Kleinkunst zuzuweisende Stein- und Knochengravierungen, daß mit dem Auftauchen einer Maske resp. Maskierung bereits für prähistorische Epochen ernsthaft gerechnet werden muß. Allein bei allem darf man sich doch nicht verhehlen, daß die Erklärung von prähistorischen Funden ihre großen Schwierigkeiten mit sich bringt, die gerade der sich ernsthaft um die hier vorliegenden Probleme Bemühende durchaus nicht verkennen kann. Einesteils ist es der gewaltige Zeitunterschied, der uns von jenen frühen Erdenbewohnern sowie der ihnen eigenen, uns nur auf Grund verstreuter, z. T. recht unsicherer Funde so überaus verschleiert zugänglichen Empfindungswelt trennt, zum anderen lassen die an den verschiedensten Orten uns entgegentretenden Funde resp. Fund-Tatsachen die allerverschiedensten Deutungen zu, wobei nebeneinanderstehende, von Forschern gleicher Kompetenz geäußerte Erklärungen sich oft in keiner Weise zugunsten einer einzigen, gut bezw. am besten fundiert erscheinenden Auffassung von den Dingen verabschieden lassen. Hier sei nur erinnert an zwei überragende Probleme aus der VorgeschichtsForschung, nämlich an die Sitte der Hockerbestattung sowie der Rötelüberstreuung, wie sie uns bei Skeletten vorgeschichtlicher Menschen so ermüdend häufig entgegentritt, Probleme, die immer
1
noch nicht den Kreis der Forschenden zu einer exakt einhelligen A u f f a s s u n g von den Dingen zusammengeführt haben. Und doch erscheint gerade auf dem Gebiete der Vorgeschichte ein brauchbarer Mafistab für das richtige Erkennen der mannigfaltigen Erscheinungen so überaus notwendig, wenn man nicht bei leeren, haltlosen Vermutungen stehen bleiben, vielmehr zu einer lebendigen Erfassung des vorliegenden Bestandes vordringen will. Hier ist es nun die rezente Primitivität, sind es die Kulturen teils noch lebender, teils unlängst erloschener primitiver Völkerschaften, die uns den willkommenen Gradmesser zu gewähren vermögen. Nur eine — mehr oder weniger glücklich durchführbare — Vergleichung mit den späteren Zuständen und Verhältnissen, wie uns solche bei den rezenten Primitiven entgegentreten, kann Licht in die sonst so dunklen, für alle wissenschaftlich-methodische Bearbeitung so schwer faßbaren Zustände vorgeschichtlicher Epochen bringen. In der T a t dürfte sich die rezente Primitivität, wie sie sich auch immer in ihren mannigfaltigen Erscheinungsformen unserem Auge darstellen mag, in einer Höhenlage bewegen, die vom kulturellen Niveau vorgeschichtlicher Epochen gar nicht so wesentlich entfernt liegt. Vorsicht ist jedoch bei einem derartigen Vergleich, wie er sich uns in so günstigem Lichte darbietet, in jeder Hinsicht geboten, und es kann nicht verkannt werden, daß jede Deutung der prähistorischen Dinge aus den Verhältnissen der rezenten Primitivkulturen heraus natürlich mehr oder weniger zweifelhaft bleiben muß. Um so mehr dürfte der Charakter des Unsicheren jedem derartigen Vergleich anhaften, als j a die vorgeschichtlichen Zustände ganz im Lichte frühesten, von Verfall und Auflösung wohl noch völlig unberührten, jugendfrischen Menschentums zu stehen scheinen, während die rezente Primitivität doch bereits einen recht langen, dem forschenden Blick so gut wie völlig unzugänglichen Entwicklungsgang durchgemacht hat, wobei schließlich Stagnation, greisenhafte Entartung bezw. auf tJberkultur beruhende Entstellung, aber auch Uberkreuzungen resp. Kulturvermischungen mannigfaltigster Art im L a u f e des Entwicklungsprozesses eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben mögen. Mag man auch noch so sehr dieser in der neueren Forschung so beliebten Vergleichsmethode, der in allem Wesentlichen auch ich beistimme, zugeneigt sein, die Worte, die unlängst hinsichtlich unserer Problemstellung v. T r a u w i t z - H e l l w i g 1 ) geäußert hat, bleiben doch in ihrer ganzen inneren Wahrheit durch1) „Urmensch und Totenglaube" 1929, S. 100 im Verfolg einer mutmaßlichen Entwicklung des Schädelbechers des Jungpaläolithikums.
2
aus zu beherzigen: „Ebenso wie der Körper im Laufe der J a h r tausende oder Jahrzehntausende eine allmähliche Entwicklung durchmachen muß — auch bei den fast ganz abgeschlossenen Völkerschaften —, ebenso muß die geistige Struktur sich ändern. So sind alle heutigen .primitivsten' Kulturen nur relativ ,primitiv', primitiv im Gegensatz zu den anderen Kulturen der Jetztzeit; in Wirklichkeit sind sie aber gar nicht mehr .primitiv' und können sich mit den wirklich jungfräulichen Kulturen des Diluviums keineswegs vergleichen lassen." So mag der Forschende, der der Methode des Vergleichens huldigt, immerhin ausdrücklich gewarnt sein; allein im Hinblick auf ganz analoge Erscheinungen, wie sie die Welt der rezenten Primitiven bietet, wird er sich nicht entschlagen, den Vergleich gerade bei entscheidenden Punkten mit aller Vorsicht anzubahnen bezw. der durchaus wissenschaftlichen Charakter tragenden, die Zustände der Vorgeschichte wie der rezenten Primitivität so trefflich beleuchtenden Vergleichsmethode die Wege zu ebnen. Es erscheint mir nun notwendig, in diesem Zusammenhang näher auf d i e k u l t u r g e s c h i c h t l i c h e M e t h o d e bezw. die sog. auf dem Vergleich analoger Reihen von Kulturelementen beruhende Kulturkreislehre einzugehen, um zu zeigen, welche Wege die neuere Forschung zur Lösung der hier so handgreiflich vorliegenden Probleme bereits beschritten hat. Namentlich sind es hier zwei Forscher, G r ä b n e r und A n k e r m a n n , gewesen, die, die zukunftsreich erscheinenden Bestrebungen von R a t z e l und F r o b e n i u s weiterführend und über sie wesentlich hinauskommend, alle weiteren f ü r den Bestand und die Festigung der völkerkundlichen Forschungen so notwendigen methodologischen Bemühungen in ein sicheres Bett zu lenken sowie der kommenden Forschung neue Aufgaben zu weisen verstanden. Richtete jener sein Augenmerk speziell auf die ozeanischen Verhältnisse, so wandte dieser sein Interesse vor allem den Eigentümlichkeiten afrikanischer Kulturen zu. Die Frage nach den Kulturübereinstimmungen rückte mehr und mehr in den Vordergrund des Interesses, sie wurde jetzt in der Tat zum Hauptproblem der Völkerkunde. Es ist als das hohe Verdienst G r ä b n e r s anzusehen, d a ß er in einem seiner wertvollsten Werke, der „Methode der Ethnologie", mit aller Präzision, völlig eindeutig und klar die Hauptrichtlinien der Kulturkreistheorie umriß und so aller weiteren Forschung die notwendige Sicherheit zu verleihen vermochte. Nach G r ä b n e r s wertvollen Ausführungen ist es des Kulturkreistheoretikers vorzüglichste Aufgabe, zunächst auf Grund übereinstimmender Reihen
3
von Kulturerscheinungen Gebiete homogener Kultur aufzuzeigen, wobei derartige übereinstimmende Kulturerscheinungen selbst allein durch Vergleich der Form einzelner Sachgüter gewonnen werden dürfen. So vermag man die sog. Kulturkreise herauszuarbeiten, und das Ganze, das sich uns so als Ergebnis der im G r ä b n e r ' sehen Sinne vorgenommenen Untersuchungen darstellt, wäre die sog. von Forschern teils begrüßte, teils hart bekämpfte „Kulturkreislehre". Fernerhin mag es dann als schwierig genug angesehen werden, wenn man sidi — ganz im Einklang mit dem Programm G r ä b n e r s — unterfängt, aus dem mehr flächenhaften Verhalten derartiger Kulturkreise weitere Schlüsse auf ihr chronologisches Verhältnis zueinander zu ziehen. Oft genug mag bei einem derartigen Unternehmen der Forschende in der Problematik der Verhältnisse stecken bleiben, ohne daß er die gewünschte sinnvolle Einordnung exakt durchführen könnte. Für die Lehre von den Kulturkreisen und Kulturverwandtschaften, wie sie mit großem Geschick G r ä b n e r auszubilden, aber auch zugleich meisterhaft anzuwenden verstand, ist es bedeutungsvoll geworden, daß sich ihr namhafte Gelehrte zugewandt haben, bemüht, diese umstrittene Lehre weiter auszubauen und ihr neue Anhänger zu werben. Man kann wohl sagen, daß — neben G r ä b n e r — es vor allem P. Wilh. S c h m i d t gewesen ist, der der doch immerhin problematischen Kulturkreislehre in der wissenschaftlichen Welt die gebührende Achtung verschafft sowie sie durch eingehende Forschungen gut fundiert hat. In dankenswerter Weise gab er in seinem „Handbuch der vergleichenden Religionsgeschichte" (1930) einen Einblick in die Eigenart der religionshistorischen Forschungsweise unter ausdrücklicher Berücksichtigung des Kulturkreis-Problems. Es kann nun gewiß nicht übersehen werden, daß das Werk O. M e n g h i 11 s : Weltgeschichte der Steinzeit (1931) einen tüchtigen Schritt vorwärts in der weiteren wissenschaftlichen Grundlegung der von G r ä b n e r programmatisch aufgestellten sowie ausgebauten, von P. W. S c h m i d t bereits kunstgerecht gehandhabten Kulturkreistheorie bedeutet. Das auf zahllose Detailuntersuchungen zurückgreifende, von der bedeutenden Organisationskraft seines Autors beredt Zeugnis ablegende Werk M e n g h i n s stellt in der Tat den großartigen Versuch dar, das umfassende Gebiet steinzeitlicher Kulturbildungen zu meistern, das Ganze erscheint uns als eine auf gründlicher Sachkenntnis beruhende, überaus geschickt durchgeführte Gliederung der gewaltigen, zuvor in unzähligen Abhandlungen
4
und mehr oder weniger ergiebigen Teiluntersuchungen schier sich verlierenden Stoffmassen. Trefflich versteht M e n g h i n die Methodik der urgeschichtlichen Einzelwissenschaften zu handhaben, wobei er „Grundsätzliches zur Methodik der urgeschichtlichen Synthese" beibringen zu müssen glaubt. Nach einer genaueren Besprechung der chronologischen Grundlagen der Paläoarchäologie (S. 15—84) wendet er sich dann den einzelnen steinzeitlichen Kulturschichtungen in eingehender Durcharbeitung des dem Forscher zur Verfügung stehenden Materials zu. So behandelt er nacheinander die protolithischen (S. 87—133), die miolithischen (S. 137—261), die protoneolithischen (S. 273—322) sowie ferner die mixoneolithischen Kulturen (S. 327—471), wobei er es schließlich nicht unterläßt, „die Ergebnisse der ethnographischlinguistischen Kulturforschung in ihren Beziehungen zur Paläoarchäologie" aufzuführen (S. 479—533). Dies letztere Unterfangen M e n g h i n s ist es nun gerade, das die alten Ideen und Theorien G r ä b n e r s wieder aufnimmt, j a sie sogar um Wesentliches weiterzuführen sich bemüht. Mit allem Ernst ist M e n g h i n darauf aus, Kulturkreise, wie sie die G r ä b n e r ' sehe Schule für die Welt der rezenten Primitivität postulierte, bereits in die Prähistorie zurückzuverfolgen, indem sich so die Kulturkreise schon in der Eiszeit nachweisen ließen. In diesem Sinne unternimmt er es, das Vergleichsverfahren zwischen steinzeitlichen Kulturschichtungen und rezent-primitiven Kulturkomplexen resp. Kulturkreisen einzuschlagen und — soweit er es vermag — durchzuführen, wobei er neben der primitiven Grundkultur vor allem die primitiven Stammkulturen einer Gegenüberstellung mit den steinzeitlichen Kulturen für wert erachtet. So vergleicht M e n g h i n Protolithikum und Grundkultur (S. 489—493), Miolithikum und frühe Stammkulturen (S. 504—510), Protoneolithikum und mittlere Stammkulturen (S. 518—522) sowie endlich Mixoneolithikum und späte Stammkulturen (S. 531—533). „In voller Parallelität", so vernehmen wir aus seinem eigenen Munde 2), „befinden sich die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen frühen Stamm- und Grundkulturen mit jenen, die wir für mio- und protolithische Kulturen wahrscheinlich machen können". Ausdrücklich vermeint M e n g h i n dann betonen zu müssen, daß, soweit das ethnographische Material in Frage steht, diese Verwandtschaftsgruppen zum überwiegenden Teil nicht erst in seinem Werke aufgestellt werden, vielmehr „werden sie von G r ä b n e r und S c h m i d t schon seit Dezennien — allerdings, wie hier der 2) a. a. O. S. 505.
5
Autor hinzufügen muß, ohne Kenntnis der archäologischen Zusammenhänge — vertreten". Wenn dann im weiteren Verlauf seiner Erörterung M e n g h i n darauf aufmerksam machen zu müssen glaubt, daß auch auf dem Gebiete der Paläoarchäologie derartige Yerwandtschaftsgruppen „ebenfalls ganz unabhängig gewonnen" wurden, ohne daß sie von ihm zuerst und allein verfochten worden wären, so kann doch andererseits in keiner Weise verkannt werden, daß gerade M e n g h i n es gewesen ist, der mit der strikten Durchführung der Vergleichsmethode völlig ernst gemacht hat. Er hat wie kein anderer vor ihm vorzüglich in der geschlossenen Einheitlichkeit bei der Vorführung seiner kulturkreislich-paläoarchäologischen Theorien, in dem bewußten, mehr oder minder augenfällig erscheinenden Herausspinnen analoger Erscheinungen steinzeitlicher wie rezent-primitiver Kulturverhältnisse die alten Ideen und Theorien auf eine völlig neue Basis zu stellen vermocht. Das geschickte, nach der flüssigen Diktion des vorliegenden Werkes uns so überzeugend dargelegte, in so geschlossener Form dem Leser vorgeführte eigentümliche Parallelisieren wie dann auch wohl Kombinieren der zeitlich so entfernt liegenden Kulturschichtungen darf in der Tat als M e n g h i n s lireigentliche Schöpfung angesehen werden, ohne daß im einzelnen im Verlauf der speziellen Untersuchung durchaus eigenes Gut des Autors geboten zu sein braucht. Schließlich vermag M e n e h i n in dem einhelligen, auf ein und dasselbe Ziel hin gerichteten Bemühen der verschiedenen Forscher, Paläoarchäologen wie auch Völkerkundler, schon von vornherein ein sehr starkes Argument zu finden für die Gleichsetzung von in ihren Erscheinungsformen einander nicht unähnlichen Kulturkomplexen, d. h. für eine Identifikation von Klingen- und totemistischer, Faustkeilund altpflanzerischer, Knochen- und altviehzüchterischer Kultur. Ich wende mich nunmehr — auf die M e n g h i n ' sdien wertvollen Theorien an späterer Stelle kurz zurückgreifend — meinem eigentlichen Thema zu und beginne zunädist damit, hinzuweisen auf die eigenartige Bewertung und dann auch B e h a n d l u n g d e s S c h ä d e l s , die diesem nach vorgeschichtlichen Funden bereits i n s e i n e m v o m ü b r i g e n K ö r p e r n o c h u n g e t r e n n t e n Z u s t a n d e zuteil geworden ist. Gewiß wird es nicht zufällig sein, daß der vorgeschichtliche Mensch bei Bestattungen vorzüglich das Haupt des Toten für alle Zukunft vor unwillkommenen Berührungen, Beschädigungen bezw. auch allen sonstigen, nicht von Menschenhand ausgeführten Zerstörungen zu schützen suchte, indem er den Schädel des Beigesetzten durch
6
kunstgerecht übereinander gebaute Steinplatten vor äußerem Schaden sicherte. Bereits im Altpaläolithikum wird der Stein mit dem Schädel in nähere Verbindung gebracht. Neben dem Knochenkissen wird von den fürsorglichen Uberlebenden der Grotte von La Chapelle-aux-Saints (im Tal der Sourdoire) 3) ein Steinkissen für den Schädel des Toten hergerichtet, während das Skelett aus der Grotte La Ferrassie I. (wohl Jung-Mousterien) den Kopf bereits von 3 bis 4 Steinblöcken, die über dem Schädel aufgebaut waren, geschützt zeigt. Der Fund läßt mit aller Deutlichkeit erkennen, daß man die Steine allein in der Absicht, den Schädel durch sie zu schützen, in der unmittelbaren Nähe dieses plazierte. Vorzüglich aber im Jungpaläolithikum, insbesondere im Aurignacien, begegnet uns ein derartiger dolmenartiger Schädelschutz, und zwar hauptsächlich bei den Bestattungen der Grimaldi-Höhlen (bei Mentone an der Riviera). So sind bei der Doppelbestattung der Grotte des Enfants (unterste Sepultur) beide Schädel — sowohl der der alten Frau als auch der des Jünglings, der diese mit seinem rechten Arm umschlungen hält — durch eine Steinplatte geschützt, die, ganz nach Art der Dolmen, auf zwei aufrecht gestellte weitere Steine aufgesetzt war. Weiterhin hatte in der gleichen Grotte bei der Bestattung des hochgewachsenen Mannes ein großer Stein die Aufgabe, das Haupt des Toten wie zum Schutze zu überhöhen. Allein dieser Stein war alsbald aus seiner ursprünglichen Lage verschoben worden, so daß einige Brustwirbel des Skelettes zerdrückt wurden. Die Grotte du Cavillon zeigt ähnliches. Hier beim Skelett eines in der sog. „Schlafstellung" beigesetzten Mannes war die Schädelbasis — gleich der hinteren Rumpfpartie — gegen einige unbehauene Steine gestützt. Auch in diesem Falle mag, wenn der trümmerhafte Zustand des Fundes auch keinerlei Sicherheit in der Auffassung bieten kann, ein Steinüberbau den Schädel dolmenartig geschützt haben, ohne daß man hinsichtlich des Skelettbefundes an eine besondere Stütze des Körpers zu denken braucht. Der bei diesem Skelett an der Stirne lehnende 17 cm lange scharfe Knochendolch sowie die beiden hinter dem Kopfe deponierten Feuersteinklingen dürften gewiß als Kräfteträger aufzufassen sein, die mit dem Haupt des Beigesetzten in Verbindung gebracht wurden, wobei es ganz unstatthaft erscheint, den zuerst 3) Ein f ü r allemal sei hier bemerkt, daß von einer Wiedergabe der genauen Literaturangaben betreffs der einzelnen Fundtatsachen an dieser Stelle wie auch an den folgenden durchaus abgesehen werden konnte, da diese heute leicht — so z. B. im instruktiven Werk von v . T r a u w i t z - H e l l w i g und zwar hier in den die einzelnen i>rähistorischen Funde näher erläuternden Anmerkungen — zugängich sind.
7
genannten Knochendolch etwa als lange, einst in die Frisur des Toten eingesteckte Haarnadel erklären zu wollen (s. dazu w. u.). Die Grotte „Barum Grande" bietet weitere Beispiele f ü r die Idee der Sicherung des Schädels durch Steine bezw. Steinplatten. Das in Strecklage ruhende männliche Skelett (sog. Skelett 2 nach v. T r a u w i t z - H e l l w i g ' s Zählung) hatte als Kopfschutz eine große Steinplatte — neben zwei anderen solchen, auf F ü ß e und Schenkeln ruhenden —, die von drei Seitenblöcken gestützt wurde. Der Schädel des 6. auf einem Steinbett gestreckt ruhenden Skelettes derselben Grotte lag zum Schutze zwischen zwei große Steine eingekeilt, wobei ein weiterer großer Steinblock — eine Art G r a b bildend — den oberen Teil des Körpers überdeckte. Mit vollem Recht bemerkt zu diesem vorzüglich dem Schädel geltenden Steinüberbau v. T r a u w i t z - H e l l w i g 4 ) : „Es ist anzunehmen, d a ß der Block absichtlich zum Schutze des Schädels hingelegt wurde." — Als ebenfalls aurignacienzeitlich dürfen jene zu Crot-duCharnier in Solutré (Département Saônc-et-Loire) gehobenen teils weiblichen, teils männlichen Skelette gelten, deren Köpfe zum Teil — so bei Skelett Nr. I, II und III — durch zwei Kalksteinplatten, die nebeneinander aufrecht in den Boden gestellt bezw. etwas hinter dem Schädel plaziert wurden, geschützt waren. Von zwei weiteren, 1924 gefundenen Skeletlen wies das eine am Schädel einen regelrechten, durch 3 Kalkstein platten gebildeten sog. Kopfdolmen auf 6). Wenn A r c e 1 i n (Sohn) — worauf v. T r a u w i t z H e l 1 w i g noch besonders aufmerksam macht — die Ansicht vertritt, daß derartige Steinplatten bei der Bestattung über den Boden hinausragend gesetzt wurden, „comme pour indiquer l'emplacement des sépultures", d. h. also, daß sie nach Art von Grabmalen den eigentlichen Grabplatz andeuten sollten, so erscheint diese Vermutung doch ganz willkürlich und läßt sich in keiner Weise beweiskräftig erhärten. Derartige am H a u p t aufgestellte Steinplatten haben gewiß nur einzig und allein zum Kopfschutz gedient, hier wie auch in den anderen Fällen. — Auch f ü r das Magdalénien ist uns jener eigentümliche Steinschutz des Kopfes bezeugt. Bei dem männlichen Skelett auf der Terrasse vor der Grotte Moulin des Hoteaux (nahe Rossillon, Département Ain) befand sich hinter dem Schädel — wie zu seinem Schutze — ein großer Stein. Wie der vorgeschichtliche Mensch bei Ganzbestattungen vorzüglich das H a u p t des Toten durch Steinüberbau zu schützen trachtete, so geschah es auch mit seinen Füßen, indem so die „Fuß4) a. a. O. S. 35. 5) s. v. T r a u w i t z - H e l l w i g ebd. Anm. 220 a.
8
dolmen" den „Kopfdolmen" durchaus entsprechen dürften. In der Grotte des Enfants wurden die Füße des ausgestreckt ruhenden männlichen Skelettes von einer auf einer Steinbasis ruhenden Steinplatte überdacht und bei dem weiblichen, ebenfalls dem Aurignacien zugehörigen Skelett der Höhle von Paviland (Halbinsel Gomer, Wales, England) fanden sich breite Steine wie zu Häupten so auch zu Füßen deponiert. Als recht bedeutungsvoll darf in diesem Zusammenhang der Skelettfund aus der Grotte „Barma Grande" angesehen werden: hier begegnen uns neben dem kopfsdiützenden Steinüberbau zwei weitere große Steinplatten, von denen die eine auf den Füßen, die andere auf den Schenkeln lag. Fragen wir uns nun, was es mit derartigen, mittels erhöhter Steinplatten ausgeführten U b e r w ö l b u n g e n s p e z i e H e r m e n s c h l i c h e r K ö r p e r t e i l e wie Kopf, Fuß, Schenkel, aber auch, wie das weibliche gestreckt ruhende Skelett aus der Grotte des Enfants (sog. Skelett 4) deutlich erkennen läßt, Brust und Becken für eine eigentliche Bewandtnis hat, so liegt doch klar zutage, daß der vorgeschichtliche Hinterbliebene mit allem Fleiß darauf aus ist, die ihm besonders wertvoll erscheinenden Gliedmaßen bezw. Partien des Körpers durch Steinbelag bezw. Steiniiberhöhung vor äußeren schädlichen Einflüssen sicher zu schützen. Eine Störung bezw. Schädigung oder gar Fortnahme bezw. gänzliche Vernichtung dieser Gliedmaßen wäre imstande, das für den prähistorischen Menschen doch durchaus zu postulierende Fortbestehen seiner Existenz im Jenseits schwer zu gefährden resp. sogar völlig aufzuheben. — Wie man durch sog. „Kopf- und Fußdolmen" bezw. primitivere Vorstufen solcher wie Steinbelag u. dgl. den Daseinsbestand des Toten in aeternum zu sichern vermeinte, so suchte man seinem Körper auch Schutz- resp. Kraftstoff zuzuführen, indem man entweder allerlei kräftehaltige Gegenstände wie Waffen, Knochen u. dgl. an den Körper und hier wiederum ganz besonders den Schädel des Toten heranzubringen bestrebt war oder gar den ganzen Körper bezw. wieder nur den Kopf als wichtigste pars pro toto mit einem spezifischen kräfteschwangeren Schutzstoff einzuhüllen suchte. Zunächst bringt man also den Leichnam bezw. das Haupt dieses mit einem gewiß Kraftstoff bergenden Gerät resp. naturalistischen Werkzeug in Berührung. Bereits oben sahen wir, daß an der Stirne des männlichen Skelettes aus der Grotte du Cavillon ein langer Knochendolch angelehnt war, dazu nicht weit hinter dem Kopfe zwei Feuersteinklingen niedergelegt waren, und bei dem männlichen Skelett (sog. Skelett Nr. 6) aus der Grotte
9
„Barma Grande" lag auf dem Schädel wie auf den Schultern j e ein Feuersteinabsplifi. Ganz im Einklang hiermit zeigte die männliche Bestattung der Grotte von L a Chapelle-aux-Saints — um die seltsame Idee bereits für das Altpaläolithikum, insbesondere das Spätmousterien aufzuzeigen — oberhalb des Schädels drei oder vier große flache Bruchstücke von langen Knochen. Wie in der rezenten Primitivität so mögen derartige, mit ganz offensichtlicher Sorgfalt behandelte, weil an bestimmtem, ausgesuchtem Platze deponierte Knochenfragmente auch schon in prähistorischen Zeitläuften als wertvolle Kräfteträger — vorzüglich eben auf Grund ihres naturalistischen Charakters — angesehen worden sein. Wie uns der Fund aus der Grotte du Cavillon erkennen läßt, ging man bewußt dazu über, die mit dem Kopf in engsten Zusammenhang gebrachte Knochenreliquie zu einer Waffe, einem instrumentum energicum umzubilden, gewiß, um den Kräftegehalt des naturalistischen Gerätes noch zu verstärken. Wie vom Knochendolch mag dann auch von der Feuersteinklinge besonderer Kraft- bezw. Schutzstoff auf den Schädel übergehend gedacht worden sein. Dem Annähern bezw. Anlegen von krafterfüllten Gegenständen an den Schädel der noch unzertrennten Leiche entspricht das Bestreichen mit, bezw. H i n e i n b e t t e n des K o p f e s i n S c h u t z s t o f f , insbesondere sein Umhüllen resp. Bestreuen mit Rötel. Es fällt in der Tat auf, und die Funde zeigen es mit aller Deutlichkeit, daß bei Skeletten, bei denen sonst die Rötelstreuung sich keineswegs auf den ganzen Körper erstreckt, eine Einbettung in den roten Farbstoff vorzüglich die Schädelgegend betroffen hat; und findet sich das ganze Skelett mit Rötel überzogen 6), so ist doch, wie deutlich z. B. das Skelett von Les Hoteaux erkennen läßt, der rote Farbstoff besonders am Schädel — neben anderen Stellen wie den Wirbeln und Rippen — stark aufgelegt. Als Hauptbeispiel für ein intensives Einröteln allein des Kopfes bei Ganzbestattungen mag das ausgestreckt ruhende männliche Skelett (sog. Skelett 6) aus der Grotte „Barma Grande" 6) Schon im Altpaläolithikum, und zwar in der ganzen sog. Moustierschicht, läßt sich — zugleich ein Beweis für das ungemein hohe Alter dieser Sitte des Einröteins — neben dunklem Brauneisenstein rötlicher harter Ocker mit Bestimmtheit nachweisen, wie z. B. aus den vorzüglich in der ü o r d o g n e gehobenen mousterienzeitlichen Funden, wie denen zu L a Ferrassie II, Pech de l'Aze (nahe Sarlat), Tabaterie (Gemeindegrund von Boulouneix), aber auch Combe Capelle im Tal der Couze mit aller Deutlichkeit hervorgeht, v. T r a u w i t z - H e l l w i g bemerkt hierzu t r e f f e n d (a. a. O. S. 27): „Der Gebrauch solcher F a r b e n (roter Ocker und schwärzlicher Brauneisenstein) f ü r Körpcrbemalung oder sonstige magische Zwecke ist d a d u r d i auch f ü r die N e a n d e r t a l r a s s e festgestellt."
10
gelten. Hier war der ganze Schädel von einer dicken K a p p e roten Ockers bedeckt, eine gewiß recht eigenartige Erscheinung im Rahmen vorgeschichtlicher Ganzbestattungen, wie sie uns bisher nicht wieder entgegengetreten ist. Im allgemeinen finden sich Spuren von Rötel in der Nähe des Kopfes der Leiche. So w a r beim ausgestreckt ruhenden Skelett des Mannes aus der Grotte des Enfants (sog. Skelett 2) wenig Rötel oberhalb und unterhalb des Schädels bei Hebung des Fundes wahrgenommen worden, und beim männlichen, zu Raymonden bei Chancelade (NW von Perigueux, Dordogne) aufgedeckten, allerdings in Ocker gebetteten Hocker fanden sich ebenfalls wenig oberhalb des Schädels Streifen von Rötel, während die starke Rötelschicht hinter dem Schädel sich über das ganze Skelett hin ausgebreitet zeigte. Beliebt mag es auch gewesen sein, einen Gegenstand in Rötel zu tauchen und ihn dann mit dem Kopfe des beigesetzten Toten in Verbindung zu bringen. Nur so wird erklärlich, daß beim gestreckt ruhenden weiblichen Skelett (sog. Skelett 4) aus der Grotte des Enfants unter dem Schädel ein von Rötel gefärbter Stein gefunden wurde. Wenn beim gestreckt beigesetzten männlichen Skelett der Grotte „Barma G r a n d e " (sog. Skelett 2) bei der Schulter des Skelettes ein Stück Rötel bemerkt wurde — allerdings d ü r f t e dieser Tatbestand nicht einhellig bezeugt sein 7) —, so erinnern wir uns an das Skelett Nr. 6 der Grotte „Barma Grande"; wie der Schädel des letzteren jenen starken Ockerüberzug aufwies, so läßt es ebenfalls eine besondere Bewertung der Schultcrn erkennen, wenn auf diese je ein Feuer steinabspliß aufgelegt war. Diesem seltsamen Umstände darf gewiß entnommen werden, daß auch die Schulter, wenn sie mit einem k r a f t e r f ü l l t e n Gegenstand in Berührung oder mit Rötelstein in Zusammenhang gebracht wird, gleich dem Kopfe als besonders bevorzugter Körperteil angesehen bezw. sogar als mit besonderem Kraftstoff ausgestattet gedacht wurde. Hier hätten wir in den Bestattungsbräuchen vorgeschichtlicher Menschen eine bedeutsame, auf Vorstellungen rein magischer Art zurückgehende Erscheinung vor uns, die ihr Licht e m p f ä n g t einmal aus der eigentümlichen Schätzung von Kopf und Schultern bei den rezenten Primitiven 8), 7) Hier wäre zu vergleichen etwa Prähist. Bd. YI 1894, S. 26, wo nach v. T r a u w i t z - H e l l w i g von einem Stück Eisenperoxyd gesprochen wird; s. v. T r a u w i t z - H e l l w i g a . a . O . S. 176, Änm. 124. 8) Es genügt in diesem Zusammenhang, auf die eigentümlich gebildeten Schultern der modellierten Ahnenfiguren Polynesiens hinzuweisen, aus d e n e n gleich organischen Pflanzenbüscheln die die Ahnenschädel aufgesteckt tragenden Stangen emporragen.
11
zum anderen aber auch in einer besonderen Bewertung beider Gliedmafien in den antiken Hochkulturen 0 ). — Die Frage nach der eigentlichen B e d e u t u n g d e r R ö t e l b e i g a b e ist trotz der umfangreichen Literatur, die über dieses Problem, insbesondere über Einbettung, Ubermalung, Uberstreuung oder Übergießung der Leichen bezw. erst der Skelette bereits existiert, noch in keiner Weise einhellig beantwortet worden. Ich selbst kann an dieser Stelle nur in aller Kürze zu diesem schwierigen Problem Stellung nehmen. Zunächst wäre hier zu bemerken, daß die neuere Forschung mehr und mehr von der älteren Auffassung, als handle es sich bei den verschiedenen Skelettfunden um die sog. zweistufige Bestattung, die schließlich mit einer Einrötelung des nackten Knochengerüstes ihren Abschluß gefunden hätte, entschieden abgerückt ist, j a sie z. T. völlig aufgegeben hat. Noch P i e 11 e nahm hinsichtlich der beiden dem Azilien angehörigen, in einer Seitengrotte von Mas d'Azil (Ariege, Vorland der Pyrenäen) aufgedeckten, mit Ocker rot gefärbten Skelette an, daß man die Leichen zunächst vor der Beisetzung vor der Grotte der Verwesung bezw. dem Vogelfraße anheimgegeben, sie dann weiterhin durch Silexmesser aller Fleischreste völlig beraubt habe, um sie, d. h. die entfleischten Skelette schließlich in der Grotte beizusetzen, wobei man dann das Übergießen oder Uberstreuen mit Rötel vornahm. Im Sinne der sog. zweistufigen Bestattung mochte man auch — gewiß im Einklang mit P i e t t e s Theorien — die Leichen, anstatt sie in freier Luft der Verwesung bezw. dem Vogelfraß auszusetzen, zunächst provisorisch beigesetzt haben, um auf diese Weise die Verwesung zu erzielen. Jedenfalls ist, angesichts der Skelettreste von Mas d'Azil, ein Forscher wie Z a b o r o w s k i mit vollem Recht den hypothetischen Aufstellungen des Entdeckers P i e 11 e entgegengetreten, wenn er nicht nur die in diesem wie auch vielen anderen Fällen völlig unbegründete Annahme einer sog. zweistufigen Bestattung, sondern auch die mehr oder weniger mit Kannibalismus verbundene Entfleischung der Leichen vor ihrer Beisetzung mit aller Entschiedenheit ablehnte. Überhaupt läßt sich, überblickt man das Gros der Fundberichte, ein deutliches Vor9) In Babylonien z. B. schlagen nach dem Relief auf der Gesetzesstele H a m m u r a p i s (um 1950 v. Chr.) aus den Schultern des Sonnengottes Schaniasch F l a m m e n empor. — Für den hellenischen Kulturkreis läßt sich derartiges öfter aufzeigen. Einmal m a g die elfenbeinerne Schulter des Pelops (Hygin., fab. 83) im Sinne einer besonderen Bewertung dieses Körperteils verstanden werden, zum anderen trägt das Kultbild des Pfahl-Maskengottes Dionysos nach hierher gehörigen Bildern der Vasenmalerei an Stelle der Schultern mehr scheibenförmige Gebilde, die neben der bedeutsamen Maske des Gottes gewiß als K r a f t z e n t r e n angesehen worden sein mögen.
12
kommen von in vorgeschichtlicher Zeit geübtem Kannibalismus mit ziemlicher Sicherheit nur einmal aufzeigen und zwar beim Funde von Krapina (Kroatien). Die Anzeichen dafür, daß der hier ansässige, vielleicht der Neandertalrasse noch zuzurechnende diluviale Mensch Kannibalismus trieb, liegen doch zu offensichtlich zutage, als daß sie in Zweifel gezogen werden könnten: das gleichzeitige Vorkommen zerbrochener Knochen von Menschen verschiedener Altersstufe im Feuerherde spricht evident für eine gewaltsame Ausrottung dieser Ansiedlung; „man verbrannte ihre Leichen und zertrümmerte ihre Knochen, um sie auf analoge Weise, wie man dies mit Bos oder anderen Tieren tat, zu verzehren" 10 ). — So wird man in der Tat einer Auffassung den Vorzug zu geben geneigt sein, die den noch nicht entfleischten Leichnam an seinem ßestattungsort mit rotem Pulver überstreut bezw. mit einer roten Flüssigkeit übergössen resp. übermalt sein läßt. Nachdem dann das Fleisch in der Erde resp. im die Leiche umgebenden Schotter verwest war, hätte sich der rote Farbstoff auf die Knochen und dann weiterhin den diese umhüllenden Kies niedergeschlagen, so das Skelett wie auch das bei der Leiche aufgehäufte Geröll bezw. die umgebende Lehmschicht mehr oder weniger intensiv rot färbend. Allein was mag dazu geführt haben, daß man gerade die rote Farbe für die sepulkrale Einbettung des Toten bevorzugte? Hier sind es nun vor allem die rezenten Primitivkulturen, die uns einen derartigen eigentümlichen, mit der Totenbestattung engstens verknüpften Färbebrauch einigermaßen verständlich machen. Ist schon die rote Farbe an sich auf Grund ihrer äußeren Ähnlichkeit mit dem Blute, diesem „ganz besonderen Saft", als Sitz von geheimnisvollen Kräften gewiß schon in recht früher Zeit gewertet worden, so zeigt doch ein Blick in die religiöse Vorstellungswelt der rezenten Primitiven, daß gerade r o t — häufig neben sthwarz und weiß — als die Farbe galt, die d e m T o d e g e w e i h t war. Wenige Beispiele dürften genügen, um darzutun, wie eng bei den Primitiven die rote Farbe mit sepulkralen Riten verknüpft war. Auf Tahiti stellten rote Federn die wertvollste Opfergabe für den Verstorbenen beim Tode einer Person hohen bezw. höchsten Ranges dar, und rote Früchte hingen in der Nähe des aufgebahrten tabuierten Toten auf von langen Stangen getragenen Querlatten 11 ). Dem Toten streift man ferner einen aus Kokosfasern geflochtenen, 10) G o r j a n o v i c - K r a m b e r g e r , Mitt. Anthrop.Ges. Wien XXXI, 1901, S. 196. Dagegen wendet sich freilich M e n g h i n , Weltgeschichte S. 96; s. unten S. 22, Anm. 26. 11) Teuira H e n r y : Ancient Tahiti, Honolulu 1928, S. 290f. = Bernice Pauahi Bishop Museum, Bulletin 48.
13
mit kleinen Büscheln roter Federn verzierten Ring an einen Finger jeder H a n d 1 2 ) , wie man einem Sterbenden — mutmaßlich zum Schutz vor bösen Geistern — an jedem kleinen Finger ein rotes Federnamulett („ura feather amulet") befestigt 1 3 ). Jener grausame, auf Holländisch-Neuguinea unlängst erloschene R a p a k u l t kennt nach einer wertvollen Mitteilung von W i r z " ) das Rotfärben der Skelettknochen des kultisch geopferten, lebendig verbrannten Mädchens, wobei hier in den z. T. recht merkwürdigen Riten der traditionell weiterwuchernden Geheimbünde diese uralte, letztlich im Totenkult wurzelnde Sitte des Einröteins sich noch lebendig erhalten haben mag. Nicht uninteressant wäre fernerhin hinsichtlich unserer besonders das Schädel-Motiv berücksichtigenden Problemstellung die Tatsache, d a ß man auf Neuguinea — gewiß im Rahmen von Totenriten —- die nackten Schädel (Ahnenschädel bezw. auch wohl Schädeltrophäen) mit roten Farbstreifen, die neben einer sdiwarzweißen Bemalung auftreten, überzog. Diese schwarz-weiß-rotBemalung d ü r f t e gewiß ursprünglich als ein neben anderen sepulkralen Riten begegnender Brauch zu verstehen sein, der vorzüglich zum Zwecke der magischen Stärkung des f ü r den Ahnenkult herzurichtenden resp. zu präparierenden Kopfes ausgeführt wurde 1 5 ). — Richten wir nun von hier aus, d. h. von diesen analogen Erscheinungen aus naturvölkischer Sphäre den Blick zurück auf jene in vorgeschichtlicher Zeit geübte Sitte der Rötelbestreuung, so ist doch ganz offensichtlich, daß es sich auch in letzterem Falle um einen sepulkralen Brauch handeln muß, bei dem die rote F a r b e ganz im Mittelpunkt alles r i t e n h a f t e n Gebahrens stand. Der rote Farbstoff, in den man den Toten einzuhüllen suchte — ganz gleich, ob es sich um rotes Pulver oder eine bestimmte Flüssigkeit handelte, was sich heute nicht mehr mit Sicherheit wird entscheiden lassen — war auch f ü r den diluvialen Menschen, weil mit G r a b und Tod in Verbindung gebracht, dem Tode geweiht; f ü r ihn ganz besonders galt die rote Substanz als kräftehaltig, als erfüllt mit magischem Lebens- bezw. Schutzstoff, der einzig und allein der Leiche, die in ihn gebettet war, zugute kam. 12) W. B l i g h : A voyage to the South Sea, London 1792, S. 209. 13) Teuira H e n r y a.a.O. S. 291. 14) Paul W i r z : Dämonen und Wilde in Neuguinea, 1928, S. 197. Es wäre hier noch beachtenswert, daß das Feuer zum Opferbrande von den Alten „durch Quirlen mit langen, r o t bemalten Stöcken bereitet" wurde. 15) Entsprechend gefärbte Schädel bietet z. B. die reichhaltige Sammlung des Völkerkunde-Museums zu Berlin.
14
Noch eine andere Erscheinung ist es, die auf eigentümliche mit dem Kopfe engstens verknüpfte Vorstellungen — vielleicht sogar Vorstellungen religiöser Art, wie sie sich beim vorgeschichtlichen Menschen eingestellt haben dürften — hindeuten könnte, ich meine die merkwürdige, bei prähistorischen Ganzbestattungen uns nicht gerade allzu häufig entgegentretende B l i c k r i c h t u n g , wie sie aus einer bestimmten eigenartigen Lagerung des Hauptes des Toten resultiert. Bei dem männlichen Hocker von Laugerie-Basse (im Vezeretal, Dordogne) war das Gesicht des Skelettes nach abwärts, auf den Erdboden gedrückt, und bei dem männlichen Hocker von Raymonden bei Chancelade war der Schädel nach links und gleichzeitig stark nach unten gebogen. Hinsichtlich dieses gewiß auf den ersten Blick befremdend anmutenden Tatbestandes hat nun v. T r a u w i t z - H e 11 w i g 10) schwerwiegende Mutmaßungen geäußert, indem er nämlich annehmen zu müssen glaubt, daß „bei der Bestattung beider vielleicht die Angst vor dem ,bösen Blick' mitgespielt"' habe, ganz im Gegensatz zu der Kopflage des männlichen, der sog. mährischen Kultur zugehörigen Skelettes von Moulin des Hoteaux (Ain), das durch seinen ,offenen Blick' ausgezeichnet wäre, indem man hier ein Auf-den-Boden-Drücken des Gesichtes vermieden hätte. Wie mir scheint, kann man der zunächst so bestechend erscheinenden Vermutung v. T r a u w i t z - H e l l w i g ' s nur mit aller Vorsicht begegnen; eine gewisse Zurückhaltung wäre hier, zumal bei der von diesem Forscher so konsequent geübten Gegenüberstellung von südeuropäischer und mährischer Kultur, wohl durchaus am Platze. Die Tatsache, daß gerade bei den beiden männlichen Hockern der Schädel nach unten gebogen bezw. das Gesicht nach abwärts bestattet war, dürfte genugsam ihre Erklärung finden in der eigenartigen Behandlung, die gerade einer Hockerleiche zuteil wurde. Beim Herrichten eines derartigen Hockers suchte man durch Umschnürung bezw. Fesselung der Extremitäten an den Körper der stark zusammengebogenen Leiche eine möglichst gedrungene Form zu geben, eine Form, die in der Tat den Beschauer lebhaft an die Lage des Embryo im Mutterleibe zu erinnern vermag, und die dann den Forschern Anlaß geben sollte zur Aufstellung der verschiedensten Theorien — neben der Embryotheorie —, wie etwa der „Raumersparnistheorie", „Ruhestellungstheorie", „Schläfertheorie", „Betertheorie", „VampyTtheorie" u. dgl. m. Es mag nun als ganz selbstverständlich erscheinen, daß man zwecks Erzielung der sog. spez. Hockerstellung — ganz gleich, aus welchen Vorstellungen heraus auch immer man 16) a. a. O. S. 75.
15
zu ihr gekommen ist — den Kopf der Leiche herabdrückte, um so die geschlossene Form zu erlangen. Es ist daher in keinerlei Weise gerechtfertigt, in Anbetracht des nach abwärts gekrümmten Gesichts unbedingt, wie es v. T r a u w i t z - H e l l w i g mit aller Schärfe — einer geschlossenen Totenfurchtkultur eine nicht minder in sich geschlossene Nichttotenfurchtkultur gegenüberstellend — durchgeführt hat, an Furcht der Uberlebenden vor dem „bösen Blick" des Verstorbenen zu denken, indem somit die I d e e d e s „ b ö s e n B l i c k e s " bereits f ü r die Vorgeschichte aufgewiesen wäre. D a ß das männliche Skelett von Maulin des Hoteaux den sog. „offenen Blick" (letzterer Terminus ist von v. T r a u w i t z H e l l w i g einzig und allein zum Zwecke der Gegenüberstellung des „bösen Blickes" geschaffen worden) zeigt, darf nicht weiter befremdlich sein, ist vielmehr durchaus natürlich, denn in diesem Falle handelt es sich ja um eine Gestrecktbestattung, bei der also keine „Hocker- bezw. Embryonalbeugung" des Hauptes der Leiche vorgenommen zu werden brauchte. In anderer Beziehung jedoch, nämlich da, wo es sich um die bei Ganz- wie auch bei reinen Kopfbestattungen uns entgegentretende B l i c k r i c h t u n g der Beigesetzten n a c h W e s t e n handelt, wird man sich leicht d a f ü r entscheiden können, sich der einleuchtenden These v. T r a u w i t z - H e l l w i g ' s rückhaltlos anzuschließen. Der Umstand, daß u. a. die vier Skelette der Grotte des Enfants sämtlich den Blick nach Westen richteten, kann doch nur darin seine plausible Erklärung finden, daß die Stämme, die eine derartige Plazierung des Hauptes des Toten vornahmen, „mit der westlichen Richtung irgendeine religiöse oder besser mystische Vorstellung verbanden". Der weiteren Ansicht v. T r a u w i t z H e l l w i g ' s jedoch, daß nämlich mit der „Blickrichtung der vier Skelette nach Westen, d. h. ins Dunkle" zugleich „ein düsterer, abergläubischer Zug" gegeben sei, indem diese Stämme, „ihrer düsteren Einstellung entsprechend, das Reich ihrer Toten im Dunkel vermuteten (dort, wo auch die Sonne nach ihrer Tageslaufbahn verschwand)", vermag ich nicht beizustimmen, um so weniger, da oben genannter Autor sich bei dieser seiner These von vorgefaßten, rein subjektiven Meinungen, so z. B., daß die südeuropäische Kultur notwendig erdgebunden, düster, furchtgebannt, abergläubisch (?!) und unfrei, die mährische Kultur hingegen frei, ungebunden, heiter und offen gewesen sei, leiten ließ. Indem das Gesicht des Beigesetzten nach Westen orientiert, also wohl — nach Analogie vieler anderer Völker — dem Totenreiche zugekehrt war, sollte dem Toten entweder der Weg zum westlichen Gemeinsitz
16
aller Abgeschiedenen, d. h. zum gemeinsamen Aufenthaltsort aller vorangegangenen Verstorbenen, ohne deren Gemeinschaft der einzelne Tote nicht bestehen kann, gewiesen sein, oder aber — und das scheint mir das Wahrscheinlichere zu sein — er sollte sein Antlitz dem Totenreiche als dem Quell von K r a f t und spontanem Leben entgegenwenden, wobei dann dem einzelnen Beigesetzten immer aufs neue — also in aeternum — aus den v/estlichen Lebensgefilden K r a f t und Lebensstof'f auf geheimnisvolle magische Weise zuströme. — Ich verlasse nunmehr diese für unser Problem mehr oder weniger ergiebigen, vorzüglich den Schädel als wichtigstes Stück der einzelnen Skeletteile berücksichtigenden Untersuchungen, soweit sie sich auf Ganzbestattungen bezichen, und richte mein Augenmerk auf d i e r e i n e n K o p f b e s t a t t u n g e n , die unter den sog. Teilkörperbestattuiigen unzweifelhaft den breitesten Raum einnehmen und an Bedeutung alle sonstigen Sonderbestattungen weit in den Schatten stellen. Ein derartiger , f ü r das moderne Empfinden recht eigentümlicher Brauch, allein den Kopf beizusetzen, läßt sich bereits ins Frühmagdalenien, nach M e n g h i 11 sogar ins Solutréen zurückverfolgen, wie die Sitte der Kopfbestuttung überhaupt vorzüglich im Magdalénien in Blüte gestanden haben mag. Werfen wir nun zunächst einen Blick auf die einzelnen Fundtatsachen. Einen vereinzelten Schädel entdeckte P i e 1 1 e in einer Höhle zu Mas d'Azil im Vorland der Pyrenäen auf dem rechten Ufer der Arize. Drei isolierte, sorgsam auf einer Felsplatte deponierte Schädel unter Beigabe eines Silexmessers legte P a r a t in der Grotte des Hommes (bei Arcy-sur-Gure, Yonne) frei, während es sich bei dem von P i e 1 1 e gehobenen Fund aus der Grotte von Gourdan (Dépt. Haute-Garonne) fast ausschließlich um mehr oder weniger gut erhaltene Schädelreste handelt, die allerdings den Gedanken an Kopfbestattungen aufkommen lassen dürften. Einen vereinzelten, von Muschelschmuck reich umgebenen, gewiß der mittleren Magdalénien-Schicht zuzuweisenden Frauenschädel (mit Unterkiefer) barg man in der Grotte du Placard (Charente); einen isolierten Männerschädel (mit Unterkiefer) hingegen förderte man am Felsen „Kaufertsberg" in Bayern (östlich Lierheim, R.-B. Schwaben) und zwar aus einer dem Azilien bezw. Endmagdalénien zugehörigen Schicht zutage, wobei als einzige Beigabe zu letzterem ein in unmittelbarer Nähe des Schädels lokalisiertes Rötelstück angesprochen werden dürfte.
17 2
Alle diese mehr vereinzelt auftauchenden Schädelfunde werden nun überragt von dem einen, ebenfalls dem Azilien (Endmagdalénien) zuzuweisenden M a s s e n f u n d , den R. R. S c h m i d t in der .Großen Ofnethöhle' in Bayern (unweit Nördlingen; R.-B. Schwaben) gehoben hat. Ks handelt sich hier um ganz einzigartige Kopfbestattungen, die sich auf zwei muldenförmige Vertiefungen, die sog. Schädelnester erstreckten. Das erste Nest u m f a ß t e 27 dicht gedrängt ruhende, Kopf an Kopf gruppierte, in zerriebenen Ocker eingebettete Schädel, die sämtlich mit dem Gesicht nach einer Richtung, nämlich nach Westen schauten; das zweite Schädelnest barg eine weitere, aus 6 Schädeln bestehende Schädelgruppe, die nach der gleichen Bestattungsweise behandelt, also in Ocker gebettet und mit dem Gesicht nach W. gekehrt waren. Wie der Entdecker R. R. S c h m i d t wohl mit Recht mutmaßt, f a n d e n die Bestattungen in der ,Großen Of nethöhle' nach und nach statt und zwar in einer Weise, daß man um die zu innerst plazierten Schädel immer neue Ringe von weiteren Schädeln zog, so daß erstere — im Gegensatz zu den mehr peripherisch lokalisierten Schädeln — starke Beschädigungen wie Eindrücke, Knochensprünge u. dgl. m. aufwiesen. Weiterhin wäre zum Ofnet-Funde, der hinsichtlich der Kopfbestattungsidee doch ganz unzweifelhaft die bedeutsamste Fundtatsache repräsentiert, bemerkenswert, daß bei sämtlichen Schädeln die Unterkiefer noch nicht entfernt waren sowie d a ß ihnen teils ein, teils mehrere Halswirbel, mitunter sogar auch Rückenwirbel in anatomisch korrekter Lagerung noch anhafteten. Letztere Erscheinung d ü r f t e den sinnfälligen Beweis d a f ü r liefern, d a ß die Schädel den Leichen f r ü h abgeschnitten wurden, d. h. d a ß man bald nach dem eingetretenen Tode daran ging, der Leiche mittels der Silexklinge den Kopf abzutrennen, wobei es nichts ausmachte, daß einige Halswirbel mit abgeschnitten wurden und so beim Kopfe verblieben. Richten wir in Anbetracht der Sitte der Kopfbestattung schließlich noch einen Blick auf das M e n g h i n ' sehe Werk, um zu sehen, wie sich im Spiegel der von diesem Gelehrten so meisterh a f t gehandhabten Kulturen-Analyse die mannigfachen, den einzelnen Kulturen zuzurechnenden Fundtatsachen uns darstellen. Die südostasiatische Faustkeilkultur des ausgehenden Miolithikums, insbesondere das jüngere Bacsonien bezw. die späte G u w a Kerbankultur bietet uns neben mehr oder weniger gut erhaltenen Skeletten auch Uberreste vielleicht sorgloser Bestattungen, ohne d a ß in diesem Falle Anthropophagie geübt worden zu sein braudit. Man begegnet wohl in diesem Gebiete den Funden einzelner
18
Schädel; allein zu sicheren Resultaten vermag man, d a viele Bestattungen offensichtlich eine nachträgliche Störung resp. Verä n d e r u n g e r f u h r e n , nicht zu gelangen 17). F ü r die dem Miolithikum zuzurechnenden spätarktischen oder k a m m k e r a m i s c h e n K u l t u r e n ist der Schädel von Alvastra, der durch k r ä f t i g e R u n d s c h n i t t e ausgezeichnet ist, beachtenswert. Diese R u n d s c h n i t t e h a b e n eine verschiedene E r k l ä r u n g g e f u n d e n : teils vermeint man (so F r ö d i n) in ihnen S k a l p i e r s p u r e n zu erkennen, teils glaubt m a n (so G. W i 1 k e) sie als Trennungsschnitte zum Zwecke der G e w i n n u n g einer Kalotte zu deuten 18). Richten wir weiterhin unser Augenmerk auf die protoneolithischen Kulturen, so begegnen uns innerhalb der den südmattenkeramisehen K u l t u r e n z u z u o r d n e n d e n Somrong-Senkultur Bestattungen nur in geringer Zahl, wobei die Grabgrotte von Minh-Cam (Annam) andere Höhlen an Bedeutung überragt. Auf Überreste des menschlichen Schädels stößt m a n in den Siedlungen häufiger, wenn sich auch über besondere Beisetzungsriten u. dgl. nichts Sicheres a u s m a c h e n läßt. M e n g h i n u n t e r l ä ß t seinerseits nicht, hierzu zu b e m e r k e n : „Man w i r d nicht fehlgehen, wenn man diese Dinge mit Schädelkult und K o p f j a g d in Verbindung b r i n g t " 19). Die den n o r d m a t t e n k e r a m i s c h e n Kult u r e n zuzuweisende japanische Kultur, die im allgemeinen Hockerbestattung kennt, vermag mehrfache, w e n n auch ganz unsichere, Nachrichten von Kannibalismus zu bieten. Sind auch an G r ä b e r schädeln recht häufig künstliche Zahn Verstümmelungen, die in der rezenten Primitivkultur ihr Analogon f i n d e n dürften, beobachtet worden, so konnte doch nur ein einziger, schwer datierbarer Schädel festgestellt werden, der „eine postmortale Resektion a m O c c i p u t a u f w i e s " 20). Die mixoneolithischen K u l t u r e n bieten hinsichtlich des Schädel-Problems manches Interessante. F ü r die zunächst ins Auge fallende Nilotische D o r f k u l t u r , insbesondere das Badarian (Friedhof von Badari in O b e r ä g y p t e n ) , f ü r das durchgehende Hockerbestattung und Blickrichtung nach Westen bezeichnend sind, darf es gewiß als Unikum angesprochen w e r d e n , d a ß sich bei der Leiche einer alten F r a u statt des Kopfes ein Topf b e f a n d , so d a ß m a n in der T a t versucht ist, mit M e n g h i n zu f r a g e n : „Darf m a n an das O p f e r eines K o p f j ä g e r s d e n k e n ? ! " 21). — Die innerhalb der taurischen S t a d t k u l t u r e n sich bewegende ältere Susakultur (Susa I) kennt nach den unmittelbar vor dem 17) 18) 19) 20) 21)
M e n g h i n S. 225. ebd. S. 248. ebd. S. 296. ebd. S. 297. ebd. S. 344.
