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German Pages 664 Year 2016
Milena Cairo, Moritz Hannemann, Ulrike Haß, Judith Schäfer (Hg.) Episteme des Theaters
Theater | Band 90
Milena Cairo, Moritz Hannemann, Ulrike Haß, Judith Schäfer (Hg.) unter Mitarbeit von Sarah Wessels
Episteme des Theaters Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit
Gedruckt mit Unterstützung der Gesellschaft für Theaterwissenschaft und des Instituts für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum.
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Inhalt Vorwort | 11
Episteme zwischen Wissenschaft und Kunst Hans-Jörg Rheinberger | 17
Wissenschaft vom Theater als Denkzeitraum Hans-Thies Lehmann | 29
Über Setzungen Sieben Positionen zu Epistemen Birgit Peter, Klaus Illmayer, Nora Probst, Vivien Aehlig, Mayte Zimmermann, Daniel Rademacher, Lucas Herrmann, Jeanne Bindernagel | 41
T heatertheorie , M odelle , K onstell ationen Theater/Wissenschaft unter den Bedingungen von Kapitalisierung Kati Röttger | 67
Kritik des Vitalen Zu den epistemologischen Bedingungen von Liveness Matthias Dreyer | 77
Medium, metaxy, mimeisthai Zu einer Mediologie von Mimesis Julia Stenzel | 89
Was ist Theater im dramatischen Theater? Marita Tatari | 101
Bilderfahrung und Episteme des Sichtbaren: Theorie und Theoros Alexander Jackob | 113
Bühnenbild und Szenographie Prolegomena zu einer Theorie ihrer Gestaltung Birgit Wiens | 127
Das Problem und Potential des Singulären Theaterforschung als kritische Wissenschaft Nikolaus Müller-Schöll | 139
Illusion. Episteme. Dispositiv André Eiermann | 151
Theater als Dispositiv Lorenz Aggermann, Gerald Siegmund, Eva Holling, Georg Döcker | 163
Bühnen des Nicht-Menschlichen Gerko Egert, Stefan Apostolou-Hölscher, Maximilian Haas, Mariama Diagne, Simon Hagemann, Daniela Hahn | 193
H istoriographie , G edächtnis , Z eit des T heaters Theater und epistemologische Krise (Hölderlin) Jörn Etzold | 219
Fragment und epistemische Umbrüche 1800/1900 Szenische Praxen bei Lenz und Hofmannsthal Judith Schäfer, Tim Christmann | 231
Wie performativ ist das Theater? Der Schauspieler als sozialer Akteur im 18. Jahrhundert Romain Jobez | 247
Theater-Episteme und Wissenssysteme: Radikale Historisierung? Gerda Baumbach, Merle Nümann, Mechthild Gallwas, Ingo Rekatzky, Maria Koch, Ronja Flick, Theresa Eisele | 259
Go East! Die Okkupation Bosniens 1878 als inszenierte Kulturmission Caroline Herfert | 277
Die Vorstellung vom Zuschauer Martina Groß | 287
Schauspiele und Sauspiele Theaterdiskurse im Zeitalter der Reformation Corinna Kirschstein | 299
Spiel-Handwerk Die theatrica des Hugo von St. Viktor als Epistemologisierung ludischer Handlungen im 12. Jahrhundert Michael A. Conrad | 311
Praktiken der Wiederholung Episteme der Historiographie Günther Heeg, Andrea Hensel, Micha Braun, Tamar Pollak, Veronika Darian | 321
K ritik , K unst , F orschung Bewegung – Medien – Archiv Bedingungen der Geschichtsschreibung von Aufführungen Franz Anton Cramer, Isa Wortelkamp, Susanne Foellmer, Barbara Büscher | 341
Inszenierung von Wissen und Partizipation im zeitgenössischen Tanz Katja Schneider | 359
Das Begehren des Wissens im Tanz Jurgita Imbrasaite | 369
Tanz als Denkweise Laurent Chétouanes Hommage an das Zaudern Leonie Otto | 379
Vom Swingen des Sinns Musikalische Sinnproduktion Rasmus Nordholt | 389
Von der Sichtbarkeit zur Berührbarkeit ABeCedarium Bestiarium als Limitrophie Leon Gabriel | 399
Litschers Hunde oder vom Wissen und von der Dauer des Theaters Sebastian Kirsch | 413
Archiv/Praxis Verkörpertes Wissen in Bewegung Patrick Primavesi, Janine Schulze-Fellmann, Marcus Quent, Michael Wehren, Theresa Jacobs, Juliane Raschel, Sabine Huschka | 425
Was ist aus der Zukunft geworden? Szenarien als ideologische Instrumente der Zukunftsgestaltung Jules Buchholtz | 451
›Dramas of Desaster‹ Zur Melodramatik des Szenariomatischen Philipp Schulte | 459
Mehr Leben! Christoph Schlingensiefs Kirche der Angst vor dem Fremden in mir als Theater der Anerkennung Frank Max Müller | 469
Reenactment impossible Die Moskauer Prozesse von Milo Rau Christina Schmidt | 477
T heaterarbeit , K ontexte , R echerchen Episteme der Dramaturgie Evelyn Deutsch-Schreiner, Katharina Pewny, Jeroen Coppens, Melanie Reichert, Ann-Christine Simke, Nico Theisen | 493
Online/Offline: Körper und digitaler Raum Verena Meis | 511
Am End- oder Nullpunkt? (Zeitgenössisches) Regietheater Stefan Tigges | 517
Anthropologisches Wissen – mit Jerzy Grotowski, Ariane Mnouchkine und Carmelo Bene Gabriele C. Pfeiffer | 529
Schauspieler_innen als Ethnograph_innen Friedemann Kreuder | 539
Kunst – Nicht-Kunst – Andere Kunst Verhandlungen des Theaters zwischen professionellem und dilettantischem Dispositiv Meike Wagner, Anja Klöck, Nora Niethammer, Wolf-Dieter Ernst, Yvonne Schmidt, Petra Bolte-Picker | 551
(Gender-)Blending: Identität und Imagination in der Aufführung Ellen Koban | 575
Fünf Thesen zum Urteilen des Zuschauers Benjamin Wihstutz | 585
Sinn machen – Explorierendes Theater und (seine) Forschungspraxis Stefanie Husel | 597
Gender Trouble, once again Von Unwissenschaftlichkeitsvorwürfen und (ver-)störendem Wissen Jenny Schrödl | 609
Disziplinierung der Disziplin Konstitutionsprozesse der Theater- und Tanzwissenschaft Beate Hochholdinger-Reiterer, Constanze Schellow, Maria-Elisabeth Heinzer, Andreas Kotte | 619
Wollt ihr die totale Theaterwissenschaft? Evelyn Annuß | 635
Autorinnen und Autoren | 649
Vorwort
Nicht nur Begriffe, Formen und Äußerungsbereiche des Theaters haben sich in den letzten 100 Jahren immens gewandelt und fortwährend verändert, sondern auch die sozialen, politischen, medialen und technischen Konturen unserer Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund vervielfältigen sich die Fragen des Theaters, das sich zunehmend in seiner Kontextabhängigkeit begreift. Die medientechnologische Durchdringung von Ich- und Umweltverhältnissen verändert sowohl das Publikum als auch die an der Entstehung von Theater Beteiligten. Der spektakulären Anordnung, in der eine Aufführung auf der einen Seite gegeben und auf der anderen gesehen und gehört wird, entsprach noch im 20. Jahrhundert eine Anordnung gesellschaftlicher Öffentlichkeit, die Repräsentanten und Akteure einerseits und Publikum andererseits ins Verhältnis setzte. Eine solche Liaison zwischen theatralen und gesamtgesellschaftlichen Anordnungen hat inzwischen ihre Gültigkeit weitgehend eingebüßt. Im Horizont von Veränderungen dieser Art geht es in anderer Weise um Theater im weitesten Sinne. Unter der technologischen Bedingung werden wir anders adressiert. Heute verwirklichen zukunftsbesessene Wissenschaften ihre Zwecke in Echtzeit und in dieser Welt, zu der es keine Alternative gibt. Dazu gehören wohl an erster Stelle die Anwendungslogiken kybernetischer, neurophysiologischer und biochemischer Episteme. Mit ihrem Einsatz entwickelt sich, seit geraumer Zeit und zu immer neuen Volten fähig, unser technomorphes In-der-Welt-Sein. In ihrem Buch Vita activa oder Vom tätigen Leben konstatierte Hannah Arendt schon in den 1950er Jahren, dass »die Apparate, die wir einst frei handhabten, [anfangen] so zu unserm biologischen Leben zu gehören, dass es ist, als gehöre die menschliche Spezies nicht mehr zur Gattung der Säugetiere, sondern beginne sich in eine Art Schaltier zu verwandeln«. Sie bezieht sich an dieser Stelle auf Werner Heisenberg und fährt fort: es sehe so aus, als ob »die Apparate, von denen wir überall umgeben sind, ebenso unvermeidlich zum Menschen gehören wie das Schneckenhaus zur Schnecke oder das Netz zur Spinne«1. Mit dieser Überlegung Arendts, in der das Wort vom biologischen Leben nicht als Metapher auftaucht, ist 1 | Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2007, S. 139.
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der Horizont weit aufgerissen und umfasst einen riesigen, elastischen, sich kaum zu einer abschließenden Feststellung eignenden Zeitraum – einen Zeitraum, der jedoch nicht von ungefähr Ähnlichkeit hat mit jenem, dem wir begegnen, wenn wir nach dem Theater fragen. Auch die andere, im Zitat von Hannah Arendt enthaltene Beobachtung ist zentral für uns. Sie betrifft das Überall-umgeben-Sein, das Netz, die Umwelt. Mit ihren ständig sendenden und empfangenden Objekten setzt sich eine starke Kontextualisierung alles Seienden durch, die weniger in der Welt spielt, als dass mit ihr eine Readressierung von Welt möglich wird und geschieht. Diese Umweltlichkeit erscheint als primordial, geht also vor. Was sich jetzt vordrängt ist der vormals vom Einzelnen verachtete und nur als Möglichkeitsbedingung akzeptierte Hintergrund. Und mit diesem hängt nicht nur die hergestellte Welt, sondern auch die menschliche Bedingtheit durch eine Pluralität zusammen, die den Menschen seit je übersteigt. Heute können wir nicht mehr, wie noch vor 50 Jahren, sagen: Wir stehen einer komplexen Wirklichkeit gegenüber. Wir stehen darin, keinesfalls mittendrin, also nicht in der Mitte, sondern auf beliebige Weise, in-between. Google und andere greifen verstärkt auf die »Analyse von Lebensmustern« zurück und »werden ihr Geld damit verdienen, dass sie diese Realität kennen, manipulieren, kontrollieren und in kleinste Stücke schneiden.«2 Angesichts dieser Veränderungen, die sich nicht ins Auge fassen lassen, ist klar, dass unser Einsatz nicht mehr der einer Kritik, eines Gegenentwurfs oder eines alternativen Projekts sein kann. Im Gegenteil: »Dass unsere Ziele zu Zukunftszielen geworden seien, dürfte das Hauptergebnis dessen gewesen sein, was wir ›den Westen‹ oder ›die Moderne‹ nennen«, schreibt Jean-Luc Nancy in seinem Essay zu Fukushima. Es gebe für ihn keine andere Option als »aus der Zweckhaftigkeit überhaupt aus[zu]steigen, aus der Perspektive, dem Entwurf und der Projektion einer Zukunft überhaupt.«3 Wir sollten uns also von der Vorstellung lösen, es gäbe eine neue Welt und diese wäre nur eine Frage des richtigen Projekts. Damit ist hier das Denken der Projektion gemeint, nicht die Arbeit an Zukünften überhaupt. In Anknüpfung an die skizzierten Zusammenhänge ergeben sich eine Reihe weiterreichender Fragen: Zunächst die Frage nach dem Ort, an dem sich die ästhetische Frage gegenwärtig stellt bzw. an dem sie zu situieren ist. In Anbetracht des unhintergehbaren Zusammenhangs von individuellen und kollektiven Individuationsprozessen entsteht die Frage nach den Beziehungen, nicht als etwas Gegebenem, sondern als Bedingung des Daseins, als Bezugnahme. Der in diesem Zusammenhang spürbaren kulturellen Unruhe entspricht eine Unruhe der Formen. Analog zu Vielheiten ohne gemeinsamen Nenner oder Rahmen ist 2 | Shoshana Zuboff, »Schürfrechte am Leben«, Frankfurter Allgemeine Zeitung (30.04.2014), Nr. 100, S. 9. 3 | Jean-Luc Nancy, Die Äquivalenz der Katastrophen (Nach Fukushima), Zürich/Berlin 2013, S. 52f.
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gegenwärtig ein Aufkommen choreographischer, musikalischer und im weitesten Sinne chorischer Theaterformen verstärkt zu beobachten. Hinzu kommen Formen zwischen Bildender Kunst, Theater, Choreographie und Performance, für die sich der Name der ›Live Art‹ eingebürgert hat: Sie tragen Elemente des Theaters und der Performance in Räume, die bisher vornehmlich der Bildenden Kunst vorbehalten waren. Transformationen dieser Art geben die Begriffe der Szene, des Auftritts, der Situation, der Handlung oder der Bühne zu denken auf, des Weiteren Begriffe wie Komposition, Konstellation oder Konfiguration, welche uns unvermutet mit den Anfängen des Theaters in ein neuerlich zu durchdenkendes Verhältnis setzen. Bezogen auf den Erkenntnis- und Bezugsrahmen von Theater sowie auf den inneren Zusammenhang von Theater und gesellschaftlichen Transformationsprozessen, hat ein Denken in den Registern der Relationalität auch Auswirkungen auf das Verständnis der Historizität von Theater und auf die Annahmen, die zur Konstruktion seiner Geschichte eingegangen werden. Üblicherweise wird Theatergeschichte mit den großen Etappen einer allgemeinen Kulturgeschichte, kunstgeschichtlich konstruierten Epochen, nationalgeschichtlichen oder sogar politischen Geschichtsverläufen synchronisiert. Epochen und Abschnitte werden anhand von kulturellen, sozio-historischen oder politikgeschichtlichen Markierungen unterschieden und unter dem historisch eng gefassten Gesichtspunkt des Vorher und Nachher in eine Ordnung des Ablaufs gebracht. Die epistemologische Betrachtung von Geschichte erweitert das Schema des historischen Verlaufs. Was Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrem letzten gemeinsamen Buch Was ist Philosophie? zur »Zeit der Philosophie«4 formulierten, lässt sich, nicht ohne inneren Grund, analog für die ›Zeit des Theaters‹ festhalten: Die Zeit des Theaters ist »eine grandiose Zeit von Koexistenz«. Sie schließt das Vorher und Nachher nicht aus, aber sie ordnet es nicht zwingend und nicht ausschließlich nacheinander an. Vielmehr kennt sie unterschiedlich und wechselhaft dauernde Zeiten, die »übereinandergeschichtet« koexistieren. Die Zeit des Theaters ist ein »unendliches Werden« des Theaters, das sich mit dessen Geschichte überschneidet, nicht aber mit ihr verschmilzt. Das Leben des Theaters – und das was ihm am äußerlichsten ist (der Betrieb, die Theatermaschine) – »gehorcht Gesetzen gewöhnlicher Abfolge«. Seine »Eigennamen aber koexistieren«. Sei es als Eigennamen von Künstler_innen oder von Theatertexten innerhalb und außerhalb des Kanons, die uns noch einmal und je anders die Komponenten einer Form durchlaufen lassen. Sei es als die Kardinalpunkte einer Schicht, einer Bühnenform, eines Bilddenkens, eines Denkens des Außen oder des Mythos, die uns immer noch erreichen. Doch die koexistierenden Ebenen oder Schichten liegen als solche nicht vor. Sie müssen in jedem einzelnen Fall eigens aufgesucht und wiederum konstruiert 4 | Gilles Deleuze/Félix Guattari, Was ist Philosophie?, Frankfurt a.M. 1992, S. 68 [Herv. i.O.].
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werden. Von daher ergeben sich Fragen nach der Art und Weise der Konstruktion, der Erreichbarkeit von historischen Materialien, Fragen nach dem Archiv und insbesondere der Archivierung von Bewegungskünsten, der Tradierung eines nur in der Bewegung lebendigen Wissens, der Versiegelung auch dieses Wissens in einer abgeschlossenen Vergangenheit sowie Fragen nach der Möglichkeit und Unmöglichkeit eines Reenactments. Die Rhetorik des Neuen und das Gebot zur Kreativität gehen in die Selbstbeschreibung des Kapitalismus ein. Das kapitalistische Gebot der Kreativität bezieht sich auf alle Lebensbereiche. Dies hat wesentlich damit zu tun, dass die Institutionen, die lange Zeit normativ vorgaben, was Arbeit, Familie, Ausbildung, Kunst, Gesundheit usw. jeweils ausmachen und voneinander unterscheidet, derzeit verschwinden. Der Rahmen, den sie einst institutionell boten, geht über in das Tätigkeitswort, das Verb rahmen. Heute rahmen wir permanent selbst. Für diejenigen, die in institutionellen Zusammenhängen arbeiten, gilt etwas Ähnliches, wie es jahrzehntelang nur die Selbstständigen kannten: Sie müssen die Bedingungen, die dafür verantwortlich sind, dass ihre Arbeit und die Arbeiten anderer möglich sind, permanent selbst herstellen, reproduzieren, neue Formen dafür erfinden usw. Sie beginnen, sich ihrer rahmenden Tätigkeit bewusst zu werden und sich wie Erfinder oder Bastler zu verhalten. Die künstlerische Kreativität geht weit darüber hinaus und bewegt sich in einem anderen Bereich, dem der Kunst. Nicht Kunst im Singular, sondern in einer ›Gemeinschaft der Künste‹, die niemals klar voneinander abgrenzbar sind und ein gemeinsames Problem bewegen. Es geht ihnen nicht um die Reproduktion, nicht um Bewusstseinserweiterung oder Gesellschaftskritik. Vielmehr ist Kunst zunächst einmal ihre eigene Realität und ihre eigene Wirklichkeit. Anstelle von künstlerischen Erfindungen spricht Deleuze von einem »Einfangen von Kräften«.5 Vom Einfangen unsichtbarer Kräfte in der Malerei zum Beispiel, von unsagbaren Kräften im Sprechen, von unhörbaren Kräften in der Musik. Kräfte sind Affekte, Berührungen, die geschrieben, gesagt, gemalt, gefilmt, performt sein wollen. Wenn man nun nach dem Verhältnis von Künstler_innen zur Gesellschaft fragt, muss man zunächst konstatieren: Sie stehen zu ihr nicht im Verhältnis einer Aufgabe, einer Funktion, eines Zwecks oder Nutzens. Damit ist auch gesagt, dass Künstler_innen nicht die Aufgabe der Kritik, der Kapitalismusoder Wahrnehmungskritik angetragen werden kann, ebenso wenig das Bewegen sozialer oder urbaner Fragen und die Überwindung eingefahrener Denk- und Wahrnehmungsmuster. Der Gegenbegriff zum Begriff der Kritik ist heute nicht mehr der der Affirmation. Vielmehr stellt sich an dessen Stelle der Begriff des Singulären ein und die mit ihm, in einem komplexen Vorgang möglich werdende Berührung.
5 | Vgl. Anne Sauvagnargues, »Kunst als Einfangen von Kräften«, in: 31 – Das Magazin des Instituts für Theorie 18/19 (2012), S. 35-48.
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Künstlerische Kreativität steht also eher auf der Seite des Werdens als auf Seiten der Herstellung. Zu ihrer Beschreibung wäre ein extrem erweiterter Produktionsbegriff vonnöten, der neben der Herstellung im engeren Sinn auch die Aufführungen und die durch sie ausgelösten ›Filme‹ in den Zuschauern umfasst. Von daher ist künstlerisches Arbeiten in seiner Ausdehnung nicht zu bestimmen. Was macht oder wie verhält sich an dieser Stelle die Wissenschaft vom Theater? Neuerlich in den Blick gerät der gemeinsame Ursprung von Kunst- und Wissenschaftsgeschichte in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts als Folge der alten Unterscheidung von freien und angewandten Künsten. Obwohl die Differenzen von Wissenschafts- und Kunstdingen nicht reduzierbar sind, gibt es doch Ähnlichkeiten und Vergleichbares, vor allem im Prozesscharakter ihres Erneuerns, ihres Experimentierens, ihrer Art und Weise des Erfindens. Der amerikanische Kunsthistoriker George Kubler spricht von »gemeinsamen Innovationsmomenten«, von »gemeinsamen Veränderungen und Veralterungen«6. Hans-Jörg Rheinberger charakterisiert in seinen Schriften zur modernen Wissenschaftsgeschichte das Experiment7 als eine »Umgebung im historischen Kontext«, denn der Forschende fange sozusagen niemals von vorne an, sondern am Ende von Wegen, die andere gegangen sind. Der Forschungsprozess ist nicht über ein Telos zu definieren. In der experimentellen Umgebung, so Rheinberger, ereignet sich das Neue weniger in den Köpfen der Beteiligten, als in der Anordnung selbst. Experimentalsysteme seien ›Orte‹ oder ›eine Art Spinnennetze‹, in denen sich etwas verfangen kann, das man noch nicht kennt und von dem man nicht genau weiß, was es ist. Das Experiment ist somit in erster Hinsicht Konstellation oder Konfiguration von vielen und vielfältigen Elementen sozialer, kultureller und wissensbedingter Art. Diese Merkmale teilt das Experiment in vollem Umfang mit der Probe. Dieses forschende Finden ist sowohl den Künsten als auch der wissenschaftlichen Forschung eigen (und unterscheidet sie von der Herstellung). Es ereignet sich im bedingten Ausschnitt einer experimentellen Umgebung, welche die Unschärfe epistemischer Dinge ermöglicht und zu seinem Prinzip macht. Wissenschaftliche und künstlerische Arbeit gleichen sich, noch einmal mit Rheinberger, in der Art und Weise ihrer Hervorbringung von Nicht-Vorwegnehmbarem. Dennoch lassen sich Wissenschaft und Kunst nicht ›einfach‹ kombinieren. Derzeit geht es eher darum, konkrete Bedingungen und Möglichkeiten zu entwerfen, unter denen Künstler_innen und Wissenschaftler_innen sich begegnen oder zusammenarbeiten können, ohne sich das Feld des jeweils anderen zum Objekt zu machen. In der Über- bzw. Unterschreitung des wechselseitigen Objektbezugs erscheint ein wesentlicher Zug künstlerischer oder szenischer Forschung.
6 | George Kubler, Die Form der Zeit. Anmerkungen zur Geschichte der Dinge, Frankfurt a.M. 1982, S. 43. 7 | Vgl. Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, Frankfurt a.M. 2000; vgl. auch den Beitrag von Hans-Jörg Rheinberger im vorliegenden Band.
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Es ist als Vorteil zu begreifen, dass Theaterwissenschaft nicht Spezialisten für die Dramaturgie, die Produktion, das szenische Schreiben, die Kritik, die Regie usw. ausbildet, also nicht einfach Zugänge lehrt anhand eines Materials, das allemal schon als Theater definiert ist: Aufführungen, Bühnenkünstler, Stücke, Autoren, Epochen, Sparten oder Theaterkulturpolitik. Das hat alles seinen Stellenwert, steht aber nicht an erster Stelle. Theaterwissenschaft fragt nach dem Theater. Diese Frage nach dem Theater, an den Anfang oder in den Mittelpunkt gestellt, reicht weiter als die Frage von Wissensvermittlung. Sie verlangt eine Verhältnisnahme. Sie schließt den Fragenden von Anfang an mit ein. Sie betrifft ihn als Person in einem konkreten gesellschaftlichen und historischen Kontext. Von daher stellt sich theaterwissenschaftliches Wissen immer als situiertes Wissen dar. Die in diesem Band versammelten Beiträge sind aus dem 12. Kongress der Gesellschaft für Theaterwissenschaft hervorgegangen, der vom 25.-28. September 2014 an der Ruhr-Universität Bochum stattfand. Die Herausgeber_innen danken der Gesellschaft für Theaterwissenschaft, der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dem Rektorat der Ruhr-Universität Bochum, dem Dekan der Fakultät für Philologie, der Gesellschaft der Freunde der Ruhr-Universität, der Ruhrtriennale sowie dem Fachschaftsrat Theaterwissenschaft. Den zahlreichen Studierenden, ohne deren umfangreiche Unterstützung in der Vorbereitung und Durchführung die Ausrichtung des Kongresses nicht möglich gewesen wäre, möchten wir besonders danken. Bochum, im Juni 2016 Milena Cairo, Moritz Hannemann, Ulrike Haß, Judith Schäfer und Sarah Wessels
Episteme zwischen Wissenschaft und Kunst Hans-Jörg Rheinberger
Seit langem verfolge ich eine Perspektive auf die Wissenschaften, die geprägt ist von dem Bemühen, den wissenschaftlichen Forschungsprozess in seinen vielfältigen Facetten aus den materiellen Bedingungen seiner Mikrodynamik heraus zu verstehen. Es geht mir also nicht um die Charakterisierung von Wissenschaft als ein technisches Großsystem, auch nicht um die Darstellung von Wissenschaft als ein unsere modernen Gesellschaften als Ganze durchdringendes soziales System – so wichtig diese Aufgaben auch sind –, sondern vielmehr um die Feinstruktur wissenschaftlicher Erkundungsvorgänge. Worum es mir zu tun ist, könnte man sagen, ist eine Epistemologie von unten, eine »Mikro-Epistemologie«, um einen treffenden Ausdruck des Wissenschaftsphilosophen Gaston Bachelard für diesen Zugriff zu gebrauchen, den dieser vor einem guten halben Jahrhundert geprägt hat.1 In den Begriffen »Experimentalsystem« und »epistemisches Ding« nehmen Ding und System dann auch eine Bedeutung an, die sich von den technologischen Systemen auf der einen Seite und Gebrauchsdingen im Alltag auf der anderen Seite auf signifikante Weise unterscheidet. Es geht hier um Anordnungen, die von ihrem ganzen Auf bau her nicht nur prekär werden können, sondern geradezu darauf angelegt sind, und um Dinge, die in ihrer Verfasstheit ein nicht reduzierbares Maß an Distanz und an Unbestimmtheit mit sich führen. Im Zentrum der neuzeitlichen Wissenschaften wird gemeinhin das Experiment verortet. Als Postulat ist dieser Topos von Francis Bacon bis zu Martin Heidegger2 immer wieder bekräftigt worden. Die wissenschaftsphilosophische und die wissenschaftshistorische Ausdeutung des wissenschaftlichen Experimentierens hat jedoch lange Zeit im Schatten von Überlegungen gestanden, die Ideen und Theorien als Gegenständen historiographischen Interesses den Vorzug gaben. Warum dies lange so war, wäre selbst einer eingehenden historiographi1 | Gaston Bachelard, Le rationalisme appliqué, Paris 1949, S. 56. 2 | Francis Bacon, Neues Organon, hg. v. Wolfgang Krohn, Hamburg 1990; Martin Heidegger, »Die Zeit des Weltbildes«, in: Ders., Holzwege, Gesamtausgabe, Bd. 5, Frankfurt a.M. 1977, S. 75-113.
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Hans-Jörg Rheinberger
schen Untersuchung wert. So besteht hier noch immer ein gewisser Nachholbedarf. Meine eigenen Überlegungen zum Experiment haben an diesem Defizit angesetzt. Insbesondere habe dabei ich den Prozesscharakter, also die zeitliche Dynamik des Experimentierens in den Vordergrund gerückt. Hier habe ich an einige Versuche aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts anknüpfen können. So bemerkt etwa Bachelard in seinem Neuen wissenschaftlichen Geist von 1934: »Die Zeit der zusammenhanglosen und beliebig veränderbaren Hypothesen ist vorbei, geradeso wie die der bizarren isolierten Experimente. Von nun an bedeutet Hypothese Synthese.«3 Und in Ludwik Flecks Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache von 1935 finden wir die Sätze: »Alle Experimentalforscher wissen, wie wenig ein Einzelexperiment beweist und zwingt: es gehört dazu immer ein ganzes System der Experimente und Kontrollen, einer Voraussetzung (einem Stil) gemäß zusammengestellt, und von einem Geübten ausgeführt.«4 An anderer Stelle spricht Fleck davon, dass in dem Maße, wie Experimente im Verlauf der Forschungsarbeit klarer werden, sie als »nicht mehr selbständig« betrachtet werden können, da sie vom – wie er sich ausdrückt – »System früherer Experimente und Entscheidungen geschleppt werden«.5 Hier taucht der Begriff des Systems explizit im Zusammenhang mit der Beschreibung des modernen Experimentalvorgangs auf, und er ist von vornherein mit einem temporalen, einem historischen Index versehen. Das Ensemble, von dem hier die Rede ist, ist eine in der Zeit erstreckte und sich in dieser Erstreckung verändernde Trajektorie.
I Es ist nun interessant zu beobachten, in welcher Form der Kunsthistoriker George Kubler diese Perspektive zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgegriffen und dabei ganz explizit eine Parallele zwischen den Wissenschaften und den Künsten gezogen hat: »Wir [haben] sehr lange gezögert«, schreibt er in seinem Traktat Die Form der Zeit mit dem sprechenden Untertitel Anmerkungen zur Geschichte der Dinge, »die Prozesse, die Kunst und Wissenschaft gemeinsam sind, unter derselben historischen Perspektivierung in den Blick zu nehmen.«6 Kubler hat dabei vor allem den Begriff der Serie oder Sequenz stark gemacht. Dabei hat er eine ziemlich radikale Umkehrung vorgenommen. Kunstgeschichte 3 | Gaston Bachelard, Der neue wissenschaftliche Geist [1934], Frankfurt a.M. 1988, S. 12. 4 | Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv [1935], hg. v. Lothar Schäfer/Thomas Schnelle, Frankfurt a.M. 1980, S. 126. 5 | Ebd., S. 114. 6 | George Kubler, Die Form der Zeit. Anmerkungen zur Geschichte der Dinge [1962], Frankfurt a.M. 1982, S. 42 [Herv. H.J.R.].
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wie Wissenschaftsgeschichte sind reich an Darstellungen, in denen sich das Neue jeweils so darstellt, als sei es dem genialen Wurf eines singulären Neuerers zu verdanken, das Produkt der unerhörten Vision von Genies. Bei Kubler verdankt sich das Neue vornehmlich aber nicht dem Unerhörten eines bisher nicht dagewesenen Projekts, sondern, wenn man so will, der Unvorwegnehmbarkeit des Ergebnisses einer Abstoßung: »Jeder Künstler arbeitet im Dunkeln und wird nur von den Tunnels und Schächten früherer Werke geleitet, während er einer Ader folgt in der Hoffnung, auf eine Goldgrube zu stoßen. Gleichzeitig aber muss er fürchten, dass die Ader schon morgen ausgeschöpft sein kann.« 7 Kublers Künstler wird also geleitet von den »Tunnels und Schächten früherer Werke« und nicht von noch nie dagewesenen Intuitionen. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass Kubler den Kunstwerken etwa ihre jeweilige Einzigartigkeit absprechen würde: »Kunstwerke sind so einzigartig und unersetzbar, wie Werkzeuge weitverbreitet und abnutzbar sind«, betont er in einer Gegenüberstellung von Gebrauchsdingen und Dingen ohne direkte Nutzanwendung.8 Aber er sieht die Kunst – genau wie sein Zeitgenosse, der Wissenschaftshistoriker Thomas Kuhn die Wissenschaft – wesentlich als einen »von hinten getriebenen Prozess« – a process driven from behind –,9 dessen Fortgang sich eher der Bemächtigung von jeweils vorgefundenen Ermöglichungsbedingungen im Anschluss an die bereits gegrabenen Schächte verdankt, als ihrer Ignorierung in der vermeintlichen Höhenluft genialer Antizipationen. Genau hier scheint mir der entscheidende Punkt der kublerschen Vorstellung von einer Annäherung zwischen Wissenschafts- und Kunstgeschichte zu liegen. Und genau hier kommt der Begriff der Serie oder der Reihe ins Spiel. Kubler unterscheidet mindestens offene und geschlossene, intermittierende, blockierte, erweiterte, wandernde und gleichzeitige Reihen, eine jede mit ihren Sonderformen.10 Derartige Serien oder Reihen von Kunstobjekten sind, um in der Bildwelt von Kubler zu bleiben, als in der Zeit erstreckte Fasern im Faserbündel einer Kunst zu sehen. Hier ist Kublers eigener, vorläufiger Definitionsversuch der Sequenz: Die genaueste Definition der formalen Sequenz, die wir bis jetzt geben können, lautet, dass sie ein historisches Maschenwerk von graduell veränderten Wiederholungen desselben Merkmals ist. Insofern kann man von der Sequenz sagen, sie habe ein Gerüst. Im Querschnitt zeigt es, wenn man so sagen darf, ein Maschenwerk, ein Geflecht oder eine Bündelung von subordinierten Merkmalen; im Längsschnitt zeigt sich eine faserartige Struktur
7 | Ebd., S. 195. 8 | Ebd., S. 51. 9 | Thomas S. Kuhn, The Trouble with the Historical Philosophy of Science, Cambridge, MA 1992, S. 14. 10 | Vgl. Kubler, Die Form der Zeit, bes. Kap. 2 u. 4.
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Hans-Jörg Rheinberger der zeitlichen Absätze, die alle unverkennbar ähnlich sind, sich jedoch in ihrer Maschenweite vom Anfang bis zum Ende verändern.11
II An Kublers Vorstellungen über »Serien«, »Sequenzen« und »Lösungsketten« von Kunstformen kann ich hier nahtlos mit meinen wissenschaftshistorischen Überlegungen anschließen.12 Sie stützen sich, wie gesagt, vor allem auf die Begriffe des Experimentalsystems und der in solchen Systemen verhandelten epistemischen Dinge. Ein Experimentalsystem steht für das Integral aller Ingredienzien – Materialien, Forschungstechnologien, Laborumgebungen, kollektives Erfahrungswissen –, die dazu nötig sind, einen in der Regel auf ein einzelnes Labor und sein Kollektiv beschränkten Experimentierprozess in Bewegung zu setzen und ihn in Gang zu halten. Ein Experimentalsystem ist also ein Analysegegenstand und zugleich dessen begriffliche Erfassung, mit dessen Hilfe der Versuch unternommen werden kann, die Entwicklung der empirischen Wissenschaften nicht auf der Makroebene von Wissenschaft als Disziplin – mithin als disziplinäres System – zu erfassen, sondern auf der Mikroebene der für sie charakteristischen Manipulationen und Prozeduren. Der Begriff des Epistemischen verweist dabei auf den fundamentalen Sachverhalt, dass diese Objekte nicht unabhängig von den Mitteln und Medien gedacht werden können, denen sie ihre Zurichtung letztlich verdanken. Das ist auch der Grund, warum Bachelard für diesen Sachverhalt den zusammengesetzten Begriff der »Phänomenotechnik« geprägt hat.13 Das epistemische Objekt ist jenes schwer zu definierende Etwas, das den Einsatz eines bestimmten experimentellen Forschungsunternehmens darstellt. Paradox gesagt verkörpert es – und zwar in einer Form, die experimentell gehandhabt werden kann – eben dasjenige, worüber man noch nicht genau Bescheid weiß. Epistemische Objekte sind demnach chronisch unterdeterminiert. Experimentalsysteme sind somit die kleinsten integralen Forschungsumgebungen, in denen die Gegenstände der Wissenschaft ihre Ausgestaltung erfahren. In Bezug auf die Dinge, die hier auftauchen und Gestalt annehmen, gilt vor allem: Sie sind als epistemische Dinge keine Endprodukte der Forschung. In der ihnen charakteristischen Unbestimmtheit sind sie eher als Triebkräfte, als Edukte des Forschungsprozesses anzusehen. Und als solche sind sie einerseits zukunftsoffene und andererseits eminent historische Entitäten. Zu ihrer Charakterisierung bedarf es notwendigerweise der Zeitachse, denn ihr Hauptaspekt liegt ja gerade in ihrem Transformationspotential. Ist dieses erschöpft, kommt auch das 11 | Ebd., S. 76. 12 | Ebd., S. 71f. 13 | Gaston Bachelard, »Noumène et microphysique« [1931-32], in: Ders., Études, Paris 1970, S. 11-24.
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einbettende Experimentalsystem zum Erliegen. Durch Rekonfiguration ihrer Elemente und durch die Einführung neuer Forschungstechnologien kommt es in Experimentalsystemen in der Regel jedoch ständig zur Umformung der jeweils verhandelten epistemischen Dinge und damit zur Erzeugung neuer Erkenntnisse, ohne dass deren Eintreten jeweils mit Bestimmtheit vorausgesagt werden könnte. Und dennoch gibt es so etwas wie eine lückenlose materielle Filiation. Hier findet sich somit eine klare Entsprechung zu Kublers Beschreibung von »Sequenzen«, die sich aus »Mutanten« »primärer Objekte« zusammensetzen, ohne dass man es doch mit einer logischen Abfolge zu tun hätte, bei der die eine Formvariante aus der anderen ableitbar wäre.14 Auch bei Kubler setzt »die Klassifizierung in Sequenzen [zwar] einen inneren Zusammenhang der Ereignisse voraus«, aber »erweist dabei gleichzeitig das Sporadische, Unvorhersehbare und Unregelmäßige ihres Eintretens«.15 Es gibt natürlich hier keine strikte Parallelität im Sinne einer Punkt-fürPunkt-Homologie zwischen den Explorationssystemen beider Bereiche. Aber sowohl Kublers Sequenz-Perspektive auf die Künste als auch die Experimentalsystem-Perspektive auf die Wissenschaften erweisen sich von einer gemeinsamen Suche getragen, »die Formen der Zeit zu erfassen« – und einer Suche nach neuen Möglichkeiten, historische Zeit in ihren unterschiedlichen Materialisierungen zur Darstellung zu bringen. Kubler hat diese Suche auf den folgenden bündigen Nenner gebracht: »Wir benötigen ein Netzwerk aus anderen Maschen, das sich grundsätzlich von allen bisher üblichen unterscheidet.«16 Bachelard hat in diesem Zusammenhang einmal von einem »recht eigentlichen Existenzialismus der fortschreitenden Erkenntnis« gesprochen und dessen Quintessenz so formuliert: Die Position des wissenschaftlichen Objekts, genau genommen des Objekts als eines Instruktors, ist sehr viel komplexer und engagierter. Sie verlangt eine Solidarität zwischen Methode und explorierendem Experiment. Man muss daher die Methode des Erkennens kennen, um das zu erkennende Objekt zu erfassen, und das heißt – im Bereich methodisch bewerteter Erkenntnis – ein Objekt, das selbst in der Lage ist, die Methode des Erkennens zu transformieren.17
Er spricht denn auch von einem Prozess gegenseitiger »Instruktion«.18 Die Methode ist das in die Forschungstechnologie implementierte Wissen. Sie reifiziert gewissermaßen das dem Forscher zu einem gegebenen Zeitpunkt verfügbare Wissen. Er delegiert es an die Instrumente. Das erkennende Subjekt wird so glei14 | Kubler, Die Form der Zeit, S. 78-79. 15 | Ebd., S. 74. 16 | Ebd., S. 71. 17 | Bachelard, Le rationalisme appliqué, S. 56. 18 | Vgl. ebd., S. 53-56.
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chermaßen der Interaktion entzogen, wie es in der Form sedimentierten Wissens in ihr steckt. Die Formulierung Bachelards weist dem »zu erkennenden Objekt« hier eine aktive Rolle in dem Prozess zu. Man könnte auch sagen, dass es sich dabei um einen typischen Iterationsvorgang handelt, bei dem Reproduktion und differenzielles Ausgreifen sich gegenseitig bedingen und in einem unauflösbaren Verkettungszusammenhang stehen. Für produktive Experimentalsysteme ist es dabei entscheidend, dass die im System angelegten Möglichkeiten differentieller Verschiebung zu treibenden Momenten seines Iterationsverlaufs werden und nicht einfach ins Leere laufen. Sie sind effektiv, wenn sie rekursiv auf das System zurückwirken können. Ich habe vorhin von der gebastelten Kohärenz von Experimentalsystemen gesprochen. Sie macht Experimentalsysteme auf der einen Seite anfällig für Desintegration, denn Gebasteltes neigt zur Brüchigkeit. Auf der anderen Seite aber macht sie das auch geeignet und aufnahmefähig für die Implementierung von neuen Forschungsroutinen. Auch ein solcher Import erfolgt jedoch immer unter prekären Randbedingungen. Denn es ist einerseits notwendig, dass der bestehende Forschungszusammenhang erhalten bleibt, das heißt, die reproduktive Kohärenz des Systems muss gewährleistet bleiben. Andererseits aber muss es dadurch auch gewissermaßen »veredelt« werden, sei es im Sinne einer Verfeinerung der Datenerhebung oder im Sinne der Verzweigung eines Systems in Richtung auf bisher unausschöpf bare Optionen. Ich habe zur Charakterisierung dieser Situation gelegentlich auch auf eine Metapher aus dem Bereich biologischer Kulturtechniken zurückgegriffen, das Pfropfen.19 Zu solcher bricolage gehört auch, dass es zur Ersetzung von Bestandteilen der technischen Bedingungen des Systems kommen kann. Die Einführung neuer Forschungstechnologien kann unter Umständen ältere überflüssig machen oder sie doch zumindest in ihrer früheren Funktion marginalisieren. Es ist übrigens interessant hier anzumerken, dass Jacques Derrida die Textarbeit mit dem Begriff des Pfropfens in Verbindung gebracht hat,20 und dass auch Bachelard in seinen poetologischen Arbeiten vom Pfropfen als einem poetischen Prinzip spricht.21
19 | Vgl. Hans-Jörg Rheinberger, »Pfropfen in Experimentalsystemen«, in: Uwe Wirth/ Veronika Sellier (Hg.), Impfen, Pfropfen, Transplantieren, Berlin 2011, S. 65-74. 20 | Jacques Derrida, »La dissémination«, in: Ders.: La dissémination, Paris 1972, S. 319-408, hier S. 395-398. 21 | Gaston Bachelard, L’eau et les rêves. Essai sur l’imagination de la matière, Paris 1942, S. 14-15.
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III Nach diesen eher wissenschaftshistorisch und kunsthistorisch motivierten Überlegungen möchte ich im zweiten Teil meines Vortrags das heute viel diskutierte Thema der künstlerischen Forschung aufgreifen. Zwei grundsätzlich verschiedene Aspekte sind es, denke ich, unter denen das Verhältnis von wissenschaftlichem Labor und künstlerischer Forschung gesehen werden kann.22 Der erste Aspekt betrifft die künstlerische Auseinandersetzung mit wissenschaftlicher Laborarbeit. Der zweite betrifft die künstlerische Arbeit selbst in ihrem Labor- bzw. Forschungscharakter, insofern der Begriff des Labors mehr oder weniger synonym für den Forschungsprozess genommen werden kann. Ich nenne den einen Aspekt exoterisch, den anderen esoterisch. Ich beginne mit dem exoterischen Aspekt. In den letzten Jahren ist verstärkt ein Trend zu beobachten, dass Künstler die Nähe zu den Laborwissenschaften als Orte der – kritischen – Inspiration für ihre eigene Arbeit suchen, und dass umgekehrt wissenschaftliche Institutionen, insbesondere auch naturwissenschaftliche Laboratorien, Künstler – artist in residence – für kürzere oder längere Zeit einladen, sich vor Ort – in Gespräch, Beobachtung, manchmal auch Teilnahme – mit der betreffenden Laborwirklichkeit auseinanderzusetzen und die Ergebnisse dieser Auseinandersetzung in Kunstprodukte zu transponieren, die dann meist in Form von Ausstellungen an den jeweiligen Wissenschafts-Orten öffentlich zugänglich gemacht werden. Es handelt sich dabei einerseits, könnte man sagen, um die Fortsetzung einer ehrwürdigen Tradition – die einst unter dem Etikett »Kunst am Bau« (oder im Bau) firmierte – in ihrer Ausbreitung jetzt auf die Innenseite wissenschaftlicher Institutionen. Andererseits scheint dem Trend aber auch etwas Neues innezuwohnen. Der nahe ästhetische Blick auf die Wissenschaftswirklichkeit wird von beiden Seiten nicht mehr so gescheut, wie dies eine lange Zeit der Fall war. Die Wissenschaften öffnen sich in ihrer Alltagwirklichkeit den Künstlern, und manche Künstler entdecken – wieder, möchte man sagen – die Medien und Materialien der Wissenschaften als eine Möglichkeit kreativer Appropriation. Der Künstler oder die Künstlerin im Labor steht dabei vor der Wahl zweier Optionen. Entweder sie setzen sich mit den Produkten der Laborarbeit auseinander. In der Regel werden das nicht die abstrakten Produkte, sondern eher die anschaulichen Bilder sein, die aus visuellen – analogen oder digitalen – Darstellungstechniken resultieren. In dieser Domäne lassen sich auch die Wissenschaftler selbst gerne mit den ästhetischen Aspekten und Effekten ihrer Forschungsprodukte konfrontieren, und mit ihnen schmücken sie nicht zuletzt auch gerne die Covers ihrer Journale und Textbücher. Oder – zweite Option – die Künstler beschäftigen sich mit den Technologien der Datenerzeugung und der Sichtbarmachung, das heißt mit den Mitteln und den Medien, durch die und mit denen den Ergebnissen 22 | Vgl. dazu auch Hans-Jörg Rheinberger, Eintrag »Labor«, in: Jens Badura et al. (Hg.), Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich/Berlin 2015, S. 311-314.
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der Wissenschaft Gestalt verliehen wird. Das ist in der Regel der dornigere Weg, denn er bedarf eines mehr indirekten, reflexiven Zugriffs auf die wissenschaftliche Datenproduktion, die zudem von den Wissenschaftlern selbst in der öffentlichen Darstellung ihrer Resultate meist ausgeblendet wird.23 In dem so umschriebenen Feld der Konfrontation von Epistemologie und Ästhetik bleibt der Austauschprozess aber oft einseitig. Es sind vorzugsweise die Künstler, die sich mit den Verfahren und Ergebnissen eines bestimmten Forschungsprozesses auseinandersetzen und sie in der einen oder anderen Form in ihre Arbeit integrieren. Die Wissenschaftler der beteiligten Labore bleiben meist Zuschauer. Wir begegnen hier einem Phänomen, das sich in zwar modifizierter, aber doch vergleichbarer Form auch im Bereich der ethnomethodologischen Laborstudien der social studies of science hat beobachten lassen.24 Diese Auseinandersetzung zwischen dem Epistemischen und dem Ästhetischen kann durchaus eine wissenschaftskritische Funktion haben. Weit seltener kommt es jedoch umgekehrt vor, dass die engagierten Wissenschaftler den künstlerischen Prozeduren etwas für ihre eigene Arbeit abgewinnen können. Ein solches erkenntniskritisches Surplus könnte auf Seiten der Wissenschaftler etwa die Form annehmen, dass sie zumindest die Verfahren ihrer eigenen Erkenntnisgewinnung in einem neuen Licht zu sehen lernen.
IV Die zweite Form der künstlerischen Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Laborwelten nenne ich esoterischer Natur. Hier geht es darum, parallel zum exploratorischen Umgang mit Materialien in Erkenntnis gewinnender Absicht, wie er für den wissenschaftlichen Forschungsprozess charakteristisch ist, für den Bereich der künstlerischen Arbeit den Künsten angemessene Formen des Umgangs mit Materialien in ästhetisch-epistemischer Absicht zu entwickeln – was natürlich immer schon geschieht, aber oft nicht explizit reflektiert wird. Dabei lassen sich vier Momente ausmachen, die in diesen Vorgang eingeschrieben sind. Das erste Moment ist die charakteristische Widerständigkeit des Materials, mit dem man arbeitet. Es geht ja darum, im Umgang mit den Materialien die23 | Als Beispiele seien hier etwa die Auseinandersetzung von Paul Vanouse mit den Techniken zur Sequenzierung von DNA, von Evelina Domnitch und Dmitry Gelfand mit physikalisch-chemischen Verfahren zur Erzeugung dissipativer Strukturen oder von Hannes Rickli mit der Spuren- und Datenerzeugung in biologischen Laboratorien genannt. Vgl. Jens Hauser (Hg.), Paul Vanouse: Fingerprints ...: Index, Abdruck, Spur, Schriftenreihe der Schering Stiftung, Bd. 1, Berlin 2011; Evelina Domnitch/Dmitry Gelfand, Opening Coccyx, Mailand 2005; Hannes Rickli, Videogramme: Bildwelten biologischer Experimentalsysteme als Kunst- und Theorieobjekt, Zürich 2011. 24 | Bruno Latour/Steve Woolgar, Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts, Princeton 1986; Karin Knorr Cetina, Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen, Frankfurt a.M. 2002.
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sen Effekte abzugewinnen, die beim ersten Hinsehen an ihnen nicht wahrgenommen werden können. Es müssen bestimmte Vorrichtungen getroffen und Verrichtungen ausgeführt werden, um Eigenschaften der Materialien manifest werden zu lassen, die sich erst im Ergebnis solcher Manipulationen zeigen. Das erfordert eine Vertrautheit mit den Materialien, die sich erst im Laufe eines langen Arbeitsprozesses einstellt. Den zweiten Aspekt kann man mit dem Begriff der immanenten Transzendenz belegen. Forschungsprozesse – ob nun wissenschaftlicher oder künstlerischer Natur – müssen so angelegt sein, dass in ihnen Neues zum Vorschein kommen kann. Neues ist aber, wenn es seinen Namen verdienen soll, nicht vorwegnehmbar. Es ereignet sich im Arbeitsprozess als Ergebnis der konstellativen Verfahren, denen die Arbeitsmaterialien ausgesetzt werden. Während in der wissenschaftlichen Forschung das Neue vorwiegend epistemisch konnotiert ist, geht in der künstlerischen Forschung oft die Materialerkenntnis eine Verbindung mit ästhetischen Effekten ein. Nimmt man diese beiden Momente zusammen, so ergibt sich eine dritte Charakteristik. Wissenschaftliche ebenso wie künstlerische Forschung bewegen sich explorierend in einem Experimentalzusammenhang, für den es eigentümlich ist, dass er sich über einen längeren Zeitraum erstrecken muss. Das Labor ist für die Wissenschaften die übliche Form der räumlichen Einfassung, sie kann aber auch die Form von Feld- und Geländearbeit annehmen.25 Es findet hier, wie eingangs skizziert, der Begriff des Experimentalsystems Anwendung.26 Für die Künste hat Kubler auf den Begriff der Sequenz zurückgegriffen, um auf das vorhin Gesagte zurückzukommen. Es ergibt sich so ein bestimmtes Verhältnis von Kontinuität im Materiellen und Wechsel im Zugriff. Dieses lässt sich nur als Trajektorie realisieren und unterscheidet sich damit von anderen, eher kurzfristigen Formen künstlerischen Experimentierens. Viertens schließlich ist Forschung ein vorzugsweise diskursiver Vorgang. Sie lebt nicht nur davon, dass ihre Ergebnisse offengelegt werden, sondern auch davon, ihre Verfahren zur Diskussion zu stellen. Forschung ist damit auch ein kollektiver Vorgang. Sie wird in der Regel von Gruppen getragen und entwickelt. Wo künstlerische Arbeit als Forschung verstanden wird, müssen konsequenter Weise die Momente des Diskursiven und des Kollektiven thematisiert werden. Die dazu gehörigen Formen von Dokumentation und Öffentlichkeit befinden sich aber – wenn ich es richtig sehe – überhaupt erst in den Anfängen ihrer Entwicklung.27 25 | Als Beispiel aus dem Kunstbereich sei hier erwähnt: Katharina Ammann/Priska Gisler (Hg., Bd. 1) u. Florian Dombois et al. (Hg., Bd. 2), Präparat Bergsturz, Luzern 2012 u. 2013. 26 | Vgl. Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Frankfurt a.M. 2006. 27 | Vgl. etwa Journal for Artistic Research (JAR, seit 2011); Research Catalogue – An International Database for Artistic Research (RC); vgl. auch Michael Schwab (Hg.), Experimental Systems. Future Knowledge in Artistic Research, Leuven 2013.
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V Wenn es generell um die Diskussion des Verhältnisses von Wissenschaft und Kunst geht, so besteht aus meiner Sicht die entscheidende Aufgabe darin, einen gemeinsamen Grund für innovative Praxen im Rahmen von Entwicklungszusammenhängen zu finden. Das muss ein Grund sein, von dem her sich das Verhältnis von Wissenschaft und Kunst auf eine Weise formulieren lässt, bei der die Einlassung auf das Unvorwegnehmbare im Vordergrund steht, ohne dabei – und das ist mir wichtig zu betonen – mögliche Differenzen zu kurz kommen zu lassen. Eine solche Analyse wird aber nicht von den Produkten der jeweiligen Tätigkeit her geleistet werden können, wenn es oder vielleicht gerade weil es die Produkte sind, die beide Seiten so verschieden aussehen lassen. So wie die Wissenschaften als kulturhistorische Gebilde letztlich nicht aus der Struktur ihrer fertigen Theorien verstanden werden können, werden auch die Künste zuletzt nicht über die Struktur ihrer Produkte zu verstehen sein. Hier wie dort geht es dabei vorgängig und vorrangig um die Praktiken des Machens, um das Verständnis eines Produktionsprozesses mit ungewissem Ausgang, an dessen Ende Dinge stehen, die seinen Anfang nicht bestimmt und nicht bedingt haben. Das, so meine ich, unterscheidet Forschung und Kunst von der Struktur technischer Herstellungsprozesse und der Produktion von Gütern. Es geht in beiden, in den Künsten wie in der wissenschaftlichen Forschung, um Formen der nach vorne offenen Welterkundung, nicht nur um das Einkreisen von etwas, das sich – vielleicht hartnäckig – dem Zugriff entzieht; es geht vielmehr um eine Erkundung, bei der dieses »etwas« ja allererst Gestalt annimmt, und bei der auch die Bewegung des Einkreisens selbst immer problematisch bleibt und ständig befragt werden muss. Denn es ist ja nicht zum vornherein ausgemacht, an welcher Stelle – um im Bild zu bleiben – der Kreis enger gezogen werden soll. Man kann in diesem Zusammenhang in einem geradezu konstitutiven Sinne vom Unschärfeprinzip epistemischer Dinge reden und sollte analog dazu vielleicht auch vom Unschärfeprinzip ästhetischer Dinge sprechen. Damit aber rücken auch die Konfigurationen von Materialien, Instrumenten, Arrangements und kognitiv-praktischen Listen – sowohl im Sinne von Agenden als auch im Sinn von Tricks –, die in den Prozess eingehen, und die untrennbar zusammen sein epistemisches Design in immer neuen Formen bestimmen, in den Vordergrund des Interesses. Es sind diese Konfigurationen, diese Anordnungen, in denen sich das Neue ereignet, die es sich näher anzusehen lohnt. Der wissenschaftshistorische bzw. kunsthistorische Zugang zu deren Erschließung ist dabei einer unter anderen, aber vielleicht ein privilegierter. Man könnte sie in der Aufgabe zusammenfassen, die jeweiligen Konfigurationen wissenschaftlicher und künstlerischer Hervorbringung in der ihnen eigenen Temporalität auszuloten und sie unter Dauerreflexion zu stellen. Mit diesen Bemerkungen – zugegeben etwas wissenschaftslastigen Bemerkungen, aber da komme ich nun einmal her – wollte ich Ihre Aufmerksamkeit auf jenen Raum lenken, in dem Wissen erzeugt wird, gleich ob epistemisch oder äs-
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thetisch konnotiert, im Gegensatz zu seiner sozialen Verhandlung, seiner öffentlichen Verlautbarung und seiner lokalen und globalen Verteilung. Hier kann man nach strukturellen Korrespondenzen zwischen den Wissenschaften und den Künsten suchen. Ich bin überzeugt davon, dass ein aufmerksamer Blick auf die Formen, in denen produktiv mit den jeweiligen Materialien umgegangen wird, dass also ein Studium der materiellen Verwicklungen und Einlassungen von Wissenschaftlern und Künstlern zu grundlegenden Ähnlichkeiten in Bezug auf die Schaffung künstlerischer Effekte und die Schaffung von Wissenseffekten führen kann. Beide, Wissenschaftler wie Künstler, sind hinter dem Unvorwegnehmbaren her, und beide wissen, dass sie es nicht einfach aus ihrem Kopf zaubern können. Dennoch brauchen die beiden keineswegs in eins zu fallen. Die Tatsache, dass die Wissenschaften und die Künste sich historisch gesehen zumindest meta-stabile, separierte Bereiche geschaffen haben, muss ja wenigstens zur Kenntnis genommen werden, auch wenn diese Trennung nicht immer und überall bestand, und wenn es vielleicht auch nicht immer so bleiben wird. Es könnte aber sehr wohl sein, dass diese Trennung ein Sekundäreffekt, sozusagen ein Kollateralschaden der jeweiligen Stabilisierung auf der Ebene der sozialen Verhandlung, der Kommunikation und der Distribution ist, und weniger den Bedingungen der Schaffung epistemischer und künstlerischer Werte geschuldet ist. Was wir tun können, ist einen diskursiven Raum abzustecken, in dem es möglich wird, dass Wissenschaftler und Künstler sich gegenseitig auf ihre Hände schauen können, weniger auf das, was sie sagen, als vielmehr auf das, was sie tun, wenn sie ihr jeweiliges Handwerk praktizieren.
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Unser Gegenstandsbereich Theater hat sich, ich darf sagen, ›dramatisch‹ verändert, sein Begriff hat sich enorm erweitert. Dieser Entwicklung folgt, wo sie Interesse beanspruchen kann, seine Analyse. Theater wird immer öfter selbst als offener Prozess, als Probe, praktiziert und die Theorie der Probe folgt dem nach. Gut so. Theater öffnet seinen Raum: es zersplittert und vervielfältigt ihn in einzelne Fragmente (wie etwa die mehrwöchige Kunstaktion Frankfurt Evakuieren von Akira Takayama, Mousonturm September/ Oktober 2014), also denken wir Theater im Sinne einer Raumtheorie, fragen genauer nach dem, was sich da verändert an der Räumlichkeit dieser Praxis. Gut so. Die Erweiterung und Veränderung des Gegenstandsbereichs von Theaterwissenschaft betrifft ebenso die Zeit des Theaters, die Art der Versammlung seiner Zuschauer (manchmal in Gruppen, manchmal einzeln, natürlich auch immer wieder noch einmal als frontales Publikum). So fragt Theorie nach den veränderten Bedingungen der Aktivität der Zuschauenden, nach ihrer »Zuschaukunst« (Brecht), ihrer ›Subjektivierung‹, ihrer ›Affektivität‹. Gut so. Der institutionelle Kontext der ›sozialen Praktik‹ des Theaters ist mit seinen ideologischen Machtverhältnissen so weitgehend ein bewusst reflektierter Teil der ästhetischen Aktivitäten geworden, dass es immer notwendiger wurde, in der Theorie das Künstlerische zusammenzudenken mit seiner institutionellen ›Rahmung‹. Gut so. Theater im tradierten dramatischen Sinn existiert zwar weiter, ist aber – Ausnahmen immer zugestanden – im Wesentlichen nur Bestandteil einer fragwürdigen kulturellen Selbstbestätigung, selten ein wirklicher Zeitgenosse des gegenwärtigen intellektuellen und künstlerischen Lebens. Aus all dem ergibt sich für das, was das Programm dieses Kongresses als »Episteme des Theaters« bezeichnet, eine erste Folgerung. Als komplexes Gefüge aus Künsten, Sprachen, Institutionen, Raum- und Zeitstrukturen benötigt nach meiner Überzeugung Wissenschaft vom Theater einen emphatisch erfahrungstheoretischen Zugang. Nur von einer Theoretisierung der nahegelegten, ermöglichten, intendierten oder faktisch eingetretenen Erfahrung her ist die Weite und mehrdimensionale Vielfalt dessen, was heute legitimerweise ›Theater‹ heißt, zu erfassen.
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Ich möchte das an dieser Stelle als Behauptung stehen lassen und noch zwei weitere Aspekte nennen, die mir für das Fach derzeit relevant erscheinen. Zum einen dies: die Position der Theaterwissenschaft ist institutionell bedroht, so wie es andere unprofitable Wissensgebiete auch sind. Sie darf sich jedoch nicht zu retten versuchen, indem sie ihre Abschaffung von innen heraus selbst betreibt und sich freiwillig in zweit- und drittrangige Soziologie, Philosophie oder Kulturwissenschaft transformiert. Das wäre der Selbstmord aus Angst vor dem Tod. Sie muss ihrem Gegenstand, der bei aller Politik, Gesellschaftlichkeit und philosophischer Reflexion nur von ästhetischer Erfahrung erschlossen wird, die Treue halten. Zum anderen die Geschichte. Kommerzialisierung bedeutet wesentlich Verdrängung der Geschichte durch die vorherrschende absolute Besetzung des Bewusstseins mit Gegenwart. Wie andere Geisteswissenschaften auch, muss Wissenschaft vom Theater sich also der doppelten Verpflichtung stellen, geduldige Reflexion statt überhasteter Tageskritik und historische Rückvergewisserung statt kurzatmiger sogenannter Aktualität im Blick zu haben.
Ein Danaergeschenk von Aristoteles In diesem Sinne beginne ich meine skizzenhafte Überlegung zum historisch wie systematisch nicht unkomplizierten Verhältnis von Theorie und Theater mit einem großen Schritt zurück, nämlich mit einem Blick, der von Moderne und Postmoderne her auf die Poetik des Aristoteles fällt, einem der Gründungsdokumente unserer Befassung mit Theater. Mit ihrer Hochschätzung der Tragödie als Medium einer Erkenntnis und als Erkenntnisprozess hat die aristotelische Geste der Kunst ein Danaergeschenk dargebracht. Jeder kennt die berühmte Feststellung der Poetik, die Tragödie sei ›philosophischer‹ als die Geschichtsschreibung. Denn diese halte nur fest, was wirklich geschehen sei, die Tragödie hingegen, was nach Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit stets oder in der Regel geschehe: also nicht Empirie, sondern logische Ordnung. Zum einen unterstellt diese Geste die Tragödie – und zwar umso unwiderstehlicher, als sie sie scheinbar erhebt – dem primären und überlegenen Logos der Philosophie, der Jurisdiktion des abstrakten Begriffs, der am Ende allein über den Wert der Tragödie zu befinden vermag. Zum zweiten impliziert dieses Lob eine Verpflichtung der Tragödie auf dieses, ihr ›philosophischeres‹ Wesen. Mit Aristoteles beginnt eine Tradition der philosophisch-theoretischen Abneigung gegen die Oberflächlichkeit, Vergänglichkeit und Unruhe des Theaters, die heute kritisch zu demontieren ist. Aber deswegen ist Aristoteles keineswegs als voreingenommener Verächter der Theaterkunst anzuprangern. Seine Poetik ist voll der quer durch die Zeiten verdienstvollsten und wirkungsreichsten Bemerkungen. Es geht vielmehr um die mit seiner Geste verbundene virulente Denkform, die Sinnen und Affekten keinerlei eigene ›spontane‹ Logik zutraut, während der Begriff aus sich selbst heraus schafft. Diese, bei Lichte besehen nicht minder spontane, nämlich einfach behauptete Priorität des Begrifflichen findet ihren Nie-
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derschlag in der seither systematischen und in der abendländischen Denkweise beinahe zwanghaften Abwehr des Theaters als solchem. Immer wieder lässt sich die Wirksamkeit dieses Denkmusters in Theaterdebatten beobachten, wo Sinn statt Spiel, Erkenntnis statt Performance und Logik statt sinnlicher Verwirrung eingefordert wird, so als verstünden sich diese Wertkriterien einfach von selbst. Für die europäische Theorie ist die theaterfeindliche Grundhaltung jedenfalls von allergrößter Bedeutung geworden. Wir können sie logozentrisch nennen. Theater lässt sich als fortwährende Katachrese des logischen Denkens betrachten.1 Es hält sich, störend, in Sichtweite von Philosophie auf und ist doch nicht Theorie, vielmehr ›nur‹ Bild, Geschehensverlauf, Klangkörper, Geste und körperliche Aktion. Theater ist unheilbar (sogar bei Brecht) mit einem ›Mangel‹ an Klarheit und Eindeutigkeit behaftet und befindet sich doch fortwährend in nächster Nähe zum philosophischen Fragen. Die Verknüpfung von Heterogenem (Körper, Sprache, Raum, Rhythmus) zu einer sinnlich-mentalen Wirklichkeit, zu einer nach dem Maße der Vernunft unlogischen, aber gleichwohl strukturierten Wirklichkeit, erzeugt die täuschende Anmutung von ›Denken‹. Und es erzeugt zugleich unwiderstehlich die Zumutung zu denken. Umgekehrt ist aber an den Umstand zu erinnern, dass Philosophie und Theorie, die sich gegen die sinnliche Darstellung des Theaters wehren, in ihrer eigenen Notwendigkeit der Darstellung stets vom Problem einer unvermeidlichen Dimension von Rhetorizität und Inszenierung, mithin vom Problem ihrer eigenen Theatralität heimgesucht werden. Was im Dialogcharakter vieler theoretischer und philosophischer Texte von Platon über die Renaissance bis zu Diderot und bis in die Gegenwart hinein manifest wird, bringt eine tiefere, grundlegende – oder besser, entgründende und den Grund stets wieder entziehende – Problematik des Theoriediskurses zur Anschaulichkeit: seine selbst immer szenische Verfasstheit.2 Es ist daher kein Zufall, dass Philosophie immer wieder Theater thematisiert und als Metapher in ihren Diskursen beharrlich mit sich führt. Platon hatte die Tragödie bekanntlich aus dem idealen Staatswesen ausgeschlossen und erklärt, die gerechte und gute Staatsverfassung selbst sei die »wahrhafteste Tragödie«. Die Bürger seien dadurch, dass sie das Leben der Polis gestalteten, selbst Dichter und müssten die Tragödiendichter als Rivalen und Antagonisten, als unwillkommene Mitbewerber um den Preis des schönsten Dramas ansehen.3 Das Theater der Tragödie wird also ganz explizit als Rivale der Philosophie tituliert, welche sich als Staat realisiert! Wie es Platon auch an Homer aus1 | Katachrese bezeichnet in der Rhetorik die ›missbräuchliche‹ Zeichenverwendung, die eine sprachliche Lücke schließt, um neuartige Gegenstände zu benennen oder fehlende Begriffsbezeichnungen bilden zu können. 2 | Zum architektonischen Charakter des Denkens vgl. Jacques Derrida, Die Wahrheit in der Malerei, Wien 1992. 3 | Vgl. Platon, Nomoi, in: Ders., Sämtliche Werke, hg. v. Walter F. Otto/Ernesto Grassi/ Gert Plamböck, Hamburg 1959, Bd. 6, S. 185f., 816 d-817e (Buch VII).
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setzte, führe die Tragödie die Götter nicht als eindeutig (›gut‹), sondern als zweideutig vor und wecke Zweifel an der grundlegend religiösen, ›optimistischen‹ Vorstellung einer ›gut‹ geordneten Verfassung des Seins. Überdies tendiere sie zur Valorisierung der Affekte, der Gefühle und führe zur ›Theatrokratia‹, die Platon darin zu erkennen glaubt, dass Menschen im Einflussbereich des Theaterspiels nicht nach rationalen Überlegungen, sondern getrieben von momentanen Gefühlsaufwallungen über Wesentliches der Polis entscheiden wollen. Seit einiger Zeit ist übrigens eine neue Variante dieses Konflikts zu erleben. Beinahe kein Theater, kein Festival, keine Kunstproduktion mehr, die sich nicht dadurch legitimieren will, dass sie die Kunst – statt die eigentümliche Leistung der ästhetisch-theatralen Anmutung ins Licht zu rücken – durch eine alles umfassende Diskursivierung zu begründen sucht. Derlei ›philosophische‹ Diskursivität ist jedoch oft genug nur der Tagesmode abgelauscht und aus schlecht und hastig verdauten Theoriestichworten gebastelt. Aber auch wo dem nicht so ist, läuft – diese Warnung liegt mir am Herzen – die theoretische Adelung der Kunst im Grunde immer Gefahr, erneut deren bewusstlos betriebene Entwertung zu befördern. Aristoteles, immer noch.
Rivalität von Denken und Schauen (Platon) Die Rivalität zwischen Politik/Philosophie und Theater ist keine bloße Pointe oder Metapher. Sie ist real, denn sie stellt das Echo eines – ungelösten – Grundproblems der platonischen Philosophie und der europäischen Theorietradition dar. Dort, wo sie den Erkenntnisprozess selbst zu denken sucht, in der Epistemologie, verstrickt sich die philosophische Theorie schon bei Platon in eine unüberwindliche Zweideutigkeit, die sehr schön von Ulf Schmidt herausgearbeitet wurde.4 Platon trennte kategorisch zwischen ›Opsis‹, der Schau und ›Nous‹, dem denkenden Verstand (im Unterschied zu Auffassungen der homerischen Zeit, in der zwischen Sehen und Denken eher eine Art von Kontinuum angenommen wurde). Opsis, das ist der entscheidende Punkt, ist grundsätzlich irrtumsanfällig, allerorten können die Sinne irren. Der Nous in seiner inneren Logizität ist dagegen Ort möglicher Wahrheit. Es entstand mit dieser Trennung jedoch ein heilloses Problem insofern, als für alles Erkennen eine bestimmte Aktivität und Fähigkeit des Vorstellens und der geistigen Anschauung unabdingbar bleiben: ›Phantasia‹, Imagination. Wie sollte nach Platons kategorischer Trennung das Verhältnis beider überhaupt noch in den Blick genommen werden können? Theater ist der Ort der Schau, eine »Schauanlage«, wie uns Ulrike Haß gezeigt hat.5 Sofern aber Erkennen seit Platon wesentlich gerade jenseits des Schauens gedacht werden 4 | Ulf Schmidt, Platons Schauspiel der Ideen. Das »geistige Auge« im Medien-Streit zwischen Schrift und Theater, Bielefeld 2006. 5 | Ulrike Haß, Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform, München 2005, S. 143ff. und passim.
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soll, jenseits des Bildes, noematisch, rein logisch und nicht sinnlich, weist die Geschichte der spannungsvollen Rivalität und der wechselseitigen Denunziation von Theorie und Theater zurück auf die ungelöste Frage der Theorie selbst, wie eigentlich ihr eigenes ›Sehen‹ theoretisch zu ›sehen‹ sei. Das Altgriechische kannte eine Vielzahl von Wörtern, die das Sehen jeweils unter einer anderen Beleuchtung bezeichnen (blepein, horan, idein, skeptomai u.a.), darunter auch das Verbum theorein oder medial: theasthai. Dieses schenkte der Theorie (und dem Theater) den Namen, bezeichnet jedoch zugleich und paradoxerweise gerade dasjenige Sehen, das der Philosophie am entferntesten zu liegen scheint. Ulf Schmidt zitiert in seiner Studie Bruno Snell: »Theasthai ist gewissermaßen sehen und dabei den Mund aufsperren – wie gaffen.«6 Man wird ganz Auge, schaut eher hingerissen als deutlich unterscheidend (letztere Weise des Sehens wird durch das Verb skeptomai bezeichnet, von dem Skepsis hergeleitet ist). Jenes Sehen also, das in theoria7 ebenso wie im Wort Theater steckt, zeigt sich uns auf der einen Ebene als sinnfernes Staunen, als ekstatische Schau oder begriffsloses Gaffen. Nun kehrt aber dasselbe Wort theoria bei Platon am anderen Ende der Skala wieder und bezeichnet dort den allerhöchsten Punkt des Denkens, die göttliche Anschauung der Wahrheit. An Stelle einer hier nicht leistbaren, detaillierten und notwendig umfangreichen Lektüre, möchte ich eher, anschließend an die Studie von Ulf Schmidt, resultativ eine Behauptung formulieren: Die Philosophie ist unvermeidlich selbst mit einer »Opsis« geschlagen, einem notwendigen Moment des begriffslosen Staunens vor einer Aufführung. Das prinzipiell dem Irrtum geweihte Moment der Phantasie, der sinnlichen Anschauung, der imaginierenden Vorstellung des Abwesenden ist zugleich absolut notwendig, um Erkennen des Wahren zu ermöglichen – mit der Folge, dass die Erkenntnis des Wahren sich vom trügerischen Schein des Theaters, die theoria vom theatron niemals rein ablösen kann, so sehr sie dies auch von sich behaupten mag. Dieser Aufführungscharakter des Denkens erweist sich nicht zuletzt in der ›Dramaturgie‹ vieler philosophischer Abhandlungen. Man denke nur an das gleichsam ›Szenische‹ der Texte Platons und parallel an die Struktur der Befragung und Untersuchung, die, nicht nur im Ödipus, den tragischen Dialog der Antike prägt. Theorie bleibt bei ihren Versuchen, ein a-sinnliches Theater des Logos aufzuführen, stets verwiesen auf eine gewisse Theatralität oder Anschauung. Es scheint diese unabweisbare Theatralität im Denken selbst zu sein oder, noch genauer, das vergebliche Bemühen des Denkens, diese Theatralität dennoch abzuweisen oder zu verleugnen, die für die durchgängige ›Abwehr‹ des Theaters durch die Theorie verantwortlich ist. Es fungiert als Sündenbock. 6 | Schmidt, Platons Schauspiel der Ideen, S. 176. 7 | Wie es bei vielen Termini der griechischen Philosophie der Fall ist, bezeichnet das Wort theoria zudem nicht nur die subjektive Seite, das Denkkonstrukt, sondern auch dessen Objekt. Theoria heißt auch Schaugefüge, Festumzug.
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Diese Problematik lässt auch den Grund für viele zeitgenössische Debatten über Theater plausibel werden. Man redet gleichsam aneinander vorbei. Die einen verlangen vom Theaterspiel, dass es sich am Ende in philosophische Reflexion umwandeln lassen müsse, die anderen privilegieren das Moment der sinnlichästhetischen Wahrnehmung mit ihrer Affektwirkung, die aller begrifflichen Aneignung eine Grenze setzt. Mit nur wenig Vergröberung lässt sich sagen, dass im europäischen Theaterdiskurs das Sinnliche nur zugelassen ist als Double – und zwar als tendenziell stets defizitäres Double – des Logos. Nicht zuletzt dieser alte und neue Hader zwischen Theorie und Theater ist es, der die große, von Jonas Barish verfasste Geschichte des »anti-theatrical prejudice« begründet.8
Vom Ideal, den Anschein des Denkens zu vermeiden Das Verhältnis von Tragödie und Philosophie (und Theorie im Allgemeinen) findet sich bei Hegel exemplarisch ausformuliert: Kunst (das Ästhetische) bleibt stets unter und hinter der wertvolleren und höheren Sphäre des Begriffs zurück. Sie ist im Licht des Begriffs a priori defekt, partiell dunkel. Das »sinnliche Scheinen der Idee«, Hegels begeisterte Formel für das Ideal des Kunstschönen, trägt schon den Keim in sich, Kunst überflüssig zu machen, indem ›künftig‹ (kommend, in immer größerer Annäherung) das Sinnliche sich ganz und gar hinwegzuheben hat, um die Idee in den höheren Stufen der Religion und dann des reinen Begriffs gänzlich freizugeben, sie von jeder ›Verunreinigung‹ mit dem sinnlich-undenkbaren Materiellen zu erlösen. Auch intern, im Stufenbau der Künste, spiegelt sich diese Tendenz hin zum höchsten Ideal einer ultimativen Gestaltlosigkeit jenseits aller Sinnlichkeit, auch der ästhetischen Sinnlichkeit. So ordnen sich die Künste ihrem Niveau nach derart, dass ganz unten diejenige Kunst steht, die am meisten materielle Schwere aufweist (Architektur, Stein) und an oberster Stelle diejenige, die als spirituellste Kunst der Materialität ihrer Signifikanten am entferntesten scheint, die Poesie. Auf ihrem Höhepunkt geht Poesie ihrerseits in Prosa über, in das Medium des Begriffs: Ende der Kunst. Ließe sich im Begriff etwa noch ein sinnlicher Rest vermuten, so wird die Vollendung der Philosophie selbst als Übergang in totale Gestaltlosigkeit vorgestellt. Alle, auch die stärksten, zerreißendsten Widersprüche, müssen dann dem Geist zum Besten dienen. Am Ende der Phänomenologie des Geistes findet sich die Utopie des bei sich seienden Geistes als Ekstase. Wie das Wahre der »bacchantische Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist«, so »schäumt ihm die Unendlichkeit« wie Champagner in der reinen, sich selbst durchsichtig gewordenen Seinsweise des Denkens.9 Alle Lust, auch die an Stoff, Schein, Spiel und Form, welche die Kunst 8 | Jonas A. Barish, The Antitheatrical Prejudice, Berkeley/Los Angeles, CA 1982. 9 | Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, n.d. Text der Originalausgabe hg. v. Johannes Hoffmeister, Hamburg 1952, S. 564. Das absolute Wissen mündet in eine Seinsweise, in der es nur noch die absolute »Gewißheit seiner selbst«
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bietet, hat der Geist in die Sphäre denkender Abstraktion aufgenommen, zum begeisterten Taumel des reinen Denkens, dem kein Stoffliches, kein Mentales, dem nichts (Göttliches und) Menschliches mehr fremd ist. Diese Emphase lässt alle Gestalthaftigkeit und somit Kunst insgesamt hinter sich. Das ist die Provokation und die Grenze von Hegels Kunsttheorie, vielleicht seiner Philosophie, dass sie ihr Telos am Ende nur jenseits aller Gestalt und Gestaltung denken kann und somit Gestalt auch als Gestalten, das Ästhetische überhaupt, nur als negative, überwundene Begrenzung und Schranke kennt. Das Ideal des Schönen (in der Kunst), jenes »sinnliche Scheinen der Idee«, zielt darauf ab, dass die »Idee« (die in Hegels Sprache so viel wie die Wirklichkeit als begrifflich durchdrungene bedeutet) erscheinen soll – aber gerade nicht im Milieu des Begriffs, sondern durch und durch versinnlicht. Das Ideal des Schönen verlangt somit zweierlei zugleich. Zunächst muss als Kern des Schönen ein Theoretisches gegeben sein: Das Ideal bringt die »Idee« zur Darstellung, zum »Scheinen« oder, in der kantischen Version, das Schöne erscheint oder ist vielmehr das ›Symbol der Sittlichkeit‹. Insofern bleibt die philosophische Ästhetik auf ihrem Höhepunkt eine Inhaltsästhetik. Zugleich aber, und nicht minder zwingend, muss das Schöne den Anschein des Denkens geradezu peinlich vermeiden. Theorie, Denken selbst ist, wenn es nackt daherkommt, für das Theater und für die Kunst in der klassischen Tradition ein red light district, verbotenes Terrain, auf dem sie sich zu beflecken und zu verlieren droht. Die in ihr sedimentierte Reflexion darf nicht erscheinen – auch nicht die in ihre Entstehung investierte, also, weiter gefasst, keine der bewussten, gedachten intentionalen Akte oder die Mechanismen der Konstruktion des Schönen. »Schlank und leicht, wie aus dem Nichts gesprungen« steht, so Schiller in Das Ideal und das Leben, das Schöne »vor dem entzückten Blick«. Theater – wie alle Kunst – bleibt dieser doppelten Bestimmung zufolge im Kern Philosophie (auf einer beschränkten Stufe des Selbstbewusstseins). Man darf nur in der Anschauung diesen Kern nicht bemerken: »Bilde, Künstler, rede nicht!« Aus diesem Grund muss zwar das Schöne stets wieder durch Theorie rückübersetzbar sein in den Begriff, den es illustriert. Wehe jedoch, wenn ein Theater seinerseits riskiert, Denken, Reflexion, gar Reflexion auf sein eigenes Gemachtsein direkt vorzuführen. »Selten so gedacht«, ist dann die ausgesprochene oder unausgesprochene polemische Reaktion der Kritik. Theorie oder Episteme des Theaters findet heute im doppelten Sinn ›nach‹ Hegel statt. Das besagt zunächst, dass sie sich selbst oder ihren Gegenstand, das (ebd., S. 556), »Gleichheit des Selbsts mit sich« (ebd., S. 560) gibt. An diesem Ende, wenn alle Erinnerung nur noch Verdauungsarbeit an der »träge[n] Bewegung und Aufeinanderfolge von Geistern« (ebd., S. 563) ist, die seine Geschichte darstellen, ist der Geist trunken: »nur aus dem Kelche dieses Geisterreiches/schäumt ihm seine Unendlichkeit« (ebd., S. 564). Am Anfang der Phänomenologie des Geistes findet sich die Formel vom »bacchantischen Taumel« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: Ders., Werke in 20 Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1970, Bd. 3, S. 46.).
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Theater, nicht vom Moment der Reflexion dispensieren kann. Ebenso wenig geht es jedoch darum, das erkennbar schrumpfende Reich des Ästhetischen vom Imperialismus der Begriffssprache überrollen zu lassen. Die wie immer auch fragwürdigen Pflänzchen der Unmittelbarkeit dürfen nicht überwachsen werden vom nahrhaften Korn (oder Stroh), das in den immer neu gestalteten Begriffsmühlen gemahlen (oder gedroschen) wird. Beide Verkürzungen sind tödlich: sowohl die positivistische, nur sehr scheinhaft ›wissenschaftliche‹ Objektivierung oder Semiotisierung, als auch die theoretische Feier einer undurchdringlichen Präsenz. Ich denke, dass sich in der Theoretisierung der Erfahrung des Theaters ein Weg zeigt, keinen der beiden Aspekte zu verschütten.
»Stammeln in fremder Sprache« Eine gegenläufige Weise der Theoretisierung des Theaters findet man in der philosophischen Tradition vor allem bei Nietzsche und einigen Denkern, die seinen Spuren folgten. Nietzsche spricht an einer Stelle von der »Besonnenheit, die der dramatische Künstler besitzt, wenn er sich in andre Leiber verwandelt, aus ihnen redet und doch diese Verwandlung nach außen hin in geschriebenen Versen zu projizieren weiß«10. Das Bedeutsame an dieser Notiz ist, dass Nietzsche hier vom Theater her denkt und also die Sprache des Dramas als wesentlich defizienten Modus einer Theatralität, nämlich der von Gebärde und Musik, begreift. Die mimetische Begabung bremst sich in der Sophrosyne, der Besonnenheit, welche die dramatische Kunst fundiert, gleichsam aus und nimmt die Form einer künstlichen, artifiziell rhythmisierten Sprache an. So kann Nietzsche sagen, dass »für den Dramatiker Wort und Vers nur das Stammeln in einer fremden Sprache sind, um in ihr zu sagen, was er lebte und schaute und was er direkt nur durch die Gebärde und die Musik verkünden kann«11. Letztere wären demnach eigentlich das, was durch die »geschriebenen Verse« hindurch wahr-zu-nehmen wäre. Das widerspricht radikal dem Duktus der Tradition, die in der poetischen Formulierung (und erst recht in der Theatralität) einen ›nur‹ ästhetischen, unklaren, der theoretischen Interpretation und deutenden Aufhellung bedürftigen Ausdruck feststellt, der defizitär gegenüber dem ›eigentlichen‹ Medium des Wahren, dem Begriff, bleibe.12 Ich finde hier bei Nietzsche einen entscheidenden Wink dafür, aus welchem methodischen Blickwinkel sich auch die dramatische Literatur, 10 | Friedrich Nietzsche, »Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen«, in: Ders., Werke in drei Bänden, hg. v. Karl Schlechta, München 1966, Bd. III, S. 349-413, hier S. 364. 11 | Ebd., S. 365 [Herv. H.T.L.]. 12 | Nietzsche erklärt an der gleichen Stelle, es sei ganz ebenso auch »der Ausdruck jeder tiefen philosophischen Intuition durch Dialektik und wissenschaftliches Reflektieren zwar einerseits das einzige Mittel, um das Geschaute mitzuteilen, aber ein kümmerliches Mittel, ja im Grunde eine metaphorische, ganz und gar ungetreue Übertragung in eine verschiedene Sphäre und Sprache.«
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der Text, das Residuum des Verbum im Theater, anschauen ließe: nicht nur das eigentlich szenische Moment, auch der Text ist von der Theatralität her zu lesen, die im dramatischen Text nur eine ihrer Modulierungen findet. Vergewissern wir uns des doppelten Resultats, dass im Mainstream des Denkens über Theater eine sonderbare Ambivalenz festzustellen ist. Einerseits, und das ist ein Erbe schon der antiken Philosophie, wird als Kern des Theaters behauptet, dass es wesentlich ein Denken beinhaltet, illustriert, manifest machen muss. Andererseits darf dies aber nur in sinnlicher Weise geschehen. Kant hatte bekanntlich die allergrößte Mühe, das Schöne begrifflich so zu konstruieren, dass nicht so gut wie alle großen Kunstwerke (aufgrund ihrer in vielerlei Hinsicht unübersehbar sich aufdrängenden Begriffsbezogenheit) aus dessen Bestimmung herausfielen. Sowohl im Hinblick auf den Text etwa der Tragödie, in dem der Status des Gedachten durch seine Implikation in die Dramaturgie nicht unberührt bleibt, als auch und vor allem im Hinblick auf die konkrete szenische Darstellung ist eine geradezu abgründige Inkonsequenz der klassischen Ästhetik zu vermerken. Denn sie verdrängt, was sie doch weiß, dass nämlich alles Denken in der ästhetischen und erst recht in der szenischen Realität seinen diskursiven Status radikal verändert und in ein anderes, nicht mehr einfach begriffliches Sein übergeht.
Zur gedankenlosen Seite des Gedankens Man wird dies vielleicht für die vielen sinnlichen Aspekte des Szenischen konzedieren und dennoch auf dem Diskursiven des Theatertextes bestehen. Aber sogar ein direkt auf dem Theater ausgesprochener Gedanke wird, aufgeladen mit Körpergestik und Stimme, transformiert in ein durch und durch fragwürdiges, in der Szene fragliches und nur vorläufiges ›Denken‹. Sprache ist einerseits Ausdruck des Menschen im emphatischen Sinn, Manifestation seiner selbst als sprechendes Wesen. Und sie ist Setzung, Behauptung von Tatbeständen. Im Theater schiebt sich fortwährend die sinnferne Ausdrucksdimension vor die Dimension einer gedanklichen Setzung.13 Szenische Setzung ist immer schon etwas ganz anderes, ist weniger und mehr als sprachliche Setzung eines Sachverhalts. Ein Gedanke ist, im Spiel der Bühne artikuliert, nie mehr der behauptete Gedanke, der er war. Der Logos der Rede ist, vollends evident wird das im dramatischen Spiel, Wirkungsabsicht, Rechtfertigung, zweifelhaftes Spiel mit der Ahnungslosigkeit des Anderen, Ausdruck von Wahn und Hass, ›sound and fury‹. Als Moment des Spiels hat der Gedanke, etwas scharf formuliert, im Prinzip nicht mehr ›Tiefe‹ als eine Handbewegung, eine Sprechpause, die nächste beste Geste, ein Schritt oder ein Schlag. Das spricht der Arroganz eines sich frei von jeglicher Determinierung durch die Physis wähnenden, denkenden Bewusstseins Hohn. Denken ist weiter13 | Was neuerdings an den realen Performativen von hate speech und excitable speech durch Shoshana Felman, Judith Butler und andere diskutiert wurde.
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hin in allem Theaterspiel, nicht nur dem dramatischen, zurückgekettet an den Sprechenden, verunklart durch die Anbindung an die Physis des Akteurs. Die im Alltagsbewusstsein meist fälschlich angenommene, in Wahrheit sehr scheinhafte Abkoppelbarkeit des Gedankens von der Physis, vom Agon, vom Interesse wird von der Szene bereits qua Szene unglaubwürdig. Kein Gedanke, der hier nicht als ›Theater‹ erfahren wird, als nur aus der Situation heraus entstanden, sinnvoll und gültig nur in ihr. Damit ist er abgelöst vom Anspruch auf Wahrheit, mag er im Moment auch noch so sehr als definitiv gewonnene Weisheit präsentiert erscheinen. Wenn eine auf der Bühne ausgesprochene Wahrheit stets mit der Möglichkeit aufgeladen ist, sich im nächsten Augenblick zu dementieren oder dementiert zu werden, so hängt das mit der Verfassung des Theaters oder der Performance als Live-Art unmittelbar zusammen – vereint doch schon die Temporalität des Theaters insgesamt die Zeit der Besucher und die Zeit des Werks (der Aufführung). Jeder Gedanke ist hier drastisch als eine Handlung, als ein Sprech-Akt exponiert. Genauer gesagt, er wird zu einem Sprechakt, dessen Kontext – und also dessen Sinn – gar nicht abgeschlossen ist und sein kann, da sein Geschehen Teil der in die Zukunft offenen Theatersituation ist. Die theatrale Temporalisierung moduliert entscheidend alles Gesagte und macht aus jedem fixen, fixierten Satz ein momentanes Ereignis – schon diesseits jener agonalen, dramaturgischen Verschiebungen, die seine Bedeutung im Drama erfährt. Was im Kontext jeden Theaters, jeder Dramaturgie, gleichviel ob dramatisch, prädramatisch oder postdramatisch, aufgrund ihrer agonalen und/oder expressiven Dimensionen eigens hervortritt, ließe sich die strictement gedankenlose Seite des Gedankens nennen, die allem Denken als Makel anhaftet, den es zu vergessen strebt. Damit geschieht freilich dem Denken nur, was allem Ernst, auch etwa dem moralischen, auf der Bühne widerfährt. Er wird hier von Anfang an ausgehöhlt, jede vorgegebene Geltung gerät ins Wanken. Denken wird, szenisch, ›eingewickelt‹. Es gilt der Satz: »Die Sinnlichkeit der Bühne ist von Hause aus dem Sinn nicht wohlgesonnen.«14 Die strukturelle Ereignishaftigkeit der Zeit des Theaters bedingt die theatrale Ent-Ernstung aller Wahrheit. Diese Tatsache ist theoretisch für alle Sprechakte geltend zu machen, aber sie wird in der Wirklichkeit der Theatersituation zur dominierenden Erfahrung der Relativität und Kontextbezogenheit aller Sprache. Theater muss man die Unabgeschlossenheit, Unvollständigkeit, Unabschließbarkeit des Kontextes nicht erst theoretisch imputieren, die, wie Jacques Derrida zeigte, den Sinn jedes Sprechakts letztlich ungesichert bleiben lassen.15 Offenheit ist in die Verfassung von Theater bereits eingetragen, sofern es untrennbar zugleich ästhetischer und realer, also zukunftsoffener Lebensprozess ist. In der Situation des Theaters ist oder wird der Sinn prinzipiell offengehalten, 14 | Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M. 1999, S. 366. 15 | Vgl. Jacques Derrida, Limited Inc., hg. v. Elisabeth Weber, Paris 1990, wo Derridas Austin-Kritik sowie seine Replik auf die Kritik von John R. Searle aufgenommen sind.
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von Prekarität gezeichnet, wackelig, schwebend. Man kann dies den grundlegenden Situationismus des Theaters nennen.
Denkspielraum Die Wahrnehmung des Theaters bleibt auch in der Gegenwart weithin der aristotelischen Logik verhaftet. Man ermisst deren Gewalt daran, mit welchen Schwierigkeiten jeder Versuch zu kämpfen hat, die Priorität einer para-logischen Ordnung als Paradigma der ästhetischen Form zu bestreiten und also dem Spiel, dem Zufall, dem blinden Stoff, dem, was in allem Denken ungedacht bleibt, ein Daseinsrecht zu sichern. Es geht aber in der Wissenschaft des Theaters, meine ich, gerade darum, einem anderen Denken, einem Denken des Anderen, und also auch einem Denken des Anderen im Denken selbst einen szenischen Spielraum zu gewähren oder ihm im Theater ein Spiel einzuräumen. Einen Denkspielraum. Lässt man sich von den Polemiken nicht beirren, die vom Theater unverdrossen die Kostümierung und Duplizierung eines Denkens oder auch eine eingängige Logik des Geschehens verlangen, so gewahrt man, dass im Licht der Gegenwart eher umgekehrt zu sagen ist: Kunst macht sich zur Aufgabe, begriffliche Ordnungen, Verordnungen, Anordnungen zu stören. Adorno schreibt in Minima Moralia, es sei die Aufgabe der Kunst, Chaos in die Ordnung zu bringen.16 Auch das meint an Ort und Stelle natürlich kein Plädoyer für ein Theater des Nicht-Denkens, sondern für eines, das den dialektischen Abenteuern und Verirrungen der Logifizierung nachspürt und wesentlich in Prozessen einer De-Potenzierung des Begriffs, nicht dessen Negation besteht. Umgekehrt ist es gerade die Forderung nach dem schönen Schein, oft als Verlangen nach ›Aufklärung‹ kostümiert, die in Wahrheit als eine Geste der Verbannung des Denkens aus dem Theater gelten kann: sofern man nämlich anerkennt, dass Denken nicht Affirmation sondern Zerrüttung von Gewissheiten, auch des besten und humansten Aufklärungsdenkens, bedeutet. Im Sinne platter Ideologisierung werden Probleme, wie ich sie zu skizzieren versucht habe, allzu leicht vom Tisch gewischt. Daher möchte ich abschließend betonen, dass Theater von Anfang an immer auch eine Art von Denken auf und mit der Bühne ist, eine Art von Denken als szenische Praxis. So wie Malerei eine Art des Denkens in Farben, Musik ein Denken in Klängen ist. Wenn sich aber die Tragödie das aristotelische Lob, sie sei so ›philosophisch‹, zu sehr zu Herzen nähme, dann verschwände sie, tragischer- oder ironischerweise, aus einer eigenen, inneren Dynamik heraus als Theater. Viele haben es sich angelegen sein lassen, in Tragödien zugespitzte, auch bis zum Paradox vorgetriebene dialektische und sonstige Widersprüche zu finden. Was aber wäre solch tragisches Theater, wäre es nichts anderes als ein illustriertes Theorieparadox? Wäre es nicht redundant, nur das Double eines Denkproblems auf die Bühne zu wuchten? Bewahrt nicht viel16 | Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1980, Bd. 4, S. 251.
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mehr eine gewisse, gleichsam ›dumme‹ Stofflichkeit – das Element von Zirkus, Gaffern, zielloser Neugier, Sensation, affizierter Sinnlichkeit und Affekt – das Theater davor, bloß ein minder begabter Verwandter des philosophischen Diskurses zu sein, zu dem ihn die Theorie seit alters gern machen will? Gerade der dumpfe Stoff, den das Denken nicht aufhebt, das Moment der Theatrokratie planloser und schlecht gemäßigter Gefühle sowie etwas, das man das ›TheatReale‹ nennen kann, also die unsaubere Trennung des kunstvoll Theatralisierten vom realen Alltag, erweisen sich als Dimensionen, die, seit ästhetische Autonomie auf bricht, verhindern oder doch potentiell zu verhindern vermögen, dass sich das Denken des Theaters auf ein bloßes Glasperlenspiel über anderswo viel besser Theoretisiertes reduziert. Das Theater soll darum, wie die Wissenschaft von ihm, seine trotzige Uneinsichtigkeit bewahren.
Über Setzungen Sieben Positionen zu Epistemen Birgit Peter, Klaus Illmayer, Nora Probst, Vivien Aehlig, Mayte Zimmermann, Daniel Rademacher, Lucas Herrmann, Jeanne Bindernagel
Die Gewissheit vom Wissen befragen Sieben Personen verfassen eine Keynote – diese Herausforderung wartete auf die Autorinnen und Autoren des Beitrags »Über Setzungen«, als sie sich im Winter 2013 für das Nachwuchsförderungsformat der Gesellschaft für Theaterwissenschaft entschieden. Dieses 2008 entwickelte Konzept ersetzte den bis dahin bestehenden Essaypreis der Gesellschaft für Theaterwissenschaft, der alle zwei Jahre anlässlich der Kongresse an eine Person vergeben wurde. Es war dem Vorstand der Gesellschaft ein Anliegen, einer größeren Gruppe von Doktorandinnen und Doktoranden die Möglichkeit zu geben, sich mit den einzelnen Kongressthemen vertiefend zu beschäftigen und in Teamarbeit eine gemeinsame Keynote zu entwickeln. In Mainz 2010, anlässlich des 10. Kongresses der Gesellschaft für Theaterwissenschaft »Theater und Subjektkonstitution«, wurde dieses Konzept erstmals als Keynote realisiert. Lorenz Aggermann, Danijela Kapusta, Christoph Meneghetti, Philipp Schulte, Simona Traviglianti und Julia Wehren zeigten unter dem Titel »Ich auf Probe. Einblicke in ein Theorie-Labor« auf, wie bereichernd eine vielstimmige Perspektivierung des Kongressthemas für die fachspezifische Diskussion sein kann. Zwei Jahre später folgte in Bayreuth zum Kongressthema »Sound und Performance« die Keynote »Hören als Methode« von Christine Ehardt, Ulrike Hartung, Sarah Mauksch und Katharina Rost, die medienhistorische, theatertheoretische und musikwissenschaftliche Zugänge verflocht. Der Frage nach den epistemologischen Voraussetzungen theaterwissenschaftlicher Forschungen unter Einbeziehung des eigenen Dissertationsprojekts gingen in mehrmonatiger Arbeit die dritte Gruppe von Doktorandinnen und Doktoranden nach: Vivien Aehlig, Jeanne Bindernagel, Lucas Herrmann, Klaus Illmayer, Nora Probst, Daniel Rademacher und Mayte Zimmermann. Beim ersten Treffen in Wien standen vermeintliche Gewissheiten des Gegenstandsbereichs und der Terminologie im Zentrum der Diskussionen, die sich bis zum September 2014
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zu sieben Positionen verdichtet hatten. »Über Setzungen« entwickelt über sieben individuelle Vortragsteile eine gemeinsame Problematisierung epistemologischer Prozesse im theaterwissenschaftlichen Feld. Klaus Illmayer eröffnet unter dem Titel »Politik der Setzungen« mit einer Diskussion fachinterner historischer Prozesse, die vermeintliche Gewissheiten über grundlegende Terminologien herstellten. Aus fachhistorischer Perspektive greift Nora Probst diesen Faden auf, indem sie einen »Pionier« der deutschsprachigen Theaterwissenschaft, Carl Niessen, und dessen theaterhistorische Sammlung, vor allem aber dessen Materialbegriff kritisch in das Zentrum ihrer Überlegungen setzt. Eine grundlegende Terminologie aus dem angloamerikanischen Sprachraum – ›theatre and performance‹ – untersucht Vivien Aehlig anhand der »Ur-Szene der amerikanischen Performancetheorie«, um einen epistemologischen Prozess im Spannungsfeld zwischen »Aneignung und Abgrenzung« kenntlich zu machen. Mayte Zimmermann führt die epistemologische Debatte unter dem Titel »Rücksicht auf Darstellbarkeit« mit der Hinterfragung von Inszenierungsstrategien von Wissen, die als zu berücksichtigender Subtext selbstkritische Reflexion erfordern, fort. Einen möglicherweise irritierenden Perspektivenwechsel vollzieht Daniel Rademacher mit seiner Frage nach dem »verwirrten Schauspieler« und bringt dabei das Spannungsfeld von Theaterpraxis und Theatertheorie ins Spiel. Ein Feld, wie Lucas Herrmann in »Wissen auf Probe« aufzeigt, das lange vor einem (Theater-) Ereignis bereits sowohl Wissen als auch Ereignisse kreiert. Theaterwissenschaftliche Grundlagen oder Gewissheiten als Analysegegenstand fokussiert schließlich Jeanne Bindernagel in ihrem Beitrag zur »Theaterwissenschaft auf der Couch«, allerdings aus einem psychoanalytisch-wissenschaftshistorischen Blickwinkel. Aus sieben individuellen Beiträgen entstand so die gemeinsame Keynote »Über Setzungen«, die das Herstellen von und die Gewissheit vom Wissen befragt.
Birgit Peter
Politik der Setzungen Für eine Auseinandersetzung mit Diskursen im Fach Theaterwissenschaft ist der jeweilige Zugriff auf den Untersuchungsgegenstand Theater ein wichtiger Analysefaktor. Damit verbunden sind vielerlei Formen des Theaterbegriffs, die sich nicht zuletzt dadurch unterscheiden, was sie einschließen und ausgrenzen. Ein Indikator für einen engen oder breiten Theaterbegriff findet sich im artikulierten Verhältnis zu ›Medien‹. Bereits die frühe Theaterwissenschaft in ihrer Gründungsphase in den 1920er Jahren ist mit einer Medien-Debatte konfrontiert.1 Die 1 | Vgl. Corinna Kirschstein, »Ein ›gefährliches Verhältnis‹ – Theater, Film und Wissenschaft in den 1910er und 1920er Jahren«, in: Friedemann Kreuder/Stefan Hulfeld/Andreas Kotte (Hg.), Theaterhistoriographie. Kontinuitäten und Brüche in Diskurs und Praxis, Tübingen 2007, S. 179-189.
Über Set zungen
mitunter widersprüchlichen Positionen zum Verhältnis Theater und Medien verdichten sich nach der Etablierung der Medienwissenschaft in den 1970er Jahren.2 Für eine wissenschaftshistorische Analyse lässt sich an diesen Debatten die Transformation des Faches Theaterwissenschaft ablesen. Zugleich ergeben sich Rückschlüsse für aktuelle Herausforderungen durch digitale Medien.3 Eine aufschlussreiche Position zum Verhältnis Theater und Medien findet sich in einem Dokument vom 29. Januar 1945,4 in dem die Integration der Filmwissenschaft im zwei Jahre zuvor eröffneten ›Wiener Zentralinstitut für Theaterwissenschaft‹ durch dessen Leiter Heinz Kindermann dargelegt wird.5 Er rückt das Feld der Filmwissenschaft ausdrücklich in den Einflussbereich der Theaterwissenschaft. Ohne viele Schwierigkeiten lässt sich das politisch-strategische Kalkül ausmachen, mit dieser Ausweitung das Wiener Institut im Kontext nationalsozialistischer Wissenschaftspolitik und -konkurrenz zu positionieren. Kindermann verweist nämlich zugleich auf ein Abkommen mit dem ebenfalls im Nationalsozialismus gegründeten Wiener Zeitungswissenschaftlichen Institut, »demzufolge das Zentralinstitut die Bearbeitung des Spielfilms übernimmt, während die Wochenschau als ausgesprochen aktuelle = publizistische Filmform in besonderen Übungen des Zeitungswissenschaftlichen Instituts behandelt wird«6. Das Interesse am Film als eigenständigen Untersuchungsgegenstand stellt sich für Kindermann als eine »Verflechtung, die immer wieder eine wechselseitige Erhellung beider Künste auf die fruchtbarste Weise ermöglicht« 7, dar. Die schon zuvor an anderen Instituten initiierte Ausweitung des Faches auf audiovisuelle Medien wird in diesem Dokument nochmals bekräftigt. Damit wird im Sinne des Nationalsozialismus zugleich der Anspruch erhoben, sich als Forschungsund Ausbildungsstätte für audiovisuelle Propagandamedien zu etablieren. Auf rhetorischer Ebene wurden diese Bemühungen nach dem Ende des Nationalsozialismus und der folgenden zehnjährigen »Verbannung« des NSDAP-Mitglieds Kindermann aufrechterhalten.8 2 | Vgl. Henri Schoenmakers et al. (Hg.), Theater und Medien/Theatre and the Media. Grundlagen – Analysen – Perspektiven. Eine Bestandsaufnahme, Bielefeld 2008. 3 | Einige dieser Herausforderungen finden sich in Ulf Otto, Internetauftritte. Eine Theatergeschichte der neuen Medien, Bielefeld 2013. 4 | Heinz Kindermann, Die Filmwissenschaft im Zentralinstitut für Theaterwissenschaft, TFMA Sammlung Kindermann, 1945. 5 | Zur Gründung des Wiener Instituts im Nationalsozialismus vgl. Birgit Peter/Martina Payr (Hg.), »Wissenschaft nach der Mode«? Die Gründung des Zentralinstituts für Theaterwissenschaft an der Universität Wien 1943, Wien/Berlin/Münster 2008. 6 | Heinz Kindermann, »Die Filmwissenschaft im Zentralinstitut für Theaterwissenschaft«, Typoskript, TFMA Sammlung Kindermann 1945, S. 1. 7 | Ebd., S. 5. 8 | U.a. getragen vom seit 1944 wirkenden Lektor Vagn Börge, der Lehrveranstaltungen zu Film abhielt, vgl. Christian Cargnelli, »›Das Seiende und Ewige selbst‹. Die Anfänge der
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Margret Dietrich (ebenfalls NSDAP-Mitglied), Kindermanns Assistentin seit 1943 und dessen Nachfolgerin als Ordinaria 1966, skizzierte auf dieser Basis Anfang der 1970er Jahre das Modell eines grund- und integrativwissenschaftlichen Gebildes, in dem interdisziplinär ausgerichtet Methoden aus anderen Fachgebieten unter Einbindung audiovisueller Medien (nun auch Fernsehen) unter dem gemeinsamen Dach der Theaterwissenschaft versammelt und angeordnet werden sollten.9 Die Transformation zu einer integrativ gedachten Theater- und Medienwissenschaft wurde aber andernorts angestoßen.10 Dort fand nicht nur eine Auseinandersetzung mit neuen methodischen und theoretischen Ansätzen einer ersten Generation von Medienwissenschaftler_innen statt, sondern es wurde explizit eine Neuausrichtung des Faches beschworen, auch um sich damit strukturell und inhaltlich von nach wie vor vorhandenen nationalsozialistisch-geprägten Wissenschaftsvorstellungen lösen zu können.11 Deutlich zeigt sich diese Entwicklung ab den 1970er Jahren an veränderten Namensgebungen einzelner Institute, die mit Bezeichnungen wie »Theater- und Medienwissenschaft« öffentlichkeitswirksame Signale setzten. Was dabei unter ›Medien‹ verstanden wird – und je nach Definition betrifft dies auch Theater selbst –, nimmt jedoch davon unabhängig bereits seit der Etablierung der deutschsprachigen Theaterwissenschaft in den 1920er Jahren eine bedeutende Rolle in der Binnenfachdebatte ein. Die dabei formulierten Positionen sind bereits ähnlich differenziert wie in den Folgejahrzehnten. Stark vertreten war der Anteil jener, die dem Medium Film skeptisch bis offen negativ gegenüberstanden, also eine abgrenzende Haltung einnahmen. Film wurde als Konkurrenz wahrgenommen, oft im Sinne eines Angriffs auf ein bürgerliches Kunst- und Bildungsideal, dem sich die frühe Theaterwissenschaft verpflichtet fühlte.12 Zugleich ist in den 1920er Jahren bereits ein funktionalistischer Zugang auszumachen, wobei in jeweils neuen audiovisuellen Medien und ihren Aufzeichnungsmitteln ein Potential erkannt wurde, der Theaterkunst ihre Flüchtigkeit so weit als möglich zu nehmen. Beide Zugänge, jener der Abgrenzung und jener einer Medienintegration auf formaler Technikbasis, lassen sich im Verlauf der Fachgeschichte in veränderter Intensität immer wieder Filmwissenschaft in Wien am (Zentral)Institut für Theaterwissenschaft«, in: Stefan Hulfeld/ Birgit Peter (Hg.), Theater/Wissenschaft im 20. Jahrhundert. Maske und Kothurn 55, 1-2 (2009), S. 213-226. 9 | Vgl. Margret Dietrich, »Sinn und Notwendigkeit von integrativwissenschaftlich koordinierter Grundlagenforschung in ihrer Beziehung zur Theaterwissenschaft«, in: Maske und Kothurn 17 (1971), S. 275-284. 10 | So z.B. die Gründung in Erlangen 1970, die sich einige Jahre darauf als Theater- und Medienwissenschaftliche Abteilung bezeichnete. 11 | Vgl. z.B. Arno Paul, »Theater«, in: Werner Faulstich (Hg.), Medienwissenschaft, München 1979, S. 316-355. 12 | Vgl. z.B. Stefan Corssen, Max Herrmann und die Anfänge der Theaterwissenschaft. Mit teilweise unveröffentlichten Materialien, Tübingen 1998.
Über Set zungen
auffinden.13 Entscheidend für den Erfolg dieser Zugänge ist, dass sie die Eigenständigkeit der Theaterwissenschaft und deren Deutungshoheit über das mediale Geflecht der Untersuchungsgegenstände nicht gefährden. Es kann somit im doppelten Sinne über Setzungen geredet werden: Einerseits darüber, wie Setzungen sich historisch formierten und veränderten, andererseits wie diese übersetzt wurden in ein ›neues‹ bzw. integratives Fachgebiet, wenn die bis dahin erfolgte Marginalisierung von Teilbereichen sich als nicht mehr zweckdienlich oder mit zu wenigen Vorteilen verbunden herausstellte. Zugleich wirken sich Veränderungen des Verhältnisses zu Medien auf die Episteme der Theaterwissenschaft aus und prägen somit nicht nur die Definition und die Diskurse des Faches, sondern auch die der Untersuchungsgegenstände. In der Bestimmung von Mediendiskursen zeigt sich somit auch ein Wechselverhältnis von Macht und Wissen.
Klaus Illmayer
Der Gegenstand (in) der Theater wissenschaft Die Frage danach, was ›Theater‹ in der Theaterwissenschaft eigentlich ist, begleitet die Diskurse unserer Disziplin als kontinuierliche Praxis der Selbstverungewisserung (spätestens) seit der Institutionalisierungsphase des Fachs in den 1920er Jahren. Verschiedene Theaterbegriffe haben in der Theoriediskussion immer wieder andere Definitionen erfahren, von denen jedoch keine in der Lage ist, das Theater in seiner Gesamtheit begrifflich zu erfassen.14 Begreift man theaterwissenschaftliche Untersuchungsgegenstände als Ereignisse, Aufführungen, symbolische Handlungen oder performative Phänomene im weitesten Sinne, so sind damit folgende Prämissen verbunden. (1) Die Transitorik eines sich als Prozess vollziehenden Untersuchungsgegenstands impliziert, dass dieser im Moment der wissenschaftlichen Verschriftlichung in der Regel bereits vergangen ist und deshalb (2) nur in einer medialen Verfasstheit zu aktualisieren ist. Das heißt, ein erneuter Zugriff erfolgt über die materiellen Spuren des Untersuchungsgegenstands, entweder über Objekte, die in die performativen Prozesse eingebunden gewesen sind, oder über Quellen und Medien, die diese Prozesse dokumentieren, repräsentieren beziehungsweise ›abbilden‹.
13 | Aufschlussreich für diese Beobachtung sind die gesammelten Beiträge in Helmar Klier (Hg.), Theaterwissenschaft im deutschsprachigen Raum. Texte zum Selbstverständnis, Darmstadt 1981. 14 | Vgl. Andreas Kotte, »Theaterbegriffe«, in: Erika Fischer-Lichte/Matthias Warstat/ Doris Kolesch (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/Weimar 2005, S. 337-344.
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Abb. 1: Sammlungsobjekte im Institut für Theaterwissenschaft (Vorraum), Ubierring 53, Köln um 1930, Foto: unbekannt, Theaterwissenschaftliche Sammlung, Universität zu Köln
Welche Rolle spielen also materielle Artefakte, Objekte oder Speichermedien für die Theaterwissenschaft?15 Welche Vorstellungen vom theaterwissenschaftlichen Gegenstand werden über die Auseinandersetzung mit materiellen Objekten vermittelt? Wie, so könnte zusammenfassend für die hier angestellten Überlegungen die Frage lauten, werden Bezüge zwischen einem ephemeren Untersuchungsgegenstand und seinen materiellen Spuren in der Theaterwissenschaft hergestellt? Und wie gestalten sich in diesem Zusammenhang die epistemologischen Aushandlungsprozesse? Sobald sich der theaterwissenschaftliche Blick in die Vergangenheit richtet, sind die materialisierten Spuren von ›Theater‹ unabdingbare Voraussetzung für die Forschung. Ein Ereignis ohne Spuren bietet keine Zugriffsmöglichkeiten für historiografische Fragestellungen. Selbst für die Auseinandersetzung mit zeit15 | Zur material culture im Theater und in der Theaterwissenschaft vgl. u.a. Gunhild Borggreen (Hg.), Performing Archives/Archives of Performance, Kopenhagen 2013; Kathi Loch, Dinge auf der Bühne. Entwurf und Anwendung einer Ästhetik der unbelebten Objekte im theatralen Raum, Aachen 2009; Andrew Sofer, The Stage Life of Props, Ann Arbor 2003; Diana Taylor, The Archive and the Repertoire, Durham/London 2003; sowie die Sonderausgabe Theatre and Material Culture, Theatre Journal 64, 3 (2012).
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genössischen Theaterphänomenen sind Dokumente und Quellen wie Erinnerungsprotokolle, Mitschriften oder audiovisuelle Aufzeichnungen von Relevanz. Es sind die Spuren des Theaters, die dessen wissenschaftlichen Diskurs formen und prägen.
Abb. 2: Carl Niessen mit Maske im Kreis seiner Studierende im Theatermuseum Köln, um 1935, Foto: Hermann Beissel, Theaterwissenschaftliche Sammlung, Universität zu Köln
Die theaterwissenschaftliche Disziplin ist aus der Überzeugung heraus entstanden, dass die seinerzeit vorhandenen Fächer keine geeigneten methodischen Werkzeuge zur Untersuchung von Theater geboten hätten. Während ihrer Institutionalisierungsphase war die Theaterwissenschaft analog zur Literaturund Kunstgeschichte in erster Linie eine historische Disziplin. Im Einklang mit diesem Selbstverständnis, das auch vom Rechtfertigungsdruck geprägt war, sich im Kanon der Geisteswissenschaften im Sinne Diltheys als Universitätsdisziplin zu behaupten, befasste sich die Theaterforschung nicht mit dem Gegenwartstheater, sondern begriff sich in erster Linie als Theaterhistoriografie. Damit waren die Pioniere der Theaterwissenschaft trotz oder gerade aufgrund der Flüchtigkeit ihres Gegenstands in erheblichem Maße auf Spuren, auf Artefakte der materiellen Kultur angewiesen. Ausdruck dieser Abhängigkeit war ein ausgeprägter Hang zum Sammeln von Zeitzeugnissen und Quellen. Theatersammlungen mit wissenschaftlicher Ausrichtung entstanden etwa um 1910 in Leipzig unter der Leitung von Albert Köster,16 kurz darauf in Kiel als Teil des Literaturwissen16 | Vgl. Corinna Kirschstein, Theater Wissenschaft Historiographie. Studien zu den Anfängen theaterwissenschaftlicher Forschung in Leipzig, Leipzig 2009, hier insb. das Kapitel »Die Sammlung Köster«, S. 118-134.
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schaftlichen Instituts unter Eugen Wolff17 sowie 1919 in Köln unter Carl Niessen18. Durch die Sicherung und Bewahrung theaterhistorischer Quellen schufen diese sammelnden Wissenschaftler nicht nur das Fundament für das Fach Theaterwissenschaft, sondern erweiterten zudem durch die Sammlung nicht-kanonischer Bestände dessen Repertoire um neue Forschungsfelder. Es wird deutlich, dass Diskurs und Sammlung in einem produktiven Wechselverhältnis stehen, das die Aushandlungsprozesse zwischen materiellen Artefakten und Gedächtnisspeichern einerseits und den Epistemen von Kultur- und Kunstwissenschaften andererseits widerspiegelt: Im Fall der Theaterwissenschaft beeinflusst das medienhistorische a priori in Form von Quellenmaterialien die Forschungspraxis, andererseits bedingen Praktiken wissenschaftlicher Wissensgenerierung stets auch die Zuschreibung, Beglaubigung und Wertung von Gegenständen als theaterhistorisch wertvoll und bestimmen sie damit als potentielle Sammlungsobjekte. Auf die Frage nach der Bedeutung wissenschaftlicher Sammlungen für das junge, sich mühsam konstituierende Fach Theaterwissenschaft lässt sich bei Foucault eine indirekte Antwort finden: Nichts ist tastender, nichts ist empirischer (wenigstens dem Anschein nach) als die Einrichtung einer Ordnung unter den Dingen. […] Die fundamentalen Codes einer Kultur, die ihre Sprache, ihre Wahrnehmungsschemata, ihren Austausch, ihre Techniken, ihre Werte, die Hierarchie ihrer Praktiken beherrschen, fixieren gleich zu Anfang für jeden Menschen die empirischen Ordnungen, mit denen er zu tun haben und in denen er sich wiederfinden wird.19
So wie sich im Lauf der Zeit die Auffassung dessen, was unter dem Theaterbegriff subsumiert wird, stetig verändert hat, so flexibel waren und sind auch die Konzepte und die strukturellen Ordnungsprinzipien von Theatersammlungen selbst. In diesem Sinne haben Theatersammlungen immensen Anteil am Prozess theaterwissenschaftlicher Wissensgenerierung, da die Frage der Konzeptualisierung von Sammlungen in wechselseitigem Bezug zu den kategorialen Ordnungssystemen des Faches steht und damit die disziplinären Taxonomien mitbedenkt.
Nora Probst
17 | Vgl. Eugen Wolff, Literaturwissenschaftliches Institut Kiel. Bericht über das erste Jahr: 22. Mai 1912 – 1913, Kiel 1913. 18 | Vgl. u.a. Sabine Herder, »Carl Niessen und das Institut für Theaterwissenschaft an der Universität zu Köln«, in: Walter Pape (Hg.), Zehn Jahre Universitätspartnerschaft Univerzita Karlova v Praze – Universität zu Köln, aus der Reihe Elektronische Schriftenreihe der Universitäts- und Stadtbibliothek, Bd. 3, Köln 2011, S. 135-156. 19 | Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M. 1971, S. 22.
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Zur Ur-Szene der amerikanischen Performancetheorie Im Sommer 1979 versammeln der Theatermacher und -theoretiker Richard Schechner und die Anthropologen Victor und Edith Turner Studierende der New York University zu einem Workshop, der zu einem zentralen Referenzpunkt der US-amerikanischen Performancetheorie werden sollte.20 Antrieb und Anliegen sind die Suche nach alternativen Formen des Verstehens und Vermittelns der Lebenswelten fremder Kulturen. Getrieben von der Unzufriedenheit mit den gängigen Dokumentationsformen ethnologischer Forschungen, die das spezifische Leben in einer Kultur stets zu verfehlen scheinen, richtet sich die Hoffnung auf das Theater als Ort der unmittelbaren Erfahrung und, damit verbunden, der Genese und Vermittlung von Wissen. Während Tabellen, Stammbäume, Karten, Skizzen, Beschreibungen, Listen und Lagepläne die Lebensrealitäten der in der Feldforschung beobachteten Subjekte – in Turners Fall die zentralafrikanischen Ndembu – in Abstraktion zur Erstarrung brächten, verspricht die Aufführung (performance) ethnologischer Beobachtungen ihre Komplexität und affektive ›Lebendigkeit‹ zu erhalten und als nacherlebbares Ereignis in der Gegenwart zu entfalten.21 Der Workshop ist jedoch nicht allein Schauplatz des Zusammentreffens von Theater und Anthropologie, sondern wird in seiner diskursiven Aufarbeitung zur Ur-Szene der Scheidung des Performance- und Theaterbegriffs. Die Beschreibung des gemeinsamen Annäherungsversuchs der Workshopteilnehmerinnen und -teilnehmer an die Lebenswelt der Ndembu fungiert in Turners Aufsatz »Dramatic Ritual/Ritual Drama« nämlich nicht nur als Argument für die Möglichkeiten des erfahrungsbasierten Erkenntnisgewinns, sondern vollzieht sich auch als Ringen um neue Begrifflichkeiten. Dabei, so wird sich zeigen, geht es vor allem um die Überwindung des Theaterbegriffs und des mit ihm verbundenen Modells illusionistischer Nachahmung. Detailreich schildert der Text das gemeinsame Ausprobieren und Verwerfen der Gruppe als Bewegung auf eine Art ›Kern‹ hin.22 20 | Ausführlich wird der Workshop reflektiert in: Victor Turner, »Dramatic Ritual/ Ritual Drama. Performative and Reflexive Anthropology«, in: Kenyon Review 1, 3 (1979), S. 80-93. Auf dem Höhepunkt der Debatten um die Institutionalisierung der Performance Studies in den USA nutzt W.B. Worthen den Workshop als Ausgangspunkt für eine Kritik der Dichotomisierung von ›Text‹ und ›Performance‹. W.B. Worthen, »Disciplines of the Text/ Sites of Performance«, in: TDR 39, 1 (1995), S. 13-28. 21 | Turner schreibt in »Dramatic Ritual/Ritual Drama« vom »›playing‹ of ethnography«, davon »to perform ethnography« sowie von einem »movement from ethnography to performance« (Turner, »Dramatic Ritual/Ritual Drama«, S. 81f., S. 92 [Herv. i.O.]). In späteren Texten findet sich dann auch die Formulierung »performed ethnography« (vgl. insb. Victor Turner/Edith Turner, »Performing Ethnography«, in: TDR 26, 2 (1982), S. 33-50). 22 | So werden die im Text beschriebenen scheiternden Annäherungsversuche z.B. als »fun, but off-center fun« bewertet (Turner, »Dramatic Ritual/Ritual Drama«, S. 86 [Herv. V.A.]).
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Insofern die Arbeit der Gruppe durch den Versuch geprägt ist, einen möglichst geringen Abstand zwischen den Mitteln des Verweisens und den Dingen, auf die sie zeigen, herzustellen, zielt sie auf die theatrale Logik des Stellvertretens. Nach einer ersten Leseprobe, in der Turner aus seinen Forschungstagebüchern vorträgt, versucht die Gruppe, mit Musik und Tanz die ferne Kultur der Ndembu in den Räumlichkeiten der New Yorker Performing Garage zu vergegenwärtigen. Der Versuch bleibt allerdings unbefriedigend. Als musikalisches Material sind nämlich nur Tonaufnahmen zur Hand, die nicht dem kulturellen Kontext der Ndembu entstammen. Auch Turners alternder Körper erweist sich als unzureichendes Medium zur Vermittlung der virtuosen Bewegungen der Ndembu. Das Vorführen der Tänze gelingt, so schreibt er, nur »to the best of my limited, arthritic ability«.23 Die Annäherung an die Lebensrealität der Ndembu könnte – so vermutet die Gruppe – jedoch durch Nachstellung eines konkreten Ereignisses endgültig gelingen. Man versucht schließlich ein Reenactment24 des Ndembu-Rituals des Namensübergangs Kuswanika ijina, das der Besänftigung umherirrender Geister Verstorbener dient. Ein Pinselstiel, der mit einem scharfen Küchenmesser angeritzt und in eine Bodenspalte gesteckt wird, steht für den Setzling des Muyombu-Baumes ein, der von den Ndembu zur Erinnerung an Verstorbene gepflanzt wird. Statt mit weißem Ton werden die Beteiligten mit glatt gerührtem Salz gesalbt. Den Platz der im Fokus des beobachteten Rituals stehenden Protagonistin Manyosa nimmt eine Regiestudentin ein. Turner selbst agiert in der Rolle des Dorfoberhauptes.25 Die Re-Inszenierung des Rituals im universitären Lernkontext erweist sich nicht nur als inszenatorische Herausforderung, sondern bringt auch das Vokabular, mit dem es beschrieben wird, ins Wanken. Die den Inszenierungsversuch antreibende Sehnsucht nach einem möglichst unmittelbaren Zugang setzt sich in der Diskursivierung des Reenactments fort. Auch der Text ringt darum, die Theatralität der Re-Inszenierung zu negieren. Angesichts der komplexen Ersetzungen und Symbolisierungen, die sich in der Aufführung des Rituals vollziehen, wird die Frage aufgeworfen, ob ein derartiger Annäherungsversuch an die Lebensrealitäten einer fremden Kultur gerade aufgrund der ihm inhärenten Theatralität nicht fehlschlagen müsse. Wird das Nachstellen des Rituals denn von den Teilnehmenden nicht schlicht als völliger fake erlebt? Auf diese rhetorische Frage folgt die knappe Antwort: »Oddly enough, according to the students, it did
23 | Ebd. 24 | In Turners Text wird der Begriff Reenactment zur Bezeichnung der Re-Inszenierung des Ndembu-Rituals nicht verwendet. Der Begriff scheint mir hier dennoch passend, insofern es auch in der bei Turner beschriebenen Re-Inszenierung darum geht, sich über die möglichst exakte Nachahmung eines konkreten historischen Ereignisses ›unmittelbar‹ an den Ort und in die Situation des vergangenen Geschehens zu versetzen. 25 | Vgl. ebd., S. 85ff.
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not.«26 In dieser kleinen Seitenbemerkung, dem leicht verstohlenen »komischerweise«, eröffnet sich der Blick auf das Spannungsfeld zwischen dem den Text bestimmenden Anspruch, die Aufführung des Ndembu-Rituals zum Ort des unmittelbaren Erkenntnisgewinns zu erheben, und der komplexen Situierung der Aufführung im Theatralen. Immer wieder arbeitet der Text an einer dichotomischen Ausstreichung des Theatralen, wenn darauf insistiert wird, dass die Re-Inszenierung des NdembuRituals einen unmittelbaren, regelrecht intimen Zugang zu den fremden Lebenswelten eröffnet: nämlich ein Verstehen, das – so ist zu lesen – darauf basiert, direkt in die Haut und eben nicht nur in die Rolle des Anderen zu schlüpfen.27 Poiesis, nicht Mimesis sei hier Prinzip.28 Dieses dem Reenactment zugeschriebene Potenzial der direkten Übersetzung verspricht dabei nicht allein eine persönliche, affektive Annäherung, sondern Einsichten, die zuverlässiger Prüfstein ethnologischer Forschungsergebnisse und damit Ausgangspunkt von Gewissheit sein können.29 Insofern es in dem von Turner skizzierten Modell einer ›performativen Anthropologie‹ um Vergewisserung geht, erweist sich das Theater, auf das sich die Hoffnungen in der Suche nach alternativen Formen der Genese und Vermittlung von Wissen richten, als Problem. Die dem Prinzip des Stellvertretens inhärente Distanz zwischen dem, was gezeigt, und dem, worauf verwiesen wird, erlaubt keine abschließende Gewissheit und öffnet die theatrale Geste immer dem Verdacht der Verstellung, des Verfehlens und Verfälschens. Dass das Reenactment des Ndembu-Rituals in seiner Diskursivierung dezidiert nicht unter dem Label ›Theater‹ firmiert, sondern verschiedentlich als lebendes Ritual, enactment, recreation, ritual drama oder eben Performance bezeichnet wird, und dass es im Text immer wieder vom Ruch des Theatralen freigesprochen werden muss, wird so lesbar als Versuch, den aufgeworfenen Verunsicherungen mit diskursiven Strategien der Stabilisierung zu begegnen. Diese vollziehen sich hier nicht zuletzt als Begriffsarbeit. Als Ur-Szene der amerikanischen Performancetheorie wird die diskursive Aufarbeitung des Reenactments so auch zur Szene der Scheidung des Performance- und des Theaterbegriffs, die sich im amerikanischen Performancediskurs in Folge mehrfach wiederholt. Das Modell eines auf Nachahmung basierenden Illusionstheaters ist dabei meist Gegenfolie für die Konturierung des Performancebegriffs. Diese diskursive Verengung des Theaterbegriffs ermöglicht die Verknüpfung des Performance26 | Ebd., S. 87 [Herv. V.A.]. 27 | Ebd., S. 81. 28 | Vgl. ebd., S. 84. 29 | Vgl. ebd., S. 90, S. 92f. Die Aufführung ethnografischen Materials wird als Beitrag zu einer Verstehensbewegung gewertet, die von der Auseinandersetzung mit Datenmaterial zur Aufführung und zurück führt und dabei ein regelrechtes ›Feuerwerk‹ an Einsichten – »a kind of hermeneutical Catherine wheel« (ebd., S. 90) – entfacht.
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begriffs mit Konnotationen von Unmittelbarkeit und Wirkmächtigkeit, die für den Erfolg des Performancebegriffs ganz entscheidend waren.30 Gleichzeitig erinnert das hier diskutierte Beispiel daran, dass die frühe amerikanische Performancetheorie vom Theater ihren Ausgang nimmt, hartnäckig an seiner Überwindung arbeitet und dennoch nie ganz mit ihm bricht. Am Anfang steht also ein Abschied, der immer auch ein unmöglicher Abwendungsversuch bleibt.
Vivien Aehlig
Rücksicht auf Darstellbarkeit »Zu den wesentlichen Erscheinungen der Neuzeit gehört ihre Wissenschaft«, so Martin Heidegger, und diese bestimme sich zentral dadurch, »dass das Erkennen sich selbst als Vorgehen in einem Bereich des Seienden, der Natur oder der Geschichte, einrichtet«.31 Folgt man diesen Überlegungen eines mit der Neuzeit einsetzenden Wandels der Erkenntnisbeziehungen von Mensch und Welt, so darf die Frage der Episteme nicht auf die (Erscheinungs-)Formen des Theaters beschränkt werden. Sie muss zwingend das eigene Forschen in seinem Wesen als wissenschaftlicher Disziplin in den Blick nehmen. Also ist nicht nur nach den Gegenstandsbereichen der Theaterwissenschaft zu fragen, sondern auch nach ihrer Bindung an bzw. Verstrickung in jene Praktiken der Ver-Gegenständlichung, welche die neuzeitlichen Wissenschaften als »Vorstellung«32 auszeichnen. Eine Vorstellung bedeutet mit Heidegger, »das Vorhandene als ein Entgegenstehendes vor sich bringen, auf sich, den Vorstellenden, zu beziehen und in diesen Bezug zu sich als den maßgebenden Bereich zurückzwingen«33 – denn »nur was dergestalt Gegenstand wird, ist, gilt als seiend.«34 30 | Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit der diskursiven Etablierung des auf die Opposition von fake vs. wirkmächtig verengten Gegensatzes von ›Theater‹ und ›Performance‹ siehe: Stephen J. Bottoms, »The Efficacy/Effeminacy Braid. Unpicking the Performance Studies/Theatre Studies Dichotomy«, in: Theatre Topics 13, 2 (2003), S. 173-187. Der Aufsatz, auf den Bottoms im Titel anspielt, ist: Richard Schechner, »From Ritual to Theatre and Back. The Structure/Process of the Efficacy-Entertainment Dyad«, in: Educational Theatre Journal 26, 4 (1974), S. 455-481. 31 | Martin Heidegger, »Die Zeit des Weltbildes«, in: Ders.: Holzwege, Frankfurt a.M. 2003, S. 75-114, hier S. 75, S. 77 [Herv. M.Z.]. 32 | Ebd., insb. S. 77, S. 87. Der Begriff »Vorstellung« impliziert durch seine Endung bereits Heideggers Argument einer neuzeitlichen Amalgamierung von Erkenntnisvorgang (Akt) und Seiendem (Gegenstand). Aus heutiger Perspektive wäre von einer performativen Erkenntnisbeziehung zu sprechen, Heidegger spricht von einer »angeeigneten Szene« (vgl. ebd., S. 91). 33 | Ebd., S. 91 [Herv. M.Z.]. 34 | Ebd., S. 87. Mit der bewussten Verwendung des Wortes »dergestalt« ermöglicht Heidegger hier eine Engführung seiner Ausführungen zur neuzeitlichen Seinsvergessenheit
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Mein Beitrag möchte das Gegenständliche als Voraussetzung von Erkenntnisbeziehungen problematisieren. Dies geschieht auf Basis einer Auseinandersetzung mit der Arbeit Frontalunterricht des Berliner Künstlers Ulf Aminde aus dem Jahr 2009, die exemplarisch die Zugriffs- und Aneignungsgeste von Vorstellungen (im doppelten Wortsinne) verhandelt und damit nicht nur gegenwärtige Theaterpraktiken zu überdenken gibt, sondern auch andere Anforderungen an eine Theaterwissenschaft jenseits der Dichotomie von beispielhafter ›Praxis‹ und erklärender ›Theorie‹ stellt. Bezeichnenderweise stellt auch Michel Foucault die Auseinandersetzung mit einer künstlerischen Arbeit an den Beginn seiner Annäherung an ein Denken der Episteme: Foucault eröffnet Die Ordnung der Dinge mit Blick auf das Bild Las Meninas von Diego Velázquez. Zur Eröffnung epistemologischer Fragestellungen taugt dieses Bild nun gerade deshalb, weil es sein Sujet als gegenständliches verweigert. Dass Las Meninas in Foucaults Lesart die »Repräsentation der klassischen Repräsentation«35 darstellt, heißt nicht nur, dass Velázquez deren Instrumente (Pinsel, Farbe, Leinwand) im Bild versammelt. Zentral ist vielmehr die »Definition des Raumes, den sie eröffnet«36. Dies verdankt sich der Rückseite einer Leinwand, die unseren Blick anzieht und zugleich zurückweist, sowie der Figur des Malers, der seine darstellerische Tätigkeit für einen Moment unterbrochen hat, zurückgetreten ist und mit seinem Blick den Ort der vermeintlichen Betrachter vor dem Bild erfasst. Neben dem Wissen um die mediatisierte Situation wirft Las Meninas die Frage nach einer Praxis repräsentativer Vergegenständlichung auf, die sich vermittels einer Unterbrechung ihres darstellerischen Vermögens stellt. Foucault schlägt vor, den Maler als »neutrale[s] Zentrum«37 des Bildes zu verstehen. Ulf Amindes Arbeit thematisiert genau dieses »Zentrum« als Ort eines Konflikts um die voraussetzende und vorausgesetzte Macht des Gegenständlichen. 2009 war Aminde von den Schillertagen Mannheim damit beauftragt, mit einer Gruppe arbeitsloser Jugendlicher ein Schillerstück für die Staatstheaterbühne zu entwickeln. Von diesem (Theater-)Auftrag ist auf den ersten Blick wenig geblieben: Als Besucher_in betritt man einen mit schwarzem Molton verkleideten Raum, in dem ein einzelner Stuhl gegenüber einem Screen zum Niederlassen einlädt. Auf ihm sind in lebensgroßer Projektion etwa 16 Jugendliche zu sehen, die in zwei Reihen ebenerdig hintereinander sitzen. Ohne Schnitte zeigt die Videospur als Loop von etwa 40 Minuten ein Spiel, dessen Regeln sich mit den Entwicklungen des neuzeitlichen Theaters, wie sie insbesondere durch Ulrike Haß (Bühnenform) und Günther Heeg (die natürliche Gestalt) dargelegt wurden. Vgl. Ulrike Haß, Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform, München 2005; Günther Heeg, Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, Basel/Frankfurt a.M. 2000. 35 | Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 45. 36 | Ebd. 37 | Ebd., S. 31.
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den Besucher_innen erst mit der Zeit erschließen: Die Jugendlichen sind aufgefordert, einzeln vor die Kamera zu treten und ihren Regisseur nachzuahmen, wie sie ihn während der gemeinsamen Arbeit erlebt haben. In kurzen, ungelenk oder amateurhaft wirkenden Darbietungen spielen sie die machtvolle Position eines Regisseurs vor, der scheinbar die gesamte Probenzeit damit verbracht hat, den Jugendlichen mangelnde Kooperationsbereitschaft vorzuwerfen oder ob seiner Hilflosigkeit in Aggressionen auszubrechen. Ihre Darbietungen sind jedoch nicht vordergründig an die Kamera und potentiell spätere Betrachter_innen adressiert. Während der Aufzeichnung hat Aminde neben der Kamera gesessen. Auf der akustischen Ebene hören wir ihn als Dialogpartner der jeweilig Darstellenden. Auf jede Darbietung, die den Regisseur Ulf Aminde zum Gegenstand hatte, folgt im Off der Kamera eine Nachahmung der jugendlichen Akteure durch Aminde. »Wen hast du denn bitte so gesehen?«, wird ein Jugendlicher beispielsweise an einer Stelle empört angesprochen. Die Besucher_innen finden sich also in einem komplexen Dialog vor, der nach den Prinzipien von Aneignung, Ausstellung und Vorführung des jeweils anderen fragt und in dem das Scheitern der (Theater-)Vorstellung ebenso klar im Zentrum steht, wie jede belastbare Begründung dafür fehlt. Der Raum der Repräsentation ist als Videospur zwar abgeschlossen, zugleich aber sind die Zuschauer_innen, die in der Installation am Ort der Kamera platziert sind, Teil eines hierarchischen Gefälles, das jede Behauptung eines »neutralen« Überblicks verhindert und das Problem des Gegenstandes fokussiert: Im Bildraum wird eben nicht Schiller, sondern werden jugendliche Arbeitslose präsentiert. Amindes Arbeit konfrontiert uns mit einem Problem, das viele zeitgenössische Bühnenarbeiten implizieren: Immer häufiger werden wir auf Bühnen mit Akteur_innen konfrontiert, die aus unterschiedlichen Gründen weder als Schauspieler_innen, noch als Lai_innen, Performer_innen oder Alltagsexpert_innen hinreichend beschrieben sind. Der Versuch, ihre Funktion begrifflich einzuholen, führt vielmehr zu der Einsicht, dass ihr ästhetisches Gewicht allein darin zu bestehen scheint, dass sie sich zur herrschenden Kultur als deren Ausgeschlossene bzw. ›Andere‹38 erweisen. Nur allzu schnell werden diese ›Anderen‹ von Kulturschaffenden wie auch der Theaterwissenschaft zur Basis einer neuen Form des politischen Theaters erklärt, das nicht nur die Disziplinierungen und Verarmungen im bürgerlichen Theaterdispositiv kritisch zur Disposition stellt, sondern darüber hinaus auch normative Gefüge von Verwerfung und Anerkennung.
38 | Der Begriff des ›Anderen‹ ist hier hervorgehoben, um seine lebensweltliche Verwendung zu markieren, die vor allem durch Emmanuel Lévinas eine notwendige begriffliche Ausdifferenzierung erfahren hat, der hier aus Platzgründen nicht weiter nachgegangen werden kann. Vgl. dazu u.a. Emmanuel Lévinas, »Die Spur des Anderen«, in: Ders., Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, hg. v. Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg/München 2007, S. 209-235.
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Anders Aminde: Obwohl er von den Jugendlichen immer wieder mit dem Bekenntnis zitiert wird, »helfen zu wollen«, stellt die Installation die diesem Anspruch inhärente Einstellung gerade als jene Anmaßung aus, die den in der Videoaufzeichnung ausgefochtenen Konflikt überhaupt erst entzündet. Damit eröffnet sich die Frage, ob der gewaltsamen Logik und Verletzung durch darstellerische Strategien denn tatsächlich kritisch begegnet wird, wenn lediglich eine Pluralisierung von repräsentierbaren Subjektpositionen vorgenommen wird und ›das Andere‹ schlussendlich als verstehbares Gegenüber in Szene gesetzt wird.39 Frontalunterricht stellt dieses Gegenüber durch die blickräumliche Inszenierung aus, verweigert jedoch jede Form des Zugriffs auf ›die Anderen‹: Obgleich Frontalunterricht nichts als die Jugendlichen zeigt, sind sie zugleich der Fehl des Bildes. An die Stelle von persönlichen Biographien und Amindes Nachahmungen der Jugendlichen tritt die Auseinandersetzung mit den repräsentativen Voraussetzungen, die die (An-)Erkennbarkeit ›der Anderen‹ ermöglicht. Einem verdinglichenden Zugriff setzt Aminde eine Strategie entgegen, die als ›Rücksicht auf Darstellbarkeit‹ bezeichnet werden kann. Dieser Topos aus Sigmund Freuds Traumdeutung meint nicht, dass es hinter der Übersetzung des Traumbildes den unbewussten Gedanken zu finden gäbe – die Rücksicht sucht nicht nach Botschaft oder Verständlichkeit, sondern beschreibt die Berücksichtigung der Umstände ihres Statthabens.40 Versteht man Frontalunterricht auf diese Weise, so verantwortet sich die Arbeit einer Verletzung, die sie vermittels ihrer repräsentativen Mittel, ihrer gesellschaftlichen und kulturpolitischen Voraussetzungen selbst produziert. Indem Amindes Arbeit diesen Anspruch nicht nur vorführt, sondern in seinem Scheitern ausstellt, öffnet sie im Raum der Repräsentation die Möglichkeit des Konflikts. Epistemologische Fragestellungen sind an diesen Konflikt gebunden, sind aber solange nicht gestellt, wie der Konflikt im Rahmen ihrer Voraussetzungen darstellbar ist. Frontalunterricht zitiert und unterbricht Praktiken der Vergegenständlichung, kündet aber zugleich von der Notwendigkeit, sich einem Anspruch zu verpflichten, der nicht jenseits der Grenzen des epistemologischen Feldes anzusiedeln wäre, sondern dieses immer schon im Kern betrifft. Diesen Anspruch zu vernehmen, scheint mir auch zentral für die Theaterwissenschaft zu sein: eine Rücksicht auf die Problematik der In-Szene-Setzungen von Wissen und ein beständiger Zweifel an seiner gegenständlichen Verfügbarkeit.
Mayte Zimmermann
39 | Dieses Problem ist nicht nur zentraler Schauplatz der Philosophie Lévinas’, sondern bestimmt auch die Arbeiten von Judith Butler. Vgl. u.a.: Judith Butler, »Gefährdetes Leben«, in: Dies., Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt a.M. 2005, S. 154-178; Athena Athanasiou/Judith Butler, Die Macht der Enteigneten. Das Performative im Politischen, Zürich/Berlin 2014. 40 | Vgl. Sigmund Freud, »Rücksicht auf Darstellbarkeit«, in: Ders., Gesammelte Werke, hg. v. Anna Freud, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1998, S. 335-343.
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Nägel aufsammeln – Darstellerisches Handeln als Reagieren 1 Die Wendung Acting is Reacting weist in dreifacher Hinsicht über die epistemische Ordnung des Acting hinaus. In der Aufführungsanalyse werden durch den Fokus auf das Reagieren Wirklichkeiten in körperlichen Abstimmungen, räumlichen Orientierungen, dialogischen Ansprachen und Zuhören zum Gegenstand der Beschreibung. Schauspielmethodisch steht das Reagieren für Strategien, die intersubjektive Abhängigkeiten als ästhetische Qualitäten nutzen, als Direktheit und als ein persönliches Involviert-sein in das Geschehen. Theatertheoretisch ist das Handeln als Reagieren interessant, weil es die Ordnungen von Als-ob-Handlungen, Sich-hineinversetzen und ›realem‹ Handeln berührt.
2 Eine geläufige Improvisationsübung besteht darin, dass ein Spieler die Aufgabe erhält, seine Hand zum Fußboden zu strecken. Ein Gegenstand soll aufgehoben und an einen Mitspieler oder eine Mitspielerin weitergereicht werden. Was für ein Gegenstand das ist, bestimmt der Spieler im Zuge eines körperlichen Zu-Bodengreifens. Keith Johnstone beschreibt einen Verlauf der Übung wie folgt: Der Spieler streckt die Hand zum Boden. Er greift etwas und hält seinem Spielpartner die geöffnete Handfläche hin. Er sagt: ›Äh, hier ist ein Kondom. Äh … nein, ein Kiesel … äh nee, hier ist eine Hand voll Sand …‹ Der Spieler bricht die Übung ab. Keith Johnstone fragt ›Weißt Du, warum Du Dich nicht entscheiden kannst?‹ Der Spieler antwortet: ›Ich denke dauernd an Kiesel.‹ ›Dann sag: Kiesel! Das Kondom hast Du Dir vorher überlegt, weil Du originell sein wolltest oder weil Du Angst hattest, dass Dir nichts einfällt. Es muss nicht originell sein. Eigentlich wäre ein Kiesel sehr originell gewesen. Und es hätten mehrere sein können: Ein Kiesel. Noch ein Kiesel. Ein großer Kiesel. Ein kleiner Kiesel …‹ 41
In diesem Beispiel, das sich den epistemischen Ordnungen Praktikerdiskurs und Schauspieltheorie zuordnen lässt, kommt dem »Kondom« der Charakter eines Alsob zu: Der Spieler täuscht seine Mitspieler und tut so, als ob die Idee in der Bewegung des Zu-Boden-Greifens entstanden wäre. Tatsächlich hat er die Idee im Vorfeld gefasst und sie geplant in die Spielsituation hineingetragen. Dem Kiesel kommt hingegen der Rang einer Initiation zu: die Entstehung eines Bildes im situativen Hier und Jetzt zwischen MitspielerInnen und Schauspiellehrer. Die Verortung dieses Kiesels ist im Konzept der Aufführungsanalyse nicht so leicht zu klären. Täuscht der Spieler den Kiesel vor? Tut er so, als ob ein Kiesel vorhanden wäre? Wie kann zwischen Kondom und Kiesel unterschieden werden? In 41 | Keith Johnstone, Improvisation und Theater. Die Kunst spontan und kreativ zu reagieren, Berlin 2002.
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der Verschränkung von Praktikerdiskurs und Aufführungsanalyse entsteht eine leitende Annahme: Die Als-ob-Bestimmung passt nicht zur Initiation des Bildes: sie stößt an eine Grenze.
3 Stanislawski beginnt mit einer Anekdote. Der fiktive Schauspielschüler Naswanow berichtet von seinem zweiten Probentag. Kurz vor Beginn der Probe steht er auf der Bühne. Ihm wird unwohl und er bekommt Angst. Es ist die Angst vor der offenen Bühne, dem Zuschauerraum, dem Angeschaut-werden und dem Nicht-Wissen, wie er diesen Ängsten begegnen soll. Auf einmal lässt ein Bühnenarbeiter Nägel auf den Boden fallen. Naswanow ergreift diese Ablenkung. Er hilft ihm, die Nägel vom Bühnenboden aufzusammeln. In diesem Tun vergisst er seine Ängste und beginnt sich wohl zu fühlen. Als die Nägel jedoch aufgesammelt sind, kehrt das Unwohlsein zurück. Naswanow verlässt die Bühne. In dieser Anekdote entwickelt Stanislawski eine gewichtige Verknüpfung. Die Überwindung von Bühnenängsten durch zielorientiertes, intentionales Handeln: »Natürlich, klar: beim Aufsammeln der Nägel hatte ich nicht an das schwarze Loch [den Zuschauerraum] gedacht.«42 Diese Verknüpfung begleitet die Schauspielschüler durch Stanislawskis gesamtes Werk. Sie bildet im Auf bau der fiktiven Tagebücher einen unhintergehbaren Ausgangspunkt und eine wiederkehrende Kontinuität. Wann immer ein Unwohlsein, ein Nichtwissen oder eine Blockade droht, wird die nächstliegende intentionale und zielgerichtete Handlung gesucht. Die Konzepte der psycho-physischen und der physischen Handlung bauen auf diesem Nexus auf. Es entsteht eine Bühnenrationalität, die nicht nur den methodischen Praktiken Stanislawskis vorausgeht. In dieser monologischen Rationalität sind Bühnenängste unmittelbar mit der Frage nach dem nächsten zielgerichteten Tun verbunden. In der Schauspieltheorie des 20. Jahrhunderts ist es der Amerikaner Sanford Meisner, der dem Aufsammeln der Nägel eine dialogische Initiation entgegensetzt. Mit dem Word-Repetition-Game 43, einem Wortwiederholungsspiel, beginnt eine Variante des Method Acting, die nur wenig mit Lee Strasbergs Erinnerungstechniken gemeinsam hat. Es wird ein Bühnenerleben initiiert, dass nicht durch die Betonung von Subjektivität definiert ist. Dialogisch meint hier, dass zwei unabgeschlossene Subjekte Beziehung aufnehmen. Somit ist das Reagieren den Lücken vorgängig, die durch Aleatorik, Überforderung und Erschöpfung in monologische Bühnensubjektivitäten geschlagen werden. Die Wendung Acting is Reacting erfährt ihren Reiz, wenn sie den monologischen Nexus ersetzt.
42 | Konstantin Sergejewitsch Stanislawski, Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst, Berlin 1961. 43 | Sanford Meisner, On Acting, New York, NY 1987.
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Die Theaterprobe, deren Beschreibung im Folgenden thematisiert wird, kann ein Ort sein, der diesem Spiel mit der eigenen Unabgeschlossenheit einen besonderen Raum zur Verfügung stellt.
Daniel Rademacher
Wissen auf Probe Mit Blick auf den Praktikerdiskurs bietet die Probe für die Theaterwissenschaft einen möglichen Zugang zu den Prozessen von Wissensgenerierung im Theater. Während der Proben lassen sich die Prozesse theatralen Produzierens fokussieren, die in der produktionsästhetischen Auseinandersetzung mit Aufführungen meist in den Hintergrund treten, da sie sich im Aufführungsdispositiv dem wissenschaftlichen Blick allzu leicht entziehen. Im Rahmen einer Probendokumentation für die Akademie der Künste Berlin verfasste ich Probenprotokolle für die Inszenierung Krankenzimmer Nr. 6 von Dimiter Gotscheff im Jahr 2010 am Deutschen Theater Berlin und kombinierte dies mit dem Sammeln der jeweiligen Textfassungen, Bühnen- und Kostümbildskizzen sowie des Regiebuchs. Meine Probendokumentation orientierte sich am betrieblich festgelegten Probenprozess der Inszenierung über einen Zeitraum von sieben Wochen. Protokolliert wurde auf zwei Probebühnen sowie im Großen Haus des Deutschen Theaters. Je nach Probensituation variierten die Probenprotokolle zwischen Gesprächsmitschriften der inhaltlichen Diskussionen sowie Beschreibungen von szenischen Versuchen, Teil- und Gesamtdurchläufen. Der Schreibprozess unterteilte sich dabei in zwei Phasen: Das Mitschreiben selbst erfolgte im Sinne einer stichwortartigen Notation, woran sich am Ende des jeweiligen Probentages eine Ausformulierung der Notizen anschloss. Der Schwerpunkt des Dokumentierens lag darauf, den Arbeitsprozess in seiner Entwicklung zu verfolgen, um so die Entstehung der Inszenierung durch die verschiedenen Arbeitsphasen hindurch, beginnend bei den Leseproben, nachzuzeichnen. Hinsichtlich fehlender Methodik stellt die Probendokumentation innerhalb der Theaterwissenschaft ein Desiderat dar. Anknüpfungspunkte zum Dokumentieren von Aufführungen erscheinen evident oder auch irreleitend. So setzt etwa die Aufführungsbeschreibung ebenfalls eine teilnehmende Beobachtung voraus, gibt dem Dokumentierenden allerdings einen Rahmen (›Frame‹)44 vor, den der Aufführung. Für einen Probenprozess gibt es diesen Rahmen zunächst nicht. Der im Dokumentationskonzept formulierte Anspruch, den Arbeitsprozess in seiner Entwicklung mitzuschreiben, um die Entstehung der Inszenierung durch die verschiedenen Arbeitsphasen hindurch zu dokumentieren, setzt zum einen eine lineare Struktur voraus, die dem zu dokumentierenden Prozess unterstellt 44 | Vgl. insb. die vom Soziologen Erving Goffman entwickelte soziologische Rahmentheorie (»Frame Analysis«) für die Analyse von Theateraufführungen: Erving Goffman, Frame Analysis: An Essay on the Organisation of Experience, Cambridge, MA 1974, S. 123-156.
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wird, zum anderen fokussiert sie die Inszenierung als Instanz einer vermeintlich klaren Orientierung des Probenprozesses. Von daher wurde ein Schwerpunkt auf inhaltliche Aspekte der Inszenierungsentwicklung gelegt wie etwa Text- und Figurengenese, Einbezug des Bühnen- und Kostümbilds sowie die Arbeit zwischen Regisseur und SchauspielerInnen. Für eine Probendokumentation erscheint eine Rahmung unumgänglich, um in Bezug auf die kontingent anmutenden Probenprozesse überhaupt eine Form der Anschauung zu ermöglichen. Für eine szenische Probe am 26. Januar 2010 setzte ich diese Rahmung durch die Beschreibung einer Arbeitssituation.45 Ich konzentrierte mich dabei auf die »Arbeit am Gestus der Schauspieler«, die nach zweieinhalb Wochen gemeinsamer Reflexion und Textarbeit am Tisch die szenischen Proben eröffnete. Die Arbeit am Gestus, die zu diesem Zeitpunkt laut Gotscheff noch eine »Materialsammlung« darstellte, war verbunden mit dem Fehlen einer verbindlichen Textund Figurengrundlage, so dass es noch keinen festgelegten szenischen Bezugsrahmen für die Abläufe auf der Probebühne gab. Neben dem raumtechnischen Setting der Scheinwerferinstallation Katrin Bracks, das auf der Probebühne mit provisorischen, unbeweglichen Scheinwerfern nur angedeutet werden konnte, den im Verlauf der Gespräche evozierten Assoziationen hinsichtlich der Rollendisposition und der bisherigen Textarbeit, diente in meiner Lesart des Arbeitsprozesses die von Gotscheff auf einer der vorangegangenen Proben verwendete Metapher der »Glocke« bzw. des »Glockenzustands« als gedankliche Klammer. Der Begriff der »Glocke« wurde von den Probenbeteiligten seitdem verwendet, um einen autistisch anmutenden Zustand von Selbst- und Fremdbezug der darzustellenden Patienten zu beschreiben. In Bezug auf diese Metapher und die Vorstellungen, die damit individuell verbunden wurden, orientierte sich die Suche nach einem Gestus für die Figuren im Raum. Bei dieser raumfigürlichen Suche notierte ich sowohl die schauspielerischen Vorgänge auf der Probebühne als auch die Interaktionen mit dem Regisseur. Dabei beschrieb ich zum einen die Improvisationen der SchauspielerInnen in Form der Erprobung einzelner körperlicher Aktionen wie Gang, Haltung oder Geste, zum anderen die Einbezüge der direktiven Vorgaben ins Improvisieren. Im Akt des Rahmens unternahm ich den Versuch, die szenische Probe zu verschriftlichen. Mit dieser schriftlichen Fixierung geht zugleich eine Übersetzung einher, die dem Prozesshaften der Situation eigentlich nicht gerecht wird, da etwas Fixiertes an die Stelle transitorischer Vorgänge tritt. Durch die Verschriftlichung wird aber gleichzeitig eine Möglichkeit geschaffen, den Probenprozess anzuhalten und den Blick auf das theatrale Produzieren selbst zu richten, noch bevor die daraus entstehenden Entwicklungen in einem Inszenierungskonzept konkretisiert oder gar in einer Aufführung (singulär) umgesetzt werden. In der 45 | Vgl. Lucas Herrmann, Probenprotokolle zu Krankenzimmer Nr. 6, in: Sammlung Inszenierungsdokumentationen, ID 1098, Archiv Darstellende Kunst Akademie der Künste, Berlin 2010, S. 16f.
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Auseinandersetzung mit Proben klingt eine besondere Prozessualität von Theater an, in deren Zusammenhang zentrale Begriffe von Theaterwissenschaft (wie ›Inszenierung‹ oder ›Aufführung‹) in ihrem Produziertsein gedacht werden können. Im Dokumentieren von Proben eröffnet sich hierfür ein methodischer Zugang, dessen Potenzial gerade darin besteht, Prozesse zu diskursivieren, die vor der Aufführung liegen und in ihr nicht mehr zu sehen sind, obwohl sie im Moment ihrer Umsetzung noch anwesend sind.
Lucas Herrmann
Anekdoten und Bilderfolgen: Aus Freuds psychoanalytischer Praxis »Aus drei Anekdoten ist es möglich, das Bild eines Menschen zu geben« 46, schreibt Friedrich Nietzsche in seinem Vorwort zu Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen. In dieser flapsigen Floskel wird zweierlei benannt: Zum einen die im Konzept des Anekdotischen enthaltene Annahme von der Erzählbarkeit menschlichen Lebens in kleinen Schlüsselszenen, in denen sich Charakter, Handlungsmuster oder Beziehungen momenthaft verdichten und jenes Leben derart bildlich ›vor Augen‹ stellen, dass es selbsterklärend und selbstbezeugend wird. Zum anderen ist in Nietzsches Formulierung auch der Irrtum der Anekdote insofern festgehalten, als mit ihr das kontingente Moment der Einzelbeobachtung angesprochen ist, die erst in einer spezifischen medialen (Um-)Formung signifikant und sinn-bildlich wird, die Lebensszene als erzählenswert inszeniert und eigene Erzählstrukturen schafft. In meinem Beitrag möchte ich auf letzteren Aspekt der Anekdote und ihre theatralen Qualitäten eingehen. Anhand der frühen Arbeiten Sigmund Freuds, den sogenannten Fallstudien, lässt sich das Theatrale als eine Form zeigen, die dem Hauptnarrativ und der mit ihm verbundenen Deutungshoheit im Text zuwider läuft. Auf die Quintessenz des Anekdotischen referiert die psychoanalytische Technik der freien Assoziation, die bei Freud bereits um 189547 als Gesprächsformat, also als Versuch der Versprachlichung unzugänglicher Erinnerungen, die Situation der Therapie maßgeblich prägt. Diese Technik soll im scheinbar zufälligen Einfall des Patienten eine mustergültige Form seines Erfahrungs- und Denkhorizonts erkennbar werden lassen und so die darin liegende fatale Wiederholung herausstellen, die um die sogenannte »Urszene«48 kreist. Der Clou bzw. die produktive Wendung dieser Technik liegt jedoch gerade in der Aussetzung einer mustergültigen Funktionslogik, weil sie, statt die psychische Ordnung zu deuten, vielmehr auf deren Grundlosigkeit und Undeutbarkeit verweist. Die Wieder46 | Friedrich Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (1872), Frankfurt a.M. 1994, S. 8. 47 | Vgl. Josef Breuer/Sigmund Freud, Studien über Hysterie (1895), Frankfurt a.M. 1991. 48 | Sigmund Freud, Briefe an Wilhelm Fließ. 1887-1904, Frankfurt a.M. 1985, S. 253 (Brief v. 2. Mai 1897).
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holung lässt sich durch den Analytiker zwar vermerken, aber nicht durch einen Gegenentwurf entkräften. Analyse findet unter der Bedingung eines unauflöslichen inneren Widerstands zur Möglichkeit ihres Gelingens statt. Mit der Anekdote gesprochen: Ihre Beweiskraft ist hier interessant um des Moments willen, in dem sie über ihre eigene A-Signifikanz aufklärt. Zur Erläuterung der Unverfügbarkeit einer Ur-Sache lässt sich nach den theatralen Anteilen biographischer Sinnbildungsversuche in der Assoziationstechnik fragen. Eingedenk der notwendig medialen Verfasstheit des Anekdotischen, gelangt man dabei zu szenischen Gefügen, die sowohl die Hierarchie der Urszene als auch ihre oft emphatisierte Verschlossenheit gegenüber dem Bewusstsein lockern, vor allem wenn sie sich als fehlgehende Inszenierungsvorgänge herausstellen, die auf ›falsche‹ Ursächlichkeiten verweisen. Die entscheidenden Orte eines solchen Szenischen bilden, neben der sozialen Situation der Analyse selbst, vor allem die sprachliche Darstellungen von Assoziationsvorgängen in den frühen Schriften Freuds. Sowohl in den »Studien über Hysterie« als auch in seinen Vorlesungen49 beschreibt Freud sein grundlegendes Vorgehen für die Assoziation wie folgt: Da bediente ich mich denn zunächst eines kleinen technischen Kunstgriffes. Ich teile dem Kranken mit, dass ich im nächsten Momente einen Druck auf seine Stirne ausüben werde, versichere ihm, dass er während dieses ganzen Druckes eine Erinnerung als Bild vor sich sehen oder als Einfall in Gedanken haben werde, und verpflichte ihn dazu, dieses Bild oder diesen Einfall mir mitzuteilen, was immer das sein möge. […] Keine Kritik, keine Zurückhaltung, weder aus Affekt noch aus Geringschätzung! Nur so könnten wir das Gesuchte finden, so fänden wir es aber unfehlbar. 50
Freuds Text beschreibt eine Szene, die kurz vor der anekdotischen Pointe anhält, um seine Technik mitsamt dem dazugehörigen Monolog und einer Regieanweisung zur Vorbereitung der entsprechenden körperlichen Interaktion darzulegen. Doch nicht nur deshalb ist diese Passage theatral, sie ist auch strukturell theatral, weil Wissen hier im Zusammenwirken von Bild und Schrift ästhetisch hergestellt werden soll. Anders als etwa das Tableau, das seinem Betrachter den Bildausschnitt als Ganzheitlichkeit vorstellt, ist der szenische Ausschnitt hier als raum-zeitliche Konstruktion erkennbar. Die Szene ist Teil eines dramaturgischen Prinzips im Sinne der Koordination von An- und Abwesenheiten, von denen die aufgeschriebene Handlung nur einen Teil ausmacht: Die Beschreibung 49 | Vgl. Sigmund Freud, »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse« (1917), in: Ders., Studienausgabe, Bd. I, hg. v. Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey, Frankfurt a.M. 1969, S. 33-445. 50 | Freud, Studien über Hysterie, Nachwort S. 286. Eine sehr ähnliche Situation bzw. Textpassage findet sich auch in der Fallstudie zu Lucy, vgl. Freud, Studien über Hysterie, S. 127.
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des »Drucks auf [die] Stirne« gibt Aufschluss über die in ihr festgehaltene innere Konkurrenz von gestischen wie auch sinn-bildlich im Text beschriebenen Praktiken, an denen sich die frühe Psychoanalyse orientiert. Entscheidend für diese Konkurrenzsituation ist, dass Freud nicht vom gelingenden Vordringen zur Erinnerung eines Patienten berichtet, sondern von seiner Erwartungshaltung diesem gegenüber, die mit einer Suspension der Handlung und dem Warten auf die Pointe verbunden ist. Diese Zeitlichkeit der Aussetzung des analytischen Schlusses wird auch in das Bild übertragen, in dem es um das konkurrierende Moment des »Drucks« geht. Zwischen Bildebene und Textpassage ergibt sich eine Überlagerung: Da gibt es zunächst die Geste einer, im vielleicht simpelsten haptischen Sinne, Bezugnahme durch eine körperliche Berührung. Mit ihr geraten die spektakulären Wirkungen früher hypnotischer Einflussnahmen, aus denen das analytische Verfahren entsteht, in eine Gleichzeitigkeit mit jenen, sie nach Freuds (Selbst-)Verständnis ablösenden Formen des Dialogs und der Erinnerungsarbeit. Der sich an dieser Stelle eröffnende Zeit-Raum lässt die Leser_innen dieser Passage jedoch weniger auf das assoziative Sprechen der Patientin hoffen, als vielmehr die mediale Anordnung in diesem Text untersuchen. Mitteilungen von lebensgeschichtlicher Bedeutung sind das explizite Ziel des therapeutischen Zusammenkommens. Die Mitteilung läuft hier über eine sprachlich evozierte visuelle Dramaturgie, indem ein haptischer Umgang seinen Sinn insofern erst selbst erzeugt, als er sich über beschworene metaphorische Bildlichkeiten (»dieses Bild oder diesen Einfall«) in Gestalt einer körperlichen Intensität versichert. Ebenso beschwört das sprachlich evozierte Bild ein weiteres als das einer Erinnerung herauf, die an einem »anderen Schauplatz«51, »in der Näher bereit[liegend]«52 aufgehoben sein soll. Dieses andere, abwesende Bild ist wiederum Voraussetzung eines Heilungsprozesses, der sich, besonders in dieser frühen Phase analytischer Fallbeschreibungen, am ersichtlichen Körperzustand der zumeist weiblichen Patienten auf dem Weg einer sozialen Normalisierung in der patriarchalen Ordnung ablesen lassen soll.53 Ohne dies im Verlauf seines Textes konkret einzulösen, versteht sich Freuds Passage also als Eröffnungssequenz einer Bilderfolge, in deren Reihe das Einzelbild erst zu seinem Sinn kommt. Freuds Hand auf der Stirn setzt ein Daumenkino in Gang, das in der beschriebenen zeitlichen Verschiebung den Prozess der Anekdotenbildung ins Rollen bringt. Jede eventuell aufgefundene Urszene wird in der Folge nur durch ein weiteres herstellbares Bild entkräftet werden können. Diese strukturell selbstbezüglich verfahrende Dramaturgie stellt ihren Inszenierungsgegenstand zwischen Erwartungen und Produktion vor. Dies impliziert Freud selbst, wenn er im Fortgang des zitierten Textes die verdeckte 51 | Sigmund Freud, Die Traumdeutung, in: Ders., Studienausgabe, Bd. II, S. 520. 52 | Ebd. 53 | Die in dieser Normalisierung behauptete Lesbarkeit des weiblichen Körpers referiert indirekt auf die Körperdarstellungen im Tableau des 18. Jahrhunderts. Vgl. etwa Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 45.
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Zögergeste umschreibt, die seine therapeutische Position kennzeichnet: »Dann drücke ich für ein paar Sekunden auf die Stirn des vor mir liegenden Kranken, lasse sie frei und frage ruhigen Tones, als ob eine Enttäuschung ausgeschlossen wäre: Was haben sie gesehen?«54 Die mit dieser Frage offen endende Textanordnung, auf die Freud nicht nur in diesem Text keine Antwort folgen lässt und durch die die Dialogszene abgebrochen wird, will und braucht die Möglichkeit gelingender, ›heilsamer‹ Analyse in der therapeutischen Situation nicht zu negieren. Der Text zeigt diese aber zumindest als ausstehende – und problematisiert damit die Situation des Schreibens der Geschichte55 psychoanalytischer Techniken ebenso, wie die mit ihr verknüpfte vulgäranalytische Behauptung eines wissenschaftlichen und humanen Fortschritts, der in der symbolkompetenten Lektüre menschlicher Lebensgeschichte bestünde. Freuds unabgeschlossene Bilderfolge selbst, sein »kleine[r] technische[r] Kunstgriff[]«, wird demgegenüber als eine Wiederholung und Wiederholbarkeit vorstellbar, die protoszenisch zum Ergebnis lebensgeschichtlicher Entschlüsselung zu führen verspricht, es aber ›tatsächlich‹ (im Text) bei der Aussprache des Versprechens belässt und sich darin selbst noch vor Erreichen der eigenen Deutung unterbricht.
Jeanne Bindernagel
54 | Freud, Studien über Hysterie, Nachwort, S. 286. 55 | Vgl. Michel de Certeau, Das Schreiben der Geschichte, Frankfurt a.M./New York/ Paris 1991 (1980).
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The atertheorie , M odelle , K onstell ationen
Theater/Wissenschaft unter den Bedingungen von Kapitalisierung Kati Röttger
Im Folgenden möchte ich am Beispiel der jüngeren niederländischen Kultur- und Bildungspolitik die Folgen der – wie ich es nenne – Bedingungen der Kapitalisierung für das Theater und (mittelbar) für die Theaterwissenschaft ausführen. Seit Mitte der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts vollzieht sich in den Niederlanden ein gesellschaftspolitischer Wandel, den man als Übergang vom Rechtsstaat zum Marktstaat bezeichnen kann.1 Diese Entwicklung geht mit einer Werteverschiebung einher, die nicht nur das Demokratie-Verständnis betrifft,2 sondern auch den Freiheitsbegriff. Freiheit wird immer weniger ethisch-politisch begründet, sondern zunehmend auf der Grundlage der Idee der Freiheit des Marktes.3 Ein bedeutendes Indiz ist das Primat des Unternehmertums, das sich bis in private und individuelle Lebensbereiche erstreckt,4 und das zum »Verschwinden des Privaten«5 ebenso führt wie zum »Ende der Gemeinnützigkeit«.6 Eine zentrale Rolle spielt die zunehmende Privatisierung vormals öffentlicher Sektoren wie Bildung, Gesundheit, soziale Sicherheit und Kultur unter den Vorzeichen des sogenannten New Public Management.7 Welche Folgen für die Öffentlichkeit und für das politische Gemeinwesen erwachsen, wenn das Wertesystem des Marktes zunehmend auf den zwischenmenschlichen Umgang ausgedehnt wird, ist noch 1 | Chris Lorenz, »›If You’re So Smart, Why Are You under Surveillance‹? Universities, Neoliberalism, and New Public Management«, in: Critical Inquiry 38 (2012), S. 599-621. 2 | Colin Crouch, Post-Democracy, Cambridge 2004. 3 | Ewald Engelen, De Schaduwelite voor en na de crisis. Niets geleert, niets vergeten, Amsterdam 2014. 4 | Michael Hardt/Antonio Negri, Empire, Cambridge MA 2003. Laurent Berlant, Cruel Optimism, Durham 2011. 5 | Jeremy Rifkin, The Zero Marginal Cost Society: The internet of things, the collaborative commons, and the eclipse of capitalism, London 2014. 6 | Jaron Lanier, Who Owns the Future?, San Jose 2013. 7 | Lorenz, »Universities, Neoliberalism, and New Public Management«.
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nicht zu übersehen. Das gleiche Problem trifft auf den Kunst- und Kulturbereich zu, der traditionell einen besonderen Stellenwert in einer demokratischen Öffentlichkeit einnimmt.8 Zu fragen gilt, welche Auswirkungen auf die gesellschaftliche Funktion von Kunst zu beobachten sind, wenn die demokratische Freiheitskultur nicht mehr ethisch-politisch, sondern ökonomisch-ästhetisch begründet wird. In der sozialwissenschaftlichen Diskussion lässt sich eine Verschiebung von Parametern beobachten, die erste wichtige Anhaltspunkte zur Orientierung bieten: Es gewinnen zunehmend Studien an Einfluss, aus denen hervorgeht, dass ästhetische Motive wie Kreativität, Spontanität, Originalität, Improvisation nicht mehr einen privilegierten Bereich der Freiheit jenseits reproduktiver Zwänge anzeigen, sondern selbst zu einer derart wichtigen Produktivkraft des kapitalistischen Wirtschaftssystems geworden sind, dass sie sich in entscheidende gesellschaftliche Forderungen verkehrt haben, die für den Einzelnen eher ein Mehr an Zwang denn an Freiheit bedeuten.9 Der Soziologe Andreas Reckwitz spricht in diesem Zusammenhang von einem Kreativitätsdispositiv. Er meint damit »ein soziales Regime des ästhetisch Neuen«10, das »eine umfassende ästhetische Mobilisierung der Subjekte und des Sozialen«11 betreibt und insbesondere unter den gegenwärtigen Bedingungen der »Umstellung der Ökonomie von einem industriellen über einen kognitiven zu einem ästhetischen Kapitalismus«12 wirksam ist. Diese Entwicklungen möchte ich in dem Begriff der Kapitalisierung zusammenfassen. Die Folgen der Kapitalisierung für das Theater – so meine These – gehen mit einem radikalen epistemischen Schub einher, der die Theaterwissenschaft vor eine besondere Herausforderung stellt, da über das Theater hinaus gesellschaftliche, politische, ästhetische, ethische und soziale Bereiche in einem ganz besonderen Ausmaß betroffen sind. Es stellt sich die Frage, inwieweit und auf welchen Ebenen diese Entwicklungen den Status der Künste einem grundlegenden Wandel unterwerfen und damit eine krisenhafte Situation, bzw. einen Umbruch einleiten. Welche Auswirkungen hat die marktlogische Umwertung demokratischer Werte auf Kunst- und Kulturpolitik? Wie wirkt sie sich auf das Verhältnis zwischen Kunst und Öffentlichkeit aus? Und welche Auswirkungen hat die Zwangsästhetisierung des Individuums auf den Begriff des Publikums? Um den epistemischen Schub auch nur annähernd beschreiben zu können, muss vorab geklärt werden, was mit Episteme eigentlich gemeint ist. Ich verstehe 8 | Juliane Rebentisch, Die Kunst der Freiheit. Zur Dialektik demokratischer Existenz, Frankfurt a.M. 2012. 9 | Luc Boltanski/Eve Chiapello, »The New Spirit of Capitalism«, in: International Journal of Politics, Culture and Society 18 (2005), S. 161-188; Pascal Gielen, Creativity and other Fundamentalisms, Amsterdam 2014. 10 | Andreas Reckwitz, »Die Erfindung der Kreativität«, in: Kulturpolitische Mitteilungen 141 (2013), S. 23-34, hier S. 25. 11 | Ebd., S. 26. 12 | Ebd., S. 24.
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darunter in diesem Fall nicht in erster Linie allgemein theoretisches Wissen – und auch nicht das besondere Wissen, das Theater generiert. Ich berufe mich vielmehr auf den Foucaultschen Begriff von Episteme, den er in Die Ordnung der Dinge entwickelt hat. Episteme, so heißt es hier, ist gleichzusetzen mit den fundamentalen Codes einer Kultur, die ihre Sprache, ihre Wahrnehmungsschemata, ihren Austausch, ihre Techniken, ihre Werte [Herv. K.R.], die Hierarchie ihrer Praktiken beherrsch[t]. [Sie] fixieren gleich zu Anfang für jeden Menschen die empirischen Ordnungen, mit denen sie zu tun haben und in denen er sich wiederfinden wird. Am entgegengesetzten Ende erklären wissenschaftliche Theorien oder die Erklärungen der Philosophen, warum es im allgemeinen eine Ordnung gibt, welchem allgemeinen Gesetz sie gehorcht, welches Prinzip darüber Rechenschaft ablegen kann, aus welchem Grund eher diese Ordnung als jene errichtet worden ist. Aber zwischen diesen beiden so weit auseinanderliegenden Gebieten [zwischen empirischen Ordnungen und wissenschaftlichen Erklärungen, K.R.] herrscht ein Gebiet, das, obwohl es eher eine Zwischenrolle hat, nichtsdestoweniger fundamental ist. Es ist konfuser, dunkler und wahrscheinlich schwieriger zu analysieren.13
Dort kann eine Zivilisation feststellen, »dass diese Ordnungen vielleicht nicht die einzig möglichen oder besten sind«14. Ich zitiere diese Stelle so ausführlich, weil meine Überlegungen auf die Frage hinauslaufen, wie es aktuell um dieses Gebiet steht, auf dem Erkenntnis um die herrschende Ordnung als vielleicht nicht mehr einzig mögliche stattfinden kann. Wenn ich die Bedingungen der Kapitalisierung ins Feld führe, dann deshalb, weil ich mich frage, ob nicht gerade Kapitalisierung als Episteme hervorgehoben werden muss, die aktuell »eine Geschichte manifestiert, […] die die der Bedingung ist, durch die sie [also die Geschichte] möglich wird.«15 Das würde bedeuten, dass sich der Wert von Erkenntnis gegenwärtig genauso radikal verändert wie der Wert von Kultur, indem beide dem ökonomischen Wettbewerb unterworfen werden und damit einer Inflation ausgesetzt sind. Welche Auswirkungen diese Veränderungen auf die Erkenntnismöglichkeit der herrschenden Ordnung haben, dies zu analysieren wäre eine der Herausforderungen an die Theaterwissenschaft als Kultur- und Geisteswissenschaft. Um genauer in den Blick zu bekommen, inwieweit die herrschende Ordnung den Bedingungen der Kapitalisierung unterliegt und welche Auswirklungen das für die Theaterszene nach sich zieht, wende ich mich im Folgenden der jüngeren Kultur- und Bildungspolitik in den Niederlanden zu. Die Niederlande sind aus verschiedenen Gründen ein besonders interessantes Untersuchungsgebiet, um Aufschluss über diese Fragen zu erlangen. Die Niederlande sind gewiss nicht das einzige Land, in dem sich die oben beschriebenen Folgen der so genannten 13 | Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M. 1994, S. 22f. 14 | Ebd. 15 | Ebd., S. 24f.
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Neoliberalisierung abzeichnen.16 Aber es kann durchaus festgestellt werden, dass dieses Land zu den Vorreitern der damit einhergehenden Entwicklungen gehört und diese verglichen mit anderen Ländern in einem hohen Tempo und mit großer Radikalität durchführt.17 Das gilt auch für die Kunst- und Kulturpolitik. Insbesondere am Beispiel des Theaters lassen sich die Konsequenzen einer marktorientierten Kulturpolitik aufzeigen. Sie steht seit mehr als zehn Jahren ganz im Zeichen dessen, was man allgemein als neoliberale Agenda bezeichnet, auf kürzeste Weise zusammengefasst in dem Slogan »smaller state and bigger market«18. Lassen Sie mich die Logik dieser Agenda (soweit überhaupt möglich) kurz zusammenfassen. Eine zentrale Rolle spielt die zunehmende Privatisierung vormals öffentlicher Sektoren wie Bildung, Gesundheit, soziale Sicherheit und Kultur unter den Vorzeichen des Marktes. Soziale und kulturelle Relevanz wird zunehmend ersetzt durch wirtschaftliche Relevanz. Der niederländische Historiker Chris Lorenz diagnostiziert diesen Umbruch auf folgende Weise: […] the most conspicuous features of neoliberal policy have been the attachment of price tickets to public services and the pursuit of self-financing. These policies have been and are being implemented by a new class of managers who justify their approach with reference to free market ideology, but who at the same time have introduced an unprecedented network of controls.19
Lorenz bringt das neoliberale öffentliche Management auf folgende Formel: Freier Markt = Wettbewerb = höchster Wert für Geld = optimale Effizienz für Individuen als Konsumenten wie Besitzer privaten Eigentums gleichermaßen. Diese Formel faltet sich in folgende Komponenten auf: Während das Gemeinwesen, also der öffentliche Sektor, minimiert wird, wird der Marktsektor maximiert. Die Trennung von privat und öffentlich verschwimmt. Denn das bürgerliche Individuum wird zum Unternehmer sozialer Leistungen und zum Anteilseigner (shareholder) einer Öffentlichkeit, an der es gleichzeitig als Konsument und als Produzent partizipiert. Das Interesse des Individuums muss deshalb darin bestehen, dass sich die Marktökonomie frei entfalten kann. Die Aufgabe des Staates besteht infolgedessen in erster Linie darin, alle Hindernisse für die Entfaltung des freien Marktes aus dem Weg zu räumen. Staat und Bürger werden zunehmend auf wirtschaftlichen und abnehmend auf rechtlichen Grundlagen definiert. Der Staat als Rechtsstaat verliert an Bedeutung, Staat als Anleger- oder Marktstaat hingegen gewinnt an Relevanz. Geht man nun davon aus, dass Kapitalisierung in der bür16 | Crouch, Post-Democracy. 17 | Claire Bishop, Artificial Hells. Participatory Arts and the Politics of Spectatorship, London/New York, 2012; Engelen, Schaduwelite. 18 | Lorenz, »Universities, Neoliberalism, and New Public Management«, S. 599. 19 | Ebd., S. 600.
Theater/Wissenschaf t unter den Bedingungen von Kapitalisierung
gerlichen Ökonomie ein Begriff sowohl für »das ›Zu-Geld-Machen‹ von Kapital als auch umgekehrt für das ›Zu-Kapital-Machen‹ von Geld«20 ist, dann müssen soziale Leistungen unter neoliberalen Bedingungen der Privatisierung des Sozialwesens auch unter diese Logik gefasst werden. Der Bürger selbst wird zum shareholder seines eigenen sozialen Wohls. Privatisierung des öffentlichen Sektors bedeutet darüber hinaus, dass kulturelle und soziale Leistungen wie Bildung und Gesundheit als Kapital definiert und in einer Währung gemessen werden, die sich am Profit orientiert. Gleichzeitig aber ist völlig unklar, was ein Produkt der Bildung oder der Kultur sein soll. Lorenz, der seine jüngere Forschung auf Wissenschaftspolitik konzentriert hat, meint dazu: »In contrast with the normal economy, in the education economy it is not possible to identify buyer’s preferences so that the educational products can be designed to meet them and against which their quality can be measured. The same applies for the efficiency of the production process.«21 An den Universitäten drückt sich dies in der Maßeinheit der ECTS Punkte aus sowie in ihrer Akkumulation in Abschlüssen. Das heißt aber, dass die Qualität der Ausbildung definiert wird nach Maßgaben quantitativer Effizienz oder Rentabilität. Letztlich führt dieser Prozess dazu, dass der kulturell verstandene Wert einer akademischen (Aus)Bildung, der sich traditionell am Umfang und der Tiefe des erlangten Wissens und an der langjährigen ›Erfahrenheit‹ (wie es Hans-Jörg Rheinberger in seinem Eröffnungsvortrag treffend formulierte) im Umgang mit dem Wissen orientiert, durch dessen Ökonomisierung in den Hintergrund tritt bzw. verschwindet. Der ökonomische Wert parasitiert gewissermaßen zunehmend den epistemischen Wert von Wissen. Damit einher geht eine Verkehrung der Begrifflichkeiten: Qualität wird gleichgesetzt mit Quantität und infolgedessen in der New Public Management-Sprache wiederum als Qualität angepriesen. Nun mag man einwenden, dass diese Sicht der Dinge zu einseitig, zu demagogisch oder ideologisch sei. Diese Bedenken erübrigen sich, wenn man sich die Auswirkungen des New Public Management (NPM) in den Niederlanden genauer betrachtet. Dabei werde ich mich im gegeben Fall nicht auf die Bildungs- bzw. Universitätspolitik konzentrieren, sondern auf die Kulturpolitik und das Theater. Zunächst ein paar Fakten: Im Jahr 2010, unter der damaligen Koalitionsregierung der Liberalen Partei, der Rechtsnationalen Wilders-Partei und der Christdemokraten kündigte der damalige liberale Minister für Bildung und Kultur, Halbe Zijlstra eine, wie er sagte, Wende in der Kultur- und Bildungspolitik an. Ich zitiere aus dem Programm: »Der Staat wird seine Rolle einschränken. Er übernimmt nur noch Verantwortung für die kulturelle Basisstruktur: Erbgut, Basisausbildung und Talentförderung. Seine wichtigste Aufgabe wird darin bestehen,
20 | Wirtschaftslexikon24.com. Ausgabe 2015, www.wirtschaftslexikon24.com/d/kapita lisierung/kapitalisierung.htm vom 06.05.2016. 21 | Lorenz, »Universities, Neoliberalism, and New Public Management«, S. 621.
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kulturelle Unternehmerschaft und Mäzenatentum zu stimulieren.«22 Als Grund dafür gab er an, dass das Dreieck Staat-Öffentlichkeit und Kultur aus den Fugen geraten sei. Kulturförderung sei in alten Zeiten in zu großem Maße Aufgabe des Staates gewesen. Der Staat habe die Kunst (wörtlich) »totgeschmust«, sie sei zu einem linken Hobby verkommen. Was nach der Wende auf der Agenda stehe, sei das Streben nach einer neuen Qualität von Kunst, die nach den Regeln des freien Marktes und der Öffentlichkeitspartizipation (publieksparticipatie) funktionieren müsse. 2013 wurden diese Ankündigungen wahr gemacht. Konkret bedeutete das drastische Sparmaßnahmen im gesamten kulturellen Sektor: beinahe ein Viertel der bestehenden Subventionen (900 Mio. Euro) wurden gekürzt. Vor allem das Theater wurde getroffen. Denn hier wurden 40 % der Subventionen gestrichen. Die Finanzmittel der großen Häuser wurden um 10 % reduziert, die der Theatergruppen um 70 %. Unter anderem wurden die Subventionen für alle fünfzehn Produktionshäuser im Land (Auftrittsstätten für experimentelle Theatergruppen) gestrichen. Diese Entwicklungen waren bereits 2005 abzusehen. Damals hatte die niederländische konservativ-liberale Regierung im Kiel Sog der englischen New Labor Politik eine ›Nota Kultur und Ökonomie‹ mit dem Titel »Unser kreatives Vermögen«23 veröffentlicht. Der Doppelsinn des Wortes Vermögen spricht hier Bände. Denn die Grundidee war, dass Kunst von Ökonomie und Ökonomie von Kunst lernen solle, um »die ökonomische Potenz von Kultur und Kreativität zu verstärken.«24 Ausschlaggebend für dieses Vorhaben war die vom nordamerikanischen Ökonomen Richard Florida25 inspirierte Auffassung, dass es »einen fundamentalen Berührungspunkt zwischen Kunst und Ökonomie gäbe«: die Kreativität. Da nämlich Künstler »mit neuen Formen experimentieren und damit Risikos eingehen«, sei ein »unternehmerischer Geist bei kulturellen und künstlerischen Aktivitäten unverzichtbar«. Auf dieser Grundlage wurde in den Niederlanden ein »Archipel von Sektoren« definiert, die als kreative Unternehmen gefördert werden sollten und inzwischen übrigens gefördert werden: »Erbgut, Medien und Entertainment, Architektur und Computerspiele«26, zusammengefasst unter dem Begriff kreative Industrie. Unter dem gemeinsamen Nenner der Kreativität werden sie einem Ziel unterstellt: Profit. Ich zitiere noch einmal die Nota: »Diese Nota macht keinen normativen Unterschied zwischen kreativer 22 | Vorlage von Halbe Zijlstra gerichtet an den Vorsitzenden der Tweede Kamer van de Staten Generaal, 6. Dezember 2010, Den Haag, www.duurzameoverheden.nl/files/ vng/vng/Documenten/Extranet/Cultuur/Algemeen%20kunst%20en%20cultuurbeleid/ uitgangspunten-cultuurbeleid%5B1%5D.pdf [Übers. K.R.]. 23 | http://docplayer.nl/865778-Ons-creatieve-vermogen-brief-cultuur-en-economie. html vom 21.05.2016. 24 | Ebd. [Übers. K.R.]. 25 | Richard Florida, The rise of the creative class, New York 2002. 26 | Siehe Fn. 23.
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Industrie, kultureller Industrie, Kunst oder Entertainment. Es geht um die Gesamtheit der Wirtschaftszweige, in denen Kreativität der entscheidende Produktionsfaktor ist«.27 Inzwischen steht kreative Industrie nicht nur hoch im Kurs bei der Förderung künstlerischen Unternehmertums, sondern auch, wie wir alle wissen, in der Subventionspolitik geisteswissenschaftlicher Forschung (wie z.B. Horizonte 2020). Im Sommer 2016 wird die nationale Wissenschaftsagenda verabschiedet, die einen mehrjährigen Plan zur Investierung in Forschung festlegt. Darin ist mit der sogenannten Route 14 auch das Gebiet Kunst aufgenommen. Auch hier steht kreative Industrie hoch im Kurs, wie folgendes Zitat belegen mag: Die Frage, was Kunst für den Menschen bedeutet, richtet sich auf die Rolle, die Kunst für Menschen spielt, legt aber auch eine Verbindung mit Kreativität und Innovation. Kunst wird viel zu oft isoliert betrachtet. Indem wir danach fragen, wie man Kreativität und Innovation fördern kann, stiften wir eine Verbindung von Kunst mit Bildungsinstitutionen, Wissenschaft und Innovation. […] Indem wir tiefer graben, kommt eine Verbindung mit der zirkulären Ökonomie zustande wie auch mit der Gestaltung unserer Institutionen der Zukunft. 28
Ein weiterer Schlüsselbegriff der Politik des New Public Management ist Partizipation. Ähnlich wie im Falle von Kreativität zeichnet sich eine Inflation des Begriffes durch Inversion ab, die dessen ursprünglich demokratische Bedeutung ersetzt. Das gilt vor allem für die Bedeutung von Partizipation in den Künsten, folgt man unter anderem Claire Bishop. Ihr zufolge ist Participatory Art aus ihrer genuinen Entstehungsgeschichte heraus »perceived to channel art’s symbolic capital towards constructive social change« 29. In ihrer Studie Artificial Hells analysiert sie die diskursive Umwertung dieser Bedeutung partizipatorischer Kunstformen unter den Bedingungen von New Public Management in England. Dabei ist ein Unterschied zu machen zwischen public participation und participatory art. Was ersteres angeht, wird soziale Verantwortung zunehmend mit ökonomischer Verantwortung gleichgesetzt: Mitmachen ist die Prämisse, um die Ökonomie instand zu halten (shareholding). Die Voraussetzung dafür ist, dass jeder individuell Verantwortung auf sich nimmt, um den Marktwert im Wettbewerb zu steigern: »The social inclusion agenda is therefore less about repairing the social bond than a mission to enable all members of society to be self-administering, fully functioning consumers who do not rely on the welfare state and who can cope with a deregulated, privatized world.«30 Sie zieht also ähnliche Schlüsse 27 | Ebd. 28 | https://vragen.wetenschapsagenda.nl/route/kunst-onderzoek-en-innovatie-in-de21ste-eeuw [Übers. K.R.] vom 18.05.2016. 29 | Bishop, Artificial Hells, S. 13. 30 | Ebd., S. 14.
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wie Lorenz. Welche Konsequenzen kann diese Verschiebung des Begriffs für das Theater haben?31 Einer möglichen Antwort auf diese Frage möchte ich mich anhand eines Beispiels aus den Niederlanden nähern. Es handelt sich um das jüngste Projekt des Theaterkollektivs Wunderbaum: The New Forest. Wunderbaum hat sich mittlerweile auch im Ausland einen recht bekannten Namen gemacht für das, was in den Niederlanden ›engagiertes Theater‹ genannt wird: experimentelles Theater, das auch mit verschiedenen Formen von Publikumsbeteiligung arbeitet. The New Forest geht einen Schritt weiter. Das Projekt integriert das Publikum in das sozialutopische Ziel, innerhalb von vier Jahren eine neue Gesellschaft zu schaffen. Auf der Website liest sich das so: »Hinter der Wirklichkeit scheint etwas Neues auf. Eine neue Realität. Du weißt, dass diese Realität besteht. Inmitten der Weltkrise fühlst du ihre Anwesenheit. Du weißt es. Es gibt eine Alternative. Diese Alternative heißt The New Forest. Willkommen.«32 Auf diesen Willkommensgruß folgt die genauere Erläuterung: The New Forest ist ein groß angelegtes Projekt, mit dem in den kommenden vier Jahren an einer zukünftigen Gesellschaft gebaut wird. The New Forest hat verschiedene Facetten. Betritt z.B. seine grenzüberschreitende Siedlung im Herzen von Rotterdam. Besuch auch die New Forest Vorstellungen im In- und Ausland, die jeweils einen neuen Blick auf brennende gesellschaftliche Themen werfen. Begegne den Bewohnern von The New Forest: Schutzpolizisten, Vorstandschefs, Tänzern, Gentechnologen, copywritern, Filmemachern und deinen eigenen Freunden. Oder kreiere New Forest virtuell, über eine interaktive online-Plattform. 33
Bevor ich auf die Frage nach dem Status des Publikums zu sprechen komme, ist nicht unerheblich zu erwähnen, dass die Gruppe für dieses Projekt subventioniert wurde mit einem Betrag von 486.000 Euro jährlich über einen Zeitraum von vier Jahren, das macht ein Riesenanteil der knappen Subventionsgelder aus. Die Kommission begründete diese Entscheidung folgendermaßen: Das Projekt sieht eine neue Art vor, das Publikum in die Podiumskünste mit einzubeziehen. Die Kommission sieht hierin eine Vorbildfunktion: denn die Gruppe gibt an, Theater außerhalb der vier Wände des Theaters erforschen zu wollen. Dadurch, dass viele Partner [in erster Linie Wirtschaftspartner] auch jenseits der Podiumskünste in dieses Projekt eingebunden werden, vertraut die Kommission darauf, dass das Konzept einen Effekt haben wird, der das eigene künstlerische Werk der Antragsteller übersteigt. 34 31 | Dazu muss angemerkt werden, dass das niederländische Wort ›publiek‹ gleichermaßen Öffentlichkeit wie auch Publikum bedeutet. 32 | The New Forest, http://thenewforest.nl/2014/07/more-real-than-life/ [Übers. K.R.] vom 18.05.2016. 33 | Ebd. 34 | Acteursgroep Wunderbaum, Fonds Podiumkunsten, www.fondspodiumkunsten.nl/ nl/toekenningen/meerjarige_activiteitensubsidies_2013-2016/wunderbaum/[Übers.
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Wie steht es nun um das Publikum? Der Schlüsselbegriff des Projekts ist Partizipation (Niederländisch: participatie theater). Wie die Partizipation Gestalt bekommen soll, wird ebenfalls auf der Website von Wunderbaum vermeldet. Dort findet der oder die Interessierte einen Aufruf zur Beteiligung am Auf bau der neuen Gesellschaft als »dauerhafte Performance, bei der jeder mitmachen kann«. Zunächst könnte man annehmen, dass es sich um die Ankündigung eines gemeinsamen sozialutopischen und künstlerischen Experiments etwa im Sinne eines Joseph Beuys handelt. Und tatsächlich ist das Projekt vor allem bei jungen Leuten aus diesem Grund bisher auf viel Resonanz gestoßen. Wenn man aber weiterklickt, dann stößt man auf die Rubrik »Investiere!«. Will man tatsächlich mitmachen, dann wird man aufgefordert, sich hier als »Pionier« (zu dieser Bezeichnung wäre eine gesonderte Diskussion nötig, die ich hier nicht führen kann) einzuschreiben: Dazu liest man dann wiederum folgende Begrüßungsformel: Wir danken unseren Pionieren [Anna, Kees, Freek …] Als Pionier wirst du aktiv in die Entwicklung von The New Forest einbezogen. […] Bei einem jährlichen Beitrag von 50 Euro bekommst du ein gratis Ticket für eine Premiere in Rotterdam, mit einem Getränk danach und der Möglichkeit, ein reduziertes Ticket dazu zu kaufen. Du bekommst einen exklusiven Pioniersbutton, dein Name wird auf unserer Website vermeldet, und du wirst informiert über alle New Forest Extras. Das können speziell für euch organisierte Aktivitäten wie eine öffentliche Probe oder eine Party sein, ein try-out, Preiskürzungen für Vorstellungen von wiederaufgenommenen Produktionen etc. 35
Diese unverhohlene Werbung für das Produkt New Forest (denn mehr ist es letztlich nicht) setzt sich dann jeweils entsprechend fort für Beiträge von 100, 150 etc. Euro. Das neue Publikum wird also aufgefordert, sich in die Partizipation an der Gründung der neuen Gesellschaft einzukaufen. Es bezahlt nicht nur die Kunst, es bezahlt auch dafür, in eine soziale Gemeinschaft eingebunden zu werden: für die Illusion, an der Schaffung eines besseren Lebens, einer besseren Gesellschaft beteiligt zu sein. Diese Art der Anrufung des kreativen Vermögens des neuen Publikums ist eines von zahlreichen Beispielen dafür, wie ökonomische, am Gewinn orientierte Werte, kulturelle oder auch demokratische, an der Freiheit orientierte Werte, parasitieren. So gesehen kann The New Forest als Beispiel für die Produktivität sozialer Reproduktion und Kohäsion betrachtet werden, die nach Negri-Hardt durch Biomacht definiert ist. Denn Kreativität, soziale Beziehungen und Affekte werden zu Gütern. A priori nicht instrumentelle Werte wie Liebe, Freundschaft, Solidarität, aber auch Wissen und Kunst, Werte, die notwendig sind, um eine soziale Gemeinschaft zu bilden, werden zu selling points und damit K.R.] vom 18.05.2016. 35 | ›Investeer‹, The New Forest, http://thenewforest.nl/investeer/ [Übers. K.R.] vom 18.05.2016.
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auch Teil einer Maschinerie von Kalkulation und Kontrolle. Diese Entwicklung hat nicht nur entscheidende Konsequenzen für den Status von Theaterkunst, wie Bishop beobachtet: soziales Handeln wird als Kunst geübt, und Kunst wiederum muss sich gesellschaftlich über Werte legitimieren, die jenseits von Kunst angesiedelt sind. Darüber hinaus stellt sich meines Erachtens auch die Frage nach dem Status des Theaterpublikums im Verhältnis zu den Begriffen und Praktiken von Öffentlichkeit und Demokratie. Denn wenn die schleichende Inflation von Begriffen wie Kreativität, Partizipation, Vermögen, Freiheit usw. dazu führt, dass bürgerliche Freiheit gleichsetzt wird mit der Freiheit des Marktes, dann stellt sich die Frage, ob das Publikum, im klassischen Sinne als Teil von Demos verstanden, nicht verabschiedet wird von einem Publikum, das sich als Klientel von Kunst die ›Freiheit‹ erkauft, Bürger zu sein. Das aber auf Kosten der Freiheit und vielleicht sogar der Instanz des demokratischen Publikums.
Kritik des Vitalen Zu den epistemologischen Bedingungen von Liveness Matthias Dreyer
Unter dem Titel Live Culture fand 2003 in der Londoner Tate Modern eine Veranstaltungsreihe statt, die von Adrian Heathfield, Lois Keidan und Daniel Brie als Vertreter der britischen Live Art Development Agency kuratiert worden war. Neben etablierten Szenegrößen wie Ron Athey, Forced Entertainment oder Goat Island trat der Bio-Art-Künstler Oron Catt im Museum auf. Der Ansatz seiner Gruppe Tissue, Culture and Art besteht darin, lebende Zellen zu züchten und wuchern zu lassen. Die Zellen leben unter den Bedingungen eines sterilen Labors, in dem sie von Zuschauern beobachtet werden können, und wachsen in einer Nährlösung zu formlosen ›Skulpturen‹ heran. Am Ende des Projekts sterben sie bei Herausnahme aus den Laborbedingungen ab.1 Dass ein solches Projekt im Rahmen eines Performance-Programms in die Tate Modern eingeladen wurde, verdeutlicht nicht nur die aktuelle Tendenz, die Performance Art in musealen Kontexten neu zu bewerten und damit zugleich die Museen durch Live-Programm zu öffnen. Es zeigt darüber hinaus den spezifischen Ansatz des Londoner Live Culture-Projekts, Zusammenhänge herzustellen zwischen künstlerischen Prozessen und dem Lebensdiskurs, der in Gesellschaft und Wissenschaft seit einigen Jahren omnipräsent ist. Dieses Anliegen ist in der letzten Zeit verschiedentlich zu beobachten und prägte 2012 die dOCUMENTA (13). Deren Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev hatte mit der Forderung provoziert, Bienen und Erdbeeren stehe das parlamentarische Wahlrecht zu. Die Ausstellung präsentierte zahlreiche performative Arbeiten mit dem Ziel, dass Kunst die Bahn bereiten sollte für einen neuen, postanthropozentrischen Lebensbegriff. In diesem Kontext wählte der französische Künstler Pierre Huyghe eine Kompostierungsanlage in der Kasseler Karlsaue, um unter dem Titel Untilled (dt. unbestellt, unbeackert) ein Environment zu inszenieren, das zugleich als lebendige Skulptur, performativer Parcours und Land Art verstanden werden kann. Auf dem verwilderten Gelände lief ein 1 | Vgl. Oron Catts, »The Art of the Semi-Living«, in: Adrian Heathfield (Hg.), Live. Art and performance, London 2004, S. 152-159.
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weißer Hund mit rosa Pfote umher, lag eine Frauenskulptur in einer Brache, deren Kopf ein summender Bienenkorb bildete, und streunte man als menschlicher Besucher über Hügel und entlang verschiedener Pflanzen, wobei nicht deutlich war, welche für das Projekt gepflanzt und welche vorgefunden waren. Huyghe gestaltet künstlerisch-ökologische Systeme, die den Anspruch erheben, ein Eigenleben zu entfalten.2 Projekte wie die von Catt oder Huyghe arbeiten mit einer Ambivalenz zwischen dem organischen Wachsen und dem technisch-kulturellen Herstellen, zwischen dem Konstruieren und dem Geschehen-Lassen. Indem sie etwas in Szene zu setzen versuchen, das sich menschlicher Kontrolle entzieht – samt dem Unheimlichen wuchernder Zellen oder streunender Hunde –, erforschen sie das Leben ›jenseits des Menschen‹. All dies bringen sie ins Spiel, indem sie etwas zum Gegenstand und Agens des Ästhetischen machen, das an dieser Stelle provisorisch als das ›Lebendige‹ bezeichnet werden soll. Dieses ›Lebendige‹ – die inszenierten Zellen, Pflanzen, Bienen, Hunde – ist für das Nachdenken über die Performance, und in gewisser Hinsicht auch für das Verständnis des Theaters generell, von Wichtigkeit, fordert es doch deren ästhetische Grundkategorien auf neue Weise heraus. Denn was bedeutet das Lebendige für die Kunst? Stehen materielle oder imaginative Prozesse im Vordergrund? Geht es um das Leben konkreter Lebewesen oder um das Denken von Leben? Und welche historischen Konzepte sind impliziert? Solange das ›Lebendige‹ ausschließlich auf die Kategorie der Liveness als Präsenz bezogen wird, sind diese Fragen in der Theaterwissenschaft und Performance Studies nicht hinreichend zu beantworten. Zugleich blieb die Problemstellung lange Zeit unbearbeitet angesichts der Kritik jeder Präsenzvorstellung in dekonstruktiven Ansätzen, die für die Frage nach dem Lebendigen gewissermaßen blind wurden. Angesichts dessen zielen die theoretischen und historischen Perspektiven, die im Folgenden entfaltet werden sollen, zunächst darauf ab, die Diskurse um Live Art und Liveness gewissermaßen beim Wort zu nehmen und sie im Hinblick auf die impliziten Lebensbegriffe sowie im Kontext benachbarter Forschungspositionen zur ästhetischen Lebendigkeit einer Revision zu unterziehen. Dabei kann es hier zunächst nur darum gehen, Genealogien und Problemstellungen aufzuwerfen, insbesondere warum in diesem Horizont das grundlegend Politische jedes Lebens – mithin die Relevanz und die Reichweite einer Verbindung von Kunst und Biopolitik – bislang weitgehend vernachlässigt wurde. Die Überlegungen verstehen sich als Prolegomena einer umfassenden Untersuchung zur Problematik der Lebensbegriffe in den Avantgarden; mit ihr soll letztlich eine ›Kritik des Vitalen‹ ermessen werden, die zweierlei beinhaltet: 2 | Vgl. den Text und die Raumskizze in: dOCUMENTA (13). Das Begleitbuch/The Guidebook, Katalog/Catalog 3/3, Ostfildern 2012, S. 262f., sowie die Foto-Dokumentation im Ausstellungskatalog: Pierre Huyghe, Centre Pompidou, Paris; Museum Ludwig, Köln; Los Angeles County Museum of Art, hg. v. Danko Szabó, München 2014, S. 186-195.
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Zum einen die ideologiekritische Analyse metaphysischer Lebenskonzepte, zum anderen die Frage, an welcher Stelle es sinnvoll ist, das Denken des Vitalen in der Kunst heute wieder aufzugreifen – etwa im Sinne eines, um mit Frédérik Worms zu sprechen: »kritischen Vitalismus«3, der helfen kann, entgegen einer auf das Rationale verkürzten Weltsicht etwas aufzudecken, das sich der Kontrollierbarkeit entzieht.
Ist Liveness subversiv? In der Theatertheorie wird die Aufführung häufig als ein transitorisches, nicht wiederholbares und mithin ›lebendiges‹ Ereignis verstanden. Diese Sicht gilt es auch in ihrer Historizität zu begreifen, wobei vieles dafür spricht, ihre Herkunft mit den Umbrüchen um 1900 zu assoziieren, insbesondere mit dem aufkommenden ›Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit‹ sowie den zeitgenössischen lebensphilosophischen Denkbewegungen.4 In diesem Kontext ist zu verorten, dass es möglich wurde, Theater als ›live‹ zu beschreiben. Der Begriff ›live‹ entsteht in einer Zeit, in der Ton- und Bildaufnahmen möglich wurden, als ein Differenzkriterium aufführungsbezogener Praktiken gegenüber anderen stärker technikbezogenen Künsten und Medien.5 So verstanden ist ›live‹ ein relationaler Gegenbegriff zum technisch Reproduzierten. Der in Theater und Performance verwendete Lebensbegriff war vor diesem Hintergrund im 20. Jahrhundert stark auf ein dichotomisches Schema zwischen ›live‹ und ›mediatisiert‹ begrenzt, in dem der Anspruch auf Authentizität und Unmittelbarkeit mit einer Einsicht in die Vermitteltheit der Darstellung konkurriert. Wie seit Philip Auslanders einschlägiger Studie verschiedentlich gezeigt wurde, haben sich die technischen Medien heute den live-Begriff jedoch längst angeeignet.6 In diesem Verlauf hat der Gegensatz auch für die darstellenden Künste seine Relevanz verloren. Wie komplex das Verhältnis ist und wie es sich historisch verändert, lässt sich am Beispiel Johns Cages zeigen. Seine Arbeit mit Zufall und Unbestimmtheit bezeichnet er als eine »affirmation of life«7. Damit steht in Zusammenhang, dass er in seiner Lecture on Nothing, erstmals gehalten um 1950, in der Schlusspassage auf humorvolle Weise dazu einlädt, einer Gesellschaft beizutreten, in der Mit3 | Vgl. Frédéric Worms, Über Leben, hg. v. Danilo Scholz, Berlin 2013, S. 13. 4 | Vgl. Hans Christian von Herrmann, Das Archiv der Bühne. Eine Archäologie des Theaters und seiner Wissenschaft, München 2005. 5 | Erstmals nachgewiesen findet sich der Begriff ›live‹ im BBC Yearbook von 1934, vgl. Philip Auslander, Liveness: Performance in a Mediatized Culture, New York 1999, S. 59. 6 | Vgl. ebd. Zu den neueren Forschungen auf diesem Feld vgl. exemplarisch Martin Barker, Live to your Local Cinema. The Remarkable Rise of Livecasting, London/New York, NY 2013. 7 | John Cage, »Experimental Music«, in: Ders., Silence. Lectures and writings, Middletown, CT 1967, S. 7-12, hier S. 12.
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glied werden kann, wer einhundert Schallplatten zerstört hat.8 Musik wird damit als Gegensatz zum Objekthaften, technische Vermittelten gefasst und soll auf performative Weise einen Zugang zum Lebendigen eröffnen. An anderer Stelle wird aber klar, wie wichtig der Einsatz von Medien und Technik für seine Philosophie und Kunst war.9 Die ästhetische Arbeit mit dem Lebenskonzept ist nicht als Opposition zum Medialen angelegt bzw. verliert diese Ausrichtung im Laufe der Zeit. Dennoch sind nicht alle Differenzen eingeebnet. Was auf dem Spiel steht, verdeutlicht Peggy Phelans vielzitiertes Konzept der Performance als einem Akt des Widerstands: »Performance’s only life is in the present«, heißt es hier, um zu betonen, dass diese von ihr als ontologisch bezeichnete Qualität durch die Flüchtigkeit charakterisiert ist. Es ist jedoch nicht ein präsentes Hier und Jetzt, das die Performance und ihr Leben ausmacht, vielmehr konfrontiert die Flüchtigkeit mit einer »disappearance«, einem Verschwinden des Objekts. Diese Abwesenheit der Performance entwickelt Phelan als ein kritisch-politisches Konzept, insofern sich die Performance ökonomischer Vereinnahmung entzieht bzw. jenseits der Logik von Reproduktion und Konsum agiere.10 Im Entzug der Repräsentation ist die Reproduktion der herrschenden Ordnung unterbrochen und wird die Wahrnehmung und Anerkennung des ›Anderen‹ eröffnet – Phelan denkt hier aus feministischer Perspektive primär an das verdeckte Weibliche. Der von Phelan mit der Performance implizierte Lebensbegriff betont das Verschwindende und ist gewissermaßen vom Tode her gedacht.11 Durchzogen von Verlust und Entzug, ist er gerade nicht mit Unmittelbarkeit assoziiert. Nun lässt sich gegen Phelan einwenden, dass sie durch die Emphase der Flüchtigkeit die materiellen Voraussetzungen der Performance – die Architektur, die medialen Kontexte, das Dispositiv etc. – sowie die nach der Aufführung bleibenden Reste nicht genügend berücksichtigt.12 Auch ist klar, dass die Flüchtigkeit nicht für alle Inszenierungen als ausschlaggebendes Kriterium gelten kann, so dass die »disappearance« kaum als eine »ontology of performance« zu begrei8 | John Cage, »Lecture on Nothing«, in: Ders., Silence, S. 109-126, hier S. 125. 9 | Vgl. Ders.: »Experimental Music«; vgl. auch Julia Kursell/Armin Schäfer, »Spaces Beyond Tonality. I: The Long Nineteenth Century, II: John Cage, ›Imaginary Landscape I‹«, in: OASE Journal for Architecture 78 (2009), S. 82-102. 10 | Peggy Phelan, »The Ontology of Performance: representation without reproduction«, in: Dies., Unmarked: The Politics of Performance, New York, NY 1993, S. 146-166. 11 | Sie verwendet – vermutlich bewusst – nicht den Begriff der ›Liveness‹, den Auslander ihr in seiner Kritik in den Mund legt und der m.E. häufig fälschlicherweise mit Präsenz gleichgesetzt wird. 12 | Phelan hat sich unlängst selbst korrigiert, indem sie die Wichtigkeit der Fotografie als konstitutiven Bestandteil der Arbeit an der Performance hervorgehoben hat, vgl. »Violence and Rupture: Misfires of the Ephemeral«, in: Dies. (Hg.), Live Art in LA: Performance in Southern California 1970-1983, London/New York, NY 2012.
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fen ist. Dennoch spricht vieles dafür, ihre mit dem Lebendigen der Performance assoziierten ethischen Fragen, mithin das Widerständige – oder zumindest den Anspruch dessen – nicht zu verabschieden, wenn eingefordert wird, die Medialität und Vermitteltheit etc. des Theaters (sowie die Schriftlichkeit) zu berücksichtigen. Dabei gilt es, Phelans Projekt als symptomatisch für ein historisches Erbe der emanzipatorischen Dimensionen der Performance Art zu verstehen, das bis heute fortlebt und eng auf die Begriffe des Lebens bezogen ist. Um diese als kulturell und historisch determinierte genauer zu untersuchen, soll dreierlei bedacht werden: Zu beachten ist zum einen, dass auch das Lebendige in den letzten Dekaden zu einem ökonomischen Faktor geworden ist, zum anderen, dass der Diskurs mit historischen Topoi der ästhetischen Lebendigkeit interferiert, und drittens, was es für die Kunst bedeutet, dass das Leben seit der Moderne ein Feld (bio-) politischen Wirkens ist. Diese im Folgenden zu entfaltenden disparaten Diskurse sind als epistemologische Bedingungen des Lebendigen in den performativen Künsten zu erkennen und aufeinander zu beziehen.
Live Art-Ökonomie Der von Phelan formulierte Anspruch wird in künstlerischen und diskursiven Praktiken tradiert, die schon vom Namen her einen Bezug auf das Lebendige versprechen. Der Begriff der ›Live Art‹ kam in Großbritannien in den 1970er Jahren auf;13 er bezeichnet performative Formen und disziplinäre Gemische verschiedenster Genres und Medien – Theater, Musik, Tanz, Malerei, Film, Video, Literatur et al. – , die dadurch abgrenzbar sind, dass sie nicht in die Bereiche des dramatischen Theaters oder der Bildenden Kunst gehören, selbst aber keiner formalen Definition folgen. Dabei wird der Begriff häufig synonym mit dem der Performance Art verwendet, zudem betonen viele der als Live Art benannten Arbeiten eine Kontinuität zur Performance Art seit den 1960er Jahren.14 Im engeren Sinne lässt sich Live Art historiografisch jedoch als ein britisches Konzept fassen, mit dem versucht wird, die angelsächsischen Happenings, Performances, Aktionen stärker in die Geschichte der Performance Art einzuschreiben und damit die Dominanz der US-amerikanischen Perspektive zu korrigieren.15 Zugleich steht der 13 | Erstmals nachweisbar verwendet wurde der Term ›Live Art‹ vermutlich in RoseLee Goldberg, Performance: Live Art 1909 to the Present, New York 1978, vgl. Dominic Johnson, »Marginalia: Towards a Historiography of Live Art«, in: Dominic Johnson (Hg.), Critical live art. Contemporary histories of performance in the UK, London/New York, NY 2013, S. 13-30, hier S. 14. 14 | Vgl. Jennie Klein, »Developing Live Art«, in: Deirdre Heddon/Jennie Klein (Hg.), Histories and practices of live art, Basingstoke 2012, S. 12-36, hier S. 12. 15 | Vgl. Dominic Johnson, »Introduction«, in: Ders. (Hg.), Live Art in the UK, S. 6f. Zu prüfen wäre, inwiefern Parallelen zum synonymen französische Terminus spectacle vivant gegeben sind. Zudem ist anzumerken, dass in dieser Konkurrenz national orientierter
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Begriff für eine Popularisierung der Performance Art, insofern als die britische ›Live Art‹ trotz aller Abgrenzung auf das Theater bezogen ist,16 sowie auch Arbeiten aus den Bereichen Musik und Tanz inkludiert.17 Die Historiografien der britischen Live Art sind in den letzten Jahren erschlossen worden. Jedoch wurden auch hier die Konzepte des Lebendigen nicht theoretisch-systematisch aufgearbeitet.18 Der häufig synonym verwendete Terminus time-based art verweist darauf, dass ›live‹ hier in erster Linie unter den Aspekten der Zeitlichkeit verstanden und als Gleichzeitigkeit von Produktion und Rezeption ausgelegt wird. Diese ist oft mit dem emphatischen Konzept der Präsenz assoziiert worden, jedoch sind ebenso andere Zeitschichten im Spiel.19 So scheint eine Dimension des Werdens zentral zu sein, denn im Falle der Live Art bildet dies vermutlich den Kern der zeitgenössischen Faszination für das Genre: die Annahme, dass in der Aufführung nicht etwas vorgeführt wird, was andernorts bereits hergestellt oder festgelegt wurde, sondern dass vielmehr etwas Unkalkuliertes – so kalkuliert es auch scheinen mag – beteiligt ist. Am Diskurs der Live Art ist aber vor allem interessant, wie das ›live‹ der Aufführung, das Lebendige, zu einem ökonomischen Faktor wird.20 Live Art bildet in Großbritannien seit den 1980er Jahren einen autonomen Sektor der Cultural Industries, der getrennt von den Szenen der Visual Arts und des Theaters funktioniert.21 Auf der Basis nationaler Förderprogramme haben sich Festivals, etwa das National Review of Live Art, Produktions- und Veranstaltungsorte sowie Agenturen herausgebildet. 1979-1992 erhielt die Szene Unterstützung durch die vom britischen Arts Council geförderte Zeitschrift Performance Magazine: The Regular Review of Live Art in the UK. 1999 wurde die Live Art Developing Acengy gegründet, die Künstler, Kuratoren, Stifter berät, Publikationen sowie ein Archiv organisiert Historiografien wiederum andere Traditionen außen vor gelassen werden. Die Legitimität national orientierter Historiografien ist angesichts der vielen in dieser Szene international operierenden Künstler zweifelhaft. 16 | Vgl. die Zusammenfassung der Forschungen von Nick Kaye in: Heike Roms/Rebecca Edwards, »Towards a Prehistory of Live Art in the UK«, in: Johnson (Hg.), Critical Live Art, S. 31-45, S. 32. 17 | Vgl. Klein, »Developing Live Art«, S. 18f. 18 | Eine Ausnahme stellen die Forschungen von Alan Read dar, der auf den Zusammenhang zwischen der Live Art/Performance und dem Lebendiskurs aufmerksam gemacht hat, vgl. Ders., Theatre, Intimacy & Engagement. The last human venue, London/New York 2008 sowie in dt. Übersetzung: Ders., »Über Aufführung überhaupt und über die Aufführung des Menschen. Bemerkungen über das Theater vor der Identitätstheorie«, in: Erika FischerLichte et al. (Hg.), Die Aufführung. Diskurs – Macht – Analyse, München 2012, S. 49-68. 19 | Vgl. Beth Hoffmann, »The Time of Live Art«, in: Johnson (Hg.), Critical Live Art, S. 37-64. 20 | Vgl. hierzu Jennie Klein, »Developing Live Art«. 21 | Vgl. Johnson, »Marginalia: Towards a Historiography of Live Art«, S. 19ff.
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und letztlich eine professionelle Ökonomisierung der Szene betreibt. Kulturpolitisch hat sich der Terminus Live Art bereits in den 1980er Jahren durchgesetzt – er wurde eingesetzt, weil er für Publikum, Mäzene und Sponsoren zugänglicher wirkte als der hergebrachte der Performance Art, der, laut Rob La Frenais vom Performance Magazine, »was rather specific to a type of visual art which used the body as material and whose visceral nature alienated some establishment commentators«22. An anderer Stelle wird der Einsatz des Live Art-Begriffs gar als eine »marketing strategy« bezeichnet.23 Während Phelan 1993 noch davon ausgeht, dass das flüchtige Jetzt sich finanzieller Wertorientierung verweigert, erlebt der Sektor der Live Art in den 1990er Jahren einen Boom. In diesem Horizont ist der Begriff Live Art ein Branding, ein Label des Kulturbetriebs, der die ökonomische Seite des Liveness-Diskurses in Theater anzeigt. Er verweist darauf, dass das Lebendige in der neoliberalen Gesellschaft einen ökonomischen Wert verkörpert bzw. auf diesen angewiesen ist. Das nennt Dietrich Diederichsen »Fetischismus der Lebendigkeit«, eine geradezu hysterische Lust an Authentizität, die das Subversive marktförmig macht.24
Topoi der Lebendigkeit – ästhetischer Schein Über das Ökonomische hinaus ist das Lebendige in der Kunst nicht ohne seine historische Prägung denkbar. Während die Geschichte der Performance jung ist, reichen die Debatten um die Lebendigkeit als Phänomen der Kunst weit zurück. Darstellungs- wie Motivtraditionen strukturieren in gewisser Weise auch die heutige künstlerische Wahrnehmung und Produktion. Bereits in der Antike ist die Lebendigkeit als rhetorisches Mittel der Ekphrasis und der Energeia ein erstrebtes Ziel. Mit der Renaissance wird die Faszination am Lebendigen als solchem zentral für die Kunst und artikuliert sich dort insbesondere im Medium des Tableaus. Dessen neuzeitlicher Diskurs ist von dem Wunsch beprägt, auch »ohne göttliche Beihilfe« Lebendigkeit herzustellen – »in verwirrender Nähe und doch […] unaufhebbarer Distanz zur Kultpraxis ›beseelter‹ Bilder«25. So wird ästhetische Lebendigkeit ein Phänomen illusionistischer Bildtechniken. Aber Mimesis allein im Sinne veristischer, kunstfertiger Ähnlichkeit bringt im Bild nicht Lebendigkeit hervor. Wie Frank Fehrenbach in einer Reihe von Studien gezeigt hat, 22 | Zit. nach Johnson, »Introduction«, S. 15. 23 | Ebd. 24 | Vgl. Diedrich Diederichsen, »Partizipation und Lebendigkeit«, in: Ders., Eigenblutdoping. Selbstverwertung, Künstlerromantik, Partizipation, Köln 2009, S. 256-279, hier S. 279. 25 | Vgl. Frank Fehrenbach, »Calor nativus – Color vitale. Prolegomena zu einer Ästhetik des ›Lebendigen‹ in der frühen Neuzeit«, in: Ulrich Pfisterer/Max Seidel (Hg.): Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance, Berlin/München 2003, S. 151-170, hier S. 156.
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ist die ästhetische Lebendigkeit nicht an die materielle Ebene geknüpft, sondern lässt sich als ein »persuasives Verfahren« verstehen, »dem kein fixierter Gegenstand entspricht.«26 Die interessantesten Kunstwerke wirken seiner These nach gerade nicht durch die Fähigkeit, eine körperliche Anwesenheit des Abgebildeten zu evozieren, oder nahezulegen, dass dieser spreche oder atme; auch geht es nicht darum, die Toten als Lebendige zu vergegenwärtigen. Vielmehr ist es die Konfrontation mit dem Nicht-Sprechen und der Unbewegtheit, die Fehrenbach als Bedingung für den Eindruck ästhetischer Lebendigkeit bestimmt.27 Die Nähe zum Toten und Starren, und mithin der Entzug bilden den Kern des Topos: »nur der Einschluss seines dialektischen Schattens – des Todes –« bringt den Schein des Lebens in der Kunst hervor.28 Auch das Theater ist von illusionistischen Praktiken des Tableaus seit der frühen Neuzeit fasziniert. Mittels aufwändiger Perspektivtechniken wird der Schein der Lebendigkeit inszeniert und die Lust an seiner Herstellbarkeit.29 Die Darstellung des Barock ist auch als experimentelle, selbstreflexive Kunst zu bewerten, so wie Fehrenbach die im Starren artikulierte ästhetische Distanz als Voraussetzung für »Überlegungen zur Bildlichkeit der Bilder« ansieht.30 Zu befragen ist hier, was er den Medusa-Effekt nennt, ein »chiastisches Drama zwischen immer lebendigerem Werk und immer lebloserem Betrachter«31: Ist die adorierte Liveness Kennzeichen einer verborgenen Mortifizierung der Betrachter?
Biopolitische Dimensionen In der Auseinandersetzung mit den kunsthistorischen und -theoretischen Topoi wird die Absenz, die auch Phelan als eine Kategorie des flüchtigen ›Lebens der Performance‹ ansetzt, in ihrer historisch weitreichenden Relevanz für das Thema der ästhetischen Lebendigkeit deutlich. Zudem können die Dimensionen des Scheinhaften, der Illusion und Rhetorik für den Diskurs erinnert werden, um den stark von der Präsenz her gedachten Liveness-Begriff zu ergänzen. Im Theater ist über diese Nähe zu den Darstellungsfragen des Bildes, der Malerei oder der Plastik hinaus jedoch stets noch anderes im Spiel: der Umgang mit dem atmenden und sterblichen Körper. Hierin besteht ein spezifischer Ansatz des Thea26 | Ebd., S. 153. 27 | Vgl. Frank Fehrenbach, »›Tra vivo e spento‹. Marinos lebendige Bilder«, in: Christiane Kruse/Rainer Stillers (Hg.), Barocke Bildkulturen: Dialog der Künste in Giovanni Battista Marinos ›Galeria‹, Wiesbaden 2013, S. 203-222, hier S. 203f. 28 | Ebd. S. 207. 29 | Vgl. Ulrike Haß, »Von der Schau-Bühne zur Architektur und über das Theater hinaus«, in: Norbert Eke/Ulrike Haß/Irina Kaldrack (Hg.), Bühne: Raumbildende Prozesse im Theater, Paderborn 2014, S. 345-370. 30 | Fehrenbach, »Calor nativus – Color vitale«, S. 153. 31 | Fehrenbach, »›Tra vivo e spento‹. Marinos lebendige Bilder«, S. 214.
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terdiskurses, der auch zu anderen Fragen der Darstellung führt. Eine zentrale Stellung nimmt daher der biopolitische Diskurs ein, der in den bislang behandelten Bereichen außen vor blieb. Die Beherrschung und zugleich Hervorbringung des Lebendigen durch Verfahren der Ökonomie und Politik bestimmen Michel Foucaults Interesse, wenn er unter dem Begriff der Biopolitik die neuen Formen von Macht und Regierung der bürgerlichen Gesellschaft analysiert.32 In dieser Hinsicht beschreibt er, wie das menschliche Leben seit dem 18. Jahrhundert zunehmend reguliert wird, um es als »Humanressource« verwertbar zu machen. Der Begriff des Lebens ist aus dieser Sicht eng auf Fragen der Macht bezogen. Foucault verfolgt diese Perspektive unter dem Begriff der Bio-Politik, um »den Eintritt des Lebens und seiner Mechanismen in den Bereich der bewussten Kalküle […] zu bezeichnen.«33 Seine Quintessenz, die auch Giorgio Agamben zitiert, lautet: »Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht.«34 Für die Frage, was der biopolitische Ansatz für das aktuelle Denken des Theaters bedeutet, gilt es zu erinnern, auf welche Weise dessen Institutionen, Techniken und Ästhetiken historisch mit der Biopolitik verflochten sind. Blicken wir also zurück in die Zeit um 1800 mithilfe der Foucault’schen Begriffe, die sich in der Theaterhistoriografie der letzten Dekaden verankert haben: Das moderne, sogenannte »bürgerliche« Theater entsteht zeitgleich mit dem von Foucault beschriebenen modernen biopolitischen Staat, ebenso mit dem ökonomischen Liberalismus und den modernen Lebens- und Humanwissenschaften. So wird in der Theaterforschung verschiedentlich die Herausbildung eines problematischen Dispositivs beschrieben, demzufolge das moderne Theater nach 1750 der polizeilichen Zensur unterworfen ist, als ein Ort disziplinierter Körper betrachtet werden muss, an dem die Zuschauer in verdunkelten Räumen und in festen Reihen normalisiert und stillgestellt werden.35 Die in diesem Rahmen entstehenden Theaterkonzepte sind Akteure der biopolitischen Instrumentalisierung, insofern sie das Lebendige zum Nutzen moralischer Erziehung entwerfen, zur Festigung bürgerlicher Rollen und Normen, zur Formung eines Nationalkörpers sowie der geistigen und körperlichen Erholung der Arbeitskräfte. Mittels der Perspektivordnung wird das Dargestellte in eine Abbildungslogik gefasst, die sich des erzählten Lebens bemäch32 | Vgl. die einschlägigen Texte von Michel Foucault: »Recht über den Tod und Macht zum Leben«, in: Ders., Sexualität und Wahrheit I. Der Wille zum Wissen, Frankfurt a.M. 1976, S. 159-190; Ders., »Die ›Gouvernementalität‹«, in: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/ Thomas Lemke (Hg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a.M. 2000, S. 41-67. 33 | Foucault, »Recht über den Tod und Macht zum Leben«, S. 170. 34 | Ebd., S. 138. 35 | Vgl. hierzu z.B. Jan Lazardzig, »Ruhe oder Stille? Anmerkungen zu einer Polizey für das Geräusch (1810)«, in: Meike Wagner (Hg.), Agenten der Öffentlichkeit. Theater und Medien im frühen 19. Jahrhundert, Bielefeld 2014, S. 97-116.
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tigt.36 Gemeint ist hierbei ein Produkt des Als-ob, etwa mittels Diderots Konzept der Vierten Wand, durch die das dramatische Spiel ein ›Leben in sich‹ entwickelt, das nun eine täuschende Echtheit anstrebt, die als ›natürlich‹ verstanden wird und den Darstellungscharakter kaschiert.37 Die von Phelan gefasst Problematik trifft an dieser Stelle genau jene Überlegungen, mit denen Foucault – und unlängst Roberto Esposito38 – die Allgegenwart des Biopolitischen befragt haben: Wie lässt sich mit Bezug auf das Lebendige eine kritische Dimension denken? Das heißt, wo geht Leben über die Vereinnahmung durch die Ökonomie, Politik, Arbeit hinaus, unterläuft sie oder setzt sich dieser gar entgegen? Diese Fragen werden dort akut, wo die ästhetische Darstellung verstärkt aus dem Rahmen des Bildes heraustritt und die Zentralperspektive verlässt. Sie stellen sich folglich vor allem angesichts des seit den historischen Avantgarden aufgeworfenen neuen Diskurses des Lebendigen, wie er nach 1900 entsteht und den Begriff des Lebens in einem emphatischen Sinne, also als ein Anspruch an die gesellschaftlich-emanzipatorische Kraft der Kunst neu prägt.
Das Leben der Avantgarde Lebensreform, Darwinismus und Zivilisationskritik bringen nach 1900 eine Explosion des Lebensdiskurses hervor. Die Avantgarden insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg beziehen sich auf diesen, um nach der Kehrseite des ökonomisierten Lebenszugriffs zu fragen, nach einem Verständnis des Lebens, das sich nicht berechnen oder Ordnungssystemen unterwerfen lässt. Hier ist die genealogische Bewegung anzusetzen, mit der das Lebendige als eine ästhetische Gegenkraft konstruiert wird und für die Phelans Theorie symptomatisch ist. Die Potentiale wie die Problematik dessen lassen sich etwa an Artauds Credo ablesen: »Das Theater hat sich dem Leben an die Seite zu stellen, nicht dem individuellen Leben, jenem individuellen Aspekt des Lebens, bei dem die CHARAKTERE triumphieren, sondern einer Art von befreitem Leben, das die menschliche Individualität
36 | Diese Position lässt sich entwickeln mittels Foucaults Verständnis des ›infamen Lebens‹, das von der Problematik ausgeht, dass jedes erzählte und dargestellte Leben an dem Punkt, an dem es sichtbar wird, letztlich den Normen dieser Ordnung, innerhalb derer es zur Sichtbarkeit kommt, unterworfen wird. Vgl. Michel Foucault, Das Leben der infamen Menschen, Berlin 2001. 37 | Vgl. Günther Heeg, Das Phantasma der natürlichen Gestalt, Frankfurt a.M./Basel 2000. Doris Kolesch betont dagegen Diderots Strategien ästhetischer Distanz, vgl. Dies., Theater der Emotionen. Ästhetik und Politik zur Zeit Ludwigs XIV, Frankfurt a.M. 2006, S. 237-256. 38 | Vgl. Roberto Esposito, »Vom Unpolitischen zur Biopolitik«, in: Thomas Bedorf/Kurt Röttgers (Hg.), Das Politische und die Politik, Berlin 2010, S. 89-101.
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beiseite fegt und in dem der Mensch nur noch ein Widerschein ist.«39 Eine solche neo-vitalistische Befreiung ist auf einen unmittelbaren Zugang zum Leben fixiert, jenseits von Sprache und Schrift. Die Problematik lässt sich gut durch Derridas Artaud-Lektüren erschließen, in denen Artauds Theater so paraphrasiert wird: »Das Theater der Grausamkeit ist keine Repräsentation. Es ist das Leben selbst in dem, was an ihm nicht darstellbar ist. Das Leben ist der nicht darstellbare Ursprung der Repräsentation.«40 Diese Suche scheint ein strukturierender Movens einer Reihe von avantgardistischer Praktiken zu sein: Zu denken ist an den Ausdruckstanz bei Isadora Duncan, die dadaistischen Lautexperimente mit ihrer Arbeit am A-Logischen oder die surrealistischen Poetiken des Zufalls. In der Entgegensetzung von Leben einerseits und Schrift, Technik, Medium andererseits ist dieser Lebensbegriff um 1900 ein Kampfbegriff, mit dem seine Vertreter eine verborgene Authentizität und die Aufhebung einer von ihnen empfundenen Entfremdung einfordern. Sowohl im Hinblick auf die Theaterkunst als auch auf die Theatertheorie und die wissenschaftliche Reflexion ist dabei also aufzuarbeiten, was Derrida die »Epoche Rousseau«41 nennt – den Versuch, eine substanzhafte Natur zu restituieren –, die nicht historisch abgeschlossen ist, sondern bis in die Gegenwart wirkt. Wer mit dem Lebendigen arbeitet, sollte die theoretisch-systematische Frage daher so fassen: Wie ist es in der Theaterästhetik möglich, Leben anders zu denken denn als vollständig von der Macht erfasst, ohne dabei Vorstellungen des Authentischen, Natürlichen und Unmittelbaren anheimzufallen? Wie gezeigt, lässt sich darauf mit Phelan antworten, mit einer Theorie, die erst dort einen affirmativen Charakter entwickelt, wo sie durch eine radikale Negativität hindurchgegangen ist, der Nähe zum Verschwinden und dem Tod. Darin paart sie sich mit Gilles Deleuzes radikaler Affirmation, wenn er in seinem letzten Text »ein Leben« als die Quintessenz der Philosophie erinnert: Ein Leben, das niemandem zugehört, das an der Schwelle zum Tod aufscheint, an dem das persönliche individuelle Leben abgelegt ist (oder noch kaum entwickelt wie bei Kleinkindern), »frei von den Zufällen des inneren und äußeren Lebens, das heißt von der Subjektivität und Objektivität dessen, was geschieht«.42 Als solche ist das Lebendige eine Kritik am anthropozentrischen Leitbild des Humanen, an der Hierarchie von Menschen und anderen Lebewesen; zugleich aber ist es »neutral, jenseits von Gute und Bös« und also jenseits der Kritik. Huyghe mag mit seinen Bienen, Hunden, Pflanzen, Hügeln diesem einen Leben Raum geben, das keine Substanz ist, 39 | Zit. nach Jacques Derrida, »Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation«, in: Ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M. 1972, S. 351-379, hier S. 353. 40 | Ebd. 41 | Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt a.M. 1974, S. 173. 42 | Gilles Deleuze, »Die Immanenz: ein Leben…«, in: Ders., Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche 1975-1995, hg v. David Lapuoade, Frankfurt a.M. 2005, S. 365-370, hier S. 367.
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sondern das Leben, das wir mit allem Lebendigen teilen und das »keinem Akt unterliegt«.43 Zugleich partizipiert Huyghes Arbeit jedoch an der Ökonomie dieses Lebendigen im Hinblick auf die Großausstellung und den Kunstmarkt, an der Geschichte der Formen, etwa den surrealen Imaginationen des Zufalls, oder an der Biomacht, insofern der Künstler das Lebendige durch seine Einrichtung regiert. Wer den élan vital in diesem Sinne aufspürt und zugleich dessen Gebrauch erkennt, kann die Mannigfaltigkeit des Lebendigen teilen.
43 | Ebd.
Medium, metaxy, mimeisthai Zu einer Mediologie von Mimesis Julia Stenzel
Vorhang auf! In der Legende von Zeuxis, dessen lebensecht gemalte Trauben von hungrigen Vögeln angepickt wurden, scheint fotorealistischer Kunst ein frühes Denkmal gesetzt. Dass die Anekdote, wie sie Plinius wiedergibt, an diesem Punkt noch nicht zu Ende ist und ihre Aporien erst in der zweiten Hälfte enthüllt, darauf wurde vielfach hingewiesen. Etwa in der psychoanalytischen Theorie, namentlich von Jacques Lacan, der das Begehren zu sehen als treibenden Faktor im Prozess der Kunstbetrachtung bestimmt hat.1 Denn Zeuxis wird späterhin selbst zum Opfer der Mimesis, die er bis zur Perfektion zu beherrschen scheint. Als Parrhasios, ebenfalls Maler, ihn zum Künstlerwettstreit herausfordert und ihm ein augenscheinlich verhülltes Gemälde vorstellt, bittet er ungeduldig darum, der Vorhang möge doch weggezogen werden, er wolle das Bild sehen. Doch der Vorhang ist gemalt, er ist das Bild. Zeuxis muss sich geschlagen geben, führt Parrhasios doch nicht nur die Vögel, sondern selbst den Kennerblick des Künstlers in die Irre.2 Ich möchte die Szene zum Ausgangspunkt nehmen, jedoch für andere Fragen als diejenige Lacans nach dem Begehren, diejenige Gombrichs nach der Geschichte als Illusionsgeschichte3 oder die scheinbar nächstliegende Frage nach dem Funktionieren realistischer Kunst. Ich setze vielmehr bei der Zeitordnung des mimetischen Aktes an, wie ihn die Anekdote modelliert. So ergeben sich Fra1 | Vgl. Jacques Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Berlin 1996, S. 109; Gabriele Brandstetter, »Lever de Rideau – die Szene des Vorhangs«, in: Dies./Sibylle Peters (Hg.), Szenen des Vorhangs – Schnittflächen der Künste, Freiburg i.Br. 2008, S. 19-43. 2 | C. Plinius Secundus d. Ä., Naturkunde (Naturalis historia), Buch XXXV, hg. v. Roderich König, Darmstadt 1978, S. 55. 3 | Vgl. Ernst Gombrich, Art and Illusion: A Study in the Psychology of Pictorial Representation, New York 1960, insbes. S. 173.