19
Walle gehobenen Friedhofsfunden zumeist Hockergräber, aber auch zweistufige Bestattungen müssen — und zwar nicht gerade vereinzelt — vorgekommen sein; denn nur so wird verständlich, daß m a n Schädel und Langknochen in besonderen Gefäßen beisetzte " ) . F ü r die indischen Stadtkulturen mag vorzüglich in der ältesten Zeit Hockerbestattung üblich gewesen sein. Auch Schädelbestattungen scheint man gekannt zu haben, bevor eine spätere Zeit den Leichenbrand — so besonders in H a r a p p a und MohenjoDaro •— brachte, wobei dann der Brauch des Einurnens allmählich zu fester Form sich herausbildete- 3 ). Für die ostafrikanischen Steppenkulturen, insbesondere die Ngorongorokultur (so genannt nach einer Grabhügelnekropolc am Rande des südafrikanischen Grabens südöstlich vom Victoria-Nyansasee) ist beachtlich, d a ß die Bestattungen sich vielfach in einem schlechten Zustande befanden, indem die Knochen unordentlich durcheinander verstreut lagen. M e n g h i n rechnet hinsichtlich dieses befremdlichen Befundes entweder mit späteren Störungen der Grabstellen, oder er nimmt zweistufige Bestattungen an, „bei denen die Knochen zu einem H a u f e n geschichtet beigesetzt wurden". Natürlich will es bei einem solchen ungeordneten Zustand der Fundobjekte nicht viel besagen, wenn bei den meisten Schädeln der Unterkiefer nicht vorhanden war; ein andermal indes waren alle Unterkiefer zur Stelle. F ü r einen durchaus individuellen, von anderen Formen der Beisetzung so offensichtlich abweichenden, höchst eigenartigen Bestattungsritus spricht ganz unzweifelhaft jene der gleichen Kultur zugehörige kleine Pyramide von 4 Schädeln: „In der unteren Schicht erschienen an einer Stelle vier einzelne Schädel, von denen einer auf den drei anderen lag. R e c k schließt aus dem Gesamtbefunde, daß es sich um das Grab eines großen Häuptlings handelt, bei dessen Beisetzung Sklaven geopfert w u r d e n " 2 i ) . M e n g h i n vermeint letzterer Auffassung „eine gewisse innere Wahrscheinlichkeit" zusprechen zu dürfen. Vergleicht man nun die Wertung des Schädels bei Kopfbestattungen mit der eigentümlichen Behandlungsweise, die dem Kopfe bei Ganzbestattungen zuteil wurde, so'läßt sich in der T a t sagen, daß manches Ubereinstimmende bei beiden Beisetzungsarten mit Sicherheit festgestellt werden kann. Da wäre zunächst die seltsame Sitte der Rötelstreuung, die Kopfdeponierungen wie auch Ganzbestattungen gemeinsam haben. Wie z. B. beim Skelett 6 der 22) ebd. S. 431. 23) ebd. S. 442. 24) ebd. S. 463.
20
Grotte „Banna Grande" der Schädel von einer Ockerkappe eingehüllt ist, so waren auch die 33 Sdiädel der ,Ofnet' durchweg in Ocker gebettet, und zwar war hier die Einrötelung der — zunächst gewiß noch fleisch tragenden — Kopfe eine so starke, daß bei Hebung der Funde das die Schädel umgebende Erdreich vom sich niederschlagenden Ocker intensiv rotbraun gefärbt war. „Schon in einem Umkreise von 1—2 m kündete", wie der Entdecker des Fundes R. R. S c h m i d t 2 5 ) bemerkt, „die zunehmende Ockerfärbung an, daß man Funden besonderer Art sich nähere." Zog man nicht vor, den ganzen Schädel in Ocker zu legen, so deponierte man in seiner unmittelbaren Nähe doch wenigsten ein Stück Rötel bezw. einen in Rötel getauchten Gegenstand. Hier entspricht dem unter dem Schädel ruhenden, von Rötel gefärbten Stein beim Skelett 4 aus cler Grotte des Enfants das Stück Rötel, das ganz nahe beim Schädel des „Kaufertsberg"-Felsens ans Tageslicht gefördert wurde. — Forner begegnet die Beigabe von Geräten, Waffen u. dgl. bei beiden Bestattungsarten. Wie bei den Ganzbestattungen bei Skelett Nr. 6 von „ßarma Grande" auf dem Schädel ein Feuersteinabspliii lag und an der Stirne des Skelettes aus der Grotte du Cavillon ein Knochendolch lehnte, so war den Schädeln in der Grotte des 1 Iomnies eine Silexklinge beigegeben, gewiß auch hier als eine dauernde Übermittlung besonderer magischer Kräfte, vorzüglich von Sclnitzkraft an die Schädel zu verstehen. Den wohl durchweg mit Haut, Haar und Muskeln beigesetzten Köpfen ließ man wie bei den Leichen der Ganzbestattungen so auch bei den reinen Kopfniederlagen alle Sorgfalt zuteil werden. Es braucht hier nicht im einzelnen aufgezeigt zu werden, daß, wie sich bei Skeletten als Kopfschmuck durchbohrte Hirschzähne, durchlochte Muscheln und Schnecken, Reste des Stirnbandes u. dgl. fanden, auch der allein deponierte Schädel reich geschmückt wurde, wobei nur auf den von kostbarem Muschelsdimuck umgebenen Frauenschädel aus der Grotte du Piacard hingewiesen sei. — Der einzelne beigesetzte Tote wird, wie in seinem unzerteilten Leichnam überhaupt, so auch speziell in seinem gesondert deponierten Kopfe als w e i t e r e x i s t i e r e n d u n d w e i t e r w i r k e n d angesehen, dafür spricht einmal das Heranführen von krafttrageuden Gegenständen wie Waffen u. dgl. an den Schädel zum Zwecke apotropäischen Kräftezuflusses, zum anderen aber auch der Umstand, daß man dem Kopfe die Blickrichtung nach 25) „ D i e d i l u v i a l e Vorzeit D e u t s c h l a n d s " 1912, S. 36.
21
Westen zu geben liebte. Wie mitunter bei Ganzbestattungen (s. w. o.), so vorzüglich bei reinen Kopfbeisetzungen schaute das Sdiädelgesidit — einst wohl die geöffneten Augen des noch Muskelund Hautmassen tragenden Hauptes! — nach Westen als dem großen Kräftereservoir, das sich darstellt im gemeinsamen Wohnsitz aller bereits abgeschiedenen Seelen und von dem aus auf den einzelnen in seinem abgelegenen Grabe ruhenden Toten immer aufs neue Kräfte zum Zwecke der magischen Belebung übergehen. Hier sind es vor allem die im Massendepot vereinten Schädel der Großen Ofnethöhle, die ohne Ausnahme den Blick nach Westen gewandt haben, wobei gerade die durchgehende Exklusivität dieser Schädelgesichtslagerung nach ein und derselben Richtung hin die volle Absichtlichkeit einer derartigen Gesichtslage zur Evidenz erhebt. Werfen wir nun die Frage auf nach der eigentlichen B e d e u t u n g s o l c h e r K o p f n i e d e r l a g e n . Wie mag der diluviale Mensch, so fragen wir zunächst, dazu gekommen sein, den Toten zu köpfen, bezw. der frischen Leiche — worauf gerade die Ofnetfunde mit aller Deutlichkeit hinweisen — den Kopf, z. T. samt einigen Halswirbeln, vom Rumpfe abzutrennen?! Der Gedanke an Kannibalismus, wie er sich beim kritischen Beurteiler zu allererst auf Grund eigentümlicher Schädelfunde einstellen könnte, ist wohl mit Recht zurückzuweisen; einmal läßt sich Kannibalismus in vorgeschichtlichen Zeitläuften nur überaus selten mit einiger und auch dann noch nicht erschöpfender Beweiskraft aufzeigen 26 ), zum anderen zeugen gerade der reiche Kopfschmuck, dessen vom 26) So kann Kannibalismus in allem Ernst eigentlich nur zu Krapina in Kroatien angenommen werden, wobei allerdings letztlich wieder ein Forscher wie M e n g h i n (a. a. O. S. 96) von der Forderung der Anthropophagie absehen zu müssen glaubt. Bei den Bestattungen in paläolithischer Zeit handele es sich hauptsächlich, wenn nicht gar ausschließlich um zerstörte bezw. zerwühlte Gräber, die dann, wenn man ihnen Kannibalismus substituiert, „unter einer falsdien Flagge segeln" ( M e n g h i n S. 145). Gleiches gilt von der dem Frühantelien bezw. mittl. Aurignacien zuzuweisenden Kulturschicht der Anteliashöhle, wo Tiere bezw. menschliche Neusiedlungen die Verwüstungen hervorgerufen haben mögen. Bei dem unlängst zu Predmost gehobenen Grabe scheinen, wie besonders Absolon will, deutliche Schabespuren an einzelnen Knochen den Beweis für Kannibalismus zu erbringen. Allein hier mag ein eigentümlicher Bestattungsritus, der die voraufgehende Entfleischung der Leiche gebot, eine Rolle gespielt haben, ohne daß gerade an ein Verzehren des Fleisches gedacht zu werden braucht (vgl. M e n g h i n S. 205). Der für den Höhlenwohnplatz Stora Karlsö auf Gotland beanspruchte Kannibalismus schwindet ebenfalls zu einem Nichts zusammen, wenn man einzig und allein an Reste verlassener Leichen denkt ( M e n g h i n S. 249). Auch für die protoneolithische japanische Kultur mag es sich weniger um Kannibalismus als vielmehr um zerstörte Gräber handeln (M e n g h i n S. 500), während bei der
22
Fäulnisprozefi nicht e r f a ß b a r e einzelne Bestandteile am bezw. auf dem Schädel r u h e n d bei H e b u n g des Schädels mit entdeckt w u r d e n , sowie d a n n weiterhin die Tatsache, d a ß noch Halswirbel u n d Kiefer am Schädel in u n v e r r ü c k t e m Zustande sich b e f a n d e n , f ü r ein mehr rituelles Schneideverfahren, das einzig und allein auf Isolierung u n d d a n n weitere konservierende Bergung des Kopfes abzweckte. Neben den Schädeln der ,Großen O f n e t ' , die j a z. T. noch einige Halswirbel fest angebackt zeigten und somit diesen Brauch der L e i c h e n k ö p f u n g ganz sinnfällig vor Augen f ü h r e n , illustriert derartige Totenbräuche vor allem das Skelett aus dem G r a b e zu Predmost, dem der Schädel fehlte, wobei durchaus dahinsteht, ob letzterer erst nachträglich — man berücksichtige hier e t w a die Idee der zweistufigen Bestattung — dem G r a b e e n t n o m m e n wurde "). W a r u m vollzog man n u n die K ö p f u n g des Toten, indem m a n die Leiche des H a u p t e s b e r a u b t e und n u r diesem allein weitere Sorgfalt zuwendete? Die Beantwortung dieser bedeutungsvollen Frage von Seiten jener Forscher, die der T o t e n f u r c h t T h e o r i e sich angeschlossen haben, k a n n n u r dahin gehen, d a ß man einhellig a n n i m m t , die Leiche werde aus gewichtigen, rein praktischen G r ü n d e n e n t h a u p t e t , nämlich zum Zwecke der Unschädlichmachung des Verstorbenen. Wie man dem Toten A r m e und Beine fest u m s c h n ü r t und ihn so gefesselt in Hockerstellung beisetzt, wie m a n die Leiche mit schweren Steinplatten belegt bezw. einzelne G l i e d m a ß e n mit Steinen umbaut, um den „lebenden Leichnam" an seinen Bestattungsort sicher zu fixieren, so d a ß er nicht mehr zu den Lebenden zurückkehren u n d sie belästigen kann, so h a b e m a n auch den Kopf vom Körper getrennt, u m auf diese Weise ein ,Umgehen' des in seiner Leiche noch lebend gedachten Verstorbenen konsequent zu unterbinden. U n d gewiß gehört es ganz in diese Richtung, w e n n neuerdings wieder v. T r a u w i t z - H e l l w i g unter ausdrücklichem Hinweis auf Belege aus der Volkskunde, welch letztere ganz offensichtlich auf Vampyrismus h i n d e u t e n 2 8 ) , die endgültige Lösung vorliegenden Problems einzig und allein im „fdeenkreis der F u r c h t vor dem Toten" f i n d e n zu müssen glaubt. Der prähistorische Schädel von D y h e r n f u r t h , konserviert im Schlesischen Museum f ü r Kunstgekleinafrikanischen Grottenkultur neben durch Tiere bezw. menschliche Neusiedlung zerstörten Gräbern in der Tat Zeugnisse für Anthropophagie vorliegen könnten ( M e n g h i n S. 362). 27) Vgl. K. A b s o 1 o n, New finds of fossil human skeletons in Moravia. Anthropologie (Prag) VII, 1929, S. 80; M e n g h i n a.a.O. S. 205. 28) v. T r a u w i t z - H e l l w i g a.a.O. S. 136.
23
werbe und Altertümer zu Breslau 29 ), mag gut veranschaulichen, wie die Vorstellung vom Festhaften des Toten am Beisetzungsort durch Festnageln seines Schädels vom vorgeschichtlichen Menschen grob-sinnlich in die Wirklichkeit umgesetzt wird, indem man so in der Tat die Idee des „Festmachens" des gefährlichen Toten in naiv-primitiver Weise auf die Spitze trieb. Forscher wie R. A n d r e e 3 0 ) , P. K ü s t e r s 3 1 ) und Fr. S a r a s i n 3 2 ) haben dann den Versuch unternommen, die Totenfurcht-Idee, insbesondere die Sitte der Hockerbestattung, wie sie prähistorischen Zeiten 29) Der seltsame Fund wird im Bilde wiedergegeben bei v. T r a u w i t z - H e l l w i g a . a . O . Abb. 9 u. 10 nach zwei von Herrn Direktor Prof. Dr. S e g e r übersandten Lichtbildern. „Dem Toten wurde bei der Bestattung der Kopf mit einem langen eisernen Nagel durchbohrt und dem Boden aufgenagelt, um eine Wiederkehr des .lebenden Leichnams' zu verhindern." Beachtenswert ist, daß uns der seltsame Brauch der Schädel-Nagelung — neben sonstiger Leichennagelung — vorzüglich auf altspanischem Boden entgegentritt. H. O b e r m a i e r hat das betr. Material neuerdings gesammelt unter besonderem Hinweis auf die beiden, wohl nach Angabe von Prof. P. B o s c h G i m p e r a dem 3. vorchristl. Jahrh. zuzurechnenden genagelten Schädel von Puig Castellar (unweit Santa Coloma de Gramanet; Provinz Barcelona), die im Museum von Barcelona konserviert werden; vgl. H. O b e r m a i e r : Leichennagelung in Altspanien — in der Festschrift für P. W. S c h m i d t — Wien 1928, S. 943—948, insbes. die Bildtafel S. 944 gegenüber. Daß man bei bloßer Schädelnagelung möglicherweise auch an einen , Justizbrauch oder besonderen Marterakt' denken könnte, will Obermaier gerade in Anbetracht der spanischen Fundvorkommnisse, wo es sich doch um ganze Gräberfelder von ansehnlicher Ausdehnung handelt, nicht recht einleuchten. „Auf einen regelrechten Justizbrauch darf um so weniger geschlossen werden, als die spanische Rechtsgeschichte nichts von Kopf- oder Körpernagelung weiß, was darauf deutet, daß diese Praxis wenigstens in nachrömischer Zeit geheim oder doch ohne aufsehenerregende Inszenierung betätigt wurde. Ungleich größere Wahrscheinlichkeit hat die Erklärung für sich, daß der Brauch mit der uralten Volksvorstellung vom .lebenden Leichnam' zusammenhängt." (Ebd. S. 947.) 30) Arch. f. Anthrop. N. F. VT, Heft 4, 1907, S. 282—307: „Ethnologische Betrachtungen über Hockerbestattung." 31) Das Grab der Afrikaner. Anthropos X1V/XV, 1919/20, S. 676—690. 32) Streiflichter aus der Ergologie der Neu-Caledonier und LoyaltyInsulaner auf die europäische Prähistorie. Verh. naturforsch. Ges. Basel XXVIII, II. Teil, Basel 1917, S. 14—15 = 5. „Bestattung in Hockerstellung." Die Schädelfunde aus der großen Ofnet-Höhle vergleicht S a r a s i n mit caledonischen Schädelaltären; S. 15—19 = 6. „Schädelaltäre." Fig. 12 ebd. gibt einen solchen „Schädelaltar in der Gegend von Kanala" im Bilde wieder. Beachtenswert bleibt jedoch, daß — im Gegensatz zu den Schädelnestern der großen Ofnet-Höhle — die Schädel auf den caledonischen .Felsaltären', vor denen man auch Opfergaben niederzulegen pflegte, der Regel nach zu Reihen angeordnet sind. (Wie wir w. u. sehen werden, zeigen — in der Tat eine interessante Parallelerscheinung! — die Schädelstätten der Mandaner Nordamerikas die Schädel kreisförmig aneinandergereiht.) Schließlich stellt S a r a s i n die auf den Loyalty-Inseln geübte Trepanation in Analogie zu den die Trepanationsöffnung aufweisenden Schädelfunden aus dem französischen Neolithikum; s. S. 19—20 = 7. „Trepanation."
24
eigen sein mochte, durch ethnologische Beispiele in ein neues Licht zu rücken. So weist z. B. Küsters u. a. darauf hin, d a ß die Basutho mit dem Durchschneiden der Kniegelenke und dem Zertrümmern der Schienbeine sowie Armknochen dem Toten, dessen Leiche mit Stricken umwunden und in eine Decke gewickelt wird, die unliebsame Wiederkehr nachdrücklichst zu verleiden suchen. Allein bei allen derartigen Untersuchungen muß es trotz aller mehr oder weniger eindeutigen Auslegung der betr. Ethnologen doch immer wieder ernstlich einer genauen N a c h p r ü f u n g unterzogen werden, ob tatsächlich derartige auf Fesselung bezw. sogar Zerstörung der Uberreste des Verstorbenen bedachte Maßnahmen der Primitiven gerade dem Gefühl der Totenfurcht entspringen oder ob nicht gar eine ganz bestimmte Form der Tabuierung des Toten vorgelegen haben könnte. — Es braucht nun aber in Anbetracht der mannigfachen, die Lcichenfesselung offenbar machenden Bestattungsbräuche bezw. G r a b f u n d e durchaus nicht absolut ausgeschlossen zu sein, daß in der vorgeschichtlichen wie auch rezent-primitiven Menschheit wirklich einmal Totenfurchtgedanken die Gemüter der Lebenden bewegt haben, so daß man zu derartigen befremdlichen Maßnahmen und Hantierungen an der Leiche des Verstorbenen übergehen zu müssen glaubte. Allerdings mag dann dieses mutmaßlich auf Vampyrfesselung deutende Stadium der sog. Hockerbeisetzung in die allerälteste Zeit zurückreichen, wobei es doch ganz unwahrscheinlich, zudem in keiner Weise gerechtfertigt sein dürfte, zugleich mit v. T r a u w i t z - H e l l w i g sogar einen regelrechten Entwicklungsgang zu postulieren, d. h. willkürlich genug eine mehr oder weniger rasch sich vollziehende Entwicklung anzunehmen, die von der gefesselten Leiche ausgehend über die Hockerbeisetzung hin zur Leichenköpfung fortgelaufen wäre, indem so der Totenfurcht-Gedanke bezw., wie v. T r a u w i t z - H e l l w i g substituiert, die Totenfurcht-Kultur an Macht mehr und mehr zunehmend schließlich zur reinsten Entfaltung und zum vollsten Siege gelangte. „Die Furcht vor Wiederkehr der Toten nahm immer schrecklichere Maße an ,Aus der Hockersitte, die sich nicht lockerte, entwickelten sich die Kopfbestattungen': Da den Überlebenden die Fesselung der Toten allein nicht mehr genügte, mußte der Körper, der j a weiterexistierend gedacht wurde, zerstört werden; nur der Kopf blieb noch übrig." Im weiteren Verfolg dieser höchst problematischen Entwicklungsidee kommt v. T r a u w i t z - H e l l w i g schließlich zu der ihm fast gesichert erscheinenden Überzeugung, daß „bei bestimmten Ständen der Leichenbrand
25
sich aus den Kopfbestattungen ,entwickelt habe': da auch der Kopf noch Schaden tun konnte, so war der Gedanke, mußte eine völlige Vernichtung des ganzen Körpers einschließlich des Kopfes naturgemäß am besten durch Feuer erzielt werden" 33 ). Ein Blick auf diese von v. T r a u w i t z - H e l l w i g mit aller Konsequenz vorgetragenen Theorien und — eigentlich durch nichts gerechtfertigten — Kombinationen zeigt ganz deutlich, zu welch merkwürdigen Resultaten ein Überspannen des doch noch gar nicht so unbedingt gesicherten Totenfurcht-Gedankens hinführen kann. Was sich dem Forschenden als völlig selbständig in Erscheinung tretende und dann doch auch zu wertende Eigentümlichkeit bei den Bestattungssitten darstellt, läßt sich in keiner Weise ganz nach eigenem Gutdünken in ein Entwicklungsschema einspannen. Gestrecktbestattung, Hockerbeisetzung, Kopfniederlage, Leichenbrand: diese so völlig von einander abweichenden Bestattungsarten lassen sich nicht willkürlich miteinander in klimakterischer Weise unter dem leitenden Gesichtspunkt einer Genese aneinanderreihen, wenn auch hier und da hinter der einen oder anderen Erscheinungsform entfernt genug die Totenfurchtidee auftauchen mag. Jedenfalls wird man in jeder Hinsicht gut tun, gerade bei einem Brauch wie dem der Leichenköpfung, wie er uns in vorgeschichtlichen Totenriten bezw. magischen Trennnungsbräuchen entgegentritt, die Idee der Totenfurcht bezw. Scheu vor dem gefährlich drohenden Verstorbenen nicht gar so stark zu betonen, mag auch immerhin in allerältester Zeit ein solcher — dann allerdings mehr instinktiv empfundener — Gedanke bestanden haben. Allein etwa zur Zeit, da man das Massenschädeldepot in der Großen Ofnethöhle zurichtete, müssen doch ganz andere Ideen wirksam gewesen sein als Angst und Furcht vor denen, deren wertvollstes Glied man — z. T. in vollem Schmucke — sorgsam an geweihtem Orte barg. Was wir hier beim Ofnet-Funde vor uns haben, ist, wie schon der Entdecker R. R. S c h m i d t ganz richtig gesehen hat, rituelle Schädelbestattung allergrößten Formats, wie sie nur ein höchstentwickelter Kultus hervorzubringen vermochte. In der Tat mag mit diesen auf sorgfältigsten Totendienst hinweisenden Kopfbestattungen der Totenkult einer ganz bestimmt ausgeprägten Rasse bezw. Kulturschicht seinen Höhepunkt, aber auch zugleich damit sein zielsetzendes Endglied, über das hinaus es kein Vorwärtsschreiten mehr geben konnte, erreicht haben. Daß hier die Massenkopfbestattung einzig und allein nur auf Grund einer besonderen Bewertung, einer ganz eigentümlichen Einschätzung 33) v. T r a u w i t z - H e l l w i g
26
a. a. O. S. 144.
des S c h ä d e l s s t a t t g e f u n d e n h a b e n k a n n , ist zu o f f e n s i c h t l i c h , als d a ß es n o c h eines b e s o n d e r e n H i n w e i s e s b e d ü r f t e . I n s t r e n g r i t u e l l e r W e i s e b e h a n d e l t m a n m i t a l l e r S o r g f a l t , j a g e r a d e z u liebevoller H i n g a b e die als ü b e r a u s w e r t v o l l e m p f u n d e n e n H ä u p t e r d e r V e r s t o r b e n e n , alle E h r e r b i e t u n g b r i n g t m a n d e n g e s c h ä t z t e n K o p f b e i s e t z u n g e n e n t g e g e n . Mit vollem R e c h t k a n n m a n h i e r m i t v. T r a u w i t z - H e l l w i g h i n w e i s e n a u f die s o r g f ä l t i g e G r u p p i e r u n g d e r drei S c h ä d e l in d e r G r o t t e des H o m m e s , die — g e w i ß unter einst gewichtig v o r g e n o m m e n e n zeremoniellen F o r m e n ! — auf einer Felsenplattc möglicherweise nach althergebrachtem f e s t e n R i t u s p l a z i e r t w a r e n , u n d a u f L i e b e u n d E h r e r b i e t u n g in der Totenpflege läßt nicht zuletzt auch das sorgsame Deponieren der Ofnetschädel schließen. Die Beisetzenden unterlassen nicht, d e n g e h e i m n i s v o l l e n L e b e n s k o n t a k t m i t d e r Heils- u n d S c h u t z s p h ä r e f ü r d i e K ö p f e h e r z u s t e l l e n u n d d a u e r n d zu s i c h e r n , i n d e m sie d a s G e s i c h t — g e t r e u s t r e n g e m R i t u e l l — n a c h W . s c h a u e n lassen u n d d a s g a n z e G l i e d in S c h u t z s t o f f — d u r c h B e s t r e u e n o d e r Begießen mit dem z a u b e r k r ä f t i g e n Farbstoff — einhüllen. Aus W a f f e n u n d z. T . n a t u r a l i s t i s c h e n G e r ä t e n , die m a n m i t d e r ges c h ä t z t e n R e l i q u i e in e n g s t e V e r b i n d u n g b r i n g t , s u c h t m a n d e m k r a f t e r f ü l l t e n H a u p t f r i s c h e E n e r g i e n z u z u f ü h r e n . So d a r f d e n n a u c h die O f n e t - H ö h l e als d a s g r o ß e S c h ä d e l - M a s s e n g r a b , d a s die H ä u p t e r u n d s o m i t die L e b e n s p o t e n z d e r t e u r e n V e r s t o r b e n e n k o n s e r v i e r t , als b e s o n d e r e S t ä t t e d e r W e i h e , als O r t d e r V e r h e r r l i c h u n g d e r A h n e n b e z w . als H e i l s k r ä f t e in r e i c h l i c h s t e m M a ß e b e r g e n d e u n d d a n n zugleich weitergebende Kultstätte angesehen werden, a n d e r sich die S c h u t z u n d S t ä r k u n g s u c h e n d e n H i n t e r b l i e b e n e n z u r e g e l m ä ß i g e n V e r s a m m l u n g e n z u s a m m e n f i n d e n , i n d e m so d e r T o t e n s a m m e l p l a t z als k r ä f t e s p e n d e n d e s Asyl, als H e i l i g t u m f ü r Kind und Kindeskind Bedeutung gewinnt. — Die besondere, u n d z w a r magische Bewertung bezw. sorgfältige B e h a n d l u n g des K o p f e s bei v o r g e s c h i c h t l i c h e n S t ä m m e n e m p f ä n g t neues L i c h t d u r c h e i n e n V e r g l e i c h m i t g a n z a n a l o g e n E r s c h e i n u n g e n , w i e sie u n s e i n m a l in a n t i k e r H o c h k u l t u r , d. h. im T o t e n k u l t d e r a l t e n Ä g y p t e r , z u m a n d e r e n a b e r in d e n Totenvorstellungen bezw. den Bestattungsbräuchen der rezenten Primitiven entgegentreten. F ü r d e n e r s t e n F a l l h a t schon d e r E n t d e c k e r R. R. S c h m i d t h i n s i c h t l i c h d e r O f n e t s c h ä d e l m i t viel G e s c h i c k es u n t e r n o m m e n , auf den Totenglauben der alten Ä g y p t e r hinzuweisen34). Ent34) Die diluviale Vorzeit Deutschlands, S. 41. Auch heute noch ist dieser wertvolle Hinweis des verdienten Gelehrten voll zu berücksichtigen.
27
sprechend der Tatsache, daß bei den vorgeschichtlichen Kopfbestattungen das Gesichtsskelett des Schädels — bei den O f n e t k ö p f e n durchgehend! — nach Westen gerichtet ist, lokalisierten auch die alten Ägypter das Reich ihrer Toten im Westen. Besonders aber fällt hier beim Vergleich mit dieser durch außerordentlich hohes Alter ausgezeichneten altorientalischen Kultur ins Auge, d a ß auch im Alten Ägypten die Köpfe der Toten abgetrennt und dann isoliert wurden, zugleich aber auch der ganze Körper zerstückelt wurde, mutmaßlich aus dem Grunde, um ein Wiederkommen des Verstorbenen durch einen derartigen rigorosen Schneideritus unmöglich zu machen. Der Brauch der Leiehenköpfung muß in Ägypten bereits zu recht früher Zeit geübt worden sein; das machen einesteils die G r ä b e r f u n d e ältester Zeit, nämlich aus der Nagada-Epoche (1.—3. Dyn.), die eine Zerstückelung der Leiche voraussetzen, recht wahrscheinlich, zum anderen ist die altägyptische Sitte des Abschneiclens und Fortnehmens des Kopfes vom Rumpf der Leiche zu ersc hließen aus der religiösen Literatur dieses Volkes, nämlich aus dem XLUI. Kapitel des sog. Totenbuches, das als eins der ältesten Kapitel dieser großartigen Spruchsammlung überhaupt jenen merkwürdigen Brauch mit aller Deutlichkeit widerspiegelt. Allein es darf hier nicht übersehen werden, daß im Alten Ägypten die Leichenzerstückelung aufs engste mit der Osirisreligion als dem eigentlichen Kern des Totenkultes v e r k n ü p f t war: dem mythischen Schicksal des großen Vegetationsgeistes resp. Totengottes entsprechend gestaltet sich das Los des einzelnen Toten. Wie der Körper des Gottes selbst einst der Zerstückelung unterlag, so geschah es auch mit dem nunmehr selbst zum Osiris gewordenen Verstorbenen; auch er mußte das Schicksal des Gottes erleiden, indem sein Leichnam der Zerschneidung anheimfiel. So ist durchaus verständlich, und die religiösen Texte können es n u r bestätigen, d a ß eine der wesentlichsten Zeremonien des ägyptischen Totenkultes — und zwar eine solche ältester Observanz! — die Enthauptung des Toten zum Zwecke der besonderen Behandlung seines Kopfes dargestellt haben muß. Entsprechend der eigenartigen Bedeutung des Kopfes des Totengottes, von dem nach der hl. Legende spontanes Leben ausgehen soll 35 ), ließ man dem nun35) Mit Bezug auf diese vitale Potenz wurde dem abydenischen Osiris die Bezeichnung „Lebensschnauber" resp. „Lebensatmer" beigelegt s. Pap. Wien 29 1. 43 ff. M a r i e t t e : Denderah IV 72). Besonders bezeichnend aber für die primitiv-dinghafte Empfindungsweise des alten Ägypters ist es, daß man sich aus der Nase dieses mit Vitalstoff angefüllten Kopfes den Scarabäus — das eigentliche Prinzip des Lebens resp. Entstehens! — hervorkommend dachte (s. Pap. Rhind ed. Brugsch, pl. VI, 1. 1), indem so der heilige Käfer als
28
mehr isolierten Haupte des Toten alle Sorgfalt angedeihen. Dem vom Rumpfe getrennten Kopf wird man im Grabe, wie W i e d e m a n n mit Recht hervorgehoben hat 3 0 ), „häufig genug den Ehrenplatz zuerteilt haben; er fand Aufstellung auf einem Ziegelstein oder auch auf einem Steinhaufen (auf außerägyptische Zustände gesehen denken wir hierbei unwillkürlich an die Felsplatte der Grotte des Hommes, auf der die drei Schädel gruppiert waren), völlig gesondert von den anderen Gebeinen, um deren Verbleib man sich wenig kümmerte und die daher regellos durcheinander geworfen wurden". So ließ man in der T a t dem isolierten Kopf, in dem man — nach religiös-mythischem Empfinden — das bedeutsamste Körperglied des großen Vegetationsgeistes und Totengottes selbst zu erkennen vermeinen mochte, eine besondere Behandlung zuteil werden, indem man ihn besser als die anderen Teile des Körpers zu konservieren suchte und sich seiner in rituellem Bemühen annahm. Wie das Alte Ägypten, so gestattet es in ganz hervorragendem Maße die rezente Primitivität, wertvolle Rückschlüsse auf den vorgeschichtlichen, in .jener merkwürdigen Sitte der Kopfbestattung sich äußernden Totenkult zu ziehen. Die Welt der Primitiven bietet in der T a t für willkommene Vergleichszwecke so manche wertvollen Berührungspunkte, die durchaus geeignet sein dürften, j e n e eigenartigen, uns sonst so dunkel erscheinenden Bestattungsbräuche diluvialer Menschen verständlicher werden zu lassen. Bei den rezenten Primitiven wurzelt die besondere Bewertung cler Schädel von Verstorbenen in der eigentümlichen A h n e n v e r e h r u n g , die uns in reinster Blüte in der sog. mutterrechtlichen Kultur entgegentritt. Der Ahne, der verstorbene Verwandte bezw. Stammesgenosse ist keineswegs aus der Gemeinschaft der Lebenden geschieden, im Gegenteil, wirkungskräftiger clenn j e zuvor steht er mit den lebenden Angehörigen in engster Verbindung, z. T. in ganz intimem Lebenskontakt, indem letztere mit allem Fleiß darauf aus sind, sich die vorzüglich in eifriger Fürsorge für die Hinterbliebenen sich kundgebende Geneigtheit der teuren Toten durch besondere Maßnahmen und Verrichtungen zu erwerben. So ist es denn ganz verständlich, daß man den verSymbol der Wiedergeburt der Sonne nach dem Untergang wie auch
der Auferstehung des Menschen nach dem Tode als der lebensschwangeren Sphäre des Kopfes entsteigend gedacht wurde (vgl.
v. B e r g m a n n :
Die Osiris-Reliquien in Abydos, Busiris und
Mendes, Zeitschr. f. Ägypt. Sprache u. Altertumsk. 1880, S. 88/89). 36) Recherches sur les origines de L'Egypte II 1897, Chapitre V: Les modes d'ensevelissement dans la nécropole de Négadan etc. S. 207.
29
ehrten Toten, der j a durchaus als weiterwirkend gedacht wird, zunächst seinem äußeren materiellen Bestände nach zu erhalten sucht, und hier wiederum ist es dann innerhalb einer mehr oder minder verfeinerten Ahnenverehrung die besondere Sorgfalt, die man dem die persönliche Kraftpotenz des Verstorbenen bergenden Kopfe angedeihen läßt. Also weniger der leider nur allzu laut betonte Furchtgedanke, der doch nur bestrebt sein kann, den Toten restlos zu beseitigen, als vielmehr die gewiß auf pietätvolles Empfinden sich stützende Ahnenverehrung hat bei den Primitiven dazu geführt, die Schädel Verstorbener, die zugleich als Kraftträger angesehen werden, zum Heil und Frommen für Stamm und Familie möglichst an besonders geweihter Stätte aufzubewahren. Denken wir nun in diesem Zusammenhang an das imposante M a s s e n d e p o t v o n S c h ä d e l n , wie die ,Große Ofnethöhle' es uns bietet, so sind wir in der Tat versucht, auch in diesem Falle einen regelrechten Ahnenkult zu substituieren; denn so manches spricht dafür, daß die .Große Ofnct' als der große Totensammelplatz zugleich als der Verehrung der Ahnen geweihte Kultstätte diente, zu der einzelne Familien und Sippen, bereits zu fester gesellschaftlicher Organisation zusammengefaßt, in engster Beziehung standen. Für den Charakter der Höhle als einer Verehrungsstätte, an der man sich den in ihren Köpfen vereint zu denkenden Toten zeitweilig kultisch nahte, mag der Umstand sprechen, daß jegliche Spuren, die auf einen dauernden Aufenthalt, auf einen festen alltäglichen Wohnsitz der Azilien-Bevölkerung an diesem Orte hindeuten könnten, wie etwa das Vorkommen von Küchenresten bezw. Feuerstein Werkstätten völlig fehlen. Daß vor derartigen Grabstätten mitunter der Boden ganz wesentlich abgenutzt erscheint, wird nur zum Teil verständlich mit der Annahme zahlreicher späterer Beisetzungen am gleichen Orte, vielmehr erklärt sich diese Erscheinung mit weit größerer Wahrscheinlichkeit als eine Abnutzung, die von den Füßen der sich zu bestimmten Zeiten versammelnden Verehrerschar hervorgerufen wurde. In letzterem Falle dürfte dann gewiß mit einer fortdauernden eigentlichen Verehrung der Verstorbenen gerechnet werden, wobei besonders C. C l e m e n " ) im Hinblick auf eine solche dauernde Totenverehrung an bezw. in der Grabhöhle die recht einleuchtende Vermutung äußert, „daß man ihnen (d. h. den Dahingegangenen) gewiß nicht nur die Kräfte zuschrieb, die sich für einen weiterlebenden Toten schließlich von selbst verstanden, sondern wirklich übermenschliche Kräfte, die man ,dann' durch 37) „Prähistorische Religion" in „Die Religionen der Erde" 1927, S. 6.
30
jene Rotfärbung noch verstärken oder wenigstens erhalten zu müssen glaubte. Und diese ganze A u f f a s s u n g der Toten — so heißt es dann weiter mit besonderer Betonung eines bereits a priori vorhandenen Geisterglaubens bei den prähistorischen Menschen — erklärt sich nicht aus der Erfahrung, die man (in Träumen oder Gesichten) mit ihnen zu machen glaubte, sondern allein durch die Anwendung der schon vorher vorhandenen Vorstellung von höheren Wesen auf die Toten, von deren Weiterleben man überzeugt war, und auf die man daher diese Vorstellung übertragen konnte". — Der vielleicht auf den ersten Blick befremdlich anmutende Brauch, die Toten bezw. gerade die i s o l i e r t e n K ö p f e vorzüglich i n H ö h l e n beizusetzen, mag seine natürliche Erklärung darin finden, daß man die teuren Uberreste vor von außen kommenden, von Tier oder Mensch, aber auch den Unbilden der Witterung ausgehenden Beschädigungen rsp. direkten Zerstörungen möglichst zu schützen suchte. Auch in diesem Punkte lassen sich unschwer recht interessante Parallelerscheinungen aus der naturvölkischen Sphäre, der Welt ausgeprägten Ahnentums, beibringen; hier indes mag nur ein einziges Beispiel, nämlich eine auf Tahiti geübte Höhlen-Kopfbestattung ihren Platz finden. Neben dem Brauch, die vom Totengerüst nach Verwesung der Leiche herabgehobenen Schädel — die anderen Knochenteile begrub man in einer Grube neben dem Totengerüs.t resp. auf dem Tempelplatz — in der Familie des Verstorbenen, d. h. direkt im Familienhause aufzubewahren 3K), begegnet auch die Sitte, den Schädel in unbekannten und schwer erreichbaren Höhlen der Gebirgsteile der Insel zu deponieren, eine sepulkrale Gepflogenheit, die gewiß nur bei im Range hochstehenden Personen zur Anwendung kommen mochte. Jedenfalls wurde nach dem Tode des Oberhäuptlings Temarii dessen Schädel im geheimen in einer Höhle zu P a p a r e beigesetzt, wobei die genaue L a g e des Bestattungsplatzes noch bis heute unbekannt geblieben sein mag 39 ). Die einzelnen Schädelfunde lehren uns, daß man die K ö p f e teils isoliert, teils aber auch zu kleineren bezw. größeren G r u p p e n zusammengefaßt beizusetzen pflegte; in letzterem F a l l e konnten wir geradezu von S c h ä d e l n e s t e r n sprechen. In ähnlicher Weise pflegen auch die Primitiven die Schädel ihrer Ahnen zu behandeln, wenn sie sie mehr einzeln in der Familienhütte aufbewahren — auch Einzelbestattungen von Schädeln mögen hier und 38) B 1 i g h a. a. O. S. 209. 39) A r i i T a i m a i : Denkwürdigkeiten.
1923, S. 106.
31
da vorkommen — oder aber zu größeren G r u p p e n vereinigt im Versammlungshause des Clans bezw. d e m sog. Geisterhause niederlegen. Im Hinblick auf das Schädel-Massenlager der ,Ofnet' läßt sich auch in der rezenten Primitivität mitunter Entsprechendes a u f z e i g e n : so stoßen wir z. B. auf Formosa auf ganze Schädelhügel, die nur der ausgeprägte, aus der dauernd g e ü b t e n A h n e n verehrung sich allmählich herausbildende S a m m e l t r i e b d e r E i n g e b o r e n e n aufgetürmt h a b e n k a n n 4 0 ) . — So m ö g e n w i r denn in den Ofnet-Schädelnestern, dieser höchstentwickelten Form jungpaläolithischer Schädelbestattungen, w i e auch d e n FormosaSchädelhügeln in der Tat H ö h e p u n k t und zugleich A b s c h l u ß einer völlig ausgereiften Kultur von sehr hohem Alter vor uns haben, und, w i e uns die teils isolierte, teils zu G r u p p e n vereinte Schädel darbietenden H ö h l e n f u n d e nur bestätigen können, mag m a n wirklich in allmählichem Entwicklungsprozeß von der einzelnen Schädelbestattung zur Schädel-Massenniederlage fortgeschritten sein — bei zugleich stattgehabtem Z u s a m m e n s c h l u ß bezw. A u f w ä r t s e n t w i c k l u n g der einzelnen F a m i l i e n resp. C l a n s zu Ord40) Man vergegenwärtige sich hierzu die hierhergehörige Bildtafel aus dem Werk von Mac G o v e r n : Unter den Kopfjägern auf Formosa 1923, S. 64 gegenüber = Abb. 13 „Sdiädelsammlung von geköpften Feinden in einem Taiyaldorf", auf die mich Herr cand. phil. E. E r b in dankenswerter Weise aufmerksam macht. Bemerkt sei an dieser Stelle noch, daß nadi C a 11 i n s Bericht die Nordamerikaner, insbesondere die am westlichen Ufer des Missouri seßhaften Mandaner die sorgsam gesammelten Ahnenschädel, wenn auch nicht gerade zu Haufen, so doch kreisförmig um eine auf einem Stabe erhöhte Medizin zu gruppieren pflegten, so daß in der Tat recht imposante Schädelstätten entstehen mußten, bei denen die das Andenken an die Verstorbenen treu bewahrenden Hinterbliebenen sich zu trautem Zwiegespräch mit den Ahnengeistern einfanden. So werden nach den Worten C a 11 i n s nach Verfall und Einsturz der die Leichname tragenden Totengerüste „die Gebeine durch die nächsten Verwandten beerdigt, die Schädel dagegen, nachdem sie vollkommen gereinigt, auf der Prärie in Kreisen von 20—30 Fuß Durchmesser zu mehreren Hunderten, 8—9 Zoll voneinander entfernt und mit dem Gesicht nach der Mitte des Kreises gerichtet, aufgestellt. Hier werden sie als Gegenstände religiöser und inniger Verehrung auf das gewissenhafteste in ihrer Stellung erhalten und beschützt". Die in der Mitte der Kreise erhöht plazierten Kraftfetische (?) will C a t l i n als eine Art Schutzmedizin verstanden wissen: „Es gibt mehrere dieser Schädelstätten, in deren Mitte sich eine Erhöhung von etwa drei Fuß befindet, auf der stets zwei Büffelschädel (einer vom Stier und einer von der Kuh) liegen, und in der Mitte der Erhöhung steht eine 20 Fuß hohe Medizinstange, an der mehrere sonderbare geheimnisvolle Gegenstände aufgehängt sind, von denen sie glauben, daß sie die Schädel beschützen. Auch diese Plätze werden von den Hinterbliebenen besucht, um ihre Liebe zu den Abgeschiedenen an den Tag zu legen, doch geschieht dies nicht mehr durch Tränen und Klagen, denn die Zeit hat den Schmerz gemildert, sondern Liebe und Anhänglichkeit werden hier erneuert und man führt Gespräche mit den Toten." (Indianer Nordamerikas. 1924, S. 62 u. 63.)
32
Illingen höheren Grades und der hiermit Hand in Hand gehenden Fortbildung des — zunächst in Sippen ausgeübten — Totenkultes zu einer gemeinsamen, die ganze Volksgemeinde umspannenden, am Massengrab periodisch vollzogenen Totenfeier. Blicken wir schließlich auf die Resultate, zu denen v. T r a u w i t z - H e l l w i g mit seinen, den Totenfurchtgedanken weit überschätzenden Untersuchungen gelangt ist 4 1 ), so läßt sich gar nicht verkennen, daß der Forscher nur mit einem — durchaus unorganisch anmutenden — Bruch in seinen Gedankenbildungen sich scheinbar diametral entgegengesetzt zueinander verhaltende Vorstellungen miteinander ausgleichen kann. Während einerseits durch „Träume und Phantasien" erzeugte wilde Angst den prähistorischen Menschen nicht bei einer Fesselung des .lebenden Leichnams" habe stehen bleiben lassen, ihn vielmehr zur Zerstückelung der Leichen — „um ein Wiederkommen in alter Gestalt vollkommen unmöglich zu inachen und sich für immer zu schützen" — veranlaßt habe, so haben die überlebenden andererseits doch wieder Bedacht genommen, die grollenden, rachelüstern — nun nach der Zerstückelung auch unpersönlich — den Lebenden Unheil sinnenden Abgeschiedenen zu versöhnen, indem man — neben Schmücken, Einröteln u. dgl. — die- Köpfe aufbewahrte und ihnen sorgfältige Bestattung zuteil werden ließ, ganz als hätte man es mit .lebenden Leichnamen' zu tun. Iiier in diesem Punkte des v. T r a u w i t z - H e l l w i g ' sehen Gedankenganges wird nur zu offensichtlich, wie sehr sich Totenfurcht und Totenehrfurcht, Totenhaß und Totenliebe einander stoßen, wie ganz unzulänglich der Versöhnungsgedanke dem Totenfurchtgedanken aufgepfropft erscheint. Man erkennt hieraus einwandfrei, daß die sorgfältige Behandlung bezw. Bestattung des Kopfes samt den Trennungsresp. Schneideriten, die der eigentlichen Beisetzung voraufgegangen sein müssen, in keiner Weise zu Zeiten eines voll ausgeprägten Totenkultes, wie er uns mit größter Wahrscheinlichkeit im Miolithikum bezw. Jungpaläolithikum entgegentritt, sich mit Totenfurcht irgendwie vereinigen läßt, vielmehr ruht diese ergreifende Fürsorge für den Dahingegangenen, die sich vorzüglich auf das Haupt als den eigentlichen Lebens- bezw. Kräftesitz des Verstorbenen bezieht und sich besonders, soweit die Funde erkennen lassen, im Schmücken, Einröteln, „Bewaffnen" und nicht zuletzt im sorgsamen Deponieren des Kopfes äußert, einzig und allein in der gewiß starke Urtriebe des Menschen auslösenden Ahnenver41) M a n b e r ü c k s i c h t i g e hier vor allem die A u s f ü h r u n g e n auf S. 94 des v. T r a u w i t z - H e l l w i g ' sehen Werkes.
33 3
ehrung beschlossen. Daß jedoch in grauen Urzeiten, d. h. in weit ferner gelegenen Epochen als die es sind, mit denen wir es hier zu tun haben, auch einmal der Totenfurcht-Gedanke vorgeherrscht haben mag, braucht nicht unbedingt angezweifelt zu werden; hierfür sprechen doch bezeichnende Analogien aus dem Volksglauben vieler, wenn nicht gar aller Völker, die mehr oder weniger die Idee des Vampyrismus ausgebildet haben. Um den TotenfurchtGedanken für das Paläolithikum, insbesondere das Jungpaläolithikum als recht unwesentlich bezw. kaum oder gar nicht vorhanden aufzuzeigen, dafür bedarf es allerdings recht eingehender, nur zu wcitschichtiger Untersuchungen, die sich vorzüglich auf die Vorstellung vom mutmaßlichen gefesselten Hockervampyr konzentrieren müßten, womit zugleich die Frage nach dem eigentlichen Sinn der Hockerbeisetzung berührt wäre, d. h. eins der wesentlichsten Probleme, die die vorgeschichtliche Forschung überhaupt zu bieten vermag. Es kann hier jedoch nicht meine Aufgabe sein, diesen z. T. recht verschlungenen Dingen, die zu einer Fülle von mehr oder weniger gut fundiert erscheinenden Hypothesen Anlaß gegeben haben, im Zusammenhang mit dem mir gestellten Thema weiter nachzugehen, vielmehr begnüge ich mich an dieser Stelle, auf den höchst problematischen Charakter einer solchen, vorzüglich aus der heiß umstrittenen Hocker-Bestattung gefolgerten Totenfurcht-Idee sowie deren überaus fragwürdige beherrschende Stellung gerade im Miolithikum in aller Kürze hingewiesen zu haben. Aber soweit v. T r a u w i t z - H e l l w i g sein Augenmerk auf a n a l o g e E r s c h e i n u n g e n aus der r e z e n t e n P r i m i t i v i t ä t richtet, soweit er sich nicht in z. T. ganz unhaltbaren Spekulationen verliert, wollen wir dem verdienten Forscher, dessen fleißige instruktive Arbeit wir im übrigen durchaus zu würdigen wissen, gerne folgen. Und so wird man sich denn auch seinen Worten voll und ganz anschließen dürfen, wenn er, gewiß zunächst mit dem Blick auf die naturvölkischen Zustände, nach denen der Schädel des toten Angehörigen bei besonders primitiven Verhältnissen in der Familienhütte zwecks dauernder Aufbewahrung verbleibt, seine diesbezgl. Ansichten in folgender Weise formuliert, in diesem Falle jedoch mit vollem Recht den Entwicklungsgedanken berührend: „Vorläufig mögen diese Köpfe in den Wohnstätten selbst einen ehrenvollen Platz eingenommen und jede Sippe mag für sich bestattet haben (z. B. Grotte du Piacard, Mas d'Azil, Kaufertsberg); am Schluß der ganzen Entwicklung, im Azilien (,bezw. Endmagdalenien'), als sich bereits verschiedene Sippen zu
34
einem ganzen Stamm zusammengeschlossen hatten, werden die Bestattungen in den Wohnstätten der einzelnen Familien fallengelassen und gemeinsame Toten platze außerhalb der profanen Wohnstätten angelegt worden sein, Totensammelplätze, die sich allmählich zu Heiligtümern eines ganzen Stammes auswuchsen, zu denen die Enkel wallfahrteten, um ihre Ahnen zu versöhnen und zu besänftigen (,besser und richtiger wohl: ihnen kultisch zu huldigen'), um ihre Anliegen vorzubringen, um ihre Väter und Vorväter zu ehren. Ein solch hochentwickelter Ahnenkultus mag in der O f n e t vorliegen" 42). — Dem Vorkommen von Kopfbestattungen tritt nun eine andere merkwürdige Erscheinung aus dem Jungpaläolithikum zur Seite, und zwar handelt es sich da um das mit mehr oder weniger Kunstfertigkeit unternommene Herrichten von regelrechten T r i n k s c h a l e n a u s m e n s c h l i c h e n S c h ä d e l n , wie solche im Westen, aber auch in östlichen Gebieten gefunden wurden. Derartige naturalistische Gefäße tauchen in der Vorgeschichte mutmaßlich frühestens im Solutréen auf, wenn man nicht, dem Beispiele O b e r m a i e r s folgend 43), schon für die paläolithische Zeit eine Schichtenvermischung annimmt und demzufolge die Sitte des Anfertigens von Schädelbechern vorzüglich f ü r die Zeit des Magdalénien gelten läßt. Räumlich läßt sich das SchädeldachTrinkgefäß wohl gewiß über die ganze Erde verfolgen, worauf die recht sprunghaft auftretenden Fundtatsachen hindeuten könnten, und f ü r den ungemein zähen Fortbestand der Idee von der Sdiädelkalotte selbst bis in die jüngsten Zeiten hinein d ü r f t e vor allem das Vorkommen letzterer bei den Aghori, einer hinduistischen Sekte, Zeugnis ablegen: Die Aghori haben neben kannibalischen Sitten wie dem Essen von Tier- und Menschenfleisch die uralte Gewohnheit noch rein bewahrt, aus menschlichen Schädeln resp. Schädelschalen zu trinken 44). Lassen wir zunächst d i e e i n z e l n e n F u n d t a t s a c h e n an uns vorüberziehen. Da wäre zunächst auf die neun mit verschiedenem Geschick zu Bechern oder Schalen umgearbeiteten, z. T. recht roh zugeschnittenen Schädel aus der Grotte du Piacard (Charente) hinzuweisen, die dem unteren Magdalénien, z. T. vielleidit dem oberen Solutréen beizuordnen sind. Bemerkenswert wäre hier einmal, daß vier, richtiger wohl — wenigstens nach O b e r 42) a. a. O. S. 94. 43) H. O b e r m a i e r : Der Mensch der Vorzeit. 1912; S. 425, Anm. 7. 44) Vgl. den Artikel von W. C r o o k e : „Aghori" in der Encyclopädia of Religion and Ethics Vol. I, S. 212, Abschnitt 8: „Use of human skulls as cups and vessels": daselbst weitere Literatur.
35
in a i e r s Beobachtungen — fünf Schädel mit der konkaven Seite nach oben gruppiert lagen, zum anderen aber, daß sich in einer Schädelschale, nämlich am Grunde von Schale C, Ockerspuren fanden. Bei verschiedenen Schädeln dürften Schnitt- resp. Schabespuren — auf der konvexen Oberfläche deutlich sichtbar — darauf hindeuten, daß nach Abstechen des Kopfes vom Rumpfe die Fleischpartien an dem Schädelgerlist mit der Silexklinge abgetrennt wurden, wonach man dann mit kräftig geführten Hieben Sdiädelbasis wie auch Gesichtsskelett von der Hirnschale abschlug. — Der eine Schädelbecher, der zu Laugerie-Basse in der Dordogne gehoben wurde, dürfte mit Sicherheit dem Magdalénien zuzuweisen sein. Für die nordische Kultur ließe sich das Vorkommen des Schädelbechers aufzeigen, wenn jene am Schädel von Alvastra wahrnehmbaren kräftigen Rundschnitte sich in der Tat nach dem Beispiel G. W i 1 k e s (s. w. o.) als mit dem „Silexbeil" ausgeführte Schläge, die das Abtrennen der Kalotte bezweckten, erweisen ließen. — Die allerdings erst ins Mixoneolithikum zu setzende syrische Dorfkultur hat ebenfalls den kunstfertig zurechtgeschlagenen Schädelbecher wohl gekannt. So befand sich unter den zu Gezer aufgedeckten Funden — bezeichnend für südsyrisches Bestattungswesen — ein Stück Schädeldecke, das genau in eine tönerne Schale eingelassen war, indem so in der Tat ein naturalistischer Becher mit einem künstlichen Trinkgefäß zu harmonischer Einheit verschmolzen war. Im Lichte einer besonderen Bewertung des Schädels mögen, wie noch hinzugefügt sein mag, auch jene bei der Mündung einer Zisterne zutage geförderten abgetrennten Schädel zweier Mädchen stehen, sowie audi sonst Sdiädelteile, die man unter abgetrennten Knochenresten fand 4 5 ). —• Auf Sdiädelbestattungen, wie sie uns in England innerhalb der mixoneolithischen Kulturen entgegentreten, hat M e n g h i n neuerdings hingewiesen 4 8 ): „Auch Schädelbestattungen kommen vor. Ein besonders merkwürdiger Ritus konnte in englischen Megalithen festgestellt werden. In diesen finden sich häufig Schädel, deren Kalotte durch einen Schlag abgetrennt wurde. Sie wurde aber zur Leiche gelegt." Nach M e n g h i n s Ansicht mag es sich wohl nur um Herausnahme des Hirns gehandelt haben, jedoch muß diese Ansicht selbstverständlich rein hypothetisch bleiben 4T). Schließlich mag noch an 45) Vgl. z. B. T h i e r s c h : „Die neueren Ausgrabungen in Palästina" im Archäolog. Anzeiger zum Jahrbuch des Archäol. Instituts 1909, S. 360. 46) a. a. O. S. 407/8. 47) Vgl. zum Problem A. W. B u c k l a n d : The monument known as „King Orry's Grave" compared with tumuli in Gloucestershire, Journ. Anthr. Inst. XVIII, 1889, S. 346.
36
dieser Stelle vermerkt sein, daß auch f ü r die Schweizer P f a h l bauten-Kultur das Vorkommen von Schalen aus menschlichen Schädelkalotten bezeichnend ist, wobei wieder beim kritischen Betrachter der Gedanke an Kannibalismus sich in den Vordergrund drängt«). — Fragen wir nun danach, wie es zu der befremdlichen Sitte gekommen sein mag, menschliche Schädel zu Trinkschalen herzurichten, so ist eine Beantwortung dieser Frage von n a m h a f t e n Forschern in verschiedenstem Sinne gegeben worden. So stand vorzüglich 1 . A i u l r c e 40) noch auf dem heute bereits mehr oder weniger verlassenen, wenn auch noch keineswegs völlig aufgegebenen Standpunkt, daß bei den urzeitlichen Menschen die A n t h r o p o p h a g i e eine hauptsächlich aus dem Hungertriebe heraus erklärbare, allgemein herrschende Sitte gewesen sei, d. h. das Verzehren des Leichnams geradezu eine Selbstverständlichkeit war, ohne daß man irgendwie genötigt wäre, im sog. (mehr tierisch erscheinenden) Listaclium dieser rigorosen Sitte rituelle Eigentümlichkeiten, irgendwelche Gepflogenheiten kultischer Natur beizulegen. Man verzehrte eben den Leichnam, weil der Hunger ungestüm dazu drängte, und die Hernähme der Speisen von anderswo her mit mehr oder weniger großen Schwierigkeiten — zumal auf dieser allerprimitivsten Stufe der Menschheitsentwicklung — verk n ü p f t erschien. Die Töpferei, deren vorzüglichste Aufgabe j a das Herstellen von S(höpfgefäßen darstellt, war noch nicht erfunden, und so dürfte es nicht weiter verwunderlich sein, d a ß man aus der ihrer halbkugeligen Form wegen zum G e f ä ß so überaus geeignet erscheinenden Hirnschale einen Schöpf- bezw. Trinkbecher herrichtete, welch letzterer nicht mehr bedeutete als ein simpler Gebrauchsgegenstand ohne alle tiefere Bedeutung. Erst allmählich, bei fortschreitender kultureller sowie religiös-geistiger Entwicklung, hätten sich mit dem Brauche der zunächst rein kannibalischen Schädelbecher-Benutzung besondere eigentümliche Anschauungen verbunden. Den Schädeldächern wurde nunmehr eine besondere Beachtung und spezifische Bewertung zuteil, sie wurden jetzt sorgfältig a u f b e w a h r t und z w r einmal als ,Rachezeugnis' in Anbetracht des erschlagenen Feindes, zum anderen aber als Andenken a n teure Angehörige. So gewinnt der Schädelbecher nach A n d r e e ' s z. T. recht geschlossen anmutenden theoretischen Ausführungen Bedeutung einerseits als T r o p h ä e n b e c h e r , 48) S. K. K r e n n , Schädelbecher, Sudeta V, 1929, S. 73. 49) „Menschenschädel als Trinkgefäfle." Ztschr. d. Ver. f. Volkskunde, 22. Jahrg., Berlin 1912, S. 14 f.
37
andererseits dessen man maßen ein sepulkralen
hingegen als n a t u r a l i s t i s c h e s T r i n k g e f ä ß , sich „zur Minne" des Toten bediente — also gewisserritueller (?) Gedächtnistrunk beim prähistorischen „Liebesmahl"! —
Hier im weiteren Verfolg dieser Gedanken ist nun für A n d r e e die Unterscheidung von Exokannibalismus und Endokannibalismus aller Beachtung wert. Der Exokannibalismus, der einzig und allein den besiegten getöteten Feind im Auge hat, stellt für A n d r e e die frühere Form der Anthropophagie dar, und somit wäre dann der Trophäenbecher, d. h. die naturalistische Trinkschale aus Feindesschädel, die ältere Form in der Schädelbecherbereitung. Im ebenfalls weitverbreiteten Endokannibalismus hingegen lägen die Dinge wesentlich anders. Hier ist es das fürsorgliche Bestreben durch Familienbande oder Sippengemeinschaft einander verbundener Menschen, die Leichen lieber Angehöriger resp. solche von Stammesgenossen beim Totenschmaus im wahrsten Sinne des Wortes sich einzuverleiben, d. h. ihnen, wie A n d r e e selbst die Idee umschreibt, im eigenen Körper durch Verzehren ihres Fleisches (vielleicht auch Trinken ihres Blutes) das würdigste Grab zu verschaffen. So vermöchte uns der Endokannibalismus eine zweite, nicht minder bedeutsame Form der Schädelbecher-Idee darzubieten. Die aus den Hirnschalen von Verwandten und Repräsentativpersonen wie Häuptlingen u. dgl. geschnitzten Schädelschalen dienen als E r i n n e r u n g s b e c h e r b e i m M i n n e t r u n k und finden selbst als naturalistische und darum um so wirkungskräftigere, gewissermaßen magisch geeichte, Segen mitteilende Kultgeräte im offiziellen religiösen Kultus ihre Verwendung. Für letzteren, mehr rituell-kultischen Zweck der Schädelkalotte beansprucht A n d r e e deren Kraft bezw. Heilkraft, die ein Trunk aus dem Schädelbecher auslöst. Wenn dann A n d r e e , den eigentümlichen Charakter des menschlichen Kopfes mit Recht scharf herausstreichend, fortfährt: „Im Schädel konzentrieren sich die vornehmsten Sinne, er ist überall anerkannt als Sitz des Geistes, und mit der Aufbewahrung des Gehäuses glaubte man, auch nach dem Tode des ursprünglichen Besitzers, sei er nun Freund oder Feind gewesen, über dessen Kräfte und Eigenschaften verfügen zu können", so ist man gewiß berechtigt, dasselbe auch für die Schädelkalotte als Teil des Ganzen zu beanspruchen: auch das S c h ä d e l d a c h darf als pars pro toto als k r ä f t e h a 11 i g , als mit magischen Eigenschaften ausgestattet angesehen werden; es war — als Trinkgerät — ganz be-
38
sonders für eine von der Reliquienschale auf ihren neuen Besitzer sich erstreckende Kräftetransfusion geeignet. — Uberblicken wir nun die einzelnen, von A n d r e e mit mehr oder minder großer Überzeugungskraft vorgebrachten Theorien und Vermutungen, so erscheint es notwendig, zu ihnen in kritischer Weise Stellung zu nehmen. Zunächst beschäftigt uns da die T h e s e v o m s o g . k a n n i b a l i s t i s c h e n U r s t a d i u m d e r M e n s c h h e i t , zumal des prähistorischen Menschentums. Wie fragwürdig es doch ist, ein solches Anthropophagenzeitalter f ü r das Paläolithikum, insbesondere das Jungpaläolithikum bezw. Miolithikum zu fordern, das doch aller Wahrscheinlichkeit nach, sehen wir nur auf die Ofnet-Funde, bereits einen recht beachtenswerten Totenglauben bezw. direkt einen den Vorfahren gewidmeten Kultus ausgebildet haben dürfte, haben unsere obigen sich auf die Sitte der Kopfbestattungen erstreckenden Untersuchungen zur Genüge offenbar werden lassen. Die F u n d e stehen im allgemeinen gar nicht günstig f ü r die Annahme eines in Urzeiten geübten Universalkannibalismus, d. h. eines sog. wilden Kannibalismus, der ohne jede Beziehung stände zu Ahnenverehrung und Totenglauben. Jedenfalls wären in diesem Punkte die A n d r e e 'sehen Ausführungen doch als überaus problematisch, j a geradezu unmöglich zu werten. Ein rücksichtsloser, das älteste Menschentum in fast völliger Tierheit erscheinen lassender, von jeder anderen das Menschenwesen als solches auszeichnenden Beziehung losgelöster Urkannibalismus besteht doch letztlich nur in der frei kombinierenden, auf fragwürdige Hypothesen sich stützenden Phantasie des Forschenden, ohne daß sich f ü r einen solchen eisig-öden Urzustand des Menschen ein wirklich ernst-wissenschaftlicher Beweis beibringen ließe. Wie schon bei den primitivsten Völkern, worauf besonders R. M a r t i n 5 0 ) hingewiesen hat, der Kopf als Sitz der geistigen und seelischen Kräfte des Menschen, wobei letztere allerdings noch mehr als magische, z. T. jedoch bereits persönlich gedachte Substantialität, d. h. im Sinne von übertragbarem Kraftzauber verstanden und gewertet werden, in Geltung steht und als solcher mit allem Fleiß respektiert wird, so mag auch der dem Urstadium zuzurechnende Mensch, wie auch immer sein geistiger Habitus ausgesehen haben mag, immerhin einige E h r f u r c h t v o r d e m S c h ä d e l g e f ä ß e m p f u n d e n haben, das gerade ihm als im strengsten Geisterglauben befangenen Mensdien50) R. M a r t i n : Uber Skelettkult und verwandte Vorstellungen. der Geogr.-ethnogr. Ges. Zürich 1920, S. 26 ff.
Mitt.
39
wesen am a l l e r w e n i g s t e n als rein p r o f a n e s T r i n k g e s c h i r r erscheinen konnte. Er vorzüglich m u ß t e doch, worauf die prähistorischen F u n d e ganz einhellig hinzielen, im Schädel h ö h e r e Wesenheit r u h e n d d e n k e n , u n d dieser angebliche U r a n t h r o p o p h a g e , wie er sich uns nach unserer sich auf die F u n d t a t s a c h e n s t ü t z e n d e n P h a n tasie darstellt, h ä t t e g e w i ß eine heilige Scheu d a v o r e m p f u n d e n , den Schädel ü b e r h a u p t zu verletzen (wenn nicht aus rein magischen bezw. medizinischen Anlässen h e r a u s wie z. B. bei der a u c h mitu n t e r b e g e g n e n d e n T r e p a n a t i o n ) u n d d a n n noch sogar aus ihm ein so alltägliches W e r k z e u g wie einen bloßen T r i n k b e c h e r zu verfertigen. Weit eher wird er es vorgezogen h a b e n , sich aus Holz, R i n d e u. dgl. w e n i g e r k r ä f t e v e r d ä c h t i g e n , allerdings leichter zers t ö r b a r e n u n d d a h e r uns verloren gegangenen Materialien ein T r i n k g e s c h i r r zu schnitzen, wobei ich v. T r a u w i t z - H e l l w i g , der sich e b e n f a l l s mit g u t e n G r ü n d e n gegen die A n n a h m e einer B e n u t z u n g von S c h ä d e l d ä c h e r n als simplen W a s s e r b e h ä l t e r n resp. W a s s e r s c h ö p f g e f ä ß e n in Urzeiten energisch s t r ä u b t , voll und ganz beistimme, w e n n er sich hinsichtlich dieses Problems so ä u ß e r t : „Die H e r s t e l l u n g eines S c h ö p f g e f ä f l e s aus einem menschlichen Schädel ist erheblich schwieriger und e r f o r d e r t die gleiche Zeit wie das V e r f e r t i g e n einer Schale aus Holz" r ''), bezw. an a n d e r e r Stelle: „Die H e r s t e l l u n g eines Schädels zu einem S c h ö p f n a p f e oder einer Schale, d. h. die A b t r a g u n g der Gesichtsknochen und der Basis ist infolge der S p r ö d i g k e i t u n d H ä r t e der Knochen nicht g a r so einfach, sondern e r f o r d e r t schon eine gewisse Geschicklichkeit u n d Übung, d ü r f t e z u m mindesten ebensolange Zeit in A n s p r u c h n e h m e n , als z u m H e r r i c h t e n eines G e f ä ß e s aus Holz g e b r a u c h t w i r d " B2). — In der T a t d ü r f t e die T h e s e A n d r e e s , schon auf G r u n d ihres, wie v. T r a u w i t z - H e l l w i g mit Recht betont, „ k r a ß m a t e r i a l i s t i s c h e n " C h a r a k t e r s , d u r c h a u s a b z u l e h n e n sein: der aller e h r f ü r c h t i g e n G e f ü h l e bare, aller magischen B r ä u c h e sowie jeglichen rituellen E m p f i n d e n s u n k u n d i g e U r k a n n i b a l e ist samt seinem n u r rein p r o f a n e m G e b r a u c h unterstellten Schädel-Wassers c h ö p f e r e i n f a c h — selbst f ü r älteste Zeitläufte — u n d e n k b a r . — W e n n A n d r e e d a n n f e r n e r h i n 5 3 ) unsere A u f m e r k s a m k e i t auf die indischen Aghori l e n k e n zu müssen glaubt, die d e n Mensdienschädel lediglich als Eßschale b e n u t z t e n , so will ein d e r a r t i g e r H i n w e i s w i r k l i c h nicht viel besagen. Dieser seltsame B r a u c h der 51) a. a. O. S. 100. 52) ebd. S. 98. 53) Ebenfalls in „Menschenschäclel als Trinkgefäße", S. 25 f.
40
Aghori — „fossiler U b e r r e s t " in m o d e r n e r Zeit! — r e p r ä s e n t i e r t g e w i ß , wie v. T r a u w i t z - H e l l w i g g a n z r i c h t i g e r k a n n t h a t 5 4 ) , „eine r e l a t i v j u n g e Sitte", wobei es sich u m L e u t e h a n d e l n d ü r f t e , d e n e n im L a u f e der J a h r h u n d e r t e — w o h l i n f o l g e v o n D e k a d e n z — die u r s p r ü n g l i c h e m a g i s c h e , m e h r r i t u e l l - k u l t i s c h e B e w e r t u n g d e r S c h ä d e l r c l i q u i e g ä n z l i c h v e r l o r e n g e g a n g e n bezw., w i e v. T r a u w i t z - H e 11 w i g m u t m a ß t , „vielleicht d u r c h Ü b e r k u l t i v i e r u n g (letztere d a r f j a e b e n f a l l s als D e k a d e n z e r s c h e i n u n g g e w e r t e t w e r d e n ! ) die E h r e r b i e t u n g vor d e m Sitze d e r geistigen F ä h i g k e i t e n des M e n s c h e n a b h a n d e n g e k o m m e n " ist. D e r u r s p r ü n g liche Sinn d e r u r a l t e n Sitte ist in der S p ä t z e i t b e r e i t s völlig v e r w i t t e r t , wobei h e r a b g e s u n k e n e S t ä m m e , zu d e n e n a u c h die Aghori zu r e c h n e n sein m ö g e n , g a n z u n g e e i g n e t e r s c h e i n e n , d e n a l t e n m a g i s c h e n , sich an das n a t u r a l i s t i s c h e T r i n k g e f ä ß k n ü p f e n d e n K r a f t - G e d a n k e n in d e r T r a d i t i o n l e b e n d i g zu e r h a l t e n . Bei d e n Aghori sowie i h r e n S c h ä d e l n ä p f e n t r i t t u n s e b e n n i c h t s U r s p r ü n g liches m e h r e n t g e g e n , v i e l m e h r h a b e n w i r in diesem s p ä t e n S e k t e n t u m eine V e r f a l l s e r s c h e i n u n g vor uns, die g e r a d e d u r c h j e n e s E n t schwundensein jeglichcr magischen Bewertung der Knochenschale n u r zu o f f e n b a r w i r d . W e i t e r h i n h a l t e ich bezüglich d e r A u s f ü h r u n g e n A n d r e e s j e n e e x a k t e , z u m a l noch, was völlig v e r f e h l t e r s c h e i n t , c h r o n o logisch g e t r e n n t e U n t e r s c h e i d u n g von E n d o - u n d E x o k a n n i b a l i s m u s f ü r das h i e r v o r l i e g e n d e P r o b l e m f ü r r e c h t u n w e s e n t l i c h : a u c h d e r f ü r einen Exokannibalismus bezeichnende Trophäenbecher bezw. d e r diesem i n n e w o h n e n d e K r a f t s t o f f w a r d e m Sieger w e r t v o l l u n d t e u e r , w e n n n i c h t noch weit w i l l k o m m e n e r als die g e w i ß h o c h v e r e h r t e S c h a l e a u s d e m S c h ä d e l seines e i g e n e n A h n e n , v o n dessen K r ä f t e g e h a l t j a allein schon auf G r u n d seiner A b s t a m m u n g ein g u t Teil b e r e i t s in i h m v o r h a n d e n w a r . — Vor a l l e m m u ß n u n a b e r vor der Annahme A n d r e e s gewarnt werden, d a ß nämlich Rachsucht g e g e n ü b e r d e m b e s i e g t e n u n d d a n n e r s c h l a g e n e n F e i n d e eine H a u p t t r i e b f e d e r beim E x o k a n n i b a l i s m u s g e w e s e n sei, w a s d a n n w i e d e r i r g e n d w i e auf die H e r s t e l l u n g u n d B e w e r t u n g d e r S c h ä d e l s c h a l e e i n g e w i r k t h ä t t e . Solche H a ß - u n d R a c h e g e f ü h l e w a r e n m ö g l i c h e r w e i s e ü b e r h a u p t n i c h t v o r h a n d e n 55 ), v i e l m e h r m a g e h e r 54) a. a. O. S. 99. 55) Hinsichtlich der auf der Kopfjagd erbeuteten Schädeltrophäen mag häufig genug ganz das Gegenteil der Fall gewesen sein. So weiß z. B. Eric M j ö b e r g („Durch die Insel der Kopfjäger" 1929, S. 256) davon zu berichten, daß auf Borneo die Frauen der D a j a k e n mit lebhaftester Freude der Ankunft der wertvollen Beuteköpfe entgegenzusehen und hei dieser Gelegenheit aufs schönste geschmückt ein Fest zuzurüsten pflegten. „Sie scharen sich um die Trophäen,
41
der W u n s c h nach immer neuer K r ä f t e a n e i g n u n g die H a u p t t r i e b feder beim Exokannibalismus dargestellt haben, ohne d a ß m a n dem f r e m d s t ä m m i g e n erlegten O p f e r auch n u r im leisesten Groll u n d Hafi entgegenbrachte. So k a n n d e n n auch das fertiggestellte Schädeldach, j e n e r magisch gewertete K r ä f t e t r a n s f u s o r , u r s p r ü n g lich j e d e n f a l l s keineswegs als Rachezeugnis angesehen w o r d e n sein. D a ß mehr negative G e f ü h l e wie Rache, Hafi, Hohn, Spott u n d Vera c h t u n g sich mit der Vorstellung des Schädelbechers v e r b a n d e n , diese Erscheinung gehört doch erst recht späten Zeitläuften an, d a der ursprüngliche Sinn der Idee, insbesondere die Vorstellung von der mit der K o p f t r o p h ä e engstens v e r b u n d e n e n magischen K r ä f t e mitteilung bereits stark verwittert bezw. ganz erloschen w a r . Die Worte v. L u s c h a n ' s 5r'), die t r e f f l i c h diesen Zustand der Zerr ü t t u n g der ursprünglichen, zunächst durchaus einheitlichen Schädelkalotten-Idee illustrieren: „Im übrigen h a b e n Spott u n d Hohn, Rachsucht, Hafi und Verachtung, Aberglauben u n d Totenkult, Pietät u n d Heiligenverehrung an ganz verschiedenen Stellen der Erde gleichmäßig und sicher wohl unabhängig zur Herstellung von Trinkschalen aus menschlichen Schädeln g e f ü h r t " , d ü r f t e n doch nur f ü r das E n d s t a d i u m dieser Idee, also f ü r ganz späte Entwicklungsstufen, bei denen sich die einzelnen auf die Schädelbecher-Reliquie bezüglichen, sich n u n m e h r aber einander stoßenden Vorstellungen bereits voll ausgebildet nebeneinander f i n d e n , zu Recht bestehen. Allein uns interessiert hier vorzüglich die m a g i s c h e , mit großer Wahrscheinlichkeit r i t u e l l - k u l t i s c h e B e w e r t u n g d e r S c h ä d e l k a l o t t e von Seiten der diluvialen Menschheit. Die jungpaläolithische Zeit, in jeder Hinsicht eine Zeit höchster Blüte, auf die wir gerade wegen ihrer Ergiebigkeit an F u n d e n hauptsächlich unseren Blick zu richten haben — das Altpaläolit h i k u m k e n n t weder K o p f b e s t a t t u n g noch Schädelschale! —, h a t dem Kopfe, wie uns j a der eigentümliche Brauch der K o p f b e manche küssen die Schädel oder beißen sie in die Wangen, andere stecken ihnen fette Fleischbissen zwischen die bleichen Lippen oder heißen die Toten auf andere Weise willkommen." Wie M j ö b e r g dann weiter zeigt (S. 257), steht man auch fernerhin mit dem im Beutekopf sitzenden Geist des Toten im allerbesten Einvernehmen. „Man spricht ihn (den Schädel) mit den schmeichelhaftesten und übertriebensten Redensarten an, sucht ihm klarzumachen, daß er jetzt ein Stammesangehöriger sei . . . . Der Schädel bekommt die besten Leckerbissen, wird reichlich mit Reisbranntwein getränkt, kurz, man sucht es dem darin wohnenden Geist so gemütlich wie möglich zu machen, damit er den Verlust seiner Freiheit vergißt und sich als Freund des Stammes gut eingewöhnt." 56) Zusammenhänge und Konvergenz. Mitt. Wiener Anthrop. Ges. 48. Bd. (3. Folge, 18. Bd.) 1918, S. 80.
42
stattungen zeigte, alle Ehrerbietung entgegengebracht; voll und ganz bestehen daher die Worte v. T r a u w i t z - H e l l w i g ' s zurecht, wenn er bemerkt " ) : „Der ausgesprochene, bis ins einzelne gehende religiöse Kult des diluvialen Menschen, die Ehrerbietung, die gerade dem Haupte im Jungpaläolithikum gezollt wurde, lassen eine Benutzung der Schädelschale als Wasserbehälter ausgeschlossen erscheinen." Die besondere, zumindest magische Bewertung der Schädelschale, vielleicht auch ihre sog. rituellkultische Eichung erhellt doch allein schon aus der Tatsache, daß sich in einer der neun Schädelkalotten aus der Grotte du Piacard Ockerspuren fanden — eine recht beachtenswerte Eigentümlichkeit, die ganz im Einklang steht mit dem Brauch des Einröteins bei Kopfbestattungen, wie wir einen solchen bereits oben des genaueren kennengelernt haben. — Auch hier in Anbetracht des Schädelbechers mag nun — wie bei den Kopfbestattungen — ein Hinweis auf parallele, j a z. T. völlig a n a l o g e E r s c h e i n u n g e n , wie sie die rezenten Primitiven zu bieten vermögen, durchaus willkommen erscheinen. So mag manches einer plausiblen Erklärung zugeführt werden, was sonst — isoliert stehend — unverständlich genug bleiben müßte. Auch die Primitiven kennen, ausgehend von beherrschenden Urtrieben wie Ahnenverehrung und Totenkult, wie die Kopfbestattungen so auch die Sitte des Schädelschalengebrauches, wobei dem Schädel als solchem magische Kräfte beigelegt werden. Entsprechend dem kräfteschwangeren Ahnenschädel bezw. der krafterfüllten Kopftrophäe wird auch der zurechtgeschnittene Schädelbecher als magischer Kraftträger gewertet; die primitive Kultur Afrikas vermag uns hierfür wertvolle Beispiele zu bieten 5 8 ). Für die jungpaläolithischen Verhältnisse ist es bezeichnend, daß mutmaßlicher Kopfkult sowie mutmaßlicher Schädelbecherkult gleichzeitig — d. h. hauptsächlich im Magdalénien — nebeneinander in Erscheinung treten; so mögen auch hier die Verhältnisse ähnlich gelegen haben wie in der rezenten Primitivität. Auch für das Jungpaläolithikum mag, worauf schon die Kopfbestattungen uns konsequenterweise hinweisen, eine z. T. recht vorgeschrittene Ahnenverehrung wirksam gewesen sein, ein Totenkult mag auch bereits in prähistorischer Zeit geherrscht haben, der dem der rezenten Primitiven gar nicht so unähnlich gewesen zu sein braucht. So verstehen wir wenigstens einigermaßen, daß stein57) a. a. O. S. 100. 58) Alles Weitere hierzu bringen meine diesbezgl. Teil II der vorliegenden Studie.
Ausführungen
in
43
zeitliche Kulturkomplexe sowie z. T. noch lebende Primitivkulturen uns durchaus adäquate Erscheinungen bieten können, wobei uns leider heute nicht mehr zugängliche Entwicklungsreihen, die eine chronologische Verbindung zwischen den paläoarchäologischen und den ethnographischen Kulturen herzustellen geeignet wären (die Ähnlichkeit der Formenkreise läßt sich j a mitunter wie im vorliegenden Falle ganz deutlich aufzeigen), gewiß diese zunächst so eigentümlich berührende Konvergenz restlos zu erklären vermöchten. Ahnenverehrung und Totenkult — diese beiden hochwichtigen Momente wird man auch für eine richtige Erfassung steinzeitlicher Verhältnisse in keiner Weise außer acht lassen dürfen, insbesondere sind sie auch für eine umfassende Wertung des prähistorischen Schädels wie der mit diesem aufs engste zusammenhängenden prähistorischen Schädelkalotte nicht zu entbehren. So darf auch fürs Jungpaläolithikum eine Beziehung von Schädel sowie auch von Schädelkalotte zum ungemein kräftig pulsierenden Triebe der Ahnenverehrung einerseits, andererseits jedoch zu Grab und Tod, wie die Funde klar und deutlich bestätigen, nicht übersehen werden, wenn man nicht zu Fehlresultaten hinsichtlich dieser so seltsamen, auf den Sc hädel bezüglic hen vorgeschichtlichen Bräuche, der Schädelbestattnngs- sowie Schädelbecher-Sitte gelangen will. In einer Zeit, wo man dem Sc hädel die allergrößte Ehrfurcht zuteil werden ließ, wo man ihn mit Steinen wie zum Schutze umbaute, ihn sorgfältig schmückte, durch Einröteln magisch stärkte bezw. sicherte und nicht zidetzt für geheimnisvolle Kräftezufuhr Sorge trug, da wird man auch der Schädelkalotte — vorzüglich in ihrer sehr wahrscheinlichen Eigenschaft als ritueller Trinkschale resp. als Kultgeräts — diese doch ganz selbstverständlich erscheinende Ehrfurcht haben angedeihen lassen. Wie man bei den Primitiven, vorzüglich nach afrikanischem Kultgebahren die naturalistische Trinkschale der Gottheit opferte, so wird man vielleicht auch bei den Jungpaläolithikern die z. T. mit der rötlichen Farbe gezeichnete Schädelschale dem am bezw. im Grabplatz anwesend gedachten, als höhere übernatürliche Macht gewiß empfundenen Totengeist als Spende dargebracht haben. Der Totenkult der Primitiven, der ein sorgfältiges Herrichten des Schädels bei der Totenfeier bezw. dem Totenmahle kennt, wie auch das Vorkommen der prähistorischen Sehädelkalotten vorzüglich, wenn nicht gar ausschließlich an Begräbnisplätzen spricht doch nur zu laut dafür, daß man sich ihrer hier wie dort — und zwar beim Leichenschmause am Bestattungsorte — hauptsächlich, wenn nicht durchweg als
44
ritueller T r i n k g e f ä ß e bediente, durch deren G e b r a u c h m a n die mystisch-magische Gemeinschaft mit dem dahingegangenen A h n e n herzustellen erstrebte. — D a ß nun im Paläolithikum neben den mit dem Kopfe bezw. Schädel engstens verbundenen magischen Vorstellungen u n d G e b r ä u c h e n auch ein sog. M a s k e n z a u b e r eine gewiß nicht zu unterschätzende Rolle gespielt haben mag, d ü r f t e n Zeichnungen u n d Gemälde, wie sie uns teils auf vorgeschichtlichen K l e i n f u n d e n , teils aber auch bei den eiszeitlichen Wandbildern entgegentreten, zur G e n ü g e erweisen. G e r a d e die j ü n g e r e Forschung, gestützt auf ß r e u i 1 s k l ä r e n d e Untersuchungen 5"), hat sich d a r a n gewöhnt, angesichts derartiger d u r c h immer neue F u n d e sich schnell v e r m e h r e n d e n Zeichnungen — so zählte H. K ü h n 1 1 " ) unlängst (1928/29) 34 Bildwerke dieser Art! — von maskierten Menschengestalten zu sprechen, die vom steinzeitlichen Künstler bei Verrichtung rein magischer H a n d lungen wie Zaubertänzen, F r u c h t b a r k e i t s r i t e n u. dgl. wiedergegeben w u r d e n . In der T a t hat nun diese A u f f a s s u n g von solchen überaus befremdlich anmutenden, halb tierisch, halb menschlich erscheinenden Wesen viel f ü r sich, allein gerade das P r o b l e m der mutmaßlichen vorgeschichtlichen Maskier u n g s s i t i e bedarf doch wieder und immer wieder genauester N a c h p r ü f u n g . Denn dem, der ernstlich und vorurteilsfrei genug die in F r a g e stehenden Bilder, die zum Teil einander gar nicht so unähnlich sind, auf ihren Maskencharakter hin p r ü f t , mag es zunächst fern genug liegen, an eigentliche über das H a u p t gestülpte K o p f m a s k e n bezw. vor das Antlitz gelegte Gesichtsmasken zu d e n k e n , w e n n ihn nicht Erwägungen zwingender Art mit aller Konsequenz hierauf f ü h r e n müßten, und zwar Gedankengänge, die vorzüglich ein Vergleich mit parallelen Erscheinungen aus der Welt der Primitiven nahelegt. Die Bilder an sich, d. h. losgelöst von jeglicher streng methodisch vorgenommenen Einordnung in K u l t u r k o m p l e x e ganz ähnlicher Art wie die vorgeschichtlichen es sind, d ü r f t e n zunächst k a u m auf eigentliche Masken, in die sich vorgeschichtliche Menschen bei Ausübung rituell-kultischer H a n d lungen gehüllt hätten, hinweisen. — Ein Blick auf die mehr oder weniger klar durchgezeichneten, zum Teil auch wohl durch Risse u n d S c h r a m m e n entstellten sog. Maskenbilder zeigt, d a ß w i r zunächst doch n u r ganz allgemein von m i s c h g e s t a l t i g e n 59) A propos des masques quaternaires. L'Anthropologie 1914; fernerhin Observations sur les masques paléolithiques, Revue archéologicme 1914 II, S. 300 ff. 60) Kunst und Kultur der Vorzeit Europas I, S. 466.
45
W e s e n sprechen dürfen, die vielleicht auf Wesen höherer Art wie Geister, Dämonen u. dgl. hindeuten sollen, ohne daß man beim völligen Fehlen irgendwelcher literarischen Quellen über derartige Mischwesen jemals Genaueres oder gar unbedingt Sicheres wird aussagen können. D a f ü r liegen naturgemäß die Verhältnisse des Paläolithikums doch zu dunkel, und die Annahme von Geistern oder gar göttlichen Wesen bereits f ü r die Steinzeit muß selbstverständlich hypothetisch genug bleiben. —• Um nun in das Wesen derartiger rätselhaften Zeichnungen eingeführt zu werden, ist es notwendig, d a ß wir den Blick lenken auf b e s o n d e r s c h a r a k t e r i s t i s c h e B i l d e r , die vorzüglich geeignet sind, die Eigenart dieser merkwürdigen Erscheinung offenbar werden zu lassen. Zunächst fassen wir jene eigentümlich gebildeten drei Wesen näher ins Auge, wie sie uns eine bereits recht f r ü h dem Blick des Forschers zugängliche Zeichnung aus dem Abri Mege bei T e y j a t (Dordogne) cl ) darbietet. Wir sehen, um mit den Worten H. K ü h n s zu reden, in der Tat „drei undeutbare Gestalten, weder Tier noch Mensch". Der auf einem menschlich gebildeten, durch aufrechten Gang ausgezeichneten, wie zum Sprunge leicht gekrümmten Unterkörper ruhende Leib des rätselhaften Wesens ist von einer zottigen Mähne vollständig eingehüllt, ohne daß Arme und Hände irgendwie sichtbar werden. Als H a u p t ist dem Rumpf ein Ziegen- bezw. Gazellenkopf aufgesetzt, von dessen Stirn ein Horn (Haarbüschel?) bezw. wohl richtiger eine oben zurückgebogene Feder aufragt. Wollte man nun diese mischgestaltigen Wesen auf „drei Maskentänzer" deuten — eine Deutung, die von verschiedenster Seite vorgenommen wurde —, so würden einerseits die mehr oder minder gekrümmten unteren, gleich menschlichen Schenkeln gebildeten Extremitäten auf die Hüpfschritte von Tänzern hindeuten, andererseits aber Mähne und Tierkopf den Gedanken an ein übergeworfenes Tierfell sowie eine übergestülpte Ziegenmaske a u f k o m m e n lassen. — Hinsichtlich dieser drei mischgestaltigen Tänzer von Abri Mege darf man nun nicht an mehr oder weniger einleuchtend erscheinenden Einwänden, die von verschiedenster Seite erhoben wurden, achtlos vorübergehen. Ist auch die Ansicht H a m y ' s 62), daß nämlich derartige Mischwesen als bloße Karikaturen zu werten wären, von vornherein aufs entschie61) Vgl. Abb. 162 bei H. K ü h n a.a.O.; daselbst (S. 466/67) findet sich Angabe aller weiteren Literatur. 62) La figure humaine chez le sauvage et chez l'enfant. L'Anthropologie 1908, S. 394 ff.
46
denste abzulehnen, so ist doch der Einwand D e o n n a ' s " ) , der damit rechnet, daß aus einer gewissen Gewöhnung heraus der hauptsächlich Tiere zeichnende paläolithische Mensch auch den Menschenbildern unwillkürlich Tierköpfe aufgesetzt habe — entsprechend der Unfähigkeit der Primitiven zur Zeichnung •—, schon ernster zu nehmen. In ähnlichem Sinne betont L u q u e t " ) die Unfähigkeit des paläolithischen Künstlers gerade beim zeichnerischen Gestalten eines menschlichen Porträts. Allein wer weiß, wie der vorgeschichtliche Zeichner bezw. Maler bei der bildlichen Wiedergabe von Tieren zur höchsten Meisterschaft zu gelangen vermochte — man denke hier etwa an die herrlichen Malereien von Font-de-Gaume (Dordogne) —, der kann doch unmöglich die Ansicht obiger Gelehrter teilen, d a ß nämlich die vorgeschichtlichen Meister bei der Wiedergabe des Menschenkopfes resp. menschlichen Gesichtes so völlig versagt hätten. Zudem wird gerade der Kenner es vermeiden, die prähistorische Kunstentwicklung, zumal wie sie uns in der Blüteperiode des Magdalénien entgegentritt, mit den Ulivollkommenheiten niedrigster Primitivität, die Tierkopf und Menschenkopf beim zeichnerischen bezw. malerischen Schaffen nicht reinlich zu trennen vermöchte, irgendwie in Zusammenhang zu bringen. Die Meisterhand des paläolithischen Künstlers ist ganz gewiß nicht die ungelenke H a n d eines unbegabten Stümpers, die aus offensichtlichem Unvermögen heraus die Konturen von Menschen- und Tiergesicht verschmelzen ließe, vielmehr gestaltet der doch sonst so scharf beobachtende vorgeschichtliche Meister mit vollem Bewußtsein, wenn er menschliche und tierische Konturen, zumal die des Kopfes, mit viel Geschick ineinander überfließen läßt. Nicht die Wiedergabe eines genauen menschlichen Porträts bezweckt j a hier der Künstler, vielmehr sind diese in magischer Weltanschauung noch tief befangenen, hauptsächlich gewiß rituell-kultisch interessierten paläolithisdien Höhlenmaler bezw. Knochengraveure mit allem Fleiß darauf aus, f ü r ihre magischen Zwecke Mischwesen im Bilde zu gestalten, die vorzüglich durch ihre Tierprotome über das rein menschliche Niveau hinausragen und so als ganz offensichtliche, mit übernatürlichen K r ä f t e n begabte Geister- bezw. Dämonenwesen den Zauber wesentlich zu verstärken vermögen. O b m a n bei der Knochengravierung aus Mas d'Azil (Ariège) zugleich mit K ü h n (neben anderen) „unzweifelhaft eine Men63) Les masques quaternaires. Ebd. 1914, S. 107—113. Ders.: A propos des masques quaternaires. Ebd. 1914, S. 597—98. 64) Sur les caractères des figures humaines dans l'art paléolithique. L'Anthropologie 1910, S. 409—423.
47
schengestalt mit Maske" "5) wird erkennen dürfen, ist doch zumindest recht unsicher, ja erscheint mir als ganz unwahrscheinlich. Dargestellt ist 6 5 ) ein in leicht gebeugtem, wirklich „eigentümlichem" Gange dahinschreitendes Wesen, das — durch den erigierten Penis als männlich gekennzeichnet — beide Arme nach vorwärts streckt und — soweit das Fragment vermuten läßt — eine Stange resp. Lanze, die es mit den vorgestreckten H ä n d e n zu halten scheint, auf der rechten Schulter trägt. Diesem besonders durch seinen halbgebückten, wenn auch durchaus als aufrecht zu bezeichnenden Gang und durch die eigenartige Form seiner Glieder — man beachte z. B. die seltsam gedrungene Form der Beine — als anthropomorph charakterisierten Wesen eine Maske beizulegen, erscheint mir keineswegs als notwendig, ftine Mähne, die hier den Übergang vom Kopf zum Rumpf bilden könnte, fehlt gänzlich; kein einziger Gravierstrich ist am Halse bezw. überhaupt an der Schulterpartie zu bemerken, der Kopf und Rumpf voneinander trennt und evtl. als untere Maskenabschlufi-Kante gedeutet werden könnte. Vielmehr ist dies diluviale Tiermensch-Wesen völlig nackt. Das Gesicht zeigt deutlich — nach der scharf gezeichneten Stirn-NasenKontur zu urteilen — schnauzenartigen Ansatz, wobei allerdings zu berücksichtigen wäre, daß der untere vordere Teil des Gesichtes in der Zeichnung zerstört ist. Recht gut wird man dieses im Profil wiedergegebene, leider wegen der starken Beschädigung nicht mehr deutlich erkennbare Gesicht nach einer Gravierung von Hornos de la Pefia 0 0 ) ergänzen können: auch hier verläuft die Gesichtsbildung leicht schnauzenartig, während sonst nichts uns zur Annahme einer eigentlichen Maske berechtigen dürfte. Im übrigen gehört letztere Gravierung dem Typus der die Hände wie beschwörend hoch erhoben haltenden" 7 ) tiermenschlichen Wesen a n ; weiterhin ist die sonst ebenfalls völlig nackt wiedergegebene und aufrecht 65) a. a. O. S. 468/69; S. 468, Anm. 4 die weitere Literatur. Eine Wiedergabe des betr. Bildes bietet K ü h n Tafel 41 b. 66) Vgl. H. K ü h n a . a . O . Tafel 41 a; s. Alcalde del Rio, Breuil, Sierra, Cavernes Cantabriques S. 106, Fig. 96, Tafel LV. 67) Dieser befremdende Gestus läßt sich z. Zt. noch nicht mit unbedingter Sicherheit deuten. Daß er jedoch auf Vorstellungen rein magischer Art, wie sie den vorgeschichtlichen Menschen doch ganz wesentlich beherrscht haben, zurückgehen dürfte resp. daß er — um mit den Worten Thurnwalds zu reden — „mit dem Gedanken an gewisse zauberische Wirkungen .irgendwie' zusammenhängt", ist zu offensichtlich, als daß hierüber unter den einzelnen Forschern noch Zweifel bestehen könnten. — Vgl. jetzt zur Sache R. T h u m w a 1 d : Psychologie des primitiven Menschen in K a f k a s Handbuch der vergleichenden Psychologie, Bd. I, 1922, Abt. 2 unter ,Tanz\ S. 215, Fig. 8 = sog. Maskentäuzer aus der Grotte von Altamira.
48
dastehende Gestalt durch einen großen Phallus sowie einen Schwanz ausgezeichnet. Es ist durchaus bemerkenswert und gibt in der Tat zu denken, daß sich ein Forscher wie K. B e t h angesichts des soeben erwähnten Typus tiermenschlicher Wesen eher für die zeichnerische, geradezu porträthafte Wiedergabe von zeitgenössischen Erdenbürgern entscheiden möchte, als daß er mit gutem Gewissen für den Maskencharakter derartiger seltsamer Kopfbildungen eintreten könnte. Wer vermag denn auch nur mit einiger Sicherheit zu entscheiden, wie im Paläolithikum die Gesichtskonturen dieses frühen Menschenwesens verlaufen sind?! B e t h äußert sich zu dem hier vorliegenden Problem unter besonderer Betonung der magischen Natur solcher merkwürdigen Erscheinungen: „ . . . audb die seltsamen zwischen Tier und Mensch stehenden Zeichnungen aufrechter Gestalten .gehören' am ehesten in die Sphäre der Magie. Diejenigen unter diesen Gestalten, welche durchaus menschenähnlich sind und sich nur durch eine eigentümliche Kopf- und Schnauzenbildung vom gewohnten menschlichen Typus unterscheiden, müssen beinahe als mehr oder minder gelungene m e n s c h l i c h e P o r t r ä t s angesehen werden, in denen uns eine f r ü h z e i t i g e K o p f b i l d u n g d e s M e n s c h e n repräsentiert ist (?), wenn schon auch eine schwache Möglichkeit besteht, daß Zauberer mit Tiermasken dargestellt waren" 6"). — Wesentlich anders verhält es sich schon bei den Steingravierungen von L a Madeleine 0 0 ), wo in der Tat der Gedanke an maskierte Menschen auftauchen könnte. Auf jeder Seite trägt der uns interessierende Stein eine flüchtig skizzierte nackte Menschengestalt, von denen die eine auf Grund der deutlich hervorgehobenen Brust als Frau, die andere durch schlanken sehnigen Körperbau mehr als Mann gekennzeichnet ist. Beiden Gestalten ist gemeinsam, daß sie einen mit aller Deutlichkeit erkennbaren Tierkopf (die Gattung des Tieres läßt sich bei dem skizzenhaften Charakter des Bildes nicht mit Sicherheit ausmachen) tragen, bei dessen Anblick der kritische Betrachter in der Tat versucht ist, an eine große Tiermaske, die als Kopfmaske das ganze Haupt um68) Religion und Magie, ein religion sgeschi cht 1 icher Beitrag zur psychologischen Grundlegung der religiösen Prinzipienlehre. 1927, S. 198/199. Solche zum Teil recht realistisch gehaltenen Gesichtst y p e n anthropoider Wesen lassen sich gut an den .Porträt-Skizzen", die M a i n a g e seinem Werk beigegeben hat (Les religions de la Préhistoire. L a g e paléolithique. 1921, Fig. 222—28 u. Fig. 229—37), studieren. 69) Vgl. H. K ü h n a. a. O. T a f e l 40 a, b; weitere Literaturangaben ebendort S. 470, Anm. 5.
49 4
hüllt, zu d e n k e n . A u c h a u f die e i g e n t ü m l i c h e H a l t u n g b e i d e r G e s t a l t e n d ü r f t e zu a c h t e n sein: w ä h r e n d die w e i b l i c h e F i g u r b e i s e n k r e c h t n a c h o b e n g e s t r e c k t e r „ S c h n a u z e " die H ä n d e e r h o b e n h a t , l ä ß t die m ä n n l i c h e G e s t a l t die A r m e im l ä s s i g e n G e s t u s n a c h u n t e n s i n k e n , w o b e i d u r c h a u s d a h i n g e s t e l l t sein m a g , ob es sich — z u m a l bei der w e i b l i c h e n sog. M a s k e n f i g u r — u m e i n e A r t T a n z gestus, w i e u. a. K ü h n v e r m u t e t h a t , h a n d e l t . Ist n u n in l e t z t e r e m F a l l e d u r c h a u s m i t d e r M ö g l i c h k e i t e i n e r ü b e r g e s t ü l p t e n K o p f m a s k e zu r e c h n e n , so d e u t e n a n d e r e G e s i c h t s t y p e n w i e d e r u m d a r a u f hin, d a ß d e r p a l ä o l i t h i s c h e Z e i c h e n k ü n s t l e r m i t vollem B e d a c h t d a r a u f a u s g e g a n g e n ist, d e n K o p f der sonst m e n s c h l i c h g e s t a l t e t e n W e s e n m e h r o d e r m i n d e r geschickt d e n K o n t u r e n des T i e r g e s i c h t e s a n z u p a s s e n . H i e r w ä r e n vor a l l e m die r e c h t z a h l r e i c h e n sog. M a s k e n b i l d e r — m a n z ä h l t i n s g e s a m t 21 d e r a r t i g e Bilder — a u s Les C o m b a r e l l e s (Dordogne) b e d e u t u n g s v o l l 70 ). U n z w e i f e l h a f t w e r d e n hier die G e s i c h t e r der s o n s t gewiß menschlich erscheinenden Gestalten vom Zeichner b e w u ß t u n d m i t aller D e u t l i c h k e i t ins T i e r i s c h e u m g e b o g e n , w a s b e s o n d e r s die s t a r k h e r v o r s p r i n g e n d e S c h n a u z e dieser M i s c h w e s e n o f f e n b a r w e r d e n l ä ß t . D e r k r i t i s c h e B e t r a c h t e r v e r m e i n t a u s d e r Gesidhtsbildung derartiger anthropomorpher Wesen neben mehr vereinzelt a u f t a u c h e n d e n tierischen K o p f t y p e n wie Löwen-, Pferde- u n d Ziegenkopf vor allem A f f e n ä h n l i c h k e i t h e r a u s z u l e s e n 7 1 ) , w o b e i g e r a d e die A f f e n p r o t o m e d u r c h a u s v o r z u h e r r s c h e n scheint. Für die A n n a h m e von e i g e n t l i c h e n T i e r m a s k e n liegt hier, z u m a l a u c h jegliche Markierung bezw. charakteristische Kennzeichnung einer M a s k e völlig f e h l t , n i c h t der leiseste G r u n d vor, v i e l m e h r s c h e i n t der p r ä h i s t o r i s c h e K ü n s t l e r g e f l i s s e n t l i c h b e m ü h t zu sein, s e i n e n a n t h r o p o m o r p h e n G e i s t e r w e s e n bald diesen, b a l d j e n e n T i e r k o p f a u f z u s e t z e n , w o b e i er — w a s r e c h t w a h r s c h e i n l i c h ist — m i t solchem U n t e r f a n g e n b e a b s i c h t i g t h a b e n m a g , d e n m a g i s c h e n C h a r a k t e r der m e n s c h l i c h e n F i g u r e n w e s e n t l i c h zu e r h ö h e n b e z w . w i r k s a m s t zu u n t e r s t ü t z e n . W i e eine Z e i c h n u n g in T u e d ' A u d o u b e r t 7 2 ) e r k e n n e n l ä ß t , k ö n n e n solche K o p f g e s t a l t u n g e n m i t u n t e r g e r a d e z u p h a n t a s t i s c h e r s c h e i n e n , o h n e d a ß die M ö g l i c h k e i t g e g e b e n w ä r e , die K o p f 70) S. C a p i t a n , B r e u i l , P e y r o n y , Figures anthropomorphes ou humaines de la caverne des Combarelles. Congr. Int. d'Anthr. et d'Archeol. Preh. Monaco 1906. Monaco 1907 I, S. 408—415. 71) Vgl. z. B. das sehr affenähnliche Bild bei H. K ü h n a. a. O. Taf. 70 b. 72) Comte B e g o u e n , L'art mobilier dans la caverne du Tue d'Audou-
bert (Ariege), Ipek 1926. S. 219—228. Taf. 2; vgl. H. K ü h n , a.a.O. Tafel 67, b.
50
Zeichnung auf ein bestimmtes Tier zu deuten. Wie mir scheint, ist es ganz abwegig, in derartigen rätselhaften Kopfgebilden gerade wegen ihrer Undeutbarkeit Maskendarstellungen zu erblicken, was besonders H. K ü h n 7 3 ) annehmen zu müssen glaubt, wenn er sidi diesbezgl. äußert: „ ,Die Zeichnung' kann nur eine Maskendarstellung sein, denn ein der Zeichnung ähnliches Tier gibt es nicht." Diese Ungereimtheit in der Kopfgestaltung, wie sie uns u. a. auch beim tiermenschlich gebildeten Fratzengesicht auf einem Kommandostab aus der mittleren Klausenhöhle bei Essing (Niederbayern) 74 ) entgegentritt, sollte vielmehr davor warnen, solche merkwürdigen Kopf- bezw. Gesichtsbildungen, die den modernen Beschauer nur entfernt an Tiergesichter erinnern können, durchweg als Masken zu erklären. In jedem Falle tut man gut, mit einem endgültigen Urteil zurückzuhalten, umso mehr, da der eigentliche Charakter solcher anthropomorphen Wesen noch keineswegs einhellig geklärt ist. Die beste Beleuchtung empfängt das prähistorische Maskenproblem unzweifelhaft durch eine Wandmalerei aus der Höhle des Trois Frères (Ariège) ™), deren hohe Bedeutung, j a geradezu einzigartiger Wert für die uns hier beschäftigenden Fragen gar nicht verkannt werden kann. Es handelt sich um das sog. „Bild eines Zauberers", d. h. um die bildliche, recht klare Wiedergabe eines im Springschritt dargestellten anthropomorph gebildeten Wesens mit Hirschkopf und Pferdeschweif. Die menschlichen Körperformen der merkwürdigen Gestalt liegen klar zutage: die ganze untere Hälfte des Körpers ist bis auf den Pferdeschwanz rein menschlich gebildet, Beine, Gesäß, Rücken und Leib sind durchaus als Gliedmaßen eines Menschen zu verstehen. Allein an die Stelle der Hände sind tatzenartige Vorderpfoten getreten und ein tierisch gebildeter Nacken — vielleicht noch verbunden mit einer Mähne bezw. einem vorne sichtbar werdenden Bart — leitet zum das große Geweih tragenden Hirschkopf über. Daß, wie K ü h n richtig bemerkt hat ™), „Einzelheiten wie die Behaarung der Ohren, die runden Augen, die Nasenpartie, die Verzweigungen des Geweihs u. dgl. m. sehr sorgsam und genau aufgezeichnet sind", spricht evident für das hohe künstlerische Können des diluvialen, mit großer Meisterschaft gestaltenden Porträtisten von des Trois Frères. Mag man nun in dieser problematischen tiermenschlichen 73) a . a . O . S. 474. 74) Vgl. M e n g h i n a. a. O. Tafel XV, 7. 75) Vgl. ebd. Tafel XV, 8; H. K ü h n , a . a . O . (S. 474, Anm. 5) Angabe weiterer Literatur. 76) a. a. O. S. 474/475.
Tafel 76a,
daselbst
51
Figur zunächst ein anthropomorph gebildetes bezw. mischgestaltig vom Künstler wiedergegebenes Geisterwesen erblicken, das aus magischen Gründen an die Höhlenwand von Trois Frères gleich Hunderten von anderen Bildern gemalt ist, so spricht doch andererseits vieles dafür, daß dies Bild auf eine dem wirklichen Leben abgelauschte, sich im Hüpfschritt ergehende Maskenfigur zurückgehen könnte, indem so der steinzeitliche Maler zur Wiedergabe seines mischgestaltigen Geister- bezw. Dämonenwesens sich einen zeitgenössischen, in rituell-magischer Tanzhandlung sich bewegenden Maskentänzer zum Modell nahm. Wer will, mag dann zugleich mit K ü h n s geistvoller, allerdings in keiner Weise beweisbarer Vermutung daran denken, daß der „Zauberer" — wie B é g o u e n die rätselhafte Gestalt als erster bezeichnete — gewissermaßen als priesterlicher Kultmaler sich selbst an der Höhlenwand im Selbstporträt — zum Zwecke besonderer magischer Stärkung — verewigt habe, indem er, „der möglicherweise viele dieser Bilder gemalt hat, zuletzt sich selbst gemalt ,habe' im Augenblick der magischen Handlung, im Moment des Tanzes, der Beschwörung" 70). Für den, der in der Tat im Mischwesen von Trois Frères die bildliche Wiedergabe eines d i l u v i a l e n Maskent ä n z e r s zu erkennen vermeint, dürfte sich der eigentümliche Mischcharakter des Körpers der Gestalt unschwer erklären: der Kulttänzer hat sich in eine Tiermaske gehüllt, wenn er sich eine Hirschdecke umlegt bezw. den Kopfbalg eines Hirsches über das Haupt zieht, fernerhin sich die Tatzen eines Tieres (eines Tigers resp. Löwen?) über die Hände und Arme streift und sich schließlich einen Pferdeschweif umbindet. So hätten wir es denn bei diesem maskierten „Zauberer" mit einer „zusammengesetzten Maske" zu tun, d. h. mit einer Maskierung, die sich auf verschiedene Teile des Körpers erstreckt. — Die Maskenfigur von Trois Frères bewegt sich unverkennbar in einer ganz bestimmten Tanzbezw. Springstellung; auf den Zehen des einen Fußes hüpfend — der andere Fuß ist leicht zurückgezogen — hält der Tänzer seine Hände in konventionellem Tanz- bezw. Springgestus nach vorne gestreckt. Somit wird vom Akteur eine ganz charakteristische Haltung angenommen, die durchaus nicht vereinzelt im Jungpaläolithikum auftritt, vielmehr uns auch sonst bei vielen anderen maskenverdächtigen Gestalten, insbesondere des Magdalénien, entgegentritt, wobei nur besonders auf die Bilder aus dem Abri Murat und Les Combarelles hingewiesen zu sein braucht. Alle diese gewiß dem Tierleben abgelauschten, dann mit aller Sorgfalt — vielleicht im kultischen Schauspiel unter der Form der wir-
52
k u n g s k r ä f t i g e n magisch-rituellen H a n d l u n g — n a c h g e a h m t e n B ü c k t a n z - D a r s t e l l u n g e n zielen auf einen festen, t r a d i tionell erhärteten T y p u s hin, der uns in reinster F o r m in j e n e r skizzenhaften Knochengravierung von Abri M u r a t zu Rocamadour 77) vorliegt. Die Szene, die das Bild zu veranschaulichen sucht, ist, so eigentümlich sie zunächst auch immer a n m u t e n mag, d u r c h a u s eindeutig und erlaubt daher nicht, in verschiedener Weise interpretiert zu werden. Wir erblicken zwei deutlich den Tierkopf tragende menschliche Gestalten, die beide d e n K ö r p e r n a c h vorne geneigt h a b e n ; die vordere Figur v e r h a r r t in sehr gebückter Stellung, w ä h r e n d die hintere ihren O b e r k ö r p e r n u r leicht vorgebeugt hat u n d die Arme nach vorne zu strecken scheint. Dieser Zeichnung von Abri Murat tritt nun j e n e bildliche Darstellung von Les Combarelles zur Seite, die dieselbe Szene im Bilde festzuhalten sucht; auch hier schleichen zwei menschliche Gestalten in stark gebückter H a l t u n g dahin, wobei die hintere, die H ä n d e in üblicher Weise nach vorn streckende F i g u r durch d e n Phallus als Mann gekennzeichnet ist ™). W ä h r e n d man in letzterem Falle wohl k a u m von einer ausgeprägten tierischen Bildung des Kopfes w i r d sprechen d ü r f e n , zeigt die Zeichnung aus dem Abri-Murat d u r c h stark hervorspringende Schnauzen als T i e r p r o t o m e n markierte Köpfe. Es ist nun überaus wahrscheinlich, d a ß vorzüglich die auf dem Knochen von Abri M u r a t wiedergegebene Szene eine H a n d lung darstellen soll, die im Leben des prähistorischen Menschen von hervorragender Bedeutung war, d. h. eine rituell-kultische H a n d l u n g f i n d e t hier statt, die doch ganz offensichtlich auf die G e p f l o g e n h e i t e n des Tierlebens anspielt. Was w i r hier vor uns haben, ist wirklich, wie z. B. H. K ü h n mit Recht andeutet, die lebensvolle „ . D a r s t e l l u n g ' eines Fruchtbarkeitst a n z e s , in dem der Zeugungsakt der Tiere symbolisch gestaltet w i r d " 7 9 ) . G e w i ß mag man auch hier wieder hinsichtlich dieser Knochengravierung zunächst an die bildliche Wiedergabe von mischgestaltigen Fruchtbarkeitsdämonen, von z a u b e r k r ä f t i g e n Zeugungsgeistern, die ihre tierische N a t u r in keiner Weise verleugnen, d e n k e n ; allein sobald man andererseits ernstlich berück77) Vgl. L e m o z i (er ist zugleich der Entdecker dieser wertvollen Knochengravierung!), Fouilles dans l'abri sous roche de Murât, Commune de Rocamadour im Bulletin de la Soc. préh. française 1924, S. 17—58 (S. 43); s. ferner die Skizze bei H. K ü h n a.a.O. S. 470, Abb. 164. 78) Vgl. H. K ü h n a.a.O. S. 472, Abb. 165; dortselbst Angabe weiterer Literatur. 79) ebd. S. 471.
53
sichtigt, d a ß derartige Szenen im realen Leben von Menschen, Priesterfiguranten bezw. Kultschauspielern recht wohl zur lebendigen Darstellung gelangt sein können — gewiß zum Zwecke der magisch bewirkten Steigerung der Fruchtbarkeit —, so kann gar nicht außer acht gelassen werden, daß an die Stelle des im Bilde uns entgegentretenden tierköpfigen Fruchtbarkeitsgeistes nunmehr ein Figurant trat, der die Tiermaske trug. Im Schmucke dieser Tiermaske war er selbst bei Ausübung des rituellen Zeugungstanzes zum Fruchtbarkeitsdämon geworden, lebte in ihm die Yitalpotenz, eben das geheimnisvolle Kraft-Fluidum des Zeugungsgeistes. Die magische Wirkung derartiger Maskentänze mag man noch dadurch zu erhöhen gesucht haben, daß man den gewiß in traditionellen Formen sich vollziehenden Fruchtbarkeitstanz direkt vor der die gleiche Szene symbolisierenden bildlichen Darstellung an der Höhlenwand, d. h. also vor dem eigentlichen „Kultbilde" stattfinden ließ. Hierbei braucht nur hingewiesen zu werden auf die Fundtatsachen von Tue d'Audoubert 8 "), wo sich die Fußspuren der „Kulttänzer" nur um weniges entfernt von dem Kultbilde, d. i. hier: den Skulpturen der beiden im Augenblick des Bespringens dargestellten Bisons — es handelt sich also auch in diesem Falle um die A u s l ö s u n g von Fruchtbarkeitszauber d u r c h B i l d u n d T a n z — gefunden haben. Den Charakter des ganz in der Nähe der beiden Fruchtbarkeits-Symbole gelegenen Tanzplatzes hat B é g o u e 11 ganz zu Recht als „Kultstätte f ü r magische Zeremonien" erkannt, wobei es dem verdienten Forscher nicht entgehen konnte, daß die Fußabdrücke d a f ü r Zeugnis ablegen, d a ß junge Menschen beiderlei Geschlechts vor der Darstellung des Fruchtbarkeitsbildes der Tiere zeremonielle Tänze a u f g e f ü h r t haben müssen 81). — Somit wäre also durchaus wahrscheinlich gemacht, daß bereits in vorgeschichtlicher Zeit, vorzüglich im Magdalénien maskierte Figuranten — vielleicht, was recht einleuchtend, unter der traditionellen Form der Kulthandlung — Fruchtbarkeitstänze aufgef ü h r t haben, um so die Zeugungskraft magisch zu beleben. D e n mischgestaltigen Fruchtbarkeitsdämonen, wie sie Knochengravierungen sowie Höhlenwandbilder uns im Bilde zeigen, entsprechen die in eigentümlicher Gangart sich bewegenden Maskentänzer, die das geheimnisvolle, Zauberkraft auslösende Gebahren der im Bilde erscheinenden, ebenfalls magisch belebt zu denken80) Vgl. Comte B é g o u e n , Les statues d'argile de la caverne du Tue d'Audoubert (Ariège). L'Anthropologie 1912, S. 663. 81) Vgl. auch H. K ü h n a. a. O. S. 464.