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gen nach seiner Struktur: Ist es der Akt des Malens, der das mimetische Objekt erschafft? Liegt die Mimesis damit vor der erzählten Zeit? Ist es der Akt des Begehrens nach dem Blick auf ein Dahinter, der für Lacan und anders auch für Gombrich im Zentrum der Erzählung steht? Oder ist es nicht vielmehr der Akt des Zeigens, der sich im hier ungeduldig eingeforderten Wegziehen des Vorhangs manifestiert? Denn Zeuxis betrachtet ja im Vorhang schon das Bild, das mit dem seinen konkurriert. Die drei Lesarten schließen einander freilich nicht aus. Für einen aufführungswissenschaftlichen Blick auf ›Mimesis‹ ist vor allem die Szene vor dem Vorhang aufschlussreich, die schon im Hinblick auf Lacans psychoanalytische Perspektivierung gelesen worden ist.4 Nimmt man an, das von Parrhasios inszenierte Geschehen verlagere die Mimesis ins Zeigen, ins Offenbar- und Sichtbarmachen, dann geht es in der kleinen Erzählung nicht so sehr um einen Künstlerwettstreit, sondern vielmehr um eine Konkurrenz von Konzepten des Mimetischen. Und ein Konzept von Mimesis als Wahrnehmbar-Machen soll der Ausgangspunkt meiner Überlegungen zu einer Revision dessen sein, was Aristoteles als ›Mimesis‹ bezeichnet. Hier kommen jene Begriffe ins Spiel, die im Titel neben ›Mimesis‹ stehen: metaxy, das ist zunächst einmal ein Abstand zwischen Subjekt und den Dingen, welche in der Wahrnehmung wiederum zu abgegrenzten Entitäten werden und so paradoxerweise in ein Verhältnis der Kontiguität rücken können. Das im Griechischen noch verhältnismäßig indifferente metaxy gewinnt durch die Übersetzung Thomas’ von Aquin als medium den Charakter eines wie auch immer gearteten Dazwischen-Seienden, das die Grundlage für neuzeitliche Fassungen des Mediums als Trägersubstanz werden sollte.5 Und mimeisthai, ›Mimesis betreiben‹, bezeichnet eben das, was die kleine Anekdote um Zeuxis und Parrhasios zum Thema macht: Den Prozess der Mimesis. Die Übersetzung von Mimesis als ›Nachahmung‹ ist eine Behelfslösung. Freilich eine von enormer Persistenz und eine, die begriffshistorisch folgerichtig scheint. Doch gerade das Mimesis-Verständnis bei Aristoteles, das neben den Bemerkungen in Platons Politeia eine zentrale Referenz war und ist, lässt sie nicht unbedingt als die nächstliegende erscheinen.6 In einer heuristisch dekontextuali4 | Vgl. August Ruhs, Der Vorhang des Parrhasios. Schriften zur Kulturtheorie der Psychoanalyse, Wien 2003, S. 294-313. 5 | Vgl. Wolfgang Hagen, »Metaxy. Eine historiosemantische Fußnote zum Medienbegriff«, in: Stefan Münkler/Alexander Roesler (Hg.), Was ist ein Medium?, Frankfurt a.M. 2008, S. 13-29; weiterhin Peter Mahr, »Das Metaxy der Aisthesis. Aristoteles’ De anima als eine Ästhetik mit Bezug zu den Medien«, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie 35 (2003), S. 25-58, hier S. 43-46. 6 | Vgl. zum schillernden Charakter des Begriffs Gertrud Koch et al. (Hg.), Die Mimesis und ihre Künste, Paderborn 2010; Arbogast Schmitt, »Schöpferische und produktive Formen der Mimesis bei Aristoteles«, in: Andreas Becker et al. (Hg.), Mimikry. Gefährlicher Luxus
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sierenden Lektüre der Poetik enthüllt sie ihre Aporien.7 Diese Erkenntnis ist nicht neu: Schon Ernesto Grassi versteht unter ›Mimesis‹ nicht die Nachahmung, sondern einen Prozess des Zeigens. In den folgenden Überlegungen soll den zahlreichen begriffshistorisch argumentierenden Überlegungen zu ›Mimesis‹ eine Relektüre der Poetik an die Seite gestellt werden – freilich eine punktuelle und eine, die heuristisch auf einen spezifischen Aspekt scharfgestellt ist. Entsprechend versteht sich meine Skizze nicht als historio-semantischer Überblick oder als womöglich dekonstruktive Lektüre des neuzeitlichen Mimesis-Begriffs bis in seine letzten poststrukturalistischen Verästelungen hinein.8 Ansetzend bei der aristotelischen Poetik, einem autoritativen Gründungstext des neuzeitlichen Theaters, nehme ich vielmehr eine Verengung des begriffshistorischen Spektrums nicht nur in Kauf, sondern setze sie bewusst als Heuristik ein. Diese soll es erlauben, einen differenztheoretisch formalisierenden Begriff zu entwerfen, der dann auch methodologisch fruchtbar werden soll.
Wiederholung Ich schlage vor, die Übersetzung von μὶμησις als ›Nachahmung‹ auszustreichen und Mimesis stattdessen als spezifische Form der Wiederholung zu betrachten, die, als Medialisierung gedacht, eine Wiederholung im Anderen und damit immer auch eine Perspektivierungsleistung, ein Zeigen im Sinne Grassis ist. Medien
zwischen Natur und Kultur, Schliengen 2008, S. 173-188; Gunter Gebauer/Christoph Wulf (Hg.), Mimesis. Kultur, Kunst, Gesellschaft, Reinbek b. Hamburg 1999. 7 | Vgl. Stephen Halliwell, The Aesthetics of Mimesis. Ancient Texts and Modern Problems, Princeton 2002; Ders., »Aristoteles und die Geschichte der Ästhetik«, in: Thomas Buchheim/Hellmut Flashar/Richard A. King (Hg.), Kann man heute noch etwas anfangen mit Aristoteles?, Hamburg 2003, S. 165-184; Jürgen H. Petersen, Mimesis – Imitatio – Nachahmung. Eine Geschichte der europäischen Poetik, München 2000; Arbogast Schmitt, »Kommentar«, in: Aristoteles, Poetik, Berlin 2008. Vorschläge zu einer theaterwissenschaftlichen Begriffsrevision in Julia Stenzel, »Stoffwechsel: Mimesis als Prinzip der Überschreitung in Matthew Barneys CREMASTER 5«, in: Christiane Hille/Dies. (Hg.), CREMASTER ANATOMIES. Beiträge zu Matthew Barneys CREMASTER Cycle aus den Wissenschaften von Theater, Kunst und Literatur, Bielefeld 2014, S. 223-250. 8 | Roland Barthes hat das Moment der funktionalen Entsprechung für eine Analogie von Kunst und Strukturalismus stark gemacht: »beide unterstehen einer Mimesis, die nicht auf der Analogie der Substanzen gründet […], sondern auf der der Funktionen«. Roland Barthes, »Die strukturalistische Tätigkeit«, in: Kursbuch 5 (1966), S. 190-196. Vgl. Stefanie Hüttinger, Der Tod der Mimesis als Ontologie und ihre Verlagerung zur mimetischen Rezeption. Eine mimetische Rezeptionsästhetik als postmoderner Ariadnefaden, Frankfurt a.M. 1994.
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verstehe ich als Dispositive, als Verschaltungen von Apparaturen und Praxen,9 die eine funktionale Rollenverteilung zwischen verschiedenen Agenten vornehmen, deren Handeln darauf zielt, Wahrnehmungen zu ermöglichen und ein trennendes Dazwischen zu überwinden.10 Medialisierung wäre dann ein Prozess, der als eine zunächst apolitisch zu denkende ›Freiheit zu‹ (Arendt) bestimmt ist. In der Poetik scheint Mimesis zuallererst als Medalisierungsprozess in diesem Sinne gedacht. Dabei wird ein Aspekt im Folgenden besonders wichtig: Das griechische Wort für Medium – μεταχὺ, dazwischen – meint den Abstand zwischen Blickendem und Gegenstand. Dieser Abstand lässt sich aber auch auf das Zwischen von Gegenständen beziehen, dessen Wahrnehmung ein ins-Verhältnis-Setzen dieser Gegenstände impliziert und ermöglicht. Metaxy ist Teil des Mediums11 und ist bezogen auf die Fähigkeit, den Datenstrom ›Welt‹ durch das Generieren von Differenzen im Prozess des Wahrnehmens zu strukturieren. Erproben möchte ich meinen Ansatz anhand der filmischen Entfaltung einer theatralen Aufführungssituation. Mein Gegenstand spielt zum einen mit seinem eigenen Charakter als Inszenierung zwischen den Medien, zum anderen schreibt er aber dem Theater einen spezifischen medialen Charakter zu: Matthew Barneys CREMASTER Cycle ist ein Hybrid aus Film, Skulptur und Performance, dessen numerisch letzter Teil eine Aufführung in der Ungarischen Staatsoper präsentiert und dabei mit verschiedenen Formen des Kamera-Blicks experimentiert, die sich auf ein (filmisch entfaltetes) theatrales Ereignis richten.12 Über dieses Beispiel hinaus zielen meine Überlegungen umfassender auf ein Modell für die Auseinandersetzung mit medialen Verhandlungen von Theater oder, noch allgemeiner, auf ein Modell des Aufführens. Dieses Modell soll es erlauben, die mediale Spezifik dieser Verhandlungen methodisch kontrolliert in der Analyse zu thematisieren. Selbstverständlich ist hier nur ein erster Ansatz zu einem solchen Modell zu skizzieren. Nun gehört die Frage nach dem Status der Medialisierung zum Kerngeschäft der Theaterwissenschaft als einer Disziplin, die sich mit der Voraussetzung eines prinzipiell transitorischen Gegenstandes einem fundamentalen Dilemma aussetzt – der Differenz zwischen der Erfahrung einer Aufführung und dem Betrachten ihrer Aufzeichnung. Diese Differenz bildet einen Topos, der oft auch
9 | Régis Debray, Einführung in die Mediologie, Bern u.a. 2003, S. 9-18. Vgl. Stenzel, »Stoffwechsel«, S. 230f. 10 | Formulierung nach Uwe Wirth, »Die Frage nach dem Medium als Frage nach der Vermittlung«, in: Münkler/Roesler, Was ist ein Medium?, S. 222-234, hier S. 225. Vgl. Stenzel, »Stoffwechsel«, S. 229. 11 | Vgl. Hagen, »Metaxy«, S. 13-29. 12 | CREMASTER 5 (USA 1997, R: Matthew Barney). Zum Film als Aufführung vgl. Andreas Becker, »Mit dem Blick des Anderen. Seh- und Raumerfahrung im westlichen und japanischen Film«, in: Ders., Mimikry, S. 212-226.
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schon auf Seiten der Produktion, im Probenprozess, verhandelt wird.13 Umgekehrt können Aufzeichnungen sich als dokumentierend präsentieren, mit einer Ästhetik des Vorläufigen experimentieren oder das Spezifische der Theaterinszenierung in der filmischen Präsentation verschwinden lassen – sei es zugunsten von Strategien der Authentifizierung, sei es, um die Inszenierung als work in progress und sich selbst als teilnehmenden Beobachter zu inszenieren.14
Das metaxy der Mimesis In der Mimesis von etwas in etwas anderem auf eine je spezifische Art und Weise beschreibt die Poetik eine medientheoretische Grundkonstellation: »διαφέρουσι δὲ ἀλλήλων τρισίν, ἢ γὰρ τῷ ἐν ἑτέροις μιμεῖσθαι ἢ τῷ ἕτερα ἢ τῷ ἑτέρως καὶ μὴ τὸν αὐτὸν τρόπον.«15 Wenn man, wie es die Poetik nahelegt, Mimesis durch den Körper als primär und somit als Modell für andere Formen der Mimesis begreift, wird Theater zum Paradigma des Medialen. Doch im Fragen danach, was Mimesis sei, geht Aristoteles nicht in erster Linie vom Bereich des Ästhetischen aus. Vielmehr geht es um eine »Anthropologie des mimetischen Handelns«,16 die für ihn als Ursache für die ästhetische Produktivität des Menschen in Frage kommt: Er begründet die Lust an Mimesis mit einem mimetischen Trieb, der Ausdruck des Impulses sei, die Wirklichkeit zu verstehen: Solcherart aisthetisch-ästhetisches Philosophieren erfordere, wie es Arbogast Schmitt ausdrückt, einen gelungenen, »praktischen Syllogismus«.17 Mimesis sei entsprechend gleichermaßen auf Seiten der Produktion wie der Rezeption zu verorten und sei ausgehend von einem vormodernen Konzept des Denkens als Unterscheiden zu verstehen.18 Dieses Konzept lässt sich unter Bezugnahme auf metaxy beschreiben: Metaxy impliziert die Unterscheidung zwischen dem Ort der Wahrnehmung und dem Ort des Wahrnehmens sowie die Unterscheidung von verschiedenen Wahrgenommenen aus der Perspektive des Wahrnehmenden – also Differenzenbildung oder Differenz-
13 | Vgl. Annemarie Matzke, Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe, Bielefeld 2012. 14 | Vgl. etwa Stefanie Diekmann, Die andere Szene. Theaterproben und Theaterarbeit im Dokumentarfilm, Berlin 2014; Dies., Backstage – Konstellationen von Kino und Theater, Berlin 2013. 15 | Aristoteles, Poetik, Griechisch/Deutsch, übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, S. 4 (1447a). Vgl. Schmitt, »Kommentar«, S. 195f. 16 | Halliwell, »Aristoteles und die Geschichte der Ästhetik«, S. 172. Vgl. auch Sibylle Krämer, »Was haben ›Performativität‹ und ›Medialität‹ miteinander zu tun? Plädoyer für eine in der ›Aisthetisierung‹ gründende Konzeption des Performativen«, in: Dies. (Hg.), Performativität und Medialität, Berlin 2004, S. 13-32. 17 | Schmitt, »Kommentar«, S. 210. 18 | Vgl. Schmitt, »Mimesis«, S. 182-187.
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setzung. Die Setzung von Zwischenräumen, die ein Wahrnehmungskontinuum skandieren, macht differente Einheiten allererst möglich. Wenn nun der Blick der Kamera in CREMASTER 5 den Blick des Theaterzuschauers erstens mimetisch nachvollzieht und diesen Nachvollzug zweitens selbst zum Gegenstand der Präsentation macht, indem er sowohl das Schauen als auch das Angeschaut-Werden zeigt, gerät die Verhandlung medial spezifischer Wahrnehmungsdispositive in den Blick – und zwar sowohl in der Aufzeichnung, als auch in deren Vor- oder Aufführung. Mit Sibylle Krämer verstehe ich Medialisierung als Wahrnehmbarmachen und das Medium als Materiales, das nicht in der Form verschwindet (Luhmann), das aber auch nicht rein apparatetheoretisch die Botschaft ›ist‹ (McLuhan). Der Beitrag des Mediums im Erzeugen von Bedeutungen ist latent und performativ: »Nur […] in der Störung oder gar im Zusammenbruch [seines] reibungslosen Dienstes bringt das Medium sich selbst in Erinnerung«19. Die Störung kommt als ästhetischer Überschuss in den Blick, der Medien als Bedingungen »nicht nur der Möglichkeit von Sinn, sondern auch seiner Durchkreuzung, Verschiebung oder Subversion« erscheinen lässt.20 Auch in Parrhasios’ Bild des Vorhangs wird das Medium, das zunächst vollständig in der Form zu verschwinden scheint, opak. Und zwar nicht durch einen materialen Fehler, sondern indem Parrhasios ein Missverständnis über den Akt seines Zeigens – oder seiner Medialisierung – selbst provoziert. Der gemalte Vorhang ist nicht nur Mimesis eines realen Vorhangs, sondern auch Mimesis der Bildvorführung als einer Aufführung. Das erwartete Bild erscheint in dieser Perspektive als Binnenmedium, das in der erwarteten Aufführung zur Darstellung kommen soll, aber nicht kommt. Parrhasios inszeniert, wie die malerische Mimesis einer Aufführung an deren Prozessualiät scheitert. Nur ein Augenblick, nämlich der erwartungsvolle Augenblick vor dem Öffnen des Vorhangs, kann mit den Mitteln der Malerei gezeigt werden. In diesem inszenierten Scheitern tritt das Medium selbst hervor. Dieses Scheitern aber kann selbst wieder als Aufführung, als Szene, beschrieben werden – in der Erzählung des Plinius.
Auf dem Vorhang CREMASTER 5 vollzieht eine Mimesis, die ich im Sinne Luhmanns operativ nennen möchte: Indem der Betrachter den Film verfolgt und Möglichkeiten des Verstehens erprobt, setzt er den mimetischen Prozess im Sinne einer wahrnehmen-
19 | Vgl. Sibylle Krämer, »Das Medium als Spur und als Apparat«, in: Dies. (Hg.), Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien, Frankfurt a.M. 1998, S. 73-94, hier S. 74. 20 | Krämer, »Das Medium als Spur und als Apparat«, S. 90. Diskutabel ist die Unterscheidung zwischen Kunst und ›bloßer‹ Kulturpraxis aufgrund ihres Irritations- und Subversionspotentials; eine zutiefst modernistische Perspektive.
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den Mimesis als Prozess des Zeigens fort.21 Die von der Kamera aufgespannten Blickverhältnisse wiederholen solche der theatralen Anordnung und vollziehen in der Wiederholung deren Überschreitung oder präsentieren diese zumindest als möglich: Das Wiederholte (die Theatersituation) erscheint nicht nur im Film selbst in anderer Gestalt, sondern modifiziert vielmehr auch seine Wiederholung in ihrer medialen Verfasstheit. Das Wiederholte verändert das mediale Dispositiv, in welchem es zur Darstellung kommt: »Wiederholbar ist nicht etwa der Gegenstand, der die Wiederholbarkeit gleichsam erklärt. Wiederholbar ist nur die Operation selbst«22 . Dies ist, neben dem Aspekt des Zeigens, die zweite Spezifizierung meines Mimesis-Konzepts: Das Verhältnis von Medium und Form erweist sich als ein solches, das erst in der Beobachtung konstruiert wird und stellt sich somit als ein generell prekäres Verhältnis dar. Meine Interpretation ist an den verschieden gearteten Gesten des Zeigens orientiert, die CREMASTER 5 präsentiert und selbst vollzieht.23 Zunächst wären das jene Gesten, die der Architektur des Budapester Theaterraums eingeschrieben sind, die entsprechend als materiale und pragmatische Bedingungen eines historisch spezifischen theatralen Dispositivs zu beschreiben wären. Darunter fallen architektonische Strukturen wie die Ausrichtung von Bühne und königlicher Loge zueinander, aber auch anthropomorphe Skulpturen, denen der Vollzug körperlicher Deiktika eingeschrieben ist, schließlich auch Zeigegesten, die die Akteure vollziehen. Die Kamera verfolgt die Deixis der Architektur und vollzieht deren Blicke in drei Formen nach: Erstens in der Beobachtung des szenischen Ereignisses, die eine Abstraktion vom individuellen Blick behauptet. Hier vollzieht die frontal auf die Bühne ausgerichtete Kamera eine Geste des Verschwindens im Dargestellten. Zweitens in der Beobachtung von Theater als Erfahrungsraum. Hier nimmt die Kamera eine Position außerhalb ein und integriert das Zuschauen in ihre Beobachtung. Exemplarisch ist der Schwenk durch den Zuschauerraum, der von der Bühne ausgeht und zu ihr zurückkehrt. Theater wird als ein Raum sichtbar, der von medialisierenden Operationen durchkreuzt wird. Drittens in der Aufzeichnung als einem autoreflexiven Konstrukt – im Sinne einer Selbstbeobachtung des filmischen Auges und der performativen Verhandlung seiner medialen Spezifik: Hier ist das Theaterereignis mehr Anlass als Gegenstand des Beobachtens. Wie in Parrhasios’ Bild des Vorhangs zeigt sich Mimesis als Zeigen. Diese Formen des Zeigens und die Blickordnungen überlagern einander, ja sie stehen in einem Verhältnis des wechselseitigen Auslösens und der Korrespondenz. Die dem Blick des Rezipienten durch die Perspektivierung per Kamerafahrt
21 | Vgl. Schmitt, »Kommentar«, S. 178; anregend auch Hans-Thies Lehmann, »Notiz über Mimesis«, in: Koch, Die Mimesis und ihre Künste, S. 69-75. 22 | Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1990, S. 107. 23 | Das Folgende führt einen andernorts begonnenen Gedankengang weiter (Stenzel, »Stoffwechsel«, S. 236-250).
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suggerierten Verhältnisse von Ursächlichkeit und Folge treten in Konkurrenz zu den Blickregimes, die der Theaterraum vorgibt. Zentraler Ort ist das Gebäude der Ungarischen Staatsoper, in dem die Queen of Chain, begleitet von zwei androgynen Pagen, her Diva beim Umklettern des Proszeniumsbogens zuschaut. Die Königin begleitet und kommentiert mit ungarischen Arien die Handlung einer Oper, von der sie zugleich ein Teil ist. Drei weitere Komplementärfiguren zur Queen agieren außerhalb des Opernhauses: Die Gellèrt-Bäder sind das Reich des satyrhaften her Giant und seiner Nymphen, auf der Budapester Kettenbrücke bereitet her Magician eine Entfesselungsaktion vor, und Harry Houdini reitet durch einen verschneiten Wald.24
Abb. 1: Hiroshi Sugimoto, Canton Theatre Palace, Canton, Ohio, 1980, Silbergelatinedruck, courtesy of Gallery Koyanagi Die Kamera vermisst die Topologie des Opernhauses. Wie die Anekdote des Plinius stellt auch CREMASTER 5 das Öffnen des Vorhangs und damit den Akt des Zeigens aus: Nach einem Schwenk von der Königsloge durch den leeren Zuschauerraum verharrt die Kamera auf dem Eisernen Vorhang, der sich langsam hebt und den Blick auf den Hauptvorhang freigibt. Als der sich öffnet, wird ein leerer Screen sichtbar. Der Screen inszeniert als letzter Vorhang immer noch und wieder den Akt des Zeigens, allerdings behauptet er nicht ein Dahinter, wie die ersten beiden Vorhänge, sondern er exponiert sich als Projektionsfläche für ein Geschehen. Dieses zeigt sich mal als innerpsychische Realität der Queen of Chain, mal als Geschehen außerhalb des Gebäudes, wird jedoch immer auch auf 24 | Vgl. Nancy Spector, »Nur die perverse Phantasie kann uns noch retten«, in: Dies. (Hg.), Matthew Barney. The CREMASTER Cycle, Köln 2002, S. 3-89 sowie www.cremaster. net/crem5.htm vom 01.10.2015.
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das Geschehen am Proszenium als Schwelle zwischen Schau- und Spielraum bezogen. Wenn sich etwa her Magician in die Donau stürzt, so wiederholt ein Fall her Divas auf den Bühnenboden diesen Sprung. In der Imagination der Queen, so legt ihr Gesang nahe, sind die Akte verkoppelt: Sie deutet die Unfälle als Suizide. Die Frage, welcher Akt das Urbild, welcher der Gegenstand mimetischer Wiederholung ist, bleibt offen: Wir sind Zeugen einer Konkurrenz von Film und Theater.
Abb. 2: CREMASTER 5 (USA 1997, R: Matthew Barney), BluRay, 00:05:19, Sammlung Goetz Bühne und Königsloge als architektonisch markierte Orte des AngeschautWerdens werden durch die filmische Narration aufeinander bezogen. Die leere, durch grau-blaue, diffuse Beleuchtung flächig wirkende Bühne zeigt nur mehr das Zeigen. Man fühlt sich an die Arbeiten von Hiroshi Sugimoto erinnert. Die Struktur des Opernhauses, das zunächst als ein auf die Bühne ausgerichteter Raum eingeführt wird, wird nicht nur durch die Herstellung semantischer Bezüge zwischen dem Geschehen im Proszeniumsraum und dem in der Königsloge topologisch umgedeutet. Der Blick der Kamera verweilt zudem in der Königsloge und richtet den Betrachter so auf die Gegenbühne aus. Die Bedeutung, die die Queen per Gesang dem außerhalb des Opernhauses lokalisierten Geschehen zuschreibt, bestimmt dessen Wiederholung in seinem Innern. Her Divas Sturz wiederholt sich in einer Ohnmacht der Queen, die sich am Rande der, die erste Bühne spiegelnden zweiten Bühne, der Königsloge, vollzieht. Die Queen kommt auf den Fußteil ihres Throns zu liegen. Ein aus ihrem Mundwinkel rinnender Speichelfaden bildet, indem er durch Löcher im Thron fällt, eine Verbindung zu den topographisch vor den Toren von Budapest, in der Topologie des Films aber unter dem Opernhaus gelegenen Gellèrt-Bädern her. Solcherart vom theatralen Rahmen einerseits, von den Suggestionen der Kamera andererseits auf Dauer gestellte Deiktika wie die aufeinander verweisenden Räume von Bühne und Königsloge erfahren eine »Transmutation […] in eine verstärkte […] und damit auch
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verbindlichere Gestalt«25. Die den schweifenden Blick des Theaterzuschauers für den Filmzuschauer wiederholende Kamera vollzieht also Mimesis als Zeigen: als Perspektivierung und Kanalisierung. Die Geste der mimetischen Wiederholung, die CREMASTER 5 im theatralen Paradigma verhandelt, vollzieht sich nicht allein strukturell, als Wiederholung theatraler Blickverhältnisse und als Deixis, die auf den Theaterraum und seine Topologie bezogen ist. Auch die figurale Konkretisation solcher architektonischer Gesten lässt sich als ›Wiederholung von etwas in etwas anderem auf eine spezifisch andere Weise‹ lesen: Die Darsteller der Pagen etwa, eineiige Zwillinge, präsentieren in identischer Kostümierung vorderhand eine statische, ›natürliche‹, mit Deleuze könnte man sagen: ›nackte‹ Wiederholung, die jedoch durch Verschiebungen im konkreten Agieren, also in der Dynamisierung, als unmöglich entlarvt wird.26 Wenn die Pagen sich hinter dem Rücken der Queen bei den Händen fassen, einander unisono singend anblicken, dabei eben nur nahezu synchron nicken, dann läuft die Figur der mimetischen Wiederholung von Blicken und Gesten durch die Kamera ins Leere. Sie wird ersetzt durch eine Art der Feedback-Schleife in einem von den Zwillings-Pagen generierten, eigentlich müsste man sagen: aktualisierten autopoietischen System. Die drei der Queen durch das Personalpronomen ›her‹ zugeordneten Figuren werden von Matthew Barney verkörpert, der auch die ins Artistische tendierenden Aktionen ausführt.27 In der Identität seines Körpers werden sie miteinander relationierbar. Darüber hinaus weist auch die Topologie der Orte, denen sie zugewiesen sind, strukturelle Entsprechungen auf: Alle drei Figuren beschreiten Grenzbereiche, die ausgehend vom Proszeniumsbogen und seiner Bedeutung für das theatrale Dispositiv des ausgehenden 19. Jahrhunderts in ihrer historischen Kontingenz lesbar sind. Wie der Proszeniumsbogen Schau- und Spielraum im Theater sowohl trennt als auch verbindet, so trennt und verbindet ein zwischen den beiden Becken der Gellèrt-Bäder aufgestelltes Bassin dieselben, und ebenso markiert die Donau-Brücke die Grenzregion zwischen den historischen Kernen von Budapest. Figural konkretisierte und architektonische Zeigegesten werden im Blick der Kamera verkoppelt. Als der Blick nach dem Sturz von her Diva durch die Gucklöcher im Thron auf die Wasserfläche der Bäder fällt, bündeln die Pagen die verstreuten Deiktika der Architektur. Die Blickachse zwischen Bühne und königlicher Loge stellt ja zunächst eine Gleichwertigkeit beider als foci des Zuschauer25 | Halliwell, »Aristoteles und die Geschichte der Ästhetik«, S. 180. 26 | »Es gibt keinen ersten Term, der wiederholt würde«. (Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, München 1992, S. 34). Ursprünglichkeitsphantasmen und Urbild-AbbildRelationen sind damit ausgestrichen: »Dasselbe Ding verkleidet und ist verkleidet« (ebd.). 27 | Vgl. zu Kunst und/als Athletik bei Matthew Barney: Christiane Hille, »Matthew Barney – vir heroicus sublimis. Einleitung zum Begriff einer künstlerischen Athletik«, in: Dies./Stenzel, CREMASTER ANATOMIES, S. 17-56.
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blicks her. Die Kamera vollzieht das Schweifen des Blicks zwischen Proszenium und Loge nach. Sie lenkt den Blick auf ein skulpturales Zeigen: Die architektonisch herausgehobene Stellung der Königsloge wiederholt sich in rechts und links über der Loge befindlichen Skulpturen – Melpomene und Thalia. Die Musen weisen auf die in der Königsloge befindliche Person und verkehren somit die dem Theaterraum eingeschriebene Ausrichtung des Blicks auf die Bühne, weisen sie doch dem Herrscher – hier der Queen – selbst eine Rolle in der Inszenierung zu. Die Kamera lenkt den der musischen Deixis folgenden Blick auf den Thron, übernimmt dann den Blick der Pagen, die in die Gellèrt-Bäder hinabschauen. Die Pagen weisen sich gegenseitig auf die Komik des beobachteten Geschehens hin: her Giants Spiel mit einem Schwarm Jakobinertauben, den die tummelnden Nymphen schließlich an seinem Hodensack festbinden, der mit dem Auffliegen der Tiere nach oben gezogen wird.28 Der Blick in die Bäder erscheint so als eine Art Peep-Show, die die Kamera für den Zuschauer nachvollzieht, so dass der sich in der Rolle eines Voyeurs zweiter Ordnung wiederfindet, beobachtet er doch nicht nur das Geschehen im Bauch der Oper, sondern im Beobachten der innerfilmischen Voyeure auch sich selbst bei seinem obszönen Tun.
… und alle Fragen offen CREMASTER 5 wird beherrscht vom Regime dreier Blicke, die einander je nach situativem Kontext wiederholen, überbieten und widersprechen. Der vom theatralen Dispositiv regulierte und im kameratischen Nachvollzug architektonischer Deixis wiederholte Blick auf die Bühne und seine Verkehrung als Blick in die Fürstenloge. Sodann der imaginative Blick der Queen of Chain in einen innerpsychischen Raum, der als Außen des Opernhauses konkret wird und über die Codierung der Bühne als Screen in die theatrale Präsentationssituation re-integriert wird. Und schließlich der Blick in die Gellèrt-Bäder, der als eine Art mise en abyme jenen voyeuristischen Blick wiederholt, der dem Theaterzuschauer historisch zukommt, sobald dem abgedunkelten Zuschauerraum die Bühne als erleuchteter Guckkasten gegenüber tritt – eine Position, die das Theater des 20. Jahrhundert programmatisch relativiert hat. Wo beginnt die Mimesis? Ich hatte diese Frage, die sich aus der Anekdote des Plinius ergibt, zunächst mit Verweis auf den Akt des Zeigens, des Offenbarwerdens beantwortet. Mimesis sei ein Perspektivbegriff, und somit ist auch ihr Ort dort, wo das Zeigen als Zeigen in den Blick kommt. Mimesis in diesem Sinne markiert den Anfang jedes Sich-Verhaltens zur Welt. Die Mimesis, die Matthew Barneys CREMASTER 5 zur Wahrnehmung bringt, ist eine, die nicht nur unabschließbar, sondern auch ohne Anfang ist: Indem die Kamera sich dem mal schweifenden, mal fokussierenden Blick des Theaterzuschauers anverwandelt, 28 | Und das könnte man als eine performative Rekonstruktion, eine Wiederholung des Titels lesen: Der Zyklus ist nach dem Hodenhebermuskel (Cremaster) benannt.
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setzt sie den Körper eines Betrachters voraus, und zwar gerade aufgrund der Rahmung durch die Theatersituation, die selbst eine des Betrachtens und BetrachtetWerdens ist. In Gestalt des leeren Projektionsschirms tritt das Rahmenmedium Film im Binnenmedium Theater auf und präsentiert sich selbst als theatral gerahmt. Film und Theater bringen sich wechselseitig in den Blick, und es ist der Entscheidung des Beobachters überlassen, wo die Wiederholung, wo das Wiederholte zu verorten, was Medium und was Form sei. Der verkörperte Blick des Theaterzuschauers wird also zugleich in seiner Begrenztheit ausgestellt und als raumkonstituierende Perspektivierungsinstanz ins Recht gesetzt. So fällt eine Mediologie der Mimesis gerade nicht mit der Frage danach zusammen, ob das Theater, ob der Körper im Theater, ja ob der Körper ›an und für sich‹ ein Medium sei. Vielmehr wird Medium selbst zu einem Perspektivbegriff insofern, als die Beschreibung mimetischer Prozesse die Frage nach der Medialisierung auf Dauer stellt.
Was ist Theater im dramatischen Theater? Marita Tatari Das dramatische oder Literaturtheater, das das Paradigma des Theaters für die europäische Kultur der letzten Jahrhunderte ausgemacht hat, ist auf vielfache Weise mit dem aufkommenden Bürgertum und dem neuen Begriff des Subjekts verbunden. Auch wenn vor und neben ihm andere Theaterformen aufkamen, haben sich die nachfolgenden Theaterformen als Überwindung eben dieses Modells von Theater verstanden. Seine anhaltende Bedeutung für das Verständnis der ihm folgenden Formen hängt mit der Bedeutung der Problematik des Subjekts in der europäischen Kultur der letzten zwei Jahrhunderte zusammen. Von Heidegger und Adorno bis zur französischen Dekonstruktion wurde diese Geschichte als Aufkommen und Auflösung des Strebens nach Subjektivität beschrieben. In der deutschsprachigen Theaterwissenschaft hat dieses Modell von Theater eine entscheidende Rolle für die Auslegung der neueren und zeitgenössischen Formen und darüber hinaus für die Bestimmung der Gegenstände der Theaterwissenschaft und für ihre Abgrenzung von der Literaturwissenschaft gespielt. Als Überwindung der Unterwerfung des Theaters unter ein dramatisches Werk und häufig in Auseinandersetzung mit einer breit gefassten Subjektideologie haben sich die Kategorien einer Analyse der Aufführung herausgebildet.1 Dabei stellt die Verflechtung des dramatischen Theaters mit der neuen Subjektivität – nicht nur für die Theaterwissenschaft – von Anfang an ein Problem dar. Je nach Interpretationsrichtung ist diese Verflechtung als Beschränktheit der Kunst (in Bezug auf Ethik, Politik usw.), die die neue Subjektivität nicht hervorbringen kann, als paradigmatisches Scheitern oder Selbstwiderspruch des Subjekts im neuzeitlichen Drama, als Instrumentalisierung und Opferung des Theaters im Dienst geronnener Bilder von Individuen oder als Erzeugung von Passivität statt von Subjektemanzipation verstanden worden.2 Das so genannte 1 | Zu diesem Thema vgl. Marita Tatari, »Zur Einführung – Theater nach der Geschichtsteleologie«, in: Dies. (Hg.), Orte des Unermesslichen – Theater nach der Geschichtsteleologie, Zürich/Berlin 2014, S. 7-21. 2 | Vgl. z.B. Annemarie Gethmann-Siefert, »Hegel über das Hässliche in der Kunst«, in: Andreas Arndt/Karol Bal/Henning Ottmann (Hg.), Die Kunst der Politik – Die Politik der
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neue Drama ist sogar als theoretisches Konstrukt, das nie wirklich stattgefunden habe, behandelt worden.3 Die aus Überwindung, Sprengung, Verabgründung oder Aufhebung dieses Theatermodells entstandenen analytischen Kategorien lassen sich also auf ein bestimmtes zugrundeliegendes Verständnis dieses Theaters zurückführen. Ich möchte in dieser Auseinandersetzung einen Schritt weiter gehen und die Eigenart der Form des neu entstandenen Literaturtheaters jenseits des Scheiterns der Subjektivität in ihm besprechen. Betrachtet man es nämlich nicht in Hinblick auf die mit ihm tatsächlich verflochtene Subjektproblematik, ist dieses Theater eine ästhetische Form, deren analytische Kategorien erst entdeckt werden müssen. Diese Form so neu zu denken, stellt das Schema von Überwindung und Fortschritt – das wiederum selbst aus dem Subjektdenken des 18./19. Jahrhunderts stammt – als bestimmendes Schema für die Auslegung der geschichtlichen Bewegung der Theaterformen nach und vor dem neuen Drama in Frage.
Dramatisches Werk: eine strukturelle Ver wandlung der Darstellung Mit »dramatischem« ist hier jenes Theater gemeint, das im 18. Jahrhundert entsteht und sich in Deutschland im 18./19. Jahrhundert etabliert, als Deutschland von Frankreich die Führung der Theaterentwicklung übernimmt. Bis zum 17. Jahrhundert waren die gespielten Theatertexte in der Regel ursprünglich für eine Truppe, ein Publikum, einen Ort geschrieben, auch wenn sie danach als Texte weiterlebten und an anderen Orten und von anderen Truppen wieder aufgeführt wurden. Mit der Autorenförderungspolitik in Frankreich und England im 17. Jahrhundert und mit der Übersetzungswerkstatt, die zwischen Frankreich und Deutschland vor allem unter Johann Christoph Gottsched im 18. Jahrhundert entsteht, setzt sich allmählich eine neue Art durch, Texte für das Theater zu schreiben. Es werden nun Texte verfasst, die zwar für ein nationales Theater, nicht aber für einen bestimmten Ort und eine bestimmte Aufführung vorgesehen sind, sondern als selbstständige Werke existieren. Im nun entstehenden Literaturtheater weist der Begriff des dramatischen Werks eine neuartige Selbstständigkeit auf, die zugleich, indem die Werke auf ihre unbestimmte Aufführung verwiesen sind, in einem gewissen Sinn keine oder zumindest eine eigenartige ist. Kunst, Hegel-Jahrbuch 2000, Berlin 2000, S. 21-41; Peter Szondi, »Lessing; Mercier«, in: Ders., Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1973, S. 148-188; Günther Heeg, Das Phantasma der natürlichen Gestalt – Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, Basel 2000. 3 | Diese These entwickelte z.B. Romain Jobez in seinem am Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum am 05.07.2013 gehaltenen Vortrag: »Die verpasste Bühnenreform: Warum das Literaturtheater nicht im 18. Jahrhundert entstand«. Vgl. auch Romain Jobez’ Beitrag im vorliegenden Band.
Was ist Theater im dramatischen Theater?
Diese neu- und eigenartige Selbstständigkeit, die im Literatur- bzw. dramatischen Theater auftritt, ist der Kreuzungspunkt, der die ästhetische Form dieses Theaters mit der neuen Problematik des Subjekts verbindet und gleichzeitig trennt. Die neue Selbstständigkeit des dramatischen Theaters ist auf tiefgreifende kulturelle Transformationen zurückzuführen. Sie hängt nicht bloß mit dem Auftreten des Buchs als Massenware zusammen, sondern auch mit den technischen und gesellschaftlichen Prozessen jener Zeit, mit dem Ende der feudalen Welt und den Anfängen des bürgerlichen Staats. Die Teilhabe des Theaters an diesen kulturellen Verwandlungen ist seiner Form nicht äußerlich; sie soll hier aber weder soziologisch noch historiographisch befragt werden. Die Form jenes Theaters soll vielmehr aus einer tiefgreifenden Verwandlung der Kategorien heraus, mit denen sie zu denken ist, besprochen werden. Die Frage, worin die Kunst des Theaters im dramatischen Theater besteht, wie der Bezug der szenischen Aufführung zum dramatischen Werk zu denken ist, darf nicht das dramatische Werk als ein Etwas, das im Theater dargestellt oder verlebendigt wird, voraussetzen. Auch die Behauptung, dass die dramatischen Werke geschrieben sind, um gespielt zu werden und also als ›agencies‹ betrachtet werden sollen oder als Werkzeuge, die nur in einer Aufführung – und zwar als selbstständig betrachtete Performance und nicht als Aufführung eines Stücks – verwendet werden,4 ist so allgemein, dass sie auch für das Theater vor dem Literaturtheater gelten könnte, also für Stücke, die für eine bestimmte Truppe geschrieben wurden.
Selbstständigkeit, Selbstbezug Mit dem Ende der Feudalität, der Emanzipation von der Religion, der Vorstellung des Ideals eines Staates mit gleichberechtigten Bürgern usw., fangen diverse Formen kultureller Tätigkeit an, durch das Schema eines Selbstbezugs geprägt zu werden.5 Für die Aufklärung muss der Mensch erst Mensch werden, er muss das werden, was er seiner Natur, seinem Wesen nach ist, er muss zum Menschen, ›zu sich selbst‹ erzogen werden, so sich selbst erst verwirklichen. Die Natur wird auf die Operation einer Hervorbringung verwiesen, und die Geschichte als eine 4 | Vgl. William Worthen, Drama. Between Poetry and Performance, Hoboken 2010. 5 | Mit kulturellen Schemata sind hier einander entsprechende Formationen – etwa die jeweilige Organisation der Gesellschaft, Formen der Ökonomie, der Familie, der Stand der Technik, die jeweiligen Auffassungen von Raum und Zeit usw. – gemeint, z.B. im Sinne von Michel Foucault (vgl. Marc Djaballah, »Practices as Forms of Experience«, in: Ders., Kant, Foucault, and Forms of Experience, New York/London 2008, S. 218-248) oder von Jean-Luc Nancy (zu den Transformationen des oikos, den Weisen, die Welt zu bewohnen, vgl. Jean-Luc Nancy, »Ökonomie«, in: Ders., Die Anbetung. Dekonstruktion des Christentums 2, Berlin/Zürich 2012, S. 126-132).
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fortschrittliche Bewegung gedacht, eine allmähliche Selbstverwirklichung der Menschheit.6 Die Auffassung des Menschen als Subjekt, das verantwortlich ist für sich, für seine Entwicklung (und Verwirklichung), sowie die mit ihr einhergehende Forderung nach Gleichberechtigung der Menschen, lassen sich auf das Zerfallen der Auffassung der Welt als gegebener und auf das neu auftauchende Schema eines Selbstbezugs und einer Selbstverwirklichung zurückführen. Das neu entstehende Literaturtheater geht mit diesem Schema weder nur durch seine Funktion als nationales Theater, noch bloß durch seine thematische Prägung einher. Nicht nur weil die bürgerliche Moral, die Familie als Erziehungsort bürgerlicher Individuen oder das aufkommende Bürgertum überhaupt thematisch behandelt werden, ist dieses Theater durch das Schema des Selbstbezugs geprägt; es ist mit ihm in seiner Grundbedingung, auf dramatischen Werken zu beruhen, in der Form, die die dramatische Handlung mit ihm annimmt, in seinen räumlichen und zeitlichen Bedingungen, in seiner Spielart usw. verbunden. Somit spitzt sich im Theater etwas zu, das schon in früheren Theaterformen Kontur gewinnt und sich auch außerhalb des Theaters schon z.B. im Konzept der Museen ausdrückt, die mit wenigen frühzeitigen Ausnahmen erst im 17./18. Jahrhundert zu existieren beginnen. Die Kunstwerke treten nun als selbstständige auf, sie werden um ihres Kunstcharakters willen versammelt und zur Schau gestellt. Ihr Kunstcharakter wird nicht länger wesentlich mit dem Ort und dem Rahmen verbunden, in dem sie entstanden sind.7 Der Kunstcharakter der Werke wird nicht mehr wesentlich auf eine Thematik bezogen, er fängt an, sich auf das Vielfältigste auszuweiten. Die Thematik des neu entstehenden Literaturtheaters ist gewiss nicht beliebig, erstreckt sich aber auf breit gefächerte Themen, die mit dem auf kommenden Bürgertum verbunden sind. Diese Ausweitung der dargestellten Thematik ist von einer strukturellen Verwandlung der Funktion der Darstellung begleitet. Wenn dieses Theater nicht bloß durch die Tatsache, dass es auf geschriebener Literatur beruht, sondern als Theaterform insgesamt nicht mehr mit einem bestimmten Ort, einem bestimmten Publikum und einer bestimmten Aufführung wesentlich verbunden ist, dann deshalb, weil es mit dem Schema eines Selbstbezugs, 6 | Die Epochengrenze ist hier schematisch angesetzt, denn die Prozesse, die zur Zeit der Aufklärung kulminieren, lassen sich auf viel frühere Bewegungen zurückführen. So sieht etwa Dieter Henrich die Selbstbeziehung als implizite Voraussetzung des Prinzips der Selbsterhaltung, das das 16. und 17. Jahrhundert prägt. Er legt Hobbes und Spinoza als Grundlage für die Reflektiertheit aus, die erst die idealistische Spekulation leistet, und analysiert, wie sich diese über eine Reihe von Zwischenstufen von früheren Philosophen ableiten lässt. (Dieter Henrich, »Kunst und Kunstphilosophie der Gegenwart«, in: Wolfgang Iser (Hg.), Immanente Ästhetik – Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne, München 1966, S. 11-32). Jean-Luc Nancy führt dieses Phänomen auf noch größere und viel frühere Zivilisationsbewegungen zurück (vgl. Nancy, Die Anbetung). 7 | Vgl. Jacques Rancière, Das Unbehagen in der Ästhetik, Wien 2007.
Was ist Theater im dramatischen Theater?
der Entfaltung eines Zu-sich-kommens operiert. Diese neue Selbstständigkeit ist die strukturelle Verwandlung der Darstellung, die auf neuartige Weise nicht auf etwas außerhalb von ihr (z.B. ein Göttliches) verweist. Legt man sie so aus, ist die ästhetische Form des dramatischen Werks nicht nur bezeichnend für die strukturelle Verwandlung des Begriffs der Darstellung in der Moderne, sondern darüber hinaus findet diese Verwandlung im neuen Drama ihre eigene Entfaltung und Zuspitzung.8 Auch und gerade wenn heute die Selbstbezüglichkeit eines Kunstwerks manchmal viel radikaler auftritt,9 ist es wichtig, die für jene Zeit neuartige strukturelle Verwandlung der Darstellung, die mit dem dramatischen Theater einhergeht, genau zu analysieren. Die viel kommentierten Merkmale des wahrscheinlichen Verlaufs einer Handlung, die durch den zwischenmenschlichen Dialog fortschreitet, durch die Kette von Ursachen und Wirkungen, die Natürlichkeit (denkt man z.B. an Lessing) usw. sind Merkmale, die den Ablauf des Geschehens als primär bzw. als auf sich selbst angewiesenen und aus sich selbst heraus entspringenden, d.h. als in sich selbst gründenden, erfahrbar machen sollen. Selbstbegründung und Selbstständigkeit werden durch den Selbstbezug der ästhetischen Praxis hervorgebracht: eben durch die Natürlichkeit, die kausale Verknüpfung, durch die Guckkastenbühne, die alles andere ausschließt, durch den Dialog usw. – eine Praxis, die nicht zufällig als zwischenmenschliche erscheint. So entspricht das bürgerliche Drama auf ästhetischer Ebene dem gerade entstehenden Begriff des Subjekts, das nicht mehr auf einer göttlichen Ordnung beruht, sondern sich erst aus der zwischenmenschlichen, gesellschaftlichen Praxis heraus bilden, aus ihr heraus zu sich kommen soll. Da es darüber hinaus keinen bestimmten Ort und kein bestimmtes Publikum voraussetzt, enthält das neue Drama auch – im Gegensatz zu früheren (oder im Gegensatz zu anderen, gegenwärtigeren) Formen, wie z.B. in den Komödien von Molière – keine direkte Ansprache des Publikums und keine mit dem jeweiligen Ort und dem Publikum unmittelbar verbundene Kritik der sozialen oder politischen Situation.10 8 | Zur Verwobenheit der Darstellung bzw. der Mimesis in der Moderne mit der Problematik des Subjekts vgl. Philippe Lacoue-Labarthe, Die Nachahmung der Modernen: Typographien II, Basel 2003. Lacoue-Labarthe arbeitet den Begriff der »Imitation« in der Neuzeit nicht als Nachahmung, sondern als Dar-stellen heraus und verweist damit auf den deutschen Idealismus und die Romantik, in der die Darstellung als Hervorbringen [rendre présent] dessen, was sie darstellt, gedacht wird und damit als eine primäre Sekundarität [secondarité originaire] fungieren möchte. Vgl. Marita Tatari, »L’extime du drame«, im Dossier Lacoue-Labarthe, in: Europe n°973, Paris 2010, S. 105-112. 9 | Indem bspw. nichts außer seiner Präsenz dargestellt wird – siehe z.B. die im Jahr 2000 von Thierry De Duve kuratierte Brüsseler Ausstellung »Voici«. 10 | So zum Beispiel die Interludien in Molières Bourgeois Gentilhomme, wie Katharina Keim im unveröffentlichten Vortragsmanuskript ihres am 05.07.2013 am Institut für Thea-
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Als aus sich selbst heraus entspringende macht sich eine Entfaltung erfahrbar, die nicht auf etwas außerhalb von ihr angewiesen ist. Sie ist weder die Darstellung von Etwas, von Vorgegebenem, noch geht sie aus etwas ihr Äußerlichem hervor. So ist z.B. das natürliche Spiel, das das bürgerliche Drama kennzeichnet, eben nicht auf eine darzustellende vorgegebene Identität zurückzuführen. Entgegen der üblichen Vorstellung ist die Natürlichkeit im neuen Drama nicht als überzeugende Darstellung von Etwas zu verstehen, sondern im Gegenteil als eine primäre Entfaltung, die sich in ihrem Entspringen ausstellt. Diese Entfaltung verweist also nicht auf etwas, das außerhalb von ihr wäre. Trotzdem verläuft sie nicht ins Unbestimmte. Das sich Entfaltende zeigt sich als solches. Es bietet sich selbst zur Anschauung und Empfindung an. Dadurch ist der Verlauf bestimmt: Er beruht auf sich selbst. Er bringt ästhetisch die Verdopplung zur Entstehung, die ein »sich selbst« ist, d.h. die Verdopplung, die ein Etwas ist, das nicht bloß existiert, sondern sich auf sich beziehend eine ›Selbstheit‹ entwickelt. Somit ist die Natürlichkeit des Spiels die Entfaltung einer entstehenden Subjektivität. Es ist nicht die Subjektivität eines Individuums, nicht die Subjektivität eines Schauspielers oder einer Figur, sondern die Subjektivität des ästhetischen Vorgangs und zwar als ein Selbstbezug. Allgemein gesehen bedeutet das Aufkommen des Selbstbezugs, das Aufkommen des Subjekts, einen Ausbruch aus den vorgegebenen Verhältnissen. Damit verweist die Natürlichkeit in diesem Theater nicht auf eine gegebene gesellschaftliche Ordnung, die auf natürliche Weise nachgeahmt wird. Vielmehr lässt sie sich auf die subversive Kraft eines sich entfaltenden Selbstbezugs zurückführen.11 Als solche ist sie mit der Vorstellung einer Emanzipierung aus der vorgegebenen Ordnung der Welt verbunden. Dieses Theater ist in der Tat mit der bürgerlichen Ideologie des aufkommenden Nationalstaats verbunden, weniger aber durch seine Thematik, als durch die ästhetische Form des Selbstbezugs, der die Struktur des Subjekts ausmacht, das programmatisch im bürgerlichen Staat gipfeln sollte. So weist es ästhetisch eine Art von Subjektivität auf, verleiht aber zugleich dem Schema des Selbstbezugs eine eigenartige Wendung; denn in ihm ist die Subjektivität zu etwas mutiert, das noch analysiert werden muss. Dass sich die Subjektivität der Figuren bzw. der terwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum gehaltenen Vortrags »Das Verschwinden der Intermedien: Zur medienhistoriographischen Differenz von Spieltext und Druckfassung im Theater des späten 17. Jahrhunderts« gezeigt hat. 11 | Häufig wird die Natürlichkeit im bürgerlichen Theater als auf eine gegebene Ordnung der Gesellschaft hinweisend kritisiert und das Hervortreten der Theatralität in anderen, dem bürgerlichen Drama gegenwärtigen oder ihm nachfolgenden Theater- und Schauspielformen als Hervortreten der Möglichkeit einer Emanzipierung aus den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen ausgelegt. Eine Kritik der Natürlichkeit im bürgerlichen Theater angesichts seiner politischen Funktion muss sich aber, so die hier vorgeschlagene Argumentation, mit der Struktur des Selbstbezugs, auf die die Natürlichkeit zurückzuführen ist, auseinandersetzen.
Was ist Theater im dramatischen Theater?
Protagonisten widerspricht, also gerade keine Subjekte hervorbringt, darin sind sich heute die meisten Analysen einig. Die Frage aber, in was sich die ästhetische Subjektivität des dramatischen Werks, und zwar als Theater, transformiert, wurde als solche noch nicht explizit gestellt.
Der Zusammenhang zwischen Werk, Aufführung und Zuschauern Die dramatischen Werke sind schon in sich auf ihre Aufführung, auf die Praxis ihrer Aktualisierung angewiesen (auch wenn das beim stummen Lesen nur virtuell geschieht). Wenn ein Sich-auf-sich-selbst-beziehen das dramatische Werk als Werk, d.h. als selbstständig ausmacht, ist dieses Sich-auf-sich-beziehen die sinnliche Gegenwart des Theaters. So ist, strukturell gesprochen, die Aufführung nicht dem Werk nachträglich. Die Begriffe des Werks und der Aufführung sind als ästhetische Kategorien für die Beschreibung der Theaterkunst verwirrend, weil sie eine ontologische Unabhängigkeit voneinander und eine Hierarchie der beiden suggerieren. Der Selbstbezug des Werks ist von vornherein sein Vollzug als Theaterpraxis. Für das Literaturtheater ist die szenische, sinnliche, körperliche Praxis des Theaters nicht sekundär, sie wird nicht um eines Dargestellten willen instrumentalisiert. ›Sinnlichkeit‹ und ›Sinnliches‹ ist hier nicht als Gegensatz zu Geist oder Verstand gemeint, sondern bezeichnet das sich im Werk oder in der Aufführung Ereignende, den sich im Werk entfaltenden »zwischenmenschlichen Bezug«12; und zwar nicht als Bezug zwischen Menschen, sondern als raumgreifenden, sich gegenwärtig als Draußen entfaltenden, wenn ›Draußen‹ verstanden wird als Andere affizierend, auf Andere wirkend. Sinnlichkeit bezeichnet diesen sich im Werk entfaltenden zwischenmenschlichen Bezug als Praxis der Entfaltung oder des Sich-aufeinander-Beziehens sinnlicher Elemente (Sprechen, Gestik, Klänge, Bilder …). Die im neuen Literaturtheater in einer neuartigen Schärfe auftretende Selbstständigkeit ist die einer aus allem herausgelösten, zu sich kommenden sinnlichen Entfaltung, einer Entfaltung, die sich durch diese Ablösung verdoppelt, indem sie sich dar- und aus-stellt. Dadurch impliziert diese Ablösung eine von Zeit und Raum, die nicht bloß die einer fiktiven Geschichte sind, sondern sie impliziert einen aus dem Kontinuum der Zeit herausgenommenen, sich als Zeitraum ausstellenden Zeitraum. Durch diese Herauslösung aus allem anderen tritt eine lebendige Sinnlichkeit hervor, die sich als sich selbst ausstellende entfaltet bzw. in sich selbst der Alterität eines Empfangs zugekehrt ist. Indem diese sinnliche Bewegung sich als solche ausstellt, bietet sie sich einem unbestimmten Zuschauen und Empfinden dar. Als Entfaltung und zugleich Ausstellung ist diese Sinnlichkeit das Entstehen der Raumzeit einer Bezugnahme. Sie ist die Raumzeit der Öffnung auf eine Alterität.
12 | Vgl. Peter Szondi, Theorie des modernen Dramas, Frankfurt a.M. 1968, S. 17.
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Wenn im dramatischen Literaturtheater der Modus der Selbstständigkeit in einer neuartigen Schärfe auftritt, dann sowohl in dem, was man dramatisches Werk, als auch in dem, was man Aufführung nennt, und zwar als die Modalität der Bedingung, aus der heraus in diesem Theater eine sinnliche Entfaltung in der Gegenwart ausgestellt und empfunden wird. Diese sinnliche Entfaltung und Empfindung wird folglich nicht durch den Modus der Selbstständigkeit gekennzeichnet, sondern aus ihm heraus tritt sie auf. Deshalb geht sie über jede Selbstständigkeit hinaus, findet in einem Jetzt und einem Außen statt und kann keiner Subjektivität zugeschrieben werden. Auf die eben beschriebene Weise richtet sich die Entfaltung des Selbstbezugs strukturell im Werk selbst auf ihre Ausstellung und auf ihren affektiven Empfang hin. Es ist, wie es allgemein heißt, ein Theater des Rührens, der Einfühlung, des Affekts. Einerseits kommt die Praxis des Selbstbezugs aus einer Ablösung aus allem anderen, aus aller anderen Zeit und allem anderen Raum hervor. Eine Entleerung jeder (Vor-)Gegebenheit ermöglicht das Entspringen eines ›sich selbst‹; andererseits aber ist dieses ›sich selbst‹ auf seine eigene Ausstellung hin geöffnet. Die Entfaltung des Selbstbezugs findet nur statt, wenn und insofern sie sich zur Schau stellt und zu empfinden gibt. Genau darum ist aber der Vollzug des Selbstbezugs zugleich auch keiner, kein geschlossener. Er ist von vornherein strukturell auf eine unbestimmbare Alterität hin geöffnet. Er ist nicht für diesen oder jenen Menschen, nicht für diesen oder jenen Zweck, sondern er ist strukturell offen für ein unbestimmbares Gesehen- und Empfunden-werden. Er ist ein Sich-auf-sich-Beziehen, das sich in sich selbst auf eine unbestimmbare Alterität bezieht oder öffnet. ›Er selbst‹ wird der Bezug nur in dem Maß, wie er in sich selbst diese Alterität aktualisiert oder öffnet. Das bedeutet aber auch, dass das Zuschauen (und Empfinden) vom Werk her zu denken ist, darin bereits enthalten ist. Es geht nicht um das Zuschauen der Individuen, die vor der Bühne im Zuschauerraum sitzen, sondern um die Aktualisierung dieser unbestimmbaren Alterität, dieser unbegründbaren Bezugnahme. Die eigenartige Selbstständigkeit des dramatischen Werks lässt das Werk nicht als ein Etwas fungieren, das dann im Theater verlebendigt oder aktualisiert wird. Im Literaturtheater setzt die Theaterpraxis dort an, wo ein Auf-sich-selbstbeziehen aus sich heraus kommt und sich einem unbestimmbaren Empfinden anbietet. Nicht nur ist der Selbstbezug des Werks performativ, nicht nur ist er die Praxis seiner Entfaltung und kein Etwas, sondern die Praxis dieses Sich-aufsich-Beziehens ist verschoben, und zwar zentrifugal. Die Aufführung siedelt im zentrifugalen Selbstbezug des Werks, in seiner inneren Differenz zu sich, die seine Entfaltung, seine Praxis ist. Dieses Wirken der Theaterpraxis aus dem Modus einer Selbstständigkeit heraus kann die Kategorie der dramatischen Handlung als Plot, als Intrige, die zuerst im Werk niedergeschrieben und dann angeblich aufgeführt würde, nicht unangetastet lassen. Der Begriff der dramatischen Handlung muss zwingend nicht nur das Werk, sondern die gesamte Theaterpraxis umfassen. Genauso wenig ist
Was ist Theater im dramatischen Theater?
die Kategorie ›Zuschauer‹ dem Werk strukturell nachträglich. Die Praxis eines Selbstbezugs als Ermöglichung eines Empfindens, das nicht eines von bestimmten, vorausgesetzten Personen ist, das Hervorrufen eines affektiven Bezugs, der nicht von der Individualität der Zuschauer getragen wird, sondern vielmehr in ihnen eine unaufhebbare Alterität öffnet, die Zuschauer von jeder gegebenen Individualität entleert; ein aus allem herausgelöster, absoluter, für sich genommener Bezug: so lautet ganz abstrakt die Formel dieses Theaters. Dort, wo die Selbstständigkeit oder die Subjektivität nur die Entleerung ist, die einen affektiven, sinnlichen Bezug mit nicht vorausgesetzten und unbestimmbaren Bezugspunkten ermöglicht, dort findet die Kunst dieses Theaters statt. Dieser Punkt ist durch die Verflechtung mit der speziellen Subjektproblematik der Protagonisten und durch ihren Selbstwiderspruch hindurch erst zu suchen und herauszuarbeiten.
Bedingungsformen eines Bezugs ohne Bezugspunkte Die ästhetische Frage ist nun: Wie stellt sich jeweils ein sinnlicher Bezug aus? Wie formt sich das Feld dieser Ausstellung? Das Wort »Feld« stammt hier von Jean-Christophe Bailly, der damit in seinem Buch Le champ mimétique im Kontext des antiken Griechenlands das Hervortreten eines Ortes bezeichnet, der, aus allem anderen herausgelöst, den Auftritt der Darstellung als solcher empfängt: das reine Entspringen des Erscheinens.13 Bailly erläutert diesen Ort, in dem das Erscheinen selbst erscheint, mit einer Interpretation des platonischen Begriffs Khôra als absoluter Öffnung.14 Diese absolute Öffnung, diesen Empfang denkt er zugleich als eine Form der Distanz, als die unmessbare Distanz einer Herauslösung, die das Erscheinen selbst – nicht das Erscheinen von diesem oder jenem Etwas (Figur oder Seiendem) – empfängt. In der Darstellung dieser oder jener Figur ist jeweils eine bestimmte Weise vorausgesetzt, wie das Feld der Darstellung als solcher, das Feld ihres Auftritts oder Erscheinens stattfindet. Am Ende seines Buchs schlägt Bailly vor, die Geschichte der »Ästhetik des Abendlands« als eine Geschichte der Distanz zu denken, als eine Geschichte der unterschiedlichen Weisen, in denen jeweils das mimetische Feld in der Geschichte des Abendlands hervortritt.15 In einem ähnlichen Sinn wie Bailly möchte ich vorschlagen, die verschiedenen Theaterformen unter dem Gesichtspunkt dieser ›Distanz‹, die das Auftreten der Darstellung ermöglicht, zu untersuchen, d.h. unter dem Gesichtspunkt der diversen Weisen, in denen jeweils das Feld der Darstellung erscheint. Anders als Bailly möchte ich aber vorschlagen, die Darstellung im Theater im Kontext der Problematik des Bezugs zu untersuchen und genauer das Feld der
13 | Jean-Christophe Bailly, Le champ mimétique, Paris 2005. 14 | Ebd., »Champ et ›Khôra‹ platonicienne«, S. 25-37. 15 | Ebd., S. 292.
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Darstellung als Feld des Auftretens eines sich ausstellenden (sinnlichen) Bezugs in den Blick zu nehmen.16 Zuschauen ist nicht das Zuschauen bestimmter Individuen, die sich auf einen Gegenstand beziehen, sondern es ist das Stattfinden der Alterität, die sich in dem sich ausstellenden sinnlichen Bezug öffnet. Diese Alterität, die Ausstellung des Sich-Entfaltenden, ist ein ›Mit‹, eine primordiale Bezugnahme, die keine Verbindung zwischen einem Subjekt und einem Objekt ist. Die unterschiedlichen Formen der Modalität dieser Ausstellung und dieser Bezugnahme zu untersuchen, impliziert zugleich die Notwendigkeit, die Historizität der Kategorien des Aufführens und Zuschauens zu analysieren. In gewissem Sinn handelt es sich um eine Analyse der Medialität des Theaters als primordial; um eine Analyse, die nicht auf der Grundlage eines Subjekts, das einem Objekt zuschaut oder eines Subjekts, das aufführt, beruht. Heutige Theaterformen, in denen die Partizipation in den Vordergrund tritt und die kein dramatisches Werk voraussetzen, tun nichts grundsätzlich anderes als das klassische dramatische Theater, sie tun es nur unter anderen Bedingungen. Sie sind auch das Stattfinden einer sinnlichen Entfaltung bzw. einer Bezugnahme, die z.B. durch eine Intensivierung als solche hervortritt und sich darbietet. Wenn das Schema der Darstellung als Darstellung von Etwas für das dramatische Theater nicht zutrifft, ist z.B. die Natürlichkeit im dramatischen Theater nicht, wie Menkes und Lehmanns Argumentation jeweils zwangsläufig impliziert, die angestrebte dialektische Aufhebung von Spiel und Praxis.17 Wenn im dramatischen Theater die Selbstständigkeit nicht auf eine dialektische Aufhebung des Konflikts der Protagonisten zurückzuführen ist, wenn sie weder Einvernahme noch Vergegenständlichung des Sich-Entfaltenden (als dargestelltem Bild) ist und wenn sie auch keine passive Identifikation seitens der Zuschauer als Individuen bedeutet, dann ist es auch nicht angebracht, das antike Theater
16 | Ich schließe hier an eine philosophische Fragestellung an, mit der ich mich ausgehend von Heidegger bereits in meiner Doktorarbeit beschäftigt habe und die das Kunstwerk als Ereignis eines unergründeten Bezugs, eines »Mit« interpretiert. Vgl. Marita Tatari, L’interprétation de la poésie dans »à quoi bon des poètes« de M. Heidegger. Interprétation et partage de l’être (Dissertation, Strasbourg 2005) und Dies., Heidegger et Rilke – Interprétation et partage de la poésie, Paris 2013. Diese Denkbewegung kennzeichnet Jean-Luc Nancys Arbeit, vgl. z.B. Jean-Luc Nancy, Die Mit-Teilung der Stimmen, Berlin/ Zürich 2014. 17 | Vgl. Christoph Menke, »Praxis und Spiel. Bemerkungen zur Dialektik eines postavantgardistischen Theaters«, in: Patrick Primavesi/Olaf Schmitt (Hg.), AufBrüche. Theaterarbeit zwischen Text und Situation, Berlin 2004, S. 27-35 und Hans-Thies Lehmann, Tragödie und dramatisches Theater, Berlin 2013.
Was ist Theater im dramatischen Theater?
als ›prä-dramatisches‹ (Lehmann) bzw. die Tragödie als eine Vorform des neuen Dramas, das selbst als Form des Subjekts verstanden wird, auszulegen.18 Anders als im neuen Drama, in dem die Bedingung, aus der das Theater hervorgeht, die Modalität einer Selbstständigkeit ist, ist in der antiken Tragödie die strukturelle Vorgängigkeit des Chors Bedingung für die sinnliche Entfaltung der Handlung. Ulrike Haß betont diese Vorgängigkeit und erläutert mit Werner Hamachers Auslegung des aristotelischen Topos die doppelte Anlage des antiken Theaters als Chor und Protagonisten.19 Nancy hebt ebenfalls hervor, wie das spezielle Stattfinden des sich in der antiken Tragödie sinnlich Entfaltenden als sich selbst ausstellendem (des Sprechens, der Gesten) mit der Vorgängigkeit des Chors, der den Protagonisten zuschaut, einhergeht.20 Durch den zuschauenden Chor wird die Ausstellung der sinnlichen Handlung selbst ausgestellt und so in ihr eine Alterität, eine Heterogenität oder eine endliche Transzendenz eröffnet.21 Wenn die entscheidende Frage für die ästhetische Analyse einer Theaterform die Frage nach dem Feld eines sich als solchen ausstellenden sinnlichen Bezugs ist, dann greifen Auffassungen der Theaterformen der Gegenwart, die sich als Sprengung oder Überwindung des neuen Dramas verstehen, ästhetisch zu kurz. Wie das neue Drama sind auch die heutigen Theaterformen durch jeweils eine bestimmte Modalität der Bedingung gekennzeichnet, aus der heraus ein sich ausstellender sinnlicher Bezug in ihnen stattfindet. Nicht die ›Mobilisierung‹ der Zuschauer aus ihrer vermeintlichen Passivität heraus, die Interaktion oder die Aufhebung der Dichotomie zwischen Akteuren und Zuschauern sind dann die entscheidenden Fragen, um diese Formen zu begreifen, sondern die Frage: Wie findet in ihnen ein sinnlicher Bezug statt, der sich zugleich ausstellt, wie tritt er als solcher hervor? Wie findet das Feld eines sich ausstellenden, unergründeten Bezugs statt, wenn sich z.B. kein mimetischer Gegenstand (als Gegenstand) zu erkennen gibt? Wie findet in den verschiedenen Formen sinnliche Bewegung, Empfinden statt, einem unbestimmbaren Außen zugekehrt?
18 | Vgl. Hans-Thies Lehmann, Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart 1991 und Ders., Tragödie und dramatisches Theater. 19 | Ulrike Haß, »Die zwei Körper des Theaters – Protagonist und Chor«, sowie Ulrike Haß/ Marita Tatari, »Eine andere Geschichte des Theaters«, in: Tatari, Orte des Unermesslichen, S. 139-159 und S. 77-90. 20 | Jean-Luc Nancy, »Theater als Kunst des Bezugs 1«, in: Tatari, Orte des Unermesslichen, S. 91-100. Durch den zuschauenden Chor bietet sich das sich sinnlich Entfaltende, so meint Nancy, als sich selbst Opferndes und das bedeutet für Nancy: als in sich eine Heterogenität Öffnendes dar. 21 | Zur Frage des kultischen Charakters der Tragödie nach dem Entzug des Göttlichen vgl. auch Marita Tatari, »Handlung als Rhythmus in der antiken Tragödie«, in: Jörn Etzold/ Moritz Hannemann (Hg.), rhythmos. Formen des Unbeständigen nach Hölderlin, Paderborn (erscheint 2016), S. 107-121.
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Bilderfahrung und Episteme des Sichtbaren: Theorie und Theoros Alexander Jackob
Angesichts der langen Geschichte des Sehens im Spannungsfeld verschiedener Formen und Begriffen des Wissens scheint die Frage auf den ersten Blick paradox zu sein: Wie verhält sich der Theoriebegriff zu jener auf Kant zurückgehenden Aussage, dass Begriffe ohne Anschauungen leer seien?1 Denn leitet man den Begriff der Theorie als theória von seinen etymologischen Ursprüngen ab, dann bedeutet er ja gerade eben Anschauen oder Betrachten. Setzt man sich jedoch mit der kantschen Terminologie etwas genauer auseinander, dann erweist sich seine Überlegung, dass alle Erkenntnis und letztlich alle Formen des Wissens bestimmter Anschauungsformen bedürfen als ein Wink, den Theoriebegriff nicht bloß abstrakt oder bloß ›theoretisch‹ zu bestimmen,2 sondern im Umfeld historisch gewachsener Praktiken zwischen Sehen und Wissen zu verorten. Daraus leitet sich auch die Frage ab, wie der Zusammenhang zwischen Sehen und verschiedenen Wissensformen im Hinblick auf das Theater aufzufassen ist. Einen ersten, bekannten Hinweis gibt die Begriffsgeschichte. In Kluges etymologischem Wörterbuch wird der Begriff der Theorie in direkte Beziehung zum theorós gesetzt, der die Theorie betreibt und verkörpert:3 Der theorós ist ein »›Zuschauer‹, 1 | »Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es eben so notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen, (d.i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen), als seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d.i. sie unter Begriffe zu bringen).« Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: Ders,. Werke in sechs Bänden, hg. v. Rolf Toman, Köln 1995, Bd. 2, S. 101. 2 | Vgl. hierzu die Begriffe »Anschauung« und »Anschauungsformen« in: Rudolf Eisler, Kant-Lexikon. Nachschlagewerk zu Kants sämtlichen Schriften, Briefen und handschriftlichem Nachlaß, Hildesheim/Zürich/New York 1989. 3 | Ich gehe mit Hans-Georg Gadamer davon aus, dass die sprachgeschichtlichen Wurzeln eines Wortes nicht einfach als Beweisstücke für eine definitive Bedeutungsbestimmung bestimmter Begriffe gelten können. Zugleich aber stimme ich mit ihm darin überein, dass
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besonders einer, der als Gesandter einer griechischen Stadt zum Tempel, Orakel oder Festspiel eines Gottes ging.«4 Die theória (laut Kluge wörtlich »Anschauen, Betrachtung«) war also zunächst eine besondere Praxis des Zuschauens, welche an öffentliche Ereignisse gebunden war, die von sportlichen Wettkämpfen bis hin zu sakralen Riten und theatralen Aufführungen reichen konnten. Doch hatte der theorós als Teilnehmer einer Festgesandtschaft nicht nur die Aufgabe, die ihm gebotenen Schauspiele und Aufführungen aufmerksam zu ›sehen‹. Vielmehr ging es darum, das Sehen an einem öffentlichen, dafür bestimmten Schauplatz zu praktizieren. Der genuine Ort der Zuschauer (theoroi) war das Theater bzw. das théatron. Es ermöglichte eine Form des Sehens, die mit einem praktischen Wissen vom Theater als Ereignis verbunden war. Hans-Georg Gadamer hat darauf hingewiesen, dass sich der theorós und der mit ihm verbundene Akt der theôrìa nicht in dieser konkreten Praxis erschöpfte.5 Mit dem Begriff der theôrìa war auch der Zustand der Kontemplation im Sinne einer geistigen Schau verbunden, die über den augenblicklichen Moment und die individuelle Erfahrung eines einzelnen ›Zuschauers‹ hinausweisen sollte. Damit konnte sich eine praktische und theoretische Grundlage entwickeln, auf deren Basis man einvernehmlich und vom Zeitraum des Theaterereignisses unabhängig »mit anderen oder möglichen anderen« am Gleichen teilhaben konnte.6 Hier kommt ein zweiter Aspekt des Theoriebegriffs ins Spiel. Der Doppelsinn des Theoriebegriffs als konkretes physisches Sehen und kontemplative Schau verlor sich mehr und mehr mit dem Einsetzen der philosophischen Tradition. Wie man weiß, war diese Entwicklung eng an das Schicksal der attischen Polis gebunden. Da Platon die Polis und alle mit ihr bestehenden Staaten in einem kaum noch aufzuhaltenden Verfall sah, entwarf er jenen berühmten »Staat in Gedanken«, der als »Urbild im Himmel« eine Orientierung für diejenigen sein sollte, die sich selbst und ihre innere Verfassung ordnen wollten.7 In diesem idealen Staat sollte nicht nur das Theater als genuine Kunstform der Polis und damit auch der Ort des Theoros8 abgeschafft werden. Auch wurde, wie Hannah Arendt in Vita Activa oder vom tätigen Leben hervorhebt, »das Ewige als das eigentliche Zentrum des metaphysisch-philosophischen Denkens« gerade die Befragung der Begriffsgeschichte eine wichtige »Vorausleistung« der begrifflichen Analyse ist. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, in: Ders., Gesammelte Werke, Tübingen 1999, Bd. 1, S. 108f. 4 | Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin/New York, S. 989. 5 | Hans-Georg Gadamer, »Lob der Theorie«, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 37-51, hier S. 48f. 6 | Ebd., S. 48. 7 | Hans-Georg Gadamer, »Plato und die Dichter«, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 5, S. 187-211, hier S. 194. 8 | Im Weiteren werde ich mich beim Begriff des Theoros der vereinfachten Schreibweise Gadamers in Wahrheit und Methode anschließen.
Bilder fahrung und Episteme des Sichtbaren: Theorie und Theoros
bestimmt.9 Wie Gadamer zeigt, erfährt der Theoriebegriff ab der Neuzeit vor dem Hintergrund der Entwicklung der Naturwissenschaften eine entscheidende Wende, mit der ein dritter Aspekt des Theoriebegriffs in den Vordergrund tritt. Wie das folgende Zitat zeigt, ist er auch auf den gegenwärtigen wissenschaftlichen Betrieb bezogen: Was in der modernen Wissenschaft Theorie heißt, hat, wie mir scheint, mit jener Haltung des Schauens und des Wissens, in der der Grieche die Ordnung der Welt hinnahm, kaum noch etwas zu tun. Die moderne Theorie ist ein Konstruktionsmittel, durch das man Erfahrungen einheitlich zusammenfaßt und ihre Beherrschung ermöglicht. Wie die Sprache sagt, ›bildet‹ man Theorien. Darin liegt bereits, daß eine Theorie die andere ablöst, und jede von vornherein nur bedingte Geltung verlangt, nämlich soweit nicht die fortschreitende Erfahrung eines Besseren belehrt.10
Wenn Gadamer hier von fortschreitender Erfahrung spricht, dann muss man hinzufügen, dass er nicht vom Fortschritt etwa im Sinne Hegels spricht, in dem die Erfahrung eines Geistes durch fortwährende Negationen vorheriger Erfahrungen durch die Geschichte hindurch aufsteigt um schließlich in einem absoluten Wissen bzw. in einem absoluten Begriff aufgehoben zu werden.11 Ganz im Gegenteil ist für Gadamer der Prozess der Erfahrung ein nicht aufzuhebender Prozess.12
Wissen und Sehen, Erkennen und Anerkennen Aus diesen ersten Überlegungen möchte ich zwei auf einander auf bauende Fragen ableiten, denen ich im Weiteren nachgehen werde. Welche Konsequenzen lassen sich aus Gadamers historisiertem Theoriebegriff für das Verhältnis zwischen Erfahrung und verschiedenen Wissensbegriffen ableiten? Und welche Spielräume des Wissens eröffnen sich für die Zuschauer, wenn das historisch gewachsene und gleichermaßen kontingente Verhältnis von Sehen und Wissen selbst zum Thema im Theater bzw. eines Theaterdiskurses (im Sinne des Gesprächs) wird? Die erste Frage zielt auf Gadamers Hermeneutik ab. Folgt man ihrer pragmatistischen Interpretation durch Richard Rorty, dann lässt sie sich nicht nur als Kunst des Auslegens und Interpretierens von Phänomenen, Kunstwerken und Sinnzusammenhängen aus fremden oder vergangenen Lebenswelten verstehen, sondern gleichzeitig auch als eine Aufforderung zum Gespräch mit anderen und
9 | Hannah Arendt, Vita Activa oder vom tätigen Leben, Stuttgart 1960, S. 24ff. 10 | Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 458. 11 | Ebd., S. 359ff. 12 | Zu dieser Thematik vergleiche auch den Abschnitt »Fremde Bilder. Zu einer Hermeneutik des Theaterbildes und die Zuspitzung des Theaterbegriffs«, in: Alexander Jackob, Theater und Bilderfahrung. In den Augen der Zuschauer, Bielefeld 2014, S. 135-146.
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fremden Positionen und Typen des Wissens.13 Rorty unterscheidet zwischen den erkenntnistheoretischen Ansprüchen einer ›normalen‹ Philosophie und der Hermeneutik. Während die Erkenntnistheorie strategisch davon ausgehe, dass alle Beiträge zu bestimmten Diskursen unter eine kommensurable Regelmenge gebracht werden können, leiste Hermeneutik darüber hinaus das Studium und die Auseinandersetzung mit den nichtnormalen Diskursen, den Ausnahmen, den Grenzfällen.14 Insofern sei die philosophische Hermeneutik Gadamers eben nicht ein »methodisches Verfahren zur Aneignung von Wahrheiten«15 gemäß dem Anspruch der epistemologisch fundierten Wissenschaften der Moderne. Vielmehr sei sie, und hier zitiere ich mit Rorty Gadamer aus Wahrheit und Methode, »der Versuch einer Verständigung über das, was die Geisteswissenschaften über ihr methodisches Selbstbewusstsein hinaus in Wahrheit sind und was sie mit dem Ganzen unserer Welterfahrung verbindet.«16 Daraus leitet Rorty den Vorschlag ab, die Einschränkungen erkenntnistheoretischer bzw. epistemologischer Positionen durch einen von Gadamer revitalisierten Begriff der Bildung zu erweitern und letztlich zu ersetzen.17 Mit Bildung meint Rorty nicht zuletzt jenes Vermögen, sich in die Position eines Anderen bzw. des Gegenübers zu versetzen,18 ohne, wie ich hinzufügen möchte, sich diese Position als bloßes Objekt des Wissens zu Eigen zu machen. Denn im bloßen Akt der Aneignung als Objekt würde das Andere oder Fremde als selbstbestimmtes Gegenüber letztlich zum Verschwinden gebracht bzw. zu Eigen gemacht. Damit würde eben jenes Nichtnormale, das Fremde aus dem wissenschaftlichen Diskurs ausgestrichen. Gleichzeitig sollen die Bemühungen um Verständigung mit anderen wissenschaftlichen Positionen (oder auch das Gespräch, wie Rorty seinerseits hervorhebt19) nicht preisgegeben werden: »Es besteht wirklich eine Polarität von Vertrautheit und Fremdheit, auf die sich die Aufgabe der Hermeneutik gründet.«20 Diese Aufgabe besteht – um einen Gedanken von Edmund Husserl21 aufzugreifen – darin, das Fremde als eine bewährte Zugänglichkeit eines original (oder ursprünglich) unzugänglichen Phänomens zu begreifen oder besser anzuerkennen. Das verlangt eben mehr, als nur erkennen zu wollen. Bernhard Waldenfels 13 | Richard Rorty, Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt a.M. 1987, S. 343-386. 14 | Ebd., S. 348ff. 15 | Ebd., S. 387. 16 | Ebd., S. 388. Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 3. 17 | Rorty, Der Spiegel der Natur, S. 389ff. Zu Gadamers Auslegung von Hegels Begriff der Bildung siehe: Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 17ff. 18 | Rorty, Der Spiegel der Natur, S. 396. 19 | Ebd., S. 403. 20 | Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 300. 21 | Edmund Husserl, »Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge«, in: Husserliana. Edmund Husserls Gesammelte Werke, Bd. 1, Den Haag 1973, S. 144.
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hat aus dieser phänomenologischen Position heraus darauf hingewiesen, dass wir das Fremde zwar damit niemals erkennen, wohl aber die Situationen, Orte und Bühnen beschreiben können, in denen und auf denen wir das Fremde erfahren.22 Nimmt man diesen Hinweis wörtlich, dann ist hier jenseits aller Metaphorik vor allem an das Theater als einen genuinen Ort zu denken, an dem seit jeher Phänomene des Fremden für Bereiche des Wissens und der Erfahrung zugänglich gemacht werden, die über rein epistemologische Positionsbestimmungen hinausgehen. Zusammenfassend könnte man also sagen, dass es hier nicht um das Erkennen, sondern darüber hinaus um das Anerkennen von befremdenden Phänomenen und Erfahrungen geht. Die Hypothese des vorliegenden Beitrages lautet, dass das Theater ein Ort ist, an dem das Spannungsverhältnis zwischen diesen verschiedenen Formen des Erkennens und Anerkennens, zwischen Wissen und Sehen, zur Geltung kommt.
Anerkennung und Erfahrung Doch wie können solche Formen der Anerkennung konkret aussehen? Angesichts der bisherigen Ausführungen könnte man durchaus den Eindruck bekommen, dass Gadamer und mit ihm Rorty unausgesprochen dafür plädierten, die Epistemologie innerhalb der geisteswissenschaftlichen Disziplinen durch eine neue Form der praktischen Philosophie (also mithin durch eine Ethik des Verstehens oder des Gesprächs) ersetzen zu wollen. Ein Blick in das Frühwerk Gadamers, in dem er die theoretische Grundlage für Wahrheit und Methode geschaffen hat, zeigt, dass es ihm nicht darum geht, verschiedene philosophische Positionen oder bestimmte Begrifflichkeiten und Konzepte gegeneinander auszuspielen. Bereits in seiner Habilitation Platos dialektische Ethik von 1931 hat sich Gadamer intensiv mit der Kunst des Gesprächs, genauer dem sokratisch-platonischen Dialog auseinandergesetzt.23 Dabei interessierte ihn insbesondere das Spannungsverhältnis zwischen dem fortwährenden Hinterfragen und Revidieren von Grundbegriffen in den platonischen Dialogen und dem gewissermaßen monologischen, auf klare Begriffsunterscheidungen abzielenden Denken von Aristoteles, das zugleich eine wesentliche Basis für die Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens überhaupt verstanden werden kann.24 Hier sieht er einen sich durch Widersprüche und Gegenpositionen öffnenden Weg, auf dem die theoretische Frage nach den Möglichkeiten, überhaupt etwas gesichert wissen zu können, mit dem fortwährenden praktischen Vollzug des Dialogs in eine vitale Spannung gebracht wird. Vor allem wendete Gadamer sich gegen Auffassungen, welche einem nahezu unüberbrück22 | Bernhard Waldenfels, Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, Frankfurt a.M. 1997, S. 25ff. 23 | Hans-Georg Gadamer, »Platos dialektische Ethik«, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 5, S. 3-163. 24 | Ebd., S. 8ff.
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baren Gegensatz zwischen der auf Verständigung zielenden Gesprächskunst Platons und der monologischen Unterscheidungslogik des Aristoteles sahen. »So triviale und naive Gegenüberstellungen wie Plato, der Idealist, Aristoteles, der Realist, waren allgemein akzeptiert.«25 Gadamer eröffnete nun seinerseits einen Weg, Platon (der Begriffe in produktive Krisen führt) und Aristoteles (welcher ihre Stellung und Bedeutung zu sichern sucht) gewissermaßen ins Gespräch bzw. in einen Dialog zu bringen. Im Akt der Interpretation des theoretischen und praktischen Ansatzes beider Philosophen und im Hinblick auf aktuelle Problemstellungen der gegenwärtigen Lebenswelt suchte Gadamer diese unterschiedlichen Herangehensweisen produktiv zusammenzuführen. Dies geschah unter anderem im Hinblick auf die Frage, was und wie etwas in einer spezifischen Situation als Wissen begriffen und bezeichnet werden kann. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich hinzufügen, dass dies auch für unterschiedliche Formen des Wissens vom Sehen im Spannungsfeld von Blick und Theater gilt. Noch 1990 erinnerte Gadamer an die begrifflichen Unterscheidungen der Wissensbegriffe in der altgriechischen Sprache, derer sich Aristoteles bediente: Das sind die Technē, das praktische Können, die Episteme, die Wissenschaft, die Phronesis, das praktische Wissen, die Sophia, die Weisheit, und schließlich der Nous, die Vernunft, (wenn es erlaubt ist, dieses fragwürdige Wort für das griechische Wort νοῦς zu verwenden). In der Behandlung dieser fünf Leitworte für vollkommenes Wissen bewährt sich die Aristotelische Unterscheidungskunst. Sie bietet Gelegenheit, Gewinn und Verlust der Wendung auf begriffliches Sprechen mit zu erwägen. 26
Was jedoch bei Aristoteles verloren ginge, sei die unerschöpfliche, also mithin schöpferische Vieldeutigkeit der Sprache überhaupt. Gadamer führte die beiden philosophischen Ansätze zu einer platonisch-aristotelischen Wirkungseinheit zusammen.27 Bei Aristoteles geht es um ein bestimmtes wissenschaftliches Denken, das die platonische Gesprächsführung (mit dem Telos, unveränderliches Wissen zu schauen) in die vorsichtig tastende Sprache philosophischer Begriffe überführt. Im Gegenzug fordert Gadamer, solche wissenschaftlichen Grundbegriffe immer wieder aufs Neue (im Vollzug der platonischen Logik von Frage und Antwort) zu problematisieren bzw. in Frage zu stellen. Dabei gibt die aristotelische Phronesis als praktisches Wissen, das nur im Durchgang durch praktische Erfahrungen und durch Einsicht und Nachsicht für die Position des Anderen zu gewinnen ist, den Ton an. Dennoch werden die anderen Formen des begrifflichen Wissen, also auch die Episteme, nicht suspendiert. 25 | Hans-Georg Gadamer, »Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles«, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 7, S. 128-227, hier S. 129. 26 | Ebd., S. 377. 27 | Ebd., S. 131.
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Ziel ist vielmehr, über die Frage nach den Bedingungen des Wissens und Handelns auch in den Wissenschaften als Ganzes im Gespräch zu bleiben. Die Erfahrungsprozesse, die damit verbunden sind, reichen für Gadamer offenkundig bis ins Herz seines Bildungsbegriffs, zu dem auch die Erfahrungen mit Kunst und Theater gehören. Und so kann es nicht überraschen, dass auch Rorty zu folgender Schlussfolgerung kommt: »Der Gegensatz zwischen dem Wunsch nach Bildung und dem Wunsch nach Wahrheit ist für Gadamer nicht Ausdruck einer Spannung, die aufzulösen oder durch Kompromisse beizulegen wäre.«28 Diese Wahrheit ist ohne den Weg der Erfahrung nicht zu haben, zumindest dann nicht, wenn man den Ausdruck Wunsch beim Wort nimmt. Was bedeutet dies für die anfangs formulierte Frage nach den Konsequenzen eines historisierten Theoriebegriffs für das Verhältnis von Erfahrung und Wissen? Zum einen lässt sich die Theorie mit dem historischen und dem individuellen Erfahrungsprozess, der den Begriff der Phronesis einschließt, in Zusammenhang bringen. Das legt zum anderen nahe, den Theoros als praktischen Zuschauer, das heißt als einen sich im Prozess der geschichtlichen und individuellen Erfahrung veränderlichen Zuschauer zu verstehen. Damit ist jedoch noch nicht geklärt, ob eben dieser Zuschauer in der Frage nach dem Wissen allein auf die Erfahrung mit der Sprache angewiesen ist und welche Rolle die konkrete phänomenale Welt für ihn spielt. Hier schließt sich die zweite Frage an.
Bildungsprozesse visueller Erfahrung Welche Spielräume des Wissens eröffnen sich für die Zuschauer, wenn das historisch gewachsene und gleichermaßen kontingente Verhältnis von Sehen und Wissen selbst zum Thema im Theater oder auch eines Theaterdiskurses (im Sinne eines Gesprächs) wird? Die Überlegungen hierzu möchte ich im Folgenden am Beispiel eines signifikanten Bedeutungswandels des zentralperspektivischen Blicks im Theater ausführen. Dabei sollen zum einen die Zuschauer selbst als eine historisch kontingente Erfahrungsinstanz zwischen Sehen und Wissen thematisiert werden. Zum anderen soll gezeigt werden, dass das Sehen mit Bildern und das Sehen in Bildern in diesem Zusammenhang eine wesentliche Rolle spielt. Wie Hans Belting in Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks herausgearbeitet hat, geht die Innovation der Perspektive im Norditalien des 15. Jahrhunderts auf eine Transformation der in Europa bereits seit dem 13. Jahrhundert bekannten arabischen Sehtheorie Alhazens in eine Bildtheorie und Bildpraxis so genannter ›westlicher Prägung‹ zurück.29 Aus der bilderlosen, optischen Theorie Alhazens, die ihre Erkenntnisse im Wesentlichen den (mathematischen) Vermessungen des Lichtes und dem konstruierten Blick der Camera Obscura ver28 | Rorty, Der Spiegel der Natur, S. 390f. 29 | Hans Belting, Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks, München 2008, S. 104, S. 144.
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dankte, wurde ein perspektivisches Konstruktionsprinzip von Bildern, mit dem die Welt nicht nur in Bildern gesehen wurde, sondern die Welt selbst als ›Teil‹ eines gleichförmigen, stabilen und mathematisch gestützten Bildprinzips verstanden werden konnte. Mit der Einführung der Perspektive ging die Konstruktion und Disziplinierung eines Beobachtersubjektes einher. Dessen fixierten Blick überführte die Sichtbarkeit der Gegenstände in Bildobjekte in einem homogenen Sehraum. Um diese Vereinigung von Bild und Blick auf theoretischer Ebene zu reflektieren und sichtbar machen zu können, war der Beobachter nun selbst auf Bilder angewiesen. Hier ist neben der Zentralperspektive ebenso an aufrissartige Illustrationen oder isometrische Darstellungen zu denken. Auch auf dieser Ebene tritt das Bild in das Verhältnis von Theorie und Blick ein. Christopher Balme hat gezeigt, dass die Einführung der Zentralperspektive bzw. zentralperspektivischer Prospekte auch für das Theater ein Schlüsselmoment war: »Wir haben es hier mit einer für die Theatergeschichte folgenreichen Innovation zu tun: die Gliederung der Bühne in zwei getrennte Bereiche, einen Spielraum und einen Bildraum.«30 Belting wiederum formuliert die Konsequenzen dieses Wandels im Hinblick auf eine vornehmlich bildtheoretische Perspektive: »So lud das Theater zu einem doppelten Blick ein, vorne auf den Ort des Spiels und im Hintergrund auf den Ort der Perspektive, der während der Aufführung als Bild unberührt blieb. Der benutzte Raum (Spielraum) hatte keine Verbindung zum abgebildeten Raum (Prospekt).«31 Von besonderem Wert ist seine Untersuchung deshalb, weil er das weltliche Theater jener Zeit (vom frühen 15. bis zum 17. Jahrhundert) als die Kunst beschreibt, in der sich die perspektivische BildKunst in einer Reinheit entfaltete, »wie sie es sonst nur in der Idee konnte.«32 Diese groß angelegte Anwendung der Perspektive auf der Bühne brachte ein Theater hervor, das es so zuvor noch nicht gegeben hatte. Auf dieser Grundlage konnte sich schließlich ein neu geschaffener Bühnen- und Bildraum als Ergebnis theoretischer Konstruktionen entwickeln, mit der visuelle »Erfahrungen einheitlich zusammengefasst«33 und nach bestimmten ›Regeln der Kunst‹ beherrscht werden konnten. Wie Belting betont, trat jedoch im 17. Jahrhundert eine entscheidende Veränderung ein. Die Experimente von Kepler (1604) und Descartes (1637) hatten unzweifelhaft nachgewiesen, dass das optisch verzerrte Netzhautbild, das zudem noch auf dem Kopf steht, keineswegs der konkreten Erfahrung menschlicher Sehbilder entspricht. Deshalb musste die Zentralperspektive als wahrhaftige Darstellung der Realität nicht nur bezweifelt, sondern schließlich verworfen werden. Denn der Gesichtssinn besitzt nicht die Fläche, die im planen Schnitt durch die Seh30 | Christopher Balme, »Stages of Vision. Bild, Köper Medium im Theater«, in: Hans Belting/Dietmar Kamper/Martin Schulz (Hg.), Quel Corps? Eine Frage der Repräsentation, München 2002, S. 349-364, hier S. 353. 31 | Belting, Florenz und Bagdad, S. 204. 32 | Ebd., S. 202. 33 | Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 458.
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pyramide konstruiert wird und wie ein Blick durch ein Fenster erscheint. »Hier wurde die wissenschaftliche Autorität des perspektivischen Bildes aufgekündigt. Das gemalte Bild der Perspektive konnte nicht mehr als getreues Faksimile des Sehbildes gelten.«34 Für Descartes konnte diese Beobachtung als ein Beleg für seine neue theoretische bzw. epistemologische Trennung der res extensa als materieller Welt und der res cogitans als geistige Welt gelten. Das Sehbild wurde in dieser Theorie nun mental verarbeitet. Aber selbstverständlich führte die epistemologische Zurückweisung der Perspektive keinesfalls dazu, dass von diesem Augenblick an die Perspektive als konkrete Form eines bestimmten Typs des theoretischen Sehens in Bildern und eines praktischen Wissens fallengelassen wurde. Eher kann man von einer Verschiebung der Wissensansprüche sprechen. Mit Gadamer und Rorty betrachtet lässt sich diese Veränderung als Historisierung eines theoretischen Wissens im Sinne eines Bildungsprozesses visueller Erfahrung begreifen, in dem die Instanz des Zuschauers eine wesentliche Rolle einnimmt. Belting betont denn auch ausdrücklich, dass die Darstellungs- und Unterhaltungsmedien bis heute mit den Modellen und den Täuschungs-Apparaturen der Zentralperspektive arbeiten und so einen Großteil der aktuellen Medienkultur (und damit auch unseres Wahrnehmungsglaubens) dominieren.35 Das Fortleben der Perspektive bis in die Gegenwart zeigt sich nach Belting auf den unterschiedlichsten Ebenen: Im Bereich der Massenmedien werde die Bildpraxis immer noch von den Dominanten der »perspektivischen Gewohnheit« bestimmt. Längst zum globalen Exportartikel geworden, lässt sich nach Belting von einer weltweiten Anpassung an westliche Sehkonventionen sprechen. Vom medientechnologischen Standpunkt aus sieht Belting folgerichtig, dass es heute vor allem das Fernsehen ist, in dem »der Blick auf die künstliche Horizontschar einer Monitorwand« fällt.36 Die Bildröhre und modernere Formen des Monitors haben damit das Konzept der Zentralperspektive und des Fluchtpunktes verinnerlicht und weiterentwickelt. Gerade vor dem Hintergrund des weltweiten Fortwirkens der Zentralperspektive als Teil der Apparaturen und technisch konstruierten Erfahrungswelten der gegenwärtigen visuellen Kulturen kommt meines Erachtens der Phronesis als praktischem Wissen eine besondere Rolle zu. Indem sie nach den Möglichkeiten des praktischen und individuellen Handelns fragt, eröffnet sie den Zugang zu anderen Formen des Wissens. So wird zum Beispiel ein kritischer Zuschauer, der sich seiner eigenen Geschichtlichkeit bewusst ist, im Zusammenhang mit der Zentralperspektive über Probleme der Techne hinaus auch Fragen nach der 34 | Belting, Florenz und Bagdad, S. 140. 35 | Zur besseren Unterscheidung der Begrifflichkeiten muss hier hinzugefügt werden, dass ich mich mit dem Begriff Medienkultur an dieser Stelle lediglich auf jene technologischen Medien beziehe, in denen Perspektivkonstruktionen reproduziert und weiterentwickelt werden. Dieser Medienbegriff hat mit dem erweiterten anthropologischen Medienbegriff von Hans Belting letztlich nichts zu tun. 36 | Belting, Florenz und Bagdad, S. 31.
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Weltnahme der westlichen Zivilisation durch ihre Bildtechniken oder die Disziplinierung der Zuschauer durch bestimmte vorherrschende Medienpraktiken stellen. Er wird auch nach anderen, konfrontierenden Formen der Bilderzeugung und nach Bildformen sehen, die Fragen provozieren und zur Sprache bringen. Hierzu zählen unter anderem Bilder, die ihre eigenen Erscheinungsbedingungen thematisieren oder den gewohnten bzw. eingewöhnten Sehsinn in Frage stellen. Solche Bilder, die auch bestimmte theoretische Einsichten ermöglichen, hat W. J. T. Mitchell Metabilder, Metapictures genannt. Sie thematisieren, etwas vereinfacht gesagt, nicht nur die Bedingungen ihres eigenen Erscheinens, sondern sind gleichermaßen in der Lage, bestimmte theoretische, technische oder auch strukturelle Sachverhalte im Umfeld unterschiedlicher visueller Erfahrungen zu problematisieren oder anschaulich zu machen. Solche Bilder sind, so Mitchell, Bilder über Bilder (pictures about pictures).37
Theater über Theater: William Kentridge Der Begriff des Metabildes – um noch einmal mit Kant zu sprechen – bliebe bloß ein leerer Begriff, wenn er nicht im Hinblick auf das Theater auf eine konkrete visuelle Erfahrung bezogen werden würde. Das heißt jedoch nicht, dem begrifflichen Denken ein Anschauungsobjekt gegenüberzustellen, um es als ›Anschauungsmaterial‹ deduktiv zu bestimmen oder zu taxieren. Vielmehr geht es darum, szenische Zusammenhänge und Bilderfahrungen im Theater zu beschreiben, die das Verhältnis von Sehen und Wissen destabilisieren und die Erscheinungsbedingungen des Sichtbaren problematisieren. Inwieweit damit tatsächlich die Bildung eines individuellen und gleichsam kritischen Wissens (im Sinne der Phronesis) gewährleistet ist, das vorgeprägte Deutungszusammenhänge in neue Erfahrungszusammenhänge überführt, kann nur von Fall zu Fall entschieden werden. Im Folgenden möchte ich zur Veranschaulichung zwei Beispiele aus einem Produktionszyklus des südafrikanischen Künstlers und Regisseurs William Kentridge anführen. Es handelt es sich um seine Inszenierung der Zauberflöte (Premiere in Brüssel 2005) und um die Installation Black Box/Chambre Noir (2005), ein mechanisch betriebenes und autonom ablaufendes Miniaturtheater. Anhand dieser Beispiele möchte ich zeigen, inwieweit gerade das Theater als wirkungsgeschichtliches Phänomen in besonderer Weise dazu disponiert ist, das prekäre Verhältnis von Sehen lassen, Wissen schaffen und der dazu gehörigen Deutungs-Macht zu problematisieren und anschaulich zu machen. Ausgehend vom Begriff des Metabildes geht es also mithin um Theater über Theater. Auf der Suche nach einer Bildsprache für Die Zauberflöte hatte Kentridge den Animationsfilm Die Flöte erlernen (2003) und das mit Zeichnungen und einem Animationsfilm ausgestatte Theatermodell Die Flöte vorbereiten (2005) als direkte 37 | W.J.T. Mitchell, Picture Theory. Essays on Verbal and Visual Representation, Chicago, IL 1994, S. 37f.
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Vorarbeiten für die Operninszenierung entwickelt. Black Box hingegen war eine explizite Auftragsarbeit für das Deutsche Guggenheim. Den Zuschlag dafür hatte er etwa zwei Jahre vor der Opernpremiere erhalten. Kentridges Entschluss, in Black Box den Völkermord an den Herero von 1914 in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika zu thematisieren, hatte einerseits mit dem Standort des Museums in Berlin und dessen geschichtlicher Rolle im 20. Jahrhundert zu tun. Andererseits suchte er mit Black Box vor dem Hintergrund seiner Arbeit an der Zauberflöte nach einer Möglichkeit, die Schattenseiten der europäischen Aufklärung zu visualisieren und in einer Art automatisierten Montage – ähnlich einer Montage im Film – szenisch aufeinander zu beziehen: »Die Inszenierung der Oper, Die Flöte erlernen (Learning the Flute) und Die Flöte vorbereiten (Preparing the Flute) betrachten die Aufklärung in ihrer optimistischen Phase. Black Box/Chambre Noir untersucht eine ihrer unheilvollen Entwicklungen.«38 Black Box und Die Zauberflöte sind jedoch keineswegs als einfache Gegensatzpaare zu verstehen.39 Nach Kentridge kann Black Box als eine Art Negativfolie der Aufklärungsoper von Mozart verstanden werden: »In Black Box wollte ich das Politisch-Unbewusste der Zauberflöte in den Blick nehmen – die Beschädigung durch den Kolonialismus, der seine Raubzüge für sich so darstellte, als bringe er dem dunklen Kontinent die Aufklärung.«40 Dabei können mit Kentridge neben dem Einsatz bestimmter Bildtypen (wie Animationsfilmen, Lichtprojektionen und Filmausschnitten) für Black Box drei thematische Assoziationsebenen benannt werden, die auch in der Zauberflöte unter anderen Vorzeichen, teils verdeckt, teils offen mitspielen. Den ersten Bezugspunkt bildet für Kentridge »das ›black box theatre‹, die englische Bezeichnung für Kammerspielbühnen.«41 Auf dieser Bühne erscheinen Projektionen und bewegliche Figuren, die als mechanische Apparate, aber nicht notwendig als anthropomorphe Objekte wahrgenommen werden können. Hier geht es für Kentridge um die Auseinandersetzung mit der darstellenden Kunst.42 Die zweite Ebene beschreibt Kentridge als eine Camera Obscura, genauer als das Innere einer Fotokamera, in der einzelne Bilder chemisch fixiert werden. »Die Bühne ist zu einer Kamera geworden, die Bilder werden wie Fotografien von der Welt außerhalb der Kamera (oder des Theaters) gezeigt oder vorgeführt.«43 Die dritte Ebene schließlich ist für Kentridge die Black Box »der Flugschreiber, 38 | William Kentridge, »Die Zauberflöte«, in: Mark Rosenthal (Hg.), William Kentridge. Fünf Themen, Ostfildern 2010, S. 171. 39 | T.J. Sandra Coumans, Geschichte und Identität. »Black Box/Chambre Noir« von William Kentridge, Berlin 2011, S. 20f. 40 | Kentridge, »Die Zauberflöte«, S. 171. 41 | William Kentridge, »Black Box: zwischen Objektiv und Okular«, in: William Kentridge/ Maria-Christina Villaseñor (Hg.), Black Box/Chambre Noire, Ostfildern 2005, S. 43-51, hier S. 53. 42 | Kentridge, »Black Box«, S. 51. 43 | Kentridge, »Die Zauberflöte«, S. 171.
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der verwendet wird, um die letzten Momente vor einem Flugzeugunglück zu rekonstruieren.«44 Dieses Unglück ist für ihn der lange Zeit im Dunkeln gebliebene Volkermord an den Hereros.
Das Politisch-Unbewusste der Zauberflöte Es würde zu weit führen, die visuellen und bildhaften Verbindungslinien zwischen der Installation und der Oper im Einzelnen nachzuzeichnen. Hierbei gälte es auf Objekte und Bilder zu achten, die explizit mit der Weltvermessung und der Inbesitznahme der Welt durch ein ›epistemisches‹ Wissen durch Bilder verbunden sind. Vielmehr soll auf die von Kentridge gewählten Bühnenformen hingewiesen werden. Sowohl in Black Box als auch in der Zauberflöte bedient sich Kentridge der Konstruktion der barocken Kulissenbühne. Dadurch zitiert er einen nach Regeln der Zentralperspektive konstruierten Schauraum, der gänzlich abgeschlossen von der Außenwelt ist. Durch den gezielten Einsatz von Licht im sich nach hinten verjüngenden Bühnenraum wurden die Zuschauer in die Lage versetzt, selbst abgeschlossen von der Außenwelt, scheinbare Einblicke in eine ganze Landschaft fremder und ferner Bilder zu erhalten, die keinen unmittelbaren materiellen Bezug nötig hatten. Wie Ulrike Haß treffend gezeigt hat, kommt hier dem Verhältnis Licht und Dunkelheit in Bezug auf die dargestellten Welten auf der Bühne eine gesteigerte Bedeutung zu. Nicht nur himmlische Orte werden auf diesem Typ der Bühne (der weit bis in das Zeitalter der Aufklärung gängig blieb) als spektakuläre Licht-Phänomene gezeigt: »Die Dunkelheit der unterweltlichen Szenen wird notwendigerweise ebenfalls durch Licht, durch den übermäßigen Gebrauch von Feuer etwa, dargestellt.«45 Wie Kentridge selbst dargelegt hat, spielte das Verhältnis von Licht und Schatten in seiner Auseinandersetzung mit der Zauberflöte eine wesentliche Rolle. Und das gilt keineswegs nur für die Bedeutung der Schatten- und Lichtmetaphorik der vom Geist der Aufklärung (enlightenment) durchdrungenen Zauberflöte. Ein wichtiger Ausgangspunkt war für Kentridge sowohl die Auseinandersetzung mit Platons Höhlengleichnis also auch die konkrete Erfahrung einer Sonnenfinsternis: Das Betrachten der Sonnenfinsternis hatte all meine Aufmerksamkeit auf den Vorgang des Sehens gelenkt – ich wurde mir des Wesens des Lichts bewusst. Zugleich dachte ich daran, wie das Licht Geheimnisse ausbreitet, die Welt natürlich erscheinen lässt und alles unmittelbar erkennbar macht. Gewisse Eigenschaften des Schattens lassen den Akt des Sehens schärfer ins Bewusstsein treten. 46 44 | Kentridge, »Black Box«, S. 51. 45 | Ulrike Haß, »Netzhautbild und Bühnenreform«, in: Martina Leeker (Hg.), Maschinen, Medien, Performances. Theater an der Schnittstelle zu digitalen Welten, Berlin 2001, S. 526-541, hier S. 533f. 46 | Kentridge, »Black Box«, S. 43.
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Vor diesem Hintergrund ergibt sich hinsichtlich der Verwendung der Kulissenbühne bei Kentridge ein neues Bild. Zwar werden in beiden Produktionen die Kulissenwände auf der Bühne immer wieder als Projektionsfläche für kurze Animationsfilme benutzt. Doch richten sich die sowohl in der Zauberflöte als auch in Black Box gezeigten Bilder an zwei gänzlich verschiedene Zuschauerperspektiven bzw. -positionen. Kentridge nutzt hier den Innenraum der Oper, um den Zuschauern, die sich, ähnlich wie im Dispositiv des Kinos, gleichsam in der dunklen Höhle einer illusionistischen und die Sinne täuschende Sehmaschine befinden, die unmittelbare und intensive Wirkung bestimmter Bilder vor Augen zu führen. Damit verweist Kentridge nicht nur auf die Wirkungsweise der Kulissenbühne, er macht sie sich zunutze und steigert sie noch gezielt unter Verwendung moderner Bild- und Projektionstechniken. Brüche in der Illusion entstehen vor allem durch die Montage von verschiedenen Bildern im Verlauf der Vorstellung. Bei Black Box hingegen wird der Vorgang des Zeigens, also auch die Technik des Zeigens als Techne in den Vordergrund gerückt. Hier sitzen die Zuschauer in einem schwach abgedunkelten Ausstellungsraum vor der kubusförmigen Maschinerie des Miniaturtheaters. Während der etwa zwanzig Minuten ablaufenden Vorführung betonen die verkleinerten Proportionen und die Arbeitsgeräusche der Apparatur in besonderer Weise das Modellhafte der Inszenierung. Die Bilder erscheinen hier eher als Dokumente, Objekte oder Spuren vergangener Ereignisse. Begünstigt wird dieser, eine kritische Distanz ermöglichende Blickwinkel dadurch, dass zahlreiche Bilder Kentridges, die in den Projektionen gezeigt und verwendet werden, als Exponate vor und nach der Vorführung im Ausstellungsraum zu sehen sind. Von dieser Warte her scheint die Oper im Wesentlichen einen Blick zu begünstigen, der durch die spektakuläre Technik (Techne) geleitet ist und sich im Wissen um deren Wirkungsweisen genügt, während der Blick bei der Installation eher einen distanzierten, reflektierten Blick erlaubt, den man im Hinblick auf das mit ihm verbundene Wissen eher mit dem Begriff der Episteme identifizieren könnte. Betrachtet man jedoch beide Inszenierungen zusammen, dann zeigt sich, dass diese Gegenüberstellung zu kurz greift. Besonders deutlich wird dies in jenen Szenen, in denen in beiden Inszenierungen Sarastros Arie In diesen heil’gen Hallen hörbar wird. In Black Box fährt – parallel zum Bühnenportal – eine Art Megaphon aus den Kulissen, das mit einem Gelenk an einem beweglichen Metallarm befestigt ist. Es ist unterhalb des Megaphons mit einem Schild versehen, das die Aufschrift »Trauerarbeit« trägt. Die etwas blecherne und hallende Arie stammt offenkundig von einer alten Grammophonaufnahme. Kurz danach erscheint die Projektion eines Schwarz-Weiß-Films der die Tötung eines Nashorns in einer Landschaft Afrikas zeigt. Zu sehen sind Ausschnitte aus dem deutschen Kolonialfilm Nashornjagd in Deutsch-Ostafrika von Robert Schumann, der zwischen 1911 und 1912, also kurz vor der Katastrophe des ersten Weltkriegs entstanden ist. Während der Kopf des toten Nashorns nach längerem Todeszucken in einer Großaufnahme erscheint, hat das Megaphon die Miniaturbühne verlassen. Was zurückbleibt ist das Bild mit der Musik. In der Oper, in der die Arie live vom Darsteller Sarastros vor-
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getragen wird, wird die Projektion eines von Kentridge gezeichneten Animationsfilms gezeigt. Der Blick wird zunächst in einen endlosen, sich (scheinbar) auf den Zuschauer zu bewegenden zentralperspektivisch konstruierten Säulengang gelenkt. Diese imaginäre Fahrt in den Tempel der Isis (den die Oper unter anderem mit dem Begriff der Weisheit identifiziert) geht nun ebenfalls in die Filmausschnitte der Nashornjagd über. Hier erscheinen die Bilder, die schon durch ihre schiere Größe in einem beißenden Kontrast zu der im Geist der Aufklärung verfassten, live präsentierten Arie stehen. Doch ihre eigentliche, kritische Wirkung entfaltet die Szene erst, wenn man bereits die Installation Black Box gesehen hat. Dann wird man anhand des mit ausgestellten Materials wissen, dass die eingespielte Arie 1937 in Deutschland eingespielt wurde, wodurch Kentridge eine unmittelbare Verbindung zwischen der Oper, der Kolonialgeschichte, dem Nationalsozialismus und letztlich auch dem Zweiten Weltkrieg herstellt. Mit dieser Erinnerung an die deutsche Geschichte steht die Arie weniger im Kontrast zu den gezeigten Bildern, sondern vielmehr in einer übergreifenden, durch die Mittel der Montage deutlich gemachten Kontinuität. Mit der Erfahrung der Oper wiederum ist es kaum noch möglich, den grausamen Inhalt des Kolonialfilms zu ignorieren. In dieser Zusammenschau von Kentridges Projekt zur Aufklärung wird die Wirkung des technischen Knowhow und die epistemologische Distanz der Installation in Richtung eines anderen Wissens überschritten. Im Sinne der Phronesis verstanden, richtet es sich an eine individuelle und praktische Urteilskraft der Zuschauer. So verstanden erweist sich das Theater nicht als bloße Bildungsanstalt, sondern als ein besonderer Erfahrungsraum, der Bildungsprozesse in Interaktion mit verschiedenen Formen des Wissens, also auch epistemologischen Problemstellungen, anschaulich in Gang zu setzen vermag.
Bühnenbild und Szenographie Prolegomena zu einer Theorie ihrer Gestaltung Birgit Wiens
Abb. 1: Bert Neumanns schwarzer Raum, Volksbühne am RosaLuxemburg-Platz, Berlin 2015. © Thomas Aurin
Am ›Nullpunkt‹ der Szenographie? Der Schwarze Raum von Bert Neumann Der Raum, den der Bühnenbildner Bert Neumann für die vorletzte Spielzeit von Frank Castorfs Intendanz an der Berliner Volksbühne entwarf, ist ein für mehrere Monate installiertes Dauer- bzw. Einheitsbühnenbild, das tief in die Architektur des Hauses eingreift. Der Besucher findet sich in einer Raumsituation wieder, die im ersten Moment den Eindruck vermittelt, dass Bühnenbild, Szenographie und möglicherweise überhaupt die Mittel visuellen und raumgestaltenden Inszenierens hier zu einem Ende gebracht worden seien. Die gegebene Konfiguration von Bühne und Zuschauerraum ist aufgebrochen: Im Parkett ist die Bestuhlung herausgerissen, der Boden mithilfe einer Unterkonstruktion mit der
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Bühne auf eine Ebene gebracht und die entstandene, nach hinten ansteigende Fläche mit einer groben Asphaltschicht zugeschüttet worden. Die Wände ringsum sind von der Decke bis zu den Bodenflächen durch dunkel schimmernde, an Lametta erinnernde Vorhänge bedeckt. Das vordringlichste Merkmal dieses Raums aber ist seine Monochromie, die Farbe fast aller seiner Elemente: ein tiefes Schwarz. Bert Neumanns Raum ist kein Bühnenbild, keine einfache ›Black Box‹. Aber auch Begriffe wie ›Theaterinstallation‹ oder die von ihm selbst verwendete Formel »Architekturen auf Zeit«1 beschreiben diesen Raum nur ansatzweise. Vielmehr handelt es sich um eine künstlerische Setzung, die Anlass gibt, das Theater als bildgebendes Medium zu reflektieren. Neumanns Raum berührt dessen Konstituenten und zielt offenbar auf eine radikale Reduktion, De-Konstruktion und Abstraktion. Die szenographischen Parameter, die im Theater die Ordnungen des Zeigens und Sehens organisieren, wirken wie ›übermalt‹ – und dies in einer Farbe, die bekanntlich als ›Nicht-Farbe‹ gilt und zu deren ästhetischen Wirkungen es gehört, dass sie Licht, als eines der wesentlichen Mittel visueller Gestaltung im Theater, absorbiert. Mit seinen Gesten der Negation erinnert Neumanns Raum an Kasimir Malewitschs ikonisches Gemälde Schwarzes Quadrat auf weißem Grund (1915), mit dem dieser signalisierte, dass er, im Medium der Malerei, nichts zeigen will: ein Nicht-Bild.2 Auch Neumanns schwarzer Raum scheint zu behaupten, dass er nichts zeigen will. Stattdessen drückt sich vermittels der Negation ein künstlerisches Denken aus: eine Reflexion über das Zeigen, über Bühne, Raum und Visualität.3 Einem derartigen Denken in der Kunst und mit Mitteln der Kunst kommt, nach Dieter Mersch, der Status einer »Erkenntnispraxis« zu.4 Ausgehend von diesen Überlegungen zu Neumanns Bühne fragt mein Beitrag nach Szenographie als Gegenstand und Feld eines raumbezogenen, raumge1 | Vgl. »Kunstproduktion ist permanenter Ausnahmezustand. Die Theaterbühne als ›Gegenort‹«, Gespräch mit Bert Neumann, Reihe »Theatre Talks«, Moderation: Birgit Wiens, 28. Oktober 2013, LMU München, TWM Studiobühne, Audiodatei/Transkription (unveröffentlicht), 26 Seiten. 2 | Malewitschs Schwarzes Quadrat, das seinen ersten Auftritt im Theaterkontext (auf dem Bühnenvorhang der Oper Sieg über die Sonne, 1913) hatte, markiert einen »Zenit der antimimetischen Abstraktion der Moderne« und wurde in der Kunstausstellung »0,10« in Sankt Petersburg 1915/16 erstmals als Gemälde ausgestellt, vgl. Thomas Zaunschirm, »Die Farben Schwarz. Theoretische Grundlagen«, in: Ders. (Hg.), Die Farben Schwarz, Wien/New York 1999, S. 147-224, hier S. 214. 3 | Trotz seiner Reduktion und Abstraktion eröffnet Neumanns schwarzer Grundraum für die verschiedenen Aufführungen der Spielzeit 2015/16 (u.a. die Castorf-Inszenierung Brüder Karamasow oder die »Schwarze Serie« u.a. mit Arbeiten von Gob Squad) bemerkenswert variable Spiel- und Nutzungsmöglichkeiten. 4 | Dieter Mersch, Epistemologien im Ästhetischen, Zürich/Berlin 2015, S. 140.
Bühnenbild und Szenographie
staltenden Forschens. Zudem wird die Frage nach dem Stand der Theoriebildung über Bühnenbild und Szenographie gestellt. Den Ausgangspunkt dafür bildet eine Formel des Theaterwissenschaftlers Patrice Pavis, der Szenographie als eine »Kunst« definierte, die stets zugleich auch als »Wissenschaft von der Organisation der Bühne und des Bühnenraums«5 operiert. Diesen Gedanken gilt es zu präzisieren. Zuallererst richtet sich Pavis’ Definitionsansatz gegen Auffassungen, die die Szenographie als eine angewandte Kunst, als Dekoration oder als eine der Theaterregie subordinierte Ausstattungskunst verstehen. Demgegenüber fasst er sie als weitgehend eigenständige Kunst und gar als künstlerische Wissenschaft auf. Das heißt zunächst auch, dass sich ihr künstlerischer Beitrag nicht allein in der Aufführung, sondern gestaltend im theatralen Produktionsprozess artikuliert. Somit legt Pavis’ Ansatz nahe, in der Auseinandersetzung mit Szenographie den Fokus nicht allein auf Rezeption und ästhetische Erfahrung von Aufführungen, ihre Visualität und inszenierte Räumlichkeit zu legen (Aufführungsanalyse). Zu fragen ist vielmehr nach Aspekten ihrer Produktionsästhetik oder, mit Dieter Mersch gesprochen, nach den »Praktiken […], die notwendig sind, um ein Produkt, einen künstlerischen Prozess oder ein ›Werk‹ hervorzubringen«.6 Davon ausgehend, soll es im Folgenden darum gehen, in der Kunst der Szenographie ein Denken über Strategien, Techniken und Potentiale des Darstellens, des Zeigens auszumachen, das als ›epistemische Praxis‹ 7 auf ästhetische Erkenntnis abzielt. Die theaterwissenschaftliche Analyse, sonst vornehmlich auf die Aufführung fokussiert, hat sich demnach zu fragen: Inwiefern lassen sich szenographischer Entwurf und Gestaltung sowie der Einsatz von Kulturtechniken, Instrumenten und Medien in Produktionsprozess und Aufführung als epistemische Praktiken verstehen? Und in welcher Weise tragen Szenographie und zeitgenössisches Bühnenbild bei zu einem Diskurs über das Zeigen, über das Sehen sowie zur Produktion von Wissen (über Raumordnungen, Visualität, Bildkulturen)?
Szenographie und Bühnenbild als Forschungsgegenstand. Definitionen und Ansätze Um sich dem Gegenstand und Forschungsstand anzunähern, sei zunächst rekapituliert, wie Szenographie und Bühnenbild bisher definitorisch gefasst wurden. Einem basalen Verständnis zufolge umfasst der Begriff Szenographie »sämtliche bildlichen und plastischen Elemente [einschließlich Bühne, Licht und Kostüm, B.W.], die im Theater den Schauplatz der Handlung in realistischer, symbolischer 5 | Patrice Pavis, »Szenographie«, in: Manfred Brauneck/Gérard Schneilin (Hg.), Theaterlexikon 1: Begriffe, Bühnen und Ensembles, Reinbek bei Hamburg 2007, S. 969-971, hier S. 969. 6 | Dieter Mersch, »Rezeptionsästhetik/Produktionsästhetik/Ereignisästhetik«, in: Jens Badura et al. (Hg.), Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich/Berlin 2015, S. 49-57, hier S. 52. 7 | Vgl. Anm. 2.
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oder abstrakter Weise darstellen«,8 wobei diese Elemente sich immer wieder verändert, modifiziert und medial-technisch erweitert haben. In seinen einschlägigen Beiträgen hat Pavis für eine begriffliche Trennung von ›Bühnenbild‹ und ›Szenographie‹ plädiert.9 Als historischen Ausgangspunkt für diese Unterscheidung führt er die Reformen Adolphe Appias zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts an, die aus dessen kritischer Auseinandersetzung mit Wagners Bayreuth resultierten. Appia verwarf Kulissenbühnen, gemalte Leinwandprospekte sowie starre Dekorationen und forderte stattdessen programmatisch, den Bühnenraum als ›Ko-Akteur‹ zu begreifen, wobei dieser in der Organisation seiner Elemente, Formen und Materialitäten eine »Beweglichkeit« entwickeln müsse, »die mit derjenigen der Partitur Schritt zu halten vermag«.10 Appias Reformen markieren, so Pavis, eine Wende von der vormaligen ›Bildkunst‹ hin zu einer ›Raumkunst‹, die auch das Publikum im Sinne einer anderen, aktiveren Beteiligung an der Kunst in das (visuelle) Ereignis des Theatervorgangs einbeziehen sollte. Hierfür entwickelten Appia und seine Mitstreiter ein damals völlig neues, aus praktikablen, plastischen Elementen und Licht konzipiertes Verfahren, das als raumbildende Kompositorik beschreibbar ist. Dieses raumbildende Denken, das sich auch in den Bühnen Edward Gordon Craigs und den Raumexperimenten der Bauhausbühne ausdrückt, prägte die Szenographie, die seither dezidiert als Kunst zu verstehen ist: als künstlerische Praxis der Organisation von Bühne und Bühnenraum und aufgrund ihrer experimentierenden, epistemischen Verfasstheit auch als ›angewandte Wissenschaft‹ (Pavis). Spätestens seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bleibt Szenographie zudem nicht mehr allein auf die Theaterbühne bezogen,11 sondern greift auch in andere, urbane bzw. mediale Kontexte aus.12 Seit Ende des vergangenen Jahrhunderts kommen darüber hinaus Szenographien in anderen künstlerischen und kulturellen Feldern hinzu, als Mu8 | Christopher Balme, »Szenographie«, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Matthias Warstatt (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/Weimar 2014, S. 322-325, hier S. 322. 9 | Vgl. Patrice Pavis/Gérard Schneilin, »Bühnenbild«, in: Brauneck/Schneilin, Theaterlexikon 1: Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles, S. 202-206. 10 | Adolphe Appia, »Die Musik und die Inscenierung« (1899), in: Richard Beacham, Adolphe Appia. Künstler und Visionär des modernen Theaters, Berlin 2006, S. 70-107, hier S. 96; s.a. Gabriele Brandstetter/Birgit Wiens (Hg.), Theater ohne Fluchtpunkt. Das Erbe Adolphe Appias, Berlin 2010, S. 7-36. 11 | Vgl. Joslin McKinney/Philip Butterworth, The Cambridge Introduction to Scenography, Cambridge 2009. 12 | Vgl. die Spielarten der seit den 1960er Jahren auftretenden ›Environmental Scenography‹ (s. Arnold Aronson, The History and Theory of Environmental Scenography, Ann Arbor, Mich. 1981) sowie das breite Spektrum einer um die Jahrtausendwende virulent werdenden ›intermedialen Szenographie‹ (s. Birgit Wiens, Intermediale Szenographie. RaumÄsthetiken des Theaters am Beginn des 21. Jahrhunderts, Paderborn 2014).
Bühnenbild und Szenographie
seums- und Ausstellungsszenographie, Urban Scenography und Spatial Design bis hin zu Corporate Scenography oder kommerziell orientierter Eventszenographie. Für die Diskussion all dieser Gestaltungen wird daher inzwischen ein inter- bzw. transdisziplinärer Szenographie-Begriff vorgeschlagen,13 die Definitionen sind in Bewegung. Entsprechend ist, neben einer theaterwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Bühnenbild und Szenographie,14 seit einiger Zeit das Entstehen einer stark anwendungsorientierten Diskussion zu beobachten, die über eigene Plattformen verfügt und ihren Gegenstand im Spannungsfeld von Theater-, Architektur-, Kunst-, Design- und Medientheorie reflektiert.15 Insgesamt interessieren nicht mehr fertige Konzepte oder Werke, sondern kreative Prozesse, Gestaltungs- und Entwurfsvorgänge. Dabei liegt eine besondere Herausforderung für die Szenographie darin, dass sich diese stets, wie der Kunstwissenschaftler Christian Barthelmes betont, »gegenüber den Künsten, namentlich der Architektur, der bildenden und darstellenden Kunst, der Musik und Literatur […] sowohl als Subdisziplin wie auch als Integrativdisziplin«16 verhält. Anders gesagt, selbst wenn man Szenographie nicht als gattungsübergreifende Praxis, sondern in ihrem angestammten Feld, dem Theater, betrachtet, operiert sie stets multidisziplinär und ›integrativ‹ denn szenographische Kompetenz besteht darin, mit Licht, Objekten, Medien, verschiedenen Gestaltungspraxen und Arten von Wissen Räume hervorzubringen. In dieser Eigenschaft bilden Bühnenbildung und Szenographie ein wesentliches Element im kollaborativen Prozess ›Theater‹. Die skizzierten Aspekte und Fragen wurden in der Forschung bisher kaum berücksichtigt. Der vorliegende Beitrag möchte daher den Blick auf szenogra13 | »Szenographie manifestiert sich heute […] in all jenen Bereichen räumlicher Gestaltung, denen inszenatorische, narrative und transformative Grundmuster eingeschrieben sind. Räume, die solchermaßen entworfen, konstruiert und erlebbar sind, sind Hybride im Sinne eines komplexen Zusammenspiels konkreter und virtueller Eigenschaften, statischer und mobiler Domains, öffentlicher und privater Sphären, globaler und lokaler Interessen […]«, Thea Brejzek/Gesa M. von der Haegen/Lawrence Wallen, »Szenographie«, in: Stephan Günzel (Hg.), Raumwissenschaften, Frankfurt a.M. 2009, S. 370-385, hier S. 370f. An einem gattungsübergreifenden Verständnis orientiert sich seit 2015 auch die Prager Szenographie-Quadriennale, vgl. Sodja Lotker et al. (Hg.), Prague Quadrennial of Performance Design and Space [Katalog], Prag 2015. 14 | Vgl. z.B. Arnold Aronson, Looking into the Abyss: Essays on Scenography, Ann Arbor, Mich. 2005. 15 | Vgl. die Tagungen der European Initiative Scenography und der DASA Dortmund, mit den dazugehörigen Publikationen, www.scenology.eu, www.dasa-dortmund.de sowie insbes. die internationale Szenographie-Quadriennale Prag, die, seit 1967 alle vier Jahre durchgeführt wird und neuerdings ihre Theoriediskussion (mit Veranstaltungen und Publikationen) mehr und mehr verstärkt, www.pq.cz. 16 | Zit. n.: Atelier Brückner (Hg.), Scenography/Szenographie. Make spaces talk/Narrative Räume, Ludwigsburg/Stuttgart 2011, S. 18 [Herv. B.W.].
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phische Produktionsprozesse lenken, die im Wesentlichen zwei Arbeitsschritte umfassen: erstens das Entwerfen, Gestalten und zweitens die Phasen der Realisierung in der Probenarbeit bis hin zur Aufführung. Gefragt wird nach einem ›Denken im Ästhetischen‹ (Mersch), nach Aspekten der Produktionsästhetik und nach Epistemologien in dieser Kunstpraxis. Wie lässt sich Szenographie in ihren Relationen zur gesamten Inszenierung einer Aufführung als kreativer Prozess, als künstlerische Arbeit oder auch als künstlerisches Forschen beschreiben? Bisher sind szenographische Entwurfsprozesse kaum Gegenstand theaterwissenschaftlicher Forschung. Das mag z.T. an der schwierigen Quellenlage liegen: Entwurfsmedien und Notate, die über Entwurfs- und Produktionsprozesse Auskunft geben könnten (Skizzen, Modelle, Fotos und dergl.), sind kaum zugänglich und werden nicht umfassend archiviert. Ähnliches gilt für die materiellen, gebauten, szenographischen Artefakte einer Inszenierung, die, sobald diese abgespielt ist, keinen eigenen Kunststatus haben.17 Gleichwohl zeichnet sich in den Kunstwissenschaften derzeit ein vermehrtes Interesse an Entwurfsvorgängen ab und das Entwerfen wird – in kritischer Wendung gegen sein überkommenes Verständnis als voraussetzungslos-schöpferisches Schaffen – als künstlerische Praxis und »Kulturtechnik« 18 untersucht. Dem entsprechen ebenfalls neue theaterwissenschaftliche Ansätze einer ›Probenforschung‹.19 Darüber hinaus sind es auch Künstler selbst, die eine Auseinandersetzung mit und über ihre Arbeit anstoßen,20 was mit einem verändernden Selbstverständ-
17 | In den meisten Theatern wird am Tag nach der letzten Vorstellung mit dem Entsorgen des Bühnenbilds begonnen. Die Lagerung ist heute v.a. ein finanzielles Problem. Wiederverwendbares Material (wie Rollen, Scharniere, glatte Wände) oder Materialien, die wenig Lagerplatz benötigen, werden aufbewahrt. Das Übrige geht in den Müll. Ähnliches gilt für die Entwurfsmaterialien (Zeichnungen, gemalte Vorlagen, Modelle), die gemäß Standardvertrag dem Theater gehören, aber in der Regel nicht archiviert werden. Ausnahmen gibt es, wenn Künstler auf den Kunststatus ihrer Entwürfe und Objekte bestehen, diese Artefakte selbst sammeln (oder sich Theatermuseen dafür interessieren) oder wenn sie, wie prominent Robert Wilson, diese weiter verwenden (z.B. als Ausstellungsexponat) oder gar vermarkten. 18 | Vgl. Daniel Gethmann/Susanne Hauser (Hg.), Kulturtechnik Entwerfen. Praktiken, Konzepte und Medien in Architektur und Design Science, Bielefeld 2009. 19 | Zur ›Probenforschung‹ (bisher jedoch ohne sonderliche Berücksichtigung des Felds von Bühnenbild und Szenographie) vgl. Hajo Kurzenberger, Der kollektive Prozess des Theaters, Bielefeld 2009, bes. S. 9-38; Annemarie Matzke, Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe, Bielefeld 2012; Dies., »Probe«, in: Fischer-Lichte/Kolesch/ Warstatt, Metzler Lexikon Theatertheorie, S. 270-273. 20 | Vgl. Bert Neumanns Einzelausstellung »Setting of a Drama«, Kunsthalle Augarten/ Wiener Festwochen 2010; die Ausstellung »Anna Viebrock. Im Raum und aus der Zeit –
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nis dieser Künstler einhergeht, die lange Zeit als der Regie subordiniert galten.21
Szenographisches Denken am Beispiel von Arbeiten Bert Neumanns Zum Instrumentarium des Bühnenbildners gehören Recherchen, Assoziationen, gezeichnete oder gemalte künstlerische Entwürfe, die technische Zeichnung sowie, an der Schnittstelle von Entwurf und Realisierung, das Bühnenbildmodell. Beim Modell handelt es sich um ein Entwurfsmedium, das (meist im Maßstab 1:20) erlaubt, über die vom Künstler entwickelten Ideen im Produktionsteam zu kommunizieren. Mithilfe der Entwurfsmedien (Skizzen, Zeichnungen, Modell) können Spielpotential, Umsetzbarkeit, Proportionen und Sichtachsen diskutiert sowie Möglichkeiten und Beschränkungen durch die Bedingungen der konkreten Bühnen- und Theaterarchitektur geprüft werden, bevor der in Originalgröße realisierte Entwurf zur Verfügung steht. Exemplarisch ist das Bühnenbildmodell ein dem Architekturmodell verwandtes, jedoch auf Theaterprozesse abgestimmtes visuelles Modell, das hier als Instrument des Denkens, Experimentierens und der Kommunikation auftritt.22 Die spezifische Spannung zwischen unabhängiger Entwurfsarbeit und Eingebundenheit in Prozesse kollektiver Kreativität sowie institutionelle Reglements und Abläufe macht die szenographische Praxis am Theater aus. Unter den skizzierten Bedingungen haben Bühnenbildner wie Bert Neumann auf ihrer künstlerischen Autonomie bestanden und darauf beharrt, am Theater »wie ein bildender Künstler funktionieren zu können«23. In der Begründung zur Verleihung des Hein-Heckroth-Preises im April 2015, wenige Monate bevor Bert Neumann überraschend verstarb, heißt es: »Neumann unterläuft die oft noch übliche hierarchische Struktur von Regisseur und Bühnenbildner: nicht einfach dessen Ideen umsetzend, ergreift er als bildender Künstler die Initiative und baut Räume, an denen sich Regisseur und Schauspieler produktiv abarbeiten.«24
Bühnenbild als Architektur«, Kunsthalle Gießen 2013; das Buchprojekt: Anja Nioduschewski (Hg.), Katrin Brack. Bühnenbild – Stages, Berlin 2010 u.a. 21 | Vgl. Max Herrmann, der Bühnenbildner bzw. Szenographen als »Gehilfen« des Regisseurs bezeichnete: »Das theatralische Raumerlebnis« (1931), in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kunstwissenschaften, Frankfurt a.M. 2006, S. 501-513. 22 | Zur kommunikativen und epistemischen Funktion visueller Modelle vgl. Ingeborg Reichle/Stefan Siegel/Achim Spelten (Hg.), Visuelle Modelle, München 2008. 23 | Zit. n. Peter Kümmel, »Das Notglück. Ein Gespräch mit dem Bühnenbildner Bert Neumann«, in: Die Zeit (Nr. 18) vom 20.04.2010 (Feuilleton). 24 | 26. April 2015, Auszug aus dem Urkundentext der Hein-Heckroth-Gesellschaft Gießen.
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Bekannt wurde Bert Neumann als leitender Bühnenbildner der Berliner Volksbühne und mit seinen Bühnen für Frank Castorf, Johan Simons, Jossi Wieler und René Pollesch. Versucht man, Neumanns vielfältige Arbeiten als Kostüm- und Bühnenbildner überblickshaft zu erfassen, so erscheinen sie wie szenographische Versuchsanordnungen, in denen wiederkehrende Problemstellungen und Themenstränge auftreten: Dazu gehört die Aneignung und Dekonstruktion historischer Bühnenformen (New Globe 1999; Volksbühnen-Agora 2009), die variable Konfiguration von Bühne und Zuschauerraum (Zelte, mobile Bühnen, z.B. für das Rollende Road Schau-Projekt 2001-2005), das Experimentieren mit partieller Nichtsichtbarkeit und der damit verknüpfte Videogebrauch, diverse Reinterpretationen des Theatervorhangs, ein spielerischer Umgang mit Typographie, Schrift und ideologisch ›vergifteten‹ Zeichen (z.B. Frakturschrift), die kritisch-ironische Reflexion von alltäglichen Materialien, Moden und Gestaltungsformen (z.B. Containerarchitekturen, Jahrmarktästhetik, Trash und billiges Gebrauchsdesign). Zuletzt experimentierte Neumann mit René Pollesch in einer mehrteiligen Versuchsreihe mit großen, überdimensionierten Objektskulpturen. So auch im Stück Keiner findet sich schön (Volksbühne Berlin 2015), an dem sich Neumanns Anspruch, ›am Theater wie ein bildender Künstler‹ vorzugehen, exemplarisch veranschaulichen lässt. Da der Stücktext, wie üblich bei Pollesch-Projekten, erst während der Proben entstand, war der szenographische Entwurf eine erste künstlerische Setzung.25 Zentrales Element der Bühne von Keiner findet sich schön war eine übergroße, weiße, auf blasbare Figur, die Neumann in Skizzen entwickelte und in einem Modell darstellte: Bei dieser Figur dachte ich ein bisschen an den Marshmallow-Mann aus ›Ghostbusters‹. Seit einiger Zeit stelle oder hänge ich für Renés Inszenierungen gerne große Objekte in den leeren Raum – ein Schiff, einen Totenkopf, ein Flugzeug. Man kann sie besteigen, in ihnen herumkrabbeln, mit ihnen kämpfen. Der weiße Riese hier wird in der Vorstellung relativ schnell aufgeblasen, ein infantiles Monster, das nur aus heißer Luft besteht, wie die ganzen Geschäfte am Prenzlauer Berg, die Krümelchen oder so heißen und alle so fürchterlich niedlich sind. […] Das Modell habe ich wie ein Bildhauer erstellt, nicht aus Stein, sondern aus Schaumstoff […]. 26
25 | »Renés Texte entstehen während der Proben. Das heißt, ich mache einen Raum, bevor ich das Stück kenne…«, zit. n.: Peter Laudenbach, »Der Unbestechliche« (Gespräch mit Bert Neumann), in: Reihe 5 – Magazin der Staatstheater Stuttgart, Nr. 1 (Sept.-Nov. 2015), S. 24-29, hier S. 27. Pollesch bezeichnete Neumann daher als den »erste[n] Autor [s]einer Inszenierungen«, René Pollesch: »Jeder Raum, den du gebaut hast, erzählt diese Autonomie, lieber Bert. Und lässt einen an der eigenen Autonomie bauen« (Laudatio zur Verleihung des Hein-Heckroth-Bühnenbildpreises 2015), www.nachtkritik.de vom 30.03.2016. 26 | Zit. n.: Laudenbach, »Der Unbestechliche«, S. 27.
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Neumanns Modell, mit der aus Schaumstoff modellierten Figur auf einem rotweiß gestreiften Boden, übernahm mehrere Funktionen.27 Es diente als visuelles Modell der Vermittlung seiner Idee und fungierte, das ist freilich eine Besonderheit dieser Zusammenarbeit, als Impulsgeber für den Autor. Des Weiteren bot das Modell den Spielern Impulse: für eine fünfköpfige Tanzkompagnie und deren Probenvorbereitung sowie für Fabian Hinrichs, der später auf der Bühne mit dieser Riesenfigur ›kämpft‹. Generell lässt sich festhalten, dass Bühnenbildmodelle schon vor ihrer 1:1 Umsetzung mögliche Spielsituationen entwerfen. Anders als Architekturmodelle, operieren sie nicht allein mit Volumina und Material, sondern mit beweglichen Objekten und flüchtigen Elementen wie Licht, Ton, Bühnenregen oder Nebel. Insofern sind sie keine statischen Modelle sondern prozessorientierte Modelle, die experimentell mögliche Spielsituationen konfigurieren und Raumkonstellationen, Proportionen, Grundstimmungen, aufscheinende Atmosphären in einer ›forschenden‹ Praxis erkunden.28
Abb. 2: René Pollesch, Keiner findet sich schön, Volksbühne Berlin 2015, Szene aus der Aufführung: Fabian Hinrichs im ›Kampf‹ mit der Riesenpuppe. © LSD/Lenore Blievernicht 27 | Zwei Fotos des Modells wurden in Peter Laudenbachs Beitrag im Magazin der Staatstheater Stuttgart Reihe 5, Nr. 1 (Sept.-Nov. 2015) auf Seite 27 abgedruckt. Ein Wiederabdruck der Fotos – und generell die Publikation von Fotos bzw. Scans von Modellen, Zeichnungen oder Entwurfsskizzen Neumanns – wird von seinen Nachlassverwaltern derzeit nicht erlaubt. 28 | Vgl. Dreissigacker: »Modellierung als szenografische Praxis zielt […] nicht vorrangig […] auf die Realisierung eines fertigen Plans, sondern auf die Erkundung räumlicher Potentiale«; insofern operiert diese Praxis in der Szenographie nicht nur performativ, sondern ist, nach Thomas Dreissigacker, hier »genuine Forschungspraxis«. Ders., »Modellieren«, in: Badura, Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, S. 181-184, hier S. 184.
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Der Übergang von der Entwurfs- in die Probenphase soll am Beispiel einer anderen Pollesch/Neumann-Produktion dargestellt werden. Das Projekt Eure ganz großen Themen sind weg (Münchner Kammerspiele 2013) gehört zu der Reihe, in der Neumann mit großen, mobilen, meist aus Holz gefertigten Objektskulpturen experimentierte.29 Am Anfang dieser Produktion stand ein hölzerner Totenkopf. Ausgehend von der Frage nach ›großen Themen‹ habe er sich, wie Neumann in einem Werkstattgespräch berichtete, dafür interessiert, »wie verschiedene Kulturen mit Tod umgehen«; »dann fiel mir Mexiko ein, da gibt es diesen Kult, diese Totenköpfe, und ich dachte, dass ich gern mal so etwas bauen würde«.30 Zeichnungen entstanden und ein Modell aus Ton, nach dessen Vorgabe das Objekt gebaut werden sollte: Ich wusste, ich will einen zweigeschossigen Totenkopf haben, relativ klar war auch, dass man die Zunge rauskurbeln können soll. Aber wie man das baut, war mir nicht wirklich klar. In der Technik sagte man: Das ist alles zu groß, das geht nicht usw. […] Dann kam ich zur Bauprobe […] da gab es einen Techniker – bis heute bin ich ihm dankbar –, der hat sich aus Sperrholz Streifen schneiden lassen und […] einfach auf ein Gestell getackert, und so kam ich überhaupt darauf, dass man das aus Holz machen könnte. Dann […] haben wir mit den Tischlern besprochen, dass wir versuchen, dieses Objekt in Schindelbauweise zu bauen. Und die haben dann richtig Feuer gefangen, was das Schönste ist, das einem passieren kann. 31
Neumanns Entwurf folgte zuallererst künstlerischen Gesichtspunkten, ohne bereits praktische Lösungen für dessen Umsetzung vorzusehen. Die Realisierung erfolgte dann in einem ergebnisoffenen Experiment, bei dem verschiedene gestalterische, handwerkliche und technische Kompetenzen zusammenwirkten. Dabei forcierte Neumanns forschende, experimentierende Arbeitsweise Prozesse kollektiver Kreativität. Er selbst hat seine Raumentwürfe auch als »offene Systeme« bezeichnet, deren Potentiale sich erst durch ihre Benutzer entfalten, wenn sie durch deren Denken und Handeln gewissermaßen weiter gestaltet werden: Ich versuche, das Bühnenbild nicht so hermetisch, so fertig zu machen, dass die anderen […] keine Chance mehr haben. Natürlich ist es auch eine ästhetische oder politische Entscheidung, was einen letztlich am Leben interessiert. Mich interessieren die geschlossenen Systeme nicht oder Sachen, die so tun als wären sie fertig, perfekt […]. 32 29 | Z.B. der fahrbare Panzer für Der General, Berliner Volksbühne 2013, das Flugzeug für Cavalcade or Being a Holy Motor, Akademie-Theater, Wien 2013 oder der Straßenbahnwagen für Je t’adorno, Schauspiel Frankfurt 2014. 30 | Neumann, »Kunstproduktion ist permanenter Ausnahmezustand. Die Theaterbühne als ›Gegenort‹«, S. 19f. 31 | Ebd., S. 20f. 32 | Zit. n. Peter Laudenbach: »Ich schau dir in die Augen, Baumarkt«, in: Theater Heute, Jahrbuch 2002 [anlässlich der damaligen Ernennung Bert Neumanns zum Bühnenbildner des Jahres], S. 110-125, hier S. 112.
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Abb. 3: René Pollesch, Eure ganz großen Themen sind weg, Münchner Kammerspiele 2012, Auf bau. © LSD/Lenore Blievernicht Im Experimentieren mit offenen szenographischen Systemen tritt die Auseinandersetzung mit den Dingeigenschaften und Akteursfunktionen von Räumen, Konstellationen und Objekten hervor. Zu ihrem künstlerischen Prinzip gehört, dass Bühne und Objekte das Ensemble (und oft auch das Publikum) dazu einladen, sie zu bewohnen, zu benutzen, zu erproben und ihnen wie einem ›Mitspieler‹ zu begegnen.33 So wurden im Fall des Totenkopf-Objekts Assoziationen an das Sterben und den Tod durchkreuzt, indem das Objekt wie ein Haus bewohnt werden konnte und als Mitspieler auftrat.34 Als ein solcher schrieb sich dieses große, merkwürdige und vieldeutige Objekt auch in die Bewegungen und das gestische Repertoire der Schauspieler ein und wurde auf diese Weise zum Auslöser einer forschenden ›Gestologie‹.35 33 | Die »Räume, die ich baue, sind nicht zur reinen Betrachtung gedacht. Sie lösen sich erst durch Benutzung, durchs Bewohnen ein«, Bert Neumann im Gespräch mit Ute MüllerTischler: »Setting of a Drama. Der Raum muss ein Geheimnis haben«, in: Theater der Zeit, 11/2010, S. 7-10, hier S. 9. 34 | »René hat zum Glück etwas ganz anderes damit gemacht …«, Neumann, »Kunstproduktion ist permanenter Ausnahmezustand. Die Theaterbühne als ›Gegenort‹«, S. 20. 35 | Neumanns Bühnen zielten weniger auf eine Auseinandersetzung mit sozialem Gestus, Habitus und Bewegung ab; vielmehr boten sie ›offene Systeme‹ und den Schauspielern einen Widerstand, mit dem konventionelle Gesten experimentell suspendiert werden konnten zugunsten der spielerischen, auch im flusserschen Sinne ›gestologischen‹ Erforschung möglicher Relationen zwischen Akteuren, Raumkonfiguration und Objekten, vgl. Vilém Flusser, Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Frankfurt a.M. 1997; vgl. hierzu auch
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Künstlerische Arbeiten wie die Bert Neumanns verabschieden konventionelle Auffassungen vom Bühnenbild als Hintergrund, Dekoration oder Ausstattung. Lenkt man den Blick auf Entwurf, Inszenierungs- und Probenarbeit bis hin zur Aufführung, werden die Konturen eines szenographischen Denkens erkennbar, das sich über die Proben, aufgefasst als Experimentalsysteme,36 erschließt. Bühnenbild und Szenographie werden als Impulsgeber und Teil einer Kompositionspraxis kenntlich, die in allen Phasen Momente des Suchens, Handelns, Forschens, der Reflexion und der Irritation provoziert. Doch im Unterschied zu experimentellen Verfahren in der Wissenschaft lassen sich künstlerische Verfahren nicht klassifizieren. Im Hinblick auf eine ›Epistemologie des Ästhetischen‹ (Mersch) ginge es hier vielmehr um eine »minutiöse Rekonstruktion der verschiedenen Verfahren des Zeigens«37, wie sie im vorliegenden Beitrag, bis auf Weiteres skizzenhaft, am Beispiel von Arbeiten Bert Neumanns unternommen wurde.
Gabriele Brandstetter, »›On research‹. Forschung in Kunst und Wissenschaft«, in: Sybille Peters (Hg.), Artistic Research als Wissensproduktion zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft, Bielefeld 2013, S. 63-71, hier S. 68. 36 | Vgl. den Vorschlag von Annemarie Matzke, Theaterproben – mit einem derzeit viel zitierten Begriff des Wissenschaftstheoretikers Hans-Jörg Rheinberger – als ›Experimentalsysteme‹ zu verstehen, Dies., »Proben«, in: Jens Badura et al. (Hg.), Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, S. 191. 37 | Mersch, Epistemologien des Ästhetischen, S. 15.
Das Problem und Potential des Singulären Theaterforschung als kritische Wissenschaft Nikolaus Müller-Schöll Dem Andenken Mechthild Heedes
Das Problem und Potential des Singulären in Theorie und Theater Eine Krise. So lässt sich zusammenfassen, was das Positionspapier, mit dem die Bochumer Theaterwissenschaft zum Kongress 2014 eingeladen hat, als Stand des Faches referiert und worüber sie nachzudenken auffordert: Die Theaterwissenschaft steckt in einer grundlegenden Krise, die ihr Selbstverständnis ebenso betrifft wie ihre drei Dimensionen Theorie, Geschichte und Analyse.1 Diese Krise, so meine Hypothese, ist aber nicht so sehr jene, die mit einer gewissen Beharrlichkeit im Fach konstatiert wurde: Dass sie sich aus planlosen, unkritisch zusammengetragenen Akten, Kritiken und Bildern speise; dass es an einer verbindlichen Definition des Gegenstandsbereichs fehle; dass sie vom historischen Positivismus geprägt sei; dass sie von zweitrangigen Philologen betrieben werde, die sich in Anekdoten und blumigen Reden suhlten; dass sie sehr lange gebraucht habe, um sich jenseits der Begründungen in der NS-Zeit wieder auf ihre Anfänge zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu besinnen; oder auch, dass in ihr mehr oder weniger jede Generation zunächst einmal alles, was vor ihr kam, für mehr oder weniger unbrauchbar erklärt habe.2 Alle diese Punkte wurden zu ihrer Zeit mit 1 | Vgl. ht tps://dbs-lin.ruhr-uni-bochum.de/kongres sg t w2014/?page_id=54 vom 01.09.2015. 2 | Vgl. Max Herrmann, Forschungen zur Theatergeschichte des Mittelalters und der Renaissance, Berlin 1914; Hans-Thies Lehmann, »Die Inszenierung: Probleme ihrer Analyse«, in: Zeitschrift für Semiotik 1 (1989), S. 29-49; Theo Girshausen, »Zur Geschichte des Faches«, in: Renate Möhrmann (Hg.), Theaterwissenschaft heute. Eine Einführung, Berlin 1990, S. 21-37; Christopher Balme, »Vorwort«, in: Ders., Einführung in die Theaterwissenschaft, Berlin 2003, S. 7-9, hier S. 7; Erika Fischer-Lichte, »Was heißt und zu welchem Ende studiert man Theatergeschichte?«, in: Dies., Kurze Geschichte des deutschen Theaters,
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einer bestimmten Berechtigung vorgebracht, doch treffen sie nicht den Punkt der gegenwärtigen Krise. Denn diese ist nicht ablösbar von einer allgemeineren Krise, die über das Fach hinaus auch dessen Gegenstände und die überkommenen Gründungsbehauptungen wissenschaftlichen Wissens im Allgemeinen betrifft. Ihren Auslöser hat sie in der Entdeckung des Singulären. Als Frage und Problem steht das Singuläre unter Begriffsprägungen wie ontisch-ontologische Differenz3, Dialektik im Stillstand4, Differance5, Spur6, Comparution7, Struktion8 oder »Zustand des Tanzens«9 im Zentrum der verschiedenen theoretischen wie künstlerischen Praktiken der Auflösung von Seinsbehauptungen10, die in den vergangenen 100 Jahren zu verzeichnen waren. Im Umfeld einer durch die Destruktion des Logozentrismus, die Entdeckungen der Psychoanalyse, den Ersten Weltkrieg, die Inflation, die radikalen Umbrüche in den Produktionsweisen (Fordismus) und die sich herausbildenden Totalitarismen in Europa geprägten Zeit der Krise des bürgerlichen Subjekts und der mit ihm verbundenen erkenntnistheoretischen, ethischen und ästhetischen Vorstellungen führt die Frage nach dem Singulären zur Begründung einer Kritischen Theorie in den zwanziger Jahren durch Horkheimer, Marcuse, Adorno, später Benjamin und einige andere, beschäftigt jedoch gleichermaßen die Philosophie von deren vermeintlichem Antipoden Heidegger und das Denken der in der einen oder anderen Weise von ihm ausgehenden, sich mit ihm auseinandersetzenden Philosophen in den USA, Frankreich und Deutschland, etwa dasjenige von Lévinas, Blanchot, Bataille und de Man. Mit ihrer aller Denken einher geht eine Tübingen/Basel 1993; Marita Tatari, »Zur Einführung«, in: Dies. (Hg.), Theater nach der Geschichtsteleologie, Berlin/Zürich 2014, S. 7-21, insb. S. 7. 3 | Vgl. Martin Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, Frankfurt a.M. 1975, S. 22. 4 | Vgl. Walter Benjamin, »Was ist das epische Theater? . Eine Studie zu Brecht«, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Bd. II.2, Frankfurt a.M. 1980, S. 519-531, hier S. 530. 5 | Vgl. Jacques Derrida, »Die différance«, in: Ders.: Randgänge der Philosophie, hg. v. Peter Engelmann, Wien 1988, S. 29-52. 6 | Vgl. Emmanuel Lévinas, Eigennamen. Meditationen über Sprache und Literatur, München/Wien 1988; Ders., Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/München 1983. 7 | Vgl. Jean-Christophe Bailly/Jean-Luc Nancy, La comparution, Paris 1991. 8 | Vgl. Jean-Luc Nancy, »Von der Struktion«, in: Erich Hörl (Hg.), Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt, Frankfurt a.M. 2011, S. 54-72. 9 | Vgl. Nikolaus Müller-Schöll, »Denken auf der Bühne. Derrida, Forsythe, Chétouane«, in: Georg Christoph Tholen et al. (Hg.), Mnema. Derrida zum Andenken, Bielefeld 2007, S. 187-208, hier S. 196f. 10 | Vgl. Nikolaus Müller-Schöll, »Dekonstruktion«, in: Ralf Schnell (Hg.), Metzler-Lexikon Kultur der Gegenwart, Stuttgart/Weimar 2000, S. 92-93.
Das Problem und Potential des Singulären
radikale Befragung der Grundlagen von Philosophie, ihrer leitenden Prinzipien und Kohärenzparadigmen. Ihre philosophische Arbeit steht, wie Werner Hamacher es auf den Punkt gebracht hat, »unter dem Zeichen des Traumas«, das »die Erfahrung des Völkermords, des horrenden Konformismus und der tödlichen Indifferenz in Deutschland bei ihnen hinterlassen« hat.11 Sie gehen davon aus, dass die Traditionen der Philosophiegeschichte durch deren Gebrauch in den verschiedenen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts diskreditiert sind und treiben »Philosophie im Bewußtsein, dass sie auf ihrem eigenen Feld bereits politisch sei«.12 Alle widmen sie sich dabei in der einen oder anderen Weise dem Ästhetischen.13 In ihrer philosophischen »Trauerarbeit«14, das Wort verstanden in einem nicht-psychologischen Sinn, gibt es dabei vielleicht nur ein gemeinsames Thema, dasjenige des Singulären. Nur vorübergehend, geprägt von den in Deutschland nach Heidegger und Adorno unterm US-amerikanischen Einfluss sich entwickelnden Theorien der semantischen oder pragmatischen Norm, des Ideals, der Kontrolle, der Orientierung, des Sinns, der Identität des Subjekts und der Substanz, wird die mit dem Singulären aufgeworfene Frage und das mit ihm verbundene Potential in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vergessen, bis sie auf dem Umweg über die breite Rezeption französischer und US-amerikanischer Theorie neuerlich Eingang auch in die deutsche Diskussion finden, wenngleich in einer den Fragen wie den Forschungsansätzen entsprechenden grunderschütternden Art eher in den Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaften als in der Theaterwissenschaft. In ihr bleiben sie, Ausnahmen bestätigen die Regel, eher ein blinder Fleck. Was hat es damit auf sich? In seinem Aufsatz »Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik« verdeutlicht Heidegger sein Denken in Differenz zu Hegel anhand einer von diesem gebrauchten Illustration des eigenen Denkens: Jemand möchte in einem Geschäft Obst kaufen. Er verlangt Obst. Man reicht ihm Äpfel, Birnen, reicht ihm Pfirsiche, Kirschen, Trauben. Aber der Käufer weist das Dargereichte zurück. Er möchte um jeden Preis Obst haben. Nun ist aber doch das Dargebotene jedesmal Obst und dennoch stellt sich heraus: Obst gibt es nicht zu kaufen.15
Wenn in dieser kleinen Geschichte Hegels Interesse dem Obst gilt, so richtet sich dasjenige Heideggers auf die Differenz zwischen Obst und den diversen Früch11 | Werner Hamacher, »REPARATIONEN (1984)«, in: Friedrich Balke/Bernhard Siegert/ Joseph Vogl (Hg.), Mediengeschichte nach Friedrich Kittler, Paderborn 2013, S. 11-26, hier S. 15. 12 | Ebd. 13 | Vgl. ebd., S. 22. 14 | Vgl. ebd., S. 17. 15 | Martin Heidegger, »Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik«, in: Ders., Identität und Differenz, Pfullingen 1990, S. 31-67, hier S. 58.
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ten, philosophischer formuliert: zwischen dem entzogenen Sein und dessen je anderen geschicklichen Prägungen, Vorstellungen bzw. Epistemen oder Paradigmen als Physis, Logos, En, Idea, Energeia, Substanzialität, Objektivität, Wille, Wille zur Macht, Wille zum Willen. Nimmt er damit aber noch immer gleichsam die Rolle des verallgemeinernden Käufers ein, so kann doch von hier aus der Perspektivwechsel beschrieben werden, der das Denken Derridas, Nancys und anderer post-hegelianischer und -heideggerianischer Denker in Frankreich und darüber hinaus prägt: Ihr Interesse gilt einer Koexistenzial(de)ontologie, den je singulären Prägungen oder, um im Bild zu bleiben, der je anderen Differenz, die Äpfel, Birnen, Pfirsiche, Kirschen und Trauben in ihrem je singulären Bezug zu allen anderen Singularitäten zu denken erlaubt, ohne dabei ein Gemeinsames als diesem Bezug Vorausgehendes anzunehmen. Warum ist ein von diesem Interesse geleitetes Denken der Theaterwissenschaft verschlossen geblieben? Mit Samuel Weber könnte man sagen, dass das Singuläre, aus dem der Individualismus hervorgegangen ist, um diesen Ursprung sofort zu vergessen, unter dessen Vorzeichen seit Jahrhunderten verschwindet. Der Individualismus, so Weber, ist im Unterschied zum Denken des Singulären geprägt durch die Entgegensetzung von Besonderem und Allgemeinem, wobei das Singuläre dann dem Besonderen zugeschlagen wird. Als Besonderes verweist es aber immer schon auf ein Ganzes, dessen Teil es ist, etwa auf den Nationalstaat oder das Volk. Nicht minder häufig wird es mit dem Selbst verwechselt, das traditionell durch die Eigenschaft charakterisiert ist, im Durchgang durch die Zeit das Gleiche zu bleiben.16 Im Unterschied zu Individuellem und Selbst ist jedoch das Singuläre konstitutiv teilbar und entortet, gebunden an das gemeinsame Erscheinen mit anderen Singularitäten – Singuli, so erinnert Jean-Luc Nancy, gibt es im Lateinischen nur im Plural –, nicht subsumierbar unter einen Monotheismus oder die Ideologie des autonomen Ichs im Sinne des Satzes »Ich bin, der ich bin«, sondern in jeder Hinsicht nur inkommensurabel zu denken. Es ist nur nachträglich und zwar als Leere des Sinns oder als das, was jeden aktuellen Sinn übersteigt,17 und nur in Metamorphosen bzw. als in der Form der Iterierbarkeit 18 (Derrida) erscheinend denkbar. Ist es auch einem Ereignis vergleichbar, so ist es doch zugleich auch nicht von dem ganz abschneidbar, was ihm vorausgeht und wovon es sich abhebt. Seine Einzigartigkeit ist niemals einfach, sondern immer komplex, relational, an eine immer verfehlte Rückkehr gebunden. Bezogen auf das Theater lässt sich das Singuläre vielleicht am besten ausgehend von verschiedenen Szenen gegenwärtigen Theaters beschreiben, die an seiner Ent-deckung arbeiten: Ent-deckung, denn es ist nicht etwas, was sich der 16 | Vgl. Samuel Weber, Inquiétantes singularités, Paris 2014. 17 | Vgl. Jean-Luc Nancy, singulär plural sein, Berlin 2004. 18 | Vgl. Jacques Derrida, »Signatur, Ereignis, Kontext«, in: Ders., Randgänge der Philosophie, S. 291-314.
Das Problem und Potential des Singulären
Intention, dem Telos einer Aufführung, der voluntaristischen Setzung verdankt, auch nicht etwas, was mit den Begriffen des Spiels, der Performanz, der Inszenierung oder des Handelns zu begreifen wäre. Vielmehr zeigt es sich in Aufführung wie Spiel als dasjenige, was ermöglichend von Beginn an dabei gewesen ist – als Träger, Material, Geste, Haltung, Rauheit der Stimme, Körper –, was aber zugleich seiner Tendenz nach der mit ihm umgesetzten Intention, dem mit ihm verbundenen Telos entgegenwirkt, die voluntaristische Setzung nolens volens entsetzt und in Spiel, Performanz, Inszenierung und Handeln mit-spielt, ex-szeniert und die Handlung aufschiebt, aussetzt und gleichsam skandierend unterbricht. Entdeckt wird es jedoch nicht ohne eine poetische Arbeit, wie sie eindrücklich Maurice Blanchot in seinem Aufsatz über das »Athenäum« schildert, eine Arbeit, der es um die Auflösung ihres eigenen Tuns zu tun ist, wie er das »unromantische Wesen der Romantik« beschrieben hat: Schreiben erweist sich als Werk der Rede, dieses Werk aber bedeutet Entwerkung (désoeuvrement). Poetisch reden ist die Möglichkeitsbedingung einer intransitiven Sprache, deren Aufgabe nicht im Sagen der Dinge (im Aufgehen in dem Bedeuteten) besteht, sondern im (sich) Sagen, indem man sich sagen läßt, ohne allerdings aus sich selbst den neuen Gegenstand dieser gegenstandslosen Rede zu machen.19
Mit Adornos Hegel-Kommentar oder Lacoue-Labarthes Hölderlin-Lektüre, die beide implizit auf Benjamins »Dialektik im Stillstand« auf bauen, könnte man von der Erfahrbarmachung einer Dialektik in der Dialektik sprechen, die gleichsam überholt und unterminiert, was die Dialektik von Besonderem und Allgemeinem etabliert hat.20 Dies lässt sich besser als in dieser – vielleicht noch immer die Sicht des Obstkäufer enthaltenden – Aufzählung an zwei konkreten Beispielen einer post-performativen21 und neo-dramatischen22 künstlerischen Praxis erläutern, an
19 | Vgl. Maurice Blanchot, »Das Athenäum«, in: Volker Bohn (Hg.), Romantik. Literatur und Philosophie. Internationale Beiträge zur Poetik, Frankfurt a.M. 1987, S. 107-121, hier S. 116. Vgl. dazu auch Philippe Lacoue-Labarthe/Jean-Luc Nancy, »The Fragment«, in: Dies., The literary absolute. The Theory of Literature in German Romanticism, Albany, NY 1988, S. 39-58. 20 | Vgl. Theodor W. Adorno, »Skoteinos oder Wie zu lesen sei«, in: Ders., Drei Studien zu Hegel, hg. v. Gretel Adorno u. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1991, S. 84-133; Philippe Lacoue-Labarthe, »Die Zäsur des Spekulativen«, in: Ders., Die Nachahmung der Modernen. Typographien II, Basel/Weil am Rhein/Wien 2003, S. 37-68; Benjamin, »Was ist das epische Theater? «. 21 | Vgl. Nikolaus Müller-Schöll, »Die post-performative Wende. Wie die Performance ins Museum kam«, in: Theater Heute 12 (2012), S. 42-45. 22 | Vgl. Nikolaus Müller-Schöll, »Katastrophe des Spiels. Laurent Chétouanes posttraumatische Inszenierung von Kleists ›Das Erdbeben in Chili‹«, in: Ottmar Ette/Judith Kasper
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der Arbeit Ohne Titel von Tino Sehgal und an Abecedarium bestiarium – Affinitäten in Tiermetaphern von Antonia Baehr & Friends.23
Über »über« – Tino Sehgal: Ohne Titel Wie wenige andere untersucht der gelernte Tänzer, Volkswirt und Choreograph Tino Sehgal in den flüchtigen Begegnungen von Tänzern oder Sängern mit Zuschauern, die er selbst als »Situationen« bezeichnet und in der Tradition Bildender Kunst verortet, Problem und Potential des Singulären. Die von ihm geschaffene Kunstform zwischen Bildender Kunst, Theater, Choreographie und Performance trägt Elemente des Theaters und der Performance in Räume, die bisher vornehmlich der Bildenden Kunst vorbehalten waren – so ins MoMA, ins Guggenheim Museum, die Tate Gallery, die Biennale von Venedig oder den Martin Gropius Bau; oder aber in Räume jenseits von Museum, Tanzraum und Theater, die er mit ihr neu für die Künste erschließt. Im Einklang mit den als »Live Art« titulierten Kunstformen 24 und in der Tradition von Futuristen, Surrealisten, Fluxus-Kunst, Situationismus, Aktions- und Happeningkunst stellen Sehgals Arbeiten zunächst einmal den Betrieb mit seinem Bestreben, Kunst zu verbuchen, zu rahmen, zu katalogisieren und zu archivieren und dabei letztlich in eine Ware zu verwandeln, in Frage. Doch zugleich, und das ist neu, setzen sie sich zunehmend auch kritisch mit den der sogenannten Live Art eigenen Paradoxien und der eigenen Enthaltsamkeit diesem Betrieb gegenüber auseinander – etwa mit den lange Zeit unangefochten behaupteten Ansprüchen auf Präsenz, Flüchtigkeit und Immaterialität. In einer ohne Titel (oder aber als Ohne Titel) angekündigten Arbeit sitzt das Publikum der Tanzplattform 2014 zunächst in der dunklen Halle K1. Eine Gestalt tritt ein, stellt sich ein wenig rechts von der Mitte relativ weit vorn auf und wartet. Als das Licht angeht, geht ein leises Raunen durch das Publikum. Vor uns steht ein nackter Mann und schaut uns frontal an. Was folgt, so sagt er, trage den Titel »20 Minuten für das 20. Jahrhundert«. Tatsächlich wird er dann aber 50 Minuten lang eine tour de force durch die Tanzgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts unternehmen, mit Bewegungsmustern, die von Nijinskis gebogenen, in sich gekrümmten Haltungen bis zu den charakteristischen Zügen (Hg.), Unfälle der Sprache. Literarische und philologische Erkundungen der Katastrophe, Wien/Berlin 2014, S. 159-174, hier S. 174. 23 | Beide hier besprochenen Arbeiten habe ich im Rahmen der Tanzplattform in Hamburg auf Kampnagel am 2. März 2014 gesehen, Abecedarium Bestiarium – Affinitäten in Tiermetaphern darüber hinaus am 24. Oktober 2014 im Künstlerhaus Mousonturm, Frankfurt a.M. Etwaige Ungenauigkeiten in der Schilderung sind die unvermeidlichen Spuren der Grenze meiner Erinnerungsfähigkeit. 24 | Vgl. Amelia Jones/Adrian Heathfield (Hg.), Perform, Repeat, Record. Live Art in History, Bristol/Chicago, IL 2012.
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der mit dem Tanz ins Gericht gehenden frühen Performances und Choreographien Xavier Le Roys und JérÔme Bels reichen. In deren Kontext, so liest man, wurde die Choreographie ein erstes Mal, damals noch von Tino Sehgal selbst, im Jahr 2000 getanzt und markierte dabei als ein »Museum des Tanzes« einen Einschnitt in dessen Arbeit: den Übergang von seinen erkennbar an Orte der darstellenden Künste gebundenen choreographischen Arbeiten zu solchen, die er im Museumskontext zeigt.25 Die Zitate der Tanzgeschichte werden von dem nackten Solisten körperlich herauf beschworen, virtuos getanzt in einer genau festgelegten Abfolge, welche die Tanzstile in ihrem Unterschied vor uns ausbreitet wie eine Ausstellung Bilder klassisch gewordener Malstile. Nacherzählt wird uns dabei also gewissermaßen die Geschichte, an deren Ende diese Arbeit steht, die mit der vorletzten Volte der Tanzgeschichte endet, der konzeptuellen Wende der späten 1990er Jahre. Der Performer zieht die Haut seines Hodensacks über seinen Penis und versucht in hohem Boden in verschiedene Richtungen zu pinkeln. Dazu sagt er: »Je suis Fontaine.« Dreimal wird diese Choreographie nacheinander vorgeführt, von drei Tänzern, an drei Orten. Auf Andrew Hardwidge folgt Frank James Willens, der sie auf dem Teerboden im beengten Raum des Kampnagel-Foyers vorführt, dann Boris Charmatz, der auf der Bühne der größten Halle der Kulturfabrik tanzt. Dreimal die gleiche Performance ist nicht dreimal dieselbe. Gerade, weil wir eine Choreographie in drei Variationen sehen, erkennen wir, was bei der Betrachtung der sehr luziden Dekonstruktion moderner Tanzgeschichte durch Andrew Hardwidge noch entgehen konnte: Die – vermeintlich – insignifikanten Änderungen, die durch den Träger und die raum-zeitliche Kadrierung ins Spiel gebracht werden. Da sind die Körper der Tänzer: Drei trainierte Tänzerkörper, die aber gerade in ihrer Nacktheit sich in ihren ganzen Unterschiedlichkeiten ausstellen. Da ist die Körpergröße, da sind die leichten gestischen Unterschiede, die von unterschiedlichen tänzerischen und außertänzerischen Sozialisationen zeugen, die unterschiedliche Ausprägung der Muskulatur, die Haare und der Körperschmuck, Charmatz’ Gang wirkt federnder, spielerischer, Willens trägt Tätowierungen auf seinen Armen, und spätestens, wenn die drei, dabei JérÔme Bel zitierend, ihr Glied in die Hand nehmen und im Kreis herumwirbeln, danach ihren Hodensack hin- und herschleudern, fällt die Unterschiedlichkeit der Penisse der drei Tänzer ins Auge. Nicht zuletzt manifestieren sich die je anderen Körper im Schlussakt oder seiner Suspension: Willens und Charmatz können, wenn sie vom Springbrunnen, der »fontaine«, sprechen, urinieren, Hardwidge nicht. Nicht weniger fällt die Verschiedenheit der Räume auf, in denen die drei auftreten: Da ist die Zerrissenheit und Gezeichnetheit der Wände der Halle 1, an denen Hardwidge an einer Stelle mit den Füßen nach oben klettert, um dann 25 | Vgl. zu diesem Übergang Sandra Umathum, Kunst als Aufführungserfahrung. Zum Diskurs intersubjektiver Situationen in der zeitgenössischen Ausstellungskunst. Felix Gonzalez-Torres, Erwin Wurm und Tino Sehgal, Bielefeld 2011.
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auf Händen ein wenig parallel zur Wand zu laufen. Da ist das Fehlen einer Wand und die dem Tänzer naherückende Front der ihn von allen Seiten umgebenden Zuschauer im Foyer. Und da ist die mit einer Tür versehene, an frühere Nutzungen als Fabrik erinnernde Wand der großen Halle K6. Ganz konkret erfährt man dergestalt die Unablösbarkeit der Geschichte, der Musealisierung und Fixierung von immer anderen, je spezifischen, singulären räumlichen, zeitlichen und durch vielfältige Spuren spezifisch gefurchten körperlichen Medien. Die drei Varianten ohne Titel lassen an diesen Medien deren immer andere, je singuläre Differenz erkennbar werden. Diese Beobachtung, zunächst ein wenig erwartbar, relativiert bei genauerer Überlegung einen Großteil dessen, was vermeintlich das Fundament des Tanzes wie auch des Theaters ist: Die Vorstellung einer an verschiedenen Orten und unter unterschiedlichen Umständen von jeweils anderen Akteuren ausführbaren Choreographie oder Inszenierung wird in der dreifachen Wiederholung insofern in Frage gestellt, als sie nahelegt, dass es so etwas wie die eine, ursprüngliche, erste Choreographie, die dann nach der sogenannten Uraufführung oder Premiere je anders ausgeführt werden könnte, nicht gibt. Mag das dreifache Reenactment von Sehgals konzeptueller Choreographie auch zunächst nur der Bitte der Kuratoren des Festivals Tanz im August zu verdanken sein,26 so bringt es doch tatsächlich in der Weise des »Nachtrags« in der dreifachen, je anders differierenden Wiederholung jenen Entzug des Ursprungs zum Vorschein, der schon Sehgals Ausführung betraf: Weil hier schon die erste Ausführung in drei Variationen erscheint, begreift man am Ende der drei Variationen das, was andernorts als ›das Eine‹ bezeichnet wird, als metaphysische Rückführung des von Anfang an Verschiedenen auf ein transzendentales Signifikat. Nicht weniger problematisch erscheint damit aber auch die dem Aufführungs- wie Festivalbetrieb zugrundeliegende und mit Tanz und Theater im Allgemeinen verbundene Vorstellung der Möglichkeit, das Eine, Erste an verschiedenen Orten beliebig reproduzieren zu können. Wenn schon das erste anders ist – dezentriert oder verschoben –, so erst recht alle weiteren Aufführungen. Eben die Inszenierbarkeit der Inszenierung, dass sie in sich das Potential trägt, an diesem oder jenem Ort vorgeführt zu werden, stellt die Inszenierung – das Konzept der einen, unabhängig von Ort, Zeit, Akteuren und Zuschauern analysierbaren Arbeit – radikal in Frage. Das heißt aber nicht, dass damit das Feld für eine pluralistisch ausgerichtete, von jedem anders ausgeführte »Aufführungsanalyse« eröffnet würde, zumal dann, wenn die »Aufführung« dabei gewissermaßen als deutsche Version dessen begriffen würde, was im Englischen als »Performance«, als Auf-, aber auch als Ausführung bezeichnet wird. Liegt ihr Vorteil im Vergleich zur Inszenierungsanalyse darin, dass sie nicht auf ein transzendentales Signifikat, einen stabilen Referenten oder eine in Variationen erschei26 | Hinweis von Sehgal, vgl. auch www.tanzimaugust.de/programm/festivalplan/sehgalwillens vom 21.03.2016. Auf diesen Zusammenhang machte mich Leonie Otto aufmerksam.
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nende Idee oder Intention verweist – zumindest dann, wenn sie die Aufführung nicht bloß als Auf- oder Ausführung eines Aufzuführenden begreift –, so liegt ihr Nachteil auf der anderen Seite darin, dass sie sich unter dem im- oder expliziten Vorzeichen der Emanzipation des Zuschauers der Aufgabe entledigt, Zeugnis abzulegen von dem, was in der je spezifischen Begegnung zwischen dem Dar- und Vorgestellten und seinen Betrachtern nicht aufgeht in einer wie immer gearteten Kommunikation zwischen beiden – also von der Alterität der Kunst, von dem, was uns an ihr noch nicht und vielleicht niemals bekannt ist oder wird.27 Indem Sehgals post-konzeptuelle Arbeit in den drei Variationen einer sich als solchen entziehenden Choreographie erkennen lässt, dass wir es in jedem Fall mit einem jede wie auch immer geartete Deutung überfordernden Übermaß der Darstellung zu tun haben, mit einer anfänglichen Über-Setzung durch drei je andere Körper in drei je andere Räume, ohne die die Arbeit nicht zur Darstellung oder Ausführung gekommen wäre, mit der sie aber immer schon mehr und anderes, je einmalige Verdoppelung bzw. Wiederholung ohne Ursprung geworden ist, beraubt er uns förmlich des Grundes, auf dem Analyse, Geschichte und Theorie der Theaterwissenschaft zu stehen glauben. Jedes der vielen signifikant insignifikanten Details, welche die drei Aus- und Aufführungen zugleich unterscheidbar wie auch je anders werden lassen, könnte als deren je spezifische konstitutive De-formation begriffen werden, ohne dass dabei das De- als negativ oder fehlerhaft zu begreifen wäre. »Ohne Titel« ist diese Arbeit, weil jeder einzelne Titel mindestens einer zu wenig wie auch einer zu viel wäre. Was auch heißt, dass sie gewissermaßen eine Arbeit über das bloße signifikantinsignifikante Übermaß ist, kurz: über das Über.
Antonia Baehr & Friends: Abecedarium Bestiarium Das Singuläre wird auf andere Weise auch entdeckt in der von Antonia Baehr & Friends gezeichneten Arbeit Abecedarium Bestiarium – Affinitäten in Tiermetaphern. Weniger noch als Sehgal lässt sich Baehr einer der Disziplinen zuordnen, unter denen man sie vielleicht begrifflich fassen könnte: der Performance-Art, der Choreographie, der Bildenden Kunst, der Poesie, der Lyrik, der Prosa. Die als installative Tanztheaterchoreographie und zugleich als lyrisch-dramatische Prosa vorgelegte Arbeit Abecedarium Bestiarium greift jene Abecedarien auf, mit denen man Kindern die Schrift beibringt und auf spielerische Weise das Heterogene aufgrund einer gesetzten und insofern zwar willkürlichen, aber nicht beliebigen Ordnung, derjenigen des Alphabeths, zusammenfügt. Am Anfang der Arbeit, so schreibt Antonia Baehr im Buch und so erzählt sie auch zu Beginn des von ihr geführten Durchgangs durch eine Reihe von Installationen, stand die 27 | Vgl. Nikolaus Müller-Schöll, »The Unrepresentable Audience«, in: Peter Fenves et al. (Hg.), Points of Departure. Samuel Weber between Spectrality and Reading, Chicago, IL 2017.
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folgende Geschichte: »My name is Antonia Baehr, which means bear in German, and I was born in Berlin, which is pronounced bear-lin.«28 Schon ihre Geburtsanzeige habe eine Bärenfamilie in menschlichen Kleidern gezeigt, als Kind habe sie mit nichts anderem als Bären gespielt und in einer an Gertrude Steins Prosa erinnernden Diktion fährt sie fort: »What might it be that brings together Baehr, bear and the Berlin bear? Well, of course, B as in bear, and Baehr as in bear. But what does this ›as in‹ mean?« Sie erzählt vom Score, der Partitur, welche die Installationen und das Buch hervorgebracht hat: I wrote an invitation letter to some of my friends (musicians, filmmakers, and visual artists) and asked them to write short, personal pieces for me in exchange for a small fee. ›Find the affinity between yourself and an extinct animal, keeping our friendship in mind. The animal represents you and the piece is about the relationship between you and me.‹ 29
Wenn die Führung durch den Raum beginnt, in deren Verlauf Baehr uns acht der so entstandenen 14 kurzen Szenen vorführt, haben wir bereits Zeit gehabt, uns in dem auf den ersten Blick sakral wirkenden, minutiös eingerichteten kubischen Saal, dessen mit schwarzen Vorhängen abgehängte Wände das Dispositiv der Black Box, dessen weißer Tanzboden dasjenige des White Cubes zu zitieren scheinen, umzusehen, die Installationen, die nach Art einer Ausstellung an verschiedenen Stellen im Raum die Requisiten der einzelnen Szenen zur Besichtigung freigeben, zu erkunden: Ein Overhead-Projektor ist mit Papier zugedeckt, ein Pult mit verschiedenen altertümlichen Abspielgeräten belegt. Auf einem Podest steht ein wie eine Maske oder ein mit einfachen Mitteln gebastelter Vogel aussehendes Objekt. An der Wand hängt ein kleines Tablett mit einem ovalen Spiegel, an dem eine Jacke hängt. Davor liegt ein Tierkopf. Wenn das Publikum der Vorstellung im Raum angekommen ist, erläutert Baehr die Regeln, indem sie zugleich auf ihre eigene Affinität zu einem »Brown Atlas Bear« verweist, mit dem sie neben dem (beinahe) gleichen Namen auch Affinitäten im Verhalten verbänden. Es folgen D wie Dodo, ein Vogel, den eine in einem Video zu sehende junge Frau namens Dodo Heidenreich in ihrem der Performance zugrundeliegenden Beitrag beschrieben hat; Y wie Yangtze River Dolphin, basierend auf der Vorlage You are The Dolphin von Frédéric Bigot; T wie Tasmanischer Tiger, basierend auf 28 | Hier zit. n. dem die Arbeit begleitenden Künstlerinnen-Buch Antonia Baehr & Friends, ABECEDARIUM BESTIARIUM. Portraits of affinities in animal metaphors, Nyon 2013. Das Buch listet die in seinem Titel erwähnten Freunde, deren Arbeiten nur teilweise in der Bühneninstallation und -performance aufgenommen sind, auf: Pauline Boudry, Dodo Heidenreich, Isabell Spengler, Christian Kesten, Stefan Pente, Ida Wilde (Keren Ida Nathan), Lucile Desamory, Valérie Castan, Andrea Neumann, Sabine Ercklentz, Steffi Weismann, William Wheeler, Frédéric Bigot (electroniCat). 29 | Ebd.
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Steffi Weismanns Text The Last Thylacine; C wie Culebra Island Amazon of Puerto Rico, auf Grundlage eines Textes von Pauline Boudry; S wie Steller’s Sea Cow nach einer Vorlage von Sabine Ercklentz; M wie Martellis’ Cat, das der an Lewis Carroll erinnernden Vorlage von Valérie Castan folgt; F wie Forest Tarpan, auf einen Text Isabell Spenglers verweisend; und N wie Northern Bubal Hartebeest, eine Antilopenart, die in einem Text von Andrea Neumann beschrieben wird.30 Man muss es so, etwas umständlich, auflisten, da jede einzelne im Folgenden absolvierte Station aus einem spezifischen Beziehungsgeflecht erwachsen ist, das die jeweilige Autorin oder den jeweiligen Autor – über das ausgestorbene Tier vermittelt – mit Antonia Baehr, der Performerin, unter deren Namen die Arbeit in den Programmen der Gastspielhäuser auftaucht, verbindet. Beim Blick auf den vor der Frankfurter Aufführung verteilten Abendzettel wird die hier wie andernorts Baehr zugeschriebene Autorschaft auf der Bühne als Ideologem erkennbar, das die singuläre Pluralität jeder einzelnen Station der Arbeit wie der gesamten Arbeit verdeckt. An der dem Tasmanischen Tiger gewidmeten Station T, die durch das Tablett markiert ist, zieht sich die Performerin eine Strumpfmaske mit Augenlöchern über, nimmt eine braune Jacke von dem kleinen an der Wand hängenden Tablett und sieht sich im kleinen Spiegel an der Wand darauf hin an, ob alles passt. Dann setzt sie sich einen Tierkopf, den des Tasmanischen Tigers, auf, erinnernd an das letzte Exemplar dieser Spezies, das im Jahr 1936 erlegt wurde. Zeitlebens hatte man das Tier für ein Männchen gehalten, erst nach seinem Tod entdeckte man, dass es sich tatsächlich um ein Weibchen handelte. Um ein fleischfressendes Känguru mit Tigerstreifen, wie Baehr es beschreibt. Der braune längliche Kopf mit den großen Augen hat allerdings mehr Ähnlichkeit mit einem Bären. Schwer atmend legt sich Baehr als dieses bärengleiche Känguru, als dieses Weibchen, das man für ein Männchen hielt, auf den Boden und ihr Atmen wird dabei über Lautsprecher in den Raum übertragen. Er hört sich an wie eine Säge. Mit den von Baehr eingangs erinnerten Illustrationen von Giambattista della Portas Buch De Humana Physiognomonia31 aus dem 16. Jahrhundert, mit menschlichen Köpfen, die an Tiere erinnern, verbindet diese wie die weiteren Stationen der Arbeit, dass in ihnen der Mensch als eine Art von Tier erscheint, als einer, der mit dem Tier vor allem Menschsein ihn enteignende Eigenheiten teilt, die dem entsprechen, was Walter Benjamin mehrdeutig unter dem Begriff der »unsinnlichen Ähnlichkeiten«32 fasste: Was sie verbindet, sind weniger Ähnlichkeiten auf der Ebene des Sinns oder der Bedeutung, als vielmehr solche auf der 30 | Vgl. zu den Vorlagen ebd. 31 | Vgl. den Hinweis ebd., S. 8. 32 | Walter Benjamin, »Lehre vom Ähnlichen«, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. II.1, S. 204-210, hier S. 207; Ders., »Über das mimetische Vermögen«, ebd., S. 210-213, hier S. 211.
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Ebene des »blöden« Signifikanten,33 des Buchstabens, oder aber auf Ebenen, die vor dem Gerichtshof der Vernunft schlicht als Unsinn zu erscheinen hätten: Der Physiognomie, der bloßen Lautlichkeit, der Haltung, des Gebahrens. Aufgebaut auf dergleichen kontingenten Verbindungen und zugleich auf dem nicht minder kontingenten Auswahlkriterium der Autoren, auf Freundschaft, werden so singuläre Verknüpfungen, die neben dem, was sich im Sinn scheinbar nahtlos, bruchlos fügt, also neben den verbürgten Geschichten, Fakten und Daten andere, den Sinn des Sinns erschütternde Verbindungen herstellen: ausgehend von dem, was Sinn zu erzeugen erlaubt, ohne doch jemals ganz in ihm aufzugehen. Da sind etwa die Anspielungen auf menschliche Verhaltensweisen in tierischen, auf die Cross-Gender-Auftrittsweise der Performerin und daneben solche auf unzählige in Spuren erkennbare, wenngleich nicht adäquat benennbare, eben je singuläre Beziehungen.
Ausblick Die Arbeiten von Sehgal und Baehr & Friends legen, wie eingangs angedeutet, im Einklang mit den erwähnten Traditionen des Denkens und über sie hinaus nahe, dass es das Singuläre ist, das die Theaterwissenschaft ebenso wie die anderen Kunst-, Kultur- und Medienwissenschaften, soweit sie sich als solche begreifen, die sich mit der Gegenwartserfahrung kritisch auseinandersetzen und im adornoschen Sinne sich an deren Verständnis zu bewähren haben, in die Krise geführt hat. Eine Theaterwissenschaft, die es mit dem Singulären aufnehmen will, muss, darin der über ihr Ende nachdenkenden Philosophie verwandt, zu allererst die mit ihrem Namen gesetzten Voraussetzungen – das Theater wie die Wissenschaft – radikal in Frage stellen. Eine am Singulären orientierte Theaterwissenschaft ist eine solche, die sich dieser Infragestellung und insofern ihres Hervortretens aus einem abendländischen Denken und einer Tradition des Ästhetischen bewusst ist, damit aber einer Tradition der Auflösung, der sie sich im Einklang mit den Künsten um den Preis des Subalternen, Kunstgewerblichen und Kunstbetrieblichen nicht entledigen kann, der sich zu stellen zunächst aber heißt, um der Gegenstände und ihrer Fragen willen in guter radikalphilologischer Tradition34 die Zertrümmerung aller vermeintlichen Grundlagen hinzunehmen, und das selbst dann, wenn diese Gegenstände und diese Fragen sich heute, wie die erwähnten Beispiele jedes für sich zeigen, nicht länger disziplinär eingrenzen und ihre Zugehörigkeit sich nicht mehr feststellen lässt.
33 | Vgl. Jacques Lacan, »Für Jakobson«, in: Ders., Das Seminar. Buch 20, hg. v. Jacques Allain Miller, Weinheim/Berlin 1986, S. 19-30. 34 | Vgl. Werner Hamacher, Für die Philologie, Basel/Weil am Rhein 2009.
Illusion. Episteme. Dispositiv André Eiermann Wenn Michel Foucault 1970 »den Ort – oder vielleicht das sehr provisorische Theater – «1 seines Denkens skizziert, unterscheidet er drei große Ausschließungssysteme: Das Verbot, die Ausgrenzung des Wahnsinns und den Willen zur Wahrheit. Letzteres Ausschließungssystem, auf das sich ihm zufolge die beiden anderen seit Jahrhunderten zubewegen,2 steht in enger Verbindung mit dem Begriff, der den Ausgangspunkt des hier dokumentierten Kongresses darstellt, d.h. mit dem von Foucault in Les mots et les choses eingeführten Begriff der Episteme. Im Grunde ist der Wille zur Wahrheit eben jene Grenzziehung, welche »das epistemologische Feld, die episteme«3 konstituiert. Foucault zufolge wird dieses Ausschließungssystem »zugleich verstärkt und ständig erneuert von einem ganzen Geflecht von Praktiken wie […] durch die Art und Weise, in der das Wissen in einer Gesellschaft eingesetzt wird, in der es gewertet und sortiert, verteilt und zugewiesen wird«4. Der Wille zur Wahrheit »ist so beschaffen, daß die Wahrheit, die er will, gar nicht anders kann, als ihn zu verschleiern«, dass sich uns also »eine Wahrheit dar[bietet]«, während »wir […] den Willen zur Wahrheit [übersehen] – jene gewaltige Ausschließungsmaschinerie«5, welche die dargebotene Wahrheit produziert. Doch ist der Wille zur Wahrheit keineswegs konstant. Durchdringt er auch bereits seit hunderten von Jahren die Diskurse,6 so hat er doch »seine eigene Geschichte, welche nicht die der zwingenden Wahrheiten ist«, sondern »eine Geschichte der Ebenen der Erkenntnisgegenstände, […] der Funktionen und Positionen des erkennenden Subjekts, […] der materiellen, technischen, instrumentellen Investitionen der Erkenntnis« 7. Er »hat unserem Willen zum Wissen 1 | Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a.M. 2007 (1972), S. 10. 2 | Vgl. ebd., S. 16. 3 | Michel Foucault, »Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaft«, in: Ders., Die Hauptwerke, Frankfurt a.M. 2008 (1966), S. 13-469, hier S. 28. 4 | Foucault, Die Ordnung des Diskurses, S. 15. 5 | Ebd., S. 17. 6 | Vgl. ebd., S. 14. 7 | Ebd., S. 15.
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zweifellos seine allgemeine Form gegeben«, doch hat sich seine Grenzziehung »auch immer wieder verschoben«8. Führt Foucault daher aus, dass »die großen wissenschaftlichen Mutationen […] als das Erscheinen neuer Formen des Willens zur Wahrheit gesehen werden [können]«9, so klingt der Begriff der Episteme – mit dem er das Feld der sich historisch wandelnden Möglichkeitsbedingungen des Wissens bzw. wissenschaftlicher Erkenntnis beschreibt – besonders deutlich an, zumal seine historischen Verortungen des Erscheinens neuer Formen des Willens zur Wahrheit exakt jenen »Diskontinuitäten in der episteme der abendländischen Kultur«10 entsprechen, welche er in Die Ordnung der Dinge ausfindig macht. Sich auf Grundlage des Begriffs der Episteme mit der disziplinären Konstitution der Theaterwissenschaft auseinanderzusetzen bedeutet somit, nach der spezifischen Form des Willens zur Wahrheit bzw. des Ausschließungssystems zu fragen, auf der diese Konstitution auf baut. Es bedeutet, danach zu fragen, was auszuschließen dieses System der Theaterwissenschaft hinsichtlich der Schaffung eines bestimmten Wissens vom Theater ermöglicht hat. Und eine Antwort lässt sich hier in einem Begriff finden, der bei Foucault eng mit dem des Wahnsinns verbunden ist: Illusion. Insbesondere im Hinblick auf jene »aus der Gründungsgeste des Faches hervorgegangene Dichotomie von werkgebundener Philologie und aufführungskonzentrierter Theaterwissenschaft«11 ist dies der Fall. Denn die entsprechenden Diskurse beziehen sich sehr häufig auf anti-illusionistische Ansätze des Theaters, und was sie infolge dessen mit Vorliebe ausschließen, ist eben die Beschäftigung mit Aspekten der Illusion.12 Diesen Ausschluss kritisch in den Blick zu nehmen, liegt vor dem Hintergrund der Wissens-Archäologie Foucaults besonders nahe. Denn hier zeigt sich eine Parallele zu jenem Willen zur Wahrheit, welcher der Ausgrenzung des Wahnsinns im Zeitalter der Klassik korreliert. Foucault zufolge geht dessen Internierung nämlich mit einer Rationalisierung der Illusion bei Descartes einher,13 die diese vom Wahnsinn trennt, während sie zu Zeiten des Barock noch 8 | Ebd., S. 14. 9 | Ebd., S. 15. 10 | Foucault, »Die Ordnung der Dinge«, S. 29. 11 | ht t ps://dbs-lin.r uhr-uni-bochum.de/kong re s sg t w 2014/?page _ id=54 vom 13.03.2016. 12 | Exemplarisch kann hier der einflussreiche Diskurs Erika Fischer-Lichtes genannt werden, der sich z.B. auf »the development of a wholly new, determinedly anti-illusionist, theatrical code« (Dies., The Show and the Gaze of Theatre: A European Perspective, Iowa City 1997, S. 115) zu Beginn des 20. Jahrhunderts bezieht und diese Entwicklung in einer ›Ästhetik des Performativen‹ fortgesetzt sieht (vgl. Dies., Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004, insb. S. 175). 13 | Vgl. Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt a.M. 1996 (1961), S. 68-71.
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intrinsischer Bestandteil seiner Erfahrung war. »Der Wahnsinn«, so Foucault, »ist der große trompe-l’œil in den tragikomischen Strukturen der vorklassischen Literatur«14. Und in Bezug auf das Theater fährt er fort: Dies war Scudéry wohlbekannt, als er in seiner Comédie des Comédiens das Theater des Theaters schaffen wollte und sein Stück von Anfang an in das Spiel der Illusionen des Wahnsinns legte. […] Dies ist ein doppeltes Spiel, in dem jedes Element um eine Stufe überstiegen wird, indem es so den erneuerten Wechsel von Wirklichkeit und Illusion, der selbst der dramatische Sinn des Wahnsinns ist, bildet. […] In dieser Ungereimtheit entwickelt das Theater seine Wahrheit, das heißt, Illusion zu sein, was im strengen Sinne Wahnsinn ist.15
Die Wahrheit des Theaters darin zu sehen, Illusion zu sein, stellt nun in der Tat das genaue Gegenteil dessen dar, was eine aufführungskonzentrierte Theaterwissenschaft als Wahrheit des Theaters wissen will. Überspitzt formuliert könnte man sagen, dass dies aus Sicht einer solchen Theaterwissenschaft geradezu einer wahnsinnigen Sichtweise gleichkommt – oder zumindest lange gleichgekommen ist, denn seit einiger Zeit zeichnet sich durchaus eine Veränderung des entsprechenden Theorie-Designs ab. Teilweise scheint jene aufführungskonzentrierte Theaterwissenschaft den Begriff der Illusion mittlerweile sogar weniger aus ihrem Theorie-Gebäude aus- als vielmehr in dieses einzuschließen.16 Allerdings zielt dieser Einschluss weniger darauf, den Illusionsbegriff als solchen theoretisch produktiv zu machen. Vielmehr geht es darum, ihn im Sinne einer weiteren Profilierung des Begriffs des Performativen und des entsprechenden Aufführungsbegriffs zu nutzen. Oder mit Foucault gesagt: Sein Einschluss »ersetzt […] die rein negativen Ausschlußmaßnahmen durch eine Internierungsmaßnahme«, der Illusionsbegriff »wird nicht mehr verjagt«, sondern »man nimmt sich seiner […] an«17, um ihn gewissermaßen zu zwingen, im Theorie-Gebäude des Performativen zu dessen Gunsten zu arbeiten. Dass und wie sich dem Illusionsbegriff in diesem Kontext angenommen wird, stellt also weniger einen (Dis-)Kurswechsel dar. Vielmehr steht diese Internierungsmaßnahme im Einklang mit der Art und Weise, 14 | Ebd., S. 64. 15 | Ebd., S. 64f. 16 | So attestiert z.B. Jan Lazardzig dem Illusionsbegriff eine Virulenz hinsichtlich »der immersiven und emotionalen Qualität der Aufführung« (vgl. Ders., »Illusion«, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Matthias Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/Weimar 2005, S. 140-142, hier S. 140). Selbst bei Fischer-Lichte finden sich in jüngerer Zeit affirmative Bezüge auf den Begriff der Illusion (vgl. Dies., Performativität. Eine Einführung, Bielefeld 2012, S. 127f.), die allerdings in erster Linie darauf zielen, den Illusionsbegriff – anhand eines nicht unproblematischen Kurzschlusses mit dem Begriff der Immersion – unter den Begriff des Performativen zu subsumieren, um dessen Geltungsbereich auszuweiten. 17 | Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, S. 82.
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wie die hegemonialen theaterwissenschaftlichen Diskurse die Gründungsgeste ihres Faches wiederholen. Problematisch ist daran zum einen, dass der Wille zur Wahrheit, der dieser Wiederholung zugrunde liegt, in der Tat so beschaffen ist, dass die von ihm gewollte Wahrheit nicht anders kann, als ihn zu verschleiern. Denn wird im Zusammenhang der Konzeption des Performativen die Geschichte des Theaters im 20. Jahrhundert und bis heute als diejenige einer sukzessiven Besinnung auf dessen vermeintliche Spezifik erzählt, so ist diese Spezifik eben deshalb als vermeintliche zu bezeichnen, weil es sich bei ihr – und genau das verschleiert diese gewollte Wahrheit – um nichts anderes als um eine diskursive Hervorbringung handelt. Ihre Möglichkeitsbedingungen findet diese Hervorbringung in einem epistemologischen Feld, das nun als anti-illusionistische Episteme bezeichnet werden kann. Diese kommt in der Tat mit den avantgardistischen Forderungen nach einer Retheatralisierung des Theaters seit Beginn des 20. Jahrhunderts auf (wobei sich ihre Wurzeln allerdings bis zu Platon zurückverfolgen lassen), sie bildet sich in der Illusionskritik Bertolt Brechts weiter aus und spitzt sich insbesondere im Kontext der sogenannten Neo-Avantgarden zu. Und die theaterwissenschaftlichen Diskurse, die sich auf Grundlage dieser Episteme artikulieren, bauen sie selbstverständlich auch weiter aus. Doch bringt diese Episteme eben keineswegs eine zuvor verborgene oder übersehene Spezifik des Theaters ans Licht. Vielmehr bildet sie die diskursive Grundlage, auf der sich ein spezifisches Wissen von Theater schaffen und die Gegenstandsebene einer Disziplin bestimmen lässt – sowie entsprechende »Regeln einer diskursiven ›Polizei‹«18. Aus dem Blick gerät dabei, in dem Maße, in dem jene vermeintliche Spezifik des Theaters als dessen ›Wahrheit‹ ausgegeben wird, gerade der Wille zu dieser Wahrheit. Problematisch ist darüber hinaus zum anderen, dass diese Bestimmung einer Gegenstandsebene der Disziplin ›Theaterwissenschaft‹ jenes »Prinzip der Einschränkung«, das Foucault als Merkmal dessen beschreibt, »was man die ›Disziplinen‹ nennt«19, auf besondere Weise forciert. D.h. eine im Sinne der Konzeption des Performativen und auf Grundlage der anti-illusionistischen Episteme bestimmte Gegenstandsebene der Theaterwissenschaft schränkt deren Blick insofern ein, als sie, wie gesagt, die Beschäftigung mit Aspekten der Illusion aus ihrem »theoretischen Horizont« bzw. aus dem nach ihrer Maßgabe »Wahren«20, wie Foucault mit Georges Canguilhem sagt, auszuschließen versucht. Dies ist schon an sich problematisch. Erst recht ist es dies angesichts der Tatsache, dass Aspekte der Illusion gerade im zeitgenössischen Theater wieder vermehrt zu beobachten sind.21 18 | Foucault, Die Ordnung des Diskurses, S. 25. 19 | Ebd., S. 22. 20 | Ebd., S. 23f. 21 | Ausführlicher, als es im Rahmen des vorliegenden Textes möglich ist, habe ich diese Beobachtung andernorts beschrieben. Sie stellte so z.B. den Anlass der 2012 veranstalte-
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Allerdings ist eine Disziplin Foucault zufolge nie allein von ihrer Gründungsgeste oder deren Wiederholung determiniert. Zwar ist in ihr »ein Prinzip der Einschränkung zu erkennen«, doch ist dieses auch »relativ und beweglich«22 . Sie »konstituiert ein anonymes System, das jedem zur Verfügung steht, der sich seiner bedienen will oder kann, ohne daß sein Sinn oder sein Wert von seinem Erfinder abhängen«23. Zudem wird in ihr »nicht ein Sinn vorausgesetzt, der wiederentdeckt werden muß, und auch keine Identität, die zu wiederholen ist; sondern das, was für die Konstruktion neuer Aussagen erforderlich ist«24. Auf die Theaterwissenschaft angewandt heißt das, dass man auch dann ›im Wahren‹ sein kann, wenn man die Gründungsgeste des Fachs nicht wiederholt bzw. nicht mit der vorherrschenden Art und Weise ihrer Wiederholung konform geht. Und im Hinblick auf den Begriff der Illusion bedeutet es, dass die Disziplin auch die Konstruktion neuer Aussagen über diesen Begriff bzw. über das Theater anhand dieses Begriffs ermöglicht. Solche Aussagen, wenn auch nicht viele, gibt es bereits – Aussagen also, an die sich hier anschließen lässt. Sie finden sich z.B. in Hans-Thies Lehmanns Überlegungen zum postdramatischen Theater, was insofern verwundern mag, als diese häufig gerade im Sinne der anti-illusionistischen Episteme rezipiert werden. Tatsächlich trägt ein Abschnitt in Postdramatisches Theater den Titel »Jenseits der Illusion«25. Doch geht es dort keineswegs darum, das postdramatische Theater jenseits der Illusion im Allgemeinen zu verorten. Vielmehr sieht Lehmann es lediglich jenseits eines Aspekts der Illusion, welchen er als denjenigen der »Konkretisation einer fiktiven Welt«26 benennt. Daneben gibt es ihm zufolge aber noch mindestens zwei weitere Aspekte der Illusion, die auch im postdramatischen Theater eine Rolle spielen: den ›Aspekt der Magie‹, das »Staunen über die möglichen Realitäts-Effekte«, und den ›Aspekt des Eros‹, die »Identifizierung mit der
ten Tagung TO DO AS IF – Realitäten der Illusion im zeitgenössischen Theater dar (vgl. www. inst.uni-giessen.de/theater/de/forschung/symposien/to_do_as_if vom 13.03.2016). Beschreibungen konkreter Beispiele finden sich u.a. in André Eiermann, »Illusion, zwischen(/) durch Täuschung. Aspekte des Scheins in Erfahrungsräumen des zeitgenössischen Theaters«, in: Jörn Schafaff/Benjamin Wihstutz (Hg.), Sowohl als auch dazwischen. Erfahrungsräume der Kunst, Paderborn 2015, S. 165-182; André Eiermann, »Dieser Vortrag ist nicht echt – oder: Wirklichkeiten der (Ent-)Täuschung in der zeitgenössischen Kunst«, in: Tobias Brenk/Boris Nikitin/Carena Schlewitt (Hg.), Dokument, Fälschung, Wirklichkeit. Materialband zum zeitgenössischen Dokumentarischen Theater, Berlin 2014, S. 112-125. 22 | Foucault, Die Ordnung des Diskurses, S. 22. 23 | Ebd. 24 | Ebd. 25 | Hans-Thies Lehman, Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M. 2005 (1999), S. 185-193. 26 | Ebd., S. 191.
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sinnlichen Intensität der realen Schauspieler und Theaterszenen, tänzerischen Bewegungsfolgen und verbalen Suggestionen«27. Entsprechend stellt er fest: [A]uch das verfremdetste Theater vermag Staunen und sinnliche Identifizierung hervorzurufen. Auch ohne Realitäts-Täuschung gibt es jene Empfindung, die immer schon mitgemeint war, wenn man von Illusion sprach. Die Opposition Illusion-Desillusion ist kein analytisches Instrument, sie gleitet an der komplexeren Realität der Theatervorgänge ab. 28
Vor diesem Hintergrund eröffnen sich nun ganz andere Möglichkeiten, über zeitgenössische Praktiken der szenischen Kunst zu sprechen, als es auf Grundlage der anti-illusionistischen Episteme der Fall ist. Vor allem lässt sich vor diesem Hintergrund anders darüber sprechen, wie Aufführungen, die von der Darstellung fiktiver Realitäten hinter einer ›vierten Wand‹ absehen, ihre eigenen Realitäten verhandeln. Das heißt, der Diskurs, der sich hier anschließen lässt, kann von einer Auseinandersetzung mit der Aufführungsrealität handeln, ohne Aspekte der Illusion auszuschließen. Er kann davon sprechen, dass diese Auseinandersetzung eben durchaus auch anhand eines Spiels mit solchen Aspekten stattfinden kann. Wenn vorproduzierte Video-Aufzeichnungen als Live-Wiedergaben ausgegeben werden (wie in Eraritjaritjaka von Heiner Goebbels) oder PerformerInnen ihre Lippen zu Playback-Stimmen bewegen (wie in While We Were Holding It Together von Ivana Müller oder in Inszenierungen Susanne Kennedys), wenn Körperteile sich zu verselbständigen scheinen (wie in Choreographien Xavier Le Roys oder Mette Ingvartsens) oder sich vermeintlich eindeutig identifizierbare Gegenstände als täuschend echte Nachbildungen herausstellen (wie in Arbeiten Boris Nikitins), dann kann in der Tat davon die Rede sein, dass Aspekte der Illusion auch in einem Theater ohne vierte Wand eine Rolle spielen. Nikolaus Müller-Schöll hat darauf bereits 2007 hingewiesen und in kritischer Entgegnung auf die damalige Rede vom Realitäts-Trend im Gegenwartstheater betont, dass gerade das »angebliche ›Wirklichkeitstheater‹ […] die unauflösbare Ambivalenz des Glaubens an die Illusion wiederentdeckt hat.«29 Allerdings ist hier zu präzisieren, dass die Wiederentdeckung der Illusion genaugenommen auf Seiten des theoretischen Diskurses stattfindet. Auf Seiten der Theaterpraxis ist, wie auch Lehmanns Überlegungen implizieren, das Spiel mit ihr nie vollständig verschwunden. Weitgehend verschwunden ist vielmehr die Rede von diesem Spiel im theoretischen Diskurs – und zwar aufgrund des vorherrschenden Bezugs auf die anti-illusionistische Episteme bzw. aufgrund der hegemonialen Wirkung der 27 | Ebd. [Herv. i.O.]. 28 | Ebd., S. 191f. 29 | Nikolaus Müller-Schöll, »(Un-)Gauben. Das Spiel mit der Illusion«, in: Henri Schoenmakers et al. (Hg.), Theater und Medien – Theatre and the Media. Grundlagen – Analysen – Perspektiven. Eine Bestandsaufnahme, Bielefeld 2008, S. 445-456, hier S. 445; zuerst erschienen in Forum Modernes Theater 22, 2 (2007), S. 141-151.
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entsprechenden Diskurse. Was die Wiederentdeckung der Illusion angeht, verhalten sich theoretischer Diskurs und Theaterpraxis also so zueinander, dass es ersterer ist, der den Begriff der Illusion als geeignetes Instrument der Beschreibung bestimmter szenischer Praktiken wiederentdeckt. Die zu beobachtende Zunahme solcher Praktiken stellt zwar den Anlass dieser Wiederentdeckung dar. Aber die Theaterpraxis selbst, jedenfalls diejenige, auf die sich Müller-Schölls Argument 2007 bezog, kümmerte sich zunächst relativ wenig um eine entsprechende begriffliche Einordnung. Erst seit kurzem machen auch Künstlerinnen und Künstler wieder vermehrt vom Begriff der Illusion Gebrauch, wenn es um die Beschreibung ihrer szenischen Praktiken geht. Allerdings ändert dies nichts daran, dass diese szenischen Praktiken als solche von den diskursiven Praktiken ihrer Beschreibung zu unterscheiden sind. Hier bietet es sich nun an, über den Begriff der Episteme hinaus einen weiteren Begriff Foucaults ins Spiel zu bringen, und zwar den des Dispositivs, wie er ihn im ersten Band von Histoire de la sexualité vorschlägt.30 Denn während der Begriff der Episteme rein diskursiv gedacht ist, geht es Foucault mit dem Dispositivbegriff darum zu zeigen, dass das, was er mit ihm benennt, ein »sehr viel allgemeinerer Fall der Episteme ist. Oder eher, daß die Episteme, im Unterschied zum Dispositiv im allgemeinen, das seinerseits diskursiv und nichtdiskursiv ist, und dessen Elemente sehr viel heterogener sind, ein spezifisch diskursives Dispositiv ist.«31 Anders als die Episteme besteht das Dispositiv also aus sowohl diskursiven als auch nichtdiskursiven Elementen. Es ist ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philantropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt. 32
Der Dispositivbegriff ermöglicht also, nicht allein diskursive Formationen in den Blick zu nehmen, sondern auch Verknüpfungen zwischen diskursiven und nichtdiskursiven Elementen – wie z.B. zwischen einer szenischen Praxis als nichtdiskursivem Element und ihrer Beschreibung als diskursivem Element. Dass er dies ermöglicht, eröffnet noch ein weiteres Potential. Denn werden durch ihn Verknüpfungen diskursiver und nichtdiskursiver Praktiken beschreibbar, so bietet er sich auch auf besondere Weise als Basis einer alternativen Kon-
30 | Vgl. Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit, Erster Band: Der Wille zum Wissen, Frankfurt a.M. 1983 (1976). 31 | Michel Foucault, Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, S. 123. 32 | Ebd., S. 119f.
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zeption des Aufführungsbegriffs an.33 Auf Grundlage des Dispositivbegriffs lässt sich nämlich zeigen, dass es sich bei jener Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern, welche im Rahmen einer um den Begriff des Performativen kreisenden Theoriebildung als Wesensmerkmal der Aufführung behauptet wird, eben nicht um ein solches Wesensmerkmal handelt, sondern stattdessen um eines unter vielen nichtdiskursiven Elementen, das nur aufgrund seiner Verbindung mit bestimmten diskursiven Elementen als vermeintliches Wesensmerkmal der Aufführung erscheint bzw. diskursiv als solches hervorgebracht wird. Hinsichtlich künstlerischer Arbeiten, die dies reflektieren – indem sie beispielsweise die Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern als Wesensmerkmal der Aufführung infrage stellen –, lässt sich somit von einer Arbeit am Dispositiv34 sprechen, die sich dessen prinzipielle Dynamik zunutze macht, welche Foucault folgendermaßen beschreibt: Zuerst gibt es immer die Prävalenz einer strategischen Zielsetzung. In der Folge konstituiert sich das Dispositiv dann eigentlich als solches und bleibt in dem Maße Dispositiv, in dem es der Ort eines doppelten Prozesses ist: Prozeß einerseits einer funktionellen Überdeterminierung, sofern nämlich jede positive oder negative, gewollte oder ungewollte Wirkung in Einklang oder Widerspruch mit den anderen treten muß und eine Wiederaufnahme, eine Readjustierung der heterogenen Elemente, die hier und da auftauchen, verlangt. Prozeß einer ständigen strategischen Wiederauffüllung andererseits. 35
Mit Blick auf die Gründungsgeste der Theaterwissenschaft könnte man also von der strategischen Zielsetzung der Etablierung einer eigenständigen Disziplin sprechen, in deren Folge sich das Dispositiv der Aufführung konstituiert, das in diskursiver Hinsicht maßgeblich von der anti-illusionistischen Episteme getragen wird. Und was die Wiederholungen dieser Gründungsgeste betrifft, so kann deren strategische Zielsetzung in dem Versuch gesehen werden, die Theaterwissenschaft in Konkurrenz mit anderen Kulturwissenschaften möglichst gut zu platzieren. Da aber auch das Dispositiv der Aufführung Ort jenes doppelten Prozesses von funktioneller Überdeterminierung und strategischer Wiederauffüllung bleibt, können in ihm eben nicht nur solche Elemente auftauchen, die im Einklang mit den anderen stehen, sondern auch solche, die zu diesen in Widerspruch treten. Findet eine Aufführung also ohne eine Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschau33 | Vgl. hierzu ausführlicher André Eiermann, Postspektakuläres Theater. Die Alterität der Aufführung und die Entgrenzung der Künste, Bielefeld 2009, insb. S. 368-392.; Ders., »Other Performances – and the Otherness of Performance«, in: Margarita Production (Hg.): MICRO, CONTACT, STRINGS & THINGS (Margarita Production 2003-2013), Gent 2013, S. 32-38. 34 | Vgl. Eiermann, Postspektakuläres Theater, S. 368-372. 35 | Foucault, Dispositive der Macht, S. 121 [Herv. i.O.].
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ern statt – was durchaus vorkommt, etwa in Stifters Dinge von Heiner Goebbels –, dann taucht ein heterogenes Element im Dispositiv der Aufführung auf, d.h. das nichtdiskursive Element einer bestimmten szenischen Praxis, dessen Wirkung nicht in Einklang, sondern in Widerspruch mit den Wirkungen der herkömmlichen Elemente dieses Dispositivs tritt und so eine Readjustierung verlangt, also die Wiederauffüllung des Dispositivs in Form seiner Aufnahme in dieses bzw. seiner Verknüpfung mit anderen Elementen – und insbesondere mit diskursiven Elementen, die, wie es der vorliegende Text gerade getan hat, davon reden, dass Aufführungen auch ohne eine Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern stattfinden können. Und genau dies ist auch der Fall, wenn im Dispositiv der Aufführung solche szenischen Praktiken auftauchen, die den theoretischen Diskurs dazu veranlassen, sie mit der Rede von Aspekten der Illusion zu verbinden. Doch jene szenischen Praktiken, um welche es hier geht, geben nicht nur Anlass dazu, die Rede von der Illusion wieder aufzugreifen. Sie fordern darüber hinaus auch dazu auf, im Zuge der Wiederentdeckung des Diskurses von der Illusion auch das wieder in diesen einzubeziehen, was er selbst ausschließt. So ist zwar Gertrud Koch und Christiane Voss zuzustimmen, wenn sie dafür plädieren, den Illusionsbegriff »für heutige Reflexionen des Ästhetischen erneut fruchtbar zu machen« und sich dabei – statt auf ein Verständnis der Illusion im Sinne von Täuschung – auf »den heute weitgehend abgedrängten Traditionsstrang der produktiven Ausdeutung der Illusion, wie sie von poetologischer und theatertheoretischer Seite in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bis ins späte 19. Jahrhundert hinein vorgenommen wurde«36, zu beziehen. Allerdings wird hieraus auch schon deutlich, dass der so befürwortete Illusionsbegriff im Bereich des Ästhetischen und im Register der Opposition von Täuschung und Illusion gewissermaßen wiederholt, was Foucault zufolge Descartes tut, wenn er Wahnsinn und Illusion voneinander trennt.37 Das heißt, jene Koch und Voss zufolge »produktive Ausdeutung« der Illusion, wie sie insbesondere im Zuge der Aufklärung vorgenommen wurde, besteht gerade darin, die Täuschung aus dem Bereich des Ästhetischen auszuschließen (wie Descartes den Wahnsinn aus dem vernünftigen Denken ausschließt), und also nur solche Erfahrungen als ästhetische zuzulassen, die die Scheinhaftigkeit des Dargestellten von vornherein durchschauen. Täuschungen hingegen, auch und gerade nachträglich durchschauten, wird jegliche ästhetische Qualität abgesprochen – man denke z.B. an Gotthold Ephraim Lessings Einspruch gegen Moses Mendelssohns frühe Überlegungen zur ästhetischen Illusion oder an Immanuel Kants Unterscheidung von spielendem und täuschendem Schein.38 36 | Gertrud Koch/Christiane Voss, »… kraft der Illusion«, in: Dies. (Hg.), … kraft der Illusion, München 2006, S. 7-13, hier S. 8. 37 | Vgl. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, S. 68-71. 38 | Vgl. Moses Mendelssohn, »Von der Herrschaft über die Neigungen« und Gotthold Ephraim Lessing, »Brief vom 2. Februar 1757«, in: Jochen Schulte-Sasse (Hg.), Briefwechsel
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Zeitgenössische Aufführungspraktiken bringen nun aber nicht nur solche Aspekte wieder ins Spiel, die dem ›produktiv ausgedeuteten‹ Illusionsbegriff entsprechen – womit nun nicht mehr nur von Aspekten der Illusion zu sprechen ist, sondern besser von solchen des Scheins. Vielmehr spielen sie oft auch und gerade mit Täuschungen und deren erst nachträglicher Auflösung. Und nicht selten findet dabei ein komplexes Zusammenspiel beider Aspekte statt, d.h. gehen Illusionen gerade aus der Auflösung von Täuschungen hervor oder kommen umgekehrt Täuschungen aufgrund von Illusionen zustande.39 Die Arbeit am Dispositiv, die das Spiel mit Aspekten des Scheins also leistet, besteht darin, den theoretischen Diskurs nicht nur zur Wiederentdeckung des Begriffs der ästhetischen Illusion herauszufordern. Sie besteht auch darin, ihn zur Rede darüber zu veranlassen, dass auch sich nachträglich auflösende Täuschungen durchaus Anteil an ästhetischer Erfahrung haben können. Als Beispiel hierfür kann abschließend passenderweise die parallel zu dem hier dokumentierten Kongress ausgeklungene Ruhrtriennale 2012-2014 angeführt werden. So war im Rahmen dieser Triennale zum Beispiel 2013 eine Produktion zu sehen, die auf mehreren Ebenen und im wahrsten Sinne des Wortes ›Raum‹ für eine Wiederentdeckung der Rede von der Illusion – und auch der Täuschung – gab: Situation Rooms von Rimini Protokoll.40 Weitere Aspekte der Illusion und der Täuschung tauchten im dritten Jahr auf, so z.B. in Gregor Schneiders Kunstmuseum oder Boris Nikitins Regiearbeit Sänger ohne Schatten. In Bezug auf letztere war sogar explizit von Illusion die Rede, d.h. der Illusionsbegriff war eines jener diskursiven Elemente, mit denen die Arbeit angekündigt wurde – als ein »Abend oszillierend zwischen Performance und großer Illusion«41. Wenn man diesen Abend erlebt hat, weiß man, dass jene Illusion tatsächlich ziemlich groß war. Man weiß auch, dass sie genaugenommen eine Täuschung war. Denn wie sich schließlich herausstellte war das, was zunächst der Aufführungsraum zu sein schien, die in die Gladbecker Maschinenhalle gebaute Black Box, tatsächlich ein großes Bühnenbild. Und dies stellte sich deshalb heraus, weil dieses Bühnenbild nach geraumer Zeit komplett, d.h. mit allen vier Wänden und der Decke, in die Höhe gezogen wurde und so den Blick in die umgebende Halle freigab. Die ästhetische Erfahrung, die man hier machte, war also entscheidend über das Trauerspiel. Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn, Friedrich Nicolai, München 1972, S. 94-104; Immanuel Kant, »Opponentenrede«, hg. v. Bernhard A. Schmidt unter dem Titel »Eine bisher unbekannte lateinische Rede Kants über Sinnestäuschung und poetische Fiktion«, in: Kant-Studien XVI (1911), S. 5-21. 39 | Vgl. hierzu ausführlich Eiermann, »Illusion, zwischen(/)durch Täuschung«; Ders., »Dieser Vortrag ist nicht echt«. 40 | Vgl. ebd. 41 | Programmtext zu Sänger ohne Schatten, in: Kultur Ruhr GmbH (Hg.), ruhr/triennale triennale triennale. International Festival of the Arts. 15. August bis 28. September 2014, Gelsenkirchen 2014, S. 34.
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von einer sich auflösenden Täuschung geprägt. Was Heiner Goebbels zu Beginn seiner Intendanz als »Ästhetik auf drei Jahre«42 angekündigt hatte, kann somit auch als dreijährige Arbeit am Dispositiv der Aufführung beschrieben werden – jedenfalls insofern, als sie in der Tat verschiedene Anlässe dazu bot, andere diskursive Elemente als diejenigen einer anti-illusionistischen Episteme mit den nichtdiskursiven Elementen des Dispositivs der Aufführung zu verknüpfen und sowohl den Begriff der Illusion als auch den der Täuschung wieder für die Beschreibung zeitgenössischer szenischer Kunst und der von ihr ermöglichten ästhetischen Erfahrungen produktiv zu machen.
42 | Heiner Goebbels, »Editorial«, in: Kultur Ruhr GmbH (Hg.), ruhr/triennale triennale triennale. International Festival of the Arts. 17. August bis 30. September 2012, Gelsenkirchen 2012, S. 7-11, hier S. 7.
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Wer spricht? und weitere Fragen zum Dispositiv Theater Eine (Nicht-)Aufführung als Erkenntnishindernis Da sich alle Spielformen der darstellenden Kunst, auch solche, in denen sich keine Stimme erhebt, in der Form einer ›Ansprache‹1 äußern, erscheint die Frage wer spricht? als ein geeigneter Ausgangspunkt, um eine Epistemologie des Theaters und mit ihr verbundene Analysemöglichkeiten zu skizzieren. Die Frage wer spricht? stellte sich in aller Deutlichkeit im Herbst 2006 in einer Pressekonferenz der Deutschen Oper Berlin, bei der die Intendantin Kirsten Harms die Nicht-Aufführung einer Inszenierung von Mozarts Idomeneo bekannt gab, die bereits im Frühjahr 2003 Premiere hatte und in Folge ohne besondere Vorkommnisse gespielt wurde. Ihre Entscheidung begründete sie mit dem Verweis auf ein »Sicherheitsrisiko von erheblichem Ausmaß«2, das von dieser Inszenierung ausginge. Harms verwies auf eine Forderung, die ihr vom damaligen Berliner Innensenator übermittelt wurde, entweder »die Szene der Idomeneo-Inszenierung ändern, in der Mohammed gezeigt und geköpft wird, oder die Aufführung absetzen.«3 Für die weniger kundigen Journalisten und Leser von Nachrichten stellte sich so der Eindruck her, in einer Szene von Idomeneo würde tatsächlich Mohammed auf der Bühne gezeigt, ja sogar geköpft. Diese (Des-)Information war von gesteigerter Brisanz, da gut ein Jahr zuvor die dänische Zeitung Jyllands-Posten eine Serie von Karikaturen zu Mohammed veröffentlicht hatte, was im arabischen Raum zu gewalttätigen Protesten und Ausschreitungen führte, in deren Verlauf auch Morddrohungen gegen den Karikaturisten ausgesprochen wurden. Auf der Pressekonferenz tat sich aus den Worten der Intendantin vor allem ein Bedrohungsszenario 1 | »Theater hat die Tatsache, daß wir sprechen zum Gegenstand.« Helga Finter, »Nach dem Diskurs«, in: Dies., Die soufflierte Rede. Text, Theater, Medien. Aufsätze 1979-2012, Frankfurt a.M. 2014, S. 559-573, hier S. 565. 2 | Vgl. Peter Uehling, »Mohammed und die Freiheit der Kunst«, in: Berliner Zeitung vom 27.09.2006. 3 | Ebd.
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kund, nach welchem abendländische Kultur und Kunstwerke islamistischen Anfeindungen ausgesetzt seien und im Falle ihrer Rezeption mit der Bedrohung von Leib und Leben zu rechnen sei. Daraus leitete sie die Verpflichtung zur Absage der Aufführung ab. Dieses Szenario sprach umgekehrt der Oper aus dem 18. Jahrhundert eine tagespolitische Brisanz zu, die diese zu ihrer Entstehungszeit und auch danach nicht gehabt hat. Was war es, das sie so sprechen ließ? Dieses Ereignis wirft unmittelbar die Frage nach der Strategie und Wirkung, also nach dem Kalkül einer Aufführung auf. Was (ver)spricht Mozarts Idomeneo? Wer spricht? Und nicht zuletzt: Darf diese Äußerung überhaupt der Aufführung zugerechnet werden?
Von der Ordnung zum Dispositiv Die Uraufführung von Mozarts Idomeneo im Jahre 1781 fällt ziemlich genau mit dem Beginn jener humanwissenschaftlichen Epoche zusammen, die auch in Michel Foucaults Überlegungen zur Epistemologie den Hintergrund bilden. Diese etabliert die Idee, dass Wissen nichts anders heißt, als Dinge zu ordnen.4 Objekte, Körper, aber auch Diskurse, Bewegungen und Affekte, Materielles und Immaterielles – Foucault spricht von einem »multiplen Gewimmel«5 – müssen in einer Ordnung zusammengefasst werden, weil sich nur aus dieser Wissen ergibt. Dieser Ansatz zeitigt allerdings markante Probleme, denn die so unterschiedlichen Dinge bleiben inkommensurabel. Entsprechend müssen sich auch deren Klassifikation und das gewonnene Wissen als variabel und als fehlerhaft erweisen. Bei jeder Ordnung fallen die Heterogenität und Unvereinbarkeit ihrer Elemente auf, da die Dinge nur durch »die immaterielle Stimme, die ihre Aufzählung vollzieht«6, aneinander gebunden sind. Jede Ordnung generiert somit vor allem ein paradoxes Wissen, das sich auf Brüche und utopische Setzungen, auf Dysfunktion und Fiktion gründet. Diese inkongruente und mangelhafte Methode zur Wissensgenese bleibt alternativlos, da es zweifelsohne besser ist, mit einer fehlerhaften Ordnung denn in einem gesetzlosen Raum zu leben.7 Wir müssen also zwangsläufig ordnen, sofern wir wissende Subjekte werden wollen. Foucault präzisiert die Modalitäten des Ordnens und verweist hierbei auf die zentrale Instanz der Sprache: geordnet werden können die Dinge nur im ortlosen Raum der Sprache. Diese eröffnet wiederum einzig einen unabwägbaren Raum.8 Auch das Gefäß, das die Ordnung fasst, hat seine Tücken. Es fällt ebenso wenig den Dingen zu, wie es sich aus deren spezifischen Eigenschaften ableiten lässt, sondern gehört einer anderen Ordnung an. Wissen ist also immer verscho4 | Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaft, Frankfurt a.M. 1971 [1966], S. 17. 5 | Ebd., S. 367. 6 | Ebd., S. 19. 7 | Ebd., S. 19f. 8 | Vgl. ebd.
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ben und unterliegt einer Prämisse, die als Instanz von Ordnung firmiert: der Sprache. Die Sichtbarmachung dieser (subjektiven) Prämisse durch die Zeitläufe hindurch ist das zentrale Anliegen von Foucaults epistemologischer Arbeit, die sich auf die beiden leitenden Fragen deduzieren lässt: Worin wird diese verborgene Instanz kund? Wer spricht (aus ihr)? Wissen hat also zwei Grenzen: einerseits gibt es die verdeckte Ordnung der Ordnung und somit das, was Giorgio Agamben etwas später in seiner Auseinandersetzung mit Foucault als Strategie bezeichnen wird.9 Andererseits ist es das menschliche Subjekt, das sich stets als über- oder unterdeterminiert gegenüber den anderen Elementen der Ordnung erweist, da es gleichsam Subjekt und Objekt der Ordnung ist. Von ihm gehen die Strategie und das Wissen aus, zugleich wird es zum Ziel verschiedener Strategien und kann folglich nur bedingt durchschauen, wer letztlich die Instanz der Ordnung ist, wer spricht. Inwiefern lässt sich Foucaults epistemé auf das Theater übertragen? Konstituiert sich nicht auch die Aufführung aus einer heterogenen und inkommensurablen Vielfalt von Elementen? Erweist sich nicht jede Aufführung als eine spezifische Ordnung von Dingen?10 Ergeht nicht aus deren Konstellation eine speziell zu reflektierende ästhetische Erfahrung, die durchaus in Wissen mündet? Aber für das Theater gilt auch: »Viele Dinge sind in einem Ding.«11 Die Dinge des Theaters werden nicht erst durch ihre Anordnung inkommensurabel – sie sind es von vornherein und verlangen aufgrund ihres volatilen Charakters ihre Ordnung stets aufs Neue. Im Fortgang seiner epistemologischen Studien entwickelt Foucault in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre das Dispositiv als Modell, das seine Auffassung vom Wissen als einer Ordnung maßgeblich erweitert. Auch das Dispositiv wird als ein »entschieden heterogenes Ensemble«12 gefasst, das diskursive und nichtdiskursive Phänomene, »Gesagtes ebenso wohl wie Ungesagtes«13 beinhaltet. Was nun den Dispositiv-Begriff vom Konzept der epistemé unterscheidet, besteht wesentlich in einer Verschiebung der Aufmerksamkeit von der Heterogenität und Inkommensurabilität der Elemente auf ihre Ausrichtung und Anordnung. Der Begriff Dispositiv soll primär die Verbindung zwischen diesen Elementen deutlich machen und Wissen als eine vernetzende Dynamik fassen, die sich zu einer bestimmten Zeit ausbildet, um ein Problem in gesellschaftlichen und kulturellen Ordnungen zu lösen. Foucault beschreibt das Dispositiv als eine »Formation, deren Hauptfunktion zu einem historischen Zeitpunkt darin bestanden hat, auf 9 | Giorgio Agamben, Was ist ein Dispositiv?, Berlin/Zürich 2008, S. 9. 10 | Vgl. Denis Hänzi, Die Ordnung des Theaters. Eine Soziologie der Regie, Bielefeld 2014. 11 | Bertolt Brecht, »Die Horatier und die Kuriatier.«, in: Ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. v. Werner Hecht et al., Bd. 4, Frankfurt a.M./Berlin 1988, S. 279-303, hier S. 291. 12 | Michel Foucault, Dispositive der Macht. Michel Foucault über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, S. 119. 13 | Ebd., S. 120.
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einen Notstand zu antworten«.14 Es antwortet also als dynamische Konstellation auf die Dysfunktionalität eines Systems, manipuliert Dinge und deren Verhältnis untereinander zu einem bestimmten Zweck. Dispositiven kommt somit ein strategischer Charakter zu, in ihnen wird vornehmlich das sichtbar, was die Ordnung der Dinge regiert. Foucault spricht interessanterweise von einer »funktionellen Überdeterminierung«15 des Dispositivs, das sich ständig rejustieren muss. Elemente, die ins Dispositiv eingehen, um als bestimmte hervorgebracht zu werden, werden nie ausschließlich durch ihre Verwendung im Dispositiv definiert, sonst wären sie verbraucht, verschwänden mit Ende des Problems, auf welches das Dispositiv eine Antwort darstellt. Vielmehr vektorisiert das Dispositiv seine Elemente auf ein Ziel, eine Bestimmung hin. Überträgt man nun das Modell des Dispositivs auf die darstellende Kunst, so erweist sich der das Theater üblicherweise kennzeichnende volatile Charakter seiner Elemente nicht mehr als Nachteil. Die spezifische Eigenheit der theatralen Ordnung wird zur entscheidenden Qualität im Dispositiv Theater, ist doch jedem Dispositiv eine Kontingenz inhärent, die aus der Über- und Unterdeterminiertheit seiner Elemente resultiert und das Dispositiv selbst instabil macht. Theater als ästhetisches Dispositiv spielt nachgerade mit dieser Über- oder Unterdeterminiertheit. Sowohl dem Dispositiv als auch seinen machtstrategischen Implikationen ist damit die Frage nach jener Dynamik eingeschrieben, die es regiert, respektive nach jener Funktionsstelle, an der das Subjekt positioniert wird und die von verschiedenen Individuen eingenommen werden kann. Demnach verlangt der Ansatz, Theater als Dispositiv zu denken, nach der Art und Weise der Ordnung zu fragen, welche die darstellende Kunst vornimmt, sowie nach der Wahrnehmung und Erfahrung, die daraus ergeht. Ebenso muss der gemeinsame Raum definiert werden, in dem sich diese Ordnung manifestieren kann. Darüber hinaus stellt sich die Frage nach dem ästhetischen Kalkül, welche(s) das Dispositiv der Aufführung regiert, und inwiefern diese(s) mit den Strategien anderer (gesellschaftlicher) Dispositive koaliert oder konfligiert. Theater als Dispositiv zu betrachten bedeutet, es in all seinen Dimensionen der institutionellen Verankerung und Arbeitsweisen, der Produktions- wie der Rezeptionsverhältnisse, der gesellschaftlichen Diskurse und ihrer materiell-technischen Praktiken zu analysieren und die Aufführung dabei als jenen raren Moment zu verstehen, an dem ein Dispositiv sinnlich erfahrbar wird. Es heißt vor allem auch, das Theater in strategischer Beziehung zu einem gesellschaftlichen Problem zu begreifen, und zu überlegen, wie sich die Aufführung dazu verhält. Das Konzept des Dispositivs erlaubt es, gesellschaftliche Produktion von Subjekten und künstlerische Produktion von Subjekten im Theater aufeinander zu beziehen, wobei dem ästhetischen Dispositiv eine andere Funktion zukommen muss, will es nicht identisch werden mit den gesellschaftlichen 14 | Ebd. 15 | Ebd., S. 121.
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Konstellationen, die es aufgreift und wiederholt. Gesellschaftliche Dispositive wie jenes der Kontrolle oder der Performance produzieren und regulieren gesellschaftliches Verhalten. Sie üben, normieren und erzeugen Verhaltens- und Handlungsspielräume. Theater als ästhetisches Dispositiv besteht ebenfalls aus produzierenden-regulierenden Techniken wie Schauspiel- und Tanztechniken, die, historisch variabel, ein Schauspieler oder Tänzer durch Üben erlernt, um kompetent im Dispositiv zu funktionieren. Darüber hinaus wird im Dispositiv Theater die Fiktionalisierung zu einer maßgeblichen Strategie, um Kontingenzen zu ermöglichen, um die Ordnung der Dinge offen und dynamisch zu halten, während das Kalkül eines gesellschaftlichen Dispositivs vornehmlich darauf zielt, dessen Konstruktion und strategische Ausrichtung zu verdecken. Grundlage der Überlegungen ist hier die Tatsache, dass Dispositive nie geschlossene Systeme sind, weil z.B. die strategisch vektorisierten Körper und Stimmen stets mehr oder weniger sind, als was sie vom Dispositiv hervorgebracht werden. Es entstehen Sollbruchstellen und Spielräume, die Gilles Deleuze in seiner Lesart des Dispositivs, das er Diagramm nennt, als Fluchtlinien zur kreativen Öffnung und Veränderungen hervorgehoben hat.16 Gäbe es sie nicht, wäre das Dispositiv, wie Agamben betont, identisch mit purer Gewaltanwendung.17 Methodisch lässt sich auf dieser Grundlage die Forderung ableiten, bei einer analytischen Auseinandersetzung mit dem Dispositiv Theater an diesen Sollbruchstellen anzusetzen, in denen die bestehende Ordnung und die regulierende Vernetzung von Aktanten nicht mehr reibungslos funktionieren. Derartige Brüche, die als Skandal, als Fehler oder gar als Nicht-Aufführung evident werden können, machen den strategischen Einsatz eines Dispositivs gerade dort einsehbar, wo sein Funktionieren andernfalls aufgrund von Konvention und Habitualisierung verborgen bleibt.
Das ästhetische Kalkül im Dispositiv von Idomeneo Versteht man nun eine bestimmte Aufführung als Dispositiv, um daran die Dynamiken der theatralen Ordnung und ihr ästhetisches Kalkül zu analysieren, dann gilt es vorab jene Elemente zu definieren, die besonders markant darin aufscheinen. Diese Elemente ließen sich im Hinblick auf das Theater als Körper, Worte, Bilder und Klänge oder als Ereignisse, Akteure, Räume und Wahrnehmungen fassen. Wesentlich ist die Frage, wie die Aufführung das ›multiple Gewimmel‹ konstelliert und wo aufgrund von Über- bzw. Unterdetermination Dysfunktionen aufscheinen, von denen aus das Dispositiv konturiert werden kann. Die eingangs geschilderte Pressekonferenz bildet ein Moment der äußersten Dysfunktion innerhalb eines theatralen Dispositivs, das hier durch verschiedene Schichtungen der (Nicht-)Aufführung verfolgt werden soll. Als komplementäre Folie wird die
16 | Gilles Deleuze, Foucault, Frankfurt a.M. 1987, S. 119. 17 | Agamben, Dispositiv, S. 35.