54
den dämonischen Mischwesen im Schmucke der Tiermaske nachahmen und so im Fruchtbarkeits- bezw. Zeugungstanz den Zauber zu verstärken suchen. — Die Maskenbilder des Magdalénien, von denen gerade die besten, d. h. die am deutlichsten als solche gekennzeichneten recht wohl unter dem Gesichtspunkt der kultischen Maskierung betrachtet werden können, sind gleich anderen Erzeugnissen prähistorischer Kunstübung wie die Pfeilzeichnungen an resp. auf Tierkörpern, die Fanggeräte bei resp. neben Tierkörpern, die Einschußlöcher auf Skulpturen u. dgl. m. als P r o d u k t e m a g i s c h e r W e l t a n s c h a u u n g zu werten ; man sucht einen Analogiezauber auszuüben, indem man den magischen Vorgang selbst im Bilde festhält und so f ü r die Dauer geheimnisvolle K r ä f t e — zumal f ü r die Jagdinteressen; aber auch, wie uns die sog. Maskentänzer-Darstellungen lehren, für die Interessen menschlicher wie gewiß dann auch tierischer Fortpflanzung — sich zu sichern sucht. Gerade das Auftauchen von sog. Maskenbildern zeigt uns nun, daß man, wenn man sich dämonenartige Mischwesen im Bilde schuf, bemüht war, Kräfte übernatürlicher Art aus dem Geisterreich herbeizuziehen und sie für sich und zwar selbst f ü r ureigenste vitale Interessen nutzbar zu machen. Der vorzüglich auf die Jagd bezüglich Fang- und Tötungszauber hat neben sich den Fruchtbarkeitszauber, unter dem jener Maskenzauber hauptsächlich zu subsumieren wäre. In ähnlicher Weise wie bei der Schädel- bezw. Kopf-Idee sind auch hinsichtlich des Maskenproblems bezw. des mit der Maske engstens verbundenen Zaubers e t h n o g r a p h i s c h e P a r a l l e l e n von allergrößtem Werte; sind sie es doch gerade, die uns willkommenen Aufschluß zu geben vermögen über sonst schwer bezw. überhaupt nicht verständlich werdende steinzeitliche Sitten und Gebräuche. Auch der Primitive pflegt die Fellmaske anzulegen bezw. sich den Kopfbalg eines Tieres überzustülpen, um so der geheimnisvollen Kräfte — zunächst wohl nur der reinen Vitalk r ä f t e ! — des Tieres teilhaftig zu werden 82). So wird die Tiermaske die Vermittlerin der Tierkraft an den Menschen, und wenn der Maskentänzer im Tanze das Gebahren eines bestimmten, d. h. des durch seine Maske repräsentierten Tieres nachzuahmen bestrebt ist, so sucht er sich auf magische Weise beim Zaubertanze mit den geheimnisvollen, aus der Fellmaske auf ihn überströmenden Energien zu erfüllen. Von hier aus fällt klärendes Licht auf 82) Vgl. des genaueren unsere diesbezgl. Ausführungen in Teil II vorliegender Studie.
55
die Fruchtbarkeitstänze der maskierten paläolithischen Figuranten, die — als Tiere maskiert — den Zeugungsakt der Tiere symbolisch darzustellen suchen. Auch sie werden gleich den primitiven, die Tiermaske tragenden Maskentänzern, wenn sie sich bei Ausübung des Fruchtbarkeitstanzes in Tierfelle hüllten bezw. sich Tierkopfbälge übers H a u p t zogen, durchaus davon überzeugt gewesen sein, daß auf geheimnisvolle Weise die K r a f t der Tiere in sie einzöge und so die magische Wirkung des rituell-kultischen Tanzes eine ganz wesentliche Steigerung erführe. — Vorzüglich ist es aber nun d i e J a g d s p h ä r e , in die sowohl der paläolithische wie auch der rezent-primitive Mensch hineingestellt ist, die uns auf einen Gebrauch der Tiermaskierung mit aller Deutlichkeit hinweist. Neben dem Verfolgen und Hetzen des Wildes — zumal wenn es sich um die ebenen Flächen der Steppen und Grasländer handelt — ist es bei den Primitiven die am weitesten verbreitete Jagdmethode, das aufgespürte Jagdtier unbemerkt zu beschleichen und dann aus dem Hinterhalt mit einem wohlgezielten Speerwurf bezw. Pfeilschuß zu erlegen. Der anschleichende bezw. auf dem Anstand liegende primitive Jäger bedient sich nun besonderer Hilfsmittel, um sich — den Blicken des Wildes verborgen — an das Beutetier heranzupirschen. Da sind zunächst die sog. „Jagdschirme" von Bedeutung, die teils als „feste Jagdsehirme" am Erdboden (nahe am Futterplatz) bezw. im Geäst eines Baumes errichtet werden, teils aber auch als sog. „bewegliche Jagdschirme" vom Jäger beim Beschleichen des Tieres vor dem Körper als Sichtschutz getragen werden. „So besteckten", wie M. S c h m i d t 8 3 ) ganz richtig in diesem Zusammenhang bemerkt, „die Paressi-Indianer ein etwa ein Meter hohes, aus Holzund Rohrstäben zusammengefügtes Gestell im Gebrauchsfalle mit Palmblättern und anderem Laub und hielten dasselbe beim Beschleichen des Wildes maskenartig vor sich". Auch das Sich-Verhüllen mit Zweigen mag hier und da vom primitiven Jäger geübt werden. Eine besonders beliebte, weil um so sichereren Erfolg versprechende Jagdmethode ist jedoch die direkte Angleichung des Jägers an die äußere Erscheinung des zu erlegenden Tieres, indem er zu seiner Verkleidung die Naturhaut des betr. Jagdtieres wählt bezw. sich einer entsprechenden, aus dem Kopfbalg eines Tieres gleicher G a t t u n g hergestellten Gesichtsmaske bedient, wobei noch die Nachahmung von Locktönen ein unbemerktes Näherheran83) „Völkerkunde" 1924, S. 139. Derartige Jagdbräuche sind auf rezentprimitivem Boden zu allgemein, als daß sie noch im einzelnen genauer Belege bedürften.
56
kommen an das Beutetier unterstützt haben mag. Häufiger wird uns von primitiven Völkerstämmen mitgeteilt, daß sie sich auf der Jagd in Tierfelle zu hüllen pflegen. So lieben die nordamerikanischen Indianer ein Sicheinhüllen in Hirsch- oder Antilopenfelle, wenn sie der Hirschjagd nachgehen, während sie f ü r die Büffeljagd Wolfsfelle bevorzugen 8 4 ). Der Buschmann Südafrikas legt sich auf der Straußenjagd einen abgezogenen Straußenbalg um. So zeigt ein oft wiedergegebenes Gemälde der Buschmänner — derartige Buschmannmalereien in den Höhlen und auf abhängenden Felswänden sind als Reste einer älteren Kulturepoche dieses Volkes anzusprechen —SG) einen auf der Straußenjagd begriffenen, den Bogen mitführenden Eingeborenen, wie sein Leib fast völlig durch die Gewandung des Straußes verhüllt wird. Ganz auf der gleichen Linie bewegt sich, was uns S t r a b o . der auch sonst von Resten primitiver Sitten und Gebräuche willkommene Kunde gibt, über eine in den Gegenden am Arabischen Meerbusen geübte Maskierungssitte zu berichten weiß SB). So hätten sich z. B. die „Kasuaresser" unter Anwendung einer eigentümlichen Fangmimik derartiger naturalistischer Jagdverkleidungen bedient, um die ahnungslosen Tiere in die Falle zu locken. „Man jagt sie — die Kasuare — teils mit Bogen, teils in Bälge der Kasuare gehüllt, indem man den rechten Arm mit dem TIalsteil umhüllt und ihn so bewegt, wie die Tiere den Hals bewegen, mit dem linken aber aus einer umgehängten lasche Getreidekörner ausstreut und die dadurch herbeigelockten Tiere in Talschluchten zusammentreibt, wo sie bereitstehende Leute mit Knütteln totschlagen. Diese Vogelbälge benutzen sie als Hüllen." Ob diese von S t r a b o so ausdrücklich gekennzeichnete Arm-Maskierung auf die sog. „zusammengesetzte Maske" hindeuten dürfte, sei, obwohl gar nicht so unwahrscheinlich, dahingestellt. — Ganz Entsprechendes findet sich nun bei v o r g e s c h i c h t lichen Verhältnissen. Auch der paläolithische Jäger pflegte die Tiermaskierung anzulegen, wenn er sich unbemerkt 84) Es mag in diesem Zusammenhang genügen, auf eins der trefflichen, vom Forscher selbst nach dem Leben geschaffenen Gemälde C a t l i n s hinzuweisen (Indianer Nordamerikas. 1924, farbige Tafel XIII: Büffeljagd unter dem weißen Wolfsfell.). Über Kopf, Rüdcen und Lenden haben die in der Linken Pfeil und Bogen nahenden, kriechend sich den Beutetieren nähernden beiden Jäger den Wolfsbalg gezogen, so daß der größte Teil des Körpers vom weißen Tierfell verhüllt erscheint. 85) Man vgl. z. B. die bildliche Wiedergabe bei M a i n a g e a. a. O. Abb. 212 auf S. 380, die uns die drastische Szene gut vor Augen führt; cf. Altamira, p. 185. 86) Erdbeschreibung, 16. Buch, Kap. IV, 11.
57
dem Beutetier, zumal dem Büffel zu nähern suchte. Hier sei zunächst aufmerksam gemacht auf ein Felsbild aus der Lybischen Wüste, das H. B a r t h 8 7 ) auf der Station Teli-ssarhe entdeckte und im Bilde wiederzugeben f ü r wert erachtete. Die Deutung, die er dem Bilde gegeben hat, nämlich daß es sich um Göttergestalten handele, die um ein O p f e r k ä m p f e n , ist heute im Ernst nicht mehr aufrecht zu erhalten. Der wirkliche Sinn der Felsgravierung liegt zu offensichtlich zutage, als daß er irgendwie verkannt werden könnte. Nicht das leiseste deutet im Bilde auf den Opfergedanken, den B a r t h der Szene unterzuschieben sucht, hin, vielmehr klingt hier einzig und allein das Jagdmotiv an: zwei in Jagdverkleidung erscheinende, deutlich die Tiermaske tragende Schützen umschleichen einen Wildstier, wobei sie geflissentlich bemüht sind, ihre Bogen zu spannen und ihre Pfeile auf das entfernt äsende 8S) Beutetier abzuschießen. Andererseits aber wird man dem Entdecker des Bildes, eben B a r t h , gerne beistimmen können, wenn er hinsichtlich der Frage nach der Urheberschaft dieser Felszeichnung nicht an Römer und Ägypter denkt, sondern auf die Eingeborenen als die ursprünglichen Einwohner dieser Gegenden, d. i. die Garamanten deutet, wobei er die Möglichkeit karthagischer Beeinflussung in Erwägung zieht. Soweit die B a r t h ' s e h e Zeichnung erkennen läßt, scheinen die zwei maskierten Schützen ihren ganzen Oberkörper in die Tierhaut eingehüllt zu haben; bei dem von links eilends heranschreitenden Jäger bauscht sich das frei im Rücken schwebende Tierfell weit zurück und hängt der Tierschwanz — oder etwa eine J a g d w a f f e wie eine Keule?! — von der H ü f t e herab. — Noch ein anderes vorgeschichtliches Bild vermag uns trefflich einen Einblick in die paläolithischen Jagdmethoden zu geben, und zwar haben wir diesmal kein Felsenbild, sondern eine der so zahlreich bei F u n d e n uns entgegentretenden Knochengravierungen vor uns. Der „Kommandostab" von Laugerie-Basse (Dordogne) 8n) gibt deutlich erkennbar einen den Auerochsen bezw. Bison jagenden Menschen wieder, wie er sich — auf dem Erdboden langgestreckt liegend — heranzupirschen sucht. O b allerdings der auf allen Vieren von hinten an das Beutetier herankriediende (ob bärtig zu denkende?) Jäger als maskiert anzusehen ist — eine eigentliche Kopfmaske scheint er wohl kaum zu tragen—, 87) Reisen und Entdeckungen in Nord- und Zentralafrika in den Jahren 1849—1855. 1859, I. Bd., S. 82 ff.; vgl. H. K ü h n a . a . O . Abb. 142, S. 423. 88) Als solches ist es beachtlicherweise kleiner gezeichnet als die beiden Jägergestalten. 89) Vgl. die photographische Wiedergabe bei H. K ü h n a . a . O . Tai. 18b.
58
muß bei dem mehr skizzenhaften Charakter der Zeichnung durchaus unentschieden bleiben. Auch läßt sich das hinter dem Nacken des Mannes emporragende Gebilde — eine Hand, die den Speer schleudert?, eine Tatze des umgeschlagenen Tierfelles?! — nur schwer deuten. Den ersten Teil vorliegender Untersuchung abschließend möchte ich nicht unterlassen, noch einen kurzen Blick zu werfen auf d i e k u l t u r v e r g l e i c h e n d e n T h e o r i e n , wie sie M e n g h i n in seiner bereits oben erwähnten „Weltgeschichte der Steinzeit" dargeboten hat. Unsere Ausführungen haben gezeigt, daß es in der Tat recht fruchtbar ist, Probleme, wie sie die Paläoarchäologie uns darbietet, in das Licht ethnographischer Kulturforschung zu rücken. Gerade die Idee von Kopf und Maske empfiehlt ganz besonders eine Gegenüberstellung von rezenter Primitivität, insbesondere der frühen bezw. mittleren Stammkulturen mit den miolithischen Kulturen, wobei eine magische Wertung von Kopf bezw. Schädel wie auch Maske beiden Kulturkomplexen gemeinsam sein dürfte. M e n g h i n ist mit aller Entschiedenheit für einen inneren Zusammenhang bezw. eine Mischung paläoarchäologischer und ethnographischer Kulturelemente eingetreten und zwar vorzüglich da, wo es sich um Eigentümlichkeiten rein kultischer Art handelt. „Auf dem Gebiete des Kultes", so läßt der verdiente Forscher sich vernehmen, „läßt sich von dem Augenblicke klarer und reichlicher Bezeugung an eine Mischung totemistischer und altpflanzerischer Yorstellungskreise evident machen. Es ergibt sich da die schönste Übereinstimmung mit rezenten Kulturen, in denen gleichartige Mischungen unter Vorwiegen des totemistischen Charakters vorliegen. J a man kann — so versichert M e n g h i n dann im Brustton vollster Uberzeugung —, im Lichte der ethnographischen Parallelen, die ganze religionsgeschichtliche Entwicklung des mitteleuropäischen Miolithikums mit Händen greifen" 9 0 ). Kopf- und Maskenzauber, eingebettet in die eigentümlichen Vorstellungen des Toten- bezw. Ahnenkults, sind geradezu bezeichnend für die totemistisch-mutterrechtliche Kultur. Die Schädelbestattung wie auch die eigentümliche Verwendung der Schädelbecher, wie sie uns das Jungpaläolithikum, vorzüglich die Blütezeit des Magdalénien vor Augen führte, weisen, wie wir M e n g h i n " ) zugeben können, mit aller Deutlichkeit in die Richtung des altpflanzerischen Schädel- und Ahnenkultes, ganz wie auch die Sitte der sog. zweistufigen Bestattung, welch letztere 90) ebd. S. 506/507. 91) ebd. S. 508.
59
für verschiedene miolithische Kulturen nicht unmöglicherweise bestanden haben mag, aus den eigentümlichen Vorstellungen des rezent-primitiven Toten- bezw. Ahnenkultes heraus am besten verständlich gemacht werden könnte. Eine wie große Bedeutung vollends der Maskenzauber zumal bei den Totentänzen am Ahnenfeste bezw. bei den Fruchtbarkeitstänzen an Erntefesten in der rezenten Primitivität angenommen hat, ist genugsam bekannt und bedarf daher keiner weiteren ausführlichen Darlegungen; die miolithischen, aus den steinzeitlichen Knochengravierungen bezw. Felsenzeichnungen mutmaßlich zu entnehmenden Maskentänzer mögen demnach ebenfalls an rezent-primitive Kulturphänomene anknüpfen.
60
TEIL II. Kopf- und Maskenzauber bei den Primitiven. Im folgenden 2. Teil der vorliegenden Untersuchung ist es nun meine Aufgabe, d i e I d e e v o n K o p f u n d M a s k e sowie die mit diesen verbundenen eigentümlichen Zaubervorstellungen einzig und allein für die n a t u r v ö l k i s c h e Sphäre, eben die Welt der Primitiven aufzuzeigen. Welche PrimitivVölkerschaften hier in Anbetracht 'unseres Themas bezw. unserer Fragestellung gemeint sind, werden die kommenden Ausführungen dann im einzelnen bekannt geben. Ganz allgemein können wir indes hier mit kompetenten Forschern der kulturgeschichtlichen Schule an die totemistische Kultur denken, von der wiederum jene Zweiklassenkultur einen besonderen Zweig darstellen dürfte, während ein Forscher wie G r ä b n e r das mit dem Schädel resp. Kopf in Verbindung stehende Zauberwesen den mutterrechtlidien „bodenbauenden Kulturen" — und zwar zunächst den älteren — beizurechnen gewillt ist. „Dem Bodenbauer", so läßt G r ä b n e r sich in seinem ,Weltbild der Primitiven' vernehmen, „drängten sidi die Ruhestätten seiner Toten ständig in und um die Wohnsitze zusammen. Die Furcht (vor den Verstorbenen) mußte abnehmen, das Zusammengehörigkeitsgefühl steigen. Tatsache ist, daß nun in den älteren bodenbauenden Kulturen das Bestreben auftritt, die Kräfte — Lebens- und Zauberkräfte — der Toten für die Gemeinschaft nutzbringend zu erhalten" 1 ). Diese Bräuche — unter ihnen finde sich eben auch der Schädelkult — schlössen sich vielfach noch dem alten Zauberglauben an. Soweit G r ä b n e r . Fragen wir nun nach den Völkergruppen im einzelnen, bei denen wir eine besondere Bewertung und Behandlung des mit Zauberriten engstens verbundenen Kopfes oder Schädels wahrzunehmen vermögen, so können wir, wie meine folgenden diesbezgl. Ausführungen dies dann an den betreffenden Stellen offensichtlich 1) Das Weltbild der Primitiven. Eine Untersuchung der Urformen weltanschaulichen Denkens bei Naturvölkern. 1924, S. 35.
61
aufzeigen und im einzelnen belegen werden, unschwer eine Scheidung der Kopf- resp. Schädelverehrer in bestimmte Hauptgruppen, und zwar je nach der verschiedenartigen Schädelbehandlung, der verschiedenen der Kopfreliquie geltenden Präparierungsmethoden vornehmen. Da haben wir zunächst die Primitiv-Völker Südamerikas, die Jivaro, Mundurucu und Peruaner, weiterhin die in der Südsee auf Neuseeland, bei denen der ganze Kopf mit seinen Weichteilen, evtl. jedoch auch nur letztere allein, d. h. die ganze Kopf- und Gesichtshaut durch Räuchern, Dörren bezw. Trocknen erhalten wird. Auf der anderen Seite ständen dann V ölkersdiaften wie hauptsächlich die Eingeborenen Neuguineas und Nord-Neumecklenburgs, die die Schädelmazerierung in einer Weise vornehmen, daß sie von dem Schädel, d. h. dem eigentlichen Knochengerüst die Weichteile entfernen und dann die Gesichtszüge durch Modellierung in Kitt- oder Tonmasse wieder herzustellen suchen. Allein wie verschieden die Modellierungs- bezw. Präparierungsbräuche im einzelnen bei den verschiedenen Völkern nun auch immer sein mögen, es läßt sich andererseits doch nicht leugnen, daß hier — aufs Ganze gesehen — eine gewisse Einheitlichkeit in der Behandlung und kunstvollen Zubereitung des Kopfes besteht, die uns gewiß berechtigen darf, von einem Kopfkultus bezw. Schädelzauber der Primitiven ganz allgemein zu sprechen, wobei es wiederum erlaubt sein mag, die einzelnen im Motiv der Schädelbehandlung divergierenden Völkergruppen, soweit es nur immer angängig erscheint, im Interesse unserer Problemstellung als ein einheitliches Ganze zu behandeln. Ich wende mich, nunmehr in die engere Untersuchung eintretend, zunächst der eigentümlichen S c h ä t z u n g d e s l e b e n d e n K o p f e s , d. h. des Kopfes des noch lebenden Menschen zu, wie uns eine solche — mehr oder minder ausgebildet — bei den verschiedensten rezent-primitiven Völkerschaften entgegentritt. Hauptsächlich auf Neuseeland scheint diese besondere Bewertung des lebenden Kopfes geherrscht zu haben, und zwar waren es hier vorzüglich die Köpfe von Häuptlingen bezw. Persönlichkeiten höheren oder gar höchsten Ranges wie „geheiligter" Personen, Priesterhäuptlinge u. dgl., die besonders, weil als Sitz von geheimnisvollen Kräften angesehen, respektiert wurden. Tregear weiß zu berichten, daß bei den Maori eine Sache durch Bezeichnung als Kopf tabu gemacht wird, indem so eine „Meidung" geschaffen wurde, die gerade für das niedere Volk verbindlich war. Wollte u. a. ein Grofihäuptling z. B. ein Kanu tabu machen, so berührte er es und sprach zugleich dabei den Meidungsbann über
62
das Gerät aus: „Dies ist mein Kopf. " Brach dann ein sich noch mächtiger dünkender Edelmann den Bann, indem er unter ausdrücklicher Herabsetzung der Machtstellung dieses Häuptlings sich des Fahrzeuges bemächtigte, so hatte er mitunter harten Kampf mit dem seiner Vorzugsrechte entsetzten und somit seines ManaCharakters verlustig gegangenen Häuptlings zu gewärtigen 2 ). Dieser für den Häuptling bezw. Priesterfürsten (Ariki) bezeichnende „Kopfbann" findet sich dann bei den Maori bis ins einzelne ausgebildet. So pflegte man die Maori-Könige resp. Großhäuptlinge, die ihrer eigentümlichen Maua-Natur wegen möglichst im Freien und dann nur aus der für sie allein bestimmten Schüssel essen sollten, mit langen Löffeln zu speisen, damit sie selbst beim Essen nicht den krafterfüllten Kopf berührten und dadurch sich der Kraft beraubten 3). Auch das Trinken dieser Vornehmen fand in höchst seltsamer Weise statt, um ein Verletzen des Kopfbaimes zu vermeiden. Man goß der mit dem Kopf-Tabu belegten Person die zu trinkende Flüssigkeit aus einem noch von keinem anderen benutzten Gefäß in den Mund, ohne daß dieses die Lippen des Trinkenden irgendwie berühren durfte. Es bewegt sich ganz auf gleicher Linie, wenn das beim Trinken aus dem Munde eines Priesters zur Erde herabträufelnde Wasser den betreffenden Platz „tabu" werden ließ. Uberhaupt gelten Kopf und Rücken des Maori-Häuptlings für ganz besonders heilig 4 ); daher mußte man auch auf mit dem Kopf resp. dem Rücken in engster Verbindung stehende Gegenstände wie z. B. Kamm, Haarbinde, Schultermatte u. dgl. mit allem Fleiß achtgeben, daß sie nicht etwa in die Hände des „gemeinen Mannes" fielen und so durch dessen Berührung profaniert würden. So wird auch verständlich, daß man das Berühren des „heiligen" Kopfes als schweres Verbrechen ansah, das zu heftigen Feindseligkeiten führen konnte, und selbst einem Verwandten gleichen Ranges, der sich beim anderen als Friseur betätigt hatte, lag es ob, sich bestimmten Reinigungszeremonien zu unterwerfen, um sich so des beim Kämmen oder Scheren des Haares übernommenen Kraftstoffes zu entledigen. J a „der Kopf2) The Maori race. 1904, S. 192 ff. Diese charakteristische Beziehung auf den Kopf steht ganz im Lichte des Schädelkults der Maori; vgl. ebd. S. 370. 3) Vgl. neben T r e g e a r ebd. auch das „Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens", hg. von Hanns B ä c h t o l d - S t ä u b l i Bd. II, 1929, Spalte 1040, 15. ad 5 c. 4) Recht beachtenswert sind die Beispiele, die F. R. L e h m a n n : Die polynesischen Tabusitten. 1930 zur Illustrierung dieser eigentümlichen Erscheinung gesammelt hat; vgl. den Abschnitt „Kopf- und Rückentabus" ebd. S. 207—213.
63
bann ging so weit, daß vom Kopf eines Großhäuptlings nicht einmal gesprochen werden d u r f t e " 5). Für die Anschauungen Polynesiens ist es weiterhin bezeichnend, d a ß auf gewissen Inselgruppen zwischen der Mattygruppe und den Admiralitätsinseln zur Zeit der Mannbarkeitsriten eine auszeichnende Heilighaltung des lebenden Kopfes unter besonderer Berücksichtigung der Haartracht uns begegnet 6 ). Von diesem Zeitpunkt an gilt der Kopf des Mannes als heilig, keine Frauenhand darf ihn berühren, vielmehr nimmt der Häuptling in eigener Person am Eingeweihten das Flechten der Frisur vor — in der Tat eine hödist gewichtige, demNovizen zugute kommende Zeremonie! — Schließlich sei noch erwähnt, d a ß sich auch f ü r Neu-Guinea jene seltsame magische Bewertung des lebenden Kopfes nachweisen läßt. Wie Bronislaw M a 1 i n o w s k i , der eingehende Schilderungen von den Sitten und Gebräuchen der Eingeborenen auf den Trobriand-Inseln (Britisch-Neu-Guinea) gibt, uns mitzuteilen f ü r wert erachtet, ist „die Unverletzlichkeit der Person des Häuptlings vor allem in seinem Kopf lokalisiert, der von einem wahren Heiligenschein strenger Tabus umgeben ist. Ganz besonders heilig sind Stirn und Hinterhaupt samt dem Nacken. Nur gleichrangige Personen, seine F r a u e n und ein paar ganz besonders Bevorzugte d ü r f e n diese Teile berühren zum Zwecke des Reinigens, Scherens, Schmückens und Entlausens. Die Heiligkeit des Kopfes erstreckt sich auch auf die weiblichen Mitglieder des adligen Unter-Glans; heiratet eine Adlige einen Bürgerlichen, so d ü r f e n ihre Stirn, ihr Hinterhaupt, ihr Hals und ihre Schultern — wenigstens in der Theorie — nicht von ihrem Manne berührt werden, selbst nicht bei den intimsten Vorgängen des Ehelebens" 7 ). Als eine besondere, auf Vorstellungen rein magischer Art zurückgehende S c h ä t z u n g d e s t o t e n , allerdings n o c h n i c h t p r ä p a r i e r t e n K o p f e s mag es angesehen werden, wenn der Primitive sich die Haut- und Fleischmassen des frisch abgeschnittenen Kopfes einzuverleiben bestrebt ist. Mit Recht wird man dieses so befremdend anmutende Verzehren des Kopffleisches als eine gewisse, gar nicht einmal so seltene Form des religiösen 5) S. bei T r e g e a r a.a.O.; vgl. auch das „Religionsgeschichtliche Lesebuch" hg. von Alfred B e r t h o l e t 8. Die Eingeborenen Australiens und der Südseeinseln von Richard T h u r n w a l d , 1927, S. 37/38. 6) Vgl. R. P a r k i n s o n : Dreißig Jahre in der Südsee; hg. von B. A n k e r m a n n , 1911, S. 439/40. 7) Das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwest-Melanesien, London 1929. Deutsch von Dr. Eva S c h u m a n n , S. 25.
64
Kannibalismus ansprechen dürfen. Der Primitive sucht sich durch den Genuß der Haut- und Fleischteile des Schädels — ganz besonders eines solchen von Personen höheren Ranges — die Kräfte des Verstorbenen bezw. auf der Kopfjagd Erlegten anzueignen, um sich so mit der geheimnisvollen Energie des Toten zu erfüllen. Für die Tatsache, daß zugleich mit dem Genuß der Weichteile, aber auch der Säfte des Kopfes besondere Kräfte übermittelt werden, hat R e i s c h e k 8 ) hinsichtlich der eigentümlichen diesbezgl. Anschauungen Neuseelands einen wertvollen Beleg gegeben. Was wir hier vor uns haben, darf in der Tat als rohe, aber darum um so sinnfälligere religiöse Form des Kannibalismus verstanden werden, die im Trinken des dem Haupte entströmenden Blutes sowie dem Ausstechen und Verschlucken der Augen besteht. Der Häuptling Keriopa gibt seinen Kriegern, den sog. Hauhau das dem abgeschnittenen Haupte des weißen Missionars entquillende Blut zu trinken und läßt sie sich damit das Gesicht bemalen, „auf daß sie fest im Glauben würden". Er selbst verschlingt die beiden Augen des Ermordeten, um sich so in den Besitz der Kraft des Gottesboten zu setzen. Haben wir hier — neben der charakteristischen Zauberbemalung — den magischen Bluttrank aus dem vornehmsten aller Gliedmaßen des men ;chlichen Körpers, eben dem machterfüllten Kopfe vor uns, so lehren uns andere Nachrichten, daß wir diese so seltsame Gepflogenheit der Idee des Speiseritus unterzuordnen haben. Mit dem Fleisch und Blut des Toten geht seine Lebens- sowie auch Geisteskraft, überhaupt seine geheimnisvolle individuelle Wesenheit in den Körper des Speisenden resp. Trinkenden über. M j ö b e r g 9 ) weiß in Anbetracht der von den Dajaken Borneos geübten Bräuche davon zu berichten, daß, nachdem man bei der Kopfherrichtung den Schädel mit dem Zeremonialmesser entfleischt, die Augen ausgestochen und das Gehirn mittels eines Holzlöffels durch die Hinterhauptöffnung oder durch die eingeschlagene Nase 1 0 ) herausgeschabt hat, „manchmal ein Stück der Gesichtshaut aufgehoben, in kleine Streifen geschnitten und von den Männern verzehrt ,wird'. Das soll Mut und Stärke verleihen". — Schließlich sei noch bemerkt, daß wir auf dem Boden Afrikas ganz ähnlichen Bräuchen begegnen, wie wir den Darlegungen von 8) Sterbende Welt. Zwölf J a h r e Forscherleben auf Neuseeland. 1924, S. 151 u. 176. 9) D u r c h die Insel der K o p f j ä g e r . Abenteuer im Innern von Borneo 1929, S. 256. 10) In letzterem Falle geschieht die Hirnentfernung auf Borneo also nicht unähnlich der Art der Mumifizierung des K o p f e s im alten Ä g y p t e n , wie aus dem diesbezgl. Bericht Herodots mit aller Deutlichkeit hervorgeht.
65
5
Leo F r o b e 11 i u s u ) e n t n e h m e n k ö n n e n . Bei d e n L e u t e n d e r G o l d k ü s t e gilt es als a l t e Sitte, das H a u p t des auf f ü r s t l i c h e n B e f e h l H i n g e r i c h t e t e n b e i m T o t e n f e s t e , a n d e m alle F r e u n d e u n d A n v e r w a n d t e n zur Teilnahme an den T r a u e r b r ä u c h e n versammelt sind, in e i n e n T o p f zu legen u n d zu k o c h e n , bis das Fleisch h e r a u s f ä l l t . D i e s e s w i r d d a n n m i t d e r B r ü h e v e r z e h r t , w ä h r e n d die H i r n s c h a l e als H e i l i g t u m im H a u s e a u f g e h ä n g t w i r d . — N a c h d e m w i r soeben d e m l e b e n d e n sowie d e m t o t e n , n o c h nicht zubereiteten K o p f e unsere Aufmerksamkeit gewidmet haben, rückt nunmehr d e r b e r e i t s p r ä p a r i e r t e Kopfbalg bezw. der nackte oder kunstvoll modellierte S c h ä d e l in d e n M i t t e l p u n k t unseres Interesses, w o b e i b e s o n d e r s die V e r w e n d u n g des l e t z t e r e n als K r a f t t r ä g e r aller B e a c h t u n g w e r t erscheint. D a ß die e i g e n a r t i g e B e h a n d l u n g u n d die h i e r a u s r e s u l t i e r e n d e V e r e h r u n g des S c h ä d e l s oder K o p f e s m i t d e m T o t e n k u l t sowie d e r A h n e n v e r e h r u n g tief v e r w u r z e l t sein m u ß , ist e i n l e u c h t e n d e r , a l s d a ß es n o c h w e i t e r e r D a r l e g u n g e n b e d ü r f t e . In d e n T o t e n schlechthin, w i e d a n n a u c h besonders d e n A h n e n , d e n v e r s t o r b e n e n V e r w a n d t e n v e r m e i n t d e r r e z e n t e P r i m i t i v e M i t l e b e n d e zu e r k e n n e n , die w i r k u n g s k r ä f t i g in das reale L e b e n , in die b e s t e h e n d e n irdischen Verhältnisse einzugreifen vermögen und deren Wohlw o l l e n m a n sich d a h e r in b e r e i t w i l l i g s t e r p e r s ö n l i c h e r U n t e r o r d n u n g s i c h e r n m u ß , will m a n sich n i c h t s c h w e r e n G e f a h r e n , j a völliger V e r n i c h t u n g von Seiten der M ä c h t e a u s d e m T o t e n - r e s p . G e i s t e r r e i c h a u s s e t z e n . So m u ß d e n n in d e r T a t j e n e s e i g e n t ü m liche Z u s a m m e n g e h ö r i g k e i t s g e f ü h l P l a t z g r e i f e n , das, o h n e d e m G e f ü h l der F u r c h t vor dem Toten irgendwie einen n e n n e n s w e r t e n S p i e l r a u m z u g e w ä h r e n , m i t a l l e m B e d a c h t d a r a u f a u s ist, die v i t a l e n w i e a u c h die Z a u b e r k r ä f t e des V e r s t o r b e n e n f ü r sich w i e d a n n w e i t e r h i n f ü r d e n g a n z e n S t a m m n u t z b a r w e r d e n zu lassen. Mit e i n e r gewissen S e l b s t v e r s t ä n d l i c h k e i t sind die V e r s t o r b e n e n n i c h t tot, sie l e b e n v i e l m e h r w e i t e r u n d g r e i f e n m i t s o u v e r ä n e r G e w a l t — b e r e i t u n d k r ä f t i g g e n u g — in d a s t ä g l i c h e L e b e n d e r N a c h k o m m e n ein. D a s S t r e b e n des p r i m i t i v e n M e n s c h e n , d e n A h n e n b e z w . d e n T o t e n i r g e n d w i e in g r e i f b a r e r G e s t a l t bei sich zu h a b e n , in u n m i t t e l b a r e r , a u c h ä u ß e r l i c h s i c h t b a r e r L e b e n s g e m e i n s c h a f t m i t i h m z u s t e h e n , f ü h r t d a z u , in k o n s e r v i e r e n d e m B e m ü h e n 11) Die Masken und Geheimbünde Afrikas. 1898, S. 177. = Nova Acta. Abh. der (ehem.) Kaiserl. Leop.-Carol. Deutschen Akademie der Naturforscher, Bd. LXXIV, Nr. 1.
66
sein Dasein, und sei es auch nur ein Bruchteil seines Daseins wie einzelne Knochen u. dgl., der lebendigen Umwelt zu erhalten. Damit der Verstorbene wirklich im Kreise der Seinen weiterzuleben vermag, muß vor allem sein Leichnam der Verwesung entrissen werden, wobei man die Züge des Lebenden möglichst getreu nachzubilden sucht. Und so steht denn vorzüglich der Kopf, in dem sich j a die intensivste Lebenskraft sammelt — als pars pro toto stellt er den ganzen Menschen dar — im Mittelpunkt aller auf pietätvolles Bewahren sowie nicht zuletzt auf das Nutzbarmachen des Toten f ü r seine Gemeinde abzweckenden Bemühungen. Der Totenkult der oben kurz näher gekennzeichneten Primitiven kennt jene weihevolle Szene, in der die gesamte Verwandtschaft des Verschiedenen im Kreise sitzend unter Absingen monotoner Gesänge sich abmüht, den Akt der Konservierung des Kopfes nach althergebrachter Weise zu vollführen. Um den Kopf resp. Schädel vor dem drohenden Zerfall zu bewahren, um ihm jene eigentümliche Lebensfrische zu verleihen, die ihm Aufnahme in das lebendige Zugehörigkeitsbewußtsein des Primitiven gewährt, ja geradezu verbürgt, bedarf es höchst umständlicher Handlungen. Da muß ausgetrocknet und modelliert werden, du muß Holz zu Ohren und Nasen geschnitzt werden, da müssen geeignete bunte Fruchtkerne oder Muscheln zum Ersatz der Augen bereitgehalten werden, damit jenes so hochwichtige Erinnerungsmal, das ja den verehrten Toten in seiner gesamten Erscheinungsform verkörpern soll, seiner Vollendung zugeführt werden kann. Das fertig modellierte Schädelbild wird endlich bei abschließendein Festmahl in der Mitte aller Versammelten aufgestellt, bewirtet, befragt, kurz, der nunmehr in das Zentrum aller Zeremonien und Riten rückende Kopf resp. Schädel ist zu einem ungemein bevorzugten Gegenstand des Kultes geworden, dessen sich gerade, berücksichtigt man etwa die gewichtige Befragung, der nähere Verwandte des Verstorbenen bedienen d ü r f t e . Lebensvolle Berichte von Reisenden, die in eigener Person den Dingen, wie sie sich im wirklichen Leben vollzogen, gegenübergestanden haben, vermitteln uns ein recht eindrucksvolles Bild vom W e s e n d e s K o p f k u l t u s . Eine überaus lebendige Anschauung vom K o p f k u l t u s der Indianer des oberen Amazonas verdanken wir dem gar nicht zu überschätzenden Augenzeugenbericht Up de G r a f f s , den dieser in seinem lehrreichen wie unterhaltsamen Erinnerungswerk 12) gegeben hat. Up de G r a f f bietet hier in der T a t die authentische Beschreibung eines bisher vielfach noch 12) Bei den Kopfjägern des Amazonas. Abenteuer. 2 1925, S. 265 ff.
Sieben Jahre Forschung und
67
u n k l a r e n Vorganges. Der Brauch des Präparierens, Modellierens resp. Mazerierens des auf der K o p f j a g d erbeuteten Schädels verbindet sich hier in U p de G r a f f s Mitteilung d u r c h a u s mit der vollen Idee eines K o p f k u l t u s . Nachdem die K ö p f e der erschlagenen Feinde mit primitiven Schneidewerkzeugen von den K ö r p e r n getrennt, gesammelt und an d ü n n e n R i n d e n s t r e i f e n a u f g e r e i h t waren, zog m a n zur „Sandspitze" als dem willkommenen Lagerplatz, an dem der eigentliche Modellierungsprozefi, j e n e r so m e r k w ü r d i g e rituelle Akt, s t a t t f i n d e n sollte. Mit einem Plazieren der K ö p f e in den Sand — Gesicht nach oben — beginnt die Zeremonie. Die Krieger setzen sich d a n n der Reihe nach darauf — wohl ein symbolischer A u s d r u c k f ü r das Sich-Einverleiben der K r ä f t e der Erschlagenen. Nach einer Art „ S c h u t z i m p f u n g " von Seiten der Medizinmänner — es handelt sich um das Einspritzen beißenden T a b a k s a f t e s in die Nasen der die S c h ä d e l p r ä p a r i e r u n g a u s f ü h r e n den sitzenden Krieger — beginnt man die K ö p f e zu schälen. „Dies geschieht, indem das H a a r sorgsam vom Scheitel bis zur Schädelbasis geteilt und die H a u t die Scheitellinic entlang aufgeschlitzt und an beiden Seiten umgebogen wird. D a n n wird sie vom Knochengerüst herabgezogen. An den Augen, der Nase und dem Mund m u ß geschnitten werden, d a m i t das Fleisch mit der H a u t abgeht. D e r Schädel bleibt nackt, nur die Augen und die Zunge sind daran. Der Einschnitt in jedem Sack von H a u t u n d Fleisch wird mit einer Bambusnadel und Palmblattfaser zusammengenäht, am Hals bleibt eine Ö f f n u n g . Die L i p p e n werden mit drei Bambussplittern zusammengespleifit, die sie fest verschließen . . . . — ,Diese Mundverriegelung' scheint ,indes' mehr übernatürlicher als natürlicher A r t zu sein, da der Verschluß dazu beiträgt, die n a t ü r lichen Linien des Gesichts zu verzerren, die im übrigen a u f s sorgfältigste erhalten werden. Die Augenlöcher w e r d e n mit ähnlichen Bambusstützen o f f e n g e h a l t e n " 1 3 ) . Es folgt n u n m e h r der A k t d e s e i g e n t l i c h e n M a z e r i e r e n s , des Abkochens der Köpfe, wozu m a n sich geweihter Krüge bediente. Letztere h a t t e n die Medizinmänner sorgfältigst — j e d e m p r o f a n e n menschlichen Auge entzogen — unter günstigen Mondbedingungen angefertigt; nach der Abkochzeremonie w e r d e n sie, um nicht d u r c h einen späteren p r o f a n e n G e b r a u c h befleckt zu werden, in d e n F l u ß geworfen. Sorgsam in P a l m b l ä t t e r eingehüllt und so vor p r o f a n e n Blicken geschützt, h a t t e man diese heiligen kegelförmigen Tont ö p f e — beachtenswerterweise sind sie von roter F a r b e •— eigens zum Zwecke des Abkochens mitgenommen. Vor dem beginnenden 13) ebd. S. 269/70.
68
Sieden müssen die Kopfhäute resp. die knochenlosen Köpfe aus dem Wasser herausgenommen werden, würde doch sonst ein Weichwerden des Fleisches sowie ein Verbrühen der Haarwurzeln eintreten. Durch das Kochen sind die Köpfe etwa auf ein Drittel ihrer ursprünglichen Größe zusammengeschrumpft, haben aber sonst ihr Aussehen durch diese Prozedur nicht wesentlich verändert. — F ü r das weitere Modellieren des Kopfes spielen jetzt erhitzter Sand, mit dem der Kopfbalg — von Zeit zu Zeit wieder frisch — gefüllt wird, sowie heiße flache Steine, mit denen man die fettige Haut von außen sachgemäß plättet (ein primitives Gerbverfahren, das die Kopfhaut glatt, hart und so zäh wie gegerbtes Leder werden läßt), eine wichtige Rolle. Dem Kochen der fleischigen Köpfe folgt schließlich eine Zeremonie besonderer Art, in deren Mittelpunkt die nackten, hautentblößten Schädel stehen und an der teilzunehmen nur den von den Medizinmännern Eingeweihten, eben den eigentlichen Teilnehmern an der Schlächterei gestattet ist. Den Weißen und unter ihnen Up de G r a f f war eine Teilnahme an diesen mit den Schädeln verbundenen geheiligten Gebräuchen streng untersagt, während sie sich an der sich hieran anschließenden merkwürdigen Zeremonie des S c h ä d e l t a n z e s bei cmblemartig erhöhten Schädeln durchaus beteiligen durften. Man tanzte hierbei unter wildem Johlen um die auf Speerspitzen aufgesteckten enthäuteten Schädel, wobei die Speere der Beteiligten von einem Krieger zum andern über die Schädel hinweg geworfen wurden. — Schließlich hat — bei zunehmendem Trocknen der Köpfe — das langwierige Präparieren der Kopfbälge sein Ende gefunden. „Der ganze Kopf — so urteilt Up de G r a f f sachverständig — hat jetzt die Größe einer großen Orange. Die Ähnlichkeit mit einem lebenden Menschen ist außerordentlich. Tatsächlich sind die geschrumpften Köpfe, wenn geschickt präpariert, genaue Miniaturabbilder ihres früheren Selbst. Jeder Zug, Haare und Narben bleiben unberührt, und selbst der Gesichtsausdruck geht nicht immer verloren". Ein Raucher verfahren schützt schließlich die fertig präparierten Köpfe vor einer Zerstörung durch die Insekten 1 4 ). — 14) Unter eingehender Berücksichtigung des L a m p e ' sehen, in durchaus sachlicher wissenschaftlicher Weise das merKwürdige Geschehen im Bilde festhaltenden Ufa-Kultur-Tonfilms: „Zu den Kopfjägern durchs Inkareich" hat Nich. K a u f m a n n eine dem U p d e G r a f f ' sehen Bericht in allem Wesentlichen gar nicht so unähnliche Beschreibung von der Herrichtung der Kopfbälge bei den Jivaro-Indianern gegeben: „Und nun die B e h a n d l u n g der e r b e u t e t e n K o p f h ä u t e , die sog. Reduzierung der Köpfe der Besiegten. Sie erfolgt bei den Jivaros nach einem s t r e n g e n
69
D i e I d e e d e s S c h ä d e l t a n z e s , auf die uns j e n e r A u g e n zeugenbericht U p d e G r a f f s führte, and die uns hier bei d e n Indianern des oberen A m a z o n a s im e n g s t e n Z u s a m m e n h a n g mit d e n d e m Kopf g e l t e n d e n P r ä p a r i e r u n g s z e r e m o n i e n entgegentrat, scheint ganz besonders bei a f r i k a n i s c h e n S t ä m m e n ausgebildet zu sein. D e r bei d e n Jivaro-Kriegern uns b e g e g n e n d e n e i g e n t ü m l i c h e n F o r m des S c h ä d e l t a n z e s v e r m ö g e n wir andere A r t e n gegenüberzustellen, die, o b w o h l sie g e w i ß der Idee eines e i g e n t l i c h e n Schädeltanzes u n t e r z u o r d n e n sind, doch g a n z verschiedene Ausd r u c k s f o r m e n e i n u n d desselben Motives darstellen. Leo F r o b e n i u s gibt in seinem W e r k „ D i e M a s k e n und G e h e i m b ü n d e A f r i k a s " 1898, S. 179, Abb. Nr. 29 nach einer Zeichnung v o n Fr. Ramsayer e i n e n Schädeltänzer der A s c h a n t i wieder. In ekstatischer Begeisterung, w i l d das H a u m e s s e r s c h w i n g e n d , tanzt hier der fanatisierte Krieger seinen Tanz, i n d e m seinem geschmeidig sich w i n d e n d e n Leib die Schädel r i n g f ö r m i g umgürtet sind. r e l i g i ö s e n R i t u s . Die Sieger nähern sich dem Skalp und sagen ihm lauter Komplimente. Inzwischen bereitet der Zauberer eine geheimnisvolle Lösung. Wenn sie kocht, wird die Haut hineingetaucht. Dann legt der Zauberer sie zum Trocknen aus, und weiter gehen die Tänze. Schließlich, wenn die Haut vollkommen trocken geworden ist, beginnt die h e i l i g e u n d z u g l e i c h k ü n s t l e r i s c h e A r b e i t d e s Z a u b e r e r s , die aus der Haut das Porträt des Toten macht. Ks ist dann nur etwa ein Drittel so groß wie zu Lebzeiten des toten Kriegers, jcdoch vollkommen harmonisch in den Proportionen und unheimlich ähnlich im Ausdruck. Eine schwierige Kunst! — Den Schluß der ganzen Zeremonie (und des Films) bildet einSchlußtanz zur Feier des Sieges und der gelungenen Reduzierung" (vgl. den Artikel „Porträt-Kopf aus der eigenen H a u t " im Berliner Lokal-Anzeiger 1. IX. 32). — In anderer Weise jedoch, d. h. unter offensichtlicher Beibehaltung des Knochengerüstes, mag sich die Präparierung des Kopfes bei den Mundurucus, dem „vielleicht zahlreichsten Stamm der in der Amazonenregion .seßhaften' Indianer" vollzogen haben. Hören wir, was H. W. B a t e s uns hierüber mitteilen kann: „In früherer Zeit hatten sie (die Mundurucu) die teuflische Sitte, die Köpfe der erschlagenen Feinde abzuschneiden und als Trophäen um ihre Häuser aufzuhängen. Ich glaube jedoch, diese und andere wilde Gebräuche sind in allen den Gegenden aufgegeben, wo sie Verkehr mit den Brasilianern haben, denn ich konnte nirgends etwas von solchen Köpfen sehen. Der Kopf wurde mit einem Messer von einem breiten Bambusstück abgeschnitten und dann, nachdem das Gehirn herausgenommen und alles Fleisch abgeschält war (es handelt sich demnach hier nicht allein um den herzurichtenden Kopfbalg), in ein bitteres vegetabilisches ö l (Andiroba) getaucht und einige Tage über einem Feuer geräuchert oder der Sonne ausgesetzt." — Einen präparierten, auf einem Stabe erhöht getragenen Kopf gibt B a t e s resp. B. B r a n d t nach S p i x und v. M a r t i u s im Bilde wieder: Abb. 12 zeigt einen „Mundurucu mit Tatauierung und Kopftrophäe". (Elf Jahre am Amazonas. Abenteuer und Naturschilderungen, Sitten und Gebräuche der Bewohner unter dem Äquator. Bearbeitet u. eingeleitet von B. B r a n d t . Stuttgart 1924 in der Sammlung: „Klassiker der Erd- und Völkerkunde", hg. von W. K r i c k e b e r g.)
70
Der Gedanke, der dieser Form des Schädel-Kriegstanzes zugrunde liegen dürfte, wird der sein, daß die K r a f t der erschlagenen Feinde aus ihren Schädeln — sie gerade konservieren j a diese K r a f t in vorzüglicher Weise! — auf den Leib des triumphierenden Siegers, den sie gürtelartig umhüllen, übergeht. So lebt im den Schädelgürtel tragenden Siegestänzer die K r a f t resp. die vitale Energie seiner überwundenen gemordeten Feinde. Eine andere, also eine dritte Art des Schädeltanzes, wie sie uns bei den Kultzeremonien eines westafrikanischen Negerstammes entgegentritt, bietet Günter T e ß m a n n in seinem Werk „Die Pangwe" dar. Hier gilt der „große Schädeltanz" den Neulingen, die eigens zu seinem Anblick zum vorderen resp. mittleren Teil des Festplatzes hereingeführt werden. „Auf die Neulinge, die ziemlich vorn standen, rückte nun eine Schar von Männern los, welche die Schädel mit beiden H ä n d e n dicht über den Boden vor sich hielten und hin und her bewegten. In einer Linie kamen sie langsam unter Tanzbewegungen von dem Schädel platz heran und stellten dann wieder in derselben Weise die Schädel auf den Platz zurück. Dieser Tanz wurde mehrmals wiederholt, wobei die Leute immer begeisterter und erregter wurden" 1 5 ). Im weiteren Verlauf des Ahnenfestes wird dann die hl. Salbung mit mit Rosenholz gemischtem Hühnerblut an den Schädeln sowie den Neulingen vorgenommen. Vor dem Zurücklegen der Schädel in ihre Behälter werden diese noch einer besonderen Waschung sowie einer weiteren Salbung unterzogen. — Die Worte T e ß m a n n s werden nun illustriert durch Photographien, die der Forscher seinem Werke beigegeben hat. Zwei Abbildungen 16) f ü h r e n t r e f f e n d in die Ahnenverehrung in Ebäangon (Fam. Esseng, Süd-Kamerun) ein, wie sie sich auf einem zweiten, weniger großartigen Ahnenfeste vollzogen hat. Während die erstere Abbildung die Aufstellung der Ahnenschädel auf dem Kultplatz — und zwar werden sie auf der Schädelbank deponiert — wiedergibt, sieht man auf der anderen, wie die Ahnenschädel um eine Medizin, d. h. einen Strauß von verschiedenen Pflanzen, tanzen gelassen werden. — Der Schädeltanz, wie ihn Günter T e ß m a n n als Augenzeuge erlebt hat, steht ganz besonders unter dem Zeichen magischer Kraftübertragung, von den Medizinen auf die Schädel einerseits — die Schädel der Verstorbenen gewinnen durch das Uber-die-MedizinGehaltenwerden, das Gewaschen- wie auch das Gesalbtwerden neue frische Kräfte —, von den Schädeln und Medizinen auf die 15) D i e Pangwe. Bd. II, 1915, S. 122/123. 16) ebd. S. 123, Abb. 47 und S. 125, Abb. 48.
71
Novizen
andererseits.
Indem
die Schädel im Tanzgestus
durch
A r m e und Beine der N e u l i n g e hindurchgefiihrt w e r d e n , e r f ü l l e n sie
die
junge
Schar
im
weihevollen,
wenn
auch
erschauern
machenden A k t e des T a n z e s auf magische W e i s e mit der V o l l k r a f t der v e r b l i c h e n e n A h n e n . bei
Gelegenheit
Novize
der
cles
I m Initiationsritus, der in diesem F a l l e
großen
geheimnisvollen
Totenfestes Urmacht,
stattfindet,
die
wesenhaft
wird
der
aus
dem
Schädel des V o r f a h r e n quillt, teilhaftig. W i e V o 11 b e h r in einem interessanten A u f s a t z e
17 )
mitteilte,
soll auch auf Sumatra der Schädelianz im engsten Zusammenhang mit dem T o t e n k u l t ausgeführt w e r d e n .
H i e r ist es die L i e b l i n g s -
f r a u des toten H ä u p t l i n g s , der es beim T o t e n f e s t e obliegt,
„mit
dem Schädel des Verstorbenen auf dem K o p f e nachts bei V o l l m o n d vor dem versammelten V o l k e zu t a n z e n " . — Erfuhren wir G r a f f s
von
nun
einer
aus dem so instruktiven
sorgfältigen
Präparierung
Bericht U p des
K o p f b a l g e s , und nehmen w i r hinzu, daß dem nackten gerüst, d. h. dem Schädel
de
eigentlichen Knochen-
als solchem eine besondere, v o n
dem
K o p f b a l g ganz unabhängige eigentümliche Bedeutung beigemessen wurde, so tritt diesem vor allem bei den Indianern
des oberen
A m a z o n a s geübten V e r f a h r e n ein anderes gegenüber, das e i n z i g und allein dem Schädel selbst gilt, und das ganz besonders auf N e u g u i n e a und N e u m e c k l e n b u r g — an ersterem O r t e mit geradezu künstlerischer V o l l e n d u n g — geübt w i r d . schaftliche
Besprechung
einer
derartigen
D i e eigentlich wissenModellierungsart
des
Menschenschädels hat O t t o S c h 1 a g i n h a u f e 11 ls ) in dankenswerter W e i s e gegeben, und seine auf G r u n d umfassenden a n a l y tischen
Verfahrens
mannigfaltigen
gewonnenen
Berichten
G e b i e t e erforscht haben, Schädelmodellierung
von
Ergebnisse
Reisenden,
nur bestätigt
können
die
die
werden.
von
den
betreffenden
Diese A r t
läßt zunächst seine W e i c h t e i l e in
der
sauberem
P r ä p a r i e r u n g s v e r f a h r e n e n t f e r n t sein, worauf dann die eigentliche Übermodellierung, die in F o r m und L a g e die W e i c h t e i l e des zugehörigen Gesichts ersetzt, e r f o l g t .
D i e Masse, die hierbei V e r w e n -
dung findet, ist eine mineralische, Laterit, also eine A r t T o n , der in
flüssig-weichem
Zustande
aufgetragen
wird.
Stücke
von
leichtem, inarkartigem H o l z w e r d e n um e t w a i g e Nischen, Spangen 17) „Tänze auf Sumatra": Artikel vom 5. V. 1929 im Berliner LokalAnzeiger. 18) .Verzierte Schädel aus Neuguinea und Neumecklenburg' in den „ A b h a n d l u n g e n und Berichten des (nunmehr staatlichen) Zoologischen und Anthropologisch - Kthnographischen Museums zu D r e s d e n " , Bd. X I I I , 1910—Ii.
72
u n d H ö h l u n g e n , die das n a c k t e Schädelgerüst darbietet, geschidct eingeschoben, so d a ß eine ziemlich gleichmäßig v e r l a u f e n d e Fläche die T o n m a s s e a u f n e h m e n k a n n . Z u m G l ä t t e n der O b e r f l ä c h e w i r d m a n sich ä h n l i c h e r I n s t r u m e n t e b e d i e n t h a b e n , w i e sie beim G l ä t t e n der T o n k r ü g e V e r w e n d u n g f a n d e n , zeigt doch die T e c h n i k beider A r t e n des V e r f a h r e n s j e n e so c h a r a k t e r i s t i s c h e n w e l l e n f ö r migen Linienzüge. I n die d u n k e l u m r ä n d e r t e n , m i t u n t e r m i t W a c h s a u s g e s t r i c h e n e n A u g e n v e r t i e f u n g e n w e r d e n Kaurischnecken quer eingebettet — ihre M ü n d u n g t ä u s c h t die geschlossene Lidspalte, ihre R a n d z ä h n u n g die W i m p e r n vor. N e u m e c k l e n b u r g e r Schädel zeigen in der T i e f e der A u g e n h ö h l e ein S c h a l e n s t ü c k von C y p r a e a tigris L mit einem a u f g e s e t z t e n r u n d e n k n o p f a r t i g e n Gebilde in der Mitte, wobei einmal die b l ä u l i c h - w e i ß e k o n k a v e F l ä c h e die Sclera vorstellen, z u m a n d e r e n die d u n k l e T ö n u n g des a u f g e s e t z t e n „ P u p i l l e n - K n o p f e s " die F a r b e n der R e g e n b o g e n h a u t n a c h a h m e n soll. D a ß h i e r m i t eine d u r c h a u s realistische W i r k u n g erzielt wird, d ü r f t e ohne weiteres einleuchten, z u m a l w e n n m a n noch berücksichtigt, d a ß das H a a r des V e r s t o r b e n e n g a n z so, wie er es im L e b e n trug, auf d e n Schädel a u f g e k l e b t w i r d . D e m regen Triebe des P r i m i t i v e n zum s c h m u c k v o l l e n G e s t a l t e n d ü r f t e es e n t s p r e c h e n , w e n n m i t u n t e r noch a m Ubergang des Gesichts in die H a a r p a r t i e g e w ö h n l i c h parallel v e r l a u f e n d e R e i h e n von K a u r i schnecken, C o i x k c r n e n oder E b e r z ä h n e n in d e n L a t e r i t eingelassen sind 19 ). — Es m a g noch b e m e r k t sein, d a ß ein m i t allen Mitteln moderner T e c h n i k a r b e i t e n d e r F o r s c h u n g s r e i s e n d e r wie F r a n k H u r 1 e y in seinem W e r k „ P e r l e n u n d W i l d e " drei V e r f a h r e n , K o p f t r o p h ä e n bezw. A h n e n s c h ä d e l h e r z u r i c h t e n , auf N e u g u i n e a 19) Derartige, z. T. hochkünstlerisch geformte Schädelplastiken finden sich in den Sammlungen größerer Museen recht h ä u f i g und sind auch des öfteren in Werken der Forscher im Bilde wiedergegeben worden. In erster Linie mag man sich hier das kolorierte Titelbild bei Eckart v o n S y (1 o w : Kunst u. Religion etc. 1926 (neben Tafel Nr. 32 u. 33 ebendort; vgl. auch „Ahnenkult u. Ahnenbild" etc. Abb. 3) gegenwärtig halten. Ferner waren zu berücksichtigen die beiden von Dr. S c h l a g i n h a u f e n seiner Arbeit beigegebenen Tafeln, von denen Tafel I acht Schädel (Nr. 1—8; die vier oberen in Vorderansicht, die vier unteren in Seitenansicht), Tafel II vier Schädel (No. 9—12; die zwei oberen in Vorderansicht, die zwei unteren in Seitenansicht) uns in Photographie vorführt. „Ubermodellierte Schädel vom Augustafluß, 240 Kilometer von der Mündung" sehen wir bei R. N c u h a u s s : Deutsch Neu-Guinea. 1911, Bd. I, S. 166, Abb. 76 u. 77. Schließlich ist noch die bildliche Wiedergabe von 6 modellierten Schädeln bei Dr. Walter B e h r m a n n : Im Stromgebiet des Sepik. Fine deutsche Forschungsreise in Neuguinea. 1922, S. 122 u. 123 erwähnenswert, wie man auch die Seitenansicht einer derartigen „Schädelplastik" (Neu-Guinea, Kais. Augusta-Flufi) bei Ernst V a 11 e r : Religiöse Plastik der Naturvölker. 1926, S. 61 Abb. 15 hinzunehmen mag.
73
unterschieden hat 2 "). Nach Ansicht dieses Forschers „wechselt die Art, wie man die Siegesbeute herrichtet, sehr stark bei den Kopfjägern Neuguineas", und eine seinem Werk beigefügte Tafel bietet die drei wesentlichen T y p e n der Schädclzubereitung an Hand von Photographien dar. Das obere Lichtbild zeigt „einfach verzierte Schädel, die durch angesetzte falsche Nasen und leuchtend rote und graue Samenkörner unglaublich f r a t z e n h a f t f ü r den modernen Beschauer wirken. Die Augenhöhlen sind mit Lehm verklebt und mit Kieseln und Grassamen geschmückt — ein unheimlicher Versuch von Wirklichkeitskunst". Das Bild links unten stellt jenen T y p u s dar, der oben von mir eingehend besprochen wurde und dessen Herrichtung gewiß die größte Kunstfertigkeit erheischte. Der Schädel in dem Lichtbild unten rechts — ein Typus, der gewiß recht vereinzelt auf Neuguinea vorkommen d ü r f t e —, der völlig nackt, auch ohne Unterkiefer ist und keinerlei künstlerische Behandlung aufweist, diente apotropäischen Zwecken, nämlich zur Abschreckung von Feinden. Als Warnungsfceichen war er über den Weg gehängt, um Eindringlinge zu verscheuchen. Der höchst lebenswahre Eindruck nun, den derartig modellierte Schädel beim Beschauer auszulösen imstande sind, wird noch ganz wesentlich erhöht durch eine bedeutungsvolle Verzierungsart, die diesen Schädel-Bildwerken eine gar nicht zu überbietende Porträtähulichkeit verleiht: ich meine jene mit so großer Kunstfertigkeit um Augen, Nase und Mund geführten Z i e r k u r v e n , die, wie das Gesicht des lebenden Kriegers, so auch dessen Abbild im Tode schmücken. Der tiefere Sinn derartiger arabeskenhaften Gesichtsbemalungen, wie sie vor allem auch Neuseeland kennt, d ü r f t e gewiß in Vorstellungen magischer Art zu suchen sein. Beachtenswert ist hier, d a ß sich diese so seltsam verschlungenen, gerade f ü r den einzelnen Krieger bezeichnenden Gesichtskurvenmuster von ihrem eigentlichen, ursprünglichen Sitze, eben dem modellierten Schädel losgelöst und dann eine ganz selbständige Bedeutung angenommen haben. Hören wir z. B., was B e h r m a n n 2 1 ) hierüber zu berichten weiß: „An den großen Pfeilern im Versammlungshaus zu Tambunum fanden wir verschiedene solcher Zierkurven. Wir fragten, was sie bedeuten sollten, und erhielten f ü r jede den Namen des verstorbenen Kriegers. Augen, Nase und Mund fehlten, unschwer aber ließ sich bei den meisten Arabesken die Stelle angeben, wo das Auge seinen Platz hat. Wir 20) Perlen und Wilde. Abenteuer in der Luft, an Land und auf See in Neuguinea 1926, S. 24; s. die Tafelabbildung ebendort. 21) a. a. O. S. 218.
74
haben hier die Anfänge von Wappen, wie sie mit den nordischen Runen zu vergleichen sind, nur sind sie bei der steinzeitlichen Bevölkerung Neuguineas viel individueller. Ks sind wirkliche Bildwerke, . E r i n n e r u n g s b i l d e r d e r V e r s t ü r b e n", die deren offizielles Aussehen wahrheitsgetreu und wirklichkeitsecht, d. h. so, „wie sie in ihren kräftigsten und wichtigsten Lebensmomenten aussahen", wiedergeben. Abschließend mag hier noch darauf hingewiesen sein, daß sich diese Arabeskencharakter tragenden Zierkurven weiterhin zu einem Kunstmittel ganz allgemeiner Natur entwickelt haben, das wohl zunächst nur Kriegsgerätschaften wie Kriegskanus, Schilde u. dgl. erfaßt, dann aber auch alle anderen Gebrauchsgegenstände des profanen Lebens wie Töpfe, Schalen, Kokosnüsse u. dgl. geschmückt hat, wobei vor allem das Augenmotiv in führender Weise in den Vordergrund getreten ist, wenn auch andere Motive wie etwa das Mund- und Nasenmotiv beim Ausfüllen von f l ä c h e n gerne Verwendung fanden. Das Material nun, das sich hinsichtlich einer mystischen Wertung des Kopfes als Sitz besonderer Kräfte aus den S c h i l d e r u n g e n d e r R e i s e n d e n gewinnen läßt. ist. wie sich denken läßt, überaus umfangreich. Tief wie in der Ahnenverehrung so auch im Totenkulte wurzelt dieser bemerkenswerte Glaube an die wunderbare Natur des Knochengerüstes wie ganz besonders die Zauberkraft des Schädels. So vernehmen wir bei P a r k i n s o n 2 2 ) von einer eigentümlichen rituellen Handlung bei einer Totenbestattung im nördlichen Neumecklenburg. Während des Leichenbrandes berührt ein Verwandter des Toten von Zeit zu Zeit den Kopf der Leiche mit dem Speere — unter Absingen eines eintönigen Gesanges. Nach einer Mitteilung N a s s a u s 2 3 ) begegnen uns in Westafrika ganz ähnliche mit dem Totenkult aufs engste verknüpfte Gepflogenheiten, die ebenfalls jenes eigenartige, auf Vorstellungen mystisch-magischer Art beruhende Verhältnis zwischen Speer und Schädel offenbar werden lassen. Hier wird allerdings der Schädel des in seinem Grabe ruhenden Toten mit dem geweihten Speere nicht nur berührt, vielmehr zugleich mit dem Rezitieren eines magischen Spruches 24) mit der Speerspitze durch22) a a O S 273 23) Fetichism in West-Afrika. 1904, S. 176 f. 24) Die mit verstellter Stimme im rauhen Kehlton gemurmelten, an die Leiche gerichteten Worte, die N a s s a u uns mitzuteilen nicht unterläßt („Thou corpse! Do not let any one hear what I say! And do not thou injure me for doing this to you!") wollen einmal jene geheimnisvolle, jedem anderen unzugängliche interne Verbindung mit dem Toten herstellen, zum andern aber suchen sie jedes
75
stoßen und auf dieser dann — nachdem Schädel und Rumpf voneinander getrennt sind — in das Haus des Verstorbenen zurückgebracht, wobei weiterhin der abgelöste Kopf zusammen mit dem Blute eines Opfertieres in einem T o p f e gekocht wird, um dann mit dem so gewonnenen roten Safte die Brust der ausziehenden Krieger zu benetzen — ein offensichtlicher Schutzzauber also, der nicht zum mindesten aus den Ingredienzien des kraftdurchsetzten Schädels seine Wirksamkeit herleitet. Immer wieder können wir den Schilderungen der Reisenden entnehmen, wie der entweder im Hause bis zur völligen Verwesung aufgebahrte resp. der Erde nach einiger Zeit wieder entnommene Tote sorgfältig von etwa noch vorhandenen Fleischresten befreit wird, seine Knochen und vorzüglich sein Schädel nach vorangehendem Reinigen und Bleichen, evtl. auch kunstvollem Bemalen und Schmücken dann auf eine Schüssel gesetzt bezw. in einen Korb getan — so z. B. in dem bei den Moänus geübten Totenkult, von dem P a r k i n s o n 25) berichtet — und schließlich unter festlich vollzogenen Zeremonien und nach Beendigung der gewichtigen Präparierungsriten, die j a ausschließlich der Kopfreliquie gelten, im Familien-, Versammlungs- resp. Geisterhause aufgehängt bezw. deponiert werden. F ü r ein Aufzeigen derartiger Gebräuche auf Neuguinea sind hier u. a. die Ausführungen von W. ß c h t m a n i r " ) und P, W i r z " ) neben den Beschreibungen noch vieler anderer Forscher beachtenswert, während A. R e i s c h e k -") in gar nicht unähnlicher Weise die Totenbräuche bei den Maori Neuseelands schildert. Auch hier wird die Leiche — sie lag bei den Maori in einem alten Kanu (dem „Totenschiff") oder einem hohlen Baumstamm als Sarg —, nachdem das Fleisch verfault und der Verwesungsprozeß vorüber, von den Priestern wieder der Begräbnisstätte entrissen, worauf dann die feierliche Zeremonie des Knochenschabens stattfindet. Uns interessiert hier besonders die Mumifizierung von Köpfen, die auf Neuseeland schon in verhältnismäßig früher Zeit unter völlig primitiven Verhältnissen kunstgerecht geübt wurde. Zuerst entfernte man das Gehirn und einige Fleischteile, worauf der Kopf in der Kochgrube gedünstet wurde. Ein Raucher- und Trockenverfahren beendete dann den Akt des Mumifizierens. — F ü r das ausschädliche Wirken des auf Rache sinnenden .lebenden Leichnams', den der Sprecher zu beschädigen resp. gar verstümmeln im Begriff steht, zu verhüten. 25) 26) 27) 28)
76
a.a.O. a.a.O. a. a. O. a. a. O.
S. 404 u. 405. S. 191. S. 26?. S. 172 ff.
gedehnte Gebiet der Südsee hat besonders P a r k i n s o n des öfteren Gelegenheit genommen, in seinem umfassenden Werk auf diese eigentümlichen Totenbräuche hinzudeuten. So steht auf den Inseln zwischen der Mattygruppe und den Admiralitätsinseln im Mittelp u n k t aller Bemühungen um den Verstorbenen sein Schädel, der bald wieder ausgegraben wird, wobei ein Leichenschmaus stattfindet; „der Schädel wird in einen Korb getan, im Hause aufgehängt und geräuchert". Ähnliche Totenriten, die mitunter nur allzu deutlich die einzelnen Ritenmotive wie den Schneideritus (das Voneinanderlösen der einzelnen Knochen, insbesondere das T r e n n e n von Kopf und Rumpf), den Speiseritus (das Abnagen und Verzehren des gerösteten Fleisches) und den Modellierungsritus (das Formen eines künstlichen Gesichtes über das Gesichtsskelett) erkennen lassen, weist P a r k i n s o n f ü r die kleine Insel Pinepil, nördlich von Nissan, a u f ; desgleichen hören wir von solchen im südlichen Bougainville'"') und bei den Siaraleuten 3 0 ). Vollb c h r s Beobachtungen, die sich auf ein Totenfest auf Sumatra richteten, deuten auf ganz entsprechende Gepflogenheiten in der Behandlung des Leichnams hin: hier wird nach 2 oder 3 J a h r e n die Leiche eines Fürsten exhumiert und der Kopf ins Schädelhaus übergeführt. F ü r die eigentliche Totenfeier, in deren Mittelpunkt der Kopf des Toten steht, ist es dann bezeichnend, d a ß „ein Tanzfest veranstaltet uncl der Schädel mit allem Beiwerk von Staatskleidern, Tüchern, Messern und Armbändern öffentlich ausgestellt ,wird' " 3 1 ). — Wie nun der Primitive das Fleisch von hervorragenden Gliedern des Menschen, so vor allem H a n d und F u ß des Toten, ganz besonders aber — wir sahen es bereits oben — das Kopffleisch im Speiseritus sich aneignet, um auf magische Weise sich zu kräftigen, d. h. mit dem Machtstoff des Toten sich zu erfüllen, so legt man auch den Knochen und hier wiederum in erster Linie dem Sdiädel lieber Verstorbener eine ganz besondere Bedeutung bei, wenn man mit der geschätzten Reliquie wie mit dem einst Lebenden in ein rein persönliches Verhältnis zu gelangen sucht resp. mit dem teuren Überrest des Verblichenen den j ä h unterbrochenen Verkehr in so naiver Weise fortzusetzen bestrebt ist. Wie die Oberarmund Schenkelknochen, Rückenwirbel u. dgl. in Beuteln, Taschen und Körben mitgeführt werden — falls sie nicht in Körben gesammelt, vergraben oder im Wurzelwerk von Bäumen ausgesetzt w u r d e n —, so trägt man nach einem älteren Brauch auch die 29) P a r k i n s o n a . a . O . S. 486/87. 30) ebd. S. 308. 31) s. den bereits zitierten Aufsatz.
77
Schädel besonders geliebter Toter oft in einem Korbe lange mit sich herum, läßt sie auch an bedeutsamen Ereignissen Anteil nehmen, z. B. bei jedem Feste zugegen sein. Gewiß ist es nach dem Empfinden des Modernen eine recht seltsame, überaus befremdende Gepflogenheit, bei einem Festsdimause den herbeigeholten Schädel in die Reihe der Teilnehmer regelrecht aufzunehmen, ihm gleich einem Lebenden Speisen vorzusetzen und ihn mit beredten Worten zum „Zugreifen" zu ermuntern. Allein man vermag hieraus recht deutlich zu erkennen, wie eng sich der primitive Mensdi nodi mit dem teuren Toten verbunden weiß, der einmal wohl als im Geisterreich weilend gedacht wird, andererseits wiederum für seinen Verwandten- und Freundeskreis in seiner geweihten Kopfreliquie persönlich — gleich einem Lebenden — anwesend ist. Es entspricht ganz dem geheimnisvollen Charakter des kraftgeschwängerten Schädels, wenn die Eingeborenen großen Abscheu zeigen, dem Kuriositäten sammelnden Reisenden auf Aufforderung Schädel, aber auch ganze Skelette zu bringen. Nur durch reiche Geschenke gewonnen läßt man sich herbei, die Knochen, ganz besonders aber die Schädel der Toten herbeizutragen, und dann bringt man — aus religiös fundiertem Respekt vor den eigenen Ahnen — lieber die Knochen der anderen als die seiner eigenen Verwandten. Zudem wird alles, was Schädel und Knodien umschlungen hat wie Blätter, Stricke und Stangen, Gegenstand größter Scheu. In Blätter gehüllt und mit Lianen fest verschnürt, damit der „Schädelgeist" j a nicht etwa entweichen und auf den Träger überspringen könnte, an langen Stangen, die Pakete weit von sich haltend, legt man die so beargwöhnten Bündel zu Füßen des Sammlers nieder. Nicht ohne Witz bemerkt S p e i s e r 32 ), als er auf dies seltsame Gebahren der Eingeborenen zu sprechen kommt: „Am furchtsamsten waren die Alten, die Jungen waren die Emanzipierten und meine Hauptlieferanten. Auch gab es einige, die gelegentlich sogar einen Knochen mit dem F u ß aufhoben." Daß diese Scheu vor dem Berühren des Schädels auch gerade auf Neuguinea die Eingeborenen beherrscht, dürfte genugsam aus den Darstellungen von Forschern wie W i r z und G i l l hervorgehen, die diese eigentümliche Schädelfurcht an treffenden Beispielen zu illustrieren vermochten. In der Tat scheint diese seltsame Scheu vor dem .beseelten' Schädel ganz allgemein in Geltung gestanden zu haben, wenn W i r z im Laufe seiner Darstellung nebenbei bemerkt, daß einmal sich die Jungen weigerten, 32) Südsee / U r w a l d / Kannibalen. Reisen in den Neuen Hebriden und Santa-Cruz-Inseln. 1924, S. 97.
78
die mit Schädeln gefüllten Taschen aus Bastflechtwerk nach der Küste zu tragen 33), zum anderen Kapitän wie auch Matrosen der Prau seine recht umfangreiche Schädelsammlung nicht an Bord hatten nehmen wollen, aus Furcht vor den vielen Seytan (Geistern), die in der Nähe solcher Schädel herumspuken. Und als dann wirklich der Kapitän vom „Nautilus" den Schädeltransport ausgeführt hat, fordert er „noch eine Extrabelohnung, da er, wie er sagte, nach dieser F a h r t mit den Schädeln ernstlich erkrankt sei, infolge der vielen Seytan, mit denen er die Reise hatte machen müssen" 34). — Am liebsten möchte der Primitive ein Berühren der kräfteschwangeren Schädelreliquie, in der ja der Tote bezw. sein Geist seinen Sitz genommen, ganz und gar — noch dazu von fremder Seite — vermieden wissen, eine Eigenheit, die gerade bei den Stämmen Neuguineas klar zutage tritt. So vermag sich G i l l ganz in diesem Sinne zu äußern 3 5 ): „Der Stamm, der an der Küste Neuguineas gegenüber von Tauan und Saibai (Torres-Straße) seßhaft ist, befindet sich in ewigem Kriegszustände mit seinen Nachbarn. Die Häuptlinge von Saibai und Tauan schmücken ihre Häuser mit Guirlanden aus Schädeln der Buschleute von Neuguinea. Die Besitzer solcher gräßlichen Trophäen ließen es gar nicht gerne zu, daß wir ihr malakai, d. h. ihre Toten (ghosts), wie sie sie nannten, berührten." Der vom Forscher heimlich der Bestattung entnommene Kopf eines Toten wird als ungemein kostbarer Teil der Leiche selbst unter Gefahren von den Eingeborenen zurückgeholt, damit das S c h ä d e l t a b u j a keine Verletzung erfährt. Recht merkwürdig ist hier ein Abenteuer, das Up de G r a f f bei den Infieles, jenem so überaus scheuen Indianerstamme, erlebt hat, als er sich des Kopfes eines unter einer Lehmschicht in Hockerstellung beigesetzten Wilden bemächtigen wollte, um die Charakteristika in der Physiognomie gerade dieses sonst unbekannten und schwer faßbaren Stammes studieren zu können. Geben wir das Erlebnis des Forschers mit seinen eigenen Worten wieder, wie er, nachdem er von der Durchstechung der trockenen Lehmkruste und der hiermit verbundenen Bloßlegung des sitzenden Toten berichtet hat, fortf ä h r t : „Hier war endlich einer von ihnen, der mir nicht davonlaufen konnte! Ich sah den Kopf und fand, als ich ihn aus dem Grabe zog, d a ß das lange, straffe, schwarze Haar noch am Schädel 33) Dämonen und Wilde in Neuguinea. 1928, S. 54. 34) ebd. S. 280/81. 35) Life in the southern isles, S. 267; zitiert in: Reports of the Cambridge Expedition to Torres straits, V, S. 298. Vgl. ferner L. L e v y B r ü h l : Die Seele der Primitiven. 1930, S. 259.
79
hing. Ich wollte den Kopf als Kuriosität a u f b e w a h r e n ; ich nahm ihn daher mit ins Lager und hing ihn im Hause auf. Binnen vierundzwanzig Stunden hatten die Wilden in unserer Abwesenheit den Platz aufgesucht, meine Trophäe weggenommen und wieder ins G r a b zurückgelegt. Das war das einzige Mal, daß sie genug Mut aufbrachten, unsere Behausung zu betreten. Ihre Entrüstung muß sehr groß gewesen sein, daß sie ihre Angst vor uns überw a n d e n " 86). — Zur Aufnahme der k r a f t e r f ü l l t e n Schädel bedient sich der Primitive b e s o n d e r e r B e h ä l t e r . Da wäre zunächst auf die S c h ä d e l t o n n e hinzuweisen, die auf ihrem Deckel eine bezw. mehrere stehende oder sitzende 3 7 ) holzgeschnitzte Ahnenfiguren aufgesteckt tragen kann. Solche die Schädel der Ahnen bergenden Schädeltonnen, wie sie T e ß m a n n 3") bei den Pangwe gesehen hat und wie sie auch die Ngumba an der Südküste Kameruns kennen 39), sind besonders, wenn nicht gar ausschließlich, f ü r die Eingeborenen Afrikas bezeugt. Dies wertvolle Kultgerät enthielt nach den genauen Beobachtungen T e ß m a n n s die gereinigten Schädel der jüngst Verstorbenen. Nur beim Ahnenfeste werden die heiligen Reliquien ihrem Tonnenbehälter entnommen, sei es, daß man dann mit ihnen zwecks Weihung der anwesenden Novizen den Schädeltanz ausführte (s. b. o.), sei es, daß man sie, auf ein Bananenblatt gelegt, auf die Erde stellte, um der Befragungs- resp. Bittzeremonie genüge tun zu können. Der machterfüllte Schädel der Ahnen bedarf von Zeit zu Zeit frischer K r ä f t e z u f u h r . Schon aus diesem Grunde erscheint es daher ratsam, 36) a . a . O . 2 1925, S. 102/103. 37) So ist die Schädeltonne ganz offensichtlich zum (kraftbegabten) Sessel geworden. — Daß die Kameruner auch sonst noch gerade den Sessel durch die Verwendung des Schädel- bezw. Kopf-Motives magisch gestärkt sein lassen, macht jener bei Herbert K ü h n („Die Kunst der Primitiven", 1923, Bild S. 88 gegenüber) im Bilde wiedergegebene, aus Holz recht kunstvoll geschnitzte Schemel aus Kamerun augenscheinlich. Bei diesem Kopfschemel — in der Tat ein Meisterwerk Kameruner Holzschnitzkunst! — ruhen unterhalb der eigentlichen runden Sitzfläche, zu drei Reihen angeordnet, Menschenköpfe auf wellenartig ausgeschnitzten Bändern, und zwar in einer Weise, daß je ein Kopf zwischen die sich gegenüberliegenden Ausbuchtungen eingesetzt ist. Wie dort bei dem SchädeltonnenSitz die Naturschädel diesen als Kräftereservoir der Ahnengeister auszeichnen, indem stärkendes Fluidum auf die aufsitzenden (hölzernen) Ahnenfiguren überströmt, so sind es hier bei dem hölzernen Kopfsessel die künstlichen, eben aus Holz geschnitzten Menschenköpi'e, die die Kraft der gewiß in ihnen ruhend zu denkenden Ähnengeister für den auf diesem Prunkschemel Sitzenden bereitstellen. 38) D i e Pangwe II, S. 118, Abb. 43. 39) Eckard v. S v d o w : Kunst und Religion der Naturvölker. 1926, Tafel 6.
80
ihn seinem Behälter vorübergehend zu entnehmen, um so an ihm in korrekter Weise die rituelle Salbung resp. Waschung vollziehen zu können bezw. ihn über mit wirksamer Medizin getränkte Blätterbüschel zu halten, damit — unter den belebenden Rhythmen des Tanzgestus — auf magische Weise frische Kraft in die Schädel und mit diesen auch zugleich in die Schädeltonne, jenes fetischartige Gebilde, in das j a die hochgeschätzten Naturreliquien nach den Zeremonien wieder zurückgelegt werden, einziehen mag. — Eine andere Art des Deponierens der Schädel ist ihr Niederlegen im Schädelschrein oder ihr Aufstellen im Schädelgestell. Den S c h ä d e l s c h r e i n bezeugt uns C o d r i n g t o n 4 0 ) für die Insel Santa Cruz; hier wurden bei den im Innern der Insel geübten Totenbräuchen wohl die ausgegrabenen Knochen zu Pfeilspitzen verarbeitet, während man den Schädel daheim in einer besonderen Truhe aufbewahrte. Auch den Kenyah auf Borneo ist, wie uns N i e u w e n h u i s 4 1 ) mitteilt, die Schädelkiste wohl vertraut gewesen; hier pflegte der Sultan von Kutei insgeheim die Schädel verstorbener Häuptlinge in einem Schrein in seinem Palast aufzubewahren, um durch deren Besitz Macht über die BahanStämme ausüben zu können. — Das S c h ä d e l g e s t e l l , ein komplizierteres Gebilde, scheint speziell in Neuguinea im kultischen Gebrauch gestanden zu haben, jedenfalls gibt uns Frank H u r I e y 42 ) von ihm in Wort und Bild recht eingehend Kunde. Dies Schädelgestell stellt ein Fächerwerk dar, das durch kreuzweis aufeinandergelegte, sich im rechten Winkel schneidende Holzstangen gebildet wird, die an ihren Berührungsstellen wohl mit bastartigem Schnürwerk fest miteinander verknüpft sind. In die einzelnen Fächer werden dann die nackten Schädel eingesetzt, wobei das Fächerwerk durch quer aufgelegte gerundete Holzleisten zur Aufnahme von frischen Schädeln immer wieder nach oben hin ergänzt werden kann. Wenn solche Schädelgestelle der Regel nach zu beiden Seiten des Eingangs des Geisterhauses in seine Teilwände eingebaut sind, so mögen auch hier Vorstellungen magischer Art mitsprechen, wobei man gewiß nur auf die hervorragende Bedeutung der Pforten, Pfosten und Schwellen in anderen Reli40) The Melanesians. 1891, S. 309. 41) Quer durch Borneo, II. 190?, S. 324. 42) a. a. O. S. 139 u. 148. Vgl. das Schädelgestell Gormiers des „Kriegsministers" von U r a m a und Leiters des Dubu-Daima: Tafel S. 150; s. auch Tafel 153, die den Verfasser beim Tauschhandel mit den Leuten von Urama unter dem Schädelgestell wiedergibt. Es mag hier noch erwähnt sein, daß im Berliner Museum für Völkerkunde ein Schädelgestell von ganz demselben Typus von einem Museumsbeamten (Herrn J. L a h m e y e r ) nach einer Photographie kunstgerecht aufgebaut u. der Sammlung einverleibt wurde.
81 6
gionen, zumal der altsemitischen Religion hinzuweisen braucht. Der in das von unheimlichem Dunkel erfüllte Geisterhaus Eintretende wird zugleich mit dem Passieren des Eingangs zur Tempelhalle von jenem geheimnisvollen Kraftstoff, der vom gefüllten Schädelgestell aus sich verbreitet, berührt, erfaßt und auch wohl magisch gestärkt bezw. geweiht. — Wieder eine andere Art, den krafterfüllten Ahnen- resp. Feindesschädel auf würdige Weise zu deponieren, ist sein Niederlegen in einem besonderen S c h ä d e l h ä u s c h e n — eine beachtenswerte Sitte, wie sie uns vorzüglich in Ostmelanesien entgegentritt. Hier wird, wie wir es bei den schönen Exemplaren des ßritish-Museums zu London und des Rautenstrauch-Joest-Museums zu Köln gut erkennen können 43), der modellierte Totenschädel — wie es den Anschein gewinnt, immer nur e i n solcher! — in einem aus Rohr primitiv verfertigten, mit Ringschmuck reich verzierten Hüttchen aufgestellt. — Daß schließlich auch Töpfe und Krüge als Reservoire von Schädeln wie auch Knochen dienen können, daß man die geschätzte Kopfreliquie auch in Körben, Flechtwerktaschen und Säckchen unterzubringen suchte, ist bei den Eingeborenen der verschiedensten Gebiete eine weit verbreitete Gepflogenheit, die nicht erst im einzelnen nachgewiesen zu werden braucht. Wird nun, wie wir soeben gesehen haben, der Schädel in Schädeltonne, Schädelschrein, Gestell und Häuschen deponiert, so kann man auch von einem freien, sichtbaren „Aufstellen" der hochwichtigen Reliquie, j a sogar von ihrem „Aufstecken" und „Aufhängen" reden. Im allgemeinen ist der Schädel im Familienresp. Yersammlungs- oder Geisterhause „aufgestellt"; in langer Flucht erblicken wir ihn neben anderen auf der Brüstung stehend, von der er mit ausdrucksloser Miene auf den Beschauer herabgrinst. Auch sein Aufsetzen auf den S c h ä d e l h a l t e r ist eine — zumal auf Neuguinea — weit verbreitete Sitte, wobei zugleich sechs modellierte, mit Gesichtskurven reich geschmückte Schädel auf dem aus Holz kunstvoll geschnitzten, dazu buntbemalten Traggerüst Platz finden können, indem sie vermittels des Hinterhauptloches auf die über den Blattrand hervorragenden Holzstäbchen resp. in Zapfen aufgesteckt werden 44). Recht gebräuchlich mag 43) Vgl. den „ F ü h r e r durch das Rautenstrauch-Joest-Museum (Museum f ü r Völkerkunde) der Stadt Köln" hg. von Prof. Dr. F. G r ä b n e r 1927, Abb. auf S. 59: Schädelhäuschen (Nr. 10638) Rubiana. Schrankfeld 62 Neu-Georgien und Nachbarschaft. — D a s im British-Museum zu London konservierte Schädelhäuschen läßt ganz den gleichen T y p u s erkennen. 44) Abbildungen derartiger Schädelhalter finden sich in einschlägigen Werken häufiger. Vgl. z. B. O. S c h 1 a g i n h a u f e n a. a. O.
82
auch das Aufsetzen der Schädel und zwar vorzüglich solcher von Häuptlingssöhnen auf die aus den Sdiultern modellierter Ahnenstatuen emporragenden Stangen gewesen sein, ein eigentümlicher Brauch, der uns u. a. in Neu-Mecklenburg, auf den Neuen Hebriden, f r ü h e r auch auf den Antillen begegnete 45). Angesichts dieser merkwürdigen Sitte wird m a n sich gewiß gegenwärtig zu halten haben, daß die Schultern f ü r den primitiven Menschen — f ü r den antiken wie dann auch den naturvölkischen — als Kräftesitz Geltung haben. — Bei dem Ahnenfest auf dem Kultplatz nimmt der Schädel während zeremonieller Handlungen Aufstellung auf dem „Altar", dem Gerüst, auf der Schädelbank, dem Schädelständer, auf Steinen oder auch auf der Erde, indem ein Bananenblatt untergeschoben ist. Wie W h i t e h e a d 40) berichtet, findet auf den Nikobaren beim großen Totenfeste der zuvor gewaschene und eingeriebene, dann auf eine Platte gesetzte Schädel des verstorbenen Angehörigen auf einem a l t a r a r t i g e n U n t e r s a t z Aufstellung, wobei man dem Totenkopf dann einen nach seinem, d. h. des Toten bestimmten Geschlechte geformten H u t aufzusetzen und vor ihm Speisen niederzulegen pflegt. Nach P a r k i n s o n s 4 7 ) Schilderung, der die Gebräuche der Südsee näher ins Auge faßt, wurde bei einer Begräbnisfeier der Moänus der Schädel vom Zauberer auf ein aus einem Baumstamm gezimmertes reich verziertes P r u n k g e r ü s t gestellt, das den Namen tjinal führte. Dieses steht — wohl in Anlehnung an irgendwelche astralen Spekulationen — in der Richtung von Süden nach Norden; an das Nordende setzt man einen Krug mit ö l , an das Südende ein G e f ä ß mit Wasser, um mit den geweihten Flüssig1 910/11, Fig. A: „Schädelhalter in Form eines bemalten Rindenstücks, aus einem Tempelhause des Enddorfs"; ferner E. v. S y d o w a. a. O. 1926, S. 67 „Schädelhalter aus Deutsch-Neu-Guinea" sowie C. C1 e m e n : a. a. O. 1927, S. 26, Abb. 17. Auch E. V a 11 e r hat es nicht unterlassen, seinem Werke die Abbildung eines solchen seltsamen Traggerätes beizufügen (a. a. O. S. 63, Abb. 17). Letzterer plastisch „ausgeschnitzte Balken zum Aufhängen der Ahnenschädel" — ein Typus, der durchaus im Gegensatz zu jenem bei S c h l a g i n h a u f e n und v. S y d o w im Bilde vertretenen Typus steht, bei dem die Zierkurven auf die glatte Rindenfläche aufgemalt sind — zeigt abwechselnd männliche und weibliche Figuren mit flach nach hinten gebeugtem Kopf, rot und weiß bemalt. Zwischen ihnen sitzen die mit Bast umwickelten Schädelträger. Wenn ferner die Enden des Balkens als Schweineköpfe (?) geschnitzt sind, so mag dies auf totemistischen Einschlag deuten. — Daß der derartige Schädelhalter bildende Künstler sich in immer neuen Variationen gefallen hat, beweist jenes merkwürdige Exemplar des Berliner Völkerkundemuseums, das eine in Flacharbeit gebildete, die Beine weit abspreizende Ahnenfigur darstellt. 45) Vgl. F. S p e i s e r a. a. O. 1924, Tafel 41 oben. 46) In the Nicobar islands. 1924, S. 205 u. 206. 47) a. a. O. S. 405.
83
keiten ö l und Wasser den dem Schädel geltenden Besprengungsritus vermittels einer R u t e a u s f ü h r e n zu können. Beim feierlichen A k t der A n s p r a c h e a n den Schädel hebt d a n n der herbeitretende Medizinmann diesen vom G e r ü s t h e r a b u n d hält ihn vor sich in den H ä n d e n . — Yon einem D e p o n i e r e n der Ahnenschädel auf der S c h ä d e l b a n k bezw. einem Niederlegen der K o p f r e l i q u i e n auf die E r d e resp. ein B a n a n e n b l a t t bei d e n P a n g w e gibt T e ß m a n n uns genau Kunde, ebenso m a g f ü r w e s t a f r i k a n i s c h e n Schädelkult ein Gebilde wie der S c h ä d e l s t ä n d e r bedeutsam gewesen sein. Der im British-Museum zu London a u f b e w a h r t e sesselartige Schädelständer r e p r ä s e n t i e r t in der T a t ein ganz einzigartiges E x e m p l a r dieser G a t t u n g und ist d a h e r aller Beachtung w e r t : Eine auf einer r u n d e n Basis aufgestellte A h n e n f i g u r t r ä g t oben eine durch zwei Scheiben abgeschlossene Walze, die a u ß e n — gewiß einzig und allein zum Zwecke der magischen S t ä r k u n g — Tierknochen im Bastgefleeht angelegt trägt. Auf der nach oben den Abschluß b i l d e n d e n Walzenscheibe dieses altarähnlichen Ständers r u h e n drei menschliche u n d zwei tierische Schädel, wobei die Tierschädel Verzierungen wie O r n a m e n t l i n i e n u. dgl. a u f w e i s e n 4S). — Yon einem Niederlegen abgeschnittener K ö p f e auf S t e i n e n — es d ü r f t e sich hier mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine A r t beseelter Grabsteine handeln, d e n e n m a n O p f e r d a r b r i n g t — w e i ß Fritz B u r g e r 4 9 ) unter D a r l e g u n g der G e b r a u c h e der Melanesischen Inselwelt, insbesondere der Banda-Inseln zu berichten. „Ähnlich wie noch heute bei d e n A l f u r e n auf Ceram, zu d e n e n die Albandanesen so viele Beziehungen hatten, ist auch hier die K o p f j ä g e r e i in alten Zeiten geübt w o r d e n . Die abgeschnittenen K ö p f e w u r d e n im K a m p o n g auf heilige Steine gelegt u n d später begraben. Noch heute sollen auf B a n d a Lonthor heilige Steine liegen, bei d e n e n die alten F ü r s t e n die K ö p f e Erschlagener begraben ließen. Bis in die neueste Zeit hinein sind diesen Steinen O p f e r d a r g e b r a c h t worden, j a , es w a r sogar P f l i c h t eines guten Bandanesen, d e n Steinen zu opfern'". D u r c h eine Mitteilung F. S p e i s e r s 5 0 ) , d a ß m a n nämlich in Vao u n d in Atchin d e n Kopf des A h n e n unter d e n in d e n A h n e n h ä u s c h e n aufgestellten Steinaltären zu begraben pflegte, gewinnt obige N a c h r i c h t B u r g e r s neues Licht. — Wie eng K o p f u n d S t e i n in der T a t im religiösen Bewußtsein des rezenten Primitiven zusammengehören, zeigt u. a. der N a m e eines Stammes der Moanus auf der 48) Das merkwürdige Exemplar von einem Schädelständer befindet sich im Doppelschrank vor Wandschrank 59. Abt. West-Afrika. 49) Unter den Kannibalen der Südsee. 1923, S. 53/54. 50) a. a. O. S. 83.
84
Südkiiste, den P a r k i n s o n " 1 ) in seinem Werke erwähnt: Pere, d. h. mein Gehirn. „Die Pere, ein starker Kriegerstamm, haben die Sitte, die Köpfe der gefallenen Feinde nach Hause zu bringen. Dort werden sie auf Steinen zerschmettert und das Gehirn herausgenommen." Hier gewinnt es den Anschein, als ob die Zeremonie des Zerschmetterns von Feindesköpfen an Steinen ausgeführt wird einmal, um den (beseelten?) Steinen frische Kraft zuzuführen, zum anderen aber wohl, um dem Speiseritus, der hier im Verzehren des Gehirns des Feindes besteht, genüge zu tun. Zur Aufnahme des Schädels dient weiterhin der G e i s t e r resp. S c h ä d e l p f a h l , der seinem Ursprung nach gewiß mit den auf den Gräbern befindlichen Zweigen und Pfählen verglichen werden dürfte. In derartigen Pfählen haust als lebendige Wesenheit nach dem Glauben der Eingeborenen der Geist des Verstorbenen. Die Sitte des Aufsteckens der Schädel — Menschenwie auch Tierschädel — auf Pfähle oder Pfosten scheint vorzüglich in Afrika verbreitet zu sein; so werden die Pfosten auf den Gräbern der Loangoküste mit Aufsätzen versehen und die Herero schmücken die Gräber ihrer Verstorbenen mit Pfosten, an denen übereinandergereiht Schädel von Rindern angebracht sind. Hören wir, wie sich Leo F r o b e n i u s hierzu äußert: „Schädel und Geisterpfahl werden in gleicher Weise als Wohnstätte des Geistes angesehen. So verstehen wir ihre Verbindung. An der Goldküste wurden früher Verwandte und Befreundete eines Häuptlings bei dessen Tode umgebracht. Ihre Körper sanken mit in das Grab. Die Köpfe aber wurden auf Stangen über dem Grabhügel aufgerichtet ,als eine Zierde, die den Toten zur Ehre gereicht'. So ragen in allen Teilen Afrikas auf den Gräbern der Fürsten und Vornehmen die auf Stangen befestigten Schädel derer empor, die den Edlen ins Jenseits begleiteten" 52). — Bemerkenswerterweise deuten die Aussagen von Erforschern Neuguineas auf ganz ähnliche Erscheinungen hin. Merlin Moore T a y l o r 5 3 ) unterläßt nicht, darauf hinzuweisen, daß man den Begräbnissitten des Gebirgsvolkes zufolge die bis zu sieben Meter hohen Bestattungsgerüste mit einem kleinen Zaun einfriedigte, auf dessen Pfosten die Papua mitunter Schädel aufsetzten, nachdem diese bei einem Festschmaus den Ehrenplatz eingenommen und an ihnen die heilige Salbung — diesmal mit dem Blute eines Festschweines — vollzogen war. W i r z vermochte auf seiner Süd51) a. a. O. S. 382. 52) a. a. O. S. 186. 53) Bei den Kannibalen von Papua. Innern Neuguineas. 1925, S. 123.
Auf unbekannten Pfaden im
85
Neu-Guinea-Forschungsreise ganz e n t s p r e c h e n d e Beobachtungen zu machen. „Als besonders a u f f a l l e n d erwiesen sich ,ihm' die Grabbeigaben, die a u ß e r Schmuckstücken, W a f f e n u n d H a u s r a t auch aus Schädeln bestanden, die auf dem Zaun oder an Stöcken aufgesteckt w a r e n " 54). W i r z deutet sie als ,Trophäen yon K o p f j a g d e n , die der Verstorbene vermutlich erbeutet hatte'. Die durch die K o p f - P f a h l - U m z ä u n u n g als solche gekennzeichnete G r a b s t ä t t e selbst galt als sahr, d. h. tabu, wobei in den Boden gesteckte bemalte S a g o b l a t t r i p p e n oder Pfeile als Warnungszeichen dienten. W e r n u n von einem derartigen Bestattungszaun einen der a u f g e p f l a n z t e n Schädel herabhebt, um ihn mit sich zu nehmen, versündigt sich; er verletzt zugleich mit dem Berühren und E n t f e r n e n der K o p f r e l i q u i e das Schädeltabu (s. bereits w. o.). Was hierbei alles f ü r den reisenden Forscher eintreten k a n n , h a t T a y l o r selbst a m eigenen Leibe e r f a h r e n müssen, w i d m e t er doch in seinem Reisebericht ein volles K a p i t e l " ) diesen so m e r k w ü r d i g e n , mit dem „verhängnisvollen Schädel" engstens v e r k n ü p f t e n Begebenheiten. — D a ß n u n auf P f ä h l e r e p r ä s e n t a t i v aufgesteckte Schädel bei festlichen Gelegenheiten gewissermaßen als w i r k s a m e Aushängeschilder — d u r c h a u s abseits von T o t e n k u l t und Bestattungswesen — erhöht p a r a d i e r e n k ö n n e n , um den G ä s t e n eines Dorfes die T a p f e r k e i t und Macht des Stammes sinnfällig vor Augen zu f ü h r e n , d ü r f t e aus den wertvollen Beobachtungen F r a n k H u r 1 e y s 5e ), die er auf seiner Expedition in dem Dorf Kerewa auf der Insel Goaribari machte, klar hervorgehen. Hier h a t t e der sog. „Empfangsausschufi f ü r durchreisende F r e m d e " kleine G r u p p e n von Schädeln längs des Ufers auf Stangen aufgesteckt, d a m i t sie die A u f m e r k s a m k e i t der S i c h n ä h e r n d e n auf sich l e n k e n u n d somit diese zum Verweilen einladen sollten. ID der T a t d ü r f t e n diese w u n d e r l i c h e n Gebilde, diese mit P a l m b l ä t t e r k r a u s e n verzierten, rotbemalten, im Schmuck ihrer rüsselartigen Nasen p r a n g e n d e n „grinsenden T o t e n f r a t z e n " als erhöhte Schädelembleme angesprochen w e r d e n , in d e n e n sich Macht u n d Würde, die ganze Ehrfurcht erheischende G e w a l t des Stammes symbolisch konzentriert. — Es k a n n nicht z w e i f e l h a f t sein, d a ß von derartigen auf Stangen e r h ö h t e n naturalistischen K ö p f e n bezw. Schädeln j e n e künsterisch geschnitzten, reich verzierten K o p f k n ä u f e a n hölzernen H ä u p t lingsstäben, wie sie uns e t w a in Portugiesisch-Kongo bei d e n Songo begegnen, ihren A u s g a n g s p u n k t genommen haben. 54) a.a.O. S. 262. 55) a.a.O. das 19. Kapitel: S. 213—222 „Der verhängnisvolle Sdiädel". 56) a. a. O. S. 132 u. 136.
86
Der Kopf resp. Schädel wird nun nicht nur aufgestellt oder aufgesteckt, er wird auch aufgehängt. So hängt, wie uns die Bildbeigaben von Werken wie das Up de G r a f f ' s " ) und das D o m v i l l e - F i f e ' s 5 8 ) , aber auch die zahlreichen in Museen konservierten Stücke deutlich zeigen, der sorgfältig präparierte, mit Tukanfedern geschmückte ausgestopfte Beutekopf, jene langhaarige Kopftrophäe der Jivaro am oberen Amazonas am durch die Scheitelhaut gezogenen Bandwerk, und bei den Kopfjägern auf Borneo hängt, wie z. B. aus der Bildbeigabe des M j ö b e r g schen Werkes 59 ) ersichtlich, der nackte Schädel in einem eigenartig zum Netz oder Sack improvisatorisdb verschlungenen Bandkorbe, der überaus roh und primitiv geflochten ist. Uberhaupt wird man auch anderswo die bedeutungsvollste aller Knochenreliquien in einem improvisierten Flechtwerk bezw. direkt einem Flechtwerkkorbe im Familienhause aufgehängt haben. Vom Befestigen der Schädel an K n o c h e n l e i t e r n , die aus den Armund Beinknochen der erbeuteten Menschen gebildet waren und die man dann vor den Dächern aufzuhängen pflegte — ein Brauch, wie er uns in Holländisch-Neuguinea am oberen Maro entgegentritt —, weiß W i r z 6n) zu berichten. D a ß man sich für den Transport, das recht beliebte Herumtragen von Knochen und Schädeln geflochtener Körbe, Flechtwerktaschen oder Beutel bediente, ist ohne weiteres verständlich, wie auch das Tragen der Knochenreliquien in Gefäßen und Krügen nicht befremden darf. M j ö b e r g zeigt auf einer seiner Bildbeigaben 61 ), daß auf Borneo menschliche Knochenreste in einem großen Kruge auf dem Rücken getragen werden, wie überhaupt auf Borneo das krugartige Gefäß als Reservoir für Totengebeine in Geltung stand. Erinnert sei hierbei nur an jenes seltsame Totengerüst, „Jerunci" genannt, das als Basis für eine riesige Lehmurne diente, in der man die trockenen Gebeine, blanke Knochen wie Schädel u. dgl. beizusetzen pflegte 6 2 ). „ Daß der Kopf nach dem Glauben gewisser Eingeborenen die ihm innewohnende Kraft als die seines ursprünglichen Trägers auf den neuen Besitzer und Verehrer resp. dessen Kinder auf magische Weise abzugeben imstande ist, dafür zeugt die enge Verbindung von K o p f u n d N a m e n z a u b e r , 57) a . a . O . Tafel S. 272 gegenüber. 58) Unter Wilden am Amazonas. Forschungen und Abenteuer bei Kopfjägern und Menschenfressern. 1926; s. das Titelbild! 59) a. a. O. S. 256 gegenüber. 60) a . a . O . S. 87; s. auch Tafelabbildung 127. 61) a. a. O. Tafel S. 97 gegenüber, linkes Bild. 62) ebd. S. 292.
87
e i n e r e c h t b e a c h t e n s w e r t e E r s c h e i n u n g , d e r e n K e n n t n i s w i r einzig u n d allein d e n g e s c h i c k t e n B e o b a c h t u n g e n von W i r z in H o l l ä n d i s c h - N e u g u i n e a v e r d a n k e n . Bei d e r E r b e u t u n g d e r K o p f t r o p h ä e n b i l d e t e d e r N a m e d e r b e t r e f f e n d e n P e r s o n die H a u p t s a c h e ; d e r N a m e ist so w i c h t i g , d a ß er bei e i n e m e t w a i g e n V e r k a u f des B e u t e s t ü c k e s i m m e r gleich m i t g e n a n n t z u w e r d e n p f l e g t , d a m i t er als h o c h w i c h t i g e B e i g a b e in d e n u n u m s c h r ä n k t e n Besitz des K ä u f e r s zugleich mit der Aneignung der Kopfreliquie übergehen k a n n . D e r N a m e eines e r b e u t e t e n K o p f e s k o m m t n u n j e w e i l s e i n e m K i n d e z u g u t e , d a s selbst n o c h k e i n e n N a m e n besitzt, u n d b i l d e t f o r t a n dessen H a u p t n a m e n . G e w i ß g r e i f t diese Sitte, w i e W i r z g a n z r i c h t i g b e m e r k t , a u f d e n a n i m i s t i s c h e n , besser w o h l p r ä a n i m i stischen G l a u b e n der Eingeborenen z u r ü c k ; d e n n zugleich mit dem N a m e n w e r d e n a u f g e h e i m n i s v o l l e W e i s e m a g i s c h e K r ä f t e a u f die b e n a n n t e P e r s o n ü b e r t r a g e n , die f ü r sie i m s p ä t e r e n L e b e n v o n B e d e u t u n g sein sollen 63 ). — A n e i n e r a n d e r e n Stelle, n ä m l i c h bei B e s p r e c h u n g des R a p a k u l t e s , d e s s e n g e h e i m n i s v o l l e Z e r e m o n i e n eine s y m b o l i s c h e V o r f ü h r u n g d e r M y t h e v o n d e r E n t s t e h u n g des F e u e r s d a r s t e l l e n , zeigt W i r z 6 4 ) , w i e a u c h die K r a f t d e r in mysteriöser H a n d l u n g den grausamen O p f e r t o d erleidenden Person nach Abschluß aller Festlichkeiten d u r c h den N a m e n - K o p f Z a u b e r a u f a n d e r e ü b e r t r a g e n zu w e r d e n p f l e g t . W ä h r e n d die K n o c h e n des l e b e n d i g v e r b r a n n t e n M ä d c h e n s — diese V e r b r e n n u n g stellt e i n e s y m b o l i s c h e W i e d e r h o l u n g des g r ä ß l i c h e n F e u e r w u n d e r s d a r — r o t b e m a l t u n d zu d e n a n d e r e n in d a s b e d e u t s a m e B ü n d e l , d a s d e n F e u e r g e i s t v e r s i n n b i l d l i c h e n soll, g e t a n w e r d e n , a n d e r e K n o c h e n h i n w i e d e r u m auch a m F u ß e j u n g e r K o k o s p a l m e n — gewiß zwecks E r h ö h u n g ihrer F r u c h t b a r k e i t u n d ihres Ertrages — v e r g r a b e n w e r d e n , d i e n t d e r K o p f des k u l t i s c h e r m o r d e t e n Mädchens, n a c h d e m er dem P r ä p a r i e r u n g s v e r f a h r e n unterzogen u n d v e r w a h r t w u r d e , — g a n z w i e die K o p f j a g d t r o p h ä e n — z u r N a m e n g e b u n g eines K i n d e s . Wie der Kraftstoff tragende, erbeutete bezw. vererbte Schädel in d e r a n d e r e n W e l t s e i n e m Besitzer u n d V e r e h r e r in d i e n e n d e r W e i s e die V i t a l i t ä t seines e h e m a l i g e n T r ä g e r s z u f ü h r t , so s c h ü t z t er i h n a u c h in diesem L e b e n vor a l l e n F ä h r n i s s e n u n d M a c h e n s c h a f t e n böser M e n s c h e n u n d d ä m o n i s c h e r W e s e n . Somit g e w i n n t d e r K o p f f ü r d e n P r i m i t i v e n a u c h B e d e u t u n g als A m u l e t t r e s p . T a l i s m a n . M ö g e n s c h o n die G e b e i n e des T o t e n g a n z a l l g e m e i n als S c h u t z k r a f t t r a g e n d e R e l i q u i e n G e l t u n g h a b e n , so ist es g a n z 63) a.a.O. S. 263. 64) ebd. S. 197.
88
besonders der Schädel als hauptsächlichstes Stück aller Gebeine, in dem sich schützende Energien konzentrieren. Nach einem von T a y l o r 6 5 ) wiedergegebenen Bilde ist es bei den Papuas, speziell den Bergbewohnern unter ihnen Sitte, einen Schädel an einem um den Hals gelegten Bande als Amulett zu tragen. D a ß an die Stelle des Naturschädels auch ein künstliches Gebilde, d. h. ein kunstvoll aus Holz geschnitzter Menschenkopf treten kann, erhellt f ü r die Welt der Südsee aus einem Hinweis P a r k i n s o n s 6 6 ) , nach dem mit Federn umschnürte Holzstäbe das hervorstehende Ende — es entspricht dem Gelenkkopf des Arm- resp. Schenkelknochens — in Gestalt eines Menschenkopfes geschnitzt zeigen. Entsprechende Kopfstab-Gebilde gelten auf den Salomo-Inseln — wie auch wohl den Admiralitätsinseln — als Amulett, das den Träger im Kriege gegen Verwundung schützen soll. — Es ist nun durchaus bemerkenswert und k a n n unsere soeben vorgetragene Auffassung vom Amulett-Schädel nur bestätigen, daß nicht nur der Kopf bezw. Schädel als Ganzes, sondern auch s e i n e B e s t a n d t e i l e i m e i n z e l n e n , wie Hirnschale, Unterkiefer, Zähne, Haar, Auge als k r a f t b e g a b t von gewissen Völkerschaften der rezenten Primitiven angesehen werden und somit auch — wenigstens zum Teil — in den Rang von Talismanen a u f r ü c k e n können. — Der eigenartigen Bedeutung der Hirnschale bezw. des aus ihr gefaßten S c h ä d e l b e c h e r s , der nach dem Glauben des primitiven Menschen die Vitalität des verehrten Ahnen umschloß und diese dann zugleich mit dem T r u n k an den Nachfahren beständig veräußerte, w u r d e n wir uns schon in Anbetracht der vorgeschichtlichen F u n d e b e w u ß t ; f ü r die Welt der rezenten Primitiven, insbesondere die primitive Kultur Afrikas hat besonders F r o b e n i u s auf diese merkwürdige magische Sitte hingewiesen. So wird in einem Orte des Otschi-Sprachgebietes dem Hauptgotte Sia alljährlich eine neue aus einem Menschenschädel verfertigte Trinkschale geopfert, denn aus einer gewöhnlichen Kürbisschale zu trinken entspricht nicht der Würde des Gottes. Wer nun eine solche naturalistische Trinkschale darbringt, genießt naturgemäß ein ganz besonderes Ansehen, gilt f ü r ein ganz hervorragend tapferer Krieger seines Gottes. Vielfach ist nur den glücklichen Spendern derartiger kostbarer Dinge die Teilnahme an den Tänzen zu Ehren der Gottheit gestattet. Weiterhin bemerkt F r o b e n i u s , daß die Verwendung der Hirnschalen als Trinkgefäße eine weit verbreitete Sitte auf afrikanischem 65) a . a . O . Bild S. 272 gegenüber. 66) a. a. O. S. 369. 67) a. a. O. 1898, S. 178.
89
Boden darstelle. Gefangene Missionare beobachteten im Lager des Aschanti-Heeres, „wie ein Mann sich aus einem ganz frischen Schädel ein Trinkgefäß bereitete". Anga Anga, ein König am unteren Kongo, trank Palmwein aus den ausgegrabenen Schädeln seiner verstorbenen Feinde. Bei Cap Corse taten die Neger mit den Schädeln der erschlagenen Holländer in gleicher Weise. Bemerkt sei schließlich noch, daß sich im Kongogebiet das kunstvolle Herrichten holzgeschnitzter Kopfbecher zu höchster Blüte entfaltet hat. — Die menschlichen U n t e r k i e f e r , denen W i r z 6R) wenigstens für die Zustände auf Holländisch-Neuguinea eine größere Bedeutung beimißt als dem Schädel selbst, sind in ganz hervorragender Weise Kraftträger. Am oberen Maro (Süd-Neu-Guinea) führen sie die Weiber an ihren Beteltaschen hängend mit, und in der gleichen Gegend mögen diese Unterkiefer in früherer Zeit — auf Grund ihrer Durchbohrung und Verkettung mittels eines Schnürwerks — als Schmuck am Oberarm Verwendung gefunden haben 69 ). Für die Südsee belegt P a r k i n s o n 7 0 ) die besondere Bewertung des menschlichen Unterkiefers, indem er beiläufig vermerkt, es sei bei den Stämmen des mittleren Teiles von Neupommern, insbesondere bei den Sulka, Sitte, den mit Rindenstoff umwickelten 71) Unterkiefer als Schutzmittel im Kampf an einer Schnur um den Hals zu tragen. — Wie der Menschenschädel, so wird auch d e r T i e r s c h ä d e l als Kräfteträger bewertet, wobei besonders der Schädel eines Ebers Bedeutung gewinnt. Letzterer spielt im Schweinekult, der Suque, die — über große Teile Melanesiens verbreitet — sich in den Zentralhebriden und auf den Bankinseln zu einer großen Macht entfaltet hat, eine hervorragende Rolle. Im Mittelpunkt dieser Suque stehen die Unterkiefer der Schweine, die nach der mit allerlei geheimnisvollen Zeremonien und symbolischen Handlungen verbundenen Schlachtung dieser gereinigt, dann kreisförmig an Lianen aufgereiht als stolze Trophäen des Opferfestes und als sichtbares Zeichen des Reichtums ihrer Besitzer im Gamal, d. i. dem Versammlungs- resp. Geisterhause aufgehängt werden 72). 68) a . a . O . S. 87. 69) ebd. S. 88. Vgl. dazu Abb. 180 bei K 1 a a t s c h - H e i 1 b o r n a. a. O. S. 229. 70) a. a. O. S. 194. 71) Eine Lage Rotang mit gunhi-Rinde wird noch darüber geflochten und ein Stückchen Ingwer daran gebunden, wobei der Knochen an beiden Enden bloß bleibt: vielleicht tut sich in dieser eigenartigen umständlichen Umwicklung, die auch bei Stäben bezw. Knochen üblich, eine Art Schniirzauber kund! 72) Vgl. F. S p e i s e r a . a . O . S. 75 f.; 166 etc., s. auch Tafel 27 redits oben, Tafel 29: desgleichen Tafel 14.