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Urtext-Partitur mitsamt dem Editionsbericht18 herangezogen als ebenjenes Gefäß, das die diskursivierbaren Elemente einer Aufführung für eine künftige Realisierung speichert. Die wohl vordergründigste Ordnung ist jene der Handlung. Schon auf der Ebene der Fabel (der Ordnung der Sprache) fällt in der Partitur ein Element auf, das sich nicht restlos in ihre Logik einfügt und die Narration sprengt. Dramaturgischer Höhepunkt ist jener Moment, in dem der König von Kreta von seinem Versprechen, den eigenen Sohn zu opfern, entbunden wird. Unklar bleibt, wer oder was die entscheidenden Worte spricht. Die Partitur vermerkt einzig und alleine eine Stimme – »La Voce«– und setzt damit ein reichlich unterdeterminiertes Element ins Zentrum der Handlung. Die Auflösung des Konfliktes geschieht unvermittelt, und im Anschluss zerfällt die Handlung in mehrere mögliche Erzählstränge. Da in die Partitur zwei von Mozart verantwortete Aufführungen (München 1781, Wien 1786) eingeflossen sind, die ihrerseits Überarbeitungen des zugrunde liegenden Librettos von Giambattista Varesco sind, und die Partitur durch weiteres sekundäres Quellmaterial alternative Szenen bereithält, kann die Erzählung dieser Oper mit der Abdankung (ein Quartett) oder mit einer Rachearie oder mit einem inhaltlich nicht näher bestimmten Ballett oder aber mit einem Hymnus auf den König enden. All diese möglichen Schlüsse ergeben sich nur peripher aus vorangegangen Szenen, folgen also nicht unbedingt einer Logik der Handlung. Mit dem Einsatz von »La Voce« wird das dramaturgische Gefüge aufgetrennt. »La Voce« als unterdeterminiertes Element konterkariert auch andere Ordnungen wie jene der Körper oder der Klänge: Während Idomeneo, Idamante, Ilija und Elettra als Figuren auftreten, fehlt für »La Voce« ein Träger, was die Frage nach einer möglichen Darstellung evoziert. Die lange Passage im Libretto wurde von Mozart auf wenige Worte verkürzt und seiner körperlichen Präsenz beraubt. In einem Brief an seinen Vater weist der Komponist auf die gespenstische Präsenz hin, die er mit dieser Stimme evozieren will.19 Voraussetzung dafür ist, dass auf der Bühne tatsächlich nichts zu sehen ist, was mit der Stimme in Verbindung gebracht werden könnte. »La Voce« ist eine Stimme aus dem Nichts, die mit einer Bezeichnung als akusmatische Stimme oder als Deus ex machina nur unzureichend erfasst wäre. Ihr Ort ist die Beziehung, die sie zu den anderen Stimmen und Körpern einnimmt, was auch die Art und Weise beeinflusst, wie das Publikum diese Körper und Stimmen wahrnimmt. In der Ordnung der Klänge bildet diese Stimme eine Ausnahme; da »La Voce« der einzige Gesangspart in der gesamten 18 | Neue Mozart Ausgabe II/5/11/1-2, Idomeneo. Internationale Stiftung Mozarteum Online Publications 2006, http://dme.mozarteum.at/DME/nma/nmapub_srch.php?l=1 vom 23.03.2016; Wolfgang Amadeus Mozart, Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Kritische Berichte, Serie II Werkgruppe 5, Bd. 11, hg. v. Bruce Alan Brown u. Daniel Heartz, Kassel 2005. 19 | Vgl. Stefan Morent, »Zur Tradition der Pavane in Mozarts Idomeneo«, in: Mozart Studien 17, Tutzing 2008, S. 251-266, hier S. 251.
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Komposition ist, der nahezu ohne Begleitung verlautbart wird. Ihr Auftritt bettet sich kompositorisch in eine subtile musikalische Steigerung ein, die mit einer Arie beginnt, sich zum Duett erweitert und letztlich in einem Quartett mündet, ehe der Chor jene Opferszene einleitet, in welche unvermittelt und ohne Begleitung die Stimme einbricht. Es sind also immer mehr menschliche Stimmen zu hören, die von der singulären, nicht zuordenbaren Stimme unterbrochen werden. »La Voce« tanzt nachgerade zwischen den anwesenden Körpern und adressiert dadurch auch eben jenen Raum, in dem sich das Dispositiv Theater sinnlich erfahren lässt. Ihr Rhythmus, basierend auf einem Tanz aus dem 16. Jahrhundert, firmiert als musikalischer Trauer- und Todestopos, der auf den Übergang in eine andere Welt verweist.20 Diesen Übergang subvertiert die sprachliche Äußerung von »La Voce« indes: Ihre Worte erhalten Idomeneo das Leben, machen ihn fortan zum König von Kreta. Noch wesentlicher aber torpediert »La Voce« als akustisches Ereignis auch die Ordnung der Bilder. Die Opera Seria, die Mozart mit dieser Aufführung an ihre Grenzen bringt, lässt sich maßgeblich als eine Abfolge von akustischen und visuellen Bildern verstehen. »La Voce« führt vor Augen, dass der Höhepunkt von Idomeneo sozusagen in einem leeren Bild spielt: Die Instanz, die ihre Stimme erhebt, ist nicht auszumachen, während diejenigen, die auf der Bühne zu sehen sind, weder sprechen noch singen. Der für das Theater konstitutive Mechanismus der Ansprache steht also auf dem Spiel. Die Dysfunktion von »La Voce« scheint Kalkül zu sein. Die Stimme aus dem Nichts löscht in gewisser Weise das Tableau aus, weil sie aufgrund ihrer Unterdetermination alle anderen Elemente überragt und so jenen Rahmen betont, der diese spezifische Ordnung von Worten, Körpern, Stimmen und Bildern umfängt. »La Voce« setzt damit das Dispositiv der Aufführung selbst aufs Spiel, hält es in seiner Dynamik offen.
Die Aneignung der Rede Politik, Polizei und öffentliche Meinung im Spiel der Aufführung Welche Rolle übernimmt der Skandal rund um die Nicht-Aufführung von Idomeneo an der Deutschen Oper? Wird er zu jenem Moment, in dem sich das ästhetische Kalkül der Aufführung letztlich realisiert? Auch wenn Pressekonferenz und Aufführung nicht gleichzusetzen sind, so eignete sich die Intendantin mit der Verlautbarung der Nicht-Aufführung offenbar die strategische Macht von »La Voce« an. Doch diese Aneignung gelang nicht letztgültig und konnte die Ordnung der Rede nicht wieder instand setzen, sprachen aus ihrem Munde doch mehrere, mitunter gegensätzliche Instanzen: Vordergründig sprach sie als Hauptverantwortliche für zahlreiche Mitarbeitende und Besuchende, deren Wohl sie nicht leichtfertig aufs Spiel setzen wollte. Den Wortlaut und das eher diffuse Szenario der Bedrohung übernahm sie von der 20 | Vgl. ebd., S. 255.
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Senatsverwaltung für Inneres der Stadt Berlin, dem dazugehörigen Polizeipräsidium sowie dem Landeskriminalamt, weshalb aus ihrer Stimme partiell auch die Staatsgewalt sprach. Deren Stimme erwies sich als doppelzüngig, denn sowohl der Bürgermeister, Klaus Wowereit, als auch der damalige Bundesminister für Inneres, Dr. Wolfgang Schäuble, kritisierten diese Verlautbarung umgehend. Da die Intendantin die Diskussion über diese Nicht-Aufführung zu steuern suchte,21 sprach aus ihrem Mund auch die sogenannte öffentliche Meinung, deren mediales Rauschen Harms zu beschwichtigen suchte, indem sie, nach bereits veröffentlichter Entscheidung, eine Pressekonferenz anberaumte.22 Zu einem geringen Teil konnte man aus der Verlautbarung auch den Regisseur Hans Neuenfels heraushören, dessen Interpretation von Idomeneo in einer deutlichen Szene bezüglich Religion und Staatsmacht mündet. Neuenfels’ Stimme versprach Harms schon vor der Pressekonferenz das Scheitern dieser vermeintlich rücksichtsvollen Nicht-Aufführung.23 Nicht zuletzt – und das erscheint an diesem Skandal gerade das Dispositivische – äußerte sich in dieser Verlautbarung auch das Theater selbst, ist doch der Partitur von Idomeneo der Konflikt zwischen Staat und Religion als entscheidendes Handlungselement eingeschrieben. Die Komposition bezieht hierzu eine eigene, den Rahmen des Theaters sprengende Stellung, in dem sie die Frage wer spricht? als ästhetisches Kalkül bewusst offen lässt. Diese Frage rekurriert nicht nur auf eine mögliche Epistemologie der darstellenden Kunst, sondern erweist sich ebenso als politische Frage, die bis heute nichts an ihrer Virulenz eingebüßt hat und in deren Beantwortung sich mitunter zeigen lässt, wie das Dispositiv Theater auch in die Ordnung von Politik und Gesellschaft hineinregieren kann.
Lorenz Aggermann
21 | Vgl. das Fax von Kirsten Harms an Hans Neuenfels, 11. September 2006: »Ich stehe zur Zeit mit den zuständigen Senatsstellen in Kontakt in welcher Form wir die Herausnahme von Idomeneo aus dem November-Spielplan der Öffentlichkeit mitteilen sollen, und hoffe, daß die dortigen Überlegungen innerhalb weniger Tage zum Abschluß kommen.« Abgedruckt in: Hans Neuenfels, Das Bastardbuch. Autobiografische Stationen, München 2012, S. 425. 22 | Vgl. »Intendantin rechtfertigt sich mit Angst vor Islamisten«, in: Spiegelonline, 26. 09.2006, www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/mozart-absetzung-intendantin-rechtfertigtsich-mit-angst-vor-islamisten-a-439212.html vom 06.10.2015. 23 | Vgl. das Fax von Hans Neuenfels an die Deutsche Oper Berlin vom 11. September 2006: »Wie sie es machen weiß ich nicht, aber auf diese Weise stillschweigend einer etwaigen Drohung nachzugeben öffnet allen Spinnern und jeder Willkür Tür und Tor. Sie müssen das anders angehen. Ansonsten!« Neuenfels, Bastardbuch, S. 424.
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Zuschauer als Zuhörer Zum Dispositiv des Theaters der 1960 er Jahre Im Folgenden soll das Verfahren, eine Aufführung als Dispositiv zu verstehen und zu analysieren, erprobt werden. Gegenstand ist die Uraufführung von Peter Handkes Stück Publikumsbeschimpfung am 8. Juni 1966 im Rahmen der Experimenta 1 am Frankfurter Theater am Turm. Regie führte Claus Peymann. Während der zweiten Vorstellung, die vom Hessischen Rundfunk aufgezeichnet wurde,24 kam es zu Zwischenrufen, Störungen und sogar zu einer Erstürmung der Bühne, die durch Mitglieder des Produktionsteams sofort wieder beendet wurde. Handkes Text und Peymanns Regie machten ein Kommunikationsangebot, das auf der anderen Seite der Rampe anders aufgenommen und umgesetzt wurde. Die theatrale Kommunikationssituation wurde instabil, weil die Aufführung sich weder an den tradierten Verabredungen und Rollenzuschreibungen des bundesrepublikanischen Theaters der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg orientierte, noch an den theatral-performativen Praktiken der Avantgarde, die Handke selbst als »Straßentheater«25 bezeichnet. Zwischen Tradition und Avantgarde suchen Text und Inszenierung einen dritten Weg, der gerade in seiner Dysfunktion auf die spezifische Problemlage, so die These, des öffentlichen Sprechens in WestDeutschland Mitte der 1960er Jahre antwortet. In der Bearbeitung des theatralen Dispositivs durch Handke und Peymann und dessen Unterbrechung durch das Publikum wird die Aufführung zum Symptom einer Krise, für die sie selbst noch keine Antwort gefunden hat.
Die Institution Das Frankfurter Theater am Turm (TAT), 1953 als Landesbühne Rhein-Main gegründet, verabschiedete sich ab der Spielzeit 1965/66 unter der Intendanz von Felix Müller von seinen Bildungsaufgaben, um sich zeitgenössischen Stücken und Theaterformen zu widmen.26 1963 in das Gebäude des Frankfurter Volksbildungsheims am Eschenheimer Tor gezogen, entwickelte es sich, so Karlheinz Braun, ehedem als Lektor bei Suhrkamp für Handkes Theatertexte zuständig, zu einem »Theater der Autoren«.27 Mit dem Regisseur Claus Peyman und dem Dramaturgen Wolfgang Wiens entstanden Verbindungen zu den damaligen Stu24 | Peter Handke, Publikumsbeschimpfung. Mit einer DVD der Theateraufführung, Frankfurt a.M. 2008. 25 | Peter Handke, »Straßentheater und Theatertheater«, in: Ders., Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, Frankfurt a.M. 1972, S. 51-55. 26 | Zur Geschichte des TAT vgl. Hans-Thies Lehmann/Patrick Primavesi, »Le Theater am Turm de Francfort-sur-le-Main«, in: Didier Plassard (Hg.), Les Voies de la Création Théâtrale 24: Mises en Scène d’Allemagne(s), Paris 2013, S. 70-87. 27 | Karlheinz Braun, »Der Beat von Achtundsechzig. Geschichte und Geschichten zu Peter Handkes ersten Stücken«, in: Klaus Kastberger/Katharina Pektor (Hg.), Die Arbeit des Zuschauers. Peter Handke und das Theater, Salzburg/Wien 2012, S. 59-66, hier S. 59.
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dententheatern, die als erste Off-Theater einen »Gegenpol zum mehr oder weniger verkrusteten Stadttheater«28 darstellten. Weniger verkrustet präsentierten sich in diesem Spannungsfeld wohl die Städtischen Bühnen in Frankfurt a.M., die ebenfalls 1963 ihren Theaterneubau am heutigen Willy-Brandt Platz bezogen. Unter der Intendanz von Harry Buckwitz orientierte sich der Spielplan zwar an den Klassikern, wurde aber durch zeitgenössische Stücke ergänzt und vor allem durch Buckwitz’ Brecht-Erstaufführungen geprägt.29 TAT und Schauspiel boten demnach ein gesellschaftskritisches Theater, wobei sich das TAT zu einem Autorentheater mit eigenem Ensemble entwickelte, das sich politisch positionierte, um eine linke Öffentlichkeit zu adressieren. Ein Gefäß hierfür war das Festival Experimenta, das als Gegenentwurf zum Berliner Theatertreffen 1966 am TAT ins Leben gerufen wurde.30 Die Uraufführung von Handkes Publikumsbeschimpfung wurde nicht vom TAT produziert, das nur seine Räumlichkeiten zur Verfügung stellte, sondern von jener »Woche des experimentellen Theaters« – so der Untertitel des Festivals, das dafür 4.000 Mark zur Verfügung stellte.31 Das Stück stieß anscheinend auch im experimentellen Milieu des TAT auf Widerstände, zunächst beim Intendanten Müller, der sich noch bei der Generalprobe »von dem unseriösen Unternehmen«32 distanziert haben soll. Die Produktion wurde also ins Festival ausgelagert, wo sie neben einer Produktion des Berliner Ensembles von Brechts Messingkauf (»Nächtliche Gespräche, über eine neue Art Theater zu spielen«), einem Abend mit Stücken Samuel Becketts und einer Performance von Bazon Brock angesiedelt war.33 Peymanns Inszenierung war also selbst im Rahmen des TAT ein Experiment, das aufgrund direkter Adressierung des Publikums ohne szenische Rollenfiguren als zu provokativ empfunden wurde.34
28 | Ebd. 29 | Günther Rühle, »Der General und sein Erbe«, in: Städtische Bühnen Frankfurt a.M. GmbH (Hg.), Ein Haus für das Theater. 50 Jahre Städtische Bühnen Frankfurt a.M. 19632013, Leipzig 2013, S. 126-141, hier S. 129. 30 | Auf Initiative von Harry Buckwitz sollte das Theatertreffen als »Olympiade« eigentlich in Frankfurt ins Leben gerufen werden, das Konzept wurde jedoch von der Stadt Berlin an sich gerissen und schneller umgesetzt, vgl. Braun, »Der Beat von Achtundsechzig«, S. 62. 31 | Der Spiegel gibt im Sommer 1970 in einem Artikel über Peter Handke diese Summe an. Vgl. »Unerschrocken naiv«, in: Der Spiegel 22 (1970), S. 174-190, hier S. 180. 32 | Ebd., S. 180. 33 | »Programmheft Experimenta 1 (aufgefaltet)«, in: Kastberger/Pektor (Hg.), Arbeit des Zuschauers, S. 31. 34 | Laut Karlheinz Braun wollte zunächst kein Schauspieler die Rollen übernehmen, vgl. Braun, »Der Beat von Achtundsechzig«, S. 60.
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Der Probenprozess Da Peymann zur selben Zeit noch an einer anderen Inszenierung für das reguläre TAT-Programm arbeitete, konnte sich das Team lediglich zwei Wochen ausschließlich der Inszenierung widmen.35 Dem voraus gingen sechs Wochen, in denen die vier Schauspieler Michael Gruner, Rüdiger Vogler, Ulrich Haß und Claus-Dieter Reents den Text unter großen Schwierigkeiten erarbeiteten. Handke gibt in seinen »Regeln für die Schauspieler« die Anweisung, sich ganz unterschiedliche Verwendungen von Sprache im öffentlichen Raum anzuhören, darunter die »Litaneien in den katholischen Kirchen«, das »Inswortfallen bei Debatten« sowie den Song »Tell me« von den Rolling Stones und deren Sprechhaltungen zu übernehmen.36 Zudem wurde bei Gelegenheit auch »auf der grünen Wiese« geprobt.37 Der Verweis auf die Rockmusik, dem die Schauspieler bei ihren Proben ausgiebig folgten, ist von Bedeutung: Durch sie können sich die vier Sprecher als ein Ensemble begreifen, das sich wie eine Rockband über Rhythmus, Klang und Dynamik und Intensität organisiert und nicht, wie Schauspieler bislang, über die jeweiligen Sprechrollen. Hinzu kommt die Durchdringung der Arbeit vom Sound des Alltags, der die Proben anders im öffentlichen Raum situierte. Der Probenprozess akzentuiert mithin das Akustische vor dem Visuellen. Die Schauspieler imitieren nicht handelnde Personen, sondern bedienen sich solcher »Sprachformen, die in der Wirklichkeit mündlich geäußert werden. […] Insofern sind die Sprechstücke Theaterstücke. Sie ahmen die Gestik all der aufgezählten natürlichen Äußerungen ironisch im Theater nach.«38
Die Aufführung Peymanns Bühne zeigt die Rückseiten von Kulissen, Leitern, auf Transportwägen gestapelte Dinge, die sich vom Publikum abwenden, gerade so, als befänden wir uns backstage, nach der Vorstellung oder in einer Umbaupause. Das Publikum tritt bei Handke und Peymann folglich in der Pause ein, als Unterbrechung, die zum Kern der Aufführung gemacht wird. Denn in dieser Unterbrechung tritt die Theatersituation, die sich üblicherweise verbirgt, hervor, offenbart sich die Rückseite der Repräsentation. Handkes Text strebt eine gewisse Gleichheit von Publikum und den vier Sprechern in der Theatersituation an: Die Bühne ist leer. Während sie [die vier Sprecher, G.S.] in den Vordergrund kommen, in einem Gang, der nichts anzeigt, in einer beliebigen Kleidung, wird es wieder hell, auf der Bühne und im Zuschauerraum. Die Helligkeit hier und dort ist ungefähr gleich, von einer
35 | Ebd. 36 | Handke, Publikumsbeschimpfung, S. 9. 37 | Braun, »Der Beat von Achtundsechzig«, S. 60. 38 | Handke, Publikumsbeschimpfung, S. 95.
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Hans-Thies Lehmann spricht in Bezug auf Handkes Stücke von einer Verdoppelung des Theaters und seiner Rede40 und Franziska Schößler bezeichnet sie als »Metadramen«41. Das Theater wird sich selbst zum Inhalt, weshalb auch Botho Strauß Handke eine Art »Grundlagenforschung« am Theater attestiert, mit dem Ziel einer »ästhetischen Selbstvergewisserung«42 dessen, was Theater ausmache. Da es ohne Zuschauer kein Theater gibt, macht Publikumsbeschimpfung das Publikum zum Gegenstand theatraler Untersuchung. Doch dieses Publikum erweist sich, da es zunächst im Text entworfen wird, als überdeterminiert und kommt nicht zwangsläufig mit dem im Theaterraum anwesenden Publikum zur Deckung. Diese Verdoppelung eines Elementes im theatralen Dispositiv, als Funktionsstelle und als Realität, bewirkte die Dysfunktion: Als während der zweiten Vorstellung am 9.6.1966 nach unzähligen Zwischenrufen und Agitationsversuchen im Publikum ein Zuschauer schließlich die Bühne stürmte und sich inmitten konsternierter Schauspieler positionierte, wurde er vom Regisseur Peymann selbst wieder von der Bühne geführt. Publikumsbeschimpfung beschwört im doppelbödigen Gestus der Negation, die bestrebt ist, alles durchzustreichen, was das Publikum 1966 vom Theater erwartete, die alte Ordnung des Theaters noch einmal mit Emphase. Hier werde keine Schaulust befriedigt, keine Handlung dargeboten, keine andere Welt entworfen, keine Einfühlung verlangt, keine Ansteckung angestrebt, Licht und Kostüme sind das, was sie sind. »Diese Bretter«, so der Text, »bedeuten keine Welt. Sie gehören zur Welt«.43 Nachdem das Theater durchgestrichen wurde, wendet sich der Text der vermeintlichen Gegenwart der Zuschauer zu, indem er deren körperliche Reaktionen im Hier und Jetzt zu beeinflussen versucht: »Sie atmen ja. Sie sammeln ja Speichel«, nur um auch dies wieder durchzustreichen: »Blinzeln Sie nicht. Sammeln Sie keinen Speichel.«44 Bevor der Text das Publikum, dem einzig die Negation einer Vorstellung dargeboten wurde, entlässt, wird es beschimpft: »Ihr habt eine gute Atemtechnik bewiesen, ihr Maulhelden, ihr Hurrapatrioten, ihr jüdische Großkapitalisten, ihr Fratzen, ihr Kasperls, ihr Proleten«.45
39 | Ebd., S. 12. 40 | Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M. 1999, S. 91. 41 | Franziska Schößler, »Theater als agora« in: Kastberger/Pektor, Arbeit des Zuschauers, S. 193. 42 | Botho Strauß, »Anläßlich Kaspar«, in: Botho Strauß, Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken, Frankfurt a.M. 1987, S. 124-128, hier S. 127. 43 | Handke, Publikumsbeschimpfung, S. 18. 44 | Ebd., S. 33. 45 | Ebd., S. 46.
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Diese Negation, die das Negierte des traditionellen Theaters ständig aufruft und präsent hält, stellt die Bildersprache des Theaters, im Gegensatz zu der zeitgenössischen Dramatik im regulären Spielplan des TAT zur Disposition. Günther Rühle spricht deshalb im Hinblick auf Publikumsbeschimpfung von einer »Entrümpelung« der Bühne, von einem »sichtbare(n) Nullpunkt«46 des Theaters. Die Negation der weltbildenden Funktion im Theater, die von Figuren, Dialogen und daraus resultierenden Szenen abhängt, wird zugunsten des Fokus auf ihre Voraussetzungen und Möglichkeitsbedingungen zurückgenommen. In diesem Moment erscheinen im Dispositiv des Theaters dessen tänzerisch-choreographische wie musikalisch-stimmliche Funktionen. Das von Handke und anderen veränderte Dispositiv des Theaters Mitte der 1960er Jahre antwortet auf die Krise der politischen Funktion von Theater, die sich bis dato an dessen Bildsphäre festmachte.
Das theatrale Subjekt als Hörer Peter Handkes Arbeit am Dispositiv des Theaters Mitte der 1960er Jahre besteht in der doppelten Geste, die optisch-visuelle Ebene der Aufführung zurückzunehmen, um im Gegenzug die akustische Ebene hervorzuheben. Damit geht eine Neubewertung des Sprechens und Hörens im Theater einher. Handke rückt die Art des Sprechens in den Vordergrund und weist damit das rhetorische System der Bühnensprache, wie es etwa Gustaf Gründgens perfektioniert hatte, zurück. An dessen Stelle tritt die kritische Arbeit an Sprechakten. Handke, Peymann und die Schauspieler konfrontieren unterschiedliche Formen des Sprechens und des Akustischen47 miteinander und bringen sie gegeneinander in Stellung, sodass jede einzelne ihre vermeintliche Natürlichkeit verliert und als manipuliert erscheint. »Die Zuschauer müssen lernen«, so Handke in Bezug auf seine Ästhetik, »Natur als Dramaturgie zu durchschauen, als Dramaturgie des herrschenden Systems, nicht nur im Theater, auch sonst.«48 Handkes Insistieren auf Ästhetik, weil nur sie »den Wahrnehmungsapparat genau« zu machen verstehe, bringt ihn nicht nur gegen das traditionelle Theater in Stellung, sondern auch gegen jene Theaterformen, die die Grenze zwischen Kunst, Leben und Protest einzureißen glauben. »Was freilich die Studenten unter Ästhetik verstehen«, heißt es weiter, »ist gerade das, was das System ihnen beigebracht hat, eine triviale Oberlehrerästhetik«.49 Die Veränderung des Dispositivs zugunsten des Hörens und der Entwurf eines Subjekts des Aufmerkens und Zuhörens versucht, einem spiegelbildlichen Verhältnis zwischen alter und neuer Ästhetik zu entgehen. Sie reflektiert auf ge46 | Günther Rühle, »Die Erfindung der Bildersprache für das Theater. Die Herstellung neuer Sinnlichkeit«, in: Ders., Theater in unserer Zeit, Frankfurt a.M. 1976, S. 224-232, hier S. 225. 47 | Handke, Publikumsbeschimpfung, S. 9. 48 | Peter Handke, »Die Arbeit des Zuschauers«, in: Ders., Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, S. 88-101, hier S. 99. 49 | Ebd., S. 99f.
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sellschaftliche Verschiebungen, die sich gerade im Sprechen jener, die bisher keine Stimme hatten, und im Zuhören jener, denen man bisher nicht zugehört hatte, öffentlich Bahn brachen. Zur öffentlichen Protest- und Jugendkultur der Zeit gehören die lautstarke Erstürmung von Podien, das Unterbrechen von Reden durch Zwischenrufe oder Gegenreden, das lustvolle Skandieren von Parolen wie der Sound der Rock- und Popkultur. Andere Stimmen wurden im öffentlichen und politischen Raum hörbar. Zu diesen anderen Stimmen gehörten ebenso die Stimmen der Opfer und der Zeugen des Holocaust sowie die Stimmen der Täter, die durch die Frankfurter Auschwitzprozesse ab 1963 zum ersten Mal in aller Deutlichkeit in die Öffentlichkeit drangen. Die Aufwertung des Sprechens und Hörens Mitte der 1960er Jahre hat unweigerlich Bezug zur beginnenden Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Dritten Reichs. In diesem Sinn steht Handkes und Peymanns Publikumsbeschimpfung durchaus in Zusammenhang mit Peter Weiss’ Die Ermittlung, ein »Oratorium in 11 Gesängen« aus Protokollen des ersten Frankfurter Auschwitzprozesses. Auch Weiss betont das Sprechen, Aussprechen und Ansprechen und verweigert sich jeglicher Bebilderung. Die Aufarbeitung von falschen Selbstbildern einer Gesellschaft geht auf dem Theater mit dem Leerräumen und Abräumen von falschen Kulissen und einer Aufwertung des Akustischen einher. Das Hören der Stimmen und deren Haltungen eröffnet einen Raum zwischen Bühne und Parkett, der, ohne selbst Tat oder Handlung zu sein, der Gefahr vorbeugt, das Sprechen zu überhören. Auch in diesem Sinne bleibt Publikumsbeschimpfung »Vorrede« wie es im Text heißt: »Dieses Stück ist eine Vorrede. Es ist nicht die Vorrede zu einem anderen Stück, sondern die Vorrede zu dem, was Sie getan haben, was Sie tun und was Sie tun werden.«50 Die Sätze der Sprecher sind »Voraus-Sätze für die neuen Denkmöglichkeiten«51, von denen man noch nicht weiß, was sie auslösen und welches konkrete Handeln sie nach sich ziehen werden: »[Theater] zeigt nicht, da es ein Spiel ist, unmittelbar und eindeutig den Satz, die neue Denkmöglichkeit, die die Lösung bedeutet.«52 Zwischen dem bürgerlichen Theater und dem AgitpropTheater der Straße steht Handkes Auffassung vom Theater als einer Vor-Stellung, als einer Stellung, die noch kommt. Um Vor-Stellung zu sein, verweigert Handke jegliche Form der Bildhaftigkeit als Setzung einer Welt. Handkes Voraus-Sätze als Voraussetzungen für mögliche zukünftige Setzungen führen weg vom Bild und vom Sehen hin zum Sound und zum Hören. »Sie werden hören, was Sie sonst gesehen haben«53, heißt es gleich zu Beginn des Stücks. Während das Sehen die Welt zum Bild rahmt und schließt, scheint das Hören unbestimmter zu sein und auf die Möglichkeiten von Welt zu zielen.
50 | Handke, Publikumsbeschimpfung, S. 42. 51 | Handke, »Straßentheater«, S. 54. 52 | Ebd. 53 | Handke, Publikumsbeschimpfung, S. 15.
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Der Zuschauer wird damit zum Zuhörer; Handkes Publikumsbeschimpfung ist, wie Weiss’ Ermittlung, ein Theater der Ansprache: »Wir spielen, indem wir Sie ansprechen.«54 Diese Ansprache ist, wie Helga Finter betont, im Theater immer eine doppelte.55 Zum einen richten sich die Worte an die Zuschauer, die das Gegenüber der Schauspieler bilden, zum anderen aber richten sie sich niemals nur an die konkret anwesenden Zuschauer. Diese zweite Funktion der Ansprache klingt im lateinischen Wort adoratio noch an, das neben dem Zu-jemandem-Sprechen immer noch die Bedeutung von ›Anbetung‹ enthält. Adressiert wird somit immer auch eine dritte Instanz, die abwesend ist und die nicht dargestellt werden kann, über die sich aber die Beziehungen zwischen Schauspieler und Zuschauer qua Rede allererst herstellen. Handkes Beschimpfungen sind und sind nicht an die Zuschauer gerichtet; so sollen die Sprecher zwar ins Publikum schauen, aber niemanden ins Auge fassen: »Die Beschimpfung ist an niemanden gerichtet.«56 Die Ansprache ist mithin an eine andere Instanz gerichtet, nämlich an die Sprache selbst als etwas, das kein Bild von sich hat oder herstellen kann, sich aber in der Form des Stücks dennoch artikuliert und materialisiert. In der Ansprache ans Publikum sprechen sich die Sprache und damit die Form des Stücks selbst aus. Es ist gerade diese ästhetische Dimension als Zugang zum Anderen, Heterogenen, welche die Zwischenrufer und Bühnenstürmer in der zweiten Vorstellung nicht hören konnten. Der Wandel der Rezeptionshaltungen von einem Zuschauer, dem das Theater nach dem moralisch-zivilisatorischen Bankrott des Zweiten Weltkriegs allgemein menschliche Werte vermitteln wollte, zu einem kritischen, den gesellschaftlichen Konsens befragenden Zuschauer verläuft Mitte der 1960er Jahre über den Zuschauer als Zuhörer, bevor das Regietheater der 1970er Jahre die Bilder anders wieder ins Theater zurückholt.57 Der Zuschauer wird im Dispositiv des Theaters plötzlich als Zuhörer markiert, ohne dass er schon wüsste, wie damit umzugehen wäre. In das vermeintliche Vakuum zwischen Bühne und Parkett tritt in der zweiten Vorstellung, einem Spiel im Spiel gleich, das Spiel um die Definitionsmacht der Aufführung, um ihr Gelingen oder Scheitern, das zwischen Schauspielern und dem Publikum neu ausgehandelt werden muss. Die Aufführungssituation wird zum Machtspiel, in dem sich die Zwischenrufer selbst an die Stelle des angesprochenen Anderen setzen. Mit dieser Aneignung schließt sich aber der Raum zwischen Anrede und Hören, wodurch das Gesagte hinter die faktische Realität zurücktritt. Als Geste wiederholt und verdoppelt sie somit die Herrschaftsgeste der Politik, die doch gerade ins Visier der Studenten und Linken geraten war. Als Zuhörer angesprochen, sprengt der Zuschauer den Rahmen des Repräsentationstheaters. Darüber hinaus macht Handke ihn zum Thema des Theaters, 54 | Ebd., S. 17. 55 | Vgl. Finter, »Nach dem Diskurs«, S. 567. 56 | Handke, Publikumsbeschimpfung, S. 13. 57 | Vgl. Rühle, »Die Erfindung der Bildersprache für das Theater«.
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um so von Innen gegen dessen Rahmen anzuspielen. Damit handelt sich Handke aber gleichzeitig das Problem ein, dass der Rahmen in der Negation verstärkt in das Bewusstsein der Zuschauer rückt, wie die heftigen Reaktionen während der Aufführung zeigen. Das Bild wird zurückgenommen zugunsten einer Akzentuierung des Hörens, die das Verhältnis der Elemente im Theater neu konstellieren soll, während sich die Inszenierung ansonsten einer emphatischen Neufigurierung im Sinne einer politischen Linken verweigert. Betrachtet man heute die Reaktionen der Schauspieler auf die Unterbrechungen aus dem Zuschauerraum, so lässt sich eine gewisse Hilflosigkeit im Umgang mit der eingetretenen Situation im Theatersaal feststellen, die heutigen Schauspielern kaum mehr zuzutrauen ist. Das Missverständnis resultiert offensichtlich aus der Unkenntnis jener neuen Modalität des Zu-Hörens, die nicht in erster Line auf Performativität zielt, sondern auf deren Voraussetzungen. Nur so lässt sich die doppelte Negation, die der Text vollzieht, verstehen. Handkes Text und Peymanns Inszenierung zielen auf ein Hören, dass ein Zuhören ist und sich jeder vorschnellen politischen Aktion als Straßentheater oder Theatertheater verweigert. Das Dispositiv des bourgeoisen Theaters wurde durchgestrichen, indem dessen dispositivische Setzungen im Theater thematisch wurden. Gerade als sich das Dispositiv des Stadttheaters im TAT politisiert, indem es die alte Kulissen- und Bilderbühne mit Blick auf den Zuschauer durchstreicht, streicht Handke dieses Durchstreichen noch einmal durch, indem er anstelle einer Repräsentation anderer Themen und Aktionen einzig das Sprechen und das Hören stark macht.
Gerald Siegmund
Über Fehler Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better. S amuel B ecket t, Worstward Ho
»Was ist ein fehler?«58, fragt Gunter Presch und antwortet, dass dies »abhängig vom verwendungszweck von fehlerdefinitionen«59 sei. Beim Nachdenken über Dysfunktionen und Fehler in der Kunst interessieren Praxen, die aus Fehlerschaften hervorgehen oder diese erzeugen. Wer weiß, ob etwas ein Fehler ist? Wer kann Fehler erkennen, wer definiert sie, für wen und warum? Kann in der Kunst überhaupt von Fehlern gesprochen werden? Vor dem Hintergrund von Theater als Dispositiv interessiert es, ob Fehler Zeichen für Dispositive in actu sind, also
58 | Gunter Presch, »Über schwierigkeiten zu bestimmen, was als fehler gelten soll«, in: Dieter Cherubim (Hg.), Fehlerlinguistik: Beiträge zum Problem der sprachlichen Abweichung, Tübingen 1980, S. 224-252, hier S. 224. 59 | Ebd.
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für Ordnungssysteme, welche die in ihnen aktiven Subjekte Ereignisse als Fehler erkennen lassen (sollen). Dispositive bilden jeweilige »strategische[ ] Ausrichtung[en]« aus, die »Macht, Subjektivität und Wissen konstellier[en]«.60 Im Dispositiv sind demnach immer auch Subjekte mit im Spiel, die nach Agamben aus »dem Nahkampf zwischen den Lebewesen und den Dispositiven«61 hervorgehen. Er bezeichnet alles als Dispositiv, »was irgendwie dazu imstande ist, die Gesten, das Betragen, die Meinungen und die Reden der Lebewesen zu ergreifen, zu lenken, zu bestimmen, zu hemmen, zu formen, zu kontrollieren und zu sichern.«62 Lebewesen werden also durch einen gewissen (symbolischen) Prozess zu Subjekten, wie ihn zum Beispiel die Interpellation Louis Althussers beschreibt, die sich als Dispositiv ideologisierender Subjektivierung erweist.63 Bei Fehlern nun gehen Ereignisse aus dem Nahkampf mit einem Dispositiv als solchem hervor. Ein Dispositiv trägt also zu einer Subjektivierung bei, die maßgeblich zwischen Gelingen und Scheitern differenziert. Ein solcher Prozess wiederum kann dann aber auch selbst fehlerhaft sein und scheitern. Beispielhaft für das Generieren von Fehlern sind etwa Definitionen wie die des Deutschen Instituts für Normung (DIN). Es ordnet Fehler innerhalb einer Liste für Qualitätsmanagement-Systeme den »konformitätsbezogenen Begriffen«64 zu. Ein Fehler ist die »Nichterfüllung einer Anforderung«65, während Konformität demnach deren Erfüllung darstellt. Eine Anforderung gilt dabei als »Erfordernis oder Erwartung, das oder die festgelegt, üblicherweise vorausgesetzt oder verpflichtend ist«.66 Tritt ein Fehler auf, so ist er immer Ausdruck eines Maßstabs, eines Vor-Angenommenen. Solche Definitionen des Fehlers ermöglichen es, die Welt in Fehlerhaftes, Störendes, Unterbrechendes, aber eben auch Unkalkulierbares und Abweichendes und dessen Gegenteil, das Planmäßige und zu Erreichende einzuordnen. Fehler sind dann etwas zu Vermeidendes. Daher ist es nicht erstaunlich, dass gerade das Fehlerhafte als non-konformes, widerständiges Potential diskutiert wird, nicht zuletzt in künstlerischen Kontexten. 60 | Antrag des DFG-Projekts: »Theater als Dispositiv. Ästhetik, Praxis und Episteme der darstellenden Künste«, Forschungsprojekt am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der JLU Gießen, S. 2, siehe: www.inst.uni-giessen.de/theater/de/forschung/forschungsprojekt. 61 | Agamben, Dispositiv, S. 27. 62 | Ebd., S. 26. 63 | Vgl. Louis Althusser, »Ideologie und ideologische Staatsapparate«, in: Ders., Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg/Berlin 1977, S. 108-153, bes. S. 138. 64 | DIN EN ISO 9000: 2005, »Qualitätsmanagementsysteme – Grundlagen und Begriffe«, S. 27. ftp://trabant.tr.fh-hannover.de/Schwarzes_Brett/Schluenz/BA-TR/BTR4-QM/Normen %20nur%20fuer%20die%20LV/DIN_EN_ISO_9000_2005.pdf vom 16.09.2014. 65 | Ebd. 66 | Ebd., S. 19.
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Hat ein Fehler immer einen unkontrollierbaren Ereignischarakter inne? Wie steht es um seine Kalkulier- und Inszenierbarkeit? Wenn Fehler die zufällige, unkalkulierbare Nichterfüllung sind, müssen Praxen des gewollten Fehlertums dann als paradox gelten? Können Fehler Arbeitsmaterial sein? Kann es einen strategischen Umgang mit ihnen geben und woraus speist dieser sich? Vielleicht aus dem Spiel mit vorausgesetzten Verwendungszwecken und mit dem Wissen über die Anforderungen, das nicht immer geteilt wird und sozial etabliert ist. Es müsste also verschiedene Fehlerdispositive geben, »Fehlerkulturen« als »Art und Weise, wie Gesellschaften, Kulturen und soziale Systeme mit Fehlern, Fehlerrisiken und Fehlerfolgen umgehen«.67
Kunstfehler Gerade in der künstlerischen Praxis geht es darum, Fehler zuzulassen und mit ihnen zu arbeiten. Paul Granjon etwa versucht in Z Lab transported (2003) mit archaischen Mitteln Feuer zu machen, es gelingt aber nicht.68 Der Ausgang der Aktion ist also unklar, bis sich das Feuer zeigt oder eben nicht, der Versuch als erfolgreich oder gescheitert gilt. Hier ist die Möglichkeit zum Fehler als Fehler, nämlich als Scheitern, Teil der Sache und somit gewollt. Gewollte Fehler verhandeln gleichzeitig Fehlerausmaße. Ein nicht entzündbares Feuer ist weniger reich an Konsequenzen als z.B. Marina Abramovićs Ohnmacht aus Sauerstoffmangel im Stern aus Feuer (Rhythm 5, 1974)69 oder Peter Weibels von ihm so genannter ›Kunstfehler‹, bei dem er ein Stück seiner Zunge beim Auf brechen des Betonklotzes verliert, in den er sie eingegossen hatte (Der Raum der Sprache, 1973)70. Den Fehler in seiner Fehlerhaftigkeit als Möglichkeit zur Öffnung und Destabilisierung einzuladen, stellt somit Kalkulation und Vorhersehbarkeit in Frage und zeigt, dass Fehler ihr eigenes Maß mitbringen. Sie ermöglichen, Geplantes außer Kontrolle geraten zu lassen. Das Fehlermaß kann Aktionen im Nachhinein größeren Eindruck zumessen, da sich ästhetische Wirkung und außerästhetische Wirksamkeiten vermischen. Das Risiko zum Fehler ist zwar kalkuliert, aber wie er sich manifestiert, ist überraschend und widersetzt sich der Kalkulation. Eine andere, in der Kunst verbreitete Fehlerpraxis nutzt die Fehlererzeugung zur Kontextverschiebung. Die Abhängigkeit des Fehlers von einem Verwendungszweck lädt zum Spiel mit den Verwendungszwecken ein. In Short Circuited Diaries 71 entwickelt Thomas Wahle Methoden, die digitale (Bild-)Fehler per Kurz67 | https://de.wikipedia.org/wiki/Fehlerkultur vom 16.09.2014. 68 | http://zprod.org/PG/machines/fire.htm vom 16.09.2014. 69 | www.medienkunstnetz.de/werke/rhythm-5/bilder/6/vom 16.09.2014. 70 | »Skulptur mit angeschlossenem lebendem Organismus. Die Zunge wurde für mehrere Stunden in Beton eingemauert. Nach extremen Angstzuständen und körperlicher Anstrengung wurde die Zunge beim Herauslösen verletzt.« www.peter-weibel.at/index. php?option=com_content&view=article&id=36&catid=13&Itemid=67 vom 16.09.2014. 71 | http://cargocollective.com/thomaswahle/Short-Circuited-Diaries vom 16.09.2014.
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schluss erzeugen. Die entstehenden fehlerhaften Bilddateien verwendet er gestalterisch. So entstehen Tapeten, Leggins und Teppiche mit Fehlermuster. Wahle schreibt: »these artifacts of mal function may also have an aesthetic value«.72 Die Ästhetisierung von Ereignissen, die in anderen Kontexten als fehlerbehaftet gelten, ist eine der Hauptpraxen der Kunst, mit Fehlern zu arbeiten. Für die mit Technologien verbundenden Fehlerpotentiale wird der Begriff der GlitchArt 73 verwendet, stellt aber als solches keine neue Erfindung dar. Experimentelle Malerei, Fotografie und Film, einfach jedes Medium nutzt sein Fehlerhaftes zur Gewinnung von ästhetischem Wert. Bleibt aber Fehlerhaftigkeit in der ästhetischen Wahrnehmung erhalten? Für letztere gilt der ursprüngliche Verwendungszweck einer z.B. als fehlerhaft definierten Bilddatei nicht und dennoch soll das betrachtende Auge wissen, dass hier explizit Wert aus Fehlern entsteht – ein Widerspruch, der nur im Dispositiv von Scheitern und Gelingen wirkt.
Fehlerpraxis in The Real Fiction 74 »I’m real Audience. I’m not an Extra. I came to the theatre tonight at 7:30, I bought my ticket and I’m enjoying a lot the performance.« Diesen Text liest ein junger Mann von einem Blatt ab. Bis dahin saß er ruhig im Theatersaal des Frankfurter Mousonturms. Bevor er aufsteht und diesen Text vorträgt, gab es eine Diskussion zwischen den beiden Performerinnen und einem Zuschauer, der von sich behauptete, er wäre ein Extra, das nun seinen Einsatz wolle. Die Performerinnen erklären ihm, dass sie sich nicht an ihn erinnern könnten. Auf seine erhitzten Zwischenrufe hin, wer denn nun alles ein Extra im Raum sei, steht der besagte junge Mann auf und trägt seinen Text vor. Klassische Mittel der Illusions- und Aufführungsunterbrechung kommen zur Geltung: das Licht im Zuschauerraum geht an, die Performerinnen haben ihre eigentliche Handlung anscheinend unterbrochen – ein Fehler im Ablauf? Liest jedoch der zweite Herr von einem Zettel ab, wird deutlich, dass er einen Auftrag hat. Beide Sprecher waren vorbereitet, aus den Reihen des Publikums heraus zu sprechen, haben cues dafür, und die Aufführung wird durch sie gerade nicht unterbrochen. Vielmehr gehört diese Unterbrechung in die Folge von zahllosen inszenierten Störungen, Überraschungen und Fehlern. Diese Personen haben offensichtlich ein anderes Vorwissen vom Ablauf des Abends als die anderen, die jedoch viel lachen. Ihr Lachen zeigt an, dass diese Unterbrechung kein riskantes Streitgespräch ist, also eben kein heikler Zwischenfall, der nicht mit Heiterkeit quittiert werden dürfte. Dafür hat die Performance bis dahin gesorgt, indem sie vorgegebene Anforderungen des Stückes aufgezeigt und diese dann in allen erdenklichen Arten nicht erfüllt hat. Zunächst sieht es 72 | Ebd. 73 | http://blog.zdf.de/hyperland/2012/09/glitch-ar t-die-aesthetik-des-fehlers vom 16.09.2014. 74 | R: Cuqui Jerez, Mousonturm/Plateaux 2006.
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so aus, als sei das Ziel des Abends, einen bestimmten Ablauf auf der Bühne mit diversen Requisiten für einen kleinen Camcorder zu gestalten. Nach etwa 15 Minuten präzisen Ablaufs ›geht die Kamera kaputt‹. Es folgt eine Unterbrechung, in der die Performerinnen an den Bühnenrand treten, wo sich zwei als Techniker und Regisseurin verhaltende Personen hinzugesellen, alle das Gerät begutachten und sich leise besprechen. Als Ergebnis wird von der Regisseurin verkündet, das gefilmte Material sei unbrauchbar, aber für den weiteren Verlauf des Stückes unverzichtbar. Daher sei ein Neuanfang nötig. Dieser erzeugt dann sehr schnell eine sich steigernde Abfolge aller erdenklicher ›Nichterfüllungen‹, die deutlich als gewollte Fehler ausgestellt werden.
Abb. 1: Die Bühne von The Real Fiction, Regie: Cuqui Jerez, Mousonturm 2006, Screenshot einer Videoaufzeichnung Diese Fehler oszillieren zwischen ihrem Zitat eines gesellschaftlichen Fehlerrepertoires, dem Zitat von Dysfunktionen auch außerhalb eines ästhetischen Rahmens sowie der kompletten Deaktivierung von Fehlerfunktionen. Denn diese Fehler erfüllen die an sie gestellten Anforderungen zu hundert Prozent. Die Ebene der Fehlervirtuosität dominiert nun gegenüber der der Scheinanforderungen, die nur für einen naiven Dritten noch gelten.75 Die Fehlerthematik bleibt insofern aktiv, als das Stück wesentlich ein Dispositiv des Gelingens und Scheiterns affirmiert. Aber die Fehler unterbrechen hier ihren Status als Nonkonformisten und etablieren eine Gegenordnung, eine Konformität der Fehler. Anstatt die Fehler als Unterbrechung der Inszenierung einzubauen, fingiert Jerez sie. Die Freude an der Fehlersteigerung und an der Umkehr der üblichen Anforderungen gerät in den Fokus.
75 | Vgl. Octave Mannoni, »L’illusion comique ou le théâtre du point de vue de l’imaginaire«, in: Ders., Clefs pour l’imaginaire ou l’autre scène, Paris 1969, S. 161-183.
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Fehler, Fälschung, Fiktion Zwischen tradiertem Ausschluss und dem Einbruch des Realen gelten Fehler als Garant des Echten, Ungeplanten oder Wirklichen und werden nicht als Teil der Aufführung begriffen: »Das Reale im Theater wurde immer ästhetisch und konzeptionell ausgeschlossen, haftet ihm aber unumgänglich an. Manifest wird es gewöhnlich nur in den Pannen. Über dieses Angst- und Wunschbild des Theaters, den Einbruch des Realen in das Spiel, handelt man gewöhnlich nur in Gestalt der peinlichen Fehler, von denen die Theateranekdoten und -witze erzählen.« 76 Damit stellt Hans-Thies Lehmann fest, dass Theater eine Praxis ist, die »mehr als andere die Einsicht erzwingt, daß es keine feste Grenze zwischen dem ästhetischen und dem außerästhetischen Bereich gibt« 77. Wenn es diese feste Grenze aber nicht gibt, kann sie je und je gezogen werden. Gerade ein Fehler entscheidet über diese Grenze, da er von deren Definitionen abhängt. Soll er als Einbruch eines Realen oder als etwas Ästhetisches gelten?78 Bricht am Fehler ein Widerspruch dieser beiden Kontexte auf, wenn er beides gleichzeitig ist? Diese Fragen wirken sich direkt aufs Zuschauen aus: »Wenn auf der Bühne das Reale sich gegenüber dem Inszenierten durchsetzt, […] fragt der Zuschauer sich notgedrungen (durch die inszenatorische Praxis veranlaßt), ob er auf den Bühnenvorgang als Fiktion (ästhetisch) oder als Realität (also z.B. moralisch) reagieren soll.« 79 Fehler können also ästhetische Wahrnehmung unterbrechen. Doch The Real Fiction fingiert offensichtlich den Einbruch des Realen. Die Verunsicherung über den Status des Fehlers und damit einhergehende Reflexionen der Betrachtungsweise sind nicht das Ziel, sondern nur eine erste Etappe, um das geteilte Wissen über das thematische Dispositiv aufzurufen. Aufgedeckte Fälschungen und Fakes werden von Martin Doll als Diskurskritik beschrieben. Sie stören das reibungslose Funktionieren bestimmter Wissensgebiete, institutioneller Bereiche oder Kommunikationsordnungen von innen heraus in actu, insofern sie dafür sorgen, dass in diesen Feldern gültige Aussagen und Praktiken auf den Prüfstand gestellt werden. […] Das kritische Potential von Fälschungen kann somit im doppelten Wortsinne verstanden werden: Zum einen, weil sie den Blick auf die Bedingtheiten von Erkenntnissen, Erfahrungen und Diskurspraktiken schärfen; zum anderen, weil sie mitunter einen grundlegenden Dissens gegenüber vorgefundenen Ordnungen, wie Wissen verteilt, oder allgemein, wie regiert
76 | Lehmann, Postdramatisches Theater, S. 173. 77 | Ebd. 78 | Vgl. Martin Seel, »Ästhetik und Aisthetik«, in: Birgit Recki/Lambert Wiesing (Hg.), Bild und Reflexion. Paradigmen und Perspektiven gegenwärtiger Ästhetik, München 1997, S. 17-38. 79 | Lehmann, Postdramatisches Theater, S. 177.
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In The Real Fiction geht es jedoch nicht um die detektivische Aufklärung einer Fehlerfälschung und ihres Potentials. Vielmehr wird gezeigt, wie Dispositive agieren, sowohl das der Fehler als auch das des Theaters. Indem Jerez den Fehler als wahrnehmbare Übertreibung der Fiktion inszeniert, benutzt sie die Pannen, um gerade das Fiktive und Illusionäre im Theater zu thematisieren. Je mehr Fehler auftreten, desto stärker werden der Raum der Fiktion und die Verlagerung des Fokus von der Bühne ins Publikum. Immer mehr Dialoge mit immer mehr Beteiligten unterbrechen den Ablauf, die Rückwände des Bühnenraums brechen zusammen, die Hinterbühne wird sichtbar, Seitentüren nach außen werden geöffnet. Bezeichnend ist, dass die kontinuierlich erhöhte Fehler- und Unterbrechungsfrequenz im letzten Drittel der Performance immer mehr sprachlich stattfindet. Die Erweiterung des Fiktionsradius führt in die Imagination, die ihre Aktualisierung nur noch in Sprache finden kann. Bei The Real Fiction wird Fiktion als Praxis relevant, ähnlich wie Wolfgang Iser das Imaginäre als Realität begreift: wenn »das Imaginäre im Akt des Fingierens eine Bestimmtheit [gewinnt], die ihm als solchem nicht zukommt, so erhält es dadurch ein Realitätsprädikat«.81 Insofern ist Fiktion das Zur-AnschauungBringen eines Imaginären. Zur Anschauung kommt das Potential des Fingierens selbst, klugerweise am Beispiel des Fehlers, der in anderen Kontexten eher als Unterscheidungsmerkmal zwischen Ästhetischem und Realem gilt und dessen Abhängigkeit von Definitionen sowohl imaginäre wie symbolische Anteile anzeigt. Anforderungen werden in der Fiktion als symbolische Konstrukte erkannt und übertrieben. Ihr endloses Potential wird wahrnehmbar, denn sie sind immer auch anders denk-, sprech-, fingierbar. Fehler agieren hier also als Erkennungsmerkmal dispositivischer Strukturen, ohne diese zu bestätigen. Im Theater als Dispositiv können sie experimentell bespielt und zu Agenten des gelingenden Scheiterns werden, indem sie die Dispositivität selbst als Fiktion entlarven. Denn das zeichnet Theater nach John Austin als ›parasitär‹82aus: Es nutzt das Dispositiv nicht ›richtig‹, sondern ›um‹.
80 | Martin Doll, Fälschung und Fake. Zur diskurskritischen Dimension des Täuschens, Berlin 2012, S. 12f. 81 | Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a.M. 1991, S. 22. 82 | Vgl. John Austin, Zur Theorie der Sprechakte [How to do things with Words], Stuttgart 2002, S. 43f.
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Chevuoi!? 83 Im Dispositiv von Gelingen und Scheitern sind zunächst zwei übliche Einsatzarten von Fehlern zu konstatieren: zum einen der Fehler mit »produktive[r] Störfunktion«, der als »Antidot gegen normierte Systeme« eine widerständige »Sprengkraft«84 ausübt; zum anderen der re-integrierbare Fehler, der als Aufforderung zum »Scheitern als eine neue Möglichkeitsform von Erfolg«85 im Sinne der Optimierung wirkt. Beide beruhen auf der antagonistischen Funktion von Gelingen und Scheitern in actu. The Real Fiction zeigt einen dritten Einsatz von Fehlern, indem diese als Indizien für das Fingieren von Systemen genutzt werden, um auf jeweilige performative Anforderungen oder auch »Netz[e] von Vorannahmen«86 hinzuweisen, die Jacques Rancière unter der Prämisse der Verteilung von Wissen und Fähigkeiten untersucht, also gerade als apriorische Konstellationen von Macht, Subjektivität und Wissen. Fehler sind eine Art Anrufung für Subjekte im Dispositiv von Gelingen und Scheitern. Daher spielt The Real Fiction auch mit theatraler Anrufung von Subjekten innerhalb offensichtlich inszenierter Dysfunktion. So verweist The Real Fiction auf die Anteile des Fiktiven an der Subjektivierung und ihrer Möglichkeit zum Scheitern der Interpellation 87, die gerade im Nicht-Aufgehen der Subjekte in den an sie gestellten Anforderungen zu finden ist. Im Empfang der Anforderung schwingt immer ein fragendes Chevuoi!? mit, das die Konformität gefährdet. Lebewesen unter dispositivem Zugriff bilden mannigfaltige Subjektivierungen aus, die nicht zur Deckung gebracht werden können, weder mit der Anrufung der Anforderung, noch innerhalb der Subjekte selbst.
Eva Holling
Von der Seite betrachtet: Xavier Le Roys Self Unfinished und das Dispositiv der Zentralperspektive I Im Winter 2013 jährte sich die Uraufführung von Xavier Le Roys Self Unfinished zum fünfzehnten Mal. Der französische Choreograph beging das Jubiläum, indem er die Performance rund um den Jahrestag wiederholt zur Aufführung brachte, und zwar am Théâtre de la Cité Internationale in Paris, an dem er zu die83 | Vgl. Jacques Lacan, »Subversion du sujet et dialectique du désir«, in: Ders., Ecrits 2, Paris 1966, S. 273-308. 84 | Felix Philipp Ingold/Yvette Sánchez, »Zur Einführung« in: Dies. (Hg.), Fehler im System. Irrtum, Defizit und Katastrophe als Faktoren kultureller Produktivität, Göttingen 2008, S. 10-18, hier S. 11. 85 | Ebd. 86 | Jacques Rancière, Der Emanzipierte Zuschauer, Wien 2009, S. 17. 87 | Zum Begriff der theatralen Interpellation vgl. Eva Holling, Übertragung im Theater. Theorie und Praxis theatraler Wirkung, Berlin 2016.
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ser Zeit als artiste en résidence tätig war. Die letzten dieser Aufführungen fanden im Ausgang des Winters statt, als Le Roy auch seine Rétrospective an das Centre Pompidou der Stadt holte, ein Umstand, der den Eindruck verstärkte, dass eine zeitgenössische Choreographie endgültig dazu überging, Geschichte zu werden. Der Wandel zum historischen Gegenstand birgt in sich die Chance, einen erneuten und dezidiert kritischen Blick auf die Arbeit und ihre Bedeutung zu werfen, besonders einen Blick auf ihr Verhältnis zu der ihr vorausgehenden Geschichte der Darstellung. Einen kleinen Beitrag dazu will ich im Folgenden leisten.
II In den 15 Jahren seines Bestehens hat Self Unfinished eine Bedeutsamkeit von kaum überschätzbarem Ausmaß erreicht. Immer wieder ist Le Roy eingeladen worden, das Solo an den verschiedensten Orten der Welt aufzuführen, sodass es nicht nur zu seiner eigenen, meistgespielten Arbeit geworden ist, sondern auch zu einer der gesamten europäischen Tanzszene. Diese selbst hat sich besonders Anfang der Zweitausender-Jahre von Self Unfinished beeinflussen lassen. Mehrere von Le Roys Kollegen, etwa Mette Ingvartsen oder Eszter Salamon, haben sich in ihren Choreographien ebenfalls einer der Grundfragen der Performance angenommen, nämlich jenem Problem, das sich mit Spinoza und Deleuze, die bei Le Roy belegbar Eindruck hinterlassen haben, auf den Nenner bringen lässt: Was kann ein Körper?88. Choreographen wie Ingvartsen und Salamon haben sich mitunter auch stilistisch an der Performance orientiert, wobei man diesbezüglich von einer Vorbildwirkung wider Willen sprechen kann, war Le Roy doch stets bemüht, mit seinem Schaffen keinen erkennbaren Stil und keine Schule hervorzubringen. Nicht zuletzt hat Self Unfinished mit den Jahren auch wie kaum eine andere Arbeit Eingang in den wissenschaftlichen Diskurs gefunden. Heute liegen Analysen aus der anglo-amerikanischen, französischen und deutschsprachigen Tanzund Theaterwissenschaft vor, die Le Roys Körperdarstellung allesamt einen einzigartigen Rang in Tanz und Performance des ausgehenden 20. beziehungsweise beginnenden 21. Jahrhunderts einräumen. Obwohl die vielen Untersuchungen je unterschiedliche Paradigmen – von der ästhetischen Psychoanalyse nach Lacan89
88 | Vgl. zu Le Roys Bezug auf Spinoza und Deleuze: Xavier Le Roy, »On E.X.T.E.N.S.I.O.N.S.«, in: Alice Chauchat/Mette Ingvartsen (Hg.), Everybodys Selfinterviews, o.O. 2008, S. 6575. Zur Frage Was vermag ein Körper? vgl. Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, München 1993. Zu Mette Ingvartsens Choreographien im Zeichen von Le Roys Einfluss siehe deren Performance Manual Focus (2003), zu Eszter Salamon das mit Xavier Le Roy in Kollaboration entwickelte Giszelle (2001). 89 | Vgl. Gerald Siegmund, Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart, Bielefeld 2006, bes. S. 371-387; André Eiermann, Postspektakuläres Theater. Die Alterität der Aufführung und die Entgrenzung
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über die Dekonstruktion von de Man und Derrida90 bis zum Vitalismus Deleuzes91 – zum Ausgang ihrer Argumentation nehmen, gelangen sie in der Begründung des singulären Charakters von Self Unfinished zu durchweg vergleichbaren Thesen. Im Wesentlichen besteht Einigkeit darüber, dass Le Roys Choreographie eine Kritik an der Anatomie und Ontologie des Körpers vornimmt und zwar, indem sie die Form des Körpers als kontingent, konstruiert und veränderbar ausweist und ihr in der Vorstellung das gegenüberstellt, was in den Interpretationen wiederum weitgehend einstimmig als artaudscher organloser Körper bezeichnet wird, als formloser oder an der Grenze der Form angesiedelter Körper. Noch tiefergehend sind die Analysen dadurch verbunden, dass ihre Thesen zum organlosen Körper letztlich auf ein ungleich diskursträchtigeres Konzept verweisen, denn implizit sind sie allesamt dem verschrieben, was Christoph Menke als den Kernbegriff der ästhetischen Theorie bezeichnet hat: die Freiheit.92 Sie alle verstehen den Körper von Self Unfinished in letzter Konsequenz als einen, der in seinen vielen imaginären Verwandlungen als ein potentiell freier figuriert oder eher de-figuriert wird. Auffällig ist allerdings, dass der wissenschaftliche Diskurs zu Self Unfinished in einigen Fällen noch eine weitere Übereinstimmung aufweist, die es lohnt, sie genauer auszuführen. Sie betrifft vorwiegend zwei Sequenzen, die aufeinander folgen und die zu den bekanntesten der Performance gehören. Ihren Anfang nehmen sie mit einem schlichten wie wirkungsvollen Umzug, bei dem sich Le Roy, nachdem er sein graues Hemd abgelegt hat, den darunter anliegenden schwarzen Stoff über Oberkörper, Kopf und Arme zieht. Unter der Gürtellinie ist er noch von einer schwarzen Jeans bedeckt, knapp oberhalb nun quasi von einem schwarzen umgestülpten Poncho, sodass von seinem Körper nur noch ein Streifen seines Bauchs, seine Hände und Füße hervorlugen. Als solcher verkleidet, bewegt sich Le Roy auf allen vieren durch den Raum in Richtung Wand, die er im Anschluss im Handstand entlang geht, die Arme und Beine dabei abgewinkelt und von sich der Künste, Bielefeld 2009, bes. S. 113-148. Zu Eiermann ist anzumerken, dass er den Begriff des organlosen Körpers mit Žižek zu dem des körperlosen Organs invertiert. 90 | Vgl. Krassimira Kruschkova, Die Szene des Anagramms. Dekonstruktion in Theater, Tanz und Performance, Wien 2002, bes. S. 257-261. 91 | Vgl. André Lepecki, Exhausting Dance. Performance and the politics of movement, London/New York 2006, S. 19-44; Petra Sabisch, Choreographing Relations. Practical Philosophy And Contemporary Choreography, München 2011, S. 167-179; Julie Perrin, Figures de l’attention. Cinq essais sur la spatialité en danse, Paris 2012, S. 53-94; Bojana Cvejić, Choreographing Problems. Expressive Concepts in European Contemporary Dance and Performance, Basingstoke, Hampshire 2015, bes. S. 75-82. Zu Cvejić ist anzumerken, dass sie den Begriff des organlosen Körpers leicht verwundert in anderen Untersuchungen registriert, mit ihrem Begriff des »part-body« aber eine weitgehend mit dem deleuzschen Begriff des organlosen Körpers übereinstimmende Sicht vorlegt. 92 | Vgl. Christoph Menke, Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt a.M. 2008.
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gestreckt. Bekanntlich hat dieser eigenartige Gang bei vielen Zuschauern die eindrucksvolle Vorstellung hervorgerufen, sie würden eine Spinne, eine Krake oder ein anderes Tier an der Wand kriechen sehen. Etwas später hat sich Le Roy durch einen weiteren, ebenfalls ausgestellten Umzug vollkommen seiner Kleidung entledigt und sitzt nahe der Wand in der Mitte der Bühne, allerdings kopfüber, den Kopf unter seinen Schultern begraben und mit dem Rücken zum Publikum. Wiederum beginnt er eine Bewegungsfolge, diesmal allerdings ohne Raumweg, allein auf dem gewählten Platz. Er ballt seine Hände zu kleinen Fäusten und streckt seine Arme nach oben und zur Seite hin weg von dem Körpermassiv, das sein Rücken darstellt. Erneut sollte sich angesichts dieser Verrenkungen die Vorstellung eines tierischen Wesens einstellen, oft wurde etwa von einer Schnecke gesprochen, die sich mit Fühlern im Raum orientiert. Dass der Körper in diesen beiden Sequenzen zumindest momenthaft zum Bild gerinnt, also entgegen der These vom organlosen Körper wieder eine, wenn auch tierische Figur oder Form annimmt, beurteilen die Analysen nicht als entscheidende Facette der Performance. Weniger, dass sich das menschliche Körperbild in einigen Momenten in einer anderes, wiederum identifizierbares verwandelt, sondern vielmehr dass die Verwandlung in ihrer zeitlichen Fortdauer jedes Bild und jede Identifikation verunsichert, wird als entscheidend eingestuft. Le Roy und seine langjährige Dramaturgin Bojana Cvejić verschärfen diese Ansicht, indem sie Kritikern vorwerfen, in ihren Besprechungen zu sehr auf diese wenigen Augenblicke klarer Körperformen zu achten anstatt die Destabilisierung der Form in der Zeit zu erkennen.93 Sie würden von der Freiheit der Rezeption, die ihnen als Zuschauer ansonsten von der Anordnung der Performance gegeben wird, keinen Gebrauch machen und sich stattdessen auf eine gewohnte, reduktive Sehhaltung zurückziehen. Von der Wissenschaft bis zum Künstler selbst ist also eine Ablehnung gegenüber dem Fokus auf die Momente zu bemerken, in denen der Körper ein Bild abgibt. Anstatt die Kritiker oder manchen Zuschauer eines falschen Sehens zu bezichtigen, halte ich es eher für angebracht, zu fragen, warum der Körper in diesen Momenten, in diesen zwei Sequenzen, doch noch zum Bild wird, wo er ihm doch ansonsten weitgehend zu fliehen vermag. Was in der Anlage der Performance erlaubt es, dass der Körper immer noch als Bild erscheint? Meine Hypothese besteht darin, dass sich in diesen zwei Sequenzen offenbart, wie tief selbst Self Unfinished noch in jene historische Ordnung des Sehens und des Sichtbaren verwickelt ist, die als Dispositiv der Zentralperspektive besonders ab dem 17. Jahrhundert einsetzt und die den Körper wesentlich zum Bild macht. Mit Blick auf die Perspektive lässt sich zeigen, dass der bildlose Körper paradoxerweise als Bild erscheinen muss, um als bildloser erkennbar zu werden. Zudem bringt der Bezug zur Perspektive ans Licht, dass das Erscheinen des Körpers als einem freien voraussetzt, dass der Körper in sich selbst unfrei ist, 93 | Bojana Cvejić/Xavier le Roy, »Entretien sur Self Unfinished (1998)«, in: Bojana Cvejić (Hg.), »Rétrospective« par Xavier Le Roy, Paris 2014, S. 166-183.
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dass aber vor allem der Blick auf den Körper, dass also der Zuschauer in gewisser Hinsicht unfrei ist.
III Die Funktionsweise und Bedeutung der Zentralperspektive hat im deutschsprachigen Raum niemand derart detailliert und umfassend untersucht wie Ulrike Haß.94 Sie konturiert, wie sich äußerst knapp resümieren lässt, das Prinzip der Perspektive anhand der historischen Erfindung von Brunelleschi in deren paradoxer Verschränkung von Blick und Auge. Brunelleschis Experiment aus dem frühen 15. Jahrhundert besteht demnach aus zwei Schritten, die das Sehen lenken. Zuerst muss der Betrachter seinen Blick im geometralen Raum anordnen. Er muss dazu den einen Gegenstand von Brunelleschis Apparatur, das Täfelchen mit der Abbildung der Taufkirche von San Giovanni, in die eine Hand nehmen und ein Auge an das kleine mittige Loch auf der Rückseite des Bildes anlegen. Mit der anderen Hand muss er den zweiten Gegenstand, den Spiegel, vor das Täfelchen halten, und nun jene Entfernung zwischen Täfelchen und Spiegel eruieren, durch die sein Auge in die Fluchtlinie fällt beziehungsweise Augenpunkt und Fluchtpunkt auf eine Linie fallen. Dann erst kommt der zweite Schritt ins Spiel, der nicht mehr den geometralen Raum, sondern alleine den gewissermaßen imaginären Raum zwischen Täfelchen und Spiegel und alleine das Auge betrifft. Das Auge sieht, in der Fluchtlinie arretiert, die Taufkirche, und zwar idealerweise so, wie sie wirklich, in der Realität vorhanden ist. Und es sieht nicht nur das Bild der Taufkirche, sondern auch sich selbst als einen Teil davon, es sieht mithin, wenn es in die Fluchtlinie starrt, nichts anderes als sich selbst, das Auge als das körperlose Organ, das Sehen macht und deshalb als Grundlage des Wissens angenommen werden kann. Dieser epistemologische Schluss entfaltet sich, wie Haß anhand von Foucault nachzeichnet, im 17. Jahrhundert mit der Episteme der Repräsentation. In wenige Worte gefasst lässt sich sagen, dass das Auge als objektiv und umfassend registrierende Oberfläche oder Leinwand zur Grundlage des Sagbaren und zum Modell der Erkenntnis wird, während der Blick als sekundäre Ergänzung des Sehens erscheint, der den Eindrücken körperliche und imaginäre Inhalte hinzufügt. In diesem epistemologischen Rahmen entfaltet das Prinzip der Zentralperspektive seine volle Wirkung und Bedeutsamkeit und wird zur vorherrschenden Ordnung des Sehens und des Sichtbaren. Das Ausmaß und den Rang eines Dispositivs im Sinn von Foucault95 kann man der Perspektive zumessen, weil sie Diskurse, Institutionen und Praktiken des Sehens und des Sichtbaren auf strategische Weise zur Produktion von Macht ausrichtet, was im Theater besonders anschaulich wird. Die Funktionsstelle des 94 | Vgl. Ulrike Haß, Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform, München 2005, bes. S. 27-121. 95 | Vgl. Michel Foucault, »Das Spiel des Michel Foucault«, in: Ders., Dits et Ecrits, Bd. III., Frankfurt a.M. 2003, S. 391-429.
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sehenden Auges lässt sich nämlich in der zentralperspektivischen Theaterarchitektur nur durch einen einzigen Sitzplatz in der Mitte der Zuschauerränge voll und ganz einnehmen, und dieser ist historisch bekanntlich dem fürstlichen Subjekt vorbehalten. Erst indem er seinen Platz und damit den Augenpunkt auf Höhe der Fluchtlinie besetzt und alle anderen Zuschauer die imaginäre Anstrengung des Blicks unternehmen, in ihrer Vorstellung durch sein Auge zu sehen, erst dadurch wird das Bild der Welt und des Menschen auf der Bühne für alle erkennbar. Erst dadurch generiert und bestätigt sich der Fürst auch als herrschendes Subjekt.
IV Wie nun verhält sich Self Unfinished zu dieser Ordnung? Le Roy selbst nimmt, wiederum im Gespräch mit Cvejić, offen Stellung zur Perspektive und gibt an, dass er den Körper wie dessen Rezeption von deren Einfluss befreit hätte. In Abgrenzung zu den Fotografien, die er vor der Entstehung von Self Unfinished mit Laurent Goldring gemacht hatte, sagt er: Les images composées avec Laurent ne pouvaient être vues que depuis un point fixe. Aussi étais-je curieux d’explorer les méchanismes qui opèrent lorsque mon corps se meut dans l’espace en même temps que le point de vue se déplace. Si mon corps se transforme alors qu’il est en mouvement, ce n’est plus l’angle depuis lequel la perspective est construite qui en produit la transformation. C’est la chose – c’est à dire mon corps – qui se transforme indépendamment du point du regard. 96
Die Transformationen des Körpers werden demnach jenseits der Perspektive sichtbar, das heißt und das betonen Le Roy und Cvejić an anderer Stelle auch mehr oder weniger explizit, Körper und Rezeption des Körpers, Performer und Zuschauer sind wesentlich frei. Unter den wissenschaftlichen Untersuchungen setzt sich jene von Julie Perrin ebenfalls mit dem Verhältnis von Self Unfinished und der Perspektive auseinander, und zwar in einer Weise, welche die Aussagen von Le Roy und Cvejić stützt.97 Zwar bemerkt sie, dass Self Unfinished noch im Dispositiv der Perspektive zu situieren ist und nicht jenseits davon, dass es Le Roy aber dennoch gelinge, den Körper auf der Bühne wie auch den Blick aus dem Zuschauerraum zu de-figurieren und die Perspektive damit zu stören. Als Beleg dienen ihr besonders drei Aspekte. Erstens Le Roys Raumwege, die nicht, wie es besonders das Ballett in Übereinstimmung mit der Perspektive vorgibt, die Mitte und die Tiefe der Bühne betonen, sondern deren Breite. Zweitens die wortwörtliche Kopf- und Blicklosigkeit von Le Roy: nach dem Einlass blickt er das Publikum die ganze Dauer der Performance über nicht an und kreiert immer wieder die Vorstellung von kopflosen Kreaturen. Drittens die Auflösung von Figur und Hintergrund, von Form und Fond, wobei Perrin dafür weniger jene 96 | Cvejić/Le Roy, Entretien, S. 171. 97 | Vgl. Perrin, Figures de l’attention, S. 53-94.
Theater als Dispositiv
wiederholt auftretende Sequenz anführt, in der sich Le Roy an die Kante von Wand und Boden legt und damit tatsächlich im Raum aufzugehen scheint, sondern die erwähnte Sequenz, in der Le Roy nackt, kopfüber und mit dem Rücken zum Publikum hinten in der Mitte der Bühne zu sehen ist. Durch das Neonlicht würde der nackte Körper so hell werden wie die ihn umgebenden weißen Wände, Figur und Hintergrund würden auf diese Weise eins werden. Während Perrin im ersten Punkt zuzustimmen ist, ist ihr im zweiten und besonders im dritten zu widersprechen. Dass Le Roy nicht ins Publikum blickt, stört nicht das Grundprinzip der Zentralperspektive, sondern die Ordnung der Guckkastenbühne aus dem 19. Jahrhundert, in der die Fluchtlinie zusehends durch den erwidernden Blick des Schauspielers und andere Momente ersetzt wird.98 Und dass Le Roy, wenn er nackt und seinen Rücken zeigend auf seinen Schultern sitzt, durch das Neonlicht vom weißen Raum ununterscheidbar wird, ist schlicht kaum nachvollziehbar, denn die Neonröhren verbreiten kein derart gleißendes Licht, dass keine Konturen mehr erkennbar wären. Im Gegenteil bildet der Körper gerade dann, wenn sich Le Roy in dieser Position befindet, einen scharfen Umriss aus und wird, wie gesagt, als Schnecke oder anderes Wesen mit Fühlern vorstellbar. Der Körper wird genauso wie in der anderen eingangs genannten Sequenz, in der er als Spinne oder Krake erscheint, zum Bild und bewirkt daher keine Störung der Zentralperspektive, sondern wird erst durch sie sichtbar und bestätigt ihre gesamte Anordnung von Blick und Auge. Das wird besonders ex negativo sichtbar, wenn man, wie es mir einmal eher unfreiwillig passiert ist, von der Seite auf Self Unfinished blickt. Ich kam zu einer der Aufführungen im Théâtre de la Cité Internationale zu spät und nahm deshalb links der Zuschauerreihen auf den Stufen Platz. Als Le Roy zu den beiden genannten Sequenzen gelangte, sah man von meinem Platz aus zunächst weder Spinne noch Krake oder Schnecke, sondern vielmehr einen zwar in eigenartigen Positionen befindlichen, aber immer noch eindeutig menschlich-anatomischen Körper. Man sah eher die Machart des Bildes als das Bild selbst, sah, wie sich ein Mensch in schwarzem Stoff gehüllt im Handstand über die Wand mühte und dann, wie er nackt als kleiner Körperhaufen auf der Bühne kauerte. Dieser Blick auf die Konstruktion des Körperbildes entspricht wohl durchaus Le Roys Bestreben nach Transparenz, aber um den menschlichen Körper zu einem anderen transformiert zu sehen und ihn letztlich als de-figuriert zu sehen, bedarf es exakt der Anstrengung, welche die Perspektive verlangt. Man setzt sich idealerweise in die Mitte des Zuschauerraums und damit an die Stelle des Augenpunkts gegenüber des Fluchtpunkts oder man ist, wenn man auf der Seite sitzt, gezwungen, sich als Auge im idealen Punkt zu imaginieren. Nur dann, wenn man sich zu diesem Auge, zum starren, vom Körper losgelösten Organ macht, ist die Voraussetzung dafür gegeben, dass der Blick hinzutritt, um in einem Exzess der Imagination die Körperbilder von Spinne, Krake et cetera erscheinen zu lassen. Und nur 98 | Vgl. Haß, Drama des Sehens, S. 67f.
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durch die Abfolge dieser Vorstellungen anderer identifizierbarer Körperbilder löst sich die Vorstellung vom menschlichen anatomischen Körper und kann letztlich der Gedanke eines Körpers ohne Bild aufkommen.
V Es lässt sich resümieren, dass Le Roys Self Unfinished zumindest in den zwei behandelten Sequenzen eindeutig auf dem Dispositiv der Zentralperspektive beruht. Paradoxerweise ist dessen Apparat der Formproduktion nötig, um einen Körper ohne Form vorstellbar zu machen. Das Formlose muss sich in der Form oder am Rand der Form zu erkennen geben, um wahrgenommen werden zu können. Ebenso paradox ist, dass der freie Körper nur durch die Unfreiheit erahnbar wird, welche die Perspektive ihm selbst und dem Zuschauer auferlegt. Der Körper selbst wird insofern eingeschränkt, als er sich im Fluchtpunkt bewegen und postieren muss, um als anderer Körper sichtbar zu werden, das heißt konkret entlang der Wand und knapp vor ihr in der Mitte der Bühne. Der Zuschauer wiederum muss sich offensichtlicher einschränken, weil er sich der Konstruktion des Augenpunkts unterwerfen muss, um den Körper als einen anderen sehen zu können. Es ist besonders diese Unfreiheit des Zuschauers, die Le Roy und Cvejić mit ihrem verbalen Angriff auf den Kritiker anscheinend zu verbergen versuchen und die auch die wissenschaftlichen Analysen bisher eher verdeckten, indem sie die Momente der klaren Körperbilder nicht in ihrem Eigenwert thematisiert haben. Anstatt dem Kritiker oder Zuschauer falsches Sehen zu unterstellen und das Sehen damit zu individualisieren, ist vielmehr zu betonen, dass es auch in Self Unfinished strukturell von der Perspektive hergestellt wird, dass die Perspektive nur durch eine gewisse Unfreiheit den Ausdruck von Freiheit sehen macht, und dass mit ihr, auch wenn es keinen Fürsten mehr gibt, immer noch ein gewisses Machtverhältnis in das Theater eingeschrieben ist, ein Machtverhältnis zwischen denen, die die besseren Plätze, und denen, die die schlechteren Plätze ergattert haben, aber immer auch ein Machtverhältnis zwischen dem Choreographen und den Zuschauern insgesamt.
Georg Döcker
Bühnen des Nicht-Menschlichen Gerko Egert, Stefan Apostolou-Hölscher, Maximilian Haas, Mariama Diagne, Simon Hagemann, Daniela Hahn
Nicht-menschliche Akteure als (Ko-)Akteure von Spiel und Bewegung zu begreifen, stellt für das Verständnis von Theater und Tanz eine Herausforderung dar. Sie problematisieren ein Denken der Intention, Identifikation sowie Repräsentation und entlarven somit das Theater in seiner human-zentrierten oder auch humanistischen Konstruktion. In den letzten Jahren wurde ein anthropozentrischer Begriff von Tanz und Theater sowohl in der künstlerischen Praxis als auch in kulturwissenschaftlichen Diskursen zunehmend in Frage gestellt: Tiere, Objekte, Maschinen, Dampf und Licht emanzipieren sich aus ihrem Dasein als bloße Requisiten in einer auf den menschlichen Körper und seine Bewegungen zentrierten Aufführung: Konfetti in Mette Ingvartsens The Artificial Nature Project, Nebel in Eszter Salamons Tales of the Bodyless, Schnüre und Kirschen in Arbeiten von Eva Meyer-Keller, Maschinen in Boris Charmatz’ Enfant, Roboter in Oriza Hiratas Sayonara (Version 1&2), lebende Tiere in Choreographien von Kroot Juurak, Landschaft in den Performances von Annette Arlander sowie Licht in Naoko Tanakas Arbeiten. Sie alle katapultieren den Menschen als Hauptakteur aus dem Fluchtpunkt der Tanz- und Theaterbühne an die theatrale Peripherie und rücken andere Wesensformen und ihre Handlungsmacht ins Zentrum. In den letzten Jahren ist ein theoretisches Vokabular zur systematischen Untersuchung und Beschreibung von nicht-menschlichen Aktanten entstanden, das auch Eingang in die Kultur- und Kunstwissenschaften gefunden hat. Statt den Menschen als Ausgangspunkt der Erkenntnis oder als Konstrukteur der Welt zu sehen (bspw. im Konstruktivismus), gehen neuere Ansätze eines sogenannten Non- bzw. Posthuman Turn vielmehr von Netzwerken von Dingen und Menschen (Latour), »Entanglements of Matter and Meaning« (Barad), kosmologischem Denken (Whitehead/Stengers/Haraway) oder Konzepten der Ökologie (Guattari) aus. Denkfiguren wie die Cyborg (Haraway), die Experimentalanordnung (Rheinberger) oder die Assemblage (Deleuze/Guattari) lassen sich auch in den Bereich von Theater und Tanz übertragen. Dabei tritt NichtMenschliches nicht nur in Form von Dingen, Tieren und Maschinen auf. In Arbeiten wie Xavier Le Roys Low Pieces zeigt sich, dass jene genuin an den menschlichen Körper
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geknüpften Fähigkeiten wie Handlung oder Bewegung in bestimmter Hinsicht selbst unmenschlich sind. Wie lässt sich eine Bewegung als »autonom« (Gil) denken, die zwar den menschlichen Körper durchzieht, aber von diesem nicht primär und allein initiiert wird? Gibt es eine Performancekunst, die weniger von der Handlungsmacht des Menschen als vielmehr von einer »posthuman performativity« (Barad), also von der Prozessualität der Materie selbst ausgeht? Welche Konsequenzen hat das für den Status des Nicht-Menschlichen sowie dessen Verhältnis zum Menschen (Schauspieler/in, Performer/in und Tänzer/in) und für unseren Begriff von Performance, Tanz und Theater? Ließe sich davon ausgehend ein Konzept des Bühnen-Handelns mit Blick auf Tiere und Objekte neu konturieren und eine post-anthropozentrische Epistemologie der Theater- und Tanzwissenschaft anders formulieren? Im Folgenden sollen künstlerische Arbeiten wie auch theoretische Konzepte jenseits anthropozentrischer Arbeitsweisen präsentiert werden.
Bewegungsstürme Für eine Meteorologie des Tanzes Viele der hier einleitend skizzierten Fragen und Probleme werden auch von der Choreographin Mette Ingvartsen in ihrer 2012 entstandenen Arbeit The Artifical Nature Projekt gestellt. Sie schreibt im Kontext der Aufführung: What does it mean to make a choreography for materials where human movement is no longer in the center of attention? How can one address the force of things, materials, objects and matters as something that acts upon humans? What is the relationship between the animate and the inanimate world?1
The Artificial Nature Project beginnt im Dunklen. Langsam fallen kleine leuchtende Punkte von oben auf die Bühne. Ist es ein Funkenregen oder fliegen kleine Glühwürmchen durch das Schwarz des Raumes? Es bilden sich Wolken und dichte, silbrig schimmernde Nebel, und auf dem Boden bilden sich Hügel aus silbernem Konfetti. Der Regen hört auf und die Bühne wird zu einer weißen Schneelandschaft. Einige menschliche Tänzer/innen betreten die Szene. Mühsam versuchen sie das Konfetti zu häufen und die Landschaft zu verändern, doch bald schon werden sie von einer Wanderdüne verschluckt, die quer über die Bühne rollt. Ein Sturm kommt auf. Laubbläser wirbeln das Konfetti durch die Luft, und mitten auf der Bühne schießt eine Fontäne in die Höhe. Das Licht wird rot und die Fontäne ein Feuer, wieder ist die Luft voller fliegender Funken.
1 | Mette Ingvartsen, The Artificial Nature Project, http://metteingvartsen.net/2012/05/ the-artificial-nature-project vom 16.7.2015.
Bühnen des Nicht-Menschlichen
Abb. 1: Mette Ingvartsen, The Artificial Nature Project. © Jan Lietaert Die Schutzanzüge der Tänzerinnen und Tänzer sowie die golden schimmernden Notfalldecken lassen die Bühne zu einem postapokalyptischen Katastrophen-Szenario werden. Bedroht durch die Wirbel und Stürme schützen sich die menschlichen Tänzer/innen mit Pistolen, die Luft blasen. Doch keiner kann das Konfetti kontrollieren. Immer wieder entstehen neue Szenarien: Stürmender Sand, funkensprühendes Feuer, spritzendes Wasser oder wirbelnder Sturm – unberechenbare Konfetti-Katastrophen. In The Artifical Nature Project bilden sich Wetter-Szenarien durch Wolken, Nebel, Sturm und Regen. Mal friedlich, mal romantisch, mal katastrophisch sind diese komplexen Bewegungsökologien nicht nur-menschlich. Diese Choreographien sind vielmehr meteorologisch. Sie bilden, um ein Konzept des Anthropologen Tim Ingolds aufzugreifen, bewegte »Wetter-Welten«2 (weather worlds). Mit dem Begriff der Wetter-Welten beschreibt Ingold das Wetter als etwas, das nicht einfach in einem festen Rahmen, einer gegebenen Landschaft stattfindet. Vielmehr sind die materiellen Konstellationen dieser Welt Teil der sich ständig bewegenden Wetterkräfte. Es gibt keine dem Wetter vorgängigen Objekte, nur eine Meteorologie der Bewegungen. Bewegungen sind dabei jedoch nicht einfach als die Handlungen des Wetters zu verstehen, vielmehr besteht das Wetter selbst aus Bewegungen. Ingold schreibt: »We are not required to believe that the wind is a being that blows, or that thunder is a being that claps. Rather, the wind is blowing, and the thunder is clapping.«3 Wetter wird hier zu einem Prozess und zu einer Choreographie vielfältiger menschlicher und nicht-menschlicher Bewegungen. 2 | Tim Ingold, Being Alive: Essays on Movement, Knowledge and Description, London/ New York 2011. 3 | Ebd., S. 73.
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An einem stürmischen Tag steht Ingold mit seinen Studierenden am Strand und schaut aufs Meer: We had […] to recognise that the ground on which we stood was not really a supporting platform upon which things rest but a zone of formative and transformative processes set in train through the interplay of wind, water and stone, within a field of cosmic forces such as those responsible for the tides.
Nach einer Beschreibung von Bewegungen des Meeres und der Vögel endet diese Passage: »[W]e saw a world in movement, in flux and becoming, a world of ocean and sky, a weather-world. We saw a world without objects.« 4 Dieses komplexe Zusammenspiel von Kräften folgt keineswegs den Strukturen von Umwelt/Raum (der Landschaft), von Akteuren (Wind, Sonne, Möwen oder Menschen) oder Handlungen (Blasen, Scheinen, Fliegen, Schauen, Bewegen). Sie alle sind Teil einer meteorologischen Choreographie der Wetter-Welt. So wenig sich die Strukturen von Handlung, Handelnden und Umgebung am Strand in Schottland bestimmen lassen, so wenig lassen sie sich auch in Ingvartsens Performance ausmachen. The Artifical Nature Project ist eine Wetter-Welt, weniger eine Welt der Objekte als eine Welt voller Bewegungen, voller Regen und Fließen, voller Stürmen und Sprudeln. Es sind Bewegungen, die hier das Konfetti zu Regentropfen, Funken oder Sand werden lassen. In ihnen wird das Konfetti schwer wie eine Sanddüne und leicht wie Funkenregen. Diese Bewegungen werden jedoch weder von Tänzerinnen und Tänzern noch vom Konfetti ausgeführt. Diese Bewegungen sind keine Handlungen, denen ein Handelnder vorgängig wäre. Die Bewegungen bilden, um ein Konzept José Gils aufzugreifen, die »Immanenzebene des Tanzes«.5 Mit der Immanenzebene des Tanzes beschreibt Gil, ausgehend von Deleuze und Guattari, die Bewegung im Tanz als autonom. Autonom bedeutet dabei nicht die Unabhängigkeit der Bewegung vom Körper des Tänzers oder der Tänzerin, sondern die Unmöglichkeit, die Bewegung auf den Körper zu reduzieren. Sie übersteigt diesen immer.6 Bewegungen sind auch nicht einem Körper oder einem Konfetti immanent, sondern sie ziehen sich transversal durch die menschlichen wie nichtmenschlichen Körper auf der Bühne – und darüber hinaus. All diese Körper sind in Bewegung, im Prozess 4 | Ebd., S. 131. 5 | José Gil, »The Dancer’s Body«, in: Brian Massumi (Hg.), A Shock to Thought: Expression after Deleuze and Guattari, London/New York 2002, S. 117-127, hier S. 124. 6 | Bezogen auf den Tanz (von Cunningham) führt Gil aus: Die Bewegung im Tanz ermöglicht »the construction of a virtual plane of movement where all of the movements of bodies, objects, music, colour acquire a consistency, that is, a logic or a nexus […]. It also enables the re-organization of movements of the body without recourse to external elements, since the actual movements of the body of the dancer obtain their impetus from the virtual plane and from the tensions produced there.« (Gil, »The Dancer’s Body«, S. 124)
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des Werdens. Ihre Materialität, ihre Konfiguration und ihre Form verändern sich permanent. The Artifical Nature Project entsteht als ein Gefüge relationaler Materialitäten, jedoch nicht in dem Sinne, dass bestehende Teile zusammenkommen (dies wäre die Logik der Interaktion, des Pas de Deux oder des Dialoges), sondern als ein Gefüge von Bewegungen mit Bewegungen. Diese Choreographien können nicht einfach auf eine Bewegung oder einen Tänzer (menschlich oder nichtmenschlich) reduziert werden. In den Wetter-Welten der Performances gibt es kein Zentrum und keinen Punkt, wo die Bewegungen anfangen oder enden. Dieser Tanz ist meteorologisch – er ist eine wetter-weltende Choreographie. Obwohl sich Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne von The Artifical Nature Project befinden, nehmen sie keinen privilegierten oder zentralen Platz ein. Ihre Körper sind Teil der vielfältigen materialen Konfigurationen, hervorgebracht durch das Zusammenspiel von Bewegungen. Der Fokus wird hier von menschlichen Akteuren abgelöst, jedoch nicht einfach auf nichtmenschliche Objekte übertragen. Würden wir in diesem Fall die gleichen Fragen und Konzepte beibehalten, führte dies zu zwei Problemen: Erstens würde in keiner Weise die Trennung von menschlich und nichtmenschlich in Frage gestellt und zweitens würden wir weiterhin in der Logik eines Subjekts verbleiben, das die Objekte (Körper) in Raum und Zeit anordnet. Die meteorologische Choreographie in The Artifical Nature Project ist nicht im Begriff der Objekte, sondern in Begriffen der Bewegung nichtmenschlich. Das Nichtmenschliche in der Performance wäre somit nicht einfach das Konfetti, sondern jene Bewegungen, Kräfte und Prozesse, die sich durch die menschlichen wie nichtmenschlichen Körper ziehen, diese übersteigen und verändern. Sie sind »mehr als menschlich« 7: »Choreography [is] less […] that which is generated by the human for the human than a practice that foregrounds how the event itself attunes to a relational milieu that exceeds the human or wherein the human is more ecological than individual.« 8 Eine Choreographie in actu komponiert das Ereignis im Prozess seiner Entfaltung. The Artificial Nature Project »[happens] beyond the human performer on stage [and] between the elements, […] between material and immaterial forces. [The choreography happens] between the bodies and the actual physical materials but it is also happening in the airflows, in the currents, and fluctuations«9. Im ›Zwischen‹ von Strömen und Winden entsteht die Choreographie – meteorologisch und mehr-als-menschlich.
Gerko Egert
7 | Erin Manning, Always More Than One: Individuation’s Dance, Durham/London 2013, S. 81. 8 | Ebd., S. 76. 9 | Mette Ingvartsen, Lecture on The Artifical Nature Project, Vortrag in den Uferstudios Berlin am 25.01.2014.
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Ein Ende der Ästhetik? Spekulativer Realismus und die Korrelation von Subjekt und Objekt Inspiriert durch die Prozessphilosophie Alfred North Whiteheads und Fragen daraus, die durch dessen Erben Isabelle Stengers und Bruno Latour aufgeworfen und weitergeführt wurden, haben vor ein paar Jahren die Anhänger des sogenannten Spekulativen Realismus ins Kunstfeld Einzug gehalten.10 In Folge eines erneuten Nachdenkens über Materialität sind sie nicht länger primär an semiotischen, macht- und wissensanalytischen oder dekonstruktiven Themen orientiert, sondern beschäftigen sich mit Objektwelten, die sowohl von Subjekten als auch von ihrer Praxis vollends entkoppelt auftreten.11 Diese Tendenz war bereits an der letzten dOCUMENTA 2012 abzulesen. Neben einigen künstlerischen Positionen gab es in der Serie von Begleittexten zur Ausstellung, 100 Notes – 100 Thoughts, die u.a. einen Beitrag von Graham Harman – den an Whitehead geschulten Essay The Third Table – enthalten, Hinweise auf den sich langsam anbahnenden Umschwung künstlerischer und diskursiver Wetterlagen.12 Die vom 9. September 2013 bis zum 23. Februar 2014 im Kasseler Fridericianum gezeigte Ausstellung Speculations on Anonymous Materials, deren Motto sich als Anspielung auf den Untertitel des Buches Cyclonopedia von Reza Negarestani13 verstand, stand schließlich explizit im Zeichen der zunächst philosophischen Strömung, die 2007 in London ihren Anfang genommen hatte, um dann schon sehr bald in Magazinen wie Spex (Sept./Okt. 2012), e-flux (Juni 2013), Texte der Kunst (März 2014) oder Artforum International (April 2014) behandelt und weiterverbreitet zu werden. Wenn es eine Gemeinsamkeit in der Herrenrunde gibt, die sich 2007 am Londoner Goldsmiths College traf, um den Spekulativen Realismus als neue philosophische Bewegung auszurufen und als Label in der internationalen Aufmerksamkeitsökonomie zu platzieren, dann ist es die Kritik am ›Korrelationismus‹ von Subjekt und Objekt. Darunter versteht der Badiou-Schüler Quentin Meillassoux (der sich damals mit Graham Harman, Iain Hamilton Grant und Ray Brassier traf) die seit Immanuel Kants kritischer Wende bestehende Dominanz der Epistemologie gegenüber der Ontologie, also die Privilegierung der Frage, unter welchen Bedingungen allein Phänomene gegeben und erkennbar sind, nicht jedoch eine 10 | Vgl. exemplarisch Alfred North Whitehead, Prozeß und Realität, Frankfurt a.M. 1987; Isabelle Stengers, Thinking With Whitehead – A Free and Wild Creation of Concepts, Stanford 2014; Bruno Latour, Existenzweisen – Eine Anthropologie der Modernen, Frankfurt a.M. 2014. 11 | Vgl. Levi Bryant/Graham Harman/Nick Srnicek, The Speculative Turn – Continental Materialism and Realism, Melbourne 2011. 12 | Vgl. die Reihe dOCUMENTA (13): 100 Notes – 100 Thoughts, 100 Notizen – 100 Gedanken, darin insb. Graham Harman, »The Third Table«, Ostfildern 2012. 13 | Vgl. Reza Negarestani, Cyclonopedia – Complicity With Anonymous Materials, Melbourne 2008.
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von Erfahrung vollständig losgelöste Realität des Noumenalen. Diese besteht für Meillassoux in einem notwendig kontingenten Hyper-Chaos,14 für Harman in der einsamen Tiefe von Objekten jenseits ihrer Interaktion miteinander,15 für Grant in einer ihre Produkte übersteigenden Produktivität der Natur16 und für Brassier in einem ins Kosmische gewendeten Todestrieb17. Demgegenüber sei der Korrelationismus seit Kants kopernikanischer Wende, dem stimmten zunächst alle zu, durch den Vorrang menschlicher Erfahrung und ihren sinnlichen Zugang zur Welt gekennzeichnet, durch Ästhetik eben, in der die Vermögen des Erkenntnissubjekts in der Tat mit den Objekten einer ihm möglichen Erkenntnis korrelieren.
Abb. 2: © Anthem Group, https://anthem.wordpress.com/ Die theatral zu nennende Verfasstheit des Subjekts seit Kant führt dazu, dass ihm die Welt nur im Modus des Als-Ob erscheint. Anstatt sie als etwas von seiner Position Unabhängiges erfassen zu können, eröffnet sie sich ihm unter Voraussetzungen, die seine eigene Erkenntnisstruktur implizieren, nämlich als das Ergebnis des Zusammenwirkens der beiden Anschauungsformen von Raum und 14 | Vgl. Quentin Meillassoux, After Finitude: An Essay on the Necessity of Contingency, London/New York 2009. 15 | Vgl. Graham Harman, Towards Speculative Realism – Essays and Lectures, New York 2010. 16 | Vgl. Iain Hamiltan Grant, Philosophies of Nature After Schelling, London/New York 2008. 17 | Vgl. Ray Brassier, Nihil Unbound – Enlightment and Extinction, London/New York 2007.
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Zeit einerseits und der Verstandeskategorien andererseits. Durch sein kritisches Gebot, anders als die relativen Dinge-für-uns könnten die absoluten Dinge-an-sich nicht Gegenstand von Erkenntnis sein, habe Kant laut Meillassoux die großen Türen ›ins Außen‹ zugestoßen und den Menschen in die Welt seiner eigenen Zeichen eingesperrt. [I]t could be that contemporary philosophers have lost the great outdoors, the absolute outside of pre-critical thinkers: that outside which was not relative to us, and which was given as indifferent to its own giveness to be what it is, existing in itself regardless of whether we are thinking of it or not; that outside which thought could explore with the legitimate feeling of being on foreign territory – of being entirely elsewhere.18
Ohne die spannenden philosophischen Argumentationslinien, die Meillassoux in After Finitude entfaltet, hier nachzeichnen zu können, möchte ich fragen, wie fruchtbar es ist, aufgrund einer Kritik am Korrelationismus das Ende der Ästhetik einläuten zu wollen. Armen Avanessian, der maßgeblich dazu beitrug, die Vertreter des Spekulativen Realismus im deutschsprachigen Raum bekannt zu machen und eine ihnen gewidmete und schnell wachsende Reihe im Merve-Verlag herausgibt, konstatierte im März 2014 in der mit Spekulation betitelten und von ihm mit betreuten Ausgabe von Texte zur Kunst, allein indem wir die Ästhetik hinter uns ließen, könne das Absolute als etwas, das sich dem korrelationistischen Spiel zwischen sinnlicher Anschauung und Verstand radikal entzieht, zum Motor einer neuen, ›spekulativen‹ Kunstpraxis werden. Dafür sei es unabdingbar, die Vermögen des ästhetischen Subjekts zu überschreiten: »Es geht um eine Veränderung und Ausweitung unserer Vermögen a posteriori, nicht um das Zusammenspiel uns a priori gegebener Vermögen, derer wir [nur] in der ästhetischen Erfahrung innewerden [können].«19 Zu fragen wäre dann allerdings, worauf bereits Gilles Deleuze in Die Idee der Genese in Kants Ästhetik hingewiesen hat, ob es nicht schon in Kants Kritik der Urteilskraft um eine ›Veränderung und Ausweitung‹ der Vermögen geht, da wir in der Erfahrung des Schönen auf das in dieser Erfahrung geöffnete Verhältnis zwischen Einbildungskraft und Verstand reflektieren, ohne dabei von im Vorhinein gegebenen Regeln geleitet zu werden.20 Zwar ist eine solche Ästhetik durchaus korrelationistisch, aber wie in ihr Anschauung und Begriff zusammenhängen, wird zutiefst verunsichert. Obwohl keine der beiden Seiten ohne die andere zu haben ist, bildet gerade ihre unbestimmte Korrelation das, was Kant zufolge in der ästhetischen Erfahrung gegeben ist, nämlich ein X. Demgegenüber mit 18 | Meillassoux, After Finitude, S. 7. 19 | Armen Avanessian, »Das spekulative Ende des ästhetischen Regimes«, in: Texte zur Kunst: Spekulation 93 (2014), S. 57. 20 | Vgl. Gilles Deleuze, »Die Idee der Genese in Kants Ästhetik«, in: Ders., Die einsame Insel – Texte und Gespräche 1953-1974, Frankfurt a.M. 2003.
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Meillassoux ein Absolutes jenseits von Erfahrung überhaupt und ohne Ästhetik für die Kunst produktiv machen zu wollen, führt m.E. in eine Sackgasse. Laut Meillassoux ist das Absolute allein mathematisch zu denken. Ihm entspricht, darin ist es Kants Idee des Erhabenen vergleichbar, keinerlei sinnliche Anschauung, die einem Subjekt gegeben sein könnte. Weil Meillassoux den Status des Subjekts ausblendet, besteht Svenja Bromberg darauf, dass sich zwar die Kontingenz der Korrelation politisch wenden lasse, aber die notwendig korrelationistisch vermittelte Welt, wie sie der Erfahrung des Subjekts erscheint, nicht ins Spiel kommen könne. But if we were to embrace an art of the inaesthetic, i.e. an art that itself, and independent of the philosophical subject of aesthetics, can alert and direct the spectator to a truth that fundamentally differs from the subjective human reality […], it could perhaps become a source of dreams, desires and comportments that might help us to understand this very world as contingent – and therefore open to being altered. 21
Es bleibt jedoch fraglich, warum wir eine Welt, deren absolutes An-sich von unserer Erfahrung vollständig entkoppelt ist, auf der Ebene der uns gegebenen Phänomene und in ihrer Aufteilung des Sinnlichen (Rancière), überhaupt verändern wollen sollten.22 Jenseits der Korrelation zwischen Subjekt und Objekt eine spekulative, post-ästhetische Kunst zu postulieren hieße konsequenterweise, eine Kunst zu postulieren, die sich nicht länger an eine Welt richtet, die durch menschliche Praxis veränderbar ist. Obwohl der Spekulative Realismus neue Probleme aufwirft und zu Gedankenexperimenten einlädt, die vielleicht andere Erfahrungsweisen provozieren können, sind die prozessphilosophischen Ansätze von Whitehead, Stengers und Latour vielversprechender, weil sie nicht Gefahr laufen, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Ohne mit der Ästhetik insgesamt Schluss machen zu wollen oder in ihr das Gericht eines obsoleten sensus communis zu sehen, hinterfragen sie Kants Privilegierung menschlicher Erkenntnissubjekte, Akteure und Netzwerke, bewahren von dessen kritischer Wende jedoch die Einsicht, dass es keinen Menschen, kein Tier, kein Lebewesen, keine Maschine und auch keine anorganische Materie gibt, das, der oder die Zugang zum Absoluten hat. Dabei ist weniger relevant, ob das Absolute nun ein rein mathematisches Hyper-Chaos sei oder das von seinen Zuschauern abgewandte Sein in sich ruhender Objektwelten oder Schellings überschäumende Natur oder ein bereits totes Universum, das von Anfang an auf seine eigene Auslöschung zugesteuert ist. Wichtiger als der Eintritt ins Absolute werden dann die stets strittigen Darstellungsweisen des Re21 | Svenja Bromberg, »The Anti-Political Aesthetics of Objects and Worlds Beyond «, in: www.metamute.org/editorial/articles/anti-political-aesthetics-objects-and-worlds-beyond vom 12.08.2014. 22 | Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen – Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2006.
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lativen, das in Beziehungsgeflechten korrelationistisch vermittelt ist und Verhältnisse zwischen Menschen sowie Verhältnisse zwischen Mensch und Tier oder Mensch und Ding beinhaltet. Ästhetik wäre dann der Name für eine Erfahrung, in der auf Korrelationen von Subjekten und Objekten reflektiert wird und in der man einem ›etwas‹ immer wieder neu und anders begegnet, aber nicht absolut, sondern relativ, nicht erhaben, sondern schön. Wie im Theater: Als ob, obwohl wir die volle Verantwortung für unser Urteil tragen werden.
Stefan Apostolou-Hölscher
Das Tier auf der Bühne Die zeitgenössischen Künste sind auf das Tier gekommen. Zunehmend bestimmen auch non-human animals die Werke. Warum ist das so? Woher rührt das gegenwärtige Bedürfnis, sich neue Bilder vom Tier zu machen? Vielleicht weil wir derzeit gar nicht so genau wissen, was ein Tier eigentlich ist. Unsere Begriffe sind durcheinander geraten. Tanz und Performance eignen sich als Live-Kunstformen der körperlichen Begegnung besonders, um das gegenwärtige Verhältnis von Mensch und Tier zu erforschen und sich neue Begriffe zu bilden.
Das moderne Tier Tiere, zumal die höheren Wirbeltiere, sind den Menschen in vieler Hinsicht so ähnlich, dass sich Philosophie und Wissenschaften je schon veranlasst sahen, die Unterschiede zu bestimmen. Dabei zogen sie die Grenze zwischen Menschen und Tieren je anders und immer wieder neu. Die moderne Form dieser Grenzziehung fand ihren prägnantesten Ausdruck in der kantischen Unterscheidung von Subjekt und Objekt, wobei Tiere bis zum Orang-Utan ausdrücklich der ObjektSeite zugeordnet sind. Nur Menschen können als Subjekte gelten. Demzufolge sind auch nur Menschen als Personen anzusehen, das heißt als Träger von moralischen Rechten und Pflichten. Tiere dagegen gelten als Sachen und sind damit der menschlichen Verfügungsgewalt unterstellt.23 Hiermit geht eine weitere Unterscheidung einher, nämlich die zwischen Kultur und Natur. Die erste Kategorie fasst dabei alles Menschengemachte einschließlich des Menschen selbst, die zweite alles andere, von der unbelebten Materie über Pilze und Pflanzen bis zu den großen Menschenaffen. Der Kosmos ist aufgeteilt in zwei Welten: Menschen bewohnen die eine Welt, Tiere bewohnen die andere. Das menschliche Subjekt ist ein Kulturwesen, Tiere sind natürliche Dinge. Der Mensch ist also als Ausnahme von der Natur definiert und als das Gegenteil des Tiers.
23 | Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Hamburg 2000, S. 9.
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Das Tier gibt es nicht Besonders im Raum der Kunst zeigt sich an konkreten Erfahrungen mit Tieren, dass die moderne Entgegensetzung von willentlich handelndem Subjekt und willfährig unterworfenem Objekt nicht zutrifft. Die Grenze ist weder deutlich, noch verläuft sie gerade. So waren Menschen niemals, selbst in den düstersten Stunden von Moderne und Industrialisierung, gänzlich immun gegenüber der Empathie von und mit Tieren. Dieses Gefühl impliziert, dass derjenige, der Empathie mit jemandem empfindet, sich diesem mindestens verwandt fühlt. Darüber hinaus haben wir es nie mit so etwas Allgemeinem wie dem Tier zu tun. Unsere praktischen Erfahrungen machen wir immer mit einem bestimmten, mit diesem Tier. Zudem ist das Tierreich viel zu divers, um überhaupt zutreffend von dem Tier sprechen zu können. Nur aus Perspektive des Menschen, als Ausnahme von der Natur begriffen, erscheint die Vielfalt von Lebewesen zwischen Amöbe und Schimpanse als das Tier. Das Wort bezeichnet dann lediglich den lebenden Anderen desjenigen, der sich Mensch nennt.24
Jenseits von Mensch und Tier Von der Biologin und Philosophin Donna Haraway kann man lernen, sich jenseits einer kategorischen Opposition von Mensch und Tier in der lebendigen Welt zu orientieren. Hierzu ist ein Perspektivwechsel nötig, der sich vom gattungsmäßigen Sein der Individuen ab- und ihrem gemeinsamen Werden zuwendet: »To be one is always to become with many.«25 Man ist nicht einfach, wer man ist, sondern wird es. Dabei ist man von unzähligen Anderen umgeben, die beeinflussen, wer und wie man wird. Das heißt, was ein Individuum ist, kann und macht, ist nicht durch seine Artzugehörigkeit vorherbestimmt. Es muss sich in der jeweiligen Beziehung zu anderen Individuen erst noch erweisen. Akteure definieren sich gegenseitig in einer gemeinsamen Aktion. Dass dies auch und gerade für Interspezies-Beziehungen gilt, wird auf den Bühnen von Tanz und Performance besonders augenfällig. Haraways relationale und praxisorientierte Theorie der Mensch-Tier-Beziehung gründet in der Prozessontologie des Mathematikers und Philosophen Alfred North Whitehead, der das moderne Weltbild auf Grundlage von Relativitätstheorie und Quantenphysik überarbeitet.26 Whitehead beschreibt die Wirklichkeit als ein raumzeitliches Gefüge von Entitäten, die sich im Prozess ihrer Selbstwerdung gegenseitig erfassen: Eine Entität wird, indem sie ihr subjektives Ziel realisiert. Dabei wird sie aber von den Vorgaben anderer, bereits existierender Entitäten bedingt, die als Objekte in ihren Werdensprozess eingehen. Eine Entität ist Subjekt, solange sie wird, und zugleich Objekt, sobald sie als Vorgabe in das Werden anderer eingeht. Subjekt und Objekt sind also keine ontologischen Attribute, die einer 24 | Vgl. Jacques Derrida, Das Tier, das ich also bin, Wien 2010, S. 17-84. 25 | Donna Haraway, When Species Meet, Minneapolis/London 2008, S. 4. 26 | Vgl. Alfred North Whitehead, Prozeß und Realität, Frankfurt a.M. 1979; Ders., Abenteuer der Ideen, Frankfurt a.M. 1971, S. 325-347.
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Wesenheit zukommen und einer anderen nicht. Sie charakterisieren vielmehr Positionen und Perspektiven jedes Wesens in einer jeweiligen Situation sowie spezifische Kontraste zwischen ihnen, nicht ihre kategorische Unterschiedlichkeit. Haraway argumentiert auf dieser Grundlage, dass die Relation Mensch-Tier weder einheitlich noch stabil ist, genauso wenig wie ihre Relationen selbst. Menschen und Tiere bringen sich vielmehr in ihrer jeweiligen, historisch situierten Beziehung wechselseitig hervor: Was sie sind, ist das, was sie zusammen geworden sind. Haraway belegt diesen ontologischen Dialog mit Metaphern aus dem Bereich des Theaters und schreibt zu diesem »dance of co-becoming«: »[A]ll the actors become what they are in the dance of relating […]. All the dancers are redone through the patterns they enact.«27 Die Regeln der tänzerischen Verhandlung werden also nicht vorausgesetzt, sondern hervorgebracht; sie sind nicht Bedingung, sondern Resultat des Tanzens. In diesem Sinne sagt Haraway über das Zusammenleben mit ihrer australischen Schäferhündin, Ms Cayenne Pepper: »We are training each other in acts of communication we barely understand.«28
Abb. 3: David Weber-Krebs und Maximilian Haas, Balthazar, Kampnagel Hamburg 2013. © Ines Lechleitner
27 | Haraway, When Species Meet, S. 25. 28 | Ebd., S. 16.
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Tiere auf der Bühne Begegnet man einem Tier als Protagonisten auf der Bühne – zumal einem Säugetier, das dort geht und steht und ein Gesicht hat mit Augen, die zurückschauen und einem Mund, der sich mitteilt – ist man unweigerlich verführt, die Welt mit seinen Augen zu sehen. Der Zuschauer, gewohnt, im Theater Sinnhaftes zu finden, projiziert unentwegt Bedeutung in das tierliche Verhalten. Dieses trägt daher offensichtlich ein menschliches Gepräge. Nichtsdestotrotz stellen sich die Tiere als solche ein und hinterfragen somit die moderne Ontologie, nach welcher nur Menschen Subjektivität besitzen und Tiere nicht. Sie stellen die grundlegenden Unterscheidungen von Subjekt/Objekt und Natur/Kultur auf den ästhetischen Prüfstand und dienen damit nicht zuletzt der menschlichen Selbstverständigung. Diese weitreichenden Probleme äußern sich in so einfachen Fragen wie: Handelt ein Tier aus Instinkt oder Intention? Wie wäre Letztere überhaupt von einer künstlerischen Intention zu unterscheiden? Welche praktische Rolle spielen Tiere bei Theater-Inszenierungen? Sind sie Material oder Mitarbeiter der künstlerischen Arbeiten?
Maximilian Haas
Abb. 4: Naoko Tanaka, Die Scheinwerferin. © Wiebke Rompel
Körpermaschinen Zu Naoko Tanakas Performance Die Scheinwerferin Ein paar Stühle für das Publikum in einem, im Halbrund mit weißen Stoffwänden abgeteilten Raum, mittig ein großer Holztisch, angestrahlt von einer großen, bauchigen Glühbirne als Lichtquelle – sie bilden das Instrumentarium für das zur Schau gestellte Untersuchungsobjekt, eine nur etwa 50 Zentimeter große Holzpuppe mit schwarzen glatten Haaren, die, in weißem T-Shirt und schwarzer Hose, auf dem Tisch aufgebahrt liegt wie auf einer Laborplatte. Es ist dunkel im Raum, trotz der flimmernden Glühbirne. Die Performerin Naoko Tanaka be-
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ginnt, die Puppe, eine selbstentworfene ›Replikantin‹, die ihr in Teint, Haar und Kleidung täuschend ähnlich sieht, mit einem Endoskop präzise abzutasten. Sie bewegt Arme und Beine des Puppenkörpers und wirft dabei riesige Schattenbilder an die weißen Wände. Dann taucht sie mit dem Lichtauge des Endoskops in eine Landschaft ein, die sich unter dem Esstisch befindet. Wir sehen einen schwarzen Teppich mit aufgespießtem Besteck, Gestrüpp, leere Plätzchenschachteln, ein zerstückeltes Skelett, das direkt unter der Tischplatte hängt, große Mengen Draht und abgerollte Filmspulen. Es handelt sich um eine ›ganze Welt‹, von Tanaka in Handarbeit hergestellt, in die sie für ihre Performance als Scheinwerferin eintaucht. Hastig jagt sie mit der Lampe entlang von Eisenbahnschienen durch ein Dickicht von Drähten, deren Schatten über die Wände geistern, begleitet von einer akustischen Kulisse von Atem und pfeifenden Lokomotiven. Inmitten dieses Getöses und monströsen Bildersturms ruht die kleine Holzpuppe auf dem Tisch, schwebend wie ein dunkler Engel. Wenn der Körper der Performerin über den Lichtwurf in den Schattenraum eindringt, beginnt sie mit den Schatten zu verschmelzen, während die Materialität des Organischen verschwindet. Die Lichtreise durch das Schattenreich endet im Mundraum. Die Performerin führt das Endoskop in ihre nun glühend rot leuchtende Mundhöhle und schluckt das Licht, die Schatten ihrer kleinen, ganzen Welt. Mit den flackernden Bildern erscheint eine imaginäre Welt. Die Performerin projiziert jedoch nicht nur Schein an die Wände, der sich dann genießen ließe, so als könnte man ihn ›kosten‹. Sie verschwindet in den Bildern und nimmt als Scheinwerferin zugleich eine körperliche Distanz ein. Sie untersucht ihre Puppe auf Beweglichkeit und Lebendigkeit wie eine Puppenspielerin und geht dabei so umsichtig vor, als würde diese atmen. Im weiteren Verlauf gewinnen die Schatten, die wie Gespenster durch den Raum fegen, an maßgeblicher Präsenz. Gespenster, als Figuren des Medialen, verweisen dabei (selbst-)reflexiv immer zugleich auf das Medium, das sie entwirft.29 Die beweglichen Schatten entwickeln, im Gegensatz zur unbeweglichen, hölzernen Puppe, eine fast tänzerisch anmutende Ästhetik des Verschwindens. Das Narrativ der Performance Die Scheinwerferin hat einen autobiografischen Hintergrund: eine überwundene Essstörung der Künstlerin. Seelische Ausnahmezustände, die von Essstörungen hervorgerufen werden, verunmöglichen den Betroffenen meist, sich aus eigener Kraft von ihren Schwellenräumen zu lösen. In dem zur Performance gereichten Begleitzettel liest sich die autobiografische Information wie eine kurze persönliche Randnotiz, die dem Zuschauer helfen soll, die Performance zu deuten. Darüber hinaus lässt sich in der Arbeit Tanakas folgender Zusammenhang beobachten: Durch die Platzierung und die anscheinend autonome Bewegung von nichtmenschlichen Elementen, Objekten und Medien, vorgeführt für ein menschliches Publikum, richtet Tanaka ihren Schein29 | Moritz Baßler/Bettina Grubler/Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.), Gespenster. Erscheinungen – Medien – Theorien, Würzburg 2005, S. 11.
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werfer auf einen Zustand des Nichtmenschlichen, wie sich die Gefangenschaft in einer unlebbaren Körperwelt auch bezeichnen ließe. Auf welche Konstruktionen eines vermeintlich Humanitären verweisen diese Konstellationen von Menschlichem und Nichtmenschlichem? Mit Bruno Latour können Schatten als ›Hybridwesen‹ bezeichnet werden, die auf Netzwerke mit zwei sogenannten ontologischen Zonen verweisen: die der menschlichen und die der nichtmenschlichen Wesen.30 Das Zwischenfeld, das die Schattenwelt in Tanakas Performance erzeugt, ließe sich als ein solches Netzwerk deuten. Die Scheinwerferin ist eine Schattenwerferin und im Narrativ Tanakas eine Figur, die unter einem den Körper beraubenden, zerstörenden Verhalten leidet. Wen ›stört‹ dieses Verhalten? Es bringt jene Ordnung des Körpers ins Wanken, die Christina von Braun als Garant für ein reibungsloses Funktionieren des menschlichen Körpers in der Gesellschaft ausgemacht hat: »das Schema der Körpermaschine«.31 Essstörungen gelten als »Symptome der Körperverweigerung«, die den Körper paradoxerweise »ins Bewusstsein […] rufen – durch die Betonung seiner Abwesenheit«.32 Ist die Scheinwerferin eine defekte Körpermaschine? Durch die medial selbstreflexiven Schattenspiele demonstriert Tanaka Prozesse des Verschwindens und legt damit ein Referenzsystem an, das genau auf den Drang nach Aufmerksamkeit durch Abwesenheit verweist. Im Wunsch nach Unabhängigkeit von organischem Verlangen lenkt der beeinträchtigte Körper den Fokus auf ein gesellschaftliches Phänomen, das ihn auszulösen vermag: Die »gesellschaftliche Kommunikation« vor allem dann, wenn in ihr »die Abstraktheit der Kommunikation überhand nimmt«.33 Auch Tanakas nichtmenschlich wirkende Präsentation sich bewegender Gegenstände, in die sie als Scheinwerferin eintritt (und verschwindet), verweist auf die Ohnmacht einer Kommunikation, die gerade in ihrer allzu ›dominant humanistischen Konstruktion‹ zerstörerisch wirken kann. Die Scheinwerferin verweist durch die wechselseitigen Transformationen von menschlicher Performerin und nichtmenschlichen Akteuren auf das selbstreflexive Potential dieser Verflechtung. Zu ihr gesellt sich die Künstlerin, Bühnenbildnerin und Performerin Tanaka im Modus »von und mit«.34
Mariama Diagne
30 | Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a.M. 2001, S. 19f. 31 | Christina von Braun, »Die Hysteriker und ihre Therapeuten«, in: Dies., Nicht Ich. Logik Lüge Libido, Frankfurt a.M. 1994, S. 21-82, hier S. 21. 32 | Ebd., S. 29. 33 | Karl-Heinz Bette, »Wo ist der Körper?«, in: Dirk Baecker et al. (Hg.), Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag, Frankfurt a.M. 1987, S. 600-628, hier S. 604. 34 | Naoko Tanaka, Die Scheinwerferin, Solo-Performance von und mit Naoko Tanaka, gesehen im Virchowsaal der Sophiensaele Berlin am 14.01.2011.
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Über einige Besonderheiten von Robotern auf der Theaterbühne Nichtmenschliche Akteure auf Theaterbühnen sind keine Neuheit. Vor allem die Avantgarde Anfang des 20. Jahrhunderts interessierte sich für Automaten, Maschinen, Homunculi, Puppen und andere nichtmenschliche Akteure.35 Wenn nun in den letzten Jahren erneut ein großes Interesse an maschinellen Akteuren zu beobachten ist, geht es aber nicht nur um ein neues Technikinteresse oder eine Hommage an die klassische Avantgarde, sondern es ist vor allem der Ausdruck einer steigenden künstlerischen Auseinandersetzung mit der zunehmenden Automatisierung der Gesellschaft. Auch wenn Automatisierung ein bereits länger andauernder Prozess ist, so ist die heutige Entwicklung der Automatisierung ein besonderer Vorgang. Denn immer mehr Bereiche in der Industrie, in der Wirtschaft, in der Wissenschaft, im Militär, im Gesundheitswesen, im Verkehrswesen oder im Haushalt sind heute von der Automatisierung betroffen, so dass diese fast ubiquitäre Ausmaße annimmt. Nicht nur handwerkliche, sondern auch intellektuelle Arbeit wird zunehmend automatisiert. So werden auch journalistische Texte automatisch generiert. Menschliche Denkprozesse werden mehr und mehr durch Algorithmen mitbestimmt. Des Weiteren wird zunehmend der Körper mit Computersystemen verbunden, was allgemein auch auf die Verbindung von Informationssystemen und Materie zutrifft. Aufgrund dieses weitreichenden Einflusses in einer Reihe von wichtigen Domänen lässt sich die Automatisierung als ein Schlüsselfaktor für die aktuellen Transformationen der menschlichen Lebenswelt begreifen. Roboter sind dabei ein wesentlicher Teil der Automatisierung, aber darüber hinaus auch sichtbarer Ausdruck und Symbol für diesen allgemeinen gesellschaftlichen Prozess. So sind sie in doppelter Funktion für die Theaterbühne interessant.
Roboter: eine besondere Erscheinung des Nichtmenschlichen Im Gegensatz zu vielen anderen nichtmenschlichen Akteuren können Roboter menschenähnliche Gestalt annehmen. Auch wenn menschenähnliche Roboter im Theater teilweise in der Tradition von Puppen oder Marionetten gesehen werden können, so unterscheiden sie sich von diesen aufgrund ihrer autonomeren Handlungsmacht. Androiden haben nicht nur eine menschliche Gestalt wie die humanoiden Roboter, sondern ähneln dem Menschen in ihrer äußeren Erscheinung, zum Beispiel durch künstliche Haut und Haare. Sie stellen somit unsere Fähigkeit in Frage, zwischen Menschen und verkörperlichter Technologie zu unterscheiden. So kann es zu einem Zustand des permanenten Zweifelns ob der Beschaffenheit des Erlebten bei der Rezeption von Theateraufführungen kommen. Ein Theaterbeispiel ist Sayonara (Version 1 & 2, 2010 und 2012) des japanischen Regisseurs Oriza Hirata. In der Inszenierung treffen eine junge Schauspielerin 35 | Vgl. Didier Plassard, L’acteur en effigie: figures de l’homme artificiel dans le théâtre des avant-gardes historiques: Allemagne, France, Italie, Lausanne 1992.
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und der androide Roboter Geminoid-F aufeinander. Geminoid-F kann seine Arme und seinen Kopf bewegen und verfügt über eine Reihe von Gesichtsausdrücken. Auch die menschliche Atmung wird imitiert. Auch wenn viele Bewegungen nicht flüssig genug sind, und es sich nicht um einen autonomen, sondern um einen ferngesteuerten Roboter handelt, wird eine Tendenz sehr deutlich. Theaterzuschauer werden zukünftig immer länger brauchen, um zwischen menschlichen und androiden Schauspielern zu unterscheiden. Dies kann das Verständnis des Publikums einer Theateraufführung wesentlich verändern. So kann Empathie, welche Zuschauer für eine Theaterfigur empfinden und welche ein zentrales Gefühl für das Verständnis von Bühnengeschehen darstellt, auf die Probe gestellt werden. Für David Levy ist es nicht wichtig, ob Maschinen wissen, wie es sich anfühlt zu leben. Vielmehr genügt es, das Verhalten von Menschen zu imitieren, die wissen, was es bedeutet lebendig zu sein.36 Ob Roboter Gefühle haben können oder nicht, sei also nicht wichtig, entscheidend sei, dass sie Gefühle in menschlichen Zuschauern auslösen können. Dass Maschinen menschliche Emotionen auslösen können, war beispielsweise in Kris Verdoncks (A two dogs company) Dancer #3 (2010) eindrucksvoll zu beobachten, wo das Publikum die (anthropomorphisierten) Bewegungen eines modifizierten Presslufthammers lautstark kommentierte. Komplexer aber wird es bei menschenähnlichen Robotern. Denn unsere Wahrnehmung von menschlichen Darstellern wird begleitet von Gefühlen und Konzeptionen des menschlichen Lebens, welche sich nicht (oder noch nicht) vollständig mit unseren Empfindungen und Gedanken bei der Wahrnehmung von Roboterdarstellern decken. Welche Gefühle Zuschauer den Roboterakteuren entgegenbringen, hängt hierbei besonders von der sozialen Akzeptanz von Robotern in der Gesellschaft ab. Hierbei spielt neben dem Erscheinungsbild vor allem die Frage der Handlungsmacht eine entscheidende Rolle.
Maschinelle künstlerische Handlungsmacht Auch nichtmenschliche Handlungsmacht im Kunstkontext ist nicht geschichtslos. Künstlerische Roboter stehen in der Tradition einer Reihe von nichtmenschlichen Künstlern, wie etwa den Schreibmaschinen von Jean Tinguely in den 1950er Jahren. Die Entwicklung der Computertechnologie und die Fortschritte der Automatisierung führen aber zu neuen Konzeptionen maschineller Handlungsmacht. Immer mehr Lebensbereiche werden von immer autonomeren und komplexer handelnden Maschinen durchdrungen. Kreativer Ausdruck gilt oft als eine der menschlichsten Fähigkeiten. Dies mag erklären, warum Teile von Forschung und Industrie, welche sich mit künstlicher Intelligenz beschäftigen, sich auch für Kunst interessieren, neben der Tatsache, dass Unterhaltungsroboter auch ein ökonomisches Potential beinhalten. Kreativer maschineller Ausdruck wird auch in der Kunst selbst auf verschiedene Weise thematisiert, wenn zum Beispiel in der
36 | Vgl. David Levy, Robots Unlimited: Life in a virtual Age, Wellesley 2006, S. 170.
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Arbeit manifest (2008) von robotlab ein Roboterarm ein (höchst unideologisches) Manifest zu Papier bringt.
Abb. 5: © robotlab, manifest 2008 Wie diese maschinelle Handlungsmacht im Kunstkontext rezipiert wird, ist Teil einer künstlerischen, technischen und gesellschaftlichen Debatte. Auf jeden Fall zwingen uns Algorithmen als Akteure auf der Bühne darüber nachzudenken, was Kunst ist oder sein soll und was es bedeutet, ein Künstler zu sein. Ob Roboter oder nur ihre Programmierer als Künstler anerkannt werden, hängt vom generellen Kunst- und Automatisierungsverständnis ab. Beide könnten sich verändern. Außerdem wird die zunehmende Automatisierung vermutlich auch das menschliche Selbstbild verändern, wie John Johnston bemerkt.37 So wie in der Denktradition von Donna Haraway Konzeptionen von Künstlichkeit und von Natürlichkeit generell neu verhandelt werden müssen.
Überlegungen zur Theaterwissenschaft im Zeitalter der Automatisierung Kunstkonzepte sind nie stabil, sondern immer historisch. In einer Welt, in der die Automatisierung immer umfassender wird, scheint das menschliche Subjekt an Autorität zu verlieren, Computerhandlungsmacht dagegen an Einfluss zu gewinnen. In dieser Konfiguration könnte sich unser Theaterverständnis wegbewegen von Theaterkonzepten, die Schauspiel als eine Art des menschlichen Ausdrucks begreifen, hin zu Konzepten von einem Prozess, welcher Gefühle und Gedanken provozieren kann. Allerdings könnte in Zeiten der Automatisierung auch ein gesteigertes Verlangen nach Menschlichkeit in Performances eine Folge sein, wobei der Begriff des Menschlichen dabei immer wieder neu definiert werden muss. Auf 37 | John Johnston, The Allure of Machinic Life. Cybernetics, Artificial Life and the New AI, Cambridge/Massachusetts/London 2008.
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jeden Fall dürfte die zunehmende Präsenz von Androiden zu einem Zustand des Zweifelns und zu der Suche nach Zeichen des Menschlichen führen. Theateraufführungen können die Automatisierung und ihre Auswirkungen einerseits bekannter machen und bewerben und auf der anderen Seite kritisch begleiten, versuchen sie zu stören, ihnen etwas anderes entgegensetzen oder neue Perspektiven für menschliche Handlungsmacht und Mensch-Computer-Interaktionen aufzeigen. Für die Theaterwissenschaft dürfte eine genaue Analyse der MenschComputer-Interaktionen auf der Bühne an Bedeutung zunehmen.
Simon Hagemann
»Environmental Theater« revisited In ihrer Geschichte hat die Theaterwissenschaft das Verhältnis von Theater und Ökologie, oder genauer gesagt die Verbundenheit des Körpers mit seiner materiellen Umwelt kaum beachtet. So konstatieren Wendy Arons und Theresa May, dass »Ökologie und Umwelt auf den Bühnen in der westlichen Welt nicht nur unterrepräsentiert und unterthematisiert sind, sondern auch in der theaterwissenschaftlichen Forschung untertheoretisiert«38 seien. Dies führen sie auf das grundlegende Paradox zurück, dass die Künste, insbesondere das Theater, als kulturelle Praktiken, die unsere Wahrnehmung auf Natur und Umwelt maßgeblich mitformen, traditionell zugleich als Aktivitäten begriffen würden, die Menschen von der Natur abtrennen. Aufgrund der Einsicht, dass angesichts ökologischer Katastrophen das Verhältnis zwischen Mensch und Natur aller Wahrscheinlichkeit nach die wichtigste Frage dieses Jahrhunderts sei, wie sie der französische Anthropologe Philippe Descola in seinem Buch Ökologie der Anderen (2011) formuliert hat, kommt den Verbindungen von Theater und Ökologie gegenwärtig großes Interesse zu. Zudem zeichnen sich in den letzten Jahren in den performativen Künsten Tendenzen ab, ökologische Fragestellungen künstlerisch-forschend zu thematisieren – so etwa Szenarien des Klimawandels, des Verhältnisses von Mensch und Tier oder Explorationen der Materialitäten der Umwelt. Neben alternativen Dramaturgien und anderen Formen der Inszenierung von Umwelten auf der Bühne des Theaters steht dabei vor allem die Frage auf dem Spiel, auf welche Weisen uns Theater und Performance gegenüber den Veränderungen der Umwelt und der Komplexität ökologischer Zusammenhänge sensibel machen können. Und darüber hinaus: Wie können sie die ihnen eigenen Praktiken hinsichtlich ihrer Normalisierung einer bestimmten Konzeption von Umwelt und Natur kritisch hinterfragen? Wie lassen sich die Beziehungen zu Umwelten und nichtmenschlichen Aktanten erkunden, und zwar in und durch Theater als kulturelles Phänomen?
38 | Wendy Arons/Theresa J. May (Hg.), Readings in Performance and Ecology, New York 2012, Introduction.
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Ein Beispiel für zeitgenössische Praktiken, die das Verhältnis von Theater und Umwelt sowie die Materialitäten von Umwelten performativ zu erforschen suchen, ist das Projekt Performing Landscape der finnischen Performerin Annette Arlander. In diesem Projekt entwickelte sie über zwölf Jahren hinweg eine ortsbezogene Performance- und Dokumentationspraxis, die darin bestand, jeweils für ein Jahr einmal in jeder Woche am gleichen Ort auf der Insel Harakka in der Nähe von Helsinki für eine Videokamera zu performen. Dabei führt sie einfache Aktionen aus: gehen, sich hinlegen, sich an einen Ast hängen, mit einem Ast Hand halten oder sich auf einen Baum setzen. Orientiert am chinesischen Kalender und seinem auf den Mondphasen beruhenden Zwölfjahresrhythmus ist jedes Jahr des 2002 begonnenen Performing Landscape-Projekts nach einem Tier benannt. In jedem Jahr sucht Arlander eine neue Perspektive auf die Landschaft, in der sie sich bewegt und die sie seit Kindheitstagen kennt, nach einem neuen Element in der Landschaft, mit dem sie interagiert, sei es ein Baum, ein Ast, ein Stein oder die Überbleibsel von Häusern. Arlanders Praxis beginnt jedoch nicht erst am Ort der Performance selbst, sondern mit dem Weg zu diesem Ort, auch wenn dieser nicht dokumentiert wird. »Stellen Sie sich vor, eine Theaterpraxis beginnt mit einer Reise, um neue Räume für sich zu entdecken und an diesen Orten leichter oder fester aufzutreten, um deren Räumlichkeit und das ihr eigene ›Theater sein‹ zu erproben, zu unterlaufen oder zu erneuern.«39 Dieses Zitat stammt aus Fiona Wilkies Buch Out of Place, in dem sie ortsbezogene Theaterpraktiken betrachtet, die in all ihrer Heterogenität dadurch miteinander verbunden sind, dass sie an Orten jenseits traditioneller Theaterräume stattfinden und dass in ihnen der Bezug zum und die Verhandlung des Ortes zum Gegenstand der Performance wird. In diesem Sinne sind Arlanders Performances ›site-specific‹. Ziel ihres Performens von Landschaft ist die Aufzeichnung von Veränderungen in der Landschaft durch Wetter, Klima, Jahreszeiten, Wandlungen der Vegetation und nicht zuletzt durch die Aktionen und Interventionen der Performerin in einer ansonsten menschenleeren Umgebung. Das Verhüllen des Körpers mit einem Schal, der Arlander auch als Schutz dient und ihr die Konzentration auf die eigene Atmung ermöglicht, fügt sie sich in die Landschaft ein und verschwindet teilweise in ihr. Durch die Verbindung mit der Aufzeichnungstechnologie Video produzieren die Performances, die einschließlich der Vorbereitung oft nicht länger als eine Stunde dauern, bleibende Objekte, die Arlander als ›Souvenirs‹ oder Memorabilia der Umweltveränderungen vor Ort beschreibt.40 Dabei kommen der Zeitlichkeit, dem Rhythmus und der Wiederholung der gleichen Aktionen – jede
39 | Fiona Wilkie, Out of Place. The Negotiation of Space in Site-Specific Art, in: http:// epubs.surrey.ac.uk/823/1/fulltext.pdf vom 25.08.2015, S. 5. 40 | Annette Arlander, »Performing Landscape: Live and Alive«, in: Total Art, http:// totalartjournal.com/archives/3201/annette-arlander vom 25.08.2015, S. 2.
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Woche, zur gleichen Uhrzeit, ein ganzes Jahr lang – ebenso wie die Konzentration auf wenige Aktionen eine besondere Bedeutung zu.
Abb. 6: Annette Arlander, Performing Landscapes, Videostill aus der Installation Year of the Tiger, 2011. © Annette Arlander Auf diese Weise entsteht eine tastende künstlerische Forschungspraxis, die sich auf die Frage richtet, wie wir Landschaft nicht einfach als etwas zu Repräsentierendes wahrnehmen, das uns als erhabenes Objekt der Schau gegenübersteht, sondern wie wir uns durch Performance zu nichtmenschlichen Elementen in der Landschaft in Beziehung setzen und uns als Teil inmitten dieser lebendigen Landschaft begreifen können. »Ich versuchte«, so Arlander, »eine Erfahrung des Verbundenseins mit und Teilseins einer lebendigen Welt zu erzeugen, anstatt einfach nur von dieser Erfahrung auszugehen und dann zu versuchen, diese darzustellen.«41 Unter Bezug auf Michel Serres ließe sich Arlanders Performancepraxis als ein ›Visitieren‹ verstehen – ein Umhergehen, ein Wandern, aus dem sich eine bewegliche Topologie von Gängen und Aktionen ergibt, die festgefahrene Oppositionen und die Festlegung statischer Beobachterpositionen in Bewegung bringt.42 Die daraus hervorgehende Neudefinition des Verhältnisses von Beobachter/Performer und Umwelt ließe sich auch mit Karen Barads Begriff der ›IntraAktion‹ beschreiben. Anders als der Begriff der Interaktion setzt Intra-Aktion gemäß Barad nicht die Existenz zweier voneinander getrennter Entitäten voraus, die dann in Beziehung zueinander treten. Erst durch wechselseitige Intra-Aktionen zwischen Performer bzw. Beobachter und Phänomen werden die Bezüge,
41 | Annette Arlander, »Becoming Juniper. Performing Landscape as Artistic Research«, in: http://nivel.teak.fi/becoming-juniper/becoming-juniper-performing-landscape-as-artis tic-research-annette-arlander/ vom 25.08.2015. 42 | Vgl. Michel Serres, Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische, Frankfurt a.M. 1998, S. 380-416.
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Grenzen und Eigenschaften von Phänomenen, ihre Materialität ebenso wie ihre Bedeutung konstituiert, stabilisiert und zugleich destabilisiert.43 In diesem Sinne bewegt sich Arlanders Performing Landscape-Projekt im Feld eines neuen Wechselspiels zwischen Geographie, Geisteswissenschaften und den Künsten, das sich insbesondere an einem neuen Interesse an Begriffen wie Raum, Ort, Landschaft oder Mapping zeigt.44 Während die Geographie jedoch vor allem dem Sehen verhaftet bleibt, haben Theater und Performance das Potential, die Beziehung des Menschen zur Landschaft als Praxis erfahrbar zu machen, die ein performatives Wechselspiel zwischen Körper und Umwelt in Intra-Aktion impliziert.45 Wenn Serres in Verteilung davon sprach, dass »die Philosophie endlich nach draußen gegangen«46 sei, so lässt sich, Serres paraphrasierend, mit Blick auf Arlanders Performance-Praxis sagen, dass auch Theater der Gegenwart wieder nach draußen gegangen ist, nachdem sich die Trennung von Theater und Umwelt vor allem architektonisch materialisierte. Fanden antike Theateraufführungen unter freiem Himmel statt und ließ die Theaterarchitektur somit einen Blick auf die umliegende Landschaft und die Stadt zu, vollzog sich der Rückzug des Theaters in einen durch Wände umschlossenen Raum, wie David Wiles gezeigt hat, im römischen Theater. Diese »Flucht vor der Natur«47 vollendete sich, so Wiles, mit der Durchsetzung des Christentums. Die griechischen Götter bewohnten die Natur, und da das griechische Theater sich dem Verhältnis von Menschen und Göttern widmete, war es wesentlich, die Verbindung zu Erde, Himmel und See und damit zu den Göttern im Freien aufzuführen. Die Umschließung des Ortes, an dem Theater stattfindet, führte insbesondere durch die Entstehung der Perspektivbühne in der Frühen Neuzeit zur Etablierung eines kontrollierbaren Bühnenraums, in dem dann Wetterphänomene wie Blitze, Donner, Wolken und Regenbogen qua Maschinentechnik zum Erstaunen des Publikums auf der Bühne simuliert werden konnten.48
43 | Vgl. Karen Barad, »Posthumanist Performativity. Toward an Understanding of How Matter Comes to Matter«, in: Signs. Journal of Women in Culture and Society 28.3 (2003), S. 801-831, hier v.a. S. 801-808. 44 | Vgl. Douglas Richardson et al. (Hg.), Envisioning Landscapes, Making Worlds. Geography and the Humanities, London/New York 2011. 45 | Vgl. Bronislaw Szerszynski/Wallace Heim/Claire Waterton (Hg.), Nature Performed: Environment, Culture and Performance, Oxford 2003. 46 | Michel Serres, Hermes IV: Verteilung, Berlin 1977, S. 11. 47 | Vgl. David Wiles, A Short History of Western Performance Space, Cambridge 2003, S. 40. 48 | Wie diese Maschinen aussahen, gebaut und bedient wurden, zeigt sich beispielhaft in Nicola Sabbattinis theaterarchitektonischem Traktat mit dem Titel Anleitung Dekorationen und Theatermaschinen herzustellen (1639).
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Richard Schechner hat mit seinem Entwurf des environmental theater Ende der 1960er Jahre eben jenes Problem der Trennung zwischen Innen und Außen in den Fokus gerückt. In seinem Manifest Six Axioms for Environmental Theater von 1968 suchte er durch die Neubestimmung des Theaterraums das von ihm so genannte ›orthodoxe Theater‹ durch eine neue Phase des Experimentierens abzulösen. Die von Schechner als environmental theater bezeichnete Form, die zu einem frühen Gegenstand der performance studies wurde, bricht mit der Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum und erklärt den gesamten Raum zum Raum der Performance. Aufgrund des damit einhergehenden Anspruchs auch der Aneignung kultureller Räume ›draußen‹ ist environmental theater ein problematischer Begriff, aber auch aufgrund der schier unendlich ausdehnbaren Bandbreite von performativen Praktiken, die er umfasst. Am environmental theater lässt sich jedoch zeigen, dass der aus der bildenden Kunst stammende Begriff des environment bei Schechner in das Theater eingeht und später eine ökologische Dimension erhält. So verweist Schechner in der Neuedition des Environmental Theater von 1994 auf eine Bedeutungsverschiebung im Konzept des environment. Durch die Umweltbewegungen habe environment seit den 1970er Jahren eine ökologische Bedeutung angenommen. Schechner schreibt: »The theatrical and ecological meanings of environment are not antithetical. An environment is what surrounds, sustains, envelops, contains, nests. But it is also participatory and active, a concatenation of living systems. In terms of the planet earth, the environment is where life happens.«49 Schechner spricht von environmental performance: […] to stage a performance ›environmentally‹ means more than simply to move it off of the proscenium or out of the arena. An environmental performance is one in which all the elements or parts making up the performance are recognized as alive. To ›be alive‹ is to change, develop, transform; to have need and desires; even, potentially, to acquire, express, and use consciousness. 50
Diese ganzheitliche Perspektive sowie die Betonung der Lebendigkeit aller Elemente der Performance führt wieder zu Arlanders Performing Landscape-Projekt zurück. Ortsbezogene Performances wie die Arlanders würde Schechner als Abkömmlinge seines environmental theater bezeichnen. Dabei ist es nicht der spezifische Ort als eine singuläre Konstellation von Elementen, an dem eine Performance stattfindet, die dieser Performance Bedeutung verleiht. Vielmehr sind es die Performance und der Performer/Beobachter, die den Ort als Raum der Bezugnahme von Menschlichem und Nichtmenschlichem erst hervorbringen.
Daniela Hahn
49 | Richard Schechner, Environmental Theater. An Expanded New Edition including »Six Axioms for Environmental Theater«, New York/London 1994, S. IX. 50 | Ebd., S. X.
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H istoriogr aphie , G edächtnis , Z eit des The aters
Theater und epistemologische Krise (Hölderlin) Jörn Etzold Ich weiß in diesen Zeiten sozusagen gar nicht, was ich will, vielleicht will ich gar nicht, was ich weiß, und will, was ich nicht weiß. F icino
Im Gefüge der Krisenzeiten Blütezeiten des Theaters waren Zeiten epistemologischer Krise. Es waren Zeiten, in denen der Bezug des Menschen zur Welt auf dem Spiel stand oder – wenn wir den Menschen mit Foucault als ein relativ neues Problem des »menschlichen Wissens« verstehen – jenes Wissen selbst sich neu konfigurierte. Theater gab es eigentlich in fast allen Kulturen, doch sollte eine solche allgemein-menschliche Feststellung nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine Hochzeiten, zumindest in der europäischen Geschichte, stets von kurzer Dauer waren – und meist einen grundlegenden Umbruch der Episteme begleiteten. Ein knappes Jahrhundert der attischen Tragödie, etwa 80 Jahre im elisabethanischen und jakobinischen England, die dichte Folge von avantgardistischen Experimenten zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts und in den 1960er Jahren: In jenen Hochzeiten des Theaters, die zugleich soziale Umbruchszeiten waren, gab das Theater eine je uneigentliche Antwort auf Fragen, die im Rahmen gegebener Glaubens- und Wissenssysteme nicht mehr beantwortet werden konnten. Explizit ist dies Walter Benjamins Theorie zum barocken Trauerspiel, in Bezug auf die Krise der Heilsgeschichte im Barock: Hinterlässt Luthers Verdikt über die Unbedeutsamkeit der guten Werke vor Gott (sola fide) »[e]twas Neues«, nämlich: »eine leere Welt«1 und somit ein Vakuum, auf das »keine Antwort«2 möglich ist, so agiert das Trauerspiel die Erfahrung dieser Leere auf eine neue Weise aus: »Trauer ist die Gesinnung, in 1 | Walter Benjamin, »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Bd. I.1, Frankfurt a.M. 1997, S. 203-430, hier S. 317. 2 | Ebd., S. 318.
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der das Gefühl die entleerte Welt maskenhaft neu belebt, um ein rätselhaftes Genügen an ihrem Anblick zu haben.«3 Dem Ausfall der Heilsgeschichte – als Entwicklung des Menschengeschlechts hin zu Gott – antwortet das Theater mit einer Umwälzung von Raum und Zeit: Es verwandelt die Zeit dem Raume an: »Hier wie in anderen Lebenssphären des Barock ist die Umsetzung der ursprünglich zeitlichen Daten in eine räumliche Uneigentlichkeit und Simultaneität bestimmend.«4 Ist dem Barock, eingeklemmt zwischen einem weltlichen Umbruch und einer uneingeschränkten Herrschaft des Christentums, auch jede eigentliche, weltliche Antwort verstellt, so eröffnet das Trauerspiel doch eine andere Zeit – eine Zeit der Gespenster, welche die »Gleichzeitigkeit der Gegenwart mit sich selbst«5 in Zweifel zieht, wie Jacques Derrida es in einem anderen Zusammenhang genannt hat, da Gespenster nicht nur aus der Vergangenheit, sondern auch aus der Zukunft kommen: In der gespenstisch wiederkehrenden Zeit der Trauerspiele kündigt sich zugleich eine neue Welt an. Die vielleicht radikalste Bestimmung des Theaters als Darstellung einer epistemologischen Krise stammt von einem Dichter, dessen Arbeiten zum und für das Theater noch von der avanciertesten Forschung eben dies bis in die Gegenwart hinein abgesprochen wurde: Arbeiten zum und für das Theater zu sein. Die Rede ist von Friedrich Hölderlin. Sein Denken der Tragödie ist ein radikales Denken der epistemologischen Krise, formuliert in einer Krisenzeit. In der Auseinandersetzung mit diesem Denken aber eröffnet sich zugleich eine eigentümliche, nichtchronologische Geschichte der Krisenzeiten, die zumindest drei Schichten hat: »Um 1800«, in einer Zeit epistemischer Krise, implementiert Hölderlin die revolutionäre kantische Erkenntnistheorie und die Erfahrungen der Französischen Revolution in eine ebenso theoretische wie dramaturgische Arbeit mit den ebenfalls einer Umbruchszeit entstammenden Tragödien des Sophokles – Tragödien, die er zwar christianisiert, aber dennoch in ihrer Eigenart sichtbar machen will. Zuerst rezipiert aber wurden seine Texte – in der Dichtung, der Philosophie, aber auch auf dem Theater – in einer weiteren Krisenzeit, in der Zeit um den Ersten Weltkrieg, zunächst vor allem in Deutschland. Unterhalb des »kontinuierlichen« Zeitverlaufs, anhand dessen wir üblicherweise Geschichte erzählen, bilden diese Zeiten somit ein Gefüge – die attische Tragödie und Republik, bedrängt durch das letztlich siegreiche Sparta, die Zeit um 1800, das frühe 20. Jahrhundert. In 3 | Ebd. Vgl. dazu auch Samuel Weber, »Genealogy of Modernity: History, Myth and Allegory in Benjamin’s Origin of the German Mourning Play«, in: Modern Language Notes 106 (1991), S. 465-500. 4 | Ebd., S. 260. 5 | Jacques Derrida, Marx’ Gespenster, Frankfurt a.M. 1995, S. 70. Siehe auch Brecht im Fatzer-Fragment: »Wie früher Geister kamen aus Vergangenheit/So jetzt aus Zukunft, ebenso/Klagend beschwörend und ungreifbar […]«. Bertolt Brecht, »Fatzer«, in: Ders., Werke. Große Kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. v. Werner Hecht et al., Berlin/Weimar/Frankfurt a.M. 1997, Bd. 10.1, S. 387-529, hier S. 465.
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jeder dieser Umbruchszeiten aber ändert sich der Zugang zur Welt – genauer: Es ändert sich das grundlegende Verständnis von Raum und Zeit; es zeigt sich, dass auch Raum und Zeit keine überhistorisch gegebenen Bedingungen sind, sondern selbst historischen Umbrüchen unterliegen. Das Gefüge von Krisenzeiten, das sich von Hölderlin aus eröffnet und Jahrtausende überspannt, soll daher auch als eine exemplarische Konstellation betrachtet werden, die für die Historiographie des Theaters und ihre Theorie wichtig ist. Denn Theatergeschichte ist keine kontinuierliche Entwicklung. Theater agiert in Zeiten der Krise Erschütterungen von Raum und Zeit aus, es ruft Gespenster herbei und entwirft unklare Ideen der Zukunft. Die Zeit des Theaters ist nicht chronologisch, sondern verschränkt und geschichtet; sie ist nicht kontinuierlich, sondern von Brüchen und Zäsuren durchzogen. Eben dies lässt sich aus Hölderlins Kommentaren zur attischen Tragödie lesen.
»Umkehr aller Vorstellungsarten und Formen« Hölderlin war kein »Theatermacher«. Er konnte keiner sein; sein Theater war auf den Bühnen seiner Zeit und vielleicht auf der Bühne schlechthin nicht möglich. Seine Arbeit an Sophokles ist ein idiosynkratischer Hybrid: Sie ist zugleich – eigentümliche – Übersetzung, dramaturgische Aktualisierung für die Zeitgenossen und theoretische Reflexion – und letztere ist ebenso erkenntnistheoretisch wie geschichtsphilosophisch. Damit aber reagiert sie auf die eröffnende epistemologische Krise der philosophischen Moderne: auf Immanuel Kants Erkenntnistheorie.6 Genauer: Hölderlin verbindet jene Erkenntnistheorie mit einem radikalen Denken von Geschichte. Kant fragt, um es basal zu formulieren, nach den Möglichkeiten des menschlichen Zugangs zur Welt: Was können wir von der Welt wissen und wo beginnt der Bereich, von dem wir nichts mehr wissen und über den wir keine Aussagen machen können? Und er antwortet bekanntlich: Das Subjekt kann nur das wissen, was ihm durch die vorgegebenen Formen seines Erkenntnisapparats, seines »Gemüths«, und durch dessen »Kategorien« zugänglich gemacht wird. Jene Formen aber sind, so die Elementarlehre der Kritik der reinen Vernunft, der Raum als die »Form aller Erscheinungen äußerer Sinne« 7 und die Zeit als »Form des innern Sinnes« 8. Alles, was die Erfahrung wahrnehmen kann, wird durch diese Formen gegeben: Die Erfahrungen des inneren Sinnes, also die 6 | Die historische Epistemologie als Frage der das menschliche Wissen erst konstituierenden Episteme grenzt sich von der philosophischen Erkenntnistheorie ab, die durch Kant eine vollkommen neue Fassung bekommt. Hier soll es eben darum gehen, die Erkenntnistheorie zu historisieren, also um ein Denken der epistemischen Brüche, die Erschütterungen in der Erkenntnistheorie generieren. 7 | Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: Ders., Werkausgabe, Bd. III, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1995, S. 75. 8 | Ebd., S. 80.
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Gefühle, in der Form der Zeit, und die Erfahrungen der äußeren Sinne, in den Formen von Zeit und Raum. Beide Formen sind dabei gegeneinander exklusiv: »Der Raum besteht also nur aus Räumen, die Zeit aus Zeiten.«9 Zudem sind sie jeweils teilbar und messbar. Jenseits dieser Formen unseres Erkenntnisapparats liegt eben das »Ding an sich«, von dem wir nichts wissen können: Denn diese Formen »bestimmen sich eben dadurch (daß sie bloß Bedingungen der Sinnlichkeit sein) ihre Grenzen, nämlich, daß sie bloß auf Gegenstände gehen, so fern sie als Erscheinungen betrachtet werden, nicht aber Dinge an sich selbst darstellen.«10 Wie vielfach bemerkt wurde, konzipiert Kant die menschliche Erfahrung als eine Bühne, als Vorstellung vor dem transzendentalen Subjekt.11 Das Subjekt trägt gewissermaßen stets eine Bühne mit sich herum, auf der die Erscheinungen auftreten; was jedoch hinter dieser Bühne ist, kann es nicht wissen. Bekanntlich stürzte diese radikale Volte die Generation nach Kant in eine tiefe Krise: In Hölderlins Trauerspiel-Fragment Empedokles wird daher der Held, »auch in wirklich schönen Verhältnissen unbefriedigt, unstät, leidend, blos weil sie besondere Verhältnisse sind«,12 zunächst versuchen, von dieser Bühne abzutreten, um sich jenseits der besonderen Verhältnisse (und jenseits der Bühne) mit dem »Ding an sich« selbst zu vereinigen – indem er seine Subjektivität aufgibt und in die entdifferenzierende Urmaterie des Ätna springt. Das Stück nimmt dann aber eine andere Entwicklung; der kantische Zeitraum wird weniger verlassen als verändert. Für den Kant der Kritik der reinen Vernunft also ist uns die Welt nur in diesen Formen – Raum und Zeit – gegeben. Auf leicht veränderte Weise wird der Begriff der Form dann in der Kritik der Urteilskraft wiederkehren: Rodolphe Gasché hat sehr klar dargelegt, dass die Empfindung des Schönen, wie Kant sie dort analysiert, eben an die Form gebunden ist: Indem wir eine Form wahrnehmen, stellen wir fest, dass unser Erkenntnisapparat den Erscheinungen der Welt adäquat ist, und empfinden daran Wohlgefallen: »according to a judgment of taste, objects are beautiful only if they have the form of cognizable objects.«13 Für Hölderlin aber unterliegen diese Formen, durch die Welt zugänglich wird, historischen Umbrüchen. In jenen wird nicht die Erkennbarkeit von Welt, sondern die radikale Unangemessenheit unseres Erkenntnisapparates sichtbar. Dadurch ändert sich je9 | Ebd., S. 211. 10 | Ebd., S. 85. 11 | Vgl. Marco Baschera, Das dramatische Denken. Studien zur Beziehung von Theorie und Theater anhand von I. Kants »Kritik der reinen Vernunft« und D. Diderots »Paradoxe sur le comédien«, Heidelberg 1989 sowie Martin Jörg Schäfer, Szenischer Materialismus. Dionysische Theatralität zwischen Hölderlin und Hegel, Wien 2003. 12 | Friedrich Hölderlin, Empedokles, in: Ders., Sämtliche Werke. ›Frankfurter Ausgabe‹ (FHA), Bd. 12/13, hg. v. D. E. Sattler, Basel/Frankfurt a.M. 1985, S. 544 (»Frankfurter Plan«). 13 | Rodolphe Gasché, The Idea of Form. Rethinking Kant’s Aesthetics, Stanford, CA 2003, S. 87f.
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doch nichts an der kantischen Konstruktion: Die Formen der äußeren Sinne und des inneren Sinnes bleiben jeder Erfahrung vorgängig, sie machen einen Bezug zur Welt erst möglich. Und dennoch sind sie keineswegs stabil. Sie können im Einzelnen beschädigt werden – im Wahn, mit dem die tragischen Figuren nach Hölderlin geschlagen sind; sie können jedoch auch in einem geschichtlichen Umbruch für eine ganze Welt neu konstituiert werden. Dies ist die bedeutsame Entdeckung in Hölderlins Arbeit an der Tragödie in kantischen Begriffen. Dieser geschichtliche und kollektive Umbruch der Formen, die Welt erst konstituieren, wird mit dem vielleicht eigentümlichsten und schillerndsten Begriff der »Anmerkungen zur Antigonä« als »vaterländische Umkehr« bezeichnet. Erst vor dem Hintergrund jener »vaterländischen Umkehr« wird der subjektive »heilige[ ] Wahnsinn«14, in den sich Antigone steigert, verständlich. Denn »vaterländisch« bedeutet hier soviel wie politisch, also: die gesamte Polis betreffend. »Umkehr« aber ist keine Heimkehr, sondern Umwendung, Revolution. Jene aber ist nicht bloß die Ablösung eines Herrschers durch einen anderen, sondern ein grundlegender Umsturz der Konstitution der Welt. Hölderlin schreibt: Die Art des Hergangs in der Antigonä ist die bei einem Aufruhr, wo es, so fern es vaterländische Sache ist, darauf ankommt, daß jedes, als von unendlicher Umkehr ergriffen, in unendlicher Form sich fühlt, in der es erschüttert ist. Denn vaterländische Umkehr ist Umkehr aller Vorstellungsarten und Formen.15
Nicht nur Antigone kommt in ihrem Wahn die Form von Welt abhanden, indem sie sich »dem Aorgischen nähert«16: Die ganze Polis ist einer Umwälzung unterworfen. Und Hölderlin fährt fort: »Eine gänzliche Umkehr in diesen [also in den Vorstellungsarten und Formen] ist aber, so wie überhaupt gänzliche Umkehr, ohne allen Halt, dem Menschen, als erkennendem Wesen unerlaubt.«17 Die Tragödie stellt also dar, wie alle »Vorstellungsarten und Formen« umgekehrt werden – also jene Formen, die einen Zugang zur Welt qua Erfahrung erst möglich machen. Diese gänzliche Umkehr aber ist dem Menschen als erkennendem Wesen unerlaubt: In ihr wird etwas erfahren, was eben nicht erkannt werden kann – die Umwälzung oder Umstülpung jener Formen, die Erfahrung und somit auch Erkenntnis erst konstituieren. Einen grundlegenden Bruch der Episteme, eine Zäsur der Konstitution von Welt können wir Menschen »als erkennende[ ] Wesen« nicht zum Gegenstand unseres Wissens machen, welche Orakel, Prognosen oder Berechnungen wir auch immer verwenden mögen. Doch wir können 14 | Friedrich Hölderlin, »Anmerkungen zur Antigonä«, in: Ders., Sophokles, FHA 16, hg. v. Michael Franz, Michael Knaupp u. D. E. Sattler, Basel/Frankfurt a.M. 1989, S. 409-421, hier S. 414. 15 | Ebd., S. 419. 16 | Ebd., S. 415. 17 | Ebd., S. 419f.
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die Umkehr fühlen: als Angst, als Erschütterung, als Zittern. Denn ein »jedes«, so Hölderlin, »fühlt« sich »in unendlicher Form, in der es erschüttert ist.«18 Gefühlt wird keine stabile Form von Raum und Zeit, sondern eine in sich erschütterte und entgrenzte Form. Denn für Hölderlin ist das Fühlen der Erkenntnis vorgängig. Anders als Kant definiert er den Menschen nicht primär als ein erkennendes Subjekt, sondern als ein »Empfindungssystem« – als ein organisiertes Ganzes aus »Vorstellung und Empfindung und Räsonnement«, die jedoch wiederum unter dem Begriff der Empfindung zusammenkommen. Im Ödipus wird sichtbar, wie sich ein solches »Empfindungssystem« im Verlaufe der Handlung »unter dem Einflusse des Elements [also des der Erkenntnis nicht Zugänglichen] entwikelt«19. Das »Element« kann nicht Gegenstand der Erkenntnis werden; aber es übt einen »Einfluss« aus, der empfunden werden kann. Auch Ödipus entwickelt sich in einen Zustand des absoluten Verlusts aller Koordinaten, den Hölderlin hier nicht als heiligen Wahn, sondern als Geisteskrankheit 20 bezeichnet; und über den Moment, in dem Ödipus sich als von den Göttern verlassen (als athéos) empfindet, schreibt er: »In der äußersten Gränze des Leidens bestehet nemlich nichts mehr, als die Bedingungen der Zeit oder des Raums.«21 Zeit und Raum, die apriorischen Formen jeder Erfahrung, sind – in »der äußersten Gränze« – nicht mehr gegeben; wohl aber ihre »Bedingungen«, die machen, dass es Raum und Zeit gibt.
Vernunftform Hölderlin unternimmt also eine eigentümliche Verquickung von kantischer Erkenntnistheorie und Tragödientheorie. Sie lässt sich zur These komprimieren, dass die Gegebenheit von Raum und Zeit, die Kant als je homogen, gegeneinander exklusiv und a priori setzt, selbst historischen Brüchen unterliegt – und dass die Tragödie als Theater den entscheidenden Bruch in der europäischen Geschichte darstellt. Am Ende der »Anmerkungen zur Antigonä« schreibt Hölderlin: »Die Vernunftform, die hier tragisch sich bildet, ist politisch und zwar republikanisch, weil zwischen Kreon und Antigonä, förmlichem und gegenförmlichem, das Gleichgewicht zu gleich gehalten ist.«22 Aus der »gefährliche[n] Form«23 der Tragödie bildet sich also die Vernunftform – als vernünftiges Zusammenleben der Gleichen in der Republik, aber auch als Form des inneren und der äußeren Sinne – als Zeit und Raum. So wird die Welt dem wissenschaftlichen Wissen zugänglich 18 | Ebd., S. 419. 19 | Hölderlin, »Anmerkungen zum Oedipus«, ebd., S. 247-258, hier S. 250. 20 | Vgl. ebd., S. 255: »Zuletzt herrscht in den Reden vorzüglich das geisteskranke Fragen nach einem Bewußtseyn.« 21 | Ebd., S. 258. 22 | Hölderlin, »Anmerkungen zur Antigonä«, S. 421. 23 | Ebd., S. 417.
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gemacht, das Heidegger als »metaphysisch« bezeichnet. Diese metaphysische Auffassung von Raum und Zeit, die sich nach Heidegger bei Plato in Abgrenzung zu den Vorsokratikern und Tragödien bildete, beschreibt er als bis hin zu Kant konstant: Denn wenn jener »den Raum und die Zeit faßt als dasjenige, ›welches macht, daß das Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann‹ (Kr. d. r. V. B 34), dann wird das durchgängig Einheitliche der metaphysischen Auffassung von Raum und Zeit klar«.24 Und doch gerät dieses Verständnis von Raum und Zeit bei Kant ins Schwanken. Denn wenn einzig das transzendentale Subjekt Raum und Zeit garantieren kann, dann ist ihre apriorische Gültigkeit damit weniger bewiesen als vielmehr unsicher geworden; denn dieses Subjekt kann schließlich seinen Bezug zur Welt im Wahn verlieren. Wie schreibt Hölderlin die Genese von Raum und Zeit in die »Darstellung des Tragischen« ein? Ein wesentlicher Begriff für das neue Verständnis von Zeit, das sich in der Tragödie bildet, ist die Folge: Zeit erscheint nunmehr als irreversibel und unumkehrbar. Am Beispiel des Hämon beschreibt Hölderlin, dass der tragische »Mensch«, der die Erfahrung »göttliche[r] Untreue« macht, »im Folgenden schlechterdings nicht dem Anfänglichen gleichen kann.«25 Die Tragödie fügt die oral überlieferten Mythen mit Hilfe der linearen Buchstabenschrift zu einer Handlung zusammen, die, als »Taglauf[ ]«,26 vom Morgen bis zum Abend geht.27 Dieser Taglauf aber wird gefüllt mit Stoffen aus einer mythischen Zeit, die nach Claude Lévi-Strauss eine »Doppelnatur« kennzeichne, »die zugleich umkehrbar und nicht umkehrbar, synchronisch und diachronisch ist«28. Diese synchronische und diachronische Zeit der vielen Mythen wird in der Tragödie zu jenem mythos, von dem Aristoteles sagt, dass er ein »Ganzes« sei, wobei er präzisiert: »Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat«29; die Mitte folgt auf den Anfang, das Ende auf die Mitte. Daher spricht Hölderlin von der »Vernunftform, die sich in der furchtbaren Muße einer tragischen Zeit bildet, und so wie sie in Gegensätzen sich darstellte, in ihrer wilden Entstehung, nachher, in humaner Zeit, als feste aus göttlichem Schiksaal geborene Meinung gilt.«30 Diese »humane Zeit« ist auch die Zeit menschlicher – weltlicher – Geschichte: »Der tragische Moment in seiner 24 | Martin Heidegger, Hölderlins Hymne »Der Ister«,in: Ders., Gesamtausgabe, Bd. 53, hg. v. Walter Biemel, Frankfurt a.M. 1993, S. 57. 25 | Hölderlin, »Anmerkungen zum Oedipus«, S. 258. 26 | Hölderlin, »Anmerkungen zur Antigonä«, S. 412. 27 | Für Hölderlin ist sie damit zugleich ein Sinnbild der Geschichte der Menschheit als Tag, der im Orient beginnt, in der brennenden Sonne Griechenlands seinen Mittag erlebt und im abgekühlten »Abendland« endet, um dann einen neuen Morgen zu ersehnen. 28 | Claude Lévi-Strauss, »Die Struktur der Mythen«, in: Ders., Strukturale Anthropologie I, Frankfurt a.M. 1991, S. 226-254, hier S. 232. 29 | Aristoteles, Poetik, übers.u. hg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1994, S. 25 (1450b). 30 | Hölderlin, »Anmerkungen zur Antigonä«, S. 419. Sattler ediert »Muse«, was in meinen Augen ein offenkundiger Druckfehler im Original ist.
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Nichtigkeit selbst«, so Philippe Lacoue-Labarthe, »ist nicht geschichtlich. Er ist die Bedingung von Geschichte.«31 Zugleich aber bildet sich Raum, indem die Protagonisten aus dem Chor heraustreten, ihm gegenübertreten und sich in ihren Reden aneinander adressieren. Diese dramatische Struktur der Tragödie, die einer räumlichen entspricht, wird von Hölderlin als Darstellung der Scheidung von Menschen und Göttern verstanden: Ödipus und Antigone fühlen sich auf je verschiedene Weise den Göttern zu nahe; die Tragödie in ihrer »gefährlichen Form« aber stellt die notwendige Trennung dar, die aus dieser Anmaßung, diesem nefas, folgt. Die Darstellung des Tragischen beruht vorzüglich darauf, daß das Ungeheure, wie der Gott und Mensch sich paart […], dadurch sich begreift, daß das gränzenlose Eineswerden durch gränzenloses Scheiden sich reinigt. […] Darum der immer widerstreitende Dialog, darum der Chor als Gegensaz gegen diesen. 32
Die Scheidung ist nicht nur der geschichtsphilosophische Gehalt der Tragödie – als Scheidung von Göttern und Menschen –: Sie bedingt auch ihre »dialogische« oder »gefährliche« Form, die eben auch räumlich ist – als Konfrontation von Protagonist und Chor. In jüngerer Zeit hat Derrick de Kerckhove in der Tragödie eine Einübung in ein neues Raumdenken gesehen; aus dem relationalen Raum der Mythen wird, so Kerckhove, der Raum als »neutral, abstract container«33, den die euklidische Geometrie voraussetzt. Die Tragödie selbst aber eröffnet einen rhythmisierten, zäsurierten Zeitraum des Übergangs – eines Übergangs vom Land zur Stadt, von der Religion zur Politik, vom Chorgesang zur Einzelstimme, von Oralität zu Literarität –, und sie ermöglicht dadurch erst den messbaren, dem wissenschaftlichen Wissen zugänglichen Zeitraum, der auf sie folgt. So kehren sich in der Tragödie die Formen um, und eine neue Form, die »Vernunftform«, entsteht. Ihr Gesetz ist das Gleichgewicht oder die Äquivalenz, das exakte Messen und Zählen, das auch die Grundlage der Demokratie ist – als exakte Zählung von Stimmen. Nach Derrida ermöglicht dieses Messen und Zählen den Zugang zur Singularität (zum Beliebigen) in dem Maße, in dem sie ihn durch die Nivellierung auch wieder verunmöglicht – sodass jenes Paradox ins Werk gesetzt wird, das er als »Autoimmunität« bezeichnet.34 Auf die immanente Gefahr der »Vernunftform« – die allgemeine Äquivalenz – scheint auch Hölderlin anzu31 | Philippe Lacoue-Labarthe, »Metaphrasis«, in: Ders., Metaphrasis. Das Theater Hölderlins. Zwei Vorträge, Freiburg i.B. 2001, S. 13-43, hier S. 38. 32 | Hölderlin, »Anmerkungen zum Oedipus«, S. 257. 33 | Derrick de Kerckhove, »A theory of Greek Tragedy«, in: Sub-Stance 29 (1981), S. 23-36, hier S. 27. 34 | Vgl. Jacques Derrida, Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, Frankfurt a.M. 2003, bes. das Kapitel »Herrschaft und Metrik«, S. 66-84 in Auseinandersetzung mit Jean-Luc Nancys von Hölderlin geprägtem Begriff des Maßes.
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spielen, wenn er betont, dass das Gleichgewicht nicht stabil, sondern exzessiv sei: es wird »zu gleich gehalten«.35 Dieser neue Zeitraum, der dem wissenschaftlichen Wissen zugänglich ist, bildet sich in der Tragödie aus einem vorgängigen Zeitraum. In Hölderlins Schreiben wird jener immer wieder »Gegend« genannt. So spricht er im idiosynkratischen Kommentar zu Pindars Fragment »Die Centauren« davon, dass ein Strom »Bahn und Grenze macht, mit Gewalt, ursprünglich pfadlosen und aufwärtswachsenden Erde« – jenen Raum ohne Bahn und Grenze aber bezeichnet er wenig später als »Gegenden«.36 Heidegger wird später in der Vorlesung über »Heraklits Lehre vom Logos« erklären: »é chôra als die umgebende Umgegend ist dann ›die Gegend‹. Wir verstehen darunter den offenen Bereich und die Weite, worin etwas seinen Aufenthalt nimmt, von woher es herkommt, entkommt und entgegnet.«37 Und Derrida sieht in chôra in seiner Lektüre von Platons Tiamaios jenen Zeitraum, welcher der Trennung in Mythos und Philosophie oder auch in Kunst und Wissen vorausgeht – und der bei Plato präzise im Moment seines Verschüttet-Werdens benannt wird.38 Ein solcher Zeitraum, der in der Tragödie noch gegenwärtig war, wird in Hölderlins Empedokles-Fragmenten gesucht; und auch wenn die etymologische Beziehung von chóros und chôros/chôra nicht erwiesen ist, hat er mit dem Chor zu tun, der aus der Landschaft kam und der sich bewegt.39 Die Fragmente führen von einer politischen Intrige in der Stadt Agrigent und vom theatralen Dispositiv der Guckkastenbühne in die »Gegend am Ätna«.40 Der Text aber bricht in dem Moment ab, in dem – in der Gegend – zum ersten Mal ein Chor auftreten soll. Doch die späten Gesänge, deren Stilvorbild die Chorgesänge von Pindar und Sophokles sind, stellen in raumzeitlichen, in sich bewegten Bildern das Werden der historischen Landschaft »Europa« dar – in den Strömen, die aus »Gegenden« stammen und einen bewohnbaren Zeitraum erst durch ihr Fließen schaffen.
35 | Hölderlin, »Anmerkungen zur Antigonä«, S. 421. 36 | Friedrich Hölderlin, »Ursprung der Loyoté. Neun Pindar-Kommentare«, in: Ders., Pindar, FHA 15, nach Vorarbeiten von Michael Franz u. Michael Knaupp hg. v. D. E. Sattler, Basel/Frankfurt a.M. 1987, S. 331-364, hier S. 363. 37 | Martin Heidegger, »Logik. Heraklits Lehre vom Logos«, in: Ders., Heraklit, Gesamtausgabe, Bd. 55, hg. v. Manfred S. Frings, Frankfurt a.M. 1994, S. 183-402, hier S. 335. 38 | Vgl. Jacques Derrida, Chôra, Wien 1990. 39 | Vgl. Ulrike Haß, »Die zwei Körper des Theaters. Protagonist und Chor«, in: Marita Tatari (Hg.), Orte des Unermesslichen. Theater nach der Geschichtstheologie, Zürich/ Berlin 2014, S. 139-159. 40 | Vgl. Jörn Etzold, »Gegend ohne Könige. Zur Bühne in Hölderlins Empedokles«, in: Norbert Otto Eke/Irina Kaldrack/Ulrike Haß (Hg.), Bühne: Raumbildende Prozesse im Theater, Paderborn 2014, S. 305-328.
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Raumzeitliche Ordnung Hölderlin formuliert seine Thesen und poetischen Erforschungen ziemlich genau »um 1800«: in jenem Moment also, in dem sich das moderne Wissen formierte; und er entdeckt in der Auseinandersetzung mit der Tragödie und der griechischen Chordichtung die Genese der kantischen Formen und zugleich ein Verständnis von Raum und Zeit, das dem kantischen Schema nicht entspricht und einem ›metaphysisch‹ konstituierten Zeitraum vorhergeht. In der Tragödie wird jener epistemologische Umbruch gesehen, in dem die »Vernunftform« sich erst »bildet« – und damit auch die Republik, die Demokratie, das Zählen … Für Hölderlins Texte, man weiß es, hatten die Zeitgenossen und, von wenigen Ausnahmen abgesehen, das gesamte 19. Jahrhundert nur Spott übrig. Doch wurden sie, auch auf dem Theater, im Moment eines folgenden epistemologischen Bruches wiederentdeckt, in der Zeit um den Ersten Weltkrieg und vor allem danach. Der Kontext dieser Rezeption – und somit die oberste Schicht der hier beschriebenen Geschichte – kann hier nun noch angedeutet werden: Denn zu Beginn des 20. Jahrhunderts gerät das rationalistische Weltbild des 19. Jahrhunderts ins Wanken. Albert Einsteins spezielle und allgemeine Relativitätstheorie von 1905 und 1916 behandelt die Gesetze der newtonschen Physik, deren apriorische Gültigkeit Kant beweisen wollte, nur mehr als Grenzfälle einer größeren Physik – als approximative Annäherungen, die einigermaßen korrekt sind, sofern die Geschwindigkeiten gegenüber der Lichtgeschwindigkeit irrelevant bleiben. Das Denken einer gekrümmten Raumzeit und die mit ihr verwandte nicht-euklidische Geometrie üben, auch wenn sie keine Auswirkung auf den menschlichen Alltag haben, auch eine starke Faszination auf Philosophie und Kunst aus. In der Philosophie versuchen Neukantianer wie Ernst Cassirer, die Gültigkeit der kantischen Elementarlehre noch für die Relativitätstheorie zu beweisen,41 während Philosophen wie Bertrand Russell sich wegen der neuen Erkenntnisse von Kant abwenden.42 Doch auch in der Kunst, besonders im Theater, wird mit anderen Ordnungen von Raum und Zeit experimentiert. Die geradezu gespenstische Hölderlinbegeisterung und -besessenheit dieser Zeit in Deutschland, über die Hugo von Hofmannsthal in einem berühmten Brief berichtet,43 kann als antirationaler Affekt verstanden werden, als Suche nach einem dionysischen Urgrund und nach einem anderen Modell der Identifikation, durch das Deutschland sich, wie Philippe Lacoue-Labarthe ausgiebig untersucht
41 | Vgl. Ernst Cassirer, Zur Einstein’schen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen, Berlin 1921. 42 | Vgl. vor allem das Kapitel »Kant’s Theory of Space« in: Bertrand Russell, The Principles of Mathematics, New York, NY 1927, S. 461-465. 43 | Vgl. Hugo von Hofmannsthal, »Wiener Brief [IV]« (an The Dial), in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 9, Frankfurt a.M. 1986, S. 482-491.
Theater und epistemologische Krise (Hölderlin)
hat, vom romanischen Modell der schönen Klassik abgrenzen möchte.44 Aber das ist nicht alles. Walter Benjamin sieht in Hölderlins Dichtung die Formulierung eines anderen Denkens von Raum und Zeit – von Raumzeit; denn, wie Peter Fenves in einem brillanten Aufsatz gezeigt hat,45 parallelisiert er die »raumzeitliche[ ] Ordnung« des »Gedichteten« mit den Erkenntnissen der Relativitätstheorie. »Das Prinzip des Gedichteten überhaupt ist die Alleinherrschaft der Beziehung«46 – in ihm eröffnet sich somit ein absolut relationaler und bewegter Raum. Deutlich später wird dann Heidegger Benjamins Neologismus eigenartig aufgreifen und von einem nicht-metaphysischen »Zeitraum des Gedichteten«47 sprechen, der sich in den Stromgesängen eröffnet. Diese Versuche, mit Hölderlin raumzeitliche Prozesse anders zu verstehen, finden indes auch Entsprechungen im Theater. Die Inszenierungen von Hölderlins Texten selbst sind sicher nicht die avanciertesten oder radikalsten Theaterarbeiten jener Jahre; doch auch sie versuchen, im Raum der Guckkastenbühne einen anderen Raum freizulegen – in der Empedokles-Inszenierung in der Regie von Rudolf Weichert und im Bühnenbild von Ludwig Sievers 1920 am Frankfurter Schauspielhaus, wo der Bühnenraum zum Relief reduziert wird, oder in den Inszenierungen der Sophokles-Übersetzungen in der Regie von Eugen Keller im Bühnenbild von T.C. Pillartz 1922 (Ödipus) und 1923 (Antigonä). Radikaler freilich wurden solche Konzepte von einem anderen Theatermacher verfolgt, der jedoch nicht von Hölderlin, sondern von Wagner ausging: von Adolphe Appia. Die rhythmischen Räume, die Appia in Zusammenarbeit mit Émile Jaques-Dalcroze in Hellerau entwarf, sind relationale Räume, bewegt vom Licht. Aber dies kann hier nur angedeutet werden.48 So fällt die Wiederentdeckung Hölderlins und seines Denkens eines anderen Zeitraums am Beginn des 20. Jahrhunderts mit einer weiteren epistemologischen Krise zusammen, welche die »metaphysische« Konstitution von Raum und Zeit erschüttert. Auch hier experimentiert das Theater unseren Zugang zur Welt, unsere Art und Weise, Raum und Zeit zu denken und wahrzunehmen. Es produziert, anders als die Physik, kein Wissen, aber es empfindet Erschütterungen und sucht nach Darstellungen für das Nicht-Gewusste. Indem das Theater 44 | Vgl. u.a. Philippe Lacoue-Labarthe, Die Nachahmung der Modernen. Typographien II, Basel/Weil am Rhein/Wien 2003. 45 | Peter Fenves, »Um Worte verlegen. Zu Benjamins gegenhistorischer Lektüre Hölderlins«, in: Heinz Brüggemann/Günter Oesterle (Hg.), Walter Benjamin und die romantische Moderne, Würzburg 2009, S. 465-499. 46 | Walter Benjamin, »Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin«, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. II.1, Frankfurt a.M. 1999, S. 105-126, hier S. 124. 47 | Heidegger, Hölderlins Hymne »Der Ister«, S. 8. 48 | Vgl. dazu jedoch: Jörn Etzold, »Milieus, Rhythmen, Licht. Zwischen Appia und Uexküll«, in: Ders./Moritz Hannemann (Hg.), rhythmos. Formen des Unbeständigen nach Hölderlin, Paderborn 2016, S. 253-279.
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Jörn Et zold
dabei aber weniger ein Phänomen der kontinuierlich fortschreitenden als der in Strudeln verlaufenden Zeit ist, macht seine Untersuchung auch ein angemessenes historisches und historiographisches Modell nötig: ein Modell geschichteter Krisenzeiten.
Fragment und epistemische Umbrüche 1800/1900 Szenische Praxen bei Lenz und Hofmannsthal Judith Schäfer, Tim Christmann
Um 1800 zeigen sich weitreichende epistemische Veränderungen in der Erscheinungs- und Funktionsweise der Sprache. Sie gehen mit der hinfällig werdenden Logik der Repräsentation einher, wie Michel Foucault in Die Ordnung der Dinge darlegt: Der Mensch war eine Gestalt zwischen zwei Seinsweisen der Sprache gewesen; oder vielmehr: er hatte sich erst in der Zeit konstituiert, in der die Sprache, nachdem sie innerhalb der Repräsentation untergebracht und gewissermaßen in ihr aufgelöst worden war, nur durch ihre eigene Zerstückelung sich davon befreit hat. Der Mensch hat seine eigene Gestalt in den Zwischenräumen einer fragmentierten Sprache zusammengesetzt.1
Die Fragmentierung der Sprache setzt Foucault zufolge also die problematische Figuration der menschlichen Gestalt in Gang. Die Sprache stellt in der modernen Episteme neben Arbeit und Leben eine der »neuen Empirizitäten« dar.2 Arbeit, Leben und Sprache fungieren als »›Transzendentalien‹«: »In ihrem Sein sind sie außererkenntnismäßig (hors connaissance), aber dadurch selbst sind sie Bedingungen der Erkenntnisse.«3 Die Sprache ist nicht allein als einer dieser positiven Bestimmungsgründe des Menschen zu verstehen, sondern erscheint außerdem selbst als mit Sprache spielende Literatur. Diese führt an die Grenzen der Bestimmbarkeit:
1 | Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M. 1971, S. 461f. 2 | Vgl. ebd., S. 307-366. 3 | Ebd., S. 301.
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Judith Schäfer, Tim Christmann Von innerhalb der als Sprache erlebten und durchlaufenen Sprache, im Spiel ihrer bis auf ihren Extrempunkt angespannten Möglichkeiten kündigt sich an, daß der Mensch ›endlich‹ ist und daß beim Erreichen des Gipfels jeden möglichen Sprechens er nicht zum Zentrum seiner selbst gelangt, sondern zur Grenze dessen, was ihn einschließt: zu jenem Gebiet, wo der Tod weilt, wo das Denken erlischt, wo die Verheißung des Ursprungs unendlich sich zurückzieht. 4
Die ästhetischen Reflexionen und szenischen Praxen von Jakob Michael Reinhold Lenz um 1800 und von Hugo von Hofmannsthal um 1900 spielen ebenso mit Sprache wie mit den Grenzen dessen, was zu erkennen ist. Bei beiden Dichtern sind sie durch das Fragmentarische geprägt, welches grundlegende Fragen der Darstellung eröffnet, die etwa Figuration, Sprechen, Wahrnehmung und Raum betreffen. Sie spielen mit der Vielgestaltigkeit des Fragmentarischen zwischen Bruch, Riss und Spalte sowie mit seinen Dynamiken des Ab- oder Zer-Brechens, Zer-Reißens, Zer-Stückelns und Auf-Spaltens.
1800: Lenz Für J.M.R. Lenz ist der Grund seines Schreibens die Wahrnehmung der Welt als eine Formation des Entzugs: In ihr sei »alles«, so Lenz, »schraubenförmig« und entziehe sich dem geraden Blick des Wahrnehmenden.5 Was dieser sehen kann, sind so einzig zusammenhanglose Fragmente. Diese Verfasstheit der Welt trifft für Lenz auf eine begrenzte Erkenntnisfähigkeit des Menschen, die von ihr überfordert und somit in ihrer Endlichkeit bestätigt ist. Diese Endlichkeit ist für Lenz nicht als positive Grenze wahrnehmbar, sondern verbleibt im »Innere[n] des Denkens über das Unendliche«6, wie es nach Foucault für das Denken des 17. und 18. Jahrhunderts charakteristisch ist. In den Anmerkungen übers Theater (1774) zeigt sich diese Endlichkeit als eine epistemische Voraussetzung für Lenz’ Schreiben: »Wir« würden in unserem Erkenntnisdrang stets ein »Ganzes« sehen und in sukzessiver Abfolge der Gedanken zu einem Schluss kommen wollen, um »mit einem Blick durch die innerste Natur aller Wesen [zu] dringen« 7. Dieser Drang sei eine »Begierde« und ein »Trieb«, der die Unendlichkeit des »All[s] zu erfassen« und als »Ganze[s] mit 4 | Ebd., S. 458. 5 | »Es ist alles in der Welt schraubenförmig u. wir sehen grade«. Notiz auf einem Briefentwurf, Biblioteka Jagiellońska Kraków, Lenziana IV, Bl. 2 v, ca. 1775/76. Zum Kontext siehe Brita Hempel, Der gerade Blick in einer schraubenförmigen Welt. Deutungsskepsis und Erlösungshoffnung bei J.M.R. Lenz, Heidelberg 2003, S. 101, Fn. 238. 6 | Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 382. 7 | Jakob Michael Reinhold Lenz, »Anmerkungen übers Theater«, in: Ders., Werke und Briefe in drei Bänden, hg. v. Sigrid Damm, Frankfurt a.M./Leipzig 1987, Bd. II, S. 641-671, hier S. 646.
Fragment und epistemische Umbrüche 1800/1900
[dem] Verstande zu umfassen« suche.8 Doch weder sei die menschliche Erkenntnisfähigkeit so gemacht, noch biete die Welt selbst »Brücken«9, über die ein ganzheitliches Erkennen möglich wäre. Lenz zieht daraus die Konsequenz, im Schreiben Überblick und Sukzession, Ganzheit und schlüssige Enden zu hinterfragen. In seinen Dramen wie den Soldaten oder dem Neuen Menoza führt dies dazu, die Konventionen der Einheiten von Raum und Zeit und handelnder dramatis personae zu hinterfragen sowie szenische Phantasien zu entwickeln, durch die in der Ordnung des Guckkastens Risse entstehen. Nicht allein die Endlichkeit der Erkenntnisfähigkeit, sondern überdies der zwiespältige Charakter der Sprache selbst führen in Lenz’ Schreiben in letzter Konsequenz zur Fragmentierung auf den Ebenen der Grammatik, der Syntax und der Worte. Folgt man Foucault, so hatte Sprache im 17. und 18. Jahrhundert die Aufgabe, »›das Denken zu repräsentieren‹«, »den Dingen einen Namen zuzuteilen und ihre Existenz in diesem Namen zu benennen.« 10 Diese Art der Bindung der Sprache an das Wissen wird um 1800 mit dem »Rückzug des Denkens (pensée) und des Wissens (savoir) aus dem Raum der Repräsentation«11 brüchig. Auf eben jener epistemischen Schwelle befindet sich Lenz. Denn Lenz scheint auf der »repräsentierenden Rolle«12 der Sprache zu insistieren, auf ihrer Möglichkeit, Wissen aufzuheben und zu vermitteln. Zugleich wird ein Misstrauen gegenüber diesen Möglichkeiten besonders in den späten literarischen Texten und etymologischen Studien spürbar. Dieses lenkt die Aufmerksamkeit auf die Medialität und Materialität der Sprache, bis schließlich ihre Unzuverlässigkeit bezüglich ihrer semiotischen Funktionen und ihre Unabhängigkeit von einem schreibenden Subjekt hervortreten. Ein besonders prägnantes Beispiel ist eine Klaviatur, in welche Lenz hunderte Vokabeln mehrerer Sprachen einträgt, die er sowohl innerhalb einzelner als auch zwischen verschiedenen Tasten aufeinander verweisen lässt. Diese Klaviatur ermöglicht ein sichtbares und potentiell hörbares Spiel der Signifikanten.13 Zunächst aus dem Impuls heraus entworfen, eine »ursprünglicherste Sprache«14 rekonstruieren zu wollen, wird Sprache hier als ein ›selbstbezügliches‹ System von Zeichen sichtbar, deren horizontale Verwandtschaften und historisch
8 | Ebd., S. 645, S. 647. 9 | Ebd., S. 645. 10 | Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 114, S. 164. 11 | Ebd., S. 299. 12 | Ebd., S. 115. 13 | Vgl. Judith Schäfer, »… da aber die Welt keine Brücken hat …«. Dramaturgien des Fragmentarischen bei Jakob Michael Reinhold Lenz, Paderborn 2016, S. 234-244. 14 | Jacob Michael Reinhold Lenz, »Lenz an einen unbekannten Freund, Moskau, etwa 1789«, in: Ders., Moskauer Schriften und Briefe, hg. u. komm. v. Heribert Tommek, Berlin 2007, Textband, S. 40-46, hier S. 40.
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gewachsenen Bezüge in der Klaviatur ansatzweise dargestellt sind.15 Ein weiteres Spiel, in dem »die Schrift nicht die Sache, sondern das Wort bedeutet«16, greift Lenz auf, wenn er sich in einem Brief als (schreibendes) Subjekt in mehrere Namen aufspaltet: »Ich unterschreibe mich gern Linz oder Lunz nur damit man bey meinem Namen nichts als meine Person denkt und auf keine alberne Nebenbegriffe kommt. […] Ihr aufrichtig ergebenster JMRlands.«17 In ihrer Reihung und ihrer Klangähnlichkeit kreisen die unterschiedlichen Signifikanten um eine Person, die sich in diesen Namen auflöst, zu Vielen wird und trotzdem als Person denkbar bleibt. Das Subjekt erscheint in diesem Klangspiel im Verschwinden. Damit ist auf eine »nackte Kraft zu sprechen«18 verwiesen, die der literarischen Sprache nach Foucault in der modernen Episteme eignet. Die Spannung im Verhältnis zur Sprache seiner Gegenwart ist bei Lenz kaum zu trennen von seiner Diagnose, die Sprache sei derart ›vergiftet‹, dass sie es den Menschen verunmögliche, sich einander wirklich mitzuteilen: »ich spreche Malabarisch, ja ich wollte lieber nicht sprechen ehe ich so spräche denn alles ist vergiftet und krank in unsern Sprachen und daraus gebildeten Begriffen so polirt und geschliffen sie – des Scheins wegen – immer seyn mögen.«19 Als letzter Ausweg, bevor ein »demantenes Stillschweigen« sich über die Menschheit lege, bleibe einzig das bildliche Sprechen: »[D]ieses einzige Mittel das untrügliche Bild eines Gedankens dieses Individuum[s] in die Seele des andern überzutragen, ist durch Symbolisch Emblematisch bildlich und theatralische Vorstellungsart.«20 Bilder treten so – in Text und Theater – an die Stelle von ›Namen‹ oder Bezeichnungen. Tropen, die Lenz häufig verwendet, künden vom freien Spiel der Zeichen und der Einbildungskraft, insofern sie ein Sprechen im übertragenen Sinne ermöglichen.
15 | Lenz’ Klaviatur ist Teil der von Foucault beschriebenen epistemologischen Auseinandersetzung zum sich um 1800 wandelnden Verständnis der Sprache(n), vgl. Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 288f. 16 | Michel Foucault, »Das unendliche Sprechen«, in: Ders., Schriften zur Literatur, München 1974, S. 90-103, hier S. 92. 17 | Lenz, »Lenz an Burner in Moskau, Moskau, etwa 1789«, in: Ders., Moskauer Schriften und Briefe, Textband, S. 49-51, hier S. 50. 18 | Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 365. 19 | Jacob Michael Reinhold Lenz, »Lenz an einen unbekannten Freund«, S. 44. Mit Foucault lässt sich Lenz’ Wahrnehmung als Sensibilität für den epistemischen Umbruch lesen, der die Sprache um 1800 betrifft, denn die Veränderungen »werden nie klar von denen erfaßt, die sprechen und deren Sprache dennoch bereits das Vehikel dieser Veränderungen ist. Man wird sich dessen nur verquer und in bestimmten Momenten bewußt […]: durch den radikalen und unmittelbar wahrnehmbaren Verlust des Gebrauchs der benutzten Sprache.« (Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 344) 20 | Jacob Michael Reinhold Lenz, »Ueber Delikatesse der Empfindung«, in: Ders., Moskauer Schriften und Briefe, Textband, S. 162-204, hier S. 194f.
Fragment und epistemische Umbrüche 1800/1900
Innerhalb der Zwischenräume der fragmentierten Sprache und der ›theatralische[n]‹ Darstellung können Bilder zur Erscheinung kommen. Eine starke Bildlichkeit der Sprache findet sich in Lenz’ poetologischen Reflexionen und in seinen Briefen; Bild und Schrift berühren sich aber auch in seinen Dramen und Texten zum Theater: »Werd ich gelesen und der Kopf ist so krank oder so klein, daß alle meine Pinselzüge unwahrgenommen vorbei schwimmen, geschweige in ein Gemälde zusammenfließen – Trost! ich wollte nicht gelesen werden. Angeschaut.«21 Sprache erhält so einen visuellen Charakter (»Pinselzüge«); zugleich kann sich das durch die Sprache ›Eingebildete‹ dem geraden, ordnenden Blick, der ein Ganzes herstellen will, wiederum entziehen. Denn Lenz’ Aussage lässt sich so verstehen, dass in einem Gemälde die Bewegung der Pinselzüge stillgestellt würde.22 Betont wird demgegenüber der prozessuale, unabgeschlossene Charakter der Szene bzw. des Bildes. Man könnte sagen, dass es in diesem Sinne bei Lenz keine ›Gemälde‹ gibt, sondern bewegte Bilder. Die durch die Pinselzüge und die »geschwungne Phantasei«23 des Lesers forcierte Bewegung sprengt eine etwaige Ganzheit auf, die auf einer »Deckung des visuellen Ausschnitts mit dem gedanklichen Ausschnitt« beruhte.24 21 | Lenz, »Anmerkungen übers Theater«, S. 657. 22 | Diese Stillstellung der Pinselzüge kann, nimmt man das Bild des Malens ernst, als ›Austrocknen‹ der Farbe wie auch als ›Austrocknen‹ der gesprochenen Sprache in der Schrift gelesen werden: Lenz »sucht die Sprache«, so ließe sich Foucaults Formulierung für das zu Beginn des 19. Jahrhunderts erwachende Interesse an der Verschriftlichung mündlich überlieferter Volkserzählungen übernehmen, »sehr nahe bei dem, was sie ist: im Sprechen, jenem Sprechen, das die Schrift austrocknet und auf dem Blatt festheftet« (Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 349). Denn bei Lenz ist der mündliche Charakter in vielen seiner literarischen und ästhetischen Schriften gegeben. Neben die Auseinandersetzung mit der Schriftsprache tritt sowohl die theoretische Beschäftigung mit (»Über die Bearbeitung der deutschen Sprache im Elsaß, Breisgau und den benachbarten Gegenden«; »Über die Vorzüge der deutschen Sprache«) als auch die Gestaltung von artikulierter Sprache. Jene Nähe zum Sprechen erweckt den Eindruck des Spontanen, Unabgeschlossenen, ›Unfertigen‹. 23 | Jakob Michael Reinhold Lenz, »Rezension des Neuen Menoza von dem Verfasser selbst aufgesetzt«, in: Ders., Werke und Briefe, Bd. II, S. 699-704, hier S. 703. 24 | Als ein solches ›Ganzes‹, in dem sich Sichtbares und Sagbares ohne Zwischenraum aufeinander bezögen, ließe sich das Tableau-Theater Denis Diderots verstehen, das »bekanntlich auf der Gleichsetzung der Theaterbühne mit dem gemalten Bild« beruhe, so Roland Barthes (»Diderot, Brecht, Eisenstein«, in: Ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt a.M. 1990, S. 94-102, hier S. 95). »Bild« definiert Diderot als »ein unter einem einzigen Gesichtspunkt geschlossenes Ganzes, in dem die Teile […] durch ihre wechselseitige Entsprechung eine […] wirkliche Ganzheit bilden« (zit. n. ebd., S. 96). – An anderer Stelle scheint Lenz selbst auf ein ›Ganzes‹ zu zielen, wenn er sagt, »alle« seine »Stücke« müssten »in Schauspiele erst verwandelt werden […], so daß alle die Handlungen [ein] an einander hängendes Bild machen« (zu »Die Freunde
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In seinem Fragment gebliebenen »Künstlerschauspiel« Catharina von Siena25 (ca. 1775/76) ist die Figur des Malers Rosalbino in einem tiefen Fichtenwald auf der Suche nach der entflohenen Catharina. Im Versuch, sie zu finden, zeichnet er den Wald und das Gebirge ab, in dem er sie vermutet:26 [Rosalbino] [n]immt seine Schreibtafel auf und fängt heftig an zu zeichnen. Die Höhle weist sich. Eine Höhle! – ha das fängt gut an – es ist ein prophetischer Augenblick, wo mir das im Bilde gewiesen wird, was ich schaffen soll. […] Indem er an der Höhle arbeitet und aufblickt, sieht er Catharinen in dem Eingang stehen, die sich die Augen wischt und fast zu gleicher Zeit ihn gewahr wird.27
Die Höhle »weist sich« in dem Moment, in dem Rosalbino zu zeichnen beginnt, als sei das Zeichnen Möglichkeitsbedingung des Erscheinens der Höhle und der Figur Catharina. Dabei ist nicht entscheidbar, ob sich die Höhle dem Maler in der Zeichnung »weist« oder in der Natur, die zugleich theatrale Naturkulisse ist. Rosalbinos Hinweis auf das »Bild« bezeichnet drei mögliche Bezüge: Mit ihm kann die Höhle gemeint sein, die er auf seine Schreibtafel zeichnet, es kann die diegetische Natur sein, die die Figur im Aufblicken sieht, und ebenso kann es die Naturkulisse sein, die ihm als »Bild« das »weist«, was er »schaffen soll«. Innerhalb des Theatertextes treten diese drei Ebenen auseinander und stehen zugleich in einem gebrochenen Bezug zueinander. Diese Bewegung trennt und verbindet drei Räume, die sich mit Janine Hauthal als dramatischer, szenischer und thea-traler Raum bezeichnen lassen.28 Das Erscheinen der Catharina wird im dramatischen Raum ersehnt und durch die Zeichnung auch in diesem Raum vorbereitet. In den Brüchen zwischen diesen Räumen kommt dem Maler und dem Publikum nicht nur die Figur Catharina entgegen, sondern auch die Schauspielerin der Catharina. In ihrer Doppelgestalt bewegt sich ›Catharina‹ in einer Kluft zwischen Innen und Außen, zwischen dramatischem, szenischem und theatralem Raum. Also machen den Philosophen« [Anm.], in: Ders., Werke und Briefe, Bd. I, S. 750f.) Zugleich betont er: »an meinen […] Stücken feile ich nie« (»Lenz an Sophie von La Roche, Straßburg, d. 31. Juli 1775«, in: Lenz, Werke und Briefe III, S. 330-332, hier S. 331). 25 | Jakob Michael Reinhold Lenz, »Catharina von Siena (Ein Künstlerschauspiel)«, in: Ders., Werke und Briefe, Bd. I, S. 421-472, hier S. 421. 26 | Ebd., S. 444. 27 | Ebd., S. 464f. 28 | Hauthal definiert »den dramatischen Raum als fiktiven oder imaginären Schauplatz«, den »im Text entworfenen szenischen Raum […] [als] Bühnenraum bzw. das Bühnenbild« und »den theatralen Raum« als »die einem Theatertext implizit eingeschriebene Bühnenform bzw. Architektur des Aufführungsortes«. (Janine Hauthal, »Von den Brettern, die die Welt bedeuten, zur ›Bühne‹ des Textes: Inszenierungen des Raumes im Drama zwischen mise en scène und mise en page«, in: Wolfgang Hallet/Birgit Neumann (Hg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld 2009, S. 371-397, hier S. 371f.)
Fragment und epistemische Umbrüche 1800/1900
wird dieses ›Zwischen‹ sichtbar nur, wenn Drama nicht allein als Literatur, sondern als Text für das Theater ernst genommen wird. Nachdem sich Catharina und Rosalbino wiedergefunden haben, zeigt er ihr seine Zeichnungen von der Umgebung. Die Wahrnehmung der umgebenden Welt, die in sich gebrochen ist in diegetische Natur und theatrale Naturkulisse, wird überblendet von der durch die Zeichnung wahrgenommenen Welt. Während Catharina betont, die »Gegenden«, in denen sie sich nun längere Zeit aufgehalten habe, seien nicht rau gewesen, hält Rosalbino diese für »schröcklich« und »weist« ihr zum Beweis »das Bild«.29 Catharina aber »sieht das Bild lächelnd an« und bittet: »Rosalbino, wir wollen eine Hütte bauen – Sie sollen sie mir zeichnen, in dieser menschenleeren Gegend – «. In diesem Dialog und mit Catharinas Wunsch, über eine neue Zeichnung einen »künftgen Wohnplatz«30 zu erschaffen, wird der Abstand zu dem Raum, in dem sich die Figuren befinden, sichtbar. Innerhalb des dramatischen Raums wird auf diese Weise die Wahrnehmung auf den szenischen Raum erweitert. Die Figuren/Schauspieler betrachten die Zeichnung und werden vom Zuschauer in dieser Betrachtung betrachtet, wodurch das dreifach in sich gebrochene Raumgefüge hervortritt. Die Anordnung des dramatischen Theaters mit seiner Behauptung von Figur, Handlung und eines von der Realität des Zuschauers getrennten Raums wird in seinen Bestandteilen sichtbar. Es ist hier weniger als Ganzes wahrnehmbar, vielmehr als Bewegung seiner Elemente, die die Einbildungskraft, die »geschwungne Phantasei« des Zuschauers, zu verbinden vermag. Die der Schauanordnung des Guckkastentheaters inhärenten Disjunktionen werden sichtbar, und dennoch bleibt diese Ordnung in ihrem Zerfallen letztlich erhalten. Auf der Ebene der Darstellung findet sich auf diese Weise der epistemische Bruch wieder, von dem Lenz’ Schreiben insgesamt geprägt ist. Im Festhalten an den Konventionen des dramatischen Theaters, die zugleich in ihrem auseinanderbrechenden Bezug hinterfragt werden, wird in Lenz’ Theatertexten ein Vertrauensverlust in die »repräsentierende Rolle« sowohl der Sprache als auch der theatralen Darstellung und ihrer Rahmung im Guckkasten sichtbar. In Catharina von Siena geschieht dies innerhalb der beschriebenen Szene sehr beiläufig und beinahe unmerklich. Mit Pandämonium Germanikum. eine Skizze thematisiert Lenz etwa zeitgleich das Zeichnen (auf) der Szene expliziter und widersprüchlicher. So ist einerseits der Theatertext selbst als gezeichneter Entwurf eher positiv ausgewiesen; andererseits lässt Lenz darin »französische Dramenschreiber« und weitere Dichter auftreten, die »da ängstlich und emsig nach Bildern die vor ihnen liegen [zeichnen]« und »Figuren zusammen [schmieren]«.31 29 | Lenz, »Catharina«, S. 467. 30 | Beide Zitate ebd., S. 468. 31 | Jakob Michael Reinhold Lenz, Pandämonium Germanikum: eine Skizze; synoptische Ausgabe beider Handschriften, mit einem Nachwort hg. v. Matthias Luserke/Christoph Weiß, St. Ingbert 1993, S. 49, S. 54, S. 58.
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Es gibt auch eine Dichterfigur mit Namen Lenz; dieser will nicht bloß »hinterherzeichnen«32 . In einer Szene verbirgt er sich kurz in einem »Winkel« und bringt von dort, ohne dass sichtbar würde, wie er sie erschaffen konnte, »einen Menschen nach dem andern keichend und stellt sie«33 auf die Bühne. Wie aus dem Nichts treten so keine Figuren auf, keine »Papiergeschöpfe«34, sondern »Menschen« »mit Geist und Leib«35. Doch die Szene entwirft kein eindeutig positives Szenario, eingeschrieben ist ihr auch ein mögliches Misslingen, denn die anderen anwesenden Schriftsteller, Lessing und Herder, finden die von Lenz gebrachten Menschen »viel zu groß für unsre Zeit«36. Dies lässt sich lesen als Hinweis auf ihre ›Überzeichnung‹, zugleich auf ihre Leiblichkeit. Sie haben auf der Bühne von Lenz’ Gegenwart keinen Platz. Lenz verschiebt seinen Wunsch nach dem Erscheinen des ›Menschen‹ auf der Theaterszene darum in die Zukunft: »So sind sie für die kommende.« Es bleiben Fragmente.
1900 : Hofmannsthal In den 1890er Jahren schreibt Hofmannsthal seine lyrischen Theatertexte Gestern (1891), Der Tod des Tizian (1892), Der Tor und der Tod (1893) oder Der weiße Fächer (1897). In dieser Schaffensphase denkt der Dichter auch über das Fragmentarische nach und notiert im Dezember 1893: »Der tragische Grundmythos: die in Individuen zerstückelte Welt sehnt sich nach Einheit, Dionysos Zagreus will wiedergeboren werden.«37 Dieser Satz drückt eine Sehnsucht aus und beschreibt einen fragmentarischen Zustand der Welt, der als tragisch und mythisch charakterisiert wird, eine Welt aus In-dividuen, aus un-teilbaren Einzelwesen. Sie verkündet zudem den Wunsch nach Wiedergeburt jener göttlichen Gestalt der griechischen Mythenwelt, die in Euripides’ Mänaden (Bakchen) auftritt. Der in den Aufzeichnungen unmittelbar nachfolgende Satz beschreibt den Zustand eines Ich: »Zustand: als wären meine Pulse geöffnet und leise ränne mein Blut mit dem Leben hinaus und mischte sich mit dem Blut der Wiesen, der Bäume, der Bäche.«38 Der Konjunktiv zeigt an, dass es sich um eine Möglichkeitsform, eine imaginative Aussageweise im Gegensatz zum wirklichkeitsbezogenen Indikativ der vorangehenden Aussage handelt. Die Differenz der Modi suggeriert, dass der indikativische Teil als Beschreibung einer als fragmentarisch wahrgenommenen 32 | Ebd., S. 54. 33 | Ebd. 34 | Jakob Michael Reinhold Lenz, »Der Neue Menoza oder Geschichte des cumbanischen Prinzen Tandi. Eine Kömode«, in: Ders., Werke und Briefe I, S. 125-191, hier S. 128. 35 | Lenz, Pandämonium Germanikum, S. 54, S. 56. 36 | Dieses und das folgende Zitat ebd., S. 56. 37 | Hugo von Hofmannsthal, »Aufzeichnungen«, in: Ders., Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hg. v. Herbert Steiner, Frankfurt a.M. 1973, S. 106. 38 | Ebd.
Fragment und epistemische Umbrüche 1800/1900
Wirklichkeit und der konjunktivische Teil als potentielle Reaktion auf diese zu verstehen ist. Die zwei Aussagen können mit Rolf Bäumer als zusammengehörige Teile gelesen werden, insofern das Fragmentarische einen um 1900 typischen Totalitätsbezug aufweist: Wenn über das Fragment um 1900 gehandelt wird, dann fast ohne Ausnahme immer auch über sein Gegenteil: über Totalität, über ihren Verlust und den schon fast verzweifelten Versuch, noch eine ästhetische Versöhnung der […] ›Kulturkonflikte‹ und des ›Kulturverfalls‹ zu denken, während gleichzeitig die zunehmende Marginalisierung und der zunehmende Funktionsverlust der Kunst unfreiwillig oder explizit eingestanden wird. 39
Dies lässt sich vor dem Hintergrund der um 1800 einsetzenden epistemischen Umbrüche begreifen, die zum Zerreißen der Bindung von Sprechen und Denken führen, für die vormals die Logik der Repräsentation samt ihrer Wissensordnung in »Tableauform«40 sorgte. Diese Umbrüche führen, so Foucault, zur Fragmentierung der Sprache, sodass sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts, weitgehend losgelöst vom Diskurs, »direkt und für sich selbst«41 erscheint. Sie wird dergestalt zum Wissensobjekt, das mit Techniken der Exegese und der Formalisierung analysiert wird.42 Als eine »reine, in ihrem Sein und ihrer Funktion rätselhaft gewordene Sprache«43 könne sie zu Literatur werden. Die literarische Sprache zeichnet sich Foucault zufolge dadurch aus, dass sie »nichts anderes mehr zu sagen hat als sich selbst, nichts anderes zu tun hat, als im Glanz ihres Seins zu glitzern.«44 Sie hat zudem – entgegen dem Eindruck der »Marginalisierung« und des »Funktionsverlust[es]« – eine kritische Funktion, insofern sie das sie begleitende philologische Denken unentwegt verunsichert: »Die Literatur ist die Infragestellung der Philologie […]: sie führt die Sprache der Grammatik auf die nackte Kraft zu sprechen zurück, und da trifft sie das wilde und beherrschende Sein der Wörter.«45 Bäumer sieht die Wiener Moderne insgesamt an »Hoffnungen einer ästhetischen Homogenisierungsleistung der Kunst in einer heterogen gewordenen Wirklichkeit«46 anknüpfen. Bei Hofmannsthal sei diese Anknüpfung »paradox und widersprüchlich«47. Dieser Umstand ergibt sich nicht zuletzt aus 39 | Rolf Bäumer, »Fragmentarische Wahrnehmung in der Literatur um 1900«, in: Arlette Camion et al. (Hg.), Über das Fragment. Du fragment, Heidelberg 1999, S. 56-71, hier S. 57. 40 | Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 112. 41 | Ebd., S. 369. 42 | Vgl. ebd., S. 359-366. 43 | Ebd., S. 127. 44 | Ebd., S. 366. 45 | Ebd., S. 365. 46 | Bäumer, »Fragmentarische Wahrnehmung in der Literatur um 1900«, S. 63. 47 | Ebd.
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der skizzierten Erscheinungs- und Funktionsweise der literarischen Sprache in der modernen Episteme zwischen selbstbezüglichem ›Glitzern‹ und kritischer Infragestellung. Paradoxie und Widersprüchlichkeit in Bezug auf eine etwaige »Homogenisierungsleistung« zeigen sich auch in der Notiz: Die Sehnsucht nach Einheit wird zwar artikuliert, aber nicht befriedigt. In dem Moment nämlich, als die Sprache einen Raum eröffnet, der das Verschwinden des Subjekts in seinem sanguinischen Einswerden mit der Landschaft zur Erscheinung bringt, zeigt sich das Subjekt als ein Ich (»meine Pulse«, »mein Blut«), das sich in der Schrift reflektiert. Sein restloses Verschwinden, das über das bevorstehende Ausbluten seinen Tod konnotiert, wird im Modus der Imagination nicht realisiert, sondern in der Vorstellung aufgehoben.48 Die Notiz gibt das schreibende Subjekt als allenfalls »grammatikalische Falte« zu erkennen, eigentlich aber bringt sie das »Verschwinden des Subjekts zur Erscheinung«.49 Mit Foucault lässt sich diese Art der Darstellung als »Denken des Außen« beschreiben, das Gilles Deleuze als fragmentierendes im Sinne einer Trennung oder Sonderung versteht: Wenn Sehen und Sprechen Formen der Äußerlichkeit sind, so richtet sich das Denken auf ein Außen, das keine weitere Form besitzt. […] Sehen ist Denken, Sprechen ist Denken, das Denken jedoch vollzieht sich im Zwischenraum, in der Disjunktion von Sehen und Sprechen. 50
Diese Art des Denkens besteht Deleuze zufolge nicht in der »Ausübung eines Vermögens«51, sondern kann sich nur als Widerfahrnis ereignen: »Denken hängt nicht ab von einer schönen Innerlichkeit, die das Sichtbare und das Sagbare vereinte, sondern geschieht im Einbruch eines Außen, das das Intervall vertieft und das Innere aufsprengt und zersplittert.«52 Durch die strukturelle Spaltung der Notiz hindurch, die sich im Bruch der Satzstruktur durch die Doppelpunkte sowie durch die Differenz von Indikativ und Konjunktiv zeigt, bricht – mit Deleuze gesprochen – etwas ein oder aus, sodass sich Wahrnehmung nicht in einer »schönen Innerlichkeit« figuriert, sondern sich zwischen Innen und Außen 48 | Ausgehend von Theodor W. Adornos Text »George und Hofmannsthal. Zum Briefwechsel« (Prismen) gibt es eine ideologiekritische Lesart des Blutopfers bei Hofmannsthal, die Hans Richard Brittnacher aufgreift: »›Das ist die Wurzel aller Poesie‹. Das Blutopfer bei Hugo von Hofmannsthal und Joseph der Maistre«, in: Alexander Honold/Valentina Luppi/ Anton Bierl (Hg.), Ästhetik des Opfers. Zeichen/Handlungen in Ritual und Spiel, München 2012, S. 263-280. 49 | Michel Foucault, »Das Denken des Außen«, in: Ders., Von der Subversion des Wissens, hg. v. Walter Seitter, München 1974, S. 54-82, hier S. 79, S. 57. 50 | Gilles Deleuze, Foucault, Frankfurt a.M. 1992, S. 121. 51 | Ebd. 52 | Ebd.
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des schreibenden und zugleich beschriebenen Ich ereignet. Der Zustand des sich in seiner De-Figuration erhaltenden Ich lässt sich mit Deleuze und Félix Guattari als Empfindungsblock verstehen: »Was sich bewahrt, erhält, die Sache oder das Kunstwerk, ist ein Empfindungsblock, das heißt eine Verbindung, eine Zusammensetzung aus Perzepten und Affekten.«53 Im Schreiben, welches eigentlich »Ausübung eines Vermögens« ist, gerät das Ich in einen Zustand, in dem sich Perzepte und Affekte bilden, die eine Perspektive zwischen Innen und Außen eröffnen. Diese Perspektive vermittelt nicht ein In-der-Welt-Sein, keine Innerlichkeit, sondern zeitigt ein Werden: »Man ist nicht in der Welt, man wird mit der Welt, man wird in ihrer Betrachtung. Alles ist Schauen, Werden.«54 Hofmannsthal begegnet einer »heterogen gewordenen Wirklichkeit« mit Heterogenität, mit einer fragmentierenden Schreibweise, die im »Einbruch des Außen« wiederum das Innere des Ich »aufsprengt und zersplittert« und – bei aller Melancholie und Verfallsrhetorik um 1900 – ein Werden hervorbringt. Der Theatertext Der Tod des Tizian setzt und hält auf ganz ähnliche Weise Prozesse der (De-)Fragmentierung bzw. (De-)Figuration in Gang, die Innerlichkeit, Vermögen, Außen und Werden betreffen. Die Figuren unterscheiden sich Peter Szondi zufolge in ihrem Erkenntnis- und Kunst-Vermögen: Er sieht auf der einen Seite die künstlerisch unproduktiven Ästheten, auf der anderen die künstlerisch Tätigen bzw. Befähigten.55 Die jugendlichen Kinder, Schüler und Modelle Tizians erkennen »Seele« und »Sinn«56 der weltlichen Zusammenhänge gewöhnlich durch den Maler: »Er hat den Wolken, die vorüberschweben,/Den wesenlosen, einen Sinn gegeben«.57 Sie lebten also »aus zweiter Hand«, seien »Zuschauer ihrer selbst«,58 wie Szondi an einer Aussage Paris’ zu zeigen sucht: »Er [Tizian] hat uns aufgeweckt aus halber Nacht/Und unsre Seelen licht und reich gemacht/ Und uns gewiesen, jedes Tages Fließen/Und Fluten als ein Schauspiel zu genießen,/Die Schönheit aller Formen zu verstehen/Und unserm eignen Leben zuzusehen.«59 Im Genießen und Zusehen erschöpfen sich scheinbar die produktiven Vermögen. Diegetisch verortet sich der Theatertext im Jahr 1576, das als neunundneunzigstes Lebensjahr und zugleich als Todesjahr des Malers angegeben wird. Tizian befindet sich im Inneren seiner Villa (Bühnenhaus) und betritt die Szene nicht. 53 | Gilles Deleuze/Félix Guattari, Was ist Philosophie?, Frankfurt a.M. 2000, S. 191. 54 | Ebd., S. 199. 55 | Vgl. Peter Szondi, Das lyrische Drama des Fin de siècle, Studienausgabe der Vorlesungen, Bd. 4, hg. v. Henriette Beese, Frankfurt a.M. 1975, S. 216-251. 56 | Hugo von Hofmannsthal, »Der Tod des Tizian. Bruchstück«, in: Ders., Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, Bd. III, hg. v. Götz Eberhard Hübner/Klaus-Gerhard Pott/Christoph Michel, Frankfurt a.M. 1982, S. 37-51, hier S. 48. 57 | Ebd., S. 47. 58 | Szondi, Das lyrische Drama des Fin de siècle, S. 236f. 59 | Hofmannsthal, »Der Tod des Tizian«, S. 48.
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Sein nahender Tod stellt seine Schüler und Kinder vor ein ›hermeneutisches‹ Problem, denn die ›Kunst des Interpretierens‹ obliegt ihnen zukünftig selbst. Eine Selbstreflexion, ähnlich der Situation des Ich der Notiz, wird möglich, wenn etwa der androgyne Jüngling Gianino einen Raum des Imaginären betritt, der in seiner Rede als »Dichtung in der Dichtung«60 eröffnet wird. Er beobachtet sich in seinem Monolog rückblickend beim nächtlichen Erleben des Gartens, wobei er sich »in halbem Traum«61 wähnt. Gianinos Rede beginnt konjunktivisch, sodass ein Möglichkeitsraum dieses Erlebens betreten werden kann: »Mir war, als ginge durch die blaue Nacht,/Die atmende, ein rätselhaftes Rufen.«62 Die Natur, später die Nacht bzw. das Dunkel selbst, wird als atmendes und »in das große Dunkel« horchendes Wesen beschrieben, das »lauschte auf geheimer Dinge Spur«63. Mit einem »Sterngefunkel« schwellen die Früchte, glänzen die Brunnen, »schwere Harmonien« erklingen:64 »Und wo die Wolkenschatten hastig glitten,/War wie ein Laut von weichen nackten Tritten …«65 Als das Schattenspiel von Mond und Wolken den Garten eigentlich visuell in Bewegung setzt und belebt, zeigt sich ein Etwas in Bewegung nicht dem Auge, sondern dem Ohr, sodass sich ein Spalt zwischen Sehen und Hören auftut. Direkt darauf sagt Gianino: »Leis stand ich auf – ich war an dich geschmiegt –« und er erhebt sich zugleich auf der Szene – weiterhin erzählend und »zu Tizianello geneigt«66. Indem sich das erzählte und das erzählende Ich in der Bewegung des Aufstehens wechselseitig überblenden, erscheint das Ich hier als »grammatikalische Falte« wiederum im Verschwinden. Aus dieser szenisch-narrativen Verdopplung ergibt sich eine Perspektive, die zwischen Innen und Außen der Erzählung oszilliert und die die Vergangenheit des Erlebten in die Gegenwart des Erzählens überführt (und umgekehrt). Hierauf setzt Gianino die Erzählung zwischen indikativischer und konjunktivischer Rede fort: »Da schwebte durch die Nacht ein süßes Tönen,/Als hörte man die Flöte leise stöhnen«67. Die Wahrnehmung der bisher hörbaren Gestalt intensiviert sich im zweiten Teil des Monologs. Die Gestalt bleibt unsichtbar und wird über den Geruchs- und besonders den Tastsinn wahrnehmbar: »Und wie des Dunkels leiser Atemzug/Den Duft des Gartens um die Stirn mir trug,/Da schien es mir wie das Vorüberschweifen/Von einem weichen, wogenden Gewand/Und die Berührung einer warmen Hand.«68 Nach dieser Berührung wird wiederum eine visu60 | Szondi, Das lyrische Drama des Fin de siècle, S. 243. Vgl. dazu Hofmannsthal, »Der Tod des Tizian«, S. 43-45. 61 | Hofmannsthal, »Der Tod des Tizian«, S. 45. 62 | Ebd., S. 43. 63 | Ebd. 64 | Ebd., S. 44. 65 | Ebd. 66 | Ebd. 67 | Ebd. 68 | Ebd.
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elle Wahrnehmung eines in Mondlicht getauchten Teiches beschrieben, dessen Oberfläche bewegt ist. Ob dieser allerdings durch Schwäne oder badende Najaden in Bewegung gerät, kann das erzählende Ich nicht erinnern, worauf es erneut zu einem Verspaar ansetzt, dieses allerdings nicht reimend vollendet: »Und wie ein süßer Duft von Frauenhaaren/Vermischte sich dem Duft der Aloe …«69 Die uneindeutige visuelle Erinnerung und die zugleich intensive Wahrnehmung des sich im Wasser reflektierenden Lichts scheint die Erzählung zum Abbruch zu bringen, obschon Gianino schließlich zum Reimschema zurückfindet, um das Erleben und das Aussetzen der Sprache zu resümieren: »Und was da war, ist in mir in eins verflossen:/In eine überstarke schwere Pracht,/Die Sinne stumm und Worte sinnlos macht.« 70 Die vermeintliche »schöne[ ] Innerlichkeit« Gianinos, in der das Gewesene als »in eins verflossen« behauptet wird, wird aber gerade durch die Aufspaltung der verschiedenen Sinne aufgesprengt. Die Sinne bilden kein Ganzes, keine Einheit. Sehen, Hören, Riechen und Fühlen sind zwar aufeinander bezogen, bilden aber jeweils Affekte, die dem Subjekt der Rede widerfahren und sein dichterisches Vermögen bzw. das Reimschema unterbrechen. Die Sinne fraktionieren in ihrer Intensität also die Sprache, sodass sich letztendlich Sagbares und Sichtbares bzw. Sinnliches auftrennen. Die szenische Erzählsituation, die das erzählende und das erzählte Ich im Verschwinden erscheinen lässt, zeigt Gianino als werdende Gestalt: »Das sinnliche Werden ist jener Akt, durch den etwas oder jemand fortwährend anders-wird (und dabei bleibt, was er ist).« 71 Die Uneindeutigkeit dessen, was zwischen Sagbarem und Sinnlichem Gestalt annimmt, zeigt sich zudem daran, dass mal die Natur, mal das Dunkel figuriert wird. Mal geschieht dies über vitale Funktionen wie das Atmen, mal über Anthropomorphismen wie Gewand oder Hand. Doch die Berührung durch diese wird wiederum uneindeutig, wenn in den unmittelbar folgenden Versen »liebestoller Mücken dichter Tanz« 72 beschrieben wird. Gewand und Hand lösen sich potentiell in einem Mückenschwarm auf, der als Berührendes in Frage kommt. Szondi fokussiert in seiner Analyse des Gianino-Monologs die dort beschriebene Statue eines Fauns.73 Wenn er schreibt, der »Ursprung« 74 der zu Beginn gehörten Laute werde mit dem Erscheinen des Fauns – »in der Hand aus Marmor« 75 eine Flöte – »vollends offenbar« 76, wird dieser potentieller Urheber des Tönens sowie der späteren Berührung. Gianino sagt zwar, dass die Flöte »sinnend wieg[e]«, dass er den 69 | Ebd. 70 | Ebd. 71 | Deleuze/Guattari, Was ist Philosophie?, S. 209. 72 | Hofmannsthal, »Der Tod des Tizian«, S. 44. 73 | Vgl. Szondi, Das lyrische Drama des Fin de siècle, S. 246-249. 74 | Ebd., S. 246. 75 | Hofmannsthal, »Der Tod des Tizian«, S. 44. 76 | Szondi, Das lyrische Drama des Fin de siècle, S. 246.
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Faun aber »still und marmorn« habe stehen sehen.77 Bewegung ist um den Faun (fliegende Bienen), nicht direkt durch ihn. Eine solche, mögliche Lesart führt das sinnliche Erleben Gianinos auf das In-der-Welt-Sein der (anthropomorphen) Gestalt der Statue auch im Sinne einer »schönen Innerlichkeit« zurück: »Das Innere setzt einen Anfang und ein Ende voraus, einen Ursprung und eine Bestimmung, die imstande sind zu koinzidieren, etwas ›ganz‹ zu machen.« 78 Szondi hebt Gianinos Sprechen außerdem als ein produktives hervor, das ihn mit dem Schaffen des Künstlers Tizian verbindet.79 Die Replik Antonios auf die poetische Rede Gianinos bestätigt dies zunächst: »Beneidenswerter, der das noch erlebt/Und solche Dinge in das Dunkel webt!« 80 Doch das »noch« deutet Gianinos Vermögen zugleich als unzeitgemäßes. An dieser Stelle treffen die ›prosaische‹ Welt und die moderne Episteme aufeinander.81 Foucault zufolge nähert sich die Sprache im Laufe des 19. Jahrhunderts dem an, was sie in der Episteme des Ähnlichen war, ein dunkles Gewebe, eine »rätselhafte Dichte«82, wird zu jenem bereits genannten ›Glitzern‹. Gerade Metrik und Musikalität der lyrischen Sprache bringen dieses ›Glitzern‹ zum Vorschein und bilden einen dunklen, rätselhaften Gegenpol zur Bedeutung des Wortes: »Die Silbe […] ergibt einen Klang; nur das Wort ergibt einen Sinn. Jedes Wort im Gedicht gehorcht also zwei gänzlich verschiedenen Regeln, der metrisch-phonetischen und der syntaktisch-semantischen.«83 Im Kontext dieses ›Glitzerns‹ werden in der Moderne Techniken der Exegese fokussiert. Das ›hermeneutische‹ Problem der Tizian-Jünger spielt sich vor dem Hintergrund dieser rätselhaften Dichte ab: Gianino webt in seiner poetischen Rede etwas in das Dunkel und wird zugleich Teil dieses Dunkels, er wird (sich) dunkel. Bleibt den übrigen Figuren dieser Weg durch ihr vermeintliches Unvermögen versagt, so ersinnen sie eine andere Art der ›Exegesetechnik‹, die das Erleben und Erkennen von Zusammenhang ermöglichen soll: »Er [Tizian] will im Unbewußten untersinken,/Und wir, wir sollen seine Seele trinken/In des lebendgen Lebens lichtem Wein,/Und wo wir Schönheit sehen, wird Er sein!« 84 Die Jünger verleiben sich den vergötterten Tizian (»Er«) in dieser Vision wie Wein ein. Dieser imaginierte Akt verweist auf Dionysos sowie auf Euripides’ Mänaden,
77 | Hofmannsthal, »Der Tod des Tizian«, S. 44. 78 | Deleuze, Foucault, S. 121f. 79 | Vgl. Szondi, Das lyrische Drama des Fin de siècle, S. 249. 80 | Hofmannsthal, »Der Tod des Tizian«, S. 45. 81 | Zur prosaischen Welt vgl. Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 46-77. Aleida Assmann liest Foucaults Epistemologie in Bezug auf das Ähnlichkeitsdenken kritisch: Im Dickicht der Zeichen, Berlin 2015, S. 11-17. 82 | Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 363. 83 | Heinz Schlaffer, Geistersprache. Zweck und Mittel der Lyrik, Stuttgart 2015, S. 49. 84 | Hofmannsthal, »Der Tod des Tizian«, S. 51.
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mit denen sich Hofmannsthal seit 1892 beschäftigt.85 In der Tragödie ist in Bezug auf den Dionysos-Kult vom Verzehr rohen Fleisches oder Bluts sowie vom Trinken von Wein zur Vereinigung mit dem Gott die Rede. Teiresias spricht gar vom Gott als Wein: »Man gießt den Gott vor allen Göttern aus« 86. Dass das Dionysische als fragmentierendes Prinzip verstanden werden kann, macht Euripides deutlich: Agaue und die Mänaden zerreißen Pentheus. Agaue fragt Kadmos gegen Ende der Tragödie nach dem Leichnam des Sohnes. Kadmos kann ihr nur den zerstückelten Leib präsentieren, worauf sie ausruft: »O ganz zerstückter Leib!« 87 Die Raserei, die Agaue »wild schäumend und mit irrem Blick«, »ganz des Bacchus voll«88 zu ihrer Tat antrieb, wie der Bote berichtet, findet in der Vision der TizianJünger kein Echo. Doch der Akt der Einverleibung soll ihnen die Bildung einer Gemeinschaft (»wir«) und das Teilen von Wahrnehmungserfahrungen (»Schönheit sehen«) ermöglichen. Der implizite Bezug auf den Theatergott Dionysos über den imaginierten Akt der Einverleibung kann als Reflexion des Theaters als Ort des Erlebens und Erkennens von Zusammenhang begriffen werden. Er gibt in diesem Sinne einen Hinweis darauf, dass das Sprechen der anderen Figuren ebenso produktiv wie dasjenige Gianinos ist, denn auch sie weben etwas in das Dunkel, nämlich in das Dunkel des Theaters. Dies kann nur wahrgenommen werden, wenn die lyrischen Theatertexte insgesamt als theatrale Werke verstanden werden, die gesehen und gehört werden und die Räume hervorbringen.89 Der Tod des Tizian spielt mit dem Zusammenhang von dramatischem, szenischem und theatralem Raum (Hauthal), insofern er Räume separiert und zugleich aufeinander bezieht. Es gibt einen Raum im Inneren der Villa, von dem nur die dramatische Rede berichtet. Es gibt die Terrasse als Zwischenraum und Ort der szenischen Interaktion, die »durch üppig blumendes Geranke«90 umgeben ist. Es gibt ferner 85 | Juliane Vogel versteht diese Beschäftigung als »skeptische Auseinandersetzung mit der Idee einer durch Ankunft gestifteten Erneuerung«, die potentiell mit der Wiedergeburt des Dionysos verbunden ist: »Erscheinung und Zeremonie. Ankunftsszenen bei Hugo von Hofmannsthal«, in: Aage A. Hansen-Löve/Annegret Heitmann/Inka Mülder-Bach (Hg.), Ankünfte. An der Epochenschwelle um 1900, München 2009, S. 161-172, hier S. 161. 86 | Euripides, »Die Mänaden«, in: Ders., Sämtliche Tragödien und Fragmente. Griechisch-Deutsch, Bd. V, hg. v. Gustav Adolf Seeck, München 1977, S. 255-353, hier S. 275. 87 | Ebd., S. 345. 88 | Ebd., S. 333. 89 | Szondi schreibt, dass »das lyrische Drama seine Wirklichkeit nicht auf der Bühne, sondern in der durch die Sprache evozierten Wirklichkeit der Imagination« (Das lyrische Drama des Fin de siècle, S. 59.) habe. Die lyrischen Dramen werden von Mathias Mayer als weniger bühnentauglich dargestellt: »Zweidimensionale, flächenhafte Bühnenwerke versagen sich der theatralischen Präsentation […].« (Mathias Mayer, »Zwischen Ethik und Ästhetik. Zum Fragmentarischen im Werk Hugo von Hofmannsthals«, in: Hofmannsthal Jahrbuch. Zur Europäischen Moderne 3 (1995), S. 251-274, hier S. 260, vgl. außerdem S. 262.) 90 | Hofmannsthal, »Der Tod des Tizian«, S. 46.
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die Stadt Venedig, die unterhalb der Terrasse liegt und die von den Figuren – an der Grenze (Rampe) des theatralen Raumes stehend – betrachtet wird. Desiderio fragt Gianino nach dessen Monolog an der Rampe: »Siehst du die Stadt, wie jetzt sie drunten ruht?«91 Sprechend von Desiderio und hörend vom Publikum wird in den folgenden Versen an dieser Schwelle Venedig, »in Duft und goldne Abendglut«92 gehüllt, imaginiert, in das Dunkel gewebt. Sagbares und Sichtbares treten hier erneut auseinander. Diese Spaltung ist in der Raumordnung des Theatertextes angelegt. Wenn Antonio, einer der vermeintlich unproduktiven Ästheten, sagt, man solle »das Außen ahnen mehr als schauen«93, hat er die Möglichkeiten dieser Bühnenform, die sich unter anderem aus dem disjunktiven Bezug der Räume ergibt, nicht nur geahnt, sondern geschaut. Das lyrische Sprechen an der Rampe bringt den theatralen Raum zur Geltung, den Sprechende und Hörende teilen. Es ermöglicht in seinem metrisch-phonetischen Glanz die Reflexion einer werdenden Gestalt, die an der Bühnenrampe, im Zwischenraum von Sprechen und Hören auch als »betrachteter Betrachter«94 ex-poniert wird.
91 | Ebd., S. 45. 92 | Ebd. 93 | Ebd., S. 46. 94 | Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 377.
Wie performativ ist das Theater? Der Schauspieler als sozialer Akteur im 18. Jahrhundert Romain Jobez
Theater in der Zeit der Auf klärung wird eine kulturfortschrittliche Rolle zugeschrieben, die sich mit folgender Aussage von Erika Fischer-Lichte beschreiben lässt: »Der Beitrag, den das Theater […] für den spezifischen Zivilisationsprozess geleistet hat, auf dem die bürgerliche Gesellschaft auf baut, dürfte bisher kaum angemessen eingeschätzt worden sein.«1 Diese Einschätzung, die sich an Norbert Elias’ Ausführungen zum Prozeß der Zivilisation (1939) orientiert, führt jedoch zu der Schlussfolgerung, dass »der Körper als sinnliche Natur«2 im weiteren Verlauf der (Theater-)Geschichte zurückgedrängt worden sei. Stattdessen sei der Körper immer mehr, so Fischer-Lichte, abstrahiert, bezeichnet und bedeutet worden: »Die steigende Tendenz zur Repression der sinnlichen Natur schlägt sich in einer zunehmenden Semiotisierung des Körpers nieder.«3 Erst im Zuge des sogenannten performative turn, den Fischer-Lichte in den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts verortet, lasse sich die Zeichenhaftigkeit des Körpers mit seiner Materialität versöhnen. Ausgehend vom performativen Prozess der Verkörperung schlägt Fischer-Lichte eine Neudefinition des Aufführungsbegriffs vor, mit dessen Hilfe der inszenatorische Charakter kultureller Sinnerzeugung in seiner Eigendynamik beschrieben werden soll. Bekanntlich firmiert dieser kulturwissenschaftliche Forschungsansatz unter dem Terminus »Performativität«. Mit dieser Begriffsbildung hat sich eine Episteme im wissenschaftlichen Diskurs über Theater fest etabliert. In theoretischer Hinsicht wird diese Begrifflichkeit von Fischer-Lichte durch zweierlei Rückgriffe gestützt: zum einen greift sie auf die Sprachphilosophie von John L. Austin, zum anderen auf die von Judith Butler geprägten gender studies zurück. In beiden Bereichen beobachtet sie die »Fähigkeiten des Perfor1 | Erika Fischer-Lichte, Kurze Geschichte des deutschen Theaters, Tübingen/Basel 1993, S. 326. 2 | Erika Fischer-Lichte, Theater im Prozeß der Zivilisation, Tübingen/Basel 2000, S. 39. 3 | Ebd., S. 40.