90
F ü r einzelne Völker des arktischen Kulturkreises ™) ist es bezeichnend, daß sie Tierschädeln eine besondere Bedeutung beilegen, indem sie sie zum O b j e k t gewisser Zeremonien ausersehen. Der Ainu pflegt Schädel der Hirsche, Bären und Wölfe, die er auf der Jagd getötet hat, an geweihter Stätte niederzulegen 74). Nach G a h s " ) werden in Ost-Grönland Bärenschädel drei Tage lang im Hause gehalten und „gefüttert", dann aber ins Meer versenkt. Wie A. E. N o r d e n s k i ö l d 7 0 ) zu berichten weiß, f a n d e n sich bei den verlassenen Ansiedlungen der Onkilon, wohl eines Stammes der äußersten Westeskimo, große Ansammlungen von Bärenschädeln, die teils im Kreise mit der Schnauze nach innen gerichtet am Boden deponiert lagen, teils mit Renntier- und Walroßschädeln vermischt am hochaufgerichteten Renntiergeweih angeordnet waren, wobei es durchaus dahingestellt sein mag, ob man es hier in Anbetracht dieser Schädel-Plätze in der T a t mit früheren Opferstätten zu tun hat. Vorzüglich ist es nun aber der Bärenschädel, der uns als bedeutsames Kultobjekt vor allem bei den Ainu entgegentritt. Pflegt man einerseits den — und zwar zunächst noch mit dem Fell verbundenen — Kopf des beim Bärenfest in ritueller Weise getöteten Bären am Ostfenster auf einer Matte niederzulegen 77), so erhöht man ihn andererseits — bei verfeinerter, fortgeschrittener Kultübung — als naturalistischen Fetisch bezw. K r a f t t r ä g e r auf einem P f a h l (d. i. dem „ P f a h l f ü r Absendung"), indem man ihn zwischen zwei gabelförmig auseinandergespreizten Stäben, d. i. im ,nusa' Aufstellung finden läßt 7 "). Während noch P. W. S c h m i d t , gestützt auf die Untersuchungen seines Schülers A. G a h s 79), diesen eigentümlichen Ritus der Opferidee unterzuordnen sucht, indem er, völlig in den Bahnen von G a h s wandelnd, an ein altes D a n k - und Bittopfer 73) Erwähnt seien hier die Samojeden u. Zentral-Eskimo, Wogulen, Suomi, vorzüglich auch die nördlichen Tungusen und RenntierKorjaken. 74) J. B a t c h e l o r : The Ainu of Japan. The religion, superstitions and general history of the hairy aborigines of Japan. 1892, S. 95. 75) Vgl. bei P. W. S c h m i d t : Ursprung der Gottesidee. Bd. III, 1931, S. 517. 76) „Die Nordpolarreisen Adolf Erik Nordenskiölds 1858—1879", deutsche Ubersetzung 1880, S. 338 f. 77) Vgl. bei P. W. S c h m i d t a. a. O. S. 542. 78) Vgl. W. K r e m p : Beiträge zur Religion der Ainu. Bonner Inaugural-Dissertation. Freiburg 1928, S. 59 „Noch am selben Nachmittage (d. i. des Bärenfestes) wird der Kopf vom Rumpfe getrennt, die Schädelhöhle gesäubert und, nachdem die Haut teilweise abgezogen ist, mit inao-Büscheln geschmückt, um so zwischen zwei kike-chinoye-inao an einem iyomande-ni d. h. Wegsende-Stock im nusa aufgestellt zu werden". S. ebd. Fig. 27, 28 u. 31. 79) Kopf-, Schädel- und Langknochenopfer bei Renntiervölkern, in der P. W. S c h m i d t - Festschrift. 1928, S. 248 f.
91
a n das H ö c h s t e W e s e n , d a s a u c h d e n C h a r a k t e r eines E r s t l i n g s opfers tragen kann, d e n k t s 0 ) , h a t W. K r e m p mit vollem Recht diese b e r e i t s v o n B a t c h e l o r e i n g e f ü h r t e , d e n w a h r e n S a c h v e r halt durchaus entstellende Theorie mehr oder minder energisch z u r ü c k g e w i e s e n 81 ): „ D i e B ä r e n k ö p f e a m n u s a w i e a u d i d i e j e n i g e n a n d e r e r T i e r e , w i e F ü c h s e , E u l e n , F i s c h e usw., h a b e n i m G l a u b e n d e r A i n u , w e n n a n d e r s m a n sich a n die t a t s ä c h l i c h e n A n g a b e n d a r ü b e r h a l t e n will, e i n e m a g i s c h e B e d e u t u n g , sie s i n d in k e i n e m F a l l e O p f e r " ft2). — D a ß a u c h sogar d i e m e n s c h l i c h e n Z ä h n e als A m u l e t t B e d e u t u n g zu g e w i n n e n v e r m ö g e n , zeigt f ü r d a s G e b i e t d e r S ü d s e e ein nach P a r k i n s o n s M i t t e i l u n g S3) im T o t e n k u l t d e r M o a n u s g e ü b t e r B r a u c h . H i e r „ w e r d e n d e m S c h ä d e l des V e r s t o r b e n e n v o r h e r die Z ä h n e a u s g e n o m m e n , u n d d i e S c h w e s t e r des T o t e n m a c h t sich d a r a u s ein H a l s b a n d " . S p e i s e r s Beobachtungen b e w e g e n sich g a n z a u f d e r g l e i c h e n L i n i e , w e n n er h i n s i c h t l i c h d e r L e u t e v o n V a o b e m e r k e n k a n n : „ . . . u n d z e i t l e b e n s , w i r d ' eine Locke, ein Z a h n , ein F i n g e r g l i e d des T o t e n i n e i n e n L a p p e n gew i c k e l t als t e u r e s A n d e n k e n u m d e n H a l s g e t r a g e n " 84 ). U b e r a u s v e r b r e i t e t bei d e n P r i m i t i v e n d ü r f t e e i n e B e w e r t u n g des K o p f h a a r e s als A m u l e t t r e s p . als T r ä g e r v o n K r a f t - u n d S c h u t z s t o f f sein. B e m e r k e n s w e r t w ä r e h i e r , d a ß a u c h in d e r a l t e n W e l t , i m O r i e n t w i e im A b e n d l a n d e , d a s H a u p t h a a r als T r ä g e r v i t a l e r K r ä f t e , als Sitz b e s o n d e r e r Z a u b e r k r a f t in G e l t u n g s t a n d — e i n e T a t s a c h e , a u f die a n dieser Stelle n ä h e r e i n z u g e h e n ich m i r v e r s a g e n m u ß . W i e w i r b e r e i t s o b e n h ö r t e n , b e s t a n d in P o l y n e s i e n , vorzüglich auf gewissen I n s e l g r u p p e n unweit der Admiralitätsinseln, die e i g e n t ü m l i c h e Sitte, d a ß z u r Zeit d e r M a n n b a r k e i t s r i t e n d e r K o p f des N o v i z e n , i n s b e s o n d e r e a b e r sein H a a r als h e i l i g b e z w . t a b u galt. Es w u r d e h i e r als b e s o n d e r e s R e s e r v a t des H ä u p t l i n g s a n g e s e h e n , die F r i s u r des E i n g e w e i h t e n h ö c h s t e i g e n h ä n d i g h e r z u 80) a.a.O. S. 462/63 = Abschnitt c: Kopf-, Schädel- und Knochenopfer; vgl. auch ebd. S. 334, 339, 516 f., 541, 548 f. 81) a. a. O. S. 61 ff. Eine „allgemeine Opferidee", die „einen gewissen Anteil an den mit dem Bärenfest verbundenen Vorstellungen haben ,könnte' ", will K r e m p noch gelten lassen, speziellere jedoch „sind als mit den Tatsachen nicht vereinbar abzulehnen". Man vgl. bes. S. 62: „Noch weniger darf man behaupten, daß in den am nusa aufgesteckten Bärenschädeln Primitialopfer zu sehen seien, die dem höchsten Wesen dargebracht wären, wie das von G a h s getan worden ist, der bei den Renntiervölkern durchgehende Zusammenhänge von Schädelopfern mit der Idee eines obersten Weltgottes erkennen will." 82) ebd. S. 63. 83) a. a. O. S. 405. 84) a. a. O. S. 82.
92
richten 80). Weiterhin d ü r f t e es f ü r die Sitten der Südsee-Insulaner bezeichnend sein, daß der Mann der Admiralitätsinseln auf der Kriegsfahrt Haarbüschel an einer Schnur um den Hals gebunden trägt, damit so seine Siegeskraft magisch gestärkt, ihm Schutz vor dem andringenden Feind zuteil werde. Nach einer auf die Kriegsbräuche der D a j a k e n Borneos hinzielenden Mitteilung M j ö b e r g s se ) wird der Kopftrophäe „das H a a r abgeschnitten und unter die erwachsenen Männer verteilt, die ihre Schilde und Kopfjägerschwerter damit zieren'", eine eigentümliche Gepflogenheit, die gewiß ebenfalls ursprünglich die magische Stärkung bezweckte. D a ß es auch mit dem m e n s c h l i c h e n A u g e im — auf Neuseeland geübten — Speisezauber seine eigene Bewandtnis hat, konnten wir bereits oben beobachten. — Bei den Stämmen des mittleren Teils von Neupommern ist es das Auge eines Verstorbenen, das nach den naiv-primitiven Vorstellungen der Eingeborenen den Mörder entlarvt" 7 ). Wie R i 1 e y 88) uns über die Papuas der Insel Kiwai mitteilt, verleiht der Besitz der Augen eines getöteten Gegners über diesen selbst Gewalt, womit zugleich eine besondere Art des Augenzaubers verbunden ist. — Vom häufigen Aussenden und Wiederzurückrufen der eigenen Augen fabeln die Märchen und Sagen der Nord- wie Südamerikaner, wobei f ü r letztere das „Augenspiel" genannte Märchen der Taulipang-Indianer am oberen Branco bedeutsam erscheint, dessen einzelne Grundmotive in der indianischen Erzählerkunst häufig wiederkehren 89). — Ich wende mich nunmehr dem Problem der B e f r a g u n g der G o t t h e i t o d e r r i c h t i g e r des A h n e n g e i s t e s im 85) Vgl. P a r k i n s o n a. a. O. S. 439/40. 86) a . a . O . S. 256 resp. 283; s. auch die Abbildung eines solchen mit Haarbüscheln geschmückten Kopfjägerschwertes ebendort Bild 2, S. 256 gegenüber. 87) Vgl. P a r k i n s o n a . a . O . S. 200/01. 88) Among Papuan head-hunters S. 88; wieder mitgeteilt bei L. L e v y B r u h l : Die Seele der Primitiven. 1930, S. 259: „An einem Ende des mittleren Saales des darimo (geheiligten Männerhauses) konnte man zwei Kreise mit dunklen Mittelpunkten sehen. Man hatte zwei Löcher in die Diele gebohrt, und in jedes von ihnen pflegte man ein getrocknetes Auge eines in einer Schlacht getöteten Feindes zu stecken. Das waren die beiden Punkte . . . . Man glaubt, daß die getöteten Feinde (spirits of slain enemies) in diesen beiden Augen wohnen und daß diese Toten die Fähigkeit besitzen, die .Geister' der Feinde gefangen zu nehmen, sie dadurch schwach und unfähig zu machen und so den Angreifern zu einem leichten Siege zu verhelfen, wenn die Männer, die das Haus gebaut haben, ins Feld ziehen." — 89) Th. K o c h - G r ü n b e r g : Indianermärchen aus Südamerika. 1921, Nr. 40, S. 131.
93
L i c h t e d e r r e l i g i ö s e n Y o r s t e 11 u 11 g e n d e r r e z e n t e n P r i m i t i v e n zu, um dann in einem folgenden Abschnitt speziell auf die mit dem Kopf resp. Schädel v e r k n ü p f t e n Formen der Geisterbefragung einzugehen. Der Tote oder Ahne, der in das Geisterreich aufgerückt ist und dessen Machtfülle sich der der göttlichen Wesen nähert, verf ü g t über geheimnisvolle Kräfte. Mit übermenschlichem Wissen ausgestattet weiß er um die Z u k u n f t und vermag willkommene Auskunft zu erteilen, wie man etwaigen Widerwärtigkeiten, j a schlimmen G e f a h r e n glücklich zu entgehen vermag. So wird verständlich, daß der Primitive in allen problematischen Lebenslagen den Geist des toten, nunmehr vergöttlichten Ahnen um Rat fragt, d a ß er sich ihm in Augenblicken voller Bedrängnis naht, um den begehrten Willensentscheid aus dem Geisterreich entgegenzunehmen und somit Richtlinien f ü r sein eigenes zukünftiges Handeln zu empfangen. Die eigenartige Gepflogenheit, die wir hier vor uns haben, ist der Spiritismus, die Übung der T o t e n b e f r a g u n g , die, wie in Altertum und Moderne, so auch in der naturvölkischen Menschheit eine nicht unbedeutende Rolle gespielt hat. Das Geheimnis der Befragung der Toten oder besser der Ahnen ist begründet im naiven Denken, in der kindlichen Seelenstimmung bezw. der primitiven Religiosität des naturvölkischen Menschen, f ü r den es keine Trennung geben kann, vielmehr ein lebendiger Zusammenhang mit den vorangegangenen, im Totenreich befindlichen und von hier aus wundersame K r ä f t e sowie Ratschläge mitteilenden Ahnen besteht. So kann es zu einem lebh a f t e n Gedankenaustausch, j a geradezu lauten Wortwechsel mit dem Totengeist kommen, bewegt und erregt doch das Gedenken an den Verstorbenen unaufhörlich die primitive Geistigkeit. Von S y d o w " ) macht hier aufmerksam auf einen höchst seltsamen, f ü r den Modernen schier unbegreiflichen Fall, der einer A f r i k a forscherin begegnet ist. Nach ihrer Erzählung hörte sie einen Neger ganz allein ein Gespräch führen, als ob er sich mit einer unsichtbaren Gestalt unterredete — und es ergab sich, d a ß dieser Neger mit seiner verstorbenen Mutter, die f ü r ihn gegenwärtig war, sich unterhielt. In der T a t mag dies dem Modernen völlig unverständliche Verhältnis f ü r weite Bezirke charakteristisch sein. Recht häufig mag auch das visionäre Element, der eigentliche 90) Ahnenkult u. Ahnenbild der Naturvölker. 1924, S. 13 in „Schöpfung", Beiträge zu einer Weltgeschichte religiöser Kunst, hg. von Oskar B e y e r , Bd. 6.
94
Wurzelboden alles religiös-mystischen Empfindens, die Brücke vom Lebenden zum Toten schlagen, ohne daß man durchaus an grobsinnliche Erscheinungen wird zu denken brauchen. Auch schon mehr andeutungsweise kann sich der Totengeist offenbaren: das leise Rauschen der Palmbaumblätter, das sanfte Säuseln eines Lufthauches wie der ungestüm dahinbrausende Wirbelwind, sonst bezeichnend für das geheimnisvolle Walten der Naturgeister, mag die Gegenwart des verehrten Ahnengeistes kund tun. Mit besonderer Vorliebe pflegt sich dieser in der Nähe der Tanzplätze, der geweihten Schauplätze kultischer Handlungen, aufzuhalten, wobei er seinen Sitz vorzüglich bei den im Gebüsch, im geheimnisvollen Dunkel stehenden Idolen und Ahnenbildern zu nehmen beliebt. „In ihrer Nähe" so bemerkt S p e i s e r 9 1 ) bei Schilderung des typischen Vorganges treffend, „bläst der Ambrymese in der Dämmerung auf seiner Bambusflöte und lockt den Geist der Ahnherrn herbei. Irgendein Geräusch, ein Rascheln oder das Fächeln eines Blattes in der Nähe der Statue zeigt ihm die Ankunft des Geistes an, dem er dann sein Leid klagt, und den er um Hilfe bittet". — Die Befragung des Geistes des Vorfahren resp. das Bittgesuch an den ehrwürdigen Toten mag auch häufig, wie wir es z. B. von Königen der Südsee überliefert haben, am Grabe des Verstorbenen, d. h. direkt am Erdhügel, unter dem dieser ruht, stattgefunden haben, zugleich ein sprechendes Zeugnis dafür, wie wesentlich die Sitte der Totenbefragung mit dem Totenkult und dessen so geheimnisvollen Bräuchen verwachsen ist. Eine Befragung des Toten bezw. Totengeistes im Rahmen der um die Leiche bemühten Bestattungszeremonien begegnet nicht selten 92 ), und hier ißt es vor allem der noch unbestattet auf der Bahre liegende bezw. auf ihr zu Grabe zu tragende Leichnam des Verstorbenen, an dessen spontaner resp. auf künstliche Weise hervorgerufenen Bewegung der positive oder negative Willensentscheid des Toten- oder besser Ahnengeistes offenbar wird. Diese höchst eigentümliche Sitte der Befragung des sog. „lebenden Leichnams" auf der Bahre läßt im Hinblick auf die uns nicht gerade zahlreich vorliegenden Berichte unschwer erkennen die nicht uninteressante Entwicklung vom Inspirationsorakel hin zum technischen Orakel. Erschloß man zunächst aus der spontanen, also rein zufällig ausgeführten Bewegung der auf der Bahre trans91) a. a. O. S. 216. 92) So vor allem in Afrika nach Mitteilungen von Forschern wie M a t t h e w , v a n W i n g , N a c h t i g a l , B u c h n e r u. a., in Neuguinea z. B. nach dem Bericht H u r 1 e y ' s.
95
portierten oder aufgebahrten Leiche bezw. dem Hin- und Herschwanken ihrer Träger die zustimmende bezw. versagende Antwort des Ahnengeistes, so regeln allmählich mehr und mehr Zauberer und Medizinmänner, aber auch eingeweihte Bahrenträger und an der niedergesetzten Bahre stehende Kultfiguranten die Bewegungen des toten Körpers nach eigenem Gutdünken. Aber trotzdem handelt auch im letzteren Falle der Geist des Toten für das durch geheimnisvolles Schauspiel stark erregte, dazu gläubig hingegebene Bewußtsein des ahnungslosen, da uneingeweihten gemeinen Mannes völlig spontan, und von der Unantastbarkeit des — wie er vermeint — aus göttlicher Sphäre ihm zuteil gewordenen Entscheides ist der einfache primitive Zuschauer fest überzeugt. Hierzu paßt trefflich H u r l e y s Äußerung, wenn er seinen Bericht mit den Worten schließt: „Natürlich war die ganze Untersuchung — gemeint ist die Totenbeschwörung, bei welcher der Geist des Verstorbenen den an seinem Tod schuldigen Zauberer offenbaren soll — ein abgekartetes Spiel, aber sie machte einen tiefen und unauslöschlichen Eindruck auf die gesamte leichtgläubige Versammlung, die sich zu krankhafter Nervenüberspannung aufgereizt hatte" M ). Vorzüglich ist es nun die uns bei den rezenten Primitiven begegnende B e f r a g u n g d e s K o p f e s bezw. S c h ä d e l s eines Menschen — aber auch Tieres — zwecks Ergründung des Willens des in diesem wohnenden Ahnengeistes, der wir schließlich noch als einer in der Tat recht eigentümlichen Form unter den sonst üblichen Arten der Toten- bezw. Geisterbefragung unsere Aufmerksamkeit zuwenden wollen. Wie der Tierkopf so findet auch gerade der Menschenkopf resp. Menschenschädel bei der Befragung des Toten bezw. Ahnengeistes in hervorragendem Maße Verwendung. Bereits an der aufgebahrten Leiche vermeint, wie uns Lad. M a g y a r 9 4 ) mitteilt, der südafrikanische Eingeborene aus der Bewegung des Kopfes des „lebenden Leichnams" den Willensentscheid des Ahnen zu empfangen, wobei allerdings, wie wir ausdrücklich erfahren, einer der Totenträger mit der Hand den Kopf des Verstorbenen neigt, als ob dieser „ J a " sagen wollte. — Daß der naturalistische resp. kunstgerecht zubereitete Schädel nicht nur als Erinnerungszeichen in Geltung steht, vielmehr auch bei zahlreichen Beschwörungen von Toten- wie auch Naturgeistern Verwendung finden kann, ist bereits von P a r k i n s o n ganz zutreffend beobachtet 93) a . a . O . S. 95/96. 94) Reisen in Südafrika. 1849—57, 1859, S. 351.
96
worden ! ) r ). Die Geister (pafe) der Verstorbenen, die im allgemeinen' alles Widerwärtige und Schlimme herbeizuführen gesonnen sind, sucht man von ihrem bösen Vorhaben abzuwenden. Eigenartige polynesische Bräuche, über die uns G i l l 9 6 ) Kunde gibt, lassen erkennen, wie man mit dem im Korbe deponierten Schädel die Wettergeister beschwört bezw. durch das S c h ä d e l g e b e t ein gutes Wetter herbeizuzwingen sucht: der abgeschnittene Kopf der nach drei Tagen exhumierten Leiche eines Vornehmen wurde in ein Körbchen getan und dieses im Buge des Kanus aufgehängt. F a n d man nun auf See Gegenwind oder durchnäßten einen tropische Regengüsse, zog man den Schädel aus dem Körbchen, hielt ihn an den H a a r e n in die Höhe und betete dabei um gutes Wetter. — Im hochgeschätzten Kopf resp. Schädel hat j a der Geist des Toten offensichtlich seine Wohnung aufgeschlagen; er gilt daher f ü r seine Besitzer als glückbringender beseelter Gegenstand, den man, will man von Stamm und Familie alles Übel und Unglück fernhalten, gut behandeln muß, indem man ihm z. B. beim Festschmaus die besten Leckerbissen, die angenehmsten kräftigsten Getränke vorsetzt, damit der innewohnende Geist es sich so gemütlich wie n u r möglich machen, er — falls es sich um einen Beutekopf handelt — den Verlust seiner Freiheit völlig vergessen und sich als gnädig gestimmter F r e u n d des Stammes gut eingewöhnen kann. Der einst nach seiner unter großen Feierlichkeiten vollzogenen Präparierung unter eintönigen Gesängen im Umzug nach dem Versammlungs- resp. Langhaus getragene und dort unter ganz bestimmten Festbräuchen am endgültigen Bestimmungsort neben älteren Stücken deponierte Kopf gilt nunmehr als heilig (tabu) und somit u n a n t a s t b a r ; ihn zu berühren wird allgemein als religiöser Frevel angesehen und nur den älteren männlichen Angehörigen des Clans — diese allein verfügen über die gebotene Ehrf u r c h t bei Behandlung der geweihten Reliquien — ist ein Betasten bezw. Anfassen dieser erlaubt. Diese besondere Bewertung der kostbaren Kopfreliquie, zu der andererseits der Lebende in so innigem Verhältnis stehen kann, läßt es durchaus verständlich erscheinen, daß der den Geist des Ahnen bergende S c h ä d e l dem naturvölkisdien Menschen vor allem auch a l s O r a k e l i n s t r u m e n t dient. Im Schädel redet er den gegenwärtigen Geist des teuren Verstorbenen an " ) , klagt er ihm sein Leid und erhofft von 95) a. a. O. S. 441. 96) Savage life in Polynesia. 1881. S. 104. 97) Von einer regelrechten Unterhaltung der Hinterbliebenen mit den in den Schädeln ihren Sitz habenden Ahnengeistern weiß vor allem
97 7
ihm, in ehrfurchtsvollem Aufblick zur wunderkräftigen Reliquie, Rat und fördernde Hilfe in aller Not und Bedrängnis. E. v. S y d o w t r i f f t gewiß das Richtige, wenn er sich hierzu wie folgt äußert: „Nun — nach vollendeter Modellierung und Aufstellung — ist der Schädel ein Gegenstand des Kultes und der spiritistischen (!) Befragung geworden; oftmals richtet man Fragen an ihn, als deren Bejahung sein zustimmendes Nicken gilt'" 9S ). Aber nicht nur das im naiven religiösen Bewußtsein des Primitiven visionär erfaßte Nicken des an der Brüstung des Hauses aufgestellten resp. an der Wand, dem Pfahl oder dem Dachbalken aufgehängten Schädels vermag dem Fragenden die ersehnte Antwort zu geben, schon ein Rauschen des diesen mitunter umhüllenden Blattwerkes resp. das Klappern mehrerer bündelweise dicht aneinander gehängter, vom Windzug hin und her bewegter Köpfe vermag im naturvölkischen Menschen das sichere Gefühl auszulösen, daß der Ahnengeist sich ihm offenbart hat. ü b e r h a u p t mag auch ganz allgemein ein in der Nähe der so geschätzten Reliquien wahrgenommenes Geräusch f ü r eine Kundgebung des Geistes, f ü r eine auf gestellte Fragen gegebene Antwort angesehen werden, wobei in jedem Falle zu beherzigen ist, daß des Rätsels Lösung einzig und allein in der primitiven Seelenstimmung des Eingeborenen zu suchen ist. O f t mag auch eine — wie die folgenden Beispiele zeigen werden — bestimmt und deutlich gegebene Antwort, ein jedem wahrnehmbares Zeichen bei Befragung der Kopfreliquie gar nicht erst erwartet werden: es gilt als selbstverständlich, daß der im Kopfe hausende Ahnengeist sich zu seinen Verehrern nur in unbedingt günstigem Sinne, nur als Freund zu Freunden bezw. als Stammesbruder zu Stammesbrüdern äußern kann. Da hat es nichts zu sagen, ist es vielmehr im Grunde völlig unwesentlich, ob dies auch noch äußerlich, durch
auch C a 11 i n bei Schilderung der Zustände und Gebräuche Nordamerikas zu berichten. An geweihtem Platze, eben jener weiter oben geschilderten eigentümlichen Schädelstätte unterredet sich der Mandaner mit dem Schädelgeist: „Aufler den genannten Pflichten, die die Frauen nach diesen Plätzen rufen (gemeint ist das „Speisen" und „Betten" des Schädels), besuchen sie diese auch aus Neigung, um mit den Toten zu plaudern und ihnen Gesellschaft zu leisten. An schönen Tagen sieht man stets mehrere Frauen neben dem Schädel ihres Gatten oder ihres Kindes sitzen und sich mit ihm, wie sie es früher gewohnt waren, auf die anmutigste und zärtlichste Weise unterhalten. Nicht selten kommen die Frauen mit ihrer Arbeit und verbringen den größten Teil des Tages neben dem Schädel ihres Kindes, mit dem sie unaufhörlich plaudern, während sie ein Paar Mokassins anfertigen: zuweilen sieht man sie vor Ermüdung einschlafen, während sie den Schädel mit ihren Armen umschlungen halten." (Indianer Nordamerikas. 1924, S. 63.) 98) Ahnenkult etc. S. 25.
98
geheimnisvolle Geräusche, Nickbewegungen u. dgl. sichtbare resp. hörbare Zeichen grobsinnlich zum Ausdruck gebracht wird. — Zunächst mag hier das B i t t g e s u c h a n d i e S c h ä d e l , das uns in den Befragungszeremonien eines westafrikanischen Negerstammes, eben der Pangwe, begegnet, und das den eigentlichen Hauptteil der ganzen Feier bildet, erwähnt werden. Die zum Zwecke der Befragung der Schädeltonne entnommenen Schädel ruhen auf einem Bananenblatt auf der E r d e " ) , während ein älterer Mann die eigentliche Ansprache an die Schädel richtet, wobei er Geschenke, ein Schaf und ein Huhn für den im Schädel sich darstellenden Ahnengeist in seiner Hand bereit hält. Die Ahnen hätten nach der Rede des weisen Alten ihr Dorf schlecht gemacht, sie hätten zugelassen, daß viel Krankheit herrsche und daß man des Jagderfolges wie auch des Liebesglücks entbehre. Nun bäte er sie, die Ahnen, im Namen vieler Verwandten, die Sache wieder gut zu machen und den Ihren wieder Glück und Freude zu verschaffen. Zu diesem Zwecke spende er ihnen die mitgebrachten Geschenke, die dann auch, sobald der Alte seine Ansprache an die Schädel — sie wird von Zeit zu Zeit vom Zustimmungsgemurmel der anwesenden Menge unterbrochen — beendet, auf der Stelle geschlachtet werden. -— Die vorliegende Schilderung T e ü m a n n ' s 10°), die als Augenzeugenbericht zu werten ist — so empfängt T e ß m a n n auch als Verleiher der Festtrommel gleich den anderen beim Feste Mitwirkenden ein Stück vom Opferfleisch — und daher für uns besonders wertvoll erscheint, zeigt in aller Offenheit, mit welch kindlichem Vertrauen und welch erstaunlicher Zuversicht sich der primitive, naivgläubige Mensch an den Geist der Väter wendet, um Glück und 99) Das sorgfältige Deponieren der Schädel auf frischen Pflanzenbüscheln will, was ganz augenscheinlich, die magische Stärkung der ersteren bezwecken und mag auch sonst üblich gewesen sein. So ruht nach den Gebräuchen des nordamerikanischen Schädelkultes der mit trefflichen Speisen reichlich bedachte Ahnenschädel ebenfalls auf einem von Zeit zu Zeit erneuerten Pflanzenbüschel, eine eigentümliche Erscheinung, deren Kenntnis wir den sorgfältigen Beobachtungen C a t l i n s bei dem Stamm der Mandaner verdanken. „Jeder dieser Schädel", so heifit es hier, „liegt auf einem Büschel von wilder Salbei (Artemisia Columbiensis). Die Frau erkennt an irgendeinem Zeichen den Schädel ihres Gatten oder Kindes, und selten vergeht ein Tag, an dem sie ihn nicht besucht und eine Schüssel der besten Speisen, die ihr Wigwam bietet, am Abend vor den Schädel hinstellt; am Morgen kehrt sie dann zurück, um die Schüssel zu holen. Sobald die Salbei, auf welcher der Schädel ruht, anfängt zu verderben, wird ein frisches BUschel geschnitten und sorgfältig dem Schädel untergelegt." (Indianer Nordamerikas. 1924, S. 63.)
100) a.a.O. S. 124.
99
Segen auf Familie und Stamm herabzuflehen. Alles, Avas nur immer das so einfältige Negerheiz bewegt, was der einzelne wie der ganze Stamm ungestüm von der Zukunft, vom Leben fordert, alle Sorgen und Nöte des täglichen Lebens werden durch den Mund des stellvertretenden weisen Alten im Rahmen -weihevoller Kulthandlung in geradezu rührender Weise den in ihren Schädeln verkörperten Ahnen anheimgestellt, damit sie, die vorzüglichen Schützer und Förderer des einzelnen wie der Gesamtheit — in ihrer H a n d liegt Gedeih und Verderb, Wohl und Wehe des ganzen Clans —, zum Rechten sehen, so d a ß Reichtum und Glück, überh a u p t jegliche Wohlfahrt bei den N a c h f a h r e n einkehren kann. In nicht unähnlicher Weise, wie T e f i m a n n das Bittgesuch an die Schädel während des Ahnenfestes in Ebäangon schildert, beschreibt P a r k i n s o n eine bei den Moänus geübte Begräbnisfeier, insbesondere die hierbei stattfindende weit größere Festlichkeit, eben die — wie es im Munde des Eingeborenen heißt — F e i e r zu E h r e n des S c h ä d e l s s e i n e s V a t e r s . Im Mittelpunkt aller Ceremonien steht auch hier der diesmal auf dem mit Holzschnitzerei reich verzierten Gerüst ruhende Schädel. Zu beiden Seiten des Gerüstes hält j e ein H u n d — vielleicht darf letzterer auch polynesischein Totenglauben zufolge als spez. Totenbezw. Seelentier angesehen werden?! — Wache, während man an dessen eines Ende einen Krug mit ö l , an das andere Ende ein G e f ä ß mit Wasser gesetzt hat. Nach einer vorangegangenen Renommierrede des Festgebers, die durch mehrmaligen Trommelwirbel unterbrochen ist, beginnt der Zauberer mit seinen gewichtigen Ceremonien, d. h. die eigentliche Handlung der A n r e d e a n d e n S c h ä d e l nimmt ihren Anfang. Erfüllt von der Würde seines Amtes tritt er — der anschaulichen Schilderung P a r k i n s o n s 1(,:1) zufolge — hervor und nimmt den Schädel in die Hände. Der Festgeber kommt an ihn heran, nimmt ein Dracänenbüschel, taucht dasselbe in den ü l k r u g , schlägt damit auf den Schädel und spricht dabei: „Du bist mein Vater". Darauf starkes Trommelschlagen. N u n folgt der zweite Schlag gegen den Schädel mit den Worten: „Nimm das zu deinen Ehren bereitete Essen an!". Abermals starkes Trommelschlagen! D e n dritten Schlag vollführt er mit den Worten: „Beschütze mich!". Es folgen noch weitere A n r u f u n g e n : „Beschütze meine Leute! Beschütze meine Kinder!", alle von lautem Trommelschlag gefolgt. Mit einem Festessen findet dann die Feierlichkeit ihren Abschluß, während man hinfort den Schädel sorgfältig a u f bewahrt. 101) a. a. O. S. 405/406.
100
Zweierlei ist es nun, was uns an dieser recht instruktiven Darstellung der bei den Moanus geübten Schädelfeier a u f f ä l l t : einmal wird die Anrede an den Schädel jedesmal begleitet mit Schlägen auf diesen, die mit einem in ö l getauchten Dracänenbüschel ausgeiührt werden, zum anderen werden die einzelnen Aussagen der Anrede durch starkes Trommelschlagen unterbrochen. Beide seltsam anmutenden, rituell bedingten, den Akt der eigentlichen Anrede begleitenden Handlungen sind ganz wesentlich f ü r ein rechtes Verständnis der ganzen Anrede-Szene und erheischen gerade als Handlungen von unverkennbar magischein Charakter eine, wenn auch nur mit aller Vorsicht zu gebende Erklärung. Ist man einerseits geneigt, in dem Schlagen mit dem ölgetränkten Dracänenbüschel eine Art Weiheritus bezw. das Auslösen von Kräftigungszauber zu erkennen, indem die kraftzufiihrendc Medizin, eben das ö l auf den Schädel gesprengt wird, so kann man andererseits auch im Hinblick auf letztere Zeremonie, den die Anredehandlung umrahmenden Trommelwirbel zu einer anderen Auffassung von den Dingen kommen. Das periodisch einsetzende starke Trommelschlägen ist gewiß nicht nur eine Art leerer repräsentativer Handlung, vielmehr dürfte das mächtige Getöse des Trommeins den ungemein wichtigen Zweck verfolgen, die im Schädel schlummernden Ahnengeister aufzuwecken und wachzuhalten. Und von hier aus findet auch jene andere, dem Schädel so augenscheinlich geltende Handlung ihre plausible Erklärung. Der Schädel wird mit durch ö l geweihter Rute geschlagen, um den in ihm wohnenden Ahnengeist aufzurütteln, zu erfrischen und ihn f ü r die Dauer der Unterredung — man beachte die wiederholte Handlung — wachzuhalten. — Allerdings ist auch die Ansicht, d a ß einmal das von der Rute auf den Schädel überträufelnde ö l , zum anderen aber schon der eigentümliche Charakter der Rute als eines naturalistischen, d. h. aus frischen Dracänenblättern verfertigten Schlägers die Schädelreliquie weihen bezw. magisch stärken und erfrischen soll, in jeder Weise durchaus beachtenswert. D a ß die zeremonielle Anrede an den Schädel in der Tat ein wesentliches Moment innerhalb der mannigfaltigen beim Schädelkult geübten Riten dargestellt haben mag, beweist allein schon ihr häufigeres Auftreten in den mehr oder minder in allem Wesentlichen übereinstimmenden Berichten von Reisenden, die uns z. T. recht eingehende Kunde von dieser so merkwürdigen AnredeZeremonie darzubieten vermögen. An dieser Stelle mag nur noch hingewiesen sein auf eine diesbezgl. Mitteilung von M c G o v e r n 102), 102) a.a.O. S. 56.
101
die mir wertvoll genug erscheint, hier ihren Platz zu finden. Die beherzte Forscherin berichtet u. a. von einer S c h ä d e l f e i e r b e i den T a i y a l s , die den „bedeutendsten köpf jagenden Stamm" auf Formosa repräsentieren. „Während des Festessens und des Tanzes zur Feier des Sieges wird der Kopf des Opfers auf ein dem Dorfe gehörendes Schädelgestell gelegt; er bildet hier oft den Abschluß einer Reihe anderer Köpfe. Davor wird Nahrung und Hirsewein niedergestellt, manchmal ihm sogar etwas Eßbares in den Mund geschoben. Der Häuptling (oft auch ein Weib) oder die Oberpriesterin spricht darauf den Kopf mit etwa folgenden Worten an: , 0 Krieger, willkommen seist du in unserem Dorfe und bei unserem Feste! Iß und trink und bitte deine Brüder, auch zu kommen und auch mit uns zu essen und zu trinken!' " — Der Versuch einer Erklärung dieser seltsamen Schädel-Ansprache, den die Berichterstatterin im folgenden dann unternimmt, darf als durchaus gelungen angesprochen werden: „Die Beschwörung, so wird vorausgesetzt, soll eine m a g i s c h e W i r k u n g a u s ü b e n , indem sie noch weitere Siege nach sich zieht und also noch mehr Köpfe auf das Schädelgestell bringt." Ganz auf der gleichen Linie dürften sich die Beobachtungen M j ö b e r g s 103 ) bewegen, die dieser bei den Kopfjägern Borneos gesammelt hat. Auch hier, d. i. bei den D a j a k e n sucht man mit der — z. T. aus sehr schmeichelhaften Worten bestehenden — Anrede an die Kopftrophäe den im Schädel sich darstellenden überwundenen Feindesgeist, der sich nunmehr durchaus als Stammesangehöriger der siegreichen Besitzer betrachten mag, zu veranlassen, weitere ehemalige Stammesgenossen herbeizuziehen. Die Idee des im eigentlichen Sinne des Wortes o r a k e l n d e n K o p f e s begegnet uns in der religiösen Gedankenwelt der Maori Neuseelands, insbesondere in der pagane und christliche Elemente in wunderlichster Weise vermengenden Pai Marire- oder HauhauReligion des in der Tat recht seltsam anmutenden Maori„Propheten" Te Na. Uber ihn — unzweifelhaft eine der interessantesten Erscheinungen der Religionsgeschichte! — und über seine merkwürdige, auf biblische Vorstellungen zurückgreifende religiöse Gedankenwelt, die ganz unverkennbar ein recht kompliziertes Mischgebilde darstellt, kann an dieser Stelle nicht eingehender gehandelt werden; hierüber mag man selbst bei R e i s c h e k die betr. Ausführungen nachlesen 104 ). (03) a . a . O . S. 257. 104) Sterbende Welt.
102
1924, S. 147 ff.
Mit Begeisterung wurde — zumal von der nationalistisch ge r sinnten Partei der Maori •— die neue, immer mehr festen Fuß fassende Religion aufgenommen, und der hauptsächlich von seinem visionären Erleben geleitete Gottesprophet Te Na, nunmehr als allgemein anerkannter Gründer im Mittelpunkt aller konstituierenden Bestrebungen stehend, mußte jetzt ernsthaft darauf bedacht sein, der neuen Lehre in durchaus sanktionierter Form die geeigneten Jünger zuzuführen. In welcher Weise er dies tut, ist für uns von allergrößtem Interesse. Nach dem zwischen den Hauhau und den englischen Truppen stattgehabten ersten Geplänkel, d. i. dem Gefecht von Taranaki, bei dem ein Hauptmann Lloyd auf englischer Seite gefallen war, hat Te Na eine neue Vision: abermals erscheint ihm der Erzengel und befiehlt ihm, den Kopf des Hauptmanns auszugraben, nach Maoriart zu mumifizieren und ihn dann zu allen Stämmen zu schicken: der Kopf werde sprechen und weissagen. Te Na folgt den Weisungen des Engels — und siehe: der Kopf spricht zu dem Propheten! E r o r a k e l t d a s B e r u f u n g s w o r t : „Du bist der oberste Prophet der Pai Marire; als Jünger erwähle Matene und Hepanaia". „Der Kopf", so unterläßt R e i s c h e k nicht, seinem Bericht hinzuzufügen, „orakelte weiter, Legionen von Engeln harrten der Zeit, bis der Kopf zu allen Stämmen gewandert sei. Dann würden alle Maoristämme wider die Pakeha (gemeint sind die feindlichen Mächte der fremden Eindringlinge) aufstehen und sie mit Hilfe der Engel vernichten. Alle Sprachkenntnisse, Künste uud Wissenschaften der Weißen würden auf die Pai Marire übergehen" 1 0 5 ). — In welcher Weise sich nun das Orakeln des mumifizierten oder besser modellierten Kopfes vollzogen haben mag, ist nicht gesagt. Es ist schon möglich, daß hierbei, falls es sich überhaupt um einen offiziellen zeremoniellen Akt der Befragung gehandelt haben dürfte, auch äußerlich wahrnehmbare Zeichen wie antwortende Bewegungen des Kopfes, Nicken u. dgl., aber auch Geräusche, zumal Sprechgeräusche — in erster Linie denken wir hier an eine Anwendung der Bauchredekunst — eine Rolle gespielt haben können. 105) Idi gebe die entscheidende Stelle in der bei R e i s c h e k ebd. S. 149 mitgeteilten Fassung wieder. — Auf die für das Empfinden des Modernen so befremdende Tatsache, daß dem isolierten Kopf resp. dem kunstgerecht zubereiteten Schädel des Engländers von den Eingeborenen Neuseelands in aller F o r m Verehrung entgegengebracht wurde und man ihn somit in den Mittelpunkt eines regelrediten Kultus erhob, hat audi J. v o n N e g e 1 e i n in aller Kürze aufmerksam gemacht; vgl. ders.: Weltgeschidite des Aberglaubens. Bd. I. Die Idee des Aberglaubens. Sein Wachsen und Werden. 1931, S. 49 f. D a s Knochengerüst. Der Schädel.
103
Beim erregten, gespannt lauschenden Zuschauer mag sich dann, wie sich wohl denken läßt, beides vereinigt, d. h. die Vision mit der Audition verbunden haben. Jedenfalls ist, betrachtet man die Dinge unvoreingenommen, gar nicht zu verkennen, daß Te Na sich geschickt des Kopfes als Orakelinstrument bedient hat, um so seine eigenen, für den geregelten Fortgang, das glückliche Gelingen des ganzen noch jungen Unternehmens höchst wichtigen und notwendigerweise ins Werk umzusetzenden Gedanken und Pläne als spontane, gewichtige, unbedingten Gehorsam erheischende, feierliche Äußerungen der Gottheit an ihr Volk hinzustellen. Die in Aussicht genommenen Jünger wie dann weiterhin die gesamte kampfbereite Schar empfangen durch das dem orakelnden Kopf entsprudelnde Offenbarungswort, jene so eigenartige Manifestation aus dem Geisterreich, erst die eigentliche göttliche Weihe; die Gottheit selbst hat erstere nunmehr installiert, d. h. zu ihrem Jüngerberufe, zu ihrem Apostolat auserwählt und ihre Autorität, den souveränen göttlichen Charakter ihrer Willensäußerungen dem Volke gegenüber sanktioniert. Angesichts des tragischen Schicksals des englischen Offiziers jedoch steht hier der Forschende tief erschüttert vor der so überaus traurigen und doch psychologisch wohl verständlichen Tatsache, wie unter der einst mit soviel hingebender Mühe auf Grund missionarischer Unterweisung gewobenen christlichen Hülle die für den modernen Betrachter so grauenhaften Urtriebe greisenhafter Religionsformen wieder frisch aufbrechen und alle bereits im Amalgamierungsprozeß sich glücklich findenden christlichen Elemente gleich den wilden, reißenden, das Flußbett sprengenden Fluten eines Sturzbaches rücksichtslos und brutal fortschwemmen. Uraltem Totenkult zugehöriger Befragungsbraudi triumphiert hier, mit aller Kraft neu auflebend, in einer sonderbaren Welt synkretistischer Gebilde und Anschauungen, und von hier aus gesehen ist die von Te Na begründete neue Religion reformerische Tat, ist sie bewußt durchgeführte Reaktion gegen das als fremd empfundene, von den Missionaren importierte Christentum. Es dürfte gewiß nicht zufällig sein, daß gerade das Haupt eines gefallenen Weißen — getreu den überkommenen Sitten und Gebräuchen des Totenkultes wird es exhumiert und modelliert — als Orakelinstrument in der Hand eines eingeborenen „Gottesmannes" Geltung gewinnt; man will ganz offensichtlich hiermit zum Ausdruck bringen, daß der Geist des Neuen sich völlig eingeschmiegt hat in die urwüchsige Gestaltungskraft alt überkommenen religiösen Lebens, daß die neue Religion nunmehr völlig unterjocht,
104
j a bereits in die alte eingegangen sei. Rücksichtslos, mit geradezu b r u t a l e r O f f e n h e i t h a t hier der Religionsstifter des Maorivolkes jegliches A n l e h n u n g s b e d ü r f i i i s an biblischc Vorbilder, in d e n e n er sich sonst so gerne zu ergehen p f l e g t 10°), abgelehnt, j a energisch z u r ü c k g e w i e s e n : völkisch getreu — m a n d e n k e hier besonders an den n a t i o n a l e n C h a r a k t e r der M a o r i - E r h e b u n g — ist er, s t a r r festh a l t e n d a n den seit U r z e i t e n in G e l t u n g s t e h e n d e n T r a d i t i o n e n , wieder eingegangen in die W a h n g e b i l d e der religiösen Überzeugungen seines Volkes. U n d so ist d e n n die R e l i g i o n s s t i f t u n g dieses M a o r i - „ P r o p h e t e n " , eben die B e g r ü n d u n g der H a u h a u Religion, keine eigentlich s c h ö p f e r i s c h e T a t gewesen, vielmehr ist sie als letztes W e t t e r l e u c h t e n einer s t e r b e n d e n religiösen W e l t anzusehen, ist sie eine, w e n n a u c h r e c h t b e a c h t e n s w e r t e Episode geblieben, die d e n siegreichen Lauf des C h r i s t e n t u m s ernstlich zu h e m m e n nicht f ä h i g w a r . — D a ß die Idee des T r a u m o r a k e l s vorzüglich mit dem Schädel eines Menschen a u f s engste v e r b u n d e n sein k a n n , d a f ü r mögen hier zwei m a r k a n t e Beispiele i h r e n Platz f i n d e n , die ich d e m i n s t r u k t i v e n W e r k von L. L e v y - B r u h l 1 0 7 ) v e r d a n k e und die in ihrer A r t diese — wie es d e n Anschein g e w i n n t — gar nicht so vereinzelt d a s t e h e n d e E r s c h e i n u n g a u f s t r e f f l i c h s t e illustrieren d ü r f t e n . D a s erstere bot sich dem A u t o r d a r in dem W e r k von L a n d t m a n : T h e folktales of the K i w a i P a p u a n s (S. 285; s. auch S. 509), w ä h r e n d letzterer Bericht d e n R e p o r t s of the C a m b r i d g e E x p e d i t i o n to Torres straits V, S. 41 e n t n o m m e n ist. Beide E r z ä h l u n g e n ä h n e l n sich ungemein g e r a d e im e n t s c h e i d e n d e n P u n k t , nämlich dem T r a u m o r a k e l , das beidemal dem S c h l a f e n d e n a u s d e m S c h ä d e l d e r E l t e r n zuteil w i r d . Ich gebe die beiden diese eigenartige O r a k e l s i t t e r e c h t gut b e l e u c h t e n d e n Beispiele n a c h der F a s s u n g bzw. Übersetzung, wie sie L e v y - B r u h I in seinem W e r k e bietet, im F o l g e n d e n hier w i e d e r : „ D a die Gebeine, besonders a b e r der Schädel, der Tote selbst sind, w i r d m a n sie u m R a t f r a g e n , als s p r ä c h e m a n mit ihm selbst. W e n n m a n den K n o c h e n eine F r a g e vorlegt, ist sie a n ihn gerichtet. Ich will hier eine Stelle aus einer von L a n d t m a n w i e d e r e r z ä h l t e n Geschichte a n f ü h r e n : „ D e r M a n n g r u b clie Schädel seiner Eltern aus der Erde, w u s c h sie im Wasser u n d ließ sie a n der Sonne trocknen, ü b e r N a c h t legte er sich auf d e n R ü c k e n , um mit einem Schädel u n t e r j e d e r Achsel s c h l a f e n zu k ö n n e n , d e n n er w ü n s c h t e , 106) Man beachte hierzu die näheren Ausführungen, clie R e i s c h e k in seinem Werke gegebeil hat. 107) D i e Seele der Primitiven, S. 257.
105
daß seine toten Eltern (spirits of his parents) kämen und im Traume zu ihm sprächen. Einen schweren Stock legte er neben sich. Er erwachte mitten in der Nacht, ergriff den Stock und schrie: ,Warum kommt ihr nicht rasch, um mit mir zu sprechen, ihr zwei? Ich schlief schon seit langem. Wenn ihr nicht bald kommt, schlage ich euch die Schädel ein!' Danach legte er sich wieder schlafen. Kurz darauf kamen seine Eltern, um mit ihm zu sprechen . . . . Am Morgen erwachte der Mann. Er dachte sich: , 0 , meine Mutter und mein Vater sind gekommen, um mit mir zu sprechen, wie es sich gehört', worauf er die Schädel wieder ins Grab zurücklegte." — Eine ganz ähnliche Geschichte ist auf den Inseln der TorresStraße aufgezeichnet worden. „An diesem Abend ging Sesere in den Busch, wo er eine Menge duftender Kräuter sammelte. Er rieb mit einigen davon die Schädel seiner toten Eltern und legte diese dann auf den Rest der Kräuter. Dann begab er sich zur Ruhe, wobei er die Schädel ganz nahe neben seinem Kopf aufstellte. Aber che er einschlief, erzählte er ihnen noch, was er an diesem und am vorhergegangenen T a g erlebt hatte, fragte sie, wie der Fisch heiße, der Gras fräße, und wie er ihn fangen könnte. — Nachdem er eingeschlafen war, machten die Schädel ein leises Geräusch. Sie sprachen zu Sesere und sagten ihm, das Tier, das Gras fräße, sei der Dugong. Sie lehrten ihn auch, wie er es fangen könnte." Bei dem ersten Bericht fällt ins Auge, daß der das Traumorakel suchende Mann die Schädel der Eltern gerade unter die Achsel legt. Gewiß dürfte diese eigenartige Lagerung der Schädel am Körper des Befragenden auf die besondere Bewertung der Achsel-Stelle hindeuten: sie mochte dem Primitiven vor allem geeignet erscheinen, um die aus den Schädeln strömende man tische Kraft, eben das Orakel des Ahnengeistes, auf clen Schlafenden sicher abzuführen bezw. auf ihn störungslos überzuleiten. Der .schwere Stock', den der Mann vor seinem Einschlafen neben sich gelegt hat und der dann vom enttäuscht erwachenden Orakeleinholer drohend gegen die Schädel geschwungen wird, soll nach unserer Erzählung ganz unzweideutig den Orakelwillen der iii die Schädel gebannten Eltern-Geister erzwingen helfen: unser Primitive ist also im vorliegenden Falle weit davon entfernt, daß er vermeint, sich evtl. mit dem Stocke gegen die ungnädigen, in ihrer Ruhe aufgestörten Schädelgeister schützen zu müssen. Eltern-Schädelgeister haben eben nach dem einfältigen Gemüt dieses primitiven Trotzkopfes „zu kommen, um mit ihm zu sprechen, wie es sich gehört!" — Wenn dann in der anderen
106
Geschichte davon erzählt Avird, daß Sesere die Eltern-Schädel mit duftenden, also wohl frisch gepflückten Kräutern eingerieben und sie schließlich auf den Rest der Kräuter aufgelegt habe, so mag mit dieser seltsamen Verrichtung gewiß beabsichtigt sein, die Schädel der Eltern vor dem Traumorakel noch durch die Einreibe- und Plazierungs-Zeremonie zu erfrischen und magisch zu stärken, damit sie recht „orakelkräftig" würden. Die Schädel müssen weiterhin ganz nahe am Kopfe des Schlafenden zu stehen kommen, damit die fluidalc Kraftübertragung sich möglichst günstig — von Kopf zu Kopf — vollziehen kann. — Der Schädelgeist manifestiert sich diesmal dem T r ä u m e n d e n durch ein ,leises Geräusch', und das Traumorakel scheint mehr belehrenden Charakter — speziell auf den Fischfang bezüglich — zu tragen, ein beredtes Zeugnis d a f ü r , d a ß man selbst f ü r alltägliche Angelegenheiten den Schädelgeist bemühte, seinem Schutzbefohlenen Verwandten beratend zur Seite zu stehen. Schließlich richten wir unser Augenmerk auf den Tierschädel, an den sich ähnliche Vorstellungen wie an den Menschenschädel k n ü p f e n mögen und der neben seiner apotropäischen Eigenschaft bezw. seiner kräftevermittelnden Natur gerade auch mit Träumen resp. Traumorakeln in engsten Zusammenhang gebracht worden sein mag. So hören wir z. B. von den D a j a k e n Borneos, daß der Schutzgeist — es ist gewöhnlich der Ahnengeist, d. h. der Geist eines verstorbenen Freundes oder Verwandten — sich seinem Schützling im Traume zu o f f e n b a r e n pflegt, wobei dieser dann — durch ein mehr oder minder ausdrucksvolles Traumbild veranlaßt — vermeint, der Geist sei in ein bestimmtes Tier, etwa in ein Wildschwein gefahren, in dem oder besser noch in dessen Schädel er seine Wohnung nimmt. So zieht der D a j a k dann aus, um des ihm im Traum erschienenen Tieres h a b h a f t zu werden. „Wenn er es nicht finden kann, aber davon hört, daß seine Genossen an diesem l a g ein Wildschwein erlegt haben, so sucht er sie auf, k a u f t ihnen den Kopf des Tieres ab, trägt ihn nach Hause, bewirtet ihn mit gekochtem Reis, tötet vor seinen Augen einen Hahn, bestreicht den Schwcinskopf und sich selbst mit dem Blut (Kräftigungs- resp. Weihungszauber!) und bittet demütig um Entschuldigung. Er hofft, in der folgenden Nacht im Traum Näheres zu erfahren, und glaubt dann etwa am anderen Morgen, im Traum ermahnt worden zu sein, er solle die Hauzähne des Schweines in Ehren halten, die ihm in Z u k u n f t Glück bringen (vgl. das Motiv des Zahn-Talismans!). Hat er keinen derartigen Traum mehr, so glaubt er sich getäuscht zu haben und wartet auf eine neue O f f e n b a r u n g " ,0 "). — 108) M j ö b c r g a.a.O. S. 280.
107
Wir erkennen aus vorstehender Schilderung deutlich, -wie sich der Ahnengeist seinem Schiitzling im Traumorakel offenbart, wobei der den Geist des Verstorbenen bergende T i e r k o p f — mag er von einem selbst erlegten oder käuflich erworbenen Tier, hier also einem Wildschwein, stammen — gewissermaßen als notwendiges kräfteabgebendes bezw. kräftevermittelndes Medium eine nicht unwesentliche Rolle spielt. Wie der Kopf bezw. der Schädel eines Menschen zu Orakclzwecken Verwendung findet, so geschieht es auch mit dem auf künstliche Weise hergerichteten Kopfgebilde, d. h. dem aus Flechtwerk, Holz, Federn u. dgl. hergestellten Kopfbild einer Gottheit. Hier wäre hauptsächlich auf d a s F e d e r k o p f b i l d des G o t t e s K u k a i l i m o k u , eines Kriegsgottes von Hawaii, hinzuweisen, dem unlängst H. P 1 i s c h k e eine treffliche Monographie widmete , 0 9 ). Das — wenn auch immerhin fratzenhaft verzerrte, so doch unzweifelhaft menschlich geformte — Kopfbild dieses Gottes besteht aus einem mit roten Federn in sorgfältiger Arbeit dicht überzogenen Flechtwerk und ist durch einen langen Hals ausgezeichnet. Die Augen werden durch ovale Perlmuttscheiben, die aus schwarzem Holz geschnitzte Pupillenknöpfe tragen, gebildet, die Augenbrauen sind mit schwarzen Federn bedeckt und eine doppelte Reihe von Hundszähnen umsäumt den drohend geöffneten Rachen. Von der Stirn läuft über den Kopf nach hinten kammartig ein breiter Streifen hellgelber Federn, der vielleicht — nach einer ansprechenden Vermutung P l i s c h k e s — einen Helm, wie ihn die Häuptlinge und Vornehmen Hawaiis zu trägen pflegten, andeuten könnte. Der lange Hals öffnet sich trichterförmig nach unten und wird durch einen Rand gelber Federn abgeschlossen, so daß der etwa auf einer Basis aufgestellte künstliche Kopf sicher stehen kann. Was uns nun von diesem Federkopfbild mitgeteilt wird, ist in der Tat aller Beachtung wert. Sorgfältig pflegte man derartige federngeschmückte Flechtwerkköpfe auf den Tempelplätzen aufzubewahren, wo man sie sogar in einer eigens für sie bestimmten Hütte, dem sog. Mana-Hause deponierte. Nur zu gottesdienstlichen Handlungen, bei hl. Umzügen sowie bei zu unternehmenden Kriegszügen durfte der göttliche Federkopf seinem speziellen Tempel entnommen werden; ihn jedoch nach vollzogenen gottes109) K u k a i l i m o k u , ein K r i e g s g o t t von H a w a i i . 1929, A r b e i t e n a n s der K t h n o g r a p h i s e h e n S a m m l u n g der U n i v e r s i t ä t G ö t t i n g e n I., e r s c h i e n e n in d e n A b h a n d l u n g e n d e r G e s e l l s c h a f t der W i s s e n s c h a f t e n zu G ö t t i n g e n , phil.-hist. K l a s s e , N e u e F o l g e Bd. X X I V , 1.