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mativen […], Dichotomien zum Einsturz zu bringen.«4 Somit verlören »dichotomische Begriffspaare wie Subjekt/Objekt oder Signifikat/Signifikant […] ihre Polarität und Trennschärfe« und würden durch die »selbstreferentiell[e] und wirklichkeitskonstituierend[e]« Dynamik des Performativen ersetzt.5 In praktischer Hinsicht ermöglicht diese Transformation Fischer-Lichte in der Aufführungsanalyse von Kulturphänomenen die etwaigen Gegensätze zwischen Semiotik und Phänomenologie zu überbrücken. Mit diesem methodischen Anspruch trägt sie jedoch der Subjektivität innerhalb der ästhetische Erfahrung keinerlei Rechnung, vor allem wenn sie ihre Subjektauffassung in der Ästhetik des Performativen wie folgt definiert: »Nicht das Subjekt spricht, verwendet die Sprache, sondern es wird von Sprache gesprochen. Eine Dialektik von Leib-Sein und Körper-Haben erweist sich als Hirngespinst. Der Körper ist vielmehr als passive Fläche für kulturelle Einschreibungen zu denken.«6 Wie Dirk Pilz zu Recht anmerkt, scheitert hier der Versuch, sich sowohl von dem rationalen Subjektbegriff der Aufklärung als auch von dessen postmoderner Hinterfragung zu entfernen: Eine einfache Umkehrung des aus Descartes’ Philosophie abgeleiteten »LeibSeele-Dualismus« schaffe diesen nicht aus der Welt.7 Indem Fischer-Lichte, so Pilz, Körper und Umwelt zur ersten Instanz erkläre, habe sie damit im Umkehrschluss noch nicht auf ein bewusstseinzentriertes Ich verzichtet und verbleibe somit in der Tradition des cartesianischen Dualismus. Diese epistemologische Kritik an der performativen Subjektauffassung hat, auch meiner Auffassung nach, Folgen für die Gültigkeit der Performativität als Episteme der Theaterwissenschaft. So lassen sich die theaterhistoriographischen Arbeiten von Erika Fischer-Lichte trotz ihrer Verdienste schwerlich als Versuch bezeichnen, »die europäische Theaterbzw. Dramengeschichte als Geschichte von Subjektmodellen und Identitätsangeboten zu schreiben.«8 Im Folgenden möchte ich zeigen, inwiefern die Theatergeschichtsschreibung einer Präzisierung des Subjektbegriffs bedarf, welche die Episteme der Performativität revidieren muss.
Die performative Aporie des Dualismus Jede Subjekttheorie muss sich dem Problem des Dualismus stellen, das nur unter Berücksichtigung der Subjektivität gelöst werden kann. Gerade für das 18. Jahrhundert ist dieser Themenkomplex von immenser Bedeutung. Die idealistische 4 | Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004, S. 38. 5 | Ebd., S. 33. 6 | Ebd., S. 293. 7 | Dirk Pilz, Krisengeschöpfe: Zur Theorie und Methodologie der Objektiven Hermeneutik, Wiesbaden 2007, S. 107f. 8 | Friedemann Kreuder et al., »Vorwort«, in: Dies. (Hg.), Theater und Subjektkonstitution. Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion, Bielefeld 2012, S. 11-21, hier S. 12.
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Subjektauffassung bemüht sich um eine klare Grenzziehung zwischen Körper und Geist, während Subjektivität als Bewusstsein definiert wird. Die sozialen Implikationen dieses aus heutiger Sicht umstrittenen Modells sind bekannt: Es entsteht eine bürgerliche Identität, die sich durch Triebregulierung gegen die körpergebundenen Affekte wehrt und die Integrität des idealistischen Subjekts zu verteidigen versucht. Dabei spielt Theater eine besondere Rolle, wie alle theatergeschichtlichen Darstellungen einstimmig hervorheben, die in der Bühne den Verhandlungsort dieser neuen Identitätsbildung begreifen. Die Träger dieses zivilisatorischen ›Auftrags‹ werden jedoch als solche nicht gesehen und von der Theaterreform nicht anerkannt. Gemeint sind die Schauspieler, die als autonome Subjekte im Sinne der Aufklärung keine Berücksichtigung finden. Stattdessen beschränken sich Theaterhistoriker meist auf die soziale Anerkennung der durch den Einzug in feste Theaterbauten sesshaft gewordenen Wandertruppen. So Reinhart Meyer: »Die Schauspieler gewinnen an gesellschaftlichem Ansehen und entwickeln ein Selbstbewusstsein, das dem Komödianten des 17. Jahrhunderts unbekannt war.«9 Mit diesem Fazit wird die Identität des Schauspielers keineswegs definiert, sondern vielmehr auf das Ergebnis eines Gesellschaftswandels reduziert. Der Schauspieler wird vom emanzipierten Subjekt der Aufklärung zum Objekt degradiert, von den Theaterreformern, die die Integration der sogenannten ›fahrenden Leute‹ in die bürgerliche Gesellschaft durch deren Disziplinierung anstreben. Aus diesem Grund lassen sich an der Person des Schauspielers die Widersprüche der idealistischen Subjektauffassung beobachten, die sich vorwiegend in den schauspieltheoretischen Debatten niederschlagen. Die von Günther Heeg beschriebene Suche nach einer »natürlichen Gestalt« in der Schauspielkunst, die sich als ein Phantasma erweisen sollte, zeugt von dem gescheiterten Versuch, das Problem des Dualismus zwischen Körper und Geist zu lösen.10 In gewisser Hinsicht scheint Diderot eine Lösung für dieses Problem in seinem posthum erschienen Paradox über den Schauspieler (1830) zu liefern. Selbst wenn seine theoretischen Überlegungen gerne als Beleg für die »doppelte Verfasstheit«11 des Schauspielers zitiert werden, sind sie eher als solche zu verstehen, die in einen gesellschaftskritischen Kontext eingebettet sind. Mit ihnen antwortet Diderot auf Rousseaus Plädoyer für die Authentizität der Gefühle und gegen die Künstlichkeit der repräsentativen Gesellschaftsordnung, die Rousseau in seiner Kritik des homme du monde angreift: »Der Mann von Welt verbirgt sich ganz hinter seiner Maske. Da er fast niemals zu sich kommt, ist er sich immer 9 | Reinhart Meyer, »Von der Wanderbühne zum Hof- und Nationaltheater«, in: Rolf Grimmiger (Hg.), Hanser Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. III.1, Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution, München 1984, S. 186-216, hier S. 215. 10 | Günther Heeg, Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M./Basel 2000. 11 | Ulrike Haß, »Rolle«, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Matthias Warstat (Hg.), Metzler-Lexikon Theatertheorie, Stuttgart 2005, S. 278-283, hier S. 281.
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fremd, und missmutig, wenn er dazu gezwungen ist. Was er ist, ist nichts; was er scheint, ist ihm alles.«12 Diderot greift auch auf eine Theatermetapher zurück, indem er eine Analogie zwischen der Schauspielkunst und den vernünftigen Umgangsformen entwickelt: »Die hitzigen, heftigen, empfindsamen Menschen sind immer wie auf der Bühne; sie geben ein Schauspiel, aber sie genießen es nicht.«13 Der ›Gefühlsschauspieler‹ (›comédien sensible‹) ist dem empfindsamen Menschen in der Gesellschaft vergleichbar: Indem er in seiner Rolle aufgeht, vergisst er sich selbst und seinen Platz auf der (sozialen) Bühne. In seiner Schauspieltheorie verliert Diderot die Ordnung der sozialen Interaktionen nie aus den Augen: »Nicht der heftige Mensch, der außer sich ist, hat Gewalt über uns; das ist vielmehr das Vorrecht des Menschen, der sich selbst in der Gewalt hat.«14 Der ›Verstandesschauspieler‹ (›comédien de tête‹) wird daher zum Vorbild der zwischenmenschlichen Beziehungen, weil er in der Darstellung die Distanz zu sich selbst und zu seinen Mitmenschen wahrt. Diese darstellerische Fähigkeit ergibt sich aus einer »Spaltung« des Einzelnen, deren schauspieltheoretische Konsequenzen von Diderot nur in einer Nebenbemerkung angesprochen werden: »Außerdem wäre es für die Leichtigkeit des Rollenstudiums und dessen Erfolg, für die Universalität des Talents und die Vollkommenheit des Spiels günstiger, wenn diese unbegreifliche Spaltung des eigenen Selbsts nicht notwendig wäre.«15 Da die meisten Theatertruppen in der Zeit von Diderot nach dem Prinzip des Rollenfachs aufgebaut sind, bringt die psychische Gespaltenheit des Schauspielers keinen Vorteil für das Spiel. Der Begriff der »Spaltung« wirft für Diderot kein theaterpraktisches Problem auf, da sich selbst der gespaltene Schauspieler im üblichen Theaterbetrieb für das Studium einer einzigen Rolle eignen soll. Vielmehr weist er auf ein grundlegendes Merkmal der dualistischen Subjektkonstitution hin, das später von Helmuth Plessner mit dem Gedanken der »uneinholbare[n] Abständigkeit zu sich selbst«16 wieder aufgegriffen wird. Plessner verdeutlicht diese Idee am Beispiel des Schauspielers: »Er selbst ist sein eigenes Mittel, d.h. er spaltet sich selbst in sich selbst, bleibt aber, um im Bilde zu bleiben, diesseits des Spaltes, hinter der Figur, die er verkörpert, stehen.«17 Plessner interessiert allerdings nur die der Schauspielkunst
12 | Jean-Jacques Rousseau, Emil oder Über die Erziehung, hg. v. Ludwig Schmidt, Paderborn 1993, S. 232. 13 | Denis Diderot, »Das Paradox über den Schauspieler«, in: Ders., Ästhetische Schriften, Bd. I, hg. v. Friedrich Bassenge, Berlin 1967, S. 481-538, hier S. 487. 14 | Ebd. 15 | Ebd., S. 493. 16 | Helmuth Plessner, »Zur Anthropologie des Schauspielers«, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 7, hg. v. Günter Dux u. Richard W. Schmidt, Frankfurt a.M. 1982, S. 399418, hier S. 417. 17 | Ebd., S. 407.
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innewohnende »Duplizität«, die er auf die menschliche Tätigkeit zurückführt.18 Auch beschäftigt er sich in Zur Anthropologie des Schauspielers nicht mit praktischen Aspekten seiner Überlegungen. Die seit dem 18. Jahrhundert für die Schauspieltheorie wichtige Debatte um das Verhältnis zwischen Vernunft und Gefühl tangiert seine Arbeit nicht: »Man darf die schauspielerische Gestaltung nicht in das Schema einer Alternative: von innen nach außen oder von außen nach innen zwängen.«19 Plessners Ansicht lässt sich nach meiner Meinung dadurch erklären, dass sich die soziale Anthropologie, ähnlich wie bei Diderot, an einem »idealen Modell« ausrichtet, das auf dem Pakt von gespielter Rolle und ihrer Wahrnehmung beruht. Aus diesem Grund folge ich nicht der Ansicht von Fischer-Lichte, wenn sie im Zusammenhang mit ihrer Definition eines performativ gestützten Aufführungsbegriffs behauptet, dass die »Abständigkeit des Menschen von sich selbst […] als Spannung zwischen dem phänomenalen Leib und dem semiotischen Körper bezeichnet werden« kann.20 Im Gegensatz zu Fischer-Lichte geht es Plessner nicht um das Problem der Darstellung, weder um Prozesse von Verkörperungen, noch um die diesen Prozess begleitenden Rezeptionsschleifen, sondern allein um den Pakt zwischen der gespielten Rolle und seiner Rezeption. Für ihn existiert der Einzelne nur durch das soziale Rollenspiel: »Immer ist der Mensch in seiner Verdoppelung zu einer erfahrbaren Rollenfigur erst er selbst. Auch alles das, worin er seine Eigentlichkeit sieht, ist nur seine Rolle, die er vor sich selber und anderen spielt.«21 Sowohl Diderot als auch Plessner erkennen in der Spaltung ein wichtiges Merkmal der schauspielerischen Tätigkeit, aus dem beide gesellschaftsrelevante Schlussfolgerungen ziehen, die sie jedoch nicht auf die Frage nach der sozialen Stellung des Schauspielers anwenden wollen.
Das ›zweifache Paradox‹ des Schauspielers Obwohl Diderot und Plessner sich in unterschiedlicher Weise der Theatermetapher bedienen, um ihre letztlich dualistische Subjektauffassung zu begründen, lassen sich ihre Gedanken zusammenführen, weil sie eine Analyse der schauspielerischen Identität im 18. Jahrhundert ermöglichen. Die Gesellschaft der Aufklärung wird von verschiedenen Strömungen durchzogen: Auf der einen Seite bleibt sie durch die Aufteilung in Stände repräsentativ, auf der anderen Seite entwickelt sie eine neue Gefühlskultur, die Anspruch auf die Authentizität der zwischenmenschlichen Beziehungen erhebt. In diesem Spannungsfeld soll sich die bürgerliche Identität formieren. Folgt man Plessners Ausführungen, kann sich der 18 | Helmuth Plessner, »Soziale Rolle und menschliche Natur«, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 10, hg. v. Günter Dux u. Richard W. Schmidt, Frankfurt a.M. 1985, S. 227240, hier S. 239. 19 | Plessner, »Zur Anthropologie des Schauspielers«, S. 408. 20 | Fischer-Lichte, Performativität: Eine Einführung, Bielefeld 2012, S. 61. 21 | Plessner, »Soziale Rolle und menschliche Natur«, S. 238.
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aufgeklärte Bürger nur in »Abständigkeit zu sich selbst« als Subjekt definieren. Aus diesem Grund wird an das Theater die Aufgabe delegiert, die Identität des sich konstituierenden Bürgertums vorausgreifend zu liefern. In diesem Zusammenhang erweist sich der Schauspieler als einziges Subjekt der Aufklärungsgesellschaft, das sich trotz der »Abständigkeit zu sich selbst« der »Duplizität« seiner Tätigkeit bewusst ist, weil sie zu seiner darstellerischen Aufgabe gehört. Als einziger Mensch darf und muss der Schauspieler bewusst »Theater spielen«, auch im übertragenen Sinne des Wortes in der Soziologie von Erving Goffman, so dass man hinsichtlich seiner sozialen Tätigkeit von einem ›zweifachen Paradox‹ sprechen kann: Mit ihm wird die (im Prozess befindliche) Subjektkonstitution auf der Bühne zur (festgeschriebenen) Identität des Theaterdarstellers in der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts erklärt. Das Phänomen des ›zweifachen Paradoxes‹ lässt sich in verschiedenen Bereichen des Theaters beobachten, die hier nur anhand einiger Beispiele summarisch gestreift werden können. Es handelt sich zunächst um Stücke, in denen Schauspieler als Theaterfiguren auftreten. So thematisieren etwa Die Komödianten (1768) von Johann Ludwig Schlosser (1738-1815) und Die Schauspielerschule (1785) von Johann David Beil (1754-1794) die mögliche Integration von Schauspielern in die Aufklärungsgesellschaft, die allerdings voraussetzt, dass sie den Komödiantenstand verlassen. Gattungstechnisch lassen sich Die Komödianten und Die Schauspielerschule als Rührstücke bezeichnen, da sie die zwischenmenschlichen Beziehungen unter dem Siegel der Empfindsamkeit gegen die repräsentativen Ansprüche der Ständegesellschaft verteidigen. Dies zeigt sich vor allem in dem Wunsch der Schauspielerfiguren, der Liebe wegen zu heiraten. Die Heiratsintrige ermöglicht es ihnen, sich in eine bürgerliche Gesellschaft zu integrieren, deren Fundament eine im Bereich des Privaten gegründete Gesinnungsethik bildet. Dennoch bleibt das bürgerliche Verhaltensideal eine Schimäre, da es sich auf Subjekte bezieht, die offensichtlich nur in der Theaterfiktion existieren. Die Autoren bekämpfen also auf paradoxe Weise die Vorurteile gegen die ›fahrenden Leute‹, da ihre Stücke zur Aufführung von Schauspielern bestimmt sind, deren eigentliche Identität als Theaterdarsteller letztendlich unangetastet bleibt. Auf der Bühne eignen sie sich also produktiv die »Abständigkeit zu sich selbst« an, indem sie durch ihr Spiel auf die Nichtübereinstimmung des Darstellers mit der Figur hinweisen. Somit definieren sie ihre Identität als Schauspieler durch das ›zweifache Paradox‹, das die Subjektkonstitution in der Aufführung als notwendige »Spaltung« (Diderot und Plessner) erscheinen lässt. Diesem Phänomen begegnet man ebenfalls in Schauspielermemoiren. In seinem Buch Spielräume der Identität in Theaterformen des 18. Jahrhunderts zeigt Friedeman Kreuder am Beispiel von Karoline Schulze-Kummerfelds (17451815) Lebenserinnerungen, dass die Schauspielerin mit ihren Memoiren einen »fiktionale[n] Text zur Inszenierung des Selbst«22 schreibt. In diesem Zusam22 | Friedemann Kreuder, Spielräume der Identität in Theaterformen des 18. Jahrhunderts, Tübingen 2010, S. 67.
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menhang stellt Kreuder fest, dass »Schulze-Kummerfelds Selbstverständnis als fahrende Gewerbetreibende nicht an das von ihr durchgängig erstrebte bürgerliche Verhaltensideal assimiliert werden kann.«23 Er lässt jedoch außer Acht, dass, selbst wenn die Schauspielerbiografie den »Spielraum«24 einer alternativen Identitätsbildung eröffnet, die Autorin eine Selbstrechtfertigungsstrategie verfolgt, die an sich schon Inszenierung ist. Angesichts der auf korrekte Selbst(re)präsentation bedachten aufklärerischen Gesellschaft kann Schulze-Kummerfeld nicht anders, als die Vorurteile gegen ihren Stand mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln des Theaters zu bekämpfen. Zwar kann das autobiografische Schreiben im Sinne von Fischer-Lichte als »Performance«25 aufgefasst werden, dennoch erfolgt die Selbstdarstellung immer im Rückblick auf die eigene Vergangenheit: Der Ablauf vergangener Ereignisse wird so rekonstruiert, dass der Abstand zwischen der Identität der Schreibenden und ihrem früherem Selbst zwangsläufig erhalten bleibt. Schauspieler des 18. Jahrhunderts loten verschiedene Möglichkeiten der dualistischen Subjektkonstitution aus, die sich aus der unmöglichen Festschreibung einer bürgerlichen Identität ergeben. Ihre mannigfaltigen Identitätsbildungen, die hier kursorisch am Beispiel von Theaterstücken und Memoiren lediglich zitiert werden konnten, lassen jedoch keine Verbindung zur Performativitätstheorie zu. Eher macht die Bühne der Aufklärung aus dem Theaterdarsteller einen sozialen Akteur, der die Gesellschaftsverhältnisse in seiner darstellerischen Tätigkeit analysiert, indem er sich der künstlerischen Möglichkeiten der »Abständigkeit zu sich selbst« bedient. In diesem Zusammenhang ermöglicht die »Spaltung« des Subjekts als ein relationales Prinzip, das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft zu denken. Die Integration des Schauspielers in die bürgerliche Gesellschaft erfolgt durch eine Selbstemanzipation, die das Potential ästhetischer Subjektivität offenbart. In diesem Sinne besteht der zivilisatorische Beitrag des Aufklärungstheaters darin, dass er relationale Aufführungsmodelle entwirft, die später von der Soziologie (Goffman) und der Anthropologie (Plessner) übernommen werden, um verschiedene Subjektmodelle zu entwerfen, welche die Relationalität mitdenken. Entgegen der Meinung von Erika Fischer-Lichte erklärt sich dabei der Rückgriff auf die Theatermetapher nicht aus dem Aufführungscharakter der kulturellen Sinnproduktion, sondern eher aus der medialen Verfasstheit des Theaters. In dieser Hinsicht teile ich folgende Ansicht von Ulrike Haß: »[Theater] setzt sich in Beziehung zu einer medialen Umgebung, indem es ihr antwortet. Dabei geht es jedoch um Relationalität und nicht um einen Status. Theater ist ein Ort der Verhandlung, es besteht wesentlich in der Ausstellung seiner Ortlosigkeit vor 23 | Ebd., S. 75. 24 | Ebd., S. 82. 25 | Erika Fischer-Lichte, »Inszenierung von Selbst? Zur autobiographischen Performance«, in: Dies. et al. (Hg.), Inszenierung von Authentizität, Tübingen/Basel 2007, S. 59-70.
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Ort.«26 Als Medium der Sichtbarkeit erfüllt das Theater eine Vermittlungsfunktion, die sich jedoch aufgrund seiner spezifischen Verhandlungsdynamik dem festgeschriebenen Rollenmuster des bürgerlichen Theaters mit seinen eindeutigen Identitätszuweisungen in seiner literarischen Form entzieht. Vielmehr besteht die Arbeit des Schauspielers (jedenfalls im dramatischen Theater) darin, Figuren eine sichtbare Identität im ortlosen Dispositiv der Illusionsbühne zu verleihen. Die Paradoxie dieser räumlichen Bestimmung ergibt sich aus der Verschränkung von zwei unterschiedlichen Wahrnehmungsmodellen der Sichtbarkeit, die für das Theater der Aufklärung besonders prägnant ist: »Der Darsteller einer menschlichen Figur und ihrer Theaterbilder einerseits und die Schauanlagen in den geschlossenen, stabilen Baukörpern andererseits, die bis dahin zwei völlig voneinander getrennte Entwicklungen und Wege genommen haben, werden zu einer widersprüchlichen Einheit verschmolzen.«27 Hier geht es um die Einschreibung des Schauspielerkörpers in das Dispositiv einer Schauanlage, die aufgrund ihrer Ortlosigkeit als transparentes Medium der Sichtbarkeit gekennzeichnet ist. Dabei bleibt dieser Vorgang widersprüchlich, da er seinen Ursprung nicht in der räumlichen Konfiguration des Theaters findet, sondern in dessen literarischem Verständnis. Die Schauspieler werden von den Schriftstellern damit beauftragt, Figuren zu verkörpern, die bisher nur in Theaterstücken und ohne Berücksichtigung der tatsächlichen Aufführungsbedingungen existieren. Folglich kann das, was Erika Fischer-Lichte als »Semiotisierung des Körpers« bezeichnet, als konsequente Literarisierung des Theaters verstanden werden, die eine absolute Lesbarkeit der semiotischen Zeichen der Aufführung voraussetzt. Damit die lessingsche Botschaft von der Bühne als Kanzel verwirklicht wird, soll der Schauspieler auf die Rolle ihres Vermittlers reduziert werden. Aus diesem Grund werden die aufklärerische Bühne und der Schauspieler als deren Agens zur Projektionsfläche des Bürgertums gemacht, indem sie ihm vorausgreifend seine Identität liefern sollen, wie Klaus Laermann zu Recht anmerkt: »Das Problem einer glaubwürdigen Präsentation von Empfindungen auf dem Theater bestand darin, dass mit ihnen die bürgerliche Gefühlskultur dargestellt werden sollte, als wäre sie schon die Gefühlsnatur, die sie doch vorstellen konnte.«28 So wird der Schauspieler mit der Aufgabe beauftragt, den Abstand zwischen der 26 | Ulrike Haß, »Vom Körper zum Bild. Ein Streifzug durch die Theatergeschichte als Mediengeschichte in sieben kurzen Kapiteln«, in: Henri Schoenmakers et al. (Hg.), Theater und Medien. Grundlagen – Analysen – Perspektiven; eine Bestandsaufnahme, Bielefeld 2008, S. 43-56, hier S. 44. 27 | Ulrike Haß, Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform, München 2005, S. 382. 28 | Klaus Laermann, »Die riskante Person in der moralischen Anstalt. Zur Darstellung der Schauspielerin in deutschen Theaterzeitschriften des späten 18. Jahrhunderts«, in: Renate Möhrmann (Hg.), Die Schauspielerin. Zur Kulturgeschichte der weiblichen Bühnenkunst, Frankfurt a.M. 1989, S. 127-153, hier S. 152.
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herbeigesehnten Identitätsbildung des Bürgertums und den tatsächlichen sozialen Gegebenheiten zu überbrücken, welche im Laufe des 18. Jahrhunderts nur langsam die Ausformung einer bürgerlichen Subjektivität ermöglichen. Es bleibt jedoch fraglich, ob der Schauspieler die Ressourcen für die Verwirklichung dieses Auftrags auf bringen kann, die weit über seine eigentliche Tätigkeit hinausgeht. Allerdings wird diese Tätigkeit wie keine andere im Zeitalter der Aufklärung zum Gegenstand theoretischer Abhandlungen, etwa in den zahlreichen Traktaten über die Schauspielkunst. Mitunter verfolgen diese das Ziel, Defizite in der Subjektivitätsdebatte zu kompensieren, da das Subjekt nur in einer Rolle, die ihm von der repräsentativen Gesellschaft zugewiesen wird, erscheinen darf.29 Diese Debatte kann also nur auf der Bühne stattfinden, da sie trotz ihrer relationalen Ortlosigkeit der einzige Ort bleibt, wo die Theorie der Rolle eine unmittelbare praktische Anwendung findet. Hinter den an das Theater formulierten Erwartungen bleibt jedoch die Subjektivität seiner Darsteller zwangsläufig verborgen. Die Rollentheorie geht zwar vom Schauspieler als Subjekt aus, zwängt ihn jedoch immer noch in die Funktion eines Rollenträgers, die ihn in den Dienst eines (dramatischen) Sinns stellt und ihn somit zum Objekt eines Darstellungsvorgangs macht.
Der Habitus des Schauspielers Wenn das Theater als »Ort der Verhandlung« (Haß) fungiert und dem Schauspieler die Eigenschaft der »Abständigkeit zu sich selbst« (Plessner) innewohnt, muss notwendigerweise auf das Paradigma der Rolle verzichtet werden. Darüber hinaus erweist sich der Rollenbegriff als Instrumentarium sozialer Analyse als unzureichend, da mit ihm vorgeschriebene Erwartungen festgesetzt werden, die das Theater nicht erfüllen kann. Dies hat gerade das Beispiel seiner Literarisierung durch geschriebene Rollen im 18. Jahrhundert gezeigt. Indessen begreift die Rollentheorie die Relationalität nach einem starren Handlungsmodell, das die Verhandlungsdynamik der Bühne verneint. Aus soziologischer Perspektive muss die Funktion des Schauspielers in dem erweiterten Rahmen einer allgemeinen Dynamik zwischen Individuum und Gesellschaft aufgefasst werden. Mit Blick auf diese Aufgabe entwickelt Pierre Bourdieu eine »Philosophie des Handelns«, »die den Möglichkeiten Rechnung trägt, welche im Körper der Akteure und in der Struktur der Situation, in der sie agieren, oder, genauer gesagt, in der Relation zwischen diesen beiden angelegt sind.«30 Ihm geht es also um die Objektivierung der Relationalität: »Was in der sozialen Welt existiert, sind Relationen – nicht Interaktionen oder intersubjektive Beziehungen zwischen Akteuren,
29 | Vgl. Rainer Ruppert, Labor der Seele und Emotionen. Funktionen des Theaters im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Berlin 1995. 30 | Pierre Bourdieu, Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt a.M. 1997, S. 7.
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sondern objektive Relationen.«31 Kernstück der »Philosophie des Handelns« ist für Bourdieu »die doppelsinnige Relation zwischen den objektiven Strukturen (den Strukturen der sozialen Felder) und den inkorporierten Strukturen (den Strukturen des Habitus).«32 Mit dem Habitus definiert der französische Soziologe das Handlungsprinzip des Einzelnen, das im Falle des Schauspielers im 18. Jahrhundert aus dem ›zweifachen Paradox‹ besteht. In diesem Sinne lässt sich die soziale Handlung der Theaterleute als relationale Tätigkeit durch ihren spezifischen Habitus definieren, welcher wiederum in einem relationalen Verhältnis zur noch ständisch organisierten Gesellschaft der Aufklärung steht. Hinzu kommt, dass die Relationalität im Sinne Bourdieus einen Blick auf die Entstehung eines künstlerischen (Theater-)Feldes ermöglicht, welches sich parallel zum literarischen Feld und in Abhängigkeit zum Feld der Macht entwickelt.33 Vor diesem Hintergrund erklärt sich die vorläufige Allianz zwischen Schauspielern und Schriftstellern, die gemeinsam an ihrer Anerkennung durch die Legitimierungsinstanzen einer immer noch höfischen Machtstruktur arbeiten.34 Mit der Bewusstwerdung des Wechselspiels zwischen der Äußerlichkeit von standesgemäßen Umgangsformen und der Fähigkeit zur kritischen Reflexion von gesellschaftlichen Handlungsdynamiken entsteht der feldspezifische Habitus des Schauspielers, der sich durch die Theaterpraxis auch als ästhetische Subjektivität entwickelt. Als relationales Prinzip führt der Habitus den Schauspielern die kausale Verbindung zwischen den objektiven und den subjektiven Elementen ihrer Tätigkeit ständig vor Augen. Die Objektivierung ihrer beruflichen Situation ergibt sich wiederum aus einer »Abständigkeit zu sich selbst«, welche die Schauspielkunst kennzeichnet. Des Weiteren ist die Analyse von genderspezifischen Fragen in diesem Feld geradezu zwingend. Im 18. Jahrhundert wird die Schauspielerin als Darstellerin der Unschuld zu einer zentralen Figur, wie etwa in Lessings Emilia Galotti.35 Allerdings besteht die Darstellung der »bürgerlichen Virginia« (Lessing) darin, dass die Schauspielerin an der Verkörperung dieser Figur »in Abständigkeit zu sich selbst« arbeitet. Die Aneignung einer Figur bedeutet im Einzelnen, ihren Habitus zu inkorporieren. Mithilfe des Begriffs der Hexis beschreibt Bourdieu die körperliche Dimension der Aneignung eines Verhaltens. Sie gelingt, wenn der Körper »in eine Gesamthaltung gebracht wird, welche die mit dieser Haltung assoziierten Gefühle und Gedanken herauf beschwören kann, also in einen je31 | Pierre Bourdieu/Loïc J. D. Wacquant, Reflexive Anthropologie, Frankfurt a.M. 2006, S. 126f. 32 | Bourdieu, Praktische Vernunft, S. 7. 33 | Vgl. Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a.M. 2001. 34 | Vgl. Ruedi Graf, Das Theater im Literaturstaat: Literarisches Theater auf dem Weg zur Bildungsmacht, Tübingen 1992. 35 | Vgl. Heeg, Das Phantasma der natürlichen Gestalt, S. 35ff.
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ner Induktorzustände des Leibes, der Gemütszustände herbeiführen kann, wie Schauspielern bekannt ist.«36 Hier wird indirekt auf die Fähigkeit des Theaters hingewiesen, eine eigene Wirklichkeit hervorzubringen, die aufgrund der Verfasstheit des Theaterdispositivs in einem relationalen Verhältnis zu den sozialen Gegebenheiten der außertheatralischen Wirklichkeit steht. Dieses Verhältnis wird von Diedrich Diederichsen folgendermaßen gezeichnet: »Das Theater ist […] nicht in dem Maße aktuell, wie es dasselbe tut, was wir auch sonst tun, sondern in dem Maße, indem es auf das, was wir auch sonst tun, von dem Blick eines anderen Handelns aus schaut.«37 Theater weist auf die Prozessualität von Identitätsbildung durch seine Eigenschaft als Verhandlungsort hin, der sich im Abstand zur Realität der sozialen Welt konstituiert.
36 | Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn, Frankfurt a.M. 2008, S. 127f. 37 | Diedrich Diederichsen, »Maggies Agentur. Das Theater von René Pollesch«, in: Stefan Tigges (Hg.), Dramatische Transformationen: zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater, Bielefeld 2009, S. 101-114, hier S. 102.
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Theater-Episteme und Wissenssysteme: Radikale Historisierung? Gerda Baumbach, Merle Nümann, Mechthild Gallwas, Ingo Rekatzky, Maria Koch, Ronja Flick, Theresa Eisele
Gerda Baumbach Im Rahmen der von uns verfolgten Theatergeschichtsforschung1 befassen wir uns seit längerem auch mit epistemologischen Fragen. Bei diesem Themenforum geht es uns in erster Linie nicht um die Diskussion der Theoriebildung, welche freilich dahinter steht. (Nicht zuletzt beziehen wir uns auch auf die Studien des Wissenshistorikers Olaf Breidbach.2) Vielmehr ist uns daran gelegen, exemplarisch Fragen anhand ausgewählter Positionen aufzuwerfen, so konkret und so anschaulich wie möglich. Wissen und Theater, beides steht nicht nur in vielfachen Beziehungen zueinander und betrifft damit das Kerngeschäft der Theaterwissenschaft: Sowohl Wissen als auch Theater sind ebenfalls in ihren sehr verschiedenen Bedeutungen zu berücksichtigen. Wie und wo setzen unsere Fragen an? Mit den ersten drei Beiträgen fragen wir vorrangig nach dem Wissen über Theater. Ist es ausreichend? Stets erneut fällt auf, wie sehr es von der »Reformtheatergeschichtsschreibung«3 bzw. der teleologischen Geschichtsschreibung beeinflusst ist. Um dem zu begegnen, erweist sich die Methode des Historisierens als sehr geeignet: Zum einen, um dem festgeschriebenen Wissen durch Relativierung seine Selbstverständlichkeit und Absolutheit zu nehmen – auch in Hinsicht auf die Befragung des Wissenssystems, in dem das Wissen produziert wurde. Und zum anderen, um die scheinbar ein für allemal abgeklärten Wissensbestände erneut – im jeweiligen Gefüge der historischen Verhältnisse – an den (auch zu erschließenden) Quellen zu befragen. Als »radikale Historisierung« ist diese Methode auch bei Breidbach für die Wissensgeschichtsschreibung und Positionierung im 21. Jahrhundert von großer Bedeutung. Mit der kritischen Revision des Wissens über Theater sehen wir die Legitimationsfrage als weiteren Aspekt eng verbunden: Durch Einordnung in welche Wissenssysteme und durch Bezugnahme auf 1 | Vgl. www.theaterstudien.de vom 01.04.2016. 2 | Vgl. Olaf Breidbach, Radikale Historisierung, Frankfurt a.M. 2011. 3 | Vgl. Stefan Hulfeld, Theatergeschichtsschreibung als kulturelle Praxis, Zürich 2007.
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welche Wissensformen konnten bestimmte kulturelle Praktiken als Theater legitimiert werden? Welche Praktiken ließ man jedoch außen vor – und damit möglicherweise auch ein bestimmtes Wissen? Mit den nachfolgenden drei Beiträgen tritt zu den Fragen nach dem Wissen über Theater und dem Wissen als Theater ein dritter und in den beiden anderen bereits anwesender Aspekt hinzu, die Frage nach einem Wissen von Theater bzw. von kulturellen Praktiken.
Leipziger Theaterreform: Teleologische Theatergeschichtsschreibung und die Konsequenzen Die so genannte Leipziger Theaterreform – bekanntlich eng mit den Namen Friederike Caroline Neuber und Johann Christoph Gottsched verbunden – hat in der berühmt-berüchtigten ›Verbannung des Harlekin‹ noch immer ein sehr vitales Sinnbild. Diese Legende hat, und zwar ihrer fehlenden historischen Belegbarkeit zum Trotz, das Ende teleologischer Geschichtsbetrachtungen bemerkenswert unbeschadet überstanden. Dies bietet zumindest einen Ansatzpunkt, um die Auswirkungen der teleologischen Theatergeschichtsschreibung auf das Theaterverständnis im deutschsprachigen Raum und das auf dieser Basis bis heute tradierte Wissen über Theater einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Im November 1738, ein Jahr nach der angeblichen ›Verbannung des Harlekin‹ von der neuberschen Bühne, stellte die moralische Wochenzeitung Der Freymäurer dem Leipziger Publikum ein äußerst ehrenhaftes Zeugnis aus. »Länger könne er sich unmöglich enthalten«, so der reformbewusste Autor, seinen Mitbürgern »dasjenige Lob zu ertheilen, welches sie so wohl verdient hätten«. Die »gesunde Vernunft und der gute Geschmack« würden »ihre Herrschaft unter ihnen von Tage zu Tage« erweitern und ungeachtet des »regnichten Wetters«, der »Entlegenheit des Schauplatzes« und des »schlimmen und morastigen Weges« dorthin habe es der »regelmäßig eingerichteten Schaubühne der neuberschen Gesellschaft« niemals »an Zuschauern gefehlet«.4 Das Bild von den »wackeren und gelehrten Männern«, die dem Leipziger Herbst ebenso wie dem Zeitgeist trotzten und sich zur Verbesserung des deutschen Theaters vor der neuberschen Bude zusammenfanden, avancierte im Verlauf des 18. Jahrhunderts bekanntlich zur Erzählung vom Ursprung des deutschen Theaters. Im protestantischen Leipzig, so der Tenor, sei dem Drama erstmals jene entscheidende Bedeutung beigemessen worden, die dem deutschen Theater erst seine spätere nationalrepräsentative Gestalt ermöglicht habe. Oder, wie Eduard Devrient 1848 in seiner Geschichte der Deutschen Schauspielkunst rekapitulierte, das »allerwichtigste Resultat der Neuberschen Bestrebungen und des Gottschedschen Einflusses« sei gewesen, dass »die ersten bestimmten künstleri-
4 | Der Freymäurer, 45. Stück (1738), o. S.
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schen Grundsätze, daß Regel und Mustergültigkeit in die Schauspielkunst kam und dadurch eine Übereinstimmung, ein Stil, kurz die erste Schule«.5 Der Schauspieler dieser »Schule« bescheidet sich bekanntlich damit, der Interpret eines vom Autor vorgegeben Wissens zu sein, dem er seinen Körper und seine Stimme leiht. Im Zuge der Schaubühnen-Debatte der Aufklärung wurde damit für mehr als zweihundert Jahre festgestellt, worüber gesprochen wurde, wenn von Theater die Rede war: Die Darstellung des Menschen durch den Menschen als geschlossene Fiktion, auf der Basis eines Dramas. Und diese BerufsKonzeption sollte die Grundlage dafür bilden, dass Schauspielen endlich in den Rang der ehrbaren Künste erhoben werden konnte. In Anbetracht der Hoffnung auf ein erst noch zu verwirklichendes Nationaltheater spielten dabei für die Historiographen des 18. und 19. Jahrhunderts verschiedene theaterhistorische Zusammenhänge eine untergeordnete bis gar keine Rolle. Im Hinblick auf Leipzig sind nur einige zu nennen: bspw. der Umstand, dass Caroline Neuber, nur kurze Zeit nach der angeblichen ›Verbannung des Harlekin‹, das Reformtheater weitgehend ad acta legte und wieder ein Theater vornehmlich auf der Basis des traditionellen Repertoires der Comoedianten spielte. Luise Adelgunde Victorie Gottsched fühlte sich dadurch noch 1753 veranlasst, eine direkte Ähnlichkeit zwischen dem Theater der Neuberin und ausgerechnet demjenigen Carl Friedrich Reibehands zu diagnostizieren.6 Mit jenem Akteur also, der in den 1730er und 1740er Jahren in Leipzig ebenso viele Spieltage verbuchen konnte wie Caroline Neuber, der aber aufgrund des von ihm praktizierten Theaters letztlich nur als »der berüchtigte Reibehand« 7 in die Geschichtsschreibung eingegangen ist. 1753 war das Jahr, in dem Heinrich Gottfried Koch mit seinen Singspielen in Leipzig erneut einen Streit entfacht hatte: über die Zulässigkeit von bestimmten Theaterpraktiken und die sozialen Funktionen des Berufstheaters. Die Leipziger Reformbefürworter richteten zu ebendieser Zeit ihre letzte Hoffnung hinsichtlich eines Fortganges der Theaterreform ausgerechnet auf Franz Schuch, den Devrient später als »letzten Ritter der Harlekinade«8 bezeichnete. Der bürgerliche Theater-Begriff setzte voraus, dass gegenüber der beschworenen Entwicklungslinie deutschen Theaters das Fortbestehen traditioneller, als voraufklärerisch oder fremdstämmig eingestufter Theaterpraktiken als vernachlässigbar betrachtet werden konnte. Als ›Zunft-‹ oder ›Afterkomödianten‹ geschmäht, mit Schweigen bedacht oder zumindest auf der Skala künstlerischen Wertes ganz unten eingeordnet, standen Akteure wie Heinrich Rademin, der ge5 | Eduard Devrient, Geschichte der deutschen Schauspielkunst, Bd. 2, Berlin 1967, S. 292. 6 | Vgl. Luise Adelgunde Victorie Gottsched, Der kleine Prophet von Böhmischbroda, Prag 1753, S. 26. 7 | Johann Friedrich Löwen, Die Geschichte des deutschen Theaters, Hamburg 1766, S. 31. 8 | Devrient, Geschichte der deutschen Schauspielkunst, S. 140.
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nannte Carl Friedrich Reibehand, Barbara Rademin-Schuch, der Leipziger Harlekin Joseph Ferdinand Müller und unzählige andere fortan am Rande des von der Nationaltheaterhistoriographie bestellten Feldes und warteten vergeblich auf ihre Reintegration in »die Geschichte des deutschen Theaters«. Die zum Teil bis heute tradierten Bewertungsmuster führen zum Kern der Problematik: zu der Langwierigkeit der praktischen Durchsetzung des TheaterVerständnisses der Aufklärung auf der einen Seite und zu dem Verhältnis, das die Historiographen hierzu einnahmen auf der anderen, kurzum zu deren Verhältnis zur Theaterpraxis des 18. Jahrhunderts. Denn konnte Devrient 1848 auch die Verbannung der als illegitim befundenen Theaterpraktiken feststellen, so musste er doch zugleich eingestehen, dass eben jene »in dieser geschichtlichen Epoche« leider »die ganze Schauspielkunst allein« ausmachten,9 damit die NichtExistenz einer Schauspielkunst im Sinne der Reformer zugestehend. Entgegen der späteren Deutung der Historiographen bestand die »schwierige Arbeit«10, die der Leipziger Reformkreis seit den 1730er Jahren auf sich nahm, nicht im Auffinden und Formulieren präziser Regeln für die Schauspielkunst, lagen diese doch in den Lehren der aus der Rhetorik abgeleiteten körperlichen Beredsamkeit bereits vor. Die Arbeit bestand vielmehr in der Durchsetzung dieser Lehren als Theater und zwar für alle. Die Einführung der deutschen Bezeichnung ›Schaubühne‹ markierte von Reformbeginn an den programmatischen Bruch mit der Berufsschauspielkunst, ihren Traditionen, ihrem Praxis-Wissen. Die fortwährend wiederholte Rede von der ›Regellosigkeit und Willkür‹ der Vorstellungen der Comoedianten, die sich von Gottsched und Löwen bis zu Devrient zieht, gibt hiervon beredtes Zeugnis: Sie dokumentiert jenen wissenspraktischen Wandel, der das aus der Erfahrung und der Tradition her stammende Wissen der Akteure zum Nicht-Wissen um die Regeln der aufgeklärten Schaubühne werden ließ. Und dabei geht es nicht darum, eine vielfach festgestellte Differenz zwischen einem Theater-Ideal und einer Theater-Wirklichkeit zu markieren, sondern die Differenz zwischen einer an ein ›Theater der Zukunft‹ gerichteten Epistemologie des Theaters und einer Schauspielkunst, die sich praktisch ereignete und die außerhalb jenes dominanten Wissenssystems stand, das im Verlauf des 18. Jahrhunderts als das allein gültige bestimmt wurde.
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9 | Devrient, Geschichte der deutschen Schauspielkunst, S. 357. 10 | Johann Friedrich May, Des berühmten Paters Poree Rede von den Schauspielen, Leipzig 1734, o. S.
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Die »verbesserte Schaubühne«: Gottscheds Rückhalt bei dem italienischen Reformer Luigi Riccoboni Johann Christoph Gottsched begann sich in den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts für ›deutsche Schauspiele‹ und eine gereinigte Schaubühne einzusetzen, jedoch unter schwierigen Bedingungen: Geringe Duldung und Verdammung des Theaters vonseiten der Theologen waren nicht ausgeräumt. Gottsched vertrat mit der Befürwortung von Schauspielen also eine fortschrittliche und maßvolle Position.11 Zudem knüpfte er an die Lehren des von den Pietisten verfolgten Universalgelehrten Christian Wolff an. Jener sah in seinen Vernünftigen Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen (1721) die ›Comödien‹ nicht als böse Teufelskunst an, sondern hielt sie sogar für »nützlich«. Sie seien eindrückliche »lebhaffte Exempel« zur »Besserung des Menschen«; müssten jedoch natürlich und ungezwungen von spielenden Personen vorgestellt werden.12 Gottsched bemühte sich in den folgenden Jahren, Vorurteile von kirchlicher Seite zu revidieren und den Nutzen von Schauspielen darzulegen. Eine gereinigte Schaubühne sahen er und seine Mitstreiter in Leipzig als Glückseligkeit versprechende, Ordnung und Vernunft stiftende Einrichtung an.13 Es galt jedoch, die Schaubühne aus der »Knechtschaft« des Bisherigen14 und von den Verdammungsurteilen zu erlösen. Gottsched und seine Mitstreiter plädierten daher für den Ausschluss der negativ belegten und inkriminierten Praktiken. Unter nutzlosen und zwecklosen Belustigungen verstanden Johann Friedrich May, Johann Christoph Gottsched und seine Schüler Hanswurst, Harlekin, »Saupossen und einfältiges Zeugs«15, »Italienische Narrheit« und »Thorheiten« aus der »Seiltäntzerbude«,16 sowie vermeintlich schändliche Comoedianten. Eine Theaterform, die der Republik sogar schade, so Gottsched, sei die Oper, durch ihre vollkommene Regellosigkeit und ihren unvernünftigen, heulenden Gesang.17 Gottsched verband sich nicht nur mit Comoedianten der Neuber-Truppe, die er für einsichtig hielt: Er suchte auch nach Unterstützung bei ausländischen Lehrmeistern. Ein wichtiger Gewährsmann Gottscheds war der italienische Comico und Reformtheatergeschichts-Autor 11 | Vgl. Gerda Baumbach, »Leipziger Beiträge und Theatergeschichtsforschung«, in: Corinna Kirschstein, Theater, Wissenschaft, Historiographie, Leipzig 2009, S. XIf. 12 | Christian Wolff, Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen zu Beförderung der Glückseeligkeit des menschlichen Geschlechtes, Frankfurt 1736, S. 275-278. 13 | Vgl. Johann Christoph Gottsched, »Die Schauspiele, und besonders die Tragödien, sind aus einer wohlbestellten Republik nicht zu verdammen«, in: Ders., Gesammlete Reden in Dreyen Abtheilungen, Leipzig 1749, S. 564-574. 14 | May, Des berühmten Paters Poree Rede von den Schauspielen, S. 94, S. 98. 15 | Ebd., Vorrede, o. S. 16 | Ebd., S. 93, S. 81. 17 | Vgl. Johann Christoph Gottsched, Der Biedermann, Stuttgart 1975, S. 179f.
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Luigi Riccoboni. Er galt als einer der besten Schauspieler Italiens und hatte als Leiter des Nouveau Théâtre Italien in Paris geglänzt. Riccoboni hatte jedoch schon vor seiner Comödiantenlauf bahn aus privaten christlichen Glaubensgründen ein Unbehagen gegenüber dem Theaterberuf empfunden, und während seiner Zeit als Prinzipal unermüdlich Theaterreformen erprobt.18 1731 verabschiedete er sich von der Theaterpraxis. In seinem Ruhestand formulierte er jedoch weiter theoretische Reformen, die er praktisch nicht geschafft hatte. Unter seinen Werken sind Schauspieltraktate, Theatergeschichten und Theaterreformschriften,19 die ihren Weg unter anderem auch nach Leipzig fanden. Auch Gottsched fielen die Schriften Riccobonis in die Hände. Dass ein berühmter und erfahrener Theatermann das Theater mit der Religion und den Sitten in Einklang bringen wollte, weckte sein außerordentliches Interesse. In der Histoire du Théâtre Italien (1728/1731)20, einer der ersten modernen italienischen Theatergeschichten, berichtete Riccoboni über seine eigenen Reformen in Italien. Dort hatte er eine literarische Tragödienreform auf den Weg gebracht – so wie es Gottsched später in Deutschland mit dem »Cato« vorschwebte. Riccobonis Versuch, eine Commedia ohne Harlekin einzuführen, endete jedoch erfolglos. Trotzdem sah Riccoboni die gegenwärtige theatrale Praxis als Übergangszeit, als einen vorübergehenden Qualitätseinbruch an. In seiner theaterhistorischen Schrift Réflexions historiques et critiques sur les différens Théâtres d’Europe (1738) entwarf er gar ein allgemeingültig anzustrebendes Theaterreformziel der Vollkommenheit. Jede Theaternation in Europa habe kontinuierlich Reformfortschritte nötig, um die Barbarei der skandalösen Farcen, also die traditionelle Schauspielkunst, zu überwinden. In seinem Überblick über die Lage der Theater in Europa diagnostizierte Riccoboni den Deutschen eine besondere Verhaftung in comödiantischen Praktiken. Er verlieh ihnen in Sachen Theater den letzten Platz in Europa.21 Gottsched verhalfen die Schriften des von ihm als Praktiker angesehenen Riccoboni zur Schärfung des Profils seiner Reform. Dies belegen vor allem Gottscheds Critische Dichtkunst22 und die Inhalte seiner Zeitschriften. Gottscheds (und Riccobonis) Begriff eines Theaters der Zukunft gründete sich nicht auf die noch ausgeübten Praktiken der Comoedianten. Gottsched sah sich 18 | Vgl. zu Riccobonis Reformen und Reformtheatergeschichtsschreibung Hulfeld, Theatergeschichtsschreibung als kulturelle Praxis. 19 | Vgl. Luigi Riccoboni, Dell’arte rappresentativa capitoli sei di Luigi Riccoboni, London 1728; Ders., Pensées sur la Déclamation, Paris 1738; Ders., De la Réformation du Théâtre, Paris 1767. 20 | Luigi Riccoboni, Histoire du Théâtre italien depuis la décadence de la Comédie Latine, Paris 1731. 21 | Vgl. Luigi Riccoboni, Réflexions historiques et critiques sur les différens théâtres de l’Europe, Amsterdam 1740, S. 157, S. 162. 22 | Johann Christoph Gottsched, »Versuch einer Critischen Dichtkunst«, in: Ders., Ausgewählte Werke, Bd. 6, Tl. 1-4, Berlin 1973.
Theater-Episteme und Wissenssysteme: Radikale Historisierung?
vielmehr durch Riccoboni darin bestärkt, dass die Masken-Figuren der Reform im Wege standen. Zu Gottscheds Missbehagen behauptete Riccoboni, die Deutschen hätten das Improvisieren von den Italienern gelernt: Damit erklärte sich Gottsched das Tummeln verschiedenster Masken im deutschsprachigen Raum.23 Die närrischen Masken-Figuren erschienen Gottsched und seinen Mitstreitern als vernunftwidrige Erfindungen eines krankhaften und »verletzten Gehirns«24: Denn Vernunft und Natur im Sinne einer rationalen Weltsicht ließen sich hier nicht beobachten. Zudem sah auch Gottsched die Zustände seiner Zeit als Übergang an. Sein Ziel waren deutsche Poeten, ein ansehnliches Stücke-Repertoire und geistvolle Schauspieler; somit eine fortschrittliche Schaubühne der Deutschen. Heute ist kaum bekannt, in welchem hohen Maße Gottsched Positionen des Theatermannes Riccoboni zur Errichtung einer verbesserten Schaubühne übernahm. Auch wenn Gottsched selbst keine vollständige deutsche Theatergeschichte verfasste, so forderte er doch den »deutschen Riccoboni«.25 Erst im 19. Jahrhundert verkündeten Kritiker, sie hätten mit Eduard Devrient und der Geschichte der deutschen Schauspielkunst, 100 Jahre verspätet, den ›deutschen Riccoboni‹ gefunden.26
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Protestantismus und Theater: Der hamburgische Theologenstreit als Voraussetzung für das Wissenssystem des bürgerlichen Theaters Der ›eigentliche‹ Beginn deutschsprachigen Theaters lässt sich also nicht in den Reformen um Gottsched personalisieren. Trotzdem beginnt das Wissen über Theater nach wie vor mit der Harlekin-Verbannung, wobei unberücksichtigt bleibt, dass das bürgerliche Theatermodell keine Erfindung der Aufklärung ist, sondern an vorausgehende Prozesse anknüpfte – beispielsweise den Ersten Hamburgischen Theaterstreit. Ausgetragen wurde er von 1681 bis 1688 zwischen den beiden protestantischen Fraktionen der Stadt, nämlich den Pietisten als rigorosen Theatergegnern und den orthodoxen Lutheranern, die Theater unter gewissen Voraussetzungen verteidigen konnten. Obwohl mit diesem Legitimationsprozess auch die frühesten deutschen Theorie-Diskurse über Theater einsetzten, wurde er von der Reformtheaterhistoriographie weitgehend marginalisiert. Zurückzuführen ist dies auf einen banalen wie folgenreichen Grund, denn der Theaterstreit entbrannte we23 | Vgl. Johann Christoph Gottsched, Die Deutsche Schaubühne nach den Regeln der alten Griechen und Römer eingerichtet. Zweyter Theil, Leipzig 1741, S. 11. 24 | Johann Traugott Schulz, Schreiben an Herrn K* in Z** die Leipziger Schaubühne betreffend, Leipzig 1753, S. 7f. 25 | Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst, Bd. 6, Tl. 3, S. 141. 26 | Vgl. [N.N.], »Geschichte der deutschen Schauspielkunst von Eduard Devrient. 3. Bd. Das Nationaltheater. Leipzig, J. J. Weber. 1848«, in: Leipziger Repertorium der deutschen und ausländischen Literatur, 7. Jg., 1. Bd, Leipzig 1849, S. 235.
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gen der 1678 eröffneten Oper am hamburgischen Gänsemarkt, dem ersten kontinuierlich bespielten Theater im deutschsprachigen Raum. Wir treten hier einer anderen Situation als in Leipzig gegenüber: Noch war Theater nicht in ein theoretisches Wissenssystem überführt worden. Ja, bis zu den Reformen Gottscheds galt Oper noch als Supertheater schlechthin.27 Mit der Nichtbeachtung des Hamburger Theaterstreits ging jedoch das Wissen über einen Prozess, in dem bestimmte favorisierte Praktiken als Theater legitimiert, andere aber aus dem Diskurs über Theater ausgeschlossen wurden,28 zugunsten späterer Legendenbildungen verloren. Als der Theaterstreit 1681 mit der Schrift Theatromania29 des Pietisten Anton Reiser initiiert wurde, unterschieden sich die Positionen der Geistlichen je nach Lager.30 Strittig war dabei nicht, was gespielt wurde, sondern dass überhaupt gespielt wurde. Zu sehen ist dies im Kontext einer Debatte, die sich über gut anderthalb Jahrtausende durch die abendländische Kultur zieht, nämlich ob Theater mit dem christlichen Welt- und Menschenbild zu vereinbaren ist oder ob es sich um eine diabolische Praktik handelt.31 Seitens der Pietisten wurden sämtliche theatrale Praktiken als opera diabolica heidnischen Ursprungs verdammt.32 Gegenüber den pietistischen Angriffen konnten die orthodoxen Lutheraner Theater unter gewissen Voraussetzungen verteidigen. In der Tat handele es sich bei bestimmten späteren Praktiken der neuzeitlichen Berufsschauspielkunst um eine Erfindung des Teufels. Denn traditionelle Akteure und ihre Figuren wie Harlekin oder Hanswurst würden nicht das gemeine sterbliche Leben nachahmen. Sie lösten mit »frechergeiler Bewegung« und teuflischer Mimik Vorstellungen aus, so »daß man glauben solte/in dem einen stecken viel Menschen«.33 Mit diesen Praktiken habe die heutige Oper aber nichts gemein – oder habe man in jüngerer Zeit »nackende Huhren/klatz=köpffige Esel/Zauberer«34 auf den Bühnen gesehen? Um dies zu bestätigen, ließ der Senat der Hansestadt universitäre Gutachten aus Wittenberg, Rostock und Jena einholen. Die Antworten fielen im gewünschten Sinne aus, rieten aber trotzdem zu Maßhaltung wie Zensur. Obwohl Theater an und für sich kein sündhaftes Werk sei, so sei es doch eine gefährliche Angelegen27 | Zum Ausschluss der Oper aus dem poetischen System vgl. Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst, Bd. 6, Tl. 2, S. 361-387. 28 | Vgl. Gerda Baumbach, »Erinnern, Erzählen, Leibwissen«, in: Dies. et al. (Hg.), Momentaufnahme Theaterwissenschaft. Leipziger Vorlesungen, Berlin 2014, S. 107-120, hier S. 109. 29 | Anton Reiser, Theatromania, Ratzeburg 1681. 30 | Vorangegangen waren bereits theologische Proteste im Vorfeld der Opernhausgründung 1677, die wiederum im größeren Kontext zu kulturellen Neustrukturierungen im Umfeld der Reformation zu betrachten sind, vgl. Ingo Rekatzky, »Satans-Capelle oder Musikalische Universität?«, in: Arbeitstitel 2 (2014), S. 22-54, insb. S. 38-42. 31 | Vgl. Hulfeld, Theatergeschichtsschreibung als kulturelle Praxis, S. 66-77. 32 | Vgl. Rekatzky, »Satans-Capelle oder Musikalische Universität?«, S. 42-44. 33 | Hinrich Elmenhorst, Dramatologia, Hamburg 1688, S. 25f. 34 | Christoph Rauch, Theatrophania, Hannover 1682, S. 27.
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heit.35 Sündhaft werde es für Akteure und Zuschauer aber, wenn Werke wie die zur Begutachtung eingereichten zur Aufführung kämen. Dann wäre Theater »inter adiaphora nicht zu zehlen« und würde »inter obscoena & turpia«36 zu rechnen sein. Betrachtet man die Gutachten im Verhältnis zu den aufgeführten Stücken, so zeigt sich, dass in den Fokus der theologischen Auseinandersetzungen die elementare Frage über den Zuständigkeitsbereich von Theater geriet. Das Spiel mit der Vorstellung anderer Welten sowie mit verschiedenen Seinsweisen wurde hier von einer säkularen Repräsentation des christlichen Welt- und Menschenbildes abgelöst.37 Dieser Frage wird auch in der Dramatologia von Hinrich Elmenhorst nachgegangen, mit der 1688 der Theaterstreit endgültig beigelegt wurde. In ersten Ansätzen einer Poetik verteidigte er Oper als neues Kunstwerk, das nichts gemein hätte mit den verdammten Praktiken. Dass diese frühneuzeitlichen Traditionen der Berufsschauspieler zum Delta gehörten, aus dem sich die ›Gattung‹ Oper speiste, war bereits im Vergessen begriffen. Theater und Oper wurden als Addition der ehrbaren Künste legitimiert: Musik, Poesie, Rhetorik, Malerei, Architektur, Historik, Ethik. Nur der Akteur kommt in dieser Rechtfertigung nicht vor. Das traditionelle Wissen seiner Praktiken wurde ebenso wie der epistemische Aspekt der Figuren aus dem Theoriewissen des Theaters ausgegrenzt. Rückblickend auf den Theaterstreit zeigt sich: Dauerhaft an einen Ort gebundenes Theater bedarf der theoretisch-akademischen Legitimation im ausgewiesenen Wissenssystem, ebenso wie erst das aus soziokulturellen Lebensprozessen gelöste, Kunstwerke reproduzierende Theater als Institution legitimiert werden kann. Zwar sollte es noch eine Weile dauern, bis sich das aus ethisch-moralischer Sicht legitime Theater im Ausschluss der divergierenden Traditionen auch auf den Bühnen fand. Dennoch initiierte der Theaterstreit im protestantisch-norddeutschen Raum die Theaterdebatten und bildete die Voraussetzung für das Modell der weltlichen Kanzel in der Philosophie von Leibniz und Wolff. Als Grundlage für das Schaubühnenkonzept der Aufklärung wurde Theater – nicht zuletzt unter dem Einfluss von der Lehre der besten aller möglichen Welten, die auch am Gänsemarkt rezipiert wurde38 – bereits in diesem Prozess auf eine idealisierende Darstellung von Welt und Mensch als geschlossener Fiktion festgelegt.
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35 | Vgl. Johann Friedrich Mayer (Hg.), Vier Bedencken Führnehmen Theologischen und Juristischen Facultäten, Frankfurt a.M. 1693, o. S. 36 | Universität zu Jena, »Über Gefahren, Opern praesentiren zu lassen!«, in: Joachim Wenzel (Hg.), Geschichte der Hamburger Oper 1678-1978, Hamburg 1978, S. 17f. 37 | Vgl. Elmenhorst, Dramatologia, S. 32. 38 | Vgl. Johann Mattheson, Der musicalische Patriot, Hamburg 1728.
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Gerda Baumbach Der dritte von uns verfolgte Gesichtspunkt ergibt sich aus der Befragung der ersten beiden Aspekte. Ist an jene theatralen Praktiken, die bei der Überführung von Theater in das dominante Wissenssystem des 18. Jahrhunderts aus dem Theater-Begriff herausgefallen sind, auch Wissen gebunden? Und wenn ja, welcher Art ist es? Haben jene Praktiken – in den folgenden Beiträgen nun in größeren historischen Zusammenhängen betrachtet – durchaus Anteil an Theater, dann aber in einem anderen Verständnis? Diese Fragen laufen bemerkenswerterweise beim ›Schauspieler‹ zusammen und bei den Figuren, mit denen jene Akteure spielen. Hier, bei den Akteuren und ihren Figuren, konzentrieren sich die Maßnahmen der Ausgrenzung aus dem Theater-Begriff. Und damit stellt sich die Frage, inwiefern diese sich auch auf die Ausgrenzung eines damit möglicherweise verbundenen Wissens richten. Aus alledem ergibt sich die Notwendigkeit, Wissen und Wissenssysteme ebenfalls zu historisieren, nämlich auch diese in ihrer Parallelität, ihren Verhältnissen untereinander und Reaktionen aufeinander zu sehen, also in ihrem jeweiligen Gefüge (oder Dispositiv). Diese Fragen führen in die gegenwartsbezogene historische Forschung.
Wiederkehr und Erfindungen: Meyerholds uslovnyj teatr In seinen Memoiren berichtet Konstantin S. Stanislavskij von einem Zwischenfall bei den Proben zu Anton P. Tschechows Kirschgarten von 1904: Tschechow sagte einmal zu jemandem, laut genug, daß ich es hören konnte: […] ich werde ein neues Stück schreiben, und es wird folgendermaßen anfangen: ›Es ist so herrlich, so still! Man hört weder Vögel noch Hunde noch den Kuckuck noch den Uhu noch die Nachtigall noch die Uhr noch die Glöckchen und nicht ein einziges Heimchen.‹ Natürlich galt der Stich mir. 39
Und ähnliches habe sich schon 1898 abspielen können – als das MChT seine Inszenierung der Möwe erarbeitet und sich damit seinen internationalen Ruf gesichert hatte. Denn er habe sich zu sehr daran gewöhnt, Dekorationen, Licht- und Toneffekte auf der Bühne einzusetzen, wo doch Theater »vor allen Dingen für den Schauspieler« existiere und »ohne ihn nicht denkbar« sei.40 Damit bezog er sich auf jene Generation von Regisseuren, die die Schauspieler »zu Möbelstücken, Dekorationsteilen und Kleiderständern«41 degradierten, um sie wie Schachfiguren hin und her zu schieben. Auch er habe sich von der istoriko-bytovaja, der historisch-lebensgetreuen Verfahrensweise hinreißen lassen – so sehr, dass ausgerechnet der Autor des zu inszenierenden Werks es als notwendig empfunden hatte, einzugreifen. Man könne doch in ein großartig gemaltes Gesicht keine lebendige Nase einsetzen, ohne das Bild zu verderben, sei Tschechows Einwand gewesen.
39 | Konstantin S. Stanislawski, Mein Leben in der Kunst, Berlin 1987, S. 328f. 40 | Ebd., S. 345 [Herv. i.O.]. 41 | Ebd., S. 164.
Theater-Episteme und Wissenssysteme: Radikale Historisierung?
»Bühne – ist Kunst«, ein Ort der »Quintessenz des Lebens«.42 Daher fordere sie eine gewisse »uslovnost’«.43 Es sei dahingestellt, ob diese von Vsevolod E. Meyerhold notierte Intervention wortwörtlich so stattgefunden hatte, veröffentlichte er sie doch zehn Jahre später als Teil seiner Schrift Zur Geschichte und Technik des Theaters. Fest steht, dass er damals als Ensemblemitglied des MChT den von Tschechow angeregten Kurswechsel nicht nur mitverfolgte, sondern auch selbst mitvollzog. In dieser Zeit sei auch bei ihm »der feste Glaube an den Schauspieler, als den Hauptfaktor der Bühne«44 entstanden. Meyerhold wie Stanislavskij fragten nach neuen Techniken, die es ermöglichen sollten, mit Texten von Tschechow, aber auch Henrik Ibsen, Valerij J. Brjusov oder Vjačeslav I. Ivanov überhaupt umzugehen. Denn scheinbar war hier mehr ›Theater‹ enthalten als auf den zeitgenössischen Bühnen, die stark von den Spätfolgen bürgerlich-akademischer Reformen geprägt waren. Gemeinsam initiierten sie im Frühjahr 1905 das Moskauer ›Theater-Studio‹, das im Zuge methodischer Differenzen und der Revolutionsereignisse nach nur wenigen Monaten seine Arbeit einstellen musste. Stanislavskijs Truppe konzentrierte sich wieder auf die »tschechowsche Art«. Meyerhold dagegen verwarf sie als allzu gewohnte Schablone und legte 1908 die Grundlagen für seine Konzeption des uslovnyj teatr. Im russischen Sprachgebrauch ist das Adjektiv uslovnyj/-aja ein alltäglicher, thematisch neutraler Begriff zur Bezeichnung einer wechselseitigen Vereinbarung nach bestimmten, ggf. vollständig erfundenen Regeln: eine Abgabefrist, ein Spitzname, die imaginäre Zahl i, die Spielregeln von ›Mau Mau‹, Programmiercodes u.v.a.m. Uslovnost’ spannt ein Feld auf zwischen ›vereinbart‹, ›gesetzmäßig‹ und ›imaginär‹ und hat im Deutschen keine direkte Entsprechung. Kein Wunder also, dass die gängige Übersetzung als ›Stilisierung‹ genau dann in Schwierigkeiten gerät, wenn bei Meyerhold tatsächlich einmal von stilizacija die Rede ist.45 Sich in der Kunst gegen uslovnost’ zu wehren, sei so absurd, wie von Wissenschaftlern zu verlangen, ohne Logik auszukommen, schrieb Brjusov im Zusammenhang mit einer nenužnaja pravda bzw. »unnützen Wahrheit«, der sich das gesamte europäische Theater verschrieben habe.46 Bis heute widersprüchlich und meist formalästhetisch interpretiert, bedeutet uslovnyj teatr synonym das, was Meyerhold unter Theaterkunst verstand. Aus der Verwirrung ist vor allem eines ersichtlich – die Gründlichkeit, mit der sich die von Brjusov bemängelte Tendenz durchgesetzt hatte.
42 | Wsewolod E. Meyerhold, Schriften, Bd. 1, Berlin 1979, S. 113. 43 | Ebd. vgl. Vsevolod Mejerchol’d, Stat’i. Pis’ma. Reči. Besedy, čast’ 1-aja: 1891-1917, Moskau 1968, S. 120. 44 | Meyerhold, Schriften, S. 114f. 45 | Vgl. ebd., S. 101; Mejerchol’d, Stat’i, S. 109. 46 | Vgl. Valerij Brjusov, »Nenužnaja pravda«, in: Stat’i i recenzii. 1893-1924, Moskau 1975, S. 62-73.
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Im Gegenzug sprach Meyerhold immer wieder von zwei Hauptelementen der Theaterkunst: dem eigenständigen, vom passiven Empfinden befreiten Schaffen des Schauspielers und der freien Phantasie des Publikums, das »mit seiner Vorstellungskraft schöpferisch beendet, was die Bühne nur andeutet«.47 Im Petersburg der 1910er Jahre standen sie im Mittelpunkt seiner Forschungs- und Inszenierungsarbeit. Darin rief er u.a. die russischen Dramatiker auf, sich im Lichte der Historie und jahrhundertealter Erfahrung zu erneuern. Und dass die eigenen theoretischen Postulate ohne das Bühnenexperiment nicht denkbar sind, stellte er mit seinen Bühnenfassungen von Molières Don Juan, Schnitzlers Schleier der Kolumbine und Bloks Balagantschik ebenso außer Frage. Das prinzipielle Bekenntnis zum uslovnyj teatr setzte sich im Bekenntnis zum ›Balagan‹, also zum Jahrmarkttheater sinngemäß fort. Die herauf beschworene Eigenständigkeit des Akteurs fand er in der Tradition der histrioni, cabotins und jongleurs wieder – etwa im Spanien und Italien des 16. und 17. Jahrhunderts oder in den Pariser Théâtres forains vor ihrer Verflachung durch literaturorientierte Bereinigung. Gerade der cabotin sei Träger »echter Schauspielkunst«, so Meyerhold jenseits der neueren Begriffsdeutung als Betrüger und »Schmierenkomödiant«. Gerade er sei es, der sein Publikum nicht vergessen lässt, »daß vor ihm ein Schauspieler steht, der nur spielt«48 und es dadurch weniger in die Irre führt, als jener Schauspieler, der in Schminke liest oder vom Alltag her unverändert auf die Bühne tritt. Der neue und gleichzeitig alte Schauspieler sollte imstande sein, das Publikum zum Weinen und in Sekundenschnelle zum Lachen zu bringen. Dafür brauche er weder eine komplizierte Maschinerie, viel Ausstattung oder fertige Stücke – sondern »vor allem eine Maske, möglichst viel Lappen, damit das Gewand bunt wird, möglichst viele Posamenten, die Kunst der Bewegungen, Federn, Schellen und vor allem viel, was der Aufführung Glanz und Lärm verleiht.«49 Der Rückgriff bezieht sich auf die berühmte Figur des Harlekin mit ihrer Wandelbarkeit zwischen einfältigem Tropf und infernalischen Kräften. Bis zum Ende seines Schaffens, auch über die Oktoberrevolution hinaus, suchte Meyerhold nach Wegen, die Forderungen des uslovnyj teatr umzusetzen und durch aktuelle Erfindungen wirksam zu machen. Davon zeugen eine intensive Lehrtätigkeit, die unterschiedlichen Laboratorien und ein schauspielerisches Training, das er aus taktisch-rhetorischen Gründen rückwirkend als »Biomechanik« bezeichnete. Zu seinen herausragenden Akteuren gehörten etwa Igor V. Iljinskij und Erast P. Garin. Man denke insbesondere an Garin in seinen Auftritten als Chlestakow – Hauptfigur und der vermeintliche Revisor in der gleichnamigen Komödie von Nikolai Gogol. Gleichzeitig ist Chlestakow die zeitgemäße Wiederkehr der Figur Harlekin in Moskau von 1926. Bis in die Gegenwart hinein gibt es Versuche, zu einem Praxiswissen vorzustoßen, das im Hinblick auf das 47 | Meyerhold, Schriften, S. 135 [Herv. i.O.]. 48 | Vgl. ebd., S. 135, S. 199. 49 | Ebd., S. 202.
Theater-Episteme und Wissenssysteme: Radikale Historisierung?
legitimierte Theater lange Zeit als Nicht-Wissen galt. Außer Frage steht aber, dass Meyerholds breitgefächerte Tätigkeit zwischen Geschichtsstudium, Theorie und Praxis eine Ausnahmestellung einnimmt. Und es bleibt weiterhin schwierig, daran anzuknüpfen, basiert sie doch auf ›zwei Hauptelementen‹, denen heute in der allgemeinen Wahrnehmung neben Regie, Kuratieren und Verwaltung eine vergleichsweise geringe Bedeutung zukommt.
Maria Koch
Strukturfigur als Vermittlerin von Komplementarität Harlekin – seit dem 16. Jahrhundert banden Schauspieler Varianten dieser Figur als Leibmasken an sich.50 Jene maschere waren Teil einer Überlieferungstradition, die deutlich in ihren ältesten Zeugnissen, aber auch später anteilig eine mythische Prägung aufweist. Harlekin und ähnliche Figuren sowie die mit ihnen assoziierten Leibmasken waren bereits im Mittelalter wesensbestimmend für traditionelle soziale Festpraxis. Wenn Schauspieler, zugleich Träger und Wandler der Tradition, mit der Figur spielten, eröffneten sie einen Zugang zu den mit ihr verbundenen Historien, Sagen, Mythen. Zu diesem Hintergrund zählte stets ein Herkunftsland, im Fall von Harlekin: die Hölle. Weil er von dort stammt, ist er fähig, in diese Anderwelt und wieder zurück zu reisen sowie anschließend davon zu berichten, anders als die aus dem Drama Carlo Goldonis bekannte HarlekinVariante Truffaldino.51 Bei Goldoni, der Arlecchino servitore di due padroni 1745 noch in der Tradition des canovaccio für Antonio Sacchi detto Truffaldino schrieb und später die maschera als parte literarisch adaptierte52, ist Truffaldino um wesentliche Merkmale reduziert: Er steht der Sozialrolle des Dieners und damit der Forderung, Theater habe dem empirisch Wahrnehmbaren zu entsprechen, näher als den in die Hölle reisenden maschere von comici wie Tristano Martinelli und Domenico Biancolelli im 16. und 17. Jahrhundert.53 Dass das Erzählen und Erfinden des Akteurs mittels konstanter Figuren im Unterschied zu temporär angenommenen, wechselnden Rollen eine so lange Tradition hat, an die immer wieder angeknüpft wird, macht es notwendig, sich mit solchen Figuren auseinanderzusetzen und sie auch in Quellen aufzusuchen, die weder Drama noch Aufführung im engeren Sinne dokumentieren. Diese Figuren fassen komplementäre Gegensätze in sich zusammen, entweder in einer Gestalt oder in einem Figurenpaar, in zwei aufeinander bezogenen physi-
50 | Vgl. Gerda Baumbach, Schauspieler, Leipzig 2012, S. 215-230, S. 246-257. 51 | Vgl. Carlo Ginzburg, Hexensabbat, Frankfurt a.M. 2012, insb. S. 313; zu Jenseitsreisen von Harlekinen vgl. Baumbach: »Erinnern, Erzählen, Leibwissen«, S. 110, S. 115f. 52 | Vgl. Carlo Goldoni, Arlecchino servitore di due padroni, Mailand 2005. 53 | Vgl. Rudolf Münz, »Sind ›die großen Erzählungen‹ im Theater zu Ende?«, in: Gerda Baumbach (Hg.), Theaterkunst & Heilkunst, Köln 2002, S. 327-424, hier S. 372-397.
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schen Gestalten. Eine prozesshafte, groteske Leiblichkeit zeichnet sie aus.54 Damit verweisen sie auf ein mythisches Sowohl-als-auch als anderweltlich bzw. anderzeitlich möglichen Modus des Seins, werden sie zu Trägern eines Wissens von biologischen und kosmischen Kreisläufen von Werden und Vergehen. Dieses Wissen ist den theatralen Praktiken um die Figuren immanent, es ist Wissen von Theater. Die Beharrlichkeit der Figuren über weite Zeit- und Kulturräume liegt wesentlich in der Konstanz ihrer Struktur begründet: Sie werden daher als ›Strukturfiguren‹ bezeichnet.55 Die Struktur ergibt sich aus der Komplementarität, die die Figur – in steter Bewegung – erzeugt. Die Bewegung zwischen den Komplementen kann sich in der Reise von einer Welt in die andere vollziehen, jedoch auch in einer Metamorphose zwischen Tier und Mensch oder in der Verkehrung von unten und oben. Der Gegensatz zwischen den Komplementen wird nicht harmonisierend aufgelöst. Ihre Beziehung manifestiert sich häufig als Konflikt. Indem in der Strukturfigur ein solcher Konflikt ausgetragen wird, kann sie daran erinnern, was aus dem kulturellen Gedächtnis zugunsten favorisierter Ordnungen verdrängt wurde. Weil das Erzählen der Strukturfigur in einem offenen, mit der Welt verbundenen Leib (in Gestalt einer Leibmaske) wurzelt 56, wird durch sie der Modus des Sowohl-als-auch erfahrbar: Essen ist komplementär zu Ausscheiden, Geburt ist komplementär zu Tod usw. Beide Komplemente haben gleichermaßen Geltung und treten gleichzeitig oder alternierend in Erscheinung. Innerhalb der Erzählung der Strukturfigur können die Komplemente gleichberechtigt sein, außerhalb unterliegen sie häufig einer Hierarchisierung: So wird beispielsweise ein Komplement ›Ausscheiden‹ nicht erst in der Neuzeit sozial sanktioniert. Durch das Aktualisieren des – für das Funktionieren des alltäglichen Zusammenlebens oft notwendigerweise – marginalisierten Komplements kommuniziert die Strukturfigur eine Imagination kreatürlicher Ganzheit. Das Modell der Strukturfigur als methodisches Instrument 57 geht auf den italienischen Literatursemiologen D’Arco Silvio Avalle58 zurück. Seine Untersu54 | Zum grotesken Körper in mittelalterlichen kulturellen Zeugnissen vgl. Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt, Frankfurt a.M. 1995, S. 74-80; zum Grotesken bei Meyerhold vgl. Gerda Baumbach, »Meyerholds ›Biomechanik‹«, in: Dies. (Hg.), Auf dem Weg nach Pomperlörel, Leipzig 2010, S. 297-359, hier S. 16-17, S. 335-340. 55 | Der Begriff ›Strukturfigur‹ wurde in der deutschsprachigen Forschungsliteratur erstmals eingeführt von Rudolf Münz, »Commedia Italiana«, in: Ders., Theatralität und Theater. Zur Historiographie von Theatralitätsgefügen, hg. v. Gisbert Amm, Berlin 1998, S. 141-153. 56 | Vgl. Baumbach, Schauspieler, S. 184f. 57 | Das methodische Vorgehen weist Parallelen zu der von Breidbach entworfenen »Radikalen Historisierung« auf, die von Kultur als umfassenden »Erfahrungszusammenhang der möglichen Kommunikationen« ausgeht (Breidbach, Radikale Historisierung, S. 65) und sich jeweils auf ein kulturelles bzw. diskursives Gefüge richtet. 58 | Vgl. D’Arco Silvio Avalle, Le Maschere di Guglielmino. Strutture e motivi etnici nella cultura medievale, Mailand/Neapel 1989.
Theater-Episteme und Wissenssysteme: Radikale Historisierung?
chung eines Corpus volkssprachiger mittelalterlicher Lieder sowie weiterer Textquellen und ihres jeweiligen kulturellen Umfeldes führte ihn zum europäischen Äquivalent des Tricksters. Solche europäischen Trickster sind bis mindestens ins 18. Jahrhundert in verschiedenen Kulturräumen und Überlieferungskomplexen nachweisbar, nicht nur im Zusammenhang mit Leibmasken. Komplementarität im Sinne einer durchaus konflikthaften Beziehung polarer Gegensätze sowie Bewegung, insbesondere als Anderweltreise, sind die wesentlichen Merkmale, die in relativer Konstanz Strukturfiguren zu Eigen sind. Diese Merkmale ermöglichen die Identifikation der Strukturfiguren, sowohl historisch horizontal als auch vertikal. Dazu ist es notwendig, heterogenes, jeweils zu historisierendes Quellenmaterial unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Provenienz auszuwerten. Eine Strukturfigur ist in Quellen selten in ›Reinform‹, sondern meist in Varianten zu finden. In sich wandelnden kulturellen Kommunikationsgefügen tritt die akteurgebundene Überlieferung von Strukturfiguren in Wechselbeziehung mit schriftliterarischer oder bildlicher Tradierung. Sie schlägt sich allerdings in dieser nicht eins zu eins nieder, da schrift- und bildkulturelle Kontexte wiederum andere Varianten hervorbringen. Je nach Verfügbarkeit von Quellen ist eine Strukturfigur mitunter nur in einem Stadium des Zerfalls fassbar, in dem sie in zwei physisch voneinander getrennte Figuren aufgespalten ist und die dynamische Beziehung zwischen ihren Komplementen sowie ihre besondere Reisefähigkeit nur noch abgeschwächt oder gar nicht mehr vorhanden sind. Dennoch lässt sich nachweisen, dass es sich um ein Phänomen von beträchtlicher Reichweite handelt, etwa am bislang wenig beachteten Beispiel der iberischen Strukturfigur Pedro/Juan.
Ronja Flick
Pedro/Juan: Spurensuche nach einer Figurenkonstellation im iberischen Raum Wie die Zanni die Commedia all’improvviso bevölkern, Hans Wurst in den Wiener Haupt- und Staatsaktionen erscheint und Don Juan sein steinernes Gastmahl mit Don Pietro begeht,59 so begegnen uns Pedro- und Juan-Figuren insbesondere in Erzählstoffen der Iberischen Halbinsel. Sie treten dabei nicht immer als Figurenpaar auf, sind meist lose verortet und überaus wandelbar. Ihre Spuren lassen sich bis in die Frühe Neuzeit verfolgen, bis sie sich im Dickicht mündlich tradierter Erzählungen verlieren. Besonders im 16. und 17. Jahrhundert sind Pedro- und Juan-Figuren auf der Halbinsel virulent. Anfang des 17. Jahrhunderts setzt Miguel de Cervantes einer dieser Figuren oraler Tradition ein literarisches
59 | Vgl. Ingo Rekatzky, »Das steinerne Gastmahl, oder die redende Statua. Don Juan als Allerseelen-Comödie im Wiener Theater des 18. Jahrhunderts«, in: Baumbach, Auf dem Weg nach Pomperlörel, S. 118-160.
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Denkmal: Pedro de Urdemalas.60 Als Diener vieler Herren, falscher Blinder und Reisender treibt Pedro in der Comedia famosa Pedro de Urdemalas sein wildes Wandlungsspiel. Er ist Urdemalas und Urdebuenas zugleich und entpuppt sich damit als Trickser, Kuppler und Weltenstifter mythischer Provenienz. Daneben zeugen Arbeiten von Félix Lope de Vega, Juan Encina oder Francisco Delicado vom literarisch verdichteten Wissen um eine Trickster-Figur im iberischen Raum mit Namen Pedro Urdemalas.61 Die Novelle Lozana Andaluza (1528) erzählt von einer Kurtisane, die einen ihrer betrügerischen Freier verflucht und sich dabei auf eine offenbar kollektiv erinnerte Figur bezieht: »Pedro de Hurdemalas hätte nicht besser Zwietracht säen können, als es dieser entjungferte Schuft der Verdammten [der Freier, T.E.] getan hat«62 . Eine Zwietracht, die Pedro bereits im Beinamen steckt: ›Urde‹63 und ›malas‹ bezeichnet das Anzetteln oder Stiften schlechter Taten. Überhaupt legen die Beinamen der Figuren Zeugnis ab von den primären Eigenschaften, die die Erzählenden den Figuren zuschrieben. So tritt Pedro oft in diabolischer Art und Weise, zuweilen als ›el de Malas‹ oder ›Malasartes‹, als der von den bösen Künsten, in Erscheinung; etwa in zwei überlieferten Erzählungen, die Aurelio Espinosa 1920 während Feldforschungen in Kastilien und León von der Bevölkerung erzählt wurden und die er später verschriftlicht hat. In dem so gesammelten Quellenkorpus tritt auch Juan divers auf.64 Die Eigenschaften, die 60 | Nicholas Spadaccini (Hg.), Miguel de Cervantes, Madrid 1986. Die Comedia famosa ist 1615 erschienen und legt die Wandlung der Figur Pedro Urdemalas zum frühneuzeitlichen Berufsschauspieler dar; vgl. Gerda Baumbach, Schauspieler, Bd. 2, in Vorbereitung. 61 | Im 16. Jahrhundert wurde die Figur literarisch bearbeitet u.a. für die Comedia La Doleria del sueño del mundo (Pedro Hurtado de la Vera, Paris 1614, orig. 1572), für Sátira contra las damas de Sevilla (Vicente Espinel, Madrid 1904, orig. 1578) und Egloga o farsa del nacimiento de nuestro redemptor Jesucristo (Lucas Fernández, Salamanca 1514). Vermutlich fast zeitgleich zu Cervantes, zu Beginn des 17. Jahrhunderts, nutzte auch Félix Lope de Vega die Figur für eine Comedia, vgl. Ders., »Pedro de Urdemalas«, in: Ders., Obras. Nueva Edición, Bd. 8, S. 391-428. Juan Encina schreibt in seinem Gedicht La Almoneda (1496) bereits Ende des 15. Jahrhunderts von der Versteigerung eines Ratgeberbuchs des »guten Pedro de Urdemalas«, mit »seinen spärlichen Wahrheiten und seinen rotblonden Hausfrauenweisheiten«; vgl. Juan Encina, Cancionero, Salamanca 1496, hier Bd. 2, fol. LVIIr, S. 866f. 62 | »Pedro de hurdemalas no supiera mejor enredar como ha hecho este vellacazo deslozador de coños«, Francisco Delicado, Retrato de la Lozana Andaluza, Valencia 1528, hier Mamotreto LI, fol. 40r. Alle Übersetzungen in diesem Abschnitt sind, wenn nicht anders angegeben, von der Autorin. 63 | Vgl. das spanische Verb urdir und das lateinische ordir. 64 | Vgl. ebd., S. 587-597, S. 617-624; für eine Annäherung an die Juan-Figuren vgl. José Luis Alonso Hernández/Javier Huerta Calvo, Historia de mil y un Juanes. Onomástica, literatura y folklore, Salamanca 2000.
Theater-Episteme und Wissenssysteme: Radikale Historisierung?
mehrheitlich mit Juan in Verbindung gebracht wurden, lassen sich auch auf etymologischer Ebene mit Hilfe des Wortfelds um ›Juan‹ bestimmen. Es umfasst die ›Juanetes‹65, grobe, knöchrige Glieder, die dem ›einfachen Mann‹ zugeschrieben wurden; ebenso den ›Juanero‹, einen Gauner, der die Klingelbeutel in der Kirche öffnet. Insbesondere seine Grobschlächtigkeit und Tölpelhaftigkeit scheint Juan mit seinen Beinamen prominent bei sich zu tragen. Er ergänzt damit den listigen Pedro komplementär, wie zwei Erzählungen aus Espinosas Sammlung exemplifizieren: Pedro el de Malas und Pedro Malasartes berichten von zwei Brüdern, Pedro und Juan. Beide arme Knechte, gehen sie mit ihrem Schicksal auf gegensätzlichste Weise um.66 Während Juan auf die List seines Herren hereinfällt und von diesem erschlagen wird, stellt sich Pedro gerissen an und verkehrt die Schikanen des Hausherren ins Gegenteil. In beiden Erzählungen deutet sich die dialogische Struktur des Figurenpaars, die sich durch weitere Quellen beliebig verfolgen lässt, exemplarisch an: Pedro ist der Wissende, Juan der Tölpel, wobei sich diese Zuschreibungen graduell verschieben oder gar verkehren können. Die basale Erzählmatrix zweier aufeinander bezogener Figuren hält Espinosa zu Beginn des 20. Jahrhunderts und damit für eine mündlich überlieferte Tradition relativ spät fest. Gonzalo Correas (1571-1631), Gelehrter und Lexikograf, hat diese Matrix bereits in den 1620er Jahren in seinem Vocabulario aufgeschrieben. Die lexikografische Sammlung tradiert unter anderem: »Zwei Juanes und ein Pedro machen einen ganzen Esel«.67 Auch Pedro Urdemalas ist von Correas verschriftlicht; als ein »Trickser«, von dem die Bevölkerung erzähle, »dass er seinen Herren und anderen viele Listen und Streiche gespielt habe«.68 Die Namensvettern von Pedro und Juan haben sich allein auf der Iberischen Halbinsel ins schier Unendliche potenziert und verzweigt. Sie sind Teil oral-popularer Traditionen und horizontal wie vertikal in heterogenen Quellen zu lokalisieren. Auf Spurensuche nach dem Figurenpaar finden sich Verhärtungen von oral übermitteltem Wissen, das etwa in Erzählungen geronnen und stark degradiert die Zeit überdauert hat. Gerade diese Quellenlage macht eine interdisziplinäre Zusammenarbeit einerseits, systematisierende Grundannahmen andererseits notwendig. Das Modell der Strukturfigur hat sich diesbezüglich als brauchbar erwiesen, um Topoi, Narrative, mythische Provenienz und Strukturen für die Figurenkonstellation Pedro/Juan zu bestimmen. Es kann auch in der theaterhistorischen Arbeit bei 65 | Vgl. u.a. Real Academia Española, Diccionario de la lengua castellana (RAE), Bd. 4, Madrid 1734, S. 323, 1. 66 | Aurelio Espinosa, »Pedro el de Malas«; »Pedro Malasartes«, in: Luis Díaz Viana/ Susana Asensio Llamas (Hg.), Cuentos Populares Recogidos de la Tradición Oral de España, Madrid 2009, S. 585-589. 67 | »Dos Juanes, y un Pedro hacen un asno entero«, Gonzalo Correas, Vocabulario de refranes y frases proverbiales y otras formulas comunes de la lengua castellana en que van todos los impresos antes y otra gran copia, Madrid 1906, S. 293. 68 | Ebd., S. 389.
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der Erforschung von souveränen Akteuren und dem an sie gebundenen Wissen von Nutzen sein. Die rudimentären Degradationen des Figurenpaars Pedro/Juan lassen erahnen, welche Vorstellungen in den mündlich tradierten Erzählungen verhandelt wurden. Vorstellungen etwa, die Komplementaritäten ein- und nicht ausschließen und die repräsentative Wissenssysteme um populare Erzählwelten ergänzen. Diese Aushandlungsprozesse schlugen sich nicht nur in Sprichwörtern und Erzählungen nieder – sie lassen sich dort, sofern diese verschriftlicht wurden, nur einfacher lokalisieren –, vor allem auch die Theaterkunst ist noch in der Frühen Neuzeit Austragungsort marginalisierten Wissens und bedient sich dabei wiederum Juan- und Pedro-Figuren. Etwa um dieselbe Zeit, in der Cervantes seine Comedia um Pedro schreibt, betritt eine andere Figur die Hinterhof bühnen der Halbinsel: Juan Rana, Hans Frosch.69 Der frühneuzeitliche Akteur Cosme Pérez (vermutl. 1593-1672) trat mit dieser Kunstfigur ein Leben lang in Erscheinung – unter anderem auch am königlichen Hof vor Felipe IV. –, bediente sich damit wiederum einer Variante der Pedro/Juan-Konstellation und eröffnete in Gestalt einer Leibmaske Zugänge zu anderen, vornehmlich impliziten Wissensformen, in denen etwa auch die Grenzen zwischen Mensch und Tier subversiv unterlaufen werden. Er ging so als ›kastilischer Harlekin‹ in die Annalen ein; eben jene Figur, um die sich zwei Jahrhunderte später in Leipzig die Legende entspann.
Theresa Eisele Gerda Baumbach Aus der exemplarischen Befragung jener auf größere Zeiträume bezogenen theaterhistorischen Konstellationen tritt nicht zuletzt besonders eines hervor: die Frage nach Theater in der Gegenwart. Seit dem 20. Jahrhundert stellt sie sich nicht nur im weitesten Sinne ›neu‹, sondern im Sinne der Historizität auch ›alt‹. Nimmt man diese Einsicht an, dann ist auch die Epistemologie der Theaterwissenschaft herausgefordert, Theatergeschichte nicht stiefmütterlich zu behandeln.
69 | Vgl. Yolanda Pallín, Entremeses de Juan Rana, Madrid 2008.
Go East! Die Okkupation Bosniens 1878 als inszenierte Kulturmission Caroline Herfert
Wien fungierte jahrhundertelang als Ort der Begegnung und Verhandlung des sogenannten Orients.1 Die Donaumetropole tritt dabei als Knotenpunkt ökonomischer, wissenschaftlicher, künstlerischer und politischer Beziehungen sowie als Zentrum der Orientmode im ausgehenden 19. Jahrhundert in Erscheinung. Mit Hugo von Hofmannsthal lässt sich die Stadt als »alte porta Orientis für Europa«2 interpretieren. Charakteristisch ist die Ambivalenz, mit der sich Wien als offenes Tor zum Orient hin und gleichzeitig als abschottendes Bollwerk verstehen lässt. Die hofmannsthalsche Metapher verweist auf das Verhältnis von Orient und Okzident, die standortgebundene Wahrnehmung des Anderen und Orientbilder um 1900. Die spezifisch österreichischen Vorstellungen von Orient sind stark von der geographischen Nähe und der Beziehungsgeschichte mit dem Osmanischen Reich geprägt. Zeitgenössische mental maps lassen sich v.a. anhand von »Orten des Wissens«3 untersuchen – dazu zählen Museen, Ausstellungen wie Menschenschauen, Reiseillusionen oder Großevents wie die Weltausstellung 1873: Mittels Schauanordnung und Inszenierung bieten sie reale oder mediale Raumerfahrungen an und vermitteln in einer Mischung aus Unterhaltung, Bildung und Konsum »Wissen« über das Andere. Zu diesen »Orten des Wissens« zählen auch Wiener Theater, in deren Repertoires zwischen 1869-1918 sich die umfassende Orientbegeisterung deutlich niederschlägt. Über Jahrzehnte hinweg wurde der Orient in einer 1 | Der Begriff Orient wird hier nicht durch Anführungszeichen gekennzeichnet. Zum theoretisch reflektierten Umgang mit dem problematischen Begriff vgl. Andrea Polaschegg, Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert, Berlin/New York 2005, hier S. 63; Nina Berman, Orientalismus, Kolonialismus und Moderne. Zum Bild des Orients in der deutschsprachigen Kultur um 1900, Stuttgart 1996, S. 14f. 2 | Hugo von Hofmannsthal, »Wiener Brief [II] (1922)«, in: Ders., Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze II, hg. v. Bernd Schoeller, Frankfurt a.M. 1979, S. 185-196, hier S. 195. 3 | Vgl. Werner Telesko, Das 19. Jahrhundert. Eine Epoche und ihre Medien, Wien 2010, hier S. 253.
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Vielzahl von Genres und Spielstätten für breite Publikumsschichten sinnlich erfahrbar gemacht und war in hoch- und populärkulturell kodierten Theaterformen gleichermaßen beliebt als Motiv. In der lokalen Aufführungspraxis reichen die Orientmotive von historischen oder biblischen Stoffen über das Gedenken an die Türkenbelagerungen Wiens bis hin zu exotistischen Märchenfantasien aus 1001 Nacht. Die außerordentliche Bandbreite zeitlich wie örtlich variierender Orientbilder fällt dabei ebenso auf wie der Stellenwert imaginärer oder realer Grenzziehungen zwischen Orient und Okzident.4 Dieser Beitrag widmet sich einem von der Forschung bislang kaum beachteten Fall von Grenzziehungen im Spannungsfeld zwischen Exotisierung, Einschluss und Ausschluss des Anderen: der Verhandlung der österreichisch-ungarischen Okkupation der osmanischen Provinzen Bosnien und Herzegowina 1878.5 Die im 19. Jahrhundert gebräuchliche Bezeichnung »europäischer Orient«, in der die »Zwischenhaftigkeit« und konfessionelle Diversität der Region widerhallt, verdeutlicht die ambivalente Wahrnehmung des Balkans bzw. Südosteuropas als Einflussgebiet des Osmanischen Reichs einerseits und als Teil Europas andererseits. Durch den territorialen und symbolischen Einschluss in den habsburgischen Vielvölkerstaat rückten die besetzten Gebiete, die bis zur Annexion im Jahre 1908 formal dem Osmanischen Reich zugehörig blieben, im öffentlichen Bewusstsein näher an Europa. Gleichzeitig beförderte die Besetzung die Exotisierung der Balkanhalbinsel im Kontext der Orientmode. Die klischeehafte Repräsentation der neuen Peripherie der Doppelmonarchie diente dabei der rhetorischen Legitimation der Okkupation als zivilisierende Kulturmission. Die gegenwärtig kaum diskutierte Besetzung Bosniens bestimmte nicht nur monatelang die österreichischen Printmedien, sondern fand auch zeitnah deutlichen Niederschlag im Unterhaltungstheater. Dieser Beitrag widmet sich der Auseinandersetzung mit Bosnien und dessen Bevölkerung im Repertoire des Fürsttheaters im Prater anhand von drei Fallbeispielen. Die einflussreichste Spielstätte für sozial schwächere und bildungsferne Schichten reagierte als erste und vorrangige Spielstätte in Wien mit beeindruckender Geschwindigkeit auf den österreichischen Einmarsch in Bosnien.6 Vom 3. August bis 23. Oktober 1878 wurden parallel zum laufenden Okkupationsfeldzug täglich ein oder mehrere Einakter mit Bezug auf die jüngsten Ereignisse gespielt und im Zweiwochenrhythmus neue Einakter uraufgeführt. Es liegen keine Auslastungszahlen des Theaters vor, aber die Rezensionen und für damalige Verhältnisse relativ hohen Aufführungs4 | Vgl. dazu weiterführend Caroline Herfert, Inszenierungen der Porta Orientis Wien. Theaterhistoriographische Perspektiven auf die Orientmode um 1900 , Wien 2014. 5 | Die Expansion der Doppelmonarchie wurde durch den Vertrag des Berliner Kongresses vom 13.Juli 1878 legitimiert. Zur österreichischen Orientpolitik vgl. Horst Haselsteiner, Bosnien-Hercegovina. Orientkrise und südslavische Frage, Wien 1996, S. 9-48. 6 | Zur Geschichte des Theaters vgl. Otto Wladika, Von Johann Fürst zu Josef Jarno. Die Geschichte des Wiener Pratertheaters, Wien 1960.
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zahlen lassen darauf schließen, dass die Okkupations-Novitäten beim Publikum auf gute bis sehr gute Nachfrage stießen.
Die Österreicher in Bosnien oder: Die Annahme eines friedlichen Einschlusses des Anderen Fünf Tage nach Beginn des Okkupationsfeldzuges wurde am 3. August 1878 das Zeitbild Die Österreicher in Bosnien uraufgeführt. Der Einakter machte damit den Auftakt einer ganzen Reihe von mehr oder weniger patriotischen, stets komischen Verhandlungen der fortschreitenden Okkupation im Fürsttheater.7 Voller Wortwitz, Körperkomik und durchsetzt mit Gesangseinlagen verarbeitet das Zeitbild synekdochisch die aktuelle Situation in Bosnien und deren politische Vorgeschichte anhand der Misslage eines muslimischen Großgrundbesitzers. Der korpulente Hussein Beg, der metonymisch für die muslimische Elite in Bosnien steht, tritt als polygamer Lebemann in Pluderhose und Turban auf. Das komische Potential der Figur, die als Sohn einer Wienerin breites Wienerisch spricht und somit als gutherziger ›Unsriger‹ dargestellt wird, erwächst aus der Sprachkomik und dem ironischen Spiel mit überzeichneten Orientstereotypen. Husseins skrupelloser Verwalter Hassan hingegen, dessen Figur das Osmanische Reich symbolisiert, ist klischeehaft als orientalischer Despot gezeichnet. Als der Verwalter sich anschickt, die Bauern des Guts körperlich zu züchtigen und deren Töchter auf dem Sklavenmarkt in Konstantinopel zu verkaufen, treten unvermittelt drei Soldaten der k.k. Truppen auf, deren Nationalitäten den habsburgischen Vielvölkerstaat repräsentieren.8 Gemäß der Logik des Zeitbildes wird die medial propagierte Rolle Österreich-Ungarns als Ordnungs- und Schutzmacht wörtlich genommen und in prägnante Bilder übersetzt: »Franz. Mir scheint da daneben wird g’stritten, wahrscheinlich der Herr des Hauses. Und so viel ich hör in Bedrängniß. Grund genug zur Einmischung (stürzt Seite ab).«9 Hassan am Ohr hinter sich her ziehend, symbolisiert der österreichische Soldat Franz nicht nur die Einmischung zum Besten der bosnischen Bevölkerung, sondern auch die physische wie moralische Überlegenheit gegenüber dem türkischen Verwalter.
7 | Die hier besprochenen Einakter stellen rares Quellenmaterial dar und liegen ausschließlich als handschriftliche, von der Theaterzensur eingestrichene Textbücher vor. Die zitierten Textbücher und zugehörigen Zensurakten befinden sich im Niederösterreichischen Landesarchiv (NÖLA) in St. Pölten. 8 | Textbuch, Carl Bayer, Die Oesterreicher in Bosnien, Szene 5, S. 19. Niederösterreichisches Landesarchiv (NÖLA), NÖ Reg. Präs Theater TB – Textbücher der Theaterzensur, TB 1878/165. Die Bezeichnung »k.u.k.« wurde für die Gemeinsame Armee erst 1889 eingeführt. 9 | Ebd., Szene 5, S. 24f. In allen Zitaten werden dialektale Eigenheiten sowie Schreibund Grammatikfehler des Originals unverändert wiedergegeben.
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Der gängigen orientalistischen bzw. kolonialistischen Repräsentation entsprechend, operiert der Theatertext neben der binären Opposition von Kultiviertheit vs. Unzivilisiertheit ferner mit der Feminisierung Bosniens, um dem Selbstverständnis der Habsburgermonarchie als starke Schutzmacht Ausdruck zu verleihen. Bei aller Harmlosigkeit, welche die Zensurbehörde dem Zeitbild anno 1878 attestierte, erscheint die Thematisierung der österreichischen Einmischung aus heutiger Perspektive ambivalent – sowohl als patriotische Affirmation als auch als Verweis auf kritische Haltungen gegenüber der Okkupation. Den Soldaten der Okkupationsarmee werden am Ende als Belohnung für ihren Einsatz bosnische Frauen und Mädchen zugesprochen, wobei der Einakter die mehrfach thematisierte Phrase der Kulturmission noch einmal aufgreift: Lajos (Lena küssend). Warum nicht […]! Bei sauberes Madel g’fallt mir Einmischung ganz gut! Franz. Ganz meine Meinung! Auch ich werde die Kultur nach Osten tragen (küsst Sofia). Wenzel (zornig). A potom! Wo bleib ich? […] bin ich ganz überflüssig, ich hab ich gar keine Mission?10
Auf seinen wütenden Protest hin zu kurz zu kommen, erhält der Böhme Wenzel eine der vier Ehefrauen des bosnischen Großgrundbesitzers zugesprochen. Denn Hussein Beg verzichtet unter dem ›zivilisierenden‹ Einfluss der neuen Herrschaft freiwillig auf die Polygamie und will sich aus ökonomischen wie sittlichen Gründen fortan mit einer einzigen Ehefrau begnügen. Am Ende des Einakters tanzen die Soldaten mit ›ihren‹ Mädchen ausgelassen Ländler, Czardas und Polka. Diese auch in späteren Okkupationsstücken stereotyp eingesetzte Folklore führt den habsburgischen Vielvölkerstaat als harmonisches, multikulturelles Miteinander vor, das reibungslos um Bosnien und Herzegowina erweitert wird. Neben dem optimistischen Schluss des Zeitbildes, der eine glorreiche Zukunft Bosniens unter k.u.k. Herrschaft imaginiert, erscheint bemerkenswert, dass im Einakter keinerlei Opposition vorkommt, die sich der Okkupationsarmee entgegenstellt: Die konfessionell gemischte einheimische Bevölkerung sucht entweder aktiv Schutz oder nimmt zumindest die Einmischung dankbar an und fügt sich optimistisch der neuen Herrschaft. Der Schluss der Österreicher in Bosnien greift damit die Annahme von Außenminister Graf Gyula Andrássys (1823-1890) auf, dass aufgrund des Mandats des Berliner Kongresses mit einer zügigen Okkupation unter friedlichen Voraussetzungen zu rechnen sei.11 Wider Erwarten stieß die Okkupationsarmee kurz nach Beginn des Einmarsches in Bosnien auf erheblichen bewaffneten Widerstand, sodass die Truppenkontingente im Verlauf des Feldzuges mehrfach erhöht werden mussten, um die zahlenmäßig unterlegenen Truppen der osmanischen Armee sowie der bosni10 | Ebd., Szene 8, S. 33. 11 | Vgl. weiterführend László Bencze, The Occupation of Bosnia and Herzegovina in 1878, hg. v. Frank N. Schubert, Boulder (Colorado) 2005.
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schen Partisaninnen und Partisanen zu unterwerfen.12 Dem effektiven Widerstand mittels Guerillataktik begegneten die Printmedien bzw. die Öffentlichkeit »mit der Herabwürdigung des Gegners, der als unzivilisiert und verräterisch geschmäht wurde.«13 In den folgenden Wochen reagierten auch die Novitäten des Fürsttheaters auf den Widerstand im Okkupationsgebiet – einerseits mit der Glorifizierung des Heldenmuts und der Gutmütigkeit der k.k. Truppen, andererseits mit der Dämonisierung der bosnischen Bevölkerung, deren Widerstand es zu brechen galt.
Die Erstürmung von Serajewo oder: Der Umschwung in der Wahrnehmung Bosniens Den Höhepunkt des Okkupationsfeldzuges bildete »psychologisch gesehen«14 die Besetzung Sarajevos am 19. August 1878, die in den Printmedien ebenso euphorisch als Triumph gefeiert wurde wie im Fürsttheater, wo am 31. August 1878 das militärisch-patriotisches Zeitbild Die Erstürmung von Serajewo zur Uraufführung gelangte. Als Hauptinspiration und -quelle diente die offizielle Militärdepesche, die in sämtlichen Wiener Tageszeitungen abgedruckt wurde und die Eroberung der Stadt detailliert schilderte. Die ca. 50.000 Einwohner zählende ›Perle Bosniens‹ wurde im Häuser- und Straßenkampf »innerhalb weniger Stunden gegen den Widerstand bewaffneter Zivilisten und ehemaliger osmanischer Soldaten eingenommen«.15 Dabei glorifizierte das Telegramm die vermeintliche »Gutmüthigkeit« der eigenen Truppen, die der propagierten Brutalität der Aufständischen gegenübergestellt wurde: Es entspann sich einer der denkbar gräßlichsten Kämpfe. Aus jedem Hause, aus jedem Fenster, aus jeder Thürspalte wurden unsere Truppen beschossen; ja selbst Weiber betheiligten sich daran. […] Unglaubliche Scenen eines wilden Fanatismus spielten sich ab, und nur der Gutmüthigkeit, aber auch der Disciplin unserer Truppen ist es zu verdanken, daß die Stadt nicht wesentlicher beschädigt wurde; doch sind einige Häuser ein Raub der Flammen geworden. Unser Verlust ist leider nicht unbedeutend. […] Ich muß die Bravour, die Hingebung aller am Kampfe betheiligten Truppen besonders hervorheben […]. Nach beendetem Kampfe und gänzlicher Besetzung der Stadt wurde die kaiserliche Fahne auf dem Castelle 12 | Vgl. Clemens Ruthner, »Habsburg’s Little Orient. A Post/Colonial Reading of Austrian and German Cultural Narratives on Bosnia-Herzegovina, 1878-1918«, in: kakanien revisited, 22.05.2008, www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/CRuthner5.pdf vom 27.07.2016, S. 3; Martin Gabriel, »Die Einnahme Sarajevos am 19. August 1878. Eine Militäraktion im Grenzbereich von konventioneller und irregulärer Kriegsführung«, in: kakanien revisited, 21.12.2011, www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/MGabriel3.pdf vom 27.07.2016, S. 1. 13 | Gabriel, »Die Einnahme Sarajevos am 19. August 1878«, S. 1. 14 | Ebd. 15 | Ebd.
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Caroline Her fer t aufgehißt und unter den Klängen der Volkshymne mit 101 Kanonenschüssen und endlosem Jubel der Truppen begrüßt, in welchen alle christlichen Einwohner einstimmten.16
Getragen von der allgemeinen Euphorie in der Doppelmonarchie stimmte auch die neueste Produktion des Fürsttheaters in den Jubel über die jüngsten Ereignisse ein und lieferte mit seiner szenischen Umsetzung von Schlüsselmomenten der Eroberung ›Anschauungsmaterial‹ aus dem Okkupationsgebiet, noch bevor Lithographien dazu in illustrierten Zeitungen erschienen. Die Handlung des Zeitbilds ist in lose aneinandergereihten Szenen um den Höhepunkt des Okkupationsfeldzuges gruppiert. Es ist keinerlei Bildmaterial zu der Inszenierung erhalten, doch die Szenenanweisung des Stücktextes beschreibt ein exotistisches Bild Sarajewos. Das Bühnenbild sollte neben der hügeligen Anlage der Stadt vor allem islamisch geprägte Bauformen wie vergitterte Fenster und Minarette darstellen und so orientalisches Flair evozieren: »Eine Strasse in Serajewo. Die Häuser im orientalischen Styl, mit gegen die Gasse zu vergitterten Fenstern. […] Der Hintergrund soll eine auf den Berg hinangebaute orientalische Stadt mit Minarets etz. vorstellen.«17 Die Eingangsszene, die sich vor den Geschäftsläden der beiden komischen Figuren und österreichischen Auswanderer Knöpfl und Pospischl abspielt, rekurriert auf den Topos des bewegten, bunten Treibens im Bazar. Die mittels unterschiedlicher Trachten verdeutlichte Diversität und konfessionelle Pluralität in Bosnien und Herzegowina, erscheint sowohl als Balkan- als auch Orientstereotyp. Allerdings wird die evozierte Vorstellung eines scheinbar zeitlosen, romantisch entrückten Orients jäh gebrochen: hinter der Bühne fallen vereinzelt Schüsse, während auf der Bühne die Menge den Partisanen Hadschi Loja lebhaft als »Herrscher über Serajevo« besingt.18 Hadschi Loja, dem realiter zwar keine große Bedeutung zukam, der jedoch in den österreichisch-ungarischen Quellen zum zentralen Anführer der Aufständischen stilisiert wurde, nimmt auch im Zeitbild eine gewichtige Rolle ein. Er wird stereotyp als armseliger Räuber dargestellt: Hadschi. (eine grüne Fahne schwingend beim Eintreten, er ist beinahe ärmlich türkisch gekleidet, hat einen Säbel an einem Strick umhängen – die Brust halb entblößt, langen schmutzigen grauen Bart, Sandalen. In allen seinen Geberden, Blicken, zeigt er den Fanatiker).19
Hadschi Loja, der die sozial schwachen Bevölkerungsschichten zum blinden Hass aufhetzt, steht als verblendeter Fanatiker pars pro toto für alle Aufständischen, die als unmündige Menge, als feiges »Gesindel« oder gar »Tiere« bezeichnet wer16 | Neue Freie Presse vom 21.08.1878, S. 1f. 17 | Textbuch, Carl Bayer, Die Erstürmung von Serajevo, Szene 1, S. 1. NÖLA, NÖ Reg. Präs Theater TB – Textbücher der Theaterzensur, TB K 454/18. 18 | Ebd., Szene 1, S. 2. 19 | Ebd. Szene 2, S. 16. [Herv. i.O.].
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den. Rhetorisch erscheint damit jeglicher Widerstand gegen die Okkupationsarmee ebenso undankbar wie unrechtmäßig. Der Kontrast dieser Differenzkonstruktion und der koloniale Überlegenheitsgestus werden noch verstärkt, indem die Figuren des bosnischen Juden Isaak sowie der Auslandsösterreicher Knöpfl und Pospischl die Formel der Kulturmission aufgreifen: Isaak. Die Österreicher sind einmarschirt in Bosnien, als Freunde, um Ordnung zu bringen in das Land, was ist seit Jahren der Schauplatz gräßlicher Verwüstung! Knöpfl. Juhu! Unsre Landsleut kommen endlich amal! Und noch dazu als Freund! […] Pospischl. Wann unsre Landsleut einrucken, was nehmens, höchstens von türkischen Madel dann und wann a Bußel!20
Der Einakter endet mit dem österreichisch-ungarischen Sieg über den Widerstand in Bosnien: Unter lauter werdendem Kanonendonner und Jubelrufen der k.k. Truppen fliehen Aufständische und Zivilbevölkerung in Scharen aus Sarajevo; klagend verfluchen sie Hadschi Loja, der sich verletzt davon schleppt. Mit der Einnahme Sarajevos wurde zwar das Zentrum des bewaffneten Widerstands zerstört, doch die blutigsten Auseinandersetzungen fanden erst nach diesem ›psychologischen Höhepunkt‹ der Okkupation statt. Die Aufständischen, die sich in die umliegenden Berge zurückgezogen hatten, leisteten noch wochenlang hartnäckigen Widerstand. In Widerspruch zur propagierten Friedfertigkeit ging die Okkupationsarmee mit einer Härte gegen Aufständische und Zivilbevölkerung vor, welche die Militärgerichtsbarkeit vorübergehend aussetzte oder gar bewusst unterlief.21 Einhergehend mit der zunehmenden Brutalität der Okkupationsarmee verschärfte sich auch die Drastik der klischeehaften Feindbilder in den Printmedien und im Fürsttheater.
Hadschi Loja oder: Die zunehmende Entmenschlichung des bosnischen Anderen Wenige Wochen vor dem offiziellen Abschluss des Okkupationsfeldzuges am 20. Oktober wurde am 28. September mit dem Schwank Hadschi Loja ein weiterer Einakter zum Thema Bosnien uraufgeführt. In der Fokussierung auf den prominent gewordenen Widerstandskämpfer Hadschi Loja knüpfte der gleichnamige Theatertext nicht nur an das Interesse der Öffentlichkeit an, sondern auch an das vorangegangene Zeitbild im Repertoire des Pratertheaters. Während der reale Hadschi Loja seit der Einnahme Sarajevos untergetaucht war, wurde auf der Bühne des Fürsttheaters über seinen Verbleib spekuliert. An Hadschi Loja lässt sich nicht nur die zunehmende Drastik der klischeehaften und rassistischen Darstellung der bosnischen Bevölkerung im Laufe des Feldzuges nachvollziehen, sondern auch die ironi20 | Ebd., Szene 2, S. 6. 21 | Vgl. Gabriel, »Die Einnahme Sarajevos am 19. August 1878«, S. 4f.
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sche Kommentierung der flächendeckenden Medienberichterstattung, welche immer wieder einen wichtigen Bezugspunkt der hier vorgestellten Einakter darstellt. Im Schwank, der in einem Hotel an der bosnischen Grenze spielt, sucht die Okkupationsarmee analog zur realen Situation nach dem titelgebenden Aufständischen. Auch Lord Chester, ein im Hotel abgestiegener britischer Tourist, wünscht sich nichts sehnlicher, als den berüchtigten »großen bosnische[n] Räuber«22 mit eigenen Augen zu sehen. Einzig unter der Bedingung, dass es seinem prospektiven Schwiegersohn gelinge, den Partisanenführer ausfindig zu machen, will der Lord der Heirat seiner Tochter Malvina zustimmen. Die aussichtslos scheinende Situation findet unverhofft eine glückliche Lösung: Im selben Hotel logiert zufällig ein Schauspieler, dem der Bräutigam Fint einst das Leben rettete. Um sich zu revanchieren, erfüllt dieser die illusorische Forderung des Lords mittels Täuschung und verkleidet sich als Hadschi Loja. Indem der Schauspieler Preller verbreitete Stereotype bedient, geriert er sich als furchteinflößender Insurgentenführer – sehr zum Vergnügen des schaulustigen Lords. Die ebenfalls anwesenden Wiener Touristen Malzl und Gschirrl hingegen erstarren vor Angst: Preller in der Maske des Hadschi Loja nach der bekannten Fotographie, dann Malvina und Lord Chester und Fint. Preller./Entreelied Bin aus Mekka’s Pilgerschaar! Bring dem Allah Opfer dar. […] Tod den Feind in seinen Reihen Hört man Bosniaken schreien […] O Hatschi Loja, Loja Hatschi Spieß sie, brenn sie, mord sie, brat sie! Gschirrl. (ruft zu Malzl hinüber). Ha! Malzl, lebst no?! Aussi möcht i! Malzl. (ruft zu Gschirrl hinüber). Ja! I a!23
Bemerkenswert an diesem Spiel im Spiel erscheint die potentielle Mehrdeutigkeit des Lachens24 als ambivalente Einschreibung. Einerseits wird der medial allgegenwärtige Hadschi Loja ›leibhaftig‹ sinnlich erfahrbar gemacht, um Sensationsgier zu befriedigen. Gleichzeitig wird die Behauptung der Authentizität bewusst unterlaufen, indem sie offen als Täuschung markiert wird. Das Motiv der Verkleidung und Verwechslung generiert dabei ebenso Komik wie die Übertreibung der Situation durch den Darsteller Romani auf der Bühne: er verkörpert einen Schauspieler, der wiederum Hadschi Loja mittels Gestikulation und pathe22 | Textbuch, Josef Doppler, Hädschi Loja, Szene 5, S. 20. NÖLA, NÖ Reg. Präs Theater TB – Textbücher der Theaterzensur, TB K 454/23. 23 | Ebd., Szene 10, S. 52-56. 24 | Vgl. Eric Weitz, The Cambridge Introduction to Comedy, Cambridge 2009; Hilde HaiderPregler et al. (Hg.), Komik. Ästhetik – Theorien – Strategien, Maske und Kothurn 51/4, (2006).
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tischer Deklamation islamischer Glaubensformeln darstellt, um dessen berüchtigtem Fanatismus und vermeintlicher Unzivilisiertheit Ausdruck zu verleihen. Standen der Auftritt Hadschi Lojas und dessen Brandreden in der Erstürmung von Serajewo noch in einem ernsten, potentiell bedrohlichen Kontext, zeichnet der neueste Einakter gegen Ende des Okkupationsfeldzuges den Widerstandskämpfer durchweg als Karikatur: Die Aneinanderreihung von Klischees über die bosnische Bevölkerung sowie die rassistischen Schmähungen des vermeintlichen Partisanenführers entmenschlichen Hadschi Loja als blutrünstigen Fanatiker, hässlichen Räuber oder gar als furchteinflößendes, wildes Tier. Dabei wurde der Partisanenführer ebenso der Lächerlichkeit preisgeben wie die hasenfüßigen komischen Figuren Gschirrl und Malzl, die sich vor ihm fürchten. Der Schlussgesang, zu dem der vermeintliche Hadschi Loja ansetzt und in den die restlichen Figuren im Chor einstimmen, greift ein letztes Mal das dominante Stereotyp des ›braunen‹ Räubers auf. Analog zu tendenziösen Artikeln in der Presse wünschen sie dem realen Hadschi Loja den baldigen Tod durch den Strick: Preller. Hadschi Loja brauner Räuber, Nimmer kommts dir wohl in Sinn, daß zwei Liebende du glücklich Hast gemacht bei uns in Wien! Darum Hadschi, Hadschi Loja Stirb und baumle bald recht hoch Denn ein Räuber Hadschi Loja Denn ein Räuber bleibst du doch!25
Die Diskrepanz zwischen den fröhlich anmutenden, einfachen Reimen und der inhaltlichen Schärfe des Spottliedes erscheint aus heutiger Perspektive verstörend. Die Unbekümmertheit, mit welcher der zutiefst verachtende Text als harmloser Ausklang eines Schwankes präsentiert wurde, spiegelt nicht nur die ambivalente bis rassistische Haltung der Printmedien gegenüber der bosnischen Bevölkerung wider, sondern auch den brutalen Umgang der k.k. Truppen mit den tatsächlichen und vermeintlichen Aufständischen.26 Am Beispiel Hadschi Loja lässt sich damit eindrücklich nachvollziehen, dass Bosnien und Herzegowina durch den Okkupationsfeldzug zwar symbolisch in die Habsburgermonarchie und damit Europa eingeschlossen wurden. Allerdings wurde gleichzeitig die »mentale[n] Codierung des Anderen« diskursiv aufrechterhalten, wie die Historikerin Heidemarie Uhl festhält.27 Damit 25 | Doppler, Hädschi Loja, Szene 11, S. 64. 26 | Das aggressive Vorgehen der Okkupationsarmee wurde medial weniger verschleiert, als vielmehr gerechtfertigt und als notwendig dargestellt. Vgl. beispielsweise Illustriertes Wiener Extrablatt vom 18.09.1878, S. 1. 27 | Heidemarie Uhl, »Zwischen ›Habsburgischem Mythos‹ und (Post-)Kolonialismus. Zentraleuropa als Paradigma für Identitätskonstruktionen in der (Post-)Moderne«, in:
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gerierte sich Österreich-Ungarn im Kontext des europäischen Imperialismus- und Kolonialdiskurses nicht nur symbolisch, sondern auch realiter als Kolonialmacht.
Schluss Anhand der äußerst zeitnah entstandenen Einakter, die über Wochen und Monate hinweg das Wiener Publikum in Scharen ins Fürsttheater lockten, lässt sich – in Verschränkung mit der Medienberichterstattung – der Verlauf des Okkupationsfeldzugs ebenso nachvollziehen wie dessen zeitgenössische Rezeption und die Wahrnehmung der bosnischen Bevölkerung und der neuen Peripherie des Vielvölkerstaats. Stellte Die Österreicher in Bosnien zu Beginn der Okkupation die Bevölkerung Bosniens tendenziell als gutherzig und friedlich dar, welche die k.k. Truppen dankbar begrüßen, wandelte sich die Darstellung der Einheimischen schlagartig im Verlauf des Feldzuges. Als Reaktion auf den unerwarteten bewaffneten Widerstand sowie zur Rechtfertigung des aggressiven Vorgehens der Okkupationsarmee wurden einzig die muslimischen Aufständischen als Feinde identifiziert. Offenbaren sich bereits in Die Erstürmung von Serajewo chauvinistische bis rassistische Töne in der klischeehaften Darstellung der Gegnerinnen und Gegner als »dreckige« und armselige »Räuber«, steigert sich die Drastik der Herabwürdigung bis zum Ende des Feldzuges, als der Partisane Hadschi Loja im gleichnamigen Schwank als »Tier« der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Ungeachtet der Tatsache, dass der Widerstand in Bosnien keineswegs auf die muslimischen Bevölkerungsteile beschränkt war, die Okkupation entgegen allen Erwartungen mit hohen Verlusten auf beiden Seiten vonstattenging und das Verhalten der Okkupationsarmee keineswegs der medial propagierten Friedfertigkeit entsprach, fungierte das zunehmend drastisch gezeichnete Feindbild der Bosnierinnen und Bosnier als Projektionsfläche für die patriotische Affirmation des selbstlosen humanitären Akts und der militärischen Stärke der k.k. Truppen. Die hier präsentierten Einakter im Repertoire des Wiener Fürsttheaters, die allesamt nur als handschriftliche Textbücher vorliegen, stellen wertvolle Zeitdokumente dar – zumal die dokumentierten Striche der Theaterzensur spannende Einblicke gewähren. Die eingehende Beschäftigung mit diesen Gebrauchstexten trägt somit zur Aufarbeitung des kaum erforschten Wiener Unterhaltungstheaters im ausgehenden 19. Jahrhundert bei. Eine kritische (Re-)Lektüre dieser Theatertexte vermag insbesondere in Hinblick auf die Okkupation Bosniens Forschungslücken zu schließen, weitere Fragestellungen zu diesem reichhaltigen Themenkomplex anzuregen und nicht zuletzt aus theaterhistorischer Sicht neue Perspektiven auf die koloniale Vergangenheit der Habsburgermonarchie zu eröffnen und damit zu deren historischer Aufarbeitung beizutragen.
kakanien revisited, 19.5.2002, in: http://www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/HUhl1.pdf vom 27.07.2016, S. 1.
Die Vorstellung vom Zuschauer Martina Groß In jüngerer Zeit lässt sich in der theaterwissenschaftlichen Forschung ein verstärktes Interesse an der Positionierung des Publikums oder der Funktion des Zuschauers beobachten.1 Die Aktualität dieser Fragen verdeutlichen beispielsweise die historischen Untersuchungen von Jeffrey S. Ravel zum Parterre-Publikum im 18. Jahrhundert,2 die Schrift Jacques Rancières zum »emanzipierten Zuschauer«3 oder Olivier Neveux’ detaillierte Analyse Politiques du spectateur4 im Gegenwartstheater. Darüber hinaus bearbeiten unterschiedlich ausgerichtete Sammelbände Aspekte des Zuschauers. Sie widmen sich dem »Spectateur de théâtre à l’age classique«5, sie fragen nach den Paradoxien des Zuschauens6 im zeitgenössischen Theater oder handeln Vom Publicum7 mit dem Fokus auf das Öffentliche in der Kunst. Diese Reihe ließe sich leicht um weitere Beispiele aus den letzten zehn Jahren erweitern.8 1 | Auf die unzureichende terminologische Unterscheidung von Zuschauern und Publikum verweist unter anderem: Luc Boucris, »Public ou spectateurs?«, in: Bénédicte LouvatMolozay/Franck Salaün (Hg.), Le spectateur de théâtre à l’âge classique (XVIIe et XVIIIe), Montpellier 2008, S. 11-19. Boucris: »Accordons-nous momentanément pour considérer ce terme comme un équivalent acceptable du mot spectateur« (S. 11). Dieser Problematik ist sich auch der vorliegende Beitrag bewusst. 2 | Jeffrey S. Ravel, The contested parterre: public theater and French political culture, 1680-1791, Ithaca/London 1999; Ders., »Le Théâtre et ses publics – pratiques et représentations du parterre à Paris au XVIIIe siècle«, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine, Nº 49 (3/2002), S. 89-118. 3 | Jacques Rancière, Der emanzipierte Zuschauer, Wien 2010. 4 | Olivier Neveux, Politiques du spectateur. Les enjeux du théâtre politique aujourd’hui, Paris 2013. 5 | Louvat-Molozay/Salaün (Hg.), Le spectateur de théâtre à l’âge classique. 6 | Jan Deck/Angelika Sieburg (Hg.), Paradoxien des Zuschauens. Die Rolle des Publikums im zeitgenössischen Theater, Bielefeld 2008. 7 | Dietmar Kammerer (Hg.), Vom Publicum. Das Öffentliche in der Kunst, Bielefeld 2012. 8 | Vgl. Marie-Madeleine Mervant-Roux, Figurations du spectateur. Une réflexion par l’image sur le théâtre et sur sa théorie, Paris 2006; Cathérine Bouko, Théâtre et réception.
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Sie widmen sich unterschiedlichsten Aspekten der Wahrnehmung und Imagination des Zuschauers und thematisieren Fragen seines Rezeptionsvermögens.9 Im Folgenden möchte ich jedoch die Blickrichtung umkehren und der Vorstellung vom Zuschauer nachgehen, noch bevor sich dieser an seinen Platz begibt, um zu schauen. Es geht also um theoretische Vorstellungen vom Zuschauer sowie um die Rückwirkungen seiner Konzeptionierung auf die jeweiligen theaterpraktischen Entwürfe und deren Umsetzung. Das Aufkommen des Nachdenkens über den Zuschauer zeigt sich, sowohl in seiner epistemologischen Funktion als auch in seiner praktischen Darstellung und Wahrnehmung, in der Frühen Neuzeit zunächst als ein Phänomen, das maßgeblich (national-)politisch motiviert erscheint. Die Trennung in hohe Formen von Repräsentation und niedere Formen von Volksbelustigung, in partielle Bühnen sowie in Darsteller und Zuschauer seit der Mitte des 16. Jahrhunderts,10 bildet den Beginn einer gezielten Reflexion über den Zuschauer, die in der Folge immer stärker mit seiner Disziplinierung einhergehen soll. Position und Funktion des Zuschauers erscheinen hierbei untrennbar mit jenem Vorgang verbunden, den Christian Biet als ›Geburt des dramatischen Theaters‹ definiert hat.11 Als terrain disputé bleibt die Figur des Zuschauers im gesamten 17. und 18. Jahrhundert virulent. Umbrüche und paradigmatische Setzungen innerhalb des Diskurses über den Zuschauer lassen sich vor allem in der ›Sattelzeit 1800‹ (Koselleck) und im Zuge der Transformationen um 1900 beobachten und werden mit dem Aufkommen postdramatischer Theaterformen erneut in Frage gestellt.12 Die Krise des Zuschauermodells in der Performance-Theorie zeigt Nikolaus Müller-Schöll auf, wenn er sich in kritischer Auseinandersetzung mit Rancières Behauptung des »emanzipierten Zuschauers«
Le spectateur post-dramatique, Brüssel 2010; Hermann Korte/Hans Joachim Jacob (Hg.), ›Das Theater glich einem Irrenhause‹. Das Publikum im Theater des 18. und 19. Jahrhunderts, Heidelberg 2012; Alexander Jackob, Theater und Bilderfahrung: In den Augen der Zuschauer, Bielefeld 2014. 9 | Siehe auch Benjamin Wihstutz, Theater der Einbildung. Zur Wahrnehmung und Imagination des Zuschauers, Berlin 2007. 10 | Vgl. Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt – Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt a.M. 1995; Ulrike Haß, »Übersehene Räume. Städtische Konfigurationen«, in: Nikolaus Müller-Schöll/André Schallenberg/Mayte Zimmermann (Hg.), Performing Politics. Politisch Kunst machen nach dem 21. Jahrhundert, Berlin 2012, S. 105-121. 11 | Christian Biet, »Rechteck, Punkt, Linie, Kreis und Unendliches. Der Raum des Theaters in der Frühen Neuzeit«, in: Nikolaus Müller-Schöll/Saskia Reither (Hg.), Aisthesis. Zur Erfahrung von Zeit, Raum, Text und Kunst, Schliengen 2005, S. 52-72. 12 | So wird mitunter eine ›Krise der Figur des Zuschauers‹ konstatiert, wie sie beispielsweise Hans-Thies Lehmann unter ästhetischen Gesichtspunkten für das Theater seit den 1960er Jahren formuliert hat. Vgl. Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M. 1999.
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für das utopische Potential eines »undarstellbaren Publikums«13 ausspricht. Dass sich in diesem Kontext auch der Verweis auf die »von Brecht für eine kommende Gesellschaft avisierte Aufhebung der Trennung von Spielern und Betrachtern«14 findet, wirkt für meinen Anlass hier wie eine Klammer: bildet er doch gleichermaßen einen Verweis auf Beginn und Anlass neuzeitlicher Vorstellungen, Reflexionen und Konzeptionierungen des Zuschauers. Im Folgenden möchte ich den Zeitraum, der auf die Trennung von Spielenden und Schauenden in der Frühen Neuzeit folgt, anhand von vier exemplarischen Positionen skizzieren, denen allen eine je spezifische Vision vom Zuschauer zugrunde liegt. Dies gilt für die szenographischen Entwürfe des Architekten Joseph Furttenbach15 ebenso wie für Andreas Gryphius’ Stück Leo Armenius, das nicht nur, wie Romain Jobez in seiner Studie zum Barocktheater gezeigt hat, das erste »Trauerspiel« darstellt, sondern dem auch der Status als erstes deutschsprachiges Drama zugeschrieben wird. Weniger am dramatischen Theater orientiert, entfaltet Gottfried Wilhelm Leibniz seine »Drôle des pensée«16, den sogenannten »Pariser Gedankenscherz«, der sich eher von den Pariser Markttheatern inspiriert sieht. Daran anknüpfend bietet es sich an, einen weiteren exemplarischen Blick auf die Figur des Zuschauers bei Alain-René Lesage zu richten, dem Lesage im Kampf zwischen Markt- und institutionalisierten Theatern um 1700 einen besonderen Stellenwert zumisst. Auch wenn, mit Ausnahme von Lesage, der Zuschauer als Figur oder als theoretisches Konzept in den einzelnen Arbeiten nicht explizit erwähnt wird, so ist diesen doch – szenographisch, epistemologisch oder theatral – eine Vorstellung des Zuschauers implizit, die es herauszuarbeiten gilt.
Joseph Furttenbach (1591-1667) Furttenbach fungiert als eine Schlüsselfigur europäischer Wissensverbreitung zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, insbesondere mit Blick auf einen deutschitalienischen Kulturtransfer, hat er doch mehr als ein Jahrzehnt seiner Ausbildung in Italien verbracht. Als Autor zahlreicher Veröffentlichungen über Architektur und die mechanischen Künste, wusste er das Gelehrtenwissen der Epoche 13 | Nikolaus Müller-Schöll, »Das undarstellbare Publikum«, in: Sigrid Gareis/Krassimira Kruschkova (Hg.), Ungerufen. Tanz und Performance der Zukunft/Uncalled. Dance and Performance of the Future, Berlin 2009, S. 82-90. 14 | Ebd., S. 89. 15 | Furttenbachs Entwürfe wurden in der Konfrontation von Kriegs- und Theaterkultur hinsichtlich wissenspraktischer Erkenntnisse analysiert. Vgl. Jan Lazardzig, Theatermaschine und Festungsbau. Paradoxien der Wissensproduktion im 17. Jahrhundert, Berlin 2007. 16 | Gottfried Wilhelm Leibniz, »Drôle de pensée, touchant une nouvelle sorte de représentations« (September 1675), dt: »Pariser Gedankenscherz«, in: Ders., Sämtliche Schriften und Briefe, Bd. IV,1, hg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften, Darmstadt (Berlin) 1983, S. 562-568.
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mit der architektonischen Praxis in unterschiedlichen Bereichen zu vereinen. Mag Furttenbachs Interesse am Theater auch eine untergeordnete Rolle zukommen und ließe es sich eher als künstlerisches Souvenir aus Italien ansehen, ist sein Einfluss auf die Entwicklung der Theaterarchitektur in Deutschland nicht zu unterschätzen, wovon auch das 1641 nach seinen Entwürfen konzipierte Theater in Ulm Zeugnis ablegt. Nach dem Vorbild seines italienischen Lehrmeisters Guilio Parigi führte er in Deutschland das Telari-System ein, eine aus Wendeprismen bzw. Periakten konzipierte Verwandlungsbühne, bei der fünf drehbare, perspektivisch bemalte Dreiecksprismen (Telari) links und rechts als Bühnenbild benutzt wurde und die eine für den Zuschauer nicht einsehbare Variante des Szenenwechsels vorsahen. Szenenentwürfe aus Furttenbachs Architectura recreationis veranschaulichen, dass je ein Prismenpaar so einander zugeordnet war, dass sie ein Gesamtbild ergaben: ein Gebäude, eine Landschaft oder einen spezifischen Ort.17 Nur der vordere Telaro stand für sich allein, da eine tiefere Einsicht in die vordere Gasse ohnehin nicht möglich war. Bei der nächsten Drehung wurden die Paare auseinander gerissen und auf jeder Seite nahmen drei Prismen den Charakter von Kulissen an, die anderen verhinderten die Einsicht in die Gassen.18
Abb. 1: Joseph Furttenbach, Architectura Recreatonis, Augsburg 1640, Kupferblatt Nr. 22 17 | Joseph Furttenbach, Architectura civilis (1628), Architectura recreationis (1640), Architectura privata (1641), 3 Bände in einem Band [Reprographischer Nachdruck der Ausgaben Ulm 1628 und Augsburg 1640/1641], Hildesheim 1971. 18 | Vgl. Wilhelm Reinking, Die sechs Theaterprojekte des Architekten Joseph Futtenbach 1591-1667, Frankfurt a.M. 1984, S. 18-23; Andreas Kotte, Theatergeschichte. Eine Einführung, Köln 2013, S. 255-262.
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Durch die hohe Geschwindigkeit und den synchronen Vorgang dieses Ablaufs – der Stolz Furttenbachs, wie Andreas Kotte betont hat19 – blieb dem Zuschauer die Illusion eines je spezifischen Raumes. Der Szenenwechsel war für ihn uneinsichtig und hielt lediglich das Resultat bereit, da seine Position durch die Raumarchitektur und die Organisation der Sitze vorgegeben war. Furttenbachs Arbeiten, die zwischen 1627 und 1650 entstanden, sind geprägt durch den Dreißigjährigen Krieg. Gleiches gilt für die an seinen Entwürfen ablesbare Position des Zuschauers. Dass bei Furttenbach Kriegs- und Theaterarchitektur in ihrer paradoxen Natur ähnlichen Prinzipien unterliegen, zeigen die vergleichenden Analysen von Jan Lazardzig zu »Theatermaschine und Festungsbau«, in denen er deren gemeinsame Phantasmatik von Ausschluss und zugleich Beherrschung des Unberechenbaren und Kontingenten herausstellt. Dienen sie auf der einen Seite der repräsentativen, geometrisch-mathematischen Evidentialisierung von Sicherheit und Gewissheit, so sind sie auf der anderen Seite zugleich monumentale Manifestationen der Angst und Furcht, die dazu beitragen, ganze Städte, Residenzen, Ortschaften und Landstriche einem auf die Dauer gestellten ›Als-ob‹ des Krieges zu unterwerfen. 20
Dementsprechend charakterisiert Furttenbach sein Land als »Territorium der Wüsteney und Einöde«21, dem er seine Programmatik der Neuschöpfung »zu restaurin/oder gar von newemauß der Aschen aufführen«22 entgegenstellen will. Seine Theaterarchitektur zeigt sich in der Tat eng angelehnt an die Festungsbauten mit dem Willen zur Kontrolle, zur Beherrschung und Stilllegung im Sinne Foucaults, die in einer »art des répartitions«23 auch den Zuschauer avisiert.
Andreas Gr yphius (1616-1664) Auch Gryphius als junger Kriegswaise verarbeitet seine Erfahrungen mit den Grausamkeiten des Dreißigjährigen Krieges in seinem ersten Drama Leo Armenuis (1646). Es entsteht in Straßburg während seiner Rückkehr aus Frankreich, ein Aufenthalt, der ihn mit neuen Eindrücken und Ideen der Herrschaftsgewalt konfrontiert. Romain Jobez spricht bezüglich dieses Trauerspiels von einem »vrai spectacle de sang«24 und in der Tat zeigt sich das Stück mit seinem zentralen 19 | Ebd., S. 258. 20 | Lazardzig, Theatermaschine und Festungsbau, S. 91. 21 | Joseph Furttenbach, Architectura Recreationis, Vorrede (o.S.). 22 | Ebd. 23 | Michel Foucault, Surveiller et punir. Naissance de la prison, Paris 1975, S. 143; Ders., Überwachen und Strafen, Frankfurt a.M. 1976, S. 181. 24 | Vgl. Romain Jobez, Le théâtre baroque allemand et français, Le droit dans la littérature, Paris 2010, S. 13.
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Thema des Tyrannenmords, der sich gegen Ende gleichwohl in einen Märtyrertod transformiert, den blutigen Spektakeln der Epoche des Dreißigjährigen Krieges zugehörig. Das Drama konfrontiert sein Publikum mit einem Spektakel, an das es bereits gewöhnt ist, jenem der öffentlichen Hinrichtungen. Diesen Umstand bestätigen auch die Arbeiten von Michel Foucault und Richard van Dülmen sowie, in jüngerer Zeit, die detaillierten Untersuchungen von Christian Biet zum Spektakelcharakter öffentlicher Hinrichtungen, in denen eine direkte Verbindung zwischen der Erfahrung des Dreißigjährigen Krieges und der Entstehung des modernen europäischen Theaters gezogen wird.25 Verweisen unterschiedliche Analysen von Leo Armenius auf Gryphius’ Vision vom menschlichen Dasein und seine Aufforderungen an sein Publikum, den Illusionscharakter irdischer Existenz anzuerkennen, arbeitet das Drama jedoch formal an einer Vorstellung vom Zuschauer. Weiterführend ist daher die Frage, welche Eigenschaften dieses Trauerspiel als erstes deutsches Drama klassifizieren. Die Antwort findet sich weniger auf der inhaltlichen Ebene des Stücks als auf der Ebene seiner Form und Sprache. Im Unterschied zu Frankreich, das in den vierziger Jahren des 17. Jahrhunderts bereits eine ausgeprägte Sprach- und Kulturpolitik auf der Grundlage einer zentralisierten Staatsgewalt verzeichnen konnte,26 besteht das Heilige Römische Reich deutscher Nation aus einem Konglomerat an Sprachen und Kulturen. Nicht nur deutsche Herrscher blicken neidvoll auf das durch Richelieu vorangetriebene politische System Frankreichs, auch der Dichter Martin Opitz erkennt die wichtige Verbindung zwischen Nation, Sprache und Repräsentation, die eine Grundlage der korporativen Kulturpolitik Frankreichs darstellt. Opitz nimmt das Problem der heterogenen Sprachen in den deutschen Territorialstaaten als gefährlich wahr – zumal in Kriegswirren. In seinem Buch von der deutschen Poeterey möchte er für das Heilige Römische Reich deutscher Nation nach italienischem und französischem Vorbild eine vereinheitlichte Poetik schaffen, wobei er sich auf die normativen Regeln des Renaissancehumanisten Scaliger stützt. Sein Werk erscheint 1624 und damit lange vor d’Aubignacs Pratique du théâtre. Doch dauert es noch gut zwei Jahrzehnte, bis mit Gryphius’ Leo Armenuis endlich seine Regeln re25 | Christian Biet, »Naissance sur l’échafaud ou la tragédie du début du XVIIe siècle«, in: Intermédialités: histoire et théorie des arts, des lettres et des techniques 1 (2003), S. 75-105. 26 | Man denke hier insbesondere an die Sprachpolitik von François de Malherbe unter François I er. Sein Commentaire sur Desportes (1606) markiert den Beginn des Purismus in der französischen Sprachpolitik, der zufolge das Französische von überflüssigen Fremdwörtern befreit und die französische Grammatik logisch und klar gestaltet werden sollen. Vgl. Ferdinand Brunot, La doctrine de Malherbe d’après son Commentaire sur Desportes, Paris 1891. Zur Rolle Malherbes am französischen Hof und seine Position in der Vorgeschichte der Klassik siehe: Jürgen von Stackelberg, »Enfin Malherbe vint …«, in: Ders., Die französische Klassik, München 1996, S. 37-47.
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spektiert, der Knittelvers zugunsten von Alexandrinern verbannt und Dialekte gegen Hochsprache eingetauscht werden. Während Inhalt und Darstellung dem Zuschauer noch die Unordnung seiner Zeit vor Augen führen, soll sich ihm die Sprache, nach italienischem und französischem Vorbild, als der Ort zeigen, an dem die Vernunft in Regelhaftigkeit organisiert und kontrolliert wird. Mit dem Wissen, dass Sprache mehr als nur Rhetorik ist, fungiert Leo Armenius als ein erster Schritt auf der Etappe zu einem dramatisch-literarischen Theater in Deutschland, in dem sich auch die nationalpolitischen Bestrebungen über Sprache manifestieren.
Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) Mit seinem Drôle de pensée von 1676 entwirft Leibniz ein Gegenmodell zum dramatischen Theater, insbesondere seine Vision vom Zuschauer betreffend. Leibniz überrascht hier mit einer am Spektakulären, an Spiel und Illusion orientierten Wissens- und Erfindungspraxis, die seine Überlegungen zum Zusammenhang von Theorie und Praxis in Theatrum Naturae et Artis27 weiter entwickelt.28 Leibniz, der zwischen 1672 und 1676 in Paris weilt, nimmt dort regen Anteil am kulturellen Leben. Er geht in die Oper, ins Theater und seine Wohnung grenzt an die Foire St. Germain, den größten Pariser Markt und wichtigsten Ort für das vom Pariser Theatersystem ausgeschlossene Markttheater mit seinen komischen und uneinheitlichen Formen. Dieses dient ihm eher als die offiziellen Bühnen mit ihrem tragischen Repertoire als Inspirationsquelle. In einem Brief an Sophie von Hannover verleiht er dieser Ansicht Ausdruck. Er bemerkt, dass es gerade die Vernunft sei, die es großen Geistern erlaube, mitunter mehr Vergnügen angesichts einer Buffonerie zu empfinden als beim Hören der vernünftigsten Argumente der Welt. Er geht noch weiter, wenn er zu bedenken gibt, dass ein Harlekin einem Corneille manchmal vorzuziehen sei und nur Unwissende dies bemängeln würden, wohingegen solche, die Kenntnis der menschlichen Natur besitzen, darin Gerechtigkeit erkennen.29 Diese Überzeugung findet sich auch in seinem Drôle de pensée touchant une nouvelle sorte de représentation. Schon der Titel erweitert die27 | Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Sämtliche Schriften und Briefe, Bd. IV, 1, hg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften, Darmstadt (Berlin) 1983, S. 540: »also Theatrum Naturae et Artis, umb von allen dingen lebendige impressiones und connoissances zu bekommen«. 28 | Vgl. Horst Bredekamp, Die Fenster der Monade. Gottfried Wilhelm Leibniz’ Theater der Natur und Kunst, Berlin 2004, S. 45-63 und Lazardzig, Theatermaschine und Festungsbau, S. 218-228. 29 | »C’est la raison qui fait que les grands esprits se plaisent quelques fois à entendre des buffons plus tost que les plus solides raisonnemens du monde; et qu’ils preferont pour un temps Arlequin à Corneille. Des ignoans les en bla(s)ment, mais ceux qui sçavent un peu la nature de l’esprit humain y trouvent de la justice«. Gottfried Wilhelm Leibniz, »Lettre à
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sen Gedankenscherz um eine neue Art der Repräsentation, der man damit eine Absage an das klassische Theater unterstellen möchte. Der Charakter des kurzen Textes demonstriert, dass Leibniz die wissenschaftliche Recherche als Akt öffentlicher Performance versteht, womit er eine Reform der Wissenschaften verfolgt, die sich am Spiel und am Vergnügen orientieren soll. Dementsprechend schlägt er die Einrichtung einer »Academie des jeuxou plus generalement des plaisirs« vor, also eine Akademie der Spiele und des Vergnügens. Leibniz sieht dafür weder einen bestimmten Ort noch ein einzelnes Gebäude vor, im Gegenteil sollen sich die Aktivitäten über ganz Paris erstrecken und jede erdenkliche Art von Spektakel, Aufführung, Repräsentation versammeln, inszenieren oder erproben. Er imaginiert einen Jahrmarkt der gelehrten Lustbarkeiten, von der Laterna Magica zu weiteren optischen Experimenten, über Wasserschlachten auf einem Kanal, Konzerten mit seltenen Instrumenten, Darbietungen von Tänzern und Akrobaten bis hin zu Theateraufführungen im klassischen Sinne, wenn er zugesteht, dass die »représentation pourroit tous jours estremeslée de quelque histoire ou comedie«30. Der von Leibniz ersonnene Erlebnispark für ›alle Wissbegierigen‹ soll aus Menagerien, Gärten, Laboratorien, anatomischen Theatern, Raritätenkabinetten, Spielpalästen, Kunstmuseen und Konzertsälen bestehen.31 Grundlegend für sein Konzept ist die Überzeugung, dass der Mensch eben nicht, wie es etwa noch Joseph Furttenbach annimmt, nach dem Tabula Rasa-Modell funktioniert und man ihm Informationen einfach einschreiben könne.32 Für ihn sind die menschlichen Leidenschaften Vorbedingung allen Agierens und Lehrens, wie es Horst Bredekamp in seiner Studie über Leibniz’ Theater der Natur und Kunst exemplifiziert hat. Mit seinem Pariser Gedankenscherz plädiert Leibniz äußerst ernsthaft dafür, die Leidenschaften der Menschen nicht zu ignorieren oder gar zu bekämpfen, sondern sie in produktive Neugier zu verwandeln: »Car il faudroit donner le monde dans le panneau, profiter de son foible, et le tromper pour le guerir«.33 Der von Leibniz imaginierte Zuschauer steht durch die räumliche wie konzeptuelle Ausrichtung seiner erdachten Akademie unter demselben »Zwang der teilnehmenden Erkenntnis wie der Herrscher, der in den Spielpalästen die Beobachter beobachtet«34. Damit positioniert Leibniz sich dem staatstragenden Theater der französischen Klassik und allgemeiner der korporativen Kulturpolitik entgegengesetzt, was als möglicher Grund für seine Skepsis gegenüber dem französischen Akademiekonzept gelten kann. Gleichwohl es ihn offensichtlich faszinierte, sah Sophie de Hanovre (14./24.09.1691)«, in: Ders., Sämtliche Schriften und Briefe, hg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften, Darmstadt (Berlin) 1983, I, 7, Nr. 23. 30 | Leibniz, »Drôle de pensée«, S. 563. 31 | Vgl. ebd. 32 | Vgl. auch Bredekamp, Die Fenster der Monade, S. 62. 33 | Leibniz, »Lettre à Sophie de Hanovre«, S. 567. »Man muss die Menschen hinters Licht führen, von ihrer Schwäche profitieren und sie täuschen, um sie zu heilen.« [Übers. M.G.]. 34 | Bredekamp, Fenster der Monade, S. 63.
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er in Paris, wie weit dieses Konzept die Möglichkeiten der nicht-offiziellen und vom korporativen System ausgeschlossenen Theater- und Kunstformen limitierte.
Alain-René Lesage (1668-1747) Es mag kaum verwundern, dass sich die ausdrücklichste Thematisierung des Zuschauers in Lesages Trilogie zum Pariser Theaterkrieg findet, die er für das Markttheater auf die Bühne bringt. Als personifiziertes Publikum gibt Lesage dem Zuschauer in Gestalt des M. Le Public die Rolle des ›Maître‹ aller Bühnen, der aktiv eingreift und damit in ironischem Gegensatz zu dem von Richelieu und d’Aubignac bereits ab 1640 theoretisch ersonnenen passiven und empfangsbereiten Zuschauer steht, der auf seinem unbeweglichen Sitzplatz diszipliniert und still dem dargebotenen Schauspiel beiwohnen soll. Dass hier Staats- und Theaterbestrebungen zusammenlaufen, zeigt sich nirgends besser als in den Aufzeichnungen zum Traité de police von Nicolas Delamare, dem ersten publizierten Polizeibericht überhaupt, der ebenfalls um 1700 entstand und auch die Pariser Theater im Visier hat.35 In seinen Aufzeichnungen aus dem Jahr 1693 findet sich mit Verweis auf das antike Rom, das an fehlender Disziplin und Regel zu Grunde gegangen sei, folgende Überzeugung: »La regle et la discipline est l’ame de la Republique«36. Regel und Disziplin, Ordnung und Ruhe kennzeichnen die Bestrebungen der Staatspolitik ebenso wie die der Kulturpolitik. Man braucht »Republique« nur durch ›Théâtre‹ zu ersetzen, um zu erkennen, wie sehr sich das Gesellschafts- bzw. Staatskonzept und das offizielle Theaterkonzept um 1700 entsprechen. In den Einträgen zur Foire St. Germain wird exemplarisch deutlich, dass es um die Befriedung von Öffentlichkeit, also des Publikums geht und um die Furcht vor Chaos und Ausschreitung. Daher zielen die meisten polizeilichen Verbote auf Kontrolle und Disziplinierung der Öffentlichkeit ab, wovon auch unzählige Erlasse zur »Tranquilité des spectacles« zeugen. Ein Publikum als »Maître« (Lesage) läuft Bestrebungen, 35 | Nicolas Delamare, Traité de la police, où l’on trouvera l’histoire de son établissement, les fonctions et les prérogatives de ses magistrats; toutes les loix et tous les réglemens qui la concernent, 4 Bde. Paris 1705-1738. Delamare wird als hoher Verwaltungsbeamter ab 1667 vom damaligen Pariser Parlamentspräsidenten Guillaume de Lamoignon mit der Aufgabe betraut, ein systematisches Werk zu schaffen, das die Anwendung von Polizeimethoden im städtischen Alltag darlegt. Die Aufzeichnungen beginnen 1667 und sind nicht vollständig in dem später publizierten Traité de la police versammelt. 36 | »Regel und Disziplin sind die Seele der Republik« [Übers. M.G.]. Dieser Satz steht am Anfang des Abschnitts »De la censure et correction des mœurs« von Delamares Aufzeichnungen. Da es sich um eine handschriftliche Manuskriptsammlung aus dem 17. Jahrhundert handelt, sind die einzelnen Bögen lediglich handschriftlich (und lückenhaft) durchnummeriert. Laut fortlaufendem Register ist der Eintrag vermutlich auf das Jahr 1693 zu datieren. Vgl. Ms.F.Fr.21625 (Collection formée par Nicolas DELAMARE sur l’administration et la police de Paris et de la France): LXXXI Mœurs, Feuille 1, o.D.
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die auf einen passiven und empfangsbereiten Zuschauer zielen, offensichtlich zuwider. Aus Sicht der Markttheater, die keine königlichen Subventionen erhielten, lässt sich das Publikum hingegen tatsächlich als eine Art Maître begreifen. Zum einen sichert es ihr finanzielles Überleben und zum anderen ist der Erfolg beim Publikum das beste Argument im Kampf gegen die offiziellen Theater, die zwar das Recht auf ihrer Seite wussten, nicht aber das Publikum. In einer Zeit, in der, wie Max Fuchs konstatierte, eine »transformation capitaliste de la profession comique«37, also eine kapitalistische Transformation des komischen Berufsstandes stattfindet, zeigt sich die im Markttheater zu beobachtende Bedeutung des Publikums nicht allein als gesellschaftlich oder moralisch motiviert, sondern ebenso auch als eine ökonomische Notwendigkeit.
Ausblick Die genannten Beispiele bezeugen in ihrer je spezifischen Vorstellung vom Zuschauer dessen Bedeutung für die Herausbildung des neuzeitlichen Theaters vor dem Hintergrund des Dreißigjährigen Krieges. Während Furttenbach, beeinflusst durch die Kriegserfahrungen, für den Zuschauer einen geschlossenen, sicheren Ort frei von Kontingenzerfahrung zu konstruieren sucht, bringt Gryphius die Gräueltaten des Krieges auf die Bühne, indem er sich jedoch gleichzeitig auf die neue dramatische und sprachliche Regelhaftigkeit verpflichtet. Leibniz und Lesage, die man in dieser Hinsicht als Nachkriegsgeneration bezeichnen kann, stehen dem Modell eines dramatischen Theaters eher widerständig gegenüber. Beide Positionen verweisen zudem auf die epistemologische Krise und den Bruch kognitiver Ordnungsschemata um 1700.38 Ähnlich wie Leibniz, glaubt auch Lesage nicht an einen empfangsbereiten, passiven Zuschauer. Ihre den komischen und nicht-normierten Formen zugeneigten Positionen mögen ebenso einen Eindruck von jenem Umstand geben, den Guy Spielmann als »jeu de l’ordre et du chaos« für die Zeit um 1700 beschreibt.39 Konnten auch die beschriebenen Positionen in dieser Art Abriss nur skizzenhaft dargestellt werden, so lassen sie doch die These zu, dass die Epoche der Frühen Neuzeit keinen einheitlichen Entwurf vom Zuschauer zu kennen scheint. Dies indizieren nicht nur die oben angeführten unterschiedlichen Sichtweisen, sondern auch die uneinheitliche Verwendung der Begriffe Zuschauer (Spectateur) und Publikum (Public), die den Diskurs bis heute prägen. Dabei erklärt sich die Notwendigkeit einer transnationalen Betrachtung vor allem mit Blick auf die Konstitution eines modernen Theaters in Deutschland. Dies stellt sich im 17. und in den ersten Dezennien des 18. Jahrhunderts in erster Linie als Rezeptionsland 37 | Max Fuchs, La vie théâtrale en province au XVIIIe siècle, Paris 1933, S. 7. 38 | Vgl. Paul Hazard, La crise de la conscience européenne 1680-1715, Paris 1961. 39 | Guy Spielmann, Le jeu de l’ordre et du chaos. Comédie et pouvoir à la fin de règne, 1673-1715, Paris 2002.
Die Vorstellung vom Zuschauer
dar, dessen Wissen um die dramatische Kunst und um theatrale Entwicklungen vornehmlich aus Reisen Einzelner und einem dadurch evozierten Kulturtransfer entspringt. Dies gilt für die eingangs erwähnten Arbeiten, angefangen bei Opitz’ Poetik bis hin zu Gottsched und Lessing, die durch ihre d’Aubignac-Rezeption einem dramatisch-bürgerlichen Theater in Deutschland erst zu seiner praktischen Umsetzung verhalfen und zugleich, in der virulenten Frage nach dem Zuschauer, eine weitergehende Disziplinierung initiierten. Mit dieser Setzung, die im Übrigen trotz konstatierter Krisen und Umbrüche nicht überwunden scheint, sowie mit der Bewusstwerdung über die weitreichenden Wirkungen einer jeweiligen Vorstellung des Zuschauers, muss sich ein gegenwärtiges Nachdenken in Theorie und Praxis auseinandersetzen.
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Schauspiele und Sauspiele Theaterdiskurse im Zeitalter der Reformation Corinna Kirschstein
I. 1696 saß Gottfried Hoffmann, Rektor am Gymnasium in Lauban, zwischen allen Stühlen: Er hatte Theaterstücke geistlichen Inhalts verfasst, die er mit seinen Schülern einstudierte und aufführen ließ. Als Lutheraner befand er sich damit auf der sicheren Seite, hatte doch Luther selbst Schauspiele gebilligt und sogar gefordert, diese in der Schule zu spielen.1 Andererseits war Hoffmann auch bewusst, dass die Geschichte des Christentums von einer latenten Skepsis gegenüber geselliger Unterhaltung durchzogen war, die im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts mit dem Aufkommen des Pietismus und dessen Kritik an weltlichen Vergnügungen kulminierte und die seitens der Pietisten auch die Ablehnung geistlicher Schauspiele einschloss. Hoffmann stand nun vor dem Dilemma, dass Comödien von frommen und gelehrten Männern nicht nur zu manchen Zeiten verdammt, sondern auch mit gleichem Recht als »reineste und allernützlichste Ergetzung« aufs Beste empfohlen wurden. In seiner Not verfiel Hoffmann auf folgende Lösung: »[U]nter dem Nahmen COMŒDIen«, schlussfolgerte er,
1 | »Nam & ego non illibenter viderem gesta Christi in scholis puerorum ludis seu comędiis latine & germanice, rite & pure compositis, repraesentari propter rei memoriam, & affectum rüdioribus augendum [Denn auch ich sähe es nicht ungern, wenn in den Knabenschulen Spiele oder Comödien von den Taten Christi in lateinischer und deutscher Sprache, auf rechte Weise und regelmäßig abgefasst, vorgestellt würden, um das Gedächtnis und den Stand der Ungebildeteren zu bessern]«. Martin Luther, »Brief an Nikolaus Hausmann in Zwickau. Wittenberg, 2. April 1530«, in: WA.B, Bd. 5, Weimar 1934, S. 271f., hier S. 272. [Übers. C.K.]. Luthers Schriften werden hier und im Folgenden nach der Weimarer Ausgabe zitiert; die verwendeten Abkürzungen lassen sich wie folgt aufschlüsseln: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (WA), D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Briefwechsel (WA.B), D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Deutsche Bibel (WA. DB).
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Corinna Kirschstein sein zweyerley Spiele verstecket. Eine Art ist bloß zu schändlicher Wollust eingerichtet/und wird des verdammten Gewinns wegen getrieben: und wieder diese kan nicht genug geeyfert werden. Die andere Gattung bleibt in ihren Gräntzen/darein sie von solchen Erfindern/die GOttes Ehre und der Menschen Erbauung zum Zwecke gehabt/ist geschrencket worden: und diese wird billig weiter RECOMMENDIret und getrieben. Also kommen diese zwey Arten der COMŒDIen einander bloß in dem Nahmen gleich; in der Sache selber aber sind sie weit von einander unterschieden. […] Darum sehe man nicht auf den gleichen Nahmen/sondern auf die ungleiche DEFINITION und Beschreibung der COMŒDIen/wenn man wissen will/warum sie von etlichen verworffen/von andern aber RECOMMENDIret werden. Jene verstehen darunter die garstigen Schau=Spiele/die mit bessrem Rechte Sau=Spiele heissen könten: Diese hingegen sehen mit ihrer RECOMMENDATION auf die nützlichen und zur Erbauung eingerichteten THEATRALIschen Vorstelungen. Jene verwerffen den Mißbrauch: diese RECOMMENDIren den rechten Gebrauch.2
Das Spannende an Hoffmanns theaterbegrifflicher Unterscheidung ist nicht die apodiktische Feststellung dessen, was und wie Theater am besten zu sein habe, sondern seine Verzweiflung darüber, dass Bezeichnung und Sache, Name und Gattung, Begriff und Definition nicht übereinstimmen. Seine Unruhe verweist auf Versuche, in der verwirrenden Vielfalt theatraler Praktiken Muster aufzuspüren, Ordnungen und Werthierarchien zu etablieren, durch das Aussondern bestimmter Aspekte Konsens herzustellen – kurzum: durch solche Dispositive den Gegenstand überhaupt erst zu erzeugen. Wenn ich im Folgenden Versuche der Etablierung von Wissenssystemen für Theater in reformatorisch motivierten Schriften des 16. Jahrhunderts untersuchen möchte, mag das vielleicht fragwürdig erscheinen: war doch zu jener Zeit im deutschen Sprachraum an berufsmäßig betriebenes Theater (das zudem als solches bezeichnet wurde) nicht zu denken. Meine These lautet jedoch, dass – bevor sich eine künstlerische Praxis namens Theater ausprägte – durch Differenzierungs- und Abgrenzungsbemühungen im außerkünstlerischen, alltäglichen Bereich bereits entscheidende Weichenstellungen vorgenommen wurden, die für die Herausbildung einer spezifisch theatral-künstlerischen Praxis wirksam werden und deren künftige Gestalt bestimmen.
II. Das Euangelion ist mechtiger, zuverdammen, denn alle wunder sind, zu erheben: denn das Euangelion feylet und leuget nicht, Aber wunder triegen seer, […] Mose schreybt von zeychen, das man schlecht keynem zeychen glewben soll, wo es widder Gottes wort will faren. Denn die zeychen sollen dem wort dienen und folgen, und nicht die zeychen das wort furen.3
2 | Gottfried Hoffmann, Die gefallene und wieder erhöhete Eviana. Ein Schauspiel aus dem Jahr 1696, hg. u. komm. v. Ulrike Wels, Berlin 2003, hier S. 12. 3 | Martin Luther, »Widder den newen Abgott«, in: WA, Bd. 15, Weimar 1899, S. 183-198, hier S. 188.
Schauspiele und Sauspiele
Der Vorrang, den Luther dem geoffenbarten Wort Gottes vor allen anderen Zeichensystemen einräumt (sola scriptura), betrifft keineswegs nur dogmatische Lehraussagen: Rituale, Frömmigkeitspraktiken, die gesamte repräsentative Amtsautorität der katholischen Kirche sollten – so jedenfalls Luthers Vorstellung – dem Schriftprinzip untergeordnet werden. Daher diskreditiert Luther mit explizit theatraler Metaphorik deren Zeremoniell als »affen spiel« und »gauckelspiel«, das »Gott zu spott und seynem wort zu schanden […] mit sylbern und gulden geredte und ko sͤ tlicher pracht« veranstaltet wird.4 Eine solche sinnliche Repräsentation des Heiligen brandmarkt er als dem Evangelium zuwider laufend und sieht im Zeremoniellen keine Steigerung, sondern vielmehr – ins Gegenteil verkehrt – eine dem Menschen nicht gebührende Anmaßung, für die er scharfe Worte aus dem Bereich des Pejorativen wählt. Auch in Kontroversschriften gegen Andersgläubige dient der Vorwurf des Theatralischen und Uneigentlichen zur Herabsetzung des Gegners: Als der osmanische Sultan Süleyman der Prächtige 1541 nach Ungarn vorstößt, gibt Luther die deutsche Übersetzung einer lateinischen Koranwiderlegung aus dem Jahr 1300 heraus und bemerkt dazu: Der Alcoran helt nicht die weise zu reden wie andere heilige Schrifft, Denn er ist durch aus auff Reim weise oder Poetisch gestellet, wie man die lieder zu singen macht. […] [E]s schickt sich
nicht, wenn einer predigen, leren oder fur gericht reden solt, das er daher keme mit reimen gefasst, als wolt er ein lied singen oder Lotterbubisch spielen, Wie solchs die Sarracenen und Araber hoch rhuͤ men, als sey das ein zeichen, das jr Gesetz von Gott dem Mahmet offenbart,
und deste herrlicher sey, So das widerspiel war ist.5
Der Gebrauch solchen Vokabulars impliziert nicht nur durch die Gleichsetzung des gegnerischen Bekenntnisses mit den als ›niedrig‹ angesehenen Praktiken der Giulleria (»Lotterbubisch spielen«) pejorative Elemente; deren negative Konnotation im offiziell-gelehrten Diskurs bereitet auch den Boden für den Vorwurf des Betrugs und der Täuschung. Dabei bleibt die reformatorische Kritik an performativen Praktiken keineswegs auf jenen Bereich beschränkt, den man heute mit dem Begriff des ›Sakralen‹ beschreiben würde; ein ebenso harsches Verdikt, das wiederum den Vorwurf des Betrugs und der Täuschung einschließt, trifft auch weltliche, alltägliche Bereiche der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Besonders deutlich lässt sich dies am Liber vagatorum ablesen, den Luther unter dem Titel Von der falschen Betler buberey 1528 mit einer Vorrede neu herausgibt. Das Werk beschreibt performative (Erwerbs-) Praktiken von Teilen der nicht-sesshaften Bevölkerung; den warnenden Impetus 4 | Ebd., S. 192, S. 183. 5 | Martin Luther, »Verlegung des Alcoran Bruder Richardi«, in: WA, Bd. 53, Weimar 1920, S. 272-396, hier S. 292, [Hervor. i.O. zur Markierung der erläuternden Zusätze Luthers zu Ricoldos da Monte di Croce Contra legem Sarracenorum].
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des Originals verstärkt Luther nicht nur durch den Hinweis, dass er selbst durch solche Kniffe und Griffe getäuscht wurde, sondern verweist auch auf den Teufel als Urheber dieses Betrugs: Ich habs aber fur gut angesehen, daß solch buͤ chlin nicht alleine am tage bliebe, sondern auch fast uberall gemein wurde, damit man doch sehe und greiffe, wie der teuffel so gewaltig ynn der welt regiere, obs helfen wolte, das man klug wuͤ rde und sich fur yhm einmal fursehen wolte.6
Sieht man nur diese Aspekte, so erscheinen repräsentative oder andere performative Praktiken generell als gefährliche Übel, die es auszurotten gilt. – Erwiese sich der Verzicht auf sie nicht als ebenso gefährlich, wenn nicht gar gefährlicher.
III. So scheint der Reformator Andreas Bodenstein (genannt Karlstadt), zunächst ein Weggefährte Luthers, in seiner 1522 erschienenen Schrift Von abtuhung der Bylder dessen Repräsentationskritik zu übernehmen, indem er auf den zwiespältigen Charakter jeglichen Zeichengebrauchs verweist, der niemals ganz die Anwesenheit und Materialität des Signifikanten verleugnen kann: Nhu wil ich beweißen/das Christen bekennē mussen das sie yren Olgotzen ehere geben. Vrsach. das sie vor yenen (von wegen/der vorstorben heyligen mēschen) sich krumen vnd biegen/damit wil ich vestiglich beschlißen/das sie dē bilden ehere ertzeigen. Dan wan ich einē marschalck ehere geben teht/vō wegen seines fursten/ßo ehere ich yhn vnd seinen fursten. Den diener als einen furstlichen diener/vnd den fursten tzuuor an. Ehs ist auch keiner leuckē/das im alß einē diener/eygē ehere beschicht. Alßo wen ich ein bild ehre vō gottis wegē/ßo ehere ichs doch warhafftiglich/das got verbotten hat.7
Doch aus solchen Überlegungen folgende Forderungen nach einer gänzlichen Abschaffung des Zeremoniellen oder sogar deren gewaltsame Durchsetzung (Bildersturm), um Missbräuche zu vermeiden, stoßen bei Luther auf Kritik:
6 | Martin Luther, »Von der falschen Betler buberey«, in: WA, Bd. 26, Weimar 1909, S. 638-654, hier S. 638. 7 | Andreas Karlstadt, Von abtuhung der Bylder/Vnd das keyn Betdler vnther den Christen seyn soll, Bonn 1911, S. 7f.
Schauspiele und Sauspiele […] was ich dauon hielte, Das der pfarrher vnd prediger die leute bewegten vnd vnrugig machten, da sie lieder vnd gesenge des palmentags vnd ander mehr Narren werck vnd Lotter reymen schelten. Solchs hore ich nicht gern, Vnd sorge, Es kücke ein geistlin heraus, der raüm sucht, ettwas sonderlichs zu machen. Solche neutralia, weil sie ynn vnschedlichen brauch vnd nicht ergerlich, Solt man lassen gehen, […]8
Die in dieser und ähnlichen Aussagen anklingende Relativierung der Kritik an performativen Praktiken geht m.E. auf eine bei Luther stärker ausgeprägte Akzeptanz der Materialität von Zeichen zurück. Deutlicher noch als im Bereich religiöser Praktiken zeigt sie sich in Luthers Verteidigung repräsentativer Praktiken der weltlichen Obrigkeit. Als 1524/25 die Bauern mit ihrer Erhebung versuchen, gerade die antirepräsentativen Tendenzen von Luthers Lehre in die Praxis umzusetzen und damit an der Herrschafts- und Sozialordnung rütteln, entgegnet Luther mit aller Schärfe: [F]ur die rohen leute, fur er Omnes, mus mans auch leyblich und groͤ blich treyben, das sie seyne [des Gesetzes] werck thun und lassen und also mit gezwang unter dem schwerd und gesetz eusserlich frum seyn muͤ ssen, wie man die wilden thiere mit keten und kercker hellt, das eusserlicher fride unter den leutten bleybe, dazu denn welltliche oͤ berkayt verordenet ist, die Gott darynn will geehret und gefurchtet haben.9
Zeichen und repräsentative Praktiken, so wird auch in Luthers Auslegung des 101. Psalms deutlich, sind für die Aufrechterhaltung der ständischen Ordnung unverzichtbar, ihr Fehlen ebnet die gottgegebene und -gewollte Ungleichheit ein und erzeugt Unordnung und Aufruhr: Wenn das natuͤ rliche recht und vernunfft jnn allen koͤ pffen steckte, die menschen koͤ pffen gleich sind, So kundten die narren, kinder und weiber eben so wol regirn und kriegen als David, Augustus, Hannibal […], Ja, alle menschen muͤ sten gleich sein und keiner uber den andern regirn. Welch ein auffrur und wuͤ st ding solt hieraus werden? Aber nu hats Gott also geschaffen, das die menschen ungleich sind und einer den andern regirn, einer dem andern gehorchen sol.10
Das Dilemma lautet also: Der Verzicht auf theatrale Praktiken endet womöglich in Chaos und Anarchie, ihr Gebrauch öffnet dem Betrogen- und Getäuscht-Werden Tür und Tor. Dennoch scheint Luther in zunehmendem Maße für deren Gebrauch zu plädieren, wobei er schädliche ›Nebenwirkungen‹ wie den Vorwurf des Betrugs und der Täuschung bewusst in Kauf zu nehmen scheint: In den Jah8 | Martin Luther, »Brief an Fürst Georg von Anhalt. Wittenberg, 5. April 1543«, in: WA.B, Bd. 10, Weimar 1947, S. 286. 9 | Martin Luther, »Wider die himmlischen Propheten, von den Bildern und Sakrament«, 1. Teil, in: WA, Bd. 18, Weimar 1908, S. 62-125, hier S. 66. 10 | Martin Luther, »Der CI. Psalm«, in: WA, Bd. 51, Weimar 1914, S. 200-264, hier S. 212.
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ren 1516/17 hatte Luther in seiner Erklärung der Zehn Gebote den Wittenbergern zum achten Gebot noch eingeschärft, dass es jegliche Lüge verbiete. Er zitiert in diesem Zusammenhang eine – wohl auf Augustinus’ De mendacio zurückgehende – Unterscheidung dreier Arten von Lügen, die verderbliche zum Schaden des Nächsten, die pflichteifrige (Not-)Lüge als Ausrede und die scherzhafte; zu letzterer bemerkt er: Iocosum proprie non est mendacium, quia statim percipitur esse mendacium nemosque fallitur, et ille etiam, qui sic mentitur, intendit sic loqui, ut appareat false loqui et nugari. Est tamen peccatum, scilicet turpiloquium seu scurrilitas et vaniloquium.11
Diese Unterscheidung greift Luther 1539 in seiner Genesis-Vorlesung erneut auf. Von der Sündhaftigkeit scherzhafter Rede, deren Gebrauch Luther mehr als 20 Jahre zuvor unter Bezug auf Eph 5,4 noch getadelt hatte, ist nun keine Rede; vielmehr heißt es: Disputant autem in scholis de triplici mendatio, iocoso, offitioso et pernicioso seu probroso, sed revera unum tantum mendatii genus est, quod nocet proximo, vel in anima, ut Satanae mendatium, vel in corpore, vel rebus et fama. Nam iocosum mendatium, ubi simulamus aliquid pertinet ad iuventutem instituendam. Ut cum recitantur eis fabellae, cum terrentur ceu in scoena fictis personis.12
Die Betonung der Nützlichkeit uneigentlichen Redens im pädagogischen Gebrauch erinnert bereits stark an die eingangs erwähnte Billigung Luthers von Schauspielen in der Schule. Beide Einschätzungen der scherzhaften Lüge – ›Possenreißerei‹ und ›leeres Geschwätz‹ hier, Mittel zur ›Unterrichtung der Jugend‹ da – scheinen mir auch eine frappante Ähnlichkeit zu Gottfried Hoffmanns Differenzierungsbemühungen zweier Arten von Comödien aufzuweisen. Ich möchte behaupten, dass der offensichtliche Wandel in der Einschätzung performativer 11 | »Die scherzhafte ist eigentlich keine Lüge, weil sie sofort als Lüge wahrgenommen und niemand getäuscht wird und jener auch, der so lügt, beabsichtigt so zu sprechen, dass es als falsches Sprechen und Scherzen erscheine. Sie ist dennoch Sünde, nämlich unzüchtiges Reden, Possenreißerei und leeres Geschwätz.« Martin Luther, »Decem praecepta Wittenbergensi praedicata populo«, in: WA, Bd. 1, Weimar 1883, S. 398-521, hier S. 510. [Übers. C.K.]. 12 | »Sie disputieren auf den Universitäten auch von der dreifachen Lüge, der scherzhaften, der pflichteifrigen und der verderblichen oder schändlichen, aber tatsächlich gibt es nur eine Art von Lüge, nämlich, die dem Nächsten schadet, entweder an der Seele, wie eine Lüge Satans, oder an der Person, oder an Besitz und Ruf. Denn die scherzhafte Lüge, wo wir etwas vorgeben, dient zur Unterrichtung der Jugend. Wie wenn ihr Fabeln vorgelesen werden, oder so, wie sie auf der Bühne durch erdichtete Personen erschreckt werden.« Martin Luther, »Genesis. Caput XX«, in: WA, Bd. 43, Weimar 1912, S. 101-137, hier S. 109. [Übers. C.K.].
Schauspiele und Sauspiele
Praktiken im Alltagsgebrauch, der sich hier am Beispiel der ›scherzhaften Lüge‹ gezeigt hat, auf die Einbettung in divergierende Diskurse zurückzuführen ist.
IV. Folgt man dieser These, dann ist Luthers Überführung performativen Handelns in ein Nützlichkeitsdenken als eine Strategie der Bändigung potenziell gefährlicher Praktiken durch andere, theaterfremde Ordnungsmuster anzusehen. Gutes, d.h. nützliches Theater speist sich nicht aus den vorgefundenen theatralen Formen (religiöse Zeremonien, giullareske Praktiken, höfische Repräsentation oder Betteltechniken) und deren sozial-kommunikativen Zusammenhängen, sondern muss durch die Implementierung von Dispositiven aus anderen, theaterfernen Diskursen erst erzeugt werden. Das bedeutet auch, dass für die Reformatoren eine positive Konnotation theatraler Formen mit deren Herauslösung aus konkreten Handlungszusammenhängen und sozialen Praktiken (wie Festen) verbunden ist. Die reformatorischen Dekontextualisierungsbemühungen zeigen sich im Vergleich zu den Verortungsbemühungen von Theater im humanistischen Diskurs deutlich: Der Straßburger Humanist Jacobus Micyllus zieht ohne zu zögern in seinen poetologischen Überlegungen zur Tragödie, die in eine Euripides-Edition von 1562 aufgenommen werden, Parallelen zwischen antiken und zeitgenössischen Theaterpraktiken: Vsus autem Tragoediarum olim ad deorum honores praecipuè pertinebat quarum festiuitatibus & sacris huiusmodi fabulae potissimùm adhibebantur: perinde ut & nostra aetate diuorum historiae gestu & imitatione alibi repraesentantur, multumque adeò ex antiquo isto fabularum ritu etiam ad nostras ceremonias demanasse uidetur.13
Während im humanistischen Diskurs das Fortleben antiker Traditionen im Sinne der Formel translatio imperii, studii et artium positiv bewertet werden kann, ist das aus religiöser Perspektive kaum möglich: Hier ist die antike Theatergeschichte wegen jener engen Bindung an den ›heidnischen Götzendienst‹ v.a. eine Negativgeschichte von Theater. Die Verdammungsurteile der Kirchenväter14 und der 13 | »Der Gebrauch der Tragödien diente einst vor allem der Verehrung der Götter, bei deren Festen und Opferhandlungen solche Schauspiele vornehmlich eingesetzt wurden, so wie in unserer Zeit anderswo Heiligengeschichten durch Gebärden und Nachahmungen dargestellt werden, und vieles jener alten Art der Schauspiele scheint auch in unsere Zeremonien eingeflossen zu sein.« Jacobus Micyllus, »De tragoedia et eius partibus προλεγόμενα quaedam«, in: Casparus Stiblinus (Hg.), Evripides Poeta Tragicorū Princeps, in Latinum sermonem conuersus, adiecto eregionè textu Græco […], Basel 1562, Sp. 670-679, hier Sp. 676. [Übers. C.K.]. 14 | Hier als Beispiel die Einschätzung, die Isidor von Sevilla in seinen enzyklopädischen Etymologiae gibt, die das Wissen bis in die Frühe Neuzeit hinein prägten: »De horum
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Konzilien seit der Spätantike werden zwar von den Reformatoren nicht explizite aufgegriffen; die negative Wertung theatraler Praktiken als unnütze Leichtfertigkeit bleibt jedoch präsent und verhindert das Anknüpfen an deren traditionellen sozial-kommunikativen Zusammenhang. Setzt Luther historische und zeitgenössische Praktiken gleich, wie bei seiner Erklärung von Eph 5,4 (»auch schandbare wort, narren teydinge, Schertz und was sich zur sachen nicht reymet«), so eröffnet er einen Horizont, der es Hoffmann mehr als 150 Jahre später ermöglicht, eine bestimmte Art von Spielen als »schändliche Wollust« abzuwerten: Und sonderlich waren die Kriechen leychtfertig und geubt ynn solchem stuck [der unzüchtigen Rede], wie das die Poeten und schreyber noch wol anzeygen. […] ›Narrentheydinge‹ sind die fabeln und merlin und ander geschwetz. Der die Kriechen sonderlich fur andern vol sind und geschickt dazu solche zu ertichten, wie bey uns sind die merlin, so die weyber und megde bey dem rocken spinnen sagen. Item wie die lotterbuben spruͦ che haben.15
V. Neben der Überführung theatraler Praktiken in andere (v.a. moralpädagogische) Diskurse erwägt Luther zudem die Möglichkeit, eine Positivgeschichte der Künste – auch von Theater – zu etablieren. So schreibt er in seiner Gesangbuch-Vorrede von 1524, dass er »nicht der meynung [sei], das durchs Euangelion sollten alle ku nͤ ste zu boden geschlagen werden und vergehen, wie ettliche abergeystlichen fur geben. Sondern ich wollt alle ku nͤ ste, […] gerne sehen ym dienst des, der sie geben und geschaffen hat.«16 Für das Fehlen einer Positivgeschichte theatraler exercitatione ludorum. Haec quippe spectacula crudelitatis et inspectio vanitatum non solum hominum vitiis, sed et daemonum iussis instituta sunt. Proinde nihil esse debet Christiano cum Circensi insania, cum inpudicitia theatri, cum amphitheatri crudelitate, cum atrocitate arenae, cum luxuria ludi. Deum enim negat qui talia praesumit, fidei Christianae praevaricator effectus, qui id denuo appetit quod in lavacro iam pridem renuntiavit; id est diabolo, pompis et operibus eius. [Von der Ausübung dieser Spiele. Diese Schauspiele der Grausamkeit und der Anblick der Eitelkeit sind freilich nicht allein durch menschliche Laster, sondern auf Geheiß der Dämonen eingerichtet worden. Also soll ein Christ nicht der Raserei des Zirkus, der Unzucht des Theaters, der Grausamkeit der Amphitheater, dem Schrecken der Arena, der Verschwendung der Spiele beiwohnen. Denn Gott verleugnet, wer das wagt; er ist zum Übertreter des christlichen Glaubens geworden, der das erneut begehrt, dem er schon zuvor in der Taufe abgeschworen hat, nämlich dem Teufel, seinen Festzügen und Werken.]« Isidor von Sevilla, »De bello et ludis«, in: Ders., Etymologiarum sive originum libri XX, Bd. 2, Oxford 1957, o. S. (Liber XVIII, hier §59), [Übers. C.K.]. 15 | Martin Luther, »Am dritten Sontage ynn der fasten Epistel. Zun Ephesern am 5.«, in: WA, Bd. 17/2, Weimar 1927, S. 205-221, hier S. 208f. 16 | Martin Luther, »Vorrhede Martini Luther«, in: WA, Bd. 35, Weimar 1923, S. 474f., hier S. 475.
Schauspiele und Sauspiele
Praktiken aus christlicher Perspektive, die deren Nützlichkeit für das Gemeinwesen betont, findet Luther eine originelle Lösung: In den Vorreden zu den in der protestantischen Tradition apokryphen alttestamentarischen Büchern Judit und Tobias entwirft er eine Poetik szenischer Spiele: Aufgrund philologischer Erwägungen, schreibt er, sei er zu dem Schluss gekommen, dass diese Bücher im Gegensatz zu den kanonischen Texten erfundene Begebenheiten, ein »geticht«, zum Inhalt hätten, und nicht als historischer Bericht, als »geschicht«, zu verstehen wären. Daran entwickelt Luther eine verblüffende Theorie über die Ursprünge von Theater; es sei zuuermuten, das solcher schoner geticht vnd spiel, bey den Juden viel gewest sind, darinn sie sich auff ire Feste vnd Sabbath geubt, vnd der jugent also mit lust, Gottes wort vnd werck eingebildet haben, sonderlich da sie inn gutem friede vnd regiment gesessen sind, Denn sie haben gar treffliche leute gehabt, als propheten, senger, tichter vnd der gleichen, die Gottes wort vleissig vnd allerley weise getrieben haben, Vnd Gott gebe, das die Griechen ire weise, Comedien vnd Tragedien zu spielen, von den Juden genomen haben, Wie auch viel ander Weisheit vnd Gottes dienst etc.17
Die Verortung des Entstehens von Theater in der jüdischen Kultur ist – soweit ich sehe – singulär. Neben dem auch heute noch bekannten Ursprungsmythos von den Theateranfängen im antiken Griechenland, den u.a. Philipp Melanchthon favorisiert,18 existiert seit antiker Zeit eine konkurrierende Theorie der kleinasiatischen ›Erfindung‹, die infolge mittelmeerischer Migrationsbewegungen die Spiele im italischen Raum präge.19 Doch seit die spätantike christliche Apologetik 17 | Martin Luther, »Vorrhede auffs Buch Tobia«, in: WA.DB, Bd. 12, Weimar, S. 108 u. 110, hier S. 108. 18 | »Saepe de hominum moribus et de disciplina cogitans, Graecorum consilium valde admiror, qui initio Tragoedias populo proposuerunt. [Ich denke oft über den Lebenswandel der Menschen und die Erziehung nach und bewundere die Klugheit der Griechen sehr, die als erste dem Volk Tragödien vorgestellt haben.]« Philipp Melanchthon, »Epistola de legendis Tragoediis et Comoediis«, in: Philippi Melanchthonis opera quae supersunt omnia, Bd. 5, Halle 1838, Sp. 567-572, hier Sp. 567. Melanchthon steht mit seiner Einschätzung im Übrigen nicht in der humanistischen Tradition seines Großonkels Johannes Reuchlin, sondern legitimiert seine Wertschätzung der griechischen Tragödie nach Luthers Vorbild pädagogisch, wenn er fortfährt: »nequaquam ut vulgo estimatur, tantum oblectationis causa [keineswegs, wie man gemeinhin annimmt, zur bloßen Unterhaltung]«. 19 | »Ludi a Lydis initium sumpsisse creduntur, qui ex Asia venientes, in Etruria consederunt sub Tyrreno duce; ibique inter cæteros superstitionum suarum ritus, spectacula instituerunt; quem morem Romani imitati sunt, accersitis inde artificibus, indeque ludi a Lydis vocati sunt. [Man glaubt, dass die Spiele bei den Lydern ihren Anfang nahmen, die sich – aus Asien kommend – unter ihrem Anführer Tyrrhenus in Etrurien niederließen. Und wo sie, neben vielen ihrer abergläubischen Bräuche, die Schauspiele begannen. In dieser
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die Frage nach dem Wert der Errungenschaften der griechisch-römischen Kultur aufgeworfen hatte, waren auch die Kulturen der Ägypter, Chaldäer und auch der Hebräer als konkurrierende Wissensquellen in den Blick gekommen.20 Unter den Humanisten der Reformationszeit ist es Johannes Reuchlin, der auf die Bedeutung jüdischer Kultur und Wissenschaft für den abendländischen Kulturkreis hinweist, ohne allerdings theatrale Praktiken zu berücksichtigen: Quo vehementissime suspicamur verum esse, quod asserunt viri doctissimi et variarum linguarum periti, Iudaeorum quaeque tam recepta quam inventa exponi alienis furtis hinc Graecorum inde Latinorum nihilque nostrum esse in philosophia, quod non ante Iudaeorum fuerit, quantumvis hoc seculo adimatur eis merita gloria et nunc universa eorum contemnantur, quoniam praesens aetas omnium studiorum explicationem magis illustrem perpolitamque desyderat.21
Nicht zuletzt an der Vielfalt möglicher Traditionszusammenhänge wird deutlich, dass deren nachträgliche Konstruktion keine unparteiische Analyse vorhandenen Materials, sondern eine Bewertung von Kulturleistungen und die Konstruktion von Geschichte(n) im Sinne des eigenen kulturellen Selbstverständnisses bedeutet.22 Man darf vermuten, dass auch Luthers Herleitung von Theater aus dem jüdischen Ritus den Versuch einer legitimierenden Traditionskonstruktion darstellt und damit auf eine konsistente Theorie theatraler Praktiken abzielt. Sie beschränkt sich nicht nur auf eine Ursprungstheorie, sondern erstreckt sich auch auf Wirkungs- und Funktionsmechanismen. Es handelt sich um eine Neuimplementierung, die gegen die traditionellen, sozial-kommunikativen Praktiken die Praxis zu einem theaterfernen theoretischen Diskurs überhaupt erst erfindet, der als religiös-moraldidaktischer zu bestimmen ist. Die Verbindung von theaterferSitte wurden sie von den Römern nachgeahmt. Und deshalb wurden, nach den Schöpfern, die sie eingeführt hatten, die Spiele (ludi) nach den Lydern benannt.]« Hugo von St. Viktor, »Eruditionis didascalicæ libri septem«, in: Patrologia latina. Bd. 176: Hugo de St. Viktor, Paris 1834, Sp. 739-838, hier Sp. 767, [Übers. C.K.]. 20 | Vgl. dazu Franz Josef Worstbrock, »Translatio artium. Über die Herkunft und Entwicklung einer kulturhistorischen Theorie«, in: Archiv für Kulturgeschichte 47 (1965), S. 1-22, bes. S. 5. 21 | »Deshalb hege ich ganz heftig den Verdacht, dass es wahr ist, was einige hochgelehrte und mehrere Sprachen beherrschende Autoren behaupten, nämlich dass die gesamte Überlieferung und alle Erkenntnisse der Juden durch die fremde Aneignung einerseits der Griechen, andererseits der Lateiner vorliege und dass kein einziger philosophischer Inhalt unser Eigentum sei, der nicht vorher den Juden gehört habe – so sehr man ihnen auch in dieser Epoche den verdienten Ruhm abspricht und an ihnen alles insgesamt verachtet, weil unsere Gegenwart sich die Darstellung aller Wissenschaften glanzvoller und ausgefeilter wünscht«. Johannes Reuchlin, De arte cabbalistica libri tres/Die Kabbalistik in 3 Büchern, hg. v. Widu-Wolfgang Ehlers u. Fritz Felgentreu, Stuttgart 2010, hier S. 176f. 22 | Vgl. Worstbrock, »Translatio artium«, S. 7.
Schauspiele und Sauspiele
ner Legitimation und religiöser Fundierung der Praxis feiert in der praktischen Umsetzung als protestantisches Schultheater beinahe 200 Jahre Erfolge. Das religiöse Fundament allein ist jedoch zu schwach, um den Theaterdiskurs theoretisch zu prägen. Luthers Ursprungstheorie findet keine Fortführung; nur ganz vereinzelt finden sich ihre Spuren bei Autoren außerhalb des Schultheaterumfeldes.23 Am Ende des 17. Jahrhunderts trifft sie auf vehemente Ablehnung: Pietistische Angriffe stellen Luthers Autorität in Abrede; neben vielen anderen nennt der Rektor des Gothaer Gymnasiums Gottfried Vockerodt die These vom jüdischen Ursprung von Theater eine »uͤbel gegru ͤndet[e] […] Muthmassung Lutheri«.24 Als weit erfolgversprechender erwies sich die Legitimation von Theater über theaterfremde Diskurse: Die je vorfindliche Praxis ließ sich als schädlicher Missbrauch diskreditieren, ohne einen theoretischen Nutzen von Theater aufgeben zu müssen; zugleich war sie anpassbar an sich wandelnde Anforderungen an Theater – mit Auswirkungen auf den Theaterbegriff bis weit ins 18. Jahrhundert hinein.
23 | Eines der seltenen Beispiele ist Johann Christoph Wagenseils Chronik der Stadt Nürnberg: »Ludorum Scenicorum usus apud Judæos fuit antiquissimus, ac iis, nisi fallor, debet originem. [Der Gebrauch der szenischen Spiele unter den Juden ist sehr alt gewesen, wenn ich mich nicht täusche, verdankt sich ihnen ihr Ursprung]«. Johann Christoph Wagenseil, De Sacri Rom. Imperii Libera Civitate Noribergensi Commentatio. Accedit, De Germaniæ phonascorvm Von Der Meister=Singer/origine, præstantia, vtilitate, et institvtis. Sermone vernacvlo liber, Altdorf 1697, hier S. 166. 24 | Gottfried Vockerodt, Mißbrauch der freyen Ku nͤ ste, insonderheit der Music […], Franckfurt 1697, S. 131.
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Spiel-Handwerk Die theatrica des Hugo von St. Viktor als Epistemologisierung ludischer Handlungen im 12. Jahrhundert Michael A. Conrad
Spielmechanik Spielhandlungen lassen sich als materiell-diskursive Praktiken beschreiben.1 Während das Regelsystem der diskursiven Seite zugeschlagen werden kann, gehören der spielinterne, praktische Umgang mit Spielobjekten, wie zum Beispiel das Bewegen von Spielfiguren auf einem Spielbrett oder das Werfen von Würfeln, sowie die spielexterne Produktion dieser Gegenstände zum Bereich materieller Praktiken. In den Game Studies wird die materielle Dimension ludischen Handelns besonders intensiv im Zusammenhang mit dem Begriff der »Spielmechanik« diskutiert. Das multidisziplinär angelegte Forschungsgebiet existiert ungefähr seit den 1990er Jahren.2 Angesichts der Diversität von Methoden und Theorieansätzen der noch weitgehend ›wilden‹ Disziplin, die sich zurzeit vor allem in Online-Journals und digitalen Forschungsnetzwerken organisiert, ist eine allgemeine Definition schwierig. In seiner Einleitung versucht der Finne Frans Mäyrä gleichwohl, Anliegen und Gegenstandsbereich der Game Studies auf den Punkt zu bringen: »[G]ame studies is a multidisciplinary field of study and learning with games and related phenomena as its subject matter«.3 Jedoch macht Mäyrä darauf aufmerksam, dass eine Homogenisierung der vielfältigen Methoden und Theorieansätze derzeit aussichtslos sei.4 Ihrem Gegenstandsbereich nach beschränken die Game Studies sich nicht, wie oft angenommen, auf Computerspiele, sondern beschäftigen sich mit allen möglichen Kulturphänomenen, die sich unter dem 1 | Vgl. Karen Barad, Agentieller Realismus. Über die Bedeutung materiell diskursiver Praktiken, Berlin 2012. 2 | Benjamin Beil, Game Studies – eine Einführung, Münster 2013, S. 1. 3 | Frans Mäyrä, An Introduction to Game Studies. Games in Culture, Los Angeles u.a. 2008, S 6. 4 | Ebd.
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semantisch weiten Begriff game subsumieren lassen.5 Zwar konzentriert die konkrete Forschungsaktivität sich tatsächlich mehrheitlich auf Computerspiele, doch erfasst die Diskussion daneben, wenngleich in weitaus geringerem Maße, auch analoge Spielformen. Dabei wäre gerade eine intensivierte Untersuchung von konventionellen Spielformen im Rahmen der Game Studies wünschenswert, da dadurch Ursprünge und Gemeinsamkeiten zwischen traditionellen Spielformen und Computerspielen präziser und klarer herausgearbeitet werden könnten. Auch wenn die Game Studies somit ein noch recht junges Forschungsgebiet in einem frühen Stadium der Institutionalisierung darstellt, werden manche ihrer Themen bereits seit einiger Zeit auch innerhalb der Theaterwissenschaft rege diskutiert.6 Das hat freilich mit der Existenz einer kulturwissenschaftlichen Spielforschung zu tun, die bereits auf eine längere Geschichte zurückblicken kann. Diese hatte spätestens durch Johan Huizingas Veröffentlichung des Homo ludens im Jahre 1938 richtungsweisende, revitalisierende Impulse erhalten, welche seither auch die Theaterwissenschaft erfasst haben.7 Die derzeitige Prominenz des Begriffs der Spielmechanik in den Game Studies dürfte indes insofern wenig überraschen, als es seit den Anfängen von Computerspielen zu einer Vermehrung und Standardisierung von Interfaces gekommen ist, dank derer Spieler handelnd in die virtuellen Spielwelten eingreifen können. Bekannteste Beispiele sind Joystick und Tastatur, wobei die funktionale Belegung von Tasten und anderen Steuerelementen von Spiel zu Spiel divergieren kann, sodass ein- und dasselbe Interface verschiedene Spielmechaniken aufzunehmen imstande ist. Mit den Interfaces vermehren sich also auch die Möglichkeiten von Spielmechaniken. Das freilich erschwert eine allgemeine Definition; Miguel Sicart nimmt sich dennoch einer solchen an: »Game mechanics are methods invoked by agents for interacting with the game world.«8 Dabei erörtert er auch die Differenz 5 | Zur Unterscheidung von game und play vgl. Elliott M. Avedon/Brian Sutton Smith (Hg.), The Study of Games, New York u.a. 1971, S. 7. 6 | So organisieren bspw. Benjamin Beil und Sascha Förster seit 2013 die Stage-Reihe am Institut für Medienkultur und Theater der Universität Köln, die sich explizit mit Fragen an der Schnittstelle zwischen Theaterwissenschaft und Game Studies beschäftigt. Auch Einzelsektionen des Summer Institute Cologne [sic!] widmeten sich bereits diesen Themen, vgl. die Homepage des Instituts: http://mekuwi.phil-fak.uni-koeln.de vom 07.05.2016. 7 | Johan Huizinga, Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek bei Hamburg 2001. Aus den zahlreichen theaterwissenschaftlichen Publikationen zu den vielfältigen Wechselbezügen zwischen Spiel und Theater sei hier nur an die Arbeiten Helmar Schramms erinnert, der sich zeitlebens mit diesem Thema auseinandersetzte, z.B. in: Karneval des Denkens. Theatralität im Spiegel philosophischer Texte des 16. und 17. Jahrhunderts, Berlin 1996, bes. S. 243-249; Ders., »Feuerwerk und Raketentechnik um 1700«, in: Ders. et al. (Hg.), Bühnen des Wissens. Interferenzen zwischen Wissenschaft und Kunst, Berlin 2003, S. 183-213. 8 | Miguel Sicart, »Defining Game Mechanics«, in: Game Studies. The International Journal of Computer Game Research 8/2 (2008), http://gamestudies.org/0802/articles/
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von Mechanik und Regel: »rules are normative, while mechanics are performative«.9 Das heißt: Das Mechanische am Spiel ist, im Hinblick auf seinen zeitlichen Vollzug, stets performativ, das Regelsystem hingegen ist überzeitlich, es liegt gewissermaßen jenseits und außerhalb jeder konkreten Spielzeit. Die Regeln des Spiels disziplinieren seine Performanz, wohingegen das Spiel durch seine Performanz die Regeln aktualisiert, affirmiert und legitimiert. Aufgrund der durch das Auf kommen der Computerspiele bedingten historischen Veränderungen könnte eine Sensibilität für das Spielmechanische als modernes Phänomen erscheinen. Doch lässt sich ein solch ›mechanischer‹ Blick bereits viel früher, nämlich beim Theologen Hugo von St. Viktor (ca. 1097-11. Februar 1141) beobachten. Seine Überlegungen markieren einen frühen kultur- und wissenshistorischen Punkt, von dem an Spiele als epistemische Gegenstände wahrgenommen wurden und im Rahmen der Mechanik mit der theatrica sogar eine eigene Disziplin zugewiesen bekamen.
Die theatrica des Hugo von St. Viktor Hugo von St. Viktor war Abt des philosophie- und wissenschaftshistorisch äußerst bedeutsamen Klosters St. Viktor zu Paris. Martin Grabmann bezeichnet ihn als die »imposanteste Theologen-Gestalt von Anselm bis zum Zeitalter des hlg. Thomas von Aquin«.10 Mit seinem Didascalicon de studio legendi, wohl um 1128 vollendet, schafft Hugo ein wirkmächtiges Handbuch für das Theologiestudium. Zwar sieht der Lehrplan vor allem das Erlernen der sieben artes liberales vor (Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Geometrie, Arithmetik, Musik und Astronomie), doch sollen Studierende auch mit den sieben mechanischen Künsten (artes mechanicae) vertraut gemacht werden, denen Hugo ein eigenes Kapitel widmet. Sie gehören zu den vier fundamentalen Wissensformen: theoretisches, praktisches (d.h. vor allem moralisches), mechanisches und logisches Wissen. Es handelt sich hierbei um die von Hugo selbst aufgestellte Reihenfolge, obgleich die Mechanik in seiner Wissenshierarchie den untersten Platz einnimmt.11 Hugos Erörterungen gipfeln darin, dass die Einteilung der Wissenschaften auf das Wirken göttlicher sicart vom 20.08.2015. Ähnlich lautet eine Definition Peter Scheinpflugs. Diesem zufolge beinhalte Spielmechanik »die vorprogrammierten Bedingungen und Möglichkeiten der Interaktion mit der Spielwelt […], wobei der Steuerung des digitalen Avatars zumeist eine besondere Relevanz zukommt«. Peter Scheinpflug, Genre-Theorie – eine Einführung, Münster 2014, S. 74. 9 | Sicart, Defining, o. S. 10 | Martin Grabmann, Geschichte der scholastischen Methode, Bd. I, Freiburg i.Br. 1909, S. 254. 11 | Vgl. Hugo von Sankt Viktor, Didascalicon de studio legendi. Studienbuch, Lateinisch – Deutsch, Freiburg u.a. 1997, II, 1, S. 156-159. Hugo bezeichnet die Mechanik als »unechte Wissenschaft, weil sie sich mit menschlichen Werken beschäftigt«, ebd., S. 159.
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Gnade zurückgehe. Alle Wissensformen verfügen demnach über eine heilsrelevante Bedeutung, auch wenn diese bei den oberen drei Wissensformen intensiver ausgeprägt ist als bei der Mechanik. Sie alle schützen gegen die drei Unzulänglichkeiten menschlichen Daseins: Unwissenheit, Laster und körperliche Schwäche, denen Hugo Weisheit, Tugend und die notwendige Lebenserhaltung durch Arbeit gegenüberstellt.12 Als Heilmittel (remedia) sollen die vier Wissensformen die Folgen des Sündenfalls mildern.13 Peter Sternagel interpretiert Hugos Dreiteilung von theoretischem, praktischem und mechanischem Wissen als Erweiterung der peripatetischen Zweiteilung in theorica und practica unter Hinzunahme der poetica. Diese poetica bezieht sich, der berühmten aristotelischen Unterscheidung folgend, auf alle herstellenden Handlungen, von ποίησις (»Machen«), im Unterschied zu πρᾶξις (»Handeln«).14 Den Platz der poiesis nimmt bei Hugo die mechanica ein. Er ergänzt sein Philosophiekonzept und rundet es ab durch die Aufnahme der Logik in seine Systematik. Analog zum Modell der artes liberales teilt Hugo die Mechanik in ebenfalls sieben Künste ein: »die Tuchherstellung [lanificium], die Waffenschmiedekunst [armatura], die Handelsschiffahrt [navigatio], die Landwirtschaft [agricultura], die Jagd [venatio], die Medizin [medicina] und die Theaterkunst [theatrica]«.15 Den Namen artes mechanicae verwendet Hugo übrigens nicht selbst; dieser setzt sich erst in der späteren Rezeption durch. Er spricht von scientiae mechanicae, jedoch verwendet er scientia und ars meist synonym.16 Im Rahmen seiner Wissenseinteilung, die als Leitfaden für das Theologiestudium gedacht war, ist indes allein die theoretische Seite der mechanischen Künste relevant, die ratio. Aspekte der real-konkreten Ausführung, die administratio, interessieren ihn kaum: agriculturae ratio philosophi est, administratio rustici.17 Obzwar in dieser Aussage auch ein 12 | Vgl. Peter Sternagel, Die artes mechanicae im Mittelalter. Begriffs- und Bedeutungsgeschichte bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, Kallmünz 1966, S. 71 und Hugo von Sankt Viktor, Didascalicon, II, 20, S. 192-195; das ganze Kapitel II, 20 ist den mechanischen Künsten gewidmet, ebd., S. 192-207. 13 | Ebd. 14 | Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Reinbek bei Hamburg 2006, VI, 4, 1140a, S. 198: »Was anders sein kann, ist teils Gegenstand des Herstellens, teils des Handelns. Herstellen (poiesis) und Handeln (praxis) sind zweierlei.« 15 | Hugo von St. Viktor, Didascalicon, II, 20, S. 193. 16 | Eine der frühesten Einteilungen der mechanischen Künste nahm der irische Geistliche Johannes Scottus Eriugena im 9. Jahrhundert vor; vgl. Sternagel, Die artes mechanicae, S. 30-36; Jacques Le Goff, Time, Work, and Culture in the Middle Ages, Chicago 1980, S. 85; Michael Jansen/Frank Pohle, Die Künste am Hofe Karls des Grossen: artes liberales et artes mechanicae, Mainz 2000, S. 20. 17 | »Die Theorie der Landwirtschaft ist Sache des Philosophen, ihre Ausübung aber Sache des Landwirts«, Hugo von St. Viktor, Didascalicon, I, 4, S. 126f.; vgl. Sternagel, Die artes mechanicae, S. 68.
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wenig Standesdünkel mitschwingt, erfährt die Mechanik durch die Beachtung ihrer theoretisierbaren Anteile gleichwohl eine gewisse Aufwertung, umso mehr, als Hugo ihre ratio als ein Weg zur Naturerkenntnis bezeichnet.18 Die Hinwendung zum Spiel als epistemisches Objekt und seine Aufnahme in die Wissenssystematik bei Hugo hing eng mit dem historischen Phänomen vermehrter Stadtgründungen ab dem 12. Jahrhundert zusammen. Vor allem kam es erstens zu einer erhöhten Konzentration spielkultureller Phänomene auf engstem Raum, sodass diese im Stadtbild nahezu omnipräsent wurden. Zweitens gewannen Handwerk und Handel zunehmend an Ansehen. Infolgedessen wurden immer wieder Vorstöße unternommen, die höheren Bildungseinrichtungen dazu zu bewegen, auch handwerkliches und kaufmännisches Wissen in ihre Lehrpläne aufzunehmen. Am hartnäckigsten für dieses Ziel setzten sich die sogenannten »Cornifizianer« ein.19 Die Neubewertung der Spiele erfolgte im Zuge der Nobilitierung mechanischen Wissens.20 Diese ›Mechanisierung‹ führte zu einer Erweiterung des traditionellen Wissensbegriffs: Mit dem Handwerk wurde eine praktische Wissensform in die Wissensarchitektur integriert, die durch innere Kontingenz und mimetische Vermittlungsverfahren gekennzeichnet ist, weshalb diese, wie Hugo richtig erkannt hatte, nur partiell theoretisiert werden kann. In seinem heute noch wichtigen Artikel von 1965 stellt Władysław Tatarkiewicz fest, dass die theatrica wohl erstmals durch Hugo von St. Viktor in die scientiae me-
18 | Vgl. Sternagel, Die artes mechanicae, S. 68; Hugo von St. Viktor, Didascalicon, I, 9, S. 138-143. 19 | Der Protest der Cornifizianer bezog sich auch »auf Fortschritte auf technischem Gebiet in der Produktionssphäre. […] Zum erstenmal [sic!] stellte sich für das Mittelalter die Frage nach einem Abbau der Gegensätze von Theorie und Praxis für die Philosophie insgesamt nicht nur in einer ›Studentenrevolte‹. Die Viktoriner griffen die Problematik auf ihre Weise auf und versuchten eine Antwort und Lösung zu geben, um damit zugleich radikalen Trends den Weg zu verbauen«. Ernst Werner, Stadt und Geistesleben im Hochmittelalter, Weimar 1980, S. 157. Die artes mechanicae sollten an den Universitäten praktiziert werden; Philosophie sei »ex arte agere et fare concreto«, sodass ein wahrer Gelehrte auch in praktischen Angelegenheiten versiert sein müsse (ebd.). 20 | Sternagel betont, die besondere Leistung Hugos liege »in der systematischen Darstellung der mechanischen Fächer, ihrer Eingliederung in die Gesamtordnung der Wissenschaften sowie in der damit verbundenen Aufwertung des Wissensbereichs der Werk-Tätigkeiten. […] Mit Hugo von St. Viktor gewinnt der nunmehr eigenständige, mittelalterliche Begriff des ›Mechanischen‹ seine erste feste und gleichzeitig wirksamste Ausprägung«, Sternagel, Die artes mechanicae, S. 74. Hugo war wohl auch durch Augustinus inspiriert worden, vgl. Elspeth Whitney, »Paradise Restored. The Mechanical Arts from Antiquity through the Thirteenth Century«, in: Transactions of the American Philosophical Society 80/1 (1990), S. 1-169, hier S. 88.
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chanicae eingeführt worden war.21 Der Begriff besitzt kein passgenaues deutsches Äquivalent; eine Übersetzung mit »Theaterkunst«, wie im Zitat weiter oben, ist unzureichend. Die nachfolgende, von Hugo selbst gegebene Erläuterung führt weiter: Die theatrica ist scientia ludorum, was Tatarkiewicz mit »science of entertainment« übersetzt,22 eine Interpretation, die man sinngemäß auch in der deutschen Übersetzung Thilo Opfergelds wiederfindet: »Die Wissenschaft von der Unterhaltung [scientia ludorum] nennt man ›Theaterkunst‹, und sie hat ihren Namen vom Theater, wo das Volk gewöhnlich zu unterhaltsamen Vorführungen zusammenkam.«23 Mit seinen knappen Bemerkungen zum »Theater« bezog Hugo sich allerdings höchstwahrscheinlich nicht auf theatrale Praktiken seiner Zeit, sondern auf solche der Antike, von denen er vermutlich durch die Werke spätantiker Glossatoren unterrichtet war.24 Als einer der prominentesten Vertreter dieser Autoren wäre wohl Isidor von Sevilla zu nennen, dessen Etymologiae sive Origines aus dem 7. Jahrhundert n. Chr. nahezu das gesamte Mittelalter über als eine Art Enzyklopädie genutzt worden war und dessen 18. Buch sich auch mit dem antiken Spiel- und Theaterwesen beschäftigt.25 Auf das Theater nimmt Hugo nicht etwa deshalb Bezug, weil er davon ausgegangen wäre, es habe sich um den einzigen antiken Ort für Rekreation und Unterhaltung gehandelt; das Theater sei in dieser Hinsicht bloß besonders bevorzugt gewesen. Vom ersten Satz an fällt die historische Distanzierung durch eine beinahe durchgängige Verwendung des lateinischen Imperfekts auf. Von seiner eigenen Epoche aus blickt der Autor auf eine vergangene Unterhaltungskultur zurück, von der er kaum mehr wissen konnte als das, was ihm aus der Überlieferung bekannt war.26 Durch die gewählte sprachliche Form kommt eine Differenz zwischen eigener und antiker Spielkultur zum Tragen; damit ist dies zugleich eine aufschlussreiche Belegstelle für ein sich an Epochengrenzen orientierendes mittelalterliches Geschichtsbewusstsein.27 Vor allem betont das verwendete Imperfekt den Aspekt von Wiederholung und langanhaltender Zeitdauer. Hugos Haltung zur eigenen 21 | Vgl. Władysław Tatarkiewicz, »Theatrica, the Science of Entertainment. From the XIIth to the XVIIth Century«, in: Journal of the History of Ideas XXVI/2 (1965), S. 263-272, hier S. 265. 22 | Ebd. 23 | Hugo von St. Viktor, Didascalicon, II, 20, S. 205. 24 | Das sehr kurze Kapitel zur theatrica umfasst in der lateinischen Fassung der zitierten Ausgabe nur 22 Zeilen. Der einzige Satz zu Hugos Vorstellungen antiker Theaterpraxis wird weiter unten im Fließtext zitiert. 25 | Lenelotte Möller, Die Enzyklopädie des Isidor von Sevilla, Wiesbaden 2008. 26 | Neben der schriftlichen Überlieferung könnte Hugo auch Ruinen von Theatern und Amphitheatern gekannt haben, wie sie bis heute in vielen west- und südeuropäischen Städten existieren, wie z.B. das Kolosseum in Rom. 27 | Vgl. Josef Fleckenstein, »Zum mittelalterlichen Geschichtsbewusstsein. Bemerkungen zu einer Einheit und Mehrschichtigkeit«, in: Hermann Müller-Karpe (Hg.), Archäologie
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Spielkultur bleibt indes vage: Dachte er sich diese als Kontinuität oder als Bruch mit der Antike? Vonseiten der Patristik ergäbe sich ein eher ablehnender, distanzierender Gestus, galt vielen Kirchenvätern, wie etwa Augustinus und Tertullian, doch gerade das Theater als Brutstätte der Unmoral. Die unklare Bezugnahme zur eigenen Spielkultur steht in einer Spannung zur narrativen Strategie historischer Distanzierung: Wie wäre das im Verhältnis zur Vergangenheit Andere der eigenen Zeit zu charakterisieren? Spielorte bilden das Kriterium, unter dem Hugo die verschiedenen ludischen Praktiken kategorisiert. Die Aufzählung solcher loca ludendi weist nur wenig inhaltlichen Zusammenhang auf: Gespielt wurde in den Vorhallen von Häusern (in gabulis), Gymnasien (in gymnasiis), Amphitheatern (in amphicircis), auf Kampfplätzen (in arenis), bei Gastmählern (in conviviis) und in Tempeln (in fanis). Den Orten teilt Hugo eine aus heutiger Sicht beliebig wirkende Reihe ludischer, theatraler, musikalischer, sportlicher, ritueller und lyrischer Praktiken zu: Im Theater wurden die großen Tatenberichte rezitiert, in Form von vorgetragenen Dichtungen oder in dramatischer Darstellung durch Masken oder Puppen. In den Vorhallen führte man Chöre und Tänze auf; in den Gymnasien wurde gerungen; in den Amphitheatern fanden Wettrennen zu Fuß, zu Pferd und mit Wagen statt; auf den Kampfplätzen traten die Faustkämpfer auf. Bei den Gastmählern machte man Musik mit Liedern, Instrumenten und Gesängen und spielte Würfel[spiele]; in den Heiligtümern sang man zu den Festzeiten den Göttern Lobgesänge. 28
Wie zu sehen, umfasst der Spielbegriff (ludus) hier sowohl lyrische Rezitation als auch Masken- und Puppenspiel, Gesang, Kampfsportarten und Wettrennen, Gladiatorenkämpfe, Würfelspiele. Auch heidnische Rituale konnten offenbar so bezeichnet werden, wodurch subtil eine Differenz zur nicht explizit erwähnten christlichen Messe gezogen wird. Ob das allerdings zugleich als eine moralische und theologische Abwertung gedacht war, geht nicht klar aus dem Text hervor, würde aber einen normativen Gebrauch des Spielbegriffs voraussetzen. Angesichts der Überlegenheitsgefühle, die viele christliche Theologen gegenüber der heidnischen Kultur empfanden, wäre das eine zumindest wahrscheinliche Lesart. Heute wäre der weite ludus-Begriff wohl mit ›performative Handlung‹ oder ›Aufführungskunst‹ zu übersetzen. Ruft man sich in Erinnerung, dass Hugo die mechanischen Künste nach den theoretisierbaren Anteilen (ratio) und Aspekten und Geschichtsbewusstsein, München 1982, S 53-68; Hans-Werner Goetz, Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein im hohen Mittelalter, Berlin 2008. 28 | Hugo von St. Viktor, Didascalicon, II, 20, S. 205. Meine Ergänzung (Würfel[spiele]) weist darauf hin, dass im mittelalterlichen Latein mit alea sowohl reine Glücksspiele als auch Brettspiele bezeichnet werden konnten, die zwar gleichfalls Würfel benutzten, aber auch über strategische Elemente verfügten; vgl. Möller, Die Enzyklopädie, Buch XVIII, LX, S. 668.
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der konkreten Durchführung (administratio) unterscheidet, wird deutlich, dass er auch spielerische Handlungen als materiell-diskursive Praktiken auffasst. Die normativen und normierenden Regeln sind dabei in der ratio, Aspekte der Performanz in der administratio enthalten. Hugo nahm damit eine Unterscheidung vor, die auch für heutige Definitionen von Spielmechanik grundlegend ist, obgleich beispielsweise Sicart eine andere Ordnung und Gewichtung vornimmt: Er trennt die Mechanik, die bei ihm den performativen Aspekt abdeckt, von der normativen Seite. Für Hugo bilden Regeln und Performanz zwei Seiten derselben Medaille namens Mechanik. Nun wurde Hugos Spielbegriff vermutlich von demjenigen Isidors inspiriert, dessen eigene Weite besonders dann immer wieder für Konfusionen sorgte, wenn Theologen zwischen erlaubten und unerlaubten Spielen unterscheiden wollten. Da Debatten, um sinnvoll ausgetragen werden zu können, auf begriffliche Präzision angewiesen sind, führte das Bemühen um möglichst exakte moralische Unterscheidungen im weiteren Verlauf des Mittelalters nolens volens auch zu epistemischen Differenzierungen. So scheint ironischerweise gerade die moralische Auseinandersetzung maßgeblich zu einer Epistemologisierung der Spiele beigetragen zu haben. Hugos Überlegungen haben Teil an diesem historischen Prozess, was man besonders am Ende des theatrica-Kapitels sehen kann, wo er Begründungen dafür angibt, warum die beschriebenen Spiele einst zu den »erlaubten Handlungen« (legitimas actiones) gehörten: »Man zählte diese Unterhaltsamkeiten aber deshalb zu den erlaubten Handlungen, weil durch maßvolle Bewegung die natürliche Wärme des Körpers erhalten und durch Frohsinn der Geist erfrischt wird.«29 Hugo begnügt sich folglich nicht nur mit dem Aufstellen einer, obzwar groben, Spielsystematik, sondern will, zumindest in bestimmten Grenzen, auch historische Gründe für die Legitimation von Spielen angeben, zu denen auch die Erwägung humoralpathologischer Aspekte gehört.30 Ausgewogene Spielbewegungen führen zu einer ausgeglichenen Körpertemperatur, und diese zu Entspannung und Heiterkeit. Die auffällige Verwendung des Präsens an dieser Stelle deutet darauf hin, dass Hugo die humoralpathologische Wirkung als überzeitlich betrachtet und dass diese somit auch für seine Zeit gelte, womit sich eine Kontinuität zwischen Antike und seiner Zeit ergäbe, die spielerische Tätigkeit zugleich rechtfertigte. Doch erweist sich Hugos Einschätzung auf den zweiten Blick als keineswegs eindeutig. Der Umstand, überhaupt die Frage nach der Legitimität aufgeworfen zu haben, zeigt bereits an, dass Spiele unter einem 29 | Hugo von St. Viktor, Didascalicon, II, 20, S. 205. 30 | »Ludus has the same wide range of meaning in Latin that ›play‹ does in English, and Hugh tries to do justice to that extensiveness: his ›scientia ludorum‹ encompasses what we would call the performing arts, sporting events, games, even religious ritual. Their unifying justification, apparently for both performers and audience, is the physical or psychological satisfactions that emerge from play: the stimulation of bodily heat, the refreshment of the mind«. Tatarkiewicz, »Theatrica«, S. 266.
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gewissen Generalverdacht standen. Auch spricht Hugo sie nicht generell frei, wie man an seinem zweiten, sozialpolitisch gefärbten Argument ablesen kann: »Da es notwendig war, dass das Volk gelegentlich zu Vergnügungen zusammenkam, wollte man, dass bestimmte Plätze für diese Vergnügungen vorhanden seien, damit die Menschen sich nicht in Wirtshäusern versammelten und irgendwelche Schändlichkeiten oder Verbrechen begingen.«31 Die antike Praxis der Administration, der Bevölkerung regulierte Spielräume zu überlassen, wird als ein Verfahren zur Sicherung der öffentlichen Ordnung verstanden. Vor diesem Hintergrund erscheinen Spiele als das ›kleinere Übel‹, sind aber nicht per se wünschenswert. An keiner Stelle weist Hugo Spielhandlungen dezidiert einen Eigenwert zu; er rechtfertigt sie allein durch spielexterne, zweckrationale Nützlichkeitserwägungen.
Spiel – Mechanik Aus heutiger Sicht ist am Konzept der theatrica vor allem interessant, was Hugo verschweigt. So erfährt man nichts über konkrete Spielregeln, wie er sich auch sonst wenig für das Knowing How des Spiels interessiert – was natürlich auch mit seinem Desinteresse an der administratio zusammenhängt.32 Auf Isidor traf das nicht im selben Maße zu; gelegentlich gibt dieser durchaus Hinweise auf Spielregeln.33 Auch die Erlebnisdimension behandelt Hugo nicht explizit; doch weisen sowohl die Funktionszuweisung des Spiels als remedium als auch seine humoralpathologischen und sozialpolitischen Aussagen darauf hin, dass er wenigstens implizit um die Bedeutung des Spielerlebens wusste. Doch nähert Hugo sich dem Spiel aus einer distanzierten Außenperspektive an: Er verlagert seine Wahrnehmung vom sinnlich-leiblichen Spielerleben auf körperliche Oberflächenerscheinungen. Durch das Fehlen der phänomenalen Binnenperspektive erscheinen Spielhandlungen dann als ›mechanisch‹, als geistlose, repetitive Bewegungsabläufe. Die Emphase auf das Mechanische bei Hugo rückt die ›magische Verbindung‹ zwischen Spielern und Spielwelten in den Vordergrund, die durch ›Manipulation‹ von Spielobjekten (hier ist die Hand, manus, mitzudenken) hergestellt und strukturiert wird.34 Die Materialität der Spielzeuge schreibt sich in die mechanischen Spielabläufe ein, die ihren Sinn nur innerhalb des Spiels erhalten. Aus der Per31 | Hugo von St. Viktor, Didascalicon, S. 205f. 32 | Gilbert Ryle unterscheidet Knowing How als ein praxisbezogenes ›Wie-Wissen‹ und ein vollständig durch Propositionen ausdrückbares ›Dass-Wissen‹, vgl. Gilbert Ryle, »Knowing How and Knowing That: The Presidential Address«, in: Proceedings of the Aristotelian Society 46 (1945-1946), S. 1-16. Michel Polanyi baut mit seinem Konzept des »impliziten Wissens« zwar auf Ryle auf, setzt den Fokus jedoch stärker auf bewusste und unbewusste Wissensaspekte im Handeln; vgl. Michael Polanyi, Implizites Wissen, Frankfurt a.M. 1985. 33 | Vgl. Möller, Die Enzyklopädie, Buch XVIII, LX. 34 | Huizinga hatte von einem »Zauberkreis des Spiels« gesprochen, vgl. Huizinga, Homo ludens, S. 20.
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spektive des unbeteiligten Nichtspielers müssen sie nahezu notgedrungen als sinnlos, sonderbar, vielleicht sogar als unheimlich – wie zu einem verbotenen magischen Ritual gehörend – erscheinen. Berücksichtigt man den weiten mittelalterlichen Spielbegriff, so umfassen ›Spielzeuge‹ hier nicht nur körperexterne Gegenstände, wie Bälle, Puppen, Schachfiguren, Spielbretter oder dergleichen, sondern bisweilen auch den Körper, sofern dieser, wie etwa in Tanz und Theater, selbst als ludisches Material genutzt wird. Und begibt man sich versuchsweise einmal auf den imaginären Standpunkt der Spielzeuge, ist unschwer einzusehen, dass Spielzeuge die Körper genauso dirigieren wie die Körper diese.35 Wichtige Aspekte der heutigen Frage nach der Spielmechanik lassen sich somit bereits im 12. Jahrhundert aufspüren. Es ist daher wohl nicht zu verwegen, die gegenwärtige Debatte der Game Studies in diesen größeren historischen Kontext zu stellen. Vielleicht, so ist zu vermuten, ist das Spielmechanische in der Geschichte nie völlig in Vergessenheit geraten, sondern wurde zu verschiedenen Zeiten bloß unterschiedlich intensiv wahrgenommen. Jedenfalls zeigt sich bei Hugo von St. Viktor eine auffällige Sensibilität für das Materiell-Mechanische, das wortwörtlich ›Hand-Werkliche‹ im Spiel. Dabei erschwert es die argumentative Strategie des Theologen Hugos, seine mit der Konzeption der theatrica verbundenen Absichten bis in den letzten Winkel auszuleuchten. Einerseits suggeriert der Text einen Bruch mit der Spielkultur der Antike, zugleich lässt er aber die Denkmöglichkeit historischer Kontinuität zu. Durch die Vergangenheitsform spricht Hugo wie durch eine Maske, durch die hindurch er sich zum Spiel als unschicklichen Gegenstand äußern darf; seine Worte ›tönen‹ durch diese Maske hindurch (per-sonare). Dieses Vorgehen ist formalästhetisch stimmig und entbehrt nicht einer gewissen Ironie, greift Hugo doch mit der Maskierung eine genuin spielerische Methode auf, um ungestraft neue Denk- und Sprechmöglichkeiten zu thematisieren, in deren Licht ludische Handlungen als epistemisch ernstzunehmende Objekte erscheinen. In der Nachfolge kam es dann tatsächlich zu einer vermehrt positiven Aufnahme von Spielen als Wissensgegenständen.36 Dass Hugo in ihnen allerdings auch ein Gefahrenpotenzial erkannte, wird allein daran deutlich, dass die theatrica in späteren Konzeptionen der artes mechanicae oft ausgeschlossen und durch andere Disziplinen ersetzt wurde, zum Beispiel durch die pictura.37 Doch änderte das nur wenig daran, dass das Spiel in der Wissenssystematik Hugos ein dauerhaftes Asyl gefunden hatte, von dem aus es sich fortan immer mehr epistemischen Raum erobern würde.
35 | Vgl. Bruno Latour, »On Technical Mediation«, in: Common Knowledge 3/2 (1994), S. 29-62. 36 | Vgl. z.B. Jean Michel Mehl, Les jeux au Royaume de France (XIII.s.-début du XVI.s.). Étude d’anthropologie historique, Paris 1988, hier S. 620, S. 622f. 37 | Sternagel, Die artes mechanicae, S. 101f.
Praktiken der Wiederholung Episteme der Historiographie Günther Heeg, Andrea Hensel, Micha Braun, Tamar Pollak, Veronika Darian
Günther Heeg »Praktiken der Wiederholung« bildete das erste von drei Leipziger Themenforen unter dem Gesamttitel »Theater – Geschichte – Wissen« auf dem 12. Kongress der Gesellschaft für Theaterwissenschaft. Was sie verbindet, ist der Fokus auf die Relation von Theater und Geschichte – sowohl in der Theaterpraxis als auch im Wissen über und von Theater. Geschichte als Episteme theaterwissenschaftlicher Forschung bedarf dabei verschiedener Inblicknahmen und Herangehensweisen, die untereinander korrespondieren und sich auch unterscheiden. Die sich daraus ergebende Mischung aus Korrespondenz und Differenz gilt es für die Zusammenarbeit in den gesamten historisch orientierten Wissenschaften zu nutzen. Wenn wir nun Geschichte als das entscheidende Paradigma theaterwissenschaftlicher Forschung betrachten, so verstehen wir darunter nicht die Abfolge geschlossener Epochen und eine große Erzählung von den Anfängen bis zur Gegenwart. Vielmehr beziehen wir uns auf Michel Foucaults Konzept von Geschichte als Genealogie. »Die Genealogie«, so Foucault, geht nicht in die Vergangenheit zurück, um eine große Kontinuität jenseits der Zerstreuung des Vergessenen zu errichten. Sie soll nicht zeigen, daß die Vergangenheit […] in der Gegenwart noch lebt und sie insgeheim belebt. […] [S]ie will nicht den heimatlichen Herd ausfindig machen, von dem wir kommen, jenes erste Vaterland, in das wir den Versprechungen der Metaphysiker zufolge zurückkehren werden; vielmehr möchte sie alle Diskontinuitäten sichtbar machen, die uns durchkreuzen.1
Ohne Ursprung, diskontinuierlich und zerstreut, unlebendig und nicht verlebendigbar, abwesend, aber gleichwohl die Gegenwart heimsuchend und uns aus der Bahn wer1 | Michel Foucault, »Nietzsche, die Genealogie, die Historie« [1971], in: Ders., Die Subversion des Wissens, Frankfurt a.M. 1991, S. 69-90, hier S. 74 und S. 86.
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fend – so stellt sich Geschichte als Historizität der Gegenwart dar. Das eigentümliche Verhältnis zwischen dem Gewesenen und seiner Wiederkehr in der Gegenwart hat uns die Figur der Wiederholung als eine Episteme der Historiographie näher in den Blick nehmen lassen und uns zu einem DFG-Forschungsprojekt mit dem Titel Das Theater der Wiederholung geführt.2 Zwei Denkfiguren sind es, die uns in diesem Projekt besonders interessieren: 1. Das Aktuelle der Wiederholung, das haben Walter Benjamin und Gilles Deleuze hervorgehoben, liegt paradoxerweise in ihrem Misslingen: dem Verfehlen des ursprünglichen Ereignisses.3 Die Wiederholung kehrt nicht zurück zu dem, wie es angeblich gewesen ist. Die Bewegung zurück, die das Einstige erinnernd restaurieren und bewahren will, wird durch das Scheitern der Restaurationsbewegung in die Gegenwart und über sie hinaus getrieben. Der Wiederholung des Vergangenen ist daher die Überschreitung des Gegenwärtigen inhärent. Die Wiederholung, so Kierkegaard, ist ein Erinnern »nach vorwärts«4, auf Zukünftiges hin. Die Orientierung auf Zukunft hin ist ein wichtiges Kriterium, das die Wiederholung von der Praxis des Historismus und des kollektiven Gedächtnisses unterscheidet. 2. Die Wiederholung hat selbst theatralen Charakter. Die Ursprungslosigkeit der Wiederholung lässt jede Wiederholung als Verkleidung erscheinen. »Tatsächlich«, so Deleuze, »ist die Wiederholung das, was sich verkleidet […]. Sie liegt nicht unter den Masken, sondern bildet sich von einer Maske zur anderen […]. Die Masken verdecken nichts, nur andere Masken. Es gibt keinen ersten Term, der wiederholt würde.«5 Fasst man die beiden genannten Denkfiguren zusammen, so führt die Wiederholung sprichwörtlich ihr eigenes Theater auf. Unsere Arbeit an der Historizität der Gegenwart ist praktisch bezogen auf die Dramaturgie von Gegenwartskulturen und deren politische Implikationen. Seit einigen Jahren erfahren wir in unserem kulturellen Alltag einen Geschichtsboom, den eine affektive Gier nach der Aneignung von Vergangenheit antreibt. Rainald Grebe hat das in seinem Song Zeitmaschine so ausgedrückt: setz dich in die zeitmaschine und fahr./wo steigen wir denn aus in welchem jahr?/scheißegal, guido knopp war immer vor dir da!/heiner lauterbach sinkt gerade mit der gustloff/
2 | Der erste Band im Rahmen dieses Projekts ist unter dem Titel Reenacting History: Theater & Geschichte, Günther Heeg et al. (Hg.), Berlin 2014, erschienen. Eine zweite Aufsatzsammlung erschien anlässlich des Symposiums Das Theater der Wiederholung vom 30.10. bis 1.11.2014 in Leipzig als online-Publikation unter www.uni-leipzig. de/˜theaterderwiederholung/online-publikation/. 3 | Vgl. Walter Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte« [1940], in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.2, Frankfurt a.M. 1991, S. 690-708; Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung [1968], München 2007. 4 | Sören Kierkegaard, »Die Wiederholung« [1843], in: Ders., Werke II, Reinbek bei Hamburg 1961, S. 5-83, hier S. 7. 5 | Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 34f.
Praktiken der Wiederholung heiner lauterbach rennt grad durch das brennende dresden/ja der heiner ist ja auch überall dabei gewesen/ich bin so geil auf geschichte.6
Die nahezu libidinöse Besetzung, die hier angesprochen ist, gilt nicht ›der Geschichte‹, sondern der kulturellen Praxis des ästhetischen Historismus. Sie staffiert die Gegenwart mit Bildern aus der Vergangenheit aus, sie dekoriert sie, um die Leere des Hier und Jetzt mit einer Art ›Schöner Wohnen‹ aufzufüllen. Sie soll in Zeiten der Desorientierung und Instabilität vorgeblich Halt geben. In unserem Forschungsprojekt Das Theater der Wiederholung setzen wir uns mit dieser Praxis des ästhetischen Historismus kritisch auseinander. So auch hier mit dem ersten Beitrag von Andrea Hensel, der sich am Beispiel der Oper Undine mit den Anfängen des ästhetischen Historismus im 19. Jahrhundert befasst.
Picture and Image Geschichtsbilder im ästhetischen Historismus Eine wesentliche Absicht des ästhetischen Historismus im 19. Jahrhundert war es, (National-)Geschichte in der Gegenwart zu begründen und zu beglaubigen. Hierfür erwies sich vor allem der ästhetische Rückgriff auf die eigene Vergangenheit als ein geeignetes Mittel. Das historisch Vergangene wurde als ideales Bild in der Gegenwart imaginiert. (Nationale) Gemeinschaft wurde so im Bild vergegenwärtigt, visualisiert und bestenfalls sinnlich erfahrbar gemacht – kurz: Geschichte wurde als Bild konstruiert und sprichwörtlich durch Bilder ersetzt.7 Diese Bilder, die immer zwischen image und picture, zwischen vorgestellten Bildern und deren (Re-)Präsentation in den Künsten oszillieren, werden im Folgenden als Geschichtsbilder 8 begriffen. Geschichtsbilder entstammen immer der Gegenwart. Sie sind Ausdruck von Projektionen auf die Vergangenheit, die wiederum bestimmten nostalgischen und legitimatorischen Zwecken dienen. Interessant daran ist, dass das Geschichtsbild diese seine Herkunft bewusst verleugnet. Es kappt die Verbindung zu seinem historischen Entstehungs- und Rezeptionszusammenhang und wird zu einem ursprungslosen und ›aus der Zeit herausgelösten‹ Bild. Für sich stehend, setzt sich das Geschichtsbild selbst absolut. Es erscheint als ein selbstreferenzielles, mythisches Bild, das die Geschichte in sich selbst fixiert und das Begehren des Projizierenden an sich fesselt. Paradoxerweise unterbindet es dadurch jede historische Erfahrung: Es enthistorisiert die Geschichte geradezu, indem es an ihrer 6 | Rainald Grebe (& die Kapelle der Versöhnung), »Zeitmaschine«, aus dem Album 1968, Versöhnungsrecords (Broken Silence) 2008. 7 | Vgl. Hannelore Schlaffer/Hermann Schlaffer, Studien zum ästhetischen Historismus, Berlin 1975. 8 | Tobias Ebbrecht, »Die Liebe zum Bild. Nostalgie, Fetisch, Dialektik: Das Bild in der Erinnerungskultur«, in: Extrablatt 4 (2008), S. 13-19.
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Stelle Bilder absolut setzt, die lediglich den eigenen Projektionen auf die Vergangenheit entspringen. Mit Benjamin gesprochen, stellt »[d]er [ästhetische] Historismus […] das ›ewige‹ Bild der Vergangenheit«9. In jene Zeit des beginnenden 19. Jahrhunderts fiel auch das künstlerische Schaffen von Karl Friedrich Schinkel (1781-1841). Schinkel war unter anderem Architekt, Baumeister und Stadtplaner, der den Historismus in Preußen entscheidend mitgestaltete. Darüber hinaus entwarf er unter der Intendanz des Grafen Carl von Brühl eine beträchtliche Anzahl an Bühnendekorationen. Sie galten als Wendepunkte auf dem Weg zum theatralen Historismus und prägten insbesondere das Bild der deutschen Geschichte.10 Darunter fällt auch die Oper Undine, die im Jahr 1816 am Königlichen Schauspielhaus zu Berlin Premiere feierte. Schinkel entwarf für diese Oper insgesamt zehn Bühnendekorationen, wovon heute fünf Entwürfe erhalten sind. Interessant daran ist, dass diese Entwürfe auf den ersten Blick vollkommen den Geschichtsbildern zu Beginn des 19. Jahrhunderts entsprechen.11 Auf den zweiten Blick jedoch zeigen sie den ästhetischen Historismus als eine potenziell mehrdeutige und vielschichtige kulturelle Praxis. Dies geschieht zunächst durch den Vorgang der Symbolisierung, weiterhin durch das Kombinieren von unterschiedlichen Zeiten und Stilen zu einem Ganzen, und zuletzt durch den Rückgriff auf die eigene Phantasie. Die Geschichtsbilder Schinkels entstehen so durch die ständige Wechselwirkung von picture und image. Betrachtet man exemplarisch den Dekorationsentwurf »Marktplatz mit Brunnen« (Abb. 1), so erblickt man im Zentrum des Bildes einen gotischen Brunnen, auf der linken Bildhälfte eine Chorapsis und im rechten Bildhintergrund eine gotische Kathedrale.12 Die im Hintergrund erkennbare Bildkulisse zeigt eine Reihe Fachwerkhäuser und erinnert an den Baustil des Mittelalters. Architektonisch gesehen handelt es sich folglich um eine Gotikrezeption. Im Zuge der gesellschaftspolitischen Ereignisse zu Beginn des 19. Jahrhunderts nahm die Gotik patriotische Züge an. Sie wurde zu einem Sinnbild kultureller Größe stilisiert, das nicht nur die schöpferische Leistung der Vergangenheit, sondern auch eine nationale Wiedergeburt beschwören sollte. Gleichzeitig blieb der Entwurf aber nicht nur stilistischer Rückgriff und/oder architektonische Form. Vielmehr handelte es sich bei der gesamten Konstruktion des Brunnens um einen Bau, der lediglich der Phantasie Schinkels entsprang. Obwohl Schinkel genaue Kenntnis der gotischen Baukunst besaß, erweist sich 9 | Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte«, S. 702. 10 | Vgl. Ulrike Harten, Karl Friedrich Schinkel – Die Bühnenentwürfe, überarb. v. Helmut Börsch-Supan und Gottfried Riemann, Berlin 2001. 11 | Vgl. dazu ebd., S. 56f. sowie Gustav Friedrich Waagen, »Karl Friedrich Schinkel als Mensch und als Künstler«, in: Berliner Kalender auf das Gemein Jahr 1844, Berlin 1844, S. 305-428, hier S. 318f. 12 | Vgl. dazu Saskia Dams, Karl Friedrich Schinkels Bühnenbilder zu E.T.A. Hoffmanns romantischer Oper ›Undine‹, München 2006, S. 50f.