108
dienstlichen Verrichtungen nicht wieder zum heiligen Bezirk ins Mana-Haus zurückzubringen galt als schwerer religiöser Frevel 1 1 0 ). — Ks ist bezeichnend für den K r i e g s g o t t Kukailimoku, daß er in seinem Kopfbilde am Kriegszuge — dieser fand nur unter ausdrücklicher Billigung des Gottes statt — und somit an der Schlacht teilnimmt. In ihrem Kopfbilde manifestiert sich im Kampflärm die Gottheit, indem der Kopf, wie uns die Sage berichtet, Schreie ausgestoßen haben s o l l i n ) . Der Transport des göttlichen Federkopfes bei Prozessionen, auf dem Kriegspfade u. dgl. vollzieht sich in einer Weise, daß Priester das Kopfbild auf einer Stange, die man gewiß durch den langen schmalen Halsansatz steckte, in die Schlacht tragen 112 ). An weithin sichtbarer Stelle, umgeben von den Priestern, nimmt dann das Kopfbild am Kampfe teil, um die Kopfstandarte schart sich vor der Schlacht der König samt Familie und Gefolge. In seinem auf der Standarte erhöhten Kopffetisch ist der Gott beim K a m p f e gegenwärtig; ihn läßt man vor Beginn des Treffens, inmitten der Kahili genannten Federstandarten, neben der Person des Königs vor oder im Angesicht der Schlachtreihe Aufstellung nehmen 1 1 3 ). In jeder Beziehung darf man hier den treffenden Worten P l i s c h k e s beistimmen, wenn er sich hinsichtlich dieser gewiß Kraftstoff tragenden, als Kriegsstandarten fungierenden Kopfbilder des Kriegsgottes äußert 1 1 4 ): „Die Bilder Kukailimokus und der anderen Kriegsgötter waren also an der Schlacht selbst beteiligt. Sie wirkten anfeuernd auf die eigenen Leute, erschreckend und verwirrend (,also nach Art von Apotropaia, wozu auch der äußerst verzerrte Radien des roten Kopfes gut passen dürfte') auf die Feinde. Möglicherweise walten bei diesem Brauch alte Zaubervorstellungen mit, wonach das Götterbild mit der Macht und Kraft, die in ihm 110) Vgl. T h r u m : F o r n a n d e r collection of h a w a i i a n a n t i q u i t i e s a n d folklore. I n : M e m o i r s of the B e r n i c e P a u a h i B i s h o p M u s e u m . Vol. IV. 1919/20, S. 156 f f . Vergißt ein P r i e s t e r nach einer d e r P r o z e s s i o n e n d a s K o p f b i l d w i e d e r ins M a n a - H a u s z u r ü c k z u l e g e n , so gilt dies a l s böses O m e n . D i e V o l k s s a g e weiß hiervon zu b e r i c h t e n . H e v a h e v a , der O b e r p r i e s t e r K a m e h a m e h a s I. g r e i f t a u f eine solche V e r s ä u m n i s eines Priesters z u r ü c k , u m seiner d ü s t e r e n P r o p h e z e i h u n g von einem S t u r z d e r a l t e n G ö t t e r N a c h d r u c k zu vers c h a f f e n . S. bei P 1 i s c h k e a. a. O. S. 22/23. 111) K a l a k a u a : L e g e n d s and m y t h s of H a w a i i . New York 1888, S. 44. 1Í2) E i n e u n g e f ä h r e V o r s t e l l u n g von d e r A r t des T r a g e n s des F e d e r k o p f bildes gibt ein bei P l i s c h k e T a f e l 7 w i e d e r g e g e b e n e s B i l d : D o p p e l b o o t mit M a s k e n t r ä g e r n , H a w a i i nach D. d e Rienzi: O z e a n i e n . A u s dem F r a n z ö s i s c h e n von M e b o I d. 1837., d e m als V o r l a g e eine T a f e l a u s C o o k : A v o v a g e to the P a c i f i c O c e a n in the v e a r s 1776—1780. 1784 diente. Vgl. F i l i s : N a r r a t i v e of a tour t h r o u g h H a w a i i . 1827, S. 143—144. 113) ebd. S. 143. 114) a . a . O . S. 32.
109
wohnte, am Kampf teil hatte und Freund und Feind beeinflußte. Das Hauptaugenmerk des Gegners war, den lvriegsgott des Feindes zu erobern. Gefangennahme desselben bedeutete Filde des Kampfes und Sieg für die, in deren Gewalt er gefallen war." — Recht eigentümlich ist nun die Art, in der der in seinem Federkopf sich darstellende Kriegsgott das Orakel gab. Der u. a. über den siegreichen Ausgang eines geplanten oder bevorstehenden kriegerischen Unternehmens befragte Gott kündete den Sieg durch Spreizen seiner Stirnfedern an. „Aus der Stellung der Federn, mit denen der Kopf des Götterbildes 115 ) überzogen war, ob sie glatt anlagen oder sich sträubten, vermochte man die Meinung des Gottes zu erkennen" 110). Nach T h r u m war der Federkopf Kukailimokus oben durch eine bewegliche Feder ausgezeichnet, die als günstiges Vorzeichen, als Hinweis auf Sieg oder Hilfe im Kampf nicht allein durch ein Sich-Drehen oder Sich-Aufrichten orakelte, vielmehr sich auch vom Federkopf des Gottes völlig löste und Kopf, Arm wie auch Schultern eines in der Nähe Stehenden fliegend umkreiste 11T ). Wenn es dann ein andermal heilit 11H ), als Zeichen künftigen kriegerischen Frfolges hätten sich auf dem Haupte Kukailimokus zwei Fabelvögel niedergelassen, so mag diese Version ihren Anhaltspunkt finden an der Tatsache, daß man auf den Kopf der 115) Es darf in keiner Weise befremden, daß man den in Korbmacherarbeit hergerichteten Federkopf des Gottes auch gleich piner Flechtwerk-Kopfmaske einem Idol überzustülpen liebte. F ü r den Hawaiischen Kriegsgott Kukailiinoku wird dies fast zur Evidenz erhoben durch die analoge Erscheinung des Gottes Keoroewa, der seit alters auf der Insel Maui verehrt wurde. Bei diesem Gotte war über dem hölzernen Idolkörper, der mit Rinden.stoff bekleidet war, ein aus feinem, ebenfalls mit roten Federn dicht bedecktem Flechtwerk hergestellter Kopf und Hals sichtbar. Wie P 1 i s c h k e hier mit Recht bemerkt (a. a. O. S. 22), „wurde der obere Teil Keoroewas also genau so gefertigt wie die angeblichen Kukailimokus in Hawaii". Es ist ganz selbstverständlich, daß im Falle eines zusammengesetzten Gottesbildes, d. h. eines hölzernen Idolkörpers mit aufgesetztem Flechtwerk-Federkopf letzteres Gebilde als der eigentlich wertvolle, mit dem geheimnisvollen Kraftstoff des Gottes vorzüglich ausgestattete Bildteil angesehen wurde, der dann ja, wie wir gesehen haben, auch völlig selbständig Bedeutung gewinnen konnte. 116) P 1 i s c h k e a. a. O. S. 30; B a s t i a n : Zur Kenntnis Hawaiis. 1883, S. 22. Es mag an dieser Stelle genügen, mit P l i s c h k e (S. 31) darauf hinzuweisen, daß man 1790 vor der Schlacht von Hamakualoa auf Maui — in ihr war Kamehameha in der Tat siegreich! — das Bild des Kriegsgottes um das voraussichtliche Schlachtfeld trug (vgl. hierzu die Idee des magischen Umganges!) und beobachtete, ob sich die Federn sträubten oder nicht (vgl. F o r n a n d e r : An account of the polynesian race. 2. Bd. 1880, S. 236). — 117) More Hawaiian folke-tales, S. 275/276. 118) B a s t i a n : Zur Kenntnis Hawaiis, S. 22.
110
überlebensgroßen Holzfigur des Kriegsgottes einen holzgeschnitzten Vogel aufsetzte 1 1 9 ). 111 Anbetracht dieses Vogelaufsatzes beim Kopfe des Holzbildes des Gottes folgt P 1 i s c h k e 12") mit Recht der Mutmaßung B a s t i a n s , daß es sich hier um einen der beiden Fabelvögel o Halulu und o Hiapa handele, die zu dem Kopf bezw. der Stirn des Kriegsgottes in mystisch-magischer Beziehung standen. Schließlich sei noch bemerkt, daß Gott Kukailimoku sich seinen Priestern auch durch Traumorakel offenbaren konnte, indem letztere im heiligen Bezirk den Tempelsehlaf, bei dem sie die Meinung des Gottes zu erkunden suchten, ausführten; ebenso pflegten die Eingeborenen von Hawaii aus Himmelserscheinungen wie Wolken, Regenbogen, glühende Meteoren u. dgl. den göttlichen Willen zu erforschen 121 ). — Haben wir bisher gesehen, wie der Kopf ursprünglich eine hervorragende Stellung innerhalb der ritualen Bräuche und Zeremonien des Totenkultes einnahm, dann sich mehr und mehr von letzterem loslöst und hierbei als völlig selbständig zu wertendes Gebilde, als den göttlichen Willen offenbarendes Orakelinstrument Bedeutung gewinnt, so ist es schließlich für eine umfassende Bewertung des Kopfes und seiner Idee, für das notwendige Beachten der ganz anders gearteten Auffassung der Volkstradition von diesem, unerläßlich, j a in jeder Hinsicht überaus fördernd, wenn wir den W^orten des primitiven Mythen- resp. Sagenerzählers lauschen, insbesondere darauf achtgeben, wie das Motiv des Kopfes bezw. Kopfzaubers sich uns in seinem Munde, d. h. in der Erzählerkunst des naiven naturvölkischen Menschen darstellt. In der unreflektiert ausspinnenden Sage herrscht, ganz im Gegensatz zur mehr aristokratisch-priesterlichen, auf die feierliche Kulthandlung der Schädelbefragung zurückgreifenden würdevollen Auffassung, die volkstümliche Betrachtungsweise ganz und gar, und da darf es durchaus nicht wundernehmen, daß uns hier in der Volkssage vor allem Züge begegnen, die gerade für den Volksmund bezeichnend sind. Der so geachtete, mit aller Ehrfurcht in den nach streng rituellen Vorschriften geübten Kultzeremonien behandelte mantische Kopf, durch den man den göttlichen Willen zu erforschen resp. ihn zum Wohle des einzelnen wie des ganzen 119) Vgl. bei P 1 i s c h k e a. a. O. Tafel 4 nach pittoresque autour du monde. 1822. Das Bild, König Kamehamehas wiedergibt, zeigt clie skulptur des Gottes neben einem anderen erhöht. 120) ebd. S. 25. 121) Vgl. E l l i s : Narrative etc., S. 104, 143.
L. C h o r i s : Voyage das einen Tempelplatz überlebensgroße HolzIdol auf einem Pfahl
111
Stammes zu bestimmen suchte, wird in der wunderlichen, noch ungereinigten Vorstellungswelt des Volkes zum geheimnisvollen, den Charakter s p u k h a f t e n Wesens tragenden beseelten Gegenstand, zum allgemein gefürchteten — bald redenden, bald rollenden, bald fliegenden — Z a u b e r s c h ä d e l , der als Gespenst, als grauenvolles blutdürstiges V a m p y r w e s e n sein Unwesen treibt, die Menschen unablässig verfolgt und sie schließlich gewaltsam tötet. In den Sagen der Indianer Südamerikas tritt uns dies am deutlichsten entgegen. Zunächst soll uns hier die bei den Tembe-Tndianern (südöstlich vom Amazonas-Delta) im Umlauf befindliche, von N u m u e n d a j u Linkel erstmalig mitgeteilte G e s c h i c h t e v o m r o l l e n d e n T o t e n s c h ä d e l , die f ü r ihre Art ganz bezeichnend sein dürfte, beschäftigen 122). Nach dieser Erzählung ist es Kurupira mit seinem Anhang, d. h. ein finsterer Nachtdämon mit seiner blutdürstigen Bande — letztere soll sich in Gestalt von Eulen, Tigern und anderem Nachtgetier manifestieren —, der nächtens den Lagerplatz überfällt und die Jäger tötet. Der Schädel eines der Getöteten vermag plötzlich den mit anbrechendem Morgen herbeigeeilten, die verstreut daliegenden zerbissenen Menschenknochen und blutbesudelten Hängematten verwundert betrachtenden und sich dann wieder zum Gehen anschickenden Mann anzusprechen und ihn w iederholt nachdrücklichst zu bitten, ihn doch mitzunehmen und nach Hause zu bringen. Der überraschte Mann willfahrt nun dem seltsamen Wunsche des Schädels, er bindet ihn an einen aus den Fäden der Sipo-Schlingpflanze hergestellten Strang an und sucht ihn hinter sich her - zu schleifen. Schließlich des eigenartigen Transportes überdrüssig will er den Schädel zurücklassen; da begibt sich etwas ganz Wunderbares. Der laut schreiende, um weitere Mitnahme flehende Schädel beginnt von selbst zu rollen und wird so zurrt unheimlichen Begleiter. Abermals sucht sich nun der Mann des rätselhaften Kopfes — nunmehr unter Anwendung einer List — zu entledigen. Mit dem scheu und zögernd vorgebrachten Vorwand, im Walde seine N o t d u r f t verrichten zu müssen, verläßt er den wunderlichen Zauberschädel, um dann zu diesem nicht mehr zurückzukehren; vielmehr gräbt er, um sich endgültig von dem unheimlichen Gesellen freizumachen, rasch eine Fallgrube, bedeckt sie mit dünnem Gezweig und Blattwerk und versteckt sich. Der vergeblich auf die Rückkehr seines Begleiters wartende und kläg122) .Sagen der Tembe-Indianer' S. 290 f.
112
in Zeitschrift
für
Ethnologie,
1915,
lieh r u f e n d e — der Kot des Mannes a n t w o r t e t ihm! — Kopf rollt schließlich alleine auf dem Wege d a h i n , u n d schon n a c h einer k u r z e n Strecke z u r ü c k g e l e g t e n Weges stürzt er in die F a l l g r u b e . J e t z t s p r i n g t der M a n n aus seinem Versteck hervor, s c h a u f e l t schnell die G r u b e zu u n d s t a m p f t die d e n Schädel b e d e c k e n d e E r d e fest, d a m i t der Kopf sich j a n i c h t m e h r aus der G r u b e b e f r e i e n k a n n , j e d o c h , als die N a c h t a n g e b r o c h e n ist, meldet sich das g e f ü r c h t e t e Z a u b e r w e s e n wieder. Vom W a l d e her v e r n i m m t m a n im D o r f e das schauerliche, i m m e r n ä h e r k o m m e n d e Schreien. „ D a s ist der Totenschädel, der sich aus der G r u b e b e f r e i t hat!"' sind die Unheil k ü n d e n d e n , a n die D o r f b e w o h n e r gerichteten W o r t e des v e r ä n g s t i g t e n Schädelbegleiters. Schließlich v e r w a n d e l t sich der unheimliche Z a u b e r k o p f zur n ä c h t l i c h e n S t u n d e in einen riesigen F a l k e n , e i n e n mit g e w a l t i g e n S c h w i n g e n u n d r e i ß e n d e n K r a l l e n ausgestatteten V a m p y r v o g e l , der das ahnungslose Dorf ü b e r f ä l l t u n d solange rücksichtslos mordet, bis ein k u n d i g e r M e d i z i n m a n n das gräßliche, s c h r e i e n d h e r a n s c h w e b e n d e u n d sich d a n n auf e i n e n a m W a l d e s s a u m befindlichen B a u m niederlassende Ungeheuer „an der Stelle, wo der W e g aus d e m W a l d e k a m " , durch einen wohlgezielten Pfeilschuß zur Strecke b r i n g t . — Auf d e n ersten Blick e r k e n n t der interessierte Leser, d a ß er es hier mit einer typischen, im M u n d e des Volkes lebendigen V a m p y r g e s c h i c h t e , die g a n z den C h a r a k t e r eines Märchens trägt, zu t u n hat. Uber allem liegt — deutlich s p ü r b a r — der H a u d i des Schauerlichen, Gespenstischen. Schon der — nach dem a u s f ü h r l i c h e n W o r t l a u t der E r z ä h l u n g — d e n g r a u s i g e n Uberfall v o r a u s d e u t e n d e , gänzlich u n m o t i v i e r t e Besuch des r ä t s e l h a f t e n , finster die J a g d beute b e t r a c h t e n d e n , s t u m m im verlassenen Lager umherschleichenden, die v o r h a n d e n e n H ä n g e m a t t e n z ä h l e n d e n U n b e k a n n t e n ist ganz d a z u a n g e t a n , das E m p f i n d e n s p u k h a f t e n G e s c h e h e n s auszulösen. U n d d a n n vollends das schauervoll h e r ü b e r s c h a l l e n d e S t ö h n e n von M e n s c h e n u n d b r u t a l e K r a c h e n b r e c h e n d e r Knochen, ganz besonders a b e r das grausige Erlebnis des d e n ö d e n L a g e r p l a t z , den S c h a u p l a t z der w ü s t e n Morde, a u f s u c h e n d e n Mannes mit dem Zauberschädel! Schon d a ß er ihn am B a n d e h i n t e r sich herziehen m u ß , d ü n k t i h m u n h e i m l i c h g e n u g zu sein, u n d d a m u ß er in seiner großen Angst noch erleben, d a ß der W u n d e r k o p f laut zu schreien u n d aus eigenem A n t r i e b e zu rollen v e r m a g . Unablässig, wie von geheimnisvollen M ä c h t e n getrieben, rollt der v e r f o l g e n d e Schädel, keine M a ß n a h m e zu seiner A b w e h r will glücken. U n d im gespenstisch h e r a n s c h w e b e n d e n , d e n R a u b mit d e n Krallen p a c k e n d e n V a m p y r v o g e l erreicht d a n n der E i n d r u c k des Schrecklichen und S p u k h a f t e n seinen H ö h e p u n k t . 113 8
Daß das Motiv vom rollenden und schließlich in der Grube versinkenden Totenschädel mit lunarer (vielleicht auch solarer?!) Spekulation irgendwie in Zusammenhang stehen könnte, ist, wenn auch z. Zt. recht umstritten, so doch nicht durchaus unwahrscheinlich 123). Ganz wie in den Sagen der nordamerikanischen Prärieindianer, so rollt auch hier der ganz unvermittelt auftauchende mordgierige Schädel schließlich in den Abgrund — gewiß ein symbolischer Ausdruck für die auf- und, in umgekehrter Stellung, untergehende Vollmondscheibe 124 ) bezw. — für den Fall solarer Symbolik — den auf- und untergehenden Sonnenball. In diesen Zusammenhang mag auch jener so urplötzlich in Erscheinung tretende gespenstische Riesenkopf mit weitem, zahnbewehrtem Rachen, wie er uns in einer Erzählung der KarajaIndianer (am mittleren Araguaya-Strom seßhaft), d. i. in dem Märchen von den Zauberpfeilen entgegentritt, gehören 125 ). Nach der Darstellung des Erzählers habe man, als man dieses drohenden Kopfes ansichtig wurde, in der Angst völlig vergessen, an das Gegenmittel zu denken, so daß das Gespenst über die Menschen hergefallen sei und jeden töten konnte, den es fand. In höchster Not sei der sich auf das Zaubermittel verstehende Mann, durch den wilden Lärm herbeigerufen, hinzugekommen und endlich, nachdem bereits das halbe Dorf vernichtet ist, sei es ihm gelungen, das zähnefletschende Kopfungeheuer zu bannen. — Schließlich mag hier noch eine ebenfalls für die sog. Mondmythologie bezeichnende Sage, wie sie uns von den KaschinauaIndianern (zwischen den beiden Quellflüssen des Jurua, eines rechten Nebenflusses des Amazonen-Stromes) überliefert ist, Erwähnung finden 126). Die Erzählung beginnt damit, wie zwei miteinander in Streit liegende Stämme, die Kuta-naua und die Marinaua, Frieden schließen, indem der Kuta-naua den Mari-naua in sein Haus zum Besuch seines Weibes einlädt. Die Pfeile werden als Zeichen friedfertiger Gesinnung ausgetauscht und beide 123) Selbstverständlich kann ich an dieser Stelle auf die hier vorliegenden Probleme nicht näher eingehen. Die ganze Frage, vorzüglich die Idee der sog. „Mondmythologie" bedarf dringend der Klärung. 124) Vgl. hierüber E h r e n r e i c h : Die Mythen und Legenden der Südamerikanischen Urvölker und ihre Beziehungen zu denen Nordamerikas und der alten Welt. 1905, S. 82. 125) Vgl. denselben: Beiträge zur Völkerkunde Brasiliens; in den Veröffentlichungen aus dem (ehem.) Kgl. Museum f. Völkerkunde Bd. II, 1891, S. 43; s. auch Th. K o c h - G r ü n b e r g a. a. O. Nr. 74, S. 200 ff. 126) C a p i s t r a n o d e A b r e u , Joao: ra-txa hu-ni-ku-i. A lingua dos Caxinauäs. Rio de Janeiro 1914, S. 458 ff.; s. auch Th. K o c h G r ü n b e r g a . a . O . Nr. 85, S. 232 ff.
114
b e g e b e n sich auf den W e g zur H ü t t e des K u t a - n a u a . H i e r a n g e k o m m e n w i r d M a r i - n a u a , der a u f einer P r u n k h ä n g e m a t t e P l a t z g e n o m m e n hat, vom Weibe K u t a - n a u a s a u f dessen G e h e i ß a u f s k ö s t l i c h s t e bewirtet u n d schließlich, a l s sich die S o n n e neigt, ä u ß e r t er zu K u t a - n a u a d e n W u n s c h , h e i m z u k e h r e n . L e t z t e r e r willigt d a n n a u c h ein u n d b e i d e m a c h e n sich, n a c h d e m M a r i - n a u a sich noch von der F r a u K u t a - n a u a s v e r a b s c h i e d e t hat, a u f d e n Weg. M a r i - n a u a geht voraus, w ä h r e n d K u t a - n a u a es nicht unterläßt, sich f ü r d e n g e m e i n s a m e n W e g zu b e w a f f n e n I 2 7 ). K u r z vor der H ü t t e M a r i - n a u a s a n g e l a n g t s c h w i n g t K u t a - n a u a sein W a l d m e s s e r mit aller K r a f t u n d s c h l ä g t diesem d a s H a u p t ab, d a s zu B o d e n f ä l l t 1 2 " ) . D e n mit den W i m p e r n z u c k e n d e n K o p f spießt K u t a - n a u a 127) Das Gespräch, das beule dann unterwegs führen, ist gewiß äußerst interessant und mag daher hier wörtlich wiedergegeben werden: „Kuta-naua ergriff sein mächtiges, scharf geschliffenes Waldmesser und nahm seine Pfeile. Da fragte ihn Mari-naua: ,Kuta-naua, warum nimmst du ein so großes Waldmesser mit?' ,Ich sah einen schönen Baum, den will ich auf dem Rückweg umhauen und heimtragen', erwiderte ihm dieser. .Wozu willst du denn den Baum haben?' fragte ihn jener weiter. ,Ich will mir ein Grabscheit daraus machen', antwortete ihm Kuta-naua. Dann nahm Mari-naua das große Bündel mit den vielen Speisen unter den Arm, und sie maditen sich auf den Weg." Ganz, unwillkürlich denkt man hier an das vom Elohisten (Gen. 22, 6 ff.) mitgeteilte Gespräch Isaaqs mit seinem Vater Abraham: „So nahm Abraham das Holz zum Ganzopfer und lud es seinem Sohne lsaaq auf; er selbst nahm den Brand und das Messer in die Hand: so gingen die beiden miteinander. Da sprach lsaaq zu seinem Vater Abraham: Vater. Er antwortete: nun, mein Sohn? Er sprach: hier ist wohl der Brand und das Holz, wo ist aber das Schaf zum Ganzopfer? Abraham antwortete: das Schaf zum Ganzopfer ersieht sich Gott selber, mein Sohn. So gingen die beiden miteinander." — Hinter den ausweichenden Worten Kuta-nauas wie auch Abrahams verbirgt sich die furchtbare Tat. Man ersieht hier aus der, wenn auch nur entfernteren Ähnlichkeit der vorliegenden Situation, wie das unmittelbar vor dem Morde stattfindende, den wahren Sachverhalt geschickt verschleiernde Zwiegespräch von Mörder und Opfer in altorientalischer wie auch rezent-primitiver Dichtung — bei ungefähr gleicher Höhenlage primitiver Gestaltungsart — ein beliebtes Motiv zur Belebung der Erzählung darstellt. — 128) Uberaus eindringlich werden wir uns der primitiven, wenn auch durchaus nicht unkünstlerischen Gestaltungsweise des Erzählers bei der Schilderung des weiteren Schicksals von Mari-nauas kopflosem Rumpf bewußt: das Haupt . . . . fiel zu Boden. Nur sein Körper blieb stehen; er konnte nicht mehr weiterschreiten. So stand er da und zitterte und zitterte. Da schlug ihn Kuta-naua in den Rücken, und er stürzte nieder." In der Tat, in diesen Worten offenbart sich eine geradezu rührende Naivität des primitiven Erzählers, die gar nicht übertroffen werden kann. Man vermeint sich hier an den archaischen, höchst umständlichen Stil erinnert, wie er uns z. B. in der althebräischen Poesie, insbesondere im Debora-Liede (Jud. V) entgegentritt. Dem Bericht von der kühnen Mordtat Jaels (V. 26: „Ihre Hand .streckte sie aus' nach dem Pflock und ihre Rechte nach dem Arbeitshammer, und sie hämmerte auf Sisera, zerschlug sein Haupt, zerschmetterte und durchbohrte seine Schläfe") folgt in aller Breite die Schilderung des elementaren
115
auf einen zugespitzten Stock und p f l a n z t ihn mitten in den Weg (Motiv des auf der Stange erhöhten Kopfes), worauf er den Heimweg antritt. Ein anderer auf der J a g d befindlicher Mari-naua betritt von ungefähr den Tatort, nimmt den seltsam erhöht hängenden K o p f , dessen lange H a a r e gespenstisch frei im Winde flattern, wahr und erblickt in ihm einen zu fürchtenden bösen Geist. Neugierig tritt er schließlich näher heran. Da, wie er den Kopf a u f m e r k s a m anblickt, begibt sich etwas höchst Eigenartiges: ..Der K o p f war nicht tot; die Augen glänzten; die Wimpern zuckten; der Mund öffnete sich." (Motiv des magisch belebten Kopfes.) Aber auf die teilnehmenden F r a g e n des Mari-naua kann der Kopf nicht antworten: stumm bewegen sich nur die Lippen und die Augen blinzeln. Schließlich weint der K o p f , so daß die Tränen herabtropfen. — Der andere Mari-naua setzt nun seine Freunde von seinem merkwürdigen Erlebnis in Kenntnis, und eilends machen sich diese, b e w a f f n e t mit Pfeilen, Wurfspeeren und Keulen — vor allem aber nehmen sie Körbe mit —, auf den Weg. Vor den schreiend sich nähernden Mari-naua-Leuten klettert der sich am Tatort versteckt haltende K u t a - n a u a auf einen sehr hohen Mulattenbaum, von dem herab er beobachten kann, was sich unten abspielt. — Die unten mit ihrem sie führenden Freunde versammelten Mari-naua müssen gleich diesem die befremdende Erfahrung machen, daß „der Kopf nicht tot w a r ; er blinzelte mit den A u g e n ; da hing er und weinte, und seine Tränen tropften herab: sein Mund war offen, aber er konnte nicht sprechen. So hing er da, der Kopf des Mari-naua". Nachdem nun die trauernden Verwandten des Ermordeten sich weinend bei dem Kopf niedergesetzt haben, auch wohl — was in der Erzählung allerdings nicht ausdrücklich gesagt ist — die Totenklage auf ihren Stammesgenossen angestimmt haben mögen, beginnt man, sich zur Heimkehr zu rüsten. Der Kopf wird von Zusammenbruchs des zu Tode getroffenen kanaanitischen Feldherrn Sisera V. 27: „zu ihren Füßen brach er zusammen, fiel nieder, l a g d a ; zu ihren Füßen brach er zusammen, fiel nieder: dort wo er zusammenbrach, blieb er liegen erschlagen". (Ob man bei dem ben rageleha k a r a ' naphal £akhabh ben rageleha k a r a ' naphal unbedingt mit einer Dittographie zu rechnen hat, sei durchaus dahingestellt. J e d e n f a l l s findet die ungemein gedehnte, d a s gleiche zumal so hochbedeutsame F a k t u m breit wiederholende Ausdrucksweise im primitiv-archaischen Stil ihre volle Erklärung. Der Parallelismus inembrorum als eigentümliche Erscheinung in altorientalischer bezw. altsemitischer Dichtung unterstützt noch ganz wesentlich den schweren, wuchtigen R h y t h m u s dieser so umständlichen Diktion!)
116
der Stange geholt, diese ausgerissen und beiseite geworfen, und nachdem man den Kopf sorgfältig in einen Korb gelegt (Motiv des Kopfes im Korbe), tritt man schreiend den Rückweg an. Mitten auf dem Weg durchbricht der Kopf den Korb, man holt einen zweiten herbei, auch diesen durchstößt er; man unterbricht den Marsch, um neue Körbe holen zu lassen — ¡11 der Zwischenzeit wird der Leichnam Mari-nauas beigesetzt —: aber auch mit diesen neu herangetragenen Körben geschieht es in gleicher Weise: dem menschlichen Auge unsichtbar durchbeißt der Wunderkopf mit den Zähnen den Korb. Und auch, als ihn ein Mari-naua auf seinem Rücken weiterzutragen sucht, muß er das beißende Ungetüm laut aufschreiend schleunigst fortwerfen (Motiv vom aufhockenden Vampyrkopf). tili abermaliges Hineintun des Hauptes in einen Korb erweist sich wiederum als zwecklos; da merkt man schließlich in seiner Not, daß man es mit einem Z a u b e r k o p f zu tun hat. Die Mari-naua lassen daher den gefährlichen belebten Gegenstand am Wege liegen und gehen, im Glauben, ihrer unheimlichen Bürde ledig zu sein, eilends davon. Jetzt erst beginnt der Kopf, zunächst zu sich selbst, zu reden (Motiv des redenden beseelten Kopfes) und den Davoneilenden auf dem Wege nachzurollen (Motiv des rollenden Vampyrkopfes). Vor dem rollenden Zauberkopf, der seinen Freunden flehentlich zuruft, doch auf ihn zu warten, damit er mit ihnen zusammen heimgehen könne, fliehen die Mari-naua entsetzt weiter. Uber einen angeschwollenen Bach, der sich den Fliehenden in den Weg stellt, schwimmen sie hinüber. Der auf dem ganzen Wege in Tränen aufgelöste Kopf macht zunächst weinend am Ufer des reißenden Flusses halt; allein ein am jenseitigen Ufer über das stillstehende Ungetüm bereits frohlockender Mari-naua wird bitter enttäuscht, denn — „der Kopf rollte weiter, stürzte sich in den F l u ß und schwamm hinüber" (Motiv des schwimmenden Kopfes). Vor dem heranschwimmenden, dann das hohe Ufer erklimmenden Kopf suchen sich die Mari-naua zu retten, indem sie auf einen Bakupary-Baum klettern, unter dem der rollende Schädel dann liegen bleibt. Jetzt entwickelt sich eine harmlose Szene am Baume, eine Art gemütliche Unterhaltung findet statt, bei der aber nur der Kopf der eigentlich sprechende Teil zu sein scheint, während die andern mehr durch ihr Handeln antworten. Die ergötzliche, überaus drastische Schilderung der S z e n e a m K a k u p a r y - B a u m e legt abermals beredtes Zeugnis ab von der primitiven, geradezu kindlichen Natur des Erzählers, der in aller Treuherzigkeit ernsthaft den Bericht gibt, während der moderne Zuhörer sich eines Lächelns ob alle dieser so ehrlich gezeigten Naivität nidit erwehren kann. — Zunächst erbittet sich der Kopf von den Essenden einige Früchte vom
117
Bakupary-Baum. Die ihm von oben zugeworfene Frucht will er, da sie noch grün ist, nicht essen; er bittet vielmehr um eine andere reife. Er erhält diese; und als er sie hinunterschlucken will, fällt sie wieder aus dem Loch seines Halses heraus. Wiederum bittet er um eine Bakupary. Da verfällt ein Mari-naua auf eine List: er wirft die dargebotene Frucht mitten in den Fluß hinein, in der Erwartung, der unheimliche Geselle möchte sich entfernen. Der Kopf indes reagiert auf diese ihm unverständliche Handlung rein negativ: er denkt gar nicht daran, die Frucht aus dem Flusse zu holen; vielmehr erbittet er eine andere Bakupary. Dem Rat eines Gefährten folgend wirft jetzt der Mari-naua — er muß eine sehr große Frucht abreißen, um den Kopf noch ganz besonders zu locken! — seine Bakupary weit weg auf den Weg und siehe — der Schädel rollt wirklich den ganzen Weg dahin, sie zu holen. Den wertvollen Augenblick geschickt nutzend steigen die Mari-naua eilend vom Baume herab und laufen weiter. — Obige Schilderung, in der sich aufrichtiges Bitten und verschlagenes Antworten in wunderlicher Weise mischen, und die ganz und gar nicht des Charakters des Grotesken entbehrt — man denke nur an die den günstigen Augenblick ausnutzenden, vom Baum steigenden und wild davonlaufenden Leute —, zeigt ganz offensichtlich, welcher Kunstmittel sich der primitive Sagenerzähler bedient, um die Aufmerksamkeit seiner Volksgenossen wachzurufen und seine Zuhörer zu belustigen und zugleich zu fesseln. Solche — f ü r das moderne gereifte Empfinden banalen — Ausschmückungen der ausmalenden Rede sind im Ohre des naturvölkischen Menschen durchaus keine Geschmacklosigkeiten, vielmehr stellen sie den Angelpunkt im Dasein des primitiven Erzählers dar, der ohne sie nicht existieren kann. D e r durch eine, das F l i e h e n der Mari-naua-Leute ermöglichende List vom B a k u p a r y - B a u m w e i t auf den W e g hinausgelodcte Zauberkopf kehrt indes mit der geholten Frudit bald zu diesem zurück, und als er oben in der H ö h e n i e m a n d mehr erblickt, madit er sich wieder auf den W e g und rollt weiter hinter den F l i e h e n d e n her. Letztere verschanzen sich schließ lieh in ihrem Hause und verweigern beharrlich dem f l e h e n t l i c h um Linlaß b i t t e n d e n Kopf den Zutritt. W e i n e n d und mit seinen H a a r e n die Tränen a b w i s c h e n d rollt nun der Kopf um das H a u s herum, und auch der Hinweis, sich nur seine im H a u s e b e f i n d l i c h e n Sachen holen zu wollen, vermag den konsequent a b w e i s e n d e n Sinn der Verängstigten nicht zu ändern. Schließlich, in seiner Ratlosigkeit, verfällt der Kopf auf den G e d a n k e n , sich zu verwandeln. An der kurzen Zwiesprache, die der beklagenswerte Mari-nauaSchädel mit sich selbst hält („Soll ich mich verwandeln?" [Und er dachte nach und sprach:] „Kuta-naua hat mir den Kopf abgeschlagen, so daß ich meine Leute nicht sehen kann. Nur mein Kopf kam hinter ihnen her, aber meine Leute fürchteten sich vor mir und verschlossen das Haus, so daß ich nicht eintreten und meine Sachen holen kann."), vermag man deutlich zu erkennen, daß hier nicht der Kopf als solcher, als einzelnes Glied des Körpers, redet, vielmehr spricht aus dem Zauberkopf — getreu den aus den Befragungs-Bräuchen des Totenkultes resultierenden Anschauungen (s. w. o.) — der Geist des Gemordeten selbst, der im Kopfe wesenhaft ruht, in ihm seinen bevorzugten Wohnsitz aufgeschlagen hat. So darf es in keiner Weise befremden oder gar als unlogisch bezeichnet werden, wenn der rollende, weinende Kopf davon spricht, Kuta-naua habe ihm den Kopf abgeschlagen. — Oben wurde der Diktion der Sage entsprechend mitgeteilt, daß der weinende Kopf sich die Tränen abwischt. Hier mag man demgemäß eine
118
mit der Hand agierende Tätigkeit des im Schädel sitzenden redenden und handelnden Totengeistes postulieren, wobei man andererseits durchaus in Rechnung stellen muß, daß sich in der Vorstellungswelt des primitiven Menschen und somit auch in seinem künstlerischen Gestaltungsvermögen eine derartige Anschauung in einer für den Modernen recht merkwürdigen Weise auslösen kann: der beseelte Kopf empfängt Arme und Hände angesetzt, ähnlich wie man ihn mit Flügeln und krallenbewährten Füßen auszustatten beliebt, wenn man in ihm eine Art dämonischen Vogelwesens zu erkennen vermeint.
Die Frage seiner Stammesgenossen, in was er sich denn zu verwandeln gedenke, beantwortet der Zauberkopf mit den wunderlichen Worten, daß er sein Blut, ebenso seine Augen und seinen Kopf verwandeln wolle, wobei er mit der Verwandlung seines Blutes den ,Weg der Fremden' (= den Regenbogen) machen werde. Die an sich selbst gerichtete Frage des Kopfes: Was soll ich nun werden? gibt dem Erzähler günstige Gelegenheit, seiner Sage ein rhythmisch gegliedertes, von gewisser dichterischer Begabung zeugendes Stück einzulegen, nach dem der Zauberkopf in immer neuen Variationen bemüht ist, seine nutzbringenden Eigenschaften — sei es als Pflanze, als Frucht oder Tier, sei es sonst wie — seinen Genossen anzupreisen. Zum Teil ist der poetische Erguß, der dem Munde des mit offenem Auge und aufgeschlossenem Sinn die Natur und ihre Geheimnisse betrachtenden Sagenerzählers entquillt, von wirklich hoher Schönheit, zumal da, wo sich der Zauberkopf in das Licht eines Schutz-, Heil- und Speisefetisches zu stellen weiß: Was soll ich denn werden? Wollte ich Sonne sein, und ihr fröret, so kann ich euch erwärmen. Wollte ich Regen sein, und ich regnete und füllte die Flüsse, und ihr finget Fische und eßt sie, und ich feuchtete das Gras an, und das Gras wächst, so können mich die Jagdtiere essen. Wollte ich Kälte sein, und die Sonne brennt euch, so kann ich euch abkühlen. Wollte ich Nacht sein, und ich dunkelte, so könnt ihr schlafen. Wollte ich Morgen sein, und ihr schliefet im Dunkel die ganze Nacht, und es würde Morgen und ihr erwachtet, so könnt ihr gehen. — Abermals verkündet nun der im Kopfe ruhende Geist des ermordeten Mari-naua seinen Genossen, daß er sein Blut in den ,Weg der Feinde' ( = den Regenbogen), seine Augen in Sterne und seinen Kopf in den Mond verwandeln werde, wobei er den Weibern und Mädchen zu deren Furcht und Schrecken noch ganz besonders
119
in A u s s i c h t s t e l l t , d a ß sie, w e n n s e i n K o p f M o n d g e w o r d e n der V o l l m o n d glänze, b l u t e n w ü r d e n .
W a s der erdenmüde,
und leid-
g e p r ü f t e Zauberkopf seinen F r e u n d e n v e r h e i ß e n hat, trifft dann a u c h w i r k l i c h ein: der V e r w a n d l u n g s z a u b e r vollzieht sich vor d e n A u g e n der S t a m m e s b r ü d e r . Die höchst w u n d e r l i c h e Art nun, in der sich d i e V e r w a n d l u n g i m e i n z e l n e n gestaltet, ist wiederum b e z e i c h n e n d f ü r die p r i m i t i v e Vorstellungswelt des n a i v e n s ü d a m e r i k a n i s c h e n M y t h e n - resp. Sagenerzählers, d e r sich mit geradezu e r s t a u n l i c h e r g r o b s i n n l i c h e r Realistik das wunderbare Geschehen ausmalt. Zunächst zieht M a r i - n a u a sein Blut heraus, schüttet es auf einen Teller und schleudert es a u f w ä r t s in den H i m m e l . D a s sich im H i m m e l e r g i e ß e n d e Blut l ä u f t a u s e i n a n d e r u n d bildet so d e n ,Weg der Fremden", d. h. d e n Regenbogen. Mit der Verw a n d l u n g d e r A u g e n geschieht es in g a n z ä h n l i c h e r Weise: M a r i - n a u a „ .reißt' seine A u g e n aus und , w i r f t ' sie a u f w ä r t s , und schon , v e r w a n d e l n ' sich seine A u g e n in viele Sterne". Die V e r w a n d l u n g des Kopfes vollzieht sich u n t e r Z u h i l f e n a h m e einer Art H i m m e l s l e i t e r : seine beiden ihm von seinen im H a u s e b e f i n d l i c h e n L e u t e n z u g e w o r f e n e n G a r n k n ä u e l ergreift d e r W u n d e r k o p f — es w e r d e n hier also in dieser V e r w a n d l u n g s s z e n e d u r c h w e g A r m e u n d H ä n d e g a n z wie oben beim sich die T r ä n e n abwischend e n Kopf vorausgesetzt! — und w i r f t sie a u f w ä r t s in den H i m m e l . D e r h e r b e i f l i e g e n d e h i m m l i s c h e Aasgeier n i m m t die G a r n k n ä u e l in den S c h n a b e l u n d fliegt d a m i t a u f w ä r t s , u m sie f ü r d e n Kopf im H i m m e l zu befestigen. Dieser n i m m t nun die b e i d e n F ä d e n in d e n M u n d und schwebt — zum E r s t a u n e n seiner Leute — an den zwei Bändern a u f w ä r t s gleitend dahin. D i e verwundert aufschauenden Mari-naua verlassen nunmehr das H a u s u n d l a u f e n auf d e n freien D o r f p l a t z , v o n d e m aus sie stehend
den
Regenbogen
erblicken
und
H i m m e l f a h r t des Z a u b e r k o p f e s w e r d e n .
weiterhin
Zeugen
der
Als d a n n die D u n k e l h e i t
a n g e b r o c h e n ist, s e h e n sie, d a ß d e r K o p f eitel W a h r h e i t v o r a u s v e r kündet hatte:
„Mari-nauas Kopf
war
zum
und seine Augen zu funkelnden Sternen.
Vollmond
geworden,
N u n g l ä n z t e der Voll-
m o n d , u n d a l l e W e i b e r b l u t e t e n u n d es b l u t e t e n a l l e
Jungfrauen.
A l s die W e i b e r b l u t e t e n , w o h n t e n ihre G a t t e n i h n e n bei.
Dann
s c h w i e g das Blut, und die Weiber w u r d e n schwanger." D i e Worte, die die v e r z ü c k t a u f b l i c k e n d e n M a r i - n a u a - L e u t e d a n n im Anblick der g l ä n z e n d e n Vollmondscheibe s p r e c h e n , sind von geradezu köstlicher Simplizität und e r i n n e r n in ihrer w u c h t i g e n Geschlossenheit l e b h a f t an d e n l a p i d a r e n C h a r a k t e r , d e n g e t r a g e n e n Stil a l t ä g y p t i s c h e r D i k t i o n . H i e r w i r d in der T a t e t w a s vom Geist der P y r a m i d e n t e x t e , ihrer g e d r u n g e n e n A u s d r u c k s f o r m o f f e n b a r : „Siehe da diesen Vollmond!" „ M a r i - n a u a s Kopf ist Mond g e w o r d e n . Da glänzt er! Diesen Vollmond, diese Sterne, diesen R e g e n b o g e n h a t er selbst v e r w a n d e l t . Dieser Regenb o g e n ist sein Blut; diese Sterne sind seine A u g e n : dieser Vollmond ist sein K o p f ! " Mit d e n für die im Volke v o n Mund zu Mund Wandersage charakteristischen Worten: der
Geschichte
von
Mari-naua,
der
weitergegebene
„ S o w e i t e r i n n e r e ich mich
von
Kuta-naua
enthauptet
w u r d e . M e h r g i b t es nicht.'" s c h l i e ß t d i e t r z ä h l u n g d e r k a s c h i n a u a Indianer ab.
120
Auf den ersten Blick vermag hier der Kundige zu erkennen, daß es sich bei dieser das Motiv vom beseelten, redenden, rollenden wie auch schwimmenden Zauberkopf zum Mittelpunkt nehmenden Geschichte um eine für die sog. Mondmythologie bezeichnende Sage handeln muß. Das Motiv vom unablässig verfolgenden gespenstischen Vainpyrkopf tritt in dieser von z. T. hoher künstlerischer Begabung ihres Verfassers zeugenden Sage leise zurück zugunsten mythologischer, astraler wie vorzüglich wohl lunarer Spekulationen, die — nunmehr ganz in den Vordergrund tretend — geschickt durch das Motiv der Verwandlung eingeleitet werden. Hier haben wir für das, was oben bei Behandlung des Märchens der Tembe-Indianer nur mehr vermutungsweise ausgesprochen werden konnte, nämlich für ein deutlich spürbares hinwirken der Mondmythologie die direkte Bestätigung: ganz ausdrücklich wird hier gesagt, daß der Kopf zum Monde wird und als solcher zu den himmlischen Gefilden emporsteigt resp. am Bandwerk hinaufschwebt. Während die Mythologie der alten Welt mehr solaren Spekulationen hingegeben war, indem derartige beseelte Häupter im mythischen Denken des Altertums hauptsächlich auf die Sonne Bezug hatten — es sei hier nur an bekannte, den Kopf wiedergebende Sonnensymbole gedacht —, scheint das mythische Gestalten der Naturvölker auch vom Monde nicht unwesentlich angeregt worden zu sein, als dessen symbolischen Ausdruck mau den in freier Luft auf- und niederwärts rollenden Schädel zu erkennen vermeinte. Wie hier der zum Monde sich verwandelnde Kopf sich an einem Garn zur himmlischen Region emporschwingt, so steigt, nach einer von K o c h - G r ü n b e r g aufgezeichneten Erzählung, eben der Mondmythe der Taulipang 1 2 n ) der Mond an einer Liane in die Höhe. Waren bereits in der alten Welt die vom Haupte strahlenförmig ausgehenden Haarbüschel wesentliches Charakteristikum für den die strahlende Sonne symbolisch verkörpernden Kopf — man vergegenwärtige sich hier Kopftypen wie Samas bezw. Simson, Gorgo, Bes u. dgl. m. —, so können diese in der mythischen Gedankenwelt der rezenten Primitiven recht wohl auf das den geheimnisvoll glänzenden Mond repräsentierende beseelte Haupt bezogen werden. In der Mond-Geschichte der Kaschinaua-lndianer wird ausdrücklich die ungewöhnliche Länge 129) Vom R o r o i m a z u m O r i n o c u . Bd. I I : M y t h e n und L e g e n d e n der T a u l i p a n g - und A r e k u n ä - I n d i a n e r . 1916, S. 54: s. a u c h „ I n d i a n e r m ä r c h e n a u s S ü d a m e r i k a " . 1921, Anin. 85 zur S. 532. N a c h einem Hinweis K o c h - G r ii n I) e r g ' s finden sich d i e Worte, d i e der K o p f in d e r K a s c h i - n a u a - M o r d g e s c h i c h t e zu sich selbst s p r i c h t , bevor er sieh entschließt, z u m H i m m e l zu g e h e n und Mond zu w e r d e n , hier in ä h n l i c h e r Weise wieder.
121
des H a u p t h a a r e s des H e l d e n h e r v o r g e h o b e n : „ M a r i - n a u a s H a a r e w a r e n sehr lang'", u n d im w e i t e r e n Verlauf der E r z ä h l u n g sind es g e r a d e die langen, vom Wind h i n u n d h e r geschüttelten, gespenstisch f l a t t e r n d e n H a a r e des e r h ö h t e n , auf der S t a n g e a u f g e steckten Z a u b e r k o p f e s , die dem sich der Mordstelle n ä h e r n d e n , a n d e r e n ' M a r i - n a u a F u r c h t u n d S c h r e c k e n e i n f l ö ß e n , j a in ihm sogar die Ü b e r z e u g u n g w a c h r u f e n , er h a b e es mit einem bösen Geiste zu t u n 13°). Die geheimnisvollen Beziehungen des Mondes z u m Geschlechtsleben des Weibes d e u t e t sich der p r i m i t i v e E r z ä h l e r in der f ü r ihn b e z e i c h n e n d e n n a i v e n Art, die j e d o c h eines t i e f e r e n Sinnes keineswegs e n t b e h r t . E n t s p r e c h e n d der V e r h e i ß u n g des Z a u b e r k o p f e s , die dieser einst vor seinem Aufstieg zum H i m m e l d e n L e u t e n seines C l a n s gegeben hat, sollen, w e n n die Sterne a m F i r m a m e n t in aller H e r r l i c h k e i t e r s t r a h l e n , die P r a c h t des R e g e n b o g e n s sich e n t f a l t e t , ganz besonders aber, w e n n die volle Scheibe des Mondes auf die Menschen h e r n i e d e r g l ä n z t , die B l u t u n g e n bei W e i b e r n u n d Mädchen e i n t r e t e n . So e r k l ä r t sich der P r i m i t i v e das n a t ü r l i c h bedingte, j e d o c h mythisch-kosmisch v e r k l ä r t e G e s c h e h e n auf seine Weise, k o m m t a u c h der u n k o m p l i z i e r t e m p f i n d e n d e naturvölkische Mensch zu einer in seiner A r t nicht u n g e s c h i c k t e n E r f a s s u n g des Problems des Leidens. Wie der beseelte Kopf einst bei seiner Verk l ä r u n g z u m h i m m l i s c h e n L i c h t w e s e n auf eigenen s c h w e r e n E n t schluß hin — die eigenen F r e u n d e und Stammesgenossen h a b e n j a den flehentlich B i t t e n d e n und hilflos W e i n e n d e n nicht v e r s t a n d e n , h a b e n ihn verstoßen, h a b e n eben ,nicht gewollt'! — gelitten h a t , i n d e m er sein teures Blut herauszog u n d sich seine göttlichen A u g e n ausriß, d a m i t sie zu himmlischen W e s e n h e i t e n — gleich ihrem Besitzer — e r h o b e n w ü r d e n , als R e g e n b o g e n u n d f u n k e l n d e Sterne a m Himmelszelt leuchten k ö n n e n , so sollen a u c h die M e n s c h e n k i n d e r , insbesondere die F r a u e n d e n A b g l a n z des göttlichen Schmerzes — i h n e n mystisch v e r m i t t e l t — schmecken, sollen a u c h sie sich des einstigen s c h m e r z h a f t e n Urgeschehens im Leiden b e w u ß t w e r d e n , ein mystisches avfinad'Elv mit dem n u n m e h r e r h ö h t e n Geisterwesen a n sich s p ü r b a r e r f a h r e n . A u c h in der naiven, von b l ü h e n d e r P h a n t a s t i k u n d wild w u c h e r n d e r Mystik v e r d u n k e l t e n , schier sinnlosen p r i m i t i v e n Religiosität des W i l d e n 130) S. hierzu w. o. im R a h m e n der ßefragungsbriiuche m a g man, w a s z w a r nicht belegbar, g e w i ß aber nicht unwahrscheinlich ist, auch im v o m W i n d e b e w e g t e n w e h e n d e n Haar des m a n t i s c h e n Kopfes d e n spontan sich äuiäernden Willen der Gottheit resp. des Ahnengeistes erblickt h a b e n ; wir h ä t t e n es in diesem Falle also mit einer Art Wind- resp. Winkorakel zu tun!
122
vermag dennoch der Moderne, sofern er nur den scheinbar wirren Klängen hingebungsvoll und ehrfürchtig zu lauschen sich bemüht, das zunächst zarte, dann immer deutlicher werdende Sich-Regen zur Harmonie strebender Töne sicher wahrzunehmen. Ihm und seinem guten Willen allein eröffnet sich ein tieferes Verständnis. Für die Maskenidee, wie sie uns bei den modernen Primitiven entgegentritt, ist es ganz besonders bemerkenswert, daß die Entwicklung a u f d i r e k t e m W e g e v o m S c h ä d e l zur M a s k e geführt hat, indem man mit Recht von einem gewissen Angleichungs- resp. Verschmelzungsprozeß, einem deutlichen Ineinanderübergehen beider Vorstellungen, nämlich der von Schädel und Maske, wird sprechen dürfen. Diese seltsame Verbindung von Schädel und Maske liegt uns vor in der natürlichen S c h ä d e l m a s k e 131). Es sind die Schädcl eigener großer verstorbener bezw. fremder gefangener und dann geschlachteter Häuptlinge, die man — nach dem uns bei A. B. M e y e r mitgeteilten Bericht eines Sammlers — zu Krieger-Masken zu präparieren pflegt. Der vom Rumpf abgetrennte Kopf wird in zwei Teile zerlegt, indem man den Hinterkopf vom Ohre ab wegschlägt, ohne das eigentliche Gesicht des Schädels zu zerstören. Jetzt wird die eigentliche Präparierung des Gesichtsteils vorgenommen, die sich in ähnlicher Weise vollzieht wie beim modellierten Schädel: Gehirn, Augen- und Fleischteile werden entfernt, hingegen bleibt die Haut erhalten, die man fest antrocknen läßt. Eine klebrige, allmählich hart werdende Erdmasse ersetzt die weggenommenen Fleischpartien, und eine WeißRot-Bemalung mit Kalk verleiht dem ganzen Gebilde eine möglichst große Ähnlichkeit mit dem Gesicht eines lebenden Mensdien. 131) Über diese und ihre tiefere Bedeutung vgl. man bes. L. F r o b e n i u s im XI. Bd. des „Internationalen Archivs f ü r Ethnographie", der hier mit den älteren, die höhere Bewertung der Schädelmaske leugnenden und somit zu negativen Resultaten f ü h r e n d e n Ansichten und diesbezgl. A u s f ü h r u n g e n , wie sie etwa noch von P a r k i n s o n im X. Bd. der „Publikationen aus dem Ethnographischen Museum zu Dresden" vertreten w u r d e n — auch in seinem grundlegenden W e r k : Dreißig J a h r e in der Südsee. 1911, S. 593 f f . hat dieser sonst so verdiente Forscher seine, wie mir und anderen scheint, völlig unberechtigte Skepsis nicht abzulegen vermocht! —, glücklich a u f geräumt hat; man berücksichtige auch A. B. M e y e r : „Masken von Neu-Guinea und dem Bismarck-Archipel", (ehem.) königl. Ethnographisches Museum zu Dresden VII, 1889, S. 13a „Schädelmasken von Neu Britannien" (s. liier vor allem die Lichtbilder Tafel XV, ferner die Abb. von drei Exemplaren bei P a r k i n s o n a . a . O . S. 595, Abb. 107 „Schädelmasken von der Gazellenhalbinsel" bezw. die bildlichen Wiedergaben bei v. S y d o w : Kunst und Religion etc., Tafel 27 resp. demselben: A h n e n k u l t u. Ahnenbild etc. Tafel 2).