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seine Konstruktion des Brunnens als Abbild ohne Original, ohne ein Erstes und Eigentliches. Der Brunnen und seine Funktion als sinnlich erfahrbare Wiederkehr der Vergangenheit im Bild entspricht also einem Geschichtsbild im doppelten Sinne: So wird zum einen das Abwesende – das Vergangene – als Geschichtsbild bereits in der Phantasie imaginiert. Dieses imaginierte Geschichtsbild wird zum anderen ästhetisch vergegenwärtigt, ohne es jedoch zu vereindeutigen. Es wird zu einem historisch spezifischen Bezugssystem, das zwischen image und picture oszilliert, ohne ein konkretes Abbild des real Vergangenen zu sein.
Abb. 1: Karl Friedrich Schinkel, Marktplatz mit Brunnen, 1816, Gouache und Aquarell über Feder in Braun, 34,8 x 50,5 cm, Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, in: Ulrike Harten, Karl Friedrich Schinkel – Die Bühnenentwürfe, Berlin 2001, S. 193 Die letzte Dekoration, »Kühleborns Wasserpalast« (Abb. 2), das Wasserreich, zeigt eine phantastische und unwirkliche Architektur.13 Der Betrachter blickt auf ein überdimensioniertes, dreibogiges Portal aus Seegewächsen, Tang und Gras. Im direkten Zentrum des Bildes steht der Wasserfürst, thronend über Undine und ihrem toten Gatten, die wiederum von Wassergeistern gerahmt werden. Alles erhält den Charakter des Fließenden, des Organischen. Gleichzeitig wird das Organisch-Fließende durch die Architektur gebrochen: Schwere Pfeiler stützen die drei Arkadenbögen, die Korallenbäume gliedern die Konstruktion in der Senkrechten und friesenähnliche Streifen von Muschelbändern betonen den Horizontalabschluss des Bildes. Dadurch entsteht eine direkte Verknüpfung von Natur und Architektur im Bild. Dafür greift Schinkel auf die Höhlen- und Grottenarchitektur zurück. Diese findet ihren Ursprung als Wohnstätte der Nymphen und Na13 | Vgl. dazu ebd., S. 77f.
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turgottheiten im antiken Nymphäum und war zudem eine beliebte Darstellung im Barocktheater des 17. Jahrhunderts.
Abb. 2: Karl Friedrich Schinkel, Kühleborns Wasserpalast, 1816, Gouache über Feder in Braun, 33,2 x 56,4 cm, Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, in: Ulrike Harten, Karl Friedrich Schinkel – Die Bühnenentwürfe, Berlin 2001, S. 195 Zugleich entspricht der Entwurf jedoch auch einer Imago der Macht. Der überdimensionale Wasserfürst thront über seinen verhältnismäßig kleinen Untertanen, die monumentale Architektur mit ihren strengen, klaren Strukturen demonstriert Überlegenheit, die archaisch anmutende Figurenkonstellation sowie die stilisierte Natur als vermeintliches Bild des Ursprünglichen scheinen beinahe vollkommen in einer Machtdemonstration aufzugehen. Aber eben nur beinahe: denn das Bild wird in gleichem Maße durch den Rückgriff auf die Grottenarchitektur und den Bezug zu Barock und Manierismus durchzogen und so in der konkreten Vereindeutigung einer Machtdemonstration erschüttert. Wie die Beschreibungen zeigen, bedienen die Bühnenentwürfe die Geschichtsbilder des ästhetischen Historismus und versetzen sie gleichzeitig in Vibration. Dadurch ermöglichen sie einen Umgang mit Geschichte, der die historische Vergangenheit stets in Hinblick auf eine Wieder-Holung des Nichtabgebildeten – des Imaginären – sowie in Hinblick auf eine Neu-Konstellation vergegenwärtigt. Entgegen einer Fixierung von Geschichte entsteht vielmehr eine Vibration zwischen den Zeiten. So wird die kontinuierliche Zeit beglaubigt und dennoch erschüttert; Bilder werden hergestellt, aber nicht absolut gesetzt; Vorbilder werden zitiert, aber nicht kopiert; die Vergangenheit wird vergegenwärtigt, aber nicht vereindeutigt. Kurz: Geschichte wird im Bild stillgelegt und eben doch bewegt.
Andrea Hensel
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Günther Heeg Aus dem 19. ins 21. Jahrhundert: Inwiefern und auf welche Weise ist Geschichte auch heute noch oder wieder ein Paradigma des Theatralen beziehungsweise der repräsentativ-performativen Darstellung von Realität und Gegenwart? Ausgehend von bestimmten Aneignungen der Techniken und Themen des ästhetischen Historismus beschäftigt sich Micha Braun in unserem Forschungsprojekt mit aktuelleren Beispielen visueller und performativer Kunst vor allem aus Polen, die aus unterschiedlichen Gründen und in verschiedener Weise mit einer Praxis der Wiederholung von historischen Vorbildern, Motiven oder Räumen umgehen. Dabei machen sie nicht nur die fundamentale Theatralität jedes Vorgangs historischer Erinnerung und Darstellung deutlich wahrnehmbar, sondern auch die theatrale Grundkonstitution im Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart explizit zu ihrem Thema.
Banale Verkleidungen Wiederholung als Entlar vung in Piotr Uklańskis Naziści Ein maßgeblicher Fokus bei der Betrachtung der Repräsentation von Geschichte im Medium des Theaters beziehungsweise der Theatralität jeglicher Vergangenheitsdarstellung liegt auf dem Verhältnis von Illusion und Imagination zu historisch Verbürgtem und gegenwärtiger Realität. Gerade in den geschichtlich orientierten Gegenwartskünsten in Polen (und anderswo) wird die manchmal gespenstische Relation zwischen offiziellem Diskurs der Erinnerung und den zu erinnernden national-hegemonialen oder individuell-marginalisierten Geschichtsbildern in verschiedenen Modi zwischen Verlebendigung, Musealisierung und distanzierter Aneignung ins Spiel gebracht,14 wie ich hier am Beispiel der frühen Installation Naziści (Die Nazis, 1998/2000) von Piotr Uklański aufzeigen möchte. Meinen Überlegungen stelle ich die These vorweg: Um zur Realität und ihrer Geschichtlichkeit im Modus eines ästhetischen Erfassens oder gar Begreifens durchzudringen, muss man sie wiederholen – nicht um ihr in illusionistischer Imitation eine sinnhafte Interpretation zukommen zu lassen, sondern um in bewusst künstlicher Nachahmung eine Erfahrung ihrer eigenen Artifizialität zu machen. Denn in der Wiederholung werden sich die Bilder, Figuren und Erzählungen, die unsere Wahrnehmung von der Wirklichkeit prägen, selbst fremd und erlauben es (sich), ihre eigene Sekundarität auszuspielen. Zur Gewähr berufe ich mich hierzu auf einen Praktiker und Theoretiker der theatralen Erkundung der Vergangenheit wie der Gegenwart, ohne den man schwerlich von zeitgenössischer polnischer Kunst und ihren theatralen Formen der Geschichtsdarstellung sprechen kann: Tadeusz Kantor. 14 | Zu weiterführenden Analysen verschiedener Strategien vgl.: Micha Braun, »Echo/ Ghost. Praktiken gespenstischer Erinnerung bei polnischen Künstlern nach 1989«, in: Gerald Siegmund et al. (Hg.), »Lernen, mit den Gespenstern zu leben« Das Gespenstische als Figur, Metapher und Wahrnehmungsdispositiv in Theorie und Ästhetik, Berlin 2015, S. 185-204.
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Kantor geht es in seinem Theater, aber auch in der Kunst im Allgemeinen, um ein immer erst herzustellendes Verhältnis zwischen der Wirklichkeit und ihrer Wahrnehmung. Dieses Verhältnis ist, um überhaupt Aussagen über die Wirklichkeit treffen zu können, bereits durch Nachahmung geprägt. Im Modus der Illusion, so Kantor, in der Wiederholung der Wirklichkeit ohne ihren lebenspraktischen Bezug, liege ein enormes erkenntnistheoretisches Potenzial, denn: Nun erkannte ich etwas mehr – daß die I llusion außerhalb ihrer konventionellen Meinung eine metaphysische Seite besitzt […],/die bislang unbemerkt war. [Dies] ist die/W iederho lung ./Fast ein Ritual./Eine atavistische Geste des Menschen, der an der Schwelle zu seiner Geschichte danach strebte, sich zu bestätigen./Etwas ein zweites Mal zu tun,/[…] etwas wiederholen, was schon einmal geschaffen worden war –/durch die Götter,/sich ihrem Neid und ihrer Rache auszusetzen,/[…] im Bewußtsein, daß dies vergebliche Werke sein werden,/ohne Aussicht auf Zukunft,/›für ein einziges Mal‹,/ohne jenen glänzenden finalen Sinn und ohne lebenspraktische Wirksamkeit,/Attrappen.15
Die künstliche und künstlerische Wiederholung der Realität stellt für Kantor eine geradezu exklusive Zugangsmöglichkeit zu eben dieser dar, denn sie ist für ihn immer als eine anthropologisch grundierte, historische Wirklichkeit aufzufassen, die nicht einfach gegeben ist. Sie ist selbst immer schon »auf menschliche Rechnung« verfasst, ohne jede göttliche Legitimation, »ohne jenen glänzenden finalen Sinn«16. Vor allem aber ist sie eine Realität des Todes – endlich und ohne Aussicht auf Erlösung. Jede nachträgliche Rekonstruktion, jede Abstraktion oder Interpretation der Vergangenheit stellt mithin selbst eine vergebliche, allerdings notwendige Wiederholung dar. Denn nur in der Wiederholung kann die Übertragung der Realität ins Bewusstsein und ins Gedächtnis gelingen – in einer »Art Lernen […], das die Realität in die unaufhörlich sterbende Vergangenheit überträgt«17 und damit auch ein Bewusstsein der Endlichkeit in sich trägt. In meinem Fundstück nun geht es um das Eigenleben der Dinge, der Fragmente und Versatzstücke, welche für uns das Vergangene symbolisieren, sich diesem Vorgang der offenen Imagination aber auch entziehen. Auch hier spielt die Spannung zwischen vermeintlich eigener, erhebender Originalität des Subjekts und seiner Erniedrigung durch die Dinge und ihre vorgebliche Repräsentationsfunktion eine Rolle – in diesem Fall ausagiert durch serielle Wiederholung. In Piotr Uklańskis installativer Bilderserie Naziści (1998/2000) wird die Banalität und Pathetik der Uniform und weiterer Insignien der Macht in einer derartig for-
15 | Tadeusz Kantor, »Illusion und Wiederholung« [1979], in: Małgorzata Sugiera/Mateusz Borowski (Hg.), Theater spielen und denken. Polnische Texte des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 2008, S. 348-353, hier S. 350f. 16 | Ebd., S. 351. 17 | Ebd., S. 352.
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malen Strenge durchdekliniert, dass sie für mindestens einen handfesten Skandal und mehrere Verrisse sorgte. Uklański sammelte und standardisierte eine Anzahl von 164 Porträts und Szenenphotographien aus filmischen Darstellungen des Nationalsozialismus, die er den Covern von Video-Raubkopien, von Plakaten und Production Stills entnahm.18 In drei langen Reihen montierte er diese auf A4-Format gebrachten Abzüge ohne weiteren Kommentar und ohne erkennbare Unterteilung nebeneinander. Naziści beziehungsweise The Nazis nannte er diese Installation und provozierte damit bereits den ersten Aufruhr. Schon an ihren ersten Ausstellungsorten in London und Berlin erregte die Ausstellung Aufsehen und erntete nicht wenig Kritik. Ein wiederholter Vorwurf lautete, Uklańskis Sammlung würde die Über-Simplifizierung des Zusammenhangs von klischiertem Symbol, wiederholtem Bild und immanenter Gewalt nur fortsetzen, statt sie kritisch zu analysieren. Dabei habe sich doch gerade der Film als ein wie kein anderes geeignetes Medium erwiesen, den ikonographischen Glamour des Faschismus im Modus der Repräsentation selbst zu dekonstruieren.19 Doch scheint es mir bei den Naziści nicht so sehr um eine Kritik des Kinofilms als Medium der Aneignung und Vergegenwärtigung historischer oder fiktiver Ereignisse zu gehen, sondern um viel grundlegendere Fragen der Repräsentation: Gerade in der seriellen und uniformen Wiederholung des banalen Klischeebildes, hier exemplifiziert an der Uniform, den Kragenspiegeln und den mal streng, mal keck aufgesetzten Schirmmützen, kommt nämlich meines Erachtens unsere Angewiesenheit auf Techniken der Verkleidung und Maskierung zur Erscheinung. Nicht nur zur Repräsentation der Vergangenheit sind wir – ob als Schauspieler, als Romanciers oder als Historiker – auf diese Verkleidungen angewiesen, sondern auch in jeglicher Form der Selbstdarstellung, die versucht, eine Imago des Subjekts in seiner biographischen Gewordenheit vorzustellen. Die serielle Wiederholung der pathetischen, heroischen, aber auch ironisch gebrochenen oder sarkastisch parodierenden Darstellungen von Nazischergen und zweifelnden Soldaten in Uklańskis PopArt-Collage macht nun diesen untrennbaren Zusammenhang von ›ernsthafter‹, eher blinder und ›komischer‹, weil reflektiert-spielerischer Re-Präsentation erfahrbar. Sie verweist auf die grundlegende Leere, die mit Kantor und Deleuze hinter den Verstellungen, Masken und Attrappen aufscheint und mit der es sich, zumindest im Medium der Kunst, abzufinden gilt.20 18 | Vgl. für eine Ansicht der Arbeit http://culture.pl/en/gallery/piotr-uklanskis-worksimage-gallery vom 10.02.2016. 19 | Siehe Alexandra Obradovic, »Piotr Uklanski, Provokateur. Ikonografie von Nazis im Spielfilm«, in: Ikonenmagazin, www.ikonenmagazin.de/artikel/Uklanski.htm vom 19.04.2016. 20 | Vgl. Tadeusz Kantor, »Irreführende Begriffe« [1978], in: Sugiera/Borowski, Theater spielen und denken, S. 353-358, hier insbes. S. 356f.; Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 20ff. und S. 99ff. – Mit Uklańskis Arbeit hat sich die Kunstwelt selbst offenbar ganz
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Ein Experte für Rollenspiel und Verkleidung hingegen sah sich von diesem Vorgang der Maskierung und Demaskierung ganz offensichtlich in seiner Identität, seinem ›wahren Ich‹, oder noch wahrscheinlicher in seiner öffentlichen Imago bedroht. Der polnische Großschauspieler Daniel Olbrychski drang im November 2000 in Begleitung eines Fernsehteams in die Zachęta Nationalgalerie in Warschau ein und zerstörte mit einem Säbel mehrere der Abbildungen – u.a. diejenige, die ihn selbst als Darsteller eines systemkonformen deutschen Konzertpianisten zeigen, der als Soldat in Frankreich stationiert wird.21 Seine Aktion begründete der Schauspieler damit, dass er »›der Beleidigung meiner Person und meiner Kollegen ein Ende setzen [wollte], der Beleidigung von Millionen Opfern dieser Ideologie auf der Welt‹«22 . »[Die] unkommentierte Präsentation könne, vor allem unter jugendlichen Betrachtern, Verwirrung stiften, da sie die Schauspieler ›als Nazis‹ zeige.«23 Die Ausstellung wurde sofort geschlossen und, da Uklański sich weigerte, der Forderung des Kulturministers nach einem erläuternden Kommentar nachzukommen, auch nicht wieder geöffnet. Dass sich die medienwirksame Skandalisierung Olbrychskis, der sich selbst zugleich verblüffend wenig medienkompetent gab, in keiner Weise mit der tatsächlichen Arbeit Uklańskis auseinandersetzte, ist symptomatisch für eine den öffentlichen Diskurs der Zeit vielfach dominierende Sicht auf die ›angemessene‹ Repräsentation der Vergangenheit.24 Eine durchaus wohlwollende Kritikerin schreibt: Unser Blick wird durch die Dekontextualisierung für die Klischees geschärft, mit denen Hollywood spielt, wenn es darum geht, den Nazi darzustellen. Gleichzeitig kreiert dieser Vorgang ein Vakuum, und der Schaffung eines neuen Kontextes entzieht sich Uklanski, indem er die schiere Schönheit der Oberfläche propagiert. 25
gut abgefunden; ein Satz der Naziści-Porträts liegt inzwischen mit erzielten 930.000 US$ auf Platz Vier der teuersten polnischen Kunstwerke, die jemals auf einer öffentlichen Auktion verkauft wurden. Vgl. http://culture.pl/en/article/10-most-expensive-auctionedartworks-from-poland (23.10.2015) vom 05.05.2016. 21 | Les Uns et les Autres (F 1981, R.: Claude Lelouch). 22 | Daniel Olbrychski, zit. n. Marek Trenkler, »Säbelhiebe auf Film-Nazi«, in: MorgenWelt vom 11.12.2000 [Webmagazin, nicht länger online, letzter Zugriff: 15.09.2014]. 23 | Gerhard Gnauck, »Mimen in Braunhemden« (09.12.2000), in: www.welt.de/printwelt/article552163/Mimen-in-Braunhemden.html vom 05.05.2016. 24 | Im polnischen Kontext wurde diese Frage erst in jüngerer Zeit unter dem kunstund kulturwissenschaftlichen Schlagwort ›Post-Memory‹ nach Marianne Hirsch wieder aufgegriffen. Vgl. etwa den Sammelband von Monika Rydiger/Natalia Żak/Paulina Orłowska (Hg.), Pamięć. Rejestry i terytoria/Memory. Registers and Territories. Ausstellungskatalog Galeria Międzynarodowego Centrum Kultury w Krakowie, Kraków 2013. 25 | Obradovic, »Piotr Uklanski, Provokateur«.
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Genau um diese Oberflächen aber geht es, denen vom Künstler gar nicht unterstellt wird, der stereotypen Darstellung der Vergangenheit einen neuen oder überhaupt einen Kontext, einen Sinn zuzuschreiben. Der Aspekt der Wiederholung, der hier nicht auf eine Neuinterpretation oder Rekontextualisierung der Filmbilder abzielt, sondern rein auf ihre banale Oberfläche, auf ihre theatrale und attrappenhafte Ausstaffierung und auf ihre Uneigentlichkeit in Bezug auf ihr Sujet, liefert der Illusion, wie eingangs bemerkt, eine metaphysische Komponente, die dem Leben und der Geschichte beinahe rituell begegnet. Es ist eine Übertragung (Benjamin würde wohl sagen: Übersetzung) unserer Realitätswahrnehmung auf ein anderes Gleis, in einen anderen Raum, der dem gewidmet ist, was in unsere Erzählungen und Verkleidungen nicht aufgenommen wird und dennoch in ihnen überlebt.26
Micha Braun Günther Heeg Illusionen und die Möglichkeit eines vermeintlichen körperlichen Nachvollzugs der Vergangenheit in der Gegenwart vermitteln auch die Praxis und der Begriff des Reenactments, die derzeit eine Hochkonjunktur in der theatralen Praxis wie der theoretischen Auseinandersetzung erleben. Als Neu-Inszenierung einer konkreten historischen Begebenheit verstanden, werden zu den verschiedensten Anlässen in unterschiedlichen Formaten und Umfängen sogenannte ›geschichtsträchtige‹ Ereignisse nachgestellt, aufgeführt und in diesem Sinne wieder(ge)holt. Die Auffassung von und der Umgang mit ›Geschichte‹, die dabei zuweilen offenbar werden, sind nicht selten geprägt vom Anspruch der Aneignung und somit letztlich von der Verfügbarkeit der Geschichte.27 Im Beitrag von Tamar Pollak soll es aber nicht primär um eine Kritik an derartigen Praktiken des Reenactments gehen, sondern um die Frage nach zugrundeliegenden Motiven und schließlich und insbesondere um alternative Strategien, Ästhetiken und Verfahren, die weder eine Neu-Inszenierung anstreben, noch zwingend die eines tatsächlichen historischen Ereignisses.
26 | Vgl. Kantor, »Illusion und Wiederholung«, S. 352. Die Geste der Wiederholung, die sich meines Erachtens in dieser Übertragung verbirgt, bedarf dann in Kantors Diktion auch insbesondere der Attrappe als ihrem bevorzugten Ausdrucksmittel. Vgl. Kantor, »Irreführende Begriffe«, S. 357: »In der Attrappe, in dieser niedrigen Gattung in der Welt der realen Gegenstände, liegt die ganze Hoffnung, die Wahrheit in der Kunst zu entdecken.« Vgl. den Beitrag von Veronika Darian zu Kafkas Odradek als »menschenvergessenem« Ding oder Wesen, welches zu versichernden Gesten der Wiederholung zwingt. 27 | Vgl. Günther Heeg, »Reenacting History: Das Theater der Wiederholung«, in: Ders. et al. (Hg.), Reenacting History, S. 10-39.
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Zwischen Zeit Räume Verfahren der Rekonstruktion in der Arbeit von Janez Janša Der slowenische Performancekünstler und -theoretiker Janez Janša kann als Experte für Reenactments gelten. Seine praktischen und wissenschaftlich fundierten Arbeiten performativer und installativer Art befassen sich im Wesentlichen mit Erinnerungs- und Geschichtspolitik, wobei sich das Politische nicht (nur) im Bereich des Institutionellen niederschlägt, sondern ebenso auf der Ebene der Wahrnehmung. Janša selbst zieht die Bezeichnung Rekonstruktion jener des Reenactments vor, da sie eine stärkere archäologische Dimension beinhalte.28 Rekonstruktion bedeute gewissermaßen (Aus-)Grabungsarbeit im übertragenen Sinne. Das ›archäologische‹ Material birgt die verschiedenen raum-zeitlichen Lagen, durch die Geschichte konstituiert ist und die, offen gelegt, historisches Bewusstsein hervorbringen. Hier hindurch gilt es sich zu arbeiten und die einzelnen Schichten/Schichtungen zu reflektieren. Die Reflexion erschließt dabei nicht (nur) das vergangene Ereignis selbst, sondern darüber hinaus dessen Bedeutung für die Gegenwart und führt somit schließlich zu seiner Aktualisierung. Im Falle Janšas ist das vergangene Ereignis (meist) eine Performance. Bei deren Rekonstruktion soll es jedoch nicht um die Wieder-Erfahrung dieser Performance aus zurückliegender Zeit gehen, sondern um die Erfahrung der individuell und kollektiv geprägten Beziehung zu Geschichte. Hierfür bietet es sich an, zunächst einen Blick auf Michel Foucaults Archäologie des Wissens zu werfen: Die Archäologie […] versucht nicht, das zu wiederholen, was gesagt worden ist, indem sie es in seiner Identität erreicht. […] Sie ist nicht mehr und nicht weniger als eine erneute Schreibung: das heißt, in der aufrecht erhaltenen Form der Äußerlichkeit eine regulierte Transformation dessen, was bereits geschrieben worden ist. 29
Die erste Behauptung Foucaults über die Intention archäologischer Praxis lässt sich durchaus mit der von Janša eingeführten Idee von Rekonstruktionsverfahren vereinbaren. Versteht man unter Identität in diesem Fall das spezifische Wesen und die Wirkungsweise dessen, »was gesagt worden ist«, geht es also bei der archäologischen Rekonstruktion nicht um die Wiederherstellung von Charakteristika ihrer Gegenstände. Dementsprechend handelt es sich bei Janšas Rekonstruktionen von Performances nicht um deren Wiederaufnahme, in welcher zeitgenössische Interpretation und der Aufführungskontext (mit) wiedergegeben werden sollen. Im Fokus stehen vielmehr das Verhältnis zwischen (ursprüng-
28 | Vgl. Janez Janša, »Reconstruction2: On the Reconstructions of Pupilija, papa Pupilo and the Pupilceks«, in: Amelia Jones/Adrian Heatchfield (Hg.), Perform, Repeat, Record. Live Art in History, Bristol/Chicago 2001, S. 367-383, hier S. 374f. 29 | Michel Foucault, Archäologie des Wissens [1969], Frankfurt a.M. 1973, S. 199f.
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licher) Performance und deren Rekonstruktion und die Frage, was dieses Verhältnis über das eigene sowie gesellschaftliche Geschichtsbewusstsein aussagt. Etwas anders verhält es sich mit Foucaults zweiter Feststellung. Die Bezeichnung der erneuten Schreibung, d.h. der Schreibung dessen, was bereits geschrieben worden ist, mag im übertragenen Sinne noch für Janšas Rekonstruktionen von Performances anwendbar sein. Interessanter ist jedoch der Begriff der (regulierten) Transformation. Transformation, als eine Art Übersetzung verstanden, impliziert, dass ein Prozess der Um- oder Neu-Formung erfolgt sein muss. Dies ist bei Janšas Rekonstruktionen von Performances zunächst durch die räumliche und zeitliche Versetzung zwangsläufig der Fall. Dadurch werden aber ebenso Inhalte von der Vergangenheit in die Gegenwart übersetzt, indem sie für das Hier und Jetzt aktualisiert werden. Mit dem Wissen um die Wieder-Aufführung als einer Rekonstruktion gerät die zugrundeliegende Performance als das abwesende Ereignis ins Bewusstsein und damit zugleich die Frage nach dessen heutiger Relevanz. Während sich der Begriff der Transformation somit als fruchtbar für die Beschreibung von Janšas Rekonstruktionen erweist, würde Foucaults Ergänzung über die Reguliertheit sowie die ›aufrecht erhaltene Form der Äußerlichkeit‹ diesen Arbeiten einiges an Bedeutungspotenzial absprechen. Reduziert auf die bloße Erscheinung würde eine vergleichende Betrachtung von ›Original‹ und ›Kopie‹ in den Vordergrund gerückt, die in Janšas Arbeiten gerade vermieden werden soll. Bisher wurde allerdings lediglich Bezug genommen auf Rekonstruktionen von Performances, die tatsächlich stattgefunden haben. Bei seinem Projekt Performing Document ging Janša noch einen Schritt weiter. Im Rahmen einer Gastdozentur an der FU Berlin brachte er mit Master-Studierenden der Tanzwissenschaft eine Reihe von Performances einer bestimmten Gruppe zur Wiederaufführung, die es nie gegeben hat. Es handelt sich dabei um das erfundene Kollektiv Küche Elf, gegründet in den sechziger Jahren von sechs Berlinerinnen. Ihr Interesse richtete sich vor allem auf die unsichtbare und immaterielle Arbeit von (Haus-)Frauen, deren nicht wahrgenommenes Potenzial anhand von Ameisenanalogien präsentiert wurde. Die Suche nach Dokumenten und Belegen zu diesem fiktiven Performancekollektiv gestaltete sich weniger als eine zielgerichtete mit bestimmten Intentionen, welche konkreten Fakten und Realitäten kreiert werden sollten. Viel eher handelte es sich um ein Vorfinden, ein Aufnehmen und Zusammenbringen von Material, welches auf die Projektteilnehmenden zukam. Die grundlegende Absicht war es, den Zeitgeist der sechziger Jahre einzufangen und sich dem damals vorherrschenden Denken anzunähern. Dabei stellte sich immer wieder die Frage nach der Gewichtung: Welche Teile der Geschichte schreiben sich ins individuelle oder kollektive Gedächtnis ein und welche bleiben unentdeckt? Die Antwort darauf war die Hervorbringung einer erfundenen Geschichte, die sich jedoch hätte ereignen können. Eine der (fiktiven) Aktionen von Küche Elf bestand darin, dass die Performerinnen 1966 eine Zuckerspur quer über einen Zebrastreifen in Berlin-Steglitz
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legten. In den darauffolgenden Tagen bildete sich entlang dieser Spur eine Ameisenstraße, die der nächste Regenschauer wieder auflöste. Möglicherweise eine Art subtiler Protest für die stillen Arbeiterinnen, ein lautloser Aufstand, der den Blick auf das Unbeachtete im Alltag jener Zeit einforderte. Im Juni 2012 zeigte nun eine Gruppe von Tanzwissenschaftsstudierenden an der Akademie der Künste Berlin Amateuraufnahmen von eben jener Performance im Super-8-Format: Drei Frauen legen ein Zick-Zack-Muster über einen Steglitzer Zebrastreifen. Das Ereignis schafft es also 46 Jahre später (wieder bzw. tatsächlich) auf die Bühne. Neben Live-Aktionen, die sich den fiktiven Performances von Küche Elf annäherten und die als eine Form des Reenactments begriffen werden können, wurden zusätzlich Zeitzeugeninterviews über eine Videoleinwand eingespielt. Auch gab es zwei Moderatorinnen, die durch den Abend führten und den puzzleartig verteilten Aktionen auf der Bühne einen Zusammenhang gaben. Zugleich stand über allem die Frage, wie viel oder was es eben braucht, um ein Ereignis wieder hervorzuholen und etwas Vergangenes zu rekonstruieren. Die hergestellten Spuren der Vergangenheit verwiesen letztendlich auf diverse Praktiken zur Erzeugung von Evidenz. Angesichts dieses Beispiels erhält die Behauptung der archäologischen Dimension von Rekonstruktionsverfahren eine neue Bedeutung. Nun geht es nicht mehr darum, sich durch gegebene raum-zeitliche Lagen und Überlagerungen hindurchzuarbeiten und diese offenzulegen, um sich dem zugrundeliegenden Gegenstand oder Ereignis anzunähern. Es gilt, dieses Gefüge von Schichten/ Schichtungen eigens zu konstruieren. Es handelt sich also gewissermaßen um ein reziprokes Verfahren in Relation zur Archäologie als (Aus-)Grabungsarbeit verstanden. Auch im umgekehrten Fall gleicht das Vorgehen einer Sedimentierung von Geschichte. Dabei bilden die Brüche und Diskontinuitäten, die ›die/ eine andere‹ Geschichtsschreibung maßgeblich kennzeichnen, das Fundament für eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart, welches ein dynamisches ist. Die Annäherung, von der Janša bei der Frage nach der Qualität beziehungsweise der Absicht hinter seinen Re-Performances oft spricht, findet stets an der Schnittstelle dieses Verhältnisses statt. Wie in den (fiktiven) Aktionen von Küche Elf wird letztlich auch in Performing Document die Frage nach dem Verhältnis von Fakt und Fiktion aufgeworfen. Die Beweiskraft von Dokumenten als stummen Zeitzeugen wird angezweifelt zugunsten der Behauptung, Geschichte sei, ebenso wie die Erinnerung daran, konstruierbar. Der nicht unvorbelastete Begriff der Authentizität erfährt dadurch ebenso eine mögliche Neu-Auslegung. Authentisch bedeutet nicht länger echt oder wahrheitsgetreu im Sinne von glaubwürdig durch Realitätsnähe. Der Grad der Authentizität lässt sich – wenn überhaupt – anhand ihrer Plausibilität und damit einhergehend ihrer Wirkungsweise bestimmen. Gemeint ist das Offenlegen und Hinterfragen von Mechanismen und Funktionsweisen von (offizieller) Historiographie und individuellem Geschichtsbewusstsein. Sofern auf Seiten der Rezeption und, wenn auch zeitlich versetzt, auch auf jener der Produktion von
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Janšas Re-Performances die entsprechenden Denkprozesse in Gang gesetzt werden, kann durchaus von einer spezifischen Art von Authentizität die Rede sein – authentisch wäre dann als (zu-)treffend, als sich ereignend verstanden. Denn nicht nur für die Erschaffung und Rekonstruktion eines (fiktiven) Kapitels der Geschichte bedarf es der Imagination. Auch auf Seiten der Rezeption wird im Moment des performativen Ereignisses und darüber hinaus die Vorstellungskraft aktiviert. Zuschauer werden somit gleichermaßen wie Künstler/Darstellende als Partizipierende zu Produzenten der kollektiv geteilten Erfahrung der Performance und folglich zu Mitwirkenden bei der Erschaffung einer wohl imaginierten, aber ebenso möglichen Vergangenheit und deren Aktualisierung in der gemeinsam geteilten Gegenwart.
Tamar Pollak Günther Heeg Dass das theatrale Moment einer jeden Repräsentation der Vergangenheit neben oder sogar entgegen einem präsentistischen Verständnis von Aktualität und (Wieder-)Belebung wesentlich und gleichermaßen vom Vollzug wie vom Entzug sprachlicher, gestischer und materialer Elemente bestimmt und konstituiert wird, ist keine neue, doch offenbar manchmal schwer zu akzeptierende Erkenntnis. Gerade die objekthaften und dinglichen Elemente im Vorgang einer Aneignung von Vergangenheit in der Geschichte verweigern und entziehen sich immer wieder einem voluntaristischen Zugriff, indem sie die vermeintliche Allmacht genealogischer Zuschreibung und sprachlicher Bemächtigung gestisch unterbrechen. Der Beitrag von Veronika Darian stellt eine paradigmatische Szene eines solchen Entzugs im Theater der Dinge vor, welche die bio-graphische und genea-logische Autorität des Hausvaters bei Kaf ka als immer schon erschüttert zur Aufführung bringt.
Von der Sorge des Hausvaters und vom Fort-Leben der Dinge Die einen sagen, das Wort Odradek stamme aus dem Slawischen und sie suchen auf Grund dessen die Bildung des Wortes nachzuweisen. Andere wieder meinen, es stamme aus dem Deutschen, vom Slawischen sei es nur beeinflußt. Die Unsicherheit beider Deutungen aber läßt wohl mit Recht darauf schließen, daß keine zutrifft, zumal man auch mit keiner von ihnen einen Sinn des Wortes finden kann. 30
Franz Kafkas kurzer Text Die Sorge des Hausvaters aus dem Jahr 1920 kündigt (sich) im Modus der Wiederholung (als) eine andere Erzählung der Geschichte an. Die existenziellen Erfahrungen in der Folge des Ersten Weltkriegs vermengen sich in dieser Zeit mit den Konsolidierungsbemühungen eines neuen Bürgertums, die nach Siegfried Kracauer allerdings eher einer unhinterfragten »Flucht-
30 | Franz Kafka, »Die Sorge des Hausvaters« [1920], in: Ders., Erzählungen, Leipzig 1978, S. 183-184, hier S. 183.
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und Rettungsbewegung« gleichen.31 Gerade das Verdrängen des durch vielfache Krisen objektivierten Status des Menschen und das Verkennen gesellschaftlicher Realitäten führen zu eskapistischen und reaktionären Tendenzen der bedrohten neubürgerlichen Klasse wie auch des Einzelnen. Kafka formt daraus die Geschichte einer doppelten Sorge. Die eine Sorge des Hausvaters, dieser zentralen Figur des bürgerlichen Kosmos, gilt dem Wohlergehen von Haus und Familie und damit der Sicherung der lebensweltlichen als einer vornehmlich genealogischen Ordnung. Dabei erscheint schon die anfängliche Suche nach der Herkunft des Wortes »Odradek« – in ihrer Verbindung von Etymologie und Genealogie, die beide nach Ursprüngen fragen – als Spiegelbild der Bestrebungen, die zukünftige Erbfolge der eigenen »Kinder und Kindeskinder«32 zu erhalten. Die andere und eigentliche Sorge aber bereitet diesem Hüter des menschlichen Hauses (der oder das?) Odradek. Der Text vollzieht schrittweise die Bemühungen des Hausvaters, Odradek zu (be)greifen. Der jedoch entzieht sich jeglicher eindeutigen Bedeutung bzw. Entschlüsselung und erlaubt keinerlei etymologische Herleitung. Aber nicht nur im abgewiesenen Sinn schlummert eine erste buchstäbliche Provokation, mit der der Text in mauthnerscher Tradition seine Sprachkritik betreibt. Schon der Beginn erscheint wie geborgt, wirkt uneigen, lediglich abgelauscht: »Die einen sagen […]. Andere wieder meinen […].« Gleich einem vorweggenommenen Urteil, das viele kafkasche Textanfänge durchwirkt, entwendet die Erzählung vom Odradek dem Hausvater das Recht auf (s)eine eigene Geschichte, indem ihr das Ich anfänglich so offensichtlich fehlt. Auch die Beschreibung der Spule verfehlt das zu Beschreibende in dem Maße, wie ihr die selbstsichere Haltung des Wahrnehmenden entgeht: »Es sieht zunächst aus wie eine flache sternartige Zwirnspule, und tatsächlich scheint es auch mit Zwirn bezogen; allerdings dürften es nur abgerissene, alte, aneinandergeknotete, aber auch ineinanderverfilzte Zwirnstücke von verschiedenster Art und Farbe sein.«33 Die Beschreibung verfängt sich wiederholt im Sprachgestus der Vermutung. Odradeks Provokation vollzieht sich in einem andauernden Entzug. Der Sprachgestus, der doch auf Odradek zielt, löst sich ab vom Bedeuten. Odradek entwindet sich der Sprache, entwendet sie, wendet sie. Odradek ist ein Eindringling. Obwohl er manchmal »monatelang nicht zu sehen« ist, kehrt er »unweigerlich wieder in unser Haus zurück«34. Dieses Eindringen verleitet den Hausherren zu einer plötzlichen, aber eindeutigen Demarkationsgeste: Noch vor dem spät(er) ausgesprochenen ›Ich‹ verweist das besitzanzeigende Fürwort ›unser‹ auf das aufrecht zu erhaltende Hausrecht, das viel mehr ist als nur territoriale Grenzziehung. Es beharrt zum einen auf dem Unterschied 31 | Vgl. Siegfried Kracauer, »Die Biographie als neubürgerliche Kunstform«, erstmals abgedruckt in: Frankfurter Zeitung, Literaturblatt vom 29.6.1930, auch in: Ders., Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt a.M. 1977, S. 75-80. 32 | Kafka, »Die Sorge des Hausvaters«, S. 184. 33 | Ebd., S. 183. [Herv. V.D.]. 34 | Ebd. [Herv. V.D.].
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zwischen Innen und Außen, zum anderen aber auch auf dem zwischen Mensch und unfassbarem Ding, zwischen dem erzählenden Subjekt der Geschichte und seinem Objekt, zwischen dem menschlich Lebendigen und dem nur belebt Erscheinenden. Odradek jedoch weist diese Positionszuweisung deutlich von sich. ›Wie heißt du denn?‹ fragt man ihn. ›Odradek‹, sagt er. ›Und wo wohnst du?‹ ›Unbestimmter Wohnsitz‹, sagt er und lacht; es ist aber nur ein Lachen, wie man es ohne Lungen hervorbringen kann. Es klingt etwa so, wie das Rascheln in gefallenen Blättern. Damit ist die Unterhaltung meist zu Ende. Übrigens sind selbst diese Antworten nicht immer zu erhalten; oft ist er lange stumm, wie das Holz, das er zu sein scheint. 35
Dem bevormundenden Umgang begegnet Odradek mit Gesten der Verweigerung: Er lacht oder bleibt gleich gänzlich stumm. Doch dieses Lachen ist »ohne Lungen« hervorgebracht, seine Stummheit die eines »scheinbaren« Holzstückes. Die paradigmatische Geste der Verweigerung, wie sie Herman Melvilles Bartleby mit seinem »I prefer not to« stur hervorbrachte, war noch an die verweigerte Handlung, an das unausgesprochene »I prefer not to do« geheftet. Odradeks Lachen und Stummheit hingegen sind entkoppelt, abgelöst sowohl vom organisch Lebendigen als »das Holz, das er zu sein scheint«, als auch von der (menschlichen) Handlung, durch sein Lachen »wie das Rascheln in gefallenen Blättern«. In der Ablösung vollzieht sich eine Auf lösung: die »Auflösung des Geschehens in das Gestische«36. Damit aber werden auch »der Gebärde des Menschen […] die überkommenen Stützen«37 genommen. Die Gebärden des Menschen stellen ihre doppelte Zurichtung aus: Der Biographie, Genealogie, Teleologie oder Ökonomie verschrieben, sind sie immer funktionalisierte und funktionalisierende zugleich. Wenn Odradek sie dieser »überkommenen Stützen« entledigt, werden sie – endlich – sichtbar. So wird das nach Benjamin »vergessene, entstellte Ding«38 zum Erinnernden an das wesentlich Dinghafte im Menschen selbst. Darin treibt »Kafkas epische Bahn« die »Flucht durch den Menschen hindurch ins Nichtmenschliche«39 einen wesentlichen Schritt weiter, denn sie wendet sie auf den Menschen zurück. Die letztlich erfolglosen Bemühungen des Hausvaters entlarven den eigentlichen Grund der Sorge: dass es sich bei Odradek keineswegs um ein von Menschen vergessenes, sondern im Gegenteil, ein menschenvergessenes Wesen handelt. Odradek zwingt den Hausvater zu sich selbst versichernden Gesten der Wie35 | Ebd., S. 184. 36 | Walter Benjamin, »Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages« [1934], in: Ders., Benjamin über Kafka. Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen, hg. von Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1981, S. 9-38, hier S. 18. 37 | Ebd., S. 19. 38 | Ebd., S. 31. 39 | Theodor W. Adorno, »Aufzeichnungen zu Kafka« [1953], in: Ders., Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1987, S. 250-283, hier S. 263.
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derholung und kehrt gerade darin die menschlichen Gebärden als ungestützte, nämlich immer schon geborgte, uneigentliche, wesentlich dinghafte hervor. Und endlich spricht (sich) auch das ›Ich‹ (aus): Vergeblich frage ich mich, was mit ihm geschehen wird. Kann er denn sterben? Alles, was stirbt, hat vorher eine Art Ziel, eine Art Tätigkeit gehabt und daran hat es sich zerrieben; das trifft bei Odradek nicht zu. Sollte er also einstmals etwa noch vor den Füßen meiner Kinder und Kindeskinder mit nachschleifendem Zwirnsfaden die Treppe hinunterkollern? Er schadet ja offenbar niemandem; aber die Vorstellung, daß er mich auch noch überleben sollte, ist mir eine fast schmerzliche. 40
Vor dem Hintergrund der hier sichtbar gemachten Maßgaben eines sinn-vollen Lebens erscheint der Mensch plötzlich selbst als Ding. Odradek tritt dem Hausvater als doppelte Heimsuchung entgegen: Die erste Heimsuchung birgt die Vorstellung eines Lebens in der hoffnungsvollen Geste der Verweigerung. Die zweite hingegen äußert sich in der gesteigerten Geste des Überlebens als eines Fort-Lebens. Schmerzlich ist sie als Erkenntnis im Sinne Samuel Webers »living on, but also living away«41: Fort-Leben hier als eines, an dem man keinen Anteil (mehr) hat. Hoffnung jedoch liegt in der zeitlichen Schwebe: Denn ›einstmals‹ weist nach vorn wie zurück, vereint das möglicherweise ›vor langer Zeit‹ Geschehene mit der Erwartung ›künftiger Zeiten‹.
Veronika Darian
40 | Kafka, »Die Sorge des Hausvaters«, S. 184. [Herv. V.D.]. 41 | Samuel Weber, Benjamin’s -abilities, Cambridge/Mass. 2008, S. 67.
K ritik , K unst, F orschung
Bewegung – Medien – Archiv Bedingungen der Geschichtsschreibung von Aufführungen Franz Anton Cramer, Isa Wortelkamp, Susanne Foellmer, Barbara Büscher
Barbara Büscher, Franz Anton Cramer Bewegungs- und zeitbasierte Kunst kann außerhalb ihrer primären Erscheinung nur durch mediale Transformationen zugänglich gemacht werden. Sie wiederum als Spuren vergangener Ereignisse zu lesen setzt voraus, dass ihre technisch-apparativen und ästhetisch-diskursiven Bedingungen reflektiert werden. In verschiedenen Verfahren des Aufzeichnens entstehen aus dem Bewegungsartefakt andere (bewegte) Artefakte, die für die Aufführung einstehen. Aufzeichnungen bilden auch den Anfang der Übertragungskette in digitale Formate. Die Übertragung selbst wiederum kann als mediale Bewegung verstanden werden. Bewegung ist damit zentraler Parameter jeder Aufführung, wird zum Medium der Transformation und ist zugleich wesentlicher Aspekt des Zugangs zu Geschichte und Archiv.
Zum Zeitregime des Moments: Performance als Bewegung in der Geschichte Schon in der heroischen Aufbruchsphase des modernen Tanzes war man sich des Problems der Überlieferung von Werken bewusst. Um sich innerhalb einer Kultur des Monumentalen behaupten zu können, musste der Tanz sich jenseits seiner ephemeren Erscheinungsweise objektivieren. Rudolf von Laban war einer der glühendsten Verfechter dieser Idee: »Unter die Menschen gelangt dieses Wissen und diese Kunst durch Tanzwerke, die nach schriftlicher Aufzeichnung reproduzierbar sind. […] Heute sehen noch wenige das unpersönliche Tanzwerk, die meisten sehen nur den Tänzer und seine persönlichen Besonderheiten.«1
1 | Rudolf von Laban, »Das Choreographische Institut Laban«, in: Liesel Freund (Hg.), Monographien der Ausbildungsschulen für Tanz und tänzerische Körperbildung. Band 1: Berlin, Charlottenburg [Berlin], 1929, S. 11-14, hier S. 12 [Herv. i.O.].
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Es geht um das, was wir heute die »Singularität« des »Tanz-Objekts«2 oder eben des ›Performance-Ereignisses‹ nennen. Eines der herausragenden Merkmale der Performance Art seit den 1960er Jahren ist aber gerade die Einheit der Person des Künstlers mit dem gezeigten Werk und dem spezifischen Kontext der Aufführung. Im Gegensatz zur auktorial-monumentalen Vision Labans sind die Originalität und dadurch auch der Werkcharakter einer Performance eben offenbar nicht von der Person und vom Aufführungsrahmen ablösbar. Dieser konzeptionelle Umschwung hat zu der heutigen komplexen Situation geführt, in der einerseits Objektivierung, Dokumentation und Überlieferung das Ziel sind, andererseits die Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit jeder Aufführung beschworen wird. Als könne man letztlich nichts von einem vergangenen Ereignis wissen, ohne ihm selbst beigewohnt zu haben, als sei kein Dokument imstande, wiederzugeben, was das Ereignis zu Lebzeiten gewesen ist. Performance gilt gleichsam als vorübergehendes Monument eines Moments, das nach seiner Aufrichtung auf ewig unsichtbar bleiben muss. Eine solche Sichtweise und die darin enthaltene Ideologie des Flüchtigen begleitet die Darstellende Kunst über das ganze 20. Jahrhundert hinweg. Doch bleibt zu fragen, ob die Realität der infrage stehenden Kunstform überhaupt zu dieser Sichtweise passt. Die Kunsthistorikerin Barbara Formis jedenfalls bezweifelt diese Fixierung auf die Vergänglichkeit als Wesenskern und das Postulat der uneinholbaren Präsenz: »The paradox of presence lies in producing a lasting experience, a practically unlimited experience.«3 Wenn nun die Performance Art in ihrer Theoretisierung die Nicht-Reproduzierbarkeit dieser Erfahrung behauptet, so liegt dem möglicherweise ein blinder Fleck zugrunde. Nur weil man an das tatsächliche Verschwinden und das Nichts glaubt, rückt die Präsenz als Kategorie in den Vordergrund: »We only believe in the effectiveness of disappearance and nothingness because we seek to save presence. The myth of presence is therefore based on an archaeological approach to the arts whereby ruin always prevails over experience, and authenticity lies in the no longer present.«4 Aber keine Gegenwart kann ohne ihre Vergangenheit auskommen. Die Gegenwart findet nicht bedingungslos statt, vor allem nicht die Performance: »A performance is like a survivor because it is already a reenactment, a ›body print‹ of the preliminary research and experimentation done in preparation of the ›show‹. A performance is what has already survived, the remains of the body’s work.«5 2 | So der Titel zweier Ausgaben des Festivals »In Transit« (Berlin, Haus der Kulturen der Welt), die den Themen »Singularities« (2008) und »Resistance of the Object« (2009) gewidmet waren, www.perfomap.de/map2/zusam/intransit vom 19.05.2016. 3 | Barbara Formis, »Performance Here and Then«, in: Mathieu Copeland (Hg.), Choreographing Exhibitions, Dijon 2013, S. 56-68, hier S. 59. 4 | Ebd., S. 63. 5 | Ebd., S. 67.
Bewegung – Medien – Archiv
MOMENTS Die Ausstellung Moments. Eine Geschichte der Performance in 10 Akten fand im Museum des Zentrums für Kunst und Medien ZKM Karlsruhe vom 8. März bis 29. April 2012 statt. Es war eine hybride Veranstaltung zwischen Ausstellung, Reenactment, zeitgenössischer künstlerischer Aneignung, Zeugenschaft und Dokumentation.6 Vorgestellt wurde die Arbeit von zehn sogenannten Pionierinnen7 der Performance Art, ohne sie jedoch zu historisieren oder sie auf bestimmte Zuschreibungen und Narrative – wie etwa Aktivismus, Feminismus, historischer Rang etc. – festzulegen. Vier Etappen der Ausstellung wurden definiert: 1. 2. 3. 4.
Act – Bühne und Display Re-Act – Interpretative Aneignung im künstlerischen Labor Post-Production – Filmediting Remembering the Act – Performative Vermittlung des Ausstellungsprozesses durch künstlerische ZeugInnen.
Die Ausstellung selbst stützte sich auf vergleichsweise wenige Exponate im eigentlichen Sinne, die zudem ohne klar definiertes didaktisches Programm bzw. einen klassischen ›Rundgang‹ in der großen Ausstellungshalle angeordnet waren. Die thematisierten Künstlerinnen waren zu verschiedenen Phasen selbst in der Ausstellung anwesend und wurden durch öffentliche Künstlerinnengespräche, Interviewaufzeichnungen und Workshops dem Publikum vorgestellt. Im Übrigen hatten sie die Auswahl der Exponate selbst betreut. Das Ausstellungskonzept bestand daher nicht in einer das Publikum belehrenden oder bildenden Anordnung von Wissensträgern, sondern in der Gestaltung eines Handlungsraumes, eines Kontaktraumes zwischen Dokumenten und (künstlerischen) ›performierenden‹ Nutzern. Dies jedenfalls war das ausdrückliche Anliegen der zweiten Phase »Interpretative Aneignung im künstlerischen Labor«.8 Zeichnungen, Kostüme, Videos, Reproduktionen von Fotos, selbst die Ausstellungsarchitektur wurden über 14 Tage zu Beteiligten einer höchst spekulativen Recherche und ihrer Übertragung in die Jetztzeit. Es handelte sich demnach nicht mehr um Reliquien eines Gewesenen, sondern um Angebote zur Transformation ihrer Bedeutung und Bedeutsamkeit. Auf einen langjährigen Disput zwischen Künstlern und Kuratoren um die Vorherrschaft in diesen Mechanismen der Bedeutungsgenerierung verweist 6 | Siehe den 2013 nachträglich erschienenen Katalog: Sigrid Gareis/Georg Schöllhammer/ Peter Weibel (Hg.), Moments. Eine Geschichte der Performance in 10 Akten, Köln 2013. 7 | Es waren Lynn Hershman Leeson, Sanja Iveković, Channa Horwitz, Graciela Carnevale, Marina Abramović, Yvonne Rainer, Anna Halprin, Adrian Piper, Reinhild Hoffmann und Simone Forti. 8 | Beteiligte waren Alex Baczynski-Jenkins, Boris Charmatz, Christine De Smedt, Nikolaus Hirsch, Lenio Kaklea, Jan Ritsema, Ruti Sela, Gerald Siegmund, Burkhard Stangl, Meg Stuart.
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Beatrice von Bismarck: »the […] explicit competitive relationship between curators and artists around meaning production«.9 Boris Charmatz, einer der Initiatoren des Gesamtprojekts, äußerte sich dazu im Gespräch: »Wir haben das Lab organisiert und Personen eingeladen, deren Ansichten zum Thema Performance – Geschichte – Feminismus sehr weit auseinanderliegen: eine aktive Konfrontation statt eines klassischen Aneignungsformats.«10 Es ging nicht um Werktreue oder um Rekonstruktion, ja es ging letztlich noch nicht einmal darum, Werke auszustellen – ganz gleich wie vollständig oder unvollständig die Quellenlage gewesen sein mag. Es handelte sich vielmehr um die Re-Aktualisierung des Kontextes, des konversationellen Anteils – wie Simone Forti, eine der beteiligten Künstlerinnen, es nannte –, auf dessen Grundlage die Werke und Werkkomplexe in ihrer Zeit überhaupt hatten entstehen können. Im nachträglich erschienen Ausstellungskatalog fassen die Herausgeber zusammen: Zwischen dem Display des historischen Materials und der Re-Aktion […] wird dabei ein Spannungsfeld als eine Leerstelle deutlich. […] [Es] wird im Kontext der Rekonstruktion historischer Performances auf etwas verwiesen, das über die Wiederaufführung hinausgeht – und diese Leerstelle als kreatives Potenzial nutzt.11
Die Vorstellung eines Vorher, eines in der Vergangenheit entstandenen Artefakts, das unter Beibehaltung seiner Natur, seiner Form, seines Konzepts und seiner – auch körpergebundenen – Materialität in die Gegenwart wandern würde, verliert in diesem Ansatz an Gewicht. Das Vorher ist überhaupt nur von Bedeutung, sofern es sich bewegt, sich in die je neue Gegenwart eines Diskurses und einer künstlerischen Praxis begibt und damit gleichsam aufhört, ›Vorher‹ zu sein. Der schöpferische Augenblick eines Aufführungsereignisses verwandelt sich in einen anderen, späteren. Er ist zweifellos erweitert um das seither entstandene Wissen. Dazu zählt gewiss auch der lineare Aspekt der Geschichte. Der Augenblick lässt sich aber nie auf diese Linearität, auf das bloße Gewesen-Sein beschränken. Der Moment als Monument mag also unsichtbar werden; daraus folgt aber nicht notwendig, dass es ihn nicht gegeben hat, nicht gibt, oder nicht mehr geben wird. Auch das Unsichtbare – das Immaterielle, der Erfahrungsmoment, die Erinnerung – hat seinen Platz im Regime der Bewegung.
Franz Anton Cramer 9 | Beatrice von Bismarck, »Out of Sync, or Curatorial Heterochronicity«, in: Beatrice von Bismarck et al. (Hg.), Timing. On the Temporal Dimension of Exhibiting, Berlin 2014, S. 301-318, hier S. 303. 10 | Laure Fernandez, Travailler contre des fantômes. Boris Charmatz, la danse contemporaine et la reprise de son histoire, http://agon.ens-lyon.fr/index.php?id=2799 vom 19.05.2016, S. 8. 11 | Sigrid Gareis/Georg Schöllhammer/Peter Weibel, »Ereignis – Spur – Kontext. Zur Aktualität von historischer Performance im Ausstellungsraum«, in: Dies., Moments, S. 10-12, hier S. 12.
Bewegung – Medien – Archiv
Mediale Interferenzen – Tanzfotografie zwischen Bild und Bewegung I. Fotografien sind Quellen unseres Wissens über Tanz – eines Wissens, das angesichts des Bildes zunächst
in der Stillstellung von Bewegung begründet ist. Gebannt im Augenblick und Anblick der fotografischen Aufnahme, zeigt sich Tanz im Bild und als Bild und prägt auf diese Weise auch unser Bild von Bewegung. Gesammelt in Archiven und Speichern, veröffentlicht in wissenschaftlichen Publikationen, in Zeitschriften und Internetportalen, tragen Tanzfotografien entscheidend zur Veranschaulichung und Vermittlung unseres Wissens über Tanz bei. Als Dokumente von Bewegung dienen sie der Geschichtsschreibung zur Rekonstruktion und bilden einen wichtigen Bezugspunkt in der ästhetischen und theoretischen Reflexion des Tanzes. Nicht selten gerät dabei die technisch-apparative Bedingung und ästhetische Gestaltung der Fotografie aus dem Blick oder wird als Beeinträchtigung einer analytischen und historiografischen Auseinandersetzung gesehen. Die mediale Differenz von Bild und Bewegung mindert oder verhindert, folgt man theater- und tanzhistoriografischen Ansätzen, den dokumentarischen Wert einer Fotografie. Bewegung scheint – in letzter Konsequenz – einzig durch diese selbst erfahrbar, nicht aber durch ein Bild. Die Betrachtung der frühen Tanzfotografie zeigt hingegen, dass gerade die Spannung zwischen Bild und Bewegung zum gestaltenden Prinzip wird. Sie ist mit dem einsetzenden 20. Jahrhundert in einem kulturellen Kontext situiert, in dem die Bewegung im Zuge des Aufschwungs des modernen Tanzes für viele bildende Künstler, Schriftsteller und Fotografen zum begehrten Motiv wird. Während in der Portraitfotografie die Inszenierung der Pose dominiert, tritt mit der tanzästhetischen und fototechnischen Entwicklung die Bewegung in den Fokus. Die ephemere und transitorische Kunst des Tanzes konfrontiert die Fotografie jedoch zugleich mit ihren fixierenden und reproduzierenden Eigenschaften. In Anlehnung an die künstlerischen Darstellungsprinzipien der Malerei im Umkreis des Naturalismus und des Impressionismus entstehen innerhalb der sogenannten Kunstfotografie um 1900 Bilder des Tanzes, in denen die Wahrnehmung des Künstlers das Bild von Bewegung prägt. Damit wird Fotografie auch für den Betrachter in ihrer Funktion als Abbild der Wirklichkeit relativiert und tritt in ihrem Eigenwert als Bild der Wahrnehmung in den Vordergrund. Im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts »Bilder von Bewegung – Tanzfotografie 1900-1920«12, in dessen Kontext dieser Beitrag steht, wurde das Ziel verfolgt, Tanzfotografie in ihrer spezifischen Bildlichkeit, die über eigene Darstellungsqualitäten verfügt, zu betrachten und 12 | Das Forschungsprojekt wurde unter der Leitung von Isa Wortelkamp in Mitarbeit von Tessa Jahn und Eike Wittrock von Oktober 2012 bis Dezember 2014 am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin durchgeführt.
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in ihren möglichen Auswirkungen auf unseren historiografischen Umgang zu befragen. Über die Frage hinaus, was in einer Tanzfotografie dargestellt ist, folgt die Perspektive dabei vor allem der Frage, wie – das heißt, unter welchen Bedingungen und auf welche Art und Weise – tänzerische Bewegung im fotografischen Bild dargestellt wird. Was jene Fotografien des Tanzes vermitteln, geht über die Fixierung eines Momentes hinaus und zeigt sich als Effekt der medialen Differenz von Tanz und Fotografie als Bild von Bewegung, an dem choreografische und fotografische Prozesse zugleich beteiligt sind. Eine Fotografie, die diesen Effekt besonders sichtbar werden lässt, ist eine Aufnahme der Tänzerin und Choreografin Loïe Fuller, die um 1900 entstanden ist und dem Fotografen Samuel Joshua Beckett zugeschrieben wird (Abb. 1). Es handelt sich um einen Silbergelatine-Abzug etwa in den Maßen 10 x 12 cm. Die folgende Bild- und Bewegungsbeschreibung vollzieht eine Re-Konstruktion des Wahrnehmungsprozesses und dient dazu, verschiedene an der Entstehung eines Bildes von Bewegung beteiligte Ebenen auszudifferenzieren.
II. Hell hebt sich die bewegte Figur im weißen Gewand vor dem schattigen Hintergrund der Bäume ab. Weiß sind auch jene Stellen, die den Träger des Bildes, das Papier unter der Fotografie freigeben – auf dem Rasen eines durch Wege und Bepflanzung gestalteten Parks. Feine Risse auf der Oberfläche der Fotografie verästeln sich mit der Krone des Baumes. Die Fotografie zeigt die Tänzerin im Moment einer Bewegung, die sich in den Wellen des weit geschnittenen Stoffes fortsetzt. Sie lassen auf eine ausholende Schwungbewegung des Körpers schließen, die an ihrem höchsten Punkt fotografisch festgehalten wurde. Durch die mit Stäben verlängerten Arme entfaltet sich das Gewand zu einem halbrunden Gebilde, das durch die leichte Öffnung an der Spitze seine Plastizität gewinnt, welche durch das Spiel von Licht und Schatten unterstrichen wird. Der feine Umriss an den äußeren Rändern des Gewandes sorgt für den Eindruck von Leichtigkeit der in den Stoff übertragenen Bewegung. Einzig der Kopf der Tänzerin, deren Blick, der Bewegung der Arme folgend, nach oben gerichtet ist, wird sichtbar.
Bewegung – Medien – Archiv
Abb. 1: Samuel Joshua Beckett, Loïe Fuller Dancing, ca. 1900, Gelatin silver print, The Metropolitan Museum of Art, Gilman Collection, Purchase, Mrs. Walter Annenberg and The Annenberg Foundation Gift, 2005, www.metmuseum.org Wie eine Leinwand spannt sich das weiße und weite Gewand der Tänzerin über die Fläche des Bildes. Der durch die Bewegung aufgespannte Stoff tritt auf diese Weise in Verbindung mit dem materiellen Träger des lichtempfindlichen Fotopapiers. Im Blick auf die Tanzende ist damit auch der Augenblick ihrer Bildwerdung wachgerufen. Das Medium der Fotografie ist im Blick auf das Fotografierte stets präsent. Und zwar als dem Bild selbst vorausgehender Akt der Aufnahme und als künstlerisches Artefakt, das sich in der formalästhetischen Korrespondenz von Bewegungsfigur und Bildgestaltung generiert. Die Bewegtheit des Gewandes tritt dabei in einer Bildlichkeit hervor, die ihrerseits auf die Bildlichkeit
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der Fotografie verweist, die durch den Tanz bewegt erscheint: eine Bewegung, die in der Fotografie des Tanzes auf Dauer still gestellt ist. Die Abwesenheit des Tanzes ist in der Anwesenheit der Fotografie enthalten – angehalten in der Zeit des Bildes. In ihm zeigt und zeitigt sich eine Bewegung in einer zweifachen Übertragung: in der Übertragung in den Stoff des Gewandes und in der Übertragung in die Materialität der Fotografie. Materialität des Tanzes und der Fotografie verbinden sich zu einem Eindruck von Bewegung, der nicht jenseits des Bildes zu denken ist. Sein Träger wird in der Fotografie durch die Fasern des gekörnten Papiers sichtbar. Dabei korrespondieren die weißen Leerstellen auf der belichteten Oberfläche mit der amorphen Form des bewegten Gewandes. Sie verwehren den ungebrochenen Blick auf die Tanzende, halten die zweidimensionale Fläche im Eindruck der räumlichen Tiefe präsent. Sie zeugen von dem Prozess der Belichtung des Papiers und seiner Alterung. Die Spuren der Handhabung werden zum Zeichen ihrer Zeit, die der Fotografie zu den Rändern hin auch ihr silbriges Schimmern verleiht. Stockflecken zeichnen graue Kreise auf das Weiß des Gewandes. Sie markieren verschiedene Schichten des fotografischen Materials, das zur Sichtbarkeit der Fotografierten beiträgt – das sie trägt. Fotografie und Fotografiertes verbinden sich zu einem Bild von Bewegung, das von den nicht enden wollenden rhythmischen und dynamischen Wellen des Stoffes geprägt ist. Raum und Zeit der Bewegung kehren in das Bild ein, durchdringen meine Wahrnehmung der Fotografie des Tanzes, um wieder im Stillstand ihres Mediums zu verharren. Im Prozess des Sehens kommt es zu einem Oszillieren zwischen Tanz und Fotografie, zwischen fotografierter Bewegung und dem Bild der Fotografie.
III. Die Aufnahme kann als exemplarisch für eine Ästhetik der Tanzfotografie um 1900 gelten, in der das Verhältnis von Bild und Bewegung als ein wechselseitiges in Szene gesetzt wird. Sie zählt zu den ersten Fotografien einer in Bewegung begriffenen Tänzerin und zeugt gemeinsam mit Aufnahmen von Eugène Druet, Harry C. Ellis und Isaiah West Taber von einer Faszination, die von der Tänzerin Loïe Fuller auf die zeitgenössische Fotografie ausging. Dabei fördert und fordert die Tanzfotografie um 1900 eine Betrachtung, die der wechselseitigen Verbindung von Bild und Bewegung ebenso Rechnung trägt wie der spezifischen Materialität ihres Mediums – wie hier die weißen Stellen oder die Risse auf der Oberfläche –, aber auch die Fotografie als Objekt.13 Im Blick auf Bewegung – als Effekt der medialen Differenz – lassen sich folgende interferierenden Ebenen
13 | Vgl. zur Bedeutung von Verletzungen im fotografischen Material Isa Wortelkamp, »›Potenzielle Störungen‹ – Kratzer und Flecken in der Tanzfotografie der Valeria Kratina von Hugo Erfurth«, in: Tessa Jahn/Eike Wittrock/Isa Wortelkamp (Hg.), Tanzfotografie. Historiografische Reflexionen der Moderne, Bielefeld 2015, S. 168-175.
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differenzieren, die ich als einen methodischen Zugang zur Analyse historischer Tanzfotografie vorschlage: 1. Bewegung der Darstellung Gegenstand der Betrachtung sind die fotografischen Gestaltungsmittel wie Figur-Grund-Relation, Schärfe, Lichtdramaturgie, Retusche, Fragmentierung und Rahmung, aber auch die Störungen der Bildoberfläche. 2. Bewegung des Dargestellten Im Zentrum stehen die tänzerische Gestaltung der Bewegungsmotive wie Sprung, Drehung, Kipp-Momente oder Still-Stellungen. 3. Bewegung der Wahrnehmung Reflektiert wird die Bewegung der Wahrnehmung, die durch das Zusammenspiel von Dargestelltem und Darstellung über die Blickführung und Sinnzuweisungen gestaltet wird. In der Verbindung der verschiedenen Ebenen von Darstellung, Dargestelltem und Wahrnehmung figuriert sich ein Bild von Bewegung. Von hieraus oder von Beginn an einzubeziehen ist dabei der Erscheinungsort und die Erscheinungsform der Fotografie, also der Ort ihrer Auf bewahrung, der Kontext ihrer Veröffentlichung und der Akten der Geschichtsschreibung des Tanzes. Erst in diesem Gefüge generiert und konstituiert sich die historiografische Evidenz von Tanzfotografie.
Isa Wortelkamp
ÜberReste. Strategien des Bleibens in den darstellenden Künsten Zunehmend befassen sich insbesondere Tanz- und Performancekünstler/innen mit dem Wiederholen und Bewahren der eigenen Arbeiten oder der Wieder-Aneignung von historischen Ereignissen in den darstellenden Künsten; Musiktheater und Oper sind wiederum von Beginn an von Verfahren des Bleibens und der Wiederholung geprägt. Weisen des Wieder-Holens werden in den jeweiligen Genres erprobt, welche in der entsprechenden Forschungslandschaft seit einigen Jahren diskursiven Widerhall gefunden haben. Das Forschungsprojekt »ÜberReste. Strategien des Bleibens in den darstellenden Künsten« untersucht die Herausforderungen des Bleibens und Bewahrens in jenen zumeist noch vom Primat der Präsenz her gedachten Kunstformen.14 Im begrifflich bislang recht unsystematischen Feld wieder-holender Verfahren (wie Reenactment, Rekonstruktion 14 | DFG-Forschungsprojekt »ÜberReste. Strategien des Bleibens in den darstellenden Künsten«, Projektmitarbeiterinnen: Katharina Schmidt und Cornelia Schmitz, Institut für Theaterwissenschaft, Freie Universität Berlin, Laufzeit 2014 bis 2017.
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oder Reperformance) nehmen wir eingehendere Analysen vor, die auf eine Revision und Neuformulierung jener Praktiken des re- zielen, welche die ontologischen Verfasstheiten des Theaters nachhaltig berühren, in medialen Transfers verflechten und mitunter verschieben. Damit einher gehen Überlegungen, welche archivarischen Praktiken in Tanz und Performance relevant werden und in welchen Modi wiederum die hier bewahrten relikthaften Hinterlassenschaften zu begreifen sind – so etwa im Sinne wissenschaftlicher Erkenntnis, die von ästhetischer Erfahrung durchquert wird und beispielsweise ›Zufallsbekanntschaften‹ qua überraschender Funde generiert. Wir richten den Fokus auf das Bleibende des Transitorischen,15 das sich in einer doppelten Verfasstheit zeigt, so der bisherige Befund: Zum einen als Zeitfigur von Resten, die zunächst als Spuren von Aufführungen mediale Entgrenzungen in wiederum ästhetische Erfahrungsräume von Museum, Archiv oder in Aufzeichnungsmedien vollziehen und mithin Konzepte einer zeitlichen NachOrdnung auszusetzen vermögen. Sodann als Wieder-Holung im Sinne ästhetischer Verfahren: als Praktiken des Bleibens innerhalb von Aufführungen selbst, so beispielsweise in den Speicher- und Rekonstruktionsversuchen vergangener flüchtiger Bühnenereignisse. Momente des Bleibens, so die paradox formulierte Hypothese, bilden Zwischenfiguren im Zeit-Raum zwischen Vergangenem und Anwesendem, zwischen Ereignis und (scheinbar) verbleibendem Gegenstand, der sich als Artefakt oder auch als wieder-geholte Aufführung gibt. Hierbei gehen wir auch den Einwänden im Hinblick auf behauptete Diachronizitäten von etwa Reenactments oder Rekonstruktionen nach sowie dem prekären Status von Originalen, die wir als genuin disseminiert verstehen,16 da durchweg zu diskutieren ist, wo der Anhalts-Punkt eines Originals in Tanz und Theater aufzufinden wäre: In der ›ersten Idee‹, den gemeinsamen Proben, der Premiere, in einer der nachfolgenden, als ›gelungen‹ bezeichneten Aufführungen? Daran schließt sich notwendig die Überarbeitung methodischer Zugänge an, insbesondere wenn es darum geht, Aufführungen im Spektrum von Reenactments oder Rekonstruktionen zu untersuchen: Ist die künstlerische Praxis mit Fragen danach konfrontiert, auf welche Weise sich dem vergangenen Ereignis anzunähern sei (und impliziert dies zurzeit eine oft singuläre Praxis mit jeweils
15 | Impulsgebend sind hierbei paradigmatische Wechsel im Theater wie sie beispielsweise Rebecca Schneider vorschlägt: Rebecca Schneider, Performing Remains. Art and War in Times of Theatrical Reenactment, London 2011. 16 | Hierbei schließen wir uns an die kritischen tanzwissenschaftlichen Debatten um Begriff und Ontologie des ›Originals‹ an. Vgl. Claudia Jeschke, »›Updating the Updates‹. Zum Problem der ›Identität‹ in der Geschichts-Vermittlung vom Tanz(en)«, in: Christina Turner/ Julia Wehren (Hg.), Original und Revival. Geschichts-Schreibung im Tanz, Zürich 2010, S. 69-79; Krassimira Kruschkova, »Tanzgeschichte(n): wieder und wider. Re-enactment, Referenz, Révérence«, in: Thurner/Wehren, Original und Revival, S. 39-45.
Bewegung – Medien – Archiv
recht individueller Begriffsbildung),17 so muss sich die Theater- und Tanzwissenschaft damit auseinandersetzen, unter welchen Voraussetzungen etwa die Aufführungsanalyse einer Rekonstruktion zu gestalten ist, muss diese doch den Gegenstand und das ›Gewesene‹ des jeweils Wiederholten immer schon mit bedenken. Im Hinblick auf das Wiederholen selbst sind nicht nur die divergierenden künstlerischen Verfahren von Interesse und insbesondere die Übertragungsweisen, etwa von Ereignis zu Ereignis oder von vergangener Aufführung zu anderen medialen Repräsentationen – wobei wir genauer die Bedingungen jener MedienWechsel untersuchen. Nicht zuletzt sind es auch die Politiken der Auswahl, in denen darüber entschieden wird, was wieder gezeigt werden soll.18 In diesen Zusammenhängen haben wir Schlüsseltermini identifiziert, die als Suchformeln fungieren, mit welchen wir die Strategien des Bleibens in ihren unterschiedlichen Erscheinungsweisen betrachten. Mit dem Begriff des Re-Cycling untersuchen wir Praktiken des Zitierens und Repetierens sowie die (oszillierenden) Grenzgänge zwischen Installation und Aufführung. Trisha Browns Projekt Floor of the Forest (1970) beispielsweise, das als Installation sowie als (einmal täglich in der Ausstellung stattfindende) Performance u.a. bei der Documenta 12 (2007) und im Rahmen der Ausstellung Move. Choreographing You (2010-11) wieder gezeigt wurde,19 durchläuft verschiedenste Momente des Recyclings, darunter jene des Genre-Wechsels zwischen Aufführung und Ausstellung als museales Artefakt sowie solche der imaginären Fortschreibungen des Choreografischen innerhalb der je individuellen ästhetischen Erfahrung der Ausstellungsbesucher/innen.20 Somit konstatieren wir eine Erweiterung kopräsenten Erlebens, 17 | Susanne Foellmer, »Replay. Eine Begriffsbestimmung«, in: Tanz. Zeitschrift für Ballett, Tanz und Performance, Jahrbuch 2014 (2014), S. 42-45. 18 | So etwa im Kontext des Förderformats Tanzfonds Erbe, in dem eine Fachjury über die eingereichten Projektanträge zur Rekonstruktion tanzgeschichtlicher Ereignisse entscheidet. Siehe http://tanzfonds.de vom 04.05.2016. 19 | Gezeigt 2010-2011 in London (Hayward Gallery), München (Haus der Kunst) und Düsseldorf (Kunstsammlung). Das Artefakt/die Installation besteht aus je vier senkrechten und waagerechten Metallstangen, die über Seile miteinander verbundenen sind, von denen unterschiedliche Kleidungsstücke wie T-Shirts oder Hosen horizontal herabhängen. Hinweise an der Wand informieren darüber, dass es sich um Trisha Browns Floor of the Forest (1970) handele und einmal täglich eine dreißigminütige Performance in dem Objekt stattfinde. Hierdurch entstehen Wechsel in den Dispositiven Theater/Performance und Museum/Galerie, je nachdem, ob die Betrachter/innen die Ausstellung im Zeitfenster der Performance besuchen oder ›lediglich‹ dem verbliebenen Artefakt gegenüber stehen. Vgl. hierzu Susanne Foellmer, »Re-Cyclings. Shifting Time, Changing Genre in the Moving Museum«, in: Dance Research Journal, Special Issue Dance and the Museum No. 46/3 (2014), S. 101-117. 20 | Ebd.
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das sich nicht nur ›face-to-face‹, sondern auch zwischen Ausstellungsbesucher/ innen und dem (von den Performer/innen) ›verlassenen‹ installativen Artefakt ereignet. Anhand des Schlüsselbegriffs Re-Cycling wird außerdem eine systematische Begriffsklärung der Verfahren des Bleibens vorgenommen und die entsprechenden künstlerischen Strategien am Beispiel ausgewählter Tanzaufführungen und -installationen sowie der Performancekunst untersucht.21 Daran schließen sich weitere Suchparameter an: Mit dem Begriff der Deponie betrachten wir insbesondere die Debatten um das Speichern von Tanz- und Performancegeschichte und die jeweiligen Erinnerungs- und Bewahrungsverfahren in zeitgenössischen Diskursen erneut. Hier gilt es, insbesondere die Materialität des Nachgelassenen oder Wiedergeholten in den Blick zu nehmen, im Wechsel zwischen Ding und Objekt beziehungsweise in den materiellen Transfers von Körper/Bewegung zu beispielsweise (verbleibendem) Kostüm oder Requisit. Außerdem stellen wir die ontologische Verfasstheit von Dokumenten22 auf den Prüfstand: Inwieweit hat etwa die Rede vom »Körper als Archiv«23 Konsequenzen für die Ausdehnung dieses Begriffsfeldes? Und sind Zeitzeug/innen in den Prozessen des Rekonstruierens und Wieder-Holens besonders im Tanz als ›lebende‹ Dokumente eines vergangenen Geschehens zu verstehen?24 Was folgt daraus für Fragen nach der ›Lesbarkeit‹ solcher Dokumente und der Zugänglichkeit so verstandener temporärer Archive?25 Die Begriffe Relikt und Wiederholung konzentrieren sich in diesen Relationen zum einen auch auf Praktiken der Selbstarchivierung in der Performancekunst und beleuchten das Spannungsfeld zwischen objekthaftem Überrest und wiederholbarer Aufführung vergangener, einst singulärer Performanceereignisse. Zum anderen werden Weisen des Zitierens besonders im Tanz neu betrachtet: sowohl 21 | Forschungsprojekt Susanne Foellmer: »Reprisen. Zum Phänomen des Bleibenden in Tanz und Performancekunst«. 22 | In kritischer Diskussion von u.a. Amelia Jones, »Presence in Absentia. Experiencing Performance as Documentation«, in: Art Journal, Performance Art: (Some) Theory and (Selected) Practice at the End of This Century Vol. 56/4 (1997), S. 11-18; Philip Auslander, »The Performativity of Performance Documentation«, in: Performing Arts Journal Vol. 84 (2006), S. 1-10. 23 | Vgl. etwa Martin Nachbar, »SPU(E)REN/LESEN. Ein Versuch über das Tanzarchiv«, in: Janine Schulze (Hg.), Are 100 Objects Enough to Represent the Dance? Zur Archivierbarkeit von Tanz, München 2010, S. 122-137; André Lepecki, »The Body as Archive: Will to Re-Enact and the Afterlives of Dances«, in: Dance Research Journal No. 42/2 (2010), S. 28-48. 24 | Susanne Foellmer, »›Fake it!‹ Dokument und Museum als Behauptungsfiguren in Performance und Tanz«, in: Daniela Hahn (Hg.), Beyond Evidence. Das Dokument in den Künsten, München 2016, im Erscheinen. 25 | Susanne Foellmer, »Situative Archive«, in: Peter Bexte/Valeska Bührer/Stephanie Sarah Lauke (Hg.), An den Grenzen der Archive, Berlin 2016, im Erscheinen.
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als ästhetische Wahrnehmungsfigur, die sich in den Austauschverhältnissen zwischen Zuschauer/in, Bühnengeschehen und Seherfahrungen im »Modus des Déjà Vu« ereignet,26 als auch im Hinblick auf künstlerische Strategien des Referenziellen in zeitgenössischen Tanzproduktionen.27 Die Aspekte Rest versus Spur hingegen spiegeln als scheinbar gegenläufige Perspektiven genau die Ambivalenz wider, von welcher die Wahrnehmung und Nutzung der ›Medien des Bleibens‹ von Aufführungen, wie Video und Partitur, geprägt sind. Aufführungsreste bzw. -spuren in Form audiovisueller Aufzeichnungen von Musiktheater sind entsprechend Gegenstand dieses Untersuchungsbereichs.28 Diese werden für die Methodik der Aufführungsanalyse als Erfahrungsmedien eines vergangenen Geschehens neu positioniert. Die Figur der ÜberReste dient in diesem Forschungsfeld folglich als Anlass, sowohl Verfahren wie Konsequenzen zunehmender künstlerischer, wissenschaftlicher und archivarischer Speicher- und Bewahrungspraxen zu differenzieren. Ziel ist es, die sich ontologisch, begrifflich, ästhetisch, medial und methodisch entfaltenden Verschiebungen in den Dispositiven von Theater, Tanz, Performance und Ausstellung, Museum oder Archiv aufzudecken, für aktuelle theaterwissenschaftliche Diskurse fruchtbar zu machen und diese hierdurch weiter zu entwickeln.
Susanne Foellmer
AUF ZEICHNEN. TR ANSFORMIEREN. Bedingungen der Geschichtsschreibung ephemerer Kunstformen Die Tätigkeit des Aufzeichnens gehört zu den Grundlagen der wissenschaftlichen und künstlerischen Forschung. Mit den Artefakten, die aus ihr resultieren, sind wir in Vermittlung und Präsentation von Aufführungen/Performances und deren Geschichte ständig konfrontiert. Aufzeichnen ist Teil der Kulturtechniken zur Bewahrung und Aufschlüsselung von Informationen. In spezifischer Weise tangiert diese Tätigkeit die Archivprozesse der Aufführungskünste: das Aufge26 | Dissertationsprojekt Katharina Schmidt: »Dem Zitat auf der Spur. Phänomene der Wiederkehr im Tanz«. Vgl. auch Katharina Schmidt, Eingeschobene Nähe. Von der Möglichkeit des Zitats in Alain Platels »tauberbach« und Meg Stuarts »Built to Last«, unveröffentlichte Masterarbeit, Berlin 2014. 27 | Vgl. Susanne Foellmer, »Reenactments und andere Wieder-Holungen« in: Frédéric Döhl/Renate Wöhrer (Hg.), Zitieren, Appropriieren, Sampeln. Referenzielle Verfahren in den Gegenwartskünsten, Bielefeld 2014, S. 69-92. 28 | Dissertationsvorhaben Cornelia Schmitz: »Erfahrung erinnern/vergessen: Audiovisuelle Aufzeichnungen als Instrumente der Aufführungsanalyse von Musiktheater«. Vgl. auch Cornelia Schmitz, Erfahrung erinnern/vergessen: Audiovisuelle Aufzeichnungen als Instrumente der Aufführungsanalyse von Musiktheater am Beispiel von Santiago Blaums SWITCH ON, unveröffentlichte Magisterarbeit, Berlin 2012.
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führte und Erlebte wird in Aufzeichnungen medial so transformiert, dass es kommunizierbar, in neuer und beweglicher Weise zugänglich werden kann.
Aufzeichnen als Transformieren Wenn wir Dokumente oder Spuren von Performances bzw. Aufführungen als mediale Transformationen verstehen, deren technisch-apparative und ästhetischdiskursive Bedingungen reflektiert werden müssen, so verbinden sich mit der Frage nach deren medialem Charakter solche nach den Verfahren ihrer Herstellung, nach den Methoden der Transformation und nach den damit verbundenen Handlungen zu ihrer wissenschaftlichen Bearbeitung. Anhand einer medientheoretisch kontextualisierten Analyse beschreiben wir im Rahmen des Forschungsprojektes »Verzeichnungen«29, in welchen Funktionszusammenhängen welches Artefakt eine spezifische Aussagekraft hinsichtlich des vergangenen Ereignisses (der Performance, der Aufführung) erhält. Eine genaue Untersuchung, wann, wozu, mit welcher Technik Aufzeichnungen erstellt und wie sie verfügbar gemacht werden, ist Voraussetzung dafür, Prozesse einer Arbeit am Archiv (an Archiven) zu systematisieren. Gleichzeitig impliziert sie eine methodische Reflexion, die den Anschluss an den Diskurs der Wissenschaftstheorie und -geschichte versucht, wie er in den letzten Jahren etwa anhand der Schriften Bruno Latours30 und Hans-Jörg Rheinbergers31 diskutiert worden ist. »Wissen im Entwurf«, ein Forschungs- und Veröffentlichungsprojekt des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte in Berlin und des Kunsthistorischen Instituts in Florenz, hat die Frage nach den konstitutiven Bedingungen von Wissensgenerierung ins Zentrum gestellt. Seine veröffentlichten Ergebnisse können als Basis für diese Überlegungen gelten: Im Schreiben und Zeichnen werden nicht nur Wissensbestände bewahrt und übermittelt. Es ergeben sich zugleich spezifische Möglichkeiten, Erfahrungen und Überlegungen neu zu ordnen. Schreiben und Zeichnen müssen auch als epistemische Verfahren verstanden werden, die im Akt der Aufzeichnung an der Entfaltung von Gegenständen des Wissens teilhaben. 32 29 | Das von der DFG geförderte Forschungsprojekt »Verzeichnungen. Medien und konstitutive Ordnungen von Archivprozessen der Aufführungskünste« wird seit 2012 von Franz Anton Cramer und mir durchgeführt und im Sommer 2016 abgeschlossen. 30 | Siehe z.B. Bruno Latour, »Drawing things together«, in: Michael Lynch/Steve Wolgar (Hg.), Representation in Scientific Practice, Cambridge, Massachusetts/London 1990, S. 19-68. 31 | Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2001; Ders., Epistemologie des Konkreten, Frankfurt a.M. 2005. 32 | Christoph Hoffmann, »Festhalten. Bereitstellen. Verfahren der Aufzeichnung«, in: Ders. (Hg.), Daten sichern. Schreiben und Zeichnen als Verfahren der Aufzeichnung, Zürich/Berlin 2008, S. 7-20, hier S. 8.
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Aufzeichnen als Verfahren Dieses Projekt hat Aufzeichnen als ein Verfahren des Beschreibens, Protokollierens, Sammelns, Sichtens und An-Ordnens von Beobachtungen, Gedanken etc. im Medium der Schrift und der Zeichnung verstanden. Konfigurationen von gestischen, medialen und konzeptuellen Elementen werden in Hinblick auf ihren Anteil am Entstehen sowohl von Wissens- wie von künstlerischen Prozessen untersucht, in ähnlicher Weise wie Rüdiger Campe33 und Martin Stingelin34 die ›Schreibszene‹ extrapoliert haben. Vergleichbare Konstellationen lassen sich für andere mediale Verfahren des Aufzeichnens wie Fotografieren, Filmen, Tonaufnahmen etc. beschreiben. Zur Charakterisierung dieser Konstellationen scheint es mir hilfreich, den Begriff »Apparat-Operator-Komplex«35 auf seine Brauchbarkeit zu untersuchen.36 Dieser ›Komplex‹ umfasst die technisch-apparativen Bedingungen sowie die (daran gekoppelten) gestalterischen Entscheidungen der Fotograf_innen oder Filmer_innen, die z.B. auch eine Auffassung über das Dokumentarische implizieren, an einen spezifischen Stil einer Zeit anschließen etc.37 Der Aufnahmemodus ist nur einer von verschiedenen Konfigurationen und konzeptionell zu verstehenden Transformationsschritten, die man beim Lesen der Archiv-Artefakte in Rechnung zu stellen hat; ebenso müssen Prozeduren von analogem und digitalem Bearbeiten der Aufnahmen und deren je historische technische und gestalterische Standards beachtet werden.
Mediale Differenzen – unterschiedliche Referenzqualitäten? Die Selbstverständlichkeit, mit der Filme bzw. bewegte Bilder aufgrund ihrer Nähe zur zeitlichen Ausdehnung der Ereignisse als Dokumente gelesen werden, möchte ich mit den folgenden Überlegungen erweitern und kontextualisieren. Es handelt sich um einen ersten Versuch, verschiedenen medialen Formen des Aufzeichnens unterschiedliche Referenzqualitäten zuzuordnen, dessen Fundierung und Erweiterung ausgearbeitet werden muss. 33 | Rüdiger Campe, »Die Schreibszene. Schreiben«, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistomologie, Frankfurt a.M. 1991, S. 759-772. 34 | Martin Stingelin, »Schreiben«, in: Ders. (Hg.), Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum. Schreibszenen im Zeitalter des Manuskripts, München 2004, S. 7-21. 35 | Vilém Flusser, Kommunikologie, hg. v. Stefan Bollmann/Edith Flusser, Frankfurt a.M. 1998, S. 184f. 36 | Inzwischen habe ich dazu einige Überlegungen publiziert: Barbara Büscher, »Medial Gestures. On the ›decipherability‹ of techno-images (Vilém Flusser) and their production«, in: MAP media archive performance #7 (2016), siehe: www.perfomap.de/map7 vom 20.04.2016. 37 | Siehe dazu Barbara Büscher, »Lost & Found. Performance und die Medien ihres Archivs«, in: MAP media archive performance #1 (2009), www.perfomap.de/map1/ii.archiv-praxis/lost-and-found1 vom 12.03.2016.
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1. Bewegte Bilder, Fotografie würde ich gerne in Hinblick auf ihre Realitätsreferenz, Oberflächenreferenz beschreiben. Sowohl in Filmtheorien (Bazin, Kracauer)38 als auch in Theorien zur Fotografie spielt der Aspekt eines spezifischen Verhältnisses zwischen Bild und Objekt eine Rolle. Aufzeichnen wird dann verstanden als Bewahren der Oberfläche von Erscheinungen, als Verschränkung von Ikonischem (Wahrnehmungsähnlichkeit) und Indexikalischem (Imprint, Spuren des Dagewesenen) in Anknüpfung an Peirce39. Der Diskurs um das Dokumentarische – sei es in Fotografie oder Film – dockt hier an und versucht, diesen Referenzen auf die Spur zu kommen. 2. Notationen, Scores, Diagramme, Modellzeichnungen u.ä. Formen des Diagrammatischen, an denen mich vor allem deren Strukturreferenz interessiert, das heißt die Möglichkeit, Relationen innerhalb einer Aufführung/eines Ereignisses auf einer abstrahierenden Ebene über graphische Modellierungen sichtbar zu machen. Die Spezifität des Diagrammatischen zur Strukturbildlichkeit – wie es u.a. Sybille Krämer40 genannt hat – interessiert mich vor allem in seiner Operativität: nicht nur als Veranschaulichung von etwas anderweitig bereits Aufgezeichnetem, sondern als eine Form genuiner Erkenntnisleistung. – Der Begriff des Diagrammatischen könnte und sollte stärker als bisher für unser Themenfeld produktiv gemacht werden, z.B. indem man die beiden Projekte der Forsythe Company, Synchronous Objects und Motion Bank, in diesem Kontext auf ihren Erkenntnisgewinn untersucht.41 Interessant und virulent werden diese Formen des Aufzeichnens für den gesamten Bereich der Aufführungskünste insbesondere dort, wo keine vorrangig narrative Strukturlogik zu identifizieren ist. Gleichzeitig können Formen des Diagrammatischen auch Vorlagen, Entwürfe, Modelle oder Handlungsanweisungen sein, also Formen der Aufzeichnung, die dem Prozess der Kreation und Produktion zugeordnet sind. 3. Was neben Erinnerungsprotokollen und offenen Interviews, geschriebenen und gesprochenen Erzählungen Aufzeichnungsformen sein könnten, die meinen 38 | Siehe André Bazin, Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films, hg. v. Hartmut Bitomsky, Harun Farocki und Ekkehard Kaemmerling, Köln 1975; Siegfried Kracauer, Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 2012. 39 | Siehe Charles S.Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen, hg. v. Helmut Pape, Frankfurt a.M. 1983. 40 | Sybille Krämer, »Operationsraum Schrift«, in: Gernot Grube/Werner Kogge/Sybille Krämer (Hg.), Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, Paderborn/ München 2005, S. 23-60. 41 | Siehe dazu das Gespräch zwischen Scott deLaHunta/Florian Jenett/Franz Anton Cramer, »A Conversation on Motion Bank«, in: MAP media archive performance #6 (2015), www.perfomap.de/map6/medien-und-verfahren-des-aufzeichnens/a-conversation-onmotion-bank vom 12.03.2016.
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dritten Referenzaspekt, den des Atmosphärischen oder des situativen Erlebens betreffen, ist noch relativ undeutlich. »Die sich räumlich ausbreitenden Atmosphären einer Aufführung können als Zeichen Bestandteil eines theatralen Codes sein, allerdings sind sie zuallererst ein spürbares Phänomen, eine leiblich-affektive Anmutung des Dargebotenen.«42 Auch wenn das Herstellen von Atmosphären ein Aspekt jeglicher theatraler Inszenierung ist, tritt doch in den Aufführungsformen, die versuchen, eine narrative Logik zu unterlaufen oder zu verweigern, besonders deutlich hervor, wie sehr diese Anmutungen konstitutiv für das situative Erleben und Wahrnehmen sein können. In der Betrachtung von Atmosphären rückt deutlich das Gesamte der Situation – des Raumes z.B. oder der Kommunizierenden – in den Fokus. Etwas, das im Aufzeichnen durch Fotografie und Film ebenso wie in den klassischen Formen des Diagrammatischen zumeist außer Acht gelassen wird, indem sie sich auf das Aufgeführte/Präsentierte (als Werk) konzentrieren. Diese drei Bereiche seien beispielhaft genannt, weitere Arten von Aufzeichnungen müssten ergänzt werden, lassen sich doch Aussagen über vergangene Ereignisse nur auf der Basis der Komplementarität dieser vielfältigen Verfahren der Transformation machen.
Barbara Büscher
42 | Sabine Schouten, Sinnliches Spüren. Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater, Berlin 2007, S. 110.
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Inszenierung von Wissen und Partizipation im zeitgenössischen Tanz Katja Schneider
Im April 2006 tagte im Berliner Haus der Kulturen der Welt der von der Kulturstiftung des Bundes initiierte »Tanzkongress Deutschland« unter dem Motto Wissen in Bewegung. Das zwischen der Betonung sich verändernder, dynamischer Wissensmengen und Wissensarten sowie einem kinästhetischen Wissen oszillierende doppeldeutige Motto wurde zum Titel des ein Jahr später erschienenen Sammelbands zur Veranstaltung.1 Tanz als Teil jener epistemischen Kultur, die Wissen schafft und Wissen generiert, setzt sich also in ein Verhältnis zu etablierten Wissensformen. Dieses Verhältnis ist ein durchaus kritisches, das sich zum Ziel setzt, »die Köpfe durch den Körper aufzuklären, die Herrschaft einer eindimensionalen Rationalität durch die Bewegungen unserer Leiber in Frage zu stellen«.2 Die Beiträge des Sammelbands kreisten um Potentiale des Körpers, des Tanzes und der Choreographie in wissenschaftlicher und künstlerischer Forschung. Wissen in Bewegung versammelt so Fragestellungen, Konzepte, Perspektiven einer Forschung, die gleichermaßen künstlerische und wissenschaftliche Wissensstrategien verbinden will. Die Aufmerksamkeit galt dabei jenem spezifischen »komplexen performativen Wissen der raum-zeitlichen Organisationskunst von bewegten, sich-bewegenden Körpern, mit denen Choreographen vorzugsweise umzugehen verstehen«.3 So formulierte es zusammenfassend der zwei Jahre später erschienene Sammelband Wissenskultur Tanz, der flankierend und problematisierend das Feld von Tanz und Wissen untersuchte. Was sich als Wissen im und mit Körper aktualisiert, sei »einem vielschichtigen 1 | Sabine Gehm/Pirkko Husemann/Katharina von Wilcke (Hg.), Wissen in Bewegung. Perspektiven der künstlerischen und wissenschaftlichen Forschung im Tanz, Bielefeld 2007. 2 | Hortensia Völckers, »Vorwort«, in: Gehm/Husemann/Wilcke, Wissen in Bewegung, S. 9-13, hier S. 11. 3 | Hartmut Böhme/Sabine Huschka, »Prolog«, in: Sabine Huschka (Hg.), Wissenskultur Tanz. Historische und zeitgenössische Vermittlungsakte zwischen Praktiken und Diskursen, Bielefeld 2009, S. 7-22, hier S. 9.
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Regel- und Erfahrungswissen unterworfen« 4 und changiere zwischen »intermedialen Vermittlungsakten«5. Um solche intermedialen Bezüge zwischen Körper, Wissen, Sprache und Text sowie kulturelle Imprägnierungen dieser Verbindungen soll es im Folgenden gehen. Für den europäischen Bühnentanz markiert dabei die Arbeit von Pina Bausch einen zentralen Einschnitt. Ihre spezifische Arbeitsweise, die berühmten Fragen und Aufgaben, die sie den Tänzerinnen und Tänzern verbal stellte (und die verbal wie nonverbal beantwortet wurden), beschreibt Jeroen Peeters in Wissen in Bewegung auch im Kontext von Wissen als revolutionär: Hier lohnt es sich anzumerken, dass die modernistische Hierarchie der Wissensproduktion auf dem Gebiet des europäischen Tanzes zu Fall gebracht wurde, als Pina Bausch damit begann, ihren Tänzern Fragen zu stellen und sich ihre Antworten anzuhören, wodurch sie die Positionen der Wissenden mittels der Rede neu verteilte. 6
Alle wussten, so Peeters, gleich viel nicht. Choreographin und Ensemble wussten nicht, welche Antworten in welcher Form beibehalten würden, wie der künstlerische Prozess verlaufen, wie das Stück schließlich aussehen würde. Die Unkenntnis über Ablauf und Ausgang des Probenprozesses ermöglichte Teilhabe an einem Wissensgebiet, »in dem alle am Schöpfungsprozess beteiligten Personen die gleiche, vielversprechende Ausgangsbasis des ›Nicht-Wissens‹ teilen« 7 und von dieser Position aus gemeinsam Wissen schufen. Verbale Fragen, verbale und nonverbale Antworten, »Rede«, wären demnach Mittel gewesen, im Tanz tradierte Wissenshierarchien zu stürzen. Wobei allerdings zu beachten ist, dass partizipatives Wissen und Nicht-Wissen durchaus asymmetrisch verteilt waren, insofern die Tänzerinnen und Tänzer Antworten lieferten, aber ihrerseits keine Fragen stellten. Sie öffneten ihr privates Archiv (Wissen 1), griffen auf ihre künstlerische Expertise zurück (Wissen 2), um Wissen 1 performativ zu transformieren, was von Bausch choreographisch verarbeitet wurde (Wissen 3), die sich dabei nicht an etablierten kunsttheoretischen Programmen (Wissen 4) orientierte, sondern eine neues ästhetisches Wissen hervorbrachte (Wissen 5). Eine andere prominente und inzwischen kanonisch gewordene Form des aktualisierten Wissens im Tanz ist – neben etwa dem digitalen Notationsarchiv Motion Bank oder anderen Produktionen William Forsythes – das Format der Lecture Performance, einer im Tanz vergleichsweise jungen künstlerischen 4 | Ebd., S. 12. 5 | Ebd. 6 | Jeroen Peeters, »Wie möchten Sie heute arbeiten? Anmerkungen zu einem alternativen choreographischen Modus für die Redeproduktion«, in: Gehm/Husemann/Wilcke, Wissen in Bewegung, S. 113-121, hier S. 117. 7 | Ebd., S. 117f.
Inszenierung von Wissen und Par tizipation im zeitgenössischen Tanz
Strategie.8 Im Fall von Xavier Le Roys Product of Circumstances (1999) stützt sie sich auf den szientifischen Aspekt des Begriffs ›lecture‹, der als theoriegesättigter Vortrag fungiert, um grundlegende theaterspezifische Konzepte wie Repräsentation und Performativität einerseits zu untersuchen und andererseits gesellschaftskritische Fragen (wie: Was wird gesellschaftlich als ›Wissen‹ markiert und wie stellt sich das her?) zu unterbreiten. Gesprochene Sprache und Text sind konstituierende Elemente einer Lecture Performance, die funktionalisiert ist für die Abgrenzung zeitgenössischen Tanzes gegen eine Bestimmung von Tanz als kontinuierliche Motorik. Eine Lecture Performance liefere ein Beispiel dafür, wie Tanz selbst als Modus des Denkens, des Forschens und des Verstehens – mithin also als spezifische Form des Wissens – gefasst werden kann, so Bleeker.9 In den 1990er Jahren und den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts, für die Xavier Le Roys Product of Circumstances als modellbildende Arbeit stehen soll, fand hinsichtlich der Konstellation von Wissensbeständen und ihrer intermedialen Vermittlung eine entscheidende Modifikation statt: Was Peeters als das allen gemeinsame Nicht-Wissen und als Operationsbasis fasste, wandelte sich zum hochindividualisierten, spezifischen Wissen eines Spezialisten, das einen »postdisziplinären Künstler«10 auszeichnet. Anders als im Konzept des Bausch-Tänzers, der als Kompaniemitglied gefordert war, Intimes preiszugeben, auf Alltägliches wie Werbebotschaften Bezug zu nehmen und dies mit den spezifischen Mitteln seiner Kunst (Tanz, Theater) zu gestalten, ist der »postdisziplinäre Künstler« von spezifischen Wissenskulturen und Diskursen imprägniert und macht diese weniger zum Gegenstand/Stoff als vielmehr zum Motor/Konzept seiner Arbeit, die sich an der Schnittstelle von Kunstpraxis und Kunsttheorie bewegt. Das somatische und diskursive Wissen, 8 | Die Lecture Performance als künstlerisches Format wurde erstmals im Bereich der bildenden Kunst/Performance Art erprobt und zwar mit 21.3. (1964) von Robert Morris. – Pirkko Husemann markiert mit Le Roys Product of Circumstances einen »Boom« von Lecture Performances in der Tanzszene: Pirkko Husemann, »Die anwesende Abwesenheit künstlerischer Arbeitsprozesse. Zum Aufführungsformat der lecture-performance«, in: Krassimira Kruschkova (Hg.), Ob?scene – Zur Präsenz der Absenz im zeitgenössischen Tanz, Theater und Film, Maske und Kothurn 5 (2005), S. 85-97, hier S. 85. Gabriele Brandstetter sieht in den Arbeiten von Le Roy den Ausgang einer »Initialwirkung« für dieses »neue und provozierende« Genre: »Tanzen Zeigen. Lecture-Performance im Tanz seit den 1990er Jahren«, in: Margrit Bischof/Claudia Rosiny (Hg.), Konzepte der Tanzkultur. Wissen und Wege der Tanzforschung, Bielefeld 2010, S. 45-61, hier S. 47. 9 | Vgl. Maaike Bleeker, »Lecture Performance as Contemporary Dance«, in: Susan Manning/Lucia Ruprecht (Hg.), New German Dance Studies, Urbana/Chicago/Springfield 2012, S. 232-246, hier S. 239. 10 | Martina Ruhsam, Kollaborative Praxis: Choreographie. Die Inszenierung der Zusammenarbeit und ihre Aufführung, Wien/Berlin 2011, S. 172.
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das dieser singuläre Spezialist mit anderen singulären postdisziplinären Spezialisten teilt und generiert, ist nach Ruhsam multifokal: »Der kombinatorische und eklektische Habitus produziert ein vielseitiges Wissen, dessen heterogene Quellen nicht mehr in einer Disziplin, einer Institution, einer Autorität oder einer Praxis nachvollzogen werden können.«11 Künstlerisch produziert wird auf diese Weise ein gemischtes Wissen (ein semantisiertes geteiltes und kombiniertes Wissen) sowie Mischformen von Wissen (als pragmatisches Strategem). Der damit konfrontierte Rezipient kann unterscheiden, dass es sich dabei um unterschiedliche Arten von Wissen handelt, er kann bemerken (und spüren), dass neue, unkonventionelle Präsentationsformen im Spiel sind. Er wird versuchen, an diesen Wissenssystemen mitreflektierend teilzuhaben, kann sich aber – nach Ruhsam – nicht auf eine Kennerschaft zurückziehen, da die Vermittlungsformen dafür nicht mehr stabil genug sind.12 Gleichwohl wird spezifisches Wissen auf Seiten der Rezipienten vorausgesetzt, um einen Zugang zu solchen Arbeiten zu erhalten. Für die Rezeption durch die Presse, konstatiert Pirkko Husemann, »braucht es aufseiten der Tanzkritik aber auch eine Kenntnis der wichtigsten theoretischen Referenzen, die in die Konzepte der Choreographen eingegangen sind.«13 In der letzten Dekade des 20. und in der ersten des 21. Jahrhunderts waren vor allem poststrukturalistische und systemtheoretische Referenzen als Kenntnis im Sinne Husemanns für Tanzproduktionen relevant; ab spätestens 2011, mit der Einrichtung des Tanzfonds Erbe durch die Kulturstiftung des Bundes, der planmäßig fördert, was im Zuge des Interesses an Reenactments14 bereits mehrfach erprobt wurde, wird ein explizites tanzhistorisches Wissen relevant – sowohl für die Produzenten als auch die Rezipienten. Ob solche Texte vom Umfeld der Produktion selbst erstellt oder von theaterwissenschaftlich informierten Kritikern geschrieben werden, sie übernehmen Kommentarfunktionen, die man mit Hubert Locher als Modus des »interpretierenden Zeigens«15 bezeichnen könnte. Folgt man dieser im Feld der bildenden 11 | Ebd. 12 | Diese Form künstlerischer Praxis ist bereits in den künstlerischen Konzepten der Moderne angelegt. 13 | Pirkko Husemann, Choreographie als kritische Praxis. Arbeitsweisen bei Xavier Le Roy und Thomas Lehmen, Bielefeld 2009, S. 114. 14 | Zum Reenactment vgl. Sven Lütticken (Hg.), Life, once more. Forms of Reenactment in Contemporary Art, Rotterdam 2005; Christina Thurner/Julia Wehren (Hg.), Original und Revival. Geschichts-Schreibung im Tanz, Zürich 2010; Andreas Backoefer/Nicole Haitzinger/Claudia Jeschke, Tanz & Archiv: Forschungsreisen, Heft 1 Reenactment, München 2009; Jens Roselt/Ulf Otto (Hg.), Theater als Zeitmaschine. Zur performativen Praxis des Reenactments. Theater- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld 2012. 15 | Hubert Locher, »Worte und Bilder. Visuelle und verbale Deixis im Museum und seinen Vorläufern«, in: Heike Gfrereis/Marcel Lepper (Hg.), Deixis. Vom Denken mit dem Zeigefinger, Göttingen 2007, S. 9-36, hier S. 13. Das sich auf Brian O’Doherty beziehende
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Künste entwickelten Auffassung, dann legt sich derart spezifisches Wissen den Produktionen an und erweitert deren Extensionen über das Erlebnis des Theaterabends hinaus. Texte im engen Umfeld solcher Produktionen werden damit selbst zu verbalen Kontexten, wie sie im Feld der bildenden Kunst in Form von Beschriftungen, Audioguides und Katalogen üblich sind. Die verbalen Zeigegesten der kontextualisierenden Texte im hier verhandelten Feld zeitgenössischen Tanzes ergänzen in Form sich anlegenden Wissens den performativen Akt. Diese interdependenten, dynamischen Relationen begleiten den konzeptuellen Zugriff auf künstlerische Strategien und Prozesse sowie deren Umsetzung im künstlerischen Prozess. Damit konturiert sich ein Feld neu, das stückextern zirkulierende Relationen und Bezugnahmen im Feld des Wissens situiert, mit diskursiven Mitteln vernetzt und partizipativ konzipiert. Solche Relationen und Bezugnahmen zirkulieren aber auch stückintern, generiert durch spezielle Referenzen und Kontexte, die durch Texte als Performativa16 entstehen. Der ›performative Zeigegestus‹ der Inszenierung betont dann den verbalen Zeigegestus so stark, dass sich mit ihm spezifische Sinnhorizonte und Verweisungskontexte aufspannen, die Wissensinhalte bereithalten, die sich partizipativ eröffnen lassen. Im Fall von Reenactments lässt sich systematisch beobachten, dass eine – verbale – Kontaktzone generiert wird, die intermedial zwischen historischem Tanzereignis und Reenactment vermittelt. Diese Kontaktzone kann aus wenigen Sätzen bestehen wie in Nicole Beutlers 2: Dialogue with Lucinda (2010) oder aus einem längeren Narrativ, das über den Prozess der Aneignung quasi dokumentarisch informiert wie in Urheben Auf heben (2008) von Martin Nachbar. Hier werden Wissensinhalte, die auch auf anderem Wege (Archive, Bücher, Filme) zu erfahren beziehungsweise verfügbar wären, persönlich perspektiviert und an den Rezipienten funktional und performativ vermittelt. Anders verhält es sich, wenn stückintern Verweisungskontexte und Referenzen aufgerufen werden, die in ihrer Perspektivierung und Funktionalisierung für ein relevantes Wissen nicht so klar erscheinen wie in Reenactments. Referenzen und Kontexte, auf die Bezug genommen werden, erscheinen dann zunächst als fragmentiert, allenfalls lose verbunden und in ihrem semantischen Gehalt ungerichtet. Die choreographische Strategie nimmt dabei kuratorische Züge an, die in der Ausstellung und Hervorhebung einzelner inszenatorischer Elemente – eine Bewegung, ein Song, ein Text, ein Objekt, eine Atmosphäre etc. – und deren Referenzen untereinander Wissen teilt.
Konzept des interpretierenden Zeigens meint »die Formulierung einer ›Aussage‹ mit und zu den gezeigten Dingen durch deren Kontextualisierung«. Locher rekurriert hier nicht nur auf die Verwendung von erläuterndem Text in Museum und Galerien, sondern vor allem auf die Wahl der Präsentation von Objekten, deren Ausstellung. 16 | Das Konzept von Text als Performativ habe ich in größerem Kontext entwickelt in: Tanz und Text. Zu Figurationen von Sprache und Bewegung, München 2016.
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Das möchte ich an zwei sehr heterogenen Beispielen verdeutlichen: In seinem Solo Black Swan (2012) eröffnet Richard Siegal einen semantischen Horizont, der sich von der Figur des Schwarzen Schwans im Ballett Schwanensee über die Titelfigur in Darren Aronofskys gleichnamigem Spielfilm17 spannt bis zu den Beobachtungen von Nassim Nicholas Taleb, der für geschichtliche Zufallsereignisse mit immensen Folgen in seinen Büchern Fooled by Randomness und The Black Swan die Metapher »Black Swan« verwendet. Auf den amerikanischen Philosophen verweist Siegal als einzigen Textspender neben sich selbst im Programmheft (und das in einem Stück, das ein Gedicht ans andere reiht, alle von prominenten amerikanischen Autoren). Zu hören ist der Begriff »retrospective distortion«, der auch von Taleb stammt und meint, dass in der Vergangenheit liegende Ereignisse mit dem Wissen von heute interpretiert und so rationalisiert werden. Solche Sinnstiftungen verdankten sich allerdings einer rückwirkenden Verzerrung (eben einer »retrospective distortion«) der zufälligen Ereignisse zu sinnhafter Kausalität. Die verbalen ›performativen Zeigegesten‹ ermöglichen Momente gesteigerter Sinnhaftigkeit, die rückwirkend Orientierungsleistungen herstellen, indem sie performativ Wissen bereitstellen. Ein Beispiel aus Raimund Hoghes frühem Solo Meinwärts (1994), in dem vielfach die Verfolgung des jüdischen Tenors Joseph Schmidt durch die Nationalsozialisten thematisiert wird: Hier verschiebt Hoghe den Fokus auf die Nachwirkungen dieser Verfolgung, indem er aus dem Off eine O-Ton-Einspielung bringt, in der Paul Celan sein Gedicht Todesfuge liest.18 Die entscheidende Erweiterung des Kontexts auf die Nachkriegszeit ergibt sich aus der medialen Präsentationsform – der O-Ton-Einspielung Celans, die durch ihren ›singenden‹, pathetischen Rezitationsduktus auffällt. Über diese Rezitationsweise stellt Hoghe eine Verbindung her zur Nachkriegszeit, speziell zu Celans Lesung bei der Tagung der Gruppe 47 in Niendorf im Mai 1952. Somit ist die Einspielung Celans doppelt funktionalisiert, indem sie zum einen auf die Zeit des Nationalsozialismus zurückverweist, zum anderen die Nachkriegszeit aufruft und beide Zeiten miteinander verbindet. In beiden Systemen ist Celan als Außenseiter stigmatisiert: Als Jude im nationalsozialistischen Regime verfolgt, innerhalb der Gruppe 47 verlacht, und das mit antisemitischem Unterton. Letzteres ist ein solcher referentieller Kontext, der textintern aufgerufen, aber nur über ein angelegtes Wissen aktualisiert werden kann. Denn ausgegrenzt wurde Celan wegen seiner Abweichung von der (grup-
17 | Black Swan (USA 2010, R: Darren Aronofsky). 18 | Celan las sein 1944/45 geschriebenes, 1948 erstmals gedrucktes und durch den Band Mohn und Gedächtnis (Dezember 1952) bekannt gewordenes Gedicht in den 1950er Jahren am Tag nach der Lesung bei der Gruppe 47 auf Anfrage Ernst Schnabels beim Nordwestdeutschen Rundfunk ein; eine andere, heute verfügbare Aufzeichnung erschien 1958 auf einer Sprechplatte Lyrik der Zeit des Verlags Günter Neske (im Netz unter: www.zeithistorische-forschungen.de/2-2011/id %3D4721 vom 02.04.2016).
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penintern geltenden) Norm der »Stimmlosigkeit«19, die sich auf den Duktus des Vortrags bezieht. Standen die Herren der Gruppe 47 für einen sachlichen Tonfall, der bis ins landserhaft Knappe herabgestimmt werden konnte, trug Celan in tönendem, hochgestimmtem, expressionistisch gefärbtem Duktus vor. Aus dem wohl pochenden christlichen Gewissen heraus, das der Gruppen-Strategie gegenüber Juden (Sicherung des Differenz-Tabus durch Schweigen) nicht immer gewachsen sein mag, erzählt [Walter] Jens, daß Celan, als er beim Treffen in Niendorf 1952 ein erstes Mal in Deutschland las und mit seiner bald über Rundfunk und Lesereisen bekannt gewordenen singenden Stimme (»Der liest ja wie Goebbels«) unter anderen Gedichten die ›Todesfuge‹ vorgetragen hatte, ausgelacht worden ist – ›so daß dann später‹, so Jens, ein Mitglied der ersten Stunde (es war Walter Hilsbecher) die Texte ›nocheinmal vorlesen mußte.‹ 20
Hier treffen zwei oppositionelle performative Entwürfe aufeinander: Erstens die Idee, den Vortrag auf die Semantik fokussiert zu lesen, quasi »stimmlos«, und »einer anderen, für die in das Stimmereignis konstitutiv Ausdrucks- und Appellvalenzen eingeschrieben sind«.21 Die als so störend empfundene abweichende Stimme ist ein leibliches Phänomen, eine spezifische Form performativer Präsenz.22 Fokussiert man darauf als Merkmal der Ausgrenzung, dann teilt Celan vergleichbare Merkmale mit Schmidt und Hoghe: Schmidt war zu klein für die Opernbühne, der Performer Hoghe ist auf Grund seiner geringen Größe und
19 | Cornelia Epping-Jäger, »Stimmbrüche. Celan liest in Niendorf«, in: Horst Wenzel/ Ludwig Jäger (Hg.), Deixis und Evidenz, Freiburg i.Br./Berlin/Wien 2008, S. 195-215, hier S. 205. 20 | Klaus Briegleb, Mißachtung und Tabu. Eine Streitschrift zur Frage: »Wie antisemitisch war die Gruppe 47?«, Berlin/Wien 2003, S. 79. 21 | Epping-Jäger, »Stimmbrüche«, S. 205. Epping-Jäger weist im Weiteren darauf hin, dass die Stimmlosigkeit mit Neutralisierung und Nicht-Involviertheit korreliert ist (ebd.). Celans pathetischer Vortrag bedeutete eine »Störung«, eine »Irritation, die Celan dadurch heraufbeschwor, dass er in diesem mit dem Pathos der Nüchternheit ›armierten‹ Raum des kontrollierten Neuanfangs eine Stimme zu Gehör brachte, die nicht nur die fragile Erinnerungsvermeidung mit dem thematischen Aufruf der Shoah durchbrach, sondern in der auch zum Ausdruck kam, dass hier ein an die Nicht-Tabuisierung der Erinnerung appellierendes ›Ich‹ sich artikulierte.« (S. 209) 22 | Zur Stimme vgl. Sybille Krämer, »Sprache – Stimme – Schrift: Sieben Gedanken über Performativität als Medialität«, in: Uwe Wirth (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2002, S. 323-346; Doris Kolesch/Jenny Schrödl (Hg.), Kunst-Stimmen, Berlin 2004; Mladen Dolar, His Master’s Voice. Eine Theorie der Stimme, Frankfurt a.M. 2007; Vito Pinto, Stimmen auf der Spur. Zur technischen Realisierung der Stimme in Theater, Hörspiel und Film, Bielefeld 2012; Jenny Schrödl, Vokale Intensitäten. Zur Ästhetik der Stimme im postdramatischen Theater, Bielefeld 2012.
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seines kyphotischen Rückens von der traditionellen Tanzbühne ausgeschlossen worden, Paul Celan wurde wegen seiner Intonation diskriminiert. Wenn nun Text, Wissen und Partizipation als ein bestimmendes Paradigma (neben anderen) für zeitgenössischen Tanz gelten kann, dann stellt sich die Frage, ob und wie sich durch solche Referenzen und Kontextverweise die Relation zwischen Bühne und Publikum verändert. Für das Publikum stehen Texte, Verweise und Referenzen in einem ›simultaneous present‹ zu den übrigen kinästhetischen, visuellen, auditiven, haptischen, olfaktorischen und sensitiven Wahrnehmungen einer Aufführung. Die Ströme an Texten, Daten, Begriffen laufen potentiell bis zur Grenze der Überforderung auf den Rezipienten zu; das lässt die Frage offen, welche positiven Möglichkeiten deren Nachvollzug eröffnet, was es überhaupt bedeutet, solch ein Theater zu erleben. Anscheinend kann es nicht um das distanziert kognitive Erfassen einer theatralen Totalität in actu gehen, auch nicht um ein ›Fliegenbeinezählen‹ im protokollarischen Gestus. Stattdessen entwickelt die verdichtete Dramaturgie mit ihren repetitiven Spiralen, aufschäumenden Höhepunkten und kontextuellen Clustern textuelle Widerhaken, die Gesprochenes, Geschriebenes, Gesungenes, Namen, Begriffe ins Spiel bringen. Diese entfalten ihre Bezüglichkeit erst dann voll, wenn der Zuschauer sich partizipativ auf Text einlässt, dessen verbalen Zeigegesten folgt. Hier ist an Jacques Rancières Bemerkung in Der emanzipierte Zuschauer 23 zu erinnern, dass es darum gehe, »das, was man weiß, mit dem zu verbinden, was man nicht weiß, gleichzeitig Performer zu sein, der seine Kompetenzen entfaltet, und Zuschauer, der beobachtet, was diese Kompetenzen in einem neuen Kontext bei anderen Zuschauern hervorrufen«.24 Für Rancière folgt daraus, dass der Zuschauer aus dem Erlebten »seine eigene Geschichte«25 macht, wobei zu fragen ist, was Rancière mit dem Begriff »eigene Geschichte« meint. Mir scheint es dabei um eine subjektive, aber keine beliebige Geschichte zu gehen, denn Rancière vergleicht das ›Zusammenstellen‹26 des Rezipienten – den Prozess des Sehens, Fühlens und Verstehens im Akt der Rezeption – mit dem ›Zusammenstellen‹, »wie es auf ihre Weise die Schauspieler oder Theatermacher, Regisseure, Tänzer oder Performer tun«27. In dieser Konstellierung betont Rancière eine logisch anzunehmende Konvergenz, die sich aus einer Prozedur ergebe, die auf das theatrale Ereignis vorgängig (Theatermacher, Regisseur) und in actu (Schauspieler, Tänzer, Performer, Rezipient) einwirke beziehungsweise es herstelle. Die Tätigkeiten und die Ergebnisse der Beteiligten beziehen sich so auf ein gemeinsames zu inszenierendes respektive inszeniertes künstlerisches Feld. Insofern befinden sich Deno23 | Jacques Rancière, »Der emanzipierte Zuschauer«, in: Ders.: Der emanzipierte Zuschauer, Wien 2009, S. 11-34. 24 | Ebd., S. 33. 25 | Ebd. 26 | Ebd., S. 24. 27 | Ebd.
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tationen, Konnotationen, Abduktionen sowie Resonanzen durch den konstellierenden Akt, in dem sich die prozedural entstehende und ebenso wahrgenommene theatrale Situation entfaltet, in einem Prozess referentieller Verknüpfungen. Die dabei vorgenommenen Unterscheidungen, Verweise und Übersetzungsprozesse sind mehrfach perspektivisch gerahmt und unterschiedlich hierarchisiert, und sie sind im Akt der Bezugnahme gerichtet.28 Referentielle Verknüpfungen ergeben sich auch über den Rahmen der Aufführung hinaus und möglicherweise sogar erst in deren Nachhall und Nachgang. Was im Zeitalter der digitalen Suchmaschinen kein größeres Problem darstellt. Was prinzipiell gewusst werden kann, das kulturelle Archiv einer Gesellschaft, hat heute – so lange die Ressourcen reichen und politisch-situationell nicht die Netze abgeschaltet oder von Filtern und Rankings entscheidend manipuliert werden – eine Größe und Verbreitung erreicht, in der die Kompetenz eingefordert wird, nicht nur einzelne Daten zu ermitteln, sondern diese zu hierarchisieren und in Beziehung zueinander zu setzen. Und zwar aus und trotz der subjektiven Perspektive latenter, tendenzieller oder manifester permanenter Überforderung. Zur Herausforderung für den Rezipienten wird die Frage, wie die angebotenen und partizipativ ermittelten textinternen und textexternen Wissensbestände mit dem eigenen Wissen und den eigenen Erfahrungen verknüpft werden können. Hier spiegelt die künstlerische Praxis unsere alltägliche Praxis im Umgang mit Wissen im digitalen Zeitalter. Nicht die Verfügbarkeit von Wissen ist entscheidend, sondern dessen Selektierung und Hierarchisierung.
28 | Deswegen trifft die Kritik nicht, dass Rancières Überlegungen zum »emanzipierten Zuschauer« – so Müller-Schöll – »im allgemeinen keine Antwort mehr darauf zu geben vermögen, weshalb diese Art der Betrachterhaltung ausgerechnet im Theater ihren Platz haben soll – und nicht auf Straßen, Plätzen, in Cafés oder Bahnhöfen.« Nikolaus MüllerSchöll, »Das undarstellbare Publikum. Vorläufige Anmerkungen für ein kommendes Theater«, in: Sigrid Gareis/Krassimira Kruschkova (Hg.), Ungerufen. Tanz und Performance der Zukunft, Berlin 2009, S. 82-90, hier S. 85.
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Das Begehren des Wissens im Tanz Jurgita Imbrasaite Wissen lautet die Maxime der kapitalistisch organisierten Moderne. Als höchstes Gut und somit als Kapital selbst verstanden, lässt sie nicht zu, dass Formen des Nicht-Wissens, des Un-wissens oder des Vergessens begehrenswert wären. Wissen – ans Licht gebracht, entfaltet, erforscht und der Wahrheit ins Auge geblickt – die Arbeit an der Wissensproduktion ist als Imperativ im westlichen Unbewussten so stark verankert, dass sie vorrangig als ethische und nicht als eine politische und diskursive Beschäftigung erscheint. Wissen ist vielleicht die letzte Maxime, auf die unsere in der Vertikalen gekappte, souverän-, gott- und vaterlose Gesellschaft noch gemeinsam Bezug nimmt. Das Gebot des Fortschritts durch Wissen gibt sich als schlichtes Gebot aus, weiter zu kommen – wer sollte etwas dagegen einwenden. Es verlangt, ›seiner Zeit voraus zu sein‹ und nicht einmal daran zu denken, vom Wissen abzulassen – keine anderen Götter neben diesem. Zielte das Wissen in der Moderne ironischerweise darauf ab, die Glaubwürdigkeit des Souveräns zu untergraben, setzte es sich zunächst einmal auf seinen Platz. Als Instrument, als Agens, ja zweifelsohne als eine Machtform ist das Wissen, das an dieser Stelle begehrt wird, keine neutrale Entität. Der Aufstieg dieser Maxime hat nicht nur die Degeneration und Diskreditierung des divinatio, der Ähnlichkeit, des Schicksals und der Bezugnahme bewirkt, sondern das Ersetzen des Souveränitätsprinzips selbst. Die heute zu konstatierende Stagnation des Wissens beruht auf dem blinden Glauben an das Wissen als Fortschritt und Erlösung.
Feld Wissen wird seit einiger Zeit in Deutschland als Gegenstand in Bezug auf Bühnentanz diskutiert.1 Es wird eine verstärkte ›Annäherung‹ von Theorie und Praxis 1 | Vgl. Gabriele Klein/Christa Zipprich (Hg.), Tanz, Theorie, Text, Münster/Hamburg/London 2002; Sabine Gehm/Pirkko Husemann/Katharina von Wilcke (Hg.), Wissen in Bewegung. Perspektiven der künstlerischen und wissenschaftlichen Forschung im Tanz, Bielefeld 2007; Sabine Huschka (Hg.), Wissenskultur Tanz: historische und zeitgenössische Vermittlungskategorien zwischen Praktiken und Diskursen, Bielefeld 2009; Margrit Bischof,
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proklamiert. Die Künstler scheinen in diesem Setting näher in die Funktion von Forschern zu rücken, und ihre Tätigkeit wird vermehrt mit akademischem Vokabular beschrieben. Analyse, Vortrag (Lecture Performance), Recherche, künstlerische Forschung sind zu gängigen Begriffen im Bereich des zeitgenössischen Tanzes geworden. Die Kunst der Gegenwart im Bereich Tanz scheint das akademische Arbeitsfeld zu kreuzen. Von Seiten der Wissenschaft wird diese ›Annäherung‹ jubilatorisch affirmiert. Wissen gilt als Licht, namentlich gegenüber der durchgängig gerügten Dunkelheit des Balletts. Wissen steht für Emanzipation im Gegensatz zum Unwissen als Ballett sowie der mit ihm konnotierten Unterwerfung. Im gleichen Zuge begibt sich der Diskurs auf die phänomenologisch perspektivierte Suche nach einem spezifischen (nonverbalen) Tanzwissen. Es gilt z.B. die Annahme, dass die Tänzerin oder der Tänzer »mehr wissen als sie zu sagen wissen«2 und der Körper nicht nur einen Umschlagplatz für diverse Einschreibungen, sondern auch und vor allem eine Matrix für ein »unvorhergesehenes«, aber auch »widerständiges« und »unkontrolliertes«3 anderes Wissen darstelle. Hartmut Böhme und Sabine Huschka heben gleichermaßen hervor: Bei der Frage nach dem Charakter des Wissens im Tanz ist vor allem eine Perspektive für die bestehenden Diskussionen und Studien grundlegend. Danach gilt Tanzwissen vornehmlich als implizit, kommt es doch einem körperlich gespeicherten Arsenal oder Archiv gleich, das zu entdecken zur Aufgabe wird. Wissen von Bewegung materialisiert sich schließlich im Körper und in dessen sozialen wie ästhetischen Praktiken, wodurch ihm wesentlich kulturelle und historische Muster eignen. 4
Dieses im Körper oder in der Bewegung enthaltene bzw. produzierte Tanzwissen wird auch der techné oder dem knowhow attribuiert, und die Arbeit zielt darauf, diese Wissensform aus ihrer vermeintlichen Unterordnung unter die res cogitans zu emanzipieren. Wer mit dem Begriff Wissen in Bezug auf die Kunstform Tanz hantiert, möchte gleichsam Subversion. Wissen wird hier weniger in der Form des Habens, sondern als Agens angestrebt – produzieren, entdecken, erfahren lauten die Begleitvokabeln im Diskurs. Somit wird ein mysteriöses fluktuierendes Wissen jenseits der reinen Technik und Schulung angesteuert, das es zu erforschen gilt: »Im Gegenteil ist der Tanz geradezu ein Modellfall dafür, dass die Ebene des verkörperten Wissens, die stimmlose Beredsamkeit des Leibes (eloquentia coporis) nicht nur der kreative Ausgang, sondern auch das Ziel aller explikativen Wissensanstrengungen darstellt.«5 Claudia Rosiny (Hg.), Konzepte der Tanzkultur. Wissen und Wege der Tanzforschung, Bielefeld 2010; Christina Thurner, Tanzkritik. Materialien (1997 – 2014), Zürich 2015. 2 | Huschka, Wissenskultur Tanz, S. 11 3 | Ebd., S. 14 4 | Ebd., S. 10 5 | Ebd., S. 11
Das Begehren des Wissens im Tanz
Die Suche nach dem anderen Wissen wird von der Annahme geleitet, dass es zwei ontische Kategorien des Wissens im Tanz gibt. Es wird zwischen dem sogenannten theoretischen und dem praktischen bzw. dem internen und dem externen oder auch dem diskursiven und dem nonverbalen Wissen unterschieden, selbst wenn konstatiert wird, dass diese Wissenskategorien im Tanz nie völlig unabhängig voneinander zu denken seien. In einer Wissensgesellschaft kann es also nicht (mehr) darum gehen, Wissensformen im Tanz gegeneinander auszuspielen. Diese binären Konstruktionen sind obsolet geworden. Wissenschaft und Kunst haben sich längst aneinander angenähert – aber sie können und sollten auch nicht ineinander aufgehen, sondern in einen Dialog treten. […] Wissenschaft ist nicht Kunst und umgekehrt. Wissenschaft und Kunst sind verschiedene soziale Felder mit sehr unterschiedlichen Wissenskulturen, die verschiedene Wissensformen produzieren und jeweils sehr unterschiedliche Praktiken und Techniken der Wissensgenerierung und -verbreitung haben. 6
Diese Zwei bewirkt vor allem, dass die Separation nicht einfach aufgehoben werden kann, selbst wenn dies, heute genauso wie vor zwanzig Jahren, vehement angestrebt wird.7 Trotz aller Annäherung bleibt eine minimale Differenz bestehen. Über sie hinausgehend soll das andere Wissen aufgewertet werden. Es wird mitunter sogar als Gegengewicht oder als potentieller Widerstand gegen die Machtstrukturen der Wissensgesellschaft ausgelegt.8 Dabei geht die irreduzible Unterscheidung der Wissenskategorien im Tanz selbst aus einer Entwicklung jüngeren Datums hervor. Die Parameter einer autonomen und differenzierten theoría werden durch die Gründung der Tanzwissenschaft hervorgebracht. Mehr noch, die Unterscheidung muss ex aequo als Initiationsgeste einer Disziplin, die sich als ein eigenes universitäres Fach etablieren möchte, verstanden werden. Seit den 1990er Jahren nimmt im Westen der universitäre tanzwissenschaftliche Diskurs in starkem Maße zu. Seit 2003 entsteht mit der Einrichtung einer unabhängigen Professur für Tanzwissenschaft an der FU Berlin erstmals die weltweit ziemlich einmalige Möglichkeit, das Fach an der Universität und zwar rein wissenschaftlich zu studieren.9 Der Tanzplan Deutschland 2005-2010, der hierzulande explizit auf den Auf bau struktureller Bedingun6 | Gabriele Klein, »Tanz in der Wissensgesellschaft«, in: Gehm/Husemann/von Wilcke (Hg.), Wissen in Bewegung, S. 25-36, hier S. 33. 7 | Ebd. 8 | Vgl. Huschka (Hg.), Wissenskultur Tanz. 9 | Die meisten universitären Tanzstudiengänge in den USA oder auch UK implizieren immer auch körperliches Training und kreative und performative Leistungen. Selbst wenn in den Niederlanden und in Belgien Tanzwissenschaft sehr ernst genommen wird, so ist sie an der Universität ausschließlich Teil oder Hauptbestandteil der Theaterwissenschaft und wird in Form eigener Publikationen diskutiert wie z.B. Danswetenschap in Nederland.
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gen und Förderung des Tanzes sowie seiner Diskurse zielte, kurbelt weiter die Notwendigkeit des Wissens über Tanz und somit der Tanzwissenschaft an. Die Initiative schuf nicht nur Bewusstsein für den Tanz, sondern kreierte auch den positiven Mangel an Tanzwissen und legte somit ein zusätzliches Fundament für die Etablierung von Tanzwissenschaft. Der Etablierungsdiskurs, der »das Engagement für den Tanz und die öffentliche Anerkennung seines künstlerischen Potenzials bundesweit«10 zu stärken bestrebt ist, geht mit dem Begehren einher, sich als Diskurs selbst zu validieren. Tanz als Wissen zu befragen, verschafft Anrechte auf wissenschaftliche Arbeit und die Anerkennung der Forschungstätigkeit als Wissenschaft. Es wird gerne übersehen, dass die fortschreitende Validierung der Tanzwissenschaft zugleich ein Spannungsfeld zwischen dem, was wir gegenwärtig als Tanzpraxis und Tanztheorie bezeichnen, erzeugt. Selbst wenn vielleicht die Vorgänge der Tanzausbildung, -entwicklung und -präsentation auf den ersten Blick ihr Feld nicht verlassen, entsteht im Tanzdiskurs ein externes Agens, das beansprucht, Wissen und Wissenschaft zu ›vertreten‹ und seinerseits das Feld als künstlerische Praxis und als Gegenstand des Wissens zu formulieren. Die Untersuchung des jungen Spannungsfeldes in Bezug auf die Analyse der modernen Tanzgeschichte lädt zur Revision des Begriffes Wissen im Tanzdiskurs ein. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass es einen blinden Punkt in der Wissensauseinandersetzung gibt, der – statt auf eine andere, alternative oder gar subversive Weise jenseits oder aus dem modernen Diskurs hinauszuführen – vielmehr in eine epistemologische Sackgasse hineinführt.
Episteme Selbst wenn Tanz als rhythmisierte Bewegung seit Urzeiten besteht, so ist Tanz als autonome Bühnenkunst noch ein sehr junger und moderner Diskurs. Historisch betrachtet kommt der künstlerische sowie akademische Diskurs des Bühnentanzes als Ballett zur Welt. Das Ballett stellt nicht apriori einen Tanzstil oder eine mögliche Tanzästhetik dar, sondern bringt die autonome Kondition des Tanzes als Bühnenkunst überhaupt hervor. Die ästhetischen Traditionen des klassischen oder romantischen Balletts, die heute in den zeitgenössischen Tanzdiskursen deutlich negativ konnotiert sind, übermalen diese Tanzentfaltungsgeschichte und schränken das epistemologische Feld des Balletts stark ein. Hiermit werden viele Konsequenzen der Entstehungsgeschichte des Balletts, seine diskursiven Wirkungsfelder und die Nachhaltigkeit seines Dispositivs nicht nur stark verringert, sondern sogar für die Gegenwart gekappt. Ich möchte vorschlagen, das Ballett – abseits seiner techné, seiner formalen Erscheinungen im Theater, seiner Partituren, Librettos und Notationen der Schritte – auch als die moderne
10 | Tanzplan Deutschland, »Eine Strategie für den Tanz. Die Projektidee«, auf der Internetseite: www.tanzplan-deutschland.de/plan.php?id_language=1 vom 30.05.2014.
Das Begehren des Wissens im Tanz
episteme 11 des Tanzes aufzudecken. Ich ziele auf ein Denken des Tanzes jenseits der Logik des ästhetischen Fortschritts und auf die Entdeckung einer durch und durch im Wissen gründenden Geschichte des autonomen Bühnentanzes. Wenn die Tanzhistoriographie unter dem Deckmantel Tanz willkürlich die gesellschaftlichen, rituellen, religiösen und akademischen Tanzausprägungen aneinanderreiht, wird schlichtweg missachtet, mit welcher Auswirkung und gesellschaftlicher Relevanz sich Ballett als die autonome Kondition der Tanzkunst im Laufe der Moderne begründet. Ballett ist die Entstehung einer autonomen modernen Kunst als Selbstbezug. Im Gegensatz zum rituellen oder spirituellen Tanz, bildet sich in der Moderne eine Kunstform heraus, die ohne Bezug auf eine höhere Ordnung, ohne transzendentale Ausrichtung, seine Existenz alleinig als Selbstreferenz zu sichern vermag. Als solche wechselt sie gänzlich in die Ordnung des Wissens und bietet ein frühes Symptom für das Aufkommen der modernen Subjektivität, die für ihre Selbsterfindung und Ermächtigung über die Welt die gottgegebene Ordnung verlässt und Wissen anspannt.
Essenz Bekanntlich gründet Louis XIV. 1661, direkt nach der Erlangung seiner Alleinherrschaft, die Académie Royal de Danse. Die Gründung der Académie wird im tanzhistorischen Diskurs meist als wichtiger Schritt der Professionalisierung des Balletts gelesen.12 Nicht selten wird sie im politischen Diskurs als Ausdruck und Forderung der absolutistischen Macht wahrgenommen, die sich sogar (als erste staatspolitische Entscheidung Louis’ XIV.) Macht über die Künste13 anmaßt und gilt landläufig als eine öffentliche Befestigung und Institutionalisierung des königlichen, ja, noch kindlichen Begehrens zu tanzen. Liest man jedoch Louis XIV’ Gründungsbriefe der Académie – die Lettres Patentes14 – mit diskursanalytischem Interesse, so entpuppt sich die Geste der Gründung weniger als eine Manifes11 | ἐπιστήμη, griech. für Wissen, Wissenschaft, hier auch Bedingung, Voraussetzungen des Wissens und Denkens (savoir) bzw. der Wissenschaft zu einer bestimmten Zeit, in einem bestimmten Zeitalter, d.h. Wissen, mit Berücksichtigung seiner Bedingungen. 12 | Vgl. Alexander J. Balcar, Das Ballett. Eine kleine Kulturgeschichte, München 1957, S. 23; Kisten Lincoln, Four Centuries of Ballet, New York 1984, S. 4-39; Max Niehaus, Ballett, München 1954, S. 11; Eberhard Rebeling, Ballett gestern und heute, Berlin 1957, S. 20. 13 | Vgl. Rudolf Braun/David Gugerli, Macht des Tanzes. Tanz der Mächtigen. Hoffeste und Herrschaftszeremoniell 1550-1914, München 1993, S. 119; Mark Franko, Double Bodies: Androgyny and Power in the Performances of Louis XIV., in: TDR 38, 4 (1994); Carol Lee, Ballet in Western Culture: A History of Its Origins and Evolution. New York, NY 2002, S. 72 u. S. 68. 14 | Lettres Patentes du roy, pour l’etablissement de l’Académie royale de danse en la ville de Paris. Verifiées en Parlement le 30 mars 1662, Donné à Paris au mois de Mars,
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tation der Übermacht des jungen Monarchen. Vielmehr muss sie erstens als ein ›Wetzen der Guillotine‹ für den Kopf des Königs verstanden werden. Dementsprechend ist die Gründung der Académie Royal de Danse nicht als eine natürliche Konsequenz der Tanzauftritte des jungen Prinzen und somit ein Fortschritt in Richtung der Bühnentanzprofessionalisierung zu verstehen, sondern muss zweitens als ein radikaler Diskurswechsel gelesen werden, in dem das, was wir den autonomen Bühnentanz nennen, überhaupt erst erfunden wird. Das, was wir als Ballett bezeichnen, entsteht zu diesem Zeitpunkt, doch diese Entstehung findet nicht mehr unter den Vorzeichen der monarchischen Souveränität statt, sondern markiert den gesellschaftlichen Übergang zum modernen Paradigma des Wissens.15 Mit der Begründung der Académie Royal de Danse legt Louis XIV. den Grundstein für Tanz als frühmodernen Wissensdiskurs und akademische Disziplin. In den Gründungsbriefen befiehlt Louis XIV., alle Entscheidungen in Sachen Tanz in die Hände der ersternannten 13 Akademiker der Académie zu übergeben, ohne dass diese durch irgendeine Autorität eingeschränkt wären. Erst ab dieser Stunde kann die Tanzkunst als Ballett gezählt werden, denn als eine akademische Disziplin und Einrichtung setzt sie sich, epistemologisch betrachtet, von den vordem tradierten höfischen Tänzen und Bällen radikal ab. Unter der Flagge des Wissens und nicht mehr der des Souveräns entfaltet sich das Ballett als ein akademischer Diskurs, der allmählich Tanz als Begriff, als Bild und als Theorie erfindet. Die Notwendigkeit der Académie begründet Louis XIV. mit dem sogenannten Missbrauch des Tanzes. Die gesamte Begründung endet in einem désir, einem Begehren nach erstklassiger Perfektion und größtmöglicher Ausschmückung des Tanzes. Um diese Perfektion zu erzielen, entscheidet Louis XIV. nicht etwa, die Missetäter zu bestrafen oder ihnen zu verbieten, Tanz auszuüben, d.h. er beschließt nicht, in letzter Konsequenz selbst über die Qualität von den Tänzen oder Tänzern zu urteilen und sie zu verurteilen, sondern entscheidet sich, weiter zu gehen und längerfristig für diese Tätigkeit Wissen anzuspannen. Er gibt also die Verantwortung in die Hände derer ab, die das meiste Wissen über den Tanz und l’an de grace 1661 & de nostreregne le 19. Signé Louys, & sur le reply par le Roy, in: Mark Franko, Dance as Text. Ideologies of the Baroque Body, Cambridge 1993. 15 | Für das Verständnis des gesellschaftlichen Überganges und der Entstehung des historischen Wissensdiskurses stütze ich mich auf Jacques Lacan. 1969/70 führt Jacques Lacan die Schreibweise der vier Diskurse ein und benennt diese als den Diskurs des Herrn, den der Universität, den hysterischen und den analytischen Diskurs. Sie markieren vier mögliche Strukturen, vier ganz verschiedene Modi, in denen zwischenmenschliche Verhältnisse, alle soziale Bindungen, die auf Sprache beruhen, gefasst werden können. Es ist der Diskurs der Universität, in welchem das Wissen auf die Position der Macht gelangt und historisch den Diskurs des Herrn ablöst. Das Wissen bedeutet jedoch weniger eine Anhäufung von Informationen, viel mehr bezeichnet es den Anspruch an das objet a, also des Studierenden a, das System permanent zu reproduzieren.
Das Begehren des Wissens im Tanz
die beste Kenntnis der Tänze besitzen. Wir haben es hier mit einer Kommission zu tun, die nicht nur die Aufgabe bekommt, die Tanzenden und Tanzkreierenden zu überwachen und zu kontrollieren, sondern eigentlich ›Tanz‹, auch als Idee, als Kriterium, als Kategorie des Denkens zu erfinden. Anders gesagt, zum ersten Mal in der Tanzgeschichte betritt Tanz als akademischer Begriff den Podest. Es wird hier ein Raum eröffnet, der weder zum Praktizieren noch zum Aufführen von Tanz bestimmt ist, sondern sich seiner Reflexion widmen soll. Wenn mit dem »Sonnenkönig«, wie Louis XIV. aufgrund einer von ihm selbst getanzten Rolle genannt wird, allerorts noch der Höhepunkt der absolutistischen Monarchie gefeiert wird, zeugt die gleichzeitige Gründung des akademischen Tanzdiskurses bereits vom Übergang in eine neuzeitliche Ordnung und somit von der Degeneration des Souveräns. Die Geste der Gründung des autonomen akademischen Tanzes stellt ein frühes Symptom für vielfältige gesellschaftspolitische Verschiebungen dar, die erst mit der Französischen Revolution ihren großen Signifikanten erhalten. Nicht die Repräsentation des Monarchen oder der Macht ist die Aufgabe des Balletts, sondern Selbstoptimierung und immerwährende Selbsterfindung.
Abb. 1
Körper Das Objekt, auf das sich das Begehren der Selbstoptimierung richtet, ist im Ballett bekanntlich der Körper. Der Körper, so wie er zum Teil bis heute verstanden wird, ist eine neuzeitliche Entdeckung und stellt im Zusammenhang des Wissens auch einen Signifikanten für eine veränderte Matrix der Macht dar. Es ist Foucault, der das Dispositiv der Sexualität und die Techniken des Überwachens, Ausbildens, Strafens, der Krankenpflege sowie ihrer räumlichen Bedingungen immer wieder auf diesen gemeinsamen Nenner zurückgeführt hat: auf die ziemlich junge Entdeckung des Körpers als »Gegenstand und Zielscheibe der Macht«16. Der Körper, um den es hier geht, ist genau genommen ein Körperdiskurs, der »in die 16 | Ebd.
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Politik des Menschen als Lebewesen eintritt«17. Entlang von Strategien einer zunehmenden Machtausübung auf Körper und ihrer ständigen Inquisition zugunsten von Wissen deckt Foucault eine neue Machtstruktur auf.18 Der gleichzeitige Wandel in diversen Feldern, den man auch als modernen Fortschritt bezeichnen kann, bildet den Moment, in dem das Leben als Politikum in die Geschichte des Menschen einzudringen beginnt und den Körperdiskurs festigt. Dass im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts ›die Disziplinen‹ zu ›allgemeinen Herrschaftsformen‹ geworden sind, bedeutet ziemlich genau, dass sie den Platz des Königs eingenommen haben. Somit handelt es sich nicht einfach um eine bestimmte Art, Körper innerhalb eines Diskurses zu adressieren, sondern es ist die Adressierung der Körper als solche, die zum Beweggrund des gesamten Diskurses wird. Das Ideal eines möglichst effizienten und, mit anderen Worten, perfekten Soldatenkörpers produziert Körper, die nicht anders denn als ›formloser Teig‹ bezeichnet werden können. Körper, die an das Ideal heranreichen sollen und Körper, die sich durch das Ideal plötzlich als nicht-ideale abspalten. Das, was Foucault als Aufmerksamkeit für den Körper bezeichnet, besitzt eine produzierende Kraft. Die Disziplin bringt, unter der Voraussetzung ihrer Unterwerfung, nicht in erster Linie perfekte Körper, sondern Taugenichtse hervor. Das bedeutet zunächst, dass das mysteriöse Wissen, welches der Körper in sich trägt, die Tatsache ist, eine Erfindung der Moderne und der Wissenschaften selbst darzustellen. Es ist die Praxis des Balletts, welche bis heute – und zwar als eine zeitgenössische Praxis – noch darauf verweist, dass die Disziplinargewalt nicht unterschätzt werden darf. Was hier unter dem Namen ›Disziplin‹ vor Gericht steht, ist nicht etwa die Forderung zu lernen, um stärker und schöner zu werden, sondern die in sich unerschöpfliche Forderung, nicht aufzuhören zu lernen. Das Umkreisen des Bildes des perfekten Körpers vollzieht sich in dem endlosen Adressieren dieses unförmigen, defekten, unliebenswürdigen, peinlichen und sich schlecht benehmenden Etwas. Es würde naheliegen, die Vorzüge des Tanzes als Nutzen für den Körper zu beschreiben. Doch es wäre nicht ganz richtig zu sagen, dass es der Körper ist, der durch den Tanz verbessert wird. Was hier auftaucht, hat die Struktur eines Phantasmas und was adressiert wird, ist der Körper, der als solcher gar nicht da ist. Mit anderen Worten, der Körper wird plötzlich als Mangel ausgebeutet.
Was bleibt Heute sind, trotz eines großen Unbehagens gegenüber dem Erbe der Moderne und im Tanz gegenüber dem Ballett, die Programme zu ihrer Überwindung alles andere als abgeschlossen. Spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts wieder17 | Vgl. Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt a.M. 1983, S. 137-138. 18 | Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1994, S. 174.
Das Begehren des Wissens im Tanz
holen sich die Versuche, sich mit dem Modernen Tanz, dem Postmodern Dance und auch dem zeitgenössischen Tanz aus dem Erbe des Balletts zu befreien. Was ins Auge fällt, ist das kontinuierliche Misslingen dieser im Einzelnen sehr unterschiedlichen Ansätze. Bis heute gibt es etwas im Ballett, das nicht aufgehört hat, sich fortzuschreiben – abgesehen von der Tatsache, dass die Ballettästhetik und -ausbildung mitnichten schwinden, sondern im Gegenteil sich weiterhin weltweit ausbreiten. Nichts verweist besser darauf als das Begehren des Wissens im zeitgenössischen Tanzdiskurs selbst. Genau da blitzen Indizien dafür auf, dass die moderne Maxime fortschreitet oder sich sogar zugespitzt hat. Der Körper scheint hier nicht mehr von einer äußeren Macht als Objekt des Wissens ausgefragt und behandelt zu werden, sondern von den Künstlern selbst. Er wird zum Untersuchungslabor zum Austesten seiner Bestandteile, Grenzen, gesellschaftlichen Projektionen, Manipulationen und Konstruktionen. Als Diskurs der Wissenschaft liegt der Körper dem Tanz immer noch zu Grunde. Doch nun rückt der Künstler selbst in die Funktion eines Forschers und scheint die moderne Maxime, die zu Beginn dieser Geschichte des Tanzes noch eine externe, institutionalisierte Machtausübung darstellte, zu verinnerlichen oder gar zu verstärken. Der Versuch, den gelehrigen Ballettkörper zu überwinden, endet ungewollt im selben Diskurs. Zwar scheint sich die Form der Adressierung des Körpers zu ändern, doch die Instanz des Adressierens oder das Agens ändert sich nicht. Der Anspruch, sich mit seiner modernen Determination auseinander zu setzen, bedeutet nicht, das Paradigma zu verlassen oder es zu kappen. Hingegen ist die Geschichte des autonomen Bühnentanzes durch einen ständig fortlaufenden Anspruch auf Korrektur, Auseinandersetzung und somit Fortschritt im Diskurs charakterisiert. Symptomatisch hierfür sind die Briefe über die Tanzkunst von Jean Georges Noverre. Bereits 1769, also nur hundert Jahre nach der Gründung der Académie Royal de Danse, fordert er die Befreiung des Körpers (ohne den Begriff zu prägen) aus den Zwängen der Kleidung, einer bestimmten Tanzästhetik und Mimik: »Weg mit den Kabriolen, den Entrechats und den allzu verwickelten Schritten! Weg mit diesen liebäugelnden Grimassen, um euch ganz den Empfindungen, den ungekünstelten Reizen und dem Ausdrucke zu überlassen!«19 Noverres Briefe zeichnet insgesamt eine sehr emanzipative Geste aus, durch Wissen eine sorgfältige Erforschung und Neuerung des gesamten Diskurses zu bewirken. Diese Geste bildet keinen Einzelfall, sondern kennzeichnet die moderne Bedingung des autonomen Tanzes. Das Begehren des Wissens als Revolution im zeitgenössischen Tanz ist dem Missverständnis geschuldet, Ballett wäre eine »jugendliche Naive«, die über 400 Jahre dem Dornröschenschlaf erlegen war, um Doris Humphrey zu paraphrasie19 | Jean Georges Noverre, Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette, Hamburg/Bremen 1769 [franz. 1760], http://diglib.hab.de/drucke/lo-4882/start.htm vom 15.07.2013, S. 44.
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ren.20 Man kann nicht genug betonen, dass es nicht genügt, Ballett als Märchennarration, strenge, aber naive Disziplin oder bestimmte Tanzästhetik bekämpfen zu wollen. Solange wir Tanz als eine autonome Bühnenkunst denken und die Aufrechterhaltung ihrer wissenschaftlichen Bedingung anstreben, verlassen wir Ballett nicht. Anders gesagt, das Wissen und die damit verbundene Innovation, welche im heutigen Tanzdiskurs als Instrumente der Emanzipation und Revolution verstanden werden, sind der autonomen Bühnenkunst seit ihren Anfängen implizit. Das Ballett ist tief eingelassen in unsere Gesellschaft der Wissenshegemonie, und schreibt sich jenseits vermeintlicher Revolutionen im Tanzdiskurs bis heute fort. Es ist nicht zu bezweifeln, dass es viele ästhetische Transformationen im Verlaufe der letzten 350 Jahre gegeben hat und gibt. Es geht epistemologisch jedoch nirgendwo hervor, dass diese junge Epoche bereits geendet haben soll. Als moderne Kunst im Selbstbezug, die sich von allen rituellen, spirituellen und zweckmäßigen Tanzkünsten radikal unterscheidet und ihre Autonomie aufgrund von Wissen aufrechterhält, ist Ballett zeitgenössischer als man möchte und der zeitgenössische Tanz weniger revolutionär, als geglaubt wird. Das sollte jedoch nicht frustrieren und nicht dazu antreiben, unbedingt jenseits der modernen Episteme des Tanzes zu denken, sondern erlauben, ein Zeitparadigma in das Denken einzuführen, welches das ›Zeitgenössische‹ nicht auf die Aktualität des jetzt Geschehenden und in jedem Augenblick bereits Vergangenen reduziert, sondern eine Öffnung auf das sich im Denken Aktualisierende ermöglicht.
20 | »Bis vor nicht allzu langer Zeit ist der Tanz die ›jugendliche Naive‹ gewesen, ein süßes gehorsames Kind, großgezogen am Hof und im Theater, das jung und hübsch und amüsant zu sein hatte. […] Dies soll nun nicht heißen, daß die Form des Balletts schlecht war, sondern lediglich, daß sie begrenzt war und an einer Entwicklungshemmung litt – ewig 16jährig, wie das schlafende Dornröschen selbst.« Doris Humphrey, Die Kunst Tänze zu machen. Zur Choreographie des Modernen Tanzes, Wilhelmshafen 2003, S. 13f.
Tanz als Denkweise Laurent Chétouanes Hommage an das Zaudern Leonie Otto
»Alles Denken verlangt ein Innehalten«1, schreibt Hannah Arendt. Denken stünde »stets außer der Ordnung, es unterbricht alle gewöhnlichen Tätigkeiten und wird durch sie unterbrochen.«2 In ihren Schriften, die unter dem Titel Vom Leben des Geistes posthum 1998 erschienen, erweitert Arendt ihre Gedanken vom Vita activa oder Vom tätigen Leben (1960). Arendts Untersuchung des Denkens argumentiert nicht mit der üblichen Unterscheidung von Theorie und Praxis, sondern bestimmt das Denken, das Wollen und das Urteilen als andere, vielleicht unkörperliche, aber dennoch tätige Vorgänge.3 Im Folgenden möchte ich danach fragen, inwiefern sich in Laurent Chétouanes Choreographie Hommage an das Zaudern ein solches Innehalten und ein solches Denken vollziehen. Tanz somit als eine Denkweise zu verstehen, meint nicht, dass bestimmte Gedanken, Theorien oder Konzepte in Tanz übersetzt wurden oder überhaupt übersetzbar seien. Ausgehend von der Annahme, dass es unterschiedliche Arten und Weisen des Denkens gibt, geht es hier vielmehr darum, dass sich im Tanz ein anderes, nicht unbedingt begriffliches Denken ereignen kann. Das »Denken auf der Bühne«, nicht nur im Tanz, sondern im Theater im umfassenden Sinn, ist nach Nikolaus Müller-Schöll dadurch charakterisiert, »dass man hier keinen ›Inhalt‹ im überkommenen Sinne findet, nichts, was sich vom Vollzug der körperlichen und stimmlichen Bewegung auf einer Szene ablösen, in Gestalt von Thesen oder Theorie verselbständigt nach Hause tragen […] ließe.«4 1 | Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen, München/Zürich 2013, S. 84. 2 | Ebd., S. 193. 3 | Vgl. Dies., Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2014, S. 367ff. 4 | Nikolaus Müller-Schöll, »Denken auf der Bühne. Derrida, Forsythe, Chétouane«, in: Hans-Joachim Lengerer/Georg Christoph Tholen (Hg.), Mnema. Derrida zum Andenken, Bielefeld 2007, S. 187-207, hier S. 188.
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Moving thoughts Die beiden Felder Denken und Tanz werden, verbunden mit jener Tendenz, die unter dem Begriff ›Konzepttanz‹ firmiert, in Bezug auf den zeitgenössischen Tanz in den 1990er und 2000er Jahren häufiger miteinander in Zusammenhang gebracht.5 Oft werden sie auch verknüpft mit der Forderung nach einer verstärkten Untersuchung des embodied knowledge oder nach einer künstlerischen Forschung. Moving thoughts – Tanzen ist Denken6 lautete im Jahr 2000 der Titel einer Konferenz in Leipzig, die Arbeiten aus der freien Tanzszene diskutierte, welche nach wie vor meist als ›Konzepttanz‹ bezeichnet werden. Die Kontroversen um diese Bezeichnung, die Ende der 1990er Jahre von der Tanzkritik geprägt wurde, um eine stilistische oder gar geschichtliche Kohärenz einer Tendenz im zeitgenössischen Tanz zu konstruieren, sollen hier nicht wieder aufgerollt werden.7 Mit der Rede vom ›Konzepttanz‹ soll hier lediglich eine innerhalb des zeitgenössischen Tanzes wahrzunehmende kritische Haltung benannt werden. Wenn diese Rede nämlich nicht mit dem Unbehagen über mangelnde Formen einer eher traditionalistischen Vorstellung von Tanz einhergeht,8 erscheint eine begriffliche Anlehnung an die Konzeptkunst nicht abwegig. Schließlich teilt der ›Konzepttanz‹ mit dieser die Verhandlung der eigenen Definition, Bedingungen und Möglichkeiten, den Einsatz von Sprache sowie die Abwendung von künstlerischer Expressivität und handwerklicher Virtuosität.9 Das damit einhergehende erweiterte 5 | Vgl. dazu Susanne Traub, »Philosophie und Tanz. Tanzen ist Denken«, https://www. goethe.de/de/kul/tut/gen/tan/20509666.html vom 01.02.2012 und Franz Anton Cramer, »Jean-Luc Nancy. Tanzen denken«, https://www.goethe.de/de/kul/tut/gen/tan/20509686. html vom 01.04.2015. 6 | Vgl. Janine Schulze/Susanne Traub (Hg.), Moving thoughts – Tanzen ist Denken, Leipzig 2003. 7 | Vgl. die ausführlichen Erörterungen des Konzepttanz-Begriffs bei: Xavier Le Roy/Bojana Cvejić/Gerald Siegmund, »To end with judgement by way of clarification«, in: Martina Hochmuth/Krassimira Kruschkova/Georg Schöllhammer (Hg.), It takes place when it doesn’t. On dance and performance since 1989, Frankfurt a.M. 2006, S. 49-58; Gerald Siegmund, »Konzept ohne Tanz? Nachdenken über Körper und Choreographie im zeitgenössischen Tanz«, in: Reto Clavadetscher/Claudia Rosiny (Hg.), Zeitgenössischer Tanz. Körper – Konzepte – Kulturen. Eine Bestandsaufnahme, Bielefeld 2007, S. 42-57; Sabine Huschka, »Tanzen, um Gedanken zu folgen. Sabine Huschka sprach mit jungen Choreographen über Konzepttanz«, in: tanzjournal 2 (2004), S. 17-19. 8 | Mit Theodor W. Adorno formuliert, zeugt dieses Unbehagen von einer Auffassung von Kunst »als Naturschutzpark von Irrationalität […], aus dem der Gedanke draußen zu halten sei«. Ders., Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften, Bd. 7, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 2003, S. 499. 9 | Vgl. Sabeth Buchmann, »Conceptual Art«, in: Hubertus Butin (Hg.), DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst, Köln 2002, S. 49-53. Gegen die begriffliche Anleh-
Tanz als Denkweise
Verständnis von Tanz und Choreographie habe zur Folge, so Pirkko Husemann, dass Tanz als »Metatanz«, als »ein Tanz des Diskurses«10 aufzufassen sei. Choreographie erscheine nicht mehr als Komposition menschlich-körperlicher Bewegung, sondern als Reflexionsprozess. Janine Schulze konstatiert, dass damit die intellektuelle Anerkennung der Kunstform Tanz gewachsen sei.11 Die Diagnose einer Verschiebung von der körperlichen Bewegung zur Denkbewegung verbleibt jedoch allzu leicht in logozentristischen Gegenüberstellungen von Körper und Geist (sinnlich vs. intelligibel, irrational vs. rational), wenn dem erweiterten Verständnis von Tanz und Choreographie nicht ein erweitertes Verständnis von Denken hinzugefügt wird. Der Text eines der wohl am häufigsten mit ›Konzepttanz‹ assoziierten Stücke, Xavier Le Roys Product of Circumstances (1999), enthält, kurz nach der Stelle, an der Le Roy erzählt, dass er seine Karriere als Molekularbiologe beendete, den Satz: »Thinking became a corporeal experience.«12 Bezeichnenderweise wird ausgerechnet dieser Satz in der Aufzeichnung der Lecture Performance, die auf der digitalen Mediathek ›Ubu.Web‹ zu sehen ist, nicht von Le Roy gesagt.13 Denn in diesem Stück, in dem Le Roy immer wieder sein Rednerpult verlässt, um fast hastig einige Bewegungsfolgen aus verschiedenen Trainings und Stücken aus seiner Anfangszeit als Tänzer und Choreograph zu zitieren, scheint das Denken vor allem da stattzufinden, wo es philosophiegeschichtlich und umgangssprachlich auch verortet wird: im Kopf. Trotz der unauflösbaren Verknüpfung von Denken und Tanz in dieser Inszenierung geht es primär um eine Bewegtheit von Gedanken, die durch das Innehalten der körperlichen Bewegung stattfindet.
nung an die Concept Art oder Conceptual Art wendet sich Bojana Cvejić unter anderem mit dem Argument, dass im Tanz anders als in der Bildenden Kunst keine Unabhängigkeit des Konzepts von einem sinnlichen Träger angestrebt worden sei. Doch Juliane Rebentisch zeigt auf, dass auch im Konzeptualismus der Bildenden Kunst jedes Konzept an seine spezifische Ausführung gebunden sei. Vgl. Dies., Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung, Hamburg 2013, S. 135ff. sowie Le Roy/Cvejić/Siegmund, »To end with judgement by way of clarification«, S. 50. 10 | Pirkko Husemann, Ceci est de la danse, Norderstedt 2002, S. 95. Vgl. auch Dies., Choreographie als kritische Praxis. Arbeitsweisen bei Xavier Le Roy und Thomas Lehmen, Bielefeld 2009. 11 | Janine Schulze, »Du musst dir ein Bildnis machen, oder: Tanzen ist Denken«, in: Johannes Birringer/Josephine Fenger (Hg.), Tanz im Kopf. Dance and Cognition, Münster 2005, S. 113-128, hier S. 113ff., S. 127. 12 | Xavier Le Roy, »Score for Product of Circumstances«, www.xavierleroy.com/page.php ?id=63e83a12f776477d633187bdfbdb1c24c130da87&lg=en vom 18.05.2016. 13 | Ebd.
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Denken in Bewegung Davon unterscheidet sich Chétouanes Hommage an das Zaudern insofern, als der experimentelle und kritische Ansatz des Konzepttanzes auf die Frage nach dem Generieren und Choreographieren von Bewegung selbst ausgedehnt wird.14 Dass die Frage des Denkens nicht nur vor oder nach der Bewegung lokalisiert werden sollte, wird auch an Willam Forsythes Arbeiten im Grenzbereich zwischen Ballett und zeitgenössischem Tanz deutlich, die für den Diskurs über Zusammenhänge von Tanz und Denken mindestens ebenso bedeutend sind wie der Konzepttanz. Das Ballett Frankfurt, später die Forsythe Company, beschäftigte sich immer auch mit Fragen von Bewegungsfindung und -komposition und zwar live, auf der Bühne. Die entwickelten Verfahren dürften durch die Website ›Synchronous Objects‹ und die ›Improvisation Technologies‹ einem breiteren Publikum bekannt geworden sein.15 Kerstin Evert griff die von Forsythe selbst geprägte Formulierung »real time choreography«16 für diese Mischung von erlernter Improvisationstechnik und einer sich während der Aufführung durch unterschiedliche Einsätze ergebenden Struktur auf. Gerald Siegmund bezeichnete das, was dadurch entsteht, doppeldeutig als »Denken in Bewegung«17. Forsythe führt aus, dass im Idealfall die Choreographie im Zwischen von Körper und Geist entstehe: Man trifft eine bewusste Entscheidung, bewegt sich im Raum, und dann beeinflussen Gravitation und Geschwindigkeit und verschiedene andere Faktoren diese zunächst getroffene Entscheidung und zwingen dazu, eine neue zu treffen. Das kann eine intuitive Reaktion sein […]. Oder man trifft die Entscheidung bewusst, und dann gibt es wieder eine Reaktion darauf, die entweder körperlich ist oder von den Intentionen […] beeinflusst.18
14 | Sebastian Kirsch interessiert speziell die Verschiebung von Stillstand und Unterbrechung hin zur fließenden Bewegung in Laurent Chétouanes ästhetischer Praxis. Vgl. Ders., »Wir spielen nicht – was tun wir denn dann?«, in: Nikolaus Müller-Schöll/Leonie Otto (Hg.), Unterm Blick des Fremden. Theaterarbeit nach Laurent Chétouane, Bielefeld 2015, S. 179-190. 15 | Vgl. William Forsythe, Improvisation Technologies: A Tool for the Analytical Dance Eye, Karlsruhe 1999 und http://synchronousobjects.osu.edu vom 18.05.2016. 16 | Kerstin Evert, DanceLab. Zeitgenössischer Tanz und Neue Technologien, Würzburg 2003, S. 134. 17 | Gerald Siegmund (Hg.), William Forsythe: Denken in Bewegung, Berlin 2004. 18 | William Forsythe zit. n. Nik Haffner, »Bewegung beobachten. Ein Interview mit William Forsythe«, in: ZKM Karlsruhe u.a. (Hg.), William Forsythe. Improvisation Technologies: A Tool for the Analytical Dance Eye, Booklet zur CD-ROM, Sonderausgabe, Ostfildern-Ruit 2003, S. 17-27, hier S. 27.
Tanz als Denkweise
Forsythes künstlerische Praxis hat Chétouane als Regisseur und Choreograph nach eigener Aussage sehr beeinflusst.19 Nach den textlastigeren, von Alltagsbewegungen geprägten Tanzstücken #0 bis #4 wendet sich Chétouane in seiner Choreographie horizon(s) 2011 dezidiert der »Frage nach der zukünftigen Bewegung, nach dem Zukünftigen des Tanzes in all seiner Geschichtlichkeit und Potentialität«20 zu. Hommage an das Zaudern ist im selben Jahr entstanden. Zeichnete Forsythe die Abfolge einer Vielzahl bewusster und vorbewusst-körperlicher Entscheidungen nach, so ist Hommage an das Zaudern vor allem eine Choreographie der Unentschiedenheit, die von einer abwägenden, auch sie selbst hinterfragenden Haltung geprägt ist.
Denken im Zwischen Der Bühnenbereich des großen Saals in den Sophiensaelen, über den eben noch alle Zuschauerinnen und Zuschauer zu ihren Plätzen gelaufen sind, ist fast vollständig leer. Vorne links steht ein schwarzes Klavier, dessen holzfarbene Rückseite zum Publikum zeigt. In der Mitte des Bühnenbereichs stehen zwei einfache Stühle von derselben Art wie die für das Publikum: mit hölzerner Sitzfläche und metallenen Beinen. Auf dem dunklen Tanzboden sind sie so ausgerichtet, dass wer hier Platz nimmt dem Publikum gegenüber sitzt. So verhält es sich auch mit dem Platz am Klavier, der wenig später von Jan Burkhardt eingenommen wird. Der Raum ist zunächst gleichmäßig warm ausgeleuchtet, sodass die alten dunklen Fenster und Türen, die Rückseite mit ihrer moosgrünen Holzvertäfelung und Details wie der abblätternde Putz, die Steckdosen, Rohre, Heizungen oder der Feuerlöscher gut sichtbar sind, ohne in den Vordergrund zu treten. Burkhardt, der in Chétouanes Tanzstücken #2 und #4 als Tänzer mitwirkte, verlässt im Verlauf des Stücks seine Position am Klavier nicht. Wenn er nicht spielt, sieht er den beiden Tanzenden zu. Seine Position oszilliert zwischen der des klavierspielenden Akteurs und der eines exponierten Zuschauers. Das vereinzelte Anschlagen von Tönen und Akkorden – unter anderem aus Kompositionen von Bach, Satie und Feldman – durchbricht mitunter die konzentriere Stille und erzeugt im Zusammenspiel mit den zurückhaltenden Lichtwechseln harmonische Atmosphären. Ruhig, dabei selten verweilend, führen die Tänzer Joris Camelin und Rémy Héritier immer wieder Arme oder Beine in allen möglichen Variationen in die Höhe, zur Seite oder nach vorne. Von Interesse scheinen vor allem Symmetrien der Körper, nämlich das Zusammenspiel der beiden Körperseiten und von Armen 19 | Vgl. Nikolaus Müller-Schöll, »›Ein Schauspieler ist immer peinlich – deshalb muss er bleiben.‹ Laurent Chétouane über seine Arbeit mit Schauspielern«, in: Patrick Primavesi/ Olaf A. Schmitt (Hg.), AufBrüche. Hans-Thies Lehmann zum 60. Geburtstag, Berlin 2004, S. 284-291. 20 | Abendzettel zu horizon(s), PACT Zollverein, Essen, Mai 2011.
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und Beinen zu sein. Dabei gehen, laufen, stehen, sitzen und liegen sie und lassen sich immer wieder auf den Boden fallen. Gleichsam ›geometrisch‹ vermessen sie den Raum und die eigenen Körper darin.21 Ihre Positionierungen und Wege – viele deutliche Geraden und Bögen – verlaufen häufig parallel. Wenn nicht, dann begeben sie sich in die Nähe voneinander. Es handelt sich um einen Pas de deux, auch einige wenige Hebefiguren kommen vor. Die Blicke der beiden gehen wie weitere Gliedmaßen von ihren Körpern aus. Sichtbar und sehend zugleich, nehmen beide – was geradezu ein Kennzeichen der Handschrift Chétouanes als Regisseur und Choreograph geworden ist – immer wieder offensiv das sie betrachtende Publikum wahr sowie den eigenen, sich bewegenden Körper und den des anderen. Wenn Camelin neben Héritier tritt, beide Arme nach oben streckt und, dabei die üblicherweise versteckte Körperzone der Achselhöhlen entblößend, das Publikum anblickt, sieht er aus wie ein Kind, das erforscht, wie sich diese Position anfühlt und wie auf sie reagiert wird, ohne jeglichen Versuch zu unternehmen, die Vorstellung eines äußerlichen Bildes des eigenen Körpers als vermeintlich geschlossener Einheit auszustellen oder zu ergänzen. Mitunter sind die Augen der beiden Tänzer gar nicht auf ein bestimmtes Ziel gerichtet. Ihre Konzentration scheint anderswo hinzugehen als auf ein sichtbares Moment, scheint eher eine eingenommene Position oder einen Impuls genau wahrzunehmen. Die sich ähnelnden Bewegungsabläufe entwickeln beide unterschiedlich. Als sähen wir zwei Seiten von etwas. Héritiers schlaksig gebrochene Bewegungen verbleiben mehr im Vagen als die direkten, muskulös kraftvollen Bewegungen Camelins. Verstärkt wird das durch ihre unterschiedliche Kleidung: Héritier in einer Art Unterwäsche aus weißem Shirt und schwarzen Leggings, Camelin in grau-beiger Alltagskleidung aus Jeans und Pullover. Entfernt erinnert das Tanzen beider an Ballettbewegungen, was insbesondere mit ihrer in der Vertikalen ausgerichteten Haltung zusammenhängt, mit ihren im Rumpf zentrierten und in der vorderen Körperperipherie spielenden Bewegungen der Extremitäten sowie mit ihrer Aufmerksamkeit für die Symmetrie des Körpers und das Zusammenspiel von Armen, Beinen und Blicken. Doch unterscheiden sich ihre Bewegungen deutlich vom Ballett durch eine besondere Lockerheit, durch die weder durchgestreckten noch anmutig gebogenen Gliedmaßen und die durchgängig ausprobierende, markierende und skizzierende Herangehensweise, durch das alltäglich anmutende Gehen, Sitzen oder Sich-auf-den-Boden-Plumpsen-Lassen. Insgesamt wirkt es so, als würde das Ballett darauf hin überprüft, wie mit ihm heute im Tanz umgegangen werden könnte. Während es bei Forsythes Auseinandersetzung mit 21 | Das Verhältnis der Bewegung zum Raum bei Chétouane bezeichnet Tim Schuster in seiner ausführlichen Betrachtung von Sigal Zouk in Empedokles/Fatzer als »mimetisches Spiel mit dem Raum«, das eine denkende Produktion und gleichzeitige Transformation des räumlichen Gefüges sei. Ders., Räume, Denken. Das Theater René Polleschs und Laurent Chétouanes, Berlin 2013, S. 285f.
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dem Ballett, wie Gerald Siegmund schreibt,22 vor allem darum geht, dessen Figuren, Schrittfolgen und interne Körperorganisation zu zerlegen und neu zusammenzusetzen, scheint hier die Frage im Vordergrund zu stehen, ob es an der internen Körperorganisation des Balletts nicht doch etwas geben könnte, das kein von außen an den Körper herangetragenes, disziplinierendes Idealbild sei, sondern sich aus einem Körper heraus entwickeln könnte. Während die Tänzerinnen und Tänzer der Forsythe Company ihren Bewegungsschwerpunkt in einen beliebigen Punkt des Körpers und seiner Peripherie verlagern – sei es in den Ellenbogen oder das Ohrläppchen –, bleibt der Bewegungsschwerpunkt Héritiers und Camelins im Torso, der gemeinhin als Körpermitte verstanden wird. Erst auf den zweiten Blick fällt auf, wie sich ihre Ausrichtung, unter Beibehaltung der aufrechten, mittig zentrierten Körperhaltung, im Raum verlagert. Beide beziehen sich so stark auf das sie verbindende wie trennende Zwischen, dass dieses selbst zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Bewegungen und der gesamten Choreographie wird.23 Sie befinden sich auf der Bühne eher als zwei Teile eines uneinigen Ganzen denn als zentrierte, souveräne Subjekte, als die das Ballett und zahlreiche Tanzrichtungen des 20. Jahrhunderts die Körper inszenierten. Die Zwischenräume und die Spuren zwischen ihnen rücken genauso in den Blick wie die beiden Körper, wenn beispielsweise eine Diagonale zwischen Héritier ganz hinten links und Camelin vor der ersten Zuschauerreihe vorne rechts als Verbindung, Möglichkeit oder Erinnerung eines Weges verläuft.24 In der weitläufigen Leere des Bühnenbereichs bilden die zwei Stühle das unbewegliche Äquivalent der beiden Tänzer. Als zwei Sitzplätze, einer auf der linken, einer auf der rechten Seite, teilen sie den Raum unter den beiden Tänzern auf und lassen gleichzeitig den gemeinsamen Raum bestehen, der zudem in einen Bühnen- und einen Publikumsbereich unterteilt ist. Burkhardt, in seiner zwischen Zuschauer und Performer oszillierenden Position am Klavier, bricht die Verhältnisse der Symmetrie und der Gegenüberstellung auf. Die Situation des Paares oder des Dialogs wird durch Burkhardts Anwesenheit um einen Dritten und dessen Blick erweitert. Dadurch wird die Konstellation jedoch nicht zu einer Gruppe von dreien, vielmehr wird die gegenseitige Bezugnahme von Camelin und Héritier betont. In Vom Leben des Geistes spricht sich Hannah Arendt dafür 22 | Vgl. Siegmund, Denken in Bewegung, S. 29. 23 | Eine ähnliche Beobachtung beschreibt Jean-Luc Nancy in seinen Zeilen über das Stück: »Jeder ist hier der Anfang des anderen. Jeder widerspiegelt den anderen oder wiederspielt ihn, aber nichts ist identisch. […] Jeder ist eine der Spiegelseiten, eine der Körperseiten, seine rechte, seine linke, seine vordere oder seine hintere, seine Erhebung oder sein Sitz.« Abendzettel zu Hommage an das Zaudern, Sophiensaele, Berlin, Februar 2012. 24 | Die Diagonale in Chétouanes Choreographie horizon(s) wird von Georg Döcker ausführlich untersucht: Ders., »Eine andere Grazie. Zur Aktualisierung der Diagonale in Laurent Chétouanes Tanzperformance horizon(s)«, in: Norbert Otto Eke/Ulrike Haß/Irina Kaldrack (Hg.), Bühne: Raumbildende Prozesse im Theater, Paderborn 2014, S. 249-266.
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aus, das Denken als einen Zustand zu verstehen, der von einer unhintergehbaren Dualität getragen wird, da jedes Denken ein Dialog mit dem Anderen im eigenen Selbst sei: Denn nur eines kann gleichzeitig es selbst und für sich sein, das Zwei-in-einem, das Sokrates als das Wesen des Denkens entdeckte und Platon in theoretischer Sprache als das stumme Zwiegespräch ›eme emautō‹, zwischen mir und mir selbst, bezeichnete. Doch wiederum ist es nicht die Denktätigkeit, die die Einheit stiftet, die die Zwei-in-einem wieder zu Einem werden läßt; im Gegenteil, das geschieht, wenn die Außenwelt auf den Denker eindringt und den Denkvorgang unterbricht. Dann wird er bei seinem Namen in die Erscheinungswelt zurückgerufen, wo er immer Einer ist; es ist, als führen die zwei Teile, in die ihn das Denken gespalten hatte, wieder zusammen. 25
Um sich sukzessive, im Austausch entwickeln zu können, braucht das Denken Zeit. Es ist außer-ordentlich.26 Die choreographische (An-)Ordnung weist bloß den Weg, den das Denken beschreitet. Die Choreographie von Hommage an das Zaudern ist in Bezug auf Struktur und Konzept zwar vereinbart, ihre jeweilige Aus- und Aufführung aber im Moment entwickelt, in Abhängigkeit voneinander und in Reaktion aufeinander. Im Gegensatz zu dem, was Forsythe als Ideal der Entstehung von real time choreography beschreibt, wird hier nahezu jede einzelne Bewegung aktuell bedacht: sorgfältig und langsam, begleitet von zögerndem Überlegen. Selten sind die Bewegungen zielstrebig. Wenn sie begonnen werden, ist noch nicht erkennbar, wo sie hinführen und in welcher Position sie ein vorläufiges Ende finden. Dadurch, dass ihnen auf diese Weise vor- und nach-gedacht wird, werden sie nicht zu einer einstudierten, verinnerlichten, nur aus dem Körpergedächtnis heraus aktualisierten Folge. Dass zudem eine bestimmte Ausrichtung auf die Zuschauerinnen und Zuschauer zu beobachten ist, mag an der Abhängigkeit von einem Blick von außen liegen, die für Chétouanes Arbeiten konstitutiv erscheint.27 Etwa in der Mitte des Stücks beginnen Héritier und Camelin zu sprechen. Ihre Bewegungen kaum unterbrechend, lassen sie verschiedene Ich-Erzähler unaufgeregt und präzise von kleinen Begebenheiten berichten, etwa von einem Wintermorgen in den Bergen oder von einem nachmittäglichen Einkauf an einem Sommertag. Zusammengefasst beschreiben sie fast ausschließlich Momente, in denen es galt, Entscheidungen zu fällen. Nur in einer Episode, in der Héritier aus der Perspektive eines Apfels spricht, scheint es vielmehr darum zu gehen, wie dieser Apfel sich, in seiner Passivität offen für das ihm Passierende, treiben ließ. 25 | Arendt, Vom Leben des Geistes, S. 184. 26 | Vgl. ebd., S. 84. 27 | Vgl. dazu Laurent Chétouane, zit. n. Nikolaus Müller-Schöll, »›… wie dieser Blick sie inszeniert‹. Laurent Chétouane über seine Arbeit mit Tänzern«, in: Ders./Otto: Unterm Blick des Fremden, S. 235-246, hier S. 243.
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Mal unterstreicht eine Handbewegung das Gesagte, mal passt sich der Sprechrhythmus dem der Bewegungen an. Einmal, als er nicht an der Reihe ist, setzt sich Héritier mit angezogenen Beinen vor das Klavier und schaut und hört Camelin zu. Es ist schwer, dem Gesprochenen kontinuierlich zu folgen, da sich seine Struktur ebenso wenig erschließt wie die der Bewegungen. Eine einfache Orientierung im Ablauf ist kaum möglich. Denn diese etwas mehr als einstündige Choreographie erschließt sich nicht in der Struktur von schnell fassbaren Szenen oder visuell erkennbaren Bewegungsmustern. Nur wenige Momente bleiben in Erinnerung, wie die Umarmung oder wie die beiden über die Stühle steigen und sie dabei umkippen lassen. Was im Gedächtnis bleibt, ist jedoch die Erinnerung an eine Zeitspanne. Als Zuschauerin werde ich auf meine Assoziationen, meine Überlegungen, auf meinen Versuch, ihrem Tun zu folgen und mich darin zurechtzufinden, zurückgeworfen, während ich in und von dieser Situation affiziert bin. Joseph Vogl skizziert das Zaudern als »ein Stocken, eine Pause, ein Anhalten, eine Unterbrechung«28. Er scheint damit nicht allzu weit entfernt von Arendts »Innehalten«. Im Unterschied zum anfänglich beschriebenen Konzepttanz gilt dieses Innehalten hier nicht für die körperliche Bewegung. Vielmehr ist dieses Stück insgesamt ein Innehalten, verstanden als eine »planvolle, aktive Nichtteilnahme an den Angelegenheiten des tätigen Lebens«29. Das Denken, das dadurch in jeder Aufführung, zumindest der Möglichkeit nach, aufs Neue sich ereignet, gleicht eher einem Zustand als einem bewusst lenkbaren Vorgang. Nur ansatzweise ließ sich das der These vom Tanz als Denkweise zugrunde liegende Verständnis von Denken hier anreißen. Vielleicht lässt es sich als ein Denken im Zwischen charakterisieren, bei dem Körper und Geist, kontemplative und aktive Tätigkeiten und einzelne Subjekte weder getrennt voneinander noch als Einheit operieren, sondern zusammenspielen.30
28 | Joseph Vogl, Über das Zaudern, Zürich/Berlin 2008, S. 24. 29 | Arendt, Vom Leben des Geistes, S. 98. 30 | Nancy verschiebt den Ort des Denkens durch seine Aktualisierung des cartesianischen Seele-Begriffs in ein Zwischen. Vgl. Ders, Die Ausdehnung der Seele. Texte zu Körper, Kunst und Tanz, Zürich/Berlin 2010, S. 84. Es sei zu einfach, anstelle des »bösen cartesischen Dualismus platonisch-christlichen Ursprungs« von Seele und Körper diese zur »Einheit einer Dualität« zusammenzuziehen, unterstreicht Nancy. Ders., Corpus, ZürichBerlin 2003, S. 122f. – Ich danke Nikolaus Müller-Schöll, Bernhard Siebert und Gerald Siegmund für Anmerkungen und Kritik sowie Ulrike Haß für das umsichtige Lektorat.
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Vom Swingen des Sinns Musikalische Sinnproduktion1 Rasmus Nordholt
0 Im Folgenden sprechen (hier in der Reihenfolge ihres ersten Auftretens): John Cage, Martin Heidegger, Jean-Luc Nancy, Daniel Martin Feige, Duke Ellington, Christopher Dell, Peter Szendy, Pascal Criton, Gilles Deleuze, Félix Guattari, Michel Serres, Peter Sloterdijk, Kodwo Eshun, Marcel Proust und immer wieder zwischendurch werde auch ich, Rasmus Nordholt, mich zu Wort melden.
1 »Leute erwarten, dass hören mehr wäre als hören. Und so sprechen sie von der Innerlichkeit oder der Bedeutung von Klängen. Ich liebe Klänge – so wie sie sind. Und für mich brauchen sie nichts mehr zu sein als das was sie sind. Ich will nicht, dass sie psychologisch sind, ich will nicht, dass ein Klang so tut als wäre er ein Eimer oder der Präsident oder als ob er in einen anderen Klang verliebt ist. Ich möchte dass die Klänge bloß Klänge sind.«2
2 Man sollte sich nicht von »so ›einfachen‹ Bezügen, wie sie die Bedeutung in sich birgt«3, verwirren lassen.
1 | Bei diesem Text handelt es sich um die Lesefassung des im Rahmen des Kongresses der Gesellschaft für Theaterwissenschaft 2014 gehaltenen Vortrags. Der Vortrag wurde durch eine klangliche Ebene unterstützt, deren Struktur der abgebildeten Partitur zu entnehmen ist. Eine Hörfassung des Vortrags mit der klanglichen Ebene ist zu finden unter https://soundcloud.com/rr-nn/vom-swingen-des-sinns vom 18.05.2015. 2 | John Cage, John Cage about silence, www.youtube.com/watch?v=pcHnL7aS64Y vom 07.04.2016, [Übers. R.N.]. 3 | Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 2001, S. 88.
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3 »[Der musikalisch gehörte Klang] nämlich wird um seiner selbst willen aufgelesen und beäugt; nicht als ein akustisches Phänomen indessen (oder nicht allein), sondern als (wider)klingender Sinn, als Sinn, dessen Sinnhaftes sich stimmigerweise in Klang und Resonanz finden soll und nur darin.
Vom Swingen des Sinns
Doch welcher Raum kann Klang und Sinn gemein sein? Der Sinn besteht in einem Verweis. Er besteht sogar aus einer Totalität von Verweisen: von einem Zeichen zu etwas, von einem Stand der Dinge zu einem Wert, von einem Subjekt zu einem anderen Subjekt oder zu ihm selbst, all das gleichzeitig. Der Klang besteht nicht weniger aus Verweisen: Er breitet sich im Raum aus, wo er wiederhallt, während er zugleich ›in mir‹ widerhallt, wie man sagt […]. Im Außen- und Innenraum klingt er wider, sprich, sendet sich erneut aus, während er eigentlich ›klingt‹«.4
4 Ein einzelner Klang ist ein Gefüge verschiedener Komponenten (Tonhöhe, Dauer, Intensität, Anstieg, Obertöne, Klangfarbe, Hintergrundgeräusche etc.), die in einem immanenten Spiel des Mit- und Gegeneinanders das akustische Phänomen hervorbringen. Was unsere Ohren schon lange ahnten, führt uns seit Mitte des 20.Jahrhunderts die technische Anordnung des Synthesizers vor Augen – jene Anordnung, die Deleuze und Guattari an die Stelle des synthetischen Urteils a priori gesetzt sehen wollten.5 Diese Immanenz klanglicher Relationalität erstreckt sich weiterhin in Raum und Zeit: »Der Klang klingt wesensmäßig wider, er ist in sich selbst Resonanz. Man kann sagen, dass das Echo Teil des Klangs ist, dass es zu seiner Immanenz gehört.«6 Dieses Echo und diese Resonanz, die der Klang selbst ist, entfaltet sich in Relation zum Raum (der von ihm gleichsam eröffnet wird), den in ihm befindlichen Körpern (Dingen, Menschen, Tieren …), im modulierenden Verhältnis zu umgebenden Klängen.
5 »Im Lichte der Phrasierung und minimaler Unterschiede im Tempo erhalten auch die anderen Elemente der Musik für den Zuhörer einen anderen Sinn. Elemente einer Performance sind somit keine Atome, die isoliert betrachtet werden könnten und bei denen unglücklicherweise mitunter eines fehlen oder deformiert sein kann, sondern sie bestimmen sich wechselseitig.« 7
4 | Jean-Luc Nancy, Zum Gehör, Zürich/Berlin 2011, S. 15. 5 | Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 1992, S. 469. 6 | Jean-Luc Nancy, »Ascoltando«, in: Peter Szendy, Listen. A History of Our Ears, New York 2008, S. ix-xiii, hier S. x. [Übers. R.N.]. Der vorliegende Vortrag wurde auf der Grundlage der englischen Fassung entwickelt. Daher wird hier und im Folgenden die englische Fassung in eigener Übersetzung zitiert. Mittlerweile liegt Peter Szendys Text mit dem Vorwort »Ascaltando« von Jean-Luc Nancy auch in deutscher Übersetzung von Daniel Schierke vor. Die eigenen Übersetzungen wurden mithilfe der deutschen Fassung überarbeitet. Vgl. Peter Szendy, Höre(n). Eine Geschichte unserer Ohren, Paderborn 2015. 7 | Daniel Martin Feige, Philosophie des Jazz, Frankfurt a.M., 2014, S. 84.
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6 »Das Verstehen des musikalischen Sinns, also mithin dessen, was die Musik meint, hängt jedoch nicht nur mit der direkten Erfahrung des Zeichen- bzw. Tonzusammenlesens zusammen, sondern auch mit der Historizität musikalischer Verläufe. Die Erfahrung des Hörens koppelt sich an vorherige Erfahrungen, die der Hörer bereits mit Musik gemacht hat. Es ist dabei jedoch nicht so, dass andere Jazzstücke in der Erfahrung des Hörers präsent wären (auch wenn er in Soli z.B. Anspielungen auf ein Monk-Stück erkennt), sondern seine Erfahrung mit anderen Jazzstücken beeinflusst den Charakter seines Hörens«.8
7 »›Warum ist Schönbergs Musik so schwer zu verstehen?‹ Das ist der Titel eines von Alban Berg im Jahr 1924 veröffentlichten Artikels. An der Diagnose, die der Titel zum Ausdruck bringt (und die der Artikel erklärt indem er sie rechtfertigt), hat sich im Grunde nichts (oder nur wenig) geändert. Wir müssen nur das folgende aktuelle Statement eines Musikers wie Steve Reich lesen: ›Der Postbote wird nie Schönberg pfeifen. […] Seine Musik (und alle die ihr ähnelt) wird immer in einer ›kleinen dunklen Ecke‹ hausen, isoliert von aller Musik der Welt.‹ Vielleicht geht es aber gar nicht so sehr darum, Schönberg zu ›verstehen‹ (was auf die Entscheidung hinausliefe […], ob seine Musik eine ›Bedeutung‹ hat oder nicht), sondern vielmehr darum, ob man ihn sich anzueignen vermag oder nicht. Es geht darum, Schönberg zu übersetzen – nicht in dem Sinne ihn lesbar zu machen und seine Sprache in einer mutmaßlich vertrauteren heimisch werden zu lassen, sondern im Sinne Benjamins: Übersetzung als die Eröffnung eines Raums der Komplementarität (besser: der Spannung) zwischen verschiedenen Sprachen. Und vielleicht müssen wir seine Musik (müssen wir die Musik) hören, fern eines Horizonts, der von Analogien mit der Sprache beherrscht ist«.9
8 »Dazu gilt es, entschlossen zum Ende des Implizierten zu gehen und sich nicht durch ein Primat der Sprache und der Bedeutung zügeln zu lassen.«10
9 »Und vielleicht müssen wir seine Musik (müssen wir die Musik) hören, fern eines Horizonts der von Analogien mit der Sprache beherrscht ist, um – im Sinne eines gewissen Liszt – über das Hören von Musik als ein plastisches Spiel mehrerer Körper nachzudenken.«11 8 | Christopher Dell, Die improvisierende Organisation, Management nach dem Ende der Planbarkeit, Bielefeld 2012, S. 158. 9 | Szendy, Listen, S. 68, [Übers. R.N.] 10 | Nancy, Zum Gehör, S. 41. 11 | Szendy, Listen, S. 68.
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10 »›It don’t mean a thing if it ain’t got that swing‹, sagt Duke Ellington. Es bedeutet nichts, wenn es nicht swingt. Dieser Satz definiert Musik nicht wirklich ex negativo. Vielmehr knüpft Ellington Bedeutung an die Ontologie des Verfahrens Swing, Groove, Gestimmtheit des Zusammenspiels. Das ist clever: Ellington sagt nicht, was die Musik meint, sondern nur, dass sie nichts meint, wenn sie die Bedingung des Swingens nicht erfüllt. Mal ganz abgesehen davon, dass es nicht einfach ist, zu definieren, was swingt und was nicht, wird es noch schwerer zu sagen, was Musik bedeuten kann. Denn Sinn kann in der Musik nicht dadurch erzeugt werden, dass etwas etwas anderes bedeutet – so wie das Wort ›Eimer‹ auch den Gegenstand Eimer bedeutet. Musik ist in diesem Sinne eine nicht-repräsentationale Kunst. Eine andere Möglichkeit, Sinn herzustellen wäre, Sinn aus rhythmischer Kohärenz (=Swing) zu deuten, also zu sagen: Diese oder jene Musik ist für mich kohärent, sie swingt, ergo sie bedeutet mir etwas. Meiner Ansicht nach denkt auch Ellington in diese Richtung, denn Swing ist ja ein Kohärenzzustand eines rhythmischen Flow.«12
11 Hier ist mit Swing nicht das musikalische Genre gemeint, sondern ein rhythmischer Kohärenzzustand, ein Zusammenhang, der sich im Zusammenspiel zusammenfügt und der weder im Maß noch in der Harmonie noch in der Schrift aufzugehen vermag. Swing ist eine produktive Reibung, die im Wechselspiel zwischen den Musikern und ihren Dingen entsteht, ihren möglicherweise vorliegenden Noten, oder auch zwischen Maschinen, die heterogenen Protokollen folgen, zwischen einem Klang und seiner Umgebung, Zuhörern mit verschiedenen Erfahrungshorizonten oder Gestimmtheiten. »So ist das swing-Feeling im Swing anders als im Bebop; auch swingt John Coltrane anders als Sonny Rollins«.13 Auch swingt Bach anders als Drexciya und ein MPC-Sampler anders als ein MFB522Drumsynthesizer. Einig scheint man sich darin zu sein, dass Swing eine Ungenauigkeit, ein Verstoßen gegen das Metrum bzw. die Überlagerung des Metrums mit von ihm differierenden Zeitlichkeiten beschreibt; und damit eigentlich den Zwischenraum zwischen dem Metrum und diesen Zeitlichkeiten. Manchmal sprechen Musiker von microtiming: Ein Musiker kann noch so genau sein, wenn er in eine Konstellation kommt, deren microtiming er nicht kennt, deren Art und Weise, die Eins ein wenig vorzuziehen, hier eine kleine Synkope zu setzen und dort ein wenig zu 12 | Dell, Die improvisierende Organisation, S. 157. Das Zitat wurde zur Resonanzbildung mit dem eröffnenden John Cage-Zitat leicht modifiziert. Im Original heißt es: »so wie das Wort ›Tisch‹ auch den Gegenstand Tisch bedeutet«. Dells ›Tisch‹ ist ebenso wie Cages ›Eimer‹ ein beliebiges Beispielwort. Den ›Tisch‹ durch den ›Eimer‹ zu ersetzen verändert nichts am Inhalt des Zitierten. 13 | http://de.wikipedia.org/wiki/Swing_%28Rhythmus%29 vom 07.04.2016.
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schleifen, ist er verloren und die Musik wird weder swingen noch Sinn produzieren. Im Bereich der Rhythmusmaschinen und Drumcomputer wird eine kalkulierte Ungenauigkeit, die die Viertelunterteilung einer triolischen Unterteilung annähert, seit Mitte der 80er Jahre als Swing bezeichnet.14
12 »Die Differenz der Kulturen, die Differenz der Künste und die der Sinne sind Bedingungen, nicht Begrenzungen der Erfahrung im Allgemeinen, und ebenso verhält es sich mit der gegenseitigen Verschränkung dieser Differenzen. Noch allgemeiner müsste man sagen, die Differenz«15, der schwingende Zwischenraum16 »des Sinns […] ist seine Bedingung, das heißt die Bedingung seiner Resonanz. Wenn man die Erfahrung in dieser Ordnung betrachtet, ist nun nichts bemerkenswerter als die Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert, mehr als die jeder anderen künstlerischen Technik: die inneren Transformationen die auf Wagner folgten; die zunehmende Hereinnahme von Referenzen, die der als ›klassisch‹ definierten Musik äußerlich sind; das Aufkommen des Jazz und seiner Transformationen; dann jenes des Rock und all seiner Abwandlungen [und] Hybridbildungen; und durch all diese Phänomene hin die erhebliche Transformation der Instrumentierung bis zur elektronischen und digitalen Klangproduktion und zur Neugestaltung von Klangschemata – Klangfarben, Rhythmen, Schriften –, die selbst wiederum der Entstehung einer globalen Klangszene oder eines globalen Klangraumes zeitgenössisch ist, dessen außerordentlich durchmischte Natur – populär und verfeinert, religiös und profan, alt und neu, aus allen Kontinenten gleichzeitig hervorgegangen – kein wirkliches Äquivalent in anderen Bereichen hat. Es hat ein Musik-Werden der Sinnlichkeit und ein Global-Werden der Musikalität stattgefunden, deren Geschichtlichkeit noch zu denken bleibt.«17
13 Vielleicht erzählt die Musik weniger von etwas, als das sich in ihr etwas erzählt: Es erzählt sich etwas. Es erzählt sich etwas, wenn die Elemente aufhören, auf etwas ihnen Äußerliches zu verweisen, und eine eigenständige und bewegliche Ebene entwickeln, auf der die verschiedenartigen Bezüge des Materials eine Selbstständigkeit erlangen.
14 | Vgl. Greg Scarth/Roger Linn, »Linn on swing, groove and the magic of MPC’s timing«, www.attackmagazine.com/features/roger-linn-swing-groove-magic-mpc-timing/ vom 07.04.2016. 15 | Nancy, Zum Gehör, S. 20. 16 | Vgl. ebd., S. 49. 17 | Ebd., S. 20.
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14 »Ein In-Beziehung-Setzen von heterogenen Serien und asymmetrischen Variablen.«18
15 Es erzählt sich: Ein a-subjektives und vielleicht kollektives Es erzählt sich selbst, anstatt von etwas Anderem, Abwesenden. Es entfaltet sich in einer Totalität von Verweisen. Sinn entsteht in den Resonanzen und ist nicht als gegebene Achse, als einheitliche Linie über das Material gelegt. Es erzählt sich etwas, das ist auch eine Art Selbstgespräch, wobei dieses Es das ganze Gefüge beschreibt, den ganzen Raum. Es erzählt mir also nicht von etwas, sondern im Zusammenspiel mit mir, dem Hörenden oder Wahrnehmenden, bildet sich etwas. Es erzählt sich etwas: Dabei rücken alle Terme bis in die Ununterscheidbarkeit zusammen. Es, erzählt, sich und etwas sind nicht auf Gegenstände oder Positionen aufzuteilen, während Es erzählt von etwas klar gegliedert ist: Es, das wäre ein Stück, ein Text, eine Inszenierung, die von etwas Anderem erzählt, das deutlich vom erzählenden Es abzutrennen ist. Dabei scheint es einem äußeren Dritten zu erzählen (Es erzählt JEMANDEM von etwas). Demgegenüber lässt es erzählt sich etwas keine abgetrennte Position eines solchen Dritten zu. Sagt man, mir erzählt sich etwas oder es erzählt sich mir etwas, so betont das die aktive Teilnahme eines Wahrnehmenden: Es erzählt sich mir etwas, weil sich die Dinge in einer spezifischen Weise zusammenfügen, an der ich als Komponente des Gefüges beteiligt bin. Dieses Ich ist also weder von dem Etwas, noch von dem Es, das sich dem Ich erzählt, klar zu trennen.
16 »Mehr und mehr ist man geneigt zu sagen, die Musik hört sich selbst zu: Sie präsentiert sich (auch wenn sie pure Improvisation ist) als das Werk-Subjekt, das mit nichts so sehr verknüpft ist, wie mit sich selbst, mit der Nähe und Fremdheit seiner inneren Resonanzen; anstatt mit irgendeiner Finalität oder irgendeinem Inhalt, sei dieser von der Ordnung kompositorischer Form oder der Signifikanz.«19
17 »Das Verstehen des musikalischen Sinns [...] hängt jedoch [...] auch mit der Historizität musikalischer Verläufe zusammen. Die Erfahrung des Hörers koppelt sich an vorherige Erfahrungen, die der Hörer bereits mit Musik gemacht hat. Es ist dabei jedoch nicht so, dass andere Jazzstücke in der Erfahrung des Hörers präsent wären (auch wenn er in Soli z.B. Anspielungen auf ein Monk-Stück erkennt), son-
18 | Pascale Criton, »In Richtung eines Denkens von Mannigfaltigkeiten: Zur Heterogenese des Klanglichen«, in: Magazin 31 Heft 1 (2012), S. 120-125, hier S. 122. 19 | Nancy, »Ascoltando«, S. xiii [Übers. R.N.].
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dern seine Erfahrung mit anderen Jazzstücken beeinflusst den Charakter seines Hörens.«20 »Aus einer anderen Zeit, von einem anderen Ort, aus der enzyklopädischen Landschaft eines fernen Gedächtnisses werden wir überrascht.«21
18 Es erzählt sich etwas, das sich nicht in wenigen Worten, nicht in Worten zusammenfassen lässt, das sich einer sprachlichen Formulierung entzieht, weil es eben nicht etwas ist, auf das sich zeigen ließe, sondern etwas Vielstimmiges, etwas Bewegliches, etwas Weitläufiges: ein musikalisches Wesen in (s-)einer Welt.22
19 »Nun handelt es sich darum, zu wissen, ob Verhältnisse (und welche?) sich direkt zusammensetzen können, um ein neues Verhältnis, das weiter ›ausgedehnt‹ ist, zu bilden, oder ob Mächte sich direkt zusammensetzen können, um eine Macht, ein Vermögen zu konstituieren, das ›intensiver‹ ist. Es handelt sich nicht mehr um Aneignungen oder Anwendungen, sondern um Soziabilitäten oder Gemeinschaften. Wie setzen sich Individuen zusammen, um ein höheres Individuum – bis ins Unendliche – zu bilden? Wie kann ein Wesen ein anderes in seine Welt aufnehmen, doch so, dass es dessen Verhältnisse und die eigene Welt erhält und respektiert? Und welche sind in dieser Hinsicht die verschiedenen Soziabilitätsarten? Was ist der Unterschied zwischen der Gesellschaft der Menschen und der Gemeinschaft der vernünftigen Wesen? Es handelt sich nicht mehr um Verhältnisse von Punkt und Kontrapunkt oder von Selektion einer Welt, sondern um eine Symphonie der Natur, um die Konstituierung einer zusehends größeren und intensiveren Welt. Im Plan einer musikalischen Komposition ist das intensivste und umfassendste Individuum jenes, dessen Teile auf unendlich viele Weisen variieren.«23
20 »Es handelt sich um eine Stimme mit mehreren Stimmen.«24
20 | Dell, Die improvisierende Organisation, S. 158. 21 | Christoph Dell, Prinzip Improvisation, Köln 2002, S. 32. 22 | Zum Begriff des musikalischen Wesens vgl. Gilles Deleuze, »Den Zeit-Raum ausfüllen, ohne zu zählen: Boulez, Proust und die Zeit«, in: Daniel Lapoujade (Hg.), Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche von 1975 bis 1995, Frankfurt a.M. 2005, S. 148-152. 23 | Gilles Deleuze, Spinoza. Eine praktische Philosophie, Berlin 1988, S. 164. 24 | Michel Serres, Hermes II. Interferenz, Berlin 1992, S. 254.
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21 »Das Problem ist wirklich musikalisch, in technischem Sinne musikalisch, und darum umso politischer.«25
22 Vielleicht ist der Sinn einer Musik in ihren Verhältnissen zu suchen, in den Relationen, die die Klänge, die Menschen, die Musiker und ihre Dinge, die Musikhörer eingehen, in den Arten des Zusammenseins, des Zusammenhangs, des Swings. Nicht wird etwas dar- oder vorgestellt, sondern wir sind in das Musikalische hineingestellt. Umwelten oder Welten, deren Komponenten sich im simultanen und sukzessiven, im Nacheinander und Zugleich wechselseitig transformieren, heterogenisieren – und auch uns oder das Verhältnis zu uns. Blöcke des Werdens: Soziabilitäten, Koexistenzialgefüge, Kompositionen, Kosmologien im Zustand ihres Entstehens. Aber damit auch der potentielle Faschismus der Musik, die Auflösung einer Bevölkerung zugunsten der Rekomposition in einem Armeeverband mit Hilfe von Pauken und Trompeten.26
23 »Erst klagte das Klavier wie in Verlassenheit gleich einem Vogel, der seine Gefährtin vermisst; die Geige hörte und gab Antwort von einem benachbarten Baum. Es war wie nach der Erschaffung der Welt, als gäbe es noch nichts als diese beiden auf Erden, oder vielmehr wie in einer für alles andere verschlossenen Logik eines Schöpfers erbauten, in der nur immer diese beiden sein würden, der Welt dieser Sonate.«27
24 In Beethovens 9. Symphonie finden wir uns in einer weltumspannenden Gattung der Brüderlichkeit, bei Cage in einem anarcho-buddhistischen Weltzustand. Der elektronische Jazz von Herbie Hancock, Sun Ra und anderen ersetzt den kosmischen Raum pythagoreischer Sphärenharmonie ebenso wie das schwerelos Erhabene des 19. Jahrhunderts durch eine Kosmologie der Polyrhythmik 28 und »Xenakis […] lässt uns die Dinge im Universum hören. […] Was kann man hören in einer Welt ohne Menschen? Die Turbulenz in ihrer Reinform, den Fluss der 25 | Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S. 465. 26 | Vgl. ebd., S. 475. Vgl. zum gesamten Abschnitt 22 auch Hans-Georg Nicklaus, Die Maschinen des Himmels. Zur Kosmologie und Ästhetik des Klangs, München 1994. 27 | Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, zit. n. Gilles Deleuze, Proust und die Zeichen, Frankfurt a.M. 1978, S. 152. 28 | Vgl. zu Beethovens 9. Symphonie Peter Sloterdijk, »Erinnerung an die schöne Politik«, in: Ders., Der ästhetische Imperativ, Frankfurt a.M. 2014, S. 29-49, hier insb. S. 39ff. Vgl. zum elektronischen Jazz Kodwo Eshun, Heller als die Sonne. Abenteuer in der sonicfiction, Berlin 1999, insb. S. 194.
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Teilchen, den Zusammenstoß der zufällig in der Zeit verteilten Individuen, das Strömen der Wolke aufgrund von Raumladungseffekten. Was spricht im Innern dieser Wolke? Im strengen Sinne niemand, ganz gewiss aber das Objekt, […] die Welt. Es spricht, wie man sagt, aber hier behält die dritte Person jene klare Bedeutung, die sie niemals verloren hat: die Ansammlung von Objekten, die das Universum bilden.«29
29 | Serres, Hermes II., S. 254f.
Von der Sichtbarkeit zur Berührbarkeit ABeCedarium Bestiarium als Limitrophie Leon Gabriel
Wie lässt sich eine Öffnung denken, die nicht wieder in einen geschlossenen Raum führt? Was bleibt ›dem‹ Theater als Maschinerie visueller Darstellung äußerlich? Was bleibt der Theaterwissenschaft mit ihrem Fokus auf Schauräume und der lautstark proklamierten Ausrichtung auf Aufführungen innerhalb eines Sehfeldes unzugänglich? Dieser Beitrag zielt auf eine Untersuchung epistemischer Grenzen und auf die Frage, warum diese als zu hinterfragende Grenzen immer schon Teil der Analyse theatraler Gegenstände sein sollten. Krisen verlangen es, vermeintlich feste Grundlagen zu befragen, sie sind Momente der Reformulierung epistemischer Festlegungen.1 Spätestens mit dem Übergang von der neuzeitlichen Struktur des Sehen-und-Gesehen-Werdens zu kybernetischen Netzwerkgesellschaften tritt heute die Frage hervor, wie Theater jenseits der engen abendländischen Bestimmung als Schaubühne des Menschen zu verstehen ist. »Es gibt im Leben Augenblicke, da die Frage, ob man anders denken kann, als man denkt, und anders wahrnehmen kann, als man sieht, zum Weiterschauen oder Weiterdenken unentbehrlich ist.«2 Was ist es also, was uns anders wahrnehmen lässt als zu sehen? Wie ließe sich Denken und Wahrnehmen jenseits des optischen Registers verstehen?
Epistemische Grenzen der Sichtbarkeit Bekanntermaßen hat Michel Foucault in Die Ordnung der Dinge den Begriff der Episteme von Gaston Bachelard für die Analyse der Übergänge von Diskursen erweitert. Im Sinne einer Archäologie untersucht Foucault die Episteme als das, »was im Raum der Gelehrsamkeit die Konfigurationen sind, die den verschiede-
1 | Vgl. Judith Butler, »Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend«, in: Rahel Jaeggi/ Tilo Wesche (Hg.), Was ist Kritik, Frankfurt a.M. 2009, S. 221-246, hier S. 226. 2 | Michel Foucault, Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit. Bd. 2, Frankfurt a.M. 1997, S. 15 [Herv. L.G.].
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nen Formen der empirischen Erkenntnis Raum gegeben haben«.3 Obwohl Foucault die Neuzeit in zwei Episteme (Repräsentation und Funktion) unterteilt, ist deren relative Nähe in der kontinuierlichen Formung des Diskurses vom Menschen (im 18. Jahrhundert) zu betonen. Insbesondere in Überwachen und Strafen wird die Ausbildung und Kontinuität einer Verknüpfung von visuellen Apparaturen (quasi als Folgen des Repräsentations-Epistems) mit dem Epistem der Funktion dargelegt: das Panopticon als »verallgemeinerungsfähiges Funktionsmodell« der Disziplinarmacht.4 Die Basis dieses Modells bildet meiner Auffassung nach aber das Epistem der Sichtbarkeit.5 Ulrike Haß hat aufgezeigt, dass die optisch-visuelle Ordnung der neuzeitlichen Theaterbauten als Foucaultsches ›Dispositiv‹ oder ›Maschine‹ im Sinne Gilles Deleuze‹ zu verstehen ist: als eine Strukturierung der Wahrnehmung, die ebenso Begriffe und Denken beeinflusst bzw. nicht ohne das Prinzip der den Regeln der Optik folgenden Sichtbarkeit denkbar ist. Die Vorstellung der bildhaften Einschreibung auf einer (neutralen) Leinwand grenzt diese Schau-Apparate von der Auffassung einer Einbindung in ein kosmologisches Gefüge vorhergehender Epochen ab und macht sie zu Räumen eines »Innen ohne Außen«, in dem vermeintlich alles dar- und vorgestellt werden kann.6 Die Begrenzung, die dieser Versuch notwendigerweise mit sich bringt, führt aber zu einem Schlüssel, der kategorisch das Verständnis der Welt und der Geschichte leitet – alles muss sich in den so gebildeten Schauplatz einfügen.7 Ein Blick auf »Die Zeit des Weltbildes« von Martin Heidegger unterstreicht die epistemische Neuausrichtung dank der optischen Register, insofern Heidegger den »Grundvorgang der Neuzeit« als ein »Gebild des vorstellenden Herstellens« darlegt, bei dem der Mensch als »Subjectum« und »Bezugsmitte« im Zentrum einer sich ihm als Betrachter zu erschließenden Weltsicht eingesetzt wird.8 Heidegger erläutert nicht irgendein Weltbild unter vielen, sondern ermittelt das Prinzip der Neuzeit, da das auf das betrachtende Subjekt ausgerichtete Bild in der Ord3 | Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M. 1974, S. 24, vgl. insb. S. 21-28. 4 | Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1977, S. 263. 5 | Vgl. zur Durchsetzung neuzeitlicher Optik und Sichtbarkeitsverhältnisse sowie zum Rückzug des Denkens der ›Unsichtbarkeit‹ auch: Hans Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, Bd. 1-3, Frankfurt a.M. 1981. 6 | Ulrike Haß, Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform, München 2005, insb. S. 55, S. 310-322. 7 | Vgl. Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt a.M. 1974, S. 73f. Für viele Hinweise zu Benjamins Schauplatzbegriff und der ›Entstellung‹ danke ich Julia Schade. 8 | Martin Heidegger, »Die Zeit des Weltbildes«, in: Ders., Holzwege, Frankfurt a.M. 1977, S. 75-113, hier S. 94.
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nung des Sichtbaren alles verfüg- und verortbar zu machen sucht.9 Entsprechend kommentiert Jacques Derrida Heidegger: »[Die Vorstellung ist] eine Affektion des Subjekts in Form einer Beziehung zum Objekt, das als Kopie, Bild/Tableau oder Szene in ihm ist […].«10 Die dafür notwendige Voraussetzung sei nämlich, dass »die Welt zuvor als sichtbar konstituiert ist. Sichtbar, das heißt bildlich (en image), nicht im Sinne der reproduktiven Repräsentation, sondern im Sinne der Manifestation der sichtbaren Form, des geformten, informierten Schauspiels, als Bild.«11
Transformationen Mitnichten meint dies nun die Vormachtstellung einer Aufführungswissenschaft von cultural performances – geht doch dieser Position die Bedingungsmöglichkeit von Aufführungen verloren: die Rahmung durch Dispositive und die historische Situierung innerhalb eines spezifischen Epistems. Das Epistem der Sichtbarkeit ermöglicht Darstellung und bedingt zugleich bestimmte Techniken bzw. Formate oder Medien, weil die Erfindung ›des‹ Menschen einen Bezug von Subjekt und Objekt im Modus des Bildes benötigt und produziert. Entsprechend dienen die bildhaften Schaubühnen dazu, ›den‹ Menschen in einem sichtbaren Feld zu konturieren und zur Erscheinung zu bringen. Das Weltbild als beobachtbare Vor-Stellung und ›der‹ Mensch als vorstellender Beobachter bedingen einander innerhalb des Epistems der Sichtbarkeit. Diese fast tautologische wechselseitige Konstitution beruht auf scharfen Grenzziehungen, vor allem zwischen Subjekt-Objekt und damit zwischen Mensch sowie ihm verfügbarer Welt. Dieses epistemologische Feld selbst befindet sich nunmehr in einer ›Verwindung‹ (statt einer Überwindung): Sieht schon Foucault die Moderne als Epoche der Zeit etwa um 1950 beendet (wohlgemerkt der Beginn des Siegeszuges der Kybernetik)12 und weist auf die anbrechende Epoche des Raumes hin,13 so kritisiert er selbst die Auffassung eines solch chronologischen Epochenverlaufs und betont den jeweils spezifischen Transformationscharakter anstelle der Konstruktion quasi-evolutionärer Genesen.14 Gleichwohl denkt schon Heidegger 9 | Vgl. zur Tradition des ›scopic knowledge‹ in der abendländischen Philosophie: David Michael Levin (Hg.), Sites of Vision. The Discursive Construction of Sight in the History of Philosophy, Cambridge (Mass.) 1997. 10 | Jacques Derrida, »Sendung«, in: Ders., Psyche. Erfindungen des Anderen, Wien 2012, S. 95-142, hier S. 114. 11 | Ebd. 12 | Vgl. Michel Foucault, »Über verschiedene Arten, Geschichte zu schreiben« (1967), in: Ders., Schriften in vier Bänden, Bd. 1, Frankfurt a.M. 2001, S. 750-769, hier S. 767. 13 | Vgl. Michel Foucault, »Von anderen Räumen«, in: Ders., Schriften in vier Bänden, Bd. 4, Frankfurt a.M. 2005, S. 931-942, hier S. 931. 14 | Vgl. Michel Foucault, »Antwort auf eine Frage« (1968), in: Ders., Schriften in vier Bänden, Bd. 4, S. 859-886, S. 862ff.
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die Verwindung des neuzeitlichen Anthropozentrismus durch dessen gleichursprüngliche Konfiguration des technologischen Gestells, weswegen er etwas ominös vom irgendwann auftauchenden »Riesige[n]«, »Unberechenbaren« und dem »der Vorstellung entzogenen Raum« schreibt.15 Die spezifisch techno-politische Konnotation dieser Verwindung bringt Werner Hamacher bereits 1984 auf den Punkt: als die Selbstüberschreitung der Ontologie hin zu Onto-Technologie.16 Mit Jean-Luc Nancy ließe sich auch von einer Verschiebung hin zum Epistem der allgemeinen Äquivalenz, der Austauschbarkeit von allem mit allem, sprechen.17 Nun kann es nicht darum gehen, ein einziges neues Epistem festzulegen, auch wenn die foucaultsche These von der Verschiebung hin zum Raum als Gefüge oder Konstellation als heuristische Hilfe dienen soll. Wichtiger als eine Festlegung ist das Beobachten dieser Transformation als ein Aufsplittern der vormals scharf konturierten Definitions- und Demarkationslinien dessen, was ›das‹ Theater und ›der‹ Mensch sei. Genau dies schafft die Inszenierung ABeCedarium Bestiarium als eine Öffnung und Zerlegung der Grenzen ›des‹ Menschen und ›des‹ Theaters.
ABeCedarium Bestiarium als Spiel mit der Af-finität Befreit von Podesten oder sonstigen Sitzbereichen, lädt ein quadratischer Bühnenraum mit schwarz verhängten Wänden und strahlend weißem Tanzboden die Besucher*innen von ABeCedarium Bestiarium – Affinitäten in Tiermetaphern von Antonia Baehr18 dazu ein, sich in dieser Verquickung aus Black Box und White Cube zu bewegen. Acht schwarze Konsonanten sind auf den weißen Boden geklebt, einige davon in der Nähe von ausgewählten ›Exponaten‹, die verteilt herumstehen. Alles ist an seinem Platz und in einer bestimmten Ordnung, doch offensichtlich wartet dieses Kabinett noch darauf, in Benutzung zu treten. Ist das eine Ausstellung oder doch eine Bühne? Die Choreografin und Performerin Antonia Baehr tritt in die Mitte der Wartenden, um das Prinzip des Abends zu erläutern: Sie habe Freunde gebeten, ihr kleine Stücke zu schreiben, ausgehend von einem Tier, dem diese sich jeweils verbunden fühlten. Allerdings sollten diese Tiere ausgestorben sein. Deren Anfangsbuchstaben formten das Alphabet/ABC dieses Abends. Sie würde nun in loser Reihenfolge
15 | Heidegger, »Die Zeit des Weltbildes«, S. 95. 16 | Vgl. Werner Hamacher, »Reparationen« (1984), in: Friedrich Balke/Bernhard Siegert/ Joseph Vogl (Hg.), Mediengeschichte nach Friedrich Kittler, München 2013, S. 11-27, hier S. 16. 17 | Vgl. Jean-Luc Nancy, Äquivalenz der Katastrophen. (Nach Fukushima), Zürich/Berlin 2013. 18 | Die Inszenierung ist eine Kollaboration Baehrs und befreundeter Künstler*innen (Premiere: Kunstenfestivaldesarts, Beursschouwburg, 3.5.2013), begleitet von einer Publikation und einem Hörspiel.
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acht dieser Tier-Letter-Partituren zeigen, während die Zuschauenden eingeladen seien, ihr von Station zu Station zu folgen. So unauffällig Baehr inmitten der Wartenden aufgetaucht ist, so deutlich ist doch ihre Position als Performerin: mit ausrasierten Geheimratsecken und den streng nach hinten gekämmten Haaren, dazu einem veralteten dandyhaften Outfit, bestehend aus einer beigen Hose, beiger Anzugsweste und hellblauem Flanellhemd. Bei dieser spielerischen Zwischensphäre geschlechtlicher Verortung im temporal drag handelt es sich um eine deutliche Markierung von als natürlich gesetzten Geschlechterordnungen und deren subtile Verschiebung zugleich. Baehr hebt hervor, dass die Suche nach einem differenten Begehren und der Loslösung von gesetzten Identitäten der wesentliche Katalysator des Stückes wie auch vorheriger Arbeiten sei.19 Dieser Versuch bildet damit das Strukturprinzip der rahmengebenden Ausstellungsanordnung sowie der darin performten ›Exponate‹. Tiere werden hier als Metaphern einer Relation verstanden, die das Verhältnis von partiturschreibender und -ausführender Person spiegelt. Bei den Metaphern geht es so um Nähe und Distanz in einem uneindeutigen Vertrauensverhältnis, welches zugleich auch ein positives affektives Arbeitsverhältnis einschließt. Dies wird besonders bei der Station Y for Yangtze River Dolphin (You are the dolphin geschrieben vom Musiker Frédéric Bigot/electroniCat) deutlich: Baehr lockert ihre Dandykleidung, macht sich eine Elvis-Tolle, packt wortwörtlich ihren Bauch aus und lässt ihn aus Hemd und Hose heraushängen, schließlich streift sie eine schwarze Lederjacke über. Als Delphin-Sänger tritt Baehr an das Mikrofon und beginnt, Echolaute von sich zu geben, die laut verhallen und von einem zunehmenden Bassdröhnen begleitet werden.
Abb. 1: Antonia Baehr, ABeCedarium Bestiarium, Y is for Yangtze River Dolphin (Lipotes vexillifer) by Frédéric Bigot (electroniCat). © Anja Weber 19 | Vgl. Antonia Baehr, ABeCedarium Bestiarium, Nyon 2013, S. 125.
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Abb. 2: Antonia Baehr, ABeCedarium Bestiarium, Y is for Yangtze River Dolphin (Lipotes vexillifer) by Frédéric Bigot (electroniCat). © Anja Weber Zwar überrascht Baehrs Transformation erst, doch schnell verliert die visuelle Ebene gegenüber der akustischen an Faszination. Die gesamte Szene gewinnt eine stofflich-materielle Opazität. Obwohl sich das Licht nur unmerklich ändert, lässt der Delphinengesang den Ausstellungsraum dunkel, diffus und schwer durchdringlich erscheinen. Der Yangtse-Flussdelphin kann nicht sehen, sondern orientiert sich allein durch Klicklaute, wird dabei aber durch laute Schiffsrotoren sozusagen ›blind‹ gemacht und von diesen zerhäckselt. Diesen Hintergrund verlagern Bigot und Baehr detailliert in die Komposition bzw. Performance. Dabei spielt es keine Rolle, den Delphin mimetisch in Gesten nachzuahmen, denn in dieser Station gibt jener suchend-navigierende, nicht-visuelle und bedrohlich-bedrohte Orientierungszustand ›den Ton an‹. Die Idee zu ABeCedarium Bestiarium kam Antonia Baehr, weil sie seit jeher in eine Affinität mit Bären gerückt worden sei. Daraus habe sich ihr die Frage gestellt, was von wem abhänge: Die Assoziation mit dem Bären von ihr oder sie vom Bär-Ähnlichsein?20 In dieser Frage klingt eine Vorgängigkeit der Affinität an, die sich, wie Walter Benjamin beschreibt, aus einem unsinnlichen oder entstellten, weil sprachlichen Ähnlichkeitsverhältnis vermittelt: »Die Gabe, Ähnlichkeiten zu erkennen, ist ja nichts als ein schwaches Überbleibsel des alten Zwangs, ähnlich zu werden und sich zu verhalten. Den aber übten Worte auf mich aus.«21 Über die Entstellung der Sprache wird eine quasi vorgängige Affinität erfahrbar, aus der 20 | Vgl. ebd., S. 7. 21 | Walter Benjamin, »Berliner Kindheit um 1900«, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4.1, Frankfurt a.M. 1991, S. 235-304, hier S. 261. Vgl. Ders., »Lehre vom Ähnlichen«
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sich erst die affinen Pole ergeben. Af-fin kommt von ad fines, an der Grenze liegend, Affinitäten sind die grenzanliegenden Eigenschaften oder das angrenzende Interesse, das, was einem am anderen liegt. Gleichzeitig ist das Affine dasjenige, was verhindert, dass die beiden angrenzenden Seiten nicht gleich ineinander fallen. Oder aber es ist das auf-der-Grenze-Liegende, an dem das Anliegende je erst andockt und sich vielleicht erst daraus entwickelt.
Limitrophien Die von Baehr gesetzte Einschränkung bei der Wahl der Tiere lautete: Einst real existierende Vögel oder Säugetiere, die seit dem 16. Jahrhundert ausgestorben sind.22 Die Auslöschung von Lebewesen fällt damit zusammen mit dem Projekt der Moderne des vorstellenden Herstellens, der Aneignung der Welt und dem Versuch, eine Definitionsgröße des Menschen zu schaffen.23 Baehrs Aneignung der Tiere, die ja nie eine identifikatorische ist und nie vorgibt zu wissen, was das jeweilige Tier denkt/fühlt etc., umwandert die seit dem nachsokratischen Denken scharf gesetzte Grenze Mensch-Tier.24 Die spezifische Darlegung dieser Grenze, wie sie Heidegger und später Derrida unternommen haben, führt auf einen schmalen Weg auf dieser Grenze selbst, sozusagen in das Randgebiet philosophischen Denkens. Heidegger widmete sich hin und wieder in Bemerkungen dem Tier, eher um die metaphysische Auffassung des Wesens des Menschen als Vernunftwesen zu paraphrasieren: Das Vernehmen der Vernunft entfaltet sich als dieses vielfältige Stellen, das überall und zuerst ein Vor-stellen ist. So könnte man auch sagen: homo est animal rationale: der Mensch ist das vor-stellende Tier. Das bloße Tier, ein Hund z.B., stellt nie etwas vor, es kann nie etwas vor-sich-stellen; dazu müßte er, müßte das Tier sich vernehmen. 25
Scheint Heidegger hier, wenn auch weniger eigene Positionen erläuternd als Philosophiegeschichte rekapitulierend, die Demarkationslinie der Vernunft zu zementieren, so zeigt ein Blick auf seine frühere Schrift Die Grundbegriffe der Metaphysik eine weniger dichotome Aufteilung. Tier und Mensch werden beiderseits in Bezug zur Welt gesetzt, was in den »drei leitenden Thesen« kulminiert:
und »Über das Mimetische Vermögen«, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2.1, Frankfurt a.M. 1991, S. 204-210, S. 210-213. 22 | Vgl. Baehr, ABeCedarium, S. 7f. 23 | Vgl. Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, »Mensch und Tier«, in: Dies., Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1988, S. 262-271, hier S. 262. 24 | Vgl. Gilbert Simondon, Tier und Mensch. Zwei Vorlesungen, Zürich/Berlin 2011. 25 | Martin Heidegger, Was heißt Denken? Vorlesung Wintersemester 1951/1952, Stuttgart 1992, S. 42.
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»[D]er Stein ist weltlos, das Tier ist weltarm, der Mensch ist weltbildend.«26 Damit stellt das Tier nicht mehr das teilnahmslose Gegenüber, sondern bereits die vermittelnde Schwundform, also eine Figur der Auflösung desjenigen dar, was der Mensch sei. Ausgehend von dieser Passage weist wiederum Derrida nach, wie Heidegger in immer neuen Volten den Weltbezug des Menschen zu erklären sucht, dabei aber die Trennung vom Tier wieder einkassiert. ›Der‹ Mensch ›hat‹ demnach nicht einfach und schon gar nicht als allgemein gegebenes Faktum einen direkten Bezug zu etwas, was ›das‹ Tier nicht hat (etwa einen Bezug zur Welt als solcher) – auch wenn das nicht heißt, dass beide dasselbe seien. Derrida verabgründet beide Begriffe, Mensch und Tier, jedoch nicht um ›das‹ Tier mit ›dem‹ Menschen auf eine Stufe zu stellen, sondern um diese Definitionsgrößen selbst als Grenzziehung auszustellen und womöglich weiter zu zerteilen.27 Derrida nennt dieses Verfahren ›Limitrophie‹, bei dem es nicht darum geht, »die Grenze auszulöschen, sondern [darum], ihre Figuren zu vervielfältigen, zu verdicken, zu entlinearisieren, zu krümmen, zu teilen, daß man dafür sorgt, daß sie wächst und sich vervielfältigt.«28 Wenn die jeweiligen Tiere in ABeCedarium Bestiarium also nun gar nicht ›die‹ Tiere selbst sind, sondern Metaphern, so wäre ›das‹ Tier etwas, das weder ›der‹ Mensch ist (der den Ausschluss generiert und von dem die Betrachtung ausgeht) noch ›das‹ Tier im eigentlichen Sinne (denn darüber lässt sich eigentlich aus menschlicher Sicht keine Aussage machen, wissen wir doch letztlich nichts über Tiere jenseits unserer Sicht auf sie). Diese Tiermetaphern wären dann nämlich genau das Umspielen der Grenze zwischen Mensch und Tier, sie wären sozusagen etwas anderes als Mensch und Tier, weder Mensch noch Tier. Folgerichtig lässt sich sagen, dass ABeCedarium Bestiarium die Grenze zwischen ›dem‹ Menschen und ›dem‹ Tier nicht zugunsten eines homogenen Gesamtraumes wie etwa dem ›der‹ Lebewesen, ›der‹ Existenzen etc. einreißt. Statt dieser harmonisierenden Interpretation entsteht nicht aus zwei Kategorien eine einzige, was nämlich wieder etwas Allgemein-Wesenhaftes wäre. Durch die einzelnen Sequenzen und Scores multiplizieren sich jeweils die Grenzen selbst, die nun nicht mehr zwischen ›dem‹ Menschen und ›dem‹ Tier laufen, sondern die jeweiligen ›Spezies‹ in viele kleinere ›Zwischen‹ zerspalten. Giorgio Agamben hat mit Blick auf die philosophische Grenze darauf verwiesen, dass »Außen« in vielen Sprachen »in der Tür« bedeute: »Beim Außen handelt es sich nicht um einen Raum, der jenseits eines gegebenen Raumes liegt, sondern um einen Durchgang, um eine Äußerlichkeit, die ihm Zugang verschafft […].«29 Nicht mehr Kategorien, 26 | Ders., Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, Frankfurt a.M. 1982, S. 261. 27 | Vgl. Jacques Derrida, Das Tier, das ich also bin, Wien 2010, S. 215-223. 28 | Ebd., S. 55. 29 | Giorgio Agamben, Die kommende Gemeinschaft, Berlin 2003, S. 64.
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sondern zumindest momentweise scheinen Singularitäten30 »in der Tür« auf – auch wenn diese vielleicht schnell wieder in neue Kategorien einwandern mögen oder gar selbst als neue Kategorien missverstanden werden. Die Inszenierung wäre also der Versuch szenischer Limitrophie, entlang der sich vervielfältigenden Grenzlinien käme tatsächlich ein ungedachtes ›Außen‹ ins Spiel.
Scores und Konstellationen Angesichts der bisher erläuterten Vervielfachung und Begehung von Grenzen lohnt ein noch genauerer Blick darauf, welche weiteren Grenzen hier ins Spiel gebracht werden. Die Sequenz S for Stellars Sea Cow (Score von Sabine Ercklentz) ist eine »Sonate für Solo Performer und bedrohte Medien«, bei der Baehr mittels dreier Taperecorder Audiozitate (darunter eines von Friedrich Kittler über die Sirenen der Odyssee) abspielt und diese wie auch die eigene Stimme aufnimmt – teilweise Sirenengesänge imitierend, teilweise Begriffe mit dem Buchstaben ›S‹ oder einzelne Vokale sprechend. Je länger Baehr sich dem Score unterwirft, den komplexen Anweisungen folgt und die Apparaturen ihre Worte verzerren, desto mehr tritt ein Rieseln der Sprache und der technischen Geräte selbst auf.
Abb. 3: Antonia Baehr, ABeCedarium Bestiarium, S is for Steller’s Sea Cow (Hydrodamalis gigas) by Sabine Ercklentz. © Anja Weber So gehen etwa durch das Rauschen bei Abspielen und Aufnehmen die Konsonanten der Zitate verloren. Diese Kakophonie steigert sich in ein leichtes Crescendo, 30 | Vgl. zum Singulären bei ABeCedarium Bestiarium: Nikolaus Müller-Schöll, »Vom Sinn des Unsinns«, in: Theater heute 3 (2015), S. 46-49.
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je mehr animalische Laute sich in den Klangteppich einfügen. Zuletzt spricht Baehr die Worte: »Sinn Unsinn«. Durch die akustische Komponente dieser Station und der Inszenierung insgesamt kommen in ABeCedarium Bestiarium bislang ungehörte Klänge ins Spiel und erweitern das Feld dessen, was innerhalb der eingangs beschriebenen Black Box auf eine Bühne treten kann. Zugleich verschränkt die Inszenierung die räumlichen Ordnungen von Black Box und Ausstellungsraum, aber auch das Prinzip der Stationenbühne, und bringt somit auf verschiedenen Ebenen sich wechselseitig alternierende Ordnungen in eine Konstellation zueinander. Baehrs Abwandern der Stationen durchbricht immer wieder das Sich-Einrichten in einer festen Blickordnung der Zuschauer und führt zu einem beständigen Spiel von Einrichtungen bestimmter szenischer Gefüge und deren Auflösungen. Das Epistem der Sichtbarkeit bleibt zwar im Spiel, jedoch in verschobener Stellung, so etwa auch zum älteren Epistem der Ähnlichkeiten: So bezieht sich Baehr u.a. auf Giambattista della Portas De Humana Physiognomonia libri III von 1586, in welchem Säugetiere und Menschen in Ähnlichkeitsverhältnisse gesetzt werden, und auf Orbis Sensualium Pictus von Johan Amos Comenius von 1658. Während della Portas Werk als exemplarischer Einblick in das Epistem der Ähnlichkeiten gesehen werden kann, steht Comenius’ für Kinder konzipierte Lesefibel mit ihrer Kosmologie der Lebewesen, Begriffe, Bilder und Laute just am Scharnier zwischen Ähnlichkeits- und Repräsentationsdenken.31 Konstellationen, wie hier gezeigt, betreffen daher räumliche Ordnungen, die Strukturierung von Sinneswahrnehmungen und auch deren epistemische Grundlagen. Sie beinhalten ein Mehr an Bedeutungsebenen, einen ungesättigten Zustand von Verweisen. Die Ordnung der Sichtbarkeit wird in dieser Konstellation nicht als beendet behandelt, sondern von einem ihr Äußerlichen durchkreuzt,32 aber auch mit der Ordnung der Ähnlichkeiten verknüpft. In diesem Gefüge geraten die vormaligen Grenzziehungen in eine kritische Lage, weil diese verhandelbar werden, jedoch eben nicht um aufgehoben, sondern vielmehr um vervielfacht und dabei verschoben werden zu können. Das betrifft in besonderer Weise den Score als Schriftsystem: Das Schreiben der Scores, von denen die Besucher*innen der Inszenierung oder Leser*innen des Buches nur das Resultat erfahren können, markiert einen Teil des unüberschaubaren Horizonts, in welchen die Beteiligten an ABeCedarium Bestiarium und die Besuchenden auch eingeschrieben sind. Bei ABeCedarium Bestiarium handelt es sich um mehr als eine Aufführung: ein Projekt zwischen Bühne, Hörspiel und 31 | Vgl. zur Nähe der Zeichensprache des Orbis Pictus zu der des zwanzigsten Jahrhunderts: Walter Benjamin, »Kinderliteratur«, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 7.1, Frankfurt a.M. 1991, S. 250-257. 32 | Vgl. zum Außen, das das Sehen durchkreuzt: Maurice Blanchot, »Sprechen ist nicht Sehen«, in: Ders., Das Unzerstörbare. Ein unendliches Gespräch über Sprache, Literatur und Existenz, München 1991, S. 83-94.
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Buch, in welchem insbesondere den Scores als Trägern oder Verhandlungsebenen der Affinitäten besondere Bedeutung zukommt. Die Scores sind Punkte der Affektion, die eine Berührung und zugleich Ferne oder Trennung herstellen.33 Die Affinität, so ließe sich aus ABeCedarium Bestiarium ableiten, ist eine Grenz-
Abb. 4: Giambattista della Porta, De humanaphysiognomonia libri IIII, Vico Equense 1586. Bildzusammenstellung von: Norbert Borrmann, Kunst und Physiognomik. Menschendeutung und Menschendarstellung im Abendland, Köln 1994, S. 62
Abb. 5: Johann Amos Comenius, Orbis Sensualium Pictus, Nürnberg 1658, S. 4. Wikimedia Commons, https:// commons.wikimedia.org/wiki/ File:Orbis-pictus-003.jpg
33 | Vgl. Gerald Siegmund, »Affekte ohne Zuordnung – Zonen des Unbestimmbaren: Zu den Choreographien von Antonia Baehr«, in: Martina Groß/Patrick Primavesi (Hg.), Lücken Sehen. Beiträge zu Theater, Literatur und Performance, Heidelberg 2010, S. 303-318.
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bewegung, welche Nähe und Trennung beinhaltet und als ›Limitrophie‹ weder eine bestehende Trennung akzeptiert, noch verschwinden lässt, sondern fixierte Dichotomien oder identitäre Zuschreibungen verhandelbar macht – insbesondere diejenigen von Geschlechtsidentitäten.
Ein limitropher Ausblick: Berühren und ent-stellte Ähnlichkeit Wenn Baehrs Projekt auch die Grenzen epistemischer Ordnungen untersucht und verschiedene Ordnungen zueinander in Konstellation setzt, so lässt sich aus dieser Inszenierung einiges für den Umgang mit den epistemischen Grenzen der Theaterwissenschaft lernen. Anstelle einer reduktionistischen Ausrichtung auf ›die Aufführung‹ lässt ein solcher Zugang die Vielschichtigkeit von Inszenierungen hervortreten. Denn Konstellationen meinen Bezugnahmen und Positionierungen von Elementen zueinander,34 welche aber innerhalb eines kritischen Verfahrens der ›Limitrophie‹ selbst als Elemente fragwürdig gemacht werden können, wodurch ihre Grenzen abgründig werden können. Wenn folglich eine »Grenze nicht eine einzige unteilbare Linie bildet, sondern mehr als eine Linie, die sich in weiteren Linien verabgründet«, zur »ligne en abyme« wird,35 so trägt dies dem Umstand Rechnung, dass sich eine festgesetzte Bestimmung nicht treffen lässt, was das neue Epistem nach demjenigen der Sichtbarkeit wäre. Und wahrscheinlich geht es nicht mal darum, ein einziges Epistem auszumachen, sondern mehr als ein Epistem und mehr als ein einziges Fundament zuzulassen: The fact that there is neither simple diachronic succession nor simple synchronic simultaneity here (or that there is both at once), […] requieres us to rethink the very figure of the threshold (ground, foundational solidity, limit between inside and outside, inclusion and exclusion etc.). […] Perhaps there never is a threshold, any such threshold. Which is perhaps why we remain on it and risk staying at the threshold for ever. 36
Die ›Limitrophie‹ wäre demnach die unendliche Aufgabe eines kritischen Unterfangens, um in der Betrachtung von Konstellationen die eigenen Begrenzungen der Wahrnehmung und Bedingungsgrundlagen von Äußerungen zu untersuchen und nicht zu negieren – von Abgrenzungen nach vermeintlichem Geschlecht, Ethnien, Spezies bis zu Eingriffen in je singuläre Rechte, aber auch die Abgrenzung Subjekt-Objekt. Baehrs Inszenierung lässt abschließend zugleich einen weiteren, nur vorsichtig formulierten Rückschluss bezüglich des Subjekt-Objekt-Verhältnisses zu. 34 | Vgl. Walter Benjamins Begriff des dialektischen Bildes, welches innerhalb »einer von Spannungen gesättigten Konstellation« erscheint. Walter Benjamin, Das Passagenwerk, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1983, S. 595. 35 | Derrida, Das Tier, S. 57. 36 | Jacques Derrida, The Beast and the Sovereign, Bd. 1, Chicago 2009, S. 442f.