123
D u r c h die B e i g a b e eines k ü n s t l i c h e n , a u s K o k o s f a s e r n h e r g e s t e l l t e n Bartes, falls n i c h t die n a t ü r l i c h e n K o p f h a a r e a m V o r d e r s c h ä d e l u n d d a s B a r t h a a r e r h a l t e n g e b l i e b e n sind, w i r d die W i r k u n g , die ein d e r a r t i g e r r e a l i s t i s c h e r S c h m u c k a u s z u l ö s e n i m s t a n d e ist, noch bedeutend erhöht. Es d a r f h e u t e als gesichertes E r g e b n i s d e r F o r s c h u n g angesehen werden, d a ß diesen S c h ä d e l m a s k e n mit ihrer naturalistischd r a s t i s c h e n G e s t a l t , schon w e g e n i h r e s e n g s t e n Z u s a m m e n h a n g e s m i t d e m k r ä f t e e r f ü l l t e n N a t u r s c h ä d e l , u r s p r ü n g l i c h r e i n religiöse B e d e u t u n g z u k o m m t , die a b e r d a n n schon f r ü h v e r b l i c h e n sein m a g . „Bei religiösen F e i e r l i c h k e i t e n — ,so b e s o n d e r s a m T o t e n f e s t e ! ' — u n d T ä n z e n in d e n M o n d n ä c h t e n t r a g e n j u n g e H ä u p t linge die (Schädel-) M a s k e n a l t e r b e r ü h m t e r H ä u p t l i n g e vor d e m G e s i c h t , weil sie g l a u b e n , d a ß i h n e n d a d u r c h die K r a f t , T a p f e r k e i t u n d M a c h t v e r l i e h e n w e r d e , w e l c h e j e n e b e s a ß e n " la '-). So ist es vor a l l e m R e s e r v a t d e r K r i e g e r h ö h e r e n G r a d e s , d u r c h ihr f r a g e n — b e i m K r i e g s t a n z o d e r a u f d e m K r i e g s p f a d e — sich in d e n Besitz s i e g e n d e r r e s p . s c h ü t z e n d e r K r ä f t e zu b r i n g e n . N a c h P a r k i n s o n 1 3 3 ) ist die V e r w e n d u n g der — n a c h d e n A u s s a g e n von F o r s c h u n g s r e i s e n d e n s e l t e n u n d s c h w e r zu e r l a n g e n d e n — S c h ä d e l m a s k e eine m e h r f a c h e . Bei E h e s c h l i e ß u n g e n bed i e n t sich i h r e r in z e r e m o n i e l l e r H a n d l u n g der V e r t e i l e r des Muschelgeldes. W ä h r e n d des b e t r . V o r g a n g e s n i m m t er die M a s k e (lor, d. h. S c h ä d e l ) vors G e s i c h t , w ä h r e n d er sie n a c h d e r Vert e i l u n g w i e d e r a b l e g t . „Ein w e i t e r e r G e b r a u c h besteht d a r i n , d a ß bei F e s t l i c h k e i t e n gewisse L e u t e , eine solche M a s k e vor d a s G e s i d i t h a l t e n d , sich a u f d e n F e s t p l a t z b e g e b e n u n d d a n n e i n e n Teil der N a h r u n g s m i t t e l als G e s c h e n k in E m p f a n g n e h m e n , w o z u si'e u n m a s k i e r t n i c h t b e r e c h t i g t sein w ü r d e n . " — W i e ich meine, e n t s p r e c h e n die l e t z t g e n a n n t e n G e b r ä u c h e d e r S c h ä d e l m a s k e g e w i ß in k e i n e r Weise m e h r d e r e n p r i m ä r e r B e s t i m m u n g , g e m a h n e n sie in n i c h t s m e h r an i h r e u r s p r ü n g l i c h e Idee, v i e l m e h r e r s c h e i n t diese in den o b i g e n v o n P a r k i n s o n u n s m i t g e t e i l t e n V e r w e n d u n g s f o r m e n b e r e i t s völlig v e r b l i c h e n 134 ). W o h l b e d i e n t m a n sich dieser 132) Vgl. bei A. B. M e y e r : M a s k e n von N e u - G u i n c a und dem BismarckA r c h i p e l . 1889; A b s c h n i t t : S c h ä d e l m a s k e n von Neu B r i t a n n i e n S. 13a f. M e y e r zitiert hier die recht b e a c h t l i c h e n Worte eines S a m m l e r s , der seinerzeit (ca. 1880) als Zahlmeister auf einem d e u t s c h e i l K r i e g s s c h i f f tätig war. 133) a . a . O . S. 595. 134) D i e s e Verfallserscheinung' läßt sich a u c h gut an der n i e d e r g e h e n d e n T e c h n i k der H e r s t e l l u n g solcher S c h ä d e l m a s k e n , w i e sie uns gerade in j ü n g e r e r Zeit e n t g e g e n t r i t t , illustrieren. W ä h r e n d — w i e P a r k i n s o n a. a. O. S. 594 bemerkt — die ä l t e r e n M a s k e n sehr realistisch g e h a l t e n und h e u t e für d e n s a m m e l n d e n Forscher nur
124
so eigenartigen Maske noch beim zeremoniellen Akt, allein ihr G e b r a u c h ist mehr u n d m e h r zur leeren F o r m a l i t ä t e n t a r t e t , die jedes t i e f e r e n G e h a l t e s zu e n t b e h r e n scheint. Was in der alten Zeit gehaltvoller, von religiösem I m p u l s g e t r a g e n e r B r a u c h w a r , wird in der Spätzeit, der Zeit der A u f l ö s u n g , reine F o r m e n s a c h e und seelenlose G e p f l o g e n h e i t . Legte m a n einst d i e S c h ä d e l m a s k e u. a. a l s T o t e n m a s k e b e i T o t e n t ä n z e n resp. a l s K r a f t f e t i s c h b e i m K r i e g s t a n z e an, so ist n u n m e h r ihr G e b r a u c h , wie es in der T a t d e n Anschein gesvinnt, in die mehr materielle S p h ä r e h i n a b g e s u n k e n , j a f a s t gänzlich p r o f a n i e r t , w e n n sie allein noch bei der G e l d - (Mitgift?-) resp. Besitzverteilung und eigens z u m Zwecke des S i c h b e m ä c h t i g e n s von F e s t v o r r ä t e n V e r w e n d u n g findet. So h a t m a n d e n n a u c h P a r k i n s o n bei seinem tiefer s c h ü r f e n d e n N a c h s p ü r e n ,wiederholte Versicherungen' d a r ü b e r gegeben, d a ß ,man f r ü h e r die Masken bei T ä n z e n verw e n d e t h a b e n soll" u n d ,aus zuverlässiger Quelle' ist dem Forscher das T a n z e n mit diesen M a s k e n beschrieben w o r d e n „als ein langsames, stillschweigendes H e r u m w a n d e l n der T r ä g e r , wobei eine a n d e r e Partei die üblichen geräuschvollen T ä n z e a u f f ü h r t e " . Tn dieser recht a n s c h a u l i c h e n , wohl aus d e m M u n d e von sachvers t ä n d i g e n E i n g e b o r e n e n geflossenen S c h i l d e r u n g m ö g e n wirklich noch gute E r i n n e r u n g e n aus älterer, j a ältester Zeit vorliegen. — Der T r ä g e r k a n n die Maske n u r so anlegen, d a ß er sie — falls er sie sich nicht u m b i n d e t — e n t w e d e r mit der einen H a n d vor dem Gesicht in Stellung b r i n g t u n d sie in dieser Weise sich w ä h r e n d der g a n z e n Zeit des T r a g e n s vor das Gesicht hält, oder a b e r er n i m m t die Maske, die als t y p i s c h e ,Gesichtsmaske' a n g e s p r o c h e n w e r d e n d a r f , a n einem Q u e r s t a b e in d e n M u n d , wobei er gut durch die Augenlöcher, falls solche a n der M a s k e freigelassen, zu sehen vermag. In letzterem F a l l e ist z u m Zwecke des F e s t h a l t e n s der Maske mit den Z ä h n e n a n der Rückseite j e an beiden k i e f e r k n o d i e n ein Q u e r h o l z befestigt. Es l ä ß t sich d a h e r gut d e n k e n , d a ß die T r ä g e r d e r a r t i g e r S c h ä d e l m a s k e n bei i h r e n T ä n z e n sich weder singend noch mit H ä n d e n u n d A r m e n wild gestikulierend ergehen k ö n n e n ; w ü r d e doch in d e m einen F a l l e die mit den Zähnen fest g e f a ß t e Maske vom Gesicht des T a n z e n d e n h e r u n t e r fallen, im a n d e r e n F a l l e ein d a u e r n d e s Sichverschieben, j a sogar recht schwer zu erhalteil sind, sind „die neueren Masken weit roher gearbeitet". Auch ist es beachtenswert, dal! in jüngerer Zeit als Unterlage der übergelegten Wachs- oder Kalkinasse statt der Schadelbeine ein Geflecht- oder Stabgerüst dient. Der Kenner vermag jedoch die moderne Arbeit leicht von den alten, echten Exemplaren zu unterscheiden.
125
ein völliges Freilegen des Gesichtes mit dem Ausführen der so lebhaften Tanzrhythmen verbunden sein. Der S c h ä d e l m a s k e n t a n z , wie ihn P a r k i n s o n nach den Worten der kundigen ,Tanzmeister' rezent-primitiver Observanz beschrieben hat, wird daher durchaus nur in ruhigen, abgemessenen Formen ausgeübt worden sein, und berücksichtigt man dazu den in älterer Zeit gewiß vorliegenden nahen Zusammenhang derartiger Schädelmasken mit dem Ahnen- resp. Totenkult, so deutet jenes „langsame, stillschweigende Herumwandeln der Träger" hin auf das geheimnisvolle, furchteinflößende Pantomimenspiel der Darsteller der Ahnengeister, deren lautloses dämonenhaftes Dahingleiten grell von den geräuschvollen Tänzen anderer Parteien begleitet und hierdurch um so mehr betont wird. Den Schädelmasken ist demnach mit einer gewissen Sicherheit •— zumal gerade für die älteren Zeiten — überwiegend religiöse Bedeutung beizulegen, und es darf daher keineswegs befremdlich anmuten, wenn diese höchst naturalistischen GesichtsmaskenReliquien gleich einem Tabu Verehrung genossen. Während ihres Nichtgebrauches werden sie gleich dem (modellierten) Schädel neben anderen ebenfalls religiös-magisch zu wertenden Maskenarten in den ,Tabu'-Häusern, den ,Tempeln', dem ,sacred house' bezw. Geisterhause aufbewahrt. Hier wie im .Gamal', dem Versammlungs- resp. Männerhause des Clans, können sie auch, statt einfach deponiert zu werden, einen bevorzugten Platz einnehmen, nämlich auf die aus den Schultern der modellierten Ahnenfiguren emporragenden, mit Federn und Kräutern — wohl zum Zweck ihrer magischen Stärkung — geschmückten Stangen gesetzt resp. gehängt werden. Dieser Brauch zeigt, allein schon ein sprechendes Zeugnis gegen die oben erwähnte mehr negative Auffassung P a r k i n s o n s , den inneren Zusammenhang der Schädelmaske mit dem Ahnenkult resp. der \erehrung und Gegenwärtighaltung der Verstorbenen und ihres Geistes. — Was dem Schädel des Toten recht ist, kann der aus diesem gefertigten Schädelmaske nur billig sein. So sind bei den Melanesiern nach der Mitteilung Speisers 1 3 5 ) die Schädelmasken der verstorbenen Söhne des Toten an derartigen, den Schultern der modellierten Vaterstatue ,entsprossenden' Stangen befestigt, „so daß eine solche oft mehrköpfige Statue ein ungeheuerliches Ansehen hat". An die Innenwände des Gamal angelehnt stehend begleiten derartig s c h ä d e l m a s k e n g e s c h m ü c k t e S t a t u e n mit ihrem starren Blick und ihrem aus135) a. a. O.
126
S. 241.
druckslosen Lächeln das so lebhafte Treiben um die Herdfeuer und „nehmen auf diese Weise teil an allen Leiden und Freuden der Sippe und verkörpern den Schutz der Ahnengeister, die zum Gamal gehören. Bei großen Festen stellt man ihnen gern Nahrung vor und nimmt an, daß der Ahnengeist sich am D u f t e der Speisen erfreue." S p e i s e r erinnert ferner daran, daß sich mit diesem Ahnenkult nun noch ein einfacher Totenkult verbinden kann, „indem man gern die Schädel geliebter Gestorbener mit Masken versieht und diese mit sich herumträgt". Väter werden so. mandlmal die Schädelmasken ihrer Söhne und Männer die Schädel einer Lieblingsfrau mit sich an allen Festen herumtragen und sie bei den Schmausereien neben sich setzen, um ihnen auch die Teilnahme am Feste zu ermöglichen. Ein wesentliches E i n w i r k e n d e s S c h ä d e l s b e z w . d e r S c h ä d e l m a s k e a u f d i e M a s k e n t e c h n i k im allgemeinen, auf den charakteristischen Kopf- resp. Gesichtsmaskentypus im besonderen ist bei eingehenderem Studium von Masken und Maskenformen ganz offensichtlich. Die Forschung verdankt diese wichtige Erkenntnis ganz besonders Leo F r o b e n i u s , der in seiner das Maskenproblem recht fördernden Studie „Die Masken und Geheimbünde Afrikas" (1898) unter besonderer Berücksichtigung der Gesichtsrandlinien von Masken 136) evident die einzelnen Stadien der Entwicklung vom Schädel über die Schädelmaske zur geflochtenen Flechtwerk- resp. zur kunstvoll geschnitzten Holzmaske aufgezeigt hat. Unverkennbare Anzeichen des Schädels sind in den Masken selbst deutlich wahrzunehmen, jene eigentümliche Bildung der Augenhöhlen, der Wangenpartie, der Nase, des Kinnes u. dgl. m. weist den aufmerksamen Betrachter zwingend hin auf die scharfenKonturen der Schädelfront. Mit vollem Recht kann sich F r o b e n i u s angesichts der hochentwickelten Maskenkunst Afrikas unter ausdrücklicher Berücksichtigung der Schädel-Idee bezw. — mehr auf das Kultische gesehen — SchädelMagie äußern: „Die Anschauungen des Schädeldienstes (daß aus der Reliquie der Geist in den Träger übergeht), die Sitten (daß die Tänzer den Schädel im Munde tragen) und die Maskenformen berechtigen uns zu der Annahme, d a ß die afrikanische Gesichtsmaske ähnlich wie die neubrittanische und altperuanische aus der Schädelmaske hervorgegangen ist." — Unter Zugrundelegung dieser Ideen betrachtet dann F r o b e n i u s in sorgsamer Detail136) Vgl. F r o b e n i u s ' recht instruktive, den eigentümlichen Duktus derartiger Gesichtsrandlinien an Masken gut veranschaulichende skizzenhafte Darstellung auf S. 182 seiner Studie.
127
Untersuchung die einzelnen M a s k e n f o r m e n und vermag schließlich „die Bindeglieder in ihrem entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhange ,zu' verstehen. Zuerst tanzte der Neger mit dem Schädel oder Kopfe des Verstorbenen im Munde, von ihm Begeisterung e r w a r t e n d . Mit Zugrundelegung des Knochengerüstes des vorderen Schädelteiles, auf dem mit Wachs oder Kalk die das Gesicht ergänzenden F o r m e n gebracht w u r d e n , entstand die ursprüngliche Schädelmaske, die der Tänzer u m b a n d oder mit den Zähnen erfaßte. Später w a r d an Stelle des Schädelbein-Gerüstes ein solches uus Flechtwerk hergestellt, auf das in gleicher Weise die Gesichtsform aufmodelliert wurde. Endlich w a r d die Maske nicht mehr geklebt, sondern aus Holz geschnitzt. Aber auch aus d e n hölzernen Masken sprechen noch die E r i n n e r u n g e n an die Schädelmaske." So k a n n in der T a t hinsichtlich der sich durchweg b e w ä h r e n den geistvollen A u s f ü h r u n g e n von F r o b e n i u s der G a n g der Entwicklung vom Natur-Schädel zur künstlich gestalteten, geflochtenen, geschnitzten resp. sonstwie geformten Maske d u r c h a u s n u r als ein völlig geschlossener angesehen werden. Uber allem r u h t formell wie ideell — in letzterer Beziehung d e n k t man vor allem an die seltsame Energienmitteilung — die beherrschende Idee des Schädels, die gleich der der Maske ihren Quellort ganz offensichtlich im Totenkult hat, der wiederum in diesen eigenartigen, Reliquiencharakter t r a g e n d e n und somit kultisch überaus bedeutsamen Gebilden — in primärer Hinsicht der Kopf resp. Schädel, in abgeleitetem Sinne die an diesen sich engstens anlehnende Kopf- bezw. Gesichtsmaske! — seine wesentlichste Q u a l i t ä t konzentriert, eben j e n e geheimnisvolle K r a f t a b g a b e resp. Energienvermittlung aus funeraler Sphäre vollzieht. Auch eine E n t w i c k l u n g v o m S c h ä d e l b e z w. K o p f z u m A h n e n b i l d r e s p . I d o l läßt sich unschwer aufweisen. Schädel und Geisterpfahl in ihrer n a h e n Verbindung b a h n e n die E n t w i c k l u n g der Menschen- resp. A h n e n f i g u r an. Zunächst deutet der bildende Künstler mit einigen Kerbschnitten n u r ganz roh und oberflächlich den Schädel am Geisterpfahl an; allmählich jedoch wird die Technik eine vollkommenere, bis schließlich eine mühsame und sorgfältige, mit aller Präzision d u r c h g e f ü h r t e Behandlung Platz greift und somit ein kostbares Schnitzwerk von z. T. hohem künstlerischen Wert geschaffen wird. Weiterhin werden d a n n von kundiger H a n d ins Auge fallende Gliedmaßen wie Arme, H ä n d e und F ü ß e angeschnitzt, so d a ß immer mehr die Vorstellung einer ganzen Figur in den \ ordergrund rückt. Merkmale mannigfacher A r t zeugen f ü r eine derartige Entstehungsweise; hier mag
128
nur das Bedeutsamste, nämlich der Hals der Figur Erwähnung finden. Seine mitunter recht stattliche Länge, die nur von einer reichen Verzierung mit Ringen unterbrochen wird, deutet noch einwandfrei hin auf die ursprüngliche Form und Idee, die hier zugrunde liegt, erinnert noch lebhaft an die alte Gestalt des Kerbpfahles, den zunächst nur die groben Schädelkonturen zierten. In einem weiteren Zusammenhange mag hier auf jene eigenartigen Stammbaumpfähle bezw. Stammbaummasken hingewiesen sein, die aus übereinandergesetzten Menschenköpfen gebildet werden und welch letztere uns besonders auf Neuirland begegnen. Ein anderer Weg vom Schädel zum Ahnenbild ist aufzuzeigen, wenn man die Idee des Schädelbehälters mit berücksichtigt. Bereits oben hörten wir von der Schädeltonne der Pangwe Westafrikas, auf der — den wertvollen Inhalt laut betonend — eine menschliche Figur aufgesteckt war. Hier nimmt demnach das auf dem Schädelbehälter, eben der Tonne thronende vollplastische, aus Holz geschnitzte, sitzende oder stehende Ahnenbild die Idee wie auch den magischen Energiengehalt des bedeutsamen Inhalts, eben der Natur-Kopfreliquien ehrfurchterheischender Ahnen symbolhaft auf. Mag somit in dieser Gestalt auch die rohe Andeutung der vom Schädel resp. Kopf ihren Ausgang nehmenden menschlichen Figuren durch hohe, mehr improvisatorisch verzierte, auf der Grabstätte und sonstwo in den Boden gesteckte Pfähle bereits überwunden sein, der letzte Ausdruck, die „ästhetisch eigentlich bedeutungsvolle Ausprägung dieser religiösen Kunstrichtung" ist darin gegeben, daß die Idee von Schädelbehälter einerseits und Ahnenbild andererseits ineinander überfließen, wobei letzteres mehr und mehr ganz selbständige Bedeutung gewinnt und die weitere Entwicklung hin zum Abstoßen jeden naturalistischen Uberrestes anbahnt. Ganz richtig kennzeichnet von S y d o w 137) diese Erscheinung als einen „offenkundigen Prozeß der Entstehung einer richtigen Ahnenfigur aus einem bloßen Anzeichen für Schädel, also gleichsam aus einer Etikette'", indem er von der Schädeltonne der Pangwe ausgehend weiterhin auf jene nach den eigenen Worten der Eingeborenen „allerneueste Form" hinweist, die „zur Verselbständigung solcher von der Ahnentonne getrennten Holzfigur tendiert". Damit die Ahnenfigur selbst Schädelbehälter, also Träger der geweihten Natur-Reliquie werden kann, werden der Schädel resp. 137) Kunst und Religion etc., S. 64.
129 9
dessen einzelne Knochen in das Holz des Schnitzbildes eingefügt, indem man so in einschachtelnder Weise f ü r den hochgeschätzten naturalistischen Überrest des Verstorbenen eine dauernde Behausung schafft. In den sog. K o i w a r e n v o n H o l l ä n d i s c h N e u g u i n e a (Geelvinkbai) )3K) haben wir derartige bedeutsame, die Idee der Figur und des Behälters glücklich in sich vereinigende Gebilde vor uns. Monumental r u h t auf dem schmächtigen Körper der hockenden resp. stehenden Figur der mächtige, scharf geschnittene Gesichtszüge tragende Kopf, dessen Kinn mitunter — den Eindruck der lastenden Schwere noch verstärkend — von I'äusten gestützt wird. Auch hier mag der Gang der Entwicklung ein solcher gewesen sein, daß man zunächst das Gesicht des Korwarenkopfes ganz dem Totenschädel entsprechend bildete, um dann erst allmählich zum Menschengesicht überzugehen. So zeigt das Korwarengesicht mitunter 139) noch ganz die scharfen Konturen des Schädels; in die gewaltige, glatte, haubenartig erscheinende Kopfrundung ist hart das Gesicht eingeschnitzt, indem die flache eingearbeitete Nase mehr dem Nasenbein gleicht und der breite, das Gebiß frei zeigende Mund lebhaft an die bleckenden beiden Zahnreihen der nackten Kieferknochen des Totenschädels erinnert. — Bei anderen Stücken des Korwaren-Ty p u s " " ) vermag man dann bereits ein fortgeschritteneres Stadium der Entwicklung zu erkennen, immer deutlicher wird der Übergang vom Schädel zum Gesicht spürbar. Die in Hochrelief aufgebaute Nase läßt schließlich deutlich die kräftig geschwungenen gewölbten Nasenflügel erkennen und an den Seiten des Kopfes sind schon erhaben gearbeitete Gebilde wie Ohren wahrnehmbar, während der breite Mund trotz allein das ursprüngliche Schädelgebiß nicht verleugnen kann. Schließlich sei hier in unserem Zusammenhange noch hingewiesen auf jene f ü r die uns hier beschäftigenden Probleme so bedeutsame Entwicklung des Schädels oder besser Kopfes — auf dem Gebiet der Keramik tritt das Motiv des Schädels hinter dem des Kopfes so gut wie völlig zurück — zum K o p f g e f ä f i . K o p f b e c h e r und K o p f k r u g und dann, unter besonderer Berücksichtigung des genos der Gesichtsurne, z u m K o p f k r u g - I d o l — eine in der Tat überaus reizvolle Entwicklung, auf die an dieser Stelle näher einzugehen ich mir leider versagen muß. — 138) Vgl. besonders die Abb. 17—18 ebd. S. 59. 159) S. bei v. S y d o w a . a . O . Abb. 17. 140) S. z. B. ebd. Abb. 18. Die arabeskenhaften Verzierungen, die sich über die ganze unterhalb des Kopfes liegende Frontseite erstrecken, mögen, eine Art Balustrade vorstellend, ein mythisches, symmetrisch aufgebautes Motiv (stehender Mann, zwei Schlangen am Halse fassend |?|) zur Darstellung bringen.
130
Es mag nun willkommen erscheinen, in diesem Zusammenhang auf eine recht eigentümliche Erscheinung innerhalb der Kopf- und Masken-Vorstellungen bei den rezenten Primitiven hinzuweisen — gewiß ein Hinweis mehr allgemeiner Natur, der jedoch f ü r die uns hier beschäftigenden Probleme durchaus nicht unwesentlich sein dürfte. Die Maske und ihre Idee ist im naiven Glauben der Naturvölker unter anderem unterstellt dem L e i t m o t i v v o n T o d u ii d L e b e n . Die beiden großen Gegensätze Leben und Tod sind es, die den Gestaltungstrieb des naturvölkischen ,Porträtkünstlers' mächtig anzuregen bezw. in überreichem Maße zu befruchten vermochten, sie sind es, wie vi S y d o w 141) treffend hervorhebt, „worin sich das Feuer der Anspannung entzündet". Zeigt einmal die zu höchster Technik geführte Maskenkunst der Primitiven in der Physiognomie ihrer künstlichen Protomen den Schatten des erblaßten Totengesichts, das tiefe Erstorbensein verlöschenden Lebens, so lassen andere Masken hinwiederum — die gewaltige Spannung zwischen beiden Sphären, der des Lebens und der des Todes stark betonend — das von frischer Lebenskraft erfüllte staunende Erwachen des Menschen erkennen. Mag auch die bildliche realistische Wiedergabe des Totengesichtes zurückgehen auf die letztlich im Totenkult tief wurzelnde Gepflogenheit der genauen Nachbildung der Züge des Verstorbenen evtl. des einfacheren direkten Abgufinehmens vom Gesicht des teuren Entschlafenen, so zeigt doch andererseits jenes das erwachende Leben symbolisch zum Ausdruck bringende Maskengesicht, daß auch dem naiven religiösen Empfinden des naturvölkischen Menschen jener geheimnisvolle Zusammenhang von Tod und Leben sinnfällig offenbar geworden sein muß. Tief ist sich der primitive Künstler in seinem von mythischen Vorstellungen seltsam erfüllten rel»-1 giösen Denken der beiden gewaltigen Extreme bewußt geworden, und voll e r f a ß t von der Erhabenheit der beiden in steter unauslöslicher Spannung zueinander bestehenden Ideen des Lebens und des Todes bildet er die ihm so rätselhaften, sein Bewußtsein so stark erregenden Phänomene in Form und F a r b e nach: das Erblassen und Erstarren des Todes, das Leuchten und Erstaunen des Lebens! Unschwer ist in dem uns vorliegenden Maskenbestand ein solches symbolisch vertieftes Gestalten des primitiven MaskenSchnitzers zu erkennen. F ü r ein Auftauchen derartiger symbolisierender Maskentypen auf afrikanischem Boden mag hier nur 141) Kunst der Naturvölker und der Vorzeit S. 52 ff.
:
1927, Abschnitt: „Masken"
131
auf die bezeichnenden Holzmasken verwiesen sein, die F r o b e n i u s in einem seiner bildgesehmüekten Werke 1 4 2 ) in Photographie wiedergibt. Das bleiche, leblos starre, kalte Antlitz des Todes lassen besonders zwei hölzerne afrikanische Gesichtsmasken, die uns F r o b e n i u s im Bilde aufzeigt 1 4 S ), mit aller Deutlichkeit erkennen. Auf beiden Gesichtern ruht der majestätische Ernst des Todes; in meisterhafter Vollendung hat der Künstler in Schnitzund auch wohl Farbkunst wiedergegeben, wie sich aus dem eingefallenen schlaffen Totengesicht die fast geschlossenen Augenlider hervorwölben, während der Mund teils geschlossen, teils — wie beim letzteren Bild — geöffnet erscheint, so daß zwischen den in Starrheit angepreßten Lippen die Zähne sichtbar werden. — Ganz ähnliche Erscheinungen vermag uns die Maskenkunst NordwestAmerikas (Kwakiutl) darzubieten. Hier ist es jener im Berliner Museum für Völkerkunde konservierte 144 ), außerordentlich naturalistisch gehaltene „Totenkopf", der in seiner Weise von der hohen künstlerischen Begabung, wie sie den primitiven Menschen beseelen kann, beredtes Zeugnis ablegt und gewiß den Meisterwerken aller Zeiten und Völker zur Seite gestellt werden darf 14 °). V a 11 e r hat dem eigenartigen, gar nicht zu verkennenden Wert dieser den Hauch des Todes so unmittelbar spürbar machenden Kopfskulptur voll und ganz Rechnung getragen, wenn er hierzu bemerkt 14 °): „Der Gruppe der Tanzköpfe läßt sich noch eine andere Skulptur zuordnen, in der die bildende Kunst der Naturvölker einen Gipfelpunkt erreicht: jener wundervolle, erschütternd naturwahre ,Totenkopf' der nordwestamerikanischen Kwakiutl, das Bild im Tod erstarrter, grausiger Lieblichkeit. Bei aller Furchtbarkeit des Ausdrucks doch von edler Vornehmheit und Schlichtheit, ist er ganz ohne Zweifel eine der grandiosesten Darstellungen des Todes, die jemals einem Künstler gelungen ist." Während E. v. S y d o w hinsichtlich der Großartigkeit und Schönheit derartiger hochkünstlerischer Ausdrucksformen einmal mit feitiem Einfühlungsvermögen treffend von der ,Seligkeit der Sterbenden', der ,beatitude des mourants' spricht, die sich so augenscheinlich auf diesen Gesichtern widerspiegeln dürfte, hat sich V a 11 e r 142) D a s unbekannte Afrika. Aufhellung der Schicksale eines Erdteiles. 1923. 143) ebd. Tafel 150 (hölzerne Gesichtsmaske, Loarigo-Ogowe, Westküste. Leipziger Museum f ü r Völkerkunde) und Tafel 151 (hölzerne Gesichtsmaske der Kioque im südlfchen Kassaigebiet. Hamburger Museum f ü r Völkerkunde). 144) Mus. Berlin IV A. 1348. 145) Vgl. V a t t e r : Religiöse Plastik der Naturvölker. 1926, Abb. 55, S. 119. 146) ebd. S. 122.
132
noch an einer anderen Stelle seines Werkes 1 4 7 ) über .jenen herrlichen Totenkopf' der Kwakiutl in Nordwestamerika höchst anerkennend geäußert, indem er in diesem Meisterwerk naturvölkischer Plastik das Geheimnis von Tod und Leben resp. d a s M y s t e r i u m d e s S i e g e s d e s L e b e n s a u s d e m T o d e ahnend zu schauen vermeint. Hier ist über das Vergängliche der Persönlidikeit zum Ewig-Allmensthlidien sich steigernde künstlerische Gestaltung, in tief religiöse Gesinnung eingebettet, am Werke: „In all seiner Furchtbarkeit ist der Tod gestaltet: die Augen sind gebrochen, in krasser Realistik tritt die Zunge zwischen den Zähnen hervor. Aber in diesem erschütternden Bilde des Todes ist doch das Leben, die unsterbliche Schönheit der Seele Sieger geblieben, es ist der Triumpf des Lebens über den Tod, der Idee über die Materie." — Wie Y a t t e r ganz richtig bemerkt 1 4 8 ), fanden derartige nach Art unseres ,Totenkopfes' gebildete Tanzköpfe in m i m o d r a m a t i s c h e n A u f f ü h r u n g e n , die das Mysterium des Sterbens und des Wiederauferstehens aus gräßlicher Verletzung und vom Tode zur Darstellung bringen wollen, Verwendung. Der düsteren .Maske' des Todes tritt nun das leuchtende Antlitz des Lebens gegenüber. Den staunenden Blick, der aus den weitgeöffneten Augen des erwachenden Menschen spricht, bringen zwei weitere von F r o b e n i u s im Bilde dargebotene Kopftypen 14,)) gut zum Ausdruck. Bei dem hölzernen Kopf der Bangere 15 ') rufen die runden, plastisch herausgearbeiteten Glotzaugen und der bleckende, die scharf ausgearbeitete Zahnreihe bloßlegende Mund den Eindruck staunenden Erwachens hervor, während aus der mit einem kunstvoll ausgeschnitzten, turbanartigen Kopfaufsatz versehenen hölzernen Kopfmaske der Bankom I51 ) — sie zeigt hochgezogene Brauen, staunend geöffnete Augen, einen auf freudiges Erschrecken deutenden, grinsend geöffneten Mund — mehr die satte Lebensfreude herauslacht. Daß nun der rezente Primitive beim Gestalten seiner symbolisierenden Gesichtsmasken die schauernd wahrgenommenen P h ä n o m e n e v o n T o d u n d L e b e n g e r a d e in i h r e m g e h e i m n i s v o l l e n Z u s a m m e n h a n g gespürt hat, zeigt evident der Umstand, daß er das Rätsel von Tod und Leben in einem einzigen Gebilde, eben in der D o p p e l m a s k e symbolisch 147) 148) 149) 150) 151)
ebd. ebd. Das ebd. ebd.
S. 151. S. 122. unbekannte Afrika. 1923, Tafel 152 u. 155. Tafel 152. Berliner Museum für Völkerkunde. Höhe 19 cm. Tafel 153. Balihochland. Berl. Mus. f. Völkerk. Höhe 60 cm.
133
festzuhalten bestrebt ist. Dies sinnfällig darzutun ist jene ein Prunkstück naturvölkischer Maskenkunst repräsentierende WestKameruner Doppelmaske vom Kreuzfluß recht geeignet 1 5 2 ). In dieser merkwürdigen Doppelmaske pulsiert in der Tat die ganze ursprüngliche, ungebrochene Kraft der künstlerischen Energie, wie sie für den primitiven Menschen bezeichnend ist. Eine große Ausdrucksfülle ist diesem Maskengebilde eigen, in dem sich ein für die liaturvölkische Religion ganz wesentlicher, hochbedeutsamer Gedanke, eben das Erfassen der großen Gegensätze von Leben und Tod zur paradox empfundenen Einheit widerspiegelt. Diese Doppelmaske nun, auf deren Gesichtern für den ernsten Beschauer so deutlich wahrnehmbar der Nimbus höherer Wesenheit ruht, zeigt auf der einen Seite (Abb. 108) das Gesicht der Erdgöttiii als das Gesicht des Lebens, während auf der anderen (Abb. 109) das Gesicht des Himmelsgottes als das Gesicht des Todes erscheint. Dieses einzigartige, die Gesichter des Todes und des Lebens so gelungen in sich vereinigende Maskenprunkstück bietet in der Tat, um mit den Worten v. S y d o w s zu reden, „den ergreifendsten Aspekt dar: das schwarzbraune Gesicht des Todes mit fast geschlossenen Augenlidern und mit offenem Mund weißbleckender Zahnreihe, — auf seiner Rückseite aber das gelblichweiße Antlitz des Lebens mit groß geöffneten Augen, schauendem Blick". — Ich wende mich nunmehr — vorliegende Untersuchung zum Abschluß bringend —1 dem T i e r k o p f bezw. der T i e r m a s k e zu und will versuchen, das Wesentliche über deren Sinn und Idee bei den Naturvölkern im Rahmen unserer Darstellung kurz aufzuzeigen. Da muß zunächst betont werden, daß der Ursprung der Tiermaske im Totemismus zu suchen ist. Mag sich auch entsprechend naiv-primitivem jagdbrauch der rezente Primitive wie der urzeitliche Jäger in das Tierfell hüllen, damit er seine Beute sicher und unerkannt beschleiehen und auf diese Weise leicht erlegen kann, entscheidend ist doch ein anderes Moment. Es ist die eigentümliche Auffassung einer bluthaften Verwandtschaft mit dem geheimnisvoll im Tiere schlummernden resp. sich in ihm verkörpernden irrationalen Element, eben jenes starke Gefühl inniger mystischer Gemeinschaft zwischen Mensch und Tier, clas den Primitiven veranlaßt, sein Totemtier sich zu erwählen 153 ) und in diesem seine ideale Uberordnung, gewissermaßen seine erhöhte, 152) S. E. V. S y d o v v : Die Kunst der Naturvölker etc. - 1927, 108, 109. 153) So vorzüglich in A m e r i k a : anders in Australien!
134
Abb.
vergüttlichte resp. vergeistete Seinsform zu suchen und zu finden. Um nun dieser auf magische Wpise Schutz- bezw. Siegeskraft mitteilenden Energienquelle in ganz vorzüglichem Maße habhaft zu werden, um sich ganz mit der im Totemtier immanent ruhenden Kraft erfüllen zu können, glaubt der Primitive, seinen Leib mit der geweihten Natur-Substanz des hl. Tieres, eben in erster Linie seiner Haut in engste Verbindung bringen zu müssen. So kommt es dazu, daß man sich in die Häute der verehrten Tiere einhüllt uncl sich — in völligem Einklang mit der besonderen Bewertung des Kopfes als Lebenssitzes resp. Kraftquelle — Tierköpfe aufsetzt bezw. sich die Kopfhaut überzieht. In letzterem Falle stehen wir vor der U r f o r m d e r T i e r m a s k e , der naturalistischen, dem heiligen Stammestier abgezogenen Protome. Leo F r o b e n i u s 154) erläutert die hier vorliegende Erscheinung an zwei trefflichen, seiner Studie beigefügten Abbildungen. Beim Ganga des Königs Takadu von Kpandu 1 5 5 ) sehen wir, wie der Tierkopf mützenartig dem Negerkopf aufsitzt, wobei nur der obere Teil des Kopfes bedeckt ist, während gerade das Gesicht völlig frei bleibt. Ganz anders verhält es sich bei dein anderen, nach einer Photographie wiedergegebenen Bild 15 "). Hier haben wir es bereits deutlich mit einer Natur-Maske zu tun, die aus der Kopfhaut eines Tieres, vielleicht eines Leoparden, besteht. In diesem Falle ist die V orstellung einer eigentlichen Kopfbedeckung bereits aufgegeben, der Kopfbalg des 1 ieres umhüllt das Gesicht des Trägers ganz und gar. In diesem Zusammenhang mag der n a t u r a l i s t i s c h e K o p f p u t z d e s F i g u r a n t e n , der bemerkenswerte Episoden aus überkommenen Mythen bei Festen zur Darstellung zu bringen hat, Erwähnung finden. Hierzu hat neuerdings W i r z auf seiner Forschungsreise in Holländisch-Süd-Neuguinea recht interessante Beobachtungen machen können. Da ist vor allem der Ndik- oder War- (Riesenstorch-) Figuraut, dessen Maskierung darin besteht, daß er sich den Natur-Balg eines solchen \ ogels über den Kopf stülpt, dazu an den Armen große weiße Schwungfedern befestigt 15T). Dieser Riesenstorch-Maskierung bedient sich der MayoNovize, wenn er gewisse Mythenepisoden — als Geist resp. Dema maskiert — zur Darstellung bringen will. Der Mayo-kult dürfte, wie W i r z augenscheinlich macht 15 *), in den ihn begleitenden 154) D i e M a s k e n etc., S. 97 u. 182. 155) Nach einer Zeichnung von H a u p t m a n n K l i n g von K r o b e n i n s wiedergegeben. 156) Tab. XII, Fig. 125 (Kree Public Mnseiini in L i v e r p o o l 9). 157) a . a . O . 1928 das Titelbild und Bild 42; es handelt sich d e m n a c h hier um eine sog. z u s a m m e n g e s e t z t e ' Maske resp. M a s k i e r u n g . 158) ebd. S. 241 f f .
135
Zeremonien, denen sich die Novizen zu unterwerfen haben, eine Art Wiedergeburt symbolisch zum Ausdruck bringen, und den mannigfachen seltsamen Riten liegt diese Wiedergeburt-Idee ganz offensichtlich zugrunde 150 ). — Sind alle diese recht wohl an dramatische Vorführungen gemahnende Zeremonien vom Novizen glücklich überstanden, ist für ihn der Zeitpunkt gekommen, daß er sich dem heimatlichen Dorf wieder zuwenden — während der kultischen Feierlichkeiten befand er sich im Busch, im ,Mayomirav' —, die Blätterkleider ablegen und wiederum den Schmuck anlegen darf. Jetzt wird ihm als dem Eingeweihten, nachdem dieHaarzöpfchen geflochten sind und die individuelle Haartracht verfertigt ist, nachdem ein Salben und Bemalen des Körpers wieder gestattet wurde, als gewichtige Zier der zartgelbe Balg eines Paradiesvogels auf das Haupt gelegt, während der eine oder andere Jüngling (Miakim) es vorzieht, sich als Riesenstorch zu maskieren 160 ). In diesem phantastischen Aufzuge — im Schmuck der über den Kopf gestreiften Vogelbälge — bewegt sich die Schar der Figuranten dem heimatlichen Dorfe zu, indem ein jeder noch — gewissermaßen ein symbolischer Ausdruck für das neu eingezogene Leben — mit einer duftenden Blüte geziert ist. Die kultisch Wiedergeborenen', vom Balg des heiligen Vogels bedeckten und somit von der Kraft des göttlichen Tieres erfüllten nunmehr Eingeweihten sind sich ihrer höheren Natur, ihrer alles andere in den Schatten stellenden Qualität voll bewußt. Wesenhaft spüren sie in demütigem und doch zugleich stolzem Erleben die erhabene Macht des irrationalen Geistes auf sich ruhen, ängstlich hüten sie sich vor einer Berührung mit der profanen Sphäre, indem sie selbst den Liebesdienst der teuren Anverwandten stumm zurückweisen. „Die Kinder stehen zu beiden Seiten des Pfades Spalier und haben sich mit frisch gefangenen Fischen versehen, die sie den vorüberschreitenden Novizen zureichen. Aber diese nehmen die Fische nicht an. Mit gesenktem Haupt und niedergeschlagenem Blick schreiten sie, ohne ein Wort zu sagen, dem Dorfe zu, als seien ihnen ihre eigenen Angehörigen nicht mehr bekannt, als hätten sie 159) In derartigen Zeremonien des Mayokultes (wie dann auch anderer diesem nicht unähnlicher Kulte) spiegeln sich wieder bezw. werden inszeniert die verschiedenen mythologischen Erlebnisse der Clanväter, wobei sogar die Reihenfolge der einzelnen feierlich begangenen Handlungen — wie W i r z geschickt beobachten konnte — dem Mythenzyklus zu entsprechen scheint. D a s Ganze dürfte also eine dramatische Veranstaltung der Mythologie darstellen, ganz wie wir es auch bei den religiös-dramatischen A u f f ü h r u n g e n in antiken Kulturen, vor allem aber den Weihespielen des Mittelalters beobachten können. 160) Vgl. W i r z a. a. O. S. 244.
136
in der Tat alles vergessen, was den Inhalt des früheren Lebens bildete" 1 6 1 ). — Die Art, wie der naturalistische Schmuck am Kopf des im Ritus agierenden Figuranten befestigt wird, findet eine treffliche Illustrierung durch ein Bild, das W i r z seinem instruktiven Werk beigegeben hat 1 0 2 ). Wir sehen, wie ein Jüngling (Miakim) mit dem \ogelbalg geschmückt wird. Zwei bezw. drei Männer bemühen sich um den knieenden, mit niedergeschlagenem Blick ergeben wartenden Figuranten, dem sie „den Balg des Riesenstorches (War) an den Haarverlängerungen befestigen, so daß der gelb bemalte Schnabel ihm vorne über das Gesicht herabhängt". An anderer Stelle 1 0 3 ) gibt W i r z eine willkommene Schilderung vom T a n z e d e s S t o r c h f i g u r a n t e n , der zugleich mit dem Anbruch der Dämmerung inszeniert wird. Ist der Tänzer auch nicht mehr mit dem Naturbalg des heiligen \ ogels geschmückt — an dessen Stelle treten, eine weitere Stufe der Entwicklung repräsentierend (s. w. u.), lange biegsame, über dem Kopf schwingende, mit buntfarbigen Requisiten reich verzierte Holzlatten —, so sind doch Form und Manier des Tanzes durchaus auf den Totemvogel zugeschnitten. Während die älteren Männer die Begleitmusik geben, in mäßig raschem Tempo die Trommeln schlagen und einen ernsten monotonen Gesang anstimmen, vollführen die so eigenartig geschmückten Figuranten den streng rhythmisch gegliederten Tanz. „Bei jedem Schlag auf die Trommel führen ,sie' eine Viertelsdrehung um sich selbst, also nach vier Trommelschlägen eine ganze Umdrehung aus, wobei sie fortwährend mit dem Kopf nicken, so daß die lange, elastische I atte in Schwingungen gerät. Dabei singen sie mit. Das ist der War-ti-zi, d. h. der Tanz des Riesenstorches, denn die Bewegung, das Nicken mit dem Kopf hat man dem Vogel abgesehen. So geht es, nur mit kurzen Zwischenpausen, die ganze Nacht hindurch, also gut acht bis neun Stunden lang!" — Es dürfte nun keinem Zweifel unterliegen, daß dieser War-ti-zi genannte, das Bewegungsspiel des Riesenstorches wiedergebende Zeremonialtanz — nach althergebrachten Regeln wird er von ehrwürdigen, konstanten Gesängen begleitet — ganz im Lichte des f ü r die Nachahmung tierischer Gepflogenheiten charakteristischen T o t e in t a 11 z e s steht. In derartigen Totemtänzen, bei denen sich der Tänzer fast durchweg in die Tiermaske hüllt, werden mit aller Sorgfalt die Bewegungen desjenigen Tieres, welches einer 161) ebd. S. 245. 162) ebd. Abb. 42. 163) ebd. S. 222.
137
bestimmten G r u p p e als Stammesabzeichen dient, dargestellt- So können gewisse Vögel, wie z. ß. in Nord-Neumecklenburg, als Totemzeichen dienen, und die A u f f ü h r e n d e n gelten stets als die Inhaber des betreffenden Totems. Bis ins einzelne, mit aller nur aufzubringenden Präzision ahmt der mit der Maske des betr. lotemtieres geschmückte Tänzer in höchst gelungenen Pantomimen, die nur mitunter durch tierische Laute, jähe Schreie u. dgl. unterbrochen werden, das Gebärdenspiel des Tieres nach; in sehr realistischer Darstellungsweise wird zur A u f f ü h r u n g gebracht, wie der Stammesvogel bald nach rechts, bald nach links mit dem Kopfe nickt, bald vorwärts und bald rückwärts h ü p f t . Das Neigen des Kopfes, das Zwinkern mit den Augen und das scharfe Auslugen nach einer bestimmten Richtung hin: alles wird sicher den Bewegungen des Vogels abgelauscht und täuschend nachgeahmt, ganz wie es das verehrte Tier — in diesem Falle der Totemvogel — im freien Leben ausführt. P a r k i n s o n weist hier zur Lrläuterung dieses seltsamen Tanzgebahrens hin auf das Beispiel des Tanzes der Nashornvogelleute, deren Totem der Nashornvogel (Rhytidoccros plicatus Forst.) ist. Ganz wie dieser so scheue Vogel „in den höchsten Baumwipfeln die ihm zusagenden Früchte in aller Ruhe verzehrt, aber dabei seine Sicherheit nicht aus den Augen läßt und fortwährend den Kopf nach allen Richtungen bewegt, um sich zu vergewissern, daß kein Feind in der Nähe ist und, ,falls' sich ein solcher zeigt, einen eigentümlichen Schrei ausstößt und mit laut rauschendem Flügelschlag von dannen fliegt", so neigen auch die zum Zeichen ihrer innigen Zugehörigkeit zum Totemtier im Munde einen geschnitzten und bemalten Nashornvogelkopf haltenden Figuranten, paarweise in langer Reihe hintereinander aufgestellt, „die Köpfe in realistischer Nachahmung rechts und links, vorwärts lind rückwärts; das eine Auge wird halb geschlossen, das andere äugt scharf nach einer bestimmten Richtung: jede Bewegung wird ohne Hast, in bedächtiger Ruhe ausgeführt, ganz wie es der \ o g e l im Leben tut. Zum Schluß wird dann der Schrei ausgestoßen und der rauschende Flügelschlag nachgeahmt" 1 " 4 ). W i r z 1,s ) hat ganz den gleichen Lindruck einer genauen Imitation der dem Tiere abgelauschten Bewegungen bei der Beobachtung zweier als Buschhühner maskierter Figuranten gehabt, wie sie in temperierter 164) a . a . O . S. 279; es folgt hier die Schilderung eines anderen, mythologische Erinnerungen zum Gegenstand nehmenden Totemtanzes (der Taubentotein wird durch die Schlange, d. h. den bösen, dein Totem feindlichen Geist verfolgt!) S. 280. 165) a . a . O . S. 220.
138
Gangart den Totemtanz ausführten. „Die Darsteller laufen paarweise mit abgemessenen Schritten nebeneinander her und haben eine Rassel von Krebsscheren in der Hand, die sie beim Gehen auf und nieder schütteln. Zeitweise bleiben sie stehen, scharren mit dem rechten F u ß den Sand, neigen den Kopf etwas zur Seite und gucken zur Erde, wie es die Hühner zu tun pflegen, um hierauf wieder weiterzulaufen." — Einer überaus interessanten Szene, die das einer alten Mythe entnommene und dann in dramatischer Auff ü h r u n g vorgeführte K o p f r a u b m o t i v zum Mittelpunkt hat (zwei Adler miihen sich vergeblich, einem neckenden Fisch die Kopftrophäe zu entreißen, was dann dem hinzukommenden Riesenstorch gelingt, der zuschnappend den Fisch wie auch den Kopf aus dem Wasser zieht), hat W i r z 1"1'') ebenfalls bei der Teilnahme an Festlichkeiten in Wendu (Süd-Neuguinea) als Augenzeuge beigewohnt. Zwei mit riesigen Vögeln auf dem Kopf gezierte, den Adler-Dema darstellende Figuranten umtanzen mit kleinen Schritten den dritten, der auf dem Kopf die mit roten Samen beklebte Orib-Fisdi-Maske trägt und in den Händen einen hölzernen, mit einer geflochtenen Kappe — an diese sind, um die Haartracht der Männer vorzutäuschen, Stränge von zerschlitzten Kokosblattfiedern angeflochten — bekleideten Kopf hält. Tanzend suchen sie ihm im Spiel den Kopf zu entwenden, was ihnen aber nicht gelingen will; denn jedesmal, wenn sie dem Fischfiguranten zu nahe kommen, wendet sich dieser rasch zur Seite. Da kommt ganz unerwartet ein vierter Figurant herbei; als Riesenstorch, mit einem mächtigen \ o g e l auf dem Rücken maskiert, hält er in seinen Klauen — wohl der symbolische Ausdruck seiner Macht — ein seltsames Attribut fest: ein Kind, das halb Fisch-, halb Menschengestalt besitzt. Langsam nähert sich der Riesenstorch-Figurant dem Fischdarsteller, entreißt ihm den Kopf und zieht sich hiernach wieder zurück. — Hier haben wir offensichtlich den im mythischen Denken ausgesponnenen Streit von Stammestieren um den Besitz der geweihten Kopftrophäe vor uns, der in der geheimnisvollen Pantomime des Totemtanzes von den maskierten Figuranten ausgetragen und durch das schließliche Eingreifen des stärkeren bezw. gewitzigteren Dritten, eben des Ndik- resp. War-Figuranten beendet oder besser mit einem Gewaltstreich beigelegt wird. Bei der Tiermaske ist d i e w e i t e r e , v o m N a t u r b a l g i h r e n A u s g a n g n e h m e n d e E n t w i c k l u n g unschwer aufzuzeigen. Einmal wird der natürliche Balg des Tieres ersetzt durch eine genaue künstliche Nachbildung des Tierkörpers, wobei 166) ebd. S. 228.
139
in durchaus realistischer Weise Form und Farbe des Naturbalges vom geschickten Künstler festgehalten wird, zum anderen mündet die Entwicklung des Naturbalges aus in ein überaus künstliches, in seiner Farbenpracht kaum zu überbietendes Gebilde, eben in das E f f i g i u m , bei dem die natürliche Form, evtl. auch F a r b e des Tierkörpers bereits völlig aufgegeben ist. Der von W i r z 167) im Bilde wiedergegebene Waiko-Figurant repräsentiert in seinem charakteristischen K o p f p u t z noch das oben an erster Stelle gekennzeichnete Stadium. Auf dem mit Haarverlängerungen geschmückteil Kopfe des Figuranten ruht der künstlich hergestellte Yogel, der überaus naturgetreu von Sagoblattrippen verfertigte Reiherkörper. Ein anderes Bild 10s ), das den Kasuardema in Photographie wiedergibt, zeigt uns den Figuranten, wie er „eine mächtige Maske auf den Schultern trägt, welche einen Kasuar darstellt. Sie ist von gespaltenem Bambus verfertigt und mit echten Federn des Vogels bedeckt und beklebt. Im Rücken des Vogels steckt, einem Bäumchen gleich, der zartflockige Humum, und auch bunte Crotonblätter zieren seinen Körper." Berücksichtigen wir dazu die treffende Schilderung, die W i r z vom Kasuar-Geist gibt 1 0 9 ), der ,init mächtigen Sätzen und Sprüngen auf den Festplatz gelaufen kommt': „Körper und Hals des Vogels sind naturgetreu aus dem Mark der Sagoblattrippe verfertigt und außen mit langen, schwarzen Federn des Vogels beklebt. Der Kopf und der daran anschließende Teil des Halses sind von weichem Holz geschnitzt und blau bemalt, und vom Hals hängen zwei feurig rote Lappen herab, die mit Glasperlen verziert sind. Auf der Bauchseite ist dieser imitierte \ ogel mit einer großen Ö f f n u n g versehen, in die der Darsteller seinen Oberkörper gesteckt hat, so daß nur die Beine zu sehen sind." — In diesen Zusammenhang mag auch jene Hahnenmaske von der Gazellenhalbinsel 17°) zu stellen sein, deren gewaltiger corpus den Leib des Trägers bis zur Hälfte völlig verdeckt. \ iel tiefer einschneidend, sich völlig von der ursprünglichen Form des Naturbalges lösend ist das andere, gewiß weit später in Erscheinung tretende Stadium, d i e E n t w i c k l u n g h in z u m E f f i g i u m d e s \ o g e I b a i g e s , d. i. zu einer nach einem recht seltenen, mit karinoisinrotem und gelbem Gefieder bedeckten kleinen Vogel (Xanthomelia aurea) „Batend" genannten Gesichts167) 168) 169) 170)
140
a. a. O. Bild 30, S. 97 gegenüber. ebd. Bild 29, S. 96 gegenüber. ebd. S. 219/20. Vgl. P a r k i n s o n a . a . O . S. 95, Abb. 14.
bedeckung. Trugen die Dema-Darsteller in früherer Zeit den Natur-Balg dieses Vogels vors Gesicht gebunden, letzteres somit verhüllend, so griff man, nach der durch die Mode verschuldeten Ausrottung dieses Vogels, zum Abbild, dem das Gesicht des Trägers bedeckenden herzförmigen, gelb und rot bemalten Schildchen, das als Effigium den Namen des Vogels beibehielt. Ein Strahlenkranz von langen, fortwährend zitternden, mit zarten weißen Flaumfedern beklebten Stäbchen' umgibt nunmehr wie ein Gitterwerk die dämonenhafte Gestalt des phantastisch aufgeputzten Figuranten, dessen Körper — vor allem Brust und Lenden bedeckend — aus Sagoblattscheiden geschnittene, mit bunten Fruchtsamen beklebte Schilde verhüllen 1 7 1 ). In ähnlicher Weise tragen die zum War-ti-zi, d. h. zum Totemtanz des Riesenstorches (s. w. o.) geschmückten Männer von Domandeh und Ongari lange elastische Latten in die Haarverlängerungen eingesteckt. Eine weiße Feder wird an der Spitze aufgesetzt und weiß-rot-schwarz bemalte fächerförmige Schildchen — vom weichen Pflanzenmark hergestellt — sitzen über den K ö p f e n 1 7 i ) . Bei den bereits oben erwähnten, die Buschhühner im Totemtanz darstellenden zwei Figuranten wölbt sich über dem dem Kopf des Darstellenden aufliegenden, aus Holz verfertigten Vogel der ,Humum', „die Wolke, ein gitterförmiger Fächer, der aus den Blattrippen der Kokospalme geflochten und vollständig mit zartweißen Flaumfedern einer Taube beklebt ist". Rotgefärbte Faserschürzen und reichlicher Blattbehang machen das weitere Kostüm dieser Buschhuhnfiguranten aus 1 7 3 ). D a ß bei der kunstvollen Herstellung eines derartigen, strahlenförmig gestalteten phantastischen Kopfputzes auch astrale Spekidation einen nicht unbedeutenden Einfluß auszuüben vermögen, zeigt W i r z an dem interessanten Bild Abb. 39 seines Werkes. Hier trägt der festlich geschmückte Dema-Darsteller ein von Sagoblattrippen verfertigtes Wolken-, Sonnen- und Mond-Effigium auf dem Kopf, das auf zwei querliegenden Stangen aufgebaut ist und zu beiden Seiten eines weiteren, in der Mitte aufgestellten Stabes flügelartig ausstrahlt. Wir wenden uns nun einer eigenartigen Erscheinung zu, die offenkundig zeigt, wie im naiven, von mythischen Vorstellungen verdunkelten Denken und Empfinden der Naturvölker eine völlige Scheidung von Menschen- und Tiergesicht noch nicht 171) S. bei W i r z a . a . O . -Dema". 172) Vgl. ebd. Bild 86. 173) Vgl. ebd. S. 220.
Bild 32 „Der Bateiul
(Xanthomelia
aurea)
141
streng durchgeführt ist. So läßt die Maskenkunst der rezenten Primitiven erkennen, wie das Tiergesicht leise an das menschliche Gesicht angeglichen wird, wobei man mit Recht von einem gewissen Anthropomorphismus in der Tiermaske wird sprechen dürfen. Hier ist es ganz besonders die Nase, die bei der C o m b i n a t i o n v o n M e n s c h e n - u n d T i e r g e s i c h t eine wesentliche Rolle spielt. Eine bei A. B. M e y e r wiedergegebene 174 ), recht eigentümlich geformte Maske zeigt die Nase eidechsenartig, indem die Hinterbeine die Nasenflügel bilden. „Der Schwanz des Tieres ist der Nasenrücken, Kopf und Körper die verlängerte Nasenspitze. Die Vorderbeine sind nur angedeutet." Die frappante Ähnlichkeit mit einer Eidechse kann ernstlich nicht in Zweifel gezogen werden. Leo F r o b e n i u s weist darauf hin 1 7 6 ), daß, während bei den Masken Neu-Guineas der Schwanz der Eidechse zur Nase des Menschengesichts wird, in Afrika die Eidechse eine gleiche Rolle spielt. Hier ward die Schnauze zur Nase. — Die Entstehung des Eidechsenbildes ist unsicher; F r o b e n i u s deutet darauf hin, daß es „als Ornament schon gestickt auf südafrikanischen Stirnbinden erscheint, am Kongo an Kopfkörbchen in natürlicher Gestalt". Jedenfalls ist bei derartigen Gestalten die enge Verbindung des Kopfes resp. seiner Requisiten mit dem Eidechsenbild recht auffallend, hier muß in der Tat irgendwie ein geheimnisvoller Zusammenhang bestehen. — Ebenso wie der Eidechsenschwanz resp. die Schnauze dieses Tieres kann auch der Vogelschnabel zur Menschennase umgestaltet werden, eine KunstÜbung, die vor allem in Neuirland begegnet, wohl aber auch in Afrika ihre Analogie haben dürfte, wenn auch die uns zugänglichen afrikanischen Masken solche Bildungen nicht aufweisen. — Andere Masken 17 °) zeigen die kombinierte Menschen- und Tierdarstellung an den elephantenrüsselartigen Nasenverlängerungen, wobei der Nasenschlauch unten an der Spitze mitunter schnedcenartig eingerollt sein kann. — Warum der rezente Primitive gerade die Nase zur seltsamen ins tierische Element hinüberspielenden Gestaltungsweise ausersehen hat, ist ungewiß, und bis zur endgültigen Darbietung einer allseitig befriedigenden Lösung mögen immer noch die allgemein erklärenden Worte A. B. M e y e r s 17T) in beachtenswerter Geltung stehen: „Daß gerade die Nase gewählt 174) Masken etc., S. 6 u. 7 T a f e l VI Fig. 6 (Nr. 6380), Länge der Maske 37 cm, Breite 13,5 cm. 175) Die Masken etc., S. 261; vgl. auch S. 195 etc. 176) S. bei A. B. M e y e r a . a . O . S. 8 Tafel VIII. Nr. 8. 9, 10, 11. 177) ebd. S. 9a.
142
wird, um den künstlerischen S c h a f f e n s d r a n g zu betätigen, mag einerseits an dem Umstände liegen, daß die Nase dasjenige Organ des Gesichtes ist, welches am leichtesten eine Umgestaltung zuläßt, ohne deshalb aufzuhören, Nase zu sein, andererseits aber daran, daß die Nase als Einatmungsorgan f ü r das wichtigste und vielleicht als Lebens- oder Seelenorgan angesehen w i r d . " — D a ß die in der Maske mehr oder minder gelungen zum Ausdruck kommende Vermischung menschlicher und tierischer Elemente noch durch B e i f ü g u n g gerade menschlicher Körperteile stärker betont werden kann, zeigt j e n e bei M e y e r aufgeführte 1 7 "), aus Schildkrot, Blech und Holz verfertigte Haimaske, die gewiß im Ahnenkult des Ostindischen Archipels eine nicht unbedeutende Rolle gespielt haben mag. Diese mit cylindrischem blechernen K o p f t e i l versehene Maske stellt einen Hai dar mit Menschengesicht auf dem K o p f . Rechts und links hängen vor den Flossen des Haies j e ein menschlicher A r m aus Schildkrot 1 7 ! l ), indem so das der Maske eigene menschliche Element eine wirksame Stütze erhält. F ü r animalistische Züge an Masken haben besonders auch die gehörnten Tiere Bedeutung gewonnen. Während g e h ö r n t e M a s k e n rein tierischer Charaktere recht häufig sind (vgl. z. B. die Kameruner Masken, die Ochsen- und B ü f f e l m a s k e n der Bali, Macleau, der P a k h a l l a und Agni), sind Vermengungen derartiger Tiermasken mit Elementen des menschlichen Gesichts selten. Hier ist jene einst im Besitz A u t e 11 r i e t h s befindliche, in ihrer eigentümlichen Gestaltung von F r o b e n i u s 1"