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Wenn nun das Sehen-und-Gesehen-Werden seine dominante Vormachtstellung als Erkenntnisverfahren eingebüßt hat, so könnte ein Verständnis des Berührens, wie es ABeCedarium Bestiarium nahelegt, vielleicht ein analytisch geeigneteres Tool darstellen. Gemeint ist ein Berühren und Berührt-Werden als Verhandlung von Nähe und Distanz, auch von unseren Gegenständen. Daniel Heller Roazen hat einem »inneren Sinn« als Sinn der Berührung und des Sich-lebendig-Fühlens nachgespürt. Das Berühren beinhaltet ihm zufolge zugleich ein Unberührbares als seine eigene Möglichkeitsbedingung.37 Dieses doppelte Verhältnis würde ich als ›Berührbarkeit‹ beschreiben – doch anders als das Epistem der Sichtbarkeit handelt es sich hier nicht um einen spezifischen Wahrnehmungsmodus oder primär um ein Erkenntnisinstrument, denn um ein Vermögen, überhaupt wahrnehmen und denken zu können: Die Berührbarkeit wäre quasi das Organ des Wahrnehmens und Denkens.38 Ihr Bestandteil ist das, was gar nicht berührt werden kann, ein gänzlich Anderes oder Außen, was aber zugleich zugegen ist. Ein solches Affiziert-werden-Können als Grundlage des Wahrnehmens und Denkens meine ich nicht essentialistisch, sondern so wie die Affinitäten oder entstellten Ähnlichkeiten bei ABeCedarium Bestiarium. Sie markieren eine Nähe, ein An-der-Grenze-Liegen, das die Grenze wiederum diversifiziert, eine eigenständige Ähnlichkeit, die ähnelt und zugleich entstellt, eine Praktik des Veränderns. So schreibt Benjamin nämlich über die entstellte Ähnlichkeit, dass diese ihn als Kind, das spielend die Welt entdeckt, vermittels der Worte mit allem ähnlich gemacht habe, nur nicht mit seinem eigenen Bild: Und darum wurde ich so ratlos, wenn man Ähnlichkeit mit mir selbst von mir verlangte. Das war beim Photographen. Wohin ich blickte, sah ich mich umstellt von Leinwandschirmen, Polstern, Sockeln, die nach meinem Bilde gierten wie die Schatten des Hades nach dem Blut des Opfertieres. […] Ich aber bin entstellt vor Ähnlichkeit mit allem, was hier um mich ist. 39
Von den Gegenständen der Analyse insofern entstellt zu werden, mag nicht mehr dem szientistischen Bild strenger Wissenschaften entsprechen. Aber um die Wahrnehmung zu öffnen und sich affizieren zu lassen, bedarf es vielleicht auch eines Schrittes raus auf die Türschwelle der eigenen bequem gewordenen wissenschaftlichen Gewohnheiten.
37 | Vgl. Daniel Heller-Roazen, Der innere Sinn. Archäologie eines Gefühls, Frankfurt a.M. 2007, S. 384. 38 | Vgl. ebd., S. 382f. 39 | Benjamin, »Berliner Kindheit um 1900«, S. 261.
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Litschers Hunde oder vom Wissen und von der Dauer des Theaters Sebastian Kirsch
Fälsche die Münze! Delphisches Orakel, das an den Kyniker Diogenes von Sinope erging
Als Peter Zadek 1972 seine Bochumer Intendanz antrat, wollte er gerne Klaus Michael Grüber und Rainer Werner Fassbinder als Hausregisseure verpflichten. Da er ahnte, dass es sich um ein schwieriges Unterfangen handeln könnte, versuchte er, Grüber mit dem unbestätigten Versprechen nach Bochum zu locken, Fassbinder »käme auch«; mit Fassbinder spielte er das umgekehrte Spiel und log ihm vor, dass Grüber schon eingewilligt habe. Fassbinder unterschrieb tatsächlich einen Vertrag. Grüber hingegen wollte sich erst einmal anschauen, wohin Zadek ihn da holen wollte; und als er Bochum dann, von Paris kommend, aus dem Zugfenster sah, fuhr er gleich weiter zur Berliner Schaubühne. Fassbinder war entsprechend ungehalten und versuchte, schnell aus seinem Vertrag entlassen zu werden. Als erstes erstand er in einer Bochumer Tierhandlung einen jungen Boxerhund, den er »Zadek« taufte und mit zu seinen Proben nahm. Immer wenn das nicht stubenreine Tier in einer Ecke des Schauspielhauses sein Geschäft verrichtete, hörte man Fassbinder nun durch die Gänge brüllen: »Pfui Zadek!«
Abb. 1: Hans-Peter Litscher, Herz und Hund und Kunst und Leben. © Hans-Peter Litscher
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Warum sollte man sich für eine solche Geschichte interessieren? Falls es denn eine Geschichte ist und nicht nur eine Anekdote, Abteilung »Kantinenklatsch«. Gehört diese Geschichte zur Geschichte des oder zumindest eines Theaters, nämlich des Bochumer Schauspielhauses, oder ist sie dazu schlicht zu banal? Zu einer Darstellung fassbinderschen Bühnenschaffens, die vor einem (theater-) wissenschaftlichen »Gerichtshof der Vernunft« bestehen soll, dürfte sie jedenfalls wenig beitragen: Eine Aufführungsanalyse, die mit dem pinkelnden Hund beginnen wollte, geriete vermutlich schnell in den Verdacht, dass das Werk hier allenfalls be- und nicht erkannt ist.1 Wenn man sich aber doch entschließt, sie in ein Archiv aufzunehmen, welche Art Archiv mit welcher Art Archivar sollte das sein? Schwierig, hier eine Zuständigkeit auszumachen, die über jenes meist oral tradierte Legendenarchiv der ›Dabeigewesenen‹ hinausgehen könnte, aus dem vor allem die schlechten Künstlerbiographien ihr Material beziehen. Was also macht man mit so einer Geschichte? Im Folgenden soll es um die Ausstellung Herz und Hund und Kunst und Leben des »Echosammlers« Hans-Peter Litscher gehen, die 2013 im Schauspielhaus Bochum zu sehen war und zu deren Ausgangspunkten eben die Geschichte um Fassbinders Boxer gehörte.2 Denn mir scheint, dass die Arbeiten Litschers auf höchst eigensinnige und nicht zuletzt komödiantische Weise einem Wissen gelten, das ich als »Wissen des Theaters« porträtieren möchte. Hans-Peter Litschers Arbeit changiert seit ihren Anfängen zwischen Bildender Kunst, Film und Theater. 1955 in der Schweiz geboren, zeigt Litscher noch während seiner Schulzeit in einer Klosterschule erste Ausstellungen im Luzerner Kunstmuseum, das er mit Unmengen von Gipshasen, Hasenbildern, Hasenaltären und lebenden Hasen füllt, was ihm die Aufmerksamkeit von Joseph Beuys einträgt. Ähnliche Tiermeuten durchziehen auch die späteren Arbeiten; in Bochum breiten sich zahlreiche Hunde in Winkeln, Foyers und Kellergängen des Schauspielhauses aus. Als junger Mann geht Litscher nach Paris, studiert an der Theaterschule von Jacques Lecoq und arbeitet an der Cinémathèque, wo er unter anderem damit betraut ist, die zurückgezogen lebende Marlene Dietrich mit Kuchen zu versorgen. Fünf Jahre ist er Assistent von Hans-Jürgen Syberberg, dreht Filme und organisiert Filmfestivals; eine Zeit lang studiert er bei Gilles Deleuze, als dieser an seinen Kinobüchern schreibt. Seit 1983 entstehen Theaterarbeiten. Litscher entwickelt eine Form, die er seither beständig fortschreibt: Im Zentrum steht immer wieder der Nachlass eines obsessiven Sammlers, den Litscher gefunden hat (haben will) und der eine Unzahl von teils höchst kostbaren und edlen, in jedem Fall akribisch recherchierten Devotionalien enthält. Diese drehen sich meist um spezifische Orte, Gebäude und Städte, um die Namen be1 | Vgl. hierzu Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a.M. 1973, S. 35. 2 | Da ich bei Recherche und Aufbau mitwirken durfte, trägt dieser Text auch Züge eines Arbeitsberichts.
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sonderer Künstlerpersönlichkeiten – häufig Stars des klassischen Kinos –, um bestimmte Tiere und nicht selten auch um recht spezielle sexuelle Vorlieben. In ihrer Konstellation wiederum bilden die Sammelobjekte ein schier unendliches Knäuel von Geschichten aus, von denen oft gerade die unglaublichsten tatsächlich geschehen sind. Litscher kennt aber auch keine Scheu, sich wilde Verknüpfungen des Materials auszudenken, Personen hinzuzuerfinden und fehlende Stücke nachzubasteln. Ausgestellt werden die Nachlässe an den Orten, von denen die konkrete Recherche ausgeht: Nicht nur in Schauspielhäusern wie in Bochum und Hamburg hat Litscher seine Vitrinen, Altäre, Kleiderwände, Plattenspieler und Bildtafeln verteilt. Er hat sie zum Beispiel auch in einem alten Kremser Hotel (Otto Retter, 2013), einer Industriellenvilla in Mülheim an der Ruhr (Barbara Rabarbara, 2010) oder in Goethes Wohnhaus und dem Weimarer Schloss (Goethes Zebra, 2014) installiert. Besucher können die Nachlässe in von Litscher geleiteten Führungen durchwandern, bei denen er das Geschichtenknäuel zu entrollen beginnt. Sein Sprechen gleicht dabei einem Redestrom, der sich selbst befördert. Litscher greift auf die antike Gedächtnisformel loci et imagines zurück: eine Technik, die darauf beruht, sich Haltepunkte und den zeitlichen Ablauf einer Rede räumlich vorzustellen, wie Stationen und Räume in einem Museum.3 Zugleich aber treibt er die Gäste, wenn sein Sprechen zu einem Ende findet, mit einem ungeduldigen »Kommen Sie, kommen Sie!« durch die Sammlungen, sodass hinterher nicht selten der Eindruck zurückbleibt, vieles zu knapp oder gar nicht wahrgenommen zu haben. Überhaupt: Findet Litscher eine Gruppe zu folgsam, zu schwer von Begriff oder auch schlicht zu bourgeois, kann eine Führung sehr kurz ausfallen oder sogar im Abbruch enden. Litscher wartet geradezu auf Widerstand und Protest von Besuchern, die gerne mehr Zeit hätten: »Das geht natürlich, aber es ist etwas, das von den Initiativen der Zuschauer abhängt – wodurch die einzelnen Führungen sich auch unterscheiden. Dass der Führer behauptet, man solle jetzt das oder das tun, ist jedenfalls nicht gottgegeben.« 4 Offenbar schließt Litscher bei seinen Führungen also zwei heterogene Zeiten zusammen, die sich aber beide jenem Zeitmaß versagen, das der sogenannte »Pakt mit dem Publikum« vorsieht. Sofern die Führungen zu schnell ablaufen oder abbrechen, tendieren sie zu einer Zeitlichkeit, die unterhalb einer als adäquat empfundenen Anschauungsform spielt. Zugleich jedoch öffnen sie sich einer Zeit, die viel zu lang und zu geräumig ist, als dass sie im Rahmen einer auch noch so ausgedehnten Führung einholbar wäre. Nicht nur, weil Litscher zu seinen Objekten viel mehr Geschichten gesammelt hat, als er bei einem Rund3 | Vgl. zu diesem Aspekt Fabian Lettow, »Götterdämmerung in Oberhausen. Hans-Peter Litscher auf den Spuren von Visconti«, in: Schauplatz Ruhr 2009 (2010), S. 59-60. 4 | Hans-Peter Litscher, »The Survival of the fittest Story. Der Echosammler, Spurensucher, Regisseur und Autor Hans-Peter Litscher im Gespräch«, in: Theater der Zeit 02 (2011), S. 8-10, hier S. 9.
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gang erzählen könnte. Schon die Ausstellungen selbst sind eher punktuelle Verdichtungen einer endlosen Sammelwut, die ihrerseits die konkreten Projekte und Anlässe übersteigt – so findet man noch im März 2016 auf dem Facebook-Profil von Herz und Hund e.V., dem angeblichen Träger der Bochumer Ausstellung, neue Hundemontagen und -zitate. Vor allem aber eröffnet das konstellative Nebeneinander der Exponate selbst eine unüberblickbare Vielzahl an Zeiten (im Plural), die nicht nur die Kulturgeschichte umfassen, sondern nicht selten an die Gedächtnisränder des Humanums rühren: So führt eine Linie von Herz und Hund zu den antiken Kynikern, den »Hunden der Philosophie«; ein anderes Ferment ist die These, dass der Wolf zwar durch den Menschen zum Hund geworden sei, dass aber umgekehrt auch der Mensch sich erst durch die Hund-Werdung des Wolfes als solcher begreifen konnte.
Abb. 2: Hans-Peter Litscher, Herz und Hund und Kunst und Leben. © Hans-Peter Litscher Die Arbeiten überschreiten damit die Zeit als Anschauungsform – als kantsche Transzendentalie – in zwei Richtungen. Wo diese beiden Zeitsphären in Kontakt geraten, kristallisiert sich eine besondere Temporalität. Sie ähnelt dem Begriff der Dauer (durée), wie er von Henri Bergson konzipiert und von Walter Benjamin, später auch von Deleuze mit Blick auf die berühmte Madeleine-Szene aus Prousts Suche nach der verlorenen Zeit diskutiert worden ist:5 Eine Zeit unterund zugleich oberhalb der Erfahrungsschwelle; eine nicht-chronologische Zeit, die als momentaner affektiver Anstoß erfahren wird, sich aber gerade darum auf einen anderen, umfassenden Zeit-Raum hin öffnet. Will man nun eine ›Litscheriade‹ konkreter beschreiben, so ergibt sich aus dieser Zweiseitigkeit und -zeitigkeit zunächst ein Darstellungsproblem. Denn eine bloße Schilderung des »Hier und Jetzt« einer Führung ginge am Wesentlichen vorbei: Die 5 | Vgl. etwa Henri Bergson, Philosophie der Dauer. Textauswahl von Gilles Deleuze, Hamburg 2013; Walter Benjamin, »Über einige Motive bei Baudelaire«, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1991, Bd. I.2, S. 605-653. Den Differenzen dieser Konzeptionen kann ich hier nicht weiter nach gehen.
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Konzentration auf das Momentane bekommt höchstens den einen der beiden Vektoren in den Blick. Die Öffnung auf den anderen jedoch führt unweigerlich ins Dickicht der Geschichten, der unübersehbaren Bezüge und der auch nach dem Ende der Einzelprojekte nicht abgeschlossenen Recherche. Dabei geht es weniger um Zeit- und Platzprobleme. Es ist vor allem unmöglich anzugeben, wann und womit eine ›Litscheriade‹ eigentlich beginnt und was alles in sie eingeht: Eine als Hundetheater zweckentfremdete Puppenbühne aus Litschers Schweizer Kindheit gehört ebenso zu Herz und Hund wie der Gang über den Bochumer Zentralfriedhof, ein Relikt der Nazizeit; und das Kaffeetrinken in einem Gelsenkirchener Hotel, in dem Fassbinder während der Dreharbeiten zu Die Zärtlichkeit der Wölfe (worin der Boxer Zadek zu entdecken ist) Hanna Schygulla verbot, mit ihm und seiner Truppe Mensch-ärgere-dich-nicht zu spielen, prägt die Ausstellung nicht weniger als die Lage von Litschers Pariser Wohnung, in deren Nachbarschaft Schygulla heute lebt. Aber auch das Eisessen in der Bochumer Eisdiele Kugelpudel, der man ansieht, dass sie sich der vergeblichen Hoffnung auf das zum Kulturhauptstadtjahr 2010 versprochene »Kreativviertel« verdankt, hinterlässt Spuren. Der Rahmen ist porös – und genau das entspricht den inhaltlichen Ausgangspunkten einer ›Litscheriade‹, was eine erste Antwort auf die Frage nach dem Status der Geschichte von Fassbinders Hund impliziert: Natürlich muss sie zur Umgebung und damit zu den Entstehungsbedingungen Bochumer Theaterproduktionen gezählt werden, da sie notwendig an irgendeiner Stelle in das auf der Bühne Sichtbare eingewandert ist. Das Darstellungsproblem, das sich aus der spezifischen Zeitlichkeit dieser Arbeiten ergibt, erlaubt aber auch eine Seitenbemerkung zur Unzulänglichkeit einer Theaterwissenschaft, die ihren Gegenstand ausschließlich als »Aufführung« definiert. So kann man sagen, dass sich der Aufführungs-Diskurs, im Bemühen, die Eigenheiten der Bühne und die »Flüchtigkeit« des Theaters gegenüber literarischen Texten auszuspielen, seit den Anfängen des Faches höchst einseitig auf den Vektor des »Hier und Jetzt« richtet. Damit tendiert er dazu, jenen anderen Vektor zu kappen, ohne den es dieses »Hier und Jetzt« gar nicht gäbe. Ein ganzes Gedächtnis wird damit preisgegeben bzw. abseits der Konzentration auf die je neueste Aufführung der historisierenden Tätigkeit am Schreibtisch überlassen. Dieses Problem betrifft nicht nur jenes Segment des Faches, in dem das Aufführungsparadigma mit dem kybernetischen Modell der »autopoietischen« Hervorbringung eines performativen Ereignisses zwischen kopräsenten Akteuren und Zuschauern verschmolzen wird. Bei genauem Hinsehen prägt es auch den Postdramatik-Diskurs, zu dessen (Be-)Gründung Hans-Thies Lehmann 2001 schrieb: Theater ist Sache des Moments. So gewiss Antigone und Hamlet höchst politische (und politisch höchst gegenwärtige) Reflexionen auf Macht, Recht und Geschichte darstellen, so wenig geben sie diese Tiefen und Abgründe nach zweieinhalb Jahrtausenden bzw. vier Jahr-
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Deutlich wird hier der Zusammenhang der beiden nicht-chronologischen Zeiten zerrissen, der nicht nur für Litschers Theater konstitutiv ist – wenn auch im berechtigten Anliegen, die Eigenzeit des Theaters gegen die begrenzte Auffassung (vermeintlich) philologischer Interpretation zu verteidigen. Ist der Theaterwissenschaftler aber als Aufführungswissenschaftler definiert, so bleibt ihm eigentlich nichts als die beschreibende Aufarbeitung von »gestern Abend«, während ihm die »geduldige Reflexion« ebenso aus der Hand genommen ist wie dem Theater selbst. Dem möchte ich also gerne entgegenhalten, dass Theater zwar Sache des Moments sein mag, dass dieser Moment aber mindestens die besagten zweieinhalb Jahrtausende umfasst: Eben diese Dauer hat etwas mit dem »Wissen des Theaters« zu tun. Doch bevor ich genauer darauf eingehe, sollen vier konkrete Momente von Herz und Hund skizziert werden, die sich während der Recherche und des Auf baus der Ausstellung ergaben. Es handelt sich naturgemäß um episodische Ausschnitte, die anders wählbar wären, aber nicht beliebig sind.
Abb. 3: Hans-Peter Litscher, Herz und Hund und Kunst und Leben. © Hans-Peter Litscher Erstens: Über Wölfe kann man nicht in der Einzahl sprechen. Jedes Kind weiß, dass Wölfe nur im Rudel auftreten. So steht es in Deleuzes und Guattaris Text über Freuds »Wolfsmann« 7 – unter den zahlreichen Büchern, die in den Herz und Hund-Vitrinen ausliegen oder gestapelt sind, entdeckt man auch Milles Plateaux. Und was immer der Wolf bei seiner Hund-Werdung verloren hat: Das Rudel ist ihm geblieben. Zadek hat darum die Funktion eines Leithundes, der sofort ein ganzes Hunderudel mitbringt. Denn die Geschichte des Bochumer Schauspiel6 | Hans-Thies Lehmann, »Wie politisch ist postdramatisches Theater? Warum das Politische im Theater nur die Unterbrechung des Politischen sein kann«, in: Ders., Das Politische Schreiben. Essays zu Theatertexten, Berlin 2002, S. 11-21, hier. S. 13. 7 | Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari, »1914 – Ein Wolf oder mehrere?«, in: Dies., Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus, Berlin 1992, S. 43-58.
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hauses wimmelt von Hunden, die wiederum nicht zu trennen sind von dem häufig sehr unbehaglichen Verhältnis, das Deutschland zu seinen Hunden (und seinen Theatern) unterhält. Etwa die Faust-Inszenierung des Bochumer Intendanten Hans Schalla aus dem Jahr 1956: Die Kritiken, nachzulesen im Stadtarchiv, konstatieren eine abstrakte Modernität der Aufführung, die sie der aus Paris kommenden »existentialistischen Mode« zuschreiben. Neben dem Bühnenbild ist ein wichtiges Indiz dieses Existentialismus, das in allen Kritiken konstatierte Fehlen des Pudels, in dessen Gestalt der Teufel Faust begegnet. Der Blick in Schallas Regiebücher bestätigt: Die Pudelstellen sind gestrichen. Fotos der Aufführung lassen allerdings eher auf »alten Wein in neuen Schläuchen« schließen: Gesten und Mimik der Schauspieler unterscheiden sich kaum von dem, was man von fünfzehn Jahre älteren Fotos des sogenannten ›Göring-Theaters‹ kennt. Oder die Hunde von Thomas Bernhard, in der Peymann-Zeit ein wichtiger Autor für Bochum: Der »Theatermacher« grantelt und schimpft im üblichen Bernhard-Ton über die Leute, die sich Hunde zulegen. Litscher findet die Orginalaufnahme mit Bernhard Minetti, die in Endlosschleife aus einer BernhardVitrine tönen wird. Der Tonfall indes ist kaum zu ertragen, gerade in der Wiederholung wirkt die Kombination von Bernhard, Minetti, Peymann und Hund wie ein ewiger autoritärer Prügel. Konsequenterweise gibt es in Herz und Hund auch Szenenfotos aus Leni Riefenstahls Tiefland – einem Film mit Minetti, der mit einer Wolfsjagd beginnt. Wer Heiner Müllers Arturo Ui-Inszenierung noch im Kopf hat, dem fällt vielleicht auch die Szene ein, in der der alte Minetti dem von Martin Wuttke als hechelnder Hund gespielten Ui den ›großen‹ Theaterton beibringt. Müller wiederum bekommt, als anderer prominenter Autor der Bochumer Theatergeschichte, mit seinen Hunden gleich zwei Vitrinen: In Anatomie Titus, dem in Bochum uraufgeführten »Shakespearekommentar«, gibt es zahlreiche Hundestellen, deren Manuskriptseiten ausliegen. Auch eine der Hundefutterdosen, die bei der Bochumer Medeamaterial-Aufführung den Bühnenboden bedeckten, wird gezeigt. Einen Ehrenplatz erhalten Müllers »Erinnerungen an Bochum«, eine Theater heute-Glosse zum Peymann-Abschied 1986. Darin liest man über die Entwicklung des Hauses seit 1982: Den folgenden Rückzug hinter die Vierte Wand, in das Theater der Staubmilben (der vielleicht die Vorbereitung für den Sprung nach Wien war), kann ich nicht nachvollziehen. Ich bezweifle nicht, dass die Staubmilben ein Theater haben (auf jeden Fall haben sie die Mehrheit, auch des Publikums), aber mein gepfähltes Zentralorgan kann die Frequenz ihrer Herztöne nicht empfangen. 8
Litscher empfiehlt ihn besonders den älteren Gästen zur Lektüre.
8 | Heiner Müller, »Erinnerungen an Bochum«, in: Ders., Werke 8. Schriften, Frankfurt a.M. 2005, S. 294-295.
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Oder der Streit um Richard Serras Stahlskulptur Terminal, die 1977 von der Stadt Bochum für 350.000 DM gekauft wurde und seither vor dem Hauptbahnhof steht. Die angebliche »Geldverschwendung« für den »Schrotthaufen« löste damals in Bochum einen mittleren Kulturkampf aus, in dem die Serra-Gegner mit dem Argument ins Feld zogen, die verwinkelte Stahlplattenkonstruktion würde höchstens als Pinkelplatz für Penner und Hunde taugen. Eine von zahlreichen Bildmontagen der Ausstellung zeigt einen Rebus mit Tragelehn und Serra – wie überhaupt die Vitrinen den Besuchern immer auch als ausufernde Bilderrätsel entgegenkommen. Und so geht es immer weiter. Am Ende sind von Werner Schroeter über Brigitte Mira bis Heiner Goebbels alle möglichen Namen, die irgendwie mit Bochum verbunden sind, mit diversen Hunden verleimt. Die Ausstellung bekommt dabei aber niemals etwas Niedliches, schon weil das Verhältnis von »Herr und Hund« zutiefst mit der Geschichte der deutschen Antimoderne und natürlich mit der Nazigeschichte verknüpft ist, was in jeder Vitrine an irgendeiner Stelle spürbar wird. Mal explizit (das Plakat der berühmten Bochumer Hebbelwochen, Schirmherrschaft Dr. Joseph Goebbels), mal in Bühnentonfällen, die als Echos durch die Foyers wehen, mal im Privatfoto von 1937, das Gustaf Gründgens und Marianne Hoppe mit ihren beiden Terriern zeigt. Sogar eine deutsche Hundegasmaske aus dem Zweiten Weltkrieg lässt sich entdecken. Ein anderer Strang führt in die Geschichte Deutschafrikas: Er entwickelt sich, nachdem im Bochumer Fundus ein riesiges ausgestopftes Kudu auftaucht, eine afrikanische Antilope, gegen die zahlreiche Hundejagden veranstaltet wurden. Aber auch darüber hinaus mutet die endlose Häufung hechelnder und tumb glotzender Hunde irgendwie pervers und zugleich seltsam verklemmt an. Dieses schmierig »Hündische« paart sich wiederum mit jenem Moment von Fassbinders Arbeit, die in den Körpern steckenden Mikrofaschismen gewissermaßen durch Ausleben loszuwerden. Die berüchtigten Abhängigkeiten und »Hörigkeiten« um den Regisseur sind nicht zuletzt in den Hundepeitschen, -leinen und -halsbändern zu erahnen, die man überall in der Ausstellung entdeckt. Zweitens: Damit die in alle Richtungen driftenden Linien nicht beliebig werden, müssen sie an irgendeiner Stelle verknotet werden. Das ist die Funktion des »Nachlasses«, der diesmal von einem einstigen Bühnenarbeiter des Schauspielhauses stammt, Winfried Waterberg aus Witten. (Trotz des Namens halten einige Besucher den Sammler für real.) Im Verlauf der Recherche wird W.s Biographie deutlicher, bis sie schließlich akribisch belegt werden kann. Demnach wurde der Halbwaise Winfried mit Hunden groß, sein Vater wie sein Großvater waren bekannte Hundezüchter. In der deutschen Kolonialzeit hatte der Großvater sich mit der Abrichtung von Hunden hervorgetan, die neben der Kudu-Hatz zum Aufspüren von Herero dienten. W.s Vater kam in einer Bochumer Bombennacht um und wurde mit seinen Hunden auf dem Zentralfriedhof begraben. 1956 sah W. den Bochumer Faust und war so enttäuscht über das Fehlen des Pudels, dass er beschloss, ans Theater zu gehen, um Ähnliches in Zukunft zu verhindern. Er brachte es zwar nur zum Bühnenarbeiter; aber immerhin durfte er sich bald um die Hunde des gesamten Personals kümmern. In dieser Zeit fing er an, unter-
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schiedslos alles zu sammeln, was mit Hunden und Schauspiel zu tun hat. Sein Nachlass ist daher unerschöpflich.
Abb. 4: Hans-Peter Litscher, Herz und Hund und Kunst und Leben. © Hans-Peter Litscher Drittens: Das Unterschiedslose der Sammlung bedingt einen besonders wichtigen Zug der Ausstellung, das profanierende Moment. Kostbare antiquarische Gegenstände und Devotionalien, die zumindest Sammlerwert haben, sind direkt mit Fälschungen und Talmi zusammengebracht und meist ist nicht zu erkennen, womit man es zu tun hat. In der Fassbinder-Vitrine hängt wirklich eine der berühmten Lederjacken. Auch die spitzen Pantinen von El Hedi ben Salem
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sind echt. Aber Fassbinders Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel stammt vom Flohmarkt und dazwischen sitzt ein ausgestopfter Boxer, der zwar sichtlich teuer war, aber wohl kaum Zadek sein dürfte. Die Frage, ob das nun »echt ist oder nicht«, verliert dabei allerdings jeden Sinn – was ist auch gewonnen, wenn man weiß, dass Litscher die zwei Tassen, die denen Schygullas auf dem Liliom-Foto exakt entsprechen, im Euroshop der Bochumer Innenstadt gekauft hat? Das wiederum führt zum vierten und letzten Moment: Offenbar schält sich hier nämlich ein Wahrheitsbegriff heraus, der insofern seltsam anmutet, als er die skeptische Frage unterläuft, ob etwas Lüge ist oder nicht. Darin erinnert er an ein Wahrheitskonzept, das Michel Foucault in seinen letzten Arbeiten über den antiken Begriff der Parrhesia, des »freimütigen Wahrsprechens«, entwickelt hat.9 Denn die Bedingung für diese andere Form der Veridiktion liegt darin, dass Wahrheit hier von jedem erkenntniskritischen Problem, von dem Bezug auf die transzendentalen Bedingungen des Erkennens, gelöst ist. »Parrhesiastisches« Sprechen bemisst sich vielmehr an einem gleichermaßen ästhetischen wie lebenspraktischen Kriterium: Es geht darum zu prüfen, ob der Inhalt einer Äußerung mit der jeweiligen Lebensweise des Sprechers im Einklang steht. Bemerkenswerterweise findet Foucault nun eine der wichtigsten antiken parrhesiastischen Lehren bei den Kynikern.10 Und tatsächlich prägen wichtige kynische Praktiken, die Foucault nennt, die ›Litscheriaden‹ auch jenseits von Herz und Hund. Zum Beispiel besteht die philosophische Aktivität der Kyniker darin, ihre Mitmenschen öffentlich dahingehend zu prüfen, ob bei ihnen Wort und Lebensweise übereinstimmen, was sie auf dem Weg direkter, häufig unverschämter Konfrontation tun. Ähnlich prüft aber auch Litscher beständig seine Besucher – nicht nur, wo er sie zu schnell durch seine Ausstellungen treibt, sondern auch, wenn er ihnen im Zusammenhang seiner Geschichten regelmäßig und mit besonderer Vorliebe ins Gesicht sagt, wie unaushaltbar es doch sei, an den jeweiligen Orten, sei es Bochum, Weimar oder Krems, zu leben. Oder: Die Kyniker überliefern ihre Philosophie nicht in Gestalt eines Werks, sondern, da es ihnen um das Verhältnis von Worten und Alltagshandlungen geht, als Vielzahl meist mündlich tradierter Anekdoten. Diese sind ähnlich abgründig wie die Geschichten, die Litscher sammelt. Diogenes etwa wurde angeblich von einem Oktopus erwürgt, den er lebend zu essen versuchte, weil die vorangehende Prüfung keinen elementaren Unterschied zwischen rohem, gekochtem oder gebratenem Fleisch zutage brachte. Und schließlich eröffnen die Kyniker die Tradition des »Gegenkönigs« – in der Konfrontation mit Alexander dem Großen beweist der in einer Tonne lebende Diogenes, dass er der wahre König ist, weil er sich mit seiner ›hün9 | Vgl. Michel Foucault, Die Regierung des Selbst und der Anderen. Vorlesung am Collège de France 1982/83, Frankfurt a.M. 2009; Ders., Der Mut zur Wahrheit. Vorlesung am Collège de France 1983/84, Frankfurt a.M. 2010; sowie Ders., Diskurs und Wahrheit. Die Problematisierung der Parrhesia, hg. v. Joseph Parson, Berlin 2008. 10 | Vgl. hierzu Foucault, Der Mut zur Wahrheit, S. 217-284.
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dischen‹ Lebensweise von allen Abhängigkeiten befreit hat. Damit aber schließt sich der Kreis: Fassbinders Zadek, das Hunde-Double des Intendanten, so sieht man jetzt, steht letztlich in der Tradition der kynischen Gegenkönige. Wie lässt sich von hier nun auf das »Wissen des Theaters« schließen? Der zentrale Punkt scheint mir, dass Litschers Räume bei genauem Hinsehen Züge eines Wissens versammeln, das seit den Anfängen der europäischen Theatergeschichte einen bestimmten Träger kennt: die Chorfigur im Unterschied zum Protagonisten. Die Nähe wird sichtbar, wenn man sich die Überlegungen zu einer möglichen »anderen Geschichte des Theaters« vergegenwärtigt, die Ulrike Haß im Kontext ihrer Relektüre des Chores geäußert hat.11 So steht der Chor als Figur »ohne Ursprung und Orientierung«12 zunächst »für das Wissen, dass ich nicht selbst beginne, dass ich Anfang und Ende nicht in der Hand habe.«13 Sein Existenzmodus ist dabei der eines »Mit-Daseins«14: Die Tragödie vollzieht sich nicht durch ihn, und doch begleitet er sie in Form einer hartnäckigen und zugleich unergründlichen Anwesenheit: ähnlich wie stumme Alltagsbegleiter – etwa Wolkenzüge oder Vogelschwärme –, die man bei vermeintlich bedeutsamen Handlungen meistens vergisst und die doch da sind, wenn man einmal aufschaut. Mehr noch: Gerade als diffuse, aber keinesfalls unstrukturierte Kollektivphänomene waren solche »Begleiter« schon lange vor den Einzelakteuren da, und vermutlich dürften sie diese auch noch unabsehbar überleben. Diese andere Zeitlichkeit des Chorischen, die Flüchtigkeit und Dauerhaftigkeit verschränkt, bedingt deswegen ein »kollektives Gedächtnis«15, ohne das am Ende aber auch keine Einzelerinnerung möglich wäre. Letztlich lässt sich das Chorische darum als ein transzendentaler Werdensgrund definieren, der jedem Auftritt, jeder Erscheinung, jedem Handeln protagonistischer Einzelner vorangeht. Als solcher ermöglicht er einerseits die protagonistische Form, geht aber andererseits unendlich über sie hinaus, sodass seine Eigenständigkeit zu betonen ist: ein weiträumiges »umweltliches« Phänomen, das noch die Strukturen und Gründungslogiken symbolischer Milieus unabsehbar übersteigt. Litschers Interesse gilt letztlich eben den Eigenbewegungen des chorischen Werdensgrundes, den seine Recherchen gleichsam aus schrägem Winkel anbohren. Dies lässt sich noch konkretisieren. So teilen Litschers Arbeiten speziell zwei Möglichkeiten chorischer Rede, die Haß am Beispiel der Perser-Inszenierung von Dimiter Gotscheff und Mark Lammert herausgearbeitet hat.16 Ihre Lektüre des 11 | Vgl. Ulrike Haß/Marita Tatari, »Eine andere Geschichte des Theaters«, in: Marita Tatari (Hg.), Orte des Unermesslichen. Theater nach dem Ende der Geschichtsteleologie, Zürich/Berlin 2014, S. 77-90. 12 | Ebd., S. 78. 13 | Ebd. 14 | Ebd., S. 77. 15 | Ebd., S. 80. 16 | Vgl. Ulrike Haß, » Die Perser sprechen« in: Heiner Goebbels/Nikolaus Müller-Schöll (Hg.), Heiner Müller sprechen, Berlin 2009, S. 229-239.
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ersten Chorliedes der Perser, das in einer schier endlosen Reihung all jene Helden, Volksstämme, Orte und Gerätschaften nennt, die mit in den Feldzug gegen die Griechen gezogen sind und dort ein zu diesem Zeitpunkt noch ungewisses Schicksal erleiden, hebt auf zwei Aspekte ab. Zum einen geht es um ein Sprechen, das auf den Tod zu- und ihm dabei zugleich zuwiderläuft: »Dem Tod entgegensprechen, um ihn auf- oder festzuhalten.«17 Die Sprache beginnt hier »ein Spiegelspiel, das keine Grenzen hat, um den Tod zu umgehen.«18 Auf diesem Weg nimmt das Sprechen zum anderen den Charakter »rühmender Rede« an: Es wird zu einem vielstrophigen Heldenlied all derer, die auch »mit dabei« waren. Dieses fragile Spiel, das fast einem Wetteinsatz gleicht, ist nicht mit dem repräsentativen Herrscherlob eines »Hofpoeten« zu verwechseln. Es entstammt vielmehr direkt dem chorischen Kollektivgedächtnis und seiner anderen Temporalität bzw. Raum-Zeit. Insgesamt gilt: »So lange diese Rede anhält, so lange dem Chor noch ein Name einfällt von jemandem, der auch dabei war, bleibt das todbringende Entsetzen noch in der Schwebe.«19 In diesem Sinn kann man aber auch Herz und Hund als Heldenlied entziffern, das all die Namen »besingt«, die mit dabei waren, und das sich seinerseits vor dem Schatten eines unsagbaren katastrophalen Ereignisses entspinnt – so erklärt sich der seltsam ungreif bare »morbide« Kern, den alle Litscher-Ausstellungen umspielen. Man übertreibt also nicht, wenn man in einer ›Litscheriade‹ das komische Echo eines antiken Stasimon sieht. Indes kann ein solches Chorlied nur an einem bestimmten Ort erklingen: in der Orchestra, die eine völlig andere Logik aufweist als die protagonistisch okkupierte Skene. Eine Arbeit wie Herz und Hund, die ja in einem Theater stattfindet, dessen Architektur sich der Monopolisierung der Skene verdankt und eben den Tanzplatz des Chores nicht mehr kennt, ist folglich gezwungen, sich ihre eigene Orchestra zu schaffen: Eben darum erstreckt sich die Ausstellung über alle Orte und Räume des Hauses, die für gewöhnlich unsichtbar sind oder als übersehene nicht zum Rahmen der Aufführungen gezählt werden. Dem entspricht die Route der Führungen, die niemals auf die Bühne »selbst« gelangen, sondern sie umkreisen. Wie ein Napf, so Litscher, soll der Bühnenkasten sein, um den die Hunde zwar herumstreichen und -knurren, in den sie aber niemals eintauchen. Dass die diversen Abteilungen des Hauses, die zu Herz und Hund beitragen sollen, sich von einer solchen Arbeitsweise vollständig überfordert sehen, ist da fast schon überflüssig zu erwähnen – beharrt diese doch mit großer Störrischkeit auf der Frage nach einem anderen Wissen des Theaters. Und jene ist am Ende gleichbedeutend mit der des Kynismus: der Frage nach einem anderen Leben.
17 | Ebd., S. 229. 18 | Ebd. 19 | Ebd., S. 231.
Archiv/Praxis Verkörpertes Wissen in Bewegung Patrick Primavesi, Janine Schulze-Fellmann, Marcus Quent, Michael Wehren, Theresa Jacobs, Juliane Raschel, Sabine Huschka
Zur Diskontinuität von Tanz-Geschichte(n) Theater und Tanz wurden in der kulturwissenschaftlichen Forschung der letzten Jahrzehnte verstärkt in den Dienst einer ›praktischen‹ Epistemologie gestellt. Die szenische Praxis war nicht allein Gegenstand theoretischer Reflexion, sondern wurde zunehmend selbst als Wissen definiert und in Abgrenzung von logischen, sprach- und schriftbasierten Erkenntnisformen neu bestimmt. Dabei kam dem Körper und der körperlichen Bewegung die Funktion einer wie auch immer flüchtigen Sinnstiftung für ein seinerseits prozessual verstandenes Wissen zu. So konnte insbesondere die in geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Diskursen lange verdrängte kulturelle Bedeutung des sich aufführenden Körpers geltend gemacht werden. Durch die künstlerische Praxis von Tanz und Performance wird jedoch die Frage nach dem Spannungsverhältnis zwischen Körper, Bewegung und Wissen auch noch in anderer Hinsicht thematisiert: Nicht als Wissen über Bewegung und auch nicht als ein der Praxis unmittelbar entspringendes Wissen der Bewegung, sondern vielmehr als ein Wissen in Bewegung, das die körperliche Bewegung nachvollzieht und zugleich unterbricht. Damit geht es, im Unterschied zu einer Essentialisierung des Körpers, um diskontinuierliche, in keinem System aufgehende Formen von Reflexion und Diskurs. Was die Fixierung auf den Augenblick und das performative Ereignis (ungewollt) zum Vorschein brachten, ist gerade die Historizität des Körpers und aller Praktiken körperlicher Bewegung. Zu fragen ist von daher nach einem Wissen der (un)möglichen Wiederholung. Als Aufführung einer fraglichen Identität werden Theater und Tanz zum Modell von Geschichte zwischen Archiv und Praxis. Was aufgeführt wird, ist im Moment seiner Wahrnehmung ebenso aufgehoben wie verloren. Damit etwas vorgestellt und aufgeführt werden kann, ist es bereits durch Prozesse der Bearbeitung von vergangenen Erfahrungen gegangen, sei es in Form eines kollektiven Wissens, tradierter Geschichten, Erzählungen
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oder Mythen, oder sei es in Form subjektiver Praktiken oder Erinnerungen, die durch eine Aufführung erstmals einem Publikum präsentiert werden. Jede künstlerische Praxis arbeitet mit dieser Nachträglichkeit, die einer Premiere zugrunde liegt, schon im Verhältnis zu den ersten Inspirationen, Versuchen und Proben, die ihr vorausgegangen sind. Die allegorische Dimension, mit der sich einer theatralen Präsentation Momente der Abwesenheit und des Verlusts einschreiben, kann als konstitutiv für den Prozess des Aufführens selbst gelten.1 Diese zeitliche Struktur betrifft jede theatrale Praxis – nicht erst im Rückblick auf das Ereignis, der trotz aller Bemühungen um Dokumentation kaum etwas festzuhalten vermag, sondern auch schon zu Beginn, der sich zugleich als Element in einer Kette von Wiederholungen erweist. Versuche der Erinnerung und Rekonstruktion machen das Fehlen eines genuinen Ursprungs aber vielfach produktiv durch die Beschwörung und Inszenierung von Phantasmen. Mit der Reflexion dieser Prozesse geht es um eine strukturelle Spaltung in der Zeitlichkeit von Re-Präsentation und darüber hinaus um die Frage nach Formen der Geschichtsschreibung, die der spezifischen Historizität von Theater und Tanz entsprechen könnten. Im Gefolge der historischen Avantgarden haben sich Performancekunst, Live Art und Happening seit den 1960er Jahren programmatisch dem Augenblick verschrieben und ihre Wirkung vor allem in der Unwiederholbarkeit des intensiven Moments verortet.2 Diese Tendenz bestimmt das Selbstverständnis von Tänzern und Choreographen, die sich an den Auf bruchsbewegungen im modernen Tanz und Ausdruckstanz orientieren, bis heute – allerdings kaum im Sinne einer kontinuierlichen Fortschreibung oder Genealogie. Im Gegenteil reflektieren sie auf unterschiedliche Weise die historischen Brüche, die einer Traditionsbildung im modernen Tanz insbesondere in der deutschen Geschichte entgegenstanden. Wenn seit einiger Zeit verstärkt Versuche zu beobachten sind, an die Entwicklung des Ausdruckstanzes vor dem Zweiten Weltkrieg zu erinnern, wird damit nicht einfach zur Rückgewinnung einer vergessenen Tradition beigetragen. Gerade darin bleibt auch der Begriff des Tanzerbes problematisch, der sowohl die irreduzible Unverfügbarkeit des einmal Aufgeführten als auch die Unmöglichkeit seiner auf Traditionsstiftung angelegten Aneignung verdeckt, ganz abgesehen von ideologischen, mitunter totalitären Prämissen im Begriff des kulturellen Erbes. Umso aufschlussreicher sind die Umstände, Verfahrensweisen, Probleme und Aporien, die mit Praxen der Rekonstruktion, der Re-Creation oder des Reenactments einhergehen, welche nicht auf eine pragmatische Aneignung von Methoden, Techniken und Stilen aus sind. Vielmehr zeigen sie Diskontinuitäten auf, solche der künstlerischen Praxis, des jeweiligen Körperwissens und der von ihm produzier1 | Vgl. Gerald Siegmund, Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes, Bielefeld 2006. 2 | Zur Idee der Unwiederholbarkeit als Bedingung von Performancekunst vgl. Peggy Phelan, »The ontology of performance: representation without reproduction«, in: Dies., Unmarked. The politics of performance, London/New York, NY 1993, S. 146-166.
Archiv/Praxis
ten Spuren und Relikte, aber auch solche der Archive als Institutionen der Auf bewahrung, der Erschließung und der Vermittlung von Kontexten und offenen Fragen, sowohl für die Forschung wie für die zeitgenössische künstlerische Arbeit.3 In der damit umrissenen Perspektive spannt das Themenforum Archiv/Praxis: Verkörpertes Wissen in Bewegung einen Bogen, der verschiedene Aspekte der Auseinandersetzung mit Tanz-Geschichte(n) des 20. Jahrhunderts umfasst. Dabei geht es nicht nur um den Tanz als Bühnenkunst, sondern ebenso um die Laienpraxis und um Institutionen der Tanzausbildung, deren Entwicklung mit der Kulturpolitik der Weimarer Republik, des Nationalsozialismus und der DDR verknüpft ist. Die folgenden Beiträge reflektieren Wechselverhältnisse von Körper, Wissen und Bewegung in exemplarischer Weise. Methoden des Erinnerns, der Aneignung und der Rekonstruktion eines jeweiligen Körper- und Bewegungswissens werden vorgestellt, die für eine Epistemologie von Theater und Tanz auch insofern aufschlussreich sind, als sie ihre eigene Zeitlichkeit und Historizität reflektieren.
Patrick Primavesi
Memorabilien des Körpers? Der veraltete Begriff Memorabilien meint Denkwürdigkeiten und steht für Personen oder Ereignisse, die innerhalb bestimmter historischer Kontexte für erinnerungswürdig gehalten werden. Memorabilien übernehmen Stellvertreterpositionen in den Regalen der Archive, dienen als Erinnerungsstützen und zeugen von jenen tatsächlichen Denkwürdigkeiten, die sich selbst einem Zugriff entziehen, wie etwa Körper und ihre Bewegungen, Körper und ihr Wissen. Die zahlreichen, ganz unterschiedlichen Projekte, die in den letzten Jahren eine Förderung durch den Tanzfonds Erbe der Bundeskulturstiftung erhalten haben, arbeiten alle mit derartigen Memorabilien, sind in ihren Arbeitsmethoden, Interessen und in ihren künstlerischen Umsetzungen jedoch extrem unterschiedlich. Gemeinsam scheint ihnen jedoch eine Haltung des anfänglichen ›Fremdelns‹ gegenüber diesen erklärten Denkwürdigkeiten der Tanzgeschichte, aber auch eine Neugierde darauf, sich mit einem Körperwissen auseinanderzusetzen, das einerseits integrierter Teil ihrer eigenen Körperpraktiken ist, andererseits aber völlig fremd scheint. Eigenes und fremdes Körperwissen begeben sich in einen Dialog, den der Choreograph Jochen Roller als Re-Creation bezeichnet.4 3 | Ausführlicher zu den hier skizzierten Arbeiten von Künstlern, Gruppen oder Companien mit Institutionen und Praktiken des Archivs vgl.: Patrick Primavesi (Hg.), Archiv/Praxis, München (in Vorbereitung). 4 | Ich ziehe den Begriff der »Re-Creation« (Jochen Roller) dem üblicheren Begriff der »Rekonstruktion« vor, weil er das kreative Moment in der Auseinandersetzung mit Tanzgeschichte betont, das m.E. für das Thema der Archivierung von Tanz zentral ist. Vgl.: Janine Schulze (Hg.), Are 100 Objects Enough to Represent the Dance. Zur Archivierbarkeit von Tanz,
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Die Erinnerungsarbeit, die Auseinandersetzung mit Memorabilien der Tanzgeschichte soll damit weniger als ein Dienst an der Geschichte, denn vielmehr als eine Technik charakterisiert werden, mit der Choreographierende über das fremde, verschüttete Körperwissen zu innovativen choreographischen Formen finden. Um meine Perspektive zu veranschaulichen, möchte ich hier in aller Kürze zwei vom Tanzfonds Erbe finanzierte Projekte vorstellen. Zunächst Jochen Rollers The Source Code5, in dem das Verhältnis von Sich-Annähern und Fremd-Bleiben besonders hervortritt. Tanz re-kreieren heißt stets, sich mit Lücken im Archiv auseinanderzusetzen. Die Suche nach dem verlorenen Tanz geht einher mit einer Fahndung nach Zeitzeugen, Notationen, vielleicht sogar Filmaufzeichnungen. Sie alle nähern sich dem vergangenen Ereignis an, berühren es jedoch nur partiell. So können die im Folgenden skizzierten Erfahrungen als durchaus symptomatisch gelten. Als Roller seine Arbeit zum Stück Errand into the Maze von Gertrud Bodenwieser begann, schien die Annäherung an das Bewegungsmaterial durch eine noch existente, wenn auch schwer zugängliche Filmaufnahme des Australischen Fernsehens (ABC) von 1960 zunächst einfach. In Gesprächen mit Zeitzeuginnen jedoch wurde schnell deutlich, dass diese Fassung selbst eine Re-Creation ist, die ein Jahr nach Bodenwiesers Tod in Szene gesetzt wurde und nach Meinung ihrer Schülerinnen stark von der von ihnen getanzten Bühnenfassung abwich. Auch der Versuch, die existente Laban-Notation zu Errand umzusetzen, erwies sich als schwierig. So mühten sich Roller und seine Tanzenden zum Beispiel tagelang an einem Notat ab, das vorgab, eine bestimmte Bewegungssequenz auf Rechts enden zu lassen, um die darauffolgende Schrittfolge wieder mit dem rechten Fuß zu beginnen. Erst im Gespräch mit einer der damaligen Tänzerinnen lüftete sich das Geheimnis: Sie hätten an dieser Stelle immer den berühmten ›Bodenwieser-Mogelschritt‹ gemacht, den aber, aufgrund ihrer langen Röcke, nie jemand gesehen habe.6 Die Suche nach der verlorenen Bewegung bedeutet somit vor allem, sich mit vielen, im Einzelnen irritierenden und widersprüchlichen »kleinen Erzählungen« 7, wie die Wiener Historikerin Natascha Vittorelli sie bezeichnet, auseinanMünchen 2010; Dies., »Lücken im Archiv, oder: Die Tanzgeschichte ein ›Garten der Fiktionen‹?«, in: Christina Thurner/Julia Wehren (Hg.), Original und Revival. Geschichtsschreibung im Tanz, Zürich 2010, S. 147-153; Dies., »Nach den Körpern fahndend – Tanzgeschichte in Bewegung«, in: Andreas Backoefer/Nicole Haitzinger/Claudia Jeschke (Hg.), Tanz & Archiv 1 (2009), S. 82-89. 5 | Jochen Rollers Projekt The Source Code (2014) ist ein Online-Archiv über den Versuch einer Re-creation des letzten Tanzdramas Errand into the Maze (1954) der österreichischen Tänzerin Gertrud Bodenwieser (1890-1959), das diese nach ihrer Emigration in Australien choreographierte. 6 | Ich danke Jochen Roller für diese Information. 7 | Marnie Sturm/Birte Kohtz, »Eine Sache denken. Oder: Jeden Text sein eigener Sound. Im Gespräch mit Natascha Vittorelli«, in: zeitenblicke 9, 2 (2010), http://www.zeitenblicke. de/2010/2/sturm-kohtz_vittorelli vom 23.09.2015.
Archiv/Praxis
derzusetzen. Typisch scheint, dass mit fortschreitender Recherchearbeit und anschließenden praktischen Umsetzungsversuchen weniger ein Gefühl von Nähe als von Fremdheit entsteht. Das Sich-fremd-Fühlen derer, die in den historischen Bewegungsästhetiken und -techniken tanzen, verweist auf das Historische dieser Körperbilder und auf die Differenz zu den heute prägenden Tanzdiskursen.
Abb. 1: Jochen Roller, The Source Code, Proben zur Re-Creation von Errand into the Maze (Choreographie: Gertrud Bodenwieser), Januar 2013, von links nach rechts: Barbara Cuckson (Bodenwieser-Schülerin) und Carol Brown (Schülerin einer Bodenwieser-Schülerin) proben gemeinsam mit Lizzie Thomson an der Bedeutung und Ausführung einer Geste aus Errand into the Maze, © Andrea Keiz Der Prozess der Re-Creation erzählt somit vor allem auch etwas über die Re-kreierenden selbst, über die Körper(-lichkeit) ihrer Zeit, über ihre eigene Körperschulung, -wahrnehmung und choreographische Ästhetik. Die Erinnerungsarbeit führt zu einer Reflexion des eigenen persönlichen Tanzverständnisses. Tanzgegenwart und -vergangenheit treten in einen produktiven Dialog, dessen eigentliches Ziel etwas Neues, Zukünftiges ist. Kaum jemandem gelingt das Sichtbarwerden eines solchen Dialogs auf der Bühne so wie dem Choreographen Martin Nachbar, der den Prozess der Annäherung und des Fremd-Bleibens, den Weg der Innovation aus dem Erinnern heraus, mit Hilfe komplexer Tafelbilder gleichsam buchstäblich nachzeichnet. So auch in seiner 2014 gezeigten Performance Channeling Judson Church 8. In diesem Fall notiert er zum Beispiel die Namen der berühmtesten Innovator_innen von Ausdruckstanz, Modern Dance bis zum Postmodern Dance und setzt diese mit immer komplexer werdenden Pfeilen ins Verhältnis. Der tanzhistorische Stammbaum endet ganz unten in einem dicken Pfeil, der direkt auf Nach8 | Teilprojekt des Gesamtprojektes Live Legacy Project, geleitet von Angela Guerreiro.
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bar selbst, neben der Tafel stehend, verweist. Sein Körper ist der, dem all dieses Wissen vorausgegangen ist und sein Tanzen ist zu einem großen Teil von diesen Tanztechniken geprägt. Nachbar wird zu einem Teil der großen tanzgeschichtlichen Erzählung und steht ihr doch fragend gegenüber. Er spielt mit seiner Position, die Innen- und Außensicht zugleich ist. Er reflektiert und verkörpert. So wird deutlich, dass eine Re-Creation für die Tanzenden per se bedeutet, in dieses Wissen einzutreten, es mit dem eigenen bisherigen Körperwissen abzugleichen und schließlich fortzuschreiben. Aus der Beschäftigung mit der Vergangenheit, so macht Nachbar deutlich, erwächst bei ihm als Choreograph eine Haltung und ein Denken, welches Einfluss nimmt auf seine aktuellen Arbeiten und somit relevant für (s)ein zeitgenössisches Tanzverständnis im Allgemeinen wird.
Abb. 2: Martin Nachbar, Channeling Judson Church, Präsentation im Kontext von The Live Legacy Project – Correspondance between German Contemporary Dance and Judson Dance Theater Movement, tanzhaus nrw, 10.07.2014, © Andrea Keiz Zum Abschluss möchte ich noch einen gender-orientierten Blick auf das Phänomen Re-Creation werfen. Ein interessanter Nebenaspekt scheint mir, dass sich in den vergangenen Jahren, besonders zu Beginn der großen Rekonstruktionswelle, vor allem Männer tanzhistorisch bedeutenden Tänzen oder Stücken von Frauen widmeten.9 Das bewusste cross-casting und der damit verbundene Gendertransfer 9 | Martin Nachbars Urheben-Aufheben (2008) zu Dore Hoyer; Fabian Barbas A Mary Wigman Dance Evening (2009); Jochen Rollers The Source Code (2014) zu Gertrud Bodenwieser; Martin Stiefermanns Anita Berber – Retro/Perspektive (2014). Vgl. auch Britta Wirthmüller, die in ihrem Tanzstück Jean Weidt – Physical Encounters (2013) Weidts zum Teil explizit für Männer choreographierte Tänze mit zwei anderen Tänzerinnen re-kreiert (siehe dazu den Beitrag von Marcus Quent).
Archiv/Praxis
schaffen einen forschend-distanzierten Blick, sowohl bei den Re-kreierenden als auch bei ihrem Publikum. Die Kategorien von historisch gesetzten genderspezifischen Bewegungszuschreibungen werden durch die zeitgenössisch geschulten Tänzer in Frage gestellt, irritiert oder auch neutralisiert. Sie spiegeln damit aber auch eine ambivalente Männertanzgeschichte mit ihrem spezifischen Körperwissen, das bis heute durch das Gefühl eines permanenten Legitimierungszwanges geprägt ist. Vielleicht muss es als konsequente Entwicklung betrachtet werden, dass Choreographen wie Roller oder Nachbar, die als Vertreter des sogenannten Konzepttanzes begannen (der, besonders in seinen Anfängen, ebenfalls männlich dominiert war) und sich in ihren Stücken zunächst jeglicher Form des Tanzes um seiner selbst willen verweigerten, die Re-Creation als mögliche Arbeitsform für sich entdeckt haben. Der Konzepttanz oder auch Non-Dance ist von der Theater- und Tanzwissenschaft schon auf unterschiedlichste Art und Weise beleuchtet worden, jedoch wurde die ›Tanzverweigerung‹ bisher noch nie als eine Verweigerung von Bewegungsästhetiken für Männer gelesen. Mit ihrer Wahl, die Arbeiten berühmter Choreographinnen zu re-kreieren, schaffen sich männliche Choreographen eine Möglichkeit, sich tänzerisch außerhalb gängiger Wahrnehmungsmuster des männlichen Tanzes und eines eigenen, männlichen Körperwissens zu bewegen. Über das ihnen fremde Material können sie zu ungewohnten Bewegungsmustern finden, die im besten Fall ein Körperwissen generieren, welches durch eine größere Gender-Neutralität bestimmt sein könnte.
Janine Schulze-Fellmann
Britta Wirthmüllers Dekonstruktion revolutionärer Gesten – Jean Weidt In ihrem Stück Jean Weidt: Physical Encounters (2013) thematisiert die 1981 geborene Choreographin Britta Wirthmüller die Begegnung mit dem ›Roten Tänzer‹ Jean Weidt, einer im deutschsprachigen Raum eher randständigen Figur der modernen Tanzgeschichte. Dabei erforscht sie Weidts Tänze aus den 1920er Jahren mittels einer das Körperwissen reflektierenden Bewegungsarbeit. Hans Weidt wurde 1904 als Kind einer Arbeiterfamilie in Hamburg geboren und tanzte bereits früh in Jugendgruppen. In seiner Autobiografie beschreibt er das Jahr 1923 als Wende in seinem Leben, denn beim Eintritt in das Erwachsenenalter beginnt er, sich für Tanz zu interessieren und neben einer kräftezehrenden Gärtnerausbildung allabendlich zusätzlich am Tanzunterricht von Sigurd Leeder teilzunehmen. Ab 1925 folgten, unter schwierigen Bedingungen, die von finanzieller Not und widrigen Umständen gezeichnet waren, erste eigene Tanzabende in Hamburg. Immer wieder musste Weidt neue Probenräume und Aufführungsorte finden, um sein Publikum zu erreichen mit dem Ziel, ihm »die Themen der Arbeiterklasse ballettwürdig nahezubringen«.10 In den folgenden Jahren setzte Weidt sich gegen 10 | Jean Weidt, Auf der großen Straße. Jean Weidts Erinnerungen, hg. v. Marion Reinisch, Berlin 1984, S. 39; Ders., Der Rote Tänzer. Ein Lebensbericht, Berlin 1968. Vgl.
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die ästhetischen Konventionen und den Spott der bürgerlichen Presse durch und scharte allmählich sowohl Schüler als auch ein eigenes Publikum um sich.
Abb. 3: Jean Weidt, Der Arbeiter, Kammerspiele Hamburg 1925, aus: Jean Weidt, Der Rote Tänzer. Ein Lebensbericht, Berlin 1968, S. 75, © Archiv J.W. Seine eigene Tanzpraxis begriff Weidt als Vertiefung des Ausdruckstanzes. Sie ließe sich versuchsweise als eine naturalistische Form des Ausdruckstanzes beschreiben. Der Ausdruckstanz von Mary Wigman, die Anfang der 1920er Jahre in Dresden und Hamburg ihren Durchbruch erlebte, war für Weidt »selbst Erscheinungsform der Dekadenz«11 und blieb seiner Meinung nach »in bürgerlich-subjektivistischen Bewußtseinsschranken«12 gefangen. Weidt wollte mit Mitteln des auch Yvonne Hardt, Politische Körper. Ausdruckstanz, Choreographien des Protests und die Arbeiterkulturbewegung in der Weimarer Republik, Münster 2004. 11 | Weidt, Auf der großen Straße, S. 51. 12 | Ebd.
Archiv/Praxis
Tanzes gesellschaftliche und politische Themen aufgreifen: »Die Vermenschlichung des Menschen kann nicht durch seine Herauslösung aus der Gesellschaft, sondern nur durch deren Veränderung bewirkt werden«13. Die damals formierte Gruppe der Roten Tänzer beteiligte sich in den folgenden Jahren an den künstlerischen und politischen Kämpfen der kommunistischen Bewegung. Ihre Besonderheit war, dass sie tagespolitische Ereignisse tänzerisch ad hoc umzusetzen versuchte. Damit wurden sie zur festen Größe auf politischen und kulturellen Bühnen der Bewegung.
Abb. 4: Jean Weidt – Physical Encounters, 2013, von links nach rechts: Maria Walser, Angelika Thiele, Britta Wirthmüller, © Maik Reichert Die Choreographin Britta Wirthmüller beschreibt ihre Entdeckung Weidts und das Moment der Affizierung, welches sie zu einer Auseinandersetzung mit seinem eigentümlichen Bewegungsrepertoire motiviert hat: »Ich habe in Büchern geblättert, Bilder betrachtet und war beeindruckt von dieser fremden Ästhetik, aber auch von diesen Posen und diesem Pathos. Ich habe von Anfang an eine Faszination gespürt für diese Bilder – etwas an dieser Körperlichkeit oder vielleicht auch Verkrampfung, hat mich angesprochen.«14 Initiales Mittel ihrer Annäherung an ein verlorenes Bewegungsrepertoire ist für Wirthmüller das Medium des Bildes. So setzt die Bewegung in ihrer Performance als eine mimetische Annäherung an Bildmotive ein. Zunächst werden konkrete Bildausschnitte nachgestellt, deren Beschreibung der Zuschauer parallel über Einspieler hört. Dann 13 | Ebd., S. 53. 14 | www.rbb-online.de/kultur/beitrag/2013/08/Ausufern-35-Jahre-Tanzfabrik.html (die Seite existiert inzwischen nicht mehr).
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folgt eine Ausdrucksstudie zu Affektbildern, in deren Verlauf die Performerinnen in Zeitlupengeschwindigkeit ihre Mimik und Haltung verformen. Während sie von einem Affektbild zum anderen übergehen, eine Pose in eine andere gleiten lassen, eignen sie sich das Statuarische des Bildrepertoires an und versetzen es in Bewegung.
Abb. 5: Jean Weidt – Physical Encounters, 2013, von links nach rechts: Angelika Thiele, Britta Wirthmüller, Maria Walser, © Maik Reichert Der Hauptteil der Aufführung besteht aus einer etwa zwanzigminütigen Choreographie, die in zwei Teile unterteilt ist, welche durch unterschiedliche Kostüme und Lichtstimmungen charakterisiert sind. Wirthmüllers Choreographie setzt mit langsamen, rudimentären Bewegungen ein: Eindrehen des Rumpfes, Heben und Senken der Schultern, Dehnen und Überdehnen des Rückens. Wie in vielen ihrer Choreographien geht es auch hier um die Wahrnehmung von Bewegung oder vielmehr die Thematisierung der Schwellen der Wahrnehmbarkeit von Bewegung. Zugleich charakterisieren die strenge Rhythmisierung der Bewegung, der Gebrauch der Muskulatur und der Auf bau von kontraintuitiven Gegenspannungen im Körper aber auch Weidts Bewegungsrepertoire. Britta Wirthmüller, Maria Walser und Angelika Thiele zeigen in ihrer Choreographie eine rhythmisierte Bewegung, in der immer wieder Bilder auftauchen, die nachträglich als Zitate von Gesten und Affektbildern Weidts erkennbar werden. Der Zuschauer nimmt Bewegung wahr, die immer wieder ins Stocken gerät und sich selbst zu unterbrechen scheint. Allmählich aber werden längere Bewegungsintervalle aufgebaut und zwar paradoxer Weise gerade vermittels einer noch gesteigerten Aufwendung von Kraft, Spannung und Druck, welche die Bewegtheit doch erst zu unterbrechen schienen. Die in den Fluss
Archiv/Praxis
geratende Bewegung endet schließlich in körperlicher Erschöpfung. Jean Weidt eroberte mit seinen Themen und seinem Tanzverständnis die (Tanz-)Bühne. Der politische und ästhetische Kampf fand seine Spiegelung in einer extremen Stilisierung des Arbeiters. Weidts Ästhetik, die sich an Archetypen orientierte, führt dabei zu einer Isolation des Bild-Körpers, zu einer Heroisierung der Figuren und einer Ausblendung von Kontexten. Dieser Stillstellung im Bild und der Einhegung von Gesten in Archetypen (»Der Arbeiter«, »Der Bauer«, »Der Soldat«) entsprach eine Monochromie des Bild- und Bühnenraums, die phasenweise zu reinen Flächen wurden. Wirthmüllers Arbeit ist weniger Rekonstruktion als Bewegungsforschung, deren Kraft aus einer Position der Distanz resultiert. Die Lücken und Bruchstellen im Bildmaterial und dessen Unzuverlässigkeit im Verhältnis zum Bewegungsrepertoire sind der Anfangspunkt einer eigenen ästhetischen Konstruktion. Dabei befragt Wirthmüller en passant Weidts revolutionäres Pathos, seine Bilder übersteigerter Männlichkeit sowie die immanenten Spannungen und Widersprüche eines politisch geprägten Körperwissens. In ihrer Annäherung an verlorene Bewegungen können Formen der choreographischen Recherche die Gegenwart herausfordern und deren Analyse inspirieren.
Marcus Quent
Körperpolitik und Bewegungswissen: Otto Zimmermanns Sprechbewegungschöre Die chorischen Experimente und Darstellungsformen der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik, unter ihnen die Sprechchöre, Bewegungschöre oder die sogenannten Sprechbewegungschöre, erscheinen heutigen RezipientInnen oftmals als fremd.15 Sie wirken pathetisch-expressionistisch, naiv oder auch geradezu versiegelt in ihrem spezifischen historischen Kontext. Umso bemerkenswerter ist die aktuelle Tendenz der Tanz- und Theaterpraxis, sich diesen Formen erneut zuzuwenden. So erprobt die Performancegruppe LIGNA in ihrer Produktion Tanz aller – Ein Bewegungschor (2013) gemeinsam mit dem Publikum die nicht eingelösten, utopischen Potentiale kollektiver Bewegung, indem sie mit dem Bewegungs-, Bild- und Textmaterial verschiedener historischer Chorformen spielt. Dabei steht das Verhältnis von Sprache und Bewegung ostentativ im Fokus der Aufführung, welche erst im Zusammenspiel von Teilnehmenden und Apparat(en) entsteht. Über Radio gesendete Anweisungen zu bestimmten Bewegungen, Gesten und Choreographien werden von Teilgruppen des Publikums ausgeführt. So werden die Beziehungen zwischen Individuen, temporären Gemeinschaften, medialen Apparaten sowie uniformer und singulärer Geste immer wieder selbstreflexiv verhandelt. Die Aufführung, die im Zusammenspiel von Apparaten und Publikum entsteht, fordert die individu15 | Grundlegend zur Verbindung von Tanz, Politik und Chor: Hardt, Politische Körper.
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elle wie auch die gemeinsame, die politische wie auch die historische Übersetzung, ein vielschichtiges (Wieder-)Erfinden und (Neu-)Finden von Bewegung geradezu heraus – während der mediatisierte Durchgang durch das Symbolische, hier die per Radioapparat übertragenen Anweisungen von Bewegung, die fixierten Bilder von Körpern, Sprache und Wissen erneut in Bewegung bringt. Und gerade weil sie die historische, ästhetische sowie politische Differenz als Anfangsmoment und nicht als letztes Wort nimmt, aktualisiert die Aufführung von LIGNA einen zentralen Aspekt der körperpolitischen Chorentwicklung der 1920er Jahre.
Abb. 6: LIGNA, Tanz Aller – Ein Bewegungschor, Ringlokschuppen Mülheim an der Ruhr 2013, © Eiko Grimberg Am Beispiel des zu dieser Zeit am Leipziger Arbeiter-Bildungsinstitut tätigen Otto Zimmermann möchte ich darauf näher eingehen. Als Chorleiter und Verfasser eines Leitfadens für chorische Theorie und Praxis, als Choreograph von Stücken und Massenveranstaltungen sowie als Autor einer Vielzahl von Beiträgen für die in Leipzig erscheinende Zeitschrift Kulturwille, war Zimmermann aktiver Sozialist und Propagandist, Chronist, Praktiker und Theoretiker des von ihm so bezeichneten Sprechbewegungschores. Als ab Mitte der 1920er Jahre Zweifel an der Wirkungskraft statischer Sprechchor-Aufführungen laut wurden, entstand diese spezifische Chorform an der Schnittstelle der sozialistischen Sprechchöre einerseits und der durch Rudolf von Laban inspirierten Bewegungschöre andererseits.16 16 | Vgl. Michael Wehren, »Speaking choirs and movement choirs: Remarks on a socialist choreographic community«, in: LIGNA/Patrick Primavesi (Hg.), Bewegungschöre. Körperpolitik im modernen Tanz (in Vorbereitung).
Archiv/Praxis
Die Sprechbewegungschöre eigneten sich choreographisches Wissen und Bewegungsformen des deutschen Ausdruckstanzes und insbesondere der Bewegungschöre an. Bewegungschorleitern wie Martin Gleisner erschien diese Form des »Laientanzes«, in der »durch den Tanz erzogen«17 werde, als grundlegend politisch: »Schon in der gemeinsamen – chorischen – Betätigung, nicht nur im Dargestellten liegt etwas Sozialistisches.«18 Der Bewegungschor ist als spezifisch moderne Form einer tänzerischen Körperpolitik beschreibbar, als eine Politik, die sich in der Produktion, Aufteilung und Choreographie von individuellen wie kollektiven Körpern manifestiert. Als deren Einsatz bzw. Verhandlungsort erscheinen die Körper selbst. Inspiriert durch die Bewegungschöre sollte nun im Sprechbewegungschor die Zusammenführung von Sprechen und Bewegen erfolgen: »Es handelt sich bei dem Sprechbewegungschor um die einfache, naturgegebene Tatsache, die Menschen mit ihrem ganzen Ich sich chorisch ausdrücken zu lassen.«19 Als Ausdruck des ›ganzen‹, ›ungeteilten‹ Menschen konnte der Sprechbewegungschor in den Augen seiner Befürworter zudem als körperpolitische Metapher für die Einheit und Ganzheit der Arbeiterbewegung fungieren. So sah beispielsweise Berthe Trümpy in ihm »die Kraft und Intensität aller Revolutionen, die hinter der Verbindung von Massenwort und Massenbewegung steht.«20 Der Sprechbewegungschor, insbesondere seine körperpolitische Praxis supplementiert, dieser und anderen Quellen zufolge, die politische Bewegung oder, wie hier, die Revolution. Darüber hinaus konnte er als Leitmodell der Zusammenführung unterschiedlicher Einzelkünste in sozialistischen Massenspielen fungieren, so beispielsweise in dem von Zimmermann inszenierten Prometheus (1929). In der vorherrschenden Form sprechbewegungschorischer Praxis und Theorie wurden Sprache und Bewegung an den Rhythmus eines geschriebenen Textes gebunden, der ihr Verhältnis einheitlich und hierarchisch organisieren sollte. Der Transfer von Bewegungswissen zielte dementsprechend auf einen Prozess der Verkörperung von Texten sowie ihrer Wiedergabe durch tänzerisches Bewegungswissen bzw. tänzerische Bewegungspraxis. Ziel war »die aktivierende, politisch orientierte Manifestierung von Erkenntnissen durch die ganzen Leiber der Gestaltenden mit der wesentlichen Absicht eine Handlung bei dem Publikum hervorzurufen.«21 Dieser Prozess einer als authentisch konzipierten, aktivierenden Selbstverkörperung der proletarischen Chorgruppe unter dem Vorzeichen einer medialen Vorschrift war zugleich antitheatral angelegt. Die Aufführung
17 | Martin Gleisner zit. n. Kurt Heilbut, »Neue Formen proletarischer Festkultur« (2. Teil), in: Sozialistische Bildung 8 (1931), S. 243-248, hier S. 244. 18 | Ebd. 19 | Otto Zimmermann, »Dramatischer Chor?«, in: Kulturwille. Monatsblätter für Kultur der Arbeiterschaft 5 (1930), S. 93-94, hier S. 93. 20 | Berthe Trümpy, »Der Laienchor«, in: Die Volksbühne 9 (1928), S. 5-7, hier S. 6. 21 | Zimmermann, »Dramatischer Chor?«, S. 94.
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sollte Fest oder Feier, aber keinesfalls Theater im Sinne bürgerlicher Unterhaltungskunst sein. Die Schnittstelle von Sprechchor und Bewegungschor stellte jedoch keine Einbahnstraße dar. So wurde im bewegten Sprechchor Der gespaltene Mensch des Arbeiterdichters Bruno Schönlank der Text durch radikale Rhythmisierung in zeitweise geradezu dadaistischer Weise bis an den Rand der Lautpoesie getrieben.
Abb. 7: Martin Gleisner, Berliner Bewegungschöre nach Laban: Männertanz, 1920er Jahre, in: Martin Gleisner, Tanz für Alle, Leipzig 1928, © Thiele Auch in Zimmermanns Probenberichten zeigt sich eine Lust an der semiotischmimetischen Dimension von Stimme und Sprache jenseits des Textes: »Jemand ahmte im Eifer des Maschinentanzes den Geräuschlaut der empfundenen Bewegung mit seinem Munde nach. Da war der Gedanke geboren, die ganze Gruppe nicht nur bewegende, sondern auch summende, surrende, fauchende, verhauchende Masse werden zu lassen.«22 Zimmermanns Versuche, an den Schnittstellen von Theorie und Praxis, von Sprechen und Bewegen, ein körperpolitisch nutzbares Bewegungswissen (etwa durch pädagogische Leitfäden für die Chorarbeit) zu instituieren, gehen über das Primat der Textverkörperung hinaus. Gerade in zunächst peripher anmutenden Formen wie Training oder Probe, die im Verhältnis zu Aufführungen freilich einen Großteil der Laienchorpraxis ausmachten, zeigen sich Tendenzen, das Verhältnis von Dichtung, Sprechen und Bewegung neu zu verhandeln.
Michael Wehren
Volkstanz als Körper wissen Der Begriff Volkstanz taucht Ende des 18. Jahrhunderts erstmals auf, setzte sich aber im deutschen Sprachgebrauch zunächst nicht durch. Die Aufwertung und 22 | Ders., »Gymnastik und Tanz vom Standpunkt des Arbeiters«, in: Kulturwille. Monatsblätter für Kultur der Arbeiterschaft 1 (1929), S. 4-5, hier S. 5.
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Professionalisierung des Volkstanzes führte zu einer Reihe von Begriffen wie Nationaltanz, Folklore, internationale Tänze, Charaktertänze, schließlich sogar ›Volkstanz zum Mitmachen‹ oder Bal Folk, die sich zum Teil überschneiden und eng mit dem verbunden sind, was wir bis heute als Volkstanz bezeichnen. Mit der Ausdifferenzierung des Feldes gingen auch die Etablierung eigener Ausbildungsformate von Tänzern, Tanzmeistern, Choreographen und Tanzpädagogen sowie die Gründung entsprechender Institutionen einher. Die Instrumentalisierung des Volkstanzes im Nationalsozialismus und eine erneute Aufwertung von Volkstanz in der DDR als Manifestation des werktätigen Volkes haben ein negatives Bild von Volkstanz geprägt,23 wobei für die Einbindung von Volkstanz in die jeweiligen Diskurse unterschiedliche Vorstellungen von Gemeinschaft eine Rolle spielen. Die Praxis ist aber weitaus vielfältiger und auch widersprüchlicher, als es die Fixierung auf ideologiekritische Perspektiven wahrhaben will, nicht nur hinsichtlich der konkreten Ausführung von Volkstänzen, sondern auch in ihren jeweiligen kulturellen und gesellschaftlichen Funktionen. Es stellt sich also die Frage, wie sich das, was als Volkstanz praktiziert wird, wissenschaftlich fassen und analysieren lässt, jenseits der bloßen Alternative zwischen einer Essentialisierung und erneuten Idealisierung des Volkstanzes einerseits und dem Generalverdacht der politischen Instrumentalisierung und ideologischen Indienstnahme andererseits. Hier sollen zunächst einige Aspekte der Volkstanzforschung skizziert werden, um in diesem Kontext nach dem Verhältnis von individuellem und kollektivem Wissen zu fragen. Die Erforschung von Volkstanz oder genauer: die Erforschung dessen, was als Volkstanz praktiziert, bezeichnet und verhandelt wird, findet hauptsächlich auf drei Ebenen statt. Zuerst gibt es ein volkskundlich-ethnografisches Interesse, Volkstänze und die dafür jeweils charakteristischen Schrittfolgen, Armfassungen, Melodien, Trachten, Bräuche etc. zu archivieren und damit zu überliefern. Die Methoden und medialen Formen dieser kategorischen Archivierung sind Beschreibungen, Notationen, Skizzen, Fotografien und Videoaufzeichnungen, um nur die wichtigsten zu nennen. Gemeinsam ist ihnen in der Regel, dass sie als ›reines Abbild‹ einer Wirklichkeit begriffen werden, mit dem ein bestimmter, momentaner Eindruck quasi ›eingefroren‹ überliefert wird. Weder die Perspektive der Ausführenden noch die jeweiligen kulturellen Rahmungen der Tanzpraxis werden hier mit reflektiert. Zweitens werden innerhalb kulturwissenschaftlicher und historischer Forschungen im weitesten Sinne verstärkt Funktionalisierungen, also vor allem ideologische Komponenten sowie Formen politischer Vereinnahmung des Volkstanzes fokussiert. Drittens lassen sich verschiedene Tendenzen der künstlerischen Aneignung von Volkstänzen als praktische Erforschungen auffassen. Hierbei sind Arbeiten renommierter ChoreographInnen des Volkstanzes/der Folklore für Volkstanzgruppen und Folkloreensembles ebenso relevant 23 | Zu den Parallelen und Kontinuitäten in der Beanspruchung von Volkstanz für politische Ideologien im 20. Jahrhundert vgl. Hanna Walsdorf, Bewegte Propaganda: Politische Instrumentalisierung von Volkstanz in den deutschen Diktaturen, Würzburg 2010.
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wie Formen der Re-Ritualisierung und Wiederbelebung einstiger Volkstanztraditionen. Hinzu kommen in den letzten Jahren Formate, bei denen zeitgenössische ChoreographInnen Volkstanz kritisch bearbeiten und mitunter ironisch dekonstruieren, bezogen auf Aspekte von Gemeinschaft, Ideologie und Gender. Um diese Vielfalt an Perspektiven im Hinblick auf ein damit einhergehendes Körperwissen zu analysieren, ist die Unterscheidung zwischen gelebter und gezeigter Kultur hilfreich.24 Als gelebte Kultur lassen sich zunächst Volkstanzformen beschreiben, die in Gemeinschaften oder Gruppen zu privaten Festen, Feiern oder bei Ritualen getanzt werden, also vorrangig zur Bestätigung und Aufrechterhaltung interner Gruppenzugehörigkeiten und -identitäten. Gezeigte Kultur hingegen wendet sich an ein Gegenüber, im Sinne eines distanzierten Publikums, das nicht selbst teilnimmt, sondern dem etwas in repräsentativer Form vorgeführt wird. Dafür entwickelte Präsentationsformen, die sich im Falle von Volkstanz vor allem auf Theaterbühnen, aber auch in Stadthallen oder auf Sportplätzen finden lassen, treten vermehrt im Rahmen öffentlicher Veranstaltungen auf. Die reichhaltige Festivallandschaft ist hierbei sicher eines der prägnantesten Beispiele, wobei vielfach auch Übergänge und Überschneidungen zwischen distanzierter Beobachtung und aktiver Teilnahme zu beobachten sind. Beide Formen der gelebten und der gezeigten Kultur sind auf unterschiedliche Weise in Diskurse involviert, die auf die Gegensätze von privat und öffentlich, Mehrheit und Minderheit, Gemeinschaft und Gesellschaft, Folklore und Folklorismus usw. aufmerksam machen. Betrachtet man Volkstanzpraktiken genauer unter ihren jeweils spezifischen Rahmungen, wird augenscheinlich, dass es für die damit verbundene Wissensgenerierung nicht nur um subjektive Erfahrungen geht, sondern dass sich darin ein kulturelles Kollektivwissen abbildet. Für die wissenschaftliche Beschreibung und Analyse von Volkstanz sind die in regulativen Rahmenbedingungen, Richtlinien und Werten, sowie in Kontroll-, Reglementierungs- und Deutungsinstanzen angelegten Formen des Wissens wichtige Parameter. Dennoch ist auch die Akteursperspektive unerlässlich, um in den diskursiven Zusammenhängen kollektiver und normativer Instanzen Lücken und Widersprüche zu reflektieren, die erst in der Auseinandersetzung mit einzelnen, persönlichen Erinnerungen, Motivationen und ›Verstrickungen‹ zutage treten.25 Häufig erscheinen durch die Einbeziehung von Zeitzeugengesprächen Brüche und Kontinuitäten in einem anderen Licht. Perspektiven verschieben sich entgegen einer linearen Geschichtsschreibung der ›großen Erzählungen‹ und eröffnen Wissensressourcen, die sonst unentdeckt blieben.26 Dazu zählt insbesondere die Erfahrung der Spannung zwi24 | Vgl. Theresa Jacobs, Der Sorbische Volkstanz in Geschichten und Diskursen, Bautzen 2014. 25 | Vgl. Siegfried Schmidt, Geschichten und Diskurse. Abschied vom Konstruktivismus, Reinbek bei Hamburg 2003, S. 53. 26 | Im Forschungsprojekt »Körperpolitik in der DDR: Tanz-Institutionen zwischen Eliteförderung, Volkskunst und Massenkultur« am Institut der Theaterwissenschaft Leipzig
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schen individueller und kollektiver Körperlichkeit, die in Volkstänzen auf verschiedenste Weise generiert wird. Anders als im bloß starren, bildhaften Ornament wie etwa in Massenchoreographien oder in einer für repräsentative Vorführungen fixierten Form, geschieht dies hier weitaus häufiger flexibel, mit einer Vielzahl lokaler und individueller Differenzen, in Bewegung.
Theresa Jacobs
Zwischen staatlicher Kontrolle und künstlerischer Aneignung Zur Tanzausbildung in der DDR Nach 1945 versuchten viele Tänzer und Choreographen in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) an ihre Arbeit vor dem Krieg anzuknüpfen, was jedoch kaum mehr möglich war. Die kulturelle Infrastruktur lag brach, die meisten Auftrittsund Probenorte waren zerstört, die ehemaligen Tanzkompanien waren aufgelöst und es fehlte an Nachwuchstänzern und Pädagogen.
Abb. 8: Unterrichtsfach klassischer Tanz an der Palucca Schule Dresden, Foto: Arwid Langenpusch, © Tanzarchiv Leipzig Hinzu kam die Notwendigkeit einer ästhetischen und inhaltlichen Neuorientierung. Während die Tradition des deutschen Ausdruckstanzes beim Publikum immer weniger Anklang fand und auch von den administrativen Stellen eher wurden zum Volkstanz in der DDR auch Zeitzeugengespräche geführt. Erste Ergebnisse zu Organisations-, Vermittlungs- und Ausbildungsformen in: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften 14 (2015), hg. v. Patrick Primavesi et al., S. 9-44. Vgl. auch Dies., Tanz in der DDR: Institutionen, Formen, Akteure, Berlin 2016 (in Vorbereitung).
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zurückgedrängt wurde, hatte das klassische Ballett insbesondere der russischen Schule wieder Konjunktur. In diesem Kontext vollzog sich der Auf bau neuer Institutionen zur Ausbildung für klassischen Tanz. Anfang der 1950er Jahre entstanden insgesamt drei große Ausbildungszentren: Die Palucca Schule Dresden, die Staatliche Ballettschule Berlin und die Fachschule für Tanz in Leipzig. Die Entwicklung dieser Schulen und ihrer jeweiligen Methodik soll im Folgenden kurz skizziert werden, um dann am Beispiel von Gret Palucca Formen der Tradierung eines auf Bewegung basierenden Körperwissens nachzugehen, das sich der Instrumentalisierung und staatlichen Kontrolle weitgehend entzog.
Abb. 9: Unterricht des 9. Ausbildungsjahres klassischer Tanz an der Staatlichen Ballettschule Berlin 1985, Foto: Privatbesitz Im Rahmen eines Forschungsprojekts zum Tanz in der DDR wurde, aufbauend auf den vor allem für Dresden vorliegenden Untersuchungen,27 mit Aktenmaterial aus den verschiedenen Institutionen gearbeitet (Ausbildungszentren, Ministerium für Kultur, Zentralhaus für Kulturarbeit in Leipzig u.a.). Dazu kamen die im Rahmen 27 | Vgl. Ralf Stabel, Vorwärts-Rückwärts-Seitwärts mit und ohne Frontveränderung: Zur Geschichte der Palucca Schule Dresden, Wilhelmshafen 2001; Ralf Stabel/Peter Jarchow, Palucca. Aus ihrem Leben – Aus ihrer Kunst, Berlin 1997. Zum Tanz in der DDR siehe auch Hedwig Müller/Ralf Stabel/Patricia Stöckemann (Hg.), Krokodil im Schwanensee. Tanz in Deutschland seit 1945, Frankfurt a.M. 2003; Marion Kant, »Was bleibt? The Politics of East German Dance«, in Susan Manning/Lucia Ruprecht (Hg.), New German Dance Studies, Urbana 2012, S. 130-146; Jens Richard Giersdorf, The Body of the People. East German Dance since 1945, Madison 2013.
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des Projekts durchgeführten Gespräche mit Zeitzeugen, mit ehemaligen Tänzern und Choreographen, Schülern und Lehrern oder auch Schulleitern, um die Perspektive der Akteure miteinzubeziehen. Daraus entstand ein komplexes, oft widersprüchliches Bild, vor allem im Hinblick auf die Bedeutung kulturpolitischer Vorgaben der Regierung und den Einfluss dieser Richtlinien auf Institutionen und die Ausbildung insgesamt. Zentrale Fragen waren: Inwieweit kann von einer Profilbildung der Tanzausbildungszentren gesprochen werden? Welchen kulturpolitischen Vorgaben, Normen und Richtlinien unterlagen die Schulen und ihre Akteure, die Pädagogen, Schüler und Schulleiter? Wurden die Vorgaben des Ministeriums für Kultur an den Tanzzentren rigoros durchgesetzt oder ergaben sich dabei auch Lücken oder Freiräume für eine individuelle Tanz- und Ausbildungspraxis? Die professionelle Tanzausbildung sollte zentral an Fach- oder Spezialschulen erfolgen, die alle dem Ministerium für Kultur unterstellt waren. Die verstaatlichten Tanzschulen waren somit verpflichtet, das Ministerium laufend über die Anzahl der Studenten und Absolventen, über Veränderungen der Lehrpläne und Neueinstellungen von Personal zu informieren, ebenso über den Leistungsstand ihrer Schüler und die Arbeit ihrer Pädagogen. Die Professionalisierung der Tanzausbildung ging mit einer systematischen Institutionalisierung einher, geprägt von Disziplinierung, Normierung und weitgehender Kontrolle. Damit wurde die Tanzausbildung wie auch die Tanzkunst insgesamt auf eine ideologische Linie gebracht. 1953 veröffentlichte die Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten die »Thesen zum Realismus in der Tanzkunst«, worin die von da an geltenden Vorbilder sowie die ideologischen Forderungen an den Tanz festgelegt waren. Das klassische und nationale Erbe auf dem Gebiet der Tanzkunst ist das klassische Ballett und der deutsche Volkstanz. […] Das Studium des Kampfes um den sozialistischen Realismus im sowjetischen Ballett ist unerlässlich, um den Kampf für den sozialistischen Realismus in der deutschen Tanzkunst zu führen. Die Sowjetkunst zeigt den einzig richtigen Weg für die Weiterentwicklung der Tanzkunst. […] Der Ausdruckstanz bedeutet Abgleiten in unbegreifliche Ausdrucksformen, Unverständlichkeit, Mystizismus und folglich Formalismus. 28
Diesen Vorgaben sollte auch die Ausbildung an den Fachschulen entsprechen, was vielfach zu Konflikten führte. Gret Palucca legte in ihrem Unterricht den Schwerpunkt auf die Improvisation. Neben einer hohen technischen Leistung wollte sie ihren Schülern das Rüstzeug für ein eigenes kreatives Denken und Schaffen mitgeben. Sie formulierte ihre Überzeugung wie folgt:
28 | Tanzkonferenz am 23./24. März 1953, »Der sozialistische Realismus in der Tanzkunst«, in: Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten, HA Künstlerischer Nachwuchs und Lehranstalten (Hg.), Zur Diskussion: Realismus im Tanz, Dresden 1953, S. 75f.
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Primavesi, Schulze-Fellmann, Quent, Wehren, Jacobs, Raschel, Huschka Von Jahr zu Jahr verändern sich die jungen Menschen. Wir versuchen ja die Schüler vor allem in meinem Unterricht, dem Neuen Künstlerischen Tanz, schon von der ersten Klasse an, zu selbstschöpferischen Menschen zu erziehen. Wir wünschen uns natürlich, dass die Schüler so aus der Schule herauskommen, dass sie wirklich echte Persönlichkeiten sind. 29
Mit dieser Auffassung geriet Palucca allerdings immer wieder in Konflikt mit dem offiziellen Erziehungsauftrag, wie er auch an der Dresdener Schule verstanden wurde. Demnach sollte nach dem Vorbild der sowjetischen Ballettkunst vor allem daran gearbeitet werden, »das sozialistische Menschenbild in der Kunst zu gestalten«.30
Abb. 10: Palucca im Unterricht mit der Ausbildungsklasse 2a im November 1986, © Tanzarchiv Leipzig Palucca konnte das von ihr etablierte Fach Neuer Künstlerischer Tanz (NKT) an ihrer Schule halten, auch wenn es in der Stundenzahl immer weiter gekürzt wurde. Ihre relative Unabhängigkeit verdankte sie ihrer Popularität, die sie zu einem Aushängeschild und zu einer Vorzeigekünstlerin der DDR machte. Zwar hatte sie immer wieder in Aussicht gestellt, ihre besondere Methodik des Unterrichtens zu dokumentieren und zu verschriftlichen. Dass es dazu letztlich nicht kam, entsprach aber wohl auch dem Versuch, sich eine gewisse Freiheit zu erhalten,
29 | Ralf Stabel, »Und so wird daraus nichts«, in: Eva Winkler/Peter Jarchow (Hg.), Neuer Künstlerischer Tanz. Eine Dokumentation, Dresden 1996, S. 99-117, hier S. 109. 30 | Ebd.
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während eine systematische Festlegung eine stärkere Kontrolle und Anpassung ermöglicht hätte.31 Mit der Verpflichtung der Fachschulen für Tanz in Berlin, Dresden und später auch Leipzig auf das klassische Ballett nach sowjetischem Vorbild fand eine Verschiebung des Ausbildungsschwerpunktes statt, die keinen Raum mehr für neuen künstlerischen Tanz ließ. Mit dem Ballett nach sowjetischen Maßstäben wurde an allen drei Fachschulen der Schwerpunkt auf die klassische Tanzausbildung gelegt. Mit der Verbannung des Ausdruckstanzes von den Bühnen gab es kaum mehr Möglichkeiten zur Weiterentwicklung dieser Tanzrichtung, wie sie sich eher im Westen vollziehen konnte. Paluccas Bemühungen um den NKT an ihrer Schule prägten aber mehrere Generationen von Tanzschaffenden, vor allem durch ihre Art der Vermittlung der selbständigen Bewegungsfindung und Tanzentwicklung. Viele ihrer Absolventen, darunter Ruth Berghaus, Arila Siegert, Mario Schröder oder Irina Pauls, waren nicht nur als Tänzer erfolgreich, sondern auch als Choreographen, Opernregisseure und Tanzpädagogen.
Juliane Raschel
Tanz als kritische Erinnerungskultur Mit Blick auf die Produktion undo, redo and repeat (2014) der beiden Choreographinnen und Tänzerinnen Christina Ciupke und Anna Till möchte ich der Frage nachgehen, wie der Vergangenheit von Tanzkunst und ihrem wesentlich körpergebundenen Wissen ästhetisch ein Raum der Erinnerung gegeben werden kann. Dass es sich bei tänzerischer Erinnerungsarbeit um eine kreative Auseinandersetzung handelt, die aus der Vergangenheit neue Möglichkeiten für die Gegenwart zu gewinnen sucht, ist von Yvonne Hardt dargelegt worden.32 Darüber hinaus markiert die Frage nach der Historizität des Tanzes allererst das Verlorene als einen Verlust. Jener Verlust strukturiert, motiviert, behindert und ermöglicht die beziehungsstiftende Aneignung des Vergangenen. Wohin die Begegnung mit dem Unverfügbaren von Vergangenheit die Kunst des Tanzes führen kann, findet in der Produktion undo, redo and repeat einen differenzierten Widerhall. In ihr erforschen Ciupke und Till Strategien der Aneignung fremder Tanzstile, die fünf ästhetischen Positionen des 20. Jahrhunderts gelten und über ausgesuchte Personen mit einer engen Beziehung zu Mary Wigman, Kurt Jooss, Dore Hoyer, Pina Bausch und William Forsythe realisiert werden. Ciupke und Till fragen explizit nach Erinnerungsprozessen, die praxeologisch über die Weitergabe von Tanzwissen vermittelt, über Träger von historischem Tanz- und Körperwissen angestoßen werden und der Einsicht folgen, dass ein inszeniertes Nachleben abgestorbener Bewegungskörper geradezu unmög31 | Ebd., vgl. dazu auch Stabel, Vorwärts-Rückwärts-Seitwärts. 32 | Yvonne Hardt, »Engagements with the Past in Contemporary Dance«, in: Susan A. Manning/Lucia Ruprecht (Hg.), New German dance studies, Urbana 2012, S. 217-231.
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lich ist. Die historischen Tanzkörper selbst sind gänzlich aus der Zeit gefallen. Ein Dialog mit ihnen ist durch den konstitutiven Gegenwartsbezug, der zwischen eigenen und fremden Bewegungen vermittelt, abgeschnitten. Nur über Andere, Dritte kann er geführt werden. Womit bekommen wir es dann aber bei den Versuchen im Zeitgenössischen Tanz, sich Vergangenheit anzueignen, zu tun? Oder anders formuliert: Wie tritt das Vergangene dieser Kunst eigentlich auf? Seit Ende der 1990er Jahre und ab 2012 verstärkt durch das national eingesetzte Förderprogramm Tanzfonds Erbe der Kulturstiftung des Bundes arbeiten zahlreiche Tänzer und Choreographen an einer ›Auseinandersetzung mit dem Erbe‹. Programmatisch verlangen die Förderrichtlinien, »eine exemplarische Aufarbeitung der Geschichte des zeitgenössischen Tanzes in Deutschland« zu leisten, die »die Aktualität des modernen Tanzes offenlegt und ihn im Hier und Jetzt verankert.«33 Dabei richtet sich das künstlerisch-kulturelle Großprojekt primär darauf aus, ergänzend zu den üblichen und institutionell verankerten Verfahren der Tradierung,34 eine Aneignung solcher modernen Choreographien zu fördern, die jeweils gerade nicht zur eigenen tänzerischen Ausbildungstradition der Projektteilnehmer gehören, sondern diesen fremd sind. Die fehlende materiell verkörperte Gebundenheit des gesuchten Tanzwissens konfrontiert die körpergebundene Erinnerungstechnik des Tanzes mit eklatanten Lücken. Die raumzeitliche Distanz zum Vergangenen wird in den Produktionsprozessen in absoluter Tragweite erfahrbar. Nicht mehr auf übliche Verfahren des Wissenstransfers wie die der Übertragung von Meistern auf Schüler zurückgreifen zu können, wirft heikle Fragen nach den medialen Optionen von Tanzwissen auf. Schon vor Beginn jener Förderphase hatten europäische Choreographen Zugänge zu vergangenen Tanzperformances gesucht: Martin Nachbar mit Urheben_Auf heben (2008)35 zu Dore Hoyers Affectos Humanos (1962), Jérome Bel mit Véronique Doisneau (Ballerina der Pariser Opéra, 2006), Lutz Förster (Tanz33 | Die Konzeption des Förderprogramms Tanzfonds Erbe folgt den Statuten der UNESCO Convention for the Safeguarding Intangible Cultural Heritage. Vgl.: www.tanzfonds.de/de/ erbe vom 20.05.2016. 34 | Ein Tanzgedächtnis wird traditionell auf dreierlei Weise ausgebildet: (1) über das Körpergedächtnis der Tänzer, die Tänze und Techniken aktualisierend lehren, (2) den Stückekanon im Repertoire, mit dem das Erbe des Tanzes tradiert wird und (3) die Sammlung und Archivierung von Materialien. 35 | Exemplarisch verdeutlichen gerade diese Produktionen die Eigenwilligkeiten tänzerischer Erinnerungsarbeit. Ein konstitutiv fremdes Bewegungsmaterial von einem anderen, abwesenden Körper auf den eigenen, historisch und stilistisch different ausgebildeten Körper zu übertragen, bedeutet Tanzgeschichte aus der Differenz zu rekonstruieren und dabei der Historizität des eigenen Körpers zu begegnen. Vgl. Gerald Siegmund, »Affekt, Technik, Diskurs. Aktiv passiv sein im Angesicht der Geschichte«, in: Christina Thurner/Julia Wehren (Hg.), Original und Revival: Geschichts-Schreibung im Tanz, Zürich 2010, S. 15-26.
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theater Wuppertal, 2009) und Cédric Andrieux (Merce Cunngingham Dance Company, 2009) sowie Boris Charmatz mit 50 years of dance (2009). Ungeachtet der Differenzen in Bezug auf ihre Referenzen und Präsentationsformate, war den entstandenen Produktionen ein reflektierter und mitunter gebrochener Bezug zum Vergangenen gemeinsam. Geschichtserinnerung wurde nicht als eine wiederherstellende Arbeit von historischen Materialien angestrebt, sondern über Modi eines Reenacting, des Neuarrangierens und Wiederverkörperns erforscht. Die Art und Weise, das Vergangene zu adressieren, ging mit einem kritischen Impetus einher, der den Status des historischen Materials und der auffindbaren Archivalien von Tanz in Frage stellte.36 Auch international bedeutende Tanzkompanien begegnen der Frage, wie Tänze, Techniken und künstlerische Verfahren abgelöst von ihrer autorisierten Verkörperung vermittelt und tradiert werden können. So sieht etwa der 2009 gegründete Cunningham Trust seine Aufgabe darin, »to preserve, enhance, and maintain the integrity of that choreographic and other artistic work, and make such works available for the benefit of the public.«37 Demgegenüber setzt sich die Pina Bausch Foundation zum Ziel, »das künstlerische Erbe der großen Tänzerin und Choreographin zu bewahren, lebendig zu halten und in die Zukunft zu tragen.«38 Entsprechend verfolgen beide Institutionen konträre Praktiken: Während das Tanztheater Wuppertal das Repertoire von Pina Bausch aufführungsästhetisch pflegt und durch ein Weiterbestehen der Kompanie mit langjährigen Tänzern lebendig halten will, wurde die Merce Cunningham Dance Company 2011 nach dem Willen von Cunningham aufgelöst. Dabei betreiben beide Institutionen eine vergleichbar intensive Archivierungspraxis. Der Cunningham Trust wie auch die Pina Bausch Foundation sammeln und digitalisieren die wichtigsten Informationen, Materialien und Aufzeichnungen, um sie für eine praxisorientierte Weitergabe aufzubereiten sowie in medialen Ensembles im Netz zu veröffentlichen.39 Wissen über Choreographien generiert sich zunehmend über die Auseinandersetzung mit Dokumenten, die als qualitative Bestandteile dem Tanzwissen zugerechnet werden. Inwiefern aber sind Erfahrungen mit und inmitten eines solchen medial aufgefalteten Wissensgefüges möglich? Undo, redo and repeat entfaltet diese Frage explizit mit gleich drei Produktionsformaten – Website, Auffüh-
36 | Vgl. Sabine Huschka, »Digitale Tanzarchive? Zur Präsentation choreographischer Praxis in medialen Forschungsprojekten und Rechercheplattformen«, in: Patrick Primavesi (Hg.), Archiv/Praxis, München 2016 (in Vorbereitung). 37 | Vgl. www.mercecunningham.org/trust. Vgl. auch die Filmdokumentation Merce Cunningham 1919-2009. Tanz als Vermächtnis (F 2012, R: Marie-Hélène Rebois). 38 | Vgl. www.pinabausch.org/de/foundation/mission vom 20.05.2016 39 | Für die Arbeit des Cunningham Trust vgl. http://dancecapsules.mercecunningham. org/?8080ed; für die Arbeit der Pina Bausch Foundation vgl.: www.pinabausch.org/de/ archiv, beide vom 24.08.2015.
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rung und Installation.40 Dabei nimmt die Arbeit ihren Ausgang von einer Frage an jene Personen, die mit den ausgewählten Protagonisten des Bühnentanzes in einer engen Beziehung standen. Irene Sieben besuchte die Tanzklassen von Mary Wigman, Reinhild Hoffmann war Schülerin von Kurt Jooss, Martin Nachbar hat über seine Rekonstruktionen ein großes Wissen über Dore Hoyer gewonnen und Thomas McManus ist als ehemaliger Tänzer derzeit Ballettmeister der Forsythe Company. Weitere Befragte hatten Pina Bausch und ihre Stücke für das Tanztheater Wuppertal gesehen. Ciupke und Till leiten den Erinnerungsgang in die Geschichte mit einem Brief an diese ausgewählten »Zeitzeugen«41 ein und bitten sie, ihnen eine physische Erinnerung zu überlassen, die Du unmittelbar mit der Arbeit von … verbindest. Ein Fragment aus Deiner Erfahrung und Deinem Erlebnis als Zu-schauer/in, das Du weitergeben möchtest, damit es im heutigen Kontext erinnert wird und in der Geschichte überlebt. Das weiterzugebende Material kann spezifisches Bewegungsmaterial, ein Teil aus einem Tanz, ein Bewegungsprinzip, choreographisches Material, eine Improvisationstechnik, ein Score o.ä. sein. 42
Sieben übermittelt hierauf eine »physische Erinnerung an den Unterricht bei Mary Wigman«, in dem sie Wigmans körpertechnisches Kernmotiv des Kreisens als choreographische Figur entwirft. Nachbar stellt Ciupke und Till unter dem Titel geschüttelt und gerührt die Bewegungsaufgabe einer Eigenaffizierung inmitten eines theatralen Scores. McManus bittet Ciupke und Till, fünf Bilder zu finden und die CD-ROM der Improvisation technologies zu studieren und Hoffmann schlägt die Bitte aus, »das weiterzugebende Material in Form einer Handlungsanweisung, eines Scores oder perfor-mancedirective schriftlich festzuhalten und an uns zu übergeben«. Stattdessen möchte sie ihr Stück VOR ORT (1997)43 weitergeben. Auf der Grundlage des vermittelten Materials, der scores und Bewegungsanweisungen, erproben Ciupke und Till, flankiert durch weitreichende historische Recherchen, deren bewegungstechnische Umsetzung. Es folgt eine intensive Probenphase mit den nunmehr als Lehrer fungierenden Zeitzeugen. Die durch die Vermittler markierten Tanztechniken und choreographischen Formen werden 40 | Die Produktionsformate sind miteinander verzahnt, da die Website Ausschnitte der ausgiebigen Recherchearbeit ebenso dokumentiert wie die beiden anderen Präsentationsformate: die Installation im Heidelberger Kunstverein und die Performance an den Sophiensaelen Berlin. 41 | Ciupke und Till bezeichnen die Vermittler als Zeitzeugen, zugleich sind sie Mitwirkende der Produktion. 42 | Unveröffentlichtes Material aus der Produktion. 43 | Soloabend von Reinhild Hoffmann, Uraufführung am 28.10.1997 im Hebbel-Theater Berlin.
Archiv/Praxis
wiederholend angeeignet, wobei keine physische Angleichung gesucht wird. Wie der Titel des Projekts andeutet, schließt sich dabei ein Wiederholen (repeat) als methodisches Verfahren von Bewegungsaneignung einem redo an. Repeat steht am Ende eines erinnernden Gangs in die Tanzgeschichte. Voran geht das weitaus schlichtere redo, das eher einem imitatorisch operierenden Wiederholen gleichkommt. Beide Verfahren und Aneignungsmodi aber nehmen ihren Ausgang in einem vorgelagerten undo, einer Arbeit mit den Zeitzeugen/Lehrern, in der das Vergangene ganz im Wortsinn von ›undo‹ aufgebunden, aufgeknotet, aufgemacht und aufgetrennt wird.44 Sie fungieren als Vermittler, gewissermaßen als Nahtstellen des ästhetischen Wissens der Vergangenheit. Ihre eigene, in ihren Körpern wirkende Geschichtlichkeit des Tanzwissens tritt selbst aus einer Spannung zwischen einem Gelöschten und Geöffneten, längst zu Grunde Gerichteten und Widerrufenen ins Bewusstsein. Überführt in einen Erinnerungs- und Aneignungsprozess arbeiten Ciupke und Till genau an dem Spalt zwischen Gegenwart und Vergangenem, in dem sie den Prozess eines erinnerten Vergegenwärtigens ausspielen. Dies zeigt sich schon zu Beginn der Aufführung. Als simultaner Ablauf choreographiert, zeigen Ciupke und Till in einer lang anhaltenden Wiederholungssequenz das bewegungstechnische Grundmotiv von Mary Wigman, Drehen und Kreisen. Die Szene entwickelt sich in einem akustischen Raum, in dem die verbalen Korrekturen von Irene Sieben aus dem Probenprozess ebenso widerhallen wie eine historische Tonaufnahme von Wigman über die Prinzipien von Tanzkomposition. So entfaltet undo, redo and repeat Stationen einer brüchigen Historizität des Tanzes. Durch wechselnde Präsentationsflächen im offenen PerformanceRaum erscheint Historie als transmedial geschichteter Schauplatz des Erinnerns. Von Bildern, Schriftzügen, Tonaufnahmen oder Objekten umsäumt, zeigen die Tänzerinnen die choreographische Musterung einer Polonaise, das als Duo performte Stück VOR ORT, die Herstellung einer berührenden Szene der Angst und zuletzt eine kommentierte Improvisationssequenz. Die Differenzen zu den bewegungstechnischen Vorbildern sind augenfällig. Komponiert wird eine choreographische Reflexion über das Körperlichwerden von Vergangenheit, eingebettet in ein akustisch-visuelles Wahrnehmungsgeflecht aus Tonaufnahmen, projizierten Schriftzügen und Filmaufnahmen, die auf Tablets durchs Publikum gereicht werden. Auch die Zuschauer bekommen es mit einem Erinnerungsgang zu tun, in dem das Vergangene aufgerufen und seine Aneignung als eine Arbeit am Spalt des Vergänglichen kenntlich wird.
Sabine Huschka
44 | Undo umfasst einen breiten semantischen Bereich mit folgenden Wortfeldeinträgen: abzetteln, etwas annullieren, aufbinden, aufknoten, aufmachen, auftrennen, jemanden zu Grunde richten, etwas löschen, lösen, gelöst, etwas öffnen, geöffnet, etwas rückgängig machen, rücksetzen, trennen, etwas ungeschehen machen, widerrufen. https://www.dict. cc/?s=undo vom 31.12.2015.
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Was ist aus der Zukunft geworden? Szenarien als ideologische Instrumente der Zukunftsgestaltung Jules Buchholtz
Einleitung In dem 2013 erschienenen Sammelband zur Abschlusstagung des Sonderforschungsbereichs 447 Kulturen des Performativen setzen sich die Beiträger1 unter dem Titel Performing the Future aus performativitätstheoretischer und theaterwissenschaftlicher Perspektive mit der Zukunft auseinander. Zukünftiges sei, so die Herausgeberin Erika Fischer-Lichte in ihrer Einleitung, »weder [ausschließlich] intendiert und geplant, noch vollständig dem Zufall überlassen«, somit eine »Verschränkung von Intendiertem und Emergentem in performativen Prozessen«.2 Zwar räumt Fischer-Lichte später ein, Performativitätsforschung sei keine neue Futurologie und daher nicht in der Lage, genaue Zukunftsbilder zu entwerfen. Doch drücken sich im Titel des Bandes und der Forschungsfrage, »wie in performativen Prozessen Zukünftiges auftaucht«3, zumindest die Sehnsucht und kaum verhaltener auch das Versprechen aus, mit in der Theaterwissenschaft vertrauten Ansätzen zur Performativitätsforschung als Zukunftsforschung epistemische Aussagen über die Zukunft treffen zu können. Der im vorliegenden und den beiden folgenden Beiträgen vertretene Forschungsansatz hingegen widmet sich der Bedeutung der Theaterwissenschaft für die Zukunftsforschung in einem anderen Sinne: Er stellt das Versprechen, das Zukünftige könne Epistem der Theaterwissenschaft und diese ihrerseits Teil der Futurologie sein, in Frage. So kann es zwar durchaus Gegenstand und Auf1 | Ich verwende im Folgenden durchgehend die maskuline Form, nicht etwa, um dadurch jedes andere Geschlecht auszulassen, sondern mit ausdrücklichem Hinweis darauf, damit einzelne Lesende unabhängig von ihrer geschlechtlichen Zugehörigkeit zu meinen. 2 | Erika Fischer Lichte, »Performing the Future«, in: Erika Fischer-Lichte/Kristiane Hasselmann (Hg.), Performing the Future. Die Zukunft der Performativitätsforschung, München 2013, S. 11-23, hier S. 17. 3 | Ebd.
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gabe einer kritischen Theaterwissenschaft sein, die Inszenierungen zukünftiger Ereignisse, wie sie in Szenarien Gestalt annehmen, zu analysieren, aber nicht notwendigerweise mit dem Anspruch, Zukunft – ob nun unter dem Aspekt ihrer Kalkulation oder der Unmöglichkeit ihrer vollständigen Vorausberechnung – zu antizipieren und zu veranschaulichen, um sie dann entweder abzuwenden oder herbeizuführen. Im Gegenteil könnte die Frage zunächst lauten: Wie und mit welchen Strategien werden vermeintliche Befunde über kommende Zeiten überhaupt in Umlauf gebracht? Wenn man von der Zukunft als einem Gegenstand sprechen möchte, aus dem Erkenntnis zu gewinnen ist, und wenn man diese als Wissen bezeichnen will, das die Zukunftsforschung generieren zu können verspricht, so könnte es für die Theaterwissenschaft zum einen gelten, zu erforschen, mit welcher Absicht, welchen Mitteln und zu wessen Nutzen »Zukunftswissen« erzeugt und veranschaulicht wird, und zum anderen, wie dieses Wissen auf die Absichten derer einwirkt, die es anwenden (sollen). Konkret geht es um das Kalkül von Szenarien, die, insofern massenhaft in Umlauf gebracht, eine entscheidende Rolle dafür spielen, wie sich Gegenwärtiges mit Perspektive auf vermeintliche Zukünfte konstituiert. Szenarien bringen nicht nur fingierte Realitäten zur Darstellung, sie tun dies häufig unter Einsatz handlungsbezogener Strategien, die im Lichte von Eintrittswahrscheinlichkeit und Plausibilität weit über den Operationsradius signifikanter Praktiken hinausgehen. Peter Schwartz, einer der Wegbereiter der modernen Szenarioanalyse, hebt hervor: Scenarios are tools for helping us to take a long view in a world of great uncertainty. The name comes from the theatrical term scenario. In this context the precise definition of ›scenario‹ is: a tool for ordering one’s perceptions about alternative future environments, in which one’s decision might be played out. 4
Hinsichtlich einer hier im doppelten Wortsinn zu verstehenden Dramatisierung von Wissen, verdichtet zu Trends und schließlich zu für sicher gehaltenen Prognosen, kann das Projizieren künftiger Gegenwart in dem zunächst paradox anmutenden Vorgang bestehen, Erinnerungen an die Zukunft in Umlauf zu bringen. Ein Vorgang, der, so mein Plädoyer, mit theaterwissenschaftlichen, konkret aufführungsanalytischen Methoden ebenso kritisch betrachtet werden sollte wie Prozesse der Vergegenwärtigung der Vergangenheit. Das Antizipieren und Erinnern künftigen Geschehens, das als Quasi-Erfahrungswert auch zur Handlungsgrundlage werden kann, bildet den Ausgangspunkt für die Überlegung, dass Szenarien als durchaus mächtige Diskurselemente nicht nur der darstellenden Antizipation und dem Ausloten von Potentialitäten dienen, sondern gouvernemental zur Produktion von Zukunft wirksam werden können.
4 | Peter Schwartz, The Art of Longview. Planning for the Future in an uncertain World, New York, NY 1991, S. 4.
Was ist aus der Zukunf t geworden?
Normative und handlungsleitende Strukturen sind im Szenario nicht immer explizit. Sie drücken sich darin aus, dass sie durch die Inszenierung von noch nicht Dagewesenem, die Verdichtung vager Erwartungen und Befürchtungen sowie die Codierung semantischer Gehalte individuelle Entscheidungsleistungen beeinflussen. In Gegenwart drohender Krisen hat gerade die projizierende Veranschaulichung künftigen Geschehens, das von Unsicherheit oder Kontrollverlust geprägt erscheint, Konjunktur. In Bezug auf Ereignisse, die keine zweite Chance bieten, eröffnet die Offenlegung von Kausalverhältnissen zwischen gegenwärtigem und künftigem Geschehen einen Gestaltungsspielraum, der je nach Gravität der dargestellten Zukunft Handlungsdruck erzeugen kann. Wo Wissen aufgeführt und in ein allgemeinverständliches Format gebracht wird, wo intellektuelle Distanzen überbrückt werden, komplexe künftige Prozesse nicht beobachtbar oder zu stark von Emergenz geprägt sind, und vor allem dort, wo Krise herrscht und viele fürchten, was wenige lenken, sind die Einsatzorte szenariomatischer5 Darstellung. Nur dort, wo noch nicht gewusst wird, wie, aber dass gehandelt werden muss, kann ein Wissensvorsprung zur Herbeiführung oder Abwendung von künftigem Geschehen bzw. zum verbesserten Umgang damit nützlich sein. So arbeiten Szenarien mit einer ihrem Kalkül entsprechenden, zielführenden Darstellungsform, für die die Erbringung von Nachweisen nur bedingt erforderlich zu sein scheint, während die Erzeugung von Plausibilitäten zur Notwendigkeit wird. Szenarien verfügen also über ein performatives Potential, das – wie im Theater – darin besteht, zuvor Eingeübtes auch wieder auszuüben oder gemäß der antizipierten Zukunft entwickelte Absichten umzusetzen. Dies aber, anders als im Theater, nicht auf der Bühne oder an einem Ort, der dazu erklärt worden ist, sondern überall dort, wo die Bühne gerade nicht ist, sondern wo die eine oder andere Realität herrschen soll.
Wissenstransfer im Szenario: Vier Faktoren und ein Denkereignis An An Inconvenient Truth. A global Warning6, dem Al Gore-Film über die menschengemachte Klimaerwärmung, lässt sich besonders gut zeigen, dass eine szenariomatische Realitätsproduktion als Inszenierung der Zukunft maßgeblich von vier Faktoren getragen wird: Konsekutivität, Kohäsivität, Immunität und Af5 | Um die spezielle Anwendungsform der Inszenierung und Produktion von Realität im Szenario terminologisch zu fassen, wird der Begriff des Szenariomatischen eingeführt. Damit ist einerseits der Aspekt veranschaulichender Antizipation von Szenarien gekennzeichnet, und andererseits sind dadurch die Szenarien auszeichnenden Bewegungen der Übertragung operativen Kalküls auf ausübende Akteure und die dynamische und medial offene Form, Wissen zum Erscheinen zu bringen, angesprochen. Vgl. Jules Buchholtz, »Was ist aus der Zukunft geworden? Wissen und Wahrheit im Szenario«, Inaugural-Dissertation, Gießen 2016, S. 7. 6 | An Inconvenient Truth. A global Warning (USA 2006, R: Davis Guggenheim).
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fektivität bestimmen die Wirksamkeit dieser Kulturpraxis, deren performatives Potential sich in besonderer Weise und wie in keiner anderen Darstellungsform außerhalb des eigenen Darstellungszusammenhangs entfaltet.
Konsekutivität: Handlungsleitendes Wissen Der Begriff der Konsekutivität benennt den handlungsleitenden Aspekt des Szenarios. Indem es Wissen über eine mögliche Wirklichkeit nicht nur wiedergibt, sondern Realitäten entwirft und prämediatisiert, schafft das Szenario einen unabweislichen Bezug zu einer als wahrscheinlich deklarierten Realität, durch den die mehr oder minder zwingende Ableitung von Maßnahmen und damit die Produktion von Realität selbst avisiert wird: »A good scenario, similarly, asks people to suspend their disbelief in its stories long enough to appreciate their impact.« 7 Auf diese Weise schafft das Szenario eines künftigen Risikos dort Zukünftiges, wo eben noch Gegenwart gewesen ist. Ehe also eine Wirklichkeit unverhofft über Ahnungslose hereinbricht, werden Szenariogläubige einstweilen von einer imaginären Welle des unwirklichen Wahrscheinlichen erfasst – mit dem Effekt, sich aufgrund der Kenntnis des wahrscheinlich Wirklichen rechtzeitig zu präparieren, wie Ulrich Beck die Interdependenz zwischen künftigen Risiken und gegenwärtigen Maßnahmenkatalogen beschreibt: Wir haben es in der Auseinandersetzung mit der Zukunft also mit einer ›projizierten Variable‹, einer ›projizierten Ursache‹ gegenwärtigen (persönlichen und politischen) Handelns zu tun, deren Relevanz und Bedeutung direkt proportional zu ihrer Unkalkulierbarkeit und ihrem Bedrohungsgehalt wächst. Und die wir entwerfen (müssen), um unser gegenwärtiges Handeln zu bestimmen und zu organisieren. 8
Kohäsivität: Massendynamisierendes Wissen Ein Szenario stellt für alle, die das darin gezeigte Zukunftswissen, mithin die vergegenwärtigte und aus der Zukunft in die Gegenwart eingeholte Realität für wahrscheinlich halten, denselben Horizont dar. Kohäsivität benennt den verbindenden und massendynamisierenden Effekt einer Darstellungspraxis, die anhand eines schon vorhandenen oder durch szenariomatische Darstellung produzierten Problemfeldes einen gemeinsamen, identischen Ereignishorizont entwirft. In der Integration der Rezipienten als potentielle Akteure in einen miteinander geteilten Ereignishorizont verbindet beispielsweise das Szenario von An Inconvenient Truth Einzelne zu Gruppierungen, Kollektiven und sogar Schicksalsgemeinschaften.
7 | Schwartz, Art of Longview, S. 37. 8 | Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986, S. 44.
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Immunität: Virulentes Wissen Szenarien, vor allem die des schlimmsten Falls, immunisieren gegenwärtiges Handeln gegen das Risiko der Fehlentscheidung, noch ehe gehandelt wird. Die vor allem gegenüber nicht entscheidungsberechtigten Betroffenen oft gehörte rationalistische Losung, trotz bekannter Gefahren so und nicht anders handeln zu können, lässt sich von den Betroffenen besser vertreten, wenn der Entscheider glaubhaft machen kann, dass er die Folgen seines Tuns kennt und das, was er zu wissen meint, mit dem in Einklang zu bringen sucht, was er zu können hofft. So auch Niklas Luhmann: Mit dem Risikobegriff wird gewissermaßen korrigiert, so wie in anderer Weise auch mit der neuerfundenen Wahrscheinlichkeitskalkulation. Beide Konzepte scheinen garantieren zu können, daß man es auch dann, wenn etwas schiefgeht, richtig gemacht haben kann. Sie immunisieren das Entscheiden gegen Mißerfolge. 9
In Bezug auf Szenarien ist der Begriff der Immunisierung aber auch noch in einer zweiten Hinsicht von Belang. Szenarien, die künftige Schadensfälle vergegenwärtigen, immunisieren gegen das Schädliche, Kontagiöse und Unheilvolle auch in der Form, dass sie die Adressaten mit der imaginierten Katastrophe gegen die reale unempfindlich machen sollen: »No matter what future takes place, you are much more likely to be ready for it – and influential in it – if you have thought seriously about scenarios.«10 In Steven Soderberghs Film Contagion11 wird der Eintritt eines globalen Ausnahmezustands in Form der Ausbreitung eines tödlichen Virus illustriert. Während Medizin und Wissenschaft fieberhaft daran arbeiten, das Virus in Schach zu halten, sind Politik und Militär damit befasst, die außer Kontrolle geratene Bevölkerung zu bändigen. Damit beschreibt der Film den Versuch, die Körper vieler Einzelner sowie den aus Vielen zusammengesetzten Körper einer Nation vor einem viralen Angriff von außen zu sichern.12 Die Bedrohung von außen besteht im Fall eines Virus aber gleichzeitig in einer Bedrohung von innen, insofern jedes einzelne Leben, nur indem es lebendig ist und infiziert sein könnte, die Bedrohung aller anderen darstellt. Gegen eine solche Bedrohung existiert kein Schutz; man kann ihr gegenüber lediglich unempfindlich, also gegen sie immun sein. Unter der Prämisse, dass im Kampf um die Sicherheit aller, jeder einzelne Körper zum potentiellen Gegner wird, lässt sich Contagion also in die Aktivierung 9 | Niklas Luhmann, Soziologie des Risikos, Berlin 2003, S. 21. 10 | Schwartz, The Art of Longview, S. XIV. 11 | Contagion (USA/UAE 2011, R: Steven Soderbergh). 12 | Philipp Schulte beleuchtet dieses Unterfangen in Bezug auf An Inconvenient Truth in seinem Beitrag genauer; vgl. »›Dramas of Desaster‹. Zur Melodramatik des Szenariomatischen« im vorliegenden Band.
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künftiger, biopolitisch relevanter Bedrohungslagen einreihen; oder, wie Isabell Lorey schreibt, in die Liturgie »unentwegt beschworener Bedrohung«, die den »gesunden Körper« einer Nation gefährdet.13 Für Lorey ist die Gleichsetzung eines gesunden Körpers mit dem aus vielen zusammengesetzten, vor äußeren Bedrohungen zu schützenden Körper eines Staates oder einer Nation der Ausgangspunkt für ihre Überlegungen zu Strategien politischer Immunisierung. An deren Umsetzung ist die szenariomatische Vorausschau maßgeblich beteiligt: Contagion zeigt die Beherrschung einer Bedrohung durch Immunisierung und wirkt zugleich selbst als immunisierende Infektion, indem eine Schicksalsgemeinschaft imaginär mit jener Katastrophe konfrontiert wird, die sie zusammenhält. Durch die Installation identischer Erwartungshorizonte dort, wo keine alternativen Entwürfe auf der Basis persönlicher Erinnerungen existieren, erfolgt die Gleichsetzung von szenariomatisch vermittelten Wissensbeständen und kollektivierten Erwartungshorizonten.
Affektivität: Emotional codiertes Wissen Szenarien können ihre Adressaten in eine je anvisierte, erhöhte emotionale Erregbarkeit versetzen, wenn semantische Gehalte durch illustrierende, spektakuläre oder emotionsintensive Darstellung entsprechend aufgeladen und konträr zur wissenschaftlichen Praxis versachlichender Deskription codiert werden. In An Inconvenient Truth vermengt Al Gore die Theorie anthropogener Klimaerwärmung mit der melodramatischen Inszenierung seiner eigenen moralischen Verpflichtung gegenüber allem Leben. Gores messianische Botschaft trägt zwar nicht dazu bei, diese Theorie zu beweisen, sehr wohl aber stellt sie ein aufrichtig und daher glaubwürdig erscheinendes Motiv desjenigen dar, der diese Theorie vertritt. An die Stelle eines Beweises tritt eine Form der Wahrheit, die dasselbe Ziel hat, wie es eine Beweisführung hätte, nämlich die Überzeugung der Adressaten.
Das Denkereignis im Szenario Konsekutivität, Kohäsivität, Immunität und Affektivität bilden die Basis einer Erscheinungsform von Wissen im Ereignis, die in An Inconvenient Truth zu beobachten ist. Der Film stellt wegen seines Anspruchs, eine Wahrheit zu verbreiten, eine moderne Apokalypse dar, die sich innerhalb völlig unterschiedlicher Lebenskontexte jeweils als bedeutsam ausnimmt, weil sie alles Leben, das derzeit CO2 emittiert, in das Kausalverhältnis einbezieht, das der Theorie nach zwischen der Bedrohung und ihrer Ursache besteht. Aber auch der szenariomatische Wissenstransfer selbst erfolgt ereignishaft: Indem jeder Rezipient im gleichen Moment 13 | Isabell Lorey, Figuren des Immunen. Elemente einer politischen Theorie, Zürich 2011, S. 270. Frank Max Müller wird dies in seinem Beitrag vertiefen; vgl. »Mehr Leben! Christoph Schlingensiefs Kirche der Angst vor dem Fremden in mir als Theater der Anerkennung« im vorliegenden Band.
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über dieselbe Zukunft Kenntnis gewinnt, werden die Wissensbestände aller Rezipienten zur selben Zeit aktualisiert und die Erwartungshorizonte jedes einzelnen in Bezug auf ein künftiges Ereignis der Bedrohung synchronisiert. Die Übertragung einer als zukunftsentscheidend geltenden Information geschieht also in Form eines Denkereignisses, deren Zeugen als demnächst handeln müssende Akteure in eine künftige Wirklichkeit eingeschaltet werden.
Erinnerungen an Noch-Nicht-Geschehenes: Gegen das Ideologem der Zukunft Da handlungsbezogene Antizipation nur unter der Voraussetzung Sinn haben kann, dass zuvor Eingeübtes in einer konkreten Situation angewendet und ausgeübt wird, kann die Antizipation mit Szenarien als Erzeugung von Erinnerungen an die Zukunft gedeutet werden. Dass diese Einschreibung nicht unbedingt erfahrener, aber antizipierter und symbolisierter Verläufe in Gestalt von Erinnerungen an die Zukunft Konjunktur hat, zeigt sich unter anderem darin, dass das Contagion-Szenario vom weltweit größten Rüstungskonzern Raytheon als Quasi-Erfahrung herangezogen wird, um für ein Notfallkommunikationssystem zu werben. Auf der Internetseite des Konzerns heißt es in einem Werbefilm: »From movies like Outbreak and Contagion to recent real-life headlines the fear of a national or world-wide medical emergency, natural or terror-related becomes more real every day.«14 Nicht nur wird der Film zur Quelle valider Daten in Bezug auf den Verlauf einer Pandemie, er wird auch benutzt als Ursprung nicht persönlich gemachter, aber doch dafür gehaltener Erfahrungswerte. Erinnerungen an die Zukunft dieser Art bilden auf den vielen Wegen der Massenverbreitung ein gemeinschaftliches Ressort von Erinnerungen, die Viele betreffen, aber keinem gehören. So offen das Verfahren szenariomatischer Realitätsproduktion ist, so ideologieanfällig ist es auch, wenn es sich auf die Zukunft bezieht und damit auf einen ohnehin ideologisch höchst aufgeladenen Gegenstand, wie auch Simon Critchley betont: Allow me a final word on the future. I’m against it. I think we have to resist the future, I mean resist the idea of the future, which is the ultimate ideological trump card of capitalist narratives of progress. […] Capitalism is an evil that presents itself as inevitability, as a destiny to whom the future by necessity belongs.15
Szenarien, die als Handlungsanleitung herangezogen werden, können, wenn sie mehr als einem Unterhaltungszweck dienen sollen, nur Sinn haben, wenn das 14 | Raytheon Trusted Computer Solutions. Information Sharing Solutions. WebShield. www.youtube.com/watch?v=wM9f-cAXEwI/ vom 02.11.2015. 15 | Simon Critchley, »Is Utopianism dead?«, in: The Harvard Advocate, Winter 2011, www.http://theharvardadvocate.com/article/174/is-utopianism-dead/ vom 18.05.2016.
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Dargestellte zum Zweck der späteren Anwendung auch erinnert wird, weswegen sie sich gut dazu eignen, Potentialitäten auszuloten. Im Umfeld entsprechender »Herausforderungen« der Zukunft, wie etwa dem Krieg gegen den Terror, der Genese von Superviren, zunehmender Ressourcenknappheit, der Notwendigkeit von Datenspeicherung und -vernetzung etc., kann ein Szenario die Erzeugung entsprechender Absichten verstärken und individuelle Entscheidungsleistungen beeinflussen. Aufgeladen durch die Suggestionskraft und Bedeutsamkeit, die der Begriff der Zukunft entfaltet, bilden Erinnerungskulturen der Zukunft jene diskursaktiven und gouvernemental wirksamen Instrumente, die den einen oder eben ganz anderen Weg in eine künftige Realität ideell und operativ ebnen. Die drei hier versammelten Beiträge sind daher auch ein Einwand gegen die Idee einer Zukunft, die nur auf technokratischem Wege und durch in Technologie überführtes Wissen bestreitbar erscheint, gegen die Vereinheitlichung singulären Entwerfens und gegen die Deutungshoheit darüber, was die Zukunft bringen soll. Was durch die Antizipation von Zukunft eingehegt und zum Verschwinden gebracht wird, ist nichts weniger als das Ereignis der Zukunft selbst, das in der antizipierenden Vorwegnahme die Bedingungen seiner eigenen ›Hinwegnahme‹ stellt, indem es sich der Signifikanz des Unerwarteten entledigt, weil nicht jede potentielle Zukunft tatsächlich auch Geschichte wird. Szenarien sind Echos einer Zukunft, die die Gegenwart mit ihren Mythen in Schach hält. Versehen mit einem Anspruch auf Wahrscheinlichkeit und im Licht von Glaubwürdigkeit und Plausibilität eröffnen Szenarien einen tatsächlichen Handlungsspielraum, der Entscheidungen zwischen Wissen und Glauben, Hadern und Hoffen, Unterlassen und Handeln erzwingt, weil nun über den Ausgang des Spiels nicht mehr die Fortune entscheidet, sondern eine gute Taktik. Die Episteme des Theaters, so möchte ich zusammenfassen, sind von den Praktiken szenariomatischen Darstellens besonders betroffen. Es muss daher aber nicht notwendig der Anspruch theaterwissenschaftlicher Forschung sein, sich an der Produktion von »Zukunftswissen« in einem der Futurologie affirmativ entsprechenden Sinn zu beteiligen. Im Gegenteil: Es kann und sollte, vielleicht gerade da es um künftige, zu gestaltende oder zu steuernde Realitäten mit Ausgangspunkten im Gegenwärtigen zu tun ist, Aufgabe einer entsprechend kritisch formulierten Theaterwissenschaft sein, diese Erinnerungskulturen der Zukunft genauso sorgfältig zu beleuchten, wie sie es in Bezug auf Erinnerungskulturen des Vergangenen bereits tut. Aus Vergangenem, dessen Repräsentation und Interpretation lässt sich jeder Anspruch und jedes Recht auf Zukunft ableiten. Repräsentationen des Vergangenen bilden die Legitimation von Schürfrechten an der Gegenwart, also auch von weniger spatial denn temporal gedachten Absichten der Kolonisierung von Zukunft im Sinne des Schreibens künftiger Geschichte. Daher möchte ich dafür plädieren, den Versuchen szenariomatischer Kontingenzminderung und den Manövern der Abschaffung des Unerwarteten, wie sie die Futurologie betreibt, durch ein dem Theater entlehntes Wissen zunächst mit etwas weniger Enthusiasmus zu begegnen.
›Dramas of Desaster‹ Zur Melodramatik des Szenariomatischen Philipp Schulte
Szenario und Melodram Im vorangehenden Text »Was ist aus der Zukunft geworden? Szenarien als ideologische Instrumente der Zukunftsgestaltung« beschreibt Jules Buchholtz Wirkungsweisen einer Kulturpraxis des Szenariomatischen anhand von vier Faktoren: der Konsekutivität, der Kohäsivität, der Immunität und Affektivität. Der hier folgende Beitrag möchte diese vier Wirkungsweisen einerseits an einem probaten Beispiel – dem dokumentarisch angelegten Film An Inconvenient Truth1 von und mit Al Gore aus dem Jahr 2006 – veranschaulichen und sie andererseits in Verbindung bringen mit einigen Darstellungskonventionen des theater- und filmhistorischen Genres des Melodrams. Es geht darum, exemplarisch aufzuzeigen, inwiefern das Szenariomatische auf ästhetischer wie auch politischer Ebene mit einem Instrumentarium des Melodrams operiert. Dass es sich bei An Inconvenient Truth um ein Szenario par excellence handelt, soll im Folgenden anhand der Analyse einzelner Szenen weiter ausgeführt werden. Die vier Szenario-Faktoren lassen sich auf den Film anwenden: Er hat konsekutiven Charakter, da er sich mit quasi-dokumentarischen Äußerungen auf eine, ›unserer‹ Gegenwart angeblich unmittelbar folgenden bedrohlichen Zukunft bezieht. Er arbeitet mit Emotionalität, etwa durch Übertreibung und Visualisierung. Der Film operiert mit einer Idee der Immunität, indem er kleine Dosen des Zu-BefürchtenStehenden verbildlicht, so verabreicht und dadurch den Eindruck erweckt, man könne sich mit seiner Hilfe – und nur mit ihr – auf Kommendes vorbereiten. Und der Film stiftet auf diesem Weg kohäsiv eine bestimmte Form der Gemeinschaft, in diesem Fall gar eine globale, die auf der Angst vor Zukünftigem beruht.
1 | Vgl. An Inconvenient Truth. A Global Warning (USA 2006, R: Davis Guggenheim). Die nachfolgenden Timecode-Angaben beziehen sich auf die deutschsprachige DVD-Veröffentlichung aus dem Jahr 2009.
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Zunächst dient der Szenariofaktor der ›Affektivität‹ als Ausgangspunkt für die nachfolgenden Überlegungen zur These, dass szenariomatischen Inszenierungsformen in ihrer Machart und Wirkung etwas eigen ist, das mit einem traditionellen literatur- und theaterwissenschaftlichen Begriff als ›das Melodramatische‹ bezeichnet werden könnte. Dies hängt mit einer, nach Robert B. Heilman2 für das Melodramatische typischen monopathischen Wirkungsweise zusammen: mit der Eigenart, auf verschiedenen Ebenen der Darstellung nur ein einziges Sentiment zu erzeugen. Daher sollen zunächst einige Grundzüge der von Heilman vorgenommenen Unterscheidung zwischen dem Tragischen und dem Melodramatischen erinnert werden. Dann werden vier wesentliche Faktoren des Melodramatischen erläutert und anhand von An Inconvenient Truth veranschaulicht. Anschließend werden im Rückgriff auf Buchholtz die Faktoren des Melodramatischen in gebotener Kürze mit den vier Szenariofaktoren verknüpft.
Das Tragische und das Melodramatische Zwischen 1960 und 1990 sind zahlreiche Publikationen über das Melodramatische erschienen. Trotz aller Unterschiedlichkeiten fällt es dennoch nicht schwer, einige übereinstimmende Merkmale und Darstellungsweisen des Melodramatischen herauszuarbeiten, dessen wichtigstes Merkmal eine tautologische Informationsvergabe ist: der Einsatz überdeutlicher Plausibilisierung zur Erweckung des Scheins unzweifelhafter Endgültigkeit. An dieses Merkmal knüpft auch die grundlegende These Heilmans an, der zufolge sich das Melodramatische vom Tragischen durch die komplette Abwesenheit jeglichen inneren Konflikts unterscheide. Der tragischen Zerrissenheit – von Subjekten, Gemeinschaften – stehe im Melodram in der Regel eine katastrophische Störung von außen gegenüber, die hinsichtlich ihrer Fatalität über jeden Zweifel erhaben sei. Was dem Melodramatischen vollständig abginge, sei die unüberbrückbare Teilung des tragischen Konflikts, die zugleich Grundlage menschlicher Selbsterkenntnis sei, denn sie erfordere (und ermögliche) die Entscheidung, die Wahl und die Wahrnehmung des Potentiellen. Im melodramatischen drama of desaster dagegen bleibe nur die alternativlose Hinwendung zur bedrohlich gezeichneten Aktualität der Katastrophe. Die desaströse Idee, dass alles Schlimme von außen käme, ließe uns in dem Irrglauben, unter normalen Umständen wären die Welt und das Subjekt in bester Ordnung. Während literarische und theatrale Formen des Tragischen im unentwegten Umkreisen des Unlösbaren zeigen, wie wenig greif bar innere Konflikte des Subjekts sind und doch die conditio sine qua non seiner Existenz, dient die melodramatische Äußerung viel eher dazu, das eigentlich Ereignishafte einer Katastrophe einzuhegen und zu symbolisieren. Das szenariomatische Gefühlsereignis von Ganzheit strebt danach, potentiell reale Ereignisse zu kontrollieren. 2 | Vgl. Robert B. Heilman, Tragedy and Melodrama. Versions of Experience, Washington 1968.
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Das Melodramatische in An Inconvenient Truth Bei den vier Merkmalen des Melodramatischen, die hier im Anschluss an Heilman vorgestellt werden, handelt es sich vor allem um jegliche Formen der Verklärung von Vergangenheit, des Weiteren um das Merkmal der Monopathie sowie damit zusammenhängend, um die Konstruktion einer äußeren, großen Bedrohung und schließlich um die Selbst-Viktimisierung von Subjekt und Gemeinschaft, die sich auf dieser Grundlage bilden. Im Melodramatischen wird oft mit der Schilderung eines ›heilen‹, schönen Damals operiert, das als Zeit einer »durch keine Sonderinteressen gespaltenen ›Gemeinschaft‹«3 vorgestellt wird. Vor allem im 19. Jahrhundert verfasste melodramatische Texte pflegen diese »nostalgische Rückerinnerung an [oft] ländliche Lebensformen«4 vor dem Hintergrund der Industrialisierung und der mit ihr einhergehenden Landflucht in Städte, die vom aufkommenden Pauperismus geprägt sind. Auch Gore kommt in seinem Film ohne diesen Bezug auf eine vermeintlich bessere Vergangenheit in Form unversehrter Idyllen nicht aus. Im Gegenteil, sein Film beginnt gleich damit und zwar in einer typisch melodramatischen, gleichschaltenden Überlagerung von Bild, Geräusch und Sprache: Die erste Sequenz des Films: Eine ruhige Musik erklingt, die Kamera zeigt Bäume mit grünen Blättern, die am Ufer eines Flusses mit gemächlicher Strömung stehen; es ist Sommer, Vögel zwitschern. In langsamen Kameraschwenks wird das Gewässer abgefilmt, der Fluss fließt bildlogisch ›rückwärts‹, von rechts nach links; die Kamera folgt dieser Bewegung. Dazu ertönt Gores nachdenkliche Stimme: ›You look at that river, gently flowing by. You notice the leaves rustling with the wind. You hear the birds. You hear the tree frogs. In the distance, you hear a cow. You feel the grass. The mud gives a little bit on the river bank. It’s quiet. It’s peaceful. And all of a sudden, it’s a gear shift inside you. And it’s like taking a deep breath and going, [Seufzen] ›Oh, yeah, I forgot about this.‹ 5
Gleich zu Beginn werden Bilder eines ›heilen Urzustands‹ herauf beschworen. Die Stimme beschreibt die Szene als unmittelbares Erlebnis einer Situation, an die man sich erinnert, nachdem man sie schon ›lang vergessen‹ hatte. Der Text beschreibt, was das Bild zeigt, die Musik unterstützt die ruhige Stimmung der Sequenz. Sie geht über in eine Aufnahme der Erde aus dem Weltall – der, wie sich später herausstellen wird, ersten Fotografie des ›ganzen‹ Planeten, die ihn bekanntlich in Form einer scheinbar gleichmäßigen Kugel zeigt. Auf diese Weise steht die Idee eines besseren, wieder herzustellenden Urzustandes in enger Verbindung mit dem melodramatischen Grundsentiment der ›wholeness‹. 3 | Johann N. Schmidt, Ästhetik des Melodrams. Studien zu einem Genre des populären Theaters im England des 19. Jahrhunderts, Heidelberg 1986, S. 133. 4 | Ebd., S. 261. 5 | An Inconvenient Truth, Timecode 00:00:22-00:01:21.
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Diese Monopathie spielt sowohl auf der Ebene der Gemeinschaft eine Rolle, als auch auf der des Subjekts, das durch Al Gore selbst verkörpert wird. Die Bilder der Erdkugel dienen zur Erzeugung des Eindrucks einer ursprünglichen Ganzheit, die verloren gegangen ist. Visualisierungen dieser Einheit und kugeligen Ganzheit prägen vor allem die erste Hälfte des Films, unterstützt von entsprechenden sprachlichen Äußerungen: ›Wir‹ sind eins, ›wir‹ gehören zusammen, ›wir‹ auf ›unserer‹ perfekt geformten Kugel, auf die ›wir‹ gut aufpassen müssen usw.
Abb. 1: An Inconvenient Truth. A Global Warning (USA 2006, R: Davis Guggenheim), 00:04:39, 00:04:46, 00:05:27, 00:05:25 Diese Tendenz wird mit Fotos und Sequenzen kontrastiert, die bereits auf die von Gore intendierte Beschreibung eines Katastrophenszenarios hinweisen. Der Globus zerbricht buchstäblich: Eisberge fallen auseinander; Häuser fallen Erdbeben zum Opfer.
Abb. 2: An Inconvenient Truth. A Global Warning (USA 2006, R: Davis Guggenheim), 00:16:46, 00:41:45
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Das Ideal der Vollständigkeit und die Bedrohung durch ihren Bruch bedingen sich gegenseitig. Bereits der einfache Konflikt zwischen den beiden Extremen kann eine monopathische Grundstimmung vorbereiten. Heilman betont ausdrücklich, dass sich nicht nur triumphale, sondern auch und gerade schwere Gefühle für eine Monopathie eignen: Schwermut, Trauer, Weltschmerz, Sorge, Angst. Wichtig ist vor allem, dass sich die Zuschauer in der »Stimmungsaura der ästhetischen Illusion gut aufgehoben fühlen«6 und nichts die Einheit des emotionalen Effekts stört. Zudem soll das, was die dargestellten Figuren und die Situationen, in denen sie sich befinden, ostentativ zu fühlen vorgeben, möglichst identisch mit den Gefühlen sein, die bei den Zuschauer_innen erzeugt werden sollen. Auf diese Weise kann jenes Gemeinschaftsgefühl gestiftet werden, auf das es melodramatischen Darstellungsweisen ankommt.
Abb. 3: An Inconvenient Truth. A Global Warning (USA 2006, R: Davis Guggenheim), 00:01:54, 00:01:58, 00:02:03, 00:02:05 Was für das ›Wir‹ auf der symbolischen Ebene der Bilder gilt, gilt entsprechend auch für den Protagonisten des Films, Gore, der als Gewährsmann für das gezeigte Material und Identifikationsfigur für sein Publikum fungiert. Immer wieder findet der Film Gelegenheit, Gores Stationen im Kampf gegen Global Warming mit Stationen seiner Biographie zu verknüpfen, die durch etliche persönliche Rückschläge geprägt war. Diese hätten ihn stärker werden lassen, so Gores unentwegte Selbststilisierung. All das habe ihm klar gemacht, was seine Aufgabe sei, so formuliert Gore die im Film gleich mehrfach zur Sprache kommende Pseudokonsequenz aus den geschilderten Erlebnissen. Gores biographische Erfahrung, veranschaulicht mithilfe einschlägiger Fernsehbilder, wird inszeniert als Kampf 6 | Vgl. Heilman, Tragedy and Melodrama, S. 299, [Übers. P.S.].
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des melodramatischen Helden gegen eine übermächtige Bedrohung, gegen erlittenes Unrecht und großes Leid. Diese Konstellation führt direkt zum nächsten Grundzug melodramatischer Darstellung, der in der Konstruktion einer externalisierten Bedrohung besteht. Die Klarheit, die Gore durch seine Niederlagen gewonnen habe, gründe sich auf das Faktum, dass er nun wisse, wer seine Gegner seien. Er macht sie in den Leugnern einer globalen Erderwärmung aus. Ihm gelingt der Trick, für ein so abstraktes Phänomen wie Global Warming klare Repräsentanten zu figurieren, in denen er seine Antagonisten findet. Gore inszeniert sich als Kämpfer gegen das Unrecht, das eine herrschende politische Klasse sät. Sein größter Opponent ist naheliegender Weise George W. Bush, der im Rahmen des Films nicht als Repräsentant der anderen Seite des radikal geteilten US-amerikanischen Parteiensystems fungiert, sondern vielmehr als zu bekämpfende Naturkatastrophe inszeniert wird, in rascher Bildfolge abwechselnd mit Abbildungen des Hurricanes Katrina und Vergrößerungen des Ebola-Virus. Die Bedrohungen für den Einzelnen sind vielfältig und kommen immer von außen. Der Konflikt spielt sich zwischen Menschen und ihren Umgebungen ab, niemals innerhalb des Subjekts ›Al Gore‹, das mit sich selbst im Reinen ist.
Abb. 4: An Inconvenient Truth. A Global Warning (USA 2006, R: Davis Guggenheim), 00:08:31, 00:43:40, 00:44:10, 00:10:28 Auch die Bedrohung für die hier inszenierte Gemeinschaft kommt von außen, ikonisch dargestellt als Strahlung aus dem Weltall oder wahlweise auch als grüne Zeichentrick-Schurken. Nur wenige Minuten verwendet der Film hingegen, um menschliches Verhalten, also ein tatsächliches Selbstverschulden, als Ursache für die drohenden Probleme auszumachen. Doch auch hier bleibt das ›Wir‹ heil und ungebrochen, auch hier wird das Verschulden externalisiert und auf die ›oil- and gaslobby‹ und ihre Konzerne abgeschoben – womit wiederum ein altbekannter
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Antagonist aus der melodramatischen Literatur des 19. Jahrhunderts bemüht wird, nämlich der ausbeutende Fabrikbesitzer.
Abb. 5: An Inconvenient Truth. A Global Warning (USA 2006, R: Davis Guggenheim), 00:09:01, 01:14:00 Diese Externalisierung der Bedrohung ist Grundbedingung für eine Form der unweigerlichen Selbststilisierung als Opfer, und zwar abermals auf der Ebene des Individuums einerseits und andererseits auf der der Gemeinschaft. Die Schwäche des Helden angesichts einer Übermacht der Bedrohung ist genretypisch für melodramatische Stoffe, denn an der Rechtschaffenheit seines Handelns sollen keine Zweifel aufkommen. Letztlich geht es wirkungsästhetisch um die Erzeugung von Mitleid. Die Logik der von außen hereinbrechenden Katastrophe im drama of desaster macht uns Betroffene, die angehalten sind, sich mit den Betroffenen in der Darstellung zu identifizieren, zu Opfern und lässt uns auf diese Weise zugleich schuldlos erscheinen. Bei Gore wird diese Selbststilisierung zum Opfer durch eine hartnäckige Monokausalität in seiner Argumentation bewirkt.
Abb. 6: An Inconvenient Truth. A Global Warning (USA 2006, R: Davis Guggenheim), 00:31:32, 00:31:37, 00:31:43, 00:59:48
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So gibt es kaum etwas, das im Verlauf des Films nicht direkt oder zumindest indirekt auf Global Warming zurückgeführt wird: die Gletscherschmelze, die Flutkatastrophe von New Orleans, die in den USA sehr präsenten Konflikte in Darfur, Infektionskrankheiten wie Ebola, SARS und Tuberkulose, das Eisbärensterben, aber auch terroristische Angriffe wie 9/11. Die zunächst abstrakte Bedrohung durch Global Warming wird zur Ursache für medial vielfach konkretisierte, weltweite Probleme. Die ganze Menschheit wird zum Opfer. Gore entwirft ein melodramatisches, weil alternativloses Szenario, das jegliche tragische Komponente, denn Tragik entsteht nur durch die Möglichkeit einer Entscheidung, ausblendet. Die Rettung der Erde ist alternativlos. Dazu, wie dies jedoch vonstattengehen soll, gibt es in An Inconvenient Truth keine konkreten Vorschläge. Zu dieser Alternativlosigkeit gesellt sich indes ein zweiter Faktor, der eine Selbst-Viktimisierung vorantreibt. Gores Film fällt durch eine verblüffende Abwesenheit von Lösungsvorschlägen für das gezeichnete Problem auf. Was nach der Lektüre des Films bleibt, ist das durchaus als melodramatisch zu bezeichnende Gefühl, es sei nun an der Zeit, endlich etwas zu unternehmen: Szenario und Melodram sind in ihrem Kern agitatorisch, indem sie Bedrohung, Feindbild und Richtung vorgeben, aber unkonkret in Bezug auf den richtigen Weg zur Bekämpfung der Katastrophe. Denn ein solcher Vorschlag würde die inszenatorisch erreichte Einheit der Zuschauergemeinschaft tendenziell wieder aufs Spiel setzen.7
Das Melodramatische und die vier Szenariofaktoren Abschließend sei noch auf Überschneidungen der hier erörterten Merkmale des Melodramatischen mit den Szenariofaktoren hingewiesen, die Buchholtz dargelegt hat. So drehen sich also sowohl melodramatische Tendenzen der Vergangenheitsverklärung als auch der konsekutive Charakter einschlägiger Szenarios um eine bestimmte Zeitlichkeit. Das drama of desaster hat fast immer einen, zumindest hypothetischen Zukunftsbezug. Was in der Inszenierung durchgespielt wird, könnte in naher Zukunft so passieren. Szenarios können somit als Melodramen des vermeintlich Zukünftigen bezeichnet werden. Emotionalitäten, die im Szenario wie auch im Melodram einerseits dargestellt und andererseits erzeugt werden sollen, können in der Regel als monopathisch bezeichnet werden. Innere Zerrissenheit und Entscheidungsunsicherheiten werden durch eine Quasi7 | Dass zudem tatsächlich revolutionäre Ansätze in der symbolischen Repräsentation jeweils (noch) keinen Platz haben, zeigt Oliver Marchart, der sich ebenfalls mit dem Melodramatischen auseinandersetzt: Die revolutionäre Äußerung besäße »im strikten Sinn keine genaue Verortung im Feld der Repräsentation, weil sie sich im Zeitloch zwischen dem Alten und dem Neuen entfaltet«. Oliver Marchart, »Auf der Bühne des Politischen. Die Straße, das Theater und die politische Ästhetik des Erhabenen«, http://republicart.net/disc/ publicum/marchart03_de.htm, vom 21.04.2016.
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Ganzheit ersetzt. Dabei übernimmt die Monopathie eine vereinheitlichende Ordnungsfunktion, welche sich nur gegenüber einem Äußeren, einem Anderen etablieren kann.8 Zu diesem Äußeren pflegen das monopathische Subjekt und die monopathische Gemeinschaft ein Verhältnis der Impfung, übrigens durchaus im Sinne Roberto Espositos, auf dessen Ausführungen zu Immunität, Kommunität und Biopolitik am Ende dieses Textes hingewiesen sei. Indem man sich die im Außen verortete und als Außen inszenierte Bedrohung in kleinen Dosierungen verabreicht – zum Beispiel indem man sich über sie informiert, dafür betet, dass die Menschen sich ändern, Filme wie An Inconvenient Truth anschaut und weiterempfiehlt –, besteht die Möglichkeit, sich gegen die Bedrohung zu immunisieren. Zumindest steht dieses Versprechen im Raum. Esposito erinnert indessen an den Zusammenhang zwischen Immunem und Kommunem: »Das Immune ist nicht einfach vom ›Kommunen‹ unterschieden, es ist sein Gegenteil – das, was es derart entleert, daß nicht nur seine Wirkungen, sondern seine Voraussetzungen selbst komplett ausgelöscht werden.«9 Die Immunisierung, bei Esposito ein Grundparadigma der Moderne, opfert Fragen und Debatten über die mögliche Form des Lebendigen scheinbar alternativlosen Notwendigkeiten, ein rein biologisch begriffenes Überleben zu sichern. Auf der Ebene von Kohäsivität wird auf diese Weise also eine Art Schicksalsgemeinschaft, eine Risikogemeinschaft, eine Wir-sitzen-alle-im-selben-Boot-Gemeinschaft erwirkt, deren Lebensform auf ihren »nackten biologischen Gehalt zusammengestaucht«10 wird. Es entsteht eine durch Angst und Sorge angetriebene, ja melodramatische Pseudo-Gemeinschaft: ›pseudo‹ deshalb, weil sie sich ausschließlich über die Inszenierung einer externen Bedrohung konstituiert und ethische Fragen nach der Möglichkeit eines ›richtigen Lebens‹ oder ›Gemeinlebens‹ ausklammert. Ihr zusammenleben wird ausschließlich nach Maßgabe einer vermeintlichen Bedrohungsintensität organisiert und entworfen. Doch gewähren Espositos Überlegungen auch einen Ausblick auf eine alternative Philosophie der Immunität. Der notwendige Ausgangspunkt hierfür sei »ein Begriff von individueller Identität, der sich deutlich absetzt von der geschlossenen und monolithischen Konzeption, auf die man sich einst bezog«11. Auch bei dieser Neukonzeption ginge es darum, das Andere in bestimmten Dosierungen in sich aufzunehmen, sei es aus der Perspektive des Subjekts oder der Gemeinschaft. Doch wäre dieses neue Verhältnis nicht eines der Angst oder Sorge, weder der melodramatischen Notwendigkeit, noch dem Phantasma einer holistischen Geschlossenheit verpflichtet. Anstatt das Immunsystem auf die »simple Funk-
8 | Vgl. ebd. 9 | Roberto Esposito, Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft, Zürich 2004, S. 25. 10 | Roberto Esposito, Immunitas. Schutz und Negation des Lebens, Zürich 2004, S. 23. 11 | Ebd., S. 27f.
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tion der Abstoßung des Fremden«12 zu reduzieren, schlägt Esposito vor, es als inneren Resonanzraum zu deuten, als eine »Scheidewand, durch welche hindurch die Differenz uns als solche einbezieht und durchquert«13. Dies würde aber andere Formen der Inszenierung bedeuten: brüchige, uneindeutige, nicht melodramatische, nicht monopathische, anti-szenariomatische.
12 | Ebd., S. 28. 13 | Ebd.
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Das wesentliche ist die Verwandlung, und die letzte Verwandlung ist der Tod, das Sterben. Und die Angst vor dieser letzten Verwandlung ist allgemein, auf die kann man sich verlassen, auf die kann man bauen und das ist auch die Angst des Schauspielers und die Angst des Zuschauers. Und das Spezifische am Theater ist eben nicht die Präsenz des lebenden Schauspielers oder des lebenden Zuschauers, sondern die Präsenz des potentiell Sterbenden. H einer M üller1
In ihrer Dissertation Wem gehört die Zukunft? Wissen und Wahrheit im Szenario2 geht Jules Buchholtz davon aus, dass in der gegenwärtigen Gesellschaft eine Kulturpraxis des »Szenariomatischen« eingesetzt wird, um mit Mitteln der Darstellung von Zukunftsvisionen Politik zu machen. Die Inszenierung zukünftiger Ereignisse erscheint als probates Mittel, um daraus konsekutive Handlungsansprüche für die Gegenwart abzuleiten und somit wirklichkeitsgenerierend in die Gesellschaft hineinzuwirken. Szenarien sind multimedial verfasste Gebilde mit einer spezifischen zeitlichen Struktur: Sie arbeiten mit einer Strategie der Antizipation. Über die Darstellung des Künftigen wird eine Gegenwartsdiagnose erstellt und ein Handlungsvorschlag als zwingend notwendiges Heilmittel unterbreitet. Auffallend oft tritt das Szenario in seiner negativen Verfasstheit als Bedrohungshorizont auf, als ob so die größtmögliche politische Wirksamkeit erzielt werden könnte. Der so generierte Handlungsanspruch ist eine Gefahrenver1 | Alexander Kluge, Ich bin ein Landvermesser. Gespräche mit Heiner Müller. Neue Folge, Hamburg 1996, S. 96. 2 | Vgl. Jules Buchholtz, Wem gehört die Zukunft? Wissen und Wahrheit im Szenario, Berlin 2016.
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meidung und das Szenario ein Mechanismus zur Absicherung und Kontingenzabwehr. Zugespitzt hieße das: Indem Hollywoods Katastrophenträume von der Politik als mögliche kommende Ereignisse ernstgenommen werden, wird die ästhetische Illusionsmaschine genutzt, um die soziale Wirklichkeit zu generieren. Die imaginierte Katastrophe findet zwar nicht statt, ihre glaubhafte Darstellung installiert jedoch, gleichsam als ihren negativen Abdruck, ein ganzes Netz an Kontroll- und Regulationsmechanismen im Gefüge der Gesellschaft. So führen zum Beispiel Terrorszenarien zur Verschärfung von Sicherheitsmaßnahmen an Flughäfen oder die vermeintlich wuchernde Kriminalität in den Städten legitimiert flächendeckende Videoüberwachung. In meinem Beitrag zur Frage szenariomatischer Verfahrensweisen geht es um die Frage, auf welcher gesellschaftlichen Disposition der Mechanismus des Szenarios auf baut und inwiefern ihm das Theater, verstanden als kritische Kulturpraxis, in die Quere kommen kann. Als Beispiel dient Christoph Schlingensiefs Inszenierung Die Kirche der Angst vor dem Fremden in Mir. Ein Fluxus-Oratorium, in der sich der an Lungenkrebs erkrankte Künstler seiner und unser aller Vergänglichkeit stellt. Ich unterstelle einer Politik, die sich die Wirkungsweise des Szenarios zunutze macht, dass sie sich der Angst der Menschen vor dem eigenen ›Ausgesetztsein‹ bedient und genau dort Kalkulierbarkeit und Sicherheit verspricht, wo es diese nicht geben kann. Eine solche Politik verleibt sich das ein, was Judith Butler als »allgemeine Verletzbarkeit, die mit dem Leben selbst entsteht«3, beschrieben hat. Isabell Lorey hat darauf hingewiesen, dass in unserer Gesellschaft, die durch den Rückbau sozialer Sicherungssysteme und die Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen gekennzeichnet ist, jene allgemeine Verletzbarkeit, das ontologische Prekär-Sein, und jene gesellschaftliche Unsicherheit, die soziale Prekarität, in ein Abhängigkeitsverhältnis geraten und mitunter ununterscheidbar werden.4 Unter Bezugnahme auf Paolo Virno zeigt sie, dass Furcht vor sozialer Unsicherheit und Angst vor grundsätzlicher Lebensgefährdung in nächster Nähe zueinander platziert sind. Aus Furcht vor dem Verlust des Arbeitsplatzes kann so schnell Angst um die eigene Existenz werden. So gesehen verwundert es kaum, dass Bedrohungs-Szenarien ein probates Mittel der Politik werden: Sie machen sich genau diese Indifferenz zu eigen, um politische Visionen im Namen der Absicherung vor der als bedrohlich imaginierten Zukunft unwidersprochen durchzusetzen. Wie können Szenarien Wirklichkeit generieren? Wie wird eine in Aussicht gestellte Zukunft zu einem Gestaltungsantrieb für die gegenwärtige soziale Wirk3 | Judith Butler, »Gewalt, Trauer, Politik«, in: Dies., Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt a.M. 2005, S. 36-68. 4 | Vgl. Isabell Lorey, »Als das Leben in die Politik eintrat. Die biopolitisch-gouvernementale Moderne, Foucault und Agamben«, in: Marianne Pieper et al. (Hg.), Empire und die biopolitische Wende. Die internationale Diskussion im Anschluss an Hardt und Negri, Frankfurt a.M./New York 2007, S. 269-291.
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lichkeit? Die wirklichkeitsgenerierende Funktion des Szenarios kann sich nur realisieren, wenn sich die Maßnahmen zur Gefahrenabwehr auch als Handlungen von gesellschaftlichen Akteuren niederschlagen. Als Bedrohungshorizont, der die Angst vor der Gefährdung des Lebens mobilisiert, wendet sich das Szenario an freie und handlungsfähige Subjekte mit dem impliziten Auftrag, gute Selbstführung im Sinne einer Gefahrenabwehr zu betreiben. Dabei verschleiert es die Differenz der grundsätzlichen Verletzbarkeit des Lebendigen und der politisch erzeugten oder tolerierten Prekarität von Lebensformen. Ein politischer Konflikt, nämlich die ungleiche Absicherung in neoliberalen Gesellschaftsverhältnissen, wird so zur ontologischen Kategorie verkehrt. Anstatt nach politischen Lösungen für prekäre Lebensverhältnisse zu suchen, wird das Subjekt auf sein eigenes Prekär-Sein zurückgeworfen, einzig individuelle Selbstführung taucht als probate Maßnahme der Unglücksvermeidung am szenariomatisch verfassten Horizont auf. Die geforderte richtige Selbstführung bindet den Wunsch des Subjekts nach einem guten, langen, gesunden Leben an die politischen Forderungen einer auf der Produktivität des Subjekts basierenden kapitalistischen Gesellschaftsorganisation. Dieses machtpolitische Kalkül, auf das Michel Foucault in seinen Überlegungen zu Biopolitik und Gouvernementalität immer wieder hingewiesen hat, stellt auch die Basis für das Funktionieren einer Politik des Szenarios bereit. Denn »Macht kann nur über ›freie‹ Subjekte ausgeübt werden, insofern sie ›frei‹ sind.«5 Freiheit bedeutet folglich, sich selbst und sein Leben als lernfähiges und tätiges Subjekt zu entwerfen und zu führen. Die Freiheit ist der wichtigste Garant für die Prosperität neoliberaler Staatsformen und als solche das wichtigste Gut. Die Anrufung zur Subjektivierung im biopolitischen Paradigma richtet sich an alle im Staat befindlichen Individuen. Subjektivierung bedeutet hier, dass man in der Lage ist, sich selbst zu führen, sich als Subjekt einer Sexualität zu erkennen, und zu lernen, einen Körper zu haben, der durch Achtsamkeit (auf Ernährung, Hygiene, Wohnen) gesund bleiben und durch Unachtsamkeit krank werden kann. Alle müssen zu sich selbst Verhältnisse aufbauen: Selbstverhältnisse, durch welche sie beständig zu modernen, an ›Normalität‹ orientierten Subjekten werden.6
Dies bedeutet aber im Gegenzug, dass alles, was das Leben des Subjekts in seiner Produktivität gefährden könnte, zur potentiellen Gefahr für das gesamtgesellschaftliche Gefüge erklärt wird. Krankheit, Alter und Tod, all jene Zustände und Bestandteile des menschlichen Lebens, die mit Untätigkeit und Unproduktivität in Verbindung gebracht werden können, liefern dem Szenario Stoff für seine Bedrohungsfantasien. Verteufelung des Rauchens, des Trinkens und des Müßiggangs können in diesem Kontext als Symptome einer Gesellschaft gelesen 5 | Michel Foucault, »Subjekt und Macht«, in: Ders., Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, hg. v. Daniel Defert, Frankfurt a.M. 2007, S. 81-104. 6 | Lorey, »Als das Leben in die Politik eintrat«, S. 273.
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werden, die versucht, all das Anrüchige, das sich der Kontrolle durch Disziplin und Vernunft entzieht, aus dem Leben zu verbannen. Dadurch generiert sich die Illusion von der absoluten Kalkulierbarkeit des Lebens durch gesunde, also richtige Lebensführung – als ob gutes Betragen im Hier und Jetzt, auch wenn es zu Lasten der Genuss- und Lebensfreude geht, künftigen Schaden abwenden könnte. Das Szenario droht mit dem Prekär-Werden der eigenen Existenz und verspricht Kontingenzabwehr durch einen an biopolitisches Kalkül angepassten, vernünftigen Lebensstil, der dem konstitutiven Prekär-Sein Rechnung trägt. Gerade darin sieht Robert Pfaller einen Verlust angestammter Kulturtechniken, die das Leben lebenswert erscheinen lassen und das Genießen erleichtern sollen – gerade weil sie nicht einer allgemeinen Rationalisierungslogik folgen und, wenn auch nur temporär, eine Erfahrung von Kontingenz als potentieller Freiheit ermöglichen.7 Dass das Theater in einer gewissen Komplizenschaft zu diesen Kulturtechniken steht, versteht sich aus seiner Genealogie: Es stammt zum Teil aus den paganen Dionysos-Riten, deren Aufgabe es war, die destruktiven, tabuisierten Kräfte jenseits des gesellschaftlichen Lebens einerseits zu entfesseln und anderseits in kulturelle Repräsentationen zu transformieren, um die mit ihnen verbundenen Affekte zu binden. Ein Theater, das sich dieser Wurzeln bewusst ist, kann versuchen, gegen die Herrschaft des Szenarios die unkalkulierbaren und verdrängten Aspekte der menschlichen Existenz zu mobilisieren und ihnen zur lustvollen Repräsentanz zu verhelfen. Es kann vorschlagen, anders mit Krankheit, Tod und Alter umzugehen als durch angstvolle Abstoßung und hemmende Verdrängung, und so dazu beitragen, den naturalisierten Nexus von Prekär-Sein und Prekarität sowie seinen Niederschlag in biopolitisch korrekter Lebensführung zur Disposition zu stellen. Wie so ein Theater aussehen könnte, soll im Folgenden anhand von Schlingensiefs Kirche der Angst vor dem Fremden in mir skizziert werden. Krankheit, zumal Krebs mit seinen noch immer nicht vollends erkannten Ursachen, gehört in der vom Szenariomatischen ergriffenen Gegenwart zu den verdrängten Gehalten menschlicher Lebenserfahrung und wird weitgehend von der Repräsentation im Gesellschaftsleben ausgeschlossen. Beziehungsweise, hierauf hat Susan Sontag8 hingewiesen, wird er nur in verzerrender Art und Weise dargestellt: Krebs ist immer angstvoll besetzt und artikuliert sich als in Todesnähe gerücktes Gegenprinzip einer durch Arbeitsethos und Zukunftsoptimierung geprägten Gesellschaft. Krebs wird vom öffentlichen Diskurs mit stigmatisierenden Metaphern überzogen, der Kranke selbst wird so zum Mitschuldigen an seiner Krankheit, die Gesellschaft hat ihr ideales Angstszenario in einer schwer zu durchschauenden und oftmals schwer heilbaren Krankheit. Durch den, zumindest partiellen, Ausschluss vom Gesellschaftsleben und die Eingliederung in
7 | Vgl. Robert Pfaller, Wofür es sich zu leben lohnt: Elemente materialistischer Philosophie, Frankfurt a.M. 2012. 8 | Vgl. Susan Sontag, Krankheit als Metapher, München 2003.
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mitunter strapaziöse Heilungsprozeduren droht dem zum Patienten gewordenen Subjekt ein Verlust der Autonomie über die eigene Lebensführung. Schlingensief erhielt 2008 eine schwere Krebsdiagnose. In einer kurzen Toneinspielung zu Beginn der Inszenierung erzählt er diesen Moment seines Lebens mit folgenden Worten nach: Er würde mir abraten, jetzt noch woanders hinzufahren. In der einen Woche, wo ich wegfahren würde, in der Woche könnte der Tumor zum Beispiel Absiedlungen vornehmen, das wäre möglich, das könnte sein. […] So schnell wie möglich sich von Dr. Schneider, sich das da, den Tod, da rausschneiden lassen. Was dann kommt, ist eben ein neues Leben, das heißt, sie werden ab Samstag ein neues Leben leben, und zwar, das wird ganz anders als das bisherige, und da spielen auch keine großen Pläne mit, was jetzt in einem Jahr ist oder sowas. […] Die Prognose für diese Sache ist nicht gut. Und wenn sie sich das genau angucken, dann geht das sehr runter am Ende. Es sind ganz wenige, die das länger schaffen. 9
Ihre Autorität über das Leben des Patienten bezieht die Diagnose aus einer spezifischen epistemologischen Kondition des medizinischen Diskurses. Wie Foucault gezeigt hat, wird mit der Entstehung der modernen Medizin als Wissenschaft die Krankheit als Entität fest im Körper des Kranken verankert.10 Das Wissen um die eigene Sterblichkeit wird mit dem Entstehen der Medizin als Wissenschaft epistemologisch an den Menschen als körperliches, von Krankheit bedrohtes Wesen gebunden. Der Tod als stetiger Endpunkt der pathologischen Entwicklung wird somit auch zur Erfahrungsgrundlage für Krankheit im Spiegel moderner Subjektivität. Die konstitutive Verletzbarkeit des Prekär-Seins gehört fortan zum Selbstbild des Menschen, sie garantiert den Zugang zur Selbsterkenntnis, hängt aber auch als Damoklesschwert über ihm. Damit wird der Tod zwar integriert und kognitiv als empirische Größe anerkannt, muss zugleich aber aus der kollektiven Lebenserfahrung der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Das Szenario bedient sich der durch die Abspaltung generierten Ängste, setzt sie für sein Versprechen der Kontingenzvermeidung ein und erhält ein Phantasma von der Kontrollierbarkeit des Lebens aufrecht. Der Ansatz, den Schlingensief in seinen letzten Theaterarbeiten verfolgt hat, versucht der Todesdrohung der Krankheit mit einem Gegennarrativ zu begegnen. Wo eine technokratisch-medizinische Sprache die singuläre Krankheitserfahrung mit lateinischen Fachbegriffen überschreibt, versucht Schlingensief seinem singulären Empfinden auf dem Theater einen Raum zu eröffnen, in dem Krankheit mehr bedeuten kann, als ausschließlich Signum des Todes und Grund für Isolation zu sein. Im Gegensatz zum Diskurs der Medizin ist die Sprache des 9 | Transkribiert nach: Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir. Fluxus-Oratorium von Christoph Schlingensief (D, ZDF 2009, R: Peter Schönhofer), Timecode 00:08:00-00:08:57. 10 | Vgl. Michel Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt a.M. 1988.
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Theaters doppeldeutig und irreführend. Bedeutungen können sich verschieben oder neu generieren. Wenn Schlingensiefs geröntgte Lungenflügel in der Inszenierung auf verschiedene Art und Weise eingesetzt werden, mal als Dekor für eine riesige projizierte Monstranz, mal als Piktogramm in einem Voodoo-Ritual, erzeugt das Irritation und Verwunderung, aber auch Lachen – eine Reaktion, die das Material in seinem angestammten Kontext wohl kaum hervorrufen würde, die im Theater jedoch angemessen und befreiend sein kann. Indem das Theater hier der Kontingenz des Sinns die Möglichkeit einräumt sich zu entfalten, kann es der impliziten Todesdrohung des Szenarios die Affekte streitig machen. Wo das Theater anerkennt, dass Kalkulierbarkeit und Rationalisierung im Umgang mit letztlich unergründlichen Phänomenen wie Krankheit und Tod an ihre Grenzen geraten, nimmt es dem Szenario gewissermaßen den Wind aus den Segeln. Das Phantasma von der Machbarkeit der Zukunft, das nur über den Ausschluss des Unkalkulierbaren aufrechterhalten werden kann, wird durch die Anerkennung und Auseinandersetzung mit eben jenen Kontingenzmomenten in seine Grenzen gewiesen. Als kollektiv erfahrene Kunstform kann Theater helfen, in Aufruhr gebrachte, ungerichtete Affekte in einer geteilten Sphäre zu binden und zur Disposition zu stellen. Die unbestimmte, doch allgemeine Angst vor Krankheit und Tod kann sich in Schlingensiefs Kirche der Angst an die materiellen Signifikanten des Theaters heften. Sie kann so zu einer realen Erfahrung für jeden Einzelnen werden, statt sich symptomatisch auf hypothetische Bedrohungsszenarien zu beziehen und in Selbstdisziplinierungsmaßnahmen niederzuschlagen. Schlingensief teilt seine Krankheitserfahrung mit den Zuschauern: Er bietet sich selbst und sein Theater als Vermittler und Anerkennung des geteilten PrekärSeins menschlichen Lebens an. Hier zeigt sich ein politisches Potential, das neoliberalen Gesellschaftsordnungen und ihren biopolitisch-individualisierenden Anrufungen zuwiderläuft. Es verwirklicht sich als ein Theater der Anerkennung, in dem der Verlust des Lebens, das Ausgesetztsein als Mensch, die Trauer um einen potentiell Sterbenden ein Bewusstsein für eine »politische Gemeinschaft einer komplexeren Ordnung«11 entstehen lässt. Dies wäre eine Ordnung, die der Kontingenz menschlichen Lebens mutig begegnet und sich bemüht, dem Einzelnen und seiner singulären Verletzbarkeit einen Raum zu stiften, der nicht isoliert, sondern durch und durch mit der sozialen Sphäre verwoben ist. Statt auf das Phantasma der Kontingenzvermeidung durch richtige Selbstführung zu setzen, eröffnet die Anerkennung der geteilten Verletzbarkeit einen Raum der Solidarität und der politischen Verhandlung. Krankheit bedeutet in solch einer Ordnung nicht Gegenprinzip und Abschreckungsszenario, sondern genuin menschliche Erfahrung, in der sich ethische Verantwortung und Zuwendung mitteilt. Abschließend möchte ich auf eine entscheidende Szene der Inszenierung hinweisen: Schlingensief betritt die Bühne, um sich als »potentiell Sterbender« 11 | Judith Butler, »Gewalt, Trauer, Politik«, S. 39.
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an die ›Bühnengemeinde‹ und das darüber hinaus versammelte Publikum zu wenden. Er beginnt den katholischen Ritus der Kommunion, die Gesten und Worte des Priesters nachzuahmen und zitiert jenen eucharistischen Moment der Liturgie, in dem die Realpräsenz des lebendigen Gottes Jesu von allen Anwesenden geglaubt wird, der Wein zu Blut und das Brot zu Fleisch transsubstantiiert. Schlingensief wird so vor den Augen aller zum Stellvertreter, zum Sündenbock oder ecce homo, er nimmt den Platz des todgeweihten Kranken ein, den sich die Gemeinschaft einverleiben darf, um sich sein Schicksal vom Halse zu halten. Doch dann wendet er das Blatt: Er verweigert die ihm zugedachte Rolle, wendet sich gegen das Ritual und verkündet folgende Worte: »Nehmet und trinket euer eigenes Blut – vor und nach der Diagnose. Bleibt Autonom. Fluxus!« Statt stellvertretend für die Zuschauenden zu sterben und ihnen so die Bürde der Verletzbarkeit abzunehmen, erinnert er sie an ihre eigene körperliche Existenz. Wo der Verzehr des Blutes Jesu Unsterblichkeit verspricht, bleibt den Gläubigen der Kirche der Angst nur ihr eigenes Blut als Bekenntnis zu ihrer eigenen Sterblichkeit. Allerdings formuliert er in dieser Absage an den Ritus auch eine Ansage an die Möglichkeiten des Theaters. Nicht umsonst resoniert nach dieser Ansprache das Wort Fluxus in zahlreichen Varianten durch die Kehlen der Bühnengemeinde, formuliert doch Fluxus die Hoffnung auf ein Mehr an Leben in der Kunst, auf eine Transformation des Lebens durch die Kunst, auf ein Leben als Kunst. Damit sich dieses Potential entfalten kann, gilt es jedoch zunächst, das Leben und seine konstitutive Basis anzuerkennen und seiner unkalkulierbaren Kontingenz in der Kunst Rechnung zu tragen. Das Szenario mit seiner auf Berechenbarkeit setzenden Zeiteinteilung trägt in der heutigen Gesellschaft dazu bei, dass Kontingentes sich kaum artikulieren kann, beziehungsweise nur in Form von bereits durch Angstaffekte beeinflussten Bedrohungsgebilden. Hier könnte das Theater zur Klärung beitragen: Als Vor-Schein des Künftigen (Ernst Bloch) kann es der Kargheit der rationalisierten Gegenwart begegnen, um ihr ein Mehr an Lebensmöglichkeiten aufzuzeigen.
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Reenactment impossible Die Moskauer Prozesse von Milo Rau Christina Schmidt
Vom 1.-3. März 2013 fand im Moskauer Sacharow-Zentrum ein erstaunliches Projekt statt. Unter dem Titel Московские процессы (Die Moskauer Prozesse), der auf die großen stalinistischen Schauprozesse 1936-38 anspielt, wurden an drei aufeinander folgenden Tagen drei russländische Strafprozesse der jüngeren Zeit gegen Künstlerinnen und Kuratoren mit theatralischen Mitteln ›wiederaufgenommen‹: der Prozess gegen die Organisatoren und Teilnehmer der Ausstellungen Осторожно, религия! (Achtung, Religion!) und Запретное искусство – 2006 (Verbotene Kunst – 2006), die jeweils 2003 und 2007 im Sacharow-Zentrum stattgefunden hatten, sowie der Prozess gegen Mitglieder der Künstlerinnengruppe Pussy Riot, die nach ihrem regierungs- und kirchenkritischen »Punk-Gebet« in der Moskauer Christ-ErlöserKathedrale 2012 zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. An der von dem Schweizer Regisseur Milo Rau geleiteten künstlerischen Neuverhandlung dieser Prozesse nahmen Protagonisten und Zeugen der vergangenen Gerichtsprozesse teil sowie prominente Vertreter russischer Medien, Künstler und Kuratoren, radikalreligiöse »Aktivisten« und orthodoxe Dissidenten sowie weitere Zeugen verschiedener politischer Couleur. Verhandelt wurde auf der Folie des damals gültigen russischen Strafrechts mit professionellen Juristen und Laien, nach juristischen Gepflogenheiten mit Kreuzverhören und Plädoyers, mit einer Geschworenenjury, die einen Querschnitt durch die Moskauer Bevölkerung darstellen sollte. Die Gerichts-Performance wollte die Frage nach der Freiheit der Kunst neu verhandeln – »mit offenem Ausgang«, wie der Pressetext des Films Die Moskauer Prozesse 1 hervorhebt. Wenn mit Bezug auf Raus Moskauer Prozess-Projekt von ›Wiederaufnahme‹ oder ›Neuverhandlung‹ die Rede ist, scheint es nahe zu liegen, das Projekt unter die in letzter Zeit viel diskutierte Kategorie des ›Reenactments‹2 einzuordnen. 1 | Die Moskauer Prozesse (D 2014, R: Milo Rau). 2 | Vgl. Micha Braun et al. (Hg.), Reenacting History. Theater & Geschichte, Berlin 2014, S. 6: »Es gibt keinen Zweifel: Die Wiederaufführung der Geschichte im Reenactment ist zu einem Paradigma der Erinnerungskultur und des Gegenwartstheaters geworden.«
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Als kleinsten gemeinsamen Nenner der Begriffsdiskussion kann man festhalten, dass als Reenactment das (künstlerische) Wieder-In-Akt-Setzen eines vergangenen (Kunst-)Ereignisses verstanden wird. Gleichwohl bleibt der Begriff ›Reenactment‹ unscharf 3 – vor allem deshalb, weil mit ihm so unterschiedliche Aufführungsformen beschrieben werden wie das ›Nachstellen‹ historischer Schlachten, geistliche Spiele der Neuzeit, Massenspektakel wie Nikolaij Jewreinows Die Erstürmung des Winterpalais (Petrograd 1920)4 oder Milo Raus Inszenierung Die letzten Tage der Ceauşescus (UA: Teatrul Odeon Bukarest 2009).5 Schon bei dieser kurzen Aufzählung wird deutlich, dass sich unter dem Begriff ›Reenactment‹ äußerst verschiedene ästhetische Formen versammeln, die auf je unterschiedliche Aufführungstraditionen verweisen und die auf völlig unterschiedliche Weise Geschichte rezipieren und Geschichtsbilder produzieren. Auch Milo Raus Moskauer Gerichts-Performance handelt auf unterschiedlichen Ebenen mit Geschichtsbildern und produziert selbst wiederum solche, indem über vergangene, medial beschriebene Ereignisse und Diskurse reflektiert wird. Wird jedoch etwas wieder-in-Akt-gesetzt oder gar wiederholt? Zunächst einmal wird mit/in der stilisierten Form eines Gerichtsprozesses über drei vergangene Prozesse diskutiert. Deren Ausgang ist bekannt: dreimal Schuldspruch im Sinne der Anklage. Im Gegensatz dazu soll im Performance-Projekt der Ausgang offen bleiben – keiner weiß im Voraus, wie die per Zufallsprinzip gecasteten Laien der Jury entscheiden werden. Es gibt kein Skript, nur die zitierte Form der Gerichtsverhandlung – bis hin zur räumlichen Anordnung,6 den Bezug auf die gültigen russischen Gesetze, die eingeladenen Teilnehmer und das Material der vergangenen Prozesse, Ausstellungen, Kunstaktionen, Demonstrationen und Debatten. Um zu verstehen, wie die Performance dieses Material bearbeitet und reflektiert, wie die verschiedenen Zeitschichten entblättert werden, wie und was für eine Öffentlichkeit hergestellt wird, heißt es zunächst zwei Schritte zurückzugehen, um die Ausstellungen bzw. die Kunstaktion, die Gegenstände der drei Prozesse waren, sowie die Prozesse kurz zu skizzieren, bevor schließlich die Performance selbst entlang einiger Szenen thematisiert wird.
3 | Vgl. Jens Roselt/Ulf Otto, »Nicht hier, nicht jetzt. Einleitung«, in: Dies. (Hg.), Theater als Zeitmaschine. Zur performativen Praxis des Reenactments, Bielefeld 2012, S. 7-12. 4 | Vgl. Erika Fischer-Lichte, »Die Wiederholung als Ereignis. Reenactment als Aneignung von Geschichte«, in: Roselt/Otto, Theater als Zeitmaschine, S. 13-52. 5 | Zur Weite (und damit Unschärfe) des Reenactment-Begriffs vgl. auch Vera Ryser/Milo Rau, »Situationismus rückwärts«, in: Ralf Bossart (Hg.), Die Enthüllung des Realen. Milo Rau und das International Institute of Political Murder, Berlin 2013, S. 44-50, hier S. 44. 6 | Vgl. Raumplan sowie Schema der Sitzordnung im Sacharow-Zentrum in Milo Rau, Die Zürcher Prozesse/Die Moskauer Prozesse, Berlin 2014, S. 34ff.
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Die Ausstellung Осторожно, религия! (Achtung, Religion!) Am 14. Januar 2003 wurde im Moskauer Sacharow-Zentrum die Ausstellung Achtung, Religion! eröffnet. Vier Tage nach der Eröffnung stürmten orthodoxe Fanatiker ins Sarachow-Zentrum und zerstörten die Ausstellung.7 Anfang Februar 2003 forderte die Staatsduma den Generalstaatsanwalt per Erlass dazu auf, »unverzüglich Ermittlungen wegen des Tatbestandes des Schürens religiöser Feindschaft durch die Organisatoren der Ausstellung« 8 einzuleiten. Eine Klage des SacharowZentrums und der Künstler gegen die Zerstörer der Ausstellung wurde abgewiesen. Stattdessen wurde Anklage erhoben gegen Jurij Samodurow (damals Leiter des Sacharow-Zentrums) und seine Mitarbeiterin Ludmila Wassilowskaja sowie gegen die ausstellende Künstlerin Anna Altschuk.9 Die Anklage erging nach Art. 282, Abs. 2b des russländischen Strafgesetzbuchs wegen »Schürens von nationaler, rassischer und religiöser Feindschaft«10. Die Anklageschrift stützt sich vor allem auf ein »Expertengutachten«, in welchem Kunsthistoriker, Ethnologen, Soziologen und Psychologen den sehr unterschiedlichen Exponaten und damit der Ausstellung insgesamt die Intention einer »Entchristianisierung« unterstellen. Ende März 2005 erging das Urteil: Samodurow und Wassilowskaja wurden im Sinne der Anklage schuldig gesprochen und zu einer Geldstrafe von 100.000 Rubeln verurteilt. Anna Altschuk wurde freigesprochen. Der Philosoph Michail Ryklin, damals verheiratet mit der 2008 in Berlin verstorbenen Künstlerin Altschuk, schreibt in seinem Buch Mit dem Recht des Stärkeren. Russische Kultur in Zeiten der »gelenkten Demokratie« über den Prozess. Er zieht eine Parallele zur Justiz in der UdSSR, insofern die Gerichtsgutachten reine Gefälligkeitsgutachten und der Prozess ausschließlich politisch motiviert gewesen seien. Ryklin stellt diesen ersten der drei großen Prozesse gegen Künstler im postsowjetischen Russland in einen größeren Zusammenhang: Wir sind Zeugen eines Prozesses, in dem sich ein neuer Autokratismus etabliert. Entstehende Regime zeichnen sich dadurch aus, daß selbst ihre unmittelbar bevorstehenden Metamorphosen schwer vorauszusehen sind; weil Präzedenzfälle fehlen, lassen sich keine Vergleiche anstellen. Wir versuchen uns an Dinge zu gewöhnen, die noch vor kurzem unmöglich, undenkbar schienen. Doch eine Woche vergeht, und es zeichnet sich noch Un7 | Vgl. Sandra Frimmel, »Von Künstlern, Kuratoren, Gotteslästerern und Hooligans. Ein Überblick über die Russischen Kunstgerichtsprozesse seit der Perestroika«, in: Rau, Die Zürcher Prozesse/Die Moskauer Prozesse, S. 13-27, hier S. 15. 8 | Zit. n. ebd., S. 16. 9 | Der Kurator der Ausstellung Arutjun Sulumjan war während der gleich nach der Zerstörung der Ausstellung einsetzenden Hetzkampagne im März 2003 nach Armenien geflohen. Vgl. Michail Ryklin, Mit dem Recht des Stärkeren. Russische Kultur in Zeiten der »gelenkten Demokratie«, Frankfurt a.M. 2006, S. 66. 10 | Frimmel, »Von Künstlern, Kuratoren, Gotteslästerern und Hooligans«, S. 16.
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Christina Schmidt vorstellbareres ab. Solche Erlebnisse haben repressiven Charakter. Die Gewöhnung daran nimmt uns einen Teil unserer geistigen Welt, unserer Freiheit.11
Ryklin beschreibt nicht nur, wie es von einer »ganz gewöhnliche[n] Ausstellung«12 zu einer geradezu pogromartigen Atmosphäre und schließlich zur Anklage – nicht gegen die Zerstörer, sondern gegen die Organisatoren der Ausstellung kommt. Er berichtet von zahllosen antisemitischen »Exzesse[n]«13 im und vor dem Gerichtssaal. Er analysiert die Verschmelzung von Russisch-Orthodoxer Kirche (ROK) und Staat, wobei die ROK in der unter Putin errichteten »Machtvertikale«14 die Rolle eines ideologischen Instruments einnehme. Er beschreibt den Mechanismus der Umkehrung – von schuldig-unschuldig, Angreifer-Angegriffenem –, den der Staat im Prozess angewendet habe, wodurch letztlich das Recht selbst entsubstanzialisiert werde. Das weitgehende Schweigen und die Ohnmacht der russischen Intellektuellen angesichts der Kriminalisierung der Kunst im Fall Achtung, Religion! sieht Ryklin mehrfach begründet: zum einen in seit den 2000er Jahren fortschreitenden »›Säuberungen‹ der Medien«15, zum anderen in einem fehlenden Rechtsbewusstsein, das mit einer Nicht-Überwindung der sowjetischen Vergangenheit verbunden sei.16 Das Schweigen und die Passivität der Intellektuellen resultiere ebenso aus einer unreflektierten, »ererbte[n] Angst«17, die sich das politische Regime von 2003/2006 – in einem »nichterklärten Ausnahmezustand«18, den der zweite Tschetschenienkrieg für Ryklin bedeutet – zu Nutze mache. Während der Ausstellungseröffnung hing am Hauptgebäude des Sacharow-Zentrums ein Banner mit der Aufschrift: »Seit 1994 ist Krieg in Tschetschenien. Genug!«.19 Damit sei das Sacharow-Zentrum 2003 »das einzige Gebäude in Moskau« gewesen, »an dem sichtbar eine Antikriegsparole«20 hing, so Ryklin.
11 | Ryklin, Mit dem Recht des Stärkeren, S. 11. 12 | Ebd., S. 45. 13 | Ebd., S. 29, vgl. auch S. 84ff. 14 | Vgl. hierzu Mischa Gabowitsch, Putin kaputt!? Russlands neue Protestkultur, Berlin 2013, insb. S. 42-61. 15 | Ryklin, Mit dem Recht des Stärkeren, S. 111. 16 | Vgl. ebd. S. 143f. 17 | Ebd., S. 20. 18 | Ebd., S. 205. 19 | Ein Foto von dem Gebäude mit zwei Bannern, die jeweils diese Aufschrift tragen, ist als Bebilderung des deutschsprachigen Wikipedia-Artikels zum Sacharow-Zentrum zu sehen: https://de.wikipedia.org/wiki/Sacharow-Zentrum vom 05.03.2016. 20 | Ryklin, Mit dem Recht des Stärkeren, S. 48.
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Abb. 1: Ausstellung Achtung, Religion! nach der Zerstörung, Sacharow-Zentrum, Moskau 2003. © http://www.sakharov-center.ru/
Die Ausstellung Запретное искусство – 2006 (Verbotene Kunst – 2006) Zwei Jahre nach diesem ersten großen Strafprozess gegen Künstler im postsowjetischen Russland fand vom 7.-31. März 2007, wieder im Sacharow-Zentrum, die von Andrej Jerofejew kuratierte Ausstellung Verbotene Kunst – 2006 statt. Wie der Titel bereits andeutet, wurden Werke ausgestellt, »die im Laufe des Jahres 2006 in Moskauer Galerien und Museen […] nicht zur Ausstellung freigegeben worden waren«21. Zu sehen waren die Exponate allerdings nur durch kleine Gucklöcher in Stellwänden, wie in Form einer Peepshow. Nach Jerofejew, damals Leiter der Abteilung Zeitgenössische Kunst der Tretjakow-Galerie, war das Ziel der Ausstellung eine Diskussion über die institutionelle Selbstzensur, die er hinter den Ablehnungen der Exponate sah. Statt dieser Diskussion startete jedoch eine regelrechte Hetzkampagne gegen die Ausstellungsmacher und Künstler wegen angeblicher Gotteslästerung, insbesondere von Seiten der ROK. Oleg Kassin, Mitgründer der nationalistischen Vereinigung ›Volkskonzil‹ (Narodnyj sobor), verklagte die Ausstellungsmacher wegen Störung der öffentlichen Ordnung und »Angriff auf die öffentliche Moral«22 . Der Duma-Abgeordnete Alexander Tschujew reichte ebenfalls 21 | Frimmel, »Von Künstlern, Kuratoren, Gotteslästerern und Hooligans«, S. 18. 22 | Volkskonzil, »Über die strafrechtliche Verantwortlichmachung der Organisatoren der Ausstellung ›Verbotene Kunst 2006‹«, zit. n. ebd., S. 18.
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Klage gegen die Ausstellungsmacher ein und forderte ein Gesetz zum Schutz »religiöse[r] und nationale[r] Heiligtümer vor der Entweihung«23. Im Mai 2008 erging Anklage gegen den damaligen Leiter des Sacharow-Zentrums Jurij Samodurow und den Kurator Andrej Jerofejew nach Art. 282, Abs. 2b des russischen Strafgesetzbuchs – genau wie im Fall Achtung, Religion!. Der Prozess begann im Juni 2009. Bereits vor der Eröffnung des Prozesses verloren beide Angeklagten ihre Posten. Am 12. Juli 2010 erging das Urteil: Jerofejew und Samodurow wurden beide schuldig im Sinne der Anklage gesprochen und zu Geldstrafen von je 150.000 bzw. 200.000 Rubeln verurteilt.24
Abb. 2: Ausstellung Verbotene Kunst – 2006, Sacharow-Zentrum, Moskau 2007. © http://www.sakharov-center.ru/
Das »Punk-Gebet« von Pussy Riot Drei Mitglieder der Gruppe Pussy Riot, einem Moskauer Kollektiv von Aktionskünstlerinnen, das sich selbst als feministische Punk-Gruppe verstand, wurden Protagonistinnen des dritten großen Prozesses gegen Künstler: Im Prozess gegen 23 | Zit. n. ebd., S. 18. 24 | Vgl. auch die gezeichnete Gerichtsreportage, deren Autoren ebenfalls in Raus Performance mitwirkten: Wiktoria Lomasko/Anton Nikolajew, Verbotene Kunst. Eine Moskauer Ausstellung, hg. v. Sandra Frimmel, Berlin 2013.
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Marija Aljochina, Jekaterina Samuzewitsch und Nadjeshda Tolokonnikowa ging es um einen kurzen Auftritt im zentralen Gotteshaus der ROK: Am 21. Februar 2012 betraten Mitglieder von Pussy Riot die Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale, um Szenen des Video-Clips mit dem Titel Mutter Gottes, vertreibe Putin zu drehen. Im Gegensatz zu dem durch das Video weltweit bekannt gewordenen Song dauerte die Aktion in der Kathedrale weniger als eine Minute, bevor die Frauen von Kirchendienern und Sicherheitsleuten vertrieben wurden. Auf Fotos von der Aktion des »Punk-Gebets« in der Christ-Erlöser-Kathedrale sind vier Frauen in verschiedenfarbigen Kleidern und bunten Leggins, mit verschiedenfarbigen wollenen Gesichtsmasken zu sehen, die im Altarraum, direkt vor der Ikonostase, tanzen und singen. Im Videoclip sieht man, wie die Frauen sich verneigen und bekreuzigen.25 Der Text des »Punk-Gebets« handelt vom repressiven Charakter der ROK und zielt vor allem auf deren enge Verquickung mit der Staatsmacht. Hauptthema, Titel und Refrain, ist die Bitte an die Gottesmutter, Putin zu vertreiben: (Chor)/Mutter Gottes, du Jungfrau, vertreibe Putin/Vertreibe Putin, vertreibe Putin/(Ende Chor) // Schwarze Kutte, goldene Schulterklappen/alle Gemeindemitglieder kriechen zur Verbeugung/das Gespenst der Freiheit im Himmel/die Gay-Parade in Ketten nach Sibirien geschickt // Der KGB-Chef, ihr oberster Heiliger/führt die Demonstranten unter Geleitschutz in U-Haft/Um den Heiligsten nicht zu betrüben/müssen Frauen gebären und lieben // Scheiße, Scheiße, Heilige Scheiße/Scheiße, Scheiße, Heilige Scheiße // (Chor)/Mutter Gottes, du Jungfrau, werde Feministin/werde Feministin, werde Feministin/(Ende Chor) // Kirchlicher Lobgesang auf die verfaulten Führer/Kreuzzug aus schwarzen Limousinen/In die Schule zu dir kommt der Priester/Geh zum Unterricht – bring ihm Geld! // Patriarch Gundjaj glaubt an Putin/Besser sollte er, der Hund, an Gott glauben/Der Gürtel der Jungfrau ersetzt keine Demos –/Die Jungfrau Maria ist bei den Protesten mit uns! // (Chor)/Mutter Gottes, du Jungfrau, vertreibe Putin!/Vertreibe Putin, vertreibe Putin!/(Ende Chor) 26
Kurz vor der Wiederwahl des neuen alten Präsidenten27 entbehrt die Aktion nicht einer gewissen politischen Brisanz – was in der Folge, sowohl in den medialen Kampagnen als auch in Anklage und Prozess, jedoch weitgehend ausgeblendet 25 | Fotos und Video unter http://pussy-riot.livejournal.com/12442.html (ehem. Blog der aufgelösten Gruppe), Videoclip ebenfalls unter https://www.youtube.com/watch?v=GCas uaAczKY&feature=youtu.be vom 05.03.2016. 26 | Pussy Riot, »Mutter Gottes, vertreibe Putin!«, leicht überarbeitete Übersetzung [C.S.] nach Rau, Die Zürcher Prozesse/Die Moskauer Prozesse, S. 104. Original unter http://pussyriot.livejournal.com/12442.html vom 05.03.2016. »Patriarch Gundjaj« zitiert den bürgerlichen Namen von Kirill I., W. M. Gundjajew, seit 01.02.2009 Patriarch von Moskau und damit Vorsteher der ROK. »Der Gürtel der Jungfrau« spielt auf eine von der ROK organisierte, massenhaft besuchte Präsentation einer Marienreliquie im November 2011 in Moskau an. Vgl. Pussy Riot, Pussy Riot! Ein Punkgebet für Freiheit, Hamburg 2012, S. 19. 27 | 4. März 2012.
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wird. Einige Wochen nach der Aktion in der Christ-Erlöser-Kathedrale und nach Veröffentlichung des Videoclips forderte eine »Initiativgruppe« des Moskauer Patriarchats den Generalstaatsanwalt auf, Pussy Riot für diesen »gotteslästerlichen vandalistischen Akt«28 anzuklagen. Die ROK mobilisierte mit zahlreichen Protestbriefen und Demonstrationen gegen die Künstlerinnen, von denen drei daraufhin im März 2012 in Untersuchungshaft kamen. Im Juli 2012 wurde gegen Samuzewitsch, Tolokonnikowa und Aljochina Anklage erhoben wegen Störung der öffentlichen Ordnung aufgrund von religiösem und nationalem Hass nach Artikel 213, Abs. 2 (»Hooliganismus«). Über den Prozess schreibt Sandra Frimmel: In der theatralen Inszenierung glich der Prozess […] sehr den beiden vorherigen: Die Empörung der orthodoxen Öffentlichkeit wurde organisiert und gezielt inszeniert. Die Zeugenaussagen wurden nach vorgefertigten Schablonen angefertigt und sind in weiten Teilen bis in kleinste Formulierungen […] hinein identisch. Die Zeugen der Anklage hoben ihre verletzten Gefühle, ihren erlittenen ›moralischen Schaden‹ durch das ›Punk-Gebet‹, das für sie eine Parodie auf einen Gottesdienst darstellt, hervor. 29
Neu war hier jedoch, dass zum ersten Mal angeklagte Künstlerinnen in Untersuchungshaft genommen wurden und dass die Angeklagten im Gerichtssaal, wie Schwerverbrecher, in Käfigen saßen. Das Urteil erging am 16. August 2012. Alle drei Angeklagten wurden im Sinne der Anklage schuldig gesprochen und zu je zwei Jahren Straflager verurteilt. Samuzewitschs Strafe wurde zwei Monate später in einem Berufungsverfahren zur Bewährung ausgesetzt.30 Tolokonnikowa und Aljochina wurden am 23. Dezember 2013, kurz vor dem regulären Ablauf ihrer Strafe, aus der Haft entlassen. Während ihre Mitstreiterinnen noch inhaftiert waren, konnte Samuzewitsch im März 2013 an Milo Raus Prozess-Projekt teilnehmen. Der nur 40-sekündige Auftritt von Pussy Riot hatte noch eine andere Dimension als die offensichtliche politische Verbindung zwischen Kreml und ROK zu kritisieren. Diese Dimension ist mit der symbolischen Bedeutung des Ortes verbunden, an dem der Auftritt stattfand: der nach dem Sieg über Napoleon errichteten, 1931 gesprengten und in den 1990er-Jahren wiedererrichteten Christ-ErlöserKathedrale.31 Anders als es im Prozess, in den medialen Kampagnen zum Prozess 28 | So Nowaja Gaseta, 18.03.2012, zit.n. Frimmel, »Von Künstlern, Kuratoren, Gotteslästerern und Hooligans«, S. 20. 29 | Frimmel, »Von Künstlern, Kuratoren, Gotteslästerern und Hooligans«, S. 21. 30 | Die Begründung hierfür lautete, Samuzewitsch habe im Gegensatz zu den beiden anderen Angeklagten nicht auf dem Ambon (dem Altarraum) getanzt, weil sie bereits vorher von den Kirchenbediensteten vertrieben worden sei. Vgl. ebd., S. 22. 31 | Zur Sprengung der Kathedrale 1931, die dem nie verwirklichten Megaprojekt des Palasts der Sowjets weichen sollte, schreibt der Historiker Karl Schlögel: »Diese Kathedrale zu sprengen war mehr als ein Eingriff in das Stadtbild Moskaus. Die Zerstörung der Erlö-
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und in der Performance von den Vertretern und Zeugen der Anklage behauptet wird, geht es bei der Wahl des Ortes, der Empörung über diese Wahl nicht um den Ambon oder um das gebotene Verhalten in einer Kirche. Vielmehr geht es um den Ort selbst, an dem das heutige zentrale Gotteshaus der ROK steht. Seit ihrer Neuerrichtung ist die Kathedrale wieder Hauptsitz der ROK, hier finden ihre wichtigsten Ereignisse wie die Inthronisation des Patriarchen, aber auch Gottesdienste mit ranghohen Politikern statt. Daher wählten Pussy Riot für ihr »Punk-Gebet« diesen Ort, an dem Patriarch Kirill unverblümt seine Wahlempfehlung zur Präsidentschaftswahl 2012 abgegeben hatte. Die Hetzkampagne gegen Pussy Riot und der Ausgang des Prozesses hängt eng nicht nur mit der wechselvollen Geschichte des Ortes, sondern vor allem mit seiner symbolischen Bedeutung zusammen.
Die Performance Московские процессы (Die Moskauer Prozesse) Die performative Versuchsanordnung, die im März 2013 im Sacharow-Zentrum stattfand, ist keine Neuverhandlung der skizzierten Gerichtsprozesse, wohl aber eine Neuverhandlung der Gegenstände dieser Prozesse – unter anderen Bedingungen, an einem anderen Ort, mit teilweise denselben Teilnehmern, die jedoch teils in anderen Rollen auftreten. Die Gerichtsform ist der Rahmen der Performance: Es gibt eine ›Richterin‹, es gibt ›Ankläger‹, eine ›Verteidigung‹, eine ›Geschworenenjury‹ und zahlreiche ›Zeugen‹, zudem einen ›Gerichtsschreiber‹, eine ›Gerichtszeichnerin‹ und einen ›Gerichtsreporter‹. Verhandelt wird über die Frage, ob die Urteile in den drei Prozessen gegen die Künstler und Kuratoren richtig waren, letzten Endes über die Frage: Was darf Kunst? Wenngleich die drei den Prozessen zugrunde liegenden Kunstaktionen nacheinander verhandelt werden, wird in der Performance die Frage nach der Freiheit der Kunst bzw. nach der Rechtmäßigkeit der ergangenen Urteile zu einem Prozess zusammengefasst. Den sieben Geschworenen werden abschließend zwei Fragen vorgelegt, aufgrund deren Beantwortung das Urteil gefällt wird: 1.) Haben die Angeklagten Taten vollbracht, die die Gläubigen gedemütigt und Hass gegen sie geschürt haben? Und 2.) Hatten die Angeklagten die vorsätzliche Absicht, Hass gegen die Gläubigen zu schüren oder ihre Gefühle zu verletzen?32 Anders als in einem Strafprozess üblich, wird in der Performance keine Anklageschrift verlesen, sondern die Verhandlung geht – nach kurzer Vorstellung des Gerichts – sofort zu den Gegenständen selbst. Für jeden der zur Verhandlung stehenden Prozesse steht eine Person, ser-Kathedrale kann man als das Herausbrechen des markantesten Symbols des späten Russischen Kaiserreiches verstehen, als die Beseitigung der Dominante, die für den geistigen Führungsanspruch der russischen Orthodoxie über das Reich und die Stadt stand.« Schlögel, Terror und Traum. Moskau 1937, Frankfurt a.M. 2010, S. 697. 32 | Zit. n. Die Moskauer Prozesse (D 2014, R: Milo Rau).
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die die Sache der Kunst (die Ausstellung, die Aktion) vertritt, so im Fall Pussy Riot stellvertretend Jekaterina Samuzewitsch. Nacheinander sprechen Anklage und Verteidigung zu den Geschworenen, worum es nach ihrer Meinung in dem Prozess geht und worüber zu urteilen sei. Zeugen werden verhört, auch ehemalige Angeklagte treten in den Zeugenstand. Besondere Sitzplätze sind für sie nicht vorgesehen. Die durchgehende Argumentationslinie der Anklage ist, dass die angeklagten Künstler die »Avantgarde eines […] liberal-faschististischen Staates«33 seien, so Maxim Schewtschenko, der hier als Hauptvertreter der Anklage auftritt. Der rechtsnationale, der neoeurasischen Bewegung von Alexander Dugin nahestehende Publizist ist prominenter Moderator des Ersten Kanals des staatlichen Fernsehens, Mitglied im ›Anti-Orangen Komitee‹ und nach eigener Aussage orthodoxer Gläubiger. Im Interview über seine Motivation, an der Performance teilzunehmen, erklärt Schewtschenko: »Für mich geht es bei diesem Prozess nicht um unbedeutenden Hooliganismus, sondern um einen grundsätzlichen Konflikt zwischen zwei Weltanschauungen. Die Aggression geht von der neoliberalen Weltanschauung aus.«34 In einem Interview im russischen Staatsfernsehen antwortet er auf die Frage: »Sind die Kirche und der Staat ein und dasselbe?« – »Ja, für Russland sind sie ein und dasselbe.«35 Demgegenüber beharrt die Verteidigung in der Performance auf der säkularen Verfasstheit des Staates und auf dem russischen Recht, nach dem zumindest in den ersten beiden Prozessen »kein wirklicher Straftatbestand vorlag«36, so die Juristin Anna Stawitskaja, die in diesen Fällen vor Gericht Verteidigerin war und auch in der Performance die Verteidigung vertritt. Vor allem mit der Befragung der Zeugen und dem Auftritt der »Experten« von Verteidigung und Anklage entwirft die Gerichts-Performance ein komplexes, vielschichtiges Bild der russischen Gesellschaft: Von fanatischen »Gläubigen« zerstörte Ikonen (aus der Ausstellung Achtung, Religion!) werden als Beweisstücke herangezogen. Mitglieder orthodoxer Kampfsportgruppen, Zerstörer der Ausstellungen wie der Altardiener Sergejew, der faschistische Künstler Beljajew-Gintowt und der ultranationalistische Politologe Walerij Korowin, Direktor des »polittechnologischen« Projekts »Zentrum für geopolitische Expertisen«37 und stellvertretender Leiter von Dugins Internationaler Eurasier-Bewegung38 treten gemeinsam für eine Verurteilung der Künstler ein. Demgegenüber tritt der 33 | Ebd. 34 | Zit. n. Rau, Die Zürcher Prozesse/Die Moskauer Prozesse, S. 49. 35 | Ebd., S. 48. 36 | Ebd., S. 52. 37 | Vgl. hierzu Andreas Umland, »Neue rechtsextreme Intellektuellenzirkel in Putins Russland: das Anti-Orange Komitee, der Isborsk-Klub und der Florian-Geyer-Klub«, in: www.bpb. de/internationales/europa/russland/159429/analyse-neue-rechtsextreme-intellektuel lenzirkel?p=all vom 05.03.2016. 38 | Vgl. Andreas Umland, »Intellektueller Rechtsextremismus im postsowjetischen Russland. Der Fall Alexandr Dugin«, in: Berliner Debatte Initial 6 (2006), S. 33-43; Anton Shek-
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dissidente Priester und Menschenrechtler Gleb Jakunin dezidiert für die Verteidigung der Angeklagten ein, da sie – wie Pussy Riot – die Vereinigung von Kirche und Staat radikal ablehnten.39
Abb. 3: Die Moskauer Prozesse, Der Ankläger, Regie: Milo Rau. © IIPM/Maxim Lee Am dritten Tag, als die Performance zweimal unterbrochen werden muss, passiert etwas Erstaunliches. Als die Einwanderungsbehörde ins Sacharow-Zentrum kommt, um die Visa und Arbeitsverträge sämtlicher Mitarbeiter zu kontrollieren, schließen sich die Anwältin Stawitskaja und der von seinem in der Performance vertretenen Standpunkt der Anklage sehr überzeugte Schewtschenko zusammen, um den Fortgang der Performance zu ermöglichen.40 Nach einstündiger Unterbrechung geht die performative Verhandlung weiter, muss jedoch eine weitere Stunde später erneut unterbrochen werden. Dieses Mal, weil die Polizei sowie eine Abordnung von Kosaken vor der Tür stehen. Sie hätten gehört, dass »hier eine Veranstaltung zum Schutz von Pussy Riot stattfindet und die orthodoxe Kirche dabei kritisiert wird«41, was sie nicht dulden könnten. Wieder ist es Schewtschenko, der das Performance-Projekt verteidigt und die Kosaken besänf-
hovtsov, »Putin’s Brain?«, in: www.academia.edu/8249892/Putins_Brain_on_Aleksandr_ Dugin_ vom 05.03.2016. 39 | Zu Gleb Jakunins Opposition gegen die ROK im Zusammenhang mit der Hetzkampagne gegen die Ausstellung Achtung, Religion! vgl. Ryklin, Mit dem Recht des Stärkeren, S. 168. 40 | Vgl. Rau, Die Zürcher Prozesse/Die Moskauer Prozesse, S. 129. 41 | Kosake, zit. n. ebd., S. 141.
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tigt42, so dass diese schließlich abziehen und die Performance weitergehen kann. Mit derselben Ernsthaftigkeit, mit der er die Performance nach außen verteidigt, vertritt Schewtschenko in der Performance die Anklage. Zum Schluss der Verhandlung, als er gegen den Freispruch protestiert und die Vertrauenswürdigkeit des ›Gerichts‹ anzweifelt, scheint es fast, als sei er mit der ›Rolle‹ des Anklägers derart verschmolzen, dass er geradezu die Figur des Staatsanwalts geworden zu sein scheint. In der weitgehenden Abwesenheit von Ironie, die der Performance eignet, geschieht bei der Urteilsverkündung noch etwas Bemerkenswertes. Einer der Geschworenen, der mit dem Prozessverlauf nicht einverstanden ist, macht von der Möglichkeit des ›Kommentars‹ Gebrauch, einer ritualisierten Form der Äußerungsmöglichkeit vor Gericht, die hier zitiert wird. Der im Film als Bienenzüchter und orthodoxer Gläubiger vorgestellte Alexander Kugai protestiert gegen die Performance, an der er selbst drei Tage lang teilgenommen hat. Diese habe nur dazu gedient, »noch einmal Hass zu schüren«43. Mit Verweis auf die stalinistischen Schauprozesse und die Zeit des großen Terrors – »Das Jahr 1937 ist also wiedergekommen«44 – warnt er vor der Unterstützung der »gottlosen Kleinkriminellen«45 und verlässt seinen Platz in der Jury. Das Urteil wird verkündet: Nachdem die Geschworenen die erste Frage – ob die Angeklagten Taten begangen hätten, die »die Gläubigen gedemütigt und Hass gegen sie geschürt«46 hätten – unentschieden beantwortet haben (drei Stimmen »dafür«, drei »dagegen«, eine Enthaltung), die zweite Frage – ob die Angeklagten »die vorsätzliche Absicht hatten, Hass gegen die Gläubigen zu schüren oder ihre Gefühle zu verletzen« 47 – jedoch eindeutig verneint haben (eine Stimme »dafür«, fünf »dagegen«, eine Enthaltung), lautet das Urteil auf Freispruch. Auf das Urteil folgt der Protest von Seiten der Anklage: Schewtschenko merkt an, das gespaltene Urteil der Geschworenen gebe die »Spaltung der Gesellschaft«48 wieder und es müsse daher in Revision gehen. Indem die Performance allerdings genau diese Spaltung zeigt, vor allem indem sie mit den Auftritten der Zeugen die vielen unterschiedlichen, widerstreitenden Stimmen zu Gehör bringt, weicht sie von den als Material zugrunde liegenden drei Gerichtsprozessen in entscheidender Weise ab. Sie präsentiert eine gesellschaftliche Vielstimmigkeit, die in der breiten Medienöffentlichkeit nicht mehr zu hören ist.
42 | Vgl. ebd., S. 139. 43 | Alexander Kugai, zit. n. ebd., S. 152. 44 | Ebd., S. 153. 45 | Ebd., S. 152. 46 | Natalia Alexandrowna Mumlatse, in der Performance ›Sprecherin der Geschworenen‹, zit. n. ebd., S. 152. 47 | Dies., ebd. 48 | Schewtschenko, zit. n. ebd., S. 154.
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Abb. 4: Die Moskauer Prozesse, Die Jury, Regie: Milo Rau. © IIPM/Maxim Lee In der Gerichts-Performance sagt Michail Ryklin, hier als Zeuge zum Fall Achtung, Religion!, über die Atmosphäre im Gerichtssaal während des Prozesses gegen die Ausstellungsmacher: »Jeder Versuch, diese Atmosphäre hier zu beschwören, ist zum Scheitern verurteilt«49. Auch den Zuschauern von Raus Dokumentarfilm über die Performance bietet sich eher das Bild eines Metadiskurses denn der Versuch einer Aktualisierung oder ›Wiederaufführung‹ historischer Gerichtsprozesse mit theatralischen Mitteln. In der Performance selbst gab es kaum ›Zuschauer‹ im engeren Sinn, da die meisten der drei Tage im SacharowZentrum Anwesenden gleichzeitig Teilnehmer der Performance waren. Aus dem Film Die Moskauer Prozesse erfährt man, dass es auch so gut wie keine öffentliche Ankündigung der Performance in den Medien gab. Die eigentliche Öffentlichkeit wurde erst durch die Filmdokumentation des Performanceprojekts hergestellt. Die Performance selbst zielte vielmehr darauf, einen Dialog zu ermöglichen, der durch die Gerichtsprozesse gegen die Künstler und Kuratoren verunmöglicht worden war. Der Kurator Marat Gelman – ehemals Leiter des Museums für zeitgenössische Kunst in Perm, aus dem er nach umstrittenen Ausstellungen entlassen wurde, früher kremlnaher Politikberater, der in seiner Galerie so radikale zeitgenössische Künstler wie Oleg Kulik und die Gruppe Blue Noses ausstellte –, zielt auf diesen gleichsam gewaltsamen Abbruch einer gesellschaftlichen Diskussion, wenn er zum Fall Pussy Riot sagt:
49 | Ryklin, zit. n. ebd., S. 68.
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Christina Schmidt In der Kunstszene gab es damals eine Diskussion darüber, inwiefern das, was sie gemacht haben, in Ordnung ist. Aber seit man sie verhaftet hat, wäre es Verrat, diese Diskussion, ob das Kunst oder nicht Kunst ist. […] Man hat uns mit der Verhaftung die Möglichkeit genommen, diese Frage zu diskutieren. 50
Auch die Befürworter der Prozesse gegen die Künstler und Kuratoren bzw. Zerstörer der Ausstellungen treten mit ihrer Teilnahme an der Performance in einen Dialog mit ihren Gegnern ein. Ihnen geht es weniger um die Frage, was Kunst ist, als darum, was Kunst darf, so der radikal-orthodoxe Aktivist Dmitri Enteo51, der in der Performance als Zeuge der Anklage auftritt. Im Interview erläutert er seine Motivation, an der Performance teilzunehmen, so: »Ich nehme an diesem Projekt teil, um die feine Grenze zu zeigen, an der die Kunst endet und die Beleidigung Gottes beginnt.«52 Der Verteidigung der Künstler, den ehemals Angeklagten sowie den immer wieder Angriffen ausgesetzten Künstlern geht es demgegenüber um die Legalität von Kunst im öffentlichen Raum bzw. um die Säkularität und Allgemeingültigkeit der staatlichen Gesetze, die in den Prozessen gegen die Künstler verletzt bzw. aufgegeben worden seien. Diese Rechtsverletzungen bzw. die Entsubstanzialisierung des Rechts, wie Ryklin schreibt, kann die Performance weder ausgleichen noch revidieren. Sie kann sie jedoch zur Sprache bringen. Und für dieses Zur-Sprache-Bringen von anderenorts gesellschaftlich ungehörten oder weitgehend übertönten Stimmen, für das Kreuzfeuer sich widersprechender Stimmen, schafft die Performance einen Raum. Sie tut dies, indem sie mit der Form eines stilisierten Gerichtsprozesses, in der jeder Stimme gleich viel Zeit und der gleiche Auftrittsort zugemessen wird, einen Rahmen vorgibt, in dem diese widerstreitenden Stimmen überhaupt auftreten können. Dieser Rahmen beruht darauf, dass sich alle an der Performance Teilnehmenden auf die vorgegebenen Regeln einigen. Wie weit diese Einigung geht zeigen vor allem die Unterbrechungen und die Reaktion der Teilnehmenden auf diese. Die Rahmung, die Form, die der Gerichts-Performance zu Grunde liegt, ist ihre eigentliche Leistung, indem sie allererst den Raum hervorbringt, in dem ein mögliches Gespräch stattfinden könnte.
50 | Marat Gelman, zit. n. ebd., S. 133f. 51 | Dmitri Enteo alias Zorionow gehört zur Gruppe ›Boshja Wolja‹ (›Gottes Wille‹), die Angriffe gegen Künstler und Ausstellungen, LGBT- und Antikriegs-Demonstrationen durchführt. Zu seinen Aktionen vgl. www.interpretermag.com/russia-update-august-17-2015/ sowie www.vocativ.com/world/russia/people-think-putin-is-a-god/?page=all vom 05.03.2016. 52 | Enteo, zit. n. Rau, Die Zürcher Prozesse/Die Moskauer Prozesse, S. 136.
The ater arbeit, K onte x te , R echerchen
Episteme der Dramaturgie Evelyn Deutsch-Schreiner, Katharina Pewny, Jeroen Coppens, Melanie Reichert, Ann-Christine Simke, Nico Theisen
Evelyn Deutsch-Schreiner Seit der Jahrtausendwende ist das Fachinteresse der Theaterwissenschaft an Dramaturgie gestiegen. Dramaturgie wird als Schnittstelle von Theaterpraxis und Theorie nun als explizites wissenschaftliches Forschungsfeld wahrgenommen. Merkbar ist auch die Intensivierung des Dialogs zwischen Praktikern und Praktikerinnen und Theatertheoretikern und Theatertheoretikerinnen. So wurde etwa 2008 an der Universität von Amsterdam von Katharina Pewny, Peter Boenisch und Evelyn Deutsch-Schreiner die »Arbeitsgruppe Dramaturgie« in der Gesellschaft für Theaterwissenschaft gegründet.1 Vernetzt mit Universitäten, Kunsthochschulen und Theatern, haben die mittlerweile 60 Mitglieder aus acht Ländern einen breiten Ansatz von Dramaturgieforschung. Es interessieren nicht nur traditionelle Felder der Dramaturgie, wie historische Dramaturgieforschung, dramaturgische Analysen von Stücken, Aufführungen, Theaterinstitutionen und Diskursen, sondern auch Dramaturgie als Kompositionsprinzip ideologischer und sozialer Prozesse. Ein Schwerpunkt liegt aber auf Dramaturgie als einem jeder Aufführung inhärenten relationalen Prozess, der sowohl die Elemente der Inszenierungstextur dynamisch verknüpft, als auch direkt auf die Zuschauer wirkt und mit ihnen interagiert. »Episteme der Dramaturgie« ist ein Beitrag der internationalen Arbeitsgruppe Dramaturgie und zeigt die Bandbreite von Fragestellungen an das Forschungsfeld. Ausgehend von der Überlegung, dass Dramaturgie im Kern eine Technik der Reflexion und damit des Erkennens ist, stellen die Beiträge verschiedene Modelle von Dramaturgie als Technik der Erkenntnisgewinnung vor. Denken, Suchen, Fragen, Sehen, Ver1 | Im Kontext der Dramaturgieforschung sind folgende neuere Beiträge der Mitglieder zu nennen: Katharina Pewny/Johan Callens/Jeroen Coppens (Hg.), Dramaturgies in the New Millenium. Relationality, Performativity and Potentiality, Tübingen 2014; Peter Boenisch, »Drama – Dramaturgie«, in: Peter W. Marx (Hg.), Handbuch Drama. Theorie, Analyse, Geschichte, Stuttgart/Weimar 2012, S. 43-52; Ders., »Grundelemente (2). Formprinzipien der dramaturgischen Komposition«, in: ebd., S. 122-144; Evelyn Deutsch-Schreiner, Theaterdramaturgien von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Wien 2016.
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mitteln und Diskurs sind zentrale Aufgaben der Dramaturgie im Theater und in der wissenschaftlichen Forschung. Katharina Pewny geht es um Suchbewegungen als zentrales Paradigma und als Prozess der Dramaturgie. Dies betrifft die Suche nach künstlerischen Ästhetiken ebenso wie die Suche nach Kooperations- und Vermittlungsformen. Sie erläutert an den Aufführungen Veronika Blumstein – Moving Heads und Looking for Paul! des niederländischen Theaterkollektivs Wunderbaum eine »Dramaturgie als Suche«. Jeroen Coppens konstatiert in seinem Beitrag »Visuelle Dramaturgie: (Theater-)Bilder, die denken«, dass der Akt des Sehens immer schon als wesentlich gedeutet wird, um zur Erkenntnis zu kommen. In seiner Analyse visueller Dramaturgien im postdramatischen Theater, der W. J. T. Mitchells Konzept der »Metabilder« zugrunde liegt, arbeitet er die Verbindung zwischen Visualität und Erkenntnis, zwischen dem Akt des Sehens und der Reflexion heraus. Melanie Reichert unternimmt eine kulturphilosophische Annäherung. Sie findet in den Herangehensweisen von Bertolt Brecht, Antonin Artaud und Peter Brook »Dramaturgien des Unbegrifflichen«, in denen Erkenntniserweiterung nicht begrifflich-argumentativ, sondern situativ ist. Ann-Christine Simke untersucht in ihrem Statement »Dramaturgie als Vermittlung« die Möglichkeiten eines Theaters, durch das Programmheft mit seinem Publikum in Dialog zu treten und beschäftigt sich mit der Dramaturgiepraxis der Berliner Schaubühne der späten 1960er und frühen 1970er Jahre. Nico Theisen nimmt Theresia Birkenhauers Ansatz des In-Szene-Setzens von Sprache (Schauplatz der Sprache – das Theater als Ort der Literatur) auf und befragt in seinem Statement die Dramaturgie der Sprache im ›Diskurstheater‹ von René Pollesch.
Dramaturgie als Suche oder: Was treibt Performance? Angelehnt an Fanne Bolands Entwurf von Dramaturgie als Prozess – im Unterschied zu Dramaturgie als Produkt – gilt mein Interesse der spezifischeren Erfassung der Natur der Prozesse, in denen sich Dramaturgien im Gegenwartstheater vollziehen.2 Dramaturgische Prozesse sind oftmals, so die These, kollektive Suchprozesse, wobei die Suche ein Streben nach flüchtigen und vergänglichen Zielen ist, sie ist nicht final. Sowohl Zusammenarbeitsprozesse während der Aufführungsproduktion als auch Aufführungen, deren Gegenstand die Suche ist, können als Suchprozesse gedacht werden. Die Suche geht über die Frage insofern hinaus, als sie auch die Antwort, die (daraufhin) veränderte und neu gestellte Frage und – über Sprache hinaus – die Gesamtheit menschlicher Denk- und Handlungsmöglichkeiten impliziert. Ich entwerfe Dramaturgie als Suche im Folgenden ausgehend von dem Eröffnungsfest K3: Veronika Blumstein – Moving Heads (Kampnagel, Hamburg, 18.-20. 2 | Dieser Text ist eine gekürzte Fassung des folgenden Artikels: Katharina Pewny, »Relational Dramaturgies as search for the other generation«, in: Dies./Johan Callens/Jeroen Coppens (Hg.), Dramaturgies in the New Millennium. Relationality, Performativity, Potentiality, Tübingen 2014, S. 79-96.
Episteme der Dramaturgie
Oktober 2007) und von der Aufführung Looking for Paul! des niederländischen Theaterkollektivs Wunderbaum (Redcat Theatre, Los Angeles, 2010). In diesen Aufführungen verschmelzen Sprechtheater, Performance, Tanz und Bildende Kunst. Durch die Verschmelzung der Genres werden auch dramaturgische, choreografische und kuratorische Praktiken untrennbar. Welche Sehnsucht, welche Wünsche und Begehren treiben diese Aufführungen? Wie sind die einzelnen Aufführungselemente miteinander verbunden, und wodurch? Das Eröffnungsfest im Namen der fiktiven Choreografin Veronika Blumstein ist eine einmalige, kollektive Performance der Festivalbesucher, für deren künstlerische Leitung die Tanzdramaturgin Sandra Noeth und die Kulturmanagerin Sabine Gehm verantwortlich zeichnen. Darin wird ein fiktives Erbe der erdachten Choreografin performt, Festivalbesucherinnen3 und Künstlerinnen sind gleichermaßen daran beteiligt. Looking for Paul! ist eine Produktion des niederländischflämischen Theaterkollektivs Wunderbaum, die eine kollektive Annäherung an das konfliktuöse Werk des Performancekünstlers Paul McCarthy zum Gegenstand hat. Die Aufführungen funktionieren auf unterschiedliche Weise: einmal künstlerische Leitung durch zwei Dramaturginnen/Kulturmanagerinnen und/ versus kollektive Dramaturgie ohne individuelle Dramaturgin, Tanz und/versus Sprechtheater, einmaliges Fest anlässlich der Eröffnung eines choreografischen Zentrums und/versus wiederholbarer Theaterabend, fiktive Künstlerin und/versus reale Künstlerperson, involvierte Teilnehmerinnen und/versus Zuschauerinnen, die in Reihen eines black box-Theaters sitzen. Zugleich teilen sie mehrere Merkmale: Beide Aufführungen operieren über die (West-Ost-)Grenzen Europas hinaus – einmal nach Osten/Polen (Veronika Blumstein ist eine deutsch-polnische Künstlergruppe) und einmal nach Westen/ USA (Looking for Paul! inszeniert eine Reise von Rotterdam nach Los Angeles). Die Aufführungen teilen auch ein kollektives Modell von Autorschaft, das u.a. via E‑Mail und snail mail verläuft. Zentral für meine Überlegungen ist die Weise, wie sie sich zu dem künstlerischen Werk einer Vorgängerin, sei diese nun real oder fiktiv, in ein Verhältnis setzen. Dieses Verhältnis bildet erstens den dramaturgischen Kern der Aufführungen, und es zeigt zweitens Dynamiken von Dramaturgie als performativen Prozess, der die Suche als Aufführung hervorbringt, indem er sich vollzieht. Anders gesagt: Dramaturgie als Suche performt Performance. Beide Aufführungen entwickeln sich durch die Auseinandersetzung mit ihrem künstlerischen Erbe hindurch, sie bestehen in einer sich fortwährend verschiebenden Bezugnahme auf das Oeuvre der künstlerischen Vorgängerinnen. Resultat der Suche nach der Vorgängergeneration ist die Verkörperung von Aspekten von Veronika Blumsteins und Paul McCarthys Werken in den Aufführungen. Diese Suche ist selbstreflexiv, weil ihr Ziel die eigene Positionierung im Verhältnis zum Werk der künstlerischen Vorgängerinnen ist. Die Suchbewegungen 3 | Ich verwende hier und im Folgenden durchgängig die weibliche Form, alle anderen Geschlechter sind dabei mit gemeint.
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sind die treibende Kraft, das dramaturgische Scharnier, die Form und der Inhalt der Aufführungen. Beide Aufführungen stellen die Suchbewegungen nicht dar, sondern sind diese Suchbewegungen. Die Suche ist der energetische Motor der Aufführungen. Durch die Dramaturgie der Suche setzen sich die beteiligten Künstlerinnen in ein bestimmtes Verhältnis zu ästhetischen Traditionen und zu den jeweiligen (kultur-)politischen, urbanen und transnationalen Kontexten. Das sind bei Veronika Blumstein die deutsch-polnische Zusammenarbeit sowie die Fördermaßnahme Tanzplan der German Federal Cultural Foundation (2005-2010) und bei Wunderbaum die Debatte um die Verknappung der staatlichen Kunstförderung nach dem Modell der USA, die 2010 in den Niederlanden geführt wurde, sowie die Kontroverse über die Platzierung der Skulptur Santa Claus von Paul McCarthy in der niederländischen Stadt Rotterdam, die von 2001-2008 andauerte. Veronika Blumstein und Looking for Paul! unterscheiden sich von politischen Suchbewegungen von Performance/Theaterkünstlern seit den 1970er, 1980er und 1990er Jahren wesentlich, weil die heutigen Werke die Verhältnisse zu ihren künstlerischen Vorgängerinnen zum Dreh- und Angelpunkt ihrer relationalen Dramaturgien machen (können). Veronika Blumstein und Wunderbaum teilen ihr Interesse am Politischen im Theater mit anderen Theatermachern, die wie sie ihre Positionierung unter Rekurs auf die politische Geschichte und auf die Theatergeschichte vornehmen. Paradigmatisch hierfür ist im deutschen Sprachraum Nicolas Stemanns Inszenierung von Elfriede Jelineks Ulrike Maria Stuart am Hamburger Thalia Theater (2007). Bereits der Text ist eine Auseinandersetzung mit deutscher politischer Vergangenheit und Theatergeschichte, denn Jelinek schreibt darin Friedrich Schillers Maria Stuart um in die Erzählung von Ulrike Meinhofs Engagement in der Roten Armee Fraktion. Stemann und das Ensemble gehen über die Auseinandersetzung mit dem dreißigsten Jubiläum des ›Deutschen Herbst‹ (1977) auf die Suche nach politischen Handlungsmöglichkeiten im Theater. Veronika Blumstein und Wunderbaum beantworten die Frage der Roten Armee Fraktion, die Nicolas Stemann in Ulrike Maria Stuart zentral stellte: »Was muß denn noch passieren, bis endlich was passiert?«, mit der Dramaturgie der Suche nach einem Verhältnis zu den künstlerischen Vorgängerinnen.
Katharina Pewny
Visuelle Dramaturgie (Theater-)Bilder, die denken Dieser Kurzbeitrag befasst sich mit einer Idee, die in den letzten Jahren aus unterschiedlichen Perspektiven schon thematisiert worden ist, und fragt nach dem Wert dieser Idee in Überlegungen über Theater im Allgemeinen und visueller Dramaturgie im Besonderen. Diese Idee lautet, dass Bilder denken können, dass Bilder in einer nicht-diskursiven Weise zu uns sprechen. Diese Idee hat natürlich eine lange Vorgeschichte, in der das Bild und die Philosophie einander näher
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gekommen sind. So hat spätestens Hubert Damischs L’origine de la Perspective (1987) überzeugend gezeigt, wie Malereien mittels der Zentralperspektive Gedanken und Argumente auf bauen können. In diesem Sinne sind sie ›philosophierende Bilder‹. Im Bereich der Visuellen Studien geht W. J. T. Mitchell einen Schritt weiter, indem er in What do Pictures Want? The Lives and Loves of Images (2005) fragt, was Bilder wollen. Die Frage subjektiviert nicht nur das Bild, sie ist auch eine formale Wiederholung von Sigmund Freuds Frage »Was will die Frau?« und Frantz Fanons Frage »Was will der Schwarze Mann?«.4 Der eingeschränkte Rahmen dieses Beitrag lässt es leider nicht zu, Mitchells rhetorische Gleichsetzung von Bildern mit unterdrückten Realitäten weiter zu erläutern. Stattdessen liegt der Fokus auf der Frage, wie die Idee der »Denkenden Bilder« (thinking images) im Rahmen des Theaters nützlich sein kann. Es ist allgemein bekannt, dass das postdramatische Theater, so wie es durch Hans-Thies Lehmann beschrieben wurde, nicht länger nur dem Theatertext untergeordnet ist. Eine der vielen Folgen davon ist, dass das Theater neben Körperlichkeit und Simultanität von (Theater-)Zeichen auch Visualität und Bildlichkeit in der theatralen Praxis erkundet. Tatsächlich sind heutzutage Vorstellungen ohne (oder größtenteils ohne) Sprache, die hauptsächlich aus visuellen Szenen bestehen, keine Ausnahme mehr. Diese spezifische Dramaturgie wurde schon Anfang der 1990er Jahre von Knut Arntzen als »visuelle Dramaturgie« definiert, um eine dramaturgische Praxis zu beschreiben, die meist weder auf Text noch auf Sprache, sondern auf Bildern basiert und ihre Expressivität vorwiegend aus ihrer Visualität gewinnt.5 In seiner Studie Postdramatisches Theater entwickelt Lehmann diese Idee weiter, indem er sagt: »Visuelle Dramaturgie heißt dabei nicht eine exklusiv visuell organisierte Dramaturgie, sondern eine, die sich nicht dem Text unterordnet und ihre Logik frei entfalten kann.«6 In seinem Artikel »Dramaturgy and Postdramaturgy« führt Patrice Pavis an, dass »[t]he main characteristic of visual dramaturgy is not the absence of text on stage, but a stage form in which visuality takes central stage, to the point of becoming the main feature of aesthetic experience.«7 Obwohl diese drei Definitionen andere Nuancen des Begriffs erfassen, gehen sie von der gleichen Feststellung aus, nämlich dass in einer visuellen Dramaturgie Textualität und Bildlichkeit in ein neues Verhältnis zueinander treten. Die Frage, wie man als Publikum, als Kritiker und als Wissenschaftler mit Theaterbildern, die zwar eine hohe visuelle Expressivität haben, aber nicht unbedingt diskursiv definierbar und thematisierbar sind, 4 | Vgl. William John Thomas Mitchell, What do Pictures Want? The Lives and Loves of Images, Chicago, IL 2005, S. 29f. 5 | Vgl. Knut Ove Arntzen, »A Visual kind of Dramaturgy: Project Theatre in Scandinavia«, in: Claude Schumacher/Derek Fogg (Hg.), Small is Beautiful, Glasgow 1991, S. 43-48. 6 | Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M. 2011, S. 156. 7 | Patrice Pavis, »Dramaturgy and Postdramaturgy«, in: Pewny/Callens/Coppens, Dramaturgies in the New Millennium, S. 14-36, hier S. 21.
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umgehen soll, bleibt aber noch offen. Diese Frage ist in ihrer semiotischen und ikonographischen Form, nämlich wie man Bilder lesen und beschreiben könne, weiter verbreitet. Implizit birgt sie aber die Gefahr, dass Bild und Visualität auf diese Weise lediglich als eine andere Form von Textualität gesehen und behandelt werden. Um diese Gefahr der Reduktion zu umgehen, ist es interessant, die Frage nach Visualität im Theater umzudrehen, genauso wie Mitchell es macht, und zu fragen: »Was wollen und was denken diese Bilder?«.8 So findet ein wesentlicher Wechsel der Perspektive statt, indem es bei der Frage nicht mehr darum geht, Bilder zu lesen und zu identifizieren, wofür sie stehen, wie es in der Ikonographie üblich ist. Das Bild ist dann nicht mehr bloß Platzhalter (placeholder) für etwas anderes, sondern eine Entität, die, um es mit dem Ausdruck von Gian Maria Tore zu sagen, selber »Probleme schafft und löst innerhalb des Bildes.« 9 Diese Vorgehensweise ist in der Theaterwissenschaft nicht neu. Die Erkenntnis aus den Visual Studies, dass das Sehen nie neutral ist und daher historisiert werden muss, hat Maaike Bleeker bereits in Visuality in the Theatre (2008) berücksichtigt, um so Theater als »kritischen Schauplatz des Sehens« (critical vision machine) zu verstehen.10 Ihr Buch ist daher nützlich für die Überlegung, wie das gesehene Objekt und der Sehende (seer) gemeinsam die Prozesse des Sehens grundlegend prägen. Visualität fungiert dabei weniger als Kategorie, die das Verständnis und die Analyse auf dem Bild basierender visueller Dramaturgien auf der Bühne erlaubt. Vielmehr bleibt Visualität in ihrer Argumentation eher ein theoretischer Begriff, der die Prozesse des Sehens historisiert und analysiert, wie das Sehen kulturell und historisch bedingt ist. In »Questionner l’entre‹« geht Kati Röttger einen Schritt weiter, indem sie Mitchells Konzept des Metabildes und des ›Vortext-Effekts‹ nutzt, um das untrennbare Zwischenspiel zwischen Intermedialität (Media), Theatralität (Sehen) und Performativität zu verstehen.11 Mitchell beschreibt den Vortext-Effekt von Bildern als einen multistabilen Prozess, indem der Zuschauer einerseits von der Illusion des Bildes mitgenommen wird (Immersion/Immediacy), andererseits aber dem Bild fremd bleibt, indem er auch (und Mitchell argumentiert: gleichzeitig) die Konstruktion des Bildes sieht. Aufschlussreich ist hier, dass das Bild und seine Wirkung angewendet werden, um die theatrale »In-Between«-Erfahrung (zwischen Diskursivität und Körper, 8 | Mitchell, What do Pictures Want?, S. 6. 9 | Vgl. Gian Maria Tore, »Pour penser la pensée des images«, in: Image [&] Narrative [e-journal] 18 (2007), www.imageandnarrative.be/inarchive/thinking_pictures/tore.htm vom 25.04.2016. 10 | Maaike Bleeker, Visuality in The Theatre. The Locus of Looking, Basingstoke 2011, S. 7. 11 | Vgl. Kati Röttger, »Questionner l ’entre‹: une approche méthodologique pour l’analyse de la performance intermédiale«, in: Jean-Marc Larrue (Hg.), Théâtre et Intermédialité, Montréal 2015, S. 117-131.
Episteme der Dramaturgie
zwischen Theatralität, Intermedialität und Performativität, zwischen Text und Bild usw.) zu erläutern. Diese Vorgehensweise hat sehr viel Potenzial, bildbasierte Theater- und Performance-Praktiken nicht bildbeschreibend (ikonographisch), sondern aus dem Bild heraus zu verstehen. An anderer Stelle habe ich konkret analysiert, wie Mitchells Kategorie des Metabildes angewendet werden kann, um intermediale visuelle Dramaturgien vom Bild ausgehend zu analysieren.12 An dieser Stelle kann ich nur summarisch darauf eingehen. Metabilder sind, laut Mitchell, Bilder, die ihre eigene Reflexion in sich tragen, indem sie auf sich selbst verweisen.13 Dies geschieht, indem sie entweder im buchstäblichen Sinne selbstreferentiell sind (Bild innerhalb des Bildes), indem sie innerhalb des Bildes sich selbst widersprechende Elemente enthalten oder indem sie multistabil sind. Die letzte Kategorie illustriert Mitchell anhand der bekannten Hase-Ente-Illusion, über die auch schon Wittgenstein geschrieben hat. Metabilder sind mit anderen Worten unklare Bilder, weil sie nicht nur eine Geschichte erzählen wollen, sondern auch irgendetwas über ihren eigenen Status als Bild aussagen, über ihre eigene Konstruktion. Visuelle Dramaturgien schaffen genau diese Art Bilder auf der Bühne, Bilder, die nicht eindeutig von einem Diskurs aus lesbar sind, aber in einem Zwischenspiel zwischen Medien, Körpern und Prozessen der Remediation einen multistabilen Sehprozess schaffen. Dieser Prozess kreiert sowohl eine illusionistische Erfahrung als auch eine Bewusstheit über die mediale Vermittlung und Bedingtheit des Bildes. Wenn wir zum Schluss noch einmal auf die Anfangsfrage zurückkommen: »Was denken und sagen (Theater-)Bilder?«, lautet eine vorläufige Antwort: Wenn Lehmann in seinem Vortrag »_Selten so gedacht_ Wissenschaft vom Theater als Denkzeitraum«14 überzeugend bemerkt, dass Theater Denken auf und mit der Bühne sei, dann ist es von entscheidender Bedeutung, auch das Denken der Bilder und die Visualität des Theaters miteinzubeziehen. Die Selbstreflexion, die Selbstproblematisierung und das Zurückblicken des Bildes können dabei die wesentlichen Ansatzpunkte sein, um das Denken mit Visualität und über Visualität seinerseits zu bedenken.
Jeroen Coppens
Dramaturgien des Unbegrifflichen Eine kulturphilosophische Annäherung Die folgenden Überlegungen nehmen Theaterkonzepte in den Blick, die etabliertes Sinnverstehen auflösen oder an einer szenischen Repräsentation von dem 12 | Vgl. Jeroen Coppens, »The In-Between of Visual Dramaturgy«, in: Pewny/Callens/ Coppens, Dramaturgies in the New Millennium, S. 147-161. 13 | William John Thomas Mitchell, Picture Theory. Essays on Verbal and Visual Representation, Chicago, IL 1994, S. 35. 14 | Siehe den Beitrag von Hans-Thies Lehmann in diesem Band.
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arbeiten, was begrifflich nicht mehr fassbar ist. Ziel dieser Ansätze, die im Folgenden als Dramaturgien des Unbegrifflichen bezeichnet werden, ist eine Kritik der Kultur: diese verstelle oder zensiere bestimmte Formen und Inhalte der Erkenntnis und des Wissens. Dabei ist ihnen ein zweifaches dialektisches Verhältnis zur Episteme eigen: Zum einen wird Erkenntniserweiterung als Ziel einer Repräsentation des Unbegrifflichen oder auch einer Destabilisierung von Verstehen anvisiert. Zum anderen wird diese Erweiterung nicht begrifflich-argumentativ, sondern situativ erreicht. Sie kann auf zwei verschiedene Arten beschrieben werden, die, je nach dramaturgischem Ansatz, in unterschiedlicher Gewichtung ineinander greifen. Die erste Erweiterungsstrategie vermutet einen alternativen Sinnraum hinter dem begrifflichen Verstehen, der erst durch Demontage oder Verletzung dieses Verstehens zugänglich wird. Hier öffnen sich dann Möglichkeiten eines neuen, tieferen Verständnisses von Welt und Gesellschaft. Die zweite Strategie ermöglicht eine szenische Konfrontation mit Unbegrifflichem. Sie zielt hierbei einerseits auf ästhetische Reflexion eines immer schon erfolgten Umgangs mit Unbegrifflichem, andererseits auf die Kultivierung einer Haltung, die begriffliche Uneinholbarkeit anerkennt. Damit einher geht der Anspruch, einerseits Sinn als Geschaffenes, als Werk auszuweisen, und andererseits wiederum dieses Geschaffene als konstitutiv für die menschliche Welt anzuerkennen. Im Folgenden werde ich drei Beispiele umreißen, an denen sich die paradoxe Strategie, eine Erweiterung epistemischer Grenzen mithilfe von Unbegrifflichkeit zu erzielen, beobachten lässt. Anschließend möchte ich eine philosophische Lesart dieser Unbegrifflichkeitsdramaturgien vorschlagen. Methodisch orientiere ich mich hierbei an einer Phänomenologie der Kultur im Sinne Ernst Cassirers, der es darum geht, in Auseinandersetzung mit konkreten Erscheinungen der menschlichen Welt, die wesentlich eine Werkwelt ist, die Bedingungen der Möglichkeit ihres Entstehens zu identifizieren.15 Bertolt Brecht schreibt: »Das ›Natürliche‹ muss das Moment des Auffälligen bekommen.«16 Montagetechniken sollen bekannte Begriffe und Bedeutungen destabilisieren, nicht argumentativ, sondern situativ. Dabei geht es um die Eröffnung eines Diskurses, nicht um die Abgeschlossenheit neuer Erkenntnisse: »Unser Theater muss die Lust am Erkennen erregen, den Spaß an der Veränderung der Wirklichkeit organisieren.«17 Ziel ist die Kultivierung einer Haltung des Fragens, in der Zuschauer und Schauspieler ihre eigenen Gewissheiten unter15 | Ernst Cassirer, An essay on man. An introduction to a philosophy of human culture, in: Ders., Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 23, hg. v. Birgit Recki, Hamburg 2006, S. 58. 16 | Bertolt Brecht, »Vergnügungstheater oder Lehrtheater?«, in: Ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 22, hg. v. Werner Hecht et al., Berlin/ Weimar/Frankfurt a.M. 1988-2000, S. 106-116, hier S. 109. 17 | Bertolt Brecht, »›Katzgraben‹-Notate 1953«, ebd., Bd. 25, S. 399-490, hier S. 418.
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laufen. Das Ergebnis dieser Selbst-Demontage ist nicht bloß reine Orientierungslosigkeit, sondern die Aktivierung des Gestaltungswillens des Zuschauers. Bei Antonin Artaud wird die Infizierung zur Kommunikationsform, die den Zuschauer aus den Kontexten begrifflichen Verstehens reißt.18 Wer sich ansteckt, muss nichts verstehen. Nach Artaud befinden sich Kultur und Leben in Disharmonie: das Theater reproduziere eine Kultur, die das Wissen um die Unbeherrschbarkeit des Lebens zensiere, »als wenn echte Kultur nicht ein verfeinertes Mittel wäre, das Leben zu begreifen und auszuüben«.19 Eine Reanimation dieser wissenden Ausübung ist nur durch die Beseitigung des Begrifflichen zu erreichen, die ihrerseits den Weg der Infizierung zu gehen hat. Dazu zielt Artaud auf die Zerstörung der Form, denn was keine Form hat, kann nicht epistemisch bewältigt werden. Dennoch verheißt auch sein Ansatz eine epistemische Transformation, die eine Rückführung auf ein »von der Sprache und ihren Verkörperungen nicht gedecktes Wissen« 20 ist. Peter Brooks theatraler Reflexion des Unbegrifflichen geht es nicht um Erkenntnis, sondern um Bewusstseinserweiterung durch gemeinsame Erfahrung. Dies erfordert eine Abkehr von Text, Autor und Geschichte zugunsten eines Theaters, das »in der Gegenwart existiert, das nicht von einer Bezugsstruktur abhängt, die dieser Tür einen ideellen Wert von einem kulturellen Hinterland aus geben würde«21. Eine Erweiterung des Bewusstseins wird auch hier nicht begrifflich erreicht, sie muss als soziales Ereignis vollzogen werden und ihr Erfolg ist niemals absehbar. Ich möchte theatrale Situativität als Reanimation einer kulturellen Urszene interpretieren, die eine Situation der Konfrontation mit Unbegrifflichem ist: Dass »Sinn in Frage steht« ist, so auch Emil Angehrn, »die transzendentale Grundlage unseres verstehenden Selbst- und Weltbezugs«.22 Hans Blumenberg untersucht die Metapher als den Begriff überschreitende Möglichkeit des Umgangs mit Unbegrifflichem.23 Diesem sind wir als Menschen immer schon ausgeliefert: Unsere Lebenszeit ist zu knapp und unser Horizont zu eng, als dass wir unseren eigenen epistemischen Ansprüchen gerecht werden könnten.
18 | Vgl. Antonin Artaud, »Das Theater und die Pest«, in: Ders., Das Theater und sein Double. Das Théâtre de Séraphin, Frankfurt a.M. 1969, S. 17-34. 19 | Antonin Artaud, »Vorwort – Das Theater und die Kultur«, ebd., S. 9-15. 20 | Dieter Mersch, »Kunst als epistemische Praxis«, in: Elke Bippus (Hg.), Kunst des Forschens. Praxis eines ästhetischen Denkens, Zürich 2009, S. 27-47, hier S. 46. 21 | Peter Brook, »Lange Reise zum Wahrnehmungsvermögen. Peter Brook im Gespräch mit Denis Bablet«, in: Joachim Fiebach (Hg.), Manifeste des europäischen Theaters. Grotowski bis Schleef, Berlin 2003, S. 178-194, hier S. 190. 22 | Emil Angehrn, »Hermeneutik und Kritik«, in: Rahel Jaeggi/Tilo Wesche (Hg.), Was ist Kritik?, Frankfurt a.M. 2013, S. 319-338, hier S. 323. 23 | Hans Blumenberg, Theorie der Unbegrifflichkeit, Frankfurt a.M. 2007, S. 28.
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Die Bewegung der Metapher gleicht der Bewegung der Kultur: Kulturleistungen weisen ebenfalls über den status quo eines Wirklichen auf ein Mögliches hinaus.24 Dabei bleibt Kultur selbst prekär, sie ist nicht »planmäßig erzeugbar«25 und wir hören nie auf, uns an ihrem Verstehen abzuarbeiten. Was Dramaturgien des Unbegrifflichen anvisieren, kann als Kulturereignis im doppelten Sinne interpretiert werden: als institutionalisierte Kulturleistung und als interaktives Lehrstück über den spezifisch menschlichen Umgang mit Welt. Dieser Umgang ist wesentlich ein Schaffen von und ein Hantieren mit Bedeutung.26 Die vorgestellten Theaterkonzepte nutzen die Situativität des Theatralen als eine Besinnung auf und eine Reanimation dieses Weltschaffens in emanzipatorischer und Erkenntnis erweiternder Absicht. Dramaturgien des Unbegrifflichen markieren kulturelle Formen nicht als Überwindung, sondern als Umgang mit Unbegrifflichem und unterziehen dadurch auch einen allzu selbstsicheren Kulturbegriff (im Sinne einer ›Leitkultur‹ etwa) einer Fundamentalkritik. Die theatrale Abschaffung oder Demontierung begrifflichen Verstehens führt alle Beteiligten in die blumenbergsche Situation der Frage: »Die Situation der Frage und damit der den Begriff implizierenden Antwort ist eine solche der Unbestimmtheit.« 27 Begriffsbildung passiert dann gerade nicht im Anblick des Gegenwärtigen, sondern in Ansehung des »Abwesenden, Entfernten, Vergangenen oder Zukünftigen«28 . So gewendet werfen Dramaturgien des Unbegrifflichen nicht nur den Blick auf Unbegriffliches, sondern auch auf die begriffsimmanente Prekarität. Ihr kritisch-emanzipatorischer Anspruch auf epistemische Erweiterung wird eingelöst, indem sie eine Haltung des Fragens, die eine Haltung zum Unbegrifflichen ist, vorschlagen. Diese basiert nicht auf seiner Nivellierung, sondern auf seiner Anerkennung. Und Haltung, das hat bereits Aristoteles in seiner Ethik gezeigt,29 ist nicht Sache des Begriffs, nicht durch theoretische Überlegungen und Erkenntisse zu erreichen. Sie bedarf der Kultivierung, sie übt und manifestiert sich immer nur in Situationen.
Melanie Reichert 24 | Vgl. Ralf Konersmann: »Kultur als Metapher«, in: Ders. (Hg.), Kulturphilosophie, Hamburg 1996, S. 327-354, hier S. 327. 25 | Ebd. 26 | Vgl. insb. die Ausführungen zur symbolischen Prägnanz bei Ernst Cassirer, »Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil. Phänomenologie der Erkenntnis«, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 13, S. 218-233; Ders., »An Essay on Man«, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 23, S. 28-31. 27 | Blumenberg, Theorie der Unbegrifflichkeit, S. 32. 28 | Ebd. 29 | Vgl. bes. das zweite Buch der Nikomachischen Ethik: Aristoteles, »Nikomachische Ethik«, in: Ders., Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 6, hg. v. Ernst Grumach et al., Darmstadt 1969, S. 28-43.
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Dramaturgie als Vermittlung In meiner Forschung nähere ich mich dem Begriff der Dramaturgie auf historiografische Weise. In verschiedenen Fallstudien werfe ich Schlaglichter auf unterschiedliche dramaturgische Arbeitsweisen an Berliner Theatern im 20. Jahrhundert. Allgemein gesprochen, gilt mein Interesse also historischen Dramaturgie-Praktiken. Anstatt mich jedoch mit der historischen Dimension von Produktionsdramaturgie oder Entwicklungsdramaturgie zu beschäftigen – dramaturgische Praktiken, die sich letztendlich immer auf die Arbeit an einer Aufführung bzw. an einem aufzuführenden Drama fokussieren –, interessiert mich der Aspekt einer, wie ich sie nenne, Dramaturgie der Institution. Meine Leitfrage lautet: Wie geht Theater als Institution jenseits der zeitlichen und räumlichen Begrenzung durch die Aufführung einen Dialog mit seinem Publikum ein? Es gibt vielfältige Möglichkeiten, einen sowohl künstlerischen als auch politischen oder philosophischen Dialog anzuregen. Regelmäßige Einführungen oder Nachbereitungen, Workshops, Trailer, Handzettel, Theaterjournale und Programmhefte: All diese Informations- und Kommunikationsangebote, die ein Theater seinem Publikum anbietet, tragen letztendlich zu der speziellen Profilbildung des Hauses bei. Vorzeitig und nachzeitig zur Aufführung werden dem (potenziellen) Publikum Informationen vermittelt und Anregungen gegeben, die idealerweise zu einem Dialog unter den Zuschauern selbst beitragen oder einen Dialog zwischen Theater und Publikum stiften können. Ein klassisches Instrument der dramaturgischen Vermittlung ist das Programmheft, das allzu oft von der theaterwissenschaftlichen Seite aufgrund des ›Fokus‹ auf die Aufführung vernachlässigt und in der zeitgenössischen Dramaturgiepraxis teilweise als notwendiges Übel abgetan oder als Projekt der Dramaturgieassistenz belächelt wird. Das vermittelnde Anliegen, das einem Programmheft als Zuschauerbegleitung zugrunde liegt, ist jedoch ernst zu nehmen. Dieses Anliegen äußert sich zumeist in dem Versuch, rein präskriptive Rezeptionsanweisungen zu vermeiden und den schmalen Grat zwischen richtungsweisenden Informationen und Anregungen zum eigenen Weiterdenken zu bewältigen. Die britische Theaterwissenschaftlerin Jacky Bratton formuliert es in ihren Überlegungen zu theatre programmes und playbills gleichsam simpel wie prägnant: »[T]he programme puts the reader in the frame of mind to understand how we should respond to the performance.«30 Etwas ausführlicher formulierte die Jury des Theatertreffens 1969 die Aufgaben eines idealen Programmheftes. Zwischen 1969 und 1972, also lediglich drei Mal, vergab die Jury einen speziellen Programmheft-Preis. Der erste dieser Preise ging an die Schaubühne am Halleschen Ufer, damals noch nicht unter der künstlerischen Leitung Peter Steins, aber bereits unter dem Einfluss des federführen-
30 | Jacky Bratton, New Readings in Theatre History, Cambridge 2003, S. 37.
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den Dramaturgen Dieter Sturm. Als Begründung der Entscheidung konnte man in der Broschüre zum Theatertreffen lesen: Dieser Preis versteht sich nicht als Prämierung eines einzelnen Heftes, sondern als Anerkennung kontinuierlicher Informationsarbeit in einer Saison. […] Es soll die Anstrengung gefördert werden, eine Aufführung mit Hilfe des Programmhefts plausibler zu machen, Materialien zum Nach-Denken herbeizuschaffen und so dem Theaterabend jene Weiterung zu sichern, die auch im Alltag Bestand hat. In diesem Sinn wird diesmal der Preis der ›Schaubühne am Halleschem Ufer‹ zuerkannt, deren Programme nicht Wegsteck-Broschüren sind, sondern Aufklärungsschriften zum Besten von Besuchern, die zu Benutzern des Theaters werden könnten. 31
Verschiedene Schlagworte sind hier interessant: Materialien zum Nachdenken, eine Weiterung des Abends, Bestand im Alltag. Es geht hier anscheinend um die Honorierung einer Bemühung, den Theaterabend über den Zeitraum der Aufführung hinaus nachwirken zu lassen, eine Alltagsrelevanz herzustellen, die vielleicht gar nicht unbedingt in der Aufführung angelegt war, die sich jedoch über eine Zusatzlektüre herstellt. Interessant ist auch das angesprochene Transformationspotenzial des Theaterbesuchers in den Theaterbenutzer. Vom Besucher zum zielstrebigen und mündigen Nutzer einer Institution – das Programmheft wird hier als konkretes Instrument der Aneignung begriffen, als Werkzeug im semiotischen tool-kit des Zuschauers. Die Programmhefte der Schaubühne der 1960er Jahre zeichnen sich vor allem durch eine sorgfältige Recherche und Zusammenstellung von Sekundärtexten und vereinzelt auch von Bildmaterial aus. Anregungen und Assoziationsmaterial werden durch Erläuterungen historischer und politischer Zusammenhänge ergänzt sowie durch Kontextualisierungen erweitert. Diese Aspekte erscheinen aus heutiger Perspektive zunächst nicht mehr als besonders innovativ. Im Kontext ihrer Zeit handelt es sich bei der engagierten Dramaturgieabteilung des noch jungen Schaubühnen-Kollektivs jedoch um ein Einzelphänomen. Eine historiografische Arbeit zur Programmheftentwicklung aus dem Jahr 1968 verortet die Geburtsstunde des engagierten Programmheftes um 1900 mit der Erschließung neuer, nicht bürgerlicher Publikumsschichten, attestiert jedoch der zeitgenössischen Theatersituation einen Rückgang derartiger Bemühungen und schließt mit dem ernüchternden Fazit: Natürlich wurde aus echtem Bedürfnis auch bald Konvention. Neben die aus bestimmten Absichten geborenen und damit verbindlichen Programmhefte traten schnell unverbindli-
31 | Ulrich Eckhardt/Börries v. Liebermann, 25 Jahre Theatertreffen Berlin 1964-1988, Berlin 1988, S. 51.
Episteme der Dramaturgie che Zufallsprodukte, in denen mehr oder weniger beliebig zusammengestellte Beiträge den Theaterzettel begleiteten, weil es Brauch geworden war. 32
In diesem Kontext wird die Auszeichnung der Schaubühne 1969 nachvollziehbarer. Ihre Programmhefte setzen sich dezidiert und präzise mit der jeweiligen Aufführung auseinander und gehen zugleich auf das Bedürfnis der Zuschauerinformation ein. Und auch in der weiteren Entwicklung, vor allem während der Zeit der künstlerischen Leitung Steins, erlangen nicht nur die Inszenierungen Peter Steins und Klaus Michael Grübers, sondern auch die begleitenden Programmhefte eine künstlerische beziehungsweise dramaturgische Sonderstellung. Den Gipfel der zu Papier gebrachten und in Buchform veröffentlichten dramaturgischen Akribie stellt in den Erzählungen vieler Besucher die Schaubühnendokumentation der Peer Gynt-Inszenierung aus dem Jahr 1971 dar.33 Viele bringen diese Publikation und auch die Inszenierung des Peer Gynt mit dem außerordentlichen dramaturgischen Engagement der Schaubühne in Verbindung. Es finden sich hier jedoch, in großer Fülle und beeindruckender Breite auf nahezu 150 Seiten, die üblichen Zutaten eines Programmheftes wie ergänzende Sekundärliteratur und Einblicke in Probenprozesse und Bühnenbild- sowie Kostümgestaltung. Der Informationen und Anregungen vermittelnde dramaturgische Einsatz findet hier vor allem auf der bildlichen und textlichen Ebene statt. Eine etwas andere Form der dramaturgischen Vermittlungsarbeit findet sich im Programmheft zu der von der Presse kritisch aufgenommenen Produktion Shakespeares Memory wieder, deren Premiere im Dezember 1976 in den alten CCC-Filmstudios in Berlin Spandau stattfand. Die Inszenierung erstreckte sich über zwei Abende mit einer Gesamtspieldauer von ca. sieben Stunden. Das Publikum bestand aus maximal 350 Zuschauern, die sich in dem großen Raum des Filmstudios frei bewegen konnten. Der Spielraum war in verschiedene Areale strukturiert, die den Abend über teils einzeln, teils simultan bespielt wurden. In dieser Inszenierung wurde das Publikum mit den collageartig zusammengestellten Ergebnissen und Materialien zum Elisabethanischen Zeitalter konfrontiert, mit denen sich das zwanzigköpfige Ensemble unter der Anleitung des Dramaturgen Dieter Sturm seit mehreren Jahren beschäftigt hatte. In der ersten Sektion des Abends, die den Titel »Mummenschanz« trug, präsentierten die Performer Moriskentänze, Fechtübungen und akrobatische Kunststücke wie Jonglage oder Seiltanz sowie Szenen aus elisabethanischen Folklore-Stücken. In der zweiten Sektion, »Das Bankett«, wurden die Zuschauer zu Wein und Brot zu Tisch gebeten, begleitet von Madrigal-Gesängen und einem Potpourri an Sze32 | Heide Kressin, Die Entwicklung des Theaterprogrammheftes in Deutschland von 1894-1941. Ein publizistisches Mittel im Dienst des Theaters, unveröffentlichte Dissertation, Berlin 1968, S. 111. 33 | Schaubühne Berlin, Peer Gynt. Probendokumentation, Berlin 1971.
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nenfragmenten, die den Narrenfiguren Shakespeares gewidmet waren. In der dritten Sektion, dem »Museum«, wurde der Raum wiederum neu geordnet und aufgeteilt in verschiedene Kabinette, die die Elisabethanische Weltanschauung thematisierten. Die Zuschauer konnten sich frei durch den Raum bewegen, theoretischen Ausführungen zum Ptolemäischen und Kopernikanischen Weltbild lauschen, oder die Aufmerksamkeit einer Schauspielerin widmen, die in prachtvollem, historisierendem Kostüm eine Rede Königin Elisabeths vortrug. Die Liste mit den verschiedenen, teilweise gleichzeitig stattfindenden Aktivitäten ist lang und bereits diese kurze Beschreibung vermittelt den Eindruck einer möglichen Reizüberflutung. Die Struktur der Inszenierung priorisierte nicht, synthetisierte die dramaturgische Hintergrundrecherche in keine stringent aufeinander folgenden Szenen. Diese freie, dem Zuschauer überlassene dramaturgische Sinnentfaltung wurde vom Programmheft weitestgehend gespiegelt. Es bestand vor allem aus auf fester Pappe gedruckten Grundrissen der Bühnenaufteilung und aus einem Überblick über den Ablauf des Abends. Das Publikum sah sich hier tatsächlich eher mit einem »Wegweiser« konfrontiert, der die verschiedenen Richtungen anzeigte, jedoch keine Empfehlung aussprach, keine direkte Interpretationshilfe anbot. Die Herstellung von Sinnzusammenhängen und interpretatorischen Zusammenfassungen blieb der einzelnen Zuschauerin überlassen, ebenso die weitgehend eigenverantwortliche Navigation durch den Raum. Die Dramaturgie des eigenen theatralen Erlebnisses musste jeder Zuschauer vor Ort selbst vollziehen. Bestimmte Inhalte wurden dabei notwendigerweise vorgezogen, mit der eigenen Aufmerksamkeit musste selbstverantwortlich ökonomisch umgegangen werden. Ganz im Sinne der oben thematisierten Transformation des ›Besuchers‹ in den ›Benutzer‹ des Theaters, wurde hier das Programmheft dem Zuschauer als Instrument an die Hand gegeben, als Orientierungshilfe in und nach der Aufführung sowie als nachträgliche Erinnerungshilfe. Die Besonderheit dieses Beispiels besteht darin, dass sich hier Dramaturgie nicht lediglich als textuelle Praxis der Wissensvermittlung darstellt, sondern vielmehr als Vermittlung einer Technik zur selbstverantwortlichen Erkenntnisgewinnung. Diese kurzen Schlaglichter auf die Funktionsweise und Entwicklung der Programmhefte der Schaubühne in den sechziger und siebziger Jahren vermitteln einen kleinen Einblick in die inhaltliche und formale Verschränkung der Bühnenpraxis mit der dramaturgischen Vermittlungsarbeit qua Programmheft. Mehr als nur eine lästige Pflichtaufgabe für die Dramaturgieabteilung darstellend, können Programmhefte und auch andere Materialien und Angebote, die eine Aufführung begleiten, der Theaterwissenschaftlerin unter anderem interessante Hinweise auf Rezeptionsweisen, Aufführungserfahrungen und das institutionelle Selbstverständnis eines Theaters geben.
Ann-Christine Simke
Episteme der Dramaturgie
Dramaturgie als ›Arbeit an der Sprache‹ bei René Pollesch Dramaturgie und Sprache – das ist das In-Szene-Setzen von Sprache oder ›Arbeit an der Sprache‹, um mit dem Literaturbegriff von Roland Barthes zu sprechen, auf den Theresia Birkenhauer in ihrer luziden Studie Schauplatz der Sprache – das Theater als Ort der Literatur (2005) aufmerksam machte. Sie thematisierte damit Theaterformen und Spielweisen, die vor allen Dingen (oder besser: vor allen anderen Theaterzeichen) Sprache ins Zentrum der künstlerischen Konzeption rücken, ohne dabei unter das Joch der Definitionsmacht der Attribute ›dramatisch‹ oder ›postdramatisch‹ zu geraten. Klassische, traditionelle, der Etymologie des Begriffs getreue Dramaturgie hat sich zwar im 20. und frühen 21. Jahrhundert entscheidend gewandelt und versteht sich nicht länger als primär textorientiert und theaterbezogen. Und auch die Enthierarchisierung der Theaterzeichen 34 ist inzwischen schon ein alter Hut. Allerdings ist deren rigorose Proklamation ein Vabanquespiel, denn Theaterzeichen sind stets in Relation zu betrachten, weil sich ihr Gewicht je nach zu analysierendem Theaterphänomen verlagert. Gleichwohl haben dramaturgische Programme eine bisweilen intensive sprachpraktische Heran- und Vorgehensweise – man denke etwa nur an das umfassende Feld der Prosodie – und Sprache tritt auch nicht nolens volens zugunsten der Akzentuierung anderer Theatermittel in den Hintergrund. Manchmal ist sogar eher das Gegenteil zu beobachten, etwa wenn die zu realisierenden Aufführungen die bühnenrelevanten Stofflichkeiten von Sprache (Text, Stimme) in den Fokus rücken. Wenn aber der Theatertext regelrecht zur (theatralen) Devotionalie erklärt wird und die Stimmbänder des Schauspielpersonals abwechselnd mit Geschrei und Flüstern an den Rand ihrer physischen Grenzen gebracht werden, so wie das zum Beispiel bei René Pollesch der Fall ist, dann sind die Relevanz, Funktionen und Effekte von Sprache im Theater kaum noch zu ignorieren. Polleschs Sprachdramaturgie begünstigt kleine fragmentarische oder auch anekdotische Narrative, intertextuelle Rhizomatik, paradoxe, absurde und komische Spracheinheiten, die Bedeutung verfremden und ein kohärentes Erschließen von Sinn oftmals sabotieren. Als »Regisseur Prekär« 35 forscht er für sein Publikum, gilt als Produzent textlastiger Theaterabende und bringt eine Sprache auf die Bühne, die man – seiner eigenen Aussage gemäß – so nicht
34 | An dieser Stelle wird insbesondere auf Hans-Thies Lehmanns prominenten Essay Postdramatisches Theater (1999) rekurriert. 35 | René Pollesch/Peter Wagner, »›Es ist der Zufall, der gewinnt.‹ René Pollesch im Gespräch mit Peter Wagner«, in: Corinna Brocher/Aenne Quiñones (Hg.), René Pollesch. Liebe ist kälter als das Kapital. Stücke – Texte – Interviews, Reinbek bei Hamburg 2009, S. 365369, hier S. 365.
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spreche. 36 Das (im doppelten Wortsinne) erschöpfende Sujet der Prekarität, das thematisch wiederholt Einzug in seine Theatertexte hält, ist auch Bestandteil des formalen Produktionsprozesses, denn er forciert eine »unabgesicherte Kommunikation«. 37 Diese besteht einerseits zwischen (Aufführungs-)Text und Publikum, dominiert andererseits aber auch die Probensituation, wo gemeinschaftlich Lektüre praktiziert wird; wo also zuerst austariert werden muss, ob die Schauspielenden an das maßlos in seinem Textkonvolut zirkulierende Wissen überhaupt anknüpfen können. Bei Pollesch macht sich die ›Arbeit an der Sprache‹ also besonders in seinem spezifischen Textherstellungsverfahren bemerkbar. Der Theatertext entsteht kollektiv während der Proben und konstituiert sich als Prozess, als prinzipiell Unabgeschlossenes. Pollesch hält dazu fest: Der Text kann zu hundert Prozent verworfen werden. Beim ersten Lesen ist also niemand mit der Frage belästigt: Wie soll ich das spielen? Sondern es geht um die Frage: Will ich das sagen? Kann ich den Text gebrauchen? Die Schauspieler können alles verwerfen, weil sie wissen, ich schreibe während der Proben weiter. 38
Das aus diesem (sprach-)dramaturgischen Vorgang gefilterte Destillat des Theatertextes ist immer das Resultat von Debatten und Selbstbezüglichkeit, gilt als Versuch von Kontingenzbewältigung im Alltag und soll den Schauspielenden und dem Publikum als Orientierungs- oder auch »Sehhilfe[] für die Wirklichkeit«39 zur Verfügung gestellt werden. Das genuin Unzugängliche, Transitorische und kaum, ja bisweilen gar nicht zu Dokumentierende dramaturgischer Vorgänge wird somit in Polleschs Theater mit Aspekten der Textgestaltung und damit letztlich auch mit sprachlichen Eigenschaften identifiziert. Darüber hinaus kontrastiert Pollesch den Dialog mit einem zusammen gesprochenen, gedachten, instrumentellen (monologischen?) Sprechen, die »Repräsentationsdramatik« mit einer – wie er sie nennt – »Darwin-Dramatik«, die mit Theoremen von Michel Foucault, Donna Haraway u.a. operiert:
36 | Vgl. René Pollesch et al., »›Wie kann man darstellen, was uns ausmacht?‹ René Pollesch im Gespräch mit Romano Pocai, Martin Saar und Ruth Sonderegger«, in: Brocher/ Quiñones, Liebe ist kälter als das Kapital, S. 327-346, hier S. 332. 37 | Vgl. René Pollesch/Andreas Lehmann, »›Ich würde gern in der U-Bahn schreien.‹ René Pollesch über Selbstausbeutung und Ohnmachtsgefühle im Gespräch mit Andreas Lehmann«, in: Brocher/Quiñones, Liebe ist kälter als das Kapital, S. 319-326, hier S. 319. 38 | René Pollesch, Der Schnittchenkauf 2011-2012, Berlin 2012, S. 46f. 39 | René Pollesch/Wolfgang Kralicek, »›Ich bin der Antiromantiker.‹ René Pollesch über Theorie und Alltag, Liebe und Arbeit, schreiende Schauspieler und rassistische Regisseure im Gespräch mit Wolfgang Kralicek«, in: Brocher/Quiñones, Liebe ist kälter als das Kapital, S. 357-364, hier S. 358.
Episteme der Dramaturgie Wir brauchen einen Ausweg aus diesem totalen Schweigen um uns herum. Man hört nur Dialoge. Keine Gedanken. Man hört nur, wer gerade spricht! Irgendwelche Leute sprechen miteinander, und gleich ist ein blindes Verstehen in der Luft, das alle berührt. Und wenn ich sage, dass die sich mit dem Verstehen nur belästigen, dann hört ihr, es geht um einen Sinnverlust oder eine Kommunikationsstörung. Nein! Es geht darum, dass wir bei jedem Dialog in einen unverständlichen Klassiker verwickelt sind. 40
Um diesem ›ästhetischen Diktat der Klassiker‹ zu entgehen, betont Pollesch die Option zum Gebrauch des Theatertextes in Abgrenzung zu dessen (bloßer) Aneignung durch das Schauspiel, was sich als epistemologische Strategie, als Applikation von Wissen versteht, deren Mediation er dem Vehikel der Sprache anvertraut. Dieser Praxis wohnt ein Pragmatismus inne, der sich mit Giorgio Agambens Begriff der ›Profanierung‹ synchronisieren lässt, denn Pollesch überprüft das in philosophischen, soziologischen oder ökonomischen Schriften enthaltene elitäre Wissen auf dessen Alltagstauglichkeit und fordert damit dessen aktiven Gebrauch ein, selbst wenn »[n]ach dem Benutzen […] alles unheroisch verglühen [könne].«41 Polleschs Theatertexte sind versierte Synthesen aus theoretischen Versatzstücken, Pop, Trash, Vulgarität und Idiosynkrasie; sie ermöglichen eine ›andere‹ Sprache auf der Bühne, die überindividuelle Sinnstiftung oft durchkreuzt. Seine Stücke sind in ihrer Absurdität und Komik vielleicht die einzige Erwiderung von Kontingenz oder sie spiegeln gerade jene Kontingenz von Sprache selbst wider, wie es Gegenstand der Studie Kontingenz, Ironie und Solidarität (1989) des amerikanischen Philosophen und Neo-Pragmatikers Richard Rorty ist, wo es an einer Stelle unter Zuhilfenahme der Vererbungslehre von Johann Mendel und der Sprachphilosophie Donald Davidsons heißt: Mendel lehrte uns, das Bewußtsein als etwas zu sehen, das sich einfach ergab, nicht als etwas, worauf der ganze Prozeß zielte. Davidson läßt uns Geschichte von Sprache und damit Kulturgeschichte so ansehen, wie Darwin uns die Geschichte eines Korallenriffs anzusehen lehrte. Alte Metaphern sterben ständig buchstäblich ab und dienen dann als Boden und Folie für neue Metaphern. Diese Analogie erlaubt uns, ›unsere Sprache‹ […] als etwas zu denken, dessen Gestalt das Ergebnis einer großen Zahl schierer Zufälle ist. Unsere Sprache und Kultur sind ebenso zufällig, ebenso Ergebnis von tausend kleinen Mutationen, die Nischen finden (und einer Million anderer, die keine Nischen finden), wie Orchideen und Menschenaffen. 42
Pollesch geht es innerhalb seiner sprachdramaturgischen Arbeit um einen solidarischen Findungsprozess, einen angemessenen Ausdruck für seine Themen zu ermitteln, der anders funktioniert als die Sprache der Klassiker, die ihrerseits ein 40 | Ebd., S. 14. 41 | Ebd., S. 39. 42 | Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a.M. 2012 [1989], S. 41f.
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einvernehmliches, universelles Verstehen oder eine geteilte Gemeinschaftlichkeit antizipiert, welche so nicht gegeben ist. Das Spröde, Delikate, Witzige, Entleerte, teilweise Unverständliche der Sprache in den Texten von Pollesch ist also nicht als defizitär zu beurteilen, sondern als Möglichkeit, auf der Bühne ›anders zu sprechen‹.
Nico Theisen
Online/Offline: Körper und digitaler Raum Verena Meis
In seiner Schrift Zum Gehör fragt Jean-Luc Nancy: »Was also heißt ›être à l’écoute‹, ganz Ohr sein, auf Empfang sein, so wie man sagt ›auf der Welt sein‹?«1 In Anlehnung an diese Formulierungen möchte ich fragen: Was also heißt ›online sein‹, ›im Netz sein‹? Angeregt durch Stücke von René Pollesch und Falk Richter begebe ich mich auf die Suche nach einer Figur. Denn der Metapher des ›im Netz seins‹ zufolge erscheint es unvorstellbar, den digitalen Raum ohne den physischen Körper zu denken. ›Ich bin online/offline‹ suggeriert einen bewussten Eintritt, einen spürbaren Kontakt zwischen Körper und Raum, was Sybille Krämer auf eine Analogie zwischen digitalem Raum und Theater verweisen lässt. Beide seien »Modalitäten des Austauschs zwischen physischem Leib und symbolischem Körper«2 . In Kill your Darlings! Streets of Berladelphia (2012 an der Volksbühne Berlin aufgeführt) scheint es, als ließe René Pollesch den Schauspieler Fabian Hinrichs daraus einen Appell an das Theater formulieren: »Dass einem das Leben hinter den Fenstern abstrakt vorkommt, weil es das ist – das ist ja schon so oft gedacht worden./Aber jetzt gerade müssen wir alle im Raum das DENKEN, das SAGEN, um es zu beleben. […]/Denn hier/ist so wenig LEBEN.«3 Zur Befindlichkeit des Körpers im Raum gesellen sich sogleich die Fragen nach dem Raum in den Körpern, nach dem Verhältnis der Körper zueinander und somit die Frage nach einer möglichen Choreographie, die die mitunter heikle Korrelation zwischen physischem und digitalem Körper in Szene zu setzen vermag. Im Folgenden skizziere ich sechs Vorschläge:
1 | Jean-Luc Nancy, Zum Gehör, Zürich/Berlin 2010, S. 12. 2 | Sybille Krämer, »Medien – Körper – Performance. Zwischen Person und ›persona‹ – ein Gespräch«, in: Martina Leeker (Hg.), Maschinen, Medien, Performances. Theater an der Schnittstelle zu digitalen Welten, Berlin 2001, S. 471-479, hier S. 477. 3 | René Pollesch, »Kill your Darlings! Streets of Berladelphia«, in: Ders., Kill your Darlings. Stücke, hg. v. Nils Tabert, Reinbek bei Hamburg 2014, S. 285-322, hier S. 289.
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1. Struktion, »ein ziemlich lockerer Haufen« Ich denke erstens an den Begriff der Struktion nach Jean-Luc Nancy. Hinsichtlich des Verhältnisses von Technik und Natur definiert Nancy: »Struo bedeutet ›anhäufen‹, ›aufhäufen‹. Es geht dabei nicht wirklich um Ordnung oder um Organisation […]. Es ist der Haufen, die nicht gefügte Gesamtheit, die unversammelte Menge. […], ohne Koordinationsprinzip.«4 Was Nancy als Struktion bezeichnet, ist »der Zustand des ›Mit‹ ohne den Wert des Teilens […], das schlichte, reine Nebeneinander, das keinen Sinn ergibt«, »eine instabile Zusammenfügung, die eher ungeordnet, aufgehäuft oder vermengt ist als verbunden, vereinigt, zusammengestellt oder assoziiert.«5 In Kill your Darlings! behauptet der aus 15 Turnern bestehende, meist stumme Chor an einer Stelle: »Wenn zwei, drei, vier Leute zusammenstehen, dann ist das doch Wärme.«6 Wohingegen Fabian Hinrichs vergeblich einwendet: »Nein, es ist kalt!/Es ist nass!/[…] Nur zusammenstehen, das geht doch nicht.« 7 An anderer Stelle versucht er den Chor aufzufordern, doch auch mal was dazu zu sagen. Doch dieser outet sich als »ein ziemlich lockerer Haufen«8. Nancy denkt ›Struktion‹ zwar nicht als choreographische Figur – dies möchte ich hier anregen –, gleichwohl versteht er darunter ein Prinzip der Handhabe, der Kulturtechnik, die den physischen Körper und den digitalen Raum zusammendenkt: Wir lernen, den Computer zu handhaben. […] wir leben in der schwindelerregenden Anhäufung von Stücken, Teilen, Zonen, Fragmenten, Parzellen, Teilchen, Elementen, Lineamenten, Keimen, Kernen, Clustern, Punkten, Skansionen, Knoten, Datenbäumen, Projektionen, Proliferationen, Dispersionen, und darin sind wir mehr denn je verflochten, verwebt, absorbiert und überschwemmt von einer außergewöhnlich instabilen, beweglichen, plastischen und metamorphischen Masse. 9
2. »Wenn Ratten übereinander hinweg weghuschen« Verwoben, verstrickt, verflochten, vernetzt – die textile Metapher lässt nicht nur an das von Vilém Flusser in Räume angeführte »immer dichter werdende[] Netz
4 | Jean-Luc Nancy, »Von der Struktion«, in: Erich Hörl (Hg.), Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt, Frankfurt a.M. 2011, S. 54-72, hier S. 61. 5 | Ebd., S. 62. 6 | Pollesch, »Kill your Darlings!«, S. 296. 7 | Ebd. 8 | Ebd., S. 314. 9 | Nancy, »Von der Struktion«, S. 65.
Online/Offline: Körper und digitaler Raum
von sichtbaren und unsichtbaren Kabeln«10 denken, infolgedessen der digitale Raum in den Lebensraum eindringe. Sie evoziert zugleich die Metapher des Rhizoms und der rhizomatischen Verweisstruktur. Daher lautet mein zweiter Vorschlag: »Wenn Ratten übereinander hinweg huschen«11 ist der Code für eine entsprechende Choreographie, die bei Gilles Deleuze und Félix Guattari vorstellig wird.
3. »Diese Netz-Portale …« In Elfriede Jelineks Bühnenessay Rein Gold dringt der digitale Raum, in Anlehnung an Flusser, nicht mehr nur in den Lebensraum ein, sondern überlagert diesen bereits gänzlich. Analog zur Verselbstständigung des Geldes verherrlicht Wotan im Schlussmonolog den digitalen Raum, der sich ebenso wie das zirkulierende Kapital unserer Wahrnehmung entzieht, obwohl wir ihn zugleich zum Lebensraum ernennen. Das ist heute alles so wunderbar, denn im Raum ist […] unbegrenzt viel Raum. […] Dieser Raum ist so räumlich, den kann keiner mehr verräumen […]. Diesen Raum kann keiner mehr versetzen. Der ist immer da, damit wir atmen und gehen können und dabei doch zu Hause bleiben […]. Seit es diese Netz-Portale gibt, gibt es nichts sonst mehr, denn sie führen in einen Raum, ja, alle in einen, alle für einen, den niemand mehr räumen kann. Es ist jetzt alles von mir für ungültig erklärt, bis auf den Raum.12
Das Portal, das den Eintritt gewährte, bedinge auch eine spezifische Okkupation. Die Figur der Überlagerung, die den digitalen Raum zugleich zum Lebensraum erklärt, eignet sich, choreographisch gedacht, ebenso für das Verhältnis von Körper und digitalem Raum.
4. Der digitale Schwarm Wechseln wir zurück ins Reich der Tiere, so könnte viertens auch der Schwarm als choreographische Figur dienen. Byung-Chul Han spricht in seiner Schrift Im Schwarm. Ansichten des Digitalen vom »digitale[n] Schwarm« als »[d]ie neue Menge«, »die [sich] von der klassischen Formation der Vielen« radikal unterscheide. »Die Individuen, die sich zu einem Schwarm zusammenfügen, entwickeln kein Wir. Ihn zeichnet kein Einklang aus […]. Der digitale Schwarm ist im Gegensatz 10 | Vilém Flusser, »Räume«, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2012, S. 274-285, hier S. 280. 11 | Gilles Deleuze/Félix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 1992, S. 16. 12 | Elfriede Jelinek, Rein Gold, Reinbek bei Hamburg 2013, S. 212f.
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zur Masse nicht in sich kohärent. Er äußert sich nicht als eine Stimme.« Laut Han versammeln sich die digitalen Bewohner des Netzes nicht, sondern bilden »eine besondere Ansammlung ohne Versammlung.«13 In ihrem Aufsatz »Schwarm und Schwärmer. Übertragungen in/als Choreographie« befindet Gabriele Brandstetter, Schwärme würden sich der »mimetischen Reproduktion als (Körper-)Performance« entziehen, und fragt, ob der Schwarm »ein performatives Modell […] für das Verhältnis von Einzelnen und Gruppe«14 darstellen könne. Die Regeln, »der Richtung der Mehrheit zu folgen, beständig in Bewegung zu bleiben, […] und zugleich Nähe und Abstand zu anderen Schwarm-Mitgliedern zu halten«15, die Brandstetter als allgemeine Strukturprinzipien des Schwarms ausmacht, entsprechen genau Anouk van Dijks choreographischer Aufforderung an die Tänzer und Schauspieler in Falk Richters Rausch (2012 am Düsseldorfer Schauspielhaus aufgeführt). Die »Körperlandschaft« und der »wimmelnde[] Raum«16 in Richters Stück Trust und das »Schauspielerknäuel«17 in Polleschs Stück Sozialistische Schauspieler sind schwerer von der Idee eines Regisseurs zu überzeugen lassen wiederum an Deleuzes und Guattaris übereinander hinweg huschende Ratten denken. Es sind jeweils Versuche, die instabile Struktur des digitalen Netzes zu choreographieren. So konstatieren Richters Figuren, die am Ende allesamt in einem Occupy Camp versammelt sind, das auf der Bühne ›teils als Sofalandschaft‹ gestaltet ist: »mir ist den letzten jahren aufgefallen, liebe mutti, dass ich ein flüssiges wesen bin und sich meine moleküle unentwegt in einer chaotischen, durchs all rasenden, komplexen vernetzungsstruktur bewegen«.18 Struktion, Rhizom, Schwarm – Aufgrund ihrer amorphen, instabilen, unverbindlichen und ephemeren Beschaffenheit, die sie allesamt auszeichnet, scheinen sie als choreographisch gedachte Figur durchaus geeignet, das ebenso flüchtige Verhältnis von physischem bzw. symbolischem Körper und digitalem Raum, von Einzelnem und Vielen auszuhandeln.
13 | Byung-Chul Han, Im Schwarm. Ansichten des Digitalen, Berlin 2013, S. 19ff. 14 | Gabriele Brandstetter, »Schwarm und Schwärmer. Übertragungen in/als Choreographie«, in: Dies./Bettina Brandl-Risi/Kai van Eikels (Hg.), Schwarm(E)motion. Bewegung zwischen Affekt und Masse, Freiburg i.Br./Berlin/Wien 2007, S. 65-91, hier S. 81. 15 | Ebd., S. 69. 16 | Falk Richter, »Trust«, in: Friedemann Kreuder (Hg.), Theater. Texte von und über Falk Richter 2000-2012, Marburg 2012, S. 413-467, hier S. 424, 454. 17 | René Pollesch, »Sozialistische Schauspieler sind schwerer von der Idee eines Regisseurs zu überzeugen«, in: Ders., Kill your Darlings, S. 145-190, hier S. 188. 18 | Falk Richter, »Rausch«, in: Kreuder, Theater, S. 579-627, hier S. 616.
Online/Offline: Körper und digitaler Raum
5. »Nirgends ein Grund, nichts Festes« Um den animalischen Link noch konkreter zu denken, ziehe ich Paul Valérys Über den Tanz heran und denke die Meduse, die Qualle, als ideale Figur für das Verhältnis von Körper und digitalem Raum. »Quallen auf der Filmleinwand«19 lassen Valérys Tänzerkörper und Meduse nahezu verschwimmen: Den unbeschwertesten, geschmeidigsten, wollüstigsten aller Tänze sah ich auf einer Leinwand, auf der große Medusen gezeigt wurden: […] Wesen aus einem unvergleichlichen, durchscheinenden und empfindlichen Stoffe, irrsinnig reizbare Leiber aus Glas, Kuppeln fließender Seide, diaphane Kronen, lange lebendige Peitschenschnüre, von ständigen hastigen Wellen durchströmt, wogende Fransen und Rüschen, die sie fälteln und wieder entfalten, während sie sich wenden, wandeln, entziehen, selber nicht minder flüssig umdrängt, sich mit ihnen vermählt, sie allenthalben stützt, jeder noch so leisen Biegung ihrer Gestalten nachgibt, sich im Nu hinter ihnen schließt. Hier, in der unendlich gedrängten Fülle des Wassers, die ihnen nicht den mindesten Widerstand zu bieten scheint, verfügen diese Geschöpfe über ein denkbares Höchstmaß an Beweglichkeit, lösen und straffen abwechselnd ihre strahlende Symmetrie. Nirgends ein Grund, nichts Festes für diese absoluten Tänzerinnen; keine Dielen; aber eine Umgebung, in der man sich lauter Stützpunkten überlässt, die nach jeder beliebigen Richtung hin ausweichen. Ebensowenig ein Festes in ihren Leibern aus elastischem Kristall: keine Knochen, keine Gelenke, noch sonst irgend bestimmte Verbindungen, keine Einzelteile, die man zählen könnte … 20
Ein Tier, das bis zu 99 Prozent aus Wasser besteht und derart mit seiner Umgebung eins zu sein scheint, spiegelt das Zusammenspiel von Körper und Umgebung feinspürig wieder.
6. Chor, chora Inwiefern eignet sich hier auch die Figur des Chors? Die »andere, große Figur des Theaters, in der ein Denken zum Ausdruck kommt, das […] sich randständig, polymorph, einräumend, möglicherweise ›rhizomatisch‹ verhält«21? Zunächst Landschaft, Aufführungsort, erst später eine Kollektivfigur, ist ferner auch im Chor die Korrelation zwischen Körpern und Raum sowie die zwischen Einzelfigur und Plural angelegt. In Kill your Darlings! zeigt Pollesch, der hier ein weiteres Mal exemplarisch angeführt werden soll, den Chor als Figuration des digitalen Netzwerks. Es ent19 | Paul Valéry, Cahiers/Hefte, Frankfurt a.M. 1992, S. 256. 20 | Ders., Tanz, Zeichnung und Degas, Berlin/Frankfurt a.M. 1940, S. 29-30. 21 | Ulrike Haß, »Woher kommt der Chor«, in: Genia Enzelberger/Monika Meister/Stefanie Schmitt (Hg.), Auftritt Chor. Formationen des Chorischen im gegenwärtigen Theater, Maske und Kothurn 58 (2012), Wien 2012, S. 13-30, hier S. 14.
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steht ein Raum ohne Koordinaten, zu eng oder zu groß, ein chorisches, jedoch stummes Turnerkollektiv, voller Akrobatik und körperliche Elastizität, welche auf die Unverbindlichkeit und Flüchtigkeit des digitalen Raumes verweisen. Verlustmeldungen: »Es fehlt etwas./Es reicht uns nicht.« Ein »Tennisspiegel-Spiel mit Turnern«22 als anwesende Abwesenheit des ›Anderen‹, der Viele ist. »Ich bin so desorientiert vor deinem zusammenhanglosen Gesicht«23, heißt es ferner. Verhandelt der Chor das Verhältnis zwischen physischem Körper und digitalem Raum, so verhandelt er zugleich auch sich selbst – seinen Ort, seine Stimme(n), d.h. Raum und Körper. Der Anthropologe Tom Boellstorff hebt in seinem Aufsatz »Virtuality. Placing the Virtual Body« hervor: »[T]he keypoint I seek to advance is that virtual embodiment is always embodiment in a virtual place«.24 ›Online sein‹, ›im Netz sein‹. Aufgrund der Metapher des »being-in-theworld« verweist Boellstorf auf Platons chora, von der es im Timaios heißt, sie sei »ein unsichtbares, gestaltloses, allaufnehmendes Gebilde«, eine Art »Prägemasse«, »die durch die eintretenden Dinge bewegt und gestaltet wird und durch jene bald so, bald anders erscheint«25.
Epilog ›Im Netz sein‹ – Körper und Raum konstituieren sich gegenseitig. Den digitalen Raum ohne den Körper zu denken, scheint fruchtlos. Auf der Suche nach Kontakt, Resonanz, Taktilität, Sinnlichkeit im digitalen Raum kann das Sinnbild des ›geschüttelten Körpers‹, wie es in Zum Gehör bei Nancy heißt, Modell stehen für Verhandlungen von Körpern und digitalem Raum im Theater.
22 | Pollesch, »Kill your Darlings!«, S. 295. 23 | Ebd., S. 308. 24 | Tom Boellstorf, »Virtuality. Placing the Virtual Body: Avatar, Chora, Cypherg«, in: Frances E. Mascia-Lees (Hg.), A Companion to the Anthropology of the Body and Embodiment, Blackwell 2011, S. 504-520, hier S. 504. 25 | Platon, »Timaios«, in: Ders., Werke in acht Bänden, Darmstadt 2001, 50e, 51a und 50b.
Am End- oder Nullpunkt? (Zeitgenössisches) Regietheater Stefan Tigges In der Theaterkunst ist der Stil nur eine Technik der Flucht. R oland B arthes
Diskursermüdungen Das Regietheater hat von Beginn an, d.h. mit dem sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend herauskristallisierenden, gleichermaßen autonomen wie künstlerischen Regiestatus zahlreiche Diskurse und komplexe ästhetische Transformationen ausgelöst, die sowohl die Kunstpraxis, die künstlerische Ausbildung als auch das Rezeptionsverhalten betreffen und bis heute – speziell im deutschsprachigen Raum – nachwirken, theoretisch jedoch noch unzureichend aufgearbeitet sind.1 Entsprechend werde ich Fragen und Diskursplätze skizzieren, die zwangsläufig mit ästhetikgeschichtlichen Resonanzräumen des Regiefachs zusammenspielen. Liest man das Verhältnis von Theater und Literatur als eine anhaltende Konfliktgeschichte, die am »Schauplatz der Sprache« ausgetragen wurde und wird, so standen bzw. stehen Theaterregie und somit das Regietheater hier unmittelbar im Fokus der Aufmerksamkeit.2 Problematisch ist allerdings, dass das immer im Plural zu denkende Regietheater durch seine ästhetischen und politischen Aufladungen sowie durch die Vielzahl der künstlerischen Ausformungen des (post-)modernen Regietheaters ein (zu) breites Spektrum an stilistischen Aus1 | Vgl. hierzu u.a.: Günther Rühle, Anarchie in der Regie?, Frankfurt a.M. 1982; Thomas Zabka/Adolf Dresen (Hg.), Dichter und Regisseure. Bemerkungen über das Regie-Theater, Göttingen 1995; Ortrud Gutjahr (Hg.), Regietheater! Wie sich über Inszenierungen streiten lässt, Würzburg 2008; Bernd Kaufmann (Hg.), Regietheater – Theaterregie. Zur Lage des deutschen Theaters, Berlin 2010; Denis Hänzi, Die Ordnung des Theaters. Eine Soziologie der Regie, Bielefeld 2013. 2 | Theresia Birkenhauer, Schauplatz der Sprache – das Theater als Ort der Literatur, Berlin 2005.
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prägungen entwickelt hat und daher, aufgrund seiner Unschärfezonen, als (Gattungs-)Begriff an seine Grenzen stößt und, so die These, ästhetisch zunehmend zu ermüden droht. Entsprechend scheint das Regietheater heute weniger eine Sonderstellung einzunehmen als vielmehr, so Guido Hiß, »dem Horizont der Gegenwart so selbstverständlich« zu sein, »dass es vielfach für den Inbegriff des Theaters gehalten wird«3. Dies gilt unabhängig davon, so wäre zu ergänzen, ob es sich um Formen des dramatischen, nicht-dramatischen oder postdramatischen Theaters handelt, wobei letztere längst ›klassisch‹ geworden sind und heute bereits ästhetisch abgelöst werden, womit zugleich eine jüngere, folgenreiche Diskurs-Verschiebung markiert ist. Ein weiteres Problem besteht darin, dass Regietheater von der Theaterkritik in wellenartigen Bewegungen als »Kampf begriff« funktionalisiert wird und oftmals eine ideologisch motivierte »emotionale Schubkraft«4 entwickelt. Beispiele hierfür sind – um drei prägende Künstler ins Spiel zu bringen, deren Tod eine Zäsur bedeutet hat und womöglich einen ästhetischen Endpunkt in der deutschen Regiekunst markiert – Einar Schleef, Jürgen Gosch und Dimiter Gotscheff. Entgegen ihrem Selbstverständnis sind sie, so ein Paradox, mit unterschiedlichen Akzentuierungen als Vertreter des postmodernen/postdramatischen Regietheaters wahrgenommen, auf einen Stil fixiert und in den Feuilletons mit zum Teil einsilbigen Vorwürfen konfrontiert worden. So wurden sie beispielsweise auf die Nähe zu einer faschistisch geprägten Ästhetik (Schleef), auf die (Wieder-)Begründung des Ekeltheaters (Gosch) oder, wie Gotscheff, auf einen Stückezertrümmerer reduziert. Diese Beispiele deuten an, dass weit auseinandergehende Spielarten der Regie unter dem Begriff des Regietheaters zusammengefasst und unter diesem, gleichermaßen fragwürdigen wie dehnbaren Label immer wieder (extrem) verzerrt wurden und werden. In diesem Sinne weist Ortrud Gutjahr darauf hin, dass das Regietheater »zu einem Container für all das verkommen ist, was am Theater für schlecht befunden wird«.5 Weniger provokant als konsequent lautete entsprechend auch der Titel einer 2006 im Deutschlandfunk ausgestrahlten Sendung: »Die Debatte über das Regietheater. Ein Streit, der weder der Gesellschaft noch dem Theater dient.«6 3 | Guido Hiß, Synthetische Visionen. Theater als Gesamtkunstwerk von 1800 bis 2000, München 2009, S. 123. 4 | Ortrud Gutjahr, »Spiele mit neuen Rollen? Rollenverteilungen im Regietheater«, in: Dies., Regietheater!, S. 13-28, hier S. 13. 5 | Ebd., S. 15. 6 | Deutschlandfunk vom 13.03.2006 (Redaktion: Karin Fischer). Dass diese Debatte dennoch immer wieder aufflammt, zeigen u.a. zwei prominente Arbeiten, die aus unterschiedlichen Gründen abgesetzt wurden. So wurde Frank Castorfs 2015 am Münchner Residenztheater realisierter Baal aufgrund einer erfolgreichen urheberrechtlichen Klage des Suhrkamp-Verlags nach wenigen Aufführungen abgesetzt, da der Regisseur, so die Be-
Am End- oder Nullpunkt?
Ist es im Hinblick auf das abgelöste (dramatische) Literaturtheater und jene Spielarten des Theaters, die sich von den Ästhetiken des Regietheaters absetzen, überhaupt noch produktiv am Dispositiv des Regietheaters festzuhalten? 7 Oder sollten wir heute schlicht, jedoch mit ausgeprägtem historischem Bewusstsein, von Regie im Theater sprechen?8 Der in den 1990er Jahren in der Theaterwissenschaft postulierte performative turn trägt mit seiner Ereigniszentriertheit wiederum dazu bei, den Regieabdruck zu schwächen und Formdiskurse zu vernachlässigen, indem der Fokus ausschließlich auf die Aufführung gerichtet wird. Dabei treten die Inszenierung, beziehungsweise der Inszenierungsgedanke in den Hintergrund. Ebenso wird riskiert, Entstehungen von Lesarten und Formfindungsprozesse aus dem Vorraum der Aufführung auszublenden – wobei jüngere Ansätze der Probenforschung diese wieder stärker berücksichtigen (könnten).9
Mitbegründer des modernen Regietheaters Einer der prägenden Mitbegründer des modernen Regietheaters ist, neben Richard Wagner, Konstantin Stanislawski, Max Reinhardt und Bertolt Brecht, der englische Theaterreformer Edward Gordon Craig, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts für eine »totale reform« des Theaters eintritt. Dabei wertet er den Regisseur als gründung, das Stück in den Vietnam-Krieg verlegt und durch Sequenzen aus Apocalypse Now (USA 1979, R: Francis Ford Coppola) sowie Textpassagen von Carl Schmitt zu stark verfremdet habe. Dagegen wurde die Wiederaufnahme von Hans Neuenfels’ Idomeneo-Inszenierung, die bereits 2003 an der Deutschen Oper in Berlin Premiere hatte, 2010 von der Intendantin Kirsten Harms aufgrund ihrer politischen Brisanz und wegen Sicherheitsbedenken abgesagt. Zu diesem Vorgang vgl. auch die ausführliche Darstellung von Lorenz Aggermann im vorliegenden Band. 7 | Adolf Dresen begriff bereits vor über 20 Jahren das Regietheater als letzten Ausdruck des Bildungstheaters und bilanziert: »Das härene Bildungstheater blieb in allen Zeitläufen eine deutsche Spielart des Theaters, und der Kampf gegen dieses Bildungstheater führte schließlich meist nur auf ein neues Bildungstheater hin – das ›Regietheater‹ ist seine letzte Gestalt.« Adolf Dresen, »Betreibt das Regietheater die Hinrichtung der Klassiker?«, in: Zabka/Dresen, Dichter und Regisseure, S. 59-123, hier S. 117. 8 | Vgl. Nicole Gronemeyer/Bernd Stegemann (Hg.), Regie. Lektionen 2, Berlin 2009; Jens Roselt (Hg.), Regie im Theater. Geschichte-Theorie-Praxis, Berlin 2015. 9 | Vgl. Melanie Hinz/Jens Roselt (Hg.), Chaos und Konzept. Proben und Probieren im Theater, Berlin 2011; Annemarie Matzke, Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe, Bielefeld 2012. Dass Regie-Diskurse – und damit auch die Dramaturgie – in den 1970er Jahren viel Aufmerksamkeit erfuhren, zeigt u.a. die in der edition suhrkamp erschienene Regiebuch-Reihe (hg. v. Volker Canaris), in der u.a. Peter Steins Torquato Tasso, die Schaubühnen-Inszenierung von Brechts Die Mutter oder Samuel Becketts Das letzte Band komplex aufgearbeitet wurden.
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Künstler programmatisch auf, indem dieser zugleich als Bühnenbildner fungiert und mit seinem angestrebten (und idealisierten) »schöpferischen genius«10 über den Schauspielern steht. Craig setzt das Verhältnis des Regisseurs zu seinen Schauspielern mit dem eines Dirigenten zu seinem Orchester gleich und installiert damit ein hierarchisch geprägtes (Macht-)Modell, das maßgeblich die weitere ästhetische sowie politische Konfliktgeschichte des Regietheaters bestimmt und bis heute im System des Stadttheaters strukturell nachwirkt.11 Zu Craigs Leistungen zählt, die komplexen und zusammenspielenden handwerklichen Dimensionen im Theater zu reflektieren und eine Zäsur einzufordern, die darin besteht, dass die Regie künstlerisch aus den von ihr beherrschten Handwerken hervortritt. Im diesem Prozess ihrer Autonomiewerdung befreit sich die Regie zugleich aus ihrer engen Bindung an den Autor, dem sie zu dieser Zeit noch diente. Von da an gewinnt die Frage an Bedeutung, in welchem Grad die Regie als (Ko-)Autor fungiert, womit Konflikte begründet werden, die um die Werktreue, das heißt, um Interpretationsspielräume der Regie, beziehungsweise um aktualisierende Lesarten der Regie kreisen.12 Craig schreibt: Wenn er [der Regisseur, S.T.] die stücke des dramatikers mit hilfe seiner schauspieler, bühnenbildner und seiner anderen arbeiter inszeniert, dann ist er ein handwerker, ein meister seines handwerks vielleicht. Wenn er aber den gebrauch der bewegungen, worte, linien, farben und des rhythmus beherrscht, kann er zum künstler werden. Dann werden wir nicht länger die hilfe des dramatikers brauchen, denn dann wird unsere kunst selbstständig.13
Die Ebene der Bewegungen und des Raumes wird wiederum von Adolphe Appia, einem anderen Mitbegründer der modernen Theaterregie, entscheidend aufgewertet, da Appia die Plastizität und Räumlichkeit von Theater betont sowie die Körper der Schauspieler und deren raumbildende Bewegungsprozesse in ihrer wirklichkeitskonstituierenden Qualität scharf beleuchtet.14 10 | Edward Gordon Craig, »Über die kunst des theaters. Der erste dialog«, Berlin 1905, in: Ders., Über die kunst des theaters, Berlin 1969, S. 101-126, hier S. 124, S. 106. Zu den Vorläufern der modernen Theaterregie in Deutschland vgl. auch: Jens Roselt, »Vom Diener zum Despoten. Zur Vorgeschichte der modernen Theaterregie im 19. Jahrhundert«, in: Gronemeyer/Stegemann, Regie, S. 23-37. 11 | Vgl. Craig, Über die kunst des theaters, S. 106. 12 | »Wer Regietheater sagt, meint meistens auch Werktreue. Die beiden Begriffe sind wie siamesische Zwillinge eines Diskurses.« Christopher Balme, »Werktreue. Aufstieg und Niedergang eines fundamentalistischen Begriffs«, in: Gutjahr, Regietheater!, S. 43-52, hier S. 43. 13 | Craig, Über die kunst des theaters, S. 106. 14 | Vgl. Gabriele Brandstetter/Birgit Wiens (Hg.), Theater ohne Fluchtpunkt. Das Erbe Adolphe Appias: Szenographie und Choreographie im zeitgenössischen Theater, Berlin 2010.
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Auch wenn Craigs Überlegungen zum »idealen regisseur« aus heutigem Blickwinkel zu ›monotheistisch‹ ausfallen und eine künstlerische Hegemonie der Regie anstreben, können diese nach wie vor produktive Impulse für die Theaterpraxis und Theaterausbildung geben, wenn sie nicht ausschließlich auf den Regisseur zentriert und künstlerisch wesentlich kollektiver ausgehandelt werden. Auch dazu noch einmal Craig: Bewahren sie sich den wunsch, von der position des regisseurs wegzukommen, und das können sie am leichtesten, wenn sie die verschiedenen materialien beherrschen lernen, mit denen sie später arbeiten müssen, wenn sie der ideale regisseur sind. […] und wir müssen erkennen, dass jeder teil, jedes einzelne handwerk in direkter beziehung zu jedem anderen handwerk des theaters steht […]. Deshalb kann die reform des theaters nur von den männern durchgeführt werden, die alle einzelnen handwerke des theaters erforscht und ausgeübt haben.15
Über hundert Jahre später knüpft Heiner Goebbels (un-)bewusst an die Vorstellungen Craigs an und skizziert eine Leitidee des Gießener Institutes für Angewandte Theaterwissenschaft: So schmal unsere Mittel auch sind, es ist eine Maxime, die wir unseren Studenten zu vermitteln versuchen, von Anfang an mit allen Mitteln zu arbeiten. Denn nur das, was von Anbeginn reflektiert und auch infrage gestellt werden kann, hat die Chance, mehr als nur eine illustrative Rolle spielen zu können. Nur dann sind die strukturellen Potenzen der Technik entsprechend auch zu nutzen. […] Wie können wir unsere Studierenden auf die Komplexität neuer Formen vorbereiten, ohne uns eines Tages vorwerfen zu lassen, eine beharrende Kraft im künstlerischen Prozess zu sein und damit letztlich zu den Kompromissen beizutragen, die in der Kunst nichts verloren haben? Nur, indem man zugleich Handwerk vermittelt (für Regisseure, Sänger, Instrumentalisten, Tänzer, Schauspieler oder quer zu diesen Kategorien – kurz: Theaterleute) und die Fähigkeit der Reflexion darüber, damit dieses Handwerk nicht das Einzige ist, worauf es in Zukunft ankommen wird.16
Bedenkenswert erscheint die Bemerkung, auch »quer zu diesen Kategorien« zu vermitteln, womit die Frage aufgeworfen wird, inwiefern und bis zu welchem Grad es heute für die künstlerische Ausbildungspraxis fruchtbar ist, diese durch Entspezialisierungen weiterzuentwickeln. Entstehen durch diesen Richtungswechsel, der das Verhältnis (und somit auch die ästhetischen Maßverhältnisse) von Re15 | Edward Gordon Craig, »Die künstler des theaters der zukunft«, in: Ders., Die künstler des theaters der zukunft, Berlin 1969, S. 26 sowie Craig, Über die kunst des theaters, S. 124f. 16 | Heiner Goebbels, »Der Kompromiss ist ein schlechter Regisseur. Theater als Museum oder Labor«, in: Ders (Hg.)., Ästhetik der Abwesenheit. Texte zum Theater, Berlin 2012, S. 160-166, hier S. 162, S. 164f.
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gie, Schauspiel, Ausstattung, Bühnentechnik und Autorschaft grundlegend ändert und das Moment des kollektiven Arbeitens hervorhebt, ›freiere‹ und das heißt ganzheitlichere, künstlerische Spielräume? Stellt sich mit dem Prinzip des potenzierten ›Selber-in-die-Hand-Nehmens‹ auch eine größere Eigenverantwortlichkeit her? Entsteht eine weniger entfremdete Beziehung zur (Proben-)Arbeit, die sich in ihren sozialen Dimensionen signifikanter in den künstlerischen Arbeiten abdrückt, so dass sich die Aufführungsstruktur dezentralisiert und damit auch politisch (neu) aufladen kann?17 In diesem Sinne setzt sich auch Heiner Goebbels in seinen eigenen Arbeiten entschieden vom »totalitären Regieregime« ab und betont, dass »im Versuch, die sozialen Prozesse des Theaters nach künstlerischen Formen zu organisieren«18, das Potential liege, neue Formen zu begründen. Anders hingegen fallen die Diagnosen von Bernd Stegemann aus, der sowohl die Projektkultur der freien Szene, welche seiner Meinung nach die neo-liberal geprägten Arbeitsstrukturen selbst in sich aufgenommen hat, als auch die künstlerischen Arbeitsprozesse im Stadttheatersystem sowie die Auswirkungen des postmodernen bzw. postdramatischen Regietheaters kritisch analysiert. Vor allem letztere führten zu einer Verarmung der Schauspielkunst, womit sich nochmals die Frage stellt, ob das zeitgenössische Regietheater an einem ästhetischen Endpunkt angelangt ist. Mit den ästhetischen Eigenarten der Postdramatik findet das Regietheater zu seinem Höhepunkt, der zugleich das Ende seiner Form als Künstlertheater bedeutet. […] Nach gut hundert Jahren Regietheater ist eine Gruppe von Schauspielern nicht mehr in der Lage, ein Theaterstück ohne Regisseur aufzuführen. […] Die Regisseure des Stadttheaters versuchen mit sehr unterschiedlichem Geschick und Erfolg, ihre Produktionsbedingungen in ein Künstlertheater en miniature zu verwandeln. Folgerichtig wird das Stadttheater zu einem 17 | Miriam Dreysse verweist in ihren Überlegungen zu Giessener Absolventen (wie She She Pop, Gob Squad, Monster Truck, Herbordt/Mohren, Auftrag: Lorey, Hofmann&Lindholm sowie Rimini Protokoll) auf diese, sich aus den Arbeitsweisen ergebende ästhetische Formfindungsprozesse. Vgl. Miriam Dreysse, »Multiple Autorschaften. Zum Verhältnis von Arbeitsweise und ästhetischer Form«, in: Annemarie Matzke/Christel Weiler/Isa Wortelkamp (Hg.), Das Buch von der Angewandten Theaterwissenschaft, Köln 2012; vgl. auch Matzke, Arbeit am Theater. 18 | Goebbels, »Der Kompromiss ist ein schlechter Regisseur«, S. 165. Eine zentrale Referenz für Goebbels, der in seinen (Musik-)Theaterarbeiten grundsätzlich versucht, die Hierarchisierung der Theatermittel aufzuheben, indem sich die »Einzelkünste wechselseitig strukturell durchdringen« (S. 137), ist die Theaterästhetik Bertolt Brechts. Eine weitere Analogie besteht darin, dass es Brecht (in seiner eigenen Wahrnehmung) als »Spielleiter« weder darum ging, eine Idee oder Vision zu »verwirklichen« noch seine Schauspieler als »Instrumente« zu funktionalisieren – sondern darum, die sozialen Prozesse in den Proben zu thematisieren. Vgl. Bertolt Brecht, »Haltung des Probenleiters (bei induktivem Vorgehen)«, in: Roselt, Regie im Theater, S. 374-376, hier S. 374 sowie Roselt, ebd., S. 377.
Am End- oder Nullpunkt? Kampfplatz des Regiewillens. […] Aufgrund der Entwicklung des Künstler-Regisseurs zum inkommunikablen Zentrum eines geheimnisvollen Wollens wird dieser schnell zu einem Nadelöhr. Sein Geschmack wird zum Maßstab der Entscheidungen. Parallel zu der nun fast 150-jährigen Entwicklung des Regieberufs kam es zu einer Entmündigung der anderen Theaterkünste. Am Beispiel des Schauspielers und seiner Darstellungsmittel ist diese Entwicklung gut zu beobachten. Die Fähigkeit eines Ensembles, auf Grundlage eines dramatischen Textes zu einem gemeinsamen Spiel und einer Aufführung zu kommen, ist erloschen. Es fehlt die Basis einer gemeinsamen Spielweise. Die handwerkliche Gemeinsamkeit einer Verständigung, die zum Beispiel bei Orchestermusikern noch gegeben ist, ist zerstört.19
Machen wir einen Sprung zurück zu Max Reinhardt, der sich im Vergleich zu seinem Zeitgenossen Craig stärker für die »schöpferischen Kräfte der Schauspieler« interessiert, an ein Theater glaubt, »das dem Schauspieler gehört« und für den, wie für Stegemann, »der Schauspieler der natürliche Mittelpunkt des Theaters«20 ist. Rückt damit für Reinhardt der Regisseur aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit? In einem programmatischen Text von 1928 – Reinhardt ist zu jener Zeit längst ein weltweit gefeierter Regisseur, der für seine spezifische Regieästhetik geschätzt wird – antwortet er genau auf diese Frage: »Wenn ich vom Theater der Zukunft spreche, möchte ich vor allem einmal feststellen, daß ich den Regisseur für eine provisorische oder besser vorübergehende Erscheinung in der Weiterentwicklung des Theaters halte.«21 Jedoch geht es Reinhardt keineswegs um die Abschaffung des Regisseurs, sondern darum, diesen durch einen Autor-Schauspieler-Regisseur zu ersetzen und damit eine ›Theaterdichtung‹ zu begründen, die dem Vorbild Shakespeares und Molières folgt. Interessant, auch im Hinblick auf jüngere (post-)dramatische Diskurse, ist ebenso Reinhardts Diagnose, dass es »wenig dramatische Produktion im eigentlichen Sinne des Wortes« gebe: Wenn der Regisseur heutzutage nötig ist, um die Kluft, die zwischen den Autoren und den Interpreten ihrer Werke gähnt, zu überbrücken, so ist das ganz einfach eine Folgeerscheinung der traurigen Tatsache, daß die Bühnenschriftsteller ihr Handwerk nicht verstehen. […] Der Regisseur hat heute nur deshalb eine so starke Position, weil wir wenig dramatische Produktion im eigentlichen Sinne des Wortes haben. Die meisten Stücke sind Literatur, die nicht aus dem Bühnenboden gewachsen ist. Bei solchen Stücken ist ein Mittler, der Spielleiter unbedingt nötig. Er wird so entbehrlicher, je theaternäher der Dichter ist.
19 | Bernd Stegemann, Kritik des Theaters, Berlin 2013, S. 232, S. 271f.; Ders., »Regie als Beruf«, in: Gronemeyer/Stegemann, Regie, S. 38-57, hier S. 54. 20 | Max Reinhardt, »Über ein Theater, wie es mir vorschwebt (1901)«, in: Hugo Fetting (Hg.), Max Reinhardt. Schriften. Briefe, Reden, Aufsätze, Interviews, Gespräche, Auszüge aus Regiebüchern, Berlin 1974, S. 64-67, hier S. 65. 21 | Max Reinhardt, »Über das ideale Theater (1928)«, in: Fetting (Hg.), Max Reinhardt, S. 341-344, hier S. 341.
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Stefan Tigges Shakespeare und Molière haben ebensowenig Regisseure gebraucht wie Nestroy und Raimund. Dieser Zustand scheint mir die höchste Erfüllung des Theaterspielens. 22
Autor-Regisseur-Positionen wie zum Beispiel von René Pollesch, Armin Petras, Falk Richter23, Rodrigo Garcia, Angélica Liddell, Robert Lepage, Wajdi Mouawad, Philippe Quesne oder Joel Pommerat spielen heute, wenn auch unter ganz anderen ästhetischen Voraussetzungen, zunehmend eine wichtige Rolle, wobei hier die beteiligten Schauspieler/Performer gleichfalls Ko-Autor-Funktionen übernehmen können. Im Kontext dieser (Ideal-)Vorstellung vom Autor-Schauspieler-Regisseur stellt sich bei Reinhardts eigenen Theaterarbeiten allerdings die Frage, ob diese nicht doch signifikant von seiner Regie-Handschrift geprägt sind und die Schauspieler letztlich doch nur im »Mittelpunkt«, so Guido Hiß, »der gestaltenden Arbeit des Regisseurs«24 stehen. Dieser Eindruck verhärtet sich durch einen Blick in weitere Schriften Reinhardts, in denen er über seine Probenarbeit nachdenkt, die er im (imaginierten) Dialog mit dem Dichter gründlich vorbereitet. Bevor es zur ersten Leseprobe geht, ist Reinhardts Regiebuch bereits mit einer »vollkommenen optischen und akustischen Vision«25 gefüllt. Über die frühzeitig fixierte Besetzungsfrage hin22 | Ebd., S. 341f., S. 345. An anderer Stelle präzisiert Reinhardt seinen Begriff des Schauspielers: »Heute und für alle Zeiten muß der Mensch im Mittelpunkt aller Schauspielkunst stehen, der Mensch als Schauspieler. Wo der Schauspieler zugleich dramatischer Schriftsteller ist, hat er die Kraft, eine Welt nach seinem eigenen Bild zu schaffen und so das Drama zu seiner höchsten Lebensform zu erwecken – wie Shakespeare und Molière. Wer auch immer irgendetwas mit dem Theater zu tun hat, sollte Schauspieler sein. Ob er die Schauspielkunst ausübt oder nicht ist die zweitrangige Frage. Viele große Stückeschreiber, Schauspiellehrer und Theaterdirektoren waren Schauspieler, ohne jedoch je auf der Bühne gespielt zu haben. Nur wenn der Regisseur, der Theaterdirektor, der Dichter, der Lehrer der dramatischen Kunst, der Bühnenbildner, der Musiker, nur wenn sie alle Schauspieler sind, wenn jeder auf der Bühne und jeder im Zuschauerraum Schauspieler ist und am Spiel teilnimmt, dann und nur dann erfüllt das Theater seine höchste Sendung.« Vgl. Max Reinhardt, »Über die Bedeutung des Schauspielers (1924)«, in: Fetting, Max Reinhardt, S. 314. 23 | Vgl. Stefan Tigges, »Im Probenraum des Textes«, in: Friedemann Kreuder (Hg.), Falk Richter. Theater. Texte von und über Falk Richter 2000-2012, Marburg 2012, S. 652-668. 24 | Hiß, Synthetische Visionen, S. 144. Zuvor konstatiert Hiß bereits: »Keinesfalls plädiert er für ein radikales Schauspielertheater. Der Regisseur behält letztlich alle Karten in der Hand.« Ebd., S. 143. 25 | Weiter heißt es: »Schließlich hat man eine vollkommene optische und akustische Vision. Man sieht jede Gebärde, jeden Schritt, jedes Möbel, das Licht, man hört jeden Tonfall, jede Steigerung, die Musikalität der Redewendungen, die Pausen, die verschiedenen Tempi. Man fühlt jede innere Regung, weiß wie sie zu verbergen und wann sie zu enthüllen ist, man hört jedes Schlucken, jeden Atemzug.« In: Max Reinhardt, »Das Regiebuch«, in: Fetting, Max Reinhardt, S. 257-259, hier S. 257.
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aus macht sich Reinhardt in seinem Regiebuch Gedanken, wie »der Schauspieler der Rolle« oder »die Rolle dem Schauspieler angepasst werden kann« und wie er in die ihm gut bekannten Schauspieler »hinein komponieren« kann – obwohl er sich, zumindest aus eigener Sicht, bei den Proben wieder zurücknimmt: »Man versucht das und jenes, hält sich nie eigensinnig an das, was man aufgeschrieben hat, bleibt offen für alles, schon um dem Schauspieler den weitesten Spielraum zu geben und ihm vor allem Lust und immer wieder Lust zu machen.« 26 Letztlich ist der einzelne Schauspieler aber, wie Reinhardt an anderer Stelle formuliert, »nur ein Teil des Ganzen«, während der Regisseur die Aufgabe hat, »alle Teile in seiner Hand« zu haben und »sie harmonisch ineinanderfließen« zu lassen.27
Against interpretation: (Un-)Sichtbare Regie Hundert Jahre später zeigt sich, dass Regietheater weder »gleichbedeutend mit der Autokratie der Regisseure«, noch auf ein »Regisseurtheater« (Günther Rühle)28 zu reduzieren ist. Ebenso deutlich ist, dass aktuellere Formen des Regietheaters längst nicht mehr als »Realisierung eines vorgefertigten Konzepts oder Darstellung einer spezifischen Deutung des Textes zu verstehen sind«, sondern dass der
26 | Ebd., S. 257, S. 259. 27 | Max Reinhardt, »Von der modernen Schauspielkunst und der Arbeit des Regisseurs mit dem Schauspieler (1915)«, in: Fetting, Max Reinhardt, S. 304-314, hier S. 309. Vgl. auch Hiß, Synthetische Visionen, S. 143. Stanislawski, der wie Reinhardt im Vorfeld der Proben intensiv an seinen Regiebüchern arbeitete, sich später aber zunehmend von seinen ›fixierten‹ Regieplänen zu lösen versuchte, bilanziert ganz ähnlich: »Heute bin ich zu der Überzeugung gelangt, daß die schöpferische Arbeit des Regisseurs Hand in Hand mit der des Schauspielers gehen muß, ohne dieser zuvorzukommen und sie zu fesseln. Die Aufgabe des modernen Regisseurs besteht nach meiner Meinung darin, den Schauspielern bei ihrer schöpferischen Arbeit zu helfen, diese Arbeit zu kontrollieren und darauf zu achten, daß sie – wie auch die gesamte äußere Gestaltung der Aufführung – bei allen organisch aus demselben schöpferischen Kern des Dramas hervorwächst.« Konstantin Stanislawski, »Die Kunst des Schauspielers und des Regisseurs (1928)«, in: Roselt, Regie im Theater, S. 280295, hier S. 291f. 28 | Thomas Zabka, »Das wilde Leben der Werke«, in: Zabka/Dresen, Dichter und Regisseure, S. 9-57, hier S. 50; Rühle, Anarchie in der Regie?, S. 121. Dass das lange fast ausschließlich männlich besetzte Regiefach sich gewandelt hat, thematisierte die von Christina Haberlik kuratierte Ausstellung Regie-Frauen. Ein Männerberuf in Frauenhand, die 2011 im Theatermuseum München und darauf in der Berliner Akademie der Künste zu sehen war und in der etwa vierzig Theaterregisseurinnen porträtiert wurden. Vgl. Christina Haberlik, Regie Frauen, Berlin 2010 sowie: www.adk.de/aktuell/pressemitteilungen/ down-load_2011/05_Regie-Frauen/Ad vom 27.07.2015.
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»theatrale Hypertext in eine vielschichtige Auseinandersetzung mit Diskursen, Künsten und Medien geführt wird«.29 Die beiden Momente, die im theatralen Hypertext aufgehende Textvorlage und die bewusste Diffusion des zentralperspektivischen Regiestandpunktes, können zu produktiven, kollektiven Suchbewegungen nach dem (zunächst) unbesetzten Zentrum in der Aufführung führen. Doch damit stößt das Regietheater, heute oftmals in missverständlicher Weise als »Regietheater des Ensembles« umgedeutet, bis auf wenige Ausnahmen (vorerst) an seine (Bestimmungs-)Grenzen.30 Anders formuliert: Aktuell tritt das Theater mit anderen Kunstformen und Medien in einen intensiven ästhetischen Stoffwechsel, der entscheidend zur Abspaltung von Spielarten des Regietheaters beiträgt – gerade auch, weil hier mit dem verklebten Gesamtkunstwerkgedanken eine seiner zentralen ästhetischen Ausformungen überwunden wird. Zum Schluss die Beobachtung einer Zuschauerin, die nach einem Besuch von Onkel Wanja (Deutsches Theater Berlin 2008, Regie: Jürgen Gosch) Ulrich Matthes einen Brief schrieb und darin ein Paradox benennt, das seit der Begründung des modernen Theaters immer wieder auftritt: die Regie als blinder Fleck: »Wie schön, endlich mal wieder ein Abend nur mit wunderbaren Schauspielern, ganz ohne Regie.«31 In ganz ähnlichem Sinn spricht sich auch eine Bilanz von Peter Zadek aus. Zadek begründete mit Peter Stein und Wilfried Minks in den 1960er Jahren unter der Intendanz von Kurt Hübner den ›Bremer Stil‹, der als eine Blütezeit des politischen Regietheaters gilt, obwohl sich Zadek, Minks, Stein (wie auch Gosch), bei aller künstlerischen Heterogenität, jeweils nicht als stilfixierende Vertreter eines interpretationszentrierten Regietheaters begreifen. Zadek schreibt: »Regie, die man merkt, ist uninteressant. Ich habe mein Leben lang versucht, mich als Regisseur unsichtbar zu machen, weil ich es spannender finde, ein Stück zu sehen und nicht zu wissen, wessen Hand dahinter steckt.«32 29 | Gutjahr, Regietheater!, S. 13-28, hier S. 24, S. 22. 30 | Zabka, »Das wilde Leben der Werke«, S. 50. 31 | Ulrich Matthes, »Darum geht’s. Mir zumindest«, Laudatio anlässlich der Verleihung des Gertrud Eysoldt-Rings 2000, in: Theater heute 5 (2005), S. 1-2, hier S. 1. 32 | Peter Zadek, Menschen Löwen Adler Rebhühner. Theaterregie, Köln 2003, S. 104. Die von Frank Castorf seit 1992 geleitete Berliner Volksbühne fungiert gewissermaßen als letzte avantgardistische Festung eines künstlerisch radikal ausgerichteten und auf die Ästhetik der Dekonstruktion setzenden, politisch-performativen Regietheaters in der deutschen Stadttheaterlandschaft. Dass die aktuelle Schaubühne gerade mit den Arbeiten von Thomas Ostermeier auch weit über Europa hinaus als zentraler deutscher Vertreter des zeitgenössischen Regietheaters wahrgenommen wird, halte ich für ein widersprüchliches Phänomen, das aus einem inter- bzw. transkulturellen Blickwinkel zu ergründen wäre. Genauer aufzuarbeiten und in aktuellen Diskursen zu spiegeln wären ebenso die Folgen der Mitbestimmungsmodell-Versuche in den 1970er Jahren in Frankfurt sowie die der Ber-
Am End- oder Nullpunkt?
Ist Regie also auch oder gerade dann in (der) Form, wenn sie subtil auftritt? Aber wie treten dann im Einzelnen diese Strategien des Zurücknehmens künstlerisch hervor und wie lassen sie sich theoretisch präziser ergründen?
liner Schaubühne, die jüngst einen Großteil ihres Archivbestands der Berliner Akademie der Künste überließ. Zur Ästhetik der von Peter Stein (mit-)begründeten Berliner Schaubühne vgl. Joachim Fiebach, »›Das entscheidende für uns […] ist das Theater in Paradoxis‹. Zur Schaubühne am Halleschen Ufer von 1970 bis 1980«, in: Erika Fischer-Lichte/Friedemann Kreuder/Isabel Pflug (Hg.), Theater seit den 60er Jahren, Tübingen/Basel 1998, S. 235-315.
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Anthropologisches Wissen – mit Jerzy Grotowski, Ariane Mnouchkine und Carmelo Bene Gabriele C. Pfeiffer
Schauspielende (ver)wandeln sich und machen »sich hier [im Schauspiel] bis auf den Grund durchsichtig«1, schreibt Helmuth Plessner 1948 in seinem Essay Zur Anthropologie des Schauspielers. Der Philosoph und Soziologe, einer der wichtigsten Vertreter der philosophischen Anthropologie, geht davon aus, dass »in der schauspielerischen Aktion typische Bedingungen menschlichen Daseins wiederzufinden«2 sind. Der Schauspieler wird dadurch für Plessner ein Modell für (spezifisches) anthropologisches Wissen. Plessner geht bei seinen Überlegungen vom Bildentwurf aus. Er spricht von »Bilder[n] einer imaginären Welt, die der Wirklichkeit gleicht, aber sie selbst nicht ist«3 und von einer »bildnerische[n] Absicht des Schauspielers« 4. Schauspielende würden ihre Darstellung (er sagt »Verkörperung«) an ein zuvor entworfenes Bild angleichen. Eine Figur solle zum Leben erweckt und nicht nur angedeutet werden. Er unterscheidet zwischen Wirklichkeit und Bildern (von Wirklichkeit), anders gesagt zwischen Realität und Fiktion, und betont dabei die körperliche Präsenz der Schauspielenden. Sie spalteten sich selbst auf, da sie selbst ihre eigenen Mittel seien. Sie würden jedoch dieser Aufspaltung keineswegs verfallen (hier würde Plessner die Gefahr von Hysterie und Schizophrenie festmachen)5, sondern nähmen diese vielmehr bewusst wahr und als Position bewusst ein. So kommt Plessner in seiner Analyse zu dem Schluss, dass Menschen potentiell fähig seien, sich in Abständigkeit von sich selbst wahrzunehmen – gerade so wie Schauspielende ihr Verhältnis (ihre Differenz) zur Rolle einnehmen. Die Schau1 | Helmuth Plessner, »Zur Anthropologie des Schauspielers (1948)«, in: Ders., Ausdruck und menschliche Natur, Gesammelte Schriften VII, Frankfurt a.M. 2003, S. 399-418, hier S. 404. 2 | Ebd., S. 415. 3 | Ebd., S. 403. 4 | Ebd., S. 408. 5 | Vgl. ebd., S. 406.
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Gabriele C. Pfeiffer
spielenden seien dabei, so Plessner, stets um ihre Bildkomposition bemüht. Diese Bildwerdung sei notwendig und das Handeln mit den Bildern von sich selbst komme einer Bedingung gleich, da die Wirklichkeit, die kein Bild ist, sich nicht als solche handhaben, d.h. ›leben‹ lässt. Außer Acht bleibt dabei für Plessner, ob die Montage von Bildern nach außen (für Zusehende) oder nach innen (für Schauspielende) vorgenommen wird, wie dies später Jerzy Grotowski verhandelt (Kunst als Vorstellung und Kunst als Vehikel). In seinen Darlegungen bezieht sich Plessner vorwiegend auf jenes Modell von Schauspielen, dessen Bedeutung vor allem durch das Literaturtheater im 18. Jahrhundert entstanden war und das von Eric Bentley als »A-B-C-Modell«6 vorgestellt worden ist. Mit Gerda Baumbach gesprochen,7 geht es bei Plessner ausschließlich um den veristischen Schauspielstil (den deklamatorischen hält er für überwunden),8 auch dann, wenn er sein Gedankenexperiment von klassischer Deklamation über Commedia dell’arte bis zur Improvisationskunst spannt.9 Wenngleich diese Verengung aus theaterwissenschaftlicher Sicht zu kritisieren ist, kann der Grundgedanke Plessners, Schauspielen als anthropologisches Experiment zu verstehen, für weitere Überlegungen aufgenommen und auf andere Schauspielmodelle philosophischer, theoretischer wie praktischer Art angewendet werden. Plessners Grundgedanke der Selbstabständigkeit lässt sich ohne Schwierigkeiten auch auf die beiden weiteren von Baumbach identifizierten Stile, den Rhetorischen Stil und den Comœdienstil, anwenden. Hier wird diese Selbstabständigkeit sogar noch deutlicher, da sie von den Schauspielenden stärker aufrechterhalten, d.h. nicht negiert wird. Sie wird gezeigt (Brecht) oder es wird mit ihr auf verschiedenen Ebenen gespielt (auch expressis verbis, vgl. das Beispiel der Marktbühnen).10 Eine Philosophie (des Lebendigen) von Schauspielmodellen ausgehend zu entwickeln, ist insofern möglich, als in ihnen schon potentiell das Werden in seiner Grundstruktur angelegt ist und verhandelt wird. Schauspielende spielen also, der verschiedenen Stile eingedenk, facettenreich mit der von Plessner erkannten Selbstabständigkeit und geben dadurch Auskunft »über den Schauspieler und seine Kunst und über die menschliche Natur, deren Darstellungsfähigkeit als Gabe der Verkörperung im Schauspieler gesteigert hervortritt, [und] als Darstellbarkeit menschlichen Seins durch die Verkörperung sichtbar wird.«11 6 | Vgl. Eric Bentley, »Enactment«, in: Ders., The Life of the Drama, London 1965, S. 148192, hier S. 150. 7 | Vgl. Gerda Baumbach, Schauspieler. Historische Anthropologie des Akteurs, Bd. 1 Schauspielstile, Leipzig 2012, insb. Kapitel »Mensch und Schauspieler. Schauspielstile«, S. 127-274. 8 | Vgl. Plessner, »Zur Anthropologie des Schauspielers (1948)«, S. 406. 9 | Vgl. ebd., S. 409. 10 | Vgl. Baumbach, Schauspieler, S. 204. 11 | Plessner, »Zur Anthropologie des Schauspielers (1948)«, S. 409.
Anthropologisches Wissen
Kunst als Fahrzeug oder Tier-Werden Grotowski verlangt von seinen Schauspielenden, zum Zwecke der Sichtbarmachung die Vogelperspektive einzunehmen und auf diese Art eine Abständigkeit einzuüben. Auf dem Weg zum Performer – wie er seinen ›Mann der Tat‹, den ›Handelnden‹ nennt – sei es notwendig, genau diesen Teil in einem selbst zu trainieren (zu ›nähren‹), der zusieht: In alten Texten kann man lesen: Wir sind zwei. Der Vogel, der aufpickt, und der Vogel, der zuschaut. Einer wird sterben, einer wird leben. Mit dem Aufpicken beschäftigt und berauscht vom Leben in der Zeit, vergessen wir, den Teil in uns, der zuschaut, zu ernähren. Daher besteht die Gefahr, daß man nur in der Zeit existiert und überhaupt nicht außerhalb der Zeit. […] Es gibt ein Ich-Ich. Das zweite Ich ist gewissermaßen virtuell; […] Ich-Ich bedeutet nicht, daß man entzweigeschnitten, sondern daß man doppelt ist. Es geht darum, daß man (entgegen der Gewohnheit) im Handeln passiv und aktiv im Sehen ist.12
Zunächst übernimmt der Regisseur, bei Grotowski ist es der Lehrer, die Aufgabe des Zuschauens. Doch mit der Zeit geht diese Haltung in den Schauspieler über, in den »Performer mit große[m] P«13. Die Perspektive, die zuvor von zwei Personen eingenommen wurde, wird nun durch einen Performer vollzogen. Plessner überhöht seinen Gedanken der von oben gedachten Perspektive im Zusammenhang mit Kleists Schrift »Über das Marionettentheater«14, in der er die Selbst-Entdeckung des Schauspielers beziehungsweise des Menschen erkennt: »mit der Entdeckung seiner selbst, diesem Über-sich-selbst-hinaus-Sein, dieser fatalen présence à soi, hat der Mensch seine Freiheit gewonnen und die ungebrochene Sicherheit seiner Animalität verloren«15. Der sich seiner selbst bewusst werdende Mensch streife demnach sein Tier-Sein ab. Dieser Vorgang wird von Nietzsche wiederum als durchaus zwiespältig begriffen: Anhand der babylonischen Sakäen, den rauschenden Freudenfesten mit ihrer Umkehrung sozialer Ordnungen und der damit einhergehende (An-)Verwandlung an das Tierische, erscheint Nietzsche dieser Vorgang als ein »Rückschritt« des Menschen. Andererseits relativiert Nietzsche diese Position in Bezug auf die dionysischen Orgien der Griechen. Hier gilt ihm die Annäherung an das Tierische ›als Vorbedingung‹ für ästhetisches Handeln, denn erst die Überwindung des Tier-Seins durch den dio-
12 | Jerzy Grotowski, »Der Performer«, in: Walter Pfaff/Erika Keil/Beat Schläpfer (Hg.), Der sprechende Körper. Texte zur Theateranthropologie, Museum für Gestaltung Zürich, Berlin 1996/1997, S. 43-47, hier S. 45. 13 | Ebd., S. 43. 14 | Vgl. Heinrich von Kleist, »Über das Marionettentheater«, in: Ders./Edward Gordon Craig/Liszló E. Földéryi, Marionetten und Übermarionetten, Berlin 2012, S. 5-15. 15 | Plessner, »Zur Anthropologie des Schauspielers (1948)«, S. 416.
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nysischen Schauspieler erreiche ästhetische Sphären. Dies scheint über das bloße Auffinden des Tieres im Schauspieler weiter (hinaus) zu gehen: Sehen wir aber, wie sich unter dem Drucke jenes Friedensschlusses die dionysische Macht offenbarte, so erkennen wir jetzt, im Vergleiche mit jenen babylonischen Sakäen und ihrem Rückschritte des Menschen zum Tiger und Affen, in den dionysischen Orgien der Griechen die Bedeutung von Welterlösungsfesten und Verklärungstagen. Erst bei ihnen erreicht die Natur ihren künstlerischen Jubel, erst bei ihnen wird die Zerreißung des principii individuationis ein künstlerisches Phänomen. Jener scheußliche Hexentrank aus Wollust und Grausamkeit war hier ohne Kraft: nur die wundersame Mischung und Doppelheit in den Affekten der dionysischen Schwärmer erinnert an ihn – wie Heilmittel an tödliche Gifte erinnern –, jene Erscheinung, daß Schmerzen Lust erwecken, daß der Jubel der Brust qualvolle Töne entreißt. Aus der höchsten Freude tönt der Schrei des Entsetzens oder der sehnende Klagelaut über einen unersetzlichen Verlust.16
Bei Gilles Deleuze und Félix Guattari wiederum geht es gerade nicht um die Überwindung, vielmehr um den (unmöglichen) ›Prozess‹ des Tier-Werdens. Sie schreiben: Tier werden heißt genau, die Bewegung vollführen, die Fluchtlinie in ihrer ganzen Positivität trassieren, eine Schwelle überschreiten, vordringen zu einem Kontinuum aus Intensitäten, die nur noch für sich selber Geltung haben, eine Welt aus reinen Intensitäten finden, wo alle Formen sich auflösen, alle Bedeutung, Signifikanten und Signifikate, um lediglich ungeformte Materie, deterritorialisierte Ströme, asiginfikante Zeichen übrig zu lassen.17
Mit diesen Gedanken des Eintauchens (und Überwindens) von Tier-Werden ist eine präzisere Annäherung an den Grotowski-Schauspieler möglich als durch Plessners gedankliche Konstrukte. Das »Intensiv-werden« und Auffinden des Tieres in sich selbst, kann im Theater, dem Laboratorium bzw. working space von Grotowski beobachtet werden. Nicht nur in den ›Übungen zum Tiger‹18, die er seine Schauspielenden im Armen Theater ausführen lässt, auch in seiner letzten Arbeitsphase, die er als »art as vehicle«19 bezeichnete und die durch Thomas 16 | Friedrich Nietzsche, »Die Geburt der Tragödie«, in: Ders., Kritische Studienausgabe Bd. I, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München u.a. 1988, S. 9-156, hier S. 32f. Für diesen Hinweis danke ich Brigitte Marschall. 17 | Gilles Deleuze/Félix Guattari, Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfurt a.M. 1976, S. 20. Vgl. dies beispielsweise auch im Baphomet von Pierre Klossowski, mit dem sich Carmelo Bene intensiv beschäftigt hat. 18 | Vgl. »Das Training des Schauspielers (1966), erinnert von Eugenio Barba«, in: Jerzy Grotowski, Für ein Armes Theater, Berlin 1994, S. 189-233, hier S. 192. 19 | Vgl. Jerzy Grotowski, »Von der Theatertruppe zur Kunst als Fahrzeug«, in: Thomas Richards, Theaterarbeit mit Grotowski an physischen Handlungen, Berlin 1996, S. 179-216.
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Richards perfektioniert wurde. Von den Schauspielern20 werden tierische Haltungen und Laute herausgeschält und freigelegt, indem sie kulturelle Überformungen Schicht um Schicht abstreifen und in die Untiefen lebendigen Werdens vordringen. Diese Bewegung ist ähnlich vorzustellen wie das »Minoritär-werden«, das Deleuze und Guattari beschrieben haben oder jenes von Carmelo Bene, das bei ihm schließlich im buchstäblichen Sinne woandershin führt. Bei Grotowski aktiviert der Schauspieler sein Reptiliengehirn und geht über sich hinaus, indem er sich tief in sich hinein wühlt:21 Das Wesentliche ist, daß es eine gewisse Urhaltung des menschlichen Körpers gibt. Es ist eine so alte Haltung, daß sie vielleicht nicht nur die des Homo sapiens, sondern auch die des Homo erectus war und daß sie gewissermaßen das Auftreten des Menschengeschlechts betrifft. Eine Haltung, die sich in grauer Vorzeit zu verlieren scheint und die mit dem zusammenhängt, was die Tibeter bisweilen unsere ›reptilische‹ Seite nennen. In der afro-karibischen Kultur steht diese Haltung, genauer gesagt, mit der Ringelnatter in Verbindung; und nach indischer Überlieferung, die aus dem Tantra stammt, hat man an der Basis der Wirbelsäule eine schlafende Schlange. 22
Grotowski entwickelt mit seinen Schauspielenden Übungen und Performancestrukturen, die diese Schlange wecken, sodass sie im Körper der Handelnden ihren Ausdruck findet. Zuweilen werden anhand von alten Gesängen Strukturen und Abläufe gebaut, die über Jahre hinweg trainiert, erprobt und durchgeführt werden. Jedes Mal wachsen die Handelnden über sich hinaus, während sie tief in sich, in ihre Körper hinabsteigen. Grotowski erklärt dieses Verhältnis von aufsteigender Energie und vom ›über sich‹ Hinausgehen, während gleichzeitig das tief-ste Innerste in den Schauspielenden aktiviert wird, gern mit dem biblischen Bild der Jakobsleiter.23 Diese biblische Himmelsleiter, die eine Verbindung zu himmlischen Sphären hinauf und zur irdischen wie tierischen Existenz hinab darstellt, verbildlicht das Einüben von Hinauf- und Hinabsteigen in seiner Vertikalität. Zuweilen ertönen Urlaute und der aufrechte Körper (er)findet Existenzweisen, die das Tier in ihm wortwörtlich 20 | Hinsichtlich der Konzentration von Grotowski auf männliche Schauspieler vgl. Gabriele C. Pfeiffer, »Das röhrende Er und fiepsende Sie. Notate zur Auflösung des Subjekts am Beispiel des Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards«, in: Friedemann Kreuder et al. (Hg.), Theater und Subjektkonstitution. Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion, Bielefeld 2012, S. 325-337. 21 | Vgl. Jerzy Grotowski, »Du bist jemandes Sohn«, in: Pfaff/Keil/Schläpfer (Hg.), Der sprechende Körper, S. 201-213. 22 | Ebd., S. 205. 23 | Vgl. Jerzy Grotowski, »Von der Theatertruppe zur Kunst als Fahrzeug«, in: Richards, Theaterarbeit mit Grotowski an physischen Handlungen, S. 179-216, hier S. 199f. Grotowski spricht auch davon, dass für die Schauspieler als Handelnde nicht das Publikum, sondern »der Weg in die Vertikalität« (ebd. S. 214) den Bezugspunkt darstellt.
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auferstehen lässt. Neben der Schlange zeigen sich beispielsweise affenähnlich oder katzenähnlich hervorgebrachte Gestalten, die wohl eher an Nietzsches babylonische Sakäen erinnern als an dionysische Schauspieler und dionysische Feste. Grotowskis Schauspieler bildet sich im nietzscheanischen Sinne ›vor‹ dem dionysischen, vor dem ästhetischen Schauspieler, und ist doch Bedingung für diesen. Wie aber nun könnte das Tier-Werden als Bühnenexistenz und somit als besondere Form der künstlerischen Existenz verstanden werden? Vielleicht indem das Augenmerk auf den Prozess und nicht auf das Ziel gelegt wird, nicht auf das auferstandene Tier, sondern auf den Prozess des Tier-Werdens, wie es beispielsweise Guattari und Deleuze tun. Die Arten des Tier-Werdens sind weder Träume noch Phantasmen. Sie sind durch und durch real. Aber um was für eine Realität handelt es sich dabei? Denn wenn das Tier-Werden nicht darin besteht, ein Tier zu spielen oder nachzuahmen, dann ist auch klar, daß der Mensch nicht ›wirklich‹ zum Tier wird und daß das Tier auch nicht ›wirklich‹ zu etwas anderem wird. Das Werden produziert nichts als sich selber. 24
Das Andere der Figur oder Maske-Werden »Theater bleibt ein Ort«, sagt Ariane Mnouchkine, »wo man lernt, wo man dem anderen begegnet und wo man der andere ist«.25 Sie lässt ihre Schauspieler_innen mit den »Muskeln der Imagination«26 durch Orte und Zeiten springen, lässt sie hier und gleichzeitig woanders sein, lässt sie jetzt und damals sein und lässt Masken durch sie sprechen. Die Faszination der Imagination von Existenz, indem gerade etwas wird, etwas entsteht (es muss nicht etwas Bestimmtes sein, auch kein Tier), sieht auch Hélène Cixous, die langjährige Autorin von Mnouchkine und dem ›Theatre du Soleil‹: Ich bin gern gegenwärtig; mich interessiert, was gerade-dabei-ist-zu: zu passieren – vorüberzugehen, zu geschehen. Im Nu – Ewigkeit des Im-Nu […] meine Vorliebe für die Gegenwart hat einen weiteren Grund: sie ist die Zeit des Theaters. Etwas, was ich durch die Arbeit für das Theater entdeckt habe: die Eigenart dieses Genres, das (uns) unablässig eine Zeit ohne Zeit erfindet. 27 24 | Gilles Deleuze/Félix Guattari, »1730 – Intensiv-Werden, Tier-Werden, UnwahrnehmbarWerden…«, in: Dies., Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, hg. v. Günther Rösch, Berlin 1992, S. 317-422, hier S. 324. 25 | »Die zweite Haut des Schauspielers. Ariane Mnouchkine im Gespräch«, in: Josette Féral, Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, Berlin 2003, S. 120-130, hier S. 120. 26 | Vgl. »Building up the muscle of the imagination. An interview with Ariane Mnouchkine by Josette Féral«, in: ebd., S. 169-176. 27 | Hélène Cixous, »Szenen des Menschlichen«, in: Mireille Calle (Hg.), Über das Weibliche, Düsseldorf/Bonn 1996, S. 97-120, hier S. 97.
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Mithilfe von Masken, insbesondere der balinesischen Masken, entstehe eine »doppelte Spannung« im Zeit-Raum-Kontinuum der Bühne. Da »die Arbeit musikalisch ist und sehr verwandt mit den Marionetten«, sagt Mnouchkine, glaube sie nicht, dass »es richtig ist, so theoretisch davon zu sprechen«.28 Vielmehr begreift sie ihr Tun als Praxis des Vermittelns einer schauspielerischen Arbeit, während sie selbst mitten drinnen steht – ganz im Gegensatz zu Grotowski etwa: Ich bin nicht wie Grotowski, der zu den himmlischen und olympischen Akademien gereist ist und als Überbringer von Gesetzestafeln zurückkehrt! Ich habe zu jenem theoretischen Olymp keinen Zugang. Wenn ich Schauspieler leite, dann fühle ich, daß ich in demselben Schlamm wate wie sie. Es ist, als stände ich auf einem sehr rutschigen Ufer und versuchte, die Schauspieler mit Hilfe eines Seils aus dem Treibsand zu ziehen; ich muß sehr aufpassen, daß ich nicht selber hineinfalle. 29
Für das ›Théâtre du Soleil‹ wäre die Schauspieler-Erforschung in einem Laboratorium zu wenig, vielleicht zu einseitig, da nur von der Seite der Akteur_innen her betrachtet. Theater muss immer eine soziale Funktion ausüben, sich innerhalb der Gesellschaft positionieren. Die Schauspieler_innen von Mnouchkine sehen sich immer im Zusammenspiel mit den Masken, den anderen Mitspieler_innen und mit dem Publikum. Diese Begegnungen wissen sie auch feierlich zu begehen und immer wieder aufs Neue festlich zu zelebrieren.30 Die Probenzeit gestaltet sich durch einen lebendigen Austausch untereinander,31 die Aufführungen durch jenen mit dem Publikum. »Das Theater ist mehr als nur eine Darbietung; es muß eine soziale Funktion übernehmen, die darin besteht, den Horizont zu erweitern«, sagt Mnouchkine: »Alles, was nicht zur Entfaltung der Menschen beiträgt, führt rasch zur Dummheit.«32 Das ›Théâtre du Soleil‹ sieht sich nicht außerhalb der gesellschaftlichen Ordnung, es zeigt vielmehr den Willen, diese mitzugestalten. Neben der Spiellust und dem Erschaffen von Figuren in einer imaginären Welt, die einer Utopie gleicht, steht ein politischer Wille als treibende Kraft. Das Schauspiel selbst ist dabei bestimmt durch die Annahme von Figuren, die auf der Bühne leben und
28 | »Die zweite Haut des Schauspielers«, S. 127. 29 | Ebd. 30 | Vgl. Ulf Birbaumer, »Volkstheater und (soziales Fest)«, in: Trans. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16 (2006), www.inst.at/trans/16Nr/05_7/birbaumer16.htm vom 27.07.2014. 31 | Vgl. Gabriele C. Pfeiffer, »Durch Zeit und Ort mit Ariane Mnouchkine und Gerda Baumbach«, in: Corinna Kirschstein/Anke Charton (Hg.), Pezzi Chiusi. Geschichten, Konstellationen, Reflexe, Leipzig 2015, S. 187-202. 32 | Ariane Mnouchkine, »Eine Bewusstwerdung«, in: Féral, Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 14-17, hier S. 15.
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ihre Geschichten erzählen, die Geschichten der Figuren. Es ist Mnouchkine darum zu tun, die Ruhe zu bewahren, um nicht irgend etwas zu machen, um uns nicht von einer Nervosität oder einem nicht vorgezeichnetem Elan mitreißen zu lassen, bei dem Versuch, eine Figur anzunehmen. Bei einer Figur mit Maske zeigt sich das sehr viel deutlicher: Wenn man nämlich eine Maske trägt und sie nicht ›angenommen‹ hat, spürt man das sofort. Es ist fast, als täte uns durch die Maske das Gesicht weh. Man fühlt sich unwohl, es wird einem klar, daß nicht die Figur da ist, sondern wir selbst. 33
Ob Clowns oder Köche, ob balinesische Masken oder Commedia dell’arte, ob Schauspielerpersönlichkeiten (Molière) oder Shakespeare-Könige, ob Menschen in Paris oder auf der Landspitze Kap Hoorn – immer beginnen sie durch die Schauspieler_innen zu sprechen und ihre Geschichten zu erzählen, die dabei in einen frappierenden Zusammenhang mit der Gegenwart treten.
Woanders hingehen oder Gespielt-Werden Das Über-sich-hinaus-Gehen, das Plessner als Eigenheit des Menschen in Kleists »Marionettentheater« auffindet und als ein grenzüberschreitendes Sich-woanders-Hinbewegen bestätigt, hat auch Carmelo Bene in seinem Theater trainiert. Er hat sich dabei, egozentrisch, manisch und obsessiv, mit sich selbst beschäftigt und gesagt: »mehr als [alles] andere, ist [das Theater] Raserei, Reflexion und Betrachtungen zwischen mir und mir/über mich«.34 Auch Carmelo Bene beschreibt also eine bestimmte Abständigkeit zu sich. Wenn er auf der Bühne ist, möchte er jedoch nicht in sich hinabsteigen (Grotowski) oder sich in Bezug zu anderen setzen (Mnouchkine), sondern vielmehr immer kleiner, weniger werden, um zu verschwinden, um woandershin zu gelangen. Er übt sich im Vergessen, um sich von Existenz und Sinnhaftigkeit zu lösen. Die Gesten, die Carmelo Bene auf der Bühne vollzieht, sind selbstreferentiell. Sie verweisen auf sich selbst und auf nichts anderes. Sie selbst sind ›Akt‹, in dem der Moment des Vergessens, der Selbstauflösung erreicht werden kann. In ›Aktion sein‹ hingegen würde eine Handlung bedeuten, in der Subjekte und Signifikanten35 ihren Platz einnehmen. Die aktionistische Handlung vermeide und 33 | »Eine festliche Stimmung. Ein Gespräch mit der Schauspielerin Juliana Carneiro da Cunha«, in: ebd., S. 98-103, hier S. 100. 34 | Carmelo Bene zit. n. Rino Maenza, »Ricordo di Carmelo Bene a 11 anni dalla scomparsa«, in: globalist syndication. Culture, www.globalist.it/Detail_News_Display?ID=41557&ty peb=0 vom 01.08.2015, [Übers. G.C.P.]; vgl. auch Carmelo Bene, Cos’è il teatro?! La lezione di un genio, hg. v. Rino Maenza, Venedig 2014. 35 | Signifikanten werden während des Sprechens in unvorhersehbare Signifikate verwandelt. Diese dem Sprechen immanente Grauzone bezeichnet Bene als ›buchi neri‹:
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verhindere den Moment eines möglichen Losgelöstseins. Im ›Akt‹ hingegen tritt der Schauspieler Carmelo Bene in die Sensation selbst ein, in der sich tendenziell jede Distanz zwischen Subjekt und Objekt verringert, bis sie gänzlich verschwindet.36 Die Auflösung des Subjekts ist eine Bedingung für Benes Theater, denn sie berührt für ihn gleichsam die Differenz zwischen ›Sein‹ und ›Präsentieren‹.37 Bene spricht von einem »Subjekt-ohne-Sein«38, stellt Überlegungen zu Narziss und Echo an oder bemüht das Bild des weißen Blatt Papiers, das er an die Nase führt, bis er überhaupt nichts mehr sieht.39 Akteur, Umgebung, Bezeichnungen und gegenständliche Handlungen werden hinfällig. Objekt und Subjekt gehen ineinander auf, das Subjekt löst sich auf. Es gibt keinen Ich-Denkenden mehr: Ich verliere mich, also bin ich.40 Auf diese Weise spielt oder besser spricht Carmelo Bene sich auf der Bühne ins Nirgendwo, steigt aus und verschwindet, verliert sich in seiner Stimme. Wenn er z.B. die Göttliche Komödie von Dante (Lectura Dantis) liest, wenn er Macbeth (Macbeth Horror Suite) vorträgt, wenn er Pinocchio (Pinochio ovvero lo spettacolo della Provvidenza) spielt und dies in unterschiedlichen Variationen über sein künstlerisches Leben verteilt mehrmals tut, sieht er sich mittels seiner Stimme und der Technik der ›phonè‹ weggetragen: woandershin. Carmelo Bene: Wenn man auf der Bühne ist, zählt nur das woanders sein! … Und das ist nicht nur im Theater so, auch im Sport, in jedem Bereich … in der Kunst ist es grundlegend […] z.B. das schwarze Löcher, aus denen heraus Missverständnisse entstehen können: »C.B. – Di essere nell’azione. Cioè, di privarsi dell’atto. Nella vita, noi, questo lo vediamo nel senso che lo accusiamo come soggetti e significanti. Ma quando poi ci parliamo, trasformiamo chissà quale significante in chissà quale altro significato. Questo è uno dei buchi del linguaggio: buchi neri. E andiamo avanti a furia di equivoci. È ovvio. Questo è il fatto!« (Carmelo Bene/ Enrico Ghezzi, Discorso su due piedi (il calcio), Mailand 1998, S. 101.) 36 | Carmelo Bene spricht von dieser Distanzlosigkeit des Objekts und Subjekts auch von »P orno «. Im Vergleich dazu wäre bei »E ros« Subjekt und Objekt voneinander getrennt: »C.B. – Dove non c’è soggetto e non c’è l’oggetto. Sono la stessa cosa, insomma. Questo per me è il porno: L’osceno. O-sceno: fuori scena. […] Io del porno ho definito sempre cosi l’eccesso del desiderio.« und »C.B. – Per me il porno è sempre l‹ ›o‹, privativo, ›sceno‹. Skené. Osceno.« (Ebd., S. 57, S. 111) 37 | Vgl. Maurizio Grande, »Nota«, in: Carmelo Bene, Opere, S. 993f. 38 | Carmelo Bene/Maurizio Grande/Sergio Colomba, »Il soggetto senza protesi (intervento di Maurizio Grande)«, in: Carmele Bene, La Voce di Narciso, hg. v. Sergio Colomba, Mailand 1982, S. 117-152, hier S. 139. 39 | Vgl. z.B. Miro Renzaglia/Carmelo Bene, »L‹ intevista impossible«, in: Il Fondo (17. 02.2012), www.mirorenzaglia.org/2012/02/carmelo-bene-lintervista-impossibile/ vom 31.03.2016. 40 | Vgl. Gabriele C. Pfeiffer, Non esisto dunque sono. Versuch über das italienische Theaterphänomen Carmelo Bene, Wien 2002, S. 177.
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Gabriele C. Pfeiffer brasilianische Fußballteam – begnadet, […] scheint woanders zu sein; mehr als dass sie spielen, werden sie gespielt, […] daher ist man zunächst kein Schauspieler, dann beginnt man und wird ein Schauspieler, und am Ende ist man ein Non-attore (Nicht-Schauspieler); das hab ich schon als Junger geschrieben, schon alles da, woanders sein … das Wichtigste ist, wirklich woanders sein. 41
Ziel von Carmelo Bene ist es, ins ›Anderswohin‹ zu gehen. Dies erreicht er durch sein Schauspiel. Alle Elemente auf der Bühne, Requisiten, Mitspielende, Licht, Musik und seine Stimme, unterstützen und fördern seine Bewegung ins Anderswohin. Er ergibt sich der »Selbstvergessenheit«42 und verschwindet vor den Augen des Publikums. Die im Theater verhandelten Möglichkeiten eines lebendigen Werdens und das damit einhergehende anthropologische Wissen darum sind hier mit drei Beispielen aus der europäischen Theatergeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorgestellt. Dabei wurde von der von Plessner beschriebenen Selbstabständigkeit als existenzielle Grundannahme ausgegangen. Jerzy Grotowski, Ariane Mnouchkine und Carmelo Bene üben sich in unterschiedlichsten Abständigkeitspraktiken oder auch Modi von Selbstabständigkeit. Sie ergründen, bespielen oder überwinden diese. Sie ist die Potentialität ihres Schauspiels, ihr schöpferischer Werdensgrund.
41 | Carmelo Bene bei: »Incontro dibattito con Carmelo Bene e Eduardo de Filippo«, registrato al Teatro Ateneo, 29.05.1982, Transkription von Sergio Ponzio/Stefania Marinelli, mit Dank zu Verfügung gestellt von Desirée Sabatini [Übers. G.C.P.]. 42 | Vgl. Gabriele C. Pfeiffer, »Carmelo Bene auf der Bühne – vergessen, verlassen, losgelassen«, in: Dies., Non esisto dunque sono, S. 141-178.
Schauspieler_innen als Ethnograph_innen Friedemann Kreuder
Der folgende Beitrag zur Bochumer Kongressfrage nach möglichen zukünftigen, die gesellschaftliche Relevanz des Faches Theaterwissenschaft gewährleistenden Epistemen geht von einem Begriff von Kultur aus, in dem letztere mit dem Soziologen Andreas Reckwitz nicht totalisierend mit Gesellschaft identifiziert, sondern als Kulturelles in mannigfaltige Wissensordnungen aufgelöst verstanden wird, die in routinisierte wie deviante Praktiken implementiert und an individuelle Körper gebunden sind.1 Aus der Perspektive eines solchen Kulturbegriffs betrachtet, sind sämtliche sinnhaften Unterscheidungen, die Menschen untereinander in Form von Selbst- und Fremdkategorisierungen wie Alter, Geschlecht, Leistungs-/Klasse, Nationalität, Ethnizität etc. treffen, nicht nur als imaginierte oder körperlich evidente historische Spuren und Einschreibungen einer als produkthaft-abgeschlossen vermeinten Identität begreif bar, sondern müssen in erster Linie als performativ hervorgebracht und damit als prinzipiell kontingent gedacht werden. Schauspieler_innen im dramatischen Theater sind als Spezialisten2 einer bestimmten Art von kultureller Kommunikation zugleich als Experten für diese Kontingenz jeglicher sinnhaften Unterscheidung zu verstehen. Denn ihre Körper werden dafür geschult, sich im dramatischen Theater der Körperlichkeit einer vom Autor vorentworfenen Figur anzuverwandeln und sie – je nach Ausstellungsgrad von deren Produziert- und Gemachtheit – zu verkörpern, vorzuführen, zu zeigen, beiläufig zu bezeichnen etc. Dabei überschreiten sie permanent spielerisch die Kategorisierungen von Ego und Alter, jung und alt, Mann und Frau, deutsch und türkisch etc. Im Folgenden möchte ich anhand eines exemplarischen Interviews mit der Schauspielerin Judith Rosmair, das 1 | Vgl. Andreas Reckwitz, »Multikulturalismustheorien und der Kulturbegriff. Vom Homogenitätsmodell zum Modell kultureller Interferenzen«, in: Ders. (Hg.), Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld 2008, S. 69-93. 2 | Im Interesse einer besseren Lesbarkeit wird nicht ausdrücklich in geschlechtsspezifischen Personenbezeichnungen differenziert. Die gewählte männliche Form schließt eine adäquate weibliche Form gleichberechtigt ein.
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ich am 27. Juli 2014 in Berlin geführt habe, Schauspieler_innen als Spezialisten für eine Form der Ethnographie erweisen, deren intellektuelle Leistung des Tuns darin besteht, humane Ent/differenzierungsprozesse erkenntnisgewinnträchtig durch Dezentrierung der eigenen Subjektivität transparent zu machen.3 Hierbei nehmen meine Überlegungen des Weiteren ihren Ausgang von der Hypothese, dass Schauspieler_innen auf dem wichtigen Gebiet der Kulturalisierung in Form von Darstellung über ein stummes Praktikerwissen verfügen. Zudem lässt sich ihre künstlerische Praxis der Humandifferenzierung besonders gut im Gegenwartstheater vom Zuschauer beobachten, weil das Darstellen des Darstellens im Sinne einer Reflexion von Theater auf den eigenen Rahmen und die Tauglichkeit des eigenen Materials zur Repräsentation ein Merkmal zeitgenössischen Theaters schlechthin ist. Zur Präzisierung der heuristischen Perspektive, mit Hilfe derer besagtes stummes Wissen gehoben werden soll, wähle ich als theoretischen Rahmen eine kritische Ethnographie, wie der Chicagoer Ethnologe Dwight Conquergood sie bereits 1991 vorgeschlagen hat.4 In seinem einschlägigen Aufsatz Rethinking Ethnography: Towards a Critical Cultural Politics erklärt er zum Forschungsziel einer der kritischen Theorie verpflichteten Ethnologie, »to unveiling the political stakes that anchor cultural practices.«5 Es geht ihm hier um wissenschaftliche wie alltägliche Praktiken gleichermaßen, da er im Sinne einer Politisierung von Wissen und Wissenschaft argumentiert: Für Conquergood kam das Ende der Ethnographie als objektiver Wissenschaft mit dem Zusammenbruch des Kolonialismus; damit wurden zugleich unreflektierte imperialistische Vorannahmen obsolet, die lange Zeit eine ethnographische Methodik der Befremdung bestimmt hatten: »The once dominant ideal of a detached observer using neutral language to explain ›raw‹ data has been displaced by an alternative project that attempts to understand human conduct as it unfolds through time and in relation to its meanings for the actors.«6 Conquergood zitiert hier seinerseits Renato Rosaldos Studie Culture and Truth: The remaking of social analysis,7 wenn er sich von überkommenen imperialistischen Fortschrittsideologien in der ethnologischen Rede von den sogenannten »unterentwickelten Primitiven« dezidiert absetzt und von hier aus eine radikale Neudefinition des Gegenstandsbereichs der Ethnographie für notwendig erachtet. Hierbei erscheinen ihm 3 | Dieser Ansatz beruht auf Arbeiten der DFG Forschergruppe »Un/doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung« (FOR 1939) an der Johannes Gutenberg-Universität (JGU) Mainz. Vgl. Stefan Hirschauer, »Un/doing Differences. Die Kontingenz sozialer Zugehörigkeiten«, in: Zeitschrift für Soziologie 3/43 (2014), S. 170-191. 4 | Dwight Conquergood, »Rethinking Ethnography. Towards a Critical Cultural Politics«, in: Communication Monographs 58 (1991), S. 179-194. 5 | Ebd., S. 179. 6 | Ebd., S. 179f. 7 | Renato Rosaldo, Culture and Truth. The Remaking of Social Analysis, Boston 1989, S. 37.
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1. eine methodisch-systematische Rückkehr des Körpers (return of the body), 2. ein Neu-Denken der Begriffe von Grenzen und Grenzgebieten (boundaries and borderlands), 3. eine erhöhte Aufmerksamkeit für die Bedeutung des Performativen (rise of performance) und 4. eine gesteigerte rhetorische Reflexivität für das eigene Tun (rhetorical reflexivity) als unabdingbare Voraussetzungen für eine zeitgemäße Ethnographie.8 Auch wenn Conquergoods für den Forschungsstand der 1990er Jahre revolutionäre methodische Maximen inzwischen längst in der Praxis der meisten Ethnologen angekommen sein mögen,9 so erscheinen sie für den heuristischen Zweck dieses Beitrags immer noch vorzüglich geeignet. Denn sie reformulieren klassisch/theaterwissenschaftlich/e Aspekte von Schauspielkunst wie Körperlichkeit, Grenz/ -überschreitung/en, Performativität und rhetorische Reflexivität als methodischtheoretische Kategorien von Ethnographie und inspirieren dadurch in besonders intensiver Weise die umgekehrte heuristische Perspektive auf mögliche ethnographische Dimensionen von Schauspielkunst.10 Dass diese heuristische Inversion möglich und auch erkenntnisgewinnträchtig ist, möchte ich in der folgenden argumentativen Engführung der genannten vier Ansätze Conquergoods mit familienähnlichen Grundauffassungen/Haltungen der schauspielerischen Arbeit an der Rolle aufzeigen.
1. Körperlichkeit Eine der distinktiven Forschungsmethoden der Ethnographie, die sogenannte ›teilnehmende Beobachtung‹ des untersuchten ›Feldes‹, privilegiert den Körper als Ort der Wissensproduktion. In dieser Art Ethnographie zu betreiben, sieht Conquergood eine Möglichkeit, den traditionellen Leib-Geist-Dualismus und die ihm zugrundeliegende Ideologie in den Geisteswissenschaften zu überwinden. Wenn der Ethnograph während seiner Feldstudie immer mehr körperlich ins Feld involviert, ja aufgesogen wird für einen Zeitraum, der ihr/ihm ausreicht, um an einem kulturellen Feld von innen zu partizipieren, ist dies eine verkörperte Praxis im Sinne einer intensiv sensuellen Wissensformation – in den Worten eines Aufsatzes des späten Erving Goffman über den spezifischen Charakter der ethnographischen Arbeit im Feld: 8 | Vgl. ebd., S. 180. 9 | Die Gesamtausgabe seiner theoretischen Schriften gab nach seinem frühen Tod 2004 sein Schüler E. Patrick Johnson erst 2013 heraus. Vgl. Dwight Conquergood, Cultural Struggles. Performance, Ethnography, Praxis, hg. v. E. Patrick Johnson, Ann Arbor 2014. 10 | Vgl. die wegweisende Arbeit der Mainzer Ethnologin Cassis Kilian in: Emil Ambossolo Mbo/Cassis Kilian, »Rhythms of Global Urbanisation. Exploring Cosmopolitan Competences«, in: Anthropological Journal of European Cultures 24/2 (2015), S. 97-116, hier S. 102.
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Friedemann Kreuder It’s one of getting data, it seems to me, by subjecting yourself, your own body and your own personality, and your own social situation, to the set of contingencies that play upon a set of individuals, […] so that you are close to them while they are responding to what life does to them.11
Die publizierte Ethnographie privilegiert in der Nachträglichkeit des Aufschreibens der Befunde der eigenen Feldforschung ex post laut Conquergood dann aber doch häufig die Zurückdrängung der eigenen körperlichen Erfahrungsdimension zugunsten von abstrahierter Theorie und Analyse, oder wie es die von Conquergood zitierte postkolonial feministisch ausgerichtete Filmemacherin und Literaturtheoretikerin Trinh T. Minh-ha ausdrückt: »It is as if, unvaryingly, every single look, gesture, or utterance has been stained with anthropological discourse […].«12 Wissenschaftliche Aufmerksamkeit für die Korporalität von Feldarbeit im eigentlichen Sinne müsse stärker, so Conquergood, auch ex post Kommunikations- und Vermittlungsprozesse einschließen, die das »doing of ethnography«13 berücksichtigen, d.h. das Sprechen, Zuhören, Miteinander-Agieren im ›Feld‹ als sensuelle Erfahrung: »[S]peaking and listening refer to realities that do not involve just the imagination. The speech is seen, heard, smelled, tasted, and touched.«14 Während Conquergood zur besseren Vermittlung seiner sensuellen Erfahrung beim Miteinander-Sprechen, -Zuhören und -Agieren im Rahmen einer teilnehmenden Beobachtung im Feld beispielsweise das filmische Medium einsetzte – so etwa in seinem berührenden Dokumentarfilm über Chicagoer Strassengangs, The Heart Broken in Half (USA 1991, R: Dwight Conquergood) – lässt sich das zuvor behandelte Korporalitätsprinzip der von ihm vorgeschlagenen Ethnographie metaphorisch für die schauspielerische Arbeit an der Rolle reformulieren, bei der das schauspielerische Ego bei der Erforschung des Alter der dargestellten Figur ausschließlich auf die Medialität des eigenen Körpers angewiesen ist. Schauspieler_innen unterliegen bei jeder Probenarbeit an der jeweiligen Rolle nolens volens dem quasi ethnographischen Auftrag eines systematischen Sich-Befremdens einer Figur sowie der Verhältnisse, in die sie involviert ist, zum Zweck von deren analytischer Durchdringung. Sie reagieren auf besagten Auftrag der ›Erforschung‹ und ›Suche‹ ihrer Figur, indem sie sich – vergleichbar dem goffmanschen Ethnographen bei der Arbeit im Feld – ausgehend von ihrer eigenen (lebens-)geschichtlichen, sozialen Situation als Akteure, körperlich und persönlich
11 | Conquergood, Rethinking Ethnography, S. 180, unter Bezug auf Erving Goffman, »On Fieldwork«, in: Journal of Contemporary Ethnography 18 (1989), S. 123-132, hier S. 125. 12 | Trinh T. Minh-ha, Woman, Native, Other: Writing Postcoloniality and Feminism, Bloomington 1989, S. 56; zit. n. Conquergood, Rethinking Ethnography, S. 181. 13 | Conquergood, Rethinking Ethnography, S. 181. 14 | Ebd., S. 181; zitiert hier erneut T. Minh-ha, Woman, Native, Other, S. 121.
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bis hin zu einer aktiv realisierten Form von Durchlässigkeit, Passibilität15 den Kontingenzen der ihrer Figur zustoßenden Lebensverhältnisse aussetzen. Hierbei bringt die Beschränkung auf die Medialität des eigenen Körpers und damit auch die Zeitlichkeit dieser Korporalität es mit sich, dass Blicke, Gesten und Äußerungen des Miteinander-Sprechens, -Zuhörens und -Agierens – auf der Ebene des während der Probenarbeit beständig stattfindenden kritisch-reflexiven Dialogs mit der Figurenrede sowie der figuren-konstitutierenden Solo- und Inter-Aktionen mit den Ensemblepartnern – als Korporalität im Prozess der Überschreitung der Grenzen zwischen Sich-Selbst und dem Anderen/Fremden nicht als ›Verlustmasse‹ bei der Herstellung einer nachträglichen schauspielerischen écriture zur Sistierung des Inszenierungsprozesses zurückgedrängt und abgespalten werden, sondern für den Zeitraum ex post bis lange Zeit nach der Aufführungspraxis im Körpergedächtnis auf Dauer gestellt bleiben. Aus diesem Grunde gehen besagte inter-korporale Details – anders als in der von Conquergood kritisierten Form von Ethnographie – nicht verloren, sondern bleiben selbst noch im nachträglichen Sprechen der Akteure darüber von einer Virulenz, die bis hin zum Bezeugen der von Conquergood mit Michael Jackson aufgerufenen Auflösung des traditionellen Subjekt-Objekt-Gegensatzes bei der reflexiven Betrachtung des ursprünglich Anderen/Fremden reichen kann: In this process we put ourselves on the line; we run the risk of having our sense of ourselves as different and distanced from the people we study dissolve, and with it all our pretensions to a supraempirical position, a knowledge that gets us above and beyond the temporality of human existence.16
In gewisser Übereinstimmung mit diesen Überlegungen beschreibt die Schauspielerin Judith Rosmair – bekannt durch ihre Darstellungen u.a. der Gudrun Ensslin in Nicolas Stemanns Produktion von Elfriede Jelineks Ulrike Maria Stuart am Thalia Theater Hamburg 2006 oder auch der Ophelia und Gertrud als Doppelrolle in Thomas Ostermeiers Inszenierung von Shakespeares Hamlet an der Berliner Schaubühne 2008 – den Probenprozess an Falk Richters Theatertext TRUST im Rahmen des gleichnamigen Tanztheaterprojekts gemeinsam mit Anouk van Dijk an der Berliner Schaubühne 2009, in dem sie in der Szene VERTRAU MIR 17 eine 15 | Vgl. den Begriff in Martin Zenck, »Glückliche und unglückliche Orte. Versuche über literarische und musikalische Reisen zu Unorten im 19. und 20. Jahrhundert bei Jules Verne, Franz Schubert, Franz Liszt und Mauricio Kagel«, in: Matthias Däumer et al. (Hg.), Unorte. Spielarten einer verlorenen Verortung. Kulturwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld 2010, S. 135-156, hier S. 154. 16 | Michael Jackson, Paths Toward a Clearing: Radical Empiricism and Ethnographic Inquiry, Bloomington 1989, S. 4; zit. n. Conquergood, Rethinking Ethnography, S. 182. 17 | Falk Richter, »Trust«, in: Friedemann Kreuder (Hg.), Theater: Texte von und über Falk Richter 2000-2012, Marburg 2012, S. 413-469.
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Figuration des Prinzips maßloser Verausgabung in der für Richters Sujet charakteristischen Verschränkung von deren liebend-hingebungsvoller und finanziell ausbeutender Qualität zu verkörpern hat, mit folgenden Worten: Diese Entscheidung, dass Anouk dann gesagt hat: ›Okay, ich möchte gerne, auch weil du, Judith, dich so gerne bewegst und das so zur Verfügung hast, dass da wirklich so ein Amalgam aus Text, Körper und Bewegung entsteht.‹ Und… (Kreuder ahmt die in der Aufführung zu sehenden Auf- und Ab-Bewegungen ihres Körpers durch die Luft mit der rechten Hand grob nach) genau… Lacht. Sie hat natürlich gesehen: Ich bin klein und dünn. Deshalb hat sie die Szene so gestaltet, dass die Jungs – die Tänzer – mich rumschleudern und führen können. Dass die mich tanzen, damit ich die möglichst große Freiheit habe, diesen Text zu spielen. Da war es nämlich auch ganz toll, dass ich in dem Moment eigentlich fast passiv sein konnte. Ich habe natürlich schon bestimmte Sachen angeboten. Gerade auch dadurch, dass ich diese Suada an den Mann, an meinen Mann, richte und gleichzeitig von anderen Männern rede, mit denen ich jetzt mal kurz für drei Wochen wegfahre. Lacht. Mit denen ich dann das Geld auf den Kopf haue, das ich aus dem Verkauf der Wohnung gekriegt habe. Und dass genau diese Typen, die ja eigentlich nur rumstehen und nichts sagen, dass genau diese Typen meinen Körper nehmen und verformen, eben fliegen lassen, ist die Stärke der Szene.
2. Grenz/überschreitung/en Die bei Conquergood thematische und im Interview symptomatische methodische Überschreitung der Grenzen zwischen Ego und Alter bis hin zu deren Durchlässigwerden und tendenzieller Auflösung lässt sich als sukzessiver Prozess der Dezentrierung von Subjekt und Objekt der ursprünglichen systematischen Befremdung, mithin von Forschendem und Erforschtem, Wissendem und Gewusstem reformulieren. Mit Blick auf seine spezifischen postkolonialen ethnographischen Forschungsinteressen interessiert Conquergood an solchen Prozessen besonders die Dezentrierung des peripheren Betrachtersubjekts. Sie lässt sich als theoretischmethodischer Gegenentwurf zur Identität/Alterität des – gemäß dem traditionellen Modell von Ethnographie – im peripheren ruralen Feld situierten Ethnologen begreifen, die während der gesamten Zeit der Feldforschung auf den in der Regel metropolitanen Herkunftsort bezogen und als Konzepte stabil bleiben: Once they crossed the border and pitched their tent on the edge of the encampment, they confidently set about describing the ›Trobrianders‹, or ›the Nuer‹, or ›the ghetto‹, interpreting these cultures as distinct, coherent, whole ways of life. In so doing, they centralized the peripheral instead of de-centering the ›metropolitan typifications‹ that they carried inside their heads.18 18 | Conquergood, Rethinking Ethnography, S. 184, unter Bezug auf Rosaldo, Culture and Truth, S. 207.
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Das hier von Conquergood vorgeschlagene, in erster Linie topographisch und gruppistisch gedachte Modell der Dezentrierung lässt sich für den Ort der Korporalität des Schauspielers als Theorie einer Transgression unterschiedlichen Grades reformulieren. Letztere geht davon aus, dass Einzelne im Alltagsleben ihre Individualität mittels darauf bezogener Diskurse und Praktiken der Differenzierung in einem permanenten Prozess der Subjektivation mit sich selbst zur Deckung/Identität bringen, ausgehend vom sogenannten ›Subjekt‹ als sprachlicher Gelegenheit dazu. Bei der Herstellung ihrer fiktiv gerahmten Subjektivität der Rolle re-inszenieren Schauspieler_innen solche von Judith Butler im Anschluss an Foucault als »Subjektivation« 19 bezeichneten Prozesse unter unterschiedlich stark gradierter Verschränkung von äußerer Erscheinung, Frisur, Kleidung sowie mimischen und gestischen Bewegungsrepertoires ihrer Figur mit ihrer individuellen Performanz. Sie zentrieren auf diese Weise ihre Darstellung auf der Ebene der Figur unterschiedlich stark um den Pol ihrer Selbstdarstellung, vom ›Sich-Einverleiben‹ ihrer Rolle bis hin zur ›Peripherisierung‹, ›Zentrifugation‹ und ›Ausstülpung‹ der Performanz eigener Subjektivation. Schauspieler_innen begreifen die Performanz ihrer Rollendarstellung zu unterschiedlichen Graden als Melange von eigenen, alltäglichen und fremden, fiktiven Repertoires von Sprache, Sprechen, äußerer Gestalt/ung, Mimik, Gestik und Bewegung. Hierbei eröffnet die mögliche unterschiedliche Gradierung ihrer Transgression zwischen Ego und Alter als intellektuelle Leistung ihres Tuns zwischen zentralisierender ›Einverleibung‹ und de-zentralisierender ›Ausstülpung‹ einen genuin theaterwissenschaftlich-analytischen Blick auf die konstruktivistische und relationale Dimension von Kultur, die sich in der zwischenmenschlichen und – leiblichen Begegnung als Kulturelles in der Reziprozität von eigen und fremd allererst herstellt – oder in den Worten des von Conquergood als Gewährsmann seiner ethnographischen Methode aufgerufenen James Clifford: »The idea of the person shifts from that of a fixed, autonomous self to a polysemic site of articulation for multiple identities and voices.«20 Eben diese Idee findet sich im Interview mit Judith Rosmair auf der Ebene ihrer Beschreibung der schauspielerischen Arbeit an der Rolle reformuliert: Es gibt Schauspieler, die nehmen eine Figur und nehmen diese so ganz an sich heran und sind eigentlich immer derselbe. Egal, welche Texte sie sprechen. Nehmen wir jetzt mal Sepp Bierbichler: Er ist immer Sepp Bierbichler und darin ist er großartig. Und darin hat er auch eine Marke entwickelt. Und da ist er unverwundbar. Ich bin eher der Typ, der sich von sich wegbewegt zu etwas anderem hin. Und da liegt meine Freiheit und meine Lust geradezu. Ich weiß nicht, ob du auch mal ältere Sachen geguckt hast, wie Kismet sein Bruder. Da ist es ja 19 | Judith Butler, Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M. 2001, S. 7-34. 20 | James Clifford, Predicament of Culture, Cambridge 1988, S. 10; zit. n. Conquergood, Rethinking Ethnography, S. 185.
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Friedemann Kreuder so: Das hat ein anderes Geschlecht, ein anderes Alter, eine andere Sozialisation und das macht mir irren Spaß. Sozusagen wegzugehen von dem, was ich scheine, zu etwas, was ich mehr bin. Weil natürlich bin ich irgendwo auch dieser kleine freche, getretene Bubi. Das ist wie eine Befreiung.
3. Performativität Mit Blick auf solche identitätsstiftende Prozessierung von Sinn in Form von Gesten- und Bewegungsrepertoires, die Identität stärker als bricolage und refashioning denn als essentiell gegeben begreifen lässt, ruft Conquergood zentrale heuristische Begriffe des Performance-Paradigmas auf. Hier schließt er an die Position Victor Turners an, den ethnographischen Blick auf das ›Feld‹ weg von semiotischen Perspektiven wie System, Struktur oder Form hin zu einer erhöhten Aufmerksamkeit für kulturelle Praktiken, ihre Akteure und deren Aufführungen zu verlagern. Ausgehend von der Ablehnung des traditionellen ethnologischen Begriffs von Kultur als ›Text‹ habe Turner bei der Interpretation kultureller Praktiken mit Erfolg Theatervokabular angewandt, indem er die Ausführenden wie Schauspieler beschrieben habe, »who creatively play, improvise, interpret and represent roles and scripts.«21 Turners Methode weise so einen Weg, Kultur von ihrem verkörperten Wissen her zu begreifen, welches im historischen Prozess und in einer historisch-spezifischen Ideologie gründe. Hierbei gehe er von der berechtigten Annahme aus, dass »social dramas must be acted out in order to be meaningful, and he realized how the ethnographer must be a co-performer in order to understand those embodied meanings.«22 Dem ostentativen Körpergebrauch von Einzelnen und Gruppen im Rahmen von cultural performances (Singer)23 wie Ritualen, Zeremonien, Feiern, Festen, Paraden etc. komme besondere Bedeutung zu: Ihnen eigne sowohl in »nicht-westlichen« als auch sogenannten »modernen« Kulturen eine gewisse rhetorische agency »to formulate oppositional interpretations of their identities, interests, and needs.«24 Conquergood hat gerade »subalterne Gegenöffentlichkeiten« 25 im Blick, wenn er behauptet, gesellschaftliche Aushandlungen von Identitätsbildung, politischen und ökonomischen Interessen sowie menschlichen Bedürfnissen fänden nicht ausschließlich im verbalen Bereich statt, sondern auch buchstäblich auf der Ebene von Aus-Handlungen im Rahmen von Praktiken des Tanzens, Musizierens, der 21 | Conquergood, Rethinking Ethnography, S. 187. 22 | Ebd. 23 | Milton Singer (Hg.), Traditional India. Structure and Change, Philadelphia 1959, S. XIIf. 24 | Ebd., S. 189. 25 | Vgl. den Begriff bei Nancy Fraser, »Rethinking the Public Sphere: A Contribution to the Critique of Actually Existing Democracy«, in: Social Text 25/26 (1990), S. 56-80; zit. n. Conquergood, Rethinking Ethnography, S. 67.
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Gestikulation, des Essens, Umgangs mit rituellen Artefakten, der symbolischen Aktion und des Sprechens. Turner bezeichnet dieses Phänomen als performative Reflexivität: [C]ultural performances are not simple reflectors or expressions of culture or even of changing culture but may themselves be active agencies of change, representing the eye by which culture sees itself and the drawing board on which creative actors sketch out what they believe to be more apt or interesting ›designs for living.‹ […] Performative reflexivity is a condition in which a sociocultural group, or its most perceptive members acting representatively, turn, bend, or reflect back upon themselves, upon the relations, actions, symbols, meanings, codes, roles, statuses, social structures, ethical and legal rules, and other sociocultural components which make up their public ›selves‹. 26
Von diesem Phänomen ausgehend, entwickelt Conquergood die ethnographische Forschungsperspektive, sämtliche Aufführungen einer Kultur als Dispositive von Macht zu begreifen bzw. unter einer entsprechenden Fragestellung zu untersuchen, wie Aufführungen »reproduce, enable, sustain, challenge, subvert, critique and naturalize ideology.«27 Diese sind als multi- und intermediale Phänomene des Zusammenspiels, beispielsweise von Gesang, Gestik, Gesichtsausdruck und Praktiken eines Brandopfers, in Blick, Gehör und auf bzw. unter die Haut zu nehmen. Dieses Performativitäts-Prinzip der von ihm vorgeschlagenen Methode der Ethnographie ist direkt reformulierbar als Bedingung der Möglichkeit der intellektuellen Leistung des Tuns von Schauspieler_innen bei der mehr oder weniger stark gradierten Dezentrierung ihrer eigenen Subjektivationsprozesse im Rahmen der Darstellung einer fiktiven Figur – so auch in der Schilderung Judith Rosmairs bezüglich ihres cross-gender-ethnicity-actings im Rahmen der Produktion des Video-Clips ihres Rap-Songs Kismet sein Bruder (2007): Also das war schon eine Beobachtung von Leuten, denen ich dann auch so begegnet bin. Aber ich habe mich da auch über Bushido und – wie hieß der Andere? – Sido lustig gemacht. Ich fand die so lächerlich. 2005/06/07 waren deren Anfänge. Das war auch eine kleine Karikatur auf diese harten Jungs. In ihren Raps haben sie dann solche Schwänze und müssen alles dissen. Das fand ich einfach zum Totlachen. Daraus kam auch der Impuls. Es war wohl beides: Ein grundsätzliches Verständnis für so eine Gruppe, die in der Minderheit ist, wie die sich aufmantelt und eine Persiflage von diesen Raps. Lacht.
26 | Victor Turner, The Anthropology of Performance, New York 1986, S. 24; zit. n. Conquergood, Rethinking Ethnography, S. 188. 27 | Conquergood, Rethinking Ethnography, S. 190.
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4. Rhetorische Reflexivität Die in Conquergoods ethnographischer Methode intensivierte Aufmerksamkeit für die agency von Performativität bei der (Re-)Konstitution von Kultur – mithin die Hervorbringung von Kultur als Kulturelles allererst im Horizont der zwischenmenschlichen Begegnung –, ferner die Fokussierung auf das Zusammenspiel von äußerer Erscheinung, Frisur, Kleidung, Habitus, Gestus, Artikulation, Stimmtimbre und gegebene Physis (Hautfarbe) gesellschaftlicher Akteure als Ausgangspunkt der Reflexion kontingenter sinnhafter Unterscheidungen von Menschen im Gegensatz zu essentialisierenden, naturalisierenden Zuschreibungen, erfordert eine erhöhte rhetorische Reflexion auf die kulturelle Praxis der Ethnographie selbst. Der damit einhergehenden verstärkten Reflexion auf die metahistorische und tropologische Dimension28 ethnographischer Diskurse und Begriffe, insbesondere das sensible Erspüren derjenigen »sites of tension, displacement, and contradiction between the Being There of performed experience and the Being Here of written texts,«29 entspricht die kontinuierliche körperbasierte und praxisbezogene schauspielerische Überprüfung der Tauglichkeit des eigenen ›Materials‹ im Kontext seiner Rahmungen für die Repräsentation des Anderen/ Fremden, die im zeitgenössischen Theater häufig als Element in die Inszenierung implementiert und dezidiert ausgestellt wird. In der folgenden Interviewpassage reflektiert Judith Rosmair auf die Rolle der Gudrun Ensslin in Nicolas Stemanns Inszenierung von Elfriede Jelineks Theatertext Ulrike Maria Stuart, deren Darstellung von einer starken inneren Abständigkeit ihrerseits als Akteurin geprägt war: Also in dem Fall glaube ich, war das nicht schlecht. Es gab ja dann einen Teil, wo sie da immer zu dem Holger sagt: ›Hascht du Hunger, hascht du Durst?‹ (in der Rolle). Und dann auch verletzlicher über das Gefängnis und so redet – zu Pianobegleitung. Das war für mich auch der schwierigste Teil. Diese anderen Teile: Diese kalten oder auch das Lied, die fand ich immer super. Aber diesen, wo sie plötzlich diese Weiche, Offene ist …, das habe ich dieser Figur auch nicht so richtig abgenommen. Wusste ich nicht immer so ganz genau, wo ich da hintrete. Aber das ist vielleicht manchmal auch nicht schlecht. Man muss ja nicht immer alles auf der Bühne so kontrollieren. Es ist ja ganz schön, wenn man da so seine Eckpunkte hat und das, was man sich vorgenommen hat. Den Rest lässt man dann so geschehen und setzt das in den Raum.
28 | Vgl. die Begriffe in Hayden White, Metahistory: The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore 1973; ferner in: Ders., Tropics of Discourse: Essays in Cultural Criticism, Baltimore 1978; Conquergood zitiert Clifford Geertz, Works and Lives. The Anthropologist as Author, Stanford 1988, S. 66-68: »The way of saying is the what of saying«. 29 | Conquergood, Rethinking Ethnography, S. 193.
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Die an diesem und den vorhergehenden Beispielen aufgezeigten Qualitäten 1. des Auf-Dauer-Stellens einer aus der Passibilität für die Kontingenzen der Lebensverhältnisse eines Alter resultierenden Korporalität, 2. der mehr oder weniger stark gradierten Dezentrierung des eigenen Subjektivationsprozesses als intellektuelle Leistung des Tuns in der Transgression zwischen Ego und Alter, 3. der hierfür unerlässlichen erhöhten Aufmerksamkeit für eigene und fremde Performativität und 4. der beständigen körper- und praktikenbezogenen Überprüfung der Tauglichkeit des eigenen Materials zur Repräsentation des Anderen lassen Schauspielkunst in der für sie konstitutiven spielerischen Rahmung der Darstellung fiktiver Figuren als äußerst günstiges Dispositiv zur theaterwissenschaftlichen Erforschung der konstruktivistischen und relationalen Dimension von Kultur – die sich in der zwischenmenschlichen und leiblichen Begegnung als Kulturelles in der Reziprozität von eigen und fremd allererst herstellt – mithin humaner Ent/differenzierungsprozesse als kontingenter sinnhafter Unterscheidungen erscheinen. Welche konkreten Ergebnisse die Befragung des bislang ›stummen Praktikerwissens‹ von Schauspieler_innen auf Basis der hier entwickelten heuristischen Perspektiven zeitigen wird, wird eine Zukunft bringen, in der Theaterwissenschaft jedoch ohne Zweifel als Wissenschaft von Aufführungen zur präziseren Differenzierung der Phänomene im Untersuchungsrahmen des Kulturellen/der Kulturalisierung betrieben werden können wird.
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Kunst – Nicht-Kunst – Andere Kunst Verhandlungen des Theaters zwischen professionellem und dilettantischem Dispositiv1 Meike Wagner, Anja Klöck, Nora Niethammer, Wolf-Dieter Ernst Yvonne Schmidt, Petra Bolte-Picker Hätte die Theaterwelt ein Konzept von Tanz, dieser Abend hätte es über den Haufen geworfen. (FAZ-K ritik zu D isabled Theater von J érôme B el und Theater HORA, A ugust 2012)
Seit einigen Jahren ist eine spürbare Entgrenzung und Neuverhandlung der traditionellen Konzeption von Kunsttheater zu beobachten: vom Authentizitätsdiskurs, über die Debatten um »Experten des Alltags« und Partizipation bis hin zur jüngsten Diskussion um Theater mit und von behinderten Darstellern. Immer geht es darum, die Grenzen dessen, was wir als Kunsttheater kennen und anerkennen, produktiv zu verhandeln, sodass uns die historische Dimension unseres Denkens des Theaters vor Augen geführt wird. Unsere Beiträge gehen von der These aus, dass sich Kunsttheater seit der Moderne stets im Aushandlungsprozess zwischen einem ›professionellen‹ und einem ›dilettantischen Dispositiv‹ konstituiert und beleuchtet das Spannungsfeld zwischen dem Kunsttheater und seinem ›Anderen‹ auf gesellschaftlicher, institutioneller und ästhetischer Ebene, und zwar sowohl aus historischer Perspektive als auch am Beispiel der aktuellen Theaterpraxis mit und von Behinderten. Interessante Ansätze für eine Diskussion bieten Uwe Wirth und Harald Mieg. Wirth stellt für die dynamische Aushandlung von Wissens-Regimen fest, dass sich professionelle und dilettantische Herangehensweisen zu Dispositiven konfigurieren, die 1 | Die folgenden Texte sind aus einem gemeinsamen Projekt der Arbeitsgruppe Schauspieltheorie der GTW entstanden. Seit 2013 befasst sich die Arbeitsgruppe mit dem Langzeitprojekt Freie Republik HORA des Theater HORA, Zürich. Da dieses Projekt Anstoß und Zentrum der Überlegungen war, zeigen die folgenden Abbildungen Szenen aus Freie Republik HORA, Phase 2, 2014-15. Theater HORA – Stiftung Züriwerk, © Giancarlo Marinucci.
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gegeneinander spielen und zu neuem Wissen führen.2 In den Bereich des Theaters übersetzt heißt das, es geht um die produktive Überschreitung der ›Regeln der Kunst‹, der ›Regeln des Theaters‹. Miegs soziologische Diskussion von ›Professionalisierungsprozessen‹ lässt sich auf die Theatersituation beziehen: Wenn Darsteller ohne anerkannte Berufung auf der Bühne stehen und damit die legitimierenden »Zutrittskriterien« und »Methodenkompetenzen« eines Darstellers nicht mehr eindeutig erfüllen, findet ein Angriff auf die »Methodenautonomie« des Schauspielerberufes statt – aber eben auch eine produktive Problematisierung und Neubestimmung von Darstellungskompetenzen.3 Insbesondere das Theater mit und von Behinderten erweist sich als ein Gegenstand, der diese Prozesse der Professionalisierung und die Aushandlungen zwischen professionellem und dilettantischem Dispositiv sichtbar macht. Vor allen Dingen dann, wenn es wie dem Theater HORA mit der Produktion Disabled Theater (2012, Regie Jérôme Bel) gelingt, in die institutionellen und diskursiven Rahmungen des Kunsttheaters vorzustoßen. Inwiefern dabei Arbeitsweisen, Institutionen und Ästhetiken des Kunsttheaters auf dem Prüfstand stehen, ist zu diskutieren. Gleichzeitig geht es darum, welche neuen Perspektiven sich in Bezug auf das Verhältnis zwischen Kunsttheater und dem ›Anderen‹ entwickeln lassen, die neue Methoden- und Arbeitsfelder für die Theaterwissenschaft erschließen können.
Diskurse des Liebhabers Diskursiven (Selbst-)Bestimmungen von Theater als Kunst liegen relevante Grenzziehungen zu Amateurpraxen zugrunde. Dabei greifen die Ebenen von Institution, Ausbildung und Ästhetik ineinander und geben den Grenzverhandlungen je neue Formen. So konfiguriert sich, was wir als ›Kunsttheater‹ anerkennen und als ›Amateurtheater‹ bestimmen. Für die dynamische Aushandlung von Wissens-Regimen stellt Uwe Wirth fest, dass der Berufswissenschaftler durch einen strengen Methodenklassizismus eingeschränkt werde, während der Dilettant durch ungesicherte Methoden kreative Beiträge leisten könne. Damit konfigurierten sich professionelle und dilettantische Herangehensweisen zu Dispositiven, die gegeneinander spielten und zu neuem Wissen führten.4 Die Idee des ›dilettantischen Dispositivs‹ als Grenzüberschreitung der Wissensregime lässt sich produktiv in den Bereich des Theaters übersetzen. Dann gilt, wie Barbara Wittmann bemerkt, dass die ›Hochkunst‹ im-
2 | Vgl. Uwe Wirth, »Dilettantische Konjekturen«, in: Safia Azzouni/Uwe Wirth (Hg.), Dilettantismus als Beruf, Berlin 2010, S. 11-29. 3 | Harald A. Mieg, »Professionalisierung«, in: Felix Rauner (Hg.), Handbuch für Berufsbildungsforschung, Bielefeld 2005, S. 342-349. 4 | Vgl. Wirth, »Dilettantische Konjekturen«, S. 24.
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mer wieder neuer ›Dilettanten‹ mit neuen Themen und Techniken bedarf, »um kontinuierlich ein neues Außen auszubilden«.5 Zurückführen lässt sich diese Konfiguration auf ein historisches Szenario um 1800, in dem erstmals eine institutionalisierte Berufspraxis des Theaters konfliktreich auf eine Amateurpraxis trifft und einen Diskurs um den ›Dilettantismus‹ auslöst. In jener Zeit engagierten sich Theatermacher, Literaten und Kulturbürger für die Etablierung eines institutionalisierten Berufstheaters, dessen ›Kunststatus‹ noch nicht vollständig anerkannt war. Das zeitgleich immens expandierende Gesellschafts- oder auch Liebhabertheater6 bildete einen Gegenpol. Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich von Schiller entwerfen 1799 gemeinsam ein Dilettantismus-Schema, in dem sie Schaden und Nutzen für den Einzelnen und die Gesellschaft in der Liebhaberpraxis von Zeichnung, Tanz, Baukunst, Musik, Gartenkunst, Poesie und zuletzt Schauspielkunst durchdeklinieren.7 Das Schema ist die Vorarbeit zu einer fragmentarisch bleibenden Abhandlung über den Dilettantismus. Man kann für diese Zeit prinzipiell zwei Perspektiven auf den Dilettanten ausmachen.8 Zum einen geht es in Anknüpfung an ältere Konzepte eines ›adeligen Liebhabertums‹ um einen Lernenden, der sich auf einem Weg zur Meisterschaft befindet, bis er den Status des ›Connaisseurs‹ oder gar des Künstlers erreicht. Zum anderen geht es um den Dilettanten als unverbesserlichen Pfuscher, der grundsätzlich keine wirkliche Kunst erschaffen kann. Goethe ist dieser Meinung, wenn er 1799 an Schiller schreibt, der »Hauptcharacter des Pfuschers [also Dilettanten] ist die Incorrigibilität«.9 Schon 1784 hat August von Kotzebue sich auf der Gegenseite positioniert und den Begriff des ›Pfuschers‹ in dem Stück Das Liebhabertheater vor dem Parlament anhand der Formel ›Pfuschen vs. Handwerken‹ satirisch aufgegriffen und hu-
5 | Barbara Wittmann, »Das Steckenpferd als Lebenswerk. Ironie und Utopie der Dilettanten in der Kunst der Moderne«, in: Azzouni/Wirth, Dilettantismus als Beruf, S. 181-195, hier S. 185. 6 | Zur Geschichte der Liebhabertheater vgl. Peter Heßelmann, »›Bühnen in Taschen-format‹. Zu Theorie und Praxis der Gesellschaftstheater im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts«, in: Erika Fischer-Lichte/Jörg Schönert (Hg.), Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1999, S. 503-520. 7 | Vgl. das »Dilettantismus-Schema« von Schiller und Goethe, in: Johann Wolfgang von Goethe, Gesamtausgabe der Werke und Schriften in zweiundzwanzig Bänden, Bd. 16, Stuttgart 1961, S. 401-419. 8 | Vgl. hierzu Hans Rudolf Vaget, »Der Dilettant. Eine Skizze der Wort- und Bedeutungsgeschichte«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 14 (1970), S. 131-158, hier S. 147. 9 | Johann Wolfgang von Goethe, »Brief an Schiller, 22. Juni 1799«, in: Goethes Werke. Weimarer Ausgabe, Abt. IV, Bd. 14, Weimar 1893, S. 119.
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moristisch umgedeutet.10 Pikanterweise sind es nicht die literarischen Diskursführer, die hier den Kunstwert debattieren, sondern der »Wachmeister« und der »Ofenheizer« – Ordnungshüter und Dienstleister in Theater und Regierungsraum gleichermaßen: Der Ofenheizer. Das Liebhabertheater? was ist das für ein Ding? Der Wachmeister. Das ist kein Ding Peter, das sind Leute, die andern Leuten ins Handwerk pfuschen, es alle Augenblicke verpfuschen, und sich noch obendrein dafür bezahlen lassen.11
Die Geldeinnahmen sollen allerdings an die Armen verteilt werden, wie der Wachmeister weiter ausführt. Kotzebue deutet die Frage nach dem Kunstwert des Liebhabertheaters zu einem gesellschaftlichen Argument um: Er legitimiert das ›Pfuschen‹ mit dem ›guten Zweck‹ und bringt so eine wichtige soziale Funktion der Amateurpraxis ins Spiel. Diese Art von Wohltat ist Goethes und Schillers Dilettantismus-Schema nicht verzeichnet. Goethe und Schiller machen deutlich, warum Dilettantismus gerade in der Schauspielkunst radikal abzulehnen sei: »Überall, wo die Kunst selbst noch kein rechtes Regulativ hat, wie in der Poesie, Gartenkunst, Schauspielkunst, richtet der Dilettantism mehr Schaden an und wird anmaßender. Der schlimmste Fall ist bei der Schauspielkunst.«12 Die von ihnen visionierten Kunst-Ordnungen13 konnten im Theater – geschweige denn im Liebhabertheater – noch nicht recht greifen. Die Ordnungen der Kunst sind den Liebhabern, zumindest den ›Tonangebern‹ in den Gesellschaften, zwar in der Regel bekannt, für ihre Aufführung allerdings
10 | August von Kotzebue förderte auch mit seiner Schreib- und editorischen Praxis das Laienspiel. Vgl. Johannes Birgfeld, »Theater ohne Schauspieler? Theatre on location? Kotzebues Konzept dramatischer Spiele zur geselligen Unterhaltung auf dem Lande mit Blick auf sein Verhältnis zum Publikum«, in: Hermann Korte/Hans-Joachim Jakob (Hg.), »Das Theater glich einem Irrenhause.« Das Publikum im Theater des 18. und 19. Jahrhunderts, Heidelberg 2012, S. 193-214, hier S. 198f. 11 | August von Kotzebue, »Das Liebhabertheater vor dem Parlament, ein Nachspiel mit Gesang, aufgeführt auf dem Liebhabertheater zu Reval am Stiftungsfeste desselben (1786)«, in: Kleine gesammelte Schriften des Herrn von Kotzebue, Präsidenten des Gouvernements-Magistrats in der Provinz Ehstland, Bd. 2, Karlsruhe 1792, S. 323-364, hier S. 325f. 12 | Johann Wolfgang von Goethe, »Entwurf zu einer Abhandlung über den Dilettantismus«, in: Ders., Gesamtausgabe, Bd. 16, S. 421. 13 | Vgl. etwa die gemeinsame Arbeit »Über epische und dramatische Dichtung« (1798) und Goethes »Regeln für Schauspieler« (1803) sowie »Der Sammler und die Seinigen« (1799) samt dem Briefwechsel mit Schiller zu diesem Text.
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nicht bestimmend.14 Das Liebhabertheater sei nur zu retten durch: »Möglichste[n] Rigorism in der äußern Form«15. Die ›Verdammung‹ des Dilettantismus erhält ihre Grenze am eingeräumten Nutzen für das Subjekt. Hier knüpfen Schiller und Goethe an den pädagogischen Diskurs der Zeit an und räumen dem Liebhabertheater eine Funktion ›ästhetischer Selbstbildung‹ ein. Die ›Liebhaber‹ können Sinne und Körper in der Theaterpraxis kultivieren: Anstand, Sprache, Auftreten in der Gesellschaft werden über Rollenspiel, Deklamation und Bühnendarstellung verfeinert. Das Problem entsteht, wenn der Dilettant die verspürten Wirkungen als ›Berufung zur Kunst‹ missversteht: Weil der Dilettant seinen Beruf zum Selbstproduzieren erst aus den Wirkungen der Kunstwerke auf sich empfängt, so verwechselt er diese Wirkungen mit den objektiven Ursachen und Motiven und meint nun, den Empfindungszustand, in den er versetzt ist, auch produktiv und praktisch zu machen, wie wenn man mit dem Geruch einer Blume die Blume selbst hervorzubringen gedächte.16
Der Dilettant darf den Duft der Blume auf sich wirken lassen und seine Sinne daran schulen, aber nicht glauben, dass er schon dadurch zum produktiven Künstler werden könne. Es erfolgt eine Zurechtweisung des Dilettantismus in den Bereich der ästhetischen Selbstbildung. Das Liebhabertheater konnte an diesen Bildungsdiskurs anschließen und sich dadurch legitimieren. Zahlreiche Schriften der Zeit betonen seinen Bildungswert.17 Selbst Kritiker können nur in das Lob des theatralen Bildungseffektes einstimmen:
14 | Interessant hierzu ist die von Carl van der Velde in seiner Humoreske Das Liebhaber-Theater (1824) geschilderte Diskussion um den Kunstwert von Schillers und Goethes Dramen. Die Mitglieder des Liebhabertheaters kennen sich in den dramatischen Werken bestens aus und untermauern ihre Meinung mit geschliffenen dramentheoretischen Argumenten. Ganz im Zeitgeist des heraufdämmernden Vormärz trägt zuletzt Schiller den Sieg davon – gemeinsam stimmt man die »Ode an die Freude« an. Vgl. Carl van der Velde, Das Liebhaber-Theater, Dresden 1824, Kap. 2, S. 32-45. 15 | Schiller/Goethe, »Dilettantismus-Schema«, S. 418. 16 | Goethe, »Entwurf zu einer Abhandlung über den Dilettantismus«, S. 420f. 17 | Vgl. Anonymus [Johann Friedrich von Rochlitz], Nützliche Erinnerungen für Mitglieder von Privattheatern. Nebst vier Lustspielen für Liebhabertheater, Halberstadt 1798, S. 5f. Man könnte hier eine Anlehnung an Schillers ›Ästhetische Bildung‹ vermuten, wobei Schiller aber die Erziehung durch Anschauung vollkommener Kunst, nicht durch (Amateur-)Praxis vorsieht. Vgl. das Beispiel der (vermeintlich) griechischen Porträtbüste Juno Ludovisi in den Briefen »Über die ästhetische Erziehung des Menschen«, in: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 20, hg. v. Benno von Wiese, Weimar 2001, S. 308-412, hier 359f.
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Wagner, Klöck, Niethammer, Ernst, Schmidt, Bolte-Picker Unter allen Unterrichts-Bildungs-Anstalten behauptet das Theater, wie es seyn soll, den ersten Rang, das ist nicht zu leugnen! Nicht unsre öffentlichen Erziehungsinstitute und Schulexercitien, ja selbst unsre vollendeten Philantropine, gewähren ein Tausendstel jener mannichfaltigen Bildung, welche die Bühne spielend gewährt.18
So wird deutlich, dass eine Konfiguration der dynamischen Aushandlung zwischen dem ›Theater der Kunst‹ und dem ›Theater der Selbstbildung‹ vor allen Dingen zwei in Spannung zueinander stehende Bereiche hervorbringt: die ›ästhetische Selbstbildung‹ und die ›Regeln der Kunst‹. Und dies gilt bis in die Gegenwart.
Meike Wagner
Abb. 1: Szene aus Freie Republik HORA, Phase 2, 2014-15. Theater HORA – Stiftung Züriwerk. © Giancarlo Marinucci
Dispositive professionellen Schauspielens In die Diskussion über ›professionelles Schauspielen‹ möchte ich den von Giorgio Agamben erweiterten Dispositiv-Begriff Michel Foucaults einbringen. Dabei scheint mir besonders das von Agamben konstatierte »theologische Erbe« relevant. Der foucaultsche Begriff des Dispositivs werde von jenem Bruch grundiert, »der in Gott Sein und Praxis […] zugleich teilt und artikuliert«19: 18 | S.B., »Über Privatbühnen«, in: Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks 2 (1799), S. 369-377, hier S. 372. 19 | Giorgio Agamben, Was ist ein Dispositiv?, Zürich/Berlin 2008, S. 23.
Kunst – Nicht-Kunst – Andere Kunst Der Terminus Dispositiv bezeichnet also etwas, in dem und durch das ein reines Regierungshandeln ohne jegliche Begründung im Sein realisiert wird. Deshalb schließen die Dispositive immer einen Subjektivierungsprozeß ein, da sie ihr Subjekt selbst hervorbringen. 20
Dies erweiternd, differenziert Agamben zwischen der »Ontologie der Geschöpfe« und der »oikonomia der Dispositive«, die »darauf abzielen, jene zu regieren und zum Guten zu führen.«21 Dazwischen sieht er als Drittes das Subjekt. Dadurch erweitert er den auf Netze konkreter Machtausübung bezogenen Begriff Foucaults auf »alles, was irgendwie dazu imstande ist, die Gesten, das Betragen, die Meinungen und die Reden der Lebewesen zu ergreifen, zu lenken, zu bestimmen, zu hemmen, zu formen, zu kontrollieren und zu sichern.«22 In Bezug auf das Schauspielen sind die von Agamben artikulierten Aspekte der Weihe und des Glaubens besonders für die Betrachtung von Schauspielschulen relevant: sie betreffen die Ontologisierung von Machthandeln im Schauspielschüler. Schauspielschulen für Menschen mit Behinderung sind von diesen Verschaltungen nicht ausgeschlossen, sondern Mitproduzenten ganz spezieller professioneller Dispositive. Das 1955 in den USA erschienene Textbuch Acting is Believing von Charles McGaw stellt die angestrebte Ontologisierung von Machthandeln im Schauspielschüler schon im Titel aus.23 Ihm liegt ein Allgemeinplatz im westlichen Verständnis professionellen Schauspielens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Grunde: »[an actor] must believe to make his audience believe.«24 Mit Blick auf ein Regierungshandeln, das sich im Sein des Schauspielschülers zu realisieren sucht, lässt sich fragen: Wer glaubt und woran? Welche Subjektkonstitution setzt ein Training, das mit diesem Glaubenssatz arbeitet, voraus? Welche Wissensregime, Machtpositionen, diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken verschalten sich in der Entscheidung darüber, was glaubhaft ist und was nicht? Das Konzept ›szenischer Wahrheit‹ bildet durch Stanislawskis schauspielmethodisch adaptierten Begriff der ›zweiten Natur‹ die Basis vieler Schauspielprogrammatiken im 20. Jahrhundert. McGaw rationalisiert es in den USA der 1950er Jahre als ein Ergebnis harter Arbeit am Selbst: »Good actors work hard, train hard, and take their work seriously. They know artistic achievement can come only after practicing their technique so frequently and so thoroughly that it becomes a natural part of everything they do.«25 Das Training soll also nicht nur dem Büh20 | Ebd., S, 23f. 21 | Ebd., S. 26. 22 | Ebd. 23 | Charles McGaw/Kenneth L. Stilson/Larry D. Clark, Acting Is Believing, Boston 2011 [1955]. Charles McGaw (1910-1978) leitete ab den 1950er Jahren die Goodman Drama School am Goodman Theatre in Chicago, eines der wenigen Repertoire-Theater in den USA. 24 | McGaw/Stilson/Clark, Acting Is Believing, S. XI. 25 | Ebd., S. 8.
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nenspiel zuträglich sein, sondern zu einem ›natürlichen‹ Teil des schauspielenden Selbst werden. Über das Training einer ›Technik‹ hinaus fordert McGaw die Arbeit an der alltäglichen Erscheinung durch Körperpflege, Sport und Selbstvermarktung bei Agenturen und Produzenten.26 Für den Erfolg sind scheinbar nicht nur Glaubhaftigkeit und Glaube auf der Bühne von Nöten, sondern auch ein bestimmtes Alltagshandeln. Amy Lynn Steiger situiert diese spezielle StanislawskiAneignung in der sogenannten Containment-Politik der USA in Reaktion auf das im ›Kalten Krieg‹ angelegte Szenario kommunistischer Bedrohung: Because the establishment of American interpretations of Stanislavski-based methods like Strasberg’s as the default in professional actor training programs in the United States happened in an ideological climate that privileged metaphors of protecting individual and national sovereignty and conquering and controlling an ›Other‹ in the interest of commerce, the training itself may seem intended to promote a view of the body that reproduces such ideas. 27
Aktivitäten, die den protektiven Container ›Americanism‹ zu verlassen schienen, liefen Gefahr, als anti-amerikanisch, mithin kommunistisch verurteilt zu werden.28 In diesem Kontext spielte der Glaube des Schauspielers eine systemische Rolle: McGaw schloss eine kritische Haltung des Schauspielers gegenüber der zu spielenden Rolle aus: »You must never approach your creation from the third person, passing a verdict on his moral, social, religious, and political beliefs and behaviors. If you do, you will never sustain conviction in your actions on stage.«29 So verknüpfen sich hier im Dispositiv des professionellen Schauspielers das Versprechen vom Bühnenerfolg (durch den Glauben an eine fiktive Rolle) und das Versprechen vom beruflichen Erfolg (durch den Glauben an ein durch harte Arbeit professionalisierbares Selbst). In diesem Dispositiv partizipierten auch theaterferne wissenschaftliche Diskurse. 1950 schreibt der Soziologe Robert Ezra Park: It is probably no mere historical accident that the word person, in its first meaning, is a mask. It is rather a recognition of the fact that everyone is always and everywhere, more or less consciously, playing a role […] In a sense, and in so far as this mask represents the 26 | Vgl. ebd., S. 272, S. 274. 27 | Amy Lynn Steiger, Actors as Embodied Public Intellectuals: Reanimating Consciousness, Community and Activism Through Oral History Interviewing and Solo Performance in an Intertextual Method of Actor Training, Diss., University of Texas at Austin 2006, S. 121. 28 | Steiger, Actors as Embodied Public Intellectuals, S. 114f. Zum amerikanischen Theater im Kontext der Containment-Politik vgl. auch Bruce A. McConachie, American Theater in the Culture of the Cold War: Producing and Contesting Containment, 1947-1962, Iowa City 2003. 29 | McGaw/Stilson/Clark, Acting Is Believing, S. 3.
Kunst – Nicht-Kunst – Andere Kunst conception we have formed of ourselves – the role we are striving to live up to – this mask is our truer self, the self we would like to be. In the end, our conception of our role becomes second nature and an integral part of our personality. 30
Park verwendet hier einen Rollen-Begriff, der von den professionellen Schauspielern seiner Zeit praktiziert wurde: die Rolle als etwas immer schon Gegebenes, der sich das Selbst unterwirft und an der es sich subjektiviert. Stanislawskis Konzept der ›zweiten Natur‹ schwingt hier ebenso mit wie die Forderung, die Schauspieltechnik möge »a natural part of everything they do« werden. 1959 erscheint Erving Goffmans The Presentation of Self in Everyday Life.31 Ein Unterkapitel des ersten Kapitels über »Performances« trägt den Titel »Belief in the Part one is Playing«. Darin zitiert Goffman Park mit eben jener Textstelle,32 wobei ›persona‹ (Rolle, Maske) bei Goffman zum allumfassenden Rahmen für die soziologische Analyse menschlichen Verhaltens wird. Während Park noch auf die historische Tiefe des Begriffs »persona« verweist,33 wird bei Goffman die historische Kontingenz der Metapher »theatrical performance« unsichtbar: ihre Verhaftung im Dispositiv professionellen Schauspielens als glaubhafte Aufführung vorgegebener Rollen mit der Hilfe von Requisiten, Kostümen und Regieanweisungen. Als »acting is believing« verschaltet sich dieses Dispositiv im geopolitischen Kontext der USA in den 1950er Jahren mit wissenschaftlichen Diskursen und soziologischen Begriffen. Mit der Institutionalisierung der Performance Studies wurde wenig später freilich ein anderes Dispositiv professionellen Schauspielens geschaffen. Insbesondere mit Blick auf das aktuelle Interesse an professionell arbeitenden Theatern mit geistig oder körperlich behinderten Schauspielern und Schauspielerinnen wie etwa dem Theater HORA in Zürich scheint es mehr als angemessen, von Dispositiven professionellen Schauspielens zu sprechen, die einander nicht ablösen, sondern sich wechselseitig beeinflussen und hervorbringen.
Anja Klöck
30 | Robert Ezra Park, Race and Culture, Glencoe, IL 1950, S. 249-250. 31 | Erving Goffman, Wir alle spielen Theater, München 2009 [1983]. 32 | Vgl. Erving Goffman, The Presentation of Self in Everday Life, Garden City, NY 1959, S. 17-21. 33 | Zu meiner Verwendung des Begriffs der historischen Tiefe vgl. Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a.M. 2006, S. 21f.
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Abb. 2: Szene aus Freie Republik HORA, Phase 2, 2014-15. Theater HORA – Stiftung Züriwerk. © Giancarlo Marinucci
Professionalisierung, Ökonomie und die Politik der Institution In Bezug auf die Auszeichnung der HORA-Schauspielerin Julia Häusermann mit dem Alfred-Kerr-Preis 2013 hat Juror Thomas Thieme drei Spannungsverhältnisse stark gemacht, die Fragen nach den Dispositiven und der Professionalisierung des Schauspielens eröffnen: Jenes zwischen institutionalisiertem Stadttheater und seinem ›Anderen‹; jenes zwischen akademischer Ausbildung und strukturfernen Aspekten des Spiels (die Rede ist hier etwa von Kriterien wie Hingabe, Kontrollverlust und einer womöglich durch ›Fehlerhaftigkeit‹ zutage tretenden Authentizität des Spiels im gespannten Verhältnis zu perfektionierter Technik); und – implizit – jenes zwischen Zutrittskriterien zum Theater-›Markt‹ und dessen Ausschlussmechanismen.34 Letzteres soll am Beispiel der US-amerikanischen Avantgarde skizziert werden: Inwiefern lassen sich Professionalisierungsund Künstlerdiskurse vor dem Hintergrund theaterökonomischer Entwicklungen fruchtbar machen? Inwieweit bringen ökonomische Diskurse Begriffe von Professionalität gleichsam hervor? Bezeichnenderweise scheint dabei als das ›Andere‹ nicht das Dilettantische auf, sondern das Experimentelle.
34 | Vgl. Thomas Thieme, »Kunst ist Kunst. Theater mit Behinderten«, in: Theater der Zeit 4 (2014), S. 18-20.
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»›Professionalism‹, a dirty word in the 60s ensembles, now describes a seriousness of commitment rather than a mercenary slickness«35, schreibt Kritiker Don Shewey 1985 in einem Beitrag zum neuaufkeimenden Interesse an institutionalisierten Ensemblebildungen in den USA. Es stünde in engem Zusammenhang mit staatlichen Subventionspraktiken, die mit neuen Förderprogrammen wie dem Ongoing Ensemble Program des National Endowment of the Arts (NEA) auf den Plan treten. ›Mainstream‹ erscheine nun weniger als negativ besetzter Terminus, sondern stünde für die Möglichkeit kontinuierlichen Arbeitens in einem stabilen Kunstsystem. Diese Bestandsaufnahme markiert einen Prozess zunehmender Institutionalisierung der Avantgarde im Sinne Britta Wheelers, die konstatiert, dass experimentelle Gruppen »eventually conformed to conventional patterns of organization in order to obtain state funding«.36 Behauptet wird aber auch die Abnahme kategorialer Zuschreibungen von ›mainstream‹ und ›experimentell‹, also die »ability to synthesize techniques and aspirations that formerly were ascribed exclusively to Broadway, the avant-garde, or regional theater«37. Gemeinsamer Nenner mit ähnlichen Quellen ist der Befund der Vernachlässigung künstlerischer Motivationen zugunsten ökonomischer Sicherheit. Ed Martensen, Theater Program Director des NEA von 1982-86, bringt dies auf die Formel ›artistic excitement‹ vs. ›professionalism‹: Non-Mainstream-Gruppen wie die Wooster Group stay together out of a sense of complete commitment to themselves and their work, and it doesn’t pay very well. If they decided they wanted to get paid anywhere close to what they’re worth as professional people, the strain would tear the organization apart. […] I totally agree with people who say, ›Well, I’m a professional, I want to get paid, and I’m just not going to do it unless it provides something approaching a dignified existence.‹ Of course, that too often leads people into doing work that’s less interesting than they would like to do. It’s just outrageous that theatre artists should have to make the choice between artistic excitement and professionalism […]. 38
›Professionalität‹ erscheint hier im Machtgefüge ökonomischer (Subventions-) Praktiken an einen Markt gebunden, der die Zutrittskriterien produziert. Während ›Professionalität‹ ökonomisch aufrechenbar wird, verlören künstlerische Idealvorstellungen (»artistic excitement«) in der Konturierung des Professionellen an Priorität. 35 | Don Shewey, »The Regrouping of American Theater«, in: The Village Voice, 10.12.1985, S. 14-21, hier S. 15. 36 | Britta Wheeler, »The Institutionalization of American Avant-Garde: Performance Art as Democratic Culture, 1970-2000«, in: Sociological Perspectives 4 (2003), Vol. 46, S. 491-512, hier S. 495. 37 | Shewey, »The Regrouping of American Theater«, S. 15. 38 | Ed Martenson, zit. n. Shewey, »The Regrouping of American Theater«, S. 17.
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Nicht erst Shewey und Martensen beklagen die Regelung von Profession über den ökonomischen Hebel zwischen Ein- und Ausschluss. Scharfe Kritik wurde bereits im Kontext des Avantgardetheaters der 1960er Jahre geübt und mündete mitunter in der expliziten (Neu-)Verhandlung von Kompetenzen, die weniger auf Technik denn auf Motivation abzielte. Am Beispiel des Living Theaters wird dies explizit: Deren Beitritt zur Gewerkschaft Actor’s Equity um 1958 bedeutete die Regulation künstlerischer und ökonomischer Vorgänge. Grundgehälter sowie die Vergütung von Aufführungs- und Probezeiten wurden nun durch Equity-Verträge geregelt. Scharfe Kritik erfuhr die Regulation von Personalfragen, denn Equity-Schauspieler durften nur in Ausnahmefällen für ›Non-Equity-Compagnien‹ arbeiten; umgekehrt wurden Equity-Compagnien darauf verpflichtet, einen sich nach dem Einspielergebnis richtenden Prozentsatz an Equity-Schauspielern zu engagieren. Während die Gewerkschaft mit eigenen wirtschaftlichen Interessen ökonomische Stabilität versprach, wurde sie besonders seitens der Leitungsebenen freier Gruppen attackiert. Darin zeigt sich, aus Perspektive der experimentellen Theatermacher, das Spannungsverhältnis von Kompetenz – Zutritt – Ausschluss. Aus dem Nachlass von Julian Beck, Co-Gründer des Living Theaters, geht dies eindrucksvoll hervor. Beck schreibt in den frühen 1960ern: »Can you only have theatres if they are making enough money to meet union demands […] The union sees everything as a business, it cannot understand that there are other motives for work in this world.«39 1964 heißt es weiter: The right of the actor to function as a true artist is being denied him. He is being forced into the position of being a simple worker, which he is not, his work can be, or ought to be, distinguished from the work of manufacturing. The actor no longer creates, he makes, and what he makes is not primarily art or love, but money. This is what the Union emphasizes. 40
Mit der Dichotomie true artist/worker rücken jene strukturfernen Aspekte ins Zentrum, die im skizzierten Professionalitätsdiskurs marginal werden. Dem ökonomisch angetriebenen Darsteller wird sein ›Künstler-Sein‹ weitgehend abgesprochen, während das Idealbild durch Termini wie Motivation, Selbstbildung und Identifikation besetzt wird.41 Becks Kritik kulminiert im politischen Angriff, der den institutionellen Kontext gleichsam erweitert: Equity has behaved in a Fascist manner for it has decided to proscribe how we are to cast our play. It has insisted that we use talent that we do not believe is suited to the finest presentation of an author’s work. […] Equity is dictating to art like the governments of any fascist state. 42 39 | Manuskript »Art+Unions«, NYPL, Living Theatre Records (LTR), B 22 f 16. 40 | Manuskript »To the Unions«, NYPL, LTR, B 22 f 16. 41 | Vgl. ebd. 42 | »Letter to Clarence Derwent«, NYPL, LTR, B 22 f 16.
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Hierin zeigt sich der weitreichende Aushandlungsprozess der diskursiven Rahmungen in der Überlagerung von Professionalität und ihrem ›anderen‹. Die exemplarisch skizzierte Institutionalisierung und Ökonomisierung künstlerischer Arbeit gerät zum Ausschlussmechanismus, insofern als finanzielle Aufrechenbarkeit struktur- und ökonomieferne Aspekte, so der Vorwurf, aus dem Diskurs verdrängt. Kehren wir zurück zu Thiemes HORA-Würdigung, in der er diagnostiziert: Viel zu sehr hat die Akademisierung des emotionalsten, eigentlich nur für die Emotion erfundenen Berufes […] sich an die Spitze gesetzt und alles andere rasiert. Das nassforsche Auftreten der Schauspielschulfunktionäre und einiger Schauspielschulabsolventen in Großengagements dokumentiert den Geist, der herrscht und […] vermittelt wird. 43
Wenn Thieme das institutionalisierte Theater, dessen Repräsentanten und deren ›akademisiertes Spiel‹ kritisiert, so sticht dies in jenes Spannungsgefüge, in dem sich Ebenen von Kunst, Kompetenz und Professionalisierung mit ökonomischen Diskursen verschränken.
Nora Niethammer
Abb. 3: Szene aus Freie Republik HORA, Phase 2, 2014-15. Theater HORA – Stiftung Züriwerk. © Giancarlo Marinucci
43 | Thieme, »Kunst ist Kunst«, S. 19.
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Ausbildung – Selbstbildung – Mündigkeit Widersprüche der Schauspielausbildung Das Theater HORA in Zürich erarbeitet derzeit ein experimentelles Projekt: Freie Republik HORA. Dabei geht es primär um die Selbstbildung aller Beteiligten, um ›Mündigkeit‹ statt ›Genialität‹. Die zeitlichen und organisatorischen Implikationen dieses Projektes werden im Folgenden näher betrachtet. Dies geschieht vor dem Hintergrund der historischen Semantik von Selbstbildung (Humboldt) und Ausbildung (Herbart) und mit Fokus auf das ambivalente Lehrer-Schüler-Verhältnis, welches den Bildungsdiskurs charakterisiert.44 Das Konzept der Selbstbildung geht zurück auf Wilhelm von Humboldt. Ihm zufolge ist ein Bildungsprozess ganzheitlich und organisch zu verstehen: Er umfasst alle Aspekte des menschlichen Lebens, von der instrumentellen Ausbildung von Fertigkeiten und Kompetenzen bis hin zur Selbstbildung des Menschen zu einem mündigen Wesen. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass alles für den Bildungsprozess Nötige schon im Menschen angelegt ist und sich über die Zeit entfaltet. Ein Endpunkt dieser Entwicklung kann nicht bestimmt werden. Humboldts Bildungskonzept konnte sich im 19. Jahrhundert freilich nicht flächendeckend etablieren.45 Was sich vielmehr durchsetzte, war Johann Friedrich Herbarts Lehre der Unterrichts- und Schulorganisation gemäß einem staatlich gegebenen Erziehungs- und Bildungsauftrag.46 Diese Schulpädagogik gab die Antwort auf die demographischen und ökonomischen Herausforderungen des 19. Jahrhunderts.47 Zweck einer pädagogischen Institution sei demnach vorrangig die Aus-, nicht die Selbstbildung. Auf das Experiment des Theater HORA bezogen, greift zunächst der herbartsche Ansatz. Da ist der institutionelle Rahmen der Schauspielschule und der Theatergruppe: HORA legitimiert sich nicht zuletzt dadurch, dass sie professionelle Darsteller mit körperlicher und/oder geistiger Behinderung ausbilden und engagieren. Der juristische Rahmen, insbesondere der Selektionsmechanismus von Zulassung zur und Zertifizierung der Ausbildung, lässt sich bestimmen. Ausbildung ist also hier Bildung, die didaktisch gegliedert ist und die einen über-
44 | Die folgenden Ausführungen basieren auf Niklas Luhmann/Karl Eberhard Schorr, Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, Frankfurt a.M. 1999; vgl. auch Herwig Blankertz, Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Wetzlar 1982. 45 | Vgl. Luhmann/Schorr, Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, S. 75f., zum Begriffswandel von ›Bildung nach Humboldt‹ auch S. 81ff. 46 | Vgl. ebd., S. 145-151. 47 | Vgl. zu Zahlen und zur demographische Entwicklung in Bezug auf die Bildungslandschaft Karl-Ernst Jeismann, »Zur Bedeutung der ›Bildung‹ im 19. Jahrhundert«, in: Ders./ Peter Lundgreen, Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 3, München 1987, S. 3-21, hier S. 13f.; Bruno Hamann, Geschichte des Schulwesens, Bad Heilbrunn 1986.
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schaubaren Einsatz von Mitteln gerechtfertigt erscheinen lässt, um vorgegebene Bildungsziele zu erreichen. Das Experiment Freie Republik HORA durchkreuzt allerdings diese institutionelle Rahmung und zeigt Parallelen zu Humboldts Konzept der Selbstbildung. Das im Herbst 2013 begonnene Theaterprojekt soll über einen nicht näher bestimmten Zeitraum entwickelt werden. Die Initiatoren Michael Elber und Marcel Bugiel sprechen, bewusst emphatisch, von einer »Reise«48, die um der Erfahrung willen unternommen wird: Verschiedene Arbeitswerkzeuge für die wir uns während dieser Reise entscheiden bringen einen Prozess eventuell in Gang, beeinflussen dadurch natürlich den Weg, lassen aber trotzdem größtmögliche Autonomie frei für die selbstständige individuelle Entscheidung der Geschwindigkeit, der Gangart, der Richtung et cetera. 49
Luhmann und Schorr zeigen in ihrer Theoriegeschichte der Pädagogik auf, dass der Bildungsdiskurs weiterhin Humboldts Selbstbildung favorisierte – trotz einer ganz anders gelagerten schulischen Praxis. Damit aber entstehe in der Theorie der Pädagogik eine Ambivalenz im Lehrer-Schüler-Verhältnis, eine »designed inconsistency«50. Sie bestehe im Kern darin, das humboldtsche, theoretisch unbestimmbare Konzept der Selbstbildung in die Theorie der Pädagogik übernehmen zu wollen, aber nicht zu können. Die Theorie der Bildung müsse nämlich ein zeitlich und qualitativ unbestimmtes Selbst des Schülers zugleich als Bedingung und als Ziel des Bildungsprozesses setzen. Die Lösung dieses Widerspruches erfolgte derart, dass dem Lehrer die Aufgabe zugeordnet wurde, zwischen den Ansprüchen der Ausbildung und der Selbstbildung zu vermitteln. Der Lehrer solle, so der Tenor der Bildungstraktate, taktvoll die Selbstbildung ermöglichen und verantwortlich die Ausbildung im Blick behalten.51 Ginge es beispielsweise um eine objektiv notwendige Korrektur oder Kritik, dann sei der Lehrer dazu angehalten, diese so taktvoll anzubringen, dass er die organischen Prozesse der Selbstbildung 48 | Marcel Bugiel/Michael Elber, »Programmtext ›Freie Republik HORA‹«, Stand 21.02.2014, o.S. 49 | Ebd. 50 | Niklas Luhmann, »Takt und Zensur im Erziehungssystem«, in: Ders., Schriften zur Pädagogik, hg. v. Dieter Lenzen, Frankfurt a.M. 2004, S. 245-259, hier S. 247. Der Begriff der ›designed inconsistency‹ stammt von Chris Argyris, »Crafting a Theory of Practice. The Case of Organizational Paradoxes«, in: Robert E. Quinn/Kim S. Cameron (Hg.), Paradox and Transformation. Towards a Theory of Change in Organization and Management, Cambridge, MA 1988, S. 255-278. 51 | Vgl. Luhmann/Schorr, Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, S. 190f.; Luhmann, »Takt und Zensur im Erziehungssystem », S. 248. Vgl. zur historischen Semantik des TaktBegriffs mit Bezug auf die Ästhetik auch Shoko Suzuki, »Takt, Lautlichkeit und Musik«, in: Paragrana 17 (2008), S. 144-167.
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nicht störe. Auf Seiten der Schüler führe dies wiederum zu ambivalentem Verhalten, zu »akrobatische[n] Kunststücke[n] im Vorführen positiver und im Verdecken negativer Leistung«52 . Im Theater HORA reflektieren die Spielleiter just dieses ambivalente Rollenskript des Lehrers wie folgt: [I]mmerfort fühlen wir uns verantwortlich gegenüber allem, was Menschen mit einer ›geistigen Behinderung‹ tun oder auch nicht tun. Wir sind dermaßen darauf gepolt, uns für sie verantwortlich zu fühlen, dass wir ihnen im Grunde nicht die geringste Selbstbestimmung zugestehen. 53
Ohne Selbstbestimmung aber bekomme man ein Theater, das in konventionellen Hierarchien und Ausdrucksformen verbleibe. Die Schauspieler sind nur mehr Werkzeuge für die Umsetzung kreativer Ideen anderer. Das reiche bei HORA bis hin zum konditionierten Verhalten. Die Parallelen zur ambivalenten Lehrer-Schüler Kommunikation liegen auf der Hand. Mit der Vorgabe, das Ensemble solle das nächste Theaterprojekt ohne Regisseur und Dramaturg erarbeiten, verlassen Elber und Bugiel in pädagogischer Hinsicht ihre ambivalente Rolle des verantwortlichen Lehrers. Ihre neue Rolle besteht darin, »zu verhindern, dass jemand anders denkt (Zuschauer, HORA-Angestellte, Ensemblemitglied, Eltern etc.), er oder sie [müsse] nun das Regie-Vakuum irgendwie füllen« 54 . Also beschränken sie Ihre Einflussnahme auf das Notwendige, den praktischen Ablauf und die Einhaltung bestimmter Regeln. Insbesondere formalisieren sie die Verfahren der Kritik und entschärfen damit die von Luhmann und Schorr bemängelte unheilvolle Ambivalenz im Lehrer-Schüler-Verhältnis: Es gibt nach jeder öffentlichen Probe ein Publikumsgespräch, das von den Darstellern selbst moderiert wird; vor jedem Auftritt protokollieren die Darsteller in Videointerviews ihre Ideen; die Leiter des Experiments reflektieren ihre Rollenmuster in Protokollen und Mitschnitten. Die Publikumsgespräche im April 2013 machten deutlich, dass die Strategie aufgeht. Noch im Februar konnte man das Bemühen erkennen, die teilweise tatsächlich sehr offene und unfertige Theaterarbeit taktvoll zu moderieren oder gar zu korrigieren. Teile der Elternschaft übernahmen im Publikumsgespräch mit Tipps und Tricks eine Art Ko-Regie. Elber und Bugiel treffen hier den Punkt, wenn sie schreiben: »Es ist ja nicht nur ein Stück über die Mündigkeit unserer SchauspielerInnen, sondern auch ein Stück über die Mündigkeit unseres Publikums. Wage ich einen behinderten Schauspieler zu kritisieren?« 55 Be52 | Luhmann, »Takt und Zensur im Erziehungssystem«, S. 247. 53 | Bugiel/Elber, »Programmtext ›Freie Republik HORA‹«. 54 | Ebd. 55 | Ebd.
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reits im April konnte man Veränderungen beobachten. In dem nun auf sich selbst gestellten Ensemble hatten sich eigene Strukturen etabliert. Einer der Darsteller hatte in Abstimmung mit den Spielern die Funktion eines Spielleiters übernommen, die Eltern und das Leitungsteam des Theaters blieben deutlich passiv. Angesichts dieses Experiments kann man also erneut fragen, wie Selbstbildung jenseits der Alternative Humboldt (gut, aber für alle zu teuer) und Herbart (für alle, aber zu taktlos) organisiert werden kann. Freie Republik HORA antwortet darauf, indem es verschieden Formen von Können und Nicht-Können auf Seiten der Darsteller und des Publikums miteinander in einen Bildungsprozess verschaltet. Hier lernen potentiell und nach verschiedener Maßgabe: die Darsteller, die Spielleiter und die Zuschauer.
Wolf-Dieter Ernst
Abb. 4: Szene4 aus Freie Republik HORA, Phase 2, 2014-15. Theater HORA – Stiftung Züriwerk. © Giancarlo Marinucci
Theater mit geistig behinderten Darstellern im Kreuzpunkt der Diskurse Seit den 1990er Jahren treten vermehrt Darsteller auf den Bühnen professioneller Theater auf, die keine reguläre Schauspielausbildung durchlaufen haben. Parallel zur »Entkunstung des Kunsttheaters« vollzieht sich eine Annäherung theaterpädagogischer Praxen an Paradigmen des Kunsttheaters, eine »Ästhetisierung
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des Pädagogischen«, die kulturelle Wertehierarchien in Frage stellt.56 Nicht-professionelle Darsteller – und in jüngerer Zeit auch Darsteller mit Behinderungen – bilden die Schnittstelle eines wechselseitigen Annäherungsprozesses zwischen Theaterpädagogik und Theaterkunst.57 Am Beispiel des Zürcher Theater HORA wird evident, inwiefern sich Theater mit behinderten Darstellenden in einem ›Dazwischen‹ situiert, in welchem Regeln des Kunsttheaters und seines Anderen verhandelt werden. Wurde im Behindertentheater seit Ende der 1980er Jahre durch verschiedene Strategien versucht, sich im Kunsttheater zu etablieren, ist Disabled Theater (2012) von Theater HORA und Jérôme Bel die erste Inszenierung mit geistig behinderten Darstellern im deutschsprachigen Raum, die, abgesehen von Ausnahmen wie Christoph Schlingensief, von einem breiteren Theater- und Tanzpublikum rezipiert wird.58 Während in Bezug auf Laiendarsteller etwa die Begriffsschöpfung »Experten des Alltags« die Abgrenzung zum professionellen Schauspieler markiert, sind behinderte Darsteller durch die Verleihung des Alfred Kerr-Darstellerpreises an HORA-Ensemblemitglied Julia Häusermann innerhalb der ›Regeln der Kunst‹ verortet. Diese Neukontextualisierung führt zu der Frage, nach welchen Maßstäben die Arbeit behinderter Künstler gemessen werden soll und inwiefern eine Verschiebung der Zugangskriterien zum Schauspielerberuf stattfindet.59 An dieser Schwelle setzt das aktuelle Langzeit-Performance-Projekt Freie Republik HORA an.60 Nach Michael Elber, Leiter des Theater HORA, verfolgt es zum einen das Ziel, die Hierarchien zwischen Regie und den behinderten Darstellern zu reflektieren und die künstlerische Verantwortlichkeit an das Ensemble zu übergeben. Zum anderen sollen auch die Zuschauer ihre Mündigkeit erpro56 | Vgl. Ulrike Hentschel/Ute Pinkert, »Was tue ich hier und warum?«, Vortrag bei der Ständigen Konferenz Spiel und Theater in Görlitz 2008. 57 | Vgl. Yvonne Schmidt, Ausweitung der Spielzone. Experten – Amateure – behinderte Darsteller im Gegenwartstheater, Zürich 2016. 58 | Zur Professionalisierung von Behindertentheater vgl. Yvonne Schmidt, »›Welche Behinderung hast du nochmal?‹ Theater und Behinderung«, in: Andreas Kotte/Frank Gerber/ Beate Schappach (Hg.), Bühne & Büro. Gegenwartstheater in der Schweiz, Zürich 2012, S. 357-376. 59 | Wie Thomas Thieme in seiner Laudatio zum Alfred Kerr-Darsteller-Preis konstatiert, seien »seine Kriterien den Bach herunter[gegangen]«. Mit dem Soziologen Harald Mieg legen die Professionellen einer Berufsgruppe, in diesem Fall die Schauspieler und Theaterschaffenden, die ›Methodenkompetenzen‹ ihres Berufes sowie dessen ›Zugangskriterien‹ fest. Vgl. Mieg, »Professionalisierung«. 60 | Vgl. www.hora.ch/2013/index.php?s=1&l1=485&produktion=649 vom 29.08.2015. Eine detailliertere Analyse von Freie Republik HORA im Kontext von Disabled Theater vgl. Yvonne Schmidt, »After Disabled Theater. Autorship, Creative Responsibility and Autonomy in Free Republic HORA«, in: Sandra Umathum/Benjamin Wihstutz (Hg.), Disabled Theatre, Zürich/Berlin 2015, S. 227-240.
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ben: indem sie lernen, die Arbeit behinderter Künstler kritisch und ohne ›Behindertenbonus‹ zu betrachten und trotz unterschiedlicher Sprachregister nicht über, sondern mit ihnen zu diskutieren. War die Entwicklung des Theaters mit behinderten Darstellern vom pädagogisch motivierten »Zielgruppentheater«61 zum Kunsttheater gekennzeichnet durch die Bewegung vom geschützten Raum der Werkstätten und Einrichtungen zum öffentlichen Raum der Theaterbühnen, besteht in Freie Republik HORA ein Spannungsfeld zwischen pädagogischen und künstlerischen Implikationen.62 In der Debatte über Kunst und Behinderung wurde konstatiert: »Wer jedoch den Anspruch erhebt, Kunst zu produzieren, verlässt einen Schutzraum. […] Ein Werk der Kunst stellt sich dem Vergleich, der Debatte, dem Urteil, das durchaus kränkend sein kann.«63 In Freie Republik HORA stehen der Arbeitsprozess und der Zugewinn für die Spielenden im Vordergrund, nicht eine Inszenierung vor Publikum. Gleichzeitig sind die Zuschauenden dazu angehalten, das als ›Probe‹ markierte Bühnengeschehen aus einer ästhetischen Perspektive als ›fertige‹ Inszenierung zu bewerten. Freie Republik HORA bricht auch in anderer Hinsicht mit der gängigen Praxis im Behindertentheater, und zwar indem nicht ein Regisseur ohne Behinderung die Regie übernimmt und weiterhin, indem die einzelnen Ensemblemitglieder, nicht das Ensemble im Fokus stehen. Dieser Verstoß gegen die ›Konventionen des Behindertentheaters‹ wurde zum Gegenstand von Publikumsgesprächen nach den ersten Try-Outs, in welchen die Zuschauer forderten, das Ensemble solle auf der Bühne »etwas zusammen machen«. Die Folge war die Re-Installation einer singulären Regieposition und der Auf bau neuer Hierarchien innerhalb des Ensembles: Ein Ensemblemitglied übernahm die Regie für Gruppenszenen – mit der Konsequenz, dass die Soloperformances gekürzt wurden. Dies führte zu Konflikten unter den HORA-Ensemblemitgliedern, sodass schließlich die Soli in Form von Zugaben ihren Weg auf die Bühne zurück fanden. Am Ende waren die Zugaben länger als die eigentliche Inszenierung. Der Konflikt zwischen der kollektiven Arbeitsweise in der zweiten Phase des Projektes und dem Ziel, als einzelner Schauspieler ›mündig‹ zu werden, führte bereits im Sommer 2014 zur Abspaltung eines einzelnen Performers, der eine Soloarbeit entwickelte, sowie zur Konzeption des Folgeprojektes Freie Republik HORA – Phase 3 in der, begleitet
61 | Vgl. Seline Soom, »Behindertentheater«, in: Andreas Kotte (Hg.), Theaterlexikon der Schweiz, Bd. 1, Zürich 2005, S. 145-148. 62 | Vgl. Matthias Warstat, »Spielen und Heilen. Zur Theatralisierung des Therapeutischen«, in: Herbert Willems (Hg.), Theatralisierung der Gesellschaft 1: Soziologische Theorie und Zeitdiagnose, Wiesbaden 2009, S. 533-547. 63 | Detlef Hoffmann, Auch Irre leben nicht außerhalb der Geschichte, Hamburg 2001, S. 66.
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von einem Forschungsteam der Zürcher Hochschule der Künste, sechs HORAMitglieder eigene Arbeiten inszenierten.64 Durch diese Spannungsfelder zwischen Prozess- und Ergebnisorientierung sowie zwischen Gruppe und einzelnem Performer, die bereits in der Versuchsanordnung von Freie Republik HORA angelegt sind, wird die Position des ›Behindertentheaters‹ als Hybrid zwischen Kunst und Pädagogik neu ausgehandelt.
Yvonne Schmidt
Abb. 5: Szene aus Freie Republik HORA, Phase 2, 2014-15. Theater HORA – Stiftung Züriwerk. © Giancarlo Marinucci
Ökonomien des Als-Ob und des Wirklichen in inklusiven Theaterkonzeptionen »Wer [die] Absurdität darstellen will, muss sie in einem Spiel gleichlaufender Gegensätze lebendig machen«65, so schrieb Albert Camus 1959. Unter diesem Motto arbeiteten Studierende verschiedener Studiengänge mit Seniorinnen und Senioren aus Gießen und Umgebung sowie mit Künstlerinnen und Künstlern mit und ohne Behinderung vom Theater Thikwa, Berlin. Die Erfahrung ganz alltäglicher Widersprüche sollte im Zentrum stehen und wurde in einer wö64 | Freie Republik HORA ist gekoppelt an das SNF-Forschungsprojekt »DisAbility on Stage« am Institute for the Performing Arts and Film der Zürcher Hochschule der Künste (https://blog.zhdk.ch/disabilityonstage/vom 21.06.2016). 65 | Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos, Hamburg 1959, S. 104.
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chentlich stattfindenden Tanzstunde sowie einer Workshop-Reihe erprobt. Im Juli 2014 präsentierten die Studierenden ihre Ergebnisse in einer zweistündigen szenischen Präsentation mit dem Titel Café Müller: Camu(s)flage. Gezeigt wurden, mit Bezug auf verschiedene Texte von Camus und in Erinnerung an Pina Bauschs Café Müller (1978), eine Collage aus biographischen Interviews, Tanzszenen, Textbeiträgen, Kurzszenen, Moderationen und Filmen.66 Voraussetzung war die These, dass Differenz und Heterogenität Ausgangspunkte für den Austausch vielfältiger Wissensformen sein können und im Handeln selbst verhandelbar werden – wobei ›Handeln‹ im Sinne von Hannah Arendts Definition der ›vita activa‹ als Tätigkeit zwischen Menschen auf der Grundlage menschlicher Pluralität zu verstehen ist.67 Der Diskurs über inklusives Theater hat sich seit Jérôme Bels Disabled Theatre verschoben von einem vorwiegend pädagogisch-fundierten hin zu einem künstlerisch-institutionellen und akademisch geführten Diskurs. Dies hat zur Folge, dass die akademische Rhetorik hier ihre Perspektive auf den Gegenstand zeigt: die Terminologie (vor allem Begriffe wie Heterogenität, Differenz, Emanzipation oder Authentizität) bleibt, ohne Blick für eine Überlappung künstlerischer und pädagogischer Diskurse, oft missverständlich oder einseitig. Gesellschaftlich betrachtet ist das Theater selbst heterogen. In diesem Sinne gilt es grundlegende Fragen des Theaters auszuloten: Wie wird Heterogenität auf der Bühne hergestellt? Wie aktualisiert das theatrale Heterogene ein mögliches gesellschaftlich Heterogenes? Künstlerische Ansätze dieser Art richten sich gegen eine auf Sichtbarkeitsidealen gegründete Gesellschaftsordnung und erfordern einen reflexiven Selbstbezug im theoretischen Denken.68 Hierzu möchte ich im Folgenden einige Thesen vorstellen: 1. Von der Alterität zur Pluralität: In einem Rahmen, der das Leben selbst adressiert, wird die Vielheit menschlichen Lebens zum Ort von Differenzmerkmalen, die (mit Arendt) das Einzigartige des Menschen in Variationen von Wahrnehmungsweisen, Sprech- und Bewegungsmodalitäten paradox hervorheben.
66 | Unterstützt wurden die Studierenden von Mitgliedern der ADTV-Tanzschule Timo Müller, Friedberg sowie von Mitgliedern der Hessischen Vereinigung für Tanz- und Trachtenpflege Gießen. 67 | »Das Handeln bedarf einer Pluralität, in der zwar alle dasselbe sind, nämlich Menschen, aber dies auf die merkwürdige Art und Weise, dass keiner dieser Menschen je einem anderen gleicht, der einmal gelebt hat oder lebt oder leben wird.« Hannah Arendt, Vita activa oder vom tätigen Leben, Zürich 2013, S. 17. 68 | Vgl. Pierre Bourdieus Begriff der »epistemologischen Wachsamkeit« in: Pierre Bourdieu/Jean-Claude Chamboredon/Jean-Claude Passeron, Soziologie als Beruf: wissenschaftstheoretische Voraussetzungen soziologischer Erkenntnis, Berlin/New York 1991, S. 85ff.
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Kategoriale Eingrenzungen von Behinderung sind über Strategien des Erzählens und Erinnerns auflösbar. So wurde in Café Müller: Camu(s)flage mit verschiedenen Formen des Sprechens und Erzählens experimentiert. In diesem Sinne ging es um ein Miteinander-Sprechen, das nach Arendt das Politische in den Diskurs einführt.69 2. Heterogenitätsthematiken auf der Bühne erfordern einen Theatralitätsbegriff, der unter Einbezug des Verhältnisses von Soma und Psyche die Differenz ins Zentrum stellt und als Katastrophe mitdenkt. In diesem, auf einem Sprechen basierenden politischen Sinne ist eine ReLektüre von Theater- und Theatralitätskonzepten sinnvoll, die Konzeptionen von Differenz und Katastrophe bereits integrieren. Dies gilt zum Beispiel für die »Theatralität der Repräsentation« nach Rudolf Münz, der davon ausgeht, dass im theatralischen Handeln Rituale zur Bewältigung einer sozialen Katastrophe und zur Bannung des sozialen Schreckens entwickelt werden können und so imstande sind, über den »biologischen und sozialen Körper« eine andere soziale Ordnung zu rekonstruieren.70 Zum Beispiel wurde in Café Müller: Camu(s)flage die sprachliche Einschränkung eines Thikwa-Performers relevant und zum Auslöser für einen Beatbox-Dialog mit einem Studenten, der über die Verbindung von Sprache und Bewegung entwickelt wurde.71 Dabei ging es nicht um das ›gute‹ Beatboxen, sondern um den Blick der anderen auf den Prozess des vokalen Austauschs zwischen beiden – ein szenischer Verweis auf die etymologische Herkunft von Absurdität: absurdus, einer Verbindung von ab-sonus, misstönend und surdus, taub, nicht verstehend.72 3. Dramaturgien der Differenz ermöglichen grundlegend andere Bezüge zwischen dem Als-Ob und der Wirklichkeit und eröffnen Räume der Re-Artikulation sozialer Verhältnisse auf der Ebene des Gesellschaftlichen. Nach Homi Bhabha eignen sich multikulturelle Gemeinschaften Differentialität nicht über Konfrontationen von Innen und Außen an, sondern sie begründen sich ausgehend von Differenzerfahrungen durch Strategien der Überlappung 69 | »Wo immer es um die Relevanz der Sprache geht, kommt Politik notwendigerweise ins Spiel, denn Menschen sind nur darum zur Politik begabte Wesen, weil sie mit Sprache begabte Wesen sind. […] Denn was immer Menschen tun, erkennen, erfahren oder wissen, wird sinnvoll nur in dem Maß, in dem darüber gesprochen werden kann.« Arendt, Vita activa, S. 11f. 70 | Rudolf Münz, Theatralität und Theater. Zur Historiographie von Theatralitätsgefügen, Berlin 1998, S. 69. 71 | Es handelt sich dabei um den Thikwa-Performer Felix Brüning und den Studenten der Angewandten Theaterwissenschaft Jan-Tage Kühling. 72 | Vgl. »›Woher nehmen wir das Recht, ein leidfreies Leben zu fordern?‹. Interview mit Angela Winkler und Gisela Höhne« in: Theater heute, Jahrbuch 2001, S. 154-155.
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und Deplatzierung.73 Bezogen auf die theaterpraktische Arbeit in heterogenen Umgebungen wird daher ein Begriff von Nachahmung notwendig, der von der Vielheit des lebendigen Organismus ausgeht, wie sie Georges Canguilhem formuliert: »Nachahmen heißt hier nicht kopieren – sondern den Sinn einer Produktion wiederzufinden suchen.« 74 Das Wiederfinden des Sinns erfolgte in Café Müller: Camu(s)flage zum Beispiel über die theatrale Rahmung, den Bezug zu Bauschs Café Müller. Dabei sind Re-Lektüre und Re-Vision als Dramaturgien des Heterogenen mit der historischen Begründbarkeit von Ausgrenzung und AndersSein assoziiert. Sowohl auf der Ebene des Sozialen und Wirklichen wie auch auf Ebene des Theaters beziehen sie sich gleichermaßen auf die theoretische Ebene wie die künstlerische Praxis.
Petra Bolte-Picker
73 | Vgl. Homi Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000. 74 | Georges Canguilhem, Das Normale und das Pathologische, Frankfurt a.M./Berlin/ Wien 1977, S. 29f.
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Mit dem Conceptual Integration Network, wie es die kognitiven Linguisten Gilles Fauconnier und Mark Turner in ihrem Buch The Way We Think: Conceptual Blending and the Mind’s Hidden Complexities1 umfassend dargelegt haben, lassen sich nicht nur alltägliche, sondern insbesondere ästhetische Wahrnehmungsprozesse als kategoriale und sozial differenzierende Verstehensprozesse rekonstruieren. So vollzieht sich im Blending, verstanden als »a basic mental operation in language, art, action, […] humor, mathematics, science, magic and ritual, and the simplest mental events in everyday life«2, der stets emergente und kreative Akt sinnstiftender Bedeutungsproduktion, den Fauconnier und Turner auf drei komplexitätsreduzierende und zugleich dynamisch interagierende, kognitive Operationen zurückführen. Der vorliegende Beitrag stellt einen ersten Versuch dar, die kognitionswissenschaftliche Blending-Theorie in die theaterwissenschaftliche Aufführungsanalyse zu integrieren.3 Anhand eines Aufführungsbeispiels – dem 2014 am Schauspielhaus Bochum wiederaufgenommenen Soloabend [ fi’lo:tas] (R: Roger Vontobel) – werde ich das theoretische Modell und die Basisoperationen des Blending exemplarisch veranschaulichen und den spezifischen Fall des Genderblending als Rezeptionsphänomen zwischen identitätsstiftenden und imaginativen Wahrnehmungsprozessen begründen. Der hier vorgestellte Ansatz verfolgt somit ein zweifaches Ziel: Erstens stellt er einen methodischen Versuch dar, mittels (professioneller) Kritiken und (nicht1 | Gilles Fauconnier/Mark Turner, The Way We Think. Conceptual Blending and the Mind’s Hidden Complexities, New York 2002. 2 | Ebd., S. 15. 3 | Im kognitionswissenschaftlich orientierten Sammelband von Bruce McConachie und F. Elizabeth Hart wird die Blending-Theorie im Rahmen der Einleitung genannt, doch in keinem der Beiträge angewandt; vgl. Bruce McConachie/F. Elisabeth Hart (Hg.), Performance and Cognition. Theatre studies and the cognitive turn, London/New York 2006.
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professioneller) Zuschauerkommentare die subjektiv erfahrbaren Wahrnehmungsprozesse als Teil einer kollektiven sozialen Praxis zu analysieren. Zweitens lässt sich mit ihm analytisch das komplexe Phänomen des Genderblending, so meine These, als Zusammenspiel von Praktiken der Besetzung, Darstellung und Wahrnehmung von Theater erfassen.4
»Wer bin ich?« – die Ausgangsfrage Im Mittelpunkt meiner Betrachtung steht die Wiederaufnahme der Inszenierung [ fi’lo:tas], die am 4. Januar 2014 ihre Premiere in den Kammerspielen des Schauspielhaus Bochum feierte und in der Spielzeit 2014/2015 sowie der darauf folgenden zum Repertoire des Stadttheaters gehörte. Nicht nur aufgrund ihres Status als ReInszenierung, sondern auch durch die spezifischen (Arbeits-)Bedingungen im lokalen Kontext des Schauspielhaus Bochum lässt sich annehmen, dass an ihre Aufführungen in verstärktem Maße (Zuschauer-)Erwartungen geknüpft sind, die im Folgenden offengelegt und exemplarisch für eine – differenzierungstheoretisch sowie rezeptionsästhetisch orientierte – Aufführungsanalyse genutzt werden sollen. Der in den Forschungsgegenstand einführenden Beschreibung der Anfangssequenz von [ fi’lo:tas] werden daher zwei die Wiederaufnahme rahmende und die Zuschauerwahrnehmung potentiell prägende Aspekte vorangestellt. Zum einen handelt es sich bei dieser Inszenierung um die erste, bereits 2002 und noch zu Studienzeiten an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg entstandene Zusammenarbeit des inzwischen in Bochum tätigen »Theater-Duos Vontobel/ Schulz«5, die aufgrund einer Einladung zu den Hamburger Lessingtagen 2014 – nach einer achtjährigen Spielpause – kurzfristig auch auf den Bochumer Spielplan gesetzt worden war.6 Im lokalen Umfeld seit der Spielzeit 2010/2011 bekannt, wurde das Team um Regisseur Roger Vontobel bereits mit einer bestimmten Inszenierungsästhetik und spezifischen theatralen Mitteln, etwa dem Einsatz von Live-Musik oder abstrakten Bühnenräumen,7 assoziiert. Zum anderen und eng 4 | Der hier vorgestellte Ansatz ist im Rahmen des theaterwissenschaftlichen und DFGgeförderten Forschungsprojektes Theater zwischen Reproduktion und Transgression körperbasierter Humandifferenzierungen entstanden, das Teil der in Mainz ansässigen, interdisziplinären DFG-Forschergruppe 1939 Un/doing Differences ist. Bei allen Mitarbeitenden, insbesondere bei Jonas Schönfeldt, bedanke ich mich herzlich für den inspirierenden Austausch im Vorfeld der Publikation. 5 | Tom Thelen, Wofür lohnt es sich zu kämpfen, in: www.derwesten.de/staedte/bochum/ wofuer-lohnt-es-sich-zu-kaempfen-id8821502.html (31.12.2013) vom 29.07.2016. 6 | Ebd. In Teilen werden diese Rahmenbedingungen auch auf der Webseite der Produktion kommuniziert, www.schauspielhausbochum.de/spielplan/filotas/ vom 13.05.2016. 7 | Neben einem relativ festen Stab an Schauspielerinnen und Schauspielern gehören zum Team um Roger Vontobel die Bühnenbildnerin Claudia Rohner, die Kostümbildnerin Ellen Hofmann und der Musiker Keith O’Brien.
(Gender-)Blending: Identität und Imagination in der Aufführung
mit der Profilbildung von Künstlerinnen und Künstlern verbunden, lässt die Besetzung des Protagonisten eine Rollenerwartung an den Schauspieler und ausgehend von diesem vermuten. Im vorliegenden Fall, und zwar der Verkörperung des gefangenen Königssohns Philotas durch die Schauspielerin Jana Schulz, scheint diese nicht nur der regionalen bzw. überregionalen Fachpresse für ihre (männlichen und expressiven) »Paraderollen« 8 bekannt zu sein. Wie aus einer vor den Vorstellungen durchgeführten Zuschauerbefragung hervorgeht,9 ist Jana Schulz auch dem lokalen Publikum eindrücklich in der verkleideten sowie echten Hosenrolle10 Viola/Cesario und Sebastian aus Vontobels Was ihr wollt-Inszenierung (Spielzeit 2011/2012) sowie in der Rolle der blutrünstigen Kriemhild in den Nibelungen (Spielzeit 2013/2014) unter derselben Regie präsent. Vor dieser Folie sehe ich im Studienprojekt [ fi’lo:tas] nicht allein den »Grundstein für [das] Prinzip von Suche«11, das die Zusammenarbeit des Theaterduos Vontobel/Schulz vereint und ihre langjährige Zusammenarbeit begründet. Es hat vielmehr den Startschuss gegeben für Schulz’ schauspielerische Karriere als Genderblender 12, als welche sie die kulturelle Differenz zwischen den Geschlechtern spielerisch zu veruneindeutigen und geschlechtsspezifische Rollenerwartungen zu subvertieren vermag. Im exemplarischen Fall von [ fi’lo:tas] wird die (geschlechtliche) Unbestimmtheit und In-Differenz von Schauspielerin und Figur nicht nur für die szenische, sondern grundständig dramaturgische Spannung genutzt. So verweist bereits 8 | Martin Krumbholz, »Liebesgefahr für ein Ehepaar«, in: Süddeutsche Zeitung vom 14.11.2014, S. 24. 9 | Die Zuschauerbefragung hat in der Spielzeit 2014/2015 vor insgesamt fünf Vorstellungen von [fi’lo:tas] im Foyer der Bochumer Kammerspiele stattgefunden. Mit etwa einem Drittel des Publikums sind offene Kurzinterviews geführt worden, die zur besseren Vergleichbarkeit mit jeweils zwei Einstiegsfragen (»Was wissen Sie bereits über den heutigen Abend? Und was erwarten Sie?«) eröffnet worden sind, an welche sich spontane Nachfragen angeschlossen haben. 10 | Die Begriffsunterscheidung zwischen verkleideter, echter sowie falscher Hosenrolle, als welche etwa die Rolle der Kriemhild oder auch diejenige der Hedda Gabler gelten kann, entstammt der umfassenden, dokumentierenden Arbeit Susanne de Pontes zur Geschichte der Hosenrolle. Vgl. Susanne de Ponte, Ein Bild von einem Mann – gespielt von einer Frau. Die wechselvolle Geschichte der Hosenrolle auf dem Theater, München 2013, S. 15-16. 11 | Thelen, »Wofür lohnt es sich zu kämpfen?« 12 | Der Begriff Genderblender rekurriert auf das soziale Phänomen Gender Blending, das der Soziologe Aaron H. Devor in einer gleichnamigen, ethnomethodologischen Untersuchung von 1989 umfassend dargelegt hat. Die Feldstudie zeigt, dass sich Gender Blending in der sozialen Interaktion unabhängig von der Geschlechtsidentität von Personen und ausschließlich abhängig von ihrer Darstellung, Wirkung und (Fremd-)Wahrnehmung vollzieht und sich folglich vor allem als ein Rezeptions- und Zuschreibungsphänomen darstellt. Vgl. Aaron H. Devor, Gender Blending. Confronting the Limits of Duality, Bloomington/Indianapolis 1989, S. viii.
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die Titeldarstellung in Lautschrift und die Distanzierung von Autor und Text mit dem Zusatz »nach Gotthold Ephraim Lessing«13 auf eine eigenwillige Neuinterpretation: In seiner Inszenierung verschränkt Vontobel den lessingschen Stoff über den nach Ruhm und Ehre strebenden, doch in Kriegsgefangenschaft geratenen Königssohn Philotas mit der realen, 2002 gegebenen Situation des »amerikanische[n] Taliban John Walker Lindh«14. Lindh ist Ende November 2001 inmitten des Afghanistankrieges von US-Militärs gefasst und wegen des Dienstes an der Waffe auf Seiten der Taliban zu 20 Jahren Haft verurteilt worden. Obgleich seither 14 Jahre vergangen sind, verdeutlicht der Fortbestand beziehungsweise die Neuformierung fundamentalistischer Netzwerke sowie die aktuell steigenden Zahlen von sogenannten Almanis, von deutschen, sich zum Islamischen Staat bekennenden Radikalen, auf erschreckende Weise die heutige Brisanz der Inszenierung. Im theatral gerahmten Kontext sucht sie nach den Rationalisierungen von religiös motivierter Kriegsgewalt und nach den Praktiken und Handlungsmustern einer Figur – wie im Programmheft zu lesen ist –, »die durch die eigentlich positiven Attribute des Liberalismus den Sinn-Inhalt der sie umgebenden Welt nicht mehr erkennt«15. Bereits beim Einlass herrscht eine düstere und beklemmende Atmosphäre, die durch einen abgedunkelten Zuschauer- und Bühnenraum sowie gedämpft vernehmbare E-Gitarren-Klänge hervorgerufen und durch ein auf eine quadratische Spiel- bzw. Sandfläche reduziertes Bühnenbild verstärkt wird. Ein Metallstuhl mit Leinenlehne und -sitzfläche bildet als einziges Requisit nicht nur das szenisch-räumliche Zentrum, sondern motivisch auch den Fokus einer den Raum nach hinten abschließenden Projektionsfläche. Am rechten Rand der Szene sitzt eine mit einem schwarzen Army-Pullover und einer gleichfarbigen Taliban-Hose bekleidete, zusammengekauerte Figur, die barfüßig und in Hockhaltung kontrolliert ausgeführte Linien und Muster mit einzelnen Fingern oder den ganzen Händen in den Sand(bühnen)boden zeichnet. Nach einigen Minuten dieser ersten, auf wenige Finger-, Hand- und Blickbewegungen konzentrierten Szene durchbricht ein lauter, störanfälliger Funk das Schweigen auf der Bühne. Durch den Redeinhalt der nur in Satzfetzen verständlichen (Männer-)Stimme, die als autoritatives Organ die Situation durchbricht und mit Blick auf das Arrangement die Assoziation einer Folterzelle wachruft, wird die isolierte Figur als Kriegsgefangener Lindh personifiziert, indem sie chronologisch dessen Lebensweg als junger Islamkonvertit skizziert. Der Funk bricht vor dem Bericht seiner Festnahme ab. Akustisch dominiert nun die E-Gitarre mit einem eindringlichen Motiv die Szene, in welcher die Schauspielerin einen barfüßigen, gleichsam seines festen 13 | Siehe www.schauspielhausbochum.de/spielplan/filotas/ vom 13.05.2016. 14 | www.spiegel.de/politik/ausland/john-walker-lindh-us-taliban-wollte-fliehen-undblieb-aus-angst-a-187595.html (17.03.2002) vom 29.07.2016. 15 | Programmheft zu [fi’lo:tas], Redaktion: Dramaturgie des Schauspielhaus Bochum 2014.
(Gender-)Blending: Identität und Imagination in der Aufführung
Standes beraubten Soldaten verkörpert. Bewegten sich Finger, Hände und Augen zu Beginn noch kontrolliert und konzentriert, verlieren sie unter der Stimmgewalt des Gesagten und Gehörten zunehmend ihren Halt. Hektisch, fast schon panisch suchen die Hände im Sand nach einem gewohnten Muster. Magnetisch scheint der das räumliche und symbolische Zentrum markierende und hell ausgeleuchtete Stuhl die nun verzweifelten Blicke auf sich zu ziehen, doch kann er, imaginiert als Objekt des Begehrens und zugleich als Folterinstrument, in dieser Situation noch nicht als Hilfsmittel dienen. Erst im weiteren Verlauf der Aufführung wird John Walker Lindh alias Philotas ihn zu einer selbstmörderischen Waffe umfunktionieren. Desorientiert und ziellos erscheinen die Bewegungen und Blicke der Figur am Ende dieser Anfangssequenz. Sie werden im Einklang mit den Gitarrenklängen langsamer und phlegmatischer, bis der gesamte Körper zu Boden fällt – nur um daraufhin erneut hochzuschrecken und mit den Worten »Was? Wer bin ich?« erstmals seine auffallend hell klingende Stimme zu erheben. Die Frage nach der Identität der Figur wird in diesem Moment der Aufführung explizit an das Publikum gerichtet und verbleibt im Horizont dieser überdeterminierten und beide Seiten potentiell überfordernden (Aufführungs-)Situation. In den Fragen »Was? Wer bin ich?« scheint die Unbestimmtheit der fiktiven Figur zwischen arabisch und westlich, muslimisch und christlich codierten Zeichen mit der Uneindeutigkeit der männlich kostümierten, geschlechtsindifferent maskierten und stimmlich als weiblich codierten Schauspielerin zu verschmelzen. Es entsteht, so meine These, ein rezeptionsästhetischer (Gender-)Blend, dessen theatrale und soziale Bedingungen sowie Bedeutungen mit Hilfe des Conceptual Integration Network nachfolgend rekonstruiert werden sollen.
Blending – ein kognitionswissenschaftlicher Analyseansatz The Way We Think lautet der analytische Ausgangspunkt der Kognitionslinguisten Gilles Fauconnier und Marc Turner, dem sie in ihrer gleichlautenden Monografie mit einem theoretischen Basismodell begegnen. Blending zeigt sich darin als diejenige emergente, meist automatisiert ablaufende Kognitionsleistung, die sich exemplarisch beim Deuten von Metaphern, grundständig aber beim Verstehen alltäglicher Sinnzusammenhänge vollzieht. Als allgemein menschliche Fähigkeit basiert sie auf drei kognitiven Mechanismen, die das Zentrum der Blending-Theorie bilden: identity, integration und imagination.16 Wie die Autoren skizzieren, kann ihre Theorie nicht nur für alltägliche und diskursive, sondern auch für ästhetisch orientierte und performative, meist mehrfach codierte Bedeutungsprozesse fruchtbar gemacht werden. Diese lassen sich schematisch mit Hilfe des von Fauconnier und Turner konzipierten Conceptual Integration Network rekonstruieren, das aus wenigen Basiskomponenten – so-
16 | Vgl. Fauconnier/Turner, The Way We Think, S. 6.
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genannten mentalen Räumen –, aber aus vielfältigen Verknüpfungen zwischen diesen besteht.17
Abb. 1: »Conceptual Integration Networks« nach Gilles Fauconnier und Mark Turner, »Conceptual Integration Networks«, in: Cognitive Science 22 (1998), S. 133-187, hier S. 143 Unter dem Begriff der Mental Spaces verstehen sie einzelne Auffassungsräume (im Modell dargestellt in Kreisen), die in Form von zwei Input Spaces, einem Generic sowie dem Blended Space der einfachsten Version eines solchen Netzwerkes zugrunde liegen.18 Die beiden Input Spaces liefern dabei gewissermaßen das inhaltliche Ausgangsmaterial, d.h. bestimmten Rahmen zugeordnete Wissenselemente, die über Ähnlichkeits- und Differenzrelationen – spaceübergreifend – in Bezug zueinander gesetzt werden. Im Fall einer Entsprechung von zwei oder mehreren Wahrnehmungsaspekten findet unbewusst ein Cross-Space Mapping statt, durch welches gemeinsame Bezugspunkte in einen dritten mentalen Raum, den Generic Space, projiziert werden. Gleichzeitig bleiben die einzelnen Informationspunkte für eine potentielle weitere Datenverarbeitung innerhalb der beiden Input Spaces gespeichert. Die daraus resultierende Koexistenz von simultanen, kongruenten sowie inkongruenten Informationen wird zur theoretischen Grundvoraussetzung von Blends. Sie entstehen als emergentes und eigenständiges (Sinn-)Produkt beim Blending, das durch Selective Projection einzelne, 17 | Vgl. Gilles Fauconnier/Mark Turner, »Conceptual Integration Networks«, in: Cognitive Science 22 (1998), S. 133-187, hier S. 143. 18 | Die Zusammenfassung der Grundelemente und Basisoperationen beim Blending rekurriert auf Fauconnier/Turner, The Way We Think, S. 39-50.
(Gender-)Blending: Identität und Imagination in der Aufführung
in den beiden Input Spaces gespeicherte Wissenselemente aufruft, neue Aspekte assoziiert und neben der im Generic Space bereits gewonnenen Bedeutungseinheit in den vierten und dadurch neu strukturierten Blended Space integriert. In diesem entsteht ein Mehr an Bedeutung, das über die Summe seiner Einzelteile hinausgeht,19 indem sowohl entsprechende als auch differente Informationen gesammelt und dadurch vollkommen neue Verknüpfungen hergestellt werden: »[M]eaning is not constructed in any single space, but resides in the entire array and its connections.«20 Als dynamisch und unvorhersehbar beschreiben Fauconnier und Turner den Prozess der Bedeutungskonstitution, dessen Inferenzbildung auf drei zentralen kognitiven Operationen beruht (obwohl die Autoren dies selbst an keiner Stelle erwähnen, entsprechen diese den ihrer Theorie zugrundeliegenden Grundbegriffen der Identität, Integration und Imagination): Als erste Basisoperation meint Composition die Fusion von Bedeutungseinheiten aus dem Generic Space mit in den Blended Space neu integrierten Teilaspekten; im damit meist einhergehenden zweiten Prozess, genannt Completion, findet eine unbewusste Aktivierung von »background knowledge«21 statt, durch welche Hintergrundinformationen und/oder kollektives Wissen in den Blended Space integriert werden. Darüber hinaus führt Elaboration als dritte mentale Grundfähigkeit dazu, dass das aus unterschiedlichsten Elementen bereits zusammengesetzte Bild, vor dem Hintergrund von Erfahrungen und Erwartungen, kognitiv weiterverarbeitet wird. Als »running of the blend«22 beschreiben Fauconnier und Turner diese letzte, kognitive und kreative Operation der Simulation von Situationen, die prinzipiell offen ist für neue Informationen und Assoziationen. So vermag jeder neu integrierte Aspekt nicht nur die (temporär) etablierte Bedeutung in eine andere Richtung zu lenken, sondern zudem rückwirkend die Sicht auf vorausgehende Sinneinheiten und ganze Input Spaces nachhaltig zu verändern (Backward Projection). In dieser
19 | In der Annahme der Übersummativität von Wahrnehmung und Bedeutung zeigt sich die Nähe der Blending-Theorie zur Gestalttheorie, wie sie bereits Ende des 19. Jahrhunderts ausgehend von Christian von Ehrenfels’ einschlägigem Aufsatz »Über ›Gestaltqualitäten‹« entwickelt worden ist, vgl. Christian von Ehrenfels, »Über ›Gestaltqualitäten‹«, in: Ferdinand Weinhandl (Hg.), Gestalthaftes Sehen: Ergebnisse und Aufgaben der Morphologie; zum hundertjährigen Geburtstag von Christian von Ehrenfels, Darmstadt 1960 [1890], S. 11-43. Fauconnier und Turner gehen insofern über die Gestaltidee hinaus, als dass sie nach den kognitiven Bedingungen von Blends mithilfe der von ihnen entwickelten Basisoperationen fragen und die Emergenz und Dynamik dieses Prozesses nicht nur in den »Gestaltqualitäten«, sondern grundständig in der Imaginationskraft der Wahrnehmenden begründet sehen. 20 | Fauconnier/Turner, The Way We Think, S. 158. 21 | Ebd., S. 48. 22 | Ebd., S. 44.
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»open-ended nature of completion and elaboration«23 erkennen Fauconnier und Turner das eigentlich kreative Potential von Blending als einen fremd- und selbststimulierten Wahrnehmungs- und Verstehensprozess.
(Gender-)Blending im Fallbeispiel [fi’lo:tas] Charakteristisch für theatrale Situationen ist nun gerade das Aufeinandertreffen von dargestellten respektive inszenierten Gestalten (Figuren, Situationen, Atmosphären) mit einem wahrnehmenden, oftmals seh- und theatererfahrenen Publikum. In diesem Rahmen kann Blending einerseits als Voraussetzung von theatraler Zeichenkonstitution und Grundbedingung von ästhetischer Erfahrung, andererseits als ein bewusst zu produzierendes und rezipierendes Phänomen betrachtet werden.24 Meine Übertragung des Modells für die Aufführungsanalyse – mit dem Fokus auf die Hauptfigur und Solodarstellerin in Vontobels [ fi’lo:tas]-Inszenierung – sieht, wie im Basisdiagramm Fauconniers und Turners vorgeschlagen, eine schematische Setzung von zwei Input Spaces vor. Der erste Auffassungsraum erfasst allgemeine Informationen die Schauspielerin Jana Schulz betreffend. In einen zweiten Auffassungsraum werden spezifische Elemente der Darstellungs- und Inszenierungsebene projiziert, d.h. exemplarisch die während der anfangs beschriebenen Sequenz der Aufführung semiotisch und/oder phänomenologisch wahrnehmbaren Figurenaspekte. Informationen hinsichtlich der geschlechtlichen, ethnischen und altersmäßigen Zugehörigkeit der Schauspielerin werden bereits mittels des (im Programm zu lesenden) Namens oder des (auf der Webseite oder der Fotogalerie des Schauspielhauses zu sehenden) Porträtfotos stimuliert. Input Space 1 beinhaltet folglich Kategorisierungen wie weiblich, weiß, jung, die je nach Vorwissen der Zuschauenden um vielfältige andere Aspekte bereichert werden können. So ist Jana Schulz, wie aus der bereits zitierten Zuschauerbefragung hervorgeht, nicht nur im lokalen Kontext bekannt, sondern wird seitens des Publikums auch übereinstimmend als androgyn (und damit einhergehend besonders wandlungsfähig) wahrgenommen. Input Space 2 beinhaltet Informationen in Bezug auf die Figur, die einerseits durch die Dramaturgie (die Verschränkung der lessingschen Figur in ihrem (vor-)christlichen Kontext mit der Situation der realen Person John Walker Lindh alias Suleyman al-Faris), andererseits durch die Darstellung (die ambivalente Kostümierung zwischen arabischen und amerika23 | Ebd., S. 49. 24 | Auch Marcus Hartner vertritt aus einer literaturwissenschaftlichen Perspektive die These, dass in bestimmten Darstellungs- und Rezeptionssituationen im Kontext von Literatur und Theater Blending als Inszenierungsstrategie eingesetzt werden kann, deren kreatives Potential durch eine erfahrene Leser- bzw. Zuschauerschaft verstärkt werden kann. Vgl. Marcus Hartner, Perspektivische Interaktion im Roman. Kognition, Rezeption, Interpretation, Berlin/New York 2012, S. 190-192.
(Gender-)Blending: Identität und Imagination in der Aufführung
nischen bzw. muslimischen und christlichen Zeichen oder die atmosphärische Gestaltung zwischen Gefangennahme und Heilsversprechen) bereitgestellt werden. Entsprechend der Blending-Theorie Fauconniers und Turners werden im Prozess der Bedeutungskonstitution zwischen den zwei analytisch getrennt dargestellten Input Spaces nun unbewusst Verbindungslinien gezogen. Im Fall von [ fi’lo:tas] scheint das Cross-Space Mapping dabei auf einer abstrahierten Ebene stattzufinden. So wird die beobachtete Figur in den meisten Rezensionen auffallend neutral als »Person«25 oder »Mensch«26 kategorisiert und, wenn überhaupt nach Alter, dann als »ein[ ] junge[r] Mensch[ ]«27 differenziert. Das Mensch- und Jungsein wird folglich übereinstimmend in den Generic Space projiziert. Besonders letztere, nämlich die Zuschreibung von Alter, wird dabei von Seiten der Kritik mit Begriffen wie »jugendliche Radikalität«28 bedeutend gemacht, während die in der Inszenierung ebenfalls aufgerufenen, kulturellen Unterscheidungen nach Geschlecht, Nation, Ethnizität oder Religion nur mehr im Sinnhorizont der Deutung verbleiben.29 Erst die (Ausgangs-)Frage »Wer bin ich?« löst in der Zuschauerwahrnehmung einen neu strukturierten Blend aus: Neben der Irritation durch die hell klingende Stimme ist es der appellative Charakter der Frage, der Vorwissen bewusst stimuliert und die Kategorie Geschlecht aktualisiert und fokussiert. Die Schauspielerin selbst rückt in diesem spannungsgeladenen Moment in den Vordergrund der Wahrnehmung, etwa als eine Schauspielerin, die »schon oft Männerrollen gespielt [hat]«30, wie Stefan Keim zu Beginn seiner Theaterkritik betont. Was das für die Wahrnehmung von Schauspielerin und Figur bedeuten kann, erklärt sich in seiner weiteren Darstellungsbeschreibung. Jana Schulz sei »eine kampfsport25 | Detlev Baur, »Feuerwerk der Irrungen«, in: www.die-deutsche-buehne.de/Kritiken/ Schauspiel/Gotthold%20Ephraim%20Lessing%3A%20%5Bfi%27lo%3Atas%5D (03.01. 2014) vom 29.07.2016. 26 | Rolf Pfeiffer, »[FI’LO:TAS] leidet am Bochumer Schauspielhaus«, in: www.revierpassa gen.de/22637/filotas-leidet-im-bochumer-schauspielhaus/20140108_1151 (08.01.2014) vom 29.07.2016. 27 | Stefan Keim, »Superman und Taliban«, in: www.deutschlandradiokultur.de/theatersuperman-und-taliban.1013.de.html?dram:article_id=273778 (04.01.2014) vom 29.07. 2016. 28 | Pfeiffer, [FI’LO:TAS] leidet am Bochumer Schauspielhaus. 29 | Diese Relativierung von sozialen Differenzen erklärt das kultursoziologische Konzept des Un/doing Differences mit der zweifachen, auf Konkurrenz und Temporalität gründenden »Kontingenz sozialer Zugehörigkeiten«: »Kontingent sind diese nicht nur, weil sie sozial hergestellt und aufgebaut, sondern auch, weil sie gebraucht, übergangen und abgebaut werden können.« Stefan Hirschauer, »Un/doing Differences. Die Kontingenz sozialer Zugehörigkeiten«, in: Zeitschrift für Soziologie 3 (2014), S. 170-191, hier S. 170. 30 | Keim, »Superman und Taliban«.
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gestählte Schauspielerin, explosiv, wild, mit der körperlichen Ausstrahlung eines gefangenen Kriegers«31. Auch die Herner Sonntagsnachrichten greifen auf ähnliche Genderschemata zurück, wenn sie ihre Rezension mit der Überschrift »Urgewaltige Jana«32 betiteln. Neben der kategorisierenden Macht kognitiver Schemata zeigt sich hierin auch die reaktive Kraft theatral gerahmter Blends. Denn den Kritiken nach zu urteilen, geht das auf der Bühne dargestellte Spiel imaginativ in den Körper der Schauspielerin über. Im Blended Space verflüssigt sich die Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit und thematisiert Theater in seiner wirklichkeitskonstituierenden Funktion. Dass sich die Schauspielerin darüber hinaus selbst, wie sie in Interviews mehrfach geäußert hat, »zwischen den Geschlechtern«33 lokalisiert, kann an dieser Stelle nur als weiteres Element angefügt werden: »running of the blend«34 scheint Wirklichkeit zu werden. Als innovativer Ansatz der Aufführungs- und speziell der Figurenanalyse vermag die Blending-Theorie zwei, in den letzten Jahren vermehrt diskutierte Probleme innerhalb der theaterwissenschaftlichen Forschung in ihr dynamisches Modell zu integrieren: Erstens sensibilisiert sie für kategoriale Wahrnehmungen und für eine differenzierungstheoretische Perspektive, die theatrale Wahrnehmungsprozesse als kategorisierende und sozial differenzierende Zuschreibungsprozesse problematisiert. Zweitens ermöglicht das Modell nicht nur die Integration schriftlicher und mündlicher Zuschauerreaktionen, sondern macht Hintergrundinformationen und Zuschauererwartungen zum forschungsrelevanten Thema der Aufführungsanalyse. Genderblending als Darstellungs- und Rezeptionsphänomen ist vor diesem Hintergrund weit mehr als die Summe seiner Einzelteile. Es ist Projektion und Rückprojektion von kognitiven (Gender-) Schemata auf die Körper der Darstellenden – mit einer kurzfristigen Wirkung auf das Publikum, aber potentiell langfristigen Nachwirkungen für einzelne Schauspielerinnen und Schauspieler.
31 | Ebd. 32 | Pitt Herrmann, »Urgewaltige Jana«, in: Herner Sonntagsnachrichten vom 12.01.2014, S. 17. 33 | Juliane Rusche/Falk Schreiber, »Private Rebellin«, in: www.umagazine.de/artikel. php?ID=328399 vom 13.05.2016. 34 | Fauconnier/Turner, The Way We Think, S. 44.
Fünf Thesen zum Urteilen des Zuschauers Benjamin Wihstutz Vom Urteilen des Zuschauers zu sprechen, mag angesichts jüngerer Entwicklungen der deutschsprachigen Theaterwissenschaft überraschen. Denn im Zuge einer Kritik des Aufführungsbegriffs hat auch die Kategorie des Zuschauers1 innerhalb des Faches an epistemischer Relevanz eingebüßt.2 War in den 1990er und 2000er Jahren in einschlägigen Publikationen von einer »Entdeckung des Zuschauers«3, von den Wahrnehmungen und Emotionen des Publikums4 oder vom »Zuschauer als Mitspieler«5 die Rede, haben rezeptionsästhetische und thea1 | Dieser Artikel verwendet ausschließlich die maskuline Form ›Zuschauer‹, was selbstverständlich nicht auf dessen Geschlecht zu beziehen ist. Dies ist einerseits Gründen der Lesbarkeit geschuldet, andererseits, und das halte ich für relevanter, weist diese Schreibweise darauf hin, dass die Diskursgeschichte des Zuschauers selbst männlich geprägt ist. Eine feministische Kritik bzw. Untersuchung dieses männlich geprägten Diskurses wäre wünschenswert und notwendig, kann jedoch in diesem kurzen Text nicht geleistet werden. 2 | So spricht etwa André Eiermann vom »Postspektakulären« (Postspektakuläres Theaters. Die Alterität der Aufführung und die Entgrenzung der Künste, Bielefeld 2009) oder Nikolaus Müller-Schöll von einer »postperformativen Wende« (»Die postperformative Wende. Die Arbeiten des Live-Art-Künstlers Tino Sehgal und der Einzug der Performance-Kunst ins Museum«, in: Theater heute 12 (2012), S. 42f.). Kai van Eikels fordert sogar polemisch die vollständige Abschaffung des Publikums (»Theater raus!«, in: Zeitschrift für Kulturwissenschaft 2 (2013), S. 117f. 3 | Vgl. Erika Fischer-Lichte, Die Entdeckung des Zuschauers: Paradigmenwechsel auf dem Theater des 20. Jahrhunderts, Tübingen 1997. 4 | Vgl. u.a. Rainer Ruppert, Labor der Seele und der Emotionen. Funktionen des Theaters im 18. und frühen 19.Jahrhundert, Berlin 1995; Erika Fischer-Lichte et al. (Hg.), Wege der Wahrnehmung. Authentizität, Reflexivität und Aufmerksamkeit im zeitgenössischen Theater, Berlin 2006; Doris Kolesch, Theater der Emotionen. Ästhetik und Politik zur Zeit Ludwigs XIV., Frankfurt a.M./New York 2006. 5 | Vgl. Jan Deck/Angelika Sieburg, »Zur Einleitung: Rollen des Zuschauers im postdramatischen Theater«, in: Dies. (Hg.), Paradoxien des Zuschauens: Die Rolle des Publikums im zeitgenössischen Theater, Bielefeld 2008, S. 9-20, hier S. 11.
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terhistoriographische Studien zum Zuschauer zuletzt merklich abgenommen. Dieser Shift von der Rezeption zur Produktion lässt sich einerseits auf eine Erweiterung von Forschungsperspektiven zurückführen – auf die Untersuchung von Probenprozessen etwa, von Feldern des Applied Theatre oder von institutionellen und ökonomischen Rahmenbedingungen darstellender Kunst. Andererseits ist er, über den Fachdiskurs hinaus, einflussreichen Strömungen zeitgenössischer Philosophie geschuldet, welche die Subjekt- und Anthropozentrierung abendländischen Denkens grundsätzlich infrage stellen.6 Entgegen dieser Entwicklung, welcher die Theaterwissenschaft zweifellos einige wichtige Impulse zu verdanken hat, möchte ich mit dem folgenden Beitrag dafür plädieren, den Zuschauer erneut in den Fokus zu rücken – und zwar in Bezug auf das Urteilen, sei es ästhetisches, politisches oder moralisches Urteilen. So umfangreich das Theaterpublikum in den vergangenen zwei Jahrzehnten hinsichtlich seiner Mitwirkung an Aufführungen untersucht wurde, so wenig wurde über seine Urteilspraxis geschrieben. Dies könnte und sollte sich ändern, lässt sich doch ein aktuell gesteigertes Interesse an Urteilsfragen im Gegenwartstheater konstatieren, welches sowohl das juridische und politische als auch das ästhetische Urteilen betrifft. So fällt insbesondere die häufige Auseinandersetzung mit Gerichtsprozessen auf, die sich etwa in der Auswahl der Berliner Autorentheatertage 2015 widerspiegelt, zu denen gleich fünf Stücke über den Münchner NSU-Prozess eingeladen wurden. Auch der Regisseur Milo Rau befasst sich seit einigen Jahren mit Gerichtsprozessen, wobei er sowohl Reenactments wie Die letzten Tage der Ceaușescus (2009) oder Die Moskauer Prozesse (2013) als auch fingierte bzw. potenziell zukünftige Tribunale wie Die Zürcher Prozesse (2013) oder das Kongo-Tribunal (2015) inszeniert, an denen meist professionelle Richter und eine Jury von Geschworenen mitwirken.7 Auch politische Dimensionen ästhetischen Urteilens werden in jüngeren Arbeiten thematisiert. Wenn etwa bei Jérôme Bel ungeübte Laien klassische Figuren des Balletts wie eine Pirouette oder einen grand jeté vorführen (Gala, 2015) oder geistig behinderte Schauspieler ein selbst entwickeltes Tanz-Solo präsentieren (Disabled Theater, 2011), werden Urteilskategorien wie Gelingen, Virtuosität 6 | So haben u.a. die Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour, der spekulative Realismus um Quentin Meillassoux und Ray Brassier und die wiederentdeckte objekt-orientierte Philosophie von Alfred North Whitehead auch neue Präsentations- und Darstellungsformen in den visual und performing arts hervorgebracht, die den Menschen in den Hintergrund stellen. Als Beispiele ließen sich etwa die Konzeption der dOCUMENTA (13) und das Anthropozän-Projekt am Berliner Haus der Kulturen der Welt erwähnen, einige der künstlerischen Arbeiten Pierre Huyghes, die mit Tieren und Pflanzen experimentieren, die Naturund Wetter-Choreographien von Mette Ingvartsen oder diverse Formen des Roboter- und Objekttheaters. 7 | Vgl. den Band Rolf Bossart (Hg.), Die Enthüllung des Realen: Milo Rau und das International Institute of Political Murder, Berlin 2013.
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oder Talent zur Disposition gestellt. Dem Zuschauer drängt sich dabei die Frage auf, inwiefern Darbietungen auf dem Theater einem Paradigma des Könnens verpflichtet sind oder nicht vielmehr gerade dann politisch sind, wenn sie sich wie Bels Choreographien den Prinzipien einer Leistungsgesellschaft entziehen.8 In einer Zeit, in der die Geschmacksbildung vieler Menschen von Casting Shows und dem Zählen von Likes geprägt ist, scheint eine Auseinandersetzung mit den Kriterien ästhetischen Urteilens auch über das Theater hinaus von politischer Relevanz. Der vorliegende Beitrag stellt anhand von fünf Thesen schlaglichtartig einige vorläufige Überlegungen zum Urteilen des Zuschauers an. Dabei geben die genannten Beispiele aus dem Gegenwartstheater einen ersten Anhaltspunkt für die Relevanz des Urteilens in den performativen Künsten und verweisen bereits auf ein Zusammenspiel ästhetischer und politischer Aspekte. Unter historischen Gesichtspunkten rückt insbesondere die Sattelzeit um 1800 in den Blick, da hier, wie Hannah Arendt in ihrer Kant-Vorlesung über das Urteilen gezeigt hat,9 das Fundament eines neuen Verständnisses von Urteilsprozessen gelegt wird, welche sowohl den ›Zuschauer‹ des politischen Weltgeschehens als auch das ästhetische Urteilen in der Kunst und im Theater betreffen. Die Ansprüche ästhetischen Urteilens der Theaterreformer und der diesbezügliche Widerstand des lärmenden Parterres legen nahe, das Theater als modellhaften Ort kollidierender Urteilspraxen zu begreifen, der über das Parterre und den Saal hinaus von Belang ist.
Erste These Das Urteilen des Zuschauers ist weder ein Vermögen noch eine Gegebenheit, sondern die Bezeichnung eines Problems. Dieses ist das Problem der Distanznahme. Wer urteilt, so zeigt Hannah Arendt, handelt nicht, sondern setzt sich in Distanz zum Geschehen.10 Urteilen heißt zunächst einmal, eine unparteiliche, interesselose Haltung zum Objekt einzunehmen. Dies betrifft das ästhetische Urteil ebenso wie das politische über das Weltgeschehen. So habe Kant als unbeteiligter Zuschauer die Französische Revolution als großes historisches Ereignis betrachtet, obwohl er weder bei den Pariser Ereignissen zugegen war noch das revolutionäre Handeln aus ethisch-moralischer Sicht befürwortete, da es den Maximen der praktischen Vernunft widerspricht. Wäre Kant in die Ereignisse in Paris involviert gewesen, hätte er nicht darüber urteilen können. Nur als Zuschauer könne der 8 | Vgl. dazu Sandra Umathum/Benjamin Wihstutz (Hg.), Disabled Theater, Zürich 2015, insb. den Beitrag »Actors, nontheless« von Sandra Umathum, ebd., S. 99-112. 9 | Hannah Arendt, Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie, hg. v. Ronald Beiner, München 1985; im Original: Lectures on Kant’s Political Philosophy, Chicago, IL 1982. 10 | Arendt, Das Urteilen, S. 92.
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Mensch jenen interesselosen Blick auf die Geschichte, statt nur auf einzelne Handlungen und Erlebnisse richten. »Der Vorteil, den der Zuschauer hat,« so Arendt, »ist, daß er das Spiel als ein Ganzes sieht, während jeder Akteur nur seine Rolle kennt oder, wenn er aus der Perspektive des Handelns urteilen soll, nur den Teil des Ganzen, der ihn betrifft. Der Akteur ist per definitionem parteilich.«11 Und an anderer Stelle ergänzt sie: »Also ist der Rückzug aus der direkten Beteiligung auf einem Standpunkt außerhalb des Spiels eine conditio sine qua non allen Urteils.«12 Folgt man dieser arendtschen Interpretation, so besteht das Bemerkenswerte an Kants politischer Philosophie darin, dass er ausgerechnet dem Urteil des passiven Zuschauers eine zentrale politische Funktion hinsichtlich der Herstellung von Öffentlichkeit und dem Fortschritt der Menschheit zuweist. Entgegen etwa der Spektakelfeindlichkeit Rousseaus, welcher im Brief an d’Alembert über das Schauspiel die demokratische Gemeinschaft an ein kollektives rituelles Handeln knüpft und damit die Abschaffung des Theaters, vor allem aber auch die des Publikums propagiert,13 ist es in Arendts Lesart das sich vom Handeln emanzipierte, distanzierte Urteil des Zuschauers, welches in Kants Zum ewigen Frieden und in der Kritik der Urteilskraft die Idee einer demokratischen Weltgemeinschaft zum Ausdruck bringt. Während für das moralische Handeln die öffentliche Sphäre irrelevant ist, eint ästhetische und politische Urteile ein öffentlichkeits- und gemeinschaftsstiftendes Moment, das heißt, dass sie sich immer zugleich an andere Zuschauer und deren Urteile richten. Dreht man nun aber die Perspektive Arendts um und richtet den Blick von der Weltgeschichte zurück auf den Zuschauer im Theater, so wird deutlich, dass Parteilosigkeit und Distanznahme gerade keine Gegebenheiten sind, sondern schon deshalb ein Problem darstellen, weil sich der Zuschauer nicht wie Kant in Königsberg gänzlich außerhalb des zu beurteilenden Aufführungsgeschehens befindet, sondern sich selbst in seinen Reaktionen als Teil des anwesenden Publikums und damit immer auch als Teilnehmer der Aufführung erfährt.14 Der urteilende Theaterzuschauer muss daher mittels Einbildungskraft einen Abstand 11 | Ebd., S. 107. 12 | Ebd., S. 87. 13 | Zu Rousseaus Spektakelfeindlichkeit siehe Juliane Rebentisch, Die Kunst der Freiheit. Zur Dialektik demokratischer Existenz, Berlin 2012, S. 295-299 sowie Stefanie Diekmann/Gabriele Brandstetter/Christopher Wild (Hg.), Theaterfeindlichkeit, München 2011. 14 | Dies hat insbesondere Erika Fischer-Lichte mit ihrem Begriff der Medialität bzw. der »leiblichen Ko-Präsenz von Zuschauer und Akteur« mehrfach hervorgehoben. Vgl. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004, S. 47. Gerade diese Betonung leiblicher Ko-Präsenz hat indes besonders nachhaltige Kritik am Aufführungsbegriff Fischer-Lichtes hervorgerufen. So spricht etwa Ulf Otto zurecht vom »antimedialen Vorurteil« der Theaterwissenschaft, das davon ausgehe, dass Theater »außerhalb der hegemonialen Medienkultur« stehe (Ulf Otto, Internetauftritte: eine Theatergeschichte der neuen Medien, Bielefeld 2013, S. 54).
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zum szenischen Geschehen herstellen und seine Anwesenheit ein Stück weit vergessen. Solange er von der Aufführung direkt affiziert ist, kann er nicht darüber urteilen.15 Vom Urteilen des Zuschauers zu sprechen heißt mithin, von einer ästhetischen Distanz zu sprechen, die immer erst hergestellt werden muss.
Zweite These Die ästhetische Distanznahme des urteilenden Zuschauers setzt eine Disziplinierung voraus, die sich im deutschsprachigen Theater um 1800 durchzusetzen beginnt. Der urteilende Zuschauer ist ein ruhiggestellter Zuschauer. Liest man Rezensionen und Aufführungsberichte von Zeitgenossen Kants aus dem späten 18. Jahrhundert – beispielsweise die Schilderungen Ifflands vom kollektiven Rausch weinender und jauchzender Zuschauer in seiner Autobiographie Meine theatralische Lauf bahn oder die satirische Darstellung des pochenden und pfeifenden Publikums in Ludwig Tiecks Der gestiefelte Kater –, so wird deutlich, dass in den europäischen Theatern zu jener Zeit von einem interesselosen Wohlgefallen oder einer Haltung ästhetischer Kontemplation im Publikum keine Rede sein kann. Vielmehr fungiert das Parterre bis ins 19. Jahrhundert hinein für die Theaterbesucherinnen und -besucher als sozialer Ort, an dem der bürgerliche Geschmack beim kollektiven Richten ausgehandelt und artikuliert wird. Bereits 1775 entwirft Heinrich August Otto Reichard im neu herausgegebenen Gothaer Theaterkalender mit seinem Versuch über das Parterre einen »Codex der Rechte des Parterre«16, welcher sich auf die öffentliche Beurteilung von Stück und Schauspiel bezieht. Zu den Rechten des Parterres gehören etwa das Herausrufen zum Verbeugen, aber auch das Unterbrechen oder sogar Erzwingen eines Abbruchs der Vorstellung. Ausdrücklich unterbinden möchte Reichard hingegen das übliche Pfeifen und Pochen, lieber solle man doch »sein Missfallen an dem Spiele durch tiefes Stillschweigen zu verstehen geben«.17 Denn, so Reichard weiter, wie kann man […] von dem Schauspieler urtheilen, wenn durch das Geräusch der Geist des Stücks verscheucht, wenn man verhindert wird, sich ganz in die Lage der handelnden Personen zu setzen; wenn das Auge nur sieht, was das Ohr nicht gehöret und der innere Sinn nicht empfunden hat? In der That, wir würden sehr mißtrauisch auf das Urtheil eines Richters seyn, der mitten unter der Menge des zudringenden lermenden Volcks, die Anklage, Schutzreden und Beweise der streitenden Partheyen angehöret hätte.18 15 | Vgl. Christoph Menke, Die Kraft der Kunst, Berlin 2013, S. 60. 16 | Heinrich August Otto Reichard, »Versuch über das Parterre«, anonym veröffentlicht, in: Theater-Kalender auf das Jahr 1775, Gotha 1775, S. 47-63, hier S. 63. 17 | Ebd., S. 56. 18 | Ebd., S. 55.
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Statt um eine Gerichtsbarkeit der Bühne, von der Schiller nur wenige Jahre später in Mannheim sprechen wird,19 geht es hier offenbar um eine Gerichtsbarkeit des Parterres. Nicht die unmittelbaren Affekte, sondern der »innere Sinn« bzw. der Gemeinsinn ist es, der beim Zuschauen ausgebildet werden soll. Für diese Art ästhetischer Bildung ist Ruhe und Ordnung im Schauspielhaus geboten. Besonders deutlich wird das Bestreben ästhetischer Erziehung und Disziplinierung am Weimarer Hoftheater, wo Goethe und Schiller ihre experimentelle Bühnenästhetik, etwa die Rückkehr zum Versmaß oder den Einsatz von Masken und Chor dazu nutzen, den Zuschauern eine Haltung ästhetischer Kontemplation näherzubringen. So assoziiert Friedrich Schiller in seiner Vorrede zur Braut von Messina den Einsatz des Chores mit einer notwendigen Ruhe der Handlung, die »der Charakter eines edeln Kunstwerkes sein muß« und die sich zugleich in der Ruhe des Parterres widerspiegeln soll.20 Um eine solche Ruhe auch tatsächlich durchzusetzen, bedarf es mehr als ästhetischer Mittel. Im Weimarer Hoftheater wachen um die Jahrhundertwende ein Unteroffizier und zwei Husaren über das Verhalten im Saal und auf der Bühne, um für eine Dämpfung der Affekte zu sorgen. Jan Lazardzig hat darauf hingewiesen, dass die Erhaltung der Ruhe auf einen weit über das Theater hinausgreifenden policeywissenschaftlichen Diskurs des 18. Jahrhunderts verweist, welcher den Präventionsgedanken in das Polizeiwesen einführt. »Um 1800«, so Lazardzig, »ist das ästhetische Regime des Theaters mit dem Präventionsregime der Polizei nahezu deckungsgleich.«21 Die Ruhe im Parterre werde somit unmittelbar auf die ›innere Ruhe‹ des Staates bezogen, was die Basis für eine enge Zusammenarbeit zwischen Theaterreformern und Polizeiwesen schaffe. Hier offenbart sich eine merkwürdige Ambivalenz des ästhetischen Regimes: Das Versprechen von ästhetischer Freiheit und Gleichheit, dessen Utopie Schillers Konzeption ästhetischer Erziehung entwirft, ist unmittelbar mit einer Geschichte der Disziplinierung verknüpft, welche die Freiheiten des Zuschauers einschränkt und nur eine Form des Urteilens vorsieht.22 Denn das ästhetische Urteilen im kantischen Sinne erfordert eine Haltung des Zuschauers, die ihn als nicht-han19 | Friedrich Schiller, »Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?«, in: Ders., Sämtliche Werke, hg. v. Herbert G. Göpfert u. Gerhard Fricke, München 1962, Bd. 5, S. 818-832, hier S. 822. 20 | Friedrich Schiller, »Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie« in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 815-823, hier S. 821. 21 | Jan Lazardzig, »Ruhe oder Stille? Anmerkungen zu einer Polizey für das Geräusch (1810)«, in: Meike Wagner (Hg.), Agenten der Öffentlichkeit: Theater und Medien im frühen 19. Jahrhundert, Bielefeld 2014, S. 97-116, hier S. 111. 22 | Mit dem Begriff des ästhetischen Regimes historisiert Jacques Rancière den Begriff der Ästhetik und unterscheidet ihn von den anderen, ihm vorausgehenden ethischen und repräsentativen Regimen der Kunst. Allerdings übersieht Rancière die genannte Ambivalenz des ästhetischen Versprechens, die zudem seiner konträren Verwendung der Begriffe
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delndes, außerhalb stehendes Subjekt konstituiert. Erst vor dem Hintergrund jenes Regimes ergibt Arendts Rede vom interesselosen Urteilen des Weltzuschauers einen Sinn.
Dritte These Das Urteilen des Zuschauers konstituiert eine Öffentlichkeit, die über den Raum der Aufführung hinausgeht. Versteht man ausgehend von Kant ästhetisches Urteilen als ein reflexives Urteilen, so hat der im Theater um 1800 einsetzende Wandel nicht allein Auswirkungen auf das Urteilen der Zuschauer während der Aufführung, sondern reicht weit über deren Raum und Zeit hinaus. Denn im Gegensatz zum affektgeladenen Pfeifen, Pochen und Applaudieren können ästhetische Urteile auch Tage nach dem Besuch einer Aufführung mehrfach revidiert, überdacht und adaptiert werden. Christoph Menke geht sogar so weit, die Unabschließbarkeit zum konstitutiven Merkmal ästhetischen Urteilens zu erklären. Ästhetisches Urteilen bedeute demnach nicht, bestimmte Attribute wie »schön« oder »gelungen« auf einen Gegenstand anzuwenden, sondern im Gegenteil, »jedes Urteil als zugleich dringlich und vorschnell zu erfahren.«23 Das Problem der Distanznahme des Zuschauers ist daher ein doppeltes: Zum einen geht es um die Distanznahme zur Bühne mittels der Einbildungskraft; zum anderen gilt es, zur Vermeidung vorschnellen Urteilens einen Abstand zu den anderen Zuschauern und zu Dynamiken affektiver Ansteckung zu gewinnen. Da ästhetische Urteile jedoch auf (Mit-)Teilbarkeit angelegt sind – sie wollen kommuniziert und geteilt werden –, eignet ihnen zugleich ein öffentlichkeitsund gemeinschaftsstiftendes Moment, welches gerade nicht ein anwesendes Publikum, sondern einen öffentlichen Raum betrifft, der idealiter jede und jeden einschließt. Eine solche Öffentlichkeit ästhetischen Urteilens entsteht im Verlauf des 18. Jahrhunderts mit dem Wandel des guten Geschmacks. Während Gracián den gusto noch für eine gebildete Elite reserviert, ändert sich im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts insbesondere in Frankreich durch das Aufkommen öffentlicher und eintrittsfreier Kunstausstellungen sowie durch die Entstehung der Kunstkritik, die stets im Namen des Publikums urteilt, die Wahrnehmungsweise des Geschmacks zugunsten eines Ideals sozialer Gleichheit und Öffentlichkeit ästhetischen Urteilens.24
Politik und Polizei zuwiderläuft. Siehe dazu Benjamin Wihstutz, Der andere Raum: Politiken sozialer Grenzverhandlung im Gegenwartstheater, Zürich 2012, S. 147-154. 23 | Menke, Die Kraft der Kunst, S. 70. 24 | Vgl. Ludger Schwarte, Vom Urteilen. Gesetzlosigkeit, Geschmack, Gerechtigkeit, Berlin 2012, S. 110 sowie S. 118.
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Diese öffentliche Dimension des Urteilens betrifft jedoch laut Arendt nicht allein das ästhetische, sondern ebenso das politische Urteil. So waren für die weltgeschichtliche Relevanz der französischen Revolution laut Arendt nicht in erster Linie ihre Akteure, sondern die Beifall spendenden Zuschauer verantwortlich; erst die Sympathie und »Exaltation« des »äußeren zuschauenden Publikums« machten das Phänomen der Revolution »unvergesslich«.25 Die Urteile vieler einzelner Zuschauer und deren Weiterverbreitung bereiteten den historischen Ereignissen eine angemessene Bühne, deren Publikum weit über eine unmittelbar anwesende Zuschauerschaft hinausging. Christopher Balme hat unlängst darauf hingewiesen, dass sich auch der öffentliche Raum des Theaters nicht auf den Raum der Aufführung beschränken lässt, sondern etwa durch Theaterskandale, öffentliche Diskussionen und Debatten (sei es im Foyer oder im Feuilleton, im Internet und unter Freunden) über das Aufführungsereignis hinaus ein agonales Feld entstehen kann.26 So wie die anwesenden Zuschauer eines Abends immer nur einen Teil des von der Bühne adressierten Publikums bildeten, entspreche der Raum der Aufführung nur einem kleinen Teil der theatrical public sphere. Auch in Bezug auf die oben genannten Beispiele aus dem Gegenwartstheater zeigt sich, auf welche Weise das Urteilen im Theater einen öffentlichen Raum konstituieren kann. So löste etwa Jérôme Bels Disabled Theater insbesondere in dem Moment eine öffentliche Debatte über die Würdigung und Leistungsfähigkeit behinderter Schauspieler im Theater aus, als Julia Häusermann, eine Darstellerin mit Downsyndrom, beim Berliner Theatertreffen für ihren Auftritt in Disabled Theater überraschend einen Preis als beste Nachwuchsschauspielerin gewann.27 Auch Milo Raus Tribunaltheater konstituiert eine Öffentlichkeit des urteilenden Zuschauers, die nicht notwendigerweise an ein Live-Erlebnis des Prozesses geknüpft ist. Denn seine Schauprozesse werden nicht allein für ein anwesendes Theaterpublikum inszeniert, sondern richten sich darüber hinaus an ein Kino- oder Fernsehpublikum, das sich einige Monate später die vor Ort gedrehte Filmdokumentation über den Prozess anschaut. Zudem werden seine Projekte von Publikationen und Webauftritten begleitet, welche der Arbeit eine möglichst breite Öffentlichkeit verschaffen. Das am Ende eines Prozesses gefällte Urteil der Geschworenen ist damit gewissermaßen nur der Auftakt eines längeren, reflexiven Urteilsprozesses. Denn Raus Arbeiten legen es darauf an, dass sich die Zuschauer – seien sie vor Ort, im Kino oder zu Hause am Bildschirm –, ein eigenes Urteil bilden, ihre Urteile oder die der Jury revidieren, überdenken, und nicht zuletzt allgemein über die gesellschaftliche Relevanz von politischen und juridischen Urteilen nachdenken und diskutieren. 25 | Arendt, Das Urteilen, S. 96. 26 | Christopher Balme, The Theatrical Public Sphere, Cambridge 2014. 27 | Vgl. Benjamin Wihstutz, »I am an actor: On Emancipation in Disabled Theater«, in: Umathum/Wihstutz, Disabled Theater, S. 35-54.
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Vierte These Der öffentliche Aushandlungsprozess des Urteilens im Theater ist politisch, weil er das Verhältnis zwischen den Experten und der ›Masse‹ betrifft. Dieses Verhältnis impliziert die Frage nach einer Gleichheit der Urteile ebenso wie die Frage nach einer Teilhabe der Urteilenden. In Johann Friedrich Schützes Satirisch-Ästhetisches Hand- und Taschenwörterbuch aus dem Jahr 1800 findet sich unter dem Stichwort Publikum der folgende Eintrag: Publikum, le public, ist eine große Masse von (Hohl. Und Woll-)köpfen, unter welchen Leiber sitzen und stehen, in Logen, Parterren, Gallerien, versehen mit Stimmen zum Bravorrufen und Pfeifen, Füßen zum Stampfen, Augen und Ohren zum Sehn und Hören. Diesen Menschenklumpen schreibt man etwas zu, das man Geschmack, goût, nennt; diesen muß der Schauspieler kennen und darnach spielen, der Directeur sondiren und danach dirigieren, sich schmiegen und fügen. Jeder und jede aber müssen sich im Publikum ein Publikum formiren, ein Häufchen Kenner, das nur ihnen und ihren Spielen klatscht und andern pfeift. In dies kleine Publikum suche man auch die vorlauten Sprecher, Dramaturgen mit hineinzuziehn, die ihre Meinung als Meinung des Publikums für das Publikum im [sic!] Druck geben. 28
Unabhängig von ihrem satirischen Tonfall legen Schützes Worte dar, auf welche Weise um 1800 an deutschen Theatern der Konflikt zwischen dem Geschmacksurteil der »Masse« und den Experten, jenem »Häufchen Kenner«, ausgetragen wird. Dabei konstituiert das Theater einen über die Aufführung hinausreichenden öffentlichen Raum, in dem der gute Geschmack, aber auch moralische und politische Urteile ausgehandelt werden. Auch Reichards oben zitierter »Versuch über das Parterre« weist darauf hin, dass die ästhetische Bildung des Theaterpublikums nur durch im Parterre anwesende Experten des guten Geschmacks gelingen kann, d.h. durch »Personen, die in der öffentlichen Beurtheilung den Ton angeben«29. Beide Quellen deuten an, dass die theatrical public sphere um 1800 geprägt ist von einem Konflikt zwischen den Experten und der Masse. Dabei werden die Debatten um den bon goût, den guten Geschmack, in den Theaterperiodika und Tageszeitungen ebenso fortgeführt wie in den Salons oder auf Straßen und Plätzen. Da die Kritiker und Dramaturgen, Dichter und Theaterdirektoren selbst im Parterre sitzen, kommt es häufig vor, dass diese versuchen, auf die Geschmacksurteile des Publikums Einfluss zu nehmen. So ist etwa von Heinrich von Kleist 28 | Friedrich Johann Schütze, »Publikum«, in: Ders., Satirisch-ästhetisches Hand- und Taschenwörterbuch, Hamburg 1800, S. 130. 29 | Reichard, »Versuch über das Parterre«, S. 48.
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bekannt, dass er 1802 bei einer Aufführung des Singspiels Die Schweizerfamilie im Berliner Nationaltheater mit einigen Verbündeten durch heftiges Klatschen, Zischen und Rufen einen Abbruch der Vorstellung herbeiführte, nur um zwei Tage darauf in der von ihm anonym verfassten Theaterkritik der Berliner Abendblätter vom Missfallen des Parterres über das Stück zu berichten.30 Auch Goethe versucht am Weimarer Hoftheater, wo er während der Vorstellungen auf einem erhöhten Lehnstuhl im Parterre Platz nimmt, durch Kommentare oder Gesten Einfluss auf den Geschmack des Publikums zu nehmen. So handelt eine der zweifellos berühmtesten Anekdoten davon, dass der Intendant Goethe während der Aufführung der Schlegel-Tragödie Alarkos das Publikum mit dem Ausruf »Man lache nicht!« zur Ruhe und Ordnung im Schauspielhaus ermahnt. Dieser Appell Goethes ist insofern bemerkenswert, als er nicht nur zeigt, wie ästhetischer Anspruch und Disziplinierung des Publikums in Weimar einander bedingten, sondern auch eine Ahnung vermittelt, auf welche Weise das Parterre als ein Ort der Aushandlung von Normen und Konventionen ästhetischen Urteilens sowie des Verhältnisses von Urteil und Affekt fungierte. Denn das, was Goethe mit dem Lachverbot einfordert, ist im Grunde nichts anderes als eine Praxis ästhetischen Urteilens im kantischen Sinne, mithin eines interesselosen Wohlgefallens, das sich von den unmittelbaren Affekten und der Ansteckung der Masse distanziert. Ludger Schwarte hat in seinem Buch Vom Urteilen das ästhetische Urteilen zum Modell jeglichen Urteilens erklärt, da im Rahmen der Kunst spätestens seit dem 18. Jahrhundert idealiter jede und jeder das Recht besitze, ästhetisch zu urteilen und damit der Expertokratie eine Absage erteilt werde.31 Die genannten Beispiele aus dem Theater zeigen jedoch, dass in der Praxis nicht nur das ästhetische Urteilen an sich, sondern vor allem der diesbezügliche Aushandlungsprozess zwischen den Experten und der Masse politische Implikationen birgt. Die Frage, wessen Urteil Gewicht hat, ist im ästhetischen Regime ebenso aktuell wie diejenige, wem eine Urteilskompetenz abgesprochen werden kann. Wenn heute wie bei Milo Raus Gerichtsprozessen Geschworene oder wie bei Yan Duyvendak ausgeloste Zuschauer ein Urteil im Theater sprechen, so zeugt dies von der Intention, der Expertokratie in der Gesellschaft eine künstlerische Praxis entgegenzusetzen, welche »Vernunft für alle, d.h. […] die Entscheidungskompetenz aller« nicht nur im ästhetischen, sondern auch im politischen und juridischen Bereich demonstriert.32 Womöglich gelingt es dem Theater gar, jenseits des Gerichtssaals eine Bühne anderen Urteilens zu errichten, die sich eher
30 | Vgl. Jan Lazardzig, »Die Stadt als Ereignisraum in Kleists Abendblättern«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 4 (2013), S. 566-587, hier S. 585ff. 31 | Schwarte, Vom Urteilen, S. 110 sowie S. 118. 32 | Ebd., S. 130.
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an großen Fragen als an juristischen Spitzfindigkeiten, eher an einer imaginären Gemeinschaft als an gegebenen Gesetzen orientiert.
Fünfte These Im Spannungsverhältnis von individuellem Urteil und Öffentlichkeit wird der Gemeinsinn verhandelt. Der Gemeinsinn verbindet ästhetisches und politisches Urteilen in seinem Anspruch auf Mitteilbarkeit und Gemeinschaftlichkeit. So wie der Zuschauer im Theater selten allein ist, ist auch der urteilende Weltzuschauer bei Arendt immer schon mit anderen Zuschauern verbunden. »Wenn man urteilt, urteilt man als Mitglied einer Gemeinschaft«, schreibt sie.33 Diese Gemeinschaft der Urteilenden ist dabei nicht als Gemeinschaft in situ zu verstehen; es handelt sich nicht um ein anwesendes Theaterpublikum, vielmehr muss von einer imaginären oder, mit Gadamer gesprochen, einer »idealen Gemeinschaft« ausgegangen werden, die Arendt vom kantischen Gemeinsinn herleitet.34 Als Gemeinsinn bezeichnet Kant jenen Sensus Communis oder gemeinschaftlichen Sinn, der sich im Anspruch des ästhetischen Urteils auf die Zustimmung anderer widerspiegelt. Das Urteilen in Gemeinschaft hat also weder mit einer empirischen Übereinstimmung bourdieuscher Geschmacksklassen, noch mit jenen sozialen Dynamiken kollektiven Applaudierens und Richtens in den Parterres um 1800 zu tun; sondern es bezieht sich auf eine Spannung zwischen der subjektkonstituierenden und öffentlichkeitsstiftenden Funktion des Urteilens, die weit über ein anwesendes Publikum hinausgeht. Es geht, in den Worten Menkes, um das Problem, »wie Individuum und Gemeinschaft in ihrer Gegensinnigkeit zu vermitteln sind«.35 Der Gemeinsinn verknüpft ästhetisches und politisches Urteilen in seinem Anspruch auf Mitteilbarkeit und universelle Gültigkeit, er appelliert an die »gesamte Menschenvernunft«.36 Ruft man sich die am Anfang dieses Textes aufgeführten Beispiele aus dem Gegenwartstheater in Erinnerung, so wird deutlich, dass das Theater aktuell dabei ist, die politische Bedeutung des Gemeinsinns wiederzuentdecken. Wenn während des NSU-Prozesses gegen Beate Zschäpe Stücke wie Urteile von Christine Umpfenbach und Azar Motarzavi uraufgeführt werden, die jenseits juristischer Feinheiten die einzig relevante Frage »Was haben wir mit diesen Morden zu tun?« stellen; wenn Milo Rau noch vor einer Vorbereitung der Anklage in Den Haag ein Kongo-Tribunal gegen die Verantwortlichen des Bürgerkriegs inszeniert; oder wenn Jérôme Bel in Disabled Theater die Zuschauer zur 33 | Arendt, Das Urteilen, S. 106. 34 | Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960, S. 43. 35 | Menke, Die Kraft der Kunst, S. 59. 36 | Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, § 40 (A 293, B 157).
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ästhetischen Beurteilung der Tanz-Soli und zugleich zur Infragestellung jener Urteile drängt, so wird jeweils deutlich, auf welche Weise das Urteilen des Zuschauers auf eine Aushandlung des Gemeinsinns zielt. Gerade weil das einzelne (ästhetische) Urteil auf die Zustimmung anderer hofft, betrifft der Gemeinsinn stets mehr als eine Frage des Geschmacks, sondern immer auch die implizite Frage, welche Normen und Werte wir teilen und in welcher Art Gesellschaft wir leben wollen. Der Gemeinsinn ist es, der dem Urteilen selbst und der Frage der Beurteilbarkeit eine Öffentlichkeit verschafft. Der Gemeinsinn ist es auch, der eine Entscheidungskompetenz aller und damit den Urteilen der Zuschauer sowie deren Aushandlungsprozessen im Theater eine politische Relevanz verspricht.
Sinn machen – Explorierendes Theater und (seine) Forschungspraxis Stefanie Husel
Der Wissenschaft vom Theater stehen schon seit geraumer Zeit Aufgaben gegenüber, deren Grund in einer verstärkten Reflexivität praktischer Theaterarbeit zu suchen ist. Dabei begegnet akademische Reflexion szenischer Forschung. Somit steht immer wieder aufs Neue zur Disposition, welche Form der Reflexion welchem Feld zukommt. Besondere methodologische Herausforderungen für die akademische Reflexion ergeben sich zudem aus den zahlreichen Experimenten mit unterschiedlichen Zuschauer- und Teilnahmeformaten, die die Theaterpraxis derzeit in verstärktem Maß bietet: Theatermacher wie die Kompanie Forced Entertainment bespielen schon seit gut dreißig Jahren selbstreferenziell das ›Hier und Jetzt‹ der Bühne und bespiegeln damit die Möglichkeitsumstände traditioneller Aufführungssituationen. Dieser Charakterzug zahlreicher neoavantgardistischer Arbeiten der darstellenden Kunst steht für Hans-Thies Lehmann sogar im Mittelpunkt des Stils, den er als postdramatisch qualifizierte: »Erst das postdramatische Theater hat die Gegebenheit der faktisch, nicht konzeptionell fortwährend ›mitspielenden‹ Ebene des Realen explizit zum Gegenstand nicht nur […] der Reflexion, sondern der theatralen Gestaltung selbst gemacht.«1 Gerade in den vergangenen Jahren finden sich darüber hinaus in vielen Theaterproduktionen Spiele mit alltäglichen Realitäten auf der Bühne, in denen noch weit radikaler an den Selbstverständlichkeiten herkömmlicher Theater-Schau und ihren Darstellungs- und Wahrnehmungskonventionen gerüttelt wird: Zum Beispiel, wenn das Theater HORA und der Choreograph Jérôme Bel ein im wahrsten Sinne der Formulierung ›be‹- bzw. ›verhindertes‹ Theater zeigen (Disabled Theatre, 2012) und auf diese Weise Zuschauerwartungen und Zuschreibungen beim Blick auf ›behinderte‹ Menschen bewusst und damit kritisierbar machen. Oder wenn She She Pop mit ihren tatsächlichen Vätern oder Müttern auf der Bühne familiäre Generationen- und Genderkonflikte verhandeln (Testament, 2010 und Frühlingsopfer, 1 | Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M. 2001, S. 171.
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2014) und auf diese Weise die Grenze zwischen privater Begegnung und öffentlicher Schau in Frage stellen. Und wenn Zuschauer ganz in eine inszenierte Welt eintauchen können, wie z.B. bei Hundsprozesse der Gruppe SIGNA (2011), stehen klassische Zuschauermodelle, mit denen Theater und dessen Erforschung bisher operieren konnten, gänzlich in Frage. So unterschiedlich die beispielhaft zitierten Formate anmuten, besitzen sie doch eine Gemeinsamkeit: Immer stehen das situative Miteinander in der Aufführung bzw. weiter gefasst, der ästhetischen Begegnung und damit die Möglichkeitsumstände ebendieser Begegnung und der darin stattfindenden Darstellungs- und Wahrnehmungsprozesse im Fokus des ästhetischen Interesses. Dies gilt besonders dann, wenn szenische Forschung explizit praktisches Wissen erspielen soll, wie es derzeit beispielsweise in Bochum im Rahmen des gleichnamigen Masterprogramms geschieht. Solch sozial explorative,2 manches Mal explizit forschende und oftmals auch immersive Theaterpraxis wird in herkömmlichen theaterwissenschaftlichen Verfahrensweisen hermeneutischer Provenienz häufig verfehlt, indem Praktiken der Produktion wie der Rezeption nicht ›eingeholt‹, sondern stattdessen theoretisch überrannt werden: So kommen die tatsächlichen Verfahrensweisen des Theaters in ihrer empirischen Kleinteiligkeit häufig nicht zur Sprache und werden als selbstverständlich bzw. irrelevant abgetan. Indem von akademischer Seite intensive Konzeptarbeit geleistet wird, die dem praktischen Geschehen äußerlich bleibt, wird dieser Mangel zugleich unsichtbar gemacht, er wird gewissermaßen überschrieben. Für den Kontext eines reflexiven, explorierenden und/oder immersiven Theaters ergeben sich entsprechend zwei Forschungsdesiderate: Zunächst wäre ein theoretischer Ansatz zu finden, der es erlaubt, flexibel und offen an die Empirie szenischer Arbeit heranzutreten, ohne diese mit vorbestimmten Konzepten zu verdecken. Des Weiteren müssten Verfahrensweisen etabliert werden, die Theaterarbeit und ihre reflexiven Praktiken beobachten und akademisch ›einholen‹ bzw. kommunizierbar machen können – die es also ermöglichen, praktische Verfahrensweisen und das zugehörige praktische Wissen zu bewahren, zu dokumentieren und zu diskutieren.
Praxeologischer Ansatz Um die explorative Theaterarbeit der Gruppe Forced Entertainment zu untersuchen, habe ich mich im Rahmen meiner bisherigen Forschung an der qualitativen Soziologie orientiert, innerhalb derer die Untersuchung sozialer Situationen
2 | Im Folgenden spreche ich von »explorativem Theater«, bin mir aber der Behelfsmäßigkeit des Begriffs bewusst. Inwiefern z.B. auch Formen wie die o.g. Erlebniswelten der Gruppe SIGNA überhaupt stimmig als ›Theater‹ zu betiteln sind, soll in Anbetracht des Umfangs dieses Beitrags nicht erörtert werden.
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in ihrer ganzen empirischen Breite immer schon forscherischer Normalfall ist.3 Dort, so wie in den benachbarten cultural studies, haben sich seit einigen Jahren sogenannte ›Praxis-Theorien‹ oder ›Praxeologien‹ etabliert. Damit sind all jene Gesellschaftstheorien gemeint, die alltägliche Praktiken als den genuinen Ort des Sozialen denken, wobei die untersuchten ›Praktiken‹ weder vorrangig in den Köpfen bzw. Leibern von Gesellschaftsteilnehmern noch in übergeordneten Strukturen (oder gar Normen) gesucht werden. Vielmehr bestehen sie im immer wiederkehrenden Ausüben von Handlungen in geordneter, überindividuell wiedererkennbarer Weise. Praktiken sind damit als konkrete Verhaltensweisen konzipiert. Als solche sind sie als individuell, körperlich, materiell und situativ verankert, zugleich jedoch als intersubjektiv geteilt und übersituativ bestehend definiert.4 Auf diese Weise werden Praktiken auch von einfachem Verhalten unterscheidbar: Ein reflexhaftes Niesen beispielsweise würde nicht als Praktik betrachtet, wohl aber die Art und Weise, wie das Niesen vollzogen wird – zum Beispiel wird schützend die Armbeuge vorgehalten, eine verschämte Entschuldigung gemurmelt usw. Es ist also ein »nexus of doings and sayings«5, der forschungsrelevant wird. Praxeologie ist insofern in ihrer Frage nach dem ›Wie‹ ästhetisch interessiert, denn sie untersucht genuin die Darstellung und die Wahrnehmung von Verhaltensweisen. Aus diesem Grund möchte ich dafür plädieren, empirische Theaterforschung auf praxeologisch konzeptualisierte Art und Weise zu betreiben. Ich habe für diesen Vorstoß die Verschlagwortung Sinn machen genutzt, auch wenn die aus dem Englischen übertragene Redewendung im Deutschen eher ›etwas ist sinnvoll‹ lauten müsste, wie von Bastian Sick im online-Magazin des Spiegel moniert: »›Sinn‹ und ›machen‹ passen einfach nicht zusammen. Das Verb ›machen‹ […] geht zurück auf die indogermanische Wurzel mag-, die für ›kneten‹ steht. Das erste, was ›gemacht‹ wurde, war demnach Teig. Etwas Abstraktes wie Sinn lässt sich jedoch nicht kneten oder formen.«6 Zwar befassen sich die zitierten Zeilen nur mit der sprachlichen Form ›Sinn machen‹ und erheben keinen weiteren wis3 | Eine theoretische Einordnung meines Vorschlags in das Feld der theaterwissenschaftlichen Forschung findet sich in: Stefanie Husel, Grenzwerte im Spiel. Die Aufführungspraxis der britischen Kompanie ›Forced Entertainment‹. Eine Ethnografie, Bielefeld 2014, S. 15-34. 4 | Vgl. zur sozial- und kulturwissenschaftlichen Bestimmung der Praxeologie z.B. Andreas Reckwitz, »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive«, in: Zeitschrift für Soziologie 4 (2003), S. 282-301 und Karl Hörning/ Julia Reuter (Hg.), Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004. 5 | Theodore Schatzki, Social practices. A Wittgensteinian approach to human activity and the social, Cambridge 2003, S. 89. 6 | Bastian Sick, »Zwiebelfisch: Stop Making Sense« (20.08.2002), in: www.spiegel.de/ kultur/zwiebelfisch/zwiebelfisch-stop-making-sense-a-261738.html vom 01.04.2016.
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senschaftlichen Anspruch; sie geben aber dennoch ein Unbehagen wieder, wie es auch eine in hermeneutischer Textauslegung wurzelnde Geistes- und Kulturwissenschaft bis heute beschleicht, sobald Kulturtheorie und ihre Verfahrensweisen sich mit der praktischen Empirie und dem dort anzusiedelnden ›Machen‹ auseinandersetzen, anstatt reflexhaft nach einer hinter dieser (angeblichen) Oberfläche verborgenen, tieferen Wahrheit zu schürfen. Sybille Krämer betitelte diesen Reflex als »protestantischen Gestus«: Wir wollen diese weit verbreitete Einstellung, dass das, worauf es ankomme, hinter den sinnlich wahrnehmbaren Phänomenen liege, den ›protestantischen Gestus‹ in den Geistes- und Kulturwissenschaften nennen. Dieser Ausspruch ist kein Plädoyer für den Katholizismus, sondern einen Anspielung auf die semiologische Uminterpretation der Hostie, die den Reformatoren nicht als wirkliche Verkörperung, vielmehr – nur noch – als semiotische Repräsentation Christi galt.7
Spreche ich im Folgenden also vom Sinn, der ›gemacht‹ wird, ziele ich auf einen alternativen Sinnbegriff ab, wie ihn zahlreiche Praxeologien nutzen und wie ihn am prominentesten wohl Pierre Bourdieu referiert. Dessen »sens pratique« lässt sich zwischen dem herkömmlichen Verständnis von ›Sinn‹ und von ›Sinnlichkeit‹ ansiedeln:8 Es ist sein »praktischer Sinn« für die Situation, der den Niesenden im oben angeführten Beispiel erkennen lässt, ob eine Entschuldigung gerade angebracht ist oder besser nicht. Zugleich muss davon ausgegangen werden, dass der niesende Situationsteilnehmer mit seinem Verhalten am »praktischen Sinn« der Situation mitarbeitet, die Situationsdefinition also mitbestimmt. Insofern bezeichnet »praktischer Sinn« keinen schlummernden Sinn ›hinter den Dingen‹, sondern sowohl performative als auch interpretatorische Prozesse, die soziale Situationen gestalten und aufrechterhalten.
7 | Sybille Krämer, »Sprache – Stimme – Schrift. Sieben Gedanken über Performativität als Medialität«, in: Uwe Wirth (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2002, S. 325. Im selben Aufsatz stellt Krämer der virtuellen Konzeptualisierung von Sprache (bzw. Sprachlichkeit oder Kommunikation), die diesem »›protestantischen Gestus‹« entspricht, die Betrachtung der Sprache als jeweils konkret verkörperte gegenüber, als in Zeit und Raum realisiertes Phänomen, das in seiner ganzen empirischen Breite wahrgenommen werden muss, um adäquat beschrieben werden zu können (vgl. ebd., S. 331ff.) – einen Ansatz also, der in der von mir vorgeschlagenen Terminologie als praxeologisch betrachtet werden könnte. 8 | Vgl. Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1993, S. 147-179.
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Ethnographische Verfahrensweisen Eine Praktiken-Perspektive und das zugehörige Aufspüren praktischen Sinns verlangen forschungspraktisch nach intensivem Eintauchen in das Feld, das untersucht werden soll. Denn Praktiken sind häufig nicht ›auskunftsfähig‹: Akteure im Feld müssen meist intensiv nachdenken, sollen sie erzählen, welche Praktiken sie gerade angewendet haben. Entsprechend werden Herangehensweisen nötig, die dem in den Praktiken verborgenen, oftmals eingekörperten Sinn nachzuspüren in der Lage sind und diesen zu explizieren vermögen. Hierbei bieten sich ethnografische Verfahren an. Ethnographie nähert sich langsam und in einer vorsichtig einkreisenden Bewegung ihrem Gegenstand an, indem ein Forschungsfeld zunächst mit großer Offenheit betreten wird.9 Erst wenn der/die Ethnograph/in schon eine erste Einübung in die praktische Logik des Feldes erfahren hat, werden Forschungsfragen formuliert. Darauf wird der Feldzugang nochmals überdacht. Dabei werden permanent ›Daten‹ erhoben – ein Terminus, mit dem allerdings nicht auf exakte Daten im Sinne naturwissenschaftlich verwertbarerer Informationen abgezielt wird, sondern auf höchst individuell und subjektiv bedeutsame Materialien, wie zum Beispiel Tagebuchaufzeichnungen, Gesprächsnotizen etc. Der/die Ethnograph/in in seiner/ihrer Individualität, Subjektivität und Körperlichkeit wird damit zum allerersten und ernstgenommenen Instrument ethnographischer Untersuchungen.10 In weiteren Forschungsschritten werden die Erfahrungen und ›Daten‹ aus dem Feld mit in die disziplinäre Umgebung, z.B. in ein Forschungskolloquium, gebracht. Auf diese Weise wird erworbenes praktisches Wissen der Ethnographin mit disziplinären Interessen konfrontiert: Im Kreis der Kollegen wird versucht, das eingekörperte Wissen, das die Ethnographin im Feld erworben hat, einem Explikationsprozess zu unterziehen. Intensive teilnehmende Beobachtung, ironisierend manchmal auch als going native bezeichnet, wird also einem nicht weniger intensiven, akademischen Reflexionsprozess, einem coming home, gegenübergestellt. Erst aus dieser Konfrontation erwächst schließlich ein wissenschaftlicher Text, dessen Schreibweise sowohl der Darstellungsform des untersuchten Feldes als auch den Wahrnehmungsweisen der Heimatdisziplin Rechnung zu tragen in der Lage ist. Folgerichtig wird der ethnographische Schreibprozess als eigenständige literarische Form mit mimetischen Grundzügen verhandelt, die den eigenen Duktus durchaus manchmal inszeniert.11 Es ist dieser explizite und systematische Dreischritt aus going native, coming home und performativem Schreiben, der die ethnographische Verfahrens9 | So dargestellt beispielsweise in: Georg Breidenstein et al., Ethnographie – die Praxis der Feldforschung, Konstanz/München 2013. 10 | Im Folgenden nutze ich, ausgehend von meiner eigenen Erfahrung als Ethnographin, die weibliche Form des Begriffs. 11 | Vgl. z.B. Klaus Amann/Stefan Hirschauer, Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie, Frankfurt a.M. 1997, S. 20.
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weise auch und gerade für die Erforschung zeitgenössischer explorativer Theaterarbeit prädestiniert. In meiner bisherigen Forscherbiographie hatte ich das Glück, dass mir die britische Kompanie Forced Entertainment in den Jahren 2004 bis 2014 erlaubt hat, sowohl ihre Aufführungspraxis als auch ihre Proben zu begleiten. Daher bestand mein Dissertationsprojekt in einer intensiven ethnographischen Studie. Meine erste, eventuell zunächst trivial wirkende, dafür aber äußerst offene Frage im Rahmen dieses Projekts adressierte die Gelingenskriterien der Aufführungssituation. Warum und wann konnte man sagen, dass sie ›funktionierten‹? Hierbei inspirierten mich Sequenzen wie beispielsweise folgende: Die Crew spielt in extremer Lautstärke den Song Born to be wild von Steppenwolf ein und lässt diesen in voller Länge laufen. Während der Einspielung führen einzelne Darsteller offenbar unzusammenhängende Handlungen aus: Zwei als Roadys gekleidete Figuren tanzen einen Heavy-Metal-Tanz, unterdessen entkleidet sich eine Darstellerin bis auf die Unterwäsche, nur um darauf in ein plüschiges Gorilla-Kostüm zu steigen, während sich in der Mitte der Bühne eine melodramatische Sterbeszene abspielt: Eine ›Tote‹ liegt reglos auf dem Boden, während eine unpassend bunt gekleidete Frau sie in immer neu ansetzender, tränenreicher Intensität ›beweint‹. Kurz: Die Szene hinterlässt Zuschauer recht ratlos, vielleicht sogar entnervt. Die Atmosphäre ändert sich abrupt, wenn die Musikeinspielung endet und die bislang beweinte ›Tote‹ plötzlich aufspringt und sich lautstark über die eben gespielte Szene beschwert, einzelne Kollegen beschuldigt, am Misslingen schuld zu sein, und sich beim Publikum entschuldigt.12
Erst nach einigen Momenten aufmerksamer Beobachtung und Reflexion können Zuschauer wahrnehmend auf die geschilderte Neujustierung der Szene reagieren und dabei einordnen, dass der angebliche Ausbruch einer Darstellerin aus der Darstellungsebene tatsächlich der spezifischen Fiktion der Inszenierung zuzurechnen ist. Solche und ähnliche Szenen ließen mich zu Beginn meiner Studie fragen, wie es sein konnte, dass so viel inszenierte Langatmigkeit und verspielte Banalität ein Publikum über Stunden zu binden und sogar zu begeistern vermochte. Woher kam es, dass Zuschauer sich in Forced Entertainments Arbeiten so adressiert fühlen konnten – als würden die Inszenierungen ihr Publikum ganz genau kennen und im Verlauf der Aufführung immer wieder aufs Neue verführen, manchmal sogar ironisch vorführen? Wie also wurde in Forced Entertainments Aufführungen situativer, praktischer Sinn gemacht? Dabei lag es zunächst nahe, sich zu fragen, was auf Seiten der Bühne bzw. der Inszenierung geboten wird. Entsprechend lag der Fokus meiner Studie zunächst auf Raum und Zeit, die in Forced Entertainments Aufführungen erspielt werden, auf den Spielfiguren sowie auf den Partizipationsangeboten, die die untersuchten Inszenierungen für ihr Publikum bereithielten. Insofern adressierte meine praxeologisch-ethnogra12 | Vgl. ausführliche Beschreibung in Husel, Grenzwerte im Spiel, S. 79f.
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phische Forschung zahlreiche Themen, die auch in üblichen hermeneutischen Ansätzen bedeutsam gemacht werden. Darüber hinaus aber ließ sich die übliche inszenierungsorientierte Aufführungsuntersuchung in zwei Richtungen erweitern, die im Folgenden jeweils anhand eines Beispiels vorgestellt werden sollen.13
1. Beispiel: Praxeologisch-ethnographische Rezeptionsforschung Zunächst führte meine Frage nach dem praktisch erspielten Sinn der untersuchten Aufführungssituationen auf deren ›dunkle Seite‹ – das Interesse an den kollektiven Praktiken der Sinnproduktion in der Aufführungssituation widmete sich allen Partizipanden der Situation, auch dem nur schwer zugänglichen Geschehen im Zuschauerraum. Dabei stellte sich zunächst die Frage, auf welche Weise die Praxis von Zuschauern überhaupt sichtbar und ›sagbar‹ werden könnte. Zuschauer schlichtweg zu befragen erschien problematisch, und zwar aus zwei Gründen. Erstens weil Forced Entertainment Interviews nicht erlaubten.14 Zweitens interessierten im Sinne des praxeologischen Ansatzes vornehmlich die tatsächliche Aktivität des Publikums sowie das in ihr verborgene, möglicherweise kaum auskunftsfähige praktische Wissen. Nachdem die Lichtverhältnisse in den untersuchten Aufführungen es überdies nicht erlaubten, das Publikum zu filmen, entschied ich mich dafür, einen Versuch in auditiver Publikumsforschung zu unternehmen. 2008 belauschte ich das Publikum einer Bloody Mess-Aufführung im englischen Leeds, indem ich ein leistungsstarkes 360°-Mikrophon auf einer der Traversen über dem Zuschauerraum montierte. Die entstandene Aufnahme gibt den Sound im Publikum räumlich und sehr detailliert wieder, für Hörer entsteht der Eindruck, man würde inmitten der Zuschauer sitzen. Als ich selbst die fertige Aufnahme zum ersten Mal hörte, war ich ernsthaft erstaunt, denn das Publikum war förmlich unverschämt laut. Es lachte beinahe die ganze Aufführungszeit hindurch, was mir in der Situation selbst nicht aufgefallen war, obwohl ich live zugegen gewesen war. Allein schon das Fehlen des im Theater oft so dominanten ›Sichtkanals‹ ließ also auf etwas bisher nicht Wahrgenommenes aufmerksam werden. Nur selten gab es inmitten der lebhaften Publikumsäußerungen kurze Momente der relativen Stille, die umso bedeutungsvoller wirkten. Dies geschah immer dann, wenn Geschehnisse auf der Bühne den Aufführungsrahmen zu sprengen schienen, so wie im obigen Beispiel, wenn die Figur Cathy, die zunächst eine Tote gemimt hatte, auf einmal aufspringt und sich über die vorangegangene Szene beklagt.
13 | Die hier verwendeten Beispiele werden ausführlich diskutiert ebd., S. 243-268 und S. 270-302. 14 | Die Kompanie begreift ihre Arbeiten und deren Aufführungen ganz explizit als praktische ästhetische Forschung; eine weitere forschende Stimme, die sich an Besucher wendet, schien ihnen daher störend ins Werk einzugreifen.
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Eben diese Szene ist im Folgenden in Transkription eingefügt, die auf der Audio-Aufnahme basiert, wobei das zunächst noch etwas zaghafte und darauf immer dominanter wieder auflebende Lachen des Publikums jeweils zwischen den Textzeilen mittranskribiert wurde. Die Transkription15 entstand im Rahmen ethnographischer Data-Sessions, also im Zuge des Versuchs, im disziplinären Kollegenkreis über die Erfahrungen aus meiner Teilnahme in der Publikumspraxis zu diskutieren.
Abb. 1: Transkription zum Bloody Mess-Audiomitschnitt vom 29.02.2008 Beim Versuch, Gehörtes genau zu transkribieren, wurde deutlich, dass das Publikum hier offenbar zunächst sehr still und aufmerksam dem angeblichen Ausbruch der Figur Cathy lauscht: Es lacht meist nur dann kurz auf, wenn die Figur Dinge sagt, die zwar ein bisschen absurd sind, doch den Prozess des kollektiven ›Sinnmachens‹ nicht weiter gefährden. Außerdem fällt auf, dass es keineswegs nur eine Leistung der Schauspielerin ist, dass das auf der Bühne Gesagte hörbar bleibt; vielmehr scheint das Publikum sich immer wieder diszipliniert ›herunterzudimmen‹, wenn es etwas Neues zu hören gibt. Die kleinen ›Lacher‹ vom Anfang der Sequenz wirken, als würde das Publikum vorsichtig das situative Terrain sondieren und als würden sich Publikumsmitglieder immer wieder bestätigend zulachen. Schon ab dem ersten Drittel der Sequenz jedoch (live nach nur wenigen 15 | Original vgl. Stefanie Husel, »Cathy hakt aus«, in: www.stefanie-husel.de/materia lien_files/03_Cathy1.mp3 vom 01.04.2016.
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Sekunden) scheint sich das Publikum seiner Wahrnehmung der Szene immer sicherer zu werden; es hört der Figur offenbar schon nach wenigen Momenten nicht mehr besonders aufmerksam zu. ›Cathy‹ muss sogar für Momente über das Publikumsgelächter hinweg schreien.16 Nun wird in Bloody Mess nur fünf Minuten nach der hier dokumentierten Sequenz eine Szene geboten, in der fast das Gleiche wieder passiert: Eine laute Musikeinspielung geht zu Ende und Figur Cathy beginnt erneut, sich zu beschweren. Nur gibt es jetzt für das Publikum noch etwas Neues zu sehen. Eine als Gorilla verkleidete Figur hat sich offenbar zu heftig um sich selbst gedreht, taumelt und fällt schließlich hin, was plump und drollig aussieht. Doch obgleich sich die beiden Sequenzen sonst kaum unterscheiden, reagiert das Publikum ganz anders auf diese Szene. Das Gelächter ist an dieser Stelle der Aufnahme so laut, dass eine Transkription dessen, was Figur Cathy sagt, nicht mehr möglich war, da es zur Gänze im Gelächter untergeht. Die Worte der Figur ›ausrastende Cathy‹ können offenbar inzwischen komplett vom Publikum ignoriert werden – man kennt sie anscheinend schon zur Genüge. Sollten einzelne Publikumsmitglieder noch grübeln, wie Cathys Verhalten in diesem Moment einzuordnen sei, reißen die übrigen Zuschauer sie spätestens hier mit und ›erlachen‹ kollektiv den praktischen Sinn der Situation. Das beobachtete bzw. belauschte Publikum gebärdet sich dabei wie ein gut eingespieltes Ensemble, das begeistert bei der Sache ist. Der in dieser kurzen Zeit geformte praktische Sinn – also die sinnhafte Einordnung der Figur Cathy und ihres Verhaltens – zeigte sich dabei in der Praxis des Publikums bzw. wurde hörbar im Gelächter, das als Selbstvergewisserung und kommunikative Aktivität der Zuschauer ebendiesen praktischen Sinn performt, im vollen Sinne der Formulierung. Wissenschaftlich einholbar wurde diese spezifische performative Praxis des ›Sinnmachens‹ dabei durch mein teilnehmendes Beobachten im Publikum, doch vor allem durch den anschließenden Versuch des ›Datenerhebens‹. Denn erst dieser Versuch sowie die Anstrengung, die Ergebnisse des Versuches in einen akademischen Kontext ›mitzunehmen‹, konnte vor Augen führen, wie viel in der tatsächlich stattfindenden Publikumspraxis im ersten Moment gar nicht wahrnehmbar war, selbst für mich, als teilnehmende Beobachterin. Explorative Bühnenästhetiken wie die hier untersuchte, die ihr Publikum intensiv einspielen, lassen sich insofern im ethnographischen Verfahren äußerst aufschlussreich beobachten und beschreiben, da die eng an der Empirie entlanggehende ethnographische Verfahrensweise Raum lässt für eine Beobachtung auch derjenigen situativen Praxis, die in Werk-interpretativen Vorgehensweisen als zweitrangig betrachtet werden müssen. Insofern bieten sich die genannten Verfahrensweisen für eine rezeptionsorientierte Erforschung explorativer Theaterpraxis an.
16 | Vgl. im Transkript etwa in Zeile 4 (»I’m givvin it everything«).
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2. Beispiel: Praxeologisch-ethnographische Produktionsforschung Doch auch eine an szenischer Forschung interessierte, produktionsorientierte Forschung kann vom praxeologischen Ansatz und von ethnographischem Vorgehen profitieren, wie in einem zweiten Beispiel demonstriert werden soll. Die oben geschilderten Ergebnisse meiner auditiven Publikumsforschung führten zu einer weiteren Forschungsfrage: Wie war es überhaupt möglich, dass die Rezeptionspraxis im Theater Forced Entertainments so reibungslos und mit solcher Leichtigkeit vonstatten ging? Die fast ensembleartig kooperierenden Zuschauer der belauschten Situation hatten ja mit Sicherheit keine gemeinsame Probenphase hinter sich. Dennoch schienen sie situativ extrem schnell zu Insidern im Kosmos der Aufführung zu werden, z.B. war ihnen offenbar innerhalb von Sekunden klar, wie Figuren und ihr Verhalten einzuschätzen waren. Aus diesem Grund justierte ich meinen Beobachtungsfokus im Zuge eines erneuten ›Feldbesuchs‹ neu, mit der Hypothese, dass in den Proben Forced Entertainments stellvertretend für das spätere Publikum der praktische Sinn für die Aufführungssituation eingeübt wurde. Die Kompanie probte zu diesem Zeitpunkt The Thrill of it all und erlaubte mir, hinzu zu kommen. Die ›Daten‹ aus dieser Forschungsphase liegen in Form von Skizzen vor, mit denen ich meine Probenbeobachtung dokumentiert habe. Im Folgenden ist ein kurzes Beispiel zu einer Probensequenz eingefügt:
Abb. 2: Skizzen zum Probenbesuch während der Produktion von The Thrill of it All Teilskizze (1) zeigt einen Probenmoment, in dem ein zuvor schon einstudierter Tanz verändert werden soll. Allerdings kommt die Improvisation nicht voran, es stellen sich keine ›Aha-Momente‹ ein. (2) An dieser Stelle beginnt ein Settingwechsel: Tim Etchells, der bis dahin als Regisseur im leeren Zuschauerraum saß, baut eine kleine Kamera ab, die die Probe vom Bühnenrand aus filmt, und begibt sich auf die Bühne. (3) Nun betrachten alle an der Probe Beteiligten ge-
Sinn machen —E xplorierendes Theater und (seine) Forschungspraxis
meinsam das eben Improvisierte auf dem Kameradisplay. Sie wollen herausfinden, ab welcher Stelle und aus welchem Grund der eben ausprobierte Tanz nicht ›funktionierte‹. (4) Hierfür werden zusätzlich Aufnahmen vom vorangegangenen Probentag zu Rate gezogen, die auf einem Laptop bereitstehen. (5) Eine größere Kamera filmt unterdessen die gesamte Probe in einer Totalen. Nach einiger Zeit entscheidet die Kompanie, dass es angenehmer wäre, das Video in der Garderobe weiter zu betrachten, denn dort steht ein größerer Fernsehbildschirm bereit, auf dem man mehr zu sehen hofft. Auf Skizze (6) sieht man Tim Etchells mit den Fingern einen bestimmten Ablauf auf dem Video nachverfolgen, während die übrigen Gruppenmitglieder zuschauen. Interessanterweise finden sich also im beobachteten Produktionsprozess mannigfaltige Zuschau-Praktiken. Aufgeführtes wird von allen Seiten betrachtet. Verschiedene Blickwinkel werden aufgezeichnet und miteinander verglichen. Zuschauerfahrungen werden also provoziert, ausprobiert und diskutiert, danach wird jeweils versucht, sie immer wieder durchzuspielen, wobei Setting- und Medienwechsel eine wesentliche Rolle einnehmen. Insofern ließ sich meine Hypothese in diesem Fall bestätigen: Die Gruppe probt ›stellvertretend‹ für ein späteres Publikum, indem im Probenprozess mögliche Zuschaupraktiken experimentell erarbeitet werden. Beim intensiven ethnographischen Eintauchen in den Produktionsprozess wird insofern deutlich, dass sich Darstellungs- und Wahrnehmungspraktiken nur in ihrem engen Bezug aufeinander praktisch sinnfällig beschreiben lassen. Wie im vorangegangenen Beispiel arbeitet Ethnographie dabei eng an der Empirie und gewissermaßen ›mimetisch‹: Da Erfahrungen aus der Praxis in den akademischen Kontext ›mitgenommen‹ und für disziplinäre Kollegen erklärt werden müssen, nimmt die Ethnographin ähnliche Explikationshürden, wie sie auch in der beobachteten Praxis genommen werden müssen. Waren es in der Probenpraxis Forced Entertainments Videoaufnahmen, sind es hier Skizzen: In beiden Fällen wurden bildliche Darstellungen und Medienwechsel genutzt, um die praktische Produktionsarbeit mitteilbar werden zu lassen.
Fazit Sinn machen Beide Beispiele aus praxeologisch-ethnographisch inspirierter Forschung zeigen, dass sich Darstellungs- und Wahrnehmungspraktiken, seien es die auf Seiten der Theaterrezipienten oder die der Theatermacher, gleichermaßen als kollektive Arbeit am praktischen Sinn sozialer Situationen betrachten lassen: In beiden untersuchten Fällen verständigen sich Situationsteilnehmer über mögliche Sinnzuschreibungen theatraler Situationen und er-spielen auf diese Weise erst deren praktischen Sinn. Es ist dieser Prozess, der sich ethnographisch äußerst detailliert nachvollziehen und praxeologisch beschreiben lässt. Den Gegenstandsbereich klassischer Aufführungsforschung überschreitend, zeigen die Beispiele weiterhin auf, dass die bislang immer noch existente Kluft zwischen rezeptions-
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und produktionsorientierter Theaterwissenschaft ethnographisch überwunden werden könnte, sofern die »protestantische« Scheu vor der Empirie abgelegt wird. Ein praxeologisch inspirierter theaterwissenschaftlicher Ansatz sowie eine diesem Ansatz entsprechende ethnographische Verfahrensweise könnten eine Form der Theaterforschung etablieren, die sich anschickt, dem in explorativen Ästhetiken erspielten praktischen Sinn nahe zu kommen und ihn für die akademische Debatte einzuholen.
Gender Trouble, once again Von Unwissenschaftlichkeitsvorwürfen und (ver-)störendem Wissen Jenny Schrödl
Im Folgenden beschäftige ich mich mit dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit, dem Genderforschende seit einiger Zeit von Seiten einer breiten medialen Öffentlichkeit verstärkt ausgesetzt sind. In renommierten Zeitungen, Zeitschriften und Wochenblättern – von Der Spiegel über die FAZ, das Handelsblatt und die Wirtschaftswoche bis hin zu DIE ZEIT – wird seit Mitte der 2000er Jahre bis heute wiederholt vorgebracht, dass die Gender Studies unwissenschaftlich seien, ja Lügen produzierten.1 In diesem Sinne behauptet etwa Harald Martenstein in DIE ZEIT, dass Genderforschung eine »Antiwissenschaft« sei, »eine Wissenschaft, die nichts herausfinden, sondern mit aller Kraft etwas widerlegen will«2 . Alexander Kissler vom Cicero spricht von den Gender Studies als »Hokuspokus«, die »keine Forschung, sondern quasi-religiöse Dogmatik«3 sei. Derartige Kritiken sind nun weder Einzelfälle, noch entbehren sie einer öffentlichen Wirksamkeit, wie sich an den zahllosen Blogs und Kommentaren im Netz zeigt. Sie werden zudem von politisch und sozial engagierten Menschen z.T. unreflektiert aufgegriffen, ebenso wie von Akteur_innen in wissenschaftlichen Organisationen, Bildungseinrichtungen und Förderinstitutionen. In jüngster Zeit mehren sich die Stimmen aus Wissenschaft und Universitäten selbst, die sich gegen die Diskreditierung der Gender Studies sowie gegen Hassakte und 1 | Dieser Aufsatz bildet die ausgearbeitete Fassung meines Beitrags zum Themenforum »Lügen – Versuch einer Mentiologie des Theaters« (gemeinsam mit Julius Heinicke, Joy Kristin Kalu, Katja Rothe, Sandra Umathum und Andreas Wolfsteiner). 2 | Harald Martenstein, »Schlecht, schlechter, Geschlecht« (06./08.06.2013), in: www. zeit.de/2013/24/genderforschung-kulturelle-unterschiede vom 27.09.2015. 3 | Alexander Kissler, »Hokuspokus, aber keine Wissenschaft« (18.03.2014), in: www. cicero.de/salon/gender-studies-dogmatisches-hokuspokus-aber-keine-wissenschaf t /57240 vom 27.09.2015.
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Gewaltdrohungen positionieren.4 Unabhängig davon sehen sich Genderforschende, wenn auch auf weit weniger polarisierende und emotional aufgeladene Weise, ebenfalls in den Wissenschaften bis heute mit der Notwendigkeit einer grundlegenden Legitimation ihres Gegenstandes konfrontiert, die für andere, scheinbar selbstverständlichere Erkenntnisgegenstände (wie Körper, Raum oder Sprache) nicht oder weniger erheblich ist. Aussagen und Ansprüche von Wahrheit/Falschheit führen nicht zuletzt in das Themenfeld des vorliegenden Bandes Episteme des Theaters, denn es geht bei der medialen Debatte um Gender schließlich um die entscheidende Frage, welche Themen und Fragestellungen als Wissensgegenstände innerhalb einer Gesellschaft Anerkennung finden, welche umkämpft sind und auf welche Weisen dies, eben auch außerhalb der wissenschaftlichen Institutionen, ausgehandelt wird.
Unwissenschaftlichkeitsvor würfe Was genau beinhaltet nun der Unwissenschaftlichkeitsvorwurf von Seiten der journalistischen Gender-Gegnerschaft? Zunächst einmal ist es schwierig, den Texten ernst zu nehmende Kritikpunkte abzugewinnen, argumentieren sie doch oftmals polemisch, mit Halbwissen und mythischen Aufladungen. Schlagworte wie »Gender-Ideologie«, »unwissenschaftlich« oder »Zweifel an Wissenschaftlichkeit« werden kaum argumentativ begründet, sondern durch fortwährende Wiederholungen bekräftigt, so als würden sie, Kraft einer Magie der Sprache, allein dadurch an Wirksamkeit und Wahrhaftigkeit gewinnen. Zudem wird schlicht verallgemeinernd vorgegangen: Weder werden bestimmte Ansätze oder Disziplinen aus den Gender Studies unterschieden, noch die Inter- und Transdisziplinarität der Gender Studies überhaupt wahrgenommen, vielmehr richten sich die Unwissenschaftlichkeitsvorwürfe gegen die Gender Studies per se. Es geht also, wie auch die Autor_innen einer Heinrich-Böll-Studie zum vorliegenden Thema feststellen,5 nicht um Beiträge zu einer »differenzierten wissenschaftlichen Qua-
4 | Z.B.: Sabine Hark/Paula-Irene Villa (Hg.), Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen, Bielefeld 2015. Zudem haben verschiedene Fachgesellschaften und Forschungszentren Stellungnahmen verfasst gegen die Diskreditierung und Diffamierung von Wissenschaftler_innen im Kontext von Genderund Sexualitätsforschung, z.B. Deutsche Gesellschaft für Soziologie: »Erklärung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) zu aktuellen Kampagnen der Diskreditierung und Diffamierung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern« (23.07.2014), in: www. soziologie.de/de/nc/aktuell/stellungnahmen/single-view/archive/2014/07/23/article/ erklaerung-der-deutschen-gesellschaft-fuer-soziologie-dgs-zu-aktuellen-kampagnender-diskreditieru-1.html vom 30.09.2015. 5 | Regina Frey et al., Gender, Wissenschaftlichkeit und Ideologie. Argumente im Streit um Geschlechterverhältnisse, hg. v. Heinrich-Böll-Stiftung 2013 (zweite, aktualisierte Auflage
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litätsverbesserung«, sondern um einen »pauschalen Diskreditierungsversuch«6 und um eine »Delegitimation des Gender-Begriffs an sich« 7. Bei genauerer Betrachtung lassen sich insbesondere fünf Aspekte des Vorwurfs der Unwissenschaftlichkeit gegenüber den Gender Studies herauskristallisieren. Erstens seien die Gender Studies nicht politisch neutral. Vorgeworfen wird eine Vermischung mit politischen Bewegungen, Institutionen und Zielen. Damit verbunden ist der Vorwurf, Gender Studies seien Teil einer »Staatsraison«8. Zweitens sei Genderforschung nicht objektiv und interesselos, sondern durch »subjektivistische« Interessen und Selbst-Beforschung von Betroffenen korrumpiert.9 Vieles ließe sich hier einwenden: Zum Beispiel, dass Genderforschung nicht die einzige Forschungsrichtung ist, die unter anderem durch politische Bewegungen motiviert wurde. Oder dass nicht nur Genderforschende Betroffene sein können, sondern auch Familienforschende, die Eltern sind, Mediziner, die selbst erkrankt sind usw. Hierbei wird sehr deutlich, dass oftmals mit zweierlei Maß gemessen wird und bestimmte Vorwürfe auch nur funktionieren, weil spezielle Personengruppen gesellschaftlich marginalisiert sind. Drittens richte sich die Genderforschung nicht nach naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und Methoden.10 Dies allein scheint schon auszureichen, um als unwissenschaftlich zu gelten, da das Gros der Journalist_innen von einem eingeschränkten, szientistischen Wissenschaftsbegriff ausgeht, der allein naturwissenschaftlich Verfahrensweise als wissenschaftlich anerkennt. Zudem findet sich viertens wiederholt das Argument, die Gender Studies hätten sich vor den Geldgeber_innen (hier: den Steuerzahlenden) hinsichtlich ihrer Wissenschaftlichkeit zu legitimieren. Es wird sich lauthals über die ›Verschwendung‹ des von ›uns‹ »sauer verdienten Geldes«11 beschwert, welches (natürlich ausschließlich) für die Gender Studies verwendet würde. Warum dies nur die Gender Studies (und nicht 2014), in: https://www.boell.de/sites/default/files/gender_wissenschaftlichkeit_ideolo gie_2.auflage.pdf vom 04.04.2016. 6 | Ebd., S. 20. 7 | Ebd., S. 79. 8 | So titelte z.B. eine Sendung im WDR: »Deutschland im Genderwahn? Gleichstellungsgesetz, Quotenregelung, Genderforschung – bei uns wird das Verhältnis von Mann und Frau zur Staatsraison« (30.06.2015), in: http://www1.wdr.de/themen/politik/faktencheck428. html vom 29.09.2015. Diese Seite ist inzwischen nicht mehr abrufbar. 9 | Vgl. z.B. Volker Zastrow, »Politische Geschlechtsumwandlung« (20.06.2006), in: www.faz.net/aktuell/politik/gender-mainstreaming-politische-geschlechtsumwandlung1327841.html vom 27.09.2015. 10 | Z.B. bei Martenstein, »Schlecht, schlechter, Geschlecht«. 11 | Vgl. z.B. Birgit Stöger, »›Professx für Gender Studies‹ oder: wie mein sauer verdientes Geld verpulvert wird« (06.11.2014), in: www.blu-news.org/2014/11/06/professx-fuergender-studies-oder-wie-mein-sauer-verdientes-geld-verpulvert-wird/vom 29.09.2015. Diese Seite ist inzwischen nicht mehr abrufbar.
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andere wissenschaftliche Fächer) betreffen soll und woher ›die‹ Steuerzahlenden Kompetenz und Legitimation nehmen, über die ›Bedeutung‹ und ›Nützlichkeit‹ von Forschung und Lehre zu bestimmen, bleibt indes völlig offen. Nicht zuletzt wird fünftens die Behauptung aufgestellt, die Gender Studies seien an Hochschulen übermäßig präsent, sie würden übervorteilen und die gesamte Wissenschaftslandschaft in Form einer »Genderisierung« überziehen, ja es wird sogar nahegelegt, dass anderen (freilich ›wichtigeren‹ und ›nützlicheren‹ Fächern) die »Lehrstühle« und Gelder durch die Gender Studies entzogen werden, wenn beispielsweise Martenstein Folgendes schreibt: »Die Slawisten zum Beispiel, mit etwa 100 Professoren, sind von den Genderstudies bereits locker überholt worden. Die Paläontologie, die für die Klimaforschung und die Erdölindustrie recht nützlich ist, hat seit 1997 bei uns 21 Lehrstühle verloren. In der gleichen Zeit wurden 30 neue Genderprofessuren eingerichtet.«12 Den Verlust bzw. Gewinn von Professuren in unterschiedlichen Fächern in einen (kausalen) Zusammenhang zu stellen, ist nicht nur völlig unzulässig und schlicht falsch, sondern es gibt auch real, also gemessen an der Anzahl, weder eine übermäßige, noch eine zunehmende Präsenz von Geschlechterforschung an deutschen Hochschulen bzw. Universitäten. Im Gegenteil: Der prozentuale Anteil von Professuren mit Voll- oder Teildenomination für Geschlechterforschung ist seit dem Jahr 2000 bis heute konstant geblieben und pendelt zwischen 0,4 und 0,5 Prozent aller Professuren in Deutschland.13 Unterm Strich kann folgender Schluss gezogen werden: Die Vorwürfe der Nicht-Wissenschaftlichkeit gegenüber den Gender Studies sind haltlos und unbegründet. Im Gestus der Sorge um die Neutralität, Objektivität und Interesselosigkeit der Wissenschaften wird hier aber eine Wissens- und Wissenschaftsvorstellung ins Spiel gebracht, die aus der Perspektive geistes- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen nicht nur kontrovers diskutiert wurde, sondern inzwischen als veraltet und defizitär betrachtet wird, woran nicht zuletzt Erkenntnisse aus den Gender Studies erheblichen Anteil haben. Dass Wissen und Macht in engem Zusammenhang stehen, dass Forschende nie neutral an ihre Gegenstände herangehen, dass es sich stets um ein situiertes Wissen handelt, dass der sogenannte ›gesunde Alltagsverstand‹, der oft als Refugium der Wahrheit herhalten muss, eines der am stärksten gesellschaftlich abhängigen Sphären darstellt – all dies sind aus epistemologischer Sicht nahezu triviale Erkenntnisse, die nur von bestimmten Journalist_innen entweder nicht gewusst oder einfach ignoriert werden. Schlussendlich entpuppt sich der Unwissenschaftlichkeitsvorwurf als Scheinvorwurf, denn es geht den Gender-Gegner_innen gar nicht um eine ergebnisoffene Kritik oder ernsthafte Sorge um die Wissenschaftlichkeit universitärer 12 | Martenstein, »Schlecht, schlechter, Geschlecht«. 13 | Vgl. Sabine Hark/Paula-Irene Villa, »›Eine Frage an und für unsere Zeit‹. Verstörende Gender Studies und symptomatische Missverständnisse«, in: Dies., Anti-Genderismus, S. 7-39, hier S. 22.
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(Gender-)Forschung, sondern um den bloßen Erhalt hegemonialer Geschlechtervorstellungen und -verhältnisse, die mitnichten neutral, objektiv oder interesselos sind.14 Und der Ruf nach den Naturwissenschaften hat dabei die Funktion, die soziale Geschlechterordnung a priori als unveränderliche Natur festlegen zu wollen und damit aus dem Bereich wissenschaftlicher Verhandlungen herauszuhalten.
Natur versus Kultur? – Oder: (ver-)störendes Wissen Damit nähern wir uns dem Kern der Gender-Debatte und der vermeintlichen Lüge der Gender Studies. Es geht, wieder einmal, um die essentielle Frage von Natur versus Kultur, Gegebenheit versus Konstruktion. In allen Texten liegt der Stein des Anstoßes gegenüber der Genderforschung in der These begründet, Gender sei nicht etwas natürlich Gegebenes, sondern etwas sozial-kulturell Hergestelltes. So klagt Martenstein über die vermeintliche Ignoranz der Genderforschenden gegenüber den Hormonen und der Evolutionsbiologie,15 spricht Ferdinand Knauss vom »angeblich sozial konstruierte[n] Geschlecht«16 oder beschwert sich Bettina Röhl über die »sogenannte Gender-Theorie«, die meine, »Männer und Frauen« seien »bloß optische Täuschung« und »[d]ie Fiktion von Mann und Frau sei aus tradierten, gesellschaftlichen Zuweisungen entstanden und jederzeit änderbar.«17 Kurzum: die ›Lüge‹ der Gender Studies besteht aus Sicht ihrer Gegnerschaft in der Behauptung, Geschlecht sei eine kulturelle Größe – die ›Wahrheit‹ sei hingegen aber, dass die zwei Geschlechter sowie deren Unterschiede natürlich gegeben seien und maximal aus den männlichen und weiblichen Erscheinungsund Verhaltensweisen empirisch zu beobachten seien. Wenn überhaupt, dann wird dies begründet durch die bereits erwähnte Alltagswahrnehmung, die Religionen oder die Naturwissenschaft.18 Keine Frage, hier wird ein biologistisches und naturalistisches Verständnis von Geschlecht/Geschlechterdifferenz bemüht, das in unserer Gesellschaft eine lange Tradition hat. Wie es Sabine Hark und Paula-Irene Villa ausdrücken:
14 | Vgl. zur genaueren Analyse des Unwissenschaftlichkeitsvorwurfs sowie des zugrunde liegenden Wissenschaftsverständnisses: Manfred Köhnen, »Der Unwissenschaftlichkeitsvorwurf – Zum Alleinvertretungsanspruch eines speziellen Wissenschaftsverständnisses«, in: Frey et al., Gender, Wissenschaftlichkeit und Ideologie, S. 51-64. 15 | Martenstein, »Schlecht, schlechter, Geschlecht«. 16 | Ferdinand Knauss, »Feministinnen erforschen sich selbst« (19.09.2007), in: www. handelsblatt.com/technologie/forschung-medizin/forschung-innovation/gender-studiesfeministinnen-erforschen-sich-selbst/2863394.html vom 27.09.2015 [Herv. J.S.]. 17 | Bettina Röhl, »Bildungsabsolutismus, Gender und das Grundgesetz« (11.02.2014), in: www.wiwo.de/politik/deutschland/bettina-roehl-direkt-gender-ist-ein-radikal-feminis tischer-irrweg/9462540-6.html vom 27.09.2015. 18 | Vgl. z.B. Zastrow, »Politische Geschlechtsumwandlung«.
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Jenny Schrödl Zugleich ist kaum eine Leitdifferenz der Gegenwart derart eng geknüpft an ein biologisches, genauer: biologistisches Verständnis. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts halten wir das Geschlecht für eine unverrückbare, universale und unhintergehbare Naturtatsache, die an einem bestimmten physikalischen Ort der menschlichen Körper angesiedelt sei. Selbst wenn dies stimmte, so ist es doch höchst interessant und erkenntnisreich, sich mit der Geschichte dieser Tatsache zu befassen.19
Zudem vollzog sich um 1800 – mit den Worten von Christina von Braun und Inge Stephan – »ein Paradigmenwechsel: Mit der modernen wissenschaftlichen Beschreibung zweier biologischer Geschlechter wurde das Verhältnis der Geschlechter nicht mehr in der Opposition von sozialer Superiorität und Inferiorität gedacht, sondern als das Verhältnis einer Differenz konstruiert.«20 Unabhängig davon interessiert die meisten Genderforschenden weniger die Frage nach Wahrheit oder Falschheit von Geschlecht ›an sich‹, sondern sie fragen nach den Bedingungen, Erscheinungs- und Funktionsweisen von Weiblichkeit und/oder Männlichkeit, die im Kontext einer bestimmten Zeit und Kultur als wahr bzw. authentisch oder eben als falsch bzw. unecht vorgestellt und verstanden werden. Die Wahrheit von Geschlecht bzw. Sexualität erweist sich im Sinne Michel Foucaults immer als Produkt von Diskursen und Praktiken, deren Ziel in der Rechtfertigung und Sedimentierung bestimmter Erscheinungs- und Verhaltensweisen, bestimmter Normen, Hierarchien und sozialer Ordnungen besteht. Unter Wahrheit ist »eine Gesamtheit von geregelten Verfahren für die Produktion, das Gesetz, die Verteilung, das Zirkulierenlassen und das Funktionieren von Aussagen zu verstehen.«21 Und es ist gerade eine der Errungenschaften performativer Gendertheorie, das scheinbar vorgegebene (geschlechtliche) Sein in seinem Vollzug und in Bezug auf involvierte Machttechnologien zu befragen. Dabei steht die Vorstellung einer Natürlichkeit von Geschlecht ebenso zur Debatte wie die Vorstellung einer Künstlichkeit. Über simple Natur-versus-Kultur-Debatten ist die Forschung (und zwar natur- wie geistes- und sozialwissenschaftliche) längst, im Sinne einer Interaktion zwischen beiden, hinaus: »Das Programm, das die Genderstudies daher nüchtern wie vorurteilsfrei verfolgen, besteht folglich genau darin, am Ort der Geschlechterdifferenz die Frage nach dem Verhältnis des Biologischen zum Kulturellen zu stellen.«22
19 | Sabine Hark/Paula-Irene Villa, »Biologistische Grenzziehungen« (14.06.2013), in: www.taz.de/!5065401/vom 27.09.2015. 20 | Christina von Braun/Inge Stephan, »Einführung: Gender@Wissen«, in: Dies. (Hg.), Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien, Köln u.a. 2009, S. 9-46, hier S. 39. 21 | Michel Foucault, »Gespräch mit Michel Foucault«, in: Daniel Defert/François Ewald (Hg.), Schriften in vier Bänden, Frankfurt a.M. 2003, Band III (1976-1979), S. 186-213, hier S. 212. 22 | Hark/Villa, »Biologistische Grenzziehungen«.
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Aber macht es überhaupt Sinn, etwas zu den Inhalten und Zielen der komplexen und diversen Gender Studies in Deutschland zu sagen, wenn ihre Gegner_innen gar nicht an einer erkenntnisgewinnenden und ergebnisoffenen Diskussion interessiert sind, sondern vielmehr an einer De-Legitimation und De-Platzierung der Geschlechterforschung durch die Techniken und Strategien sprachlicher Gewalt? Und bleibt nicht die Frage offen, warum ausgerechnet jetzt, zu diesem historischen Zeitpunkt, eine derartig massive Kampagne gegen die Vorstellung einer Konstruiertheit von Geschlecht und Geschlechterdifferenz geführt wird? Sicherlich ist die Beantwortung dieser Frage sehr komplex und umfasst verschiedene strukturelle, soziale und politische Dimensionen und Kontexte. Aber eine ebenso simple wie gewichtige Antwort besteht darin: Weil mit dem Verlust des (Alltags-)Glaubens an die Natürlichkeit der Geschlechter und mit dem Verlust wissenschaftlicher Bestätigung einer Naturgegebenheit von Geschlecht und Geschlechterdifferenz tatsächlich sehr viel auf dem Spiel steht. Die Naturalisierung von Geschlecht, Geschlechterdifferenz und Zweigeschlechtlichkeit gehört in der westlichen Kultur seit dem 18. Jahrhundert zu einem der zentralen Ordnungs- und Deutungsschemata, sie ist nach Stefan Hirschauer eine Form sozialer Organisation, die für viele Zwecke eingesetzt wird: für den Sprecherwechsel in Konversationen, für die Organisation von Allianz- und Konkurrenzbeziehungen, für die Rekrutierung von Personal auf Positionen, für den Aufbau von Machtbeziehungen, für eine ungleiche Verteilung materieller und symbolischer Ressourcen und schließlich auch für die soziale Organisation von Fortpflanzung. 23
Das heißt, es steht nicht irgendetwas, sondern die Form sozialer Organisation auf dem Spiel, was sich ebenfalls in der Anti-Genderismus-Kampagne ausdrückt: es geht nicht nur um quasi neutrale Ordnungsschemata, die austauschbar wären, sondern eben um die damit verbundenen Privilegien und Machtpositionen. Aus Sicht der Gender-Gegnerschaft muss Gender als Wissenskategorie verschwinden und Geschlecht naturalisiert werden, da die Kategorie ›Gender‹ für diejenigen, die herrschen und Machtpositionen innehaben, ein ebenso (ver-)störendes wie gefährdendes Wissen mit sich bringt. Und das vor einem gesellschaftlichen Horizont, in welchem die »asymmetrisch organisierte Zweigeschlechtlichkeit ebenso wie jene heteronormativ gerahmten, familienbasierten Vorstellungen von Sozialität […], wie zuletzt etwa die weltweit geführten Debatten um die Öffnung der Ehe für lesbische und schwule Paare zeigen, jüngst vehement unter Legitimationsdruck geraten [sind].«24
23 | Stefan Hirschauer, »Die soziale Fortpflanzung der Zweigeschlechtlichkeit«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 46/4 (1994), S. 668-692, hier S. 689. 24 | Hark/Villa, »›Eine Frage an und für unsere Zeit‹«, S. 29.
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Die mediale Auseinandersetzung des Anti-Genderismus verdeutlicht aber auch ein Wiederaufkommen der alten Natur-versus-Kultur-Debatte, aufgeladen mit Wahrheits- und Falschheitsansprüchen, so wie mit dem Versuch, erneut ein autoritäres und hierarchisches Verständnis von Wissenschaft und Gesellschaft zu etablieren, das eigentlich überwunden sein könnte. Umso dringlicher ist es, sich am Diskurs zu beteiligen, aber auch, diesen selbst (diskurs-)analytisch in den Blick zu nehmen. Warum, auf welche Weisen und mit welchen Zielen derzeit wieder verstärkt Gender-Debatten geführt werden, ist dabei ebenso wichtig zu erforschen, wie eine »offene und wertschätzende Diskussions- und Streitkultur«25 einzufordern und zu stärken ist. Denn die hier erwähnten journalistischen Beiträge stehen in einem Kontext, in dem sich rechtskonservative und -populistische Kräfte in die Mitte unserer Gesellschaft vorarbeiten (man denke vor allem an Thilo Sarrazin, Akif Pirinçci & Co, aber auch an die Anti-Bildungsplan-Kampagne in Baden-Württemberg, die »Dresdner Rede« von Sybille Lewitscharoff, Organisationen wie Pegida oder die AfD-Partei) und dabei nicht selten mit Schmähungen und Hassreden bis hin zu Gewalt- und Todesdrohungen eine dezidiert aggressive Atmosphäre schaffen. Der Ton, die Art und Weise, wie sich in den Schriften und Reden über Menschen und Gruppen geäußert wird, ist mindestens so erschreckend und beunruhigend wie die Inhalte. Dabei spielt das World Wide Web mit seinen sozialen Netzwerken und Kommentarfunktionen eine zentrale und neue Rolle, insofern dessen Anonymität und gleichzeitige Öffentlichkeit einen vermeintlich (straf-) rechtlich freien Raum eröffnet, der es scheinbar erlaubt, alles zu sagen, was jemandem einfällt ohne soziale, moralische oder juridische Normen und Werte einer Gesellschaft einhalten zu müssen. Um es mit Heinz-Jürgen Voß zu sagen, einem der Wissenschaftler, der von Pirinçci und seiner Anhängerschaft persönlich beleidigt und bedroht wird: Neben dem solidarischen Miteinander, auch über inhaltliche Streitfragen hinweg, sollten wir Konzepte erarbeiten, wie wir eine offene und positive Diskussions- und Streitkultur stärken können, in der fachwissenschaftliche und gesellschaftliche Debatten so geführt werden, dass die Persönlichkeitsrechte des_der Diskussionspartner_in gewahrt bleiben. 26
25 | Vgl. Heinz-Jürgen Voß, »Gegen Schmähungen und Beleidigungen – wir brauchen strategische Konzepte, um eine offene und wertschätzende Diskussions- und Streitkultur zu stärken« (18.07.2014), in: http://dasendedessex.de/gegen-schmaehungen-und-beleidi gungen-wir-brauchen-strategische-konzepte-um-eine-offene-und-wertschaetzende-dis kussions-und-streitkultur-zu-staerken/vom 27.09.2015. 26 | Ebd.
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Gender als theater wissenschaftliche Wissenskategorie Über die Frage nach Konzepten für eine offene und positive Diskussions- und Streitkultur hinaus sollten wir als Theaterwissenschaftler_innen aber nicht zuletzt – und gerade vor dem Hintergrund szientistischer und geisteswissenschaftlich-feindlicher Angriffe – auch daran arbeiten, das Konzept von Gender als theaterwissenschaftliche Wissenskategorie stärker zu diskutieren und zu konturieren.27 Und insofern das Theater laut Franziska Schößler als »besonders tauglicher Ort« verstanden werden kann, »um Geschlechtlichkeit in ihrer Konstruktivität vorzuführen«28, insoweit richten sich die Vorwürfe gegen Gender und Gender Studies auch explizit gegen das Theater und die Theaterwissenschaft. Gender lässt sich in Bezug auf alle Wissensfelder der Theaterwissenschaft (Analyse, Theorie und Ästhetik sowie Historiografie) als zentrale Analysekategorie denken: Im Feld der Theaterhistoriografie vermögen zum Beispiel sprachliche, bildliche und materielle Zeugnisse von Aufführungen (z.B. Kritiken, Masken und Kostüme bzw. Kostümentwürfe) […] Aufschluss über gesellschaftlich sanktionierte Geschlechterimagines zu geben; normative Quellen (z.B. Theatergesetze, Schauspieltheorien, Mimik- und Gestiktafeln) könnten helfen, den Spielraum und die Erfahrbarkeit von Geschlecht in der Öffentlichkeit zu bestimmen. 29
Als aufführungsanalytische Kategorie vermag Gender zu einem vertieften Verständnis der körperlichen und zwischenmenschlichen Darstellungen in Theater, Tanz und Performance beizutragen und kann darüber hinaus Aufschluss über kritische, subversive oder andere Formen von Geschlechterperformances geben, wie sie etwa im postdramatischen Theater, in der Performancekunst und im
27 | Vgl. als Überblick zu Gender als theaterwissenschaftlicher Kategorie: Kati Röttger, »Zwischen Repräsentation und Performanz: Gender in Theater und Theaterwissenschaft«, in: Hadumod Bußmann/Renate Hof (Hg.), Genus. Geschlechterforschung/Gender Studies in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Stuttgart 2005, S. 520-556; Jenny Schrödl, »Die Kategorie ›Gender‹ in der Theaterwissenschaft und im Gegenwartstheater«, in: Karoline Spelsberg (Hg.), Gender und Diversity – die Perspektiven verbinden, Berlin u.a. 2016 [im Erscheinen]; Jenny Schrödl, »Gender Performance«, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Matthias Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/Weimar 2014, S. 131-133. 28 | Franziska Schößler, Einführung in die Gender Studies, Berlin 2008, S. 167. 29 | Jan Lazardzig/Viktoria Tkaczyk/Matthias Warstat, Theaterhistoriografie. Eine Einführung, Tübingen/Basel 2012, S. 63. Vgl. zur engen Verbindung von Theatergeschichte und Geschlechterforschung auch: Beate Hochholdinger-Reiterer, Kostümierung der Geschlechter. Schauspielkunst als Erfindung der Aufklärung, Göttingen 2014, S. 30-46.
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postmodernen Tanz eine zentrale Rolle spielen.30 Im Kontext der Theatertheorie und -ästhetik kann die Kategorie Gender zum Beispiel darüber informieren, wie ein bestimmtes Verständnis von Theater, Theatralität oder Schauspielkunst mit Hilfe der Konzepte von Männlichkeit/Weiblichkeit, Natur/Kultur, Geist/Körper (o.ä.) sowie mit bestimmten Ein- und Ausschlüssen, Privilegierungen bzw. Diskriminierungen etabliert wird. Schließlich kann eine theaterwissenschaftliche Geschlechterforschung wesentlich und in vorderster Reihe dazu beitragen, die Praktiken der Konstruktion – also die ästhetischen, körperlichen, medialen etc. Techniken, Strategien und Verfahren, wie Männlichkeit und/oder Weiblichkeit hervorgebracht werden (ob bewusst oder unbewusst, intendiert oder nichtintendiert) – differenziert zu analysieren und zu theoretisieren, ohne dabei den Rest oder Überschuss zu vergessen, der weder herstellbar, noch konstruierbar ist. Denn darum geht es, wenn die Frage nach dem Verhältnis von Biologischem und Kulturellem, von Widerfahrenem und Produziertem gestellt wird.
30 | Vgl. z.B.: Vera Apfelthaler, Die Performance des Körpers – der Körper der Performance, Sankt Augustin 2002; Miriam Dreysse, Mutterschaft und Familie. Inszenierungen in Theater und Performance, Bielefeld 2015; Janine Schulze, Dancing Bodies Dancing Gender. Tanz im 20. Jahrhundert aus der Perspektive der Gender-Theorie, Dortmund 1999.
Disziplinierung der Disziplin Konstitutionsprozesse der Theater- und Tanzwissenschaft Beate Hochholdinger-Reiterer, Constanze Schellow Maria-Elisabeth Heinzer, Andreas Kotte
Die Texte des Themenforums erörtern anhand einzelner Fallbeispiele, wann, warum und auf welche Art und Weise spezifische Episteme im Verlauf der Fachgeschichte installiert oder marginalisiert wurden und werden: etwa die von Oskar Eberle in den 1920er Jahren formulierten Gründungsgesten oder die mit der Häufung von Begriffen der Negation, Negativität und Absenz bewirkte terminologische Verschiebung in tanzwissenschaftlichen Texten; ferner eine anhaltende literaturwissenschaftliche Prägung, die am Beispiel eines postulierten Theatervakuums zwischen Antike und Mittelalter besonders evident wird, oder die Erfindung der Bühnenrampe als ›Ursprungsepistem‹ von Theater.
Gründungsgesten der Schweizer Theater wissenschaft Bislang existieren noch keine Forschungsarbeiten, welche die Fachgeschichte der Schweizer Theaterwissenschaft in den Blick nehmen.1 Obwohl erst 1992 das erste und einzige Institut für Theaterwissenschaft in der Schweiz an der Universität Bern gegründet wurde, reichen die Bemühungen um die akademische Etablierung der Disziplin bis in die 1920er Jahre zurück. Für die universitäre Institutionalisierung der deutschsprachigen Theaterwissenschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren in Deutschland, Österreich und der Schweiz das Zusammenwirken von punktueller universitärer Lehre und Forschung, Lobbying und Publikationen durch die neugegründeten wissenschaftlichen Gesellschaften und der Auf bau von Theatersammlungen zentral. An der Universität Zürich lassen sich seit dem Wintersemester 1875 theaterhistorische Vorlesungen von Salomon Vögelin, dem Inhaber des 1870 neu ge1 | Vgl. Beate Hochholdinger-Reiterer, »Theaterwissenschaft in der Schweiz. Vorgeschichte der Institutsgründung«, in: Clemens Gruber/Rainer M. Köppl, für Monika Meister, Maske und Kothurn 61 (2015), S. 101-107.
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gründeten Lehrstuhls für Kultur- und Kunstgeschichte, nachweisen. Vögelin hat über einen Zeitraum von 13 Jahren Vorlesungen zu Theatergebäuden und szenischen Einrichtungen im Altertum, im Mittelalter und in der Neuzeit abgehalten. Mit Blick auf dieses Zürcher Beispiel würde es sich lohnen, für eine noch zu schreibende Vorgeschichte der akademischen Theaterwissenschaft auch in den anderen deutschsprachigen Städten abseits der Philologien nach einschlägigen theaterwissenschaftlichen Vorlesungen zu suchen. Ab den 1910er Jahren wurden in der Schweiz Dissertationen mit theaterwissenschaftlichen Schwerpunkten angenommen: z.B. Eugen Müllers Arbeit Eine Glanzzeit des Zürcher Stadttheaters. Charlotte Birch-Pfeiffer 1837 bis 1843 (Zürich 1911)2 oder Bernhard Diebolds Untersuchung zum Rollenfach im deutschen Theaterbetrieb des 18. Jahrhunderts (Bern 1913)3. Anlässlich einer Theaterausstellung am Stadttheater Luzern wurde ebendort 1927 die ›Gesellschaft für innerschweizerische Theaterkultur‹ gegründet. Die Gesellschaft benannte sich in der Folge in ›Gesellschaft für schweizerische Theaterkultur‹ (1930) und 1947 schließlich in ›Schweizerische Gesellschaft für Theaterkultur‹ (SGTK) um. Bereits in der ersten Jahresversammlung im September 1927 postulierte man die Forderung nach einer zentralen Sammelstelle für Theaterliteratur, nach einem Theatermuseum und einem Institut für Theaterwissenschaft. Die Gesellschaft wollte sich zum einen historischer Grundlagenforschung widmen, zum anderen verstand sie sich als Anlaufstelle für die Theaterpraxis. Der Fokus lag in den ersten Jahren eindeutig auf dem Bemühen, die Definition eines spezifisch schweizerischen Theaters zu entwickeln, wovon die einschlägigen Themen der Jahrbücher eindrücklich zeugen.4 Diese »intensivierte Binnenorientierung« ist Ausdruck der zeittypischen Suche nach einem spezifisch »schweizerischen Nationalstil« und entspricht dem Postulat einer »politischen, kulturellen und auch wirtschaftlichen Sonderstellung der Schweiz«5, das durch die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs zur nationalen Identität avancierte. Die bis dahin gültige kulturelle Orientierung der verschiedenen sprachlichen Regionen der Schweiz an den großen Sprachnationen Deutschland, Frankreich und Italien wurde durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs problematisch und setzte die neutrale Schweiz einer nationalen Zerreißprobe aus.
2 | Eugen Müller, Eine Glanzzeit des Zürcher Stadttheaters. Charlotte Birch-Pfeiffer 1837 bis 1843, Zürich 1911. 3 | Bernhard Diebold, Das Rollenfach im deutschen Theaterbetrieb des 18. Jahrhunderts, Leipzig 2013. 4 | Vgl. »Das vaterländische Theater« (1928), »Erneuerung des schweizerischen Theaters« (1934), »Wege zum schweizerischen Theater« (1943). 5 | Ursula Amrein, Phantasma Moderne. Die literarische Schweiz 1880 bis 1950, Zürich 2007, S. 14.
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Die Anfänge einer Fachgeschichte der Theaterwissenschaft in der Schweiz sind daher eng verknüpft mit einer kulturellen Identitätssuche, die über den Begriff einer genuin schweizerischen Theaterkultur abgehandelt wurde und deren Nähe zu den Grundzügen einer ›geistigen Landesverteidigung‹6 differenziert untersucht werden muss. Einer der wesentlichen Protagonisten rund um die Gründung der Gesellschaft für innerschweizerische Theaterkultur und diese in der Folge maßgeblich prägend, war der Theaterwissenschaftler und Theaterpraktiker Oskar Eberle. Im 1. Jahrbuch der Gesellschaft (1928) veröffentlichte Eberle den Beitrag »Theaterwissenschaftliche Grundbegriffe«, der von seinem Bemühen um eine »Systematik der Theaterwissenschaft« 7 zeugt. Oskar Eberle, der bei Max Herrmann in Berlin und bei Artur Kutscher in München Theaterwissenschaft studierte, erkennt bei seinen beiden Lehrern zwei unterschiedliche Grundeinstellungen, wie man das Untersuchungsgebiet der Theaterwissenschaft begrenzen könne. Max Herrmann fokussiere auf die »Geschichte der Theaterkunst« 8, Artur Kutscher hingegen vertrete die Ansicht, wonach sich Theatergeschichte sowohl mit Berufsbühnen wie Liebhabertheatern zu beschäftigen habe, da beide auf eine gemeinsame Wurzel, den Mimus, zurückzuführen seien. Eberle übernimmt von Kutscher die Weite des theaterwissenschaftlichen Betätigungsfeldes, von Herrmann die prinzipielle Unterscheidung zwischen Berufs- und Laientheater. Aus Willi Flemmings Das Wesen der Schauspielkunst (1927)9 bezieht er die Auffassung, wonach sich aus der ›magischen Wurzel‹ das Volkstheater, aus der ›mimischen Wurzel‹ das Berufstheater entwickelt habe. Auf bauend auf diesen Grundannahmen entwirft Eberle in der Folge vier Schauspielertypen, zwei Typen von Berufsspielern (den Mimen und den Künstler) und zwei Typen von Laienspielern (den Dilettanten und den Laien), die graduell nach der Intensität ihrer Gestaltungskraft unterschieden und hierarchisch geordnet werden. Auf der tiefsten Stufe steht der Dilettant, auf der höchsten der vollendete Berufsschauspieler. Diese Systematik, die Berufs- und Laientheater einander gegenüberstellt, die beiden Erscheinungsformen aber analog zueinander auf baut – dem Künstler entspricht der Laie, dem Mimen der Dilettant –, dient 6 | Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 verlangten in der Schweiz Parlamentarier, Intellektuelle und Medienschaffende überparteiliche Maßnahmen, die die kulturellen Grundwerte der Schweiz stärken sollten. Auf den ›Anschluss‹ Österreichs an Nazi-Deutschland reagierte die Schweiz 1938 mit einer Kulturbotschaft des Bundes, in der die sogenannte Geistige Landesverteidigung durch Bundesrat Philipp Etter eine offizielle Formulierung erhielt. 7 | Oskar Eberle, »Theaterwissenschaftliche Grundbegriffe«, in: Helmar Klier (Hg.), Theaterwissenschaft im deutschsprachigen Raum. Texte zum Selbstverständnis, Darmstadt 1981, S. 77-92, hier S. 77. 8 | Ebd., S. 77. 9 | Willi Flemming, Das Wesen der Schauspielkunst, Rockstock 1927.
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Eberle im Weiteren dazu, zwischen Kultur- und Unterhaltungstheater wertend unterscheiden zu können. Der Laie stehe »im Dienste des Gesinnungstheaters«, der Künstler »im Dienste des dramatischen Kunstwerks«, das gemeinsame Ziel heiße »Kulturtheater«10, während der Mime und der Dilettant einzig dem erotischen Unterhaltungstheater frönten. Exemplifiziert wird die von Eberle abgelehnte Form des Unterhaltungstheaters am Beispiel der Großstadt Berlin, wo nicht »das deutsche, sondern das semitische Element den deutschen Bühnen das besondere Gepräge«11 gäbe: »Alle Berliner Bühnen sind, mit Ausnahme des Staatstheaters, das aber heute auch von Juden geleitet wird, jüdische Gründungen. Fast das ganze deutsche Theater ist in jüdischen Händen.«12 Als positiven Gegensatz zum Unterhaltungstheater setzt Eberle die sogenannte Theaterkultur, die sich auf der Berufsbühne mit der künstlerisch vollendeten Darstellung des Dramas erfülle, auf den Laienbühnen durch die Vermittlung von »Ideen, die ein ganzes Volk bewegen«.13 Als Beispiele nennt er die geistlichen Spiele Einsiedelns oder die Altdorfer Tellspiele, die den Staatsmythos vorführten. Eingelagert in diese antipodisch organisierten theaterwissenschaftlichen Grundbegriffe Eberles ist der seit den 1880er Jahren beobachtbare gesamteuropäische Kulturkonflikt, der über die Polarität von Großstadt als dem symbolischen Ort der Moderne und Provinz als Mythos »unversehrter Ganzheit«14 abgehandelt wird. Wie zahlreiche andere Schweizer Literaturwissenschaftler und Feuilletonisten dieser Zeit schreiben sich auch die Protagonisten der Gesellschaft für innerschweizerische Theaterkultur in diesen kulturellen Identitätsdiskurs ein, der im Zeichen der Antimoderne steht. Im zweiten Teil seiner Ausführungen exemplifiziert Eberle ausgehend von seinen vier theaterwissenschaftlichen Grundbegriffen das Modell einer in drei Schichten – Theaterphilologie, Theaterkunde und Theatergeschichte – aufgebauten Theaterwissenschaft. Im Mittelpunkt der theaterwissenschaftlichen Betrachtung stehe die Aufführung. Übersetzt man Eberles Vorschläge, so tritt er für eine Theaterwissenschaft ein, die sich als eigenständige Disziplin mit der Aufführung als ihrem zentralen Gegenstand etabliert und von dieser Grundannahme aus interdisziplinär mit disziplinärer Fokussierung sowie international vernetzt an nationaler oder lokaler Expertise arbeitet. Er bemüht sich um eine Systematik der Theaterwissenschaft, die er, von den Akteuren der Aufführung ausgehend, als graduelles Modell entwickelt, und vertritt einen Theaterbegriff, der nicht nur auf professionelles Theater beschränkt ist, sehr wohl aber klar hierarchisch und wertend Unterscheidungen trifft.
10 | Eberle, »Theaterwissenschaftliche Grundbegriffe«, S. 81. 11 | Ebd., S. 83. 12 | Ebd. 13 | Ebd., S. 84. 14 | Amrein, Phantasma Moderne, S. 16.
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Prägend für Oskar Eberle, der in der Folge weiterhin publizierte, in der SGTK sehr aktiv war und sich vor allem als Festspielregisseur (als Erneuerer des geistlichen Spiels aus barockem Geist, wie es in den Würdigungen heißt) einen Namen machte, war sein akademischer Lehrer, der Germanist Josef Nadler, bei dem er 1927 mit der Arbeit Theatergeschichte der innern Schweiz 1200-1800 15 promovierte. Im Jahr darauf wurde Nadler »als Begründer der schweizerischen Theaterwissenschaft«16 zum Ehrenmitglied der Gesellschaft für Theaterkultur ernannt. Für die Erforschung der Disziplinierung der Disziplin ist es dringend notwendig, stärker als bisher auch die jeweiligen Netzwerke der Akteure, Freund- und Feindschaften, Allianzen und Verwerfungen zu untersuchen, was verständlicherweise nur im internationalen Austausch überhaupt möglich ist.
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Zur Produktivität des ›Nicht‹ für die zeitgenössische Tanzwissenschaft Seit dem Jahr 2000 ist eine Vielzahl tanzwissenschaftlicher Texte erschienen, die eine Spezifik von Choreographien im europäischen zeitgenössischen Tanz seit den 1990er Jahren ex negativo beschreiben. »Negativität«17, »Nicht-Tanz«18, »Nicht-Bewegung«19, »Abwesenheit«20, »das Unabgeschlossene«21, »Null-Figur«22, »Null-
15 | Oskar Eberle, Theatergeschichte der innern Schweiz. Das Theater in Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden und Zug im Mittelalter und zur Zeit des Barock 1200-1800, Königsberg i. Pr. 1929. 16 | Jahrbuch der Gesellschaft für schweizerische Theaterkultur 2 (1929/30), S. 82. 17 | Vgl. u.a. Pirkko Husemann, Ceci est de la danse. Choreographien von Meg Stuart, Xavier Le Roy und Jérôme Bel, Norderstedt 2002, S. 13-25. 18 | Vgl. u.a. Claudia Rosiny, »Einleitung: Zeitgenössischer Tanz«, in: Dies./Reto Clavadetscher (Hg.), Zeitgenössischer Tanz. Körper – Konzepte – Kulturen. Eine Bestandsaufnahme, Bielefeld 2007, S. 9-17, hier S. 13; Husemann, Ceci est de la danse, S. 9, S. 14, S. 20, S. 95, S. 97. 19 | Gabriele Brandstetter, »Still/Motion – Zur Postmoderne im Tanztheater«, in: Dies., Bild-Sprung. TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien, Berlin 2005, S. 55-72, hier S. 57, S. 66. 20 | Vgl. u.a. Gerald Siegmund, Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart, Bielefeld 2006; Krassimira Kruschkova (Hg.), Ob?scene – Zur Präsenz der Absenz im zeitgenössischen Tanz, Theater und Film, Maske und Kothurn 5 (2005). 21 | Susanne Foellmer, Am Rand der Körper. Inventuren des Unabgeschlossenen im zeitgenössischen Tanz, Bielefeld 2009. 22 | Peter Stamer, »›[…]‹ im ∆ der Auslassung«, in: Kruschkova, Ob?scene, S. 129-142, hier S. 135ff.
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punkt«23, »still-act«24, Disfigure-Performancer25 sind nur einige Terminologien, die zur Analyse der Arbeiten etwa von Jérôme Bel, Xavier Le Roy oder Meg Stuart entwickelt worden sind. Es werden rezeptionsästhetisch die Wirkung von Choreographien, aufführungsästhetisch ihre Mittel und Strategien und produktionsästhetisch sogar die Arbeitsweisen von ChoreographInnen mit Hilfe von Ex-negativo-Konstruktionen charakterisiert. Die AutorInnen sprechen von einem radikalen Umdenken in der Tanzwissenschaft, das notwendig sei, weil der Tanz sich radikal verändert habe. Ich schlage eine Revision dieser Aussage vor: Es handelt sich in der Tat um eine tanzwissenschaftliche Wende, jedoch bildet diese nicht nur das Echo auf eine vorhergehende Wende in der Tanzentwicklung. In gewisser Weise ist die theoretische Auseinandersetzung mit Tanz von Anfang an eine Geschichte des ›Nicht-‹ gewesen: seiner Immaterialität, Nicht-Objekthaftigkeit oder Nicht-Dokumentierbarkeit. Diese mediale Bestimmung hat zu einer kulturellen und wissenschaftlichen Marginalisierung von Tanz geführt. In strategischer Umwertung ist mit ihrer Hilfe gleichzeitig tanzwissenschaftlich ein Gegenraum zu anderen kulturellen und wissenschaftlichen Praktiken etabliert worden. Und obwohl die Ontologie des Transitorischen heute in der Forschung als historisches Konstrukt reflektiert wird, wird der besagte Gegenraum durch eine universitär institutionalisierte Tanzwissenschaft, die nach einer Phase der Etablierung in eine Phase der Konsolidierung eingetreten ist, weiterhin beansprucht. In ihrem 2007 publizierten Band Methoden der Tanzwissenschaft fordern Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein mehr »Selbstreflexivität, die nicht nur den eigenen gedanklichen Hintergrund, sondern auch den Ort der eigenen Fachdisziplin berücksichtigt«.26 Betrachtet man die Herausbildung des besagten Exnegativo-Vokabulars unter diesen Vorzeichen, zeigt sich, dass es sich um eine komplexe Überlagerung von ontologischen Aussagen (über Tanz) und diskurs-choreogaphischen Operationen (der Tanzwissenschaft als Diskursfeld)27 handelt. 23 | Vgl. u.a. Helmut Ploebst, No wind no word. Neue Choreographie in der Gesellschaft des Spektakels, München 2001, S. 7; Siegmund, Abwesenheit, S. 380. 24 | André Lepecki, Exhausting Dance. Performance and the Politics of Movement, London/New York 2006, S. 57-64, S. 82, S. 130f. 25 | Gabriele Brandstetter, »Defiguration und Displacement. Körperkonzepte in Performance und Bewegungstheater des 20. Jahrhunderts«, in: Orlando Grossegesse/Erwin Koller (Hg.), Literaturtheorie am Ende? 50 Jahre Wolfgang Kaysers ›Sprachliches Kunstwerk‹, Tübingen/Basel 2001, S. 53-75, hier S. 59. 26 | Gabriele Brandstetter/Gabriele Klein (Hg.), Methoden der Tanzwissenschaft. Modellanalysen zu Pina Bauschs »Le Sacre du Printemps«, Bielefeld 2007, S. 14. 27 | Den Begriff der ›Diskurs-Choreographie‹ habe ich an anderer Stelle entwickelt, um die sich als Ein- und Ausschlusspraxis realisierenden (Selbst-)Disziplinierungen der Tanzwissenschaft zu beschreiben: Wie der Diskurs nach Foucault wirkt auch die ›Choreographie‹, verstanden als strukturierende und strukturierte An/Ordnung, immer zugleich gene-
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Ehe sie die Gesten des ›Nicht‹ bei Bel, Le Roy oder Forsythe beschreiben, operieren TanzwissenschaftlerInnen häufig mit der Einführung von Neinsager-Positionen von KritikerInnen oder ZuschauerInnen, die den Arbeiten mit der Anklage entgegentreten: »Dies ist kein Tanz«. Die Tanzwissenschaft konturiert diesen Umstand der Umstrittenheit gezielt mit und übersetzt ihn in eine Argumentationsfigur, die der Autorisierung der eigenen Position dient: als für die Kunst Partei ergreifend, mit eingeführten Paradigmen brechend. Zwar scheint es zu der Entwicklungslogik kunstwissenschaftlicher Fächer zu gehören, dass sie zu einer Überarbeitung ihrer kanonischen Methoden immer dann ansetzen, wenn sie von einer veränderten Kunstpraxis dazu genötigt sind. Dennoch lässt sich die Frage nach dem Auftauchen bestimmter Tanzwissenschaftsformen aus diskursanalytischer Sicht nicht befriedigend mit dem Auftauchen bestimmter Tanzformen beantworten. Ich bediene mich hier der Überlegungen Michel Foucaults zur Disziplinarität der Wissenschaften. Eine wissenschaftliche Aussage, so Foucault, ist nicht das, was über einen, unabhängig von der Aussage vorhandenen Gegenstand gesagt wird. Sie ist vielmehr als ein Ereignis in einem Feld von Aussagen zu verstehen.28 Begreift man die Tanzwissenschaft als ein solches Aussagenfeld, bedeutet dies, dass sich tanzwissenschaftliche Aussagen nicht über ihren Gegenstandbezug begründen lassen. Diese Annahme kollidiert mit einer in der Tanzwissenschaft besonders einflussreichen Denkfigur, nämlich der engen Verknüpfung ihres disziplinären Selbstbildes mit Eigenschaften, die sie ihrem Gegenstand, ›dem Tanz‹, zuschreibt. Nur so lässt sich etwa auf der Basis eines Verständnisses von Tanz als transitorisch (und nicht zuletzt: marginalisiert) eine für andere Wissenschaften vorbildliche, erkenntnisleitende Funktion unserer Disziplin behaupten. Um präzise zu sein: Entfällt die Gegenstandsadäquatheit als Begründungsfigur, bedeutet das nicht die Leugnung der Singularität jedes einzelnen tänzerischen Untersuchungsgegenstands. Allerdings wäre der Tanzwissenschaft so die Möglichkeit entzogen, Reaktualisierungen der Regeln, die sie als Disziplin ebenso kontrolliert wie sie aus ihnen besteht, damit zu rechtfertigen, man wolle lediglich dem Tanz und dessen Reaktualisierungen ›gerecht‹ werden. Wenn sich die Disziplin in Prozessen der Umschrift und Neuartikulation nicht etwa destabilisiert, sondern überhaupt erst realisiert, muss sich jede Wissenschaft mit der restriktiven und zugleich produktiven Funktion auseinandersetzen, die ihren Denk-Bewegungen innewohnt. Die Disziplinierung der Disziplin erfolgt mithilfe relationaler Lokalisierungsgesten, mit denen sich auch die
rierend und restriktiv. Vgl. Constanze Schellow, Diskurs-Choreographien. Zur Produktivität des ›Nicht‹ für die zeitgenössische Tanzwissenschaft, München 2016. 28 | Vgl. dazu Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a.M. 2010.
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Tanzwissenschaft innerhalb eines weitläufigeren, interdisziplinären Wissensund Wissenschaftsfeldes »aus dem Wissen herausschält«.29 Aspekte der Performativität stehen heute im Zentrum der postfordistischen Wirtschaftsordnung. In dieser Situation fahndet die Tanzwissenschaft nach Strategien, die eine kritische Bezugnahme auf sie seitens einer Kunstform und ihrer Wissenschaft erlauben, für deren Analysen Begriffe wie ›Ereignis‹, ›Präsenz‹ und ›Performativität‹ lange zentral waren. Im Diskurs zum Tanz seit den 1990er Jahren kommt es denn auch zu einer kritischen Relektüre einflussreicher Positionen aus der Theaterwissenschaft und den Performance Studies u.a. von Peggy Phelan, Erika Fischer-Lichte oder Hans-Thies Lehmann.30 Das Terrain der Tanzforschung wird gegenüber diesen Disziplinen selbstbewusst markiert, nachdem zu einem Zeitpunkt, als sich die deutschsprachige Tanzwissenschaft gerade erst institutionell aufzustellen begann, und der Tanz noch einfach als Teil theaterwissenschaftlicher Theorien mitverhandelt worden war. Der Umstand, dass solche Überlegungen erst in den letzten Jahren eingesetzt haben, hat damit zu tun, dass in diesem Zeitraum der Prozess der Institutionalisierung von Tanzforschung als eigenständige Disziplin an ein vorläufiges Ende gekommen ist. Die Produktivität der Denk-Bewegungen der Negation, Negativität und Absenz besteht nicht zuletzt in einer Distanzierung, die über den ex-negativo- oder zumindest ambivalent-kritischen Rekurs auf in der Theaterwissenschaft bzw. den Performance Studies entworfene Modelle gewährleistet wird. Dabei verdecken die Betonung des Gegenstandsbezugs sowie das Argument, der Tanz sei grundsätzlich nicht in vom Theater aus konzipierte Modelle integrierbar, dass es sich hier um die Beanspruchung eines disziplinären Terrains handelt. So lange sich eine prinzipielle Opposition zwischen dem ereignishaften, präsentischen, performativen Wesen des Tanzes und der objektbasierten Logik der Waren- und Repräsentationsökonomie konstruieren ließ, konnte die subversive Schubkraft von Tanz von Seiten der ihn analysierenden Wissenschaft in ein Selbstbild übersetzt werden, das von einer ebenso prinzipiell kritischen Schubkraft der Disziplin für die vorherrschende Wissensordnung ausging. Dies ist 29 | Michel Foucault, Archäologie des Wissens, in: Ders., Die Hauptwerke, Frankfurt a.M. 2008, S. 471-699, hier S. 671. 30 | Zur kritischen Re-Lektüre von Peggy Phelan vgl. Gerald Siegmund, »Erfahrung dort, wo ich nicht bin: Die Inszenierung von Abwesenheit im zeitgenössischen Tanz«, in: Gabriele Klein/Wolfgang Sting (Hg.), Performance. Positionen zur zeitgenössischen szenischen Kunst, Bielefeld 2005, S. 59-75, hier S. 63; Ders., Abwesenheit, S. 63-77; Lepecki, Exhausting Dance, Performance and the Politics of Movement, S. 126ff.; Paula Caspão, »Stroboscopic Stutter: On the not-yet-captures ontological Condition of Limit-Attractions«, in: André Lepecki/Jenn Joy (Hg.), Planes of Composition. Dance, Theory and the Global, London/New York/Calcutta 2009, S. 123-159, hier S. 135, S. 139. Zur Abgrenzung von Erika Fischer-Lichte siehe u.a. Siegmund, »Erfahrung dort, wo ich nicht bin«, S. 61. Zur Abgrenzung von Lehmann vgl. u.a. Ploebst, No wind no word, 2001, S. 270f.
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unter den veränderten Vorzeichen nicht (mehr) möglich. Wie der Tanz in der Gefahr steht, in einem durchdynamisierten Gesellschaftssystem zur Modellkunst zu werden, rückt die Tanzwissenschaft gleichfalls aus ihrer so lange mittels einer Doppelfigur aus unfreiwilliger Marginalisierung und beanspruchter subversiver Alternativexistenz bestimmten Randständigkeit ins Zentrum der ›Kulturgesellschaft‹. Bleibt abzuwarten, wie sie damit umgeht.
Constanze Schellow
Theater im Vakuum Fast 100 Jahre nach der Herauslösung aus der Literaturwissenschaft hat sich die Theaterwissenschaft als eigenständige Disziplin etabliert. Nach wie vor gibt es jedoch Bereiche, in denen sich das Fach nicht vollständig von der Literaturwissenschaft emanzipiert hat. Insbesondere die Theatergeschichtsschreibung ist noch weit stärker literaturwissenschaftlich geprägt als man vermuten würde. Zwar hat die Abkehr vom Drama bzw. die Ausrichtung auf die Aufführung als zentraler Untersuchungsgegenstand auch hier zu einer Fülle von neuen Erkenntnissen geführt, doch die von der Literaturwissenschaft vorgegebenen Entwicklungslinien und Narrative werden weitgehend unhinterfragt in die theaterwissenschaftliche Forschung übernommen. Dies zeigt sich besonders deutlich am Beispiel des sogenannten Theatervakuums, eines scheinbar theaterlosen Zeitraums zwischen Antike und Mittelalter.
Das Theater vakuum Die traditionelle Theatergeschichtsforschung geht davon aus, dass in Europa im frühen Mittelalter kein Theater existierte. Mit dem Zusammenbruch des antiken Theaterwesens soll das europäische Theater untergegangen und für mindestens ein halbes Jahrtausend in Vergessenheit geraten sein. Diesen traditionellen Darstellungen zufolge entstand Theater erst ab dem 10. Jahrhundert neu, wobei es sukzessive aus einer liturgischen Keimzelle hervorgegangen sein soll. Damit klafft in der Theatergeschichte eine Lücke von 500, je nach Theaterbegriff und Theatergeschichtsbild der jeweiligen Forschenden sogar bis zu 1000 Jahren.31 Eine fundierte Auseinandersetzung mit der vorhandenen Forschungsliteratur und den überlieferten Quellen ergibt jedoch, dass die Annahme einer solchen Lücke in der Theatergeschichte auf mehreren Ebenen problematisch ist, und eine 31 | Vgl. u.a. Peter Simhandl, Theatergeschichte in einem Band, Leipzig 2007, S. 39, S. 54; John Coldewey, »From Roman to Renaissance in Drama and Theatre«, in: Jane Milling/Peter Thomson, The Cambridge History of Theatre. Vol. I, Origins to 1660, S. 3-70, hier S. 23; Oscar Gross Brockett/Franklin Joseph Hildy, History of Theatre, Boston 2014, S. 75; Edwin Wilson/Alvin Goldfarb, Living Theatre. A History, Boston 2004, S. 121; Günter Erken, Theatergeschichte, Stuttgart 2014, S. 31; Rüdiger Schaper, Spektakel, München 2014, S. 267.
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Revision der vorhandenen Textquellen zeigt, dass es für die bisherige Interpretation der Quellen keine Grundlagen gibt. Ein restloses Verschwinden der lebhaften antiken Theaterkultur ist nicht nur äußerst unwahrscheinlich, es gibt dafür auch kaum positive Belege. Die wenigen spätantiken Textstellen, auf welche sich die Forschungsliteratur beruft, haben wenig Beweiskraft. Diesen vereinzelten Hinweisen steht eine lange Reihe von Textquellen gegenüber, die klar auf die Existenz eines frühmittelalterlichen Theaterwesens verweisen. Zwar ist die Bespielung institutionalisierter Theaterbauten oder eine literaturbasierte Aufführungspraxis nicht nachweisbar. Das Theater der Mimen und Histrionen erscheint nach den Quellen aber wesentlich vielgestaltiger, als dies der bisherige, literaturwissenschaftlich inspirierte theaterhistorische Diskurs vermuten lässt. Trotz der in der Forschungsliteratur vielbeschworenen Theaterfeindlichkeit der Kirche, zeichnen die Quellen das Bild einer weithin akzeptierten Unterhaltungsform, der teilweise sogar ein gewisser gesellschaftlicher Wert zugestanden wird.32 Die Diskrepanz zwischen der Darstellung in den Theatergeschichten und den aus den Quellen erschließbaren Informationen zum frühmittelalterlichen Theaterwesen wirft Fragen auf. Welche Gründe sprechen für die Annahme eines Theatervakuums? In welchem Kontext wird die Frage nach der Existenz von Theater im Mittelalter debattiert und für wen ist sie überhaupt relevant? Gibt es forschungsgeschichtliche Paradigmen, die ein Verschwinden von Theater im frühen Mittelalter sogar wünschenswert machen?
Das Theater vakuum in der Forschungsgeschichte Um diese Fragen zu beantworten, lohnt sich ein Blick in die Forschungsgeschichte. Anders als heute war die Frage nach der Existenz von Theater im frühen Mittelalter lange Zeit keinesfalls unumstritten. Vor allem in den ersten Dekaden der Theatergeschichtsforschung wurde, im Zusammenhang mit verschiedenen, miteinander konkurrierenden Ursprungsthesen, die Frage nach der Existenz von Theater im frühen Mittelalter heftig diskutiert. Dabei kamen unterschiedliche Ansätze, ausgehend von denselben Quellen, zu gänzlich anderen Ergebnissen: Während Vertreter eines liturgischen Ursprungs von Theater von einem totalen Verschwinden von Theater ausgehen, entfalten Vertreter anderer Ursprungstheorien, wie Robert Stumpfl, Hermann Reich und andere, das Bild einer weitgehenden Kontinuität über den fraglichen Zeitraum hinweg.33 Je nach Ursprungszena-
32 | Vgl. Maria-Elisabeth Heinzer, Theater im Vakuum. Szenische Vorgänge im frühen Mittelalter, unveröffentlichte Dissertation, Bern 2014, S. 77-103. 33 | Vgl. Robert Stumpfl, Kultspiele der Germanen als Ursprung des mittelalterlichen Dramas, Berlin 1936; Hermann Reich, Der Mimus. Ein litterar-entwicklungsgeschichtlicher Versuch, Bd. 1, Berlin 1903; Allardyce Nicoll, Masks, Mimes and Miracles, New York 1931; Benjamin Hunningher, The Origin of the Theatre, Amsterdam 1955.
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rio werden die überlieferten Quellen vollkommen anders interpretiert, wobei die Auseinandersetzung mit den Materialien in allen Fällen an der Oberfläche bleibt. Die Vertreter einer Kontinuität begnügen sich mit einer reinen Aufzählung der verschiedenen Textquellen und argumentieren über die aus der Antike überlieferten Bezeichnungen für Schauspieler und Schauspiel. Die Vertreter eines liturgischen Ursprungs behaupten einen Bedeutungswandel der entsprechenden Begriffe, verzichten jedoch darauf, hierfür einen Nachweis aus dem Untersuchungszeitraum zu liefern.34 Eine vertiefende Untersuchung des Quellenmaterials bezüglich Repertoire und Funktion der frühmittelalterlichen Unterhalter wurde von keiner Seite realisiert. In der historischen Betrachtung hat sich die Vorstellung einer Wiedergeburt des Theaters in der Liturgie als theatergeschichtlicher Mainstream durchgesetzt. Konkurrierende Ansätze wurden als unwissenschaftlich und spekulativ verworfen. In den 1960er Jahren wurde jedoch auch die, vor allem von E. K. Chambers und Karl Young geprägte These einer rein liturgischen Entwicklung als darwinistische Fortschrittskonstruktion entlarvt. Verschiedene Kritiker, allen voran der amerikanische Literaturwissenschaftler O. B. Hardison, zeigten auf, dass die scheinbar stimmige Fortschrittsgeschichte nicht auf einer seriösen Auswertung der Quellentexte, sondern auf einem, der evolutionistischen Grundidee geschuldeten Arrangement beruht.35
Auswirkungen für die Theatergeschichtsforschung Die aufgezeigten Befunde haben für die theaterwissenschaftliche Forschung weitreichende Implikationen. Auf theatergeschichtlicher Ebene stellen die Ergebnisse den bisherigen Stand der Theatergeschichtsforschung zum Mittelalter dezidiert in Frage. Die wahrscheinliche Existenz profaner Spielformen führt zu einer Relativierung der Bedeutung der liturgischen Phänomene. Die Theatergeschichte des Mittelalters sollte auf der Grundlage der bisherigen Erkenntnisse neu untersucht und das vorhandene Theatergeschichtsbild, welches nach wie vor von einer jahrhundertelangen Dominanz des liturgischen Theaters ausgeht, revidiert werden. Auf einer forschungsgeschichtlichen Ebene wird deutlich, wie stark sich positivistische Strömungen in der Geisteswissenschaft einerseits und die literaturwissenschaftliche Prägung andererseits auf die theatergeschichtliche Mittelalterforschung ausgewirkt und den Blick auf die Theatergeschichte aus theaterwissenschaftlicher Sicht verzerrt haben. Dies führt auf fachpolitischer Ebene zu der Erkenntnis, dass die heutige Theatergeschichtsforschung zwar auf die, oft von bewundernswerter Sach- und Materialkenntnis zeugenden Ergebnisse der 34 | Vgl. J. D. A. Ogilvy, »Mimi, Scurrae, Histriones: Entertainers of the Early Middle Ages«, in: Speculum 38 (1963), S. 603-619, hier S. 615. 35 | Vgl. dazu Stumpfl, Kultspiele der Germanen, S. 24; Osbourne Bennet Hardison, Christian Rite and Christian Drama in the Middle Ages. Essays in the Origin and Early History of Modern Drama, Baltimore 1965, S. XX.
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früheren Mittelalterforschung auf bauen, aber weder die Fakten noch die impliziten Wertungen und Gewichtungen unhinterfragt in die Theaterhistoriographie importieren darf. Stattdessen muss sie die gesamte Epoche im Hinblick auf Bühnen- und Spielpraxis erneut befragen, wozu eine eigenständige Analyse und Interpretation der vorhandenen Quellen, aber auch das Erschließen von darüber hinausgehenden Materialien und die Erarbeitung eigenständiger Methoden und Arbeitsinstrumente unumgänglich sind.
Maria-Elisabeth Heinzer
Episteme der Theatergeschichtsschreibung Vier Thesen 1. Michel Foucault hält Episteme für netzwerkartige Wissensstrukturen eines jeweiligen Zeitraumes, die a priori existieren, nicht abschaff bar sind und das Wissen des Zeitraumes erst begründen. Es sind dennoch keine ontologischen Tatsachen, sondern historisch konkrete fundamentale Codes, mittels welcher Diskurse geführt werden. Sie bilden das Wissbare jenseits des nach Ort und Zeit (noch) nicht Denkbaren ab. Und es sind – das interessiert hier besonders – Wissensbestände, auf welche sowohl die Laien, also durchschnittlich gebildete Menschen eines Zeitraumes, als auch die jeweiligen Fachwissenschaftler zurückgreifen. Diese Wissensbestände formen das Denken der Epoche, die wiederum den Wissenschaften das Gepräge gibt. Denn, so Foucault: »Wissen heißt: sprechen, wie man muß und wie es der bestimmte Weg des Geistes vorschreibt. Sprechen heißt wissen, wie man kann und nach dem Modell, das die auferlegen, die von gleicher Geburt sind.«36 Wenn also eine Generation in der Überzeugung herangewachsen ist, Theater sei das, was die Institution Theater ausmache, dann kommt es nach Foucault auch in der Fachwissenschaft zu Theorien, die das abbilden. Ein Beispiel: Klaus Lazarowicz (1920-2013), Germanist, wird 1954 promoviert und habilitiert sich 1961, beides geschieht in einer den Avantgarden abgeneigten Zeit. Er leitet das Institut für Theatergeschichte, dann für Theaterwissenschaft in München von 1964 bis 1985 und ist ein aktives Mitglied der Gesellschaft für Theaterwissenschaft. 1971 formuliert er sein flammendes Plädoyer für »Die Rampe«, die Theater konstituiere. Die Rampe, das ist auch heute unbestritten, wirkt vor allem im institutionalisierten Theater, den Stadt- und Staatstheatern, als Voraussetzung für Theaterspiel. Für Lazarowicz ist sie aber notwendige und hinreichende Bedingung für Theater überhaupt. Sie bestimmt sein gesamtes Theaterverständnis. Die Einführung des ersten Solodarstellers im griechischen Theater markiere »zugleich die Geburtsstunde des Zuschauers […]. Bühne und Publikum bildeten 36 | Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M. 1974, S. 124.
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also bereits im 5. Jahrhundert vor Christus keine Einheit, sondern eine durch die Rampe auf Distanz gehaltene heterogene Ganzheit«.37 Durch die Rampe sei Theater entstanden. Die griechische Geburt des Theaters einschließlich Rampe war in den 1950er Jahren allgemeiner Wissensbestand, ein kultureller Code, den Lazarowicz mit den meisten seiner Zeitgenossen teilte, obwohl die Theateravantgarden und die Theatervisionäre der 1910er und 1920er Jahre die Rampe zu überwinden getrachtet hatten. Alle diese Reformer und Revolutionäre sind Lazarowicz gut vertraut. Im Aufsatz »Die Rampe« erörtert er ihre Arbeit in herzerfrischender Kenntnis über viele Seiten, um ihnen dann zusammenfassend eine Neigung zur »chorischkultischen Identität« zu unterstellen, Nähe zu Nietzsche und Artaud mit dessen »faschistoiden« Manifesten. Dem müsse nun die »Bühnenrampe als Symbol des ›ästhetischen Sokratismus‹« entgegengestellt werden, so folgert er im Sinne der nachwirkenden Episteme der 1950er-Jahre.38 Das Beispiel Rampe führt zu einer ersten die Theatergeschichtsschreibung prägenden These: Episteme sind axiomatisch, hermetisch und wirken oft zeitversetzt. Dieser resistente Charakter birgt immerhin auch einen Vorteil: als Aufräuminstrumente helfen Episteme, zwischen Zentrum und Peripherie zu unterscheiden.
2. Heute wird nun Theater eher als ein spezifisches menschliches Handeln beschrieben, die Ko-Präsenz von Agierenden und Schauenden als eine Verhaltensdifferenz. Nur wenn sich die Gemeinschaft in Gruppen verschiedenen Verhaltens teilt, gibt es Theater, dazu braucht es keine Rampe. Die zumindest zeitweilige Verhaltensdifferenz kreiert überhaupt erst die Möglichkeit, szenische Vorgänge zu untersuchen. Solche Episteme beziehen die Wissensbestände ab den 1960er Jahren substantiell mit ein, etwa das Wirken der Wiener Aktionisten und späterer Performer. Formuliert jemand Episteme von Theater im Sinne einer örtlichen Trennung von Agierenden und Schauenden durch eine Rampe, so wird damit eine Theatergeschichte von reichlich 2500 Jahren entworfen, während die Verhaltensdifferenz Theater über etwa 40.000 Jahre gelten lässt, also mindestens bis in die Zeit der ersten nachgewiesenen Felszeichnungen und Musikinstrumente zurückreichend.39 Hieraus ergibt sich eine zweite These: Episteme von Theater implizieren eine Herkunftsvermutung für Theater.
37 | Klaus Lazarowicz, »Die Rampe. Bemerkungen zum Problem der theatralischen Partizipation«, in: Klaus Lazarowicz, Sprache und Bekenntnis, Festschrift für Hermann Kunisch, Berlin 1971, S. 295-314, hier S. 310. 38 | Ebd., S. 313. 39 | Vgl. Andreas Kotte, Theaterwissenschaft. Eine Einführung, Köln/Weimar/Wien 2012, S. 226-232.
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Hochholdinger-Reiterer, Schellow, Heinzer, Kotte
3. Dem Axiom Rampe folgt zwangsläufig eine Geschichtsschreibung immer ausgeklügelterer örtlicher Trennung durch Vorhänge, Licht, Spiel mit der vierten Wand und mechanischer Flexibilisierung der Rampe (Drehbühnen, Hubpodien), was eine Entwicklung von Theater zum Höheren oder Komplexeren suggeriert. Die schlichte Verhaltensdifferenz im Theater hingegen legt nahe: Theater entwickelt sich nicht, es wandelt sich nur. Deshalb lautet eine dritte These: Episteme von Theater implizieren eine Verlaufsvermutung für die Theatergeschichte. Zum historischen Verlauf gehört auch die von Elisabeth Heinzer diskutierte Frage von Diskontinuität versus Kontinuität von Theater im sogenannten Theatervakuum.40 Sucht man nämlich zwischen 530 und 970 nach Aussagen über die Rampe, wird man nicht fündig und folgert zwangsläufig ein Theatervakuum. Auftritte von Histrionen vor Zuschauenden hingegen sind so zahlreich belegt, dass man zugunsten eines Formenwandels von Theater von einem Theatervakuum eher absieht.
4. Theatergeschichte Dramaturgie
Theater
Aufführungsanalyse
Theatertheorie
Eine der vielen möglichen Systematiken für die Theaterwissenschaft besagt, dass, wie gerade dargestellt, die Theaterhistoriographie den Ausgangspunkt und den Fundus dessen organisiert, was in theaterwissenschaftliche Untersuchungen einbezogen wird, weil auch das, was gestern geschah, bereits historisch ist. Dramaturgie als konzeptionelle Vorarbeit wirkt auf künftige szenische Ereignisse hin. Aufführungsanalyse widmet sich stattgehabten Ereignissen. Theatertheorie strukturiert die Wissensbestände der drei anderen Zugangsweisen zum Gegenstand Theater, macht sie anschlussfähig für andere Wissenschaften, und zwar historisch, gegenwärtig und zukunftsorientiert. Würde man nun das Wort Theater im Geiste gegen die Rampe austauschen, verschwände die Hälfte dessen, was Theaterwissenschaft heute leistet. Zum Beispiel besäßen Theoreme wie etwa die Theatralitätsgefüge41 keine Existenzberechtigung mehr. Es ergibt sich daraus eine vierte These: Episteme von Theater prägen die Systematik der Theaterwissenschaft. Die Wahl der Folie, vor der hier argumentiert wurde, lässt sich durchaus kritisieren. Es ist eine so veraltete wie bekannte Theorie, aus Epistemen der 1950er 40 | Vgl. Heinzer, Theater im Vakuum. 41 | Vgl. Rudolf Münz, Theatralität und Theater: Zur Historiographie von Theatralitätsgefügen, Berlin 1998, S. 66-103.
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Jahre erwachsen. Aber macht nicht ein altes Axiom wie die Rampe auch heute Sinn, Theaterwissenschaft wieder neu zu kalibrieren? Können die Thesen vielleicht klären, welche bewertende Komponente der Theaterwissenschaft innewohnt? Die Theaterpraxis hat inzwischen längst Episteme der Vielgestaltigkeit von Theater hervorgebracht, den Laien bekannt und von Fachleuten theoretisiert. Um es mit Ingeborg Bachmann zu sagen: »Das Denken, der Zeit verhaftet, verfällt auch wieder der Zeit. Aber weil es verfällt, eben deshalb, muß unser Denken neu sein, wenn es echt sein und etwas bewirken will.«42 Um Episteme zu wissen hilft, ihnen unbefangen gegenüberzutreten.
Andreas Kotte
42 | Ingeborg Bachmann, Ausgewählte Werke in drei Bänden, Bd. 1, Berlin/Weimar 1987, S. 410.
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Wollt ihr die totale Theaterwissenschaft? Evelyn Annuß
Im ersten Band seines Handbuchs der Theater-Wissenschaft, ab 1949 publiziert und in weiten Teilen vor 1945 geschrieben, fordert Carl Niessen eine »totale […] Theaterwissenschaft«.1 Der proklamierte Gegenstandsbereich des noch jungen Fachs, sein Aufführungsbegriff, soll möglichst breit ausgelegt werden. Entsprechend geht es dem Kölner Theaterwissenschaftler nicht nur darum, unterschiedliche szenische Darstellungsformen einzubeziehen, sondern um cultural performances im weiteren Sinn. Obendrein plädiert er für eine komparatistische, internationale Fachperspektive. Insofern korrespondiert sein Einsatz in mehrfacher Hinsicht mit heutigen Bestimmungen der Theaterwissenschaft.2 Dass Niessen dennoch kaum rezipiert wird, hat gute Gründe. Denn er ist es, der nach 1933 versucht, seine theaterwissenschaftliche Expertise hinsichtlich der Gestaltung massentheatraler Raumerlebnisse für die NS-Propaganda operationalisierbar zu machen und so die neuen Herrschaftsverhältnisse für die nachhaltige Institutionalisierung der Theaterwissenschaft zu nutzen beziehungsweise dem damals neuen Orchideenfach gar das Potenzial einer Leitdisziplin zuzuschreiben. Vor diesem Hintergrund schlägt mein Beitrag vor, die Frage nach der Episteme des Theaters – nach jenem von Foucault so genannten »Dispositiv, das es erlaubt, […] das wissenschaftlich Qualifizierbare vom Nicht-Qualifizierbaren zu scheiden«3 – als Raumfrage zu fokussieren und mit der Wissenschaftshistoriografie zu verbinden. Aus diesem Blickwinkel gilt es, so mein kursorischer Vorschlag, uns über genealogische Konstruktionen und feldspezifische Grenzziehungen zu 1 | Carl Niessen, Handbuch der Theater-Wissenschaft, Bd. 1, Emsdetten 1949, S. XVI, siehe auch S. 467. 2 | Vgl. Christopher Balme, »Carl Niessen. Handbuch der Theaterwissenschaft«, in: Forum modernes Theater 2.24 (2009), S. 183-189; Lutz Ellrich, »Carl Niessens Handbuch der Theater-Wissenschaft. Versuch einer ethnologischen Relektüre«, in: Stefan Hulfeld/ Birgit Peter (Hg.), Theater/Wissenschaft im 20. Jahrhundert, Maske & Kothurn 1-2 (2009), S. 175-193. 3 | Michel Foucault, Dispositive der Macht, Berlin 1978, S. 124.
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verständigen, um uns von heute aus unserer Fachgeschichte zu stellen. Das impliziert, sich zum einen mit dem Legitimationsdiskurs im Kontext der vergleichsweise späten Institutionalisierung von Theaterwissenschaft als einem eigenständigen Fach ab den 1920er Jahren auseinanderzusetzen, zum anderen mit dem gegenwärtigen wissenschaftsgeschichtlichen Narrativ. Die Einsicht, dass die Theaterwissenschaft erst im Nationalsozialismus nachhaltig etabliert und bildungspolitisch anerkannt wird, hat sich im Fachdiskurs inzwischen durchgesetzt.4 Während sowohl in der Bundesrepublik als auch in Österreich nach kurzer ›Entnazifizierungsphase‹ ausgerechnet diejenigen die Theaterwissenschaft repräsentieren, die sie zuvor dem NS-Staat in je spezifischer Weise dienstbar zu machen versuchen, findet nach der Wende an exponierter Stelle eine Neuorientierung und überfällige Distanznahme statt. Der »Erste Kongress der Gesellschaft für Theaterwissenschaft« in Leipzig 1992 trägt den programmatischen Titel Theatergeschichte und Wissenschaftsgeschichte. Eine bedenkenswerte Konstellation. In ihrer Eröffnungsrede kritisiert Erika Fischer-Lichte zu Recht die personelle Kontinuität nach 1945: Auf diese Weise wurde das Fach nachhaltig von seinen Anfängen abgeschnitten, für fast vierzig Jahre jegliche theoretische Reflexion im Keim erstickt und jede wissenschaftliche Diskussion abgewürgt […]. Erst zu Beginn der siebziger Jahre wurde in der deutschen Theaterwissenschaft die Theoriedebatte wieder aufgenommen. […] Und diese Entwicklung ist wieder – wie die Anfänge der Theaterwissenschaft – von einer ganz einzigartigen Konstellation von Theatergeschichte und Wissenschaftsgeschichte bestimmt.
4 | Vgl. zur NS-Geschichte der Theaterwissenschaft etwa Andreas Englhart, »Theaterwissenschaft«, in: Jürgen Elvert/Jürgen Nielsen-Sikora (Hg.), Kulturwissenschaften und Nationalsozialismus, Stuttgart 2008, S. 863-898; Frank-Rutger Hausmann, »Theaterwissenschaft«, in: Ders., Die Geisteswissenschaften im »Dritten Reich«, Frankfurt a.M. 2011, S. 646-656; Hulfeld/Peter, Theater/Wissenschaft im 20. Jahrhundert; Monika Meier/ Peter Roessler/Gerhard Scheit, Theaterwissenschaft und Faschismus, Wien 1981; Birgit Peter/Martina Payr (Hg.), »Wissenschaft nach der Mode«? Die Gründung des Zentralinstituts für Theaterwissenschaft an der Universität Wien 1943, Wien/Berlin/Münster 2008. Hinsichtlich der theaterwissenschaftlichen Fachgeschichte siehe aus anderen Blickwinkeln auch Theo Girshausen, »Zur Geschichte des Fachs«, in: Renate Möhrmann (Hg.), Theaterwissenschaft heute. Eine Einführung, Berlin 1990, S. 21-37; Hans-Christian von Herrmann, Das Archiv der Bühne. Eine Archäologie der Bühne und seiner Wissenschaft, München 2005; Stefan Hulfeld, Theatergeschichtsschreibung als kulturelle Praxis. Wie Wissen über Theater entsteht, Zürich 2007, S. 335-349; Corinna Kirschstein, »Ein ›gefährliches Verhältnis‹ – Theater, Film und Wissenschaft in den 1910er und 1920er Jahren«, in: Stefan Hulfeld/Andreas Kotte/Friedemann Kreuder (Hg.), Theaterhistoriographie. Kontinuitäten und Brüche in Diskurs und Praxis, Tübingen 2007, S. 179-187.
Wollt ihr die totale Theater wissenschaf t? In den sechziger Jahren setzte im Theater der westlichen Kultur eine Reflexion auf den Theaterbegriff mit den Mitteln des Theaters ein. […] Entsprechend schuf man für jede Inszenierung eine neue räumliche Anordnung oder zog für jede Inszenierung an einen anderen Ort. Auf Straßen und Plätzen, in Parks und Zirkuszelten, in Schaufenstern von Kaufhäusern, in Wohnzimmern, ja selbst an den Fassaden von Hochhäusern wurde Theater gespielt. 5
Fischer-Lichte skizziert mit Blick auf die theoretische Reflexion eine Art Stunde Null der Theaterwissenschaft ab den 1970er Jahren. Deren Wiedergeburt geschieht ihr zufolge aus dem Geist einer neuen Performancekultur, mit der man sich aus den Beschränkungen des Guckkastens befreit und den Theaterbegriff zunehmend ›ausfranst‹. Zur Neugründung der Theaterwissenschaftlichen Gesellschaft räumt Fischer-Lichte also programmatisch noch einmal mit der jahrzehntelangen Leugnung der NS-Fachgeschichte auf und plädiert zugleich für einen erweiterten Theaterbegriff. Hierzu bringt sie die Raumfrage ins Spiel. Sie tut dies allerdings um den Preis, die Diskussion über etwaige Korrespondenzen der nationalsozialistischen mit unserer Gegenstandskonstruktion nachhaltig abzuschneiden und so die politische Dimension der Auseinandersetzung um den grundlegenden Stellenwert des Raumbegriffs für die theaterwissenschaftliche Arbeit auszublenden. Ihr für die spätere Forschung folgenreiches Gründungsnarrativ legt vielmehr die grundsätzliche Ferne gegenwärtiger Perspektiven und der Einsätze einer im NS betriebenen Theaterwissenschaft nahe.6 Entsprechend knüpft sie mit ihrem Verständnis von Theater- als Performativitätswissenschaft an die frühe Fachgeschichte vor 1933 an. Demgegenüber möchte ich exemplarisch eine Revision ausgehend vom Raumdiskurs in der frühen Theaterwissenschaft vorschlagen. Ausgangspunkt ist hierbei die Relektüre Max Herrmanns, den Fischer-Lichte immer wieder als Gewährsmann heranzieht.
Eingrenzung (Max Herrmann) In den Bewegungen des Schauspielers, im Klang seiner Stimme offenbart sich […] der Ausdruck seines Raumgefühls, seines Raumerlebnisses. Sein Raumerlebnis kann nun umso eher vom Publikum mit übernommen werden, als dieses Publikum sich im gleichen realen, nur umzudeutenden Raum mit ihm befindet, wenn auch eine starke Trennung, eine besondere Differenzierung des Bühnenraums vom Zuschauerraum vorliegt; wo diese Gemeinsamkeit des abgeschlossenen Raums gar nicht vorhanden ist, tritt auch im Publikum
5 | Erika Fischer-Lichte, »Theatergeschichte und Wissenschaftsgeschichte: Eine bedenkenswerte Konstellation. Rede zur Eröffnung des Ersten Kongresses der Gesellschaft für Theaterwissenschaft e. V. in Leipzig«, in: Dies., Arbeitsfelder der Theaterwissenschaft, Tübingen 1994, S. 18f. 6 | Siehe demgegenüber Erika Fischer-Lichte, Theaterwissenschaft. Eine Einführung in die Grundlagen des Faches, Tübingen/Basel 2010, S. 22 u. S. 102.
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Evelyn Annuß das eigentliche Raumerlebnis zurück: im Freilichttheater, in dem ja zudem auch das schauspielerische Raumerlebnis sehr viel geringer zu sein pflegt.7
So formuliert es Herrmann 1931 in seinem von Stefan Corssen in den 1990er Jahren und 2006 von Jörg Dünne und Stephan Günzel wieder veröffentlichten Aufsatz Das theatralische Raumerlebnis.8 Ihm wird im Rahmen der Theaterwissenschaft immer wieder der Status eines exemplarischen Gründungstextes verliehen.9 Und in der Tat ist Herrmann bis heute für die Konzeption jener theaterwissenschaftlichen Positionen relevant, die mit der Kategorie Liveness die deutschsprachige Theaterwissenschaft als Aufführungswissenschaft begründen und von der Philologie abgrenzen wollen.10 Das allerdings hat auch institutionengeschichtliche Gründe. Auf Herrmanns Initiative hin wird 1923 das erste theaterwissenschaftliche Institut an der Berliner Universität etabliert. Sein Aufsatz steht entsprechend im Kontext der Bemühungen, das neue, aus der Germanistik hervorgehende Fach als autonomes zu legitimieren und die eigene Betrachtungsweise von der Arbeit am dramatischen Text abzugrenzen: »das Miterleben der wirklichen Körper und des wirklichen Raumes« sei »das theatralisch Entscheidende«,11 befindet Herrmann. Er 7 | Max Herrmann, »Das theatralische Raumerlebnis«, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel, Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2006, S. 501-514, hier S. 508f. 8 | Ebd. u. Stefan Corssen, Max Herrmann und die Anfänge der Theaterwissenschaft, Tübingen 1998, S. 152-163. Siehe bereits Corssens Ausstellungskatalog für die Universitätsbibliothek der FU Berlin unter diesem Titel, Berlin 1992. Am theaterwissenschaftlichen Institut der FU fand zudem in Kooperation mit der Gesellschaft für Theatergeschichte 2014 ein Symposion Perspektiven auf Max Herrmann statt, dessen Ergebnisse noch publiziert werden. 9 | Zur neueren Beschäftigung mit Herrmann und dem Stellenwert v.a. seiner literaturwissenschaftlichen Arbeiten vgl. Martin Hollender, Der Berliner Germanist und Theaterwissenschaftler Max Herrmann (1865-1942): Leben und Werk, Berlin 2013. 10 | Vgl. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004: zum herrmannschen Aufführungsbegriff S. 42-57, zu »Liveness« S. 114-126. Zur Kritik an der fehlenden Historisierung des Begriffs siehe bereits Philip Auslander, Liveness. Performance in a Mediatized Culture, London/New York 1999; Ulf Otto, Internetauftritte. Eine Theatergeschichte der neuen Medien, Bielefeld 2013, S. 55-68. Zur Dekonstruktion des Ereignisbegriffs vgl. die 1971 publizierte Kritik der Sprechakttheorie von Jacques Derrida: »Signatur Ereignis Kontext«, Wiederabdruck in: Ders., Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 291-314. Siehe auch Samuel Weber, »Vor Ort. Theater im Zeitalter der Medien«, in: Gabriele Brandstetter/Helga Finter/Markus Weißendorf (Hg.), Grenzgänge. Das Theater und die anderen Künste, Tübingen 1998, S. 31-51; Bettine Menke, »im auftreten/verschwinden«, erscheint in: ZMK 7 (2016). 11 | Entsprechend bestimmt Herrmann das Publikum bereits 1920 – so zumindest ein von ihm nicht autorisiertes Vortragsstenogramm – als ›mitspielenden Faktor‹ (Max Herrmann,
Wollt ihr die totale Theater wissenschaf t?
akzentuiert also, was Fischer-Lichte später als »leibliche Ko-Präsenz«12 bezeichnet und was von weiten Teilen der Nach-Wende-Theaterwissenschaft unter Berufung auf Herrmann zunächst einmal als Bestimmungsmoment von Theater und Ausgangspunkt von Theaterwissenschaft begriffen wird. Im Unterschied zu diesen Einsätzen aber ist die Bedingung für das Raumerlebnis, um das es Herrmann geht, ein geschlossenes Ganzes und eben nicht die szenische Erforschung relationaler, raumbildender Prozesse auf »Straßen und Plätzen, in Parks und Zirkuszelten, in Schaufenstern von Kaufhäusern, in Wohnzimmern« usw. Entsprechend heißt es bei Herrmann: »wo diese Gemeinsamkeit des abgeschlossenen Raums gar nicht vorhanden ist, tritt auch im Publikum das eigentliche Raumerlebnis zurück: im Freilichttheater […].«13 Dass Herrmann hier auf geschlossene Aufführungsräume setzt, ist keineswegs einfach Ausdruck eines zeitbedingten Theaterverständnisses. Vielmehr distanziert er sich damit implizit von der Laien- und Naturtheaterbewegung. Denn Herrmann geht es von Anfang an um die Etablierung der Theater- als einer eigenständigen und respektablen Kunstwissenschaft, die aus seiner Sicht mit dem Werkcharakter des neu, mithin aus der Aufführungsperspektive, zu betrachtenden Gegenstands steht und fällt. Schon in den Forschungen zur Theatergeschichte des Mittelalters und der Renaissance von 1914 zielt seine Arbeit auf eine methodisch betriebene Theaterhistoriografie, die vor allem der typologischen Rekonstruktion vergangener Bühnenkunst und deren epochaler Kategorisierung mit Hilfe einer neuen Form der Bildwissenschaft gewidmet ist. Herrmann geht es hier nicht primär darum, den Ereignischarakter singulärer Aufführungen zu untersuchen. Auch sein späterer Beitrag zur Raumfrage steht im Kontext dieses frühen Interesses, Theater als Kunstform zu begreifen und seiner Analyse wissenschaftliche Anerkennung im Rahmen eines selbständigen Fachs zu verleihen. Darin unterscheidet sich sein Ansatz auch hinsichtlich des zugrunde liegenden Raumverständnisses von anderen Versuchen der Zeit, die Theaterwissenschaft unter Berufung auf ›leibliche Kopräsenz‹ als Fach zu begründen und dieses Konstituens der Aufführung szenisch zu reflektieren. Das wird deutlich, wenn man Herrmanns und Niessens Einsatz einander gegenüberstellt.
»Über die Aufgaben eines theaterwissenschaftlichen Instituts«, in: Helmar Klier (Hg.), Theaterwissenschaft im deutschsprachigen Raum. Texte zum Selbstverständnis, Darmstadt 1981, S. 15-24, hier S. 19). Unkommentiert enthält der Band u.a. auch Beiträge aus der NS-Zeit von Julius Petersen sowie Artur Kutscher und später veröffentlichte Artikel von jenen Kollegen Herrmanns, die vor 1945 mit der NS-Propaganda zusammenarbeiten – Heinz Kindermann (Wien), Carl Niessen (Köln) und Hans Knudsen als Nachfolger Herrmanns in Berlin. 12 | Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 47; siehe auch Jens Roselt, Phänomenologie des Theaters, München 2008, S. 62. 13 | Max Herrmann, »Das theatralische Raumerlebnis«, S. 508f.
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Entgrenzung (Carl Niessen) »Warum gibt es keine Niessen-Renaissance in der deutschen Theaterwissenschaft«,14 fragt Lutz Ellrich 2009 in seiner Relektüre von dessen eingangs zitiertem Handbuch. Zwar ist Niessens kompilatorisch-aleatorisches Verfahren mit Herrmanns Bemühen um methodische Fundierung, strukturierte Argumentation und entsprechende Quellenarbeit in der Tat überhaupt nicht zu vergleichen. Niessen verlässt sich auf autoritäres Namedropping oder unausgewiesene Behauptungen und bejubelt obendrein, die Zeichen der Zeit nach 1945 verkennend, noch 1949 im Handbuch das Theatergesetz von 1934, mithin auch die gesetzliche Grundlage antisemitischer Ausschlusspolitik im Theaterbereich.15 Ellrich aber verweist richtigerweise darauf, dass sich Niessen als »Vorreiter einer Theaterwissenschaft«16 lesen lässt, »die sich der performativen Wende durchaus verschrieben hat und das postdramatische Theater feiert«. Im Unterschied zu Herrmanns Begriff vom geschlossenen Theaterraum geht es Niessen gerade um die Entgrenzung des theaterwissenschaftlichen Gegenstandsbereichs. Deshalb befindet auch Christopher Balme in einer weiteren Handbuch-Relektüre von 2009, dass wir letztlich »über den angloamerikanischen Umweg von Performance Studies, New Historicism und Cultural Studies«17 wieder bei der von Niessen anvisierten Fachposition angekommen seien. »Die Perspektive einer globalen Performance Studies avant la lettre«,18 wie Balme es formuliert, liegt in der Tat Niessens Einsatz von Anfang an zugrunde. Schon 1927 in der Zeitschrift Die Scene publiziert, dem Organ der Vereinigung künstlerischer Bühnenvorstände, tritt Niessen in seinem programmatischen Text Aufgaben der Theaterwissenschaft massiv für die Distinktion von Theater- und Literaturwissenschaft ein: Die Theaterwissenschaft muß lernen, von den Maßstäben der Literaturgeschichte abzusehen. […] Der an mehrere Sinne sich wendende ›Theaterabend‹, die Aufführung, bildet den Ausgangspunkt der Betrachtung (…). Die ›Dramaturgie‹ darf deshalb nicht mehr als eine germanistisch-philologische, sondern als szenische verstanden werden. […] Der Lehrende muß sich klar werden, daß Theaterwissenschaft in dem gekennzeichneten Sinn nicht mehr als Nebenfrucht der Germanistik oder der Kunstgeschichte betrieben werden kann. Sie er14 | Ellrich, »Carl Niessens Handbuch«, S. 188. 15 | Das Theatergesetz vom 15. Mai 1934 ist wiederabgedruckt in Bernd Sösemann, Propaganda. Medien und Öffentlichkeit in der NS-Diktatur, Stuttgart 2011, S. 243f., vgl. auch S. 245-248. Zur Erläuterung vgl. Bärbel Schrader, »Jederzeit widerruflich.« Die Reichskulturkammer und ihr Instrument der Sondergenehmigungen im Theater und Film des NS-Staats, Berlin 2008, S. 74-79; Jutta Wardetzky, Theaterpolitik im faschistischen Deutschland. Studien und Dokumente, Berlin 1983, S. 42-46 u. S. 260-269, zur juristischen Verankerung des Antisemitismus in § 4 der 1. Anweisung, S. 45. 16 | Ellrich, »Carl Niessens Handbuch«, S. 177. 17 | Balme, »Carl Niessen. Handbuch«, S. 185. 18 | Ebd., S. 187.
Wollt ihr die totale Theater wissenschaf t? fordert eine gesammelte Kraft und verspricht ihrem Adepten die ersten wirklichen Früchte, wenn er in mühsamer langer Arbeit eine übernationale Gesamtanschauung gewonnen hat.19
Während Herrmann in einem meist nur selektiv rezipierten Artikel für die Vossische Zeitung 1918 schreibt, Theater und Drama seien nicht einfach »ursprüngliche Gegensätze«, sondern würden in ihrem Wesen »zueinander streben«,20 wendet Niessen den Aufführungsbegriff knapp zehn Jahre später in der Tat polemisch gegen die Philologie. Und schon wenige Wochen vor der Berliner Institutsgründung schreibt er im Berliner Tageblatt 1923, vom »Bewegungsspiel des Schauspielers ausgehend muß in der Inszenierungsgeschichte das Raumproblem an erster Stelle stehen«.21 Obendrein genüge »die Auseinandersetzung mit europäischen Erscheinungen«22 nicht. Orientiert sich Herrmann methodenstreng an Verfahren der Bild- und Literaturwissenschaft, sieht der ehemalige Schauspieler Niessen eine seiner primären Aufgaben zudem in der Verlebendigung seiner Sammlungsgegenstände aus aller Welt durch die ›Magie des gesprochenen Wortes‹ und inszeniert seine Vorträge, so Nora Probst, als eine Art lecture performances.23 Dabei sucht er keine Allianz mit der Kunstwissenschaft wie etwa Herrmann, sondern mit der ebenfalls bereits etablierten Völkerkunde. Niessen versucht also, die Theaterwissenschaft in spezifischer Weise zur komparatistischen Disziplin auszubauen und Theaterpraxis in die Forschungspräsentation zu integrieren. Sein entgrenzter Begriff von Theaterwissenschaft prädestiniert ihn 1933 schließlich auch dazu, das Fach der Propaganda als deren akademische Flanke anzutragen und seine geradezu leitwissenschaftliche Relevanz zu behaupten. Die Theaterwissenschaft als angewandte Forschung wird so zum Ausgangspunkt, um ein chorisch-kultisches Massenspiel der Volkwerdung im Freien zu entwickeln und hierfür neue Räume zu erschließen. In einer Situation, in der die Karten nicht nur für die Theaterpolitik, sondern auch für die Institutionalisierung der Theaterwissenschaft neu gemischt werden, inszeniert sich Niessen denn auch als Namensgeber dieses zwischen 1933 und 1935 so genannten Thingspiels an der Schnittstelle
19 | Niessen, »Aufgaben der Theaterwissenschaft«, in: Die Scene. Blätter für Bühnenkunst 2, hg. v. der Vereinigung künstlerischer Bühnenvorstände e. V. (1927), S. 44-49, hier S. 44f. 20 | Max Herrmann, »Bühne und Drama«, in: Vossische Zeitung 384 vom 30. Juli 1918. Darin fordert er, dass die ideale Bühne wieder der Dichtung zu dienen habe. 21 | Niessen, »Theaterwissenschaftliche Universitätsinstitute«, in: Berliner Tageblatt 451 vom 26. September 1923. Für den Hinweis danke ich Nora Probst. 22 | Ebd. 23 | Vgl. Nora Probsts Beitrag »Der Gegenstand (in) der Theaterwissenschaft« in diesem Band, der im Zusammenhang mit ihrem Dissertationsprojekt »Objekte, die die Welt bedeuten. Carl Niessen und die KulturgeSchichten der Theaterwissenschaft in Köln« steht.
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zwischen Theater und politischer Versammlung.24 So versucht er, sein Kölner Institut zu dessen praktischem Laboratorium mit entsprechender Ausbildungsstätte und damit letztlich zur propagandapolitischen Beratungsstelle des nationalsozialistischen Unternehmens auszubauen. Als quasi postdramatische Parallelaktion zum zeitgenössischen Bildungsbürgertheater stellt Niessen im kulturpolitischen Dorado derer, die nach der Machtübernahme nicht zu den Ausgegrenzten und Verfolgten zählen, die Raumfrage gänzlich anders als sein Kollege Herrmann. Denn beim Thingspiel geht es um eine Rekonzeption der räumlichen Anordnung von Bühne und Zuschauerraum, die von der kollektiven Bewegung der Mitspielenden aus gedacht wird. Indem die Aufführung im Freien die Relation von Darstellenden, Zuschauenden und Umgebung exponiert, soll dem Publikum über dieses spezifische Raumerlebnis vermeintlich aktive Teilhabe suggeriert werden.
Abb. 1: Grundrissentwurf für einen Thingplatz mit eingezeichnetem kollektiven Auftritt, Harry Maasz für die Kölner Architektentagung 1933, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Grafikabteilung
24 | Zum Thingspiel vgl. Rainer Stommer, Die inszenierte Volksgemeinschaft. Die »ThingBewegung« im Dritten Reich, Marburg 1985; Fischer-Lichte, Theatre, Sacrifice, Ritual. Exploring Forms of Political Theatre, London/New York 2005, S. 122-158.
Wollt ihr die totale Theater wissenschaf t?
Dazu bedarf es – so die Thingprotagonisten – einer anderen Grundrisslösung, um den Auftritt leibhaftiger Volksvertreter massenwirksam als Vergemeinschaftung zu orchestrieren. Das zeigt der hier abgebildete Grundriss, ein Entwurf für Aufmarschplatz und Thingstätte von Harry Maasz, der den »Weg der Spieler in den Thing« von außen durch die Publikumsränge hindurch explizit verzeichnet. Dieser Entwurf findet sich heute in der Grafikabteilung der von Niessen in Köln gegründeten Theaterwissenschaftlichen Sammlung mit ihrem geradezu unerschöpflich erscheinenden Fundus. Entstanden ist er für eine von Niessen schon Anfang August 1933 an seinem Kölner Institut organisierten und von der Nazi-Presse viel beachteten Architektentagung.25 Die Tagung fungiert als think tank, um das kultische Propagandatheater als avantgardistisches Architekturtheater zu prägen. Man setzt auf das von Herrmann geschmähte Freilichtspiel, um die Überschreitung der Rampe zu inszenieren, die Erfahrung ›leiblicher Kopräsenz‹ als propagandistische ›Feedbackschleife‹ zu nutzen und so auf die nachhaltige Wirkung des Theater- als eines Vergemeinschaftungserlebnisses zu spekulieren: Es ist ja kein Drama des ästhetischen Schauens, das werden muß: das Spiel ist Aufruf, Werbung, Wertung, ›Propaganda‹, in dem tiefen Sinne, mit dem Dr. Goebbels die von Adolf Hitler prophetisch gesehene Bedeutung des Begriffs für das Staatsleben erfaßt hat. Wir brauchen uns dafür nicht in der Geschichte umzusehen, denn wir wollen doch Geschichte machen […] 26
– so Niessens Artikel »Thingplätze« als Spielstätten der Nation, den er zu einem unveröffentlicht bleibenden Buchmanuskript ausbaut.27 Geschichte also soll unter tätiger Mithilfe der Theaterwissenschaft gemacht werden, indem man die NSPropaganda auch massentheatral möglichst wirkmächtig in Szene setzt. Dass das Thingprojekt nach 1935 dennoch aufgegeben wird, hat nichts mit Niessens Haltung, sondern mit sich ändernden Propagandaerfordernissen, dem Experiment mit neuen Subjektivierungsformen durch massenkulturelle Unterhaltung und dem daraus resultierenden Abschied von der Avantgarde zu tun.28 Im Unterschied zu Herrmanns von Literatur- und Kunstwissenschaft bestimmten Einsatz für einen legitimen Werkbegriff ist Niessens Projekt einer ›angewandten Theaterwissenschaft‹ vom avantgardistischen Bewegungsdiskurs des 25 | Vgl. das Protokoll zur »Akademischen Arbeitsgemeinschaft für Architekten«, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, TWS, Nachlass Niedecken-Gebhard, Box 2. 26 | Niessen, »›Thingplätze‹ als Spielstätten der Nation«, in: Blätter der Staatsoper 13 (1933/34), Dresden, S. 97-104, hier S. 101f. 27 | Vom Zentralblatt der Bauverwaltung vereinigt mit Zeitschrift Bauwesen wird die Buchveröffentlichung in einem Schreiben vom 3. Oktober 1934 abgelehnt (TWS Köln, Thing-Box 23, 2 Bl.). 28 | So die These meiner Habilitationsschrift »Volksschule des Theaters. Nationalsozialistische Masseninszenierungen«, Ruhr-Universität Bochum 2015.
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Ausdruckstanzes und von Raumbühnenkonzepten geprägt: vor allem von Walter Gropius’ Entwurf eines multifunktionalen Totaltheaters für Erwin Piscator.29 1927 proklamiert Gropius die architektonische Zusammenfassung aller raumbildenden Faktoren gegen eine am Bild orientierte Frontalanlage des Theaters.
Abb. 2: Totaltheater, Entwurf Martin Gropius 1927, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln Seine daran anknüpfende Parole »Gliederung […][,] aber nicht Trennung«30 von Bühne und Zuschauerraum bestimmt auch die Planungen im Kontext der Architektentagung 1933. In einem Brief vom 2. Februar 1934 versucht Niessen denn auch hinter den Kulissen, Gropius kurz vor dessen Emigration und mit ihm die
29 | Vgl. zu Gropius etwa Silke Koneffke, Theater-Raum. Visionen und Projekte von Theaterleuten und Architekten zum anderen Aufführungsort 1900-1980, Berlin 1999, S. 108-123. 30 | Walter Gropius, »Theaterbau« (Vortrag 1934 in Rom), in: Ders., Apollo in der Demokratie, Berlin 1967, S. 115-123, hier S. 117.
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Bauhaus-Architektur noch in das Thingprojekt zu involvieren.31 An Gropius’ Auseinandersetzung mit historischen Theatergrundrissen anknüpfend, fordert Niessen für die neuen Spielplätze der Nation Einmarschbahnen, um die Bühne mit dem Zuschauerraum zu verbinden. Niessen akzentuiert also den kollektiven Auftritt und setzt hierzu vor allem auf die räumliche Anordnung. Genau darin liegt die Modernität und die Kompatibilität seiner Raumvorstellungen mit heutigen Überlegungen, die die performative Herstellung von Raumerlebnissen zu bestimmen versuchen.32
Gründungsnarrative Was folgt aus dieser kursorischen Gegenüberstellung von Herrmanns und Niessens Raumverständnis und ihren Vorstellungen vom Gegenstandsbereich des neu gegründeten Fachs aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive? Und was haben unsere Gründungsnarrative mit den jeweiligen Biografien zu tun? »Nach den Erinnerungen von Max Dessoir wurde Max Herrmann, der als Theaterphilologe große Verdienste hat, leider ein Opfer des Dritten Reiches. Der Zusammenbruch des Dritten Reiches hat schon eine Anzahl von Veränderungen bewirkt«,33 schreibt Niessen in seinem Handbuch, ohne sich mit der eigenen Rolle im Kontext der frühen NS-Propaganda aufzuhalten. 1933 versetzen die Nazis Herrmann zwangsweise in den Ruhestand. Nachhaltig und überregional als Ausbildungsfach anerkannt wird die Theaterwissenschaft im Jahr der Nürnberger Gesetze, denen auch Herrmann unterworfen ist.34 1942 wird er nach Theresienstadt deportiert, wo er zehn Wochen später, mit 77 Jahren, zu Tode kommt. Mit der Gründung von Heinz Kindermanns Wiener Zen31 | Vgl. Niessens Brief an Gropius vom 2. Februar 1934, Abschrift, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Nachlass Niessen, ohne Signatur; vgl. in Auszügen Stommer, Die inszenierte Volksgemeinschaft, S. 292. 32 | Vgl. Roselt, Phänomenologie des Theaters, S. 65-73. 33 | Niessen, Handbuch, 1, 1949, S. 587. Der Berliner Profiteur antisemitischer Exklusionspolitik, Herrmanns Schüler Hans Knudsen, verbreitet später ebenso wie Niessen das Märchen von Herrmanns Emeritierung; vgl. Hans Knudsen, Theaterwissenschaft. Werden und Werten einer Universitätsdisziplin, Berlin 1950, S. 70. Siehe demgegenüber den Nachruf von Ruth Mövius in einer von ihr besorgten postumen Herrmann-Veröffentlichung (Max Herrmann, Die Entstehung der berufsmäßigen Schauspielkunst im Altertum und in der Neuzeit, Berlin 1962, S. 289-297). 34 | Mit der Anordnung 38 der Reichstheaterkammer vom 14. Januar 1935 wird die Theaterwissenschaft im Jahr der Nürnberger Gesetze zum staatlich anerkannten Ausbildungsinstrument für zukünftige Spielleiter und Dramaturgen; vgl. Sabine Herder, »Carl Niessen und das Institut für Theaterwissenschaft an der Universität zu Köln«, in: Walter Pape (Hg.), Zehn Jahre Universitätspartnerschaft. Iniverzita Karlova v Praze – Universität Köln. Kolloquium zur Universitäts- und Fachgeschichte, Köln 2011, S. 135-156.
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tralinstitut für Theaterwissenschaft 1943 präsentiert sich unser Fach parallel zur industrialisierten Vernichtungspolitik als »Teil des kriegswissenschaftlichen Betriebs«.35 Und Niessen wiederum versucht, sich im darauf folgenden Jahr noch einmal mit antisemitischen Ausfällen zu profilieren: Daß Jazz und Revue, die menschliche und mechanische zugleich und auch der Film in die Berliner Staatsoper einzogen, dafür sorgte der Jude Kurt Weill, dessen zersetzende klassenkämpferische Tendenz seit der Dreigroschenoper immer deutlicher hervortrat […]. 36
Beruft man sich auf Herrmanns Aufführungsbegriff, geht man aus der latent mitschwingenden biografischen Perspektive quasi selbstverständlich auf Distanz zu den theaterwissenschaftlichen Gewinnern der Machtübernahme und deren aktiver Beteiligung an der propagandistischen Flanke nationalsozialistischer Biopolitik. Genau darin aber besteht das Problem.37 Denn damit ist der Blick auf unsere Nähe zu theaterwissenschaftlichen Positionen verstellt, die mit der NS-Politik zunächst durchaus kompatibel sind. Die Entgegensetzung von Aufführung und Drama teilt Herrmann außerdem notwendigerweise mit allen zeitgenössischen Befürwortern einer eigenständigen Theaterwissenschaft, die gegen die Literaturwissenschaft erst einmal ihr Feld markieren müssen. Diese Entgegensetzung wird aber von den Anhängern der reichschen Mimustheorie38 wie Niessen weitaus stärker zugespitzt. Entsprechend bestimmt sich der Gegenstandsbereich des Fachs gerade aus dieser Perspektive an der Schnittstelle zu cultural performances und bringt zudem zeitgenössische Vorstellungen der Entgrenzung von Kunst und Leben ins Spiel, wie sie bereits für die Theateravantgarden kennzeichnend sind. Wenn die Geschichte vom nachhaltigen Abbruch der Avantgarde-Experimente 1933 bis zu ihrer Wiedergeburt in der Performancekunst seit den 1960er Jahren 35 | Zitiert aus dem Antrag für eine Fernsprechanlage von 1943 nach Englhart, »Theaterwissenschaft«, S. 896. Zum Wiener Zentralinstitut siehe v.a. Birgit Peter, »Theaterwissenschaft als Lebenswissenschaft. Die Begründung der Wiener Theaterwissenschaft im Dienst nationalsozialistischer Ideologieproduktion«, in: Dies./Hulfeld (Hg.), Theater/Wissenschaft im 20. Jahrhundert, S. 193-212; Dies./Payr, »Wissenschaft nach der Mode?«. 36 | Niessen, Die deutsche Oper der Gegenwart, Regensburg 1944, S. 78. Siehe demgegenüber seine offenbar zum Zweck symbolischer Selbstentnazifizierung entstandenen Bücher zu Reinhardt (Max Reinhardt und seine Bühnenbildner, Köln 1958) und Brecht (Brecht auf der Bühne, Köln 1959). 37 | Vgl. in diesem Zusammenhang auch Stefan Hulfelds und Hans-Christian von Herrmanns Verweise auf Wilhelm Scherer und den Einfluss der germanistischen Theaterforschung des 19. Jahrhunderts auf Max Herrmann, die die Vorstellung von dem einen Gründungsvater unseres Fachs in Frage stellen (Hulfeld, Theatergeschichtsschreibung, S. 264270; Herrmann, Archiv, S. 227-243). Siehe zudem den neueren Versuch, Herrmann auch und gerade als Germanisten zu rezipieren (Hollender, Der Berliner Germanist). 38 | Vgl. Hermann Reich, Der Mimus, Berlin 1903.
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in der Erzählung von einer ausschließlich von Herrmann geprägten modernen deutschsprachigen Theaterwissenschaft fortgeschrieben wird, laufen wir Gefahr, noch einmal ein fatales Loch39 in der Geschichte unseres Fachs zu produzieren. Denn dieses Gründungsnarrativ bannt die Frage nach Korrespondenzen, nach der Episteme, der Gegenstandsbestimmung und Zielstellung heutiger Theaterwissenschaft im Verhältnis zur NS-Fachgeschichte. Im Nach-Wende-Umgang mit der Gründungsphase der Theaterwissenschaft gibt es eine Art Spaltung, die es vor diesem Hintergrund zu überwinden gilt: 1. die programmatische Berufung auf Herrmann vor allem seit Corssens Veröffentlichungen Anfang der 1990er Jahre, in deren Kontext Fischer-Lichtes eingangs zitierte Gründungsrede steht; 2. der Verweis auf Niessens Modernität seit Ende der Nuller Jahre, der bislang weitgehend ohne Auseinandersetzung mit der Symptomatik seines Engagements für die Propagandapolitik als einer spezifischen Form ›angewandter Theaterwissenschaft‹ auskommt; 3. das Bemühen, seit den frühen 1980er Jahren, die Verstrickung von Theaterwissenschaftlern in den NS biografisch und institutionenpolitisch aufzuarbeiten. Zum Zweck kritischer Selbstreflexion unserer heutigen Wissenschaftspraxis wären die drei Stränge zusammenzuführen – nicht einfach um eine weitere Forschungslücke zu füllen oder Vergangenes aufzuarbeiten. Zur Debatte steht vielmehr das Verhältnis epistemischer Entscheidungen zu Abhängigkeiten des Wissenschaftsbetriebs von der Politik – heute etwa von externen Geldgebern angesichts der Bedrohung vor allem kleiner geisteswissenschaftlicher Fächer mit geringer Drittmittelbilanz. Vor diesem Hintergrund geht es auch um die Kritik der Vermischung von wissenschaftspolitischen Strategien, Antragsprosa und Forschungsperspektiven – um die Reflexion des Betriebs selbst und die Grenzen der Anpassung an heute freilich andere politische Erfordernisse. So betrachtet, zielt die Erinnerung an unsere Fachgeschichte nicht bloß auf die Aufarbeitung der Vergangenheit, sondern auf eine Auseinandersetzung um unsere Zukunft, die die Frage nach der Episteme des Theaters und seiner Wissenschaft in grundlegender Weise betrifft.
39 | So bereits 1966 Walter Wicclairs Formulierung in seinem später wiederabgedruckten Text »Das fatale Loch in der Berliner Theatergeschichte«; vgl. Ders./Marta Mierendorff, Im Rampenlicht der »dunklen Jahre«. Aufsätze zu Theater im »Dritten Reich«, Exil und Nachkrieg, hg. v. Helmut G. Asper, Berlin 1989, S. 17-42.
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Autorinnen und Autoren
Vivien Aehlig ist Doktorandin am Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin. Ihr Promotionsprojekt befasst sich mit der Verwendung, den Erscheinungsformen und der Bedeutung von Theaterbegriff und Theatralität in US-amerikanischen Performancediskursen. Sie studierte Theater-, Medienwissenschaft und Amerikanistik an der Universität Erlangen-Nürnberg und der University of Maryland at College Park. Lorenz Aggermann erforscht im Rahmen des DFG-Projekts »Theater als Dispositiv« ästhetische Umbrüche anhand des Œuvres von Hans Neuenfels und Heiner Goebbels. Sein Interesse gilt zudem der sonoren und affektiven Dimension von Theater (Der offene Mund, 2013) sowie diversen Figurationen von Alterität (Lernen, mit den Gespenstern zu leben, Hg. 2015; Beograd Gazela – Reise in eine Elendssiedlung, 2008). Evelyn Annuß vertritt die Professur für Theater und Medien am Institut für Theaterwissenschaft der LMU München und hat sich an der Ruhr-Universität Bochum mit einer Studie über NS-Masseninszenierungen habilitiert (»Volksschule des Theaters«, im Erscheinen). Arbeitsschwerpunkte u.a.: Theaterhistoriografie, Gegenwartstheater, Massenkultur, Gender und Postcolonial Studies. Stefan Apostolou-Hölscher ist Postdoktorand im Teilprojekt »Mindere Mimesis« der DFG-Forschergruppe »Medien und Mimesis« am Lehrstuhl für Philosophie und Ästhetische Theorie an der AdBK München. Seine Dissertation Vermögende Körper – Zeitgenössischer Tanz zwischen Ästhetik und Biopolitik ist 2015 erschienen. Veröffentlichungen v.a. über politische Theorie, Choreographie und Performance. Gerda Baumbach ist seit 1994 Professorin am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig. Schwerpunkte in Lehre und Forschung: Theatergeschichtsforschung und -anthropologie. Publikationen u.a.: Schauspieler. Historische Anthropologie des Akteurs, Bd. 1: Schauspielstile (2012); Bd. 2: Historien (in Vorb.); Herausgeberin der Reihe Leipziger Beiträge zur Theatergeschichtsforschung.
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Jeanne Bindernagel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen HygieneMuseum Dresden und am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig. Ebendort 2015 Promotion zu »Von der Bühne zum Text: Theatrale Konstellationen zwischen Freud und Deleuze« (Kurztitel). Forschung: Theatralität des philosophischen Texts, Ästhetikgeschichte der Psychoanalyse, filmisch-theatrale Praktiken der Nachkriegszeit. Petra Bolte-Picker war wissenschaftliche Mitarbeiterin und Studiengangskoordinatorin am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der JLU Gießen und von 2012 bis 2014 Diversity-Beauftragte des Fachbereichs Sprache, Literatur, Kultur. 2011 Promotion zu Die Stimme des Körpers – Vokalität im Theater der Physiologie des 19. Jahrhunderts (2012). Forschung: Theater und Behinderung, Theater und Demenz, Theater und soziale Minderheiten. Micha Braun ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt »Das Theater der Wiederholung« am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig. Er forscht und publiziert zu Praktiken der Wiederholung, des Erinnerns und Erzählens in den darstellenden und bildenden Künsten mit Schwerpunkt Mittel- und Osteuropa sowie zu Medien der Aneignung und Darstellung von Vergangenheit und Gegenwart. Jules Buchholtz arbeitet theoretisch und künstlerisch u.a. als Dozentin an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig, der Universität Gießen und der HafenCity Universität Hamburg mit dem Schwerpunkt Risikoregime und Sicherheit, künstliche Intelligenz und spekulative Szenariotechnik. Im Herbst 2016 erscheint ihre Dissertation »Wem gehört die Zukunft? Wissen und Wahrheit im Szenario«. Barbara Büscher ist Professorin für Medientheorie/-geschichte und Intermedialität an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig. Forschungsschwerpunkte: Medialität der Artefakte von Performance-Archiven sowie die konstitutive Bedeutung von Raum/Architektur für die Aufführungskünste. Initiatorin und Mitherausgeberin des Online-Journals MAP (www.perfomap.de). Publikation u.a.: Raumverschiebungen: Black Box – White Cube (Hg. 2014). Milena Cairo ist freischaffende Kunsthistorikerin und promoviert zu ›Live Art in musealen Kontexten‹. Sie studierte Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte und Komparatistik an der Ruhr-Universität Bochum. Gründung und Herausgabe des kunsttheoretischen Magazins brink. Magazin zwischen Kunst und Wissenschaft. Tim Christmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Er studierte Theaterwissenschaft und Komparatistik in Bochum und Paris.
Autorinnen und Autoren
Michael A. Conrad ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt »Spielteufel, Narrenschiff, Totentanz – Figurationen von Risiko in Mittelalter und Früher Neuzeit« des SFB 980 »Episteme in Bewegung« der FU Berlin unter der Leitung von Prof. Dr. Helmar Schramm (†) und Prof. Dr. Viktoria Tkaczyk. Er forscht zu Spielen als Praxis der Kontingenzbewältigung im späten 13. Jahrhundert. Jeroen Coppens ist Doktor-Assistent für Kunst-, Musik-, und Theaterwissenschaft an der Universität Gent. Abschluss als Bachelor in Philosophie, als Master in Theater- und Filmwissenschaft, Promotion 2016 mit der Schrift »Visually Speaking. A Research into Visual Strategies of Illusion in Postdramatic Theater«. Als freiberuflicher Dramaturg arbeitet er mit der Videokünstlerin Ariane Loze zusammen. Franz Anton Cramer ist Lehrbeauftragter der Abteilung Musik- und Tanzwissenschaft der Universität Salzburg. Von 2012 bis 2016 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter in der DFG-Forschungsstelle »Verzeichnungen« am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz Berlin, zu dessen Gründungsteam er ab 2006 zählte. Von 2007 bis 2013 war er Fellow am Collège International de Philosophie, Paris. Veronika Darian ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig und hat an der FU Berlin und der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf gelehrt. Sie forscht und publiziert zu den Schwerpunkten Theater des Alter(n)s und der Dinge, Biographie und Narration in Theater, Tanz und Performance sowie Theater in Gesellschaft(en) in Transformation. Evelyn Deutsch-Schreiner ist ordentliche Professorin für Dramaturgie, Theaterund Literaturgeschichte an der Universität für Musik und Darstellende Kunst in Graz. Forschungsschwerpunkte: Theaterpolitik, Theatergeschichte, Dramaturgieforschung, neue Dramatik und Avantgardetheater. Jüngste Publikation: Theaterdramaturgien von der Auf klärung bis zur Gegenwart (2016). Mariama Diagne ist als Tanzwissenschaftlerin an der Freien Universität Berlin tätig. Ihre tänzerische Ausbildung absolvierte sie am Dance Theatre of Harlem in New York. Bühnenpraktischer Arbeit folgte ein Studium der Theater-, Medien-, Musik- und Tanzwissenschaften in Bayreuth und Berlin. In ihrer Promotion untersucht sie anhand des Orpheus-Mythos Bewegungsverfahren im Tanztheater von Pina Bausch. Georg Döcker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des DFG-Forschungsprojekts »Theater als Dispositiv« am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft, Justus-Liebig-Universität Gießen. Neueste Publikation: Die Gerechtigkeit des Übermenschen. Eine Lektüre zum Theater der Grausamkeit in Antonin Artauds letzten Schriften (im Erscheinen).
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Matthias Dreyer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theater-, Filmund Medienwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt a.M. 2009 bis 2011 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theaterwissenschaft der FU Berlin, dort Promotion. Theater der Zäsur. Antike Tragödie im Theater seit den 1960er Jahren (2014). Forschungen u.a. zu Chor/Kollektiv, Theaterarchitektur, Lebensdiskurs und Biopolitik. Gerko Egert ist Post-Doc Stipendiat an der Universität Gent. Seine Forschungsinteressen umfassen menschliche und nicht-menschliche Choreographien, Politiken und Macht der Bewegung, Prozessphilosophien sowie Theorien der Ökologie und des Wetters. Publikationen u.a.: Berührungen. Bewegung, Relation und Affekt im zeitgenössischen Tanz (2016); Choreographing the Weather – Weathering Choreography (2016). André Eiermann hat Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen studiert und dort promoviert, Postspektakuläres Theater (2009). Er vertrat u.a. von 2010 bis 2011 die Professur für Theaterwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. und 2013 die Professur für Theorie und Geschichte des Theaters an der UdK Berlin. Als Dramaturg arbeitet er mit verschiedenen KünstlerInnen zusammen. Theresa Eisele ist seit Juni 2016 Universitätsassistentin (PraeDoc) am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Studium der Theaterwissenschaft sowie Kommunikations- und Medienwissenschaft in Leipzig und Madrid. Lehrtätigkeit am Institut für Theaterwissenschaft Leipzig. Forschungsschwerpunkte u.a.: Spanische Theatergeschichte, Judentum und Wiener Theatermoderne. Wolf-Dieter Ernst ist Professor für Theaterwissenschaft an der Universität Bayreuth. Promotion 2001 zu Performance der Schnittstelle. Theater unter Medienbedingungen (2003). Habilitation zur Diskursgeschichte der Schauspielschulen 1870-1930. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Theatertheorie, -geschichte und -ästhetik: Der affektive Schauspieler (2012); Sound und Performance (Mhg. 2015); Psyche-Technik-Darstellung (Mhg. 2016). Jörn Etzold ist Privatdozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Studium der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen, Promotion 2006 in Erfurt, Habilitation 2015 in Frankfurt a.M. Lehr- und Forschungstätigkeit an den Universitäten von Weimar, Gießen und Bochum und an der Northwestern University, Evanston. Ronja Flick ist Projektmitarbeiterin am Rechenzentrum der Universität Leipzig. 2007 bis 2013 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin für germanistische Mediävistik in Leipzig und Greifswald. Lehrt regelmäßig am Leipziger Institut für
Autorinnen und Autoren
Theaterwissenschaft. Forschungsschwerpunkte u.a.: Methodik der Theaterhistoriographie, Überlieferungskomplex um Salomon und Markolf, ›Geistliche‹ Spiele. Susanne Foellmer ist Reader of Dance an der Coventry University (UK) und leitet seit 2014 das DFG-Forschungsprojekt »ÜberReste. Strategien des Bleibens in den darstellenden Künsten«. Forschungsschwerpunkte: Ästhetische Theorie und Körperkonzepte in zeitgenössischem Tanz und Performance, Tanz und Schauspiel der Weimarer Zeit, Choreographie und ›andere‹ Medien. Publikationen u.a.: Valeska Gert (2006); Am Rand der Körper (2009). Leon Gabriel ist seit 2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Goethe Universität Frankfurt a.M. Promotionsprojekt zum Thema »Bühnen der Welt. Die Grenzen der Vorstellung und das Theater der Altermondialität«. Künstlerische Projekte mit dem Kollektiv ArtyChock sowie Kuration der Reihe »blind date: kunst – macht – widerstand«. Mechthild Gallwas ist derzeit in Elternzeit. Sie studierte Theaterwissenschaft und Germanistik in Leipzig und Turin, Informations- und Bibliothekswissenschaft in Berlin. Dissertationsprojekt zu Luigi Riccobonis Einfluss auf Theaterreformen in Deutschland im 18. Jahrhundert. Lehrtätigkeit am Leipziger Institut für Theaterwissenschaft. Forschungsschwerpunkte: Schauspieltheorien; 18. Jahrhundert; italienische Theatergeschichte; Commedia. Martina Groß ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medien, Theater und Populäre Kultur der Universität Hildesheim. 2013 Promotion in Frankfurt a.M. mit einer Arbeit zu Lesages Théâtre de la Foire und der Theaterentwicklung um 1700. Publikationen und Forschungsarbeiten zum Theater der Frühen Neuzeit, zur Geschichte und Theorie experimenteller Theaterformen sowie zur Figur des Zuschauers. Maximilian Haas ist Dramaturg und Theaterwissenschaftler und lebt in Berlin. Er studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen, war an der Volksbühne Berlin engagiert und kollaborierte mit Theatermachern wie David Weber-Krebs, Martin Nachbar, Jeremy Wade und Hannah Hurtzig. Promotion über »Tiere auf der Bühne. Eine ästhetische Ökologie der Performance« (KHM Köln, Viadrina Frankfurt/Oder). Simon Hagemann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanistikinstitut der Universität der Franche-Comté und Mitglied der Forschungsgruppe »C.R.I.T. Centre de Recherches Interdisciplinaires et Transculturelles – EA 3224«. Er ist Doktor der Theaterwissenschaft (Universität Sorbonne Nouvelle Paris 3) und Autor von Penser les medias au théâtre, des avant-gardes historiques aux scènes contemporaines (2013).
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Daniela Hahn ist Postdoc am Dahlem Humanities Center der Freien Universität Berlin und Researcher im Forschungsprojekt »Writing Movement«, gefördert von der VolkswagenStiftung. Promotion zu Epistemologien des Flüchtigen. Bewegungsexperimente in Kunst und Wissenschaft um 1900 (2015). Arbeitsschwerpunkte: Interferenzen von Theater- und Wissensgeschichte; künstlerische Forschung; Performance und Ökologie. Moritz Hannemann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Kollegiumsmitglied des KWI Essen; Promotionsprojekt: ›Suche nach einer zeitgenössischen Tragödie‹; Schwerpunkte: Chor und Einzelfigur, Mimesis und Geschichte in Theaterentwürfen u.a. von Hölderlin, Kleist, Brecht; Publikation: rhythmos. Formen des Unbeständigen nach Hölderlin (Mhg. 2016). Ulrike Haß ist Professorin für Theaterwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Publikationen u.a.: Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform (2005); Mark Lammert. Bühnen Räume Spaces (2013); Bühne: Raumbildende Prozesse im Theater (Mhg. 2014). Praktische Projekte und Vorbereitung einer Publikation zur Topologie des Chores. Günther Heeg ist Professor und Geschäftsführender Direktor des Instituts für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig sowie Vizepräsident der International Brecht Society (IBS). Er ist Leiter des DFG-Forschungsprojekts »Das Theater der Wiederholung. Zum Verhältnis von Theaterhistorismus und künstlerischer Praxis des Reenactments«. Aktueller Forschungsschwerpunkt ist das transkulturelle Theater. Maria-Elisabeth Heinzer hat an den Universitäten Bern und Leipzig Theaterwissenschaft, germanistische Linguistik und Neue deutsche Literatur studiert. Von 2010 bis 2014 war sie Doktorandin, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Lehrbeauftragte am Institut für Theaterwissenschaft an der Universität Bern. 2014 wurde sie mit einer Arbeit zu »Theater im Vakuum. Szenische Vorgänge im frühen Mittelalter« promoviert. Andrea Hensel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig. Sie promoviert im Rahmen des DFG-Forschungsprojekts »Das Theater der Wiederholung« zu Geschichtsbildern im ästhetischen Historismus des 19. Jahrhunderts. Weiterer Forschungsschwerpunkt: die Analyse von Freien Theaterformen in den postsozialistischen Staaten (Ost-)Europas. Caroline Herfert ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsstelle »Hamburgs (post-)koloniales Erbe« (Universität Hamburg). Sie studierte Theater-, Filmund Medienwissenschaft sowie Arabistik an der Universität Wien und promovier-
Autorinnen und Autoren
te als DOC-Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2015 über »Inszenierungen der Porta Orientis Wien« und österreichischen Orientalismus um 1900. Lucas Herrmann promoviert in Hildesheim zur Dokumentation von Theaterproben. Seine Forschung verbindet Theorie und Praxis von Theater und Performance. Er ist Visiting Scholar am Department of Theatre and Dance, University of Hawaiʼi at Mānoa und ernanntes Mitglied des International Centre for Performance Studies, Tangier, Morocco. Tätigkeit als Dokumentarist, Dramaturg und Regisseur. Beate Hochholdinger-Reiterer ist Professorin für Theaterwissenschaft an der Universität Bern. Forschungsschwerpunkte: Gegenwartstheater, Theater, Dramatik und Schauspieltheorien des Aufklärungszeitalters, Fachgeschichte, Genderforschung. Aktuelle Publikationen: Kostümierung der Geschlechter. Schauspielkunst als Erfindung der Auf klärung (2014); Arbeitsweisen im Gegenwartstheater (Mhg. 2015); Spielwiesen des Globalen (2016). Eva Holling ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft Gießen. Promotion zu Übertragung im Theater: Theorie und Praxis theatraler Wirkung (2016). Tätigkeiten in der künstlerischen Praxis (z.B. Bois des Boulognes mit M. Naumann, Berlin 2013). Monographie: Ist alles gespielt? Blicke auf den Stadtraum im Neuen Theater (2007); Mitherausgeberin der Zeitschrift Nebulosa. Sabine Huschka leitet das DFG-Projekt »Transgressionen. Energetisierung von Körper und Szene« am HZT der UdK Berlin und gehört dem Graduiertenkolleg »Das Wissen der Künste« der UdK an. Habilitation 2011 an der Universität Leipzig zu »Wissenskultur Tanz: Der choreografierte Körper im Theater«. Diverse nationale und internationale Vertretungsprofessuren für Performance Studies, Theater- und Tanzwissenschaft. Stefanie Husel lehrt Theaterwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und arbeitet als wissenschaftliche Koordinatorin des Forschungsschwerpunktes für Sozial- und Kulturwissenschaften (SoCuM). Promotion zu Forced Entertainment (Betreuer: Hans-Thies Lehmann, Stefan Hirschauer): Grenzwerte im Spiel (2014). Theaterpraxis u.a. als Produzentin, Dramaturgin und Beleuchterin. Klaus Illmayer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Austrian Centre for Digital Humanities der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Derzeit arbeitet er an seiner Dissertation, die sich mit der Fachgeschichte der Theaterwissenschaft und ihrem Verhältnis zu Film- und Medienwissenschaft auseinandersetzt.
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Jurgita Imbrasaite ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum tätig. 2015 promovierte sie in Bochum zum Thema »Die révolution im Tanz. Vom König zum modernen Subjekt«. Forschungsschwerpunkte: Tanztheorie und -epistemologie, Psychoanalyse, französischer Poststrukturalismus und Gegenwartstheater in Lateinamerika. Alexander Jackob forscht an der Universität von Amsterdam (UVA) zur Ästhetik und Politik des Musiktheaters. Studium der Theaterwissenschaft, Filmwissenschaft und Kunstgeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Von 2008 bis 2014 lehrte er an der UVA Theater, Ästhetik und Musiktheater, ebendort Promotion 2011 im Fach Philosophie zu »Theater und Bilderfahrung. In den Augen der Zuschauer«. Theresa Jacobs arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sorbischen Institut, Bautzen. Studium der Musikwissenschaft, Germanistik, Kommunikations- und Medienwissenschaft in Leipzig und Krakau. 2012 Promotion zum Volkstanz der Sorben, 2013/14 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig, 2012 Mitbegründerin der Initiative 4fürTANZ, Leipzig. Romain Jobez lehrt seit 2004 Theaterwissenschaft an der Universität Poitiers. Von 2009 bis 2011 Fellow der Humboldt-Stiftung am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bochum, ebendort Habilitation: »Vom Komödianten zu Schauspielern. Zwischen Kunstideal und sozialer Anerkennung im Theater der Aufklärung« (2016). Veröffentlichung: Le théâtre baroque allemand et français. Le droit dans la littérature (2010). Sebastian Kirsch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter (DFG-Eigene Stelle) am theaterwissenschaftlichen Institut der Ruhr-Universität Bochum. Dissertation: Das Reale der Perspektive. Der Barock, die Lacan’sche Psychoanalyse und das ›Untote‹ in der Kultur (2013). Seit 2014 Habilitationsprojekt »Jenseits des Ödipus«. Derzeitige Schwerpunkte: Geschichte der Chorfigur, Gouvernementalität und Sorge. Corinna Kirschstein ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Interdisziplinären Zentrum für Pietismusforschung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg in Verbindung mit den Franckeschen Stiftungen zu Halle. Von 2007 bis 2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin des DFG-Projekts »Herbert Ihering« am Leipziger Institut für Theaterwissenschaft, von 2013 bis 2014 Lecturer am Institut für Medienkultur und Theater, Köln. Anja Klöck ist Professorin für Schauspiel an der Hochschule für Musik und Theater Felix Mendelssohn Bartholdy in Leipzig. Theaterarbeit in den Bereichen Regie, Schauspiel, Performance und Dramaturgie. Lehrtätigkeit in Frankfurt, Gießen, Helsinki, Mainz, Minneapolis, München, Wien. Veröffentlichungen zur histori-
Autorinnen und Autoren
schen Avantgarde, zu Schauspiel- und Mediendiskursen seit der frühen Neuzeit, Theater und Politik und zum Gegenwartstheater. Ellen Koban ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Film-, Theaterund empirische Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Mitglied der interdisziplinären DFG-Forschungsgruppe »Un/doing Differences«, Promotion zum Phänomen des Genderblending als Besetzungs-, Darstellungsund Wahrnehmungspraxis. Publikationen u.a.: Gerettet? Spiegelungen des prekären Sinn-Subjekts im jungen deutschen Regietheater (2008). Maria Koch studierte Theater- und Musikwissenschaft in Leipzig. Forschungsaufenthalte in Moskau und St. Petersburg. Dissertationsprojekt: »Wsewolod E. Meyerholds ›uslovnyj teatr‹ im Geflecht der ›exakten‹ Wissenschaften«. Schwerpunkte: Russische Theatermoderne und naturwissenschaftliche Öffnung theaterwissenschaftlicher Forschung. Lehrtätigkeit an den Universitäten Leipzig und Wien. Andreas Kotte ist Professor für Theaterwissenschaft an der Universität Bern. Seit 2005 Co-Leiter des internationalen Projekts »STEP – Project on European Theatre Systems«. Forschungen: Theatergeschichte und systematische Theaterwissenschaft. Herausgeber der Reihen »Theatrum Helveticum« und »Materialien des ITW Bern«, 32 Bände; Theaterlexikon der Schweiz (Hg. 2005; 2012 online); Theatergeschichte. Eine Einführung (2013). Friedemann Kreuder ist Professor und Leiter der Theaterwissenschaft am Institut für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft der Johannes GutenbergUniversität Mainz und des theaterwissenschaftlichen Teilprojekts der DFG-Forschergruppe »Un/doing Differences«. Publikationen: Spielräume der Identität in Theaterformen des 18. Jahrhunderts (2010); Formen des Erinnerns im Theater Klaus Michael Grübers (2002). Hans-Thies Lehmann lehrte bis zu seiner Emeritierung 2010 als Universitätsprofessor für Theaterwissenschaft an der Goethe-Universität in Frankfurt a.M. Gastprofessuren u.a. in Paris, Krakau und Virginia, Stipendiat der Japan Society for the Promotion of Science, Mitarbeit u.a. an einem österreichisch-japanischem Theaterprojekt in Tokyo, Dramaturgie für die Regisseure Jossi Wieler, Peter Palitzsch, Christof Nel, Theodoros Terzopoulos. Verena Meis ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik IV Theorie und Praxis schriftlicher Kommunikation an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. 2013 Promotion zu »Fäden im Kopf« – Theatrales Erzählen in Thomas Bernhards Prosa (2015). Forschungsschwerpunkte: Theorien der Schrift und des Schreibens, Tanz und Theater vom 18. Jahrhundert bis heute.
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Frank Max Müller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für den Masterstudiengang Choreographie und Performance am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen. Schwerpunkt: Körperkonzepte und Performancekunst. Arbeit an einer Dissertation zum Thema: »Aufruhr der Körper. Künstlerische Strategien zwischen radikalem Einsatz und Anerkennung«. Nikolaus Müller-Schöll ist Professor für Theaterwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. und Leiter des Masterstudiengangs Dramaturgie. Forschungsschwerpunkte: Fragen im Spannungsfeld zwischen Theater, Literatur, Philosophie und Politik. Publikationen u.a.: Ereignis (Hg. 2003); Performing Politics (Mhg. 2012); Unterm Blick des Fremden. Theaterarbeit nach Laurent Chétouane (Mhg. 2015). Nora Niethammer ist seit 2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Theaterwissenschaft der Universität Bayreuth. Von 2014 bis 2015 war sie zudem wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth. Derzeit realisiert sie ihr Dissertationsprojekt zu kollektiven Probenprozessen bei den Neoavantgarden seit den 1960er Jahren. Veröffentlichung: Sound und Performance (Mhg. 2015). Rasmus Nordholt promoviert unter dem Titel »Musikalische Relationen« am Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum über die Musikalität nicht vornehmlich klanglicher Praktiken. Er ist Promotionsstipendiat des Evangelischen Studienwerks e.V. Als Musiker (Elektronik) gehört er der Künstlergruppe kainkollektiv an und arbeitet aktuell mit Rimini Protokoll zusammen. Merle Nümann forscht derzeit zur Theaterpraxis und -theorie im 18. Jahrhundert, zu populären Theatertraditionen und zum DDR-Theater. Bis 2011 Studium der Theaterwissenschaft, Philosophie und Germanistik in Leipzig. Seit 2010 regelmäßige Lehrtätigkeit am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig. Leonie Otto ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theater-, Filmund Medienwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt sowie als freie Dramaturgin tätig. Sie schreibt an einem Dissertationsprojekt zur Verknüpfung von Tanz und Denken. Vor kurzem erschien: Unterm Blick des Fremden. Theaterarbeit nach Laurent Chétouane (Mhg. 2015). Birgit Peter leitet das Archiv und die theaterhistorische Sammlung des Instituts für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Zirkus, Fachgeschichte, verdrängte Theatergeschichte, Antisemitismus. Seit 2008 als Vizepräsidentin der Gesellschaft für Theaterwissenschaft für das Mentoring der GTW Doktorand_innnen Gruppe zuständig.
Autorinnen und Autoren
Katharina Pewny ist seit 2009 Professorin für Performance Studies an der Universiteit Gent. Dort leitet sie das Forschungszentrum »S:PAM (Studies in Performing Arts and Media)«, die Forschungsgruppe »THALIA. Interplay of Theatre, Literature and Media in Performance« und die AG Dramaturgie der Gesellschaft für Theaterwissenschaft. Forschung zu Ethik, Politik und Spiritualität in den performativen Künsten. Gabriele C. Pfeiffer hat derzeit eine Elise Richter Stelle (FWF) am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien mit dem Forschungsprojekt »(Re)Präsentation theatraler Konzepte des Daseins« (http://theatricalbeing.univie.ac.at/) inne. Sie lehrt und forscht vornehmlich zu europäischer Schauspielgeschichte und -theorie des 20. Jahrhunderts sowie zur Theateranthropologie. Tamar Pollak ist Mitarbeiterin an der Universität Zürich. Von 2010 bis 2015 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig tätig. Sie forscht und publiziert zu den Erscheinungsformen und Wirkungsweisen des Niederschlags von Geschichte in dramatischen, literarischen und künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart. Patrick Primavesi ist Professor für Theaterwissenschaft an der Universität Leipzig und Direktor des Tanzarchivs Leipzig. Studium der Theaterwissenschaft und Germanistik in Berlin, Gießen und Frankfurt a.M. Promotion 1996 zu Walter Benjamin, Habilitation 2007 zu Theater und Öffentlichkeit um 1800. Forschungsschwerpunkte: Körperpolitik in der DDR, gegenwärtige Formen von Theater, Tanz und Performance sowie Interventionen im urbanen Raum. Nora Probst ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Theaterwissenschaftlichen Sammlung am Institut für Medienkultur und Theater der Universität zu Köln. Forschungsinteressen sind u.a. Wissenschaftsgeschichte, Sammlungen/Museen, Digital Humanities, Theaterhistoriografie. Promotion: »Objekte, die die Welt bedeuten. Carl Niessen und die KulturgeSchichten der Theaterwissenschaft in Köln« (Arbeitstitel). Marcus Quent studierte Theaterwissenschaft und Philosophie in Leipzig und Aberystwyth, Wales und promoviert zurzeit im Fach Philosophie an der UdK Berlin. Neueste Veröffentlichungen als Herausgeber: Das Versprechen der Kunst. Aktuelle Zugänge zu Adornos ästhetischer Theorie (Wien 2014); Absolute Gegenwart (Berlin 2016).
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Episteme des Theaters
Daniel Rademacher arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medien- und Kulturwissenschaft der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Der Begriff des Szenischen und die Verbindung von Theorie und Praxis des Theaters bilden die Schwerpunkte seiner Lehr- und Forschungstätigkeit. Juliane Raschel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt »Körperpolitik. Tanzinstitutionen in der DDR« am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig. Bis 2012 war sie Tänzerin beim Leipziger Tanztheater (mit Irina Pauls u.a.) und arbeitete am Tanzarchiv Leipzig (u.a. am Vorlass von Thomas Lehmen), dessen Vorstand sie angehört. Melanie Reichert ist seit 2007 in den Bereichen Regie und Dramaturgie tätig u.a. an den Städtischen Bühnen Münster, der Oper Kiel und dem Thalia Theater Hamburg. Seit 2012 Promotion zu den philosophischen Implikationen von Unverständlichkeit als Form ästhetischer Kulturkritik. Seit 2011 Lehrende an der Universität Kiel und der Muthesius Kunsthochschule Kiel. Ingo Rekatzky ist Redakteur beim Deutschen Literatur-Lexikon (de Gruyter). Studium der Theaterwissenschaft und Germanistik in Leipzig und Wien, Lehraufträge an beiden Universitäten. Promotionsprojekt zum Legitimationsprozess von Theater am Beispiel des Ersten Hamburgischen Theaterstreits (Dissertation eingereicht). Forschung zu: Musiktheater; Einfluss des Protestantismus auf kulturelle Diskurse der Moderne; Mythos, Fest, Theater. Hans-Jörg Rheinberger wurde 1982 an der Freien Universität Berlin zum Dr. rer. nat. promoviert und 1987 in Molekularbiologie habilitiert. Von 1997 bis 2014 Direktor des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte Berlin. Honorarprofessur am Institut für Philosophie und Geschichte der Wissenschaften und der Technik an der Technischen Universität Berlin, Gastwissenschaftler am Collegium Helveticum der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich. Kati Röttger leitet seit 2007 das Institut für Theaterwissenschaft an der Universität von Amsterdam. Seit 2013 ist sie Dekanin des Fachbereichs Kunst- und Kulturwissenschaften. Sie hat zu einer großen Bandbreite von Themen publiziert u.a. zu Gender, Dramaturgie und Bildpolitik. Ihr gegenwärtiger Forschungsschwerpunkt liegt auf Technologien des Spektakels im 19. Jahrhundert. Judith Schäfer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Promotion zu Dramaturgien des Fragmentarischen bei J.M.R. Lenz (2016), gegenwärtig Vorbereitung einer Edition der Dramenfragmente von Lenz.
Autorinnen und Autoren
Constanze Schellow ist Professorin für Angewandte Tanzwissenschaft und Performancetheorie am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz Berlin. Als Dramaturgin hat sie u.a. mit Doris Uhlich, Simone Aughterlony und aktuell Eva Meyer-Keller zusammengearbeitet. Aktuelle Buchpublikation: Diskurs-Choreographien. Zur Produktivität des ›Nicht‹ für die zeitgenössische Tanzwissenschaft (2016). Christina Schmidt ist Literatur- und Theaterwissenschaftlerin und lebt in Berlin. Monographie: Tragödie als Bühnenform. Einar Schleefs Chor-Theater (2010). Zuletzt erschien: Jean Jourdheuil. Grenzgänge (Hg. mit Stefan Tigges 2016). Mehr unter: www.christinaschmidt.eu. Yvonne Schmidt ist Dozentin und Leiterin des SNF-Forschungsprojekts »DisAbility on Stage« am Institute for the Performing Arts and Film, Zürcher Hochschule der Künste. 2012 Research Fellow an der University of Illinois, Chicago. 2013 Promotion an der Universität Bern zu Ausweitung der Spielzone. Experten – Amateure – behinderte Darsteller im Gegenwartstheater (2016). Tätigkeiten u.a. für das No Limits Festival und die Biennale Neue Stücke aus Europa. Katja Schneider ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der LMU München. Schwerpunkte in Lehre und Forschung: Tanz, Performance Art, Intermedialität, Theater des 18. Jahrhunderts, frühe Moderne und postdramatisches Theater. Redakteurin für die Fachmagazine tanzdrama, tanzjournal und tanz (1992-2012), Dramaturgin für das Münchner Festival Dance. Jenny Schrödl ist Juniorprofessorin für Theaterwissenschaft (FU Berlin) und leitet die JRG »Kunst-Paare. Beziehungsdynamiken und Geschlechterverhältnisse in den Künsten« (FU/MPIB). Im Rahmen des SFB »Kulturen des Performativen« promovierte sie 2010 mit einer Studie zur Ästhetik der Stimme im postdramatischen Theater (2012). Seit 2014 leitet sie die AG Gender der Gesellschaft für Theaterwissenschaft. Philipp Schulte ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft Gießen und Referent der Hessischen Theaterakademie. Autor und Herausgeber zahlreicher Publikationen u.a. Identität als Experiment (2011). Als Dozent für Theorie der Performance Art lehrte und lehrt er u.a. in Gießen, Frankfurt a.M., München, Ludwigsburg, Oslo sowie an der Norwegischen Theaterakademie Fredrikstad. Janine Schulze-Fellmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft an der Universität Leipzig. Promotion 1997: Dancing Bodies Dancing Gender – Tanz im 20. Jahrhundert aus der Perspektive der Gender-Theorie. 2000 bis 2011 Geschäftsführerin von Tanzarchiv Leipzig e.V. Forschung: Tanz und Gen-
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der, Tanz und Archiv, Tanz und Film, Konstruktionen von Körper und Geschlecht im höfischen Tanz (16. bis 18. Jahrhundert). Gerald Siegmund ist Professor für Angewandte Theaterwissenschaft an der Universität Gießen. Studien der Theaterwissenschaft, Anglistik und Romanistik in Frankfurt a.M.; ebendort Promotion; 1998 bis 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft, ebendort Habilitation; 2005 bis 2008 Assistenzprofessor am Institut für Theaterwissenschaft, Bern; 2009 bis 2012 Professor für Choreographie und Performance am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft. Ann-Christine Simke ist Doktorandin und Graduate Teaching Assistant am theaterwissenschaftlichen Institut der University of Glasgow. Sie studierte Theaterwissenschaft, AVL und Romanistik an der FU Berlin, der Université Marc Bloch Straßburg und der University of Glasgow. Promotionsprojekt: »Berlinische Dramaturgien – Dramaturgical Practices in the German Metropolis in the 20th and 21st Century«. Julia Stenzel ist W1-Professorin für Theaterwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. 2007 Promotion an der LMU München, 2009-2012 Postdoc-Projekt zu Theater und Antike im Vormärz. Seit 2011 Mitglied im Jungen Kolleg der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Forschung: Theorien und Praxen der Historiographie, Dramen- und Theatertheorie, Theaterwissenschaft und Cognitive Science, Matthew Barney. Marita Tatari promovierte bei Jean-Luc Nancy (Strasbourg 2005) und war wissenschaftliche Mitarbeiterin (DFG-Eigene Stelle) am Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Habilitiert ebendort zum Thema »Kunstwerk als Handlung – Transformationen von Ausstellung und Teilnahme«. Publikationen u.a.: Orte des Unermesslichen – Theater nach der Geschichtsteleologie (Hg. 2014). Nico Theisen ist Doktorand und Mitarbeiter im Projekt »TextTheatralität. Ein integrativer Ansatz anhand von Narratologie und Performance Studies« der Universiteit Gent und der Vrije Universiteit Brussel (Belgien). Publikationen zu Rimini Protokoll und René Pollesch. Promotionsprojekt: »Die Relation zwischen Wissen, Macht, Kontingenz, (Kultur-)Technologie und Komik in den Theaterstücken von René Pollesch«. Stefan Tigges, Ruhr-Universität Bochum, arbeitet aktuell an einem Buch über Jürgen Gosch und Johannes Schütz. Publikationen u.a.: Dramatische Transformationen (Hg. 2008); Von der Weltseele zur Über-Marionette. Cechovs Traumtheater als avantgardistische Versuchsanordnung (2010); Jean Jourdheuil. Grenzgänge (Hg. mit Christina Schmidt 2016).
Autorinnen und Autoren
Meike Wagner ist Professorin für Theaterwissenschaft an der Universität Stockholm. Sie habilitierte sich 2011 an der Universität München mit ihrem Forschungsprojekt zur Mediengeschichte des Theaters im frühen 19. Jahrhundert. Jüngste Buchpublikationen: Theater und Öffentlichkeit im Vormärz (2013); PsycheTechnik-Darstellung (Hg. mit A. Klöck, W.-D. Ernst 2016). Michael Wehren ist Theaterwissenschaftler und Mitglied der Theatergruppe friendlyfire. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter in den Forschungsprojekten »Körperpolitik: Disziplinierung und Inszenierung« sowie »Körperpolitik in der DDR«. Promotionsprojekt zu Brechts Lehrstücken und Fatzer-Fragment. Publikationen: Mülheimer Fatzerbücher 1 (Mhg. 2012) und 2 (Mhg. 2013); Verortungen/ Entortungen: Urbane Klangräume (Mhg. 2015). Sarah Wessels ist studentische Hilfskraft von Ulrike Haß an der Ruhr-Universität Bochum und hat bei der Planung und Realisierung des 12. Kongresses der Gesellschaft für Theaterwissenschaft in Bochum mitgearbeitet. Sie studiert Theaterwissenschaft und Komparatistik und macht eine Ausbildung als Darstellerin für Clowntheater und Komik an der TuT-Schule in Hannover. Birgit Wiens ist mit dem Forschungsprojekt »Szenographie: Episteme und ästhetische Produktivität in den Künsten der Gegenwart« Fellow im HeisenbergProgramm der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Privatdozentin für Theaterwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ebendort Promotion und Habilition. Publikationen u.a.: Intermediale Szenographie. RaumÄsthetiken des Theaters am Beginn des 21. Jahrhunderts (2014). Benjamin Wihstutz ist Juniorprofessur für Theaterwissenschaft an der JGU Mainz, zuvor Mitarbeiter im SFB »Ästhetische Erfahrung« FU Berlin, ebendort Promotion: Der andere Raum. Politiken sozialer Grenzverhandlungen im Gegenwartstheater (2012). Forschung: Politik und Ästhetik des Gegenwartstheaters, Theater um 1800, Performance und Behinderung. Publikationen: Politics of Space: Theatre and Topology (Mhg. 2013); Disabled Theater (Mhg. 2015). Isa Wortelkamp ist Tanz- und Theaterwissenschaftlerin und Projektkoordinatorin des von der VolkswagenStiftung geförderten Forschungsprojekts »Writing Movement. Inbetween Practice and Theory Concerning Art and Science of Dance« am Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin. Dort war sie von 2008 bis 2015 Juniorprofessorin und leitete das DFG-Forschungsprojekt »Bilder von Bewegung – Tanzfotografie 1900-1920«.
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Episteme des Theaters
Mayte Zimmermann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für zeitgenössisches Theater und Performance Koblenz. Sie studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen, war wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Universitäten Hamburg und Frankfurt a.M. und promovierte 2015 bei Nikolaus Müller-Schöll zu darstellungsethischen Fragen in zeitgenössischen szenischen Kunstformen